[307] [360]Ein Gespräch
A: Wissen Sie wohl, lieber Vetter, daß man anfängt, Sie in der Stadt und sogar am Hofe für einen Atheisten auszuschreien?
B: Was Sie mir da Neues sagen! Aber warum, lieber Vetter?
A: Hm! Es ist wohl schwer zu erraten! Weil Sie, wie die Leute sagen, an keinen Gott glauben und dieses in der Hitze des Gesprächs deutlich genug merken lassen.
B: Nicht doch, lieber Vetter, dieses Gerücht entspringt aus einem [360] ganz andern Grunde, und der ist: daß ich ganz anders tu' und handle als alle die frommen Leute, die an Gott und auch die abgeschmacktesten Dogmen zu glauben vorgeben oder vielleicht wirklich daran glauben. Machte ich's wie diese Leute und hörten sie nicht, daß der Erbprinz von mir als einem aus Grundsätzen rechtschaffen handelnden Manne spräche, ich möchte glauben, was ich wollte. Lassen sie mich so schlecht werden, Rücksicht auf diese Leute zu nehmen, das heißt, mich mit ihnen zu gewissen Zwecken zu verbinden, so werden Sie bald in mir eine Stütze der rechtgläubigen Kirche sehen.
A: Das ist wahr, man greife Sie noch so leise an, gleich werfen Sie einem andere Gegner in die Schranken. Ein Atheist sind Sie doch, und ein recht bösgelaunter.
B: Bösgelaunt gewiß.
A: Aber um Gottes willen, Vetter, sagen Sie mir doch, wie kann man in der Theorie ein Atheist sein?
B: Vetter, wie kann man in der Theorie an Gott glauben und in der Praktik ein ausgemachter Schurke sein?
A: Da haben wir wieder das alte Lied! So erklären Sie immer die menschlichen Schwachheiten zu Ihrem Vorteile!
B: Und da haben wir wieder den Hofmann, dem Schurkereien nur Schwachheiten sind. Lassen Sie es immer gut sein, ich bin kein Atheist aus Theorie. Bin ich einer – um mir dann das Absurdeste selbst aufzubürden –, so bin ich es bloß durch die Praktik meiner gläubigen Ankläger geworden. Wenn ich lebhaft an diese denke, so fährt mir es immer schaudernd durch das Herz, und ich möchte im Schmerz ausrufen: »Wie kann man diese Menschen handeln und wirken sehen und herzlich an Gott glauben, da der Glaube an ihn auf sie so wenig wirkt?« Um zu enden, sag' ich Ihnen ein für allemal, daß es ebenso verwegen ist, das Dasein Gottes zu leugnen, als es unmöglich ist, es darzutun.
A: Gut! Gut! Aber warum sich lieber nach der gefährlichen Seite hinhalten?
[361]B: Ach, lieber Vetter, man kömmt so nach und nach dazu, wenn man Gefühl für Wahrheit, Rechtschaffenheit, Gerechtigkeit hat und – was das Rechte und auch das Schlimmste ist – wenn man mit dem Mut für beide zu kämpfen geboren wird und auf diesen Mut sein Dasein gründet. Sie haben von dieser wirklichen Ungemächlichkeit nichts zu fürchten, darum rede ich Ihnen davon, ein andrer hätte mich schon längst verstanden. Gestatten Sie nur einem solchen Manne Verstand, Sinn und Geist genug, alles recht und leicht zu fassen; nehmen Sie an, daß er auch die nötige Zeit und Geduld habe, alles das kennenzulernen, was die größten Genies der alten und neuen Zeit über die den Menschen wichtigsten Gegenstände gedacht haben; lassen Sie dann diesen so ausgestatteten Mann auf dem Theater der Welt Erfahrungen an Großen und Kleinen machen, so wird Ihnen meine Art zu denken oder – besser – zu empfinden vielleicht begreiflich werden, so fremd sie Ihnen auch jetzt erscheint.
A: Nichts als üble Laune.
B: Wie Sie wollen. Sie können es auch Stolz nennen; denn ich bin wirklich so stolz, daß ich von den Menschen verlange, sie sollten sich des Besitzes oder des Geschenks der schönen Fähigkeiten und hohen Eigenschaften, mit denen sie, ihrem Glauben nach, ein Höherer zu edlen Zwecken begabt hat, würdiger zeigen. Besonders verlange ich es von denen, welche sich an die Spitze der andern drängen und sie leiten oder beherrschen wollen.
A: Wenn die Welt nun so beschaffen ist, daß man mit dem Guten nicht immer durchkömmt?
B: Ja, ja; weil man ein gewisses Gute nur für sich sucht, ohne sich zu bekümmern, wie sich der dabei befindet, auf dessen Kosten man es findet. Das ist es eben, was mich in diese böse Laune versetzt hat, die doch wahrlich mehr wert ist als die gute Laune der Leute, denen Sie das Wort reden. Ich habe überhaupt bemerkt, daß der Glaube an Gott nur bei den Leidenden von bedeutender Wirkung ist, und das gewöhnlich [362] auch nur auf so lange, als sie in dieser Lage sind. Die Reichen, die Mächtigen, die Herrschenden, die Tätigen nehmen zu selten in ihrem Tun Rücksicht darauf, als daß man sie um einiger Ausnahmen willen in Anschlag bringen könnte. Die meisten brauchen diesen Glauben nur zu oft als Mittel zu gewissen Zwecken, und dieses nimmt nicht sehr für die Sache ein.
A: Aber bedenken Sie doch, Vetter, was ohne diesen Glauben aus der Welt würde! Die gottlosen Ungeheuer würden die Erde vereeren, alles auflösen und vernichten.
B: Das tun die Menschen auch mit diesem Glauben, wenn man sie nicht in Schranken hält; und am Ende wollen auch die Ungeheuer leben und genießen. Jeder fühlt, daß dies der Weg nicht dazu ist; und für die, welche es nicht begreifen wollen, halten die Klügern Strang und Schwert bereit – ohnedem die einzigen Gesetzgeber für Leute gewisser Art. Wenigstens würden wir eine Heuchelei, und zwar eine der schändlichsten, weniger in der Welt sehen.
A: Heuchelei der Tugend, auf welche Sie so stolz sind, auch ohne einen solchen Glauben, ist ebenso schändlich.
B: Noch schändlicher, Vetter.
A: Sie geben diesmal mehr zu, als ich von Ihnen hoffte. Und warum noch schändlicher?
B: Weil sie uns viel näher liegt als jener Glaube, ja so nah liegt, daß wir sie gar mit Händen greifen können. Weil gar dieser Glaube nur aus ihr entspringt oder entspringen soll.
A: Das ist mir zu hoch oder zu fein.
B: Mir nicht. Bisher hat noch kein Sterblicher die Tugend geleugnet, wenigstens ihren Wert nicht; selbst kein erklärter Gottesleugner, wenn es wirklich solche anmaßende, dogmatische Toren gibt; er müßte denn zugleich Autor sein und, um ein Buch zu schreiben, das Lärmen mache, ebendas tun, was jeder Schurke bei einer bösen Tat tut: sein Herz und seinen Verstand durch den Rausch der Eitelkeit und des Stolzes so betrügen und betäuben, wie dasselbe der letzte durch die [363] wilden Begierden tun muß, wenn er einen schlechten Streich oder ein Verbrechen ausführen will.
A: Wie Sie das stellen, drehen, wenden, einem entwischen, indem Sie vieles zu sagen scheinen und so wenig sagen. Zum Beispiel, wenn es Gottesleugner gibt, so sind es vermessene Toren, und doch ...
B: Soll ich einer sein? Und ich soll nun wählen; ich wähle nicht. Ich leugne hier nichts und glaube nichts. Lachen Sie immer.
A: Ja, wenn ich nur lachen könnte; die Materie ist mir zu ernsthaft dazu.
B: Geben Sie das Ernsthafte her.
A: Was ist dem zu geben, der nichts annimmt, der alles hat, indem er mit nichts zufrieden ist. Ich stehe doch als Mensch vor Ihnen.
B: In der Tat, das tun Sie.
A: Nun! Sie – Sie stehen nur als Schatten vor mir ...
B: Sie haben etwas sehr Tiefes und sehr Wahres gesagt.
A: Davon weiß ich nichts! ... und flößen gar Frost wie jeder Schatten ein!
B: Lieber Vetter, sei[e]n Sie nicht auf Ihre Wärme stolz; ich möchte Ihnen sonst zu chemisch scharf den Stoff dazu entwickeln.
A: Ach, wie Sie wollen! Ich kenne keine Tugend als diejenige, welche aus jener heiligen Quelle entspringt; auch bin ich überzeugt, daß alle die Leute, die Sie so sehr in Harnisch bringen, nur allein von diesem Glauben höher gehalten werden, als sie ohne ihn stehen würden. Und was trägt denn Sie und Ihre stolze Tugend?
B: Stolz ist meine Tugend nun eben nicht. Gefiele mir es jetzt, so witzig wie Sie zu sein, so antwortete ich: »Was trägt einen Schatten? Wozu braucht der Schatten einen Träger?« Aber so sage ich ganz grade und sinnlich: Meine Schultern tragen mich, meine eigne moralische Kraft, die ich für das wahre Zentrum des Menschenwesens und -lebens halte. Weil ich diese nun für mich hinreichend finde, so brauche ich der Krücken nicht, [364] die diese Herren nur dann ernstlich zu ergreifen scheinen, wenn sie sich schwach auf den Beinen fühlen, die sie aber gewöhnlich in dem Augenblick auf die Seite werfen, wenn etwas vorgenommen werden soll, wobei diese Krücken im Laufen hindern könnten. Reizen Sie mich nun nicht weiter; Sie setzen sich sonst der Gefahr aus, daß ich Ihnen eine Galerie von unsern an Gott glaubenden Fürsten, Staatsmännern, Helden und sonstigen recht orthodox-gläubigen, bedeutenden Männern aufführe, die etwas stark mit der Malerei der ihnen schmeichelnden Poeten, Hofleute und sonstiger Schmeichler abstechen möchte.
A: Warum nur solcher Männer?
B: Weil sich bei ihnen als herrschenden, gebildeten und verständigen Männern dieser Glaube am meisten in seiner Wirkung zeigen müßte. Sie machen ja die Geschäfte Gottes auf Erden, leiten ihre Macht und Gewalt von ihm ab, nennen sich nach und von ihm, und die Minister schreiben diese hochbedeutende Formel sogar an die Spitze jeder Schrift, die der Herr in seinem eignen Namen ausgehen läßt.
A: Ach ja. Sie zeigen schon die Galle, in die Sie den Pinsel tauchen würden.
B: Galle! Freilich, von ihr müßte man sich so leicht reinigen können wie diese Herren von den ersten Beschwernissen des Gewissens, um mit ihnen so verträglich zu leben, wie sie mit sich selbst und ihresgleichen leben; aber Sie wissen doch, Vetter, daß ich auch dann noch ein Narr meiner Grundsätze bin, wann ich einen dieser Herren beurteile. Die Galle soll nur dazu dienen, das Gemälde hin und wieder zu beleben, sonst würden ja Sie, der Sie sich so gut mit diesen Leuten vertragen, daß Sie ihr Tun, Wirken und Nichttun für ganz natürlich und verzeihlich halten, bei meiner Malerei einschlafen.
A: Geschwind zu dem Porträt andrer! Ich sitze Ihnen nicht!
B: Sitz' ich doch Ihnen! Wollen wir mit Seiner Durchlaucht anfangen?
[365]A: Lassen Sie mich erst zusehen, ob wir allein ... ob keine Lauscher ...
B: Sie ahnden nichts Gutes, wie ich merke, und Ihre Vorsicht spricht dem Manne das Urteil, bevor ich rede.
A: Ich kenne meinen Vetter. Das Feld ist rein.
B: Ich nehme alle Gefahr auf mich!
A: Ach, damit wäre mir nicht geholfen. Nun!
