Jakob Michael Reinhold Lenz
Briefe über die Moralität
der Leiden des jungen Werthers

[383] Lieber Freund!

Wie Sie wünschten in ganzem Ernst, Göthe hätte die Leiden des jungen Werthers nie sollen drucken lassen. Verzeihen Sie, der Wunsch ist zu seltsam, als daß ich von einem Freunde, dessen Verstand und Herz ich hochzuschätzen habe, nicht mit Recht fodern könnte, er solle und müsse ihn verantworten.

Soll ich Ihnen dieses Recht beweisen? Ich weiß daß die schönen Künste den höchsten Reiz Ihres Lebens ausmachen, wenigstens hat sich nur unter diesen Bedingungen mein Herz mit dem Ihrigen verschwistert und kann sich auch nur unter diesen Bedingungen mit welchem Herzen es wolle vereinigen. Ein Mensch der für das echte Gefühl alles dessen was Schön Groß Edel in der Natur oder in den Künsten ist, abgestorben ist, bleibt in meinen Augen immer ein gefährlicher Mensch, schein' er auch so fromm und zahm als er wolle. Wenn er zu wenig Verstand hat, mir gradzu zu schaden, zu wenig Entschlossenheit ein Bösewicht zu sein, so wird er durch Unverstand in Erklärung meiner Absichten und Handlungen, durch Untätigkeit in den allerdringendsten Angelegenheiten meines Herzens, vielleicht wohl gar durch Entgegenwürkung meiner unverdächtigsten und edelsten Bestrebungen, zu der ihn eine sich selbst abgezogene Moral, und der Kützel mit wenig Mühe doch auch etwas auszurichten, ungeachtet seiner Faulheit bringen kann, mir furchtbarer werden als der verschmitzteste und kühnste feind. Ist es doch schon in der Natur so daß die edelsten und stärksten Tiere immer die allerunbeträchtlichsten und elendesten am meisten scheuen. Den Löwen kann ein Hahnengeschrei [383] aus aller Fassung bringen und den Elefanten das Grunzen eines Schweins. Überhaupt sind die größesten und erstaunendsten Wirkungen der Natur immer der traurigen Regel untergeordnet, daß sie durch die nichts bedeutendsten Zufälle können zerstöret werden, oft durch einen bloßen Stillstand der würkenden Kräfte, der durch die allerkleinste Entgegenwirkung verursacht werden kann. So wird der Bär der Bäume auswurzelt, durch den Schlag mit einer Rute auf die Nase gefällt, und der Sieg eines erhitzten Heeres durch einen widerwärtigen Wind vereitelt.

Diese Ausschweifung geht Sie nichts an, da Sie mit mir einig sind, daß alle Glückseligkeit des menschlichen Lebens in dem Gefühl des Schönen bestehet. Das Schöne ist nur das Gute quintessenziiert zu nennen, wie sollte ein menschliches Herz dessen entbehren können, ohne ein elendes Herz zu werden. Nun sehen Sie Werthers Leiden nur als Produkt des Schönen an, für das Sie es selbst erkennen müssen – und wagen es noch einmal einen so ungerechten Urteilsspruch mit Ihrem Namen zu unterschreiben.

Zweiter Brief

Sie halten ihn für eine subtile Verteidigung des Selbstmords. Das gemahnt mich, als ob man Homers Iliade für eine subtile Aufmunterung zu Zorn, Hader und Feindschaft ausgeben wollte. Warum legt man dem Dichter doch immer moralische Endzwecke unter, an die er nie gedacht hat. Genug hat man über den französischen Meßkünstler gelacht, der bei jedem Gedicht frug: Qu'est ce que cela prouve? und täglich verfällt man doch in seinen Fehler. Als ob der Dichter sich auf seinen Dreifuß setzte, um einen Satz aus der Philosophie zu beweisen. Das geht dem Autor wohl an der an den Nägeln käuet, aber warum mißt man einen Riesen nach dem Zwerge. Nichts [384] mehr und nichts weniger als die Leiden des jungen Werthers wollt' er darstellen, sie bis an ihr Endziel verfolgen wie Homer den Zorn Achills. Und das große Ganze sollte so wenig Eindruck auf Sie gemacht haben, daß Sie noch am Ende nach der Moral fragen können.

Man hat mir allerlei moralische Endzwecke und philosophische Sätze bei einigen meiner Komödien angedichtet, man hat sich den Kopf zerbrochen, ob ich wirklich den Hofmeisterstand für so gefährlich in der Republik halte, man hat nicht bedacht, daß ich nur ein bedingtes Gemälde geben wollte von Sachen wie sie da sind und die Philosophie des geheimen Rats nur in seiner Individualität ihren Grund hatte. Eben so sucht man im neuen Menoza einen Ausfall auf die Religionsverbesserungen, da der neue Menoza unter den Umständen doch nicht anders reden und handeln konnte, wenn er einige Persönlichkeit behalten wollte. Doch das hier nur im Vorbeigehen, ich konnte nichts Bessers tun als zu diesen mir aufgehefteten falschen Vorzügen stilleschweigen, da sie mir ein trauriger Beweis waren, wie wenig es mir noch bisher müsse gelungen sein das Herz und die Imagination meiner Leser zu fesseln.

