[296] Erster Teil
Ich will die Geschichte eines Menschen erzählen, der sich wohl unter allen möglichen Dingen dieses zuletzt vorstellte, auf den Flügeln der Dichtkunst unter die Gestirne getragen zu werden.
Mannheim ward von seinem Vater, einem Geistlichen im Thüringischen, auf die Universität geschickt. Er hatte sich dem geistlichen Stande gewidmet, nicht sowohl um seinem Vater Freude zu machen, als weil er sich dazu geboren fühlte. Von Kindheit an waren alle Ergötzungen, die er suchte, die Ergötzungen eines alten Mannes und ihm nicht besser als in einer Gesellschaft, wo Tabak geraucht und über gelehrte Sachen disputiert wurde. Seines Vaters Predigten schrieb er aus eigenem Trieb nach und hielt sie insgeheim bei verschlossenen Türen, nachdem er seines Vaters Perücke aufgesetzt und seinen Mantel umgetan, dem Perückenstock und Kleiderschrank wieder vor. Er fiel halb ohnmächtig nieder, als sein Vater mit einer großen Gesellschaft von Landpfarrern ihn einmal belauscht hatte und die Tür plötzlich mit dem Hauptschlüssel aufmachte.
Diese Freude aber ward dem guten alten Mann sehr versalzen. Er war ein großer Freund der Dogmatik und der Orthodoxie und hatte sich deswegen mit sei nem kleinen Johannes sehr viel Mühe gegeben. Bei unsern leichtsinnigen Zeiten fürchtete er nichts so sehr, als daß sein Sohn, sobald er dem väterlichen Auge entrückt würde, auf den hohen Schulen von herrschenden freigeisterischen und sozinianischen Meinungen angesteckt werden möchte. Denn ob er gleich den Sozinus nie gelesen und nur aus Walchs Ketzerliste kannte, so hatte er doch einen solchen [296] Abscheu vor ihm, daß er alle Meinungen, die mit seinen nicht übereinstimmten, sozinianisch nannte. Er nahm demzufolge alle möglichen Präkautionen und empfahl ihn zum strengsten den Lehrern, die er selbst gehabt hatte oder von denen er wenigstens mit Überzeugung wußte, daß sie in die Fußtapfen ihrer Vorgänger getreten waren. Zugleich warnte er ihn, mit allen Schreckbildern, die in seiner Imagination waren und damals auf den jungen Zögling großen Eindruck machten, vor nichts so sehr als vor allen Gesellschaften junger Leute, besonders derer, die die Modewissenschaften trieben, empfahl ihm den Umgang seiner Professoren, malte ihm die Aussicht seiner Wiederkunft mit den reizendsten Farben, worunter sogar den schönen Augen der Tochter seines Propstes eine Stelle vergönnt wurde, die sich so oft nach dem kleinen Johannes wollte erkundigt haben und ihm beim Abschiede einen schönen rotseidenen Geldbeutel strickte, dem zu Gefallen er seit der Zeit bis zu seiner Beförderung immer in den Hosen geschlafen hat.
Johannes Mannheim gab seine Empfehlungsschreiben ab; aber ach! er fand die Männer, an welche sie gerichtet waren, sehr unterschieden von dem Bilde, das ihm seine Einbildungskraft zu Hause mit so feierlichem Heiligenschein um sie her von ihnen vorgezaubert. Ein Umstand kam dazu, den ich als Geschichtsschreiber nicht aus den Augen lassen darf, weil in der Knospe des menschlichen Lebens jeder Keim, jedes Zäserchen oft von unendlichen Folgen bei seiner Entwicklung werden kann. Und so wird die Abweichung einer halben Sekunde von dem vorgezeichneten Wege in der Kindheit oft im Alter eine Entfernung von mehr als neunzig Graden und die Entscheidung der aus den übrigen Voraussetzungen der Erziehung und der Umstände unerklärbarsten Phänomene.
Damit ich also meinen Kollegen, den Philosophen über menschliche Natur und Wesen, manches Kopfbrechen über meinen Helden erspare, muß ich ihnen hier zum Vorschub sagen, daß einer von den Freunden des alten Mannheim nicht allein ein großer Landwirt im kleinen war, sondern auch gar zu gern von der Verbesserung seiner Haushaltung und Einkünfte allgemeine [297] Schlüsse machte, die sich auf das Gebiet seines Landesherrn und, wenn er warm ward, auf das ganze Heilige Römische Reich ausdehnten. Er las dannenhero zu seiner Gemütsergötzung alles, was jemals über Staatswirtschaft geschrieben worden war, schickte auch oft Verbesserungsprojekte ohne Namen bald an den Premierminister, bald an den Präsidenten von der Kammer, auf welche er noch niemals Antwort erhalten hatte. Indessen schmeichelte er sich doch in heiteren Stunden mit der angenehmen Hoffnung, daß sie für beide nicht könnten ohne Nutzen gewesen sein und daß unbemerkt zum Wohl des Ganzen mitzuwirken der größte Triumph des Weisen wäre. Dabei befand er sich um nichts desto übler. Das ewige Anspornen des allgemeinen Wohls machte ihn desto aufmerksamer auf sein Privatwohl, welches er als den verjüngten Maßstab ansah, nach welchem er jenes allein übersehen und beurteilen konnte.