B: Wie gern der Diener den Herrn mustert, beweisen Sie, nicht ich. Ich will Ihnen den Gefallen tun. Fragen Sie doch die Stütze der protestantisch-orthodoxen Kirche, den Beichtvater Seiner Durchlaucht, ob Höchst Dieselben geruhen, an Gott zu glauben! Sie werden schön ankommen. Wer spricht frömmer? Wer scheint überzeugter von dem, was er spricht? Und nun betrachten Sie das Tun, Wirken und Nichttun Seiner Durchlaucht. Ich sage Nichttun, Vetter, und schlage mit diesem Worte alle Kapitel in dem Leben vieler Fürsten und Staatsleute auf. Wenn Sie nun alle genau befragt und untersucht haben, so zählen Sie mir die Handlungen vor, die bei ihm aus diesem so hohen Glauben geflossen sind. Ich gebe Ihnen zwei, drei Monate dazu. Beehren Sie mich indessen mit einer kurzen Antwort auf meine Frage? Aber Sie schweigen ja ärger als ein Stummer. Ich sehe weder Gebärde noch Nachsinnen, das eine herbeiführen könnte. Bedenken Sie doch, wir reden von Seiner Durchlaucht; und, Vetter, wenn Seine Durchlaucht Ihnen einst diese Frage zu tun geruhten – nicht wahr. Sie würden beredter sein als Cicero? Freilich kann auch ich keine ausfinden. Aber halt, doch eine!
A: Oh, lassen Sie hören.
B: Bringen Sie dieselbe nur an rechter Stelle an, ich mache Ihnen ein Geschenk damit.
Hören Sie; Sie müssen dieses ihm dafür anrechnen, daß er, um für seine eigne hohe Person keine Sünde an dem ihm anvertrauten Volke und dadurch, wie wir hoffen wollen, an Gott, durch Selbsttätigkeit oder Selbstregieren zu begehen, es [366] seinen Ministern, Räten, Freunden und Freundinnen überlassen hat ...
A: Vetter!
B: ... die auch alle an dieser ziemlich schweren Sündenbürde so leicht tragen, daß immer einer dem andern durch Kabale, Intrige etwas von der schweren Last abzunehmen sucht. Sie selbst tragen ja einen Teil derselben mit ebender Gewissensruhe wie alle die andern Gefährten.
A: Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, ich sitze Ihnen nicht.
B: Der Beweis aber saß mir gar zu nah und ward dadurch um so kräftiger. Nun? Ist die Galle in diesem Miniaturstückchen zu sehen? Es war kaum Raum dazu. Reden Sie doch, wenn ich fortfahren soll!
A: Sie verdrehen alles.
B: So richten Sie es gerade, das wünsch' ich ja! – Nun gar die erste, größte, gewaltigste Exzellenz. –
A: Ja, der!
B: Nicht wahr, den darf ich schon in Fresko malen? Da geben Sie mir eine ganze Wand Ihres Saals dazu, und sollte sich auch die Galle unter die Farben mischen. Hier kann sie nichts verderben. Der Mann hat gar zuviel von jener Sündenlast auf sich geladen – und glaubt an Gott, als sei er zu Franckens gottseligen Zeiten im hallischen Waisenhause auferzogen worden. Es ist ganz erbaulich; aber wo, Vetter, fänden wir die Spur davon, wenn wir sie suchen wollten oder sollten?
A: Ach, leider hat er Gott auf der Zunge und den Teufel im Herzen!
B: So malt ein Staatsbeamter den, der mächtiger, begünstigter als er selbst ist; und nun sehe ich die Wirkung der Galle. Ich, der ich billiger bin, weder nach seiner Sündenlast strebe noch ihn darum beneide, sage: Er hat weder bloß Gott auf der Zunge noch den Teufel im Herzen; er ist sogar ein ganz guter, frommer, auch wohl gerechter Mann, sobald eine Sache vorkömmt, wobei weder der Minister, der Hofmann oder seine Erhaltung und Ansehn im Spiele sind. Kann er dafür, daß [367] ihm nicht lauter solche Sachen vorkommen? Ich könnte Ihnen beweisen ...
A: Vetter, es gibt keine solche Sache für uns; alles hat Bezug auf den Posten, auf dem wir stehen. Oh, wenn Sie wüßten! Aber Er! Er! Da ließe sich gar vieles sagen ...
B: Was soll nun ich weiter sagen, da Sie selbst in der Hitze, im Amtseifer den Vorhang so gewaltig aufgerissen haben, daß er beinahe gar nichts mehr verbirgt! Nun dann! Ereignet sich etwas, das in der weiten Ferne gefährlich aussieht, so sieht sich unser Mann sogleich um Hilfe um: Was nun aushelfe – die Gebote Gottes oder der Wink des Teufels – er braucht eins wie das andre; und hilft das Mittel, so dankt er weder dem einen noch dem andern. Dem Teufel nicht aus Frömmigkeit und Gott nicht, weil er ihn jetzt nicht an sich erinnern mag. Auch wissen Sie, lieber Vetter, daß leider die Winke des Teufels weit wirksamer in dieser bösen Welt sind, daß sie viel schneller zum Ziele führen, daß die Erfüllung der Gebote Gottes uns zwar ein ruhiges Gewissen abwirft und die künftige Seligkeit zusichert, aber selten in dieser Welt uns weit bringt. So bildet sich nun ganz natürlich der staatsmännische Erfahrungssatz; daß das Beste eines klugen Ministers das Beste des Fürsten und durch den Fürsten des Staats oder des Ganzen ist; daß die Erreichung dieses hohen Zwecks allein über das Verdienst aller Handlungen eines für das Ganze so besorgten Mannes entscheidet – oder kürzer: daß die Menschenbeherrscher und natürlich dadurch ihre Minister ihre eigne Moral haben. Und da sie ganz praktisch ist, so ist es auch die einzige Moral, die wir auf dieser Erde in all ihrer möglichen Vollkommenheit ausgeübt sehen. Das ist doch etwas, Vetter! Unser Mann ist hier wahrlich nicht zurückgeblieben, das muß ich ihm zum Ruhm nachsagen: Alles, was zu dieser hohen Moral nicht paßt, nennt er Schwärmerei, Philosophie, zuzeiten gar Theologie – ich weiß nicht warum? –, und er meint sogar, unser Superintendent oder Beichtvater würde an seiner Stelle ebenso denken, handeln, kurz [368] ebenso seine Rolle spielen – und hier, glaub' ich, hat er recht. Übrigens tut er euch gern einen Gefallen, weil es dem großen bedeutenden Mann so geziemt, seine Macht beweist. Der Glaube, von dem wir sprechen, gehört in die Kirche, dem Sitz des Fürsten gegenüber; anderwärts würde er den Staatsmann nur verwirren, nur verzagt machen.
A: So muß ich den Sünder auf dem Todbett erwarten!
B: Wirklich, er glaubt euch alle dahingebracht zu haben und lacht eurer; denn er weiß, daß ihr ihn auch dort vergebens erwartet. Ein Staatsmann, dem so vieles gelungen, der eine so große und beneidete Last so leicht getragen hat, der die Dinge der Welt und des Lebens aus einem so weiten Gesichtspunkt ansieht, in dessen dunkler Vertiefung er nur die eherne Säule der Notwendigkeit, von seinem Egoismus erschaffen, erblickt, verliert gewöhnlich die zu seinen Zwecken und ihrem Gelingen angewandten Mittel so aus den Augen, daß er sich auch noch in dieser bedeutenden Stunde Komplimente macht und in der völligen Überzeugung stirbt, er habe alles aus Pflicht und zum Besten des Ganzen als ein kluger Mann getan.
A: Auch diesen Trost nehmen Sie mir? Aber wenn er nun vor seinem Ende, das Sie so selig preisen, in Ungnade fiele, so könnten wir doch hoffen ...
B: Am allerwenigsten, lieber Vetter; denn hat er dieses Glück, vor seinem Ende recht in Ungnade verabschiedet zu werden, so wird er noch leichter mit seinem Gewissen fertig. Er trägt alsdann dem Richter der Welt den Undank des Fürsten und der Menschen für seine großen Verdienste vor, und die Überzeugung dieses Undanks verstattet der Reue so wenig Eingang, daß er vielmehr einen recht schimmernden Glanz auf seine Taten wirft.
A: Sie sind unerträglich!
B: Doch ein Trost, um Sie mit mir auszusöhnen; Sie sind nun gar zu aufgebracht: vielleicht, daß er dann erst im rechten Ernste an Gott glaubt! Man hat Beispiele, daß Ungnade, Unvermögen weiterzuherrschen und die gewisse Unmöglichkeit, [369] je wieder dazu zu kommen, manchen Staatsmann am Ende so weit gebracht haben, daß er in der Tat vermeinte, an Gott zu glauben. Er muß doch einen haben, bei dem er sich beklagen kann: denn gewöhnlich lachen die Menschen seiner Klagen; es müßte denn sein, daß der Klagende ihr Mitleid noch bezahlen kann und will oder daß, aus Unkunde, der Glaube an sein Wiederauferstehen noch nicht ganz in den Herzen der Zuhörer ausgestorben ist.
Doch ich bin es müde. Ihnen von einigen Elenden hier Schattenrisse abzuzeichnen, während die Weltgeschichte, stehend auf der Asche des Menschengeschlechts – was ist die Erde anders? –, mit schallendgellender Trompete schreit: »Die süßeste Ahndung, der erhabenste Gedanke des Menschen ist von dem Augenblick an ein politisches Institut geworden, da Furcht, Not, Wahn, Eitelkeit, Stolz und Selbstsucht die Sterblichen in Gesellschaften zusammendrängten und drängen mußten!« Ist Ihnen die Weltgeschichte des Vergangenen nicht genug, so nehmen Sie die letzten zwölf Jahre des verflossenen Jahrhunderts dazu. Leitete dieser Glaube wohl einen Augenblick unsre Nachbarn oder diejenigen, welche sie von ihrer politischen Ketzerei in der christlichen Absicht bekehren wollten, um ihr Land unter sich zu teilen?
Vetter! Wenn die prächtigen, wundervollen, schrecklichen und erhabenen Erscheinungen der Natur meinen gerührten und erstaunten Sinnen einen Gott predigen, so treiben nur zu oft die schändlichen, sogenannten moralischen Welterscheinungen, bewirkt durch die, welche durch Herz und Verstand an ihn zu glauben vorgeben, diese Predigt vor ihnen weg! Und mein eignes Herz ergrimmt darüber, daß ihm mein Verstand nichts weiter antworten kann als allenfalls: »Es ist wunderbar, aber unauflösbar!« Es muß nun also wohl so sein, wird wahrscheinlich immer so sein, da es sich doch bisher die Menschen so wenig an Unterricht in der Tugend und dem rechten Glauben haben fehlen lassen als an Komplimenten über diese und ihren ganzen moralisch-religiösen Wert überhaupt.
[370] Glauben sie doch sogar, daß Gott selbst sie durch Offenbarung unterrichtet hat! Also ist es gewiß nicht Mangel des besten Wissens. Und nun frag' ich Sie: Was ist es denn? – oder wenn Sie es auch nicht wissen, so fragen Sie meine Ankläger! Ich bitte Sie darum.
A: Oh, diese mögen sich, soviel ich merke, vorsehen, wenn einmal der Erbprinz zur Regierung kömmt und mein verschriener giftiger Vetter so Einfluß erhält, wie zu erwarten steht.
B: Vielleicht, daß man dann den einen oder den andern durch gewisse Bewegungsgründe dahin bringen könnte, in seinen Handlungen zu zeigen, als gebe es einen Gott, der belohne und bestrafe – nicht, als glaube er bloß an ihn. Aber beruhigen Sie sich und Ihre Freunde! Der Erbprinz macht zwar bis zum Fürstenstuhl nur einen kleinen Schritt; aber es ist ein Schritt, wobei man immer vorwärts, selten rückwärts blickt, und nur gar zu oft ein Sprung über den Lethe selbst. Gewöhnlich wissen es auch ihre Rechtgläubigen so einzurichten, daß der Neuling ...
A: Ich muß zum Minister!
B: Zu ebendiesem Manne? Warum sagten Sie es nicht früher? Sie hätten nichts verloren, was vielleicht der Fall ist, und ich – Zeit gewonnen. War es doch nur Schnickschnack für Sie und mich, auch für den Dritten, wenn Sie nicht so vorsichtig gewesen wären, die Türen abzuschließen.