Daß man aber mit eben dem kalten Blute sich hinsetzt und nach der Moral der Leiden des jungen Werthers fragt, da mir als ich's las die Sinnen vergingen, ich ganz in seine Welt hineingezaubert mit Werthern liebte, mit Werthern litt, mit Werthern starb – das kann ich nicht vertragen und wenn ich den Verfasser dieses Buches auch nie einmal dem Namen nach gekannt hätte.

Dritter Brief

Die Darstellung so heftiger Leidenschaften wäre dem Publikum gefährlich? – Jetzt hab' ich Sie wohin ich Sie haben wollte. Ich werde ernstlich mit Ihnen reden, meine Freundschaft gibt mir das Recht dazu und Sie können [385] nach diesem Briefe beschließen was Sie wollen. Wollen Sie die Verbindungen mit einem Herzen aufheben, dessen Empfindungen mit den Ihrigen so weit auseinandergehen so sind Sie Meister zu tun und zu lassen was Ihnen beliebt.

Als ich das Buch zum erstenmal gelesen, voll von den süßen Tumult den es in meiner Brust erregt, lief ich herum und pries es allen meinen Freunden an. Das erste Exemplar das ich hatte (ein Geschenk des Verfassers) verehrte ich demjenigen Frauenzimmer das ich unter allen meinen Bekannten am höchsten schätzte und das sich in einer Situation befand die derjenigen in der Lotte war äußerlich ziemlich ähnlich schien: weit entfernt nur auf den Gedanken zu kommen, daß ihr das Buch gefährlich werden könnte, gab ich es mit dem unbesorgtesten festesten Zutrauen, es werde ihr Herz zu den Empfindungen bilden die allein das zukünftige Glück ihres Gemahls ausmachen und befestigen können. Wie sehr biß ich mir in die Finger als ich das ganze Publikum nachher fast anderer Meinung sah! Und wie kämpften nachher Zweifel und Kleinmut in meinem Herzen, ob schon ich bei der genannten schönen Leserin der ich hier das öffentliche Opfer meiner Hochachtung abtrage, mich in meiner Erwartung nicht betrogen gefunden hatte. Es ist sehr viele Moral drin, war das erste Wort das ich aus ihrem Munde über dieses Buch hörte und dieses Wort, hab ich mich verheißen, soll das ganze philosophierende Publikum beschämen.

Laßt uns also einmal die Moralität dieses Romans untersuchen, nicht den moralischen Endzweck den sich der Dichter vorgesetzt (denn da hört er auf Dichter zu sein) sondern die moralische Wirkung die das Lesen dieses Romans auf die Herzen des Publikums haben könne und haben müsse. Es muß jedem Dichter daran gelegen sein, nicht Schaden angerichtet zu haben und wehe dem Dichter der bösen Erfolgen seiner Schriften mit kaltem [386] Blut zusehen kann. Der höchste Vorzug eines Dichters für die Ewigkeit ist ein edles Herz und da nun niemand unter dem großen Haufen Bewunderer und Ausschreier sich finden will, der meinem Freunde diesen Liebesdienst leiste, sein Herz zu verteidigen da seine Feinde selbst seinem Verstande und seinen Talenten müssen Gerechtigkeit widerfahren lassen: so nehm' ich ungedungen und unberufen dieses süße Geschäft über mich und will mich wenigstens damit unsterblich zu machen suchen, daß ich den Wert dieses meines Zeitverwandten ganz zu fühlen im Stande bin.

Dieses Zeugnis wird ihm nicht schaden. Auf sein Herz stolz zu sein, ist höhere Tugend als alle lumpigte Demut und erkünstelte Bescheidenheit.

Vierter Brief

Nikolais Parodie ein Meisterstück? – Eine Schande seines Herzens und seines Kopfs. Was geht mich hier der Verfasser des Nothankers an, ich will's Ihnen beweisen.

Es hätte Sie zu lachen gemacht? – Mich auch, aber wie Demokriten mit Hohngelächter. Wenn man mit einer vielbedeutenden Miene die allerelendesten Plattheiten auskramt, was kann das anders erregen als Unwillen und Hohngelächter.

Der ganze Wisch ist so unwitzig, so furchtsam, so hergestottert für eine Pasquinade, die Erfindung mit der Blutblase so armselig, die Scheidungen Werthers und Lottens so wenig in ihren Charakter hineingedacht, daß ich hier wohl die sonst ironischen Verse Popens in eigentlichem Verstande brauchen möchte:


if Blount dispatch'd himself, he play'd the man
and so may'st thou, illoustrious Passeran
but shall a printer, weary of his life
learn from her books, to hang himself and wife.

[387] Wie denn? Lotte – nach der Anlage – einem solchen Kerlchen wie er beschreibt Gehör geben, um – Werthern wehe zu tun, der unter der Last der öffentlichen Geschäfte schmachtete? Pfui mit welchen elenden Ideen muß der Mann von dem Buch aufgestanden sein, ich möcht' um aller Welt Güter willen in dem Augenblick nicht mit seinem Herzen getauscht haben.