Dieser glückliche Mensch, der neben allen diesen kameralistischen Grillen auch einige angenehme Talente besaß, in verschiedenen modernen Sprachen las, zeichnete und die Harfe spielte, hatte besonders viel Geschmack an dem offenen Kopf und der Lernbegierigkeit des kleinen Johannes gefunden und ihn daher in den Schulferien zu ganzen und halben Monaten zu seinem einzigen Gesellschafter gemacht, wobei unser kleine Altkluge sich unvergleichlich wohl befand, denn im Grunde war auch dieser Mann reicher und wohlhäbiger als sein Vater und lebte auf einem Fuß, der sich den Sinnen unsers Dogmatikers auf sein ganzes Leben lang einschmeichelte. Auch mußte er sei nen Rambach immer wieder von vorne anfangen, wenn er nach Hause kam.
Nun hatte er sich, wie es nicht fehlen konnte, aus alledem, was sein Vater jemals von Kompendien mit ihm getrieben hatte, vom Heilmann an bis zum Baier und Dieterikus, seine Religion nach seinem Herzen zusammengesetzt. Diese war, um von der glücklichen Simplizität der Empfindungen unsers Lieblings eine Idee zu geben, in wenig Worten folgende: daß Gott litte, wenn wir sündigten, und daß er auferstünde und gen Himmel führe, wenn wir andere glücklich machten. Wie sein Freund aber, der [298] kameralistische Landpfarrer, nahm er immer sein eigenes Glück zum verjüngten Maßstabe desjenigen an, das er andern verschaffen wollte.
Nach diesen einfachen Religionsbegriffen konnte es nicht fehlen, er mußte in den Kollegien der Herren, an die er von seinem Vater empfohlen war, in den ersten drei Wochen unerträgliche Langeweile finden. Sie machten ihn alle die Schritte zurückmessen, die er voraus hatte, und führten ihn durch ein entsetzlich ödes Labyrinth von Schlüssen von der Wahrheit zu der Wahrscheinlichkeit zurück, mit der er den Religionsspöttern zu Gefallen nun durchaus sich den Kopf nicht zerbrechen wollte, weil er in dem festen Glauben stand, daß ein Religionsspötter nicht bekehrt werden kann, wenn er nicht will, und daß sich auf den Willen durch keine Schlüsse wirken läßt. Aller Warnungen seines Vaters ungeachtet also ward er noch in den Prolegomenen seiner dogmatischen Feldherren gegen die Religionsspötter ein förmlicher Ausreißer und studierte die Kameralwissenschaften, die Chemie und die Mathematik, deren praktischer Teil eigentlich seine Erholungsstunden beschäftigte.
Es fanden sich sogleich Amanuenses der Herren Professoren, die alle seine Gänge auskundschafteten und ihren Archonten die neue Einrichtung seiner Studien aufs Haar berichteten. Denen Lesern zu Gefallen, die die deutschen Akademien nicht kennen, muß ich den Ausdruck Amanuensis erklären. Es sind gewöhnlicherweise Bauernsöhne, die den Professoren anfänglich die Füße bedienen, nach und nach aber durch den Einfluß der Atmosphäre, in der sie sich mit ihren Herren herumdrehen, einen solchen Anteil ihres Geistes erhalten, daß sie sie zu ihrer Hand abrichten können, die Gelder für die Kollegien einzusammeln und, wenn einer von den bekannten Gesichtern in den Hörsälen, wo sie gemeinhin nur die Stühle einreichen, wenn Fremde kommen, zu fehlen anfängt, ihm so lange auf die Spur zu gehen, bis sie den Räuber entdeckt haben, der ihn ihrer Schule abspenstig gemacht hat. Alsdann wird alles angewandt, ihn wieder auf den rechten Weg zu bringen, Briefe an die Seinigen, [299] bisweilen auch anonyme Briefe von verborgener Freundeshand, Erinnerungen am Schwarzen Brett und in den Programmen und, wenn nichts verschlägt, bei der nächsten erhaschten Veranlassung eine Zitation durch die Hand des unermüdeten Pedellen.
Alle diese Besorgnisse schreckten unsern Johannes nicht. Er ging den Gang seines Herzens, und der Bannstrahl in den Briefen seines Vaters selbst, so innig er ihn verehrte, konnte ihn nicht davon abbringen. Überall ward der gute arme Alte bedauert wegen der üblen Nachrichten, die von seinem Sohne einliefen. Bald hieß es, er habe sich verheiratet, bald, er habe sich aus dem Staube gemacht; umgesattelt hatte er wenigstens dreimal und, wegen liederlicher Wirtschaft, Schulden und Duelle, das Consilium abeundi mehr als dreimal erhalten. Unterdessen hatte er sich bei einem königlichen Amtmann eingemietet, mit dem er von Zeit zu Zeit, sooft es seine Stunden erlaubten, Ausschweifungen aufs Land machte und die Ausübung dessen studierte, wovon ihm die Theorie der Ökonomisten doch nur sehr dunkle Vorstellungen gab. Dieser Amtmann hatte ein Haus in der Stadt, wo seine Familie wohnte, derweilen er seinen gewöhnlichen Aufenthalt auf dem Lande nahm, und nur im Winter, wenn die meisten landwirtlichen Arbeiten vorbei waren, sich in dem Schoß seiner Gattin und Kinder von den Mühseligkeiten des Lebens erholte. Mit diesen lebte unser Johannes, derweil die Ungewitter des öffentlichen Rufs unbemerkt hoch über ihm wegstürmten, in goldener Zufriedenheit. Auch hatte er Gelegenheit, bei ihnen alles zu sehen und anzunehmen, was Überfluß, Bequemlichkeit und Geschmack den Sitten, den Manieren und der ganzen Summe unserer Gefühle Feines und Gefälliges mitzuteilen pflegen.