A: So treiben Sie es immer, wenn Ihnen Ihre Freunde und Verwandten aus Teilnahme Wahrheiten zu Ihrem Besten sagen.
B: Ich hasse das Schuldenmachen. Soll ich nun mit meinem lieben Freund' und Verwandten damit anfangen? Wahrheit um Wahrheit! Vergessen Sie diesen Spruch aber ja da, wo Sie nun hingehen. Dort heißt es: Falschheit um Falschheit! O wir Betrognen alle – samt und sonders!
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[371] [419]JENER französische Hof- und Weltmann, welcher einem auf die Frage, warum er sich nicht verheirate, zur Antwort gab: »Weil ich noch keinen Menschen gesehen habe, den ich zum Sohn haben möchte!«, gehörte, wenn seine Antwort aus allzu hoher Moralität entsprang, in jenes Land der Vollkommenheit, wohin wir einst zu kommen hoffen, und hatte sich also nur auf unsere schmutzige Erde verirrt oder in das Tollhaus, wenn er sein Gehirn nicht schon längst dazu gemacht hatte, um seinen stolzen Geist auf eignen Grund und Boden zu logieren. Wahrscheinlich war es nur ein Epigramm, ein witziger Einfall oder ein Sarkasm[us] eines Mannes, der mit der Erfahrung an sich und andern nicht sonderlich zufrieden war. Wir Bescheidenern könnten allenfalls hinzusetzen: Wo wäre aber das Menschengeschlecht überhaupt hergekommen, wenn der Vater aller so gedacht hätte?
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[419] [169]WENN sich ein Staatsmann gedrungen fühlt, mit den Kaufleuten zum Besten des Staats über Handelssachen zu beratschlagen, [169] so kann er wohl, wenn er fein genug ist, erfahren, was das Beste der Kaufleute, aber wahrlich nicht, was das Beste des Staats ist. Die Welt oder der Staat eines jeden derselben sind sein Kontor und seine Bücher oder die Bilanz, die aus denselben herausspringt; und diese bestimmen seine Urteile über das Beste des Staats. Wie soll ein so beschäftigter Mann auf ein abstraktes Ganze sehen, da er sich ein viel näheres, kläreres versinnlicht hat? Aus ebendiesem Grunde ist der Kaufmannsstand der einzige Staat (ich sage vorsätzlich nicht Stand) im Staate, von dem für die Ruhe nichts zu fürchten ist. Der Kaufmann haßt alle politischen Revolutionen, die Hoffnung, zu gewinnen, und die Furcht, zu verlieren, machen feig und klug, überdem läßt sich aus allem Schlimmen und Bösen, das in dem Staate hervortritt, etwas machen, nur daraus nichts. Der Tempel dieses Staats ist die Börse, dort herrscht ein Götze, der alles zum Besten seiner Gläubigen einzurichten weiß, wenn man ihm nur ein wenig Zeit dazu läßt, und den Wert dieser Geduld lehrt jeden die Erfahrung. Schlechter und guter Wert des Geldes, Verbot und Freiheit der Einfuhr, niedriger oder hoher Tarif, Mißwachs, Mangel, Hunger, Überfluß, Krieg, Verschwendung oder Knickerei der Regierenden, Schulden, Kredit, alles Gewöhnliche oder Zufällige lenkt er zum Besten seiner Gläubigen; und sie verdienen es, da sie volles Vertrauen zu ihm haben und seine Gebote so treu beobachten, daß sie keins derselben außer acht lassen.
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[170] [472]DIE plattesten deutschen Schauspielschreiber haben wirklich einige der wahrsten und natürlichsten Komödien geschrieben, weil sie sich nie über sich selbst erhoben und ein Ideal weder erträumen noch erreichen konnten. Aus ebendiesem Grunde haben die biblischen Geschichtsschreiber die Taten, Handlungen [472] und Gesinnungen ihrer Helden, Staatsleute, Priester, Gesetzgeber und Propheten so wahr, natürlich und ohne alle Verzierung aufgezeichnet und uns in ihren Werken ein zwar trauriges, aber untrügliches Maß ihrer eignen Moralität als Erbstück hinterlassen. Diese Männer standen mit ihren Helden in vollkommner Harmonie der Bildung. Man vergleiche mit ihnen nur die Geschichtschreiber alter und neuer Völker, die man meistens erst von dem rednerischen, dichterischen Schmuck, der höhere, edlere Ausbildung voraussetzt, entkleiden muß, wenn man hinter das Wahre kommen will. Das jüdische Volk scheint gar keinen Sinn für das Höhere im Menschen gehabt zu haben, es scheint ihm sogar noch heute, vermöge seiner Satzungen und des alten Rosts, daran zu fehlen. Freilich liefern seine Geschichtschreiber ebendarum ein so niederschlagend wahres Bruchstück zur Geschichte der Menschheit; und wer so plump wahr ist, den wird man wegen der Erdichtungsgabe nicht in Verdacht haben. Wenn sich obengenannte Schauspielschreiber über ihre Mittelmäßigkeit erheben, so zeichnen sie doch noch Karikaturen, aber auch so weit brachten es die Heiligen nicht. Ihre Gemälde sind mit groben, festgehaltnen Zügen hingeworfen, erregen meistens nur Schauder; und hat ihnen auch der heilige Geist ihre Schriften nicht eingeblasen, so war es doch der Geist der rohen Wahrheit, der immer auf der Erde lebte, sich nie über sie erhob, Gott selbst zu sich herunterzog und in die rauhe Menschheit einhüllte. Wenn er aufflatterte, so geschah es in ebendem Sinn, wie seine dichterischen Bilder beweisen. Die Hauptursache scheint gewesen zu sein, daß dieses Volk den Menschen noch nicht durch die Spekulation in zwei Teile zerschnitten hatte und das Intellektuelle gar nicht ahndete. Dieses bezeichnete es mit dem Worte »Atem«. Die Griechen erst erschufen die schöne Bedeutung desselben und legten dadurch den Grund zur edlern Ausbildung des Menschen. Außerdem wuchs dieses Volk unter Sklaverei empor, und sein erster Gesetzgeber ließ sich vorzüglich angelegen sein, es durch harte, alle Geisteskräfte niederdrückende Satzungen recht förmlich und priesterlich an die Erde und den [473] Himmel zur ewigen Sklaverei zu fesseln. Ob es despotischer Sinn gewesen sei, der ihn dazu bestimmte, ob er nichts Besseres kannte und ahndete oder ob er die aus Ägypten verjagten Sklaven nichts Bessern wert und fähig hielt, ist schwerer zu entscheiden als das Obige.
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[474] [215]ICH habe bemerkt, daß den Hof- und Staatsmännern und manchen Regenten selbst, wenn man sich mit ihnen über eine Sache oder einen Vorfall, es mag die Politik, Ökonomie oder Polizei betreffen, zu unterhalten Gelegenheit hat oder sich mit ihnen darüber unterhalten muß, immer das Gemeinste, Einfachste als das Neueste und Fremdeste vorkommt, ja daß es sie oft so in Erstaunen setzt, so überrascht, als hätten sie von so etwas nie [215] reden hören. Sie denken alle so sehr ins Große oder glauben so sehr darauf zu denken, daß sie ganz aus den Augen verlieren, das Große werde nur vom Kleinen, Einfachen und Gemeinen zusammengesetzt.
Vom Hofe selbst scheint das Kleine und Gemeine ganz ausgeschlossen zu sein; denn vor dem Regenten will jeder groß, tief und weitsehend erscheinen, und um das zu können, stellt man so viele glänzende Resultate auf, als man zusammenzusetzen vermag. Gegen das Kleine, Gemeine und Einfache zu nah gehalten, würde das Leere gar zu sichtbar werden; doch jeder weiß ja, daß man da gern mit einem großen Maßstab mißt, daß nirgends die Göttin Hoffnung feurigere Anbeter findet als eben da, wo sie am wenigsten leistet.
Wenn ich aber sage, daß das Gemeine und Einfache dort so neu und fremd sei, so sage ich nicht, daß das Alltägliche fehle; daran ist man so reich wie in jedem andern glänzenden Zirkel, und nur dadurch ruht man von dem Großen aus.
Und wißt ihr, wer sich bei so etwas am meisten fremd stellt? Der Aufschößling des Glücks, der Parvenu, der nicht mehr rückwärts sehen will und der für uns durch seine hohen Ansichten recht auf die Tiefe deutet, aus der er emporgesprungen ist.
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[216] [104]ALS Prometheus den Menschen schuf, bildete er sehr sorgfältig dessen Gehirn aus zähem Stoffe, damit er nichts vergäße und ihm alles Erlernte, alles Empfundne, Gedachte, Vorgestellte und Erfahrne auf immer in lebhafter und gegenwärtiger Erinnerung bliebe. So ausgerüstet, meinte er, würde der Mensch an Kenntnis, Glück und Genuß den Göttern selber gleichen. Jupiter, der besser wußte, was den jungen Erdensohn erwartete, und in diesem Umstand allein die gänzliche Auflösung unsers Geschlechts vorhersah, befeuchtete das Zähe seines Gehirns mit ein wenig Wasser aus dem Lethe, sagte dann: »Gehe hin, genieße, lerne, leide und vergiß! Mit dieser Wohltat nur hab' ich dich zur Dauer ausgerüstet.« Als nun später Pandora ihre Büchse öffnete und die Hoffnung dem jungen Geschlechte sich zugesellte, sagte Jupiter lächelnd: »Laßt ab von ihm, ihr Götter! Das Joch der Notwendigkeit ist nun für die Ewigkeit sanft umwunden; das Vergessen und die Hoffnung werden den Stier durch die Furchen des Lebens und ohne unser Zutun leiten.«
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[104] [95]WIE ungerecht die wechselseitigen Vorwürfe der Menschen sind, beweisen unter andern auch die Klagen der Staatsleute, der Philosophen, der Dichter und sogar der Theologen über die Schwärmerei. Sie vergessen, daß ebendiese Quelle auch die Quelle ihres eignen Vermögens ist, daß sie ohne Einbildungskraft – ihre Schöpferin! – weder Plane zu[r] Zerstörung der Erde und dadurch ihres Ruhms, noch Systeme, Gedichte und Auslegungen der Bibel, besonders der Propheten, erschaffen konnten. Ach, sie vergessen, daß wir alle, im Guten selbst, ohne Schwärmerei sehr arme Wichte wären. Die Geschichte des politischen und moralischen Menschen wäre gewiß ohne sie das allererbärmlichlangweiligste [95] Ding von der Welt. Nur wenn ein Schwärmer auftritt, welcher Art und welches Sinnes er auch sei, erhebt sie sich über den Zeitungston; dann nur springen Kraft, Leben und Helldunkel hervor; dann nahen Geister unserm Geiste.