Soll er da vielleicht das Meisterstück bewiesen haben, da er die ganze Geschichte so schön durcheinander zettelt, daß das hinterste zu vorderst kommt, Szenen die nach der Verheuratung vorgingen, vor die Verheuratung setzt und damit möcht' ich sagen die Seele der ganzen Rührung herauszieht und alles zur elendesten Karikatur macht? Hat der Mensch auch wohl bedacht, was für Hindernisse sich gleich anfangs der Verbindung Werthers mit Lotten entgegenstellten und wie tief und unveränderlich unvermeidlich Werther das empfinden mußte, um Werther zu werden. Das gegebene Versprechen, das öffentliche Amt Alberts kurzum nichts mehr und nichts weniger als die ganze Ruhe und das ganze Glück seiner Lotte selber. Und wie die anwachsende Empfindung der Unmöglichkeit Lotten jemals zu besitzen, diese heilige moralische Empfindung der Unverletzlichkeit des ehelichen Verhältnisses, nur und allein ihn zu dem verzweifelten Entschluß hinaufschrauben konnte. Und wie alles sogleich elende jämmerliche Fratze wird, was sonst das Angesicht eines leidenden Engels war, sobald diese Bedingung wegfällt, diese unübersteiglichen Schwürigkeiten wegfallen. In der Tat ein Meisterstück eines parodierenden Pasquillanten, wenn er nur sonst Witz und Herz genug hätte Pasquillant zu sein. So aber da er unter der Larve eines von den sieben Weisen erscheint, und doch alle Kunstgriffe eines Pajaß gebraucht – wer kann ihn da ohne Unwillen sehen Capriolen schneiden.

Nun aber habe ich auch gesagt, daß die Schrift seinem Herzen Schande mache. Welcher Schriftsteller der im [388] Stande ist den Wert eines Genies nur einigermaßen zu erkennen und zu fühlen, welcher Schriftsteller hat das Herz zu sagen: ein Genie ist ein schlechter Nachbar. Ihm die bittere Kränkung ins Herz zu schieben, seine Schriften zeigen von vielen großen Talenten, aber sie schaden dem Publikum und das ganz gelassen zu sagen (S. 56).

Wie wenn ich das Blatt umkehrte und ihm nicht ganz gelassen, sondern mit vieler Hitze bewiese, seine kalte und abgeschmackte Parodie habe dem Publikum (ich meine dem seinigen) in eben dem Maße geschadet, als ihm die Lesung der Leiden des jungen Werthers Nutzen gebracht haben würde.

Fünfter Brief

Die Darstellung eines solchen Enthusiasmus ist ansteckend und eben deswegen gefährlich. Und die Gefahr? Es könnte mehrere Lotten geben und die mehrere Werther finden. Das menschliche Herz ist geneigt alles nachzuahmen was es außerordentlich bewegt hat, wie schon Cicero eingesehen hat.

Und was wird das menschliche Herz dabei verlieren? Ich bitte lieber Freund! reden Sie nicht so quer über die Sache weg, sondern lassen Sie uns erst einen Augenblick innehalten und bedenken wovon die Rede ist. Von dem Enthusiasmus für wirkliche Vorzüge, für weiblichen Wert. Nicht für ein schön Gesicht, nicht für einen schönen Fuß – für den Inbegriff aller sanfteren Tugenden, aller edleren geistigen sowohl als körperlichen Reize zusammengenommen, für ein Ideal – aber nicht eines wahnwitzigen Augenblicks wie die Ideale gewisser Schriftsteller, sondern einer reifen mit der Welt und ihren Verhältnissen und Einschränkungen durchaus bekannten Überlegung, für ein Ideal wie es jede Tochter Germaniens täglich und stündlich werden kann, ohne ein Haar von [389] dem natürlichen Stempel ihrer Seele zu verlieren, vielmehr sich so ihrer verlernten und verkünstelten Natur allein wieder zurück nähert. Und wer wollte nicht Enthusiasmus für ein solches Mädchen haben, wer, der sich nicht auch der Tugend schämt, sich eines solchen Enthusiasmus schämen? welcher Holzkopf diesen Enthusiasmus unter seinen Landsleuten zu hindern oder zu unterdrücken suchen?

Aber in dem hohen Grad? so schwärmerisch? so romantisch feierlich (Seite 33 in den Freuden d. j. W.). Läßt sich die Höhe der Empfindungen denn unter Regeln bringen? Und geschieht denn jemand auf der Gotteswelt anders ein Schade dadurch, als dem armen unglücklichen Schwärmer selber? Wenn es ein Werther ist, ward sein ganzer Zustand nicht warnend genug vorgestellt? Wer hätte Lust oder das Herz es ihm nachzumachen. Und verliert der Bräutigam, wenn's nicht ein Herodes Magnus an Eifersucht ist, auch nur ein Haar von seinem Glück dabei? Wird ihm dasselbe nicht vielmehr dadurch desto empfindbarer und rührender, da er seinen Nebenbuhler durch dessen Verlust so unwiederbringlich elend sieht. Aber nun Lottens Mitleiden? – – »Ich liebe herzlich und verlange herzliche Gegenliebe« (S. 34). Worin hatte sich Lotte vergangen? Albert verstieß wider die erste Pflicht aller echten Liebe, wider das Zutrauen zu seiner Frauen Tugend und Zärtlichkeit für ihn, ohne daß sie im mindesten sich an seinem Kaltsinn im Worte und Bezeigen, zu rächen suchte. O Herr Albert aus Berlin! wenn Sie nicht im Stande waren zu fühlen was der stumme Ausdruck ehelicher Treu und eines zarten aufgebrachten Gewissens sagen wollte, da Lotte nach der verstohlnen und doch unschuldigen Zusammenkunft mit Werthern mit ihrer Arbeit auf Ihre Stube kam und an Ihrer Seite zitterte Ihrer vielleicht itzo nicht mehr wert zu sein – o Herr Berliner Albert! so verdienten Sie nimmer eine Lotte zu besitzen.