Er war einigemal mit ihnen auf Bällen gewesen und durch sie auf diesen in Verbindungen geraten, wo er die große Welt kennenlernen konnte, nicht um in ihr nach etwas zu streben, sondern um sich den falschen Firnis zu benehmen, den die Imagination der geringern Stände gemeinhin sich um die höheren lügt und der dem Gefühl ihres eigenen Glücks so gefährlich [300] ist. Er lernte Personen von Verdienst unter diesen kennen, die sich in jeder Maske, in der die Vorsehung sie auf diese große Schaubühne der Welt gestellt hat, immer gleich sehen, und sie nahmen ihm das Vorurteil, das sich zu den überspannten Vorstellungen, die wir vorhin angemerkt haben, so gern hinzuzugesellen pflegt, daß jedermann, der dem Range nach über uns steht, eben dadurch alle persönliche Hochachtung verlieren müsse. Er fühlte das große Prinzipium der Gleichheit alles dessen, was gleich denkt, das durch alle Stände und Verhältnisse geht und nur dem Neide und der Unwissenheit durch äußere Dekorationen entzogen wird.
Unterdessen erschollen zu Hause die allerunangenehmsten und kränkendsten Nachrichten für einen Geistlichen: Johannes, der viel mit Offizieren lebte, sei unter die Soldaten gegangen; andere versicherten, er gehe mit niemand als dem Adel um und sei willens, sich adeln zu lassen. Sein Vater, ohne auch nur die Unmöglichkeit von alledem zu ahnden, erschrak über alle diese Gerüchte, als ob sich an ihnen gar nicht mehr zweifeln ließe. Endlich wurden alle seine Befahrungen, wie durch einen Donnerschlag, durch einen Brief bekräftigt, den er von Johannes aus Genf erhielt, wohin er einen Jungen von Adel auf seinen Reisen begleitet hatte.
Des Propstes Tochter hatte anfänglich eine heimliche Freude darüber. Luzilla, dieses war ihr Name, war bis in ihr zwölftes Jahr die Bewunderung und der Neid – bloß ihrer eigenen Gedanken und des Spiegels gewesen, das heißt, sie war auf dem Lande erzogen und kannte die Stadt nur aus den Romanen. Man hatte ihr nichtsdestoweniger Singmeister und Sprachmeister gehalten, die sich ihr Vater mit großen Unkosten aus der Stadt verschrieb. Alles, was sie bisher von Johannes aus der Fremde gehört, hatte ihr, des Wehklagens seines und des teilnehmenden Bedauerns ihres Vaters ungeachtet, sehr wohl gefallen. Zu wissen stehet, daß ihr Vater ein alter Mann war, der sich wegen Zähnemangels und aus Liebe zur Ruhe unaufhörlich mit dem Gedanken trug, sich einen Gehilfen an seiner Pfarre zu nehmen. Es war ihm also gar nicht recht, daß unser Johannes, für dessen [301] Glück er die Gewährung auf sich genommen, so lang in der Fremde blieb.
Luzilla, in diesem Stück ihres Vaters wahre Tochter, hatte doch, in Ansehung der Art dieses Glückes und der Entwürfe zu demselbigen, von ihrem Vater sehr abgehende Meinungen. Ein junger Offizier wäre ihr in aller Absicht viel lieber gewesen als ein junger Pfarrer. – Dieses währte, bis sie in die Stadt kam, da sie dann sehr geschwind das Subjekt mit dem Prädikat verwechseln lernte. Ich brauche diese Worte hier deswegen, weil ihr Vater, der ein vollkommenes Frauenzimmer aus ihr bilden wollte, sich alle Mühe gab, ihr die Wolffische Logik beizubringen, von der er zur Metaphysik und von dieser zur Moral übergehen wollte. Aber ach, ein unvorgesehener Zufall durchschnitt diesen schönen Plan. Eine Kusine von ihr in Holland fing eine Korrespondenz mit ihr an; es war ein Elend, daß weder Vater noch Tochter noch irgendein andrer Gelehrter aus der ganzen Gegend ihr den Brief dechiffrieren konnte. Nun war kein Rat dafür, das arme Kind mußte Französisch lernen.
Sie ward in die Stadt zu einer Französin getan, die Kostgängerinnen hielt und, weil sie vermutlich ehedessen die Haushälterin eines Maître de camp gewesen war, sich sehr bescheiden Me. de Liancourt schlechtweg nennen ließ. Auch hatte alles, was von Beau monde in der Stadt war, freien Zutritt zu ihr, worunter verschiedene Offiziere waren, die unsern herumschweifenden Johannes mit seinem roten Geldbeutel bald aus ihrer Imagination verwischten.