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[96] [344]DAS Geistige im Menschen scheint beinahe nicht ganz, nicht recht ausgebildet werden zu können, ohne daß das Physische etwas erkranke. Das, was wir höhere, feinere Kultur nennen, muß unsre rohe Muskelkraft erst schwächen, unsre starken Nerven für die Eindrücke empfindlicher, reizbarer, das heißt kränker, krampfhafter machen. Dadurch, möchte man sagen, werden sie nur fähig, dem Geist oder Verstande zu dienen, wie er es zu seinen verwickelten Wirkungen gebraucht. Man könnte demnach in einem ziemlich bestimmten Sinne sagen: Die Physisch-Kranken, die Physisch-Schwachen leiten und regieren die Gesunden, Kräftigen und weniger Kultivierten – in den europäischen Staaten wenigstens. Ich will damit eben nicht sagen, daß die uns leitenden und beherrschenden Männer ganz krank seien oder zu Bette lägen; ich meine nur, daß sie an physischer Kraft verlieren mußten, was sie an geistiger gewannen und in diesem Verhältnis gegen das kräftige Volk stehen. So kann also alle höhere Kultur bloß auf Kosten der physischen Kräfte hervorgebracht werden; und verlöre der Haufen durch ebendiese Kultur, so unbedeutend sie auch sei, nicht etwas von den seinigen, so würden sie wahrscheinlich allzu kräftig für ihre Leiter sein, und kein Staat würde sich so zum Verträglichen von beiden Seiten ausgerundet haben, wie wir es in dem erleuchteten Europa wirklich sehen. Noch weniger könnte er bestehen. Wenn also ein Staatsmann, ein Held, Philosoph, Dichter, Gelehrter oder Künstler physisch[344] schwache Kinder zeugt, so hat er den Gezeugten schon voraus gebildet, und der Hofmeister oder Lehrer hat gar nicht nötig, den störrischen, steifen, der Arbeit des Geistes widerstrebenden Muskeln und Nerven entgegenzuarbeiten und die bäurische, tölpelhafte Natur durch Zwangs- und Schulmittel zugrunde zu richten, um die Nerven reizbarer zu machen. Ich halte demnach die neue Erziehungsmethode, wodurch man den Körper zu stärken sucht, für denjenigen ganz zweckwidrig, der durch Geist und Verstand wirken und herrschen soll. Rousseau ist an dieser Ketzerei schuld; aber bedenkt doch, wie sein Emil fahren würde, wenn er unter uns aufträte! Und dann sollte sein Emil kein Glück machen – und alle eure Emile sind nur dafür da. Also auf die kränkliche Reizbarkeit losgearbeitet! Sie nur bewirkt am zuverlässigsten, daß solche Leute nicht allein fähiger zu Staatsgeschäften und zu allem werden, was durch den Verstand erreicht wird, sondern daß sie auch in früher Zeit alles verlieren, was manchen gar zu Kräftigen hindern würde, sein Glück zu machen. Dahin rechne ich besonders die warme Teilnahme an dem Schicksal anderer, die aus physischer Kraft entspringt, weil diese wirklich dazu gehört, um für andere etwas zu wagen – kurz: das, was rohere Menschen Herzen nennen. Dieses kleine Ding, das manchen das Rad der moralischen Welt ist, vielen nur ein Muskel, der durch seine Kraft das Blut bewegt, das sich so leicht ausspricht und so schwer zu definieren ist, weil es höher steigt und tiefer sinkt, als wir messen und ergründen können, lernt durch die immer steigende Kultur, durch die immer neue Erfahrung, durch die Anerkennung wichtiger Lebenspflichten alles Rauhe, Holprigte, die gefährlichsten Abgründe, kurz: alles, was den Geist oder Verstand hindern könnte, bei der steten Übung so leicht und sicher überspringen, daß es am Ende der Ermahnung des Besitzers dazu gar nicht mehr bedarf. Es ist alsdann dem hell kultivierten Kranken so ergeben, daß es nur das annimmt, was auf ihn Bezug hat, daß es nur für ihn leidet, nur für ihn fürchtet. Könntet ihr einem solchen Manne die Brust öffnen, so würdet ihr vielleicht finden, daß sich das weiche, [345] warme Ding durch eine langdauernde moralische Operation in einen hellen, kalten Solitär umgewandelt hat, unter dem das Porträt des Besitzers euch freundlich anlächelt. Wenn man vor solchen Männern redet, muß man edle Vergleichungen wählen – sonst hätt' ich Kiesel gesagt; aber die Kiesel sind nicht durchsichtig, und viele glauben auch, der Diamant entwickle sich aus ihm. Ist nun unser Mann so weit, so richtet sich erst recht sein Blick aufs Große, und nichts hemmt mehr dessen Ausdehnung: es müßte denn sein, daß er nun in der Ausübung der Kultur seines Geistes so weit ginge, daß die physisch gesunden, rohen Erdensöhne erwachten und sich genötigt sähen, ihm einige ganz unvermutete Hindernisse in den sichern Weg zu werfen. Freilich gibt es Staatsleute und auch Gelehrte, die gerade so handeln, als sei ihnen von der physischen Kraft und dem obigen sonderbaren Dinge in unsrer Brust etwas übrig geblieben; aber fragt sie nur, was sie für einen Kampf mit denen auszufechten haben, die für andre ganz Geist geworden und bloß für sich Körper geblieben sind.
Wer dieses als Ironie liest, der kennt mich nicht, der liest nicht in dem Tone, in dem ich schreibe.
Ach, ich bin jetzt so weit von aller Ironie entfernt, daß ich vielmehr in allem Ernst die Apologie dieser Männer zu machen suche. Kann ich es besser tun, als wenn ich den Unvernünftigen ihre Undankbarkeit recht deutlich zeige? Wahrlich, wir müssen diese edeln Männer als Leute ansehen, die sich für uns dem Allgemeinen aufopfern. Entsagen sie nicht dadurch, daß sie ihr Physisches zum Besten des Geistigen durch Anstrengung aufreiben, allen Genüssen, die doch wahrlich nicht zu verachten sind? Wenn die Undankbaren sähen, wie diese Männer verdauen, wie sie ihre Weiber und Mätressen in dem geltenden Augenblick umarmen, wie Krämpfe, Gicht, Podagra sie plagen, wie sie, was rohere Sterbliche mit voller Kraft und Stärke genießen, der Natur durch Erkünstelungen diebisch rauben müssen, sie würden sie bedauern und nur sich für glücklich halten. Und gesetzt nun, es beherrschten euch Herkule im Physischen, [346] wie viele der Unsern es im Geistigen sind, glaubt ihr, ihr würdet besser fahren? Jetzt beherrschen euch unsre Herkule mit ihrer geistigen Kraft, die sie euch aus guten Ursachen gar nicht wünschen, noch weniger von euch fordern. Macht sie noch zu physischen Herkulen, und weh euch, wenn ihr die fünfzig Helden – und Wundertaten des Sohns Alkmenens und Jupiters nicht tagtäglich ausführt!
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[347] [333]JE älter wir werden, je fester, hartnäckiger halten wir auf unsern Meinungen, Maximen, Gewohnheiten, überhaupt unsrer ganzen Denk- und Lebensart. Sie verknöchern sich sozusagen mit uns und werden dann erst recht unser wohl erworbenes, tapfer erstrittenes Eigentum. Bald sehen wir es auch als das einzige an, das wir noch wahrhaft besitzen, das uns niemand mehr rauben kann.
Das ist ja etwas ganz Gemeines, ganz Bekanntes! Nun, Glück dem, der dies Eigentum im rechten Sinn besitzt, der Kraft genug hat, an diesem festen Stabe bis ins Grab zu wandern! Nicht alles hat für ihn ausgeblüht; sitzt er nicht mitten unter den von ihm selbst gepflanzten Bäumen, die ihm jetzt reife, stärkende, erfrischende Früchte tragen?
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MAN wirft oft Männern von Energie und Charakter vor, daß ihr Ton in der Gesellschaft zu entscheidend, zu absprechend sei; das heißt, man will, sie sollen als Männer handeln und wie Weiber reden. Sie gießen in Bronze; bringt ihnen eure zarten Wachsfiguren nicht zu nah!
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[333] [371]SELBST die Neugierde des Allergleichgültigsten wird aufgeregt, wenn man in Gesellschaft faßlich von der Himmelskunde spricht.
[371] Wahrscheinlich mischt sich das dunkle Gefühl hinein, etwas von dem Lande zu erfahren, von dem man uns sagt, daß wir nur eine Ewigkeit dort leben würden.
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[372] [20]SCHMEICHELEI, die sich auf etwas gründet, dessen Besitz wir uns wirklich bewußt sind, wenn auch nicht in so hohem Grade, als uns der Schmeichler zu verstehen gibt, ist für gemeine Menschen ein Konfekt-Nachtisch, um sie die schlechte Küche des Lebens ein wenig vergessen zu machen; für edlere ein Nektar, der ebenso geistig wirkt wie dieser berühmte Göttertrank. Nur wenn man zu unmäßig von diesem Konfekt ißt oder, um immer zu schlürfen, dem gar nachläuft, der den Nektar darreicht, verdirbt jenes den Magen, und dieser wird zu schlechtem Branntwein. Mit Mäßigkeit gebraucht ist die Schmeichelei wirklich für manchen ein nützliches Hilfsmittel zum Leben, wenn sie nicht gar einer der vielen Hebel desselben ist. Eine Dame oder ein Autor, die sich hinsetzten und sagten: »Hier sitzen wir vor euch, schmeichelt uns nur!«, würden zwar etwas Naives, aber gar nichts Dummes sagen. Sie sieht Götterkost vor sich, will ihr Dasein wollüstig glühend in allen ihren Adern, Nerven, Fibern, in den gröbsten Gliedmaßen fühlen; er will seinem zusammengedrängten Ich Expansion verschaffen und es bis in das kürzeste Haar seines Haupts empfinden. Ist das nicht so natürlich als [20] verzeihlich? Was eine Dame übrigens noch dabei fühlt, ist so wenig auszudrücken als die Wonne des sechsten Sinnes.
Ein Mann nun, der durchaus keine Schmeichelei anhören und ertragen könnte – von welcher Art, welchem Stande er auch sei –, an dessen Widerwillen gegen diese Götterkost man so wenig zweifelte, daß man ihm auch nicht die allerfernste, allerfeinste zu sagen wagte, würde zwar in der Tat ein sehr seltner Mann, aber ein sehr lästiger, langweiliger Gesellschafter sein. Glücklicherweise ist es nicht dieser Fehler, der die Leute zu schlechten Gesellschaftern macht. Keiner ist und lebt ohne Schmeichler, und wenn auch einen Sterblichen dieses allersonderbarste und härteste Schicksal je treffen sollte, so hoff' ich doch, er soll einen Schmeichler in sich selbst finden. Vielleicht ist eben darum mein Mann, der gar keine Schmeichelei ertragen kann, der größte, stolzeste Schmeichler seines eignen Selbsts. In der Seltenheit läge doch auch Genuß.
Brauch' ich nun hinzuzusetzen, daß ich nicht von jener Schmeichelei rede, womit Glücksjäger, Parasiten, Poeten, Hofleute, fade Bursche, leere Köpfe die reichen Dunse, die vornehmen Beschützer, die Günstlinge, die mittelmäßigen Regenten, die jungen Koketten und die alten reichen Witwen vergiften? Ich rede weder von dem recht groben Gifte, dem Rauchpulver von Asa foetida, noch von dem gefährlichen schleichenden Gifte, das langsam tötet, sondern von einem süßen, wohlschmeckenden, das der Verkehr des Lebens durch eine weltbekannte Operation zu einer Art von Kühlungs–, Erholungs–, Linderungs- und Stärkungsmittel verarbeitet hat und wobei sich die Genießenden so wohlbefinden, daß sie sich dasselbe in aller Unschuld einer dem andern darreichen.
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[21] [419]DA es noch kein Volk gegeben hat und wohl auch nie eins geben wird, bei dem Tugend, Religion, gute Sitten durchaus geherrscht und sein Tun bestimmt hätten, so konnte es auch nicht anders geschehen, als daß die Gesetzgeber sich vergriffen oder wenigstens etwas Vergebliches, Unausführbares taten, wenn sie diese wichtigen Dinge gerade als Zweck und nicht als Mittel zum Zweck aufstellten. Das allgemeine Nützliche allein kann und [419] muß der Zweck der Gesetze für Menschen sein. Die nötige Anwendung und Ausübung dieses Grundsatzes ist allen faßlich und gründet jedes Dasein auf einen festen Boden. Jene höhern Dinge gesellen sich den Arbeitenden zu und beleben ihren Mut. Hier ist Raum für Geister niedrer und edler Art. Und aus diesem so unreinen Boden, den die erhabenen Moralisten und Gesetzgeber zu betreten verabscheuen, entspringt die Quelle aller der Tugenden, die sich in der Bemühung zur Erreichung dieses Zwecks in der Gesellschaft praktisch entwickeln: sie treten uns sogar so nahe, daß wir wirklich vertrauter mit ihnen werden als jene erhabenen Herren, die sie so glänzend ausgeschmückt haben, daß sie mehr blenden als erwärmen.
