Das neue Lied

Jetzt hab' ich satt den schlappen Singsang
Von Liebe, Triebe, Weh und Ach,
Den veilchenblauen Goldschnittsklingklang,
Ich durst' nach einem Donnerschlag;
Verfaulten Leichen gilt ihr Singen,
Voll Aasgestank die Poesie –
Drum laßt ein neues Lied erklingen
Nach einer neuen Melodie!
Schafft ab die ungesunde Mode,
Den Leib zu betten in die Gruft,
Verbrennt, was zinsbar ward dem Tode,
Und streut die Asche in die Luft;
Die Asche soll den Acker düngen,
Friedhof, mach' Platz der Industrie –
Und laßt das neue Lied uns singen
Nach einer neuen Melodie.
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Die Blumen, die auf Leichen blühen,
Sind ohne Düfte und verjaucht,
Die Herzen, die für Totes glühen,
Sind für das Leben längst verbraucht,
Nur ein gesunder Geist kann singen
Die zeitgerechte Poesie –
Drum laßt ein neues Lied erklingen
Nach einer neuen Melodie!
Laßt die Vergangenheit vergangen
Und laßt begraben sein, was tot,
Und faßt ein mutiges Verlangen
Nach Sonnenlicht und Morgenrot;
Wir sind noch jung, uns muß gelingen
Die längst erträumte Poesie –
Ein neues Lied soll jetzt erklingen
Nach einer neuen Melodie!

Münster, Juli 1890

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TextGrid Repository (2012). Löns, Hermann. Gedichte. Junglaub. Das neue Lied. Das neue Lied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-1F62-1