Unterdessen flogen Täler, Seen und Gebirge bei ihm vorbei; er nutzte überall, soviel er konnte, seinen Aufenthalt, obgleich aber seine Sinne und Verstand unaufhörlich durch neue Gegenstände und Kenntnisse gefesselt wurden, so blieb doch das Innre seines Herzens ein Heiligtum, worin für seine wunderschöne Beutelstrickerin das heilige Feuer unauslöschlich brannte. Er hütete sich sehr, ihr Bild in seiner Phantasie wieder auszumalen, weil er aus der Erfahrung gemerkt, daß dieses ihn zu allen seinen Arbeiten untüchtig machte und also von seinem Zweck immer weiter entfernte, aber der dunkle verstohlne [302] Gedanke an sie war ihm süßer als alles Zuckerwerk, das die schönen Geister aus dem heiligsten Schatz der menschlichen Natur, aus dem Geheimnis ihres Herzens, backen. Auch schrieb er ihr nie, ließ sie auch niemals grüßen. Zu sehr versichert ihrer gleichen Seelenstimmung, war's ihm, als ob sie ihm immer bei jedem seiner Schritte zur Seite stund und alles wissen mußte, was er tat und vorhatte.
Bei ihr war es anders. Ein Jahr lang, als er nach England ging, hatte weder ihr noch sein Vater die geringste Nachricht von ihm erhalten. Als es darauf wie der hieß, er sei in Deutschland, spürte sie geradesoviel Freude darüber, als es ihr gemacht haben würde, vom Achmet Effendi zu hören, er sei wieder in Berlin angekommen.
Das war nun ganz natürlich; und welcher Herzens– und Mädchenkenner, der nicht etwa mit unserm Johannes sich im nämlichen Falle befindet, wird sie nicht entschuldigen?
Aber Johannes Mannheim nicht also. Als er zu Jungfer Susanna Luzilla Bulac in die Stube trat und einen feinen jungen Abbé zierlich gekleidet auf ihrem Sofa erblickte, der an ihrem Metier Spitzen klöppelte, sie aber, ein sauber gebundenes Buch in Taschenformat in der Hand, im musselinenen Negligé nachlässig bei ihm hingegossen, wie sie verwundernd aufstand, ihn gleichgültig über und über, vom Haupt bis zu Füßen beschaute und seinen ehrerbietigen Bückling mit einem so schnell gezogenen Knicks, als ob er ihr schon leid täte, eh er geendigt war, und den kurzen Worten beantwortete: »Was wär Ihnen lieb, mein Herr? –«
Erschrak er fast sehr darob und seine Mienen sanken zu Boden. »Mademoiselle!« sagte er, oder vielmehr er glaubte es zu sagen, denn in der Tat verging ihm alle Besinnung. Er hatte sich, als er die Zinnen der Stadt wieder zu Gesicht bekam, vorgenommen, eine der entzückendsten Rollen seines Lebens zu spielen. Sie würde ihn nicht erkennen, meinte er, und nun wollt er, unter der Gestalt eines Fremdlings, jede Saite ihres Herzens mit Nachrichten von ihrem Johannes treffen und sich das königliche Schauspiel geben, alle Widerwärtigkeiten und Gefährnisse [303] seines Lebens zum andernmal schöner empfunden zu sehen, aber ach! –
Das Gespenst da, das häßliche Gespenst in dem runden, gepuderten Haar, mit seidenem Mantel an ihrem Metier – wo sein Beutel geklöppelt war – –
Ich muß meinen Lesern diese Erscheinung erklären. Es war ein junger Stadtpfarrer, der sich in Luzillen verliebt, um sie angehalten, ihr Jawort, ihres Vaters Jawort erhalten hatte – und morgen sollte die Hochzeit sein. Jedermann wünschte ihm Glück zu dieser Wahl und ihr. Sie wären einander wert, sagte der Hauptmann Weidenbaum, der noch niemals was Unschönes gesagt hat. Der Obriste von Wangendorf selber hatte dem jungen Paar seine Gegenvisite gemacht. Er hatte die junge Frau Kaplänin unter das Kinn gefaßt und gesagt, wenn er einen Sohn bekäme, sollte er Pfarrer werden. Der Herr Obristleutnant hatte ihr das »Leben des Magister Sebaldus Nothanker« in englischem Bande zugeschickt und mit eigener Hand auf französisch vorn in das Buch geschrieben. »Félicitez vous, Mademoiselle«, hatte er geschrieben, »d'éviter les désastres contenue dans ce livre, et de faire les délices d'une ville, qui vous estime, au lieu d'errer de campagne à campagne, d'un village à l'autre, victime des préjugés de votre état et des maux les plus affreux de l'indigence et de la superstition.« Die sämtlichen Herren von der Regierung hatten ihre Visiten mit Billetten, einige auch persönlich, erwidert. Nichtsdestoweniger unterstund sich Herr Johannes Mannheim, den sie gleich auf den zweiten Blick erkannte, zu einer solchen Zeit, an einem solchen Ort, seine Visite zu machen. Er mußte von ihrer vorhabenden Vermählung wenigstens doch schon in England gehört haben.