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[420] [60]DIE Schlechtigkeit und Bosheit hätten gewonnenes Spiel, wenn die Philosophen den Grundsatz nicht unerschütterlich aufgestellt und bewiesen hätten: daß nur der Beweggrund den Wert der Handlung bestimme. Ohne diesen Grundsatz würde ein Mann, der tätig in der Welt gelebt und viel auf Menschen und durch Menschen gewirkt hat, oft in Verzweiflung über die Resultate vieler seiner bestgedachten und am reinsten empfundenen Handlungen sein. Das Wirken in der moralischen wie in der physischen Welt ist mit Verletzung verbunden. So wie der Gärtner, [60] der einen Baum veredeln will, den edlern Ast verwunden muß, um ein Auge zu gewinnen, so kann keiner – der strengste in seinen Pflichten am wenigsten – auf den Stamm der Gesellschaft eine gute Tat verpflanzen, ohne einen oder den andern, vielleicht selbst den Unschuldigsten, zu verletzen. Glücklich ist er noch, wenn es bei einer Verletzung bleibt. Ja, wenn ein solcher Mann, vielleicht bei seiner besten und wichtigsten Handlung, die Wirkung auf alle diejenigen, die dadurch gewannen und verloren, mit einem Blick übersähe, ich glaube, die scheußlichen Erscheinungen, die sich unter die lieblichen drängten, könnten ihn bei der zweiten wichtigen so schüchtern machen, daß sein Bewußtsein selbst erschüttert würde. Das übrige beantwortet der, welcher für alles eine Antwort hat: der Optimist.
289
WER edel, uneigennützig, großmütig denkt, ist überall frei, wer niederträchtig, eigennützig, kriechend denkt, ist überall Sklave. Der Mann, der sich in seinem Innern selbst konstituiert hat, hängt nicht mehr von der äußern Form ab; er steht auf seiner eignen Magna Charta, die ihm keine Macht auf Erden nehmen kann.
290
[61] [493]ES gibt Bücher, die ein welterfahrner Mann nicht anders lesen kann, als wenn er das Ernsthafte ironisch und das Ironische ernsthaft liest. Man kann auf diese Weise sogar einem Buche Sinn anlesen, in dem keiner ist.
Ebenso kann man aus einem Trauerspiel gewisser Art etwas machen, wenn man es komisch liest.
291
[493] [445]WAHR ist, wenn die Völker Europas mit ihren Sprachen erlöschten wie die Griechen und Römer, und die künftigen neuen [445] Völker studierten ihre übriggebliebnen Schriften wie wir die der Griechen und Römer, sie würden nur aus der Sprache erraten, zu welchem besondern Volke diese Schriftsteller eigentlich gehörten. Die Griechen und Römer haben einen bestimmten, festen Nationalcharakter in ihren Geistesprodukten, der durch ihre eigne und die politische Lage der damaligen Welt, durch ihre Verachtung und Geringschätzung aller andern Völker, mit denen sie durch den Geist und höhern Sinn nicht in Verbindung treten konnten, zusammengehalten ward. Heute ist es anders:
Alle kultivierte[n] Völker arbeiten – im Verhältnis der Stufen, worauf sie stehen – in gleichem Geiste am nämlichen Werke, und nur ein einziges kosmopolitisches Band scheint die ganze Geisterwelt zu umfassen. Die begrenzte Republik, die alles Fremde von sich stieß, ist ein allgemeines Reich geworden. Kein Wunder also, daß die Bewohner desselben einander ähneln.
So macht man uns auch den Vorwurf, daß unser neueres Theater, unsre Literatur, unser Geschmack, unsre Sitten fast gar nichts Nationales an sich trügen, daß sie ein Mischmasch von Gebräuchen, Gesinnungen und Charakteren aller Völker der Erde seien, daß uns unsre Dichter, Romanenschreiber bald Chinesen, Araber, Tatar[e]n, Römer, Griechen, die ganze alte und neue Welt vorführten und alles malten, nur uns selbst nicht, weil wir nicht so leicht zu bezeichnen wären. Diesem Vorwurf Gewicht zu geben, deutet man auf das Theater der Griechen hin. Der Grieche war nur Grieche; der Handel, der große Verkehr, die Wissenschaften, die Erweiterung der Erde, die Nachbarschaft ausgebildeter, beinahe in eine Form gegossener Reiche machten uns zu Menschen, und zu Menschen, die sich nicht allein auf Erden weise und klug dünken. Unser Nachbar ist uns etwas wert, und auch wir wollen ihm etwas wert sein. Der Grieche dachte sich als Mittelpunkt der kultivierten Welt, und seine nächsten Nachbarn, die Thrazier, Skythen diesseits und die Juden jenseits des Meers waren wahrlich nicht die Leute, ihn eines Bessern zu belehren. So dachte er von allen Völkern, wie er von seinen Sklaven dachte, die er [446] im Kriege erbeutet oder auf dem Markte gekauft hatte: von beiden meinte er, sie hätten nur den Herrn gewechselt.
292
[447] [420]WIE viele wahrhaft tugendhafte und rechtschaffene Männer würden wohl übrigbleiben, wenn einer die unglückliche Gabe oder die unselige Gewalt dazu hätte, auf einmal, durch einen einzigen Machtspruch, die von ihnen zu trennen und allein gegen sie über zu stellen, welche nur aus Klugheit und Furcht tugendhaft und rechtschaffen und, durch Egoismus gebildet, so geschickte Rechenmeister geworden sind, daß sie in aller Stille, bei jedem Vorfall, in der größten Geschwindigkeit das Fazit von Gewinn und Verlust herausziehen und sich nur darnach einrichten? Die Moral sei nicht allzu strenge und hüte sich, sie »gar zu laut« zu verdammen. Ohne jene würde die Zahl ihrer ganz Getreuen gar zu klein sein; sie vermehren den Haufen, und darauf kommt es im Kriege an. Im Augenblicke der Gefahr zieht der Tapfere den Feigen mit sich fort, teilt ihm manchmal sogar etwas von seinem Mute mit, besonders wenn es vorwärtsgeht.
293
[420] [184]EBENDIE Delikatesse oder der feine, zu gekünstelte zarte Geschmack der Staats-, Hof-, Weltleute usw., worauf sie sich als einen Erwerb, einen Vorzug ihres höhern Standes oder ihrer Erhabenheit über die rohern Söhne der Erde so viel zugute tun, ist auch nur eine Krankheit, die aus geschwächten, zu reizbaren, zu allem kräftigen Genuß verhunzten Nerven entspringt. Wenn sie kräftiger genießen könnten, so würden sie nicht Ersatz dafür in Intrigen, Kabalen, in dem trugvollen, täuschenden Gaukelspiel [184] des falschen Ehrgeizes, in dem leeren Schattenspiel der Eitelkeit allein suchen und ihn auch darin zu finden glauben. Ihr rastloser, krampfigter Drang, ihr abgenutztes Schattenwesen durch damit verwandte Erscheinungen immer bedeutender zu machen, beweist ja, daß sie das wahre Leben für eine elende Spiegelfechterei hingegeben haben. Da sie nun zum wahren moralischen und physischen Genuß keine Kraft mehr haben, so bleibt ihnen nichts mehr übrig, als sich durch erkünstelte Lust selbst zu genießen und dann, wie ein hingewelkter Narziß, im Genuß ihres Selbsts auszutrocknen. Es ist so gewöhnlich als erbärmlich, sogar fähige, geistreiche und liebenswürdige Männer zu sehen, denen der langsam schleichende und immer nagende Kabinetts- und Hofstod schon alles Mark so ausgezogen hat, daß der Anblick ihrer Gestalt das Leben selbst zum Ekel macht, und die gleichwohl die letzten Zuckungen ihrer schon beinahe erstarrten Nerven anwenden, um sich auf dem Platze zu erhalten, auf dem sie kaum mehr stehen können, oder gar noch vor dem erlösenden Schritt ins Grab den letzten über einen Nebenbuhler wagen, um die Natur bis ans Ende um ihr Recht an sie zu betrügen, und nur so als Sieger zu sterben glauben. So wie man nun jungen Leuten, um sie vor den traurigen Folgen der Selbstbefleckung zu schrecken, Jünglinge ihres Alters zeigt, die sich dadurch zugrunde gerichtet und nun mit erloschenen Augen, todbleichem Gesichte und ausgetrockneten Wangen, den Schatten gleich, einherschleichen, so sollte man jungen Männern von Stande die wandelnden Gespenster der Ehr- und Herrschsucht zeigen und ihnen dabei ins Ohr raunen: »Für jene gibt's vielleicht noch Rettung durch stärkende Mittel, kalte Bäder und Enthaltsamkeit; aber für diese gibt es keine andre Diät als die, welche die endliche Vernichtung uns allen vorgeschrieben hat.«
294
DER kränkste Hofmann wird an einem Hoffeste gesund, wenn er in Gunst steht. Migräne, Husten, stechender Katarrh, die plagende Gicht, die schneidende Kolik selbst verschwindet dann. [185] Das gehoffte freundliche Lächeln des Fürsten ist ein Balsam, der schon wirkt, bevor er noch von den Wangen und aus den Augen des Arztes aller Ärzte für den Hofmann träufelt. Das ist ein Tag der Kraftäußerung, worüber selbst ein Hufschmied oder Ackerknecht erstaunen würde, wenn er den Mann abends vorher und dann den folgenden Tag im glücklichen, glänzenden Gewühl sehen könnte. Er beugt sich trotz dem Skiatik, und sein steifer Rücken wird ein Seidenfaden, mit dem der Wind spielt, wenn der Fürst ihn anredet; den Husten selbst vermag er in der Brust zurückzuhalten, und sollte auch der stechende, zähe Schleim bei der Rückkehr nach Hause die Lungenflügel so zusammendrücken, daß ein unheilbares Asthma der Lohn des glücklichen Tages würde.
295
[186] [333]DER Biedermann, der es nun einmal darauf angelegt hat, sich mit den Schurken herumzuschlagen, vergesse ja nicht, seinen Harnisch jeden Morgen anzuschnallen; am besten, er legt ihn nie ab; denn auch in der tiefsten Einsamkeit lauert ein sehr gefährlicher Feind auf ihn.
296
[333] [437]DIE Philosophen mögen noch soviel von Seele, Geist und einfachem Wesen schreiben und reden; die Menge, der Haufen, der empirische Pöbel nennt nur sein Herz, wenn er von seinem lebenden und belebenden tätigen Innern spricht, alles andre dünkt ihn Schatten, den er wohl einstens näher kennenlernen wird. Sein Herz ist da; er fühlt es schlagen, fühlt es wirken auf sich und andere; darin liegt sein ganzes Dasein. Nur das Herz ist sein Führer und Meister. Klopft da an, wenn ihr etwas bedürft, und geht den Philosophen vorbei; ihr könnt zugrunde gehen, bevor dieser sich mit Geist, Seele, reiner Vernunft über den Beweggrund zur Tat vertragen hat, die ihr an ihn fordert.
297
WIR handeln, wirken, tun; der Philosoph führt das Register darüber und wägt unser Tun auf der Schale des moralischen Werts ab. Millionen sterben, ohne zu ahnden, daß es solche Leute, solche Wägende gibt, daß sie Muße dazu haben. Sag' ich dieses etwa den Philosophen zum Vorwurf? Kinderei! Sie sollten nur ihren Wirkungskreis nicht für so ausgedehnt halten. Ein Philosoph, ein Professor, der gewaltigen Lärm in den Hörsälen [437] oder im gelehrten Publikum macht, könnte sehr leicht zu der wahren Erkenntnis desselben kommen, wenn er sich in dem höchsten Rausche seines Ruhms plötzlich unter eine große Menge Volks versetzt fände und sein Genius ihm da zulispelte – wenn dieser anders so etwas wagen darf: »Von dieser Menge, die du nicht übersiehst, weiß wohl keiner etwas von dir, folglich hast du auch nicht auf sie gewirkt; und sie sind doch in Ordnung beisammen, handeln gar wie ganz vernünftige Leute.«
298
[438] [133]EIN guter Gesetzgeber müßte ebenso wie ein guter Geschichtsschreiber während seiner wichtigsten aller Geistesarbeiten [133] weder an Religion noch an ein moralisches oder politisches System denken. Er müßte weder Demokrat noch Aristokrat, Monarchist noch Despotist sein; immer nur auf das sehen, was die Menschen suchen: soviel Glück und Genuß als möglich und Sicherheit dazu. Die rechten Mittel zu dem ersten sieht und findet dann jeder. Jedes Gesetz, das dieses befördert, ist ein weises und gutes Gesetz; und selbst die Philosophen, von welchem System, die Religiosen, von welcher Sekte sie seien, sogar die moralischen Politiker, und dächten sie auch platonisch, werden es ihm im stillen herzlich danken, wenn sie es nur laut mißbilligen und das Absurde davon a priori und aus der Bibel dartun dürfen.