[390] Die scheinbare Großmut mit der ein Liebhaber seinem Freunde seine Geliebte abtritt wie man ein Paar Handschuh auszieht, ist mir von jeher wie ein Schlag ins Gesicht gewesen. Wissen die Herren was es heißt, lieben? Und daß eine Geliebte abtreten, schwerer ist als sich das Leben nehmen. Nur ein Albert aus Berlin konnte das und das ganz gelassen. Aber der Henker glaub' ihm, daß er herzlich geliebt habe.

Wer erfahren hat was die beiden Namen sagen wollen, Freund und Geliebte, der wird keinen Augenblick anstehen, seinen Freund für den er übrigens das Leben geben könnte, seiner Geliebten nachzusetzen. Wer das nicht tut, hat weder ein Herz für den Freund, noch für die Geliebte. So läßt sich begreifen, warum Albert Lotten nie verlieren konnte, da er das erste Recht auf sie hatte, oder er müßte ein Berliner Albert gewesen sein. So läßt sich begreifen warum Albert nie so lächerlich und kauderwelsch eifersüchtig auf Werthern sein konnte, weil es Lottens und sein Freund war. – Albert aus Berlin! gehe hin im Frieden!

Sechster Brief

Werther werde nicht immer Leser finden wie mich, die das alles so zurecht zu legen wüßten. Ich danke Ihnen für das Kompliment, ich denke der Himmel hat jedem seine Portion Vernunft zugeteilt, ihn durch dies Leben zu führen. Ich will Ihnen aber zugestehn, der größte Teil des Publikums der Werthern am begierigsten verschlingt, sei ein Haufe junger Leute ohne Nachdenken und Erfahrung, bereit sich in den ersten besten Abgrund der Leidenschaft hineinzustürzen, mög' er hinausführen wohin er wolle. Eben für diese und ihres gleichen sind die Leiden des jungen Werthers geschrieben, trotz alle dem was der hochweise Martin philosophiert (S. 9). Für Stutzer und Parteigänger [391] grad wie er sie beschreibt. Und was für ein Buch sollte sonst für sie geschrieben sein, sollte sie aufmerksam und fühlbar machen für das was schön edel und gut ist. Die Bibel? die sie nie gelesen haben? Predigten die sie anhören aber nie hören. Philosophisches Allerlei in Taschenformat das sie in der Welt zu gar nichts brauchen können. Romane und Komödien aus dem ungeheuren Lande der Ideen, die nie in unsere Welt hinabgekommen sind und deren Unähnlichkeit mit dem was wir erleben, einen Menschen der sich nach ihnen bildet, gleich beim ersten Eintritt in jede gute Gesellschaft zum Narren stempelt. Sie werden's lesen wenn sie zu laxieren eingenommen haben und sich sonst keinen Rat wissen, den Zustand zwischen Schlaf und Wachen auszufüllen. Sie werden bersten für Lachen über einen Menschen der sich's einfallen lassen wollte den Grandison oder Medon wirklich zu spielen, der ihnen in der Idee ganz erträglich war. Aber einen Menschen von ihren Gefühlen und Art zu handeln, in ihrer Gestalt möchte ich sagen, sich für das trefflichste Geschöpf in der Natur entzünden zu sehen, von seinen Schicksalen gerührt, erschüttert, zerfleischt, wie bei allem was wir zu lieben pflegen, seine Empfindungen annehmen, unvermerkt seine Gesinnungen sich eigen machen, unterscheiden ein Mädchen voll Seele, voll des zartesten Gefühls ihrer Verhältnisse von der Flitterpuppe, sie vorziehen, ihr zu gefallen suchen, sie verehren, sie anbeten, für sie sterben – wollte Gott daß wir eine Welt voll Werthers bekämen, wir würden uns besser dabei befinden.

Ei des weisen Nikolai, der das wichtige Geheimnis ausgefunden hat, dem Schaden den das Lesen dieses Romans verursachen würde, auf eine so geschickte Weise vorzubeugen. Als ob das eine so unbekannte noch nie erhörte Wahrheit sei, daß niemand sich aus einem Roman eben zu bekehren sucht, sondern ihn liest, weil und solange er ihm gefällt. Das aber ist eine Wahrheit die niemand von diesen Herren über Werthern einzugestehen [392] gutes Herz genug hat, daß jeder Roman der das Herz in seinen verborgensten Schlupfwinkeln anzufassen und zu rühren weiß, auch das Herz bessern muß, er mag aussehen wie er wolle.