Der Herr Hofkaplan blieben ungestört am Metier sitzen.
Johannes Mannheim schaute auf, stotterte, errötete: »Ich komme um Ihnen viele Grüße – von einem gewissen Herrn Mannheim zu bringen.«
»Mein Herr, Sie sind gewiß unrecht, ich kenne so keinen Namen –«
»So keinen Namen?« wiederholte Mannheim mit einem Ton, [304] in welchen er alles legte, was seiner Imagination jemals von dem Ton der alten Redner in ihren Schranken oder vor der Armee vorgeklungen sein mochte.
»Mannheim!« rief der Abbé durch die Fistel. »Was ist das für ein Name?«
»Es ist – ich weiß nicht – vielleicht meinen Sie den Sohn von dem Pfarrer Mannheim, der ehedessen meines Vaters Nachbar war.«
»Ist er's nicht mehr?« fragte Johannes.
»Soviel ich weiß, hat er die Pfarrei verlassen. Doch Sie können die beste Nachricht davon einziehen bei dem Schulkollegen Hecht, mein ich, da pflegt er ja sonst zu logieren. Nicht wahr, mari! Hast du ihn nicht neulich dort angetroffen?«
»Ach, der Dorfpfarrer«, versetzte der Abbé mitleidig. »Ja, ich erinnere mich. Ist er Ihnen nicht gleichgültig, mein Herr?«
»Ich müßte der nichtswürdigste Stutzer sein, wenn er mir's wäre«, antwortete Johannes außer allen Sprüngen, »es ist mein leiblicher Vater.«
»So?« kreischte mein Abbé im höchsten Kammerton und nickte wieder auf seine Arbeit hin.
»Sie sehen also, mein Herr, daß Sie hier unrecht sind«, sagte Luzilla, »gehen Sie zum Schulhalter Hecht – der wird Ihnen näheren Bescheid geben.«
Johannes sah fest auf den Boden und fort. – Er kam zu seinem Vater. – Schon eh er ausreiste, hatte er so viele Theologie mitgenommen, daß er sich zur Not hätte können examinieren lassen. Die vielseitige Bekanntschaft mit der Welt, die er sich nunmehr erworben, verbunden mit seinen andern Kenntnissen, erleichterten ihm die Mühe, ins Predigtamt zu kommen. Sobald er sich das erstemal öffentlich hatte hören lassen, freute sich jedermann, ein Werkzeug seiner Beförderung zu werden. Er bekam eine mittelmäßig gute Stelle. Viele meiner Leser werden stutzen und einen Roman zu lesen glauben, wenn sie finden, daß es ihm, ungeachtet seiner Inorthodoxie, doch mit seiner Beförderung geglückt sei. Er ließ es sich aber auch nur nicht einfallen, sich aus dem Eide einen Gewissensskrupel zu machen, mit dem [305] er sich zu den symbolischen Büchern verband. Niemals war es sein Zweck gewesen, den Bauern die Theologie als Wissenschaft vorzutragen; es gingen sie also die Glaubenslehren der Kirche so wenig als ihre Zweifel an. Das Mystische der einen sowie das Aufgeklärte der andern geht weit über ihr Fassungsvermögen. Sehr wohl konnte er also für seine Person zu gewissen festgesetzten Lehren schwören, ohne welche keine äußerliche Kirche bestehen kann und zu denen jeder den Schlüssel in seinem Herzen hat. Denn, im Grunde, was sind Lehren anders als Vorstellungsarten, und welcher Eid kann diese binden, welcher Eid mich zwingen, Licht zu sehen, wenn ich im dunklen Zimmer stehe, oder umgekehrt? Genug, daß der Eid vorbauende Formel ist, keine Sachen zu lehren, die auf das Leben und die Handlungen der Zuhörer einen widerwärtigen Einfluß haben, als den die wahre Religion auf sie haben soll. So sagte er also seinen Zuhörern kein Wort, weder von der Ewigkeit der Höllenstrafen noch von der Vereinigung der beiden Naturen, noch von den Geheimnissen des Abendmahls, bis sie selbst drauf kamen und sich insgeheim bei ihm Rats erholten, da er seinen Unterricht denn jedesmal nach der besonderen Beschaffenheit der Person, die ihn fragte, einrichtete. Aber er lehrte sie ihre Pflichten gegen ihre Herrschaft, gegen ihre Kinder, gegen sie selbst. Er wies ihnen, wie sie durch eine ordentliche Haushaltung sich den Druck der Abgaben erleichtern könnten, deren Notwendigkeit er ihnen deutlich machte. Er erzählte ihnen, wie es in andern Ländern wäre, und machte ihnen ihren Zustand durch die Vergleichung mit schlimmeren süßer. Er erzählte ihnen einzelne Beispiele von Hauswirten, die durch ihren Fleiß und Geschicklichkeit sich emporgebracht, bewies ihnen, daß Arbeit und oft Mangel selbst der Samen zu all unserm zeitlichen Glücke seien und daß Vereinigung ihrer Kräfte, ihrer Herden, ihrer Ländereien und Verträglichkeit und Freundschaft untereinander die Grundfeste ihrer und der ganzen bürgerlichen Wohlfahrt wären und daß je wohlhäbiger sie durch gegenseitige Hilfe würden, desto weniger sie den Druck der Abgaben fühlten, desto weniger selbst Abgaben zu geben brauchten, die oft nur deswegen [306] verwendet werden, den Kredit des Landes von außen emporzuhalten, weil er von innen zu sinken anfängt. Er bewies ihnen aus der ältern und neuern Geschichte, doch immer so, daß sie es fassen konnten, daß die Leidenschaften der Fürsten selbst immer mehr Entsehen vor dem wohlhäbigen und fleißigen als vor dem dürftigen und verzagten Bürger gehabt, weil der Reichtum der Bürger auch ihr eigener wäre. Er warnte sie ebensowohl vor Ausschweifungen und Liederlichkeiten