299
[134] [475]ES ist seit einiger Zeit Mode und wird wahrscheinlich bald epidemische Wut unter den deutschen Gelehrten werden, in bändereichen oder dickleibigen Lebensbeschreibungen ihrer eignen höchst merkwürdigen Personen hervorzutreten und so dem gutmütigen, geduldigen Publikum gewöhnlich die flachsten, plattesten Menschen in sich selbst nicht vorzumalen – vorzupinseln. Und das recht so, als wollten sie dem Publikum noch in lebendiger Person beweisen, wie wenig wahren Einfluß die Wissenschaften, die sie ihr Leben lang getrieben haben, auf ihren eignen Verstand und die Bildung ihres sittlichen Charakters gehabt haben. Was ist das Leben eines Gelehrten? Wer von ihnen begeht die Narrheit, es zu beschreiben, als der, welcher weiß, daß er in Gefahr ist, noch bei seinem Leben literarisch zu sterben? Das Edelste selbst wird unter den Händen dieser Leute Scharlatanerie. Was kümmert sie das? Es ist ein Buch mehr, das der Verleger dem berühmten Manne bezahlt. Das Publikum erfährt dann für sein Geld, wo der berühmte Mann geboren worden, wer sein Vater gewesen, wo er studiert hat, wieviel Bücher, zu welcher Zeit, in welcher Absicht er sie geschrieben, mit welchen Gelehrten er Zank gehabt, mit welchem Großen oder Reichsfürsten er gesprochen, was er gesprochen. Heißt das nicht, die gute deutsche Einfalt noch einfältiger machen wollen? Hier kann [475] sich niemand freuen als der Herausgeber des Nekrologs, der bei dem seligen Abfahren des großen Mannes das dicke Buch nur auszuziehen braucht, wenn er es nicht schon vorher getan hat. Der Grund meiner Ärgernis über diese Narrheit, da sie doch unschädlich ist? Liegt euch denn gar nichts daran, was die Nachbarn von euch denken? Was sollen die Franzosen von uns sagen, wenn sie die Lebensbeschreibungen unsrer berühmten Männer lesen? Erst brachte der steife Pedantismus unsern Verstand und Geschmack bei ihnen in übeln Ruf; soll diese Narrheit den übeln Ruf verbessern? Der Franzose liest es nicht, weil er Gescheiteres zu lesen hat, und der Deutsche schreibt nur für den Deutschen.
Nun, so schreibt denn euer Leben; wir wissen ja doch, daß ihr nicht gelebt, nur geschrieben habt, daß ihr, weil ihr alles aus euch herausgepreßt, was ihr gelernt habt, nun auch um des Honorariums willen euch in einem Buche als einen Leichnam, der auch schon vermodert ist, bei eurem Grabe hinwerft, eh' ihr selbst hineinfallt.
Aber sind es wirklich Lebensbeschreibungen, die sie uns geben? Enthalten sie die Geschichte der Bildung eines nun über sich nachsinnenden Geistes? Ach nein! Es sind Beichtbekenntnisse, daß sie arme Sünder sind, die sich für große, bedeutende Männer halten. So höre dann, deutsches Publikum! Deine bedeutenden großen Männer tun und wirken und lassen den beschreiben, der nichts anders als dies vermag.
300
[476] [113]DIEJENIGEN, welche behaupten, man müsse den Menschen ihre Vorurteile lassen, sie eher unterhalten als zu vertilgen suchen, entscheiden – wenn sonst keine sträflichen Absichten bei ihrer Behauptung zum Grunde liegen – durch einen kühnen, anmaßenden Machtspruch über die schmeichelhafte Hoffnung einer höhern Veredlung und Vervollkommnung des Menschengeschlechts. Ich erinnere mich wenigstens, daß die gutmeinenden und edeldenkenden Weisen die Vorurteile nicht als Mittel dazu aufgestellt haben. Doch vielleicht ist dieser Satz ein Beweis von der Bescheidenheit derer, die ihn in Umlauf bringen und in Ansehn zu erhalten suchen; sie wollen uns vielleicht damit sagen: »Unsre Kenntnis reicht nicht weiter, als das Menschentier zu beherrschen; seinen Verstand aufzuklären und ihn dann zu leiten, ist zu hoch für uns.« So bringt ein ungeschickter Stallmeister durch unnatürliche Mittel ein Pferd um sein zu starkes Vermögen, weil er es nicht anders bändigen kann. Bequem ist übrigens die Methode ganz gewiß, solange nur die Menschentiere die Vorurteile beibehalten, die ihren Treibern nützlich sind; aber [113] wie, wenn sie auf einmal Vorurteile liebgewännen, die sich mit diesem Treiben nicht vertrügen?
Ebendieser Satz »Man muß den Menschen ihre Vorurteile lassen« hat bei ihren Treibern (ich achte, wie man sieht, das wichtige Wort »Regieren«) Vorurteile ganz sonderbarer Art hervorgebracht. Und ebendiese haben wahrscheinlich das Stillstehende, Ungewisse, Schwankende, Zaghafte, Mentorische gewisser Staatsverwaltungen in den Hauptpunkten für das Volk bewirkt. In der Hauptsache der Staatsverwaltung wirken sie freilich ganz anders. Das sieht man täglich an ihrem kühnen, festen, fortschreitenden Gang; denn in dem ersten Fall erinnern sich die Staatstreiber ihrer Vorurteile in Rücksicht der Vorurteile der Menschentiere, in dem zweiten bauen sie mit Mut und Zuversicht darauf.
301
[114] [96]DIE Poesie und die Hoffnung sind die beglückenden Gefährtinnen der Jugend. Den Duft der ersten haucht auch die Einbildungskraft des Unkultivierten über die äußern Gegenstände und umhüllt sie mit einem glänzenden, täuschenden Nebel. Die zweite, ein noch rascherer Gefährte, führt kühn ins Leben ein und reizt das Gefühl der Kraft. Weltkenntnis und Erfahrung versengen die schöne Blüte der Poesie und treiben die Hoffnung so weit hinter uns, daß wir ihren süßlockenden Ruf kaum mehr hören können. Wir wägen dann unsre gemachten Versuche auf der Waage der Klugheit ab, drängen unser noch zu starkes Gefühl und die etwa übrig gebliebene, noch immer nach außen strebende Kraft zurück, wenden nur so viel an, als nötig ist, und sehen auch alsdann noch ängstlich und besorgt vor uns, um ja nicht aus Verblendung des Eifers die Linie der Gefahr zu betreten. Mancher, dem es so glückt, wird endlich gar so stolz auf diese erworbene Klugheit und Weisheit, daß er nicht allein vergißt, mit welchem Verlust er sie erkauft hat, nein, daß er auch aus Eifer für die Sache des Glücks den Jüngling, der noch begeistert in der Mitte dieser Gefährten wandelt, von seinem gefährlichen Irrtum zu heilen sucht; und rettet sich der glückliche Jüngling nicht schnell, so versengt er ihm die noch keimende Blüte auf dem Haupte. Er glaubt gar nicht, daß er ein Verbrechen an ihm begehen wollte, daß jeder von uns diese Klugheit durch eigene Erfahrung erwerben müsse, daß die Leidenschaften desjenigen, der sie so schnell an der Hand eines andern überspringt, etwas ganz anders, gewiß etwas Schlimmers aus ihm machen würden, als Selbsterfahrung in Begleitung jener Gefährten, die sich nur leise und langsam von uns entfernen, aus ihm gemacht haben würden.
302
[96] [61]WENN ein Mann nun gar zu klug durch Erfahrung geworden ist, so zergliedert er den Grund der moralischen Handlungen der Menschen so lange, bis er so bescheiden wird, alles Wirken für unnötig und verdächtig zu halten; er tut alsdann gerade nur das, was er muß, um zu leben und sich bei Ehre zu erhalten. Der Stolz des Verstandes ist der trüglichste von allen, und wenn die Selbstliebe die Mutter des Egoismus ist, so ist er wahrlich sein Vater. Er löst nicht, er zerreißt die schönen Fäden, womit uns jene Gefährten so leicht gefesselt hielten, die sie an unser Herz knüpften, uns daran durch das Leben zu leiten. Um zerrissen zu werden, waren sie nicht gewebt, nur wenn wir sie leise, schonend lösen, schweben sie noch über uns und trennen sich nie ganz von uns.
303
[61] [311]ES gibt Charaktere, die der Freundschaft ganz unfähig zu sein scheinen; zum Beispiel: die Leichtsinnigen und dann die Tiefspürenden – die Forschenden –,welche man die lauernden Spione oder die Delatoren der moralischen Welt nennen möchte, weil sie etwas ganz anders suchen als ihre und anderer Besserung. Die ersten wissen kaum etwas von ihrem Herzen, die andern haben sich mit ihrem ganzen Selbst in die Mitte des ihrigen gelagert, und schleichen sie auch zuzeiten heraus, so geschieht es, um sich in das Herz andrer zu tauchen, um da Rechtfertigung für das zu fischen, was sie in ihrem eignen entdeckt haben.
304
WARUM ich so wenig oder gar nicht von der Freundschaft rede? Weil ich nicht gern von gar zu seltnen Dingen spreche. Die Geschichte erzählt uns wirklich sehr interessante Beispiele solcher seltnen Freundschaften von einigen jungen unverheirateten Leuten; in der Gesellschaft aber hab' ich nichts davon bemerkt, und wahrscheinlich verträgt sie sich auch nicht mit ihr. Die gemeine alltägliche Freundschaft kennt ohnedies jeder. Aber etwas möcht' ich doch über diese alltägliche sagen; Gewisse sehr kultivierte Leute fordern vielleicht darum die Freundschaft in recht hohem Sinne von den Menschen, um einen Vorwand zu haben, die alltägliche nicht zu leisten, und so leugnen sie diese lieber ganz, weil keiner jene für sie haben will und kann. Sie vergessen oder [311] ahnden nicht, daß ebendiese alltägliche Freundschaft die recht wohltätige für die Gesellschaft ist. Sie wissen nicht, daß wir dieser gemeinen Freundschaft noch den einzigen wahrhaften Herzensgenuß in dieser Welt verdanken, daß wir nur noch durch sie mit Wesen unsersgleichen in moralischer Verbindung stehen, daß es ohne sie kaum noch eine solche unter uns gäbe. Sie wissen ferner nicht, daß wir minder kultivierte [n] Leute, wenn uns auch zuzeiten einige Zweifel darüber aufgezwungen werden, doch in dem Augenblick an die Freundschaft glauben, in dem der Mann, mit dem wir immer herzlich gesprochen, vor uns tritt, uns freundlich anredet oder die Hand mit einem Blick der Empfindung darreicht.
305
[312] [122]DASS die Griechen schon den rechten Soldatengeist gekannt haben, beweist ein Vers des Euripides aus den Fragmenten desselben; er lautet: »Das Pferd trägt mich, und der König nährt mich!« Diese wenigen Worte sind so sinnvoll, daß sie den heutigen Stratokratien zum Grundtext dienen und immer dienen können, solange anders benannte Staatsverfassungen auf dieser ruhen. Wer aber das alles nährt, wußte man schon damals auszulassen.
306
[122][148]DER FÜRST: Sie sind also der Mann, dem ich nichts recht machen kann?
DER PHILOSOPH: Mir, Eure***, mir macht man alles recht.
DER FÜRST: ... der gleichwohl alles tadelt, über alles klagt ...