Eben darin besteht Werthers Verdienst daß er uns mit Leidenschaften und Empfindungen bekannt macht, die jeder in sich dunkel fühlt, die er aber nicht mit Namen zu nennen weiß. Darin besteht das Verdienst jedes Dichters.

Siebenter Brief

Man sollte das Ding nur nicht so reizend vorstellen. Und wer kann dafür daß das Ding so reizend ist und nur für schlechte Seelen keinen Reiz hat.


Il n'y a qu'un mal, il n'y a qu'un bien
C'est d'aimer, ou de n'aimer rien.

Die Gleichgültigkeit gegen alles was schön und fürtrefflich ist, ist das einzige Laster auf der Welt. Wie sollen, wie können unsere Sitten sich jemals verbessern, wenn wir unempfindlich für wahre Vorzüge bleiben und das aus lieber lauterer Moralität. Um die träge Ruhe eines Ehmanns nur ja nicht aus ihrem Siebenschlaf zu wecken, den die Liebkosungen seiner Frau in eine törliche Vergessenheit alles dessen womit sie der Himmel für ihn geschmückt hatte, eingewiegt haben, so rät Martin weislich die Augen zuzuschließen und kalt zu bleiben, bis man denn auch so am Seil woran man gefüttert wird mit einer Gehülfin zusammen ziehen kann ohne uns viel drum zu bekümmern was und wieviel sie wohl wert sei.

Und wird's damit besser in unsern Gesellschaften aussehn? Nach dieser Proportion wären die Sitten der Türken die weisesten, weil sie die ruhigsten sind. Sind aber ihre Vorhäupter darum für allem Schaden sicherer? Ich zweifle. Ein Mann kann nirgends einen sicherern Unterpfand [393] seiner Ehre haben als in dem zärtesten Gefühl seiner Frau für das was edel und fürtrefflich ist. Eine Lotte die einen Säugling neben einen Werther aufstellen und abgöttern konnte, verdiente nie wieder mit Werthern verbunden zu werden.

Achter Brief

O weh was wird aus dir werden, edler Sohn Lykaons, der du vor der Leiche deines Freundes mit niedergesenktem Speer trittst, um den ersten der sich ihr sie zu entheiligen nähert in die kalte Nacht des Todes herabzuschicken, der du ein fürchterlich Geschrei erhebst und alle die schöngestiefelten Griechen zurückweichen machst. Siehe der furchtbare Diomed ergreift einen Stein den zwei unsrer heutigen Menschen sonst nicht von der Stelle bewegen könnten und zerschmettert dir damit die Hüfte, daß du auf deine Knie niederfällst und Finsternis deine beiden Augen bedeckt. Jetzt wärest du unvermeidlich gestorben, wenn nicht Venus mit ihrem glänzenden Schleier dir zu Hülfe käme, Venus die dich in den Umarmungen des Hirten Anchises empfing, ihre weißen Arme um deinen Nacken schläge, mit ihrem Schleier einen Zaun um dich webte vor den Pfeilen deiner Feinde und aus dem Getümmel der Schlacht dich trüge.

[Ja in der Tat Venus Urania allein kann dich retten mein Lieblingsdichter, der du mit so verschiedenen und seltsamen Waffen auf einmal angegriffen, mit einem lustigen Einfall von der Bühne verschwindst und den Vögeln die Freude lässest sich an deinen zu natürlich gemalten Trauben die Köpfe zu zerstoßen.]

Also auch ein Gespräch über die Leiden – und das mich als ihren so eifrigen Anhänger und Verteidiger derselben auf einmal bekehren soll. So tief philosophisch – von dunklen und klaren Ideen und der Kunst dunkle Ideen klar zu machen. Aus welchem grämlichen Gesichtspunkt [394] haben die Leute das Bild angesehen. Was fürchten Sie? Ich bitte Sie um Gotteswillen, wohin laufen Sie? Bleiben Sie doch stehen und sehen Sie es länger an. Wie gesagt, es ist mir nie der Gedanke eingefallen, daß das Ding schädlich werden könne.