als vor den frühen Heiraten und Zerstückelungen ihrer Grundstücke, welches alles Verwirrung und Armseligkeit in ihre Haushaltungen brächte. So fehlte es ihm keinen Sonntag an Stoff zum Reden, welchen er von einzelnen Fällen hernahm, und konnt er nur gar nicht dazu kommen, jemals an aristotelischen oder andern theologischen Spitzfindigkeiten hängenzubleiben. Die Vesper des Sonntagnachmittags verwandelte er in eine ökonomische Gesellschaft, und zwar auf folgende Art. Er hielt ein kurzes herzliches Gebet in der Kirche, alsdann versammelte er die Vorsteher und die angesehensten Bürger des Dorfs um sich herum und sprach mit ihnen von wirtschaftlichen Angelegenheiten. Sie mußten ihm alle ihre Klagen übereinander, alle ihre Bedenklichkeiten über diese und jene neue Einführung, alle Hindernisse ihres Güterbaues vortragen, und er beantwortete sie ihnen entweder sogleich oder nahm sie bis auf den folgenden Sonntag in Überlegung, mittlerweile er sich in Büchern oder durch Korrespondenzen mit andern Landwirten darüber Rats erholte. Endlich, damit er mit desto mehrerer Zuverlässigkeit von allen diesen Sachen mit ihnen reden könnte, ging er mit einem der wohlhäbigsten Bürger seines Dorfs einen Vertrag ein, vermittelst dessen jener ihm, gegen soundso viel Stück Vieh und Auslagen der Baukosten, einen verhältnismäßigen Anteil an seinem Kornacker sowohl an seinem Wiesenbau zustund; zu diesem gesellte sich noch ein anderer, der einen Weinberg hatte, und siehe da ein kleines Landgut entstehen, das in sich selbst gegenseitige Unterstützung fand, weder Dung noch Holz zu bezahlen brauchte und in einigen Jahren meinen Pfarrer und seine Mitinteressenten reich machte. Itzt beeiferte sich jeder,[307] einen gleichen Vertrag mit ihm einzugehen, und da dieses nicht wohl sein konnte, schlossen sie sich aneinander und ahmten seinem Beispiel nach. So ward in kurzer Zeit das Dorf eines der wohlhäbigsten in der ganzen Gegend.
Der Pfarrer hatte den Vorzug, daß er die Vorteile des Handels auf seinen Reisen kennengelernet. Er war unerschöpflich an neuen Vorschlägen, ihren Ertrag zu Gelde zu machen. Er wußte, was jede Stadt in der Nähe für hauptsächliche Bedürfnisse hatte, und wenn sie alle zusammenstunden, wie denn in kurzer Zeit ihr Zutrauen zu ihm unbegrenzt war, so machte das für diesen und jenen Handlungszweig was Beträchtliches. Er schloß sich bald mit benachbarten Edelleuten und ihren Dörfern an, und sein Genie, das nie rastete, teilte sich nach einigem Widerstande allen mit. Ein König hätte nicht inniger geehrt werden können, als er es von seinen Bauern ward.
Sobald sein Vermögen ansehnlicher ward, richtete er alles in seinem Hause mit einem Geschmack ein, der die Nacheiferung des Adels selber erweckte. Nun war es Zeit, auf die höchste Zierde desselben zu denken, auf die Königin, die aller dieser Vorteile froh mit ihm werden sollte. Über seiner rastlosen Tätigkeit hatte er den letzten Eindruck der Treulosen vergessen, die ihn, die Wahrheit zu sagen, durch eine Art Verzweiflung gespornt hatte, sich über ihre kränkende Geringschätzung hinauszusetzen. Er reiste also die Hauptstadt vorbei, und der erste Gedanke, der ihm einfiel, war der ehrwürdige Amtmann, dem er seine ersten Kenntnisse der Wirtschaft zu danken hatte. Dieser war ein Vater von mehreren Töchtern, von denen die beiden ältesten schon verheiratet, die beiden jüngsten und ein Sohn noch in seinem Hause waren. Er wußte, daß dieser Mann ihnen nichts mitgeben konnte als eine vollkommen feine und geschmackvolle Erziehung, verbunden mit allen möglichen häuslichen Geschicklichkeiten, wovon er Augenzeuge gewesen war. Dieses, nebst seinem Wohlstande und seinem Ruf, gab ihm einige Hoffnung, so unglücklich seine erste Liebe gewesen war, in seinem zweiten Antrage mit besserem Erfolg etwas wagen zu dürfen. Er tat es. Er kam, ward noch immer wie der alte [308] empfangen; die Augen der jüngsten der Töchter seines Freundes nahmen ihm in der ersten Stunde die Freiheit. Seine Unruhe war unaussprechlich, denn hier einen Korb zu bekommen schien ihm unter allen Schicksalen, die er erstanden, das unerträglichste. Wie waren seitdem alle Vorzüge der jungen Schönen aus der Knospe gegangen! Aber die Entfernung, der Antrag selbst, das wenige, was er anzubieten hatte gegen die Ergötzlichkeiten einer großen Stadt, wo sie bei keiner öffentlichen Lustbarkeit unbemerkt blieb, sein Alter endlich selber, seine Person, die ihm niemals so häßlich vorgekommen war, sein Gesicht, auf dem jeder gehabte Unfall eine Spur nachgelassen hatte, die Unaufmerksamkeit auf die feinern Gegenstände der Unterhaltung, die ihm seine bisherigen häuslichen Sorgen und Geschäfte zuzogen, alles das machte ihn, wenn er sich ihr gegenüber befand und reden wollte, so kleinmütig – soll eine solche Blume dazu geboren sein, an meinem Busen zu verwelken? sagte er sich unaufhörlich, und eine Träne trat ihm ins niedergeschlagene Auge.