DER PHILOSOPH: Das einzige, was uns übrig bleibt. Nur die Toten schweigen; die Lebenden, wenn sie fürchten müssen, für das Reden jenen vor der natürlichen Zeit Gesellschaft zu leisten.
DER FÜRST: ... der alles besser weiß ...
DER PHILOSOPH: ... der vieles besser wünscht, als er es sieht.
DER FÜRST: ... der sich einen Philosophen nennt und nennen läßt ...
DER PHILOSOPH: Wenn das den Philosophen macht, über das zu denken, was um uns vorgeht, über die zu denken, die es bewirken und veranlassen, so bin ich freilich einer.
DER FÜRST: ... und gar ein spekulativer!
DER PHILOSOPH: Leider nur ein beobachtender; denn wäre ich, was Eure*** zu sagen belieben, so stände ich gewiß nicht vor Ihnen.
DER FÜRST: Warum nicht?
DER PHILOSOPH: Weil der Herr des Weltalls von den ältesten Zeiten her den Philosophen den tollsten Unsinn, die wildesten Träume, ja selbst die kühnsten Lästerungen hingehen [148] ließ, die sie über seine Schöpfung und Regierung zusammengetragen haben. Ganz anders betragen sich die Fürsten, welche sich als Herren der Erde von ihm uns vorgesetzt glauben: Gern überlassen sie uns Raum, Zeit, Unendlichkeit, alle Höhen und Tiefen des menschlichen Forschens, ja Gott selbst; nur wage es keiner, das zu berühren, was auf sie Bezug hat, was sie Regieren nennen.
DER FÜRST: Und davon will vermutlich der Philosoph den Grund nicht einsehen, weil er gar zu natürlich ist? Was sind vor Gott der Unsinn und die Lästerungen der Philosophen der alten und neuen Zeit? Konnten sie den fest bestimmten, unerschütterlichen Gang seiner allmächtigen Herrschaft stören? Ganz anders ist es mit unsrer künstlich zusammengesetzten, abhängigen Herrschaft. Hier schadet die Vermessenheit; hier kann jeder kühne Angriff, jede scheinbare Vernünftelei, aufs Möglichbessere gegründet, die heilsame Eintracht stören. Und gesetzt auch, die Worte eines solchen Waghalses zerschellten an der festgegründeten Macht, so kann sich doch leicht der Waghals das Haupt daran verwunden. Und darum können wir, denen aufgetragen ist, für alle zu wachen und zu sorgen, selbst den Philosophen nicht aus der Acht lassen. Zwiefach ist er verbunden, sich nach dem Bedürfnis der Gesellschaft einzurichten, damit wir ihn ruhig darin können leben lassen. Und darum tut er ganz wohl daran, wenn er mit den Theologen glaubt, wir seien von Gott zu Herrschern auf Erden eingesetzt. So löst er mit einem Streich der verworrenen Knoten viele auf.
DER PHILOSOPH: Es ist nicht das einzige, vielleicht beiden Teilen schädliche Vorurteil, welches die Theologen ersonnen haben, weil sie mehr Priester als Theologen waren. Man weiß, warum sie es taten.
DER FÜRST: Vorurteil!
DER PHILOSOPH: Wär' es etwa keines?
DER FÜRST: Ein den Menschen nützliches Vorurteil entschuldigt sich durch die Vorteile, die es gewährt ...
[149]DER PHILOSOPH: ... die es den Herren der Erde zu gewähren scheint oder gewährt, solange man daran glaubt, das sich dann wie jedes Vorurteil dieser Art rächt, wenn es nicht mehr wirkt. Ganz gewiß! Zu weit ausgesponnen könnte oft gar als Lästerung erscheinen. Und wie – der Gedanke? Was soll der Mensch von der Vorsehung denken, die solche Herrscher bestellt, wie sie uns die Geschichte überliefert, wie wir sie noch heute zuzeiten sehen, und was von den Herrschern der Erde selbst, die, von einem so hohen Ruf überzeugt, gleichwohl seit Menschengedenken so handeln, als käme ihr Ruf von einem ganz andern, viel niederern Orte her.
DER FÜRST: Sollte der Philosoph wohl gar da die Quelle des Übels suchen?
DER PHILOSOPH: Es löst der verworrenen Knoten viele. Sie verwiesen auch mich an einen solchen Hauptschlag. Doch glaubte ich in der Tat nicht, daß mich Eure*** um einer so gar wichtigen Sache willen hätten auffordern lassen.
DER FÜRST: »Eure***« in dem Munde eines Philosophen!
DER PHILOSOPH: Warum nicht? Ein Wort fürs andre. Es spricht sich bald wie das gewöhnlichste aus, wenn man es auch dem beilegt, der ihm so wenig entspricht, daß es wie Satire auf ihn klingt.
DER FÜRST: Wäre dies so auch mein Fall?
DER PHILOSOPH: Oh, wahrlich nicht! Ebendie ist es, die Sie uns recht fühlen lassen; und wenn ja einer daran zweifeln sollte, daß Sie nicht die ganze Kraft des Worts auffassen und durch Taten ausdrücken, der komme – sehe – höre! Ich begreife es wohl, daß sich der Oberrichter des Landes in Schrecken hüllen muß, wenn er mehr gebieten als richten will.
DER FÜRST: Gut! Nur zu! Man hat mir nicht zuviel von Ihnen gesagt, aber eins hat man doch vergessen ...
DER PHILOSOPH: Darf ich wagen?
DER FÜRST: ... und dazu das Allerbeste.
[150]DER PHILOSOPH: Das ist der Fall der Hofleute, der Ankläger überhaupt, wollt' ich sagen. Um so dringender wage ich zu bitten.
DER FÜRST: Sie vergaßen mir zu sagen, daß Sie trotz Ihren kühnen Äußerungen eine sehr gute Meinung von mir haben müssen, daß Sie es durch diese Vermessenheit aufs kräftigste beweisen. Würden Sie dieses wagen, wenn Sie mir nicht zutrauten, was ihr Philosophen uns Fürsten so selten zutraut – Großmut und Geduld?
DER PHILOSOPH: Es kann sein, und vermutlich bin ich darum so rauh und ungestüm vor Sie gefordert worden, um mich in dieser Meinung zu bestärken.
DER FÜRST: So rauh? Wie das?
DER PHILOSOPH: So rauh, daß ich auch nicht die geringste Spur von den Tugenden entdeckte, die ich soeben nennen hörte. Hätt' ich eine Verschwörung angezettelt – die Art wäre, nach dem Erweis, zweckmäßig genug gewesen.
DER FÜRST: Die Dolche der Zunge, Philosoph, verwunden oft tiefer als der geschliffene Stahl. Indessen ist es mir leid, mein Wille war es nicht.
DER PHILOSOPH: Das denke ich und weiß ja wohl, daß dies der Balsam ist, womit die Fürsten die Wunden zu heilen pflegen, die uns ihre Diener schlagen. Bin ich doch nicht der erste, der dies hier erfährt!
DER FÜRST: Gleichwohl ist es etwas und ein Etwas, das man nicht jedem darreicht, nicht jedem darreichen darf. Sehen Sie, so rauh erscheinen wir in unsern Dienern, solche Folgen hat ein Wort von uns.
DER PHILOSOPH: Um so behutsamer müßte der das Wort aussprechen, der seine Folgen kennt.
DER FÜRST: Unser Lispeln wird zum Donner, wenn man es wiederholt, unser mißmutiger Blick zum Blitz.
DER PHILOSOPH: Träfe der Donner nur einmal den, der das Lispeln dazu macht, ich wette, der Überbringer Atem würde sanfter werden.
[151]DER FÜRST: Giftig genug! Nur was wir selber tun und sprechen, davon sind wir des Maßes und des Tons gewiß. Und doch ist dieses nur eine der kleinsten Schwierigkeiten, die uns drücken, darum sollte der Philosoph behutsamer sein: denn wenn er auch den Herrn nicht fürchtet, so sollte er doch die Diener fürchten, die ihre Macht auf die Macht des Herrn gründen, in denen diese sogar furchtbarer erscheinen muß als in ihm selbst, und das aus guten Gründen.
DER PHILOSOPH: Ich begreife Sie. Wenn ich aber nun nichts fürchtete?
DER FÜRST: Freilich, der Philosoph hat nicht viel zu verlieren, doch ist die Freiheit etwas.
DER PHILOSOPH: Ja, wenn man frei ist.
DER FÜRST: Besonders muß sie für den, der sie so braucht, wie Sie getan haben, vielen Reiz haben. Hätte ich dem Wink gewisser Leute gefolgt, schon längst würde wenigstens der Philosoph das Vergnügen des Mitteilens seiner Lehren und Meinungen verloren haben. Und darin liegt ja der Wert der Sache, wie man sagt.
DER PHILOSOPH: Freilich ist eine mitgeteilte Wahrheit nützlicher als eine, die ich mir allein vorbehalte. Und wenn nun dies geschehen wäre, was mir die guten Leute zudachten ein kleines Gefängnis für ein großes. Warum nicht? So wäre ja die Wahrheit recht bekräftiget, recht erwiesen!
DER FÜRST: Ebendieses wollt' ich nicht. Von Ihnen selbst wollt' ich Ihre Verteidigung oder Rechtfertigung hören.
DER PHILOSOPH: Ich habe keine und bedarf keiner. Solange Sie nicht durch ein Manifest bekanntmachen, daß Wahrheit ein Verbrechen ist, bin ich von allen Verbrechen rein.
DER FÜRST: Wahrheit, abermals Wahrheit! Erinnern Sie sich, daß sogar Philosophen sagten, es sei nicht gut, den Menschen jede Wahrheit zu sagen, daß sogar einer äußerte, wenn er alle Wahrheit in seiner Hand verschlossen hielte, so wollte er sie nicht öffnen.
[152]DER PHILOSOPH: Ich wette beinah', dieses sagte der Staatsminister aus guten Gründen; und die Philosophen, die etwas Ähnliches sagten, beurteilten die Menschen in diesem, nicht in meinem Sinn; vielleicht hatten sie auch sonstige Ursachen. Muß der Philosoph Wahrheiten verschweigen, so sind es gewiß nicht diejenigen, um derer Bekanntmachung ich das hohe Glück habe, hier vor Ihnen zu stehen. Da nun gewiß nie ein solches Manifest erscheinen wird, so bin ich mir für immer meiner Unschuld und Sicherheit gewiß.
DER FÜRST: Warum sollte es nicht erscheinen können?
DER PHILOSOPH: Natürlich; es sind wohl noch sonderbarere erschienen, beinah' so sonderbare als dieses da; aber dieses erscheint gewiß nicht, denn eine solche Staatsmaxime befolgt man nur im stillen. Zu verteidigen, zu entschuldigen wüßt' ich nun nichts; aber gern will ich mich eines Fehlers anklagen. Ich glaube, daß ich nicht um meinetwillen allein in der Welt, in dem Staate, selbst in Ihrer beschränktern Residenz da bin.
DER FÜRST: Diesen Fehler teilen wir. Wozu die Verbeugung, das zweifelnde Lächeln um den so ernsten Mund?
DER PHILOSOPH: Ich bemerke einen ganz kleinen Unterschied.
DER FÜRST: Geradezu!
DER PHILOSOPH: Gern! So wenig ich glaube, ich sei um meinetwillen allein da, ebensowenig glaube ich, alle andre[n] seien um meinetwillen da; dieses Letzte aber soll von alters her der Fürsten Glaube sein.
DER FÜRST: Und mit Recht; da der Fürst in sich den Staat denkt, da sich in ihm dessen ganze Kraft und Macht sammeln.
DER PHILOSOPH: Ja, wenn er sich als Fürst in diesen eiskalten Kreis gebannt dächte und nicht als Mensch voller Lebenswärme! Der soll wenigstens noch geboren werden, der sich so weit von sich selbst entfernen könnte, daß er als ein politisches, metaphysisches Wesen in des Staates Mitte dasäße, die Fäden der Regierung ohne Rücksicht auf sich in den [153] Händen hielte und sich nur an der Ordnung ergötzte, die von ihm ausgeht. Und wer kann dies fordern? Welcher Mensch an den Menschen?