Da steht der Laokoon mit allen Ausdrücken seines Schmerzens, seiner Göttin gegenüber, von der er sehr klare Ideen hat und sie sich nicht klärer zu machen braucht noch vermögend ist, da steht er am Felsen seiner Pflicht angenagelt und weint seinen Schmerz gen Himmel aus, bis er des langsamen Todes endlich stirbt, der im Rat der Götter für ihn beschlossen war. Welcher Tollkopf, der seinen Schmerz ganz zu fühlen im Stande ist, wird noch lüstern sein, ihm nachzuahmen, wird wenn er nur einige Schritte auf diesen Dornen fortgewandelt ist, nicht von selbst wieder umkehren? Wozu alle das Geschrei, ich bitte euch, die Sache redt und warnt von selber, nur Leute die nicht im Stande sind den Versuch zu wagen, oder das nur von fern zu empfinden, können da Gefahr befürchten. Die jungen Leute die ganze Nächte mit einem alten Weißbart über diese Materie verschwatzen können, sind am allerweitesten davon entfernt jemals Werther zu werden. Ein junges stilles stumm gefühliges Herz würde meine Besorgnis noch am ersten rege machen, doch eben für diese ist das Buch ein Heilungsmittel. Wenn ein solcher keinen Mentor hinter sich hat, der ihn unmittelbar vom Felsen ins Meer stürzt – laßt ihn eine Weile irren, er wird sich zurecht finden. Er wird Augenblicke in seiner Seele fühlen, wo die Leidenschaft von ihrer Gewaltsamkeit nachläßt und einer ruhigen Stille Platz macht, die ihm Zeit genug zu dem Entschluß übrig läßt, den Liebhaber in den Freund zu verwandeln und nicht so grausam zu endigen als Werther, dessen Gründe für den Selbstmord alle durch einen glücklichen Augenblick entkräftet werden. Ein Augenblick wo er sich an der Gegenwart – auch nur an dem Gedanken an seine Geliebte wärmt, ist [395] kräftiger als zehn Demonstrationen. Und die Hoffnung verläßt ihn nie, kann ihn nie verlassen. Geht dem Unglücklichen nach der auf eine wüste Insel gescheitert einsam und verlassen da sitzt – ihr werdet die Hoffnung bei ihm finden. Was sollen nun alle die Warnungen? Meint ihr das Leben ist uns um einen Kreuzer feil? Meint ihr der Selbstmord ist so geschwind vollbracht als er ausgesprochen wird? Laßt doch die Jünglinge – sie werden sich kein Leides tun, und wenn sie weder Chronologie noch Heraldik zu Hülfe nehmen. Denn vielleicht noch eher – unsere Phantasie will wenigstens unterhalten sein wenn sie [sich] von einem entzückenden Gegenstand abwenden soll. Und ich weiß dem Dichter für kein Geheimnis seiner Kunst größeren Dank, als daß er eben da wo die Herren das Gift zu finden fürchten, das Gegengift für dies verzehrende Feuer gütig hingelegt hat, ich meine Beschäftigung des gut gearteten Herzens und der glücklich gestimmten Einbildungskraft. Diese Beschäftigungen werden ihn bald zu ernsthaftern lenken und so wird in seiner Seele die glückliche Harmonie wieder hervorgebracht werden, die aus starken und männlichen Arbeiten und ausgewählten Vergnügungen der Einbildungskraft und der Sinne allezeit unausbleiblich entstehen muß und die Liebe zum Leben gewiß nicht wird auslöschen lassen. Alles das hätte Werther auch – aber Werther ist ein Bild meine Herren, ein gekreuzigter Prometheus an dessen Exempel ihr euch bespiegeln könnt und eurem eigenen Genie überlassen ist, die nützlichste Anwendung davon zu machen.

Bedenkt ihr denn nicht, daß der Dichter nur eine Seite der Seele malen kann die zu seinem Zweck dient und die andere dem Nachdenken überlassen muß. Daß er euch, um eure närrische Foderungen zu erfüllen, eine Chronika von 24 Foliobänden schreiben müßte, die grade soviel Zeit zum Lesen erfoderte, als Werther gelebt und gelitten haben könnte.

[396] Daß Werther ein Bild ist, welchem vollkommen nachzuahmen eine physische und metaphysische Unmöglichkeit ist.

Daß eh ihr das aus euch macht, was er war, eh er anfing zu leiden und was er doch sein mußte um so leiden zu können, euer halbes Leben hingehen könnte.

Daß ihr also nicht sogleich von Nachahmung schwatzen müßt, eh ihr die Möglichkeit in euch fühlt ihm nachahmen zu können.