Er bemerkte eine besondere Eigenschaft an ihr, die ihm wieder Mut gab, das war ein merkbarer Hang zur Einsamkeit. Ob, weil alle äußeren Gegenstände, die die Stadt ihr aufweisen konnte, ihr Herz nicht befriedigten, ob, weil sie glaubte, daß es ihr besser ließe, lasse ich unentschieden, genug, es liefen bisweilen Monate hin, daß sie von dem Landgut, wohin sie ihren Vater allein zu begleiten pflegte, auch nicht nach der Stadt einmal hören mochte. Alsdann aber ergab sie sich auch im Gegenteil bei ihrer Wiederkunft den Ergötzlichkeiten der Stadt mit einer ordentlichen Art von Zügellosigkeit, und überhaupt hatte sie die bei Frauenzimmern so seltene Eigenschaft, nichts nur halb zu tun oder zu wollen.
»Albertine!« sagte er einstmals zu ihr, als sie eben von dem Landgut ihres Vaters nach der Stadt zurückfuhren – es war ein schöner heitrer Wintertag gewesen und die untergehende Sonne schien eben aus verklärten Wolken mit ihrer letzten Kraft auf den entgegenglühenden Schnee; er stand hinter ihrem Schlitten und führte ihn, derweile sie in ihrem Pelz eingewickelt den [309] Himmel und den Schnee an Röte beschämte –, »Albertine«, sagte er, indem er sich zu ihr hinüberbog, »daß ich ein König wäre!« – »Was fehlt Ihnen?« rief sie hinter ihrem Schlupfer, mit einer Stimme, deren Zauberklang er nicht länger widerstehen konnte. »Ach! Ich habe Ihnen weiter nichts als eine Pfarre anzubieten«, schrie er, indem er sich plötzlich vom Schlitten losriß und sich mitten in dem Schnee vor ihr niederwarf. Eine solche Erklärung auf der öffentlichen Landstraße, auf der freilich wenig Menschen zu vermuten waren, würde alles mögliche Beleidigende für sie gehabt haben, wenn nicht der Ausdruck seiner Stimme und die Tränen, die sie begleiteten, ihr Herz ebenso ungewöhnlich angegriffen hätten, als der Antrag selbst ungewöhnlich und unerwartet war. Sie konnten eine Weile alle beide nicht zu sich selber kommen. »Stehen Sie doch auf«, sagte sie endlich mit schwacher Stimme. »War's denn hier Zeit?« – Bei diesen Worten verhüllte sie sich in ihren Pelz, und er bekam den ganzen Weg über von ihr nichts zu sehen noch zu hören.
Ein Glück, daß er es so abgepaßt, daß der Schlitten des Vaters eben eine gute Viertelstunde voraus war. Er kam in der Stadt an wie ein Verbrecher, der zum Gerichtsplatz geführt wird. Alles, was er sah und hörte, alle Fragen, die an ihn ergingen, selbst die Freundlichkeit, mit der der Amtmann und die Seinigen ihn aufzumuntern suchten, waren lauter Folterstöße für ihn. Albertine allein war wider alle ihre Gewohnheit, wenn sie sonst nach der Stadt zu kommen pflegte, ihm heut vollkommen ähnlich. Als sie so im Zirkel saßen und auf beider Gesichtern Angst, sich zu verraten, mit tausend Empfindungen kämpfte, kam der kleine Bruder, ein rosiger Junge, von der Freude, so schien es, geboren, mit großem Geschrei in die Stube gerannt und rief: »Albertine, dein Bräutigam ist da.«
Albertine antwortete anfangs nicht; als er aber es zum zweitenmal wiederholte und sie fragte: »Wo denn?«, und er antwortete: »In deiner Kammer!«, und sie aufstund und hinausging – und in dem nämlichen Augenblick der Amtmann unserm Mannheim eine Berechnung des jährlichen Ertrages seiner [310] Ländereien vorlegte und ihn dringend um seine Meinung fragte, um wieviel sie geringer oder vorzüglicher als die in seinem Vaterlande wäre –, so überlasse ich's dem menschenfreundlichen Leser, sich den Zustand des armen Johannes zu denken.