Und daß es alsdenn mit der Nachahmung keine Gefahr haben würde. –

Neunter Brief

In der Tat haben die Schicksale des St. Preux und Werthers beim ersten Anblick einige Ähnlichkeit, sie haben aber auch wieder bei schärferer Ansicht so viel Verschiedenheit, daß man sie unmöglich mit einander vergleichen, geschweige denn diesen eine Kopie von jenem nennen darf und kann. Es ist mir eine Freude wenn ich den Betrachtungen so nachhänge, wie jeder dieser Dichter für das Bedürfnis seiner Nation so zu sorgen gewußt hat. Rousseau der für verdorbene Sitten schrieb, wie er in seiner Vorrede selbst sagt, unter dessen Landsleuten alles Liebe und Feuer atmet, welche bei dem Witz und Leichtsinn der Nation schon früh in die gröbsten Unordnungen und Aufhebung aller auch der heiligsten Bande der Unschuld und der ehelichen Treue ausarten, ohne daß ein einziges dieser Laster einmal mehr Aufsehen macht: Rousseau stellte einen jungen Menschen auf ganz in diesem Geschmack, ganz im Geist der Zeit und der Nation, aber mit der gehörigen Portion Philosophie, Rechtschaffenheit und Stärke der Seele alledem das Gegengewicht zu halten, und brachte ihn glücklich durch alle diese Klippen so weit, daß er die Heiligkeit des Ehebandes ganz schätzen [397] lernte und der zärtliche Franzose blieb obschon er aufgehört hatte der leichtsinnige zu sein. Welch eine Lehre, welch ein Verdienst für seine Nation! Ihr Riechsalz möcht' ich sagen zu fixieren und zu edlern Bestimmungen zuzubereiten, ihre Passionen die sonst immer nur momentan sind zu einer daurenden edlen Richtung des Herzens auszudehnen. Goethe der für steife Sitten schrieb wenn ich so sagen mag, wo man ein ewiges Gerede von Pflichten und Moral hört und nirgends Kraft und Leben spürt, nirgends Ausübung dessen was man hundertmal demonstriert hat und immer wieder von neuem demonstriert, wo man in den eisernen Fesseln eines altfränkischen Etikette alle seine edelsten Wünsche und Neigungen in den berauchten Wänden seiner Studierstube vorsichtig ersticken läßt und so bald sie sich melden, irgend ein System der Moral dagegen schreibt, oder in neuern Zeiten jämmerlich süßtönende Klagen, Idyllen und Romanzen und Spaziergänge und daß des Dings kein Ende ist – für Sitten wo Furchtsamkeit, Ernst und Pedanterei unsere Gesellschaften stimmen und insgeheim doch die verbotene Lust zehnmal rasender wütet, wo jenachdem denn nun endlich die französische Freiheit sich ausbreitet, alles in die elendeste Karikatur ausartet, die Herren nicht wissen was sie sagen, noch die Damen was sie antworten sollen, der Magister es nun für seine Schuldigkeit hält verliebt zu sein ohne daß er weiß in wen noch wie er's anzufangen habe, das arme Mädchen noch immer in ihrem süßen alten Wahn jeden der sich ihr zuerst mit einem schönen Wörtchen nähert für einen Freier hält und sich hernach über die Untreue des Bösewichts zu Tode grämt der im Grunde sich nur im Kurtesieren bei ihr üben wollte – für diese drolligte Sitten, wo niemand Herz hat und wer noch eins hat nicht weiß was er damit anfangen soll – – Goethe stellte einen jungen mutigen lebenvollen Held auf die Bühne, der weiß was er will und wo er hinauswill, der den Tod selbst nicht scheut, [398] wenn er ihn nur auf guten Wegen übereilt, der im Stande ist sich selbst zu strafen wenn er es wo versehen haben sollte. O guter edler Jüngling, heiliger Werther! könnte ich jemals nur den Schatten deines Werts mir eigen machen. Dein gleichgestimmtes allezeit gutgeartetes und frohmütiges Herz, deine unnachahmliche Genügsamkeit mit dir selber und den Gegenständen die so eben um dich sind, deine gänzliche Freiheit von allen Prätentionen, törichten Erwartungen und ehrsüchtigen Wünschen – bei alledem deinen edlen emporstrebenden feurigen Geist, deine immerwährende Tätigkeit, die selbst durch die Leidenschaft die alles in Untätigkeit hinstarren macht, nicht gehemmt werden konnte, die sich bis zuletzt noch in den furchtbarsten Ruinen erhielt und, als Simson unter dem ihn erschlagenden Gewicht hinstürzte, noch immer bewies daß er Simson war – wer macht ihm das nach? – Seid nicht närrisch meine lieben Freunde! bildet euch nicht zu geschwind ein Werthers zu sein, es ist keine Kleinigkeit damit. Ein Werther muß viel getan und gelitten haben, eh er Werther zu sein anfangen kann, ihr seht nur die Ebene vor euch, aber nicht die Gebirge die er zu übersteigen hatte, eh er sie euch vormalen konnte. Schämt euch mit Kraft und Tat um euch zu werfen und euren Feinden die eben soviel als ihr davon verstehen Gelegenheit zum Spotten zu geben, eh ihr wißt was diese Worte auf sich haben.

Seht also dies Gemälde mit ein wenig mehr Ehrfurcht an und wenn euch der Kützel sticht es nachzuahmen so sagt keinem Menschen ein Wort davon, damit euch ein hochtrabender Bücherwurm nicht vor der Zeit aushöhne und euch weis mache, ihr hättet dazu den Zeug nicht (S. 11). Alles was übereilt wird, gerät nicht, wartet bis eure Kräfte zur Reife gekommen sind dergleichen Leiden auszuhalten und alsdenn übernehmt sie wenn es so sein muß. Ihr werdet nicht sterben, ich versichere euch. Allenfalls [399] seid ihr gewarnt. Und eh ihr unempfindlich bliebt oder kalte Galanterieschwätzer, eh säh' ich euch lieber noch Säuglinge.

Wie sehr müssen sich doch die größten Dichter mißverstehen lassen? Die Stelle die soviel Skandal gibt, wo Werther der Vernunftvorschriften in der Liebe spottet, man solle seine Zeit einteilen u.s.f. wie ekelhaft klingt sie in dem Munde eines Stutzers, eines Säuglings und aller Rezensenten die diese sogleich damit auftreten lassen – und wie ganz anders in Werthers Munde. Seht ihr denn nicht, daß um so reden zu können, man erst geschmeckt haben müsse was Geschäfte auf sich haben, was seine Zeit einteilen heiße u.s.f. Seht ihr denn nicht daß das was in einem solchen Zustand gesagt wird in einem ruhigen Zustand seinen Grund haben müsse in welchem man allen seinen Pflichten ein Genüge getan. Daß man zu jenen nicht kommen könne, wenn man nicht den Weg durch diesen gemacht. Daß das Ausdrücke einer höheren Leidenschaft sind als jemals ihr und eure sieben weise Meister im Stande gewesen sind in ihrem Busen zu nähren.