»Ja – ja«, sagte er, indem er das Blatt ansah, ohne etwas darauf zu sehen.
»Was denn?« fragte der Amtmann.
In dem Augenblick trat Albertine mit einem kleinen Buben aus der Nachbarschaft herein, den sie an der Hand führte. Mannheim sah auf, und die Erholung von seiner Todesangst war so sichtbar, daß sich der Amtmann nicht entbrechen konnte, ihn zu fragen, was ihm gewesen wäre. »Nichts«, stotterte er. Albertine begab sich hinweg. Mannheim mußte um Erlaubnis bitten, sich zu entfernen. Die entgegengesetzten Bewegungen, die seine Seele in so kurzer Zeit aufeinander erfahren hatte, überwältigten seinen ganzen Nervenbau; er fühlte die angenehme Hoffnung in seinem Innersten, er werde diesen Abend vielleicht nicht überleben.
Der Amtmann wollte ihn nicht fortlassen. Er zwang ihn, ein Bette in seinem Hause anzunehmen; jeder mann merkte bald, daß Mannheims Zerrüttung mehr als eine leichte Unpäßlichkeit war.
Er verfiel wirklich in eine Krankheit, die der Arzt dem besorgten Amtmann noch gefährlicher abschilderte, als sie wirklich war. Der Amtmann und seine ganze Familie blieben den Tag traurig; Albertine allein nahm eine gezwungene Munterkeit an. Ihr Vater, den dies aufmerksam machte, ging den folgenden Tag verstohlnerweise auf ihr Zimmer. Er überraschte sie, den Kopf in die Hand gestützt, in einem Meer von Tränen. »Was gibt's hier?« sagte er. »Das ist ein ganz neuer Aufzug, Mademoiselle Albertine!« Sie sprang verwirrt von ihrem Stuhl auf, griff nach einem Buch, wollte Entschuldigungen suchen. – »Still nur!« sagte er. »Ich habe wohl gesehen, daß du nicht gelesen hast. Auch kann ein Buch dich nicht so greinen machen, das laß ich mir nicht einreden.« – »Papa«, sagte sie und faßte ein Herz, »tun Sie mit mir, was Sie wollen«, indem sie zitternd ihm nach [311] der Hand griff – »ich liebe den Pfarrer Mannheim.« – »Ei, wenn es nicht mehr als das ist«, sagte der Alte, »ich liebe ihn auch. Es steht aber dahin, ob du ihm auch so wohl gefällst, wiewohl seine Krankheit und eure beiden Affengesichter letzthin – ei, laß uns einmal einen Versuch wagen und zu ihm auf die Kammer gehen.« – »Nimmermehr!« sagte Albertine. »Ich muß es Ihnen nur gestehen, Papa: er hat mir letzt eine Erklärung getan, und das ist die Ursache seiner Krankheit.«
»Ei, so sollst du hingehen und ihm die Gegenerklärung tun«, sagte der Alte, indem er sie mit Nachdruck an die Hand faßte und zu Mannheim in das Zimmer zerrte. »Ich nehme es auf mich, es bei deiner Mutter und Schwester gut zu machen, und einen ehrlichen Mann, wie den, und einen alten Bekannten in meinem Hause sterben zu lassen – Mädchen! Mädchen! Wenn du mir nicht so lieb wärst –«
Man kann sich vorstellen, was diese letzten Worte, die er hörte, auf den Kranken für einen Eindruck gemacht haben müssen. Eine himmlische Musik in dem Augenblick, da ihm die scheidende Seele vor die Lippen trat, könnte ihm nicht willkommner gewesen sein. Er mußte sich mit Mühe halten, daß er nicht aus dem Bette und ihnen hin zu Füßen stürzte. »Da hast du sie!« sagte der Alte mit den Worten unsers unvergleichlichen Dichters, den er seinen Töchtern allein auf dem Nachttisch erlaubte. Albertine, mit niedergeschlagenen Augen und einer unabgewischten Träne auf der Wange, sagte kein Wort. Er sog an ihrer Hand das Leben wieder ein, das er nicht geachtet hatte; er hing mit seinen Lippen dran, als ob ein Augenblick Unterbrechung der Augenblick seines Todes wäre. Die Bewegung ihrer Hand war wie eines Arztes, der seinen Kranken gern wieder gesund sähe; im nächsten Augenblick wollte sie sie wegziehen, aber es schien, als ob ihr die Kraft dazu fehlte. Ihre Geschwister kamen. Der Vater entdeckte ihnen den Vorfall kurz und erwartete ihre Antwort nicht, sondern lief zur Mutter, die er in Tränen herbeiholte. Alle willigten ein. Der Entfernung und der andern Schwierigkeiten ward aus Schonung für den Kranken nicht erwähnt. Alles richtete sich ein, wie er besser wurde.
[312] Man erlasse mir die Beschreibung der Hochzeit. Mit meiner Leser Erlaubnis wollen wir uns in die Tür des Pfarrhofes stellen und unser junges Paar bei seinem Einzug bewillkommnen.