Und so sind die Stellen alle. Seinem Herzchen den Willen zu gestatten wie einem kranken Kinde. Wer, der nie erfahren hat was Aufopferung, was Selbstverleugnung, was Entsagung der reinsten Vergnügungen um höherer Absichten willen sei, darf diese Worte ins Maul nehmen ohne über und über rot zu werden wie ein Hund für Scham. Was tausend habt ihr für ein Recht eurem Herzen alles zu gestatten, ihr die ihr es noch an keinem einzigen Verhältnis geübt, ihr die ihr noch nicht wißt ob ihr ein Herz habt. Leidet erst so viel als Werther, tut erst so viel, lernt erst soviel einsehen und übersehen, darnach laßt eurem Herzen den Zügel schießen und es wird keinem Menschen was zu leide tun.

Soviel lieber Freund hab' ich zur Rechtfertigung meines Freundes sagen wollen, in Ansehung seines moralischen [400] Charakters. Denn was auch Herr Nikolai sagt, sein Held wäre der Autor (S. 7) so beweist er doch wenig Hochachtung für sein Herz wenn er glaubt, er könne ein Buch in die Welt schicken das in der Republik unausbleiblichen Schaden anrichten müsse. Ich verdenke es den Gottesgelehrten nicht halb so sehr daß sie dieses Buch konfisziert haben, da es für sie und ihren Gesichtspunkt nicht geschrieben war. Aber die Philosophen, die Romandichter, die Kritiker, die die Bedürfnisse ihrer Nation kennen und fühlen sollten – die das Publikum dafür warnen? 1 Denn was im Grunde will all ihr Geschwätz sonst sagen. Nein lieber Freund! sobald Sie einen hoffnungsvollen Sohn haben, geben Sie ihm den Werther herzhaft in die Hand und schmeißen Sie ihm seine komische Erzählungen dafür ins Feuer (denen ich von Seiten des Witzes nichts abspreche) er wird, um ähnliche Szenen zu erfahren, Schritte tun ein Werther zu werden die ihn sein ganzes Leben hindurch freuen werden. Weg mit dem moralischen Gewäsch drüber, sein eigener Verstand wird das schon durcharbeiten und hier hoffe ich ein wenig mehr Nahrung finden als an der Geschichte eines nachgemachten Landpriesters und eines Junkerchens das nichts weniger als in der Natur ist.

Letzter Brief

Liebster bester N . . . verstehen Sie mich nicht unrecht. [Ich habe] Goethe nicht rechtfertigen sondern nur seine Rezens[enten und] deren Publikum zurecht weisen wollen, um deren Best[es willen] ließ ich mich zu diesem demütigen Ausdruck herab. W[eder Recht]fertigung noch Empfehlung braucht er, das letzte h[ieße nur] in den [401] Brunnen getragen und das erstere allen braven uneingenommenen Lesern Unrecht getan. Sie selbst konnten, ich bin Ihnen gut dafür, über der Lesung dieses Buchs nie einen Zweifel dagegen haben, nur hernach ist Ihnen das so beigefallen, da Sie in unsre moralische Welt zurückkehrten, wo kreuz und quer Worte und Ideen in der Luft und auf dem Papier aneinanderstoßen, bloß um den leeren Zwischenraum der Zeit auszufüllen.

In der Tat ist keine Fertigkeit in unsern Urteilen nirgends mehr anzutreffen und man beschönigt das mit dem saubern Namen der Unparteilichkeit, da man es doch viel wahrer Unvermögen nennen sollte. Viel lieber säh' ich's man schwiege ganze still und schöbe sein Urteil auf bis die Zeit es gereift hat. Die Übereilung im Urteilen ist im Grunde nichts als die Faulheit im Urteilen, man überläßt das Geschäfte andern und denn stottert man nach. In unsrer kritischen Zeit wo alles voll Rezensenten heckt – ich muß mich erstaunen, daß ich nirgends ein Urteil lese. Wasch mir den Pelz und mach mir'n nicht naß ist ein altes deutsches Sprüchwort.

Ich muß Ihnen aufrichtig gestehen, daß ich mich noch nicht im Stande fühle, den Werther zu rezensieren noch auch anzuzeigen, denn eine Anzeige denk' ich muß doch auch ein Urteil enthalten. Dazu ist's nicht genug die Héloïse und ein paar Romane von Fielding und Goldsmith gelesen zu haben – alle Zeiten, alle Nationen mit ihrem Charakter, ihren Produkten der Kunst und deren Wirkung und Einfluß erkannt verglichen zu haben und alsdenn den Wert unsers Dichters nach Maßgabe der Bedürfnisse unserer Nation zu bestimmen


hic opus, hic labor.

Fußnote

Note:

1 Es sind nach der Zeit noch einige Streitschriften über den Werther in Carlsruhe herausgekommen, die aber in aller Absicht tief unter der Kritik sind.

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TextGrid Repository (2012). Lenz, Jakob Michael Reinhold. Essays und Reden. Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers. Briefe über die Moralität der Leiden des jungen Werthers. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E35F-C