DER FÜRST: Der Philosoph! Der, welcher durch seine Äußerungen tagtäglich beweiset, daß er der Fürsten Handwerk für das leichteste auf Erden hält.
DER PHILOSOPH: Soll dieses mich treffen, so hat man mich gewiß verleumdet. Ich halte es im Gegenteil für so schwer und undankbar, daß ich gar nicht begreife, wie Ew. *** sich damit belasten mögen. Weil es aber doch geschieht und immer geschah und immer geschehen wird, so glaube ich, daß der Mensch mehr als der Fürst den Staat in sich denkt, daß ihm diese Vereinigung so wohlgefällt, daß er sich gar nicht von sich selbst trennen mag, so nötig es auch zuzeiten wäre.
DER FÜRST: Ich nehme das Beste für die Angeklagten aus Ihren Worten, denn wider Willen machte hier der Philosoph den Fürsten eine Apologie. Freilich, da, wie Sie selbst sagen, der Mensch sich nicht von sich trennen kann und keiner es an den andern fordern mag, fordern darf, setze ich hinzu: So ist es gerade, was es sein muß – Menschenwerk, durch Menschengeist und -kraft getrieben, auf anderer Menschen Kraft und Geist berechnet, aus Not und Bedürfnis, nach Not und Bedürfnis berechnet.
DER PHILOSOPH: O wär' er das; wer würde klagen! Ja dann, dann wären die Philosophen der Fürsten Lobredner, und ich der erste.
DER FÜRST: Was wär' es denn, wenn es dieses nicht ist?
DER PHILOSOPH: Gewöhnlich ein Spiel, ein abgekartetes, auswendig gelerntes, mechanisches Spiel!
DER FÜRST: Und wenn es nicht anders sein könnte?
DER PHILOSOPH: Ein Spiel, wobei Leidenschaft und Gewinnsucht die Karten mischen, manche unterschlagen, die den Spieler hindern, und gar die Farben zu Trumpf machen, womit der Zufall den Spieler vorzüglich versehen hat. Um [154] bei dem einfältigen Gleichnis zu bleiben, so sollten doch die Spieler so billig sein und den Zuschauern oder denen, die den Einsatz dazu liefern, erlauben, ein Wörtchen über das Spiel zu reden. Erlaubt es doch der Gewinner dem trostlosen Verlierer, verweist ihn auf künftiges besseres Glück, zieht den Gewinst mit aller Schonung, oft mit Bedauern ein. Und ließen uns die großen Spieler nur dieses sehen! Wir sind so gute Geschöpfe, daß wir noch gar ihre Kunst bewundern, obgleich unser ganzes Glück bei dem Spiele auf der Waage steht. Aber ernsthaft – weil Ihr jetzt strengerer Blick mir Ernst gebietet! Wenn es nun etwas anders als ein Spiel sein könnte? Wenn es gar zu gewissen seltnen Zeiten etwas anders gewesen wäre, hin und wieder noch heute wäre?
DER FÜRST: Das glaube ich kaum! Gespielt ward immer, wenn auch nicht von dem Herrn, doch von den Dienern. Und ich könnte am Ende gar erweisen, daß, wenn es nur ein Spiel ist, wir wahrlich nicht die Ursache davon sind, ob wir gleich das Spiel zu leiten scheinen. Daß, um bei Ihrem Gleichnis zu bleiben, nicht wir die Karten mischen, daß wir am wenigsten falsch spielen, daß wir meistens nur das falsche Spiel erwidern müssen, das gegen uns gespielt wird.
DER PHILOSOPH: Das könnten Sie?
DER FÜRST: Könnte erweisen, daß ich, den Sie so sehr verlästern, hier ins Angesicht verlästern, nun gerade nicht anders sein und wirken kann, als ich tue.
DER PHILOSOPH: Auch das?
DER FÜRST: Daß die Menschen, durch die ich wirke, auf die ich wirke, gerade eines solchen Spiels bedürfen, ja keines bessern wert sind.
DER PHILOSOPH: In der Tat!
DER FÜRST: Kurz, daß aller Tadel, den Ihren nicht ausgenommen, nicht auf uns, sondern auf die Menschen und ihr Zusammensein überhaupt zurückfällt; daß unser Wirken oder Spielen – warum nicht auch unser Dasein selbst? – die [155] Satire auf die Menschen machen, die Sie so gern nur auf uns anwenden möchten; daß Leute Ihrer Art diese Satire nur recht bitter, nur recht dem Geist der andern faßlich machen.
DER PHILOSOPH: Das könnten Sie?
DER FÜRST: Das könnte ich!
DER PHILOSOPH: Daß Fürsten viel vermögen, das weiß ich, das erfuhr ich; daß sie aber die Menschheit an sich selbst zur – Verbrecherin (warum soll ich das Wort nicht sagen?) machen könnten, dies ist mir wenigstens neu. Schade nur, daß ich zu klein, zu ohnmächtig bin, Sie zu den Beweisen aufzufordern. Wären Sie ein unbedeutendes Ding von einem Philosophen, ich forderte Sie dazu auf.
DER FÜRST: ... und sollten die Beweise so streng erhalten, als führte sie ein Philosoph. Zwar nicht nach der Form, doch nach der Kraft.
DER PHILOSOPH: Wie sie immer lauten möchten!
DER FÜRST: Möchten Sie sie hören – die Satire?
DER PHILOSOPH: Auf das ganze, ganze Menschengeschlecht; den abgetanen, entschiednen Prozeß; über die, die unter Fürsten gelitten haben und noch leiden, künftig leiden werden; über das, was Staub geworden ist, noch werden soll! Der Gedanke – an der Stelle, wo ich stehe, vor dem Manne, vor dem ich stehe, ausgedacht – ist so schauderhaft, daß er schmerzlich meinen Kopf füllt!
DER FÜRST: So ergeht's dem Philosophen, der das Spiel nach der Theorie beurteilt; aber dem gar zu ernsten Manne möcht' ich den Beweis nicht führen. Lassen wir nur das ganze Menschengeschlecht – samt den Toten – immer ruhen; wir schränken uns in die Grenzen unsrer Herrschaft ein.
DER PHILOSOPH: Der Umfang ist beträchtlich genug; es ließe sich schon weiterschließen.
DER FÜRST: Wie kömmt es zum Beispiel, daß ich gegen einen Tadler Ihrer Art hundert Lobredner, gedruckt und [156] ungedruckt, aufweisen kann? Meine Handbibliothek enthält eine merkwürdige Sammlung dieser Art.
DER PHILOSOPH: Also so etwas sammeln Fürsten auf?
DER FÜRST: Fürsten, die wie ich denke[n]? Warum nicht? Unsereiner findet darin Stoff zu mancherlei Betrachtungen; und bei mir, in meiner Bibliothek, schließen sich die Satiren an die Lobschriften. Ihre Werke, wenn Sie je welche schreiben, sollen auch da ihre Stelle finden.
DER PHILOSOPH: Ich schreibe keine Bücher. Ist die Anzahl der Satiren stark?
DER FÜRST: Nicht sehr stark, doch hinreichend, den Wert beider samt ihrer Urheber zu bestimmen. Und gewiß dachten ihre Urheber nicht an die Wirkung, die sie auf einen Fürsten meiner Art machten.
DER PHILOSOPH: Ist dieses auch einer Ihrer Beweise?
DER FÜRST: Auch der kleinste ist von Gewicht, wenn es bei einem verwickelten Prozeß aufs Urteil ankömmt.
DER PHILOSOPH: Ich glaube es wohl – Ihre Verachtung gegen die Nichtlobredner und Ihre Großmut gegen die Lobredner; und befinden sich die Lobredner nicht gut dabei? Geht nicht für sie alles herrlich? Was kümmert sie das übrige? Kenn' ich doch einen deutschen Poeten, der die Vorzüge der ärgsten Sklaverei auf Erden besang, einer Sklaverei, wovon wir wenigstens in unserm lieben Vaterlande nichts wissen.
DER FÜRST: Sie verstärken meinen kleinen Beweis.
DER PHILOSOPH: Nur weil er Sie trifft, nur weil die Fürsten solche Lobredner belohnen. Wenn die übrigen nicht fester halten ...
DER FÜRST: ... so wird die Satire nur um so bittrer! Das wollen Sie doch sagen? Sie stehen betroffen.
DER PHILOSOPH: Nein, dieser giftige Gedanke soll nicht zu meinem Herzen dringen; denn wahrlich, die Wirkung der Gedanken, die sich an ihn ketten, würde keines Ihrer Gesetze, selbst Ihre unbegrenzteste Macht nicht, fesseln.
[157] Erlauben Sie mir, zu den Lobrednern zurückzukehren. Wen trifft der Vorwurf, wenn selbst das Edelste, das Beste des Menschen, die Wissenschaften, dem Geist nicht entfliehen können, der von dem Thron ausgeht?
DER FÜRST: Und beweist dies nicht für die, die auf den Thronen sitzen, daß die Menschen das Edelste und Beste, wie Sie es nennen, zum Gift, zum Spiel des Eigennutzes gemacht haben?
DER PHILOSOPH: Und warum den Beweis für Sie von den Elenden hernehmen, die es zum Spiel gemacht haben?
DER FÜRST: Wie sehen uns die andern an?
DER PHILOSOPH: Befehlen Sie?
DER FÜRST: Sie fürchten ja nichts.
DER PHILOSOPH: Als die Quelle aller politischen, moralischen Übel, die uns drücken; als die Hindernisse der Erfüllung der schönen Träume, die wir zum Besten der Menschheit – schwärmen! Und da sie wenigstens den Fürsten der Erde darin gleichen, daß sie die sie hindernden Individuen um des Ganzen willen aufzuopfern fähig wären, so möchten sie die Urheber aller dieser Übel gern entbehren können.
DER FÜRST: Meine Kälte beweist Ihnen, daß Sie mir nichts Neues sagen; und wie sehr ich dergleichen Feinde fürchte, vermuten Sie doch wohl? Die Mittel übrigens? Und sind auch Sie dergleichen Philosophen einer?
DER PHILOSOPH: Die Schwärmer, die Toren, die Vermessenen werfen wir zur Seite. Auch ich kenne die Menschen und wollte nur durch diesen rauhen Ausfall Ihre Großmut auf die Probe stellen; Sie haben sie bestanden.
DER FÜRST: Es hielt nicht schwer, und ich rühme mich keiner solchen Siege.
DER PHILOSOPH: Es sei! Doch um Männer Ihrer Art ist es uns zu tun. Um dererwillen tadeln, reden und schreiben wir; von ihnen wünschen wir gehört zu werden. Freilich, wenn auch Sie solche Beweise führen können und führen wollen, [158] so möchte der Ausfall doch noch mehr wahr als rauh sein. Aber Sie können diese Beweise nicht führen wollen.
DER FÜRST: Zweifeln Sie nicht daran!
DER PHILOSOPH: Und gegen mich?
DER FÜRST: Und will Ihrer ganzen Schule, allen meinen Tadlern in Ihnen, Rede stehen. Ich bin es müde, die schalen, grundlosen Lästerungen müßiger Träumer anzuhören. Machen Sie sich gefaßt.
DER PHILOSOPH: Bis zu mir wollten Sie sich herablassen, hätten dazu Zeit?
DER FÜRST: Zum Philosophen erhebt man sich; nur er steigt herab, wenn er mit einem Ungeweihten sich einläßt, und wir tun ja des Törichten, Unnützen gar zuviel, wie Sie uns täglich vorwerfen. Gut für euch, wenn wir nichts Schlimmers tun; sagen Sie nicht so? Ich möchte doch einmal hören, was ein Philosoph am Ende sagte, wenn ihm ein Fürst, der es weder an gutem Willen noch an Tätigkeit fehlen läßt, seine Brust so öffnete, daß er klärer darin läse als in den Werken seiner Brüder.
DER PHILOSOPH: Die Lockung ist süß – und die Schlinge glänzend.
DER FÜRST: Dieses muß es wenigstens sein; denn wie könnte auch ein Fürst aufrichtig und gerade verfahren; der Philosoph ist mir gleichwohl nicht wichtig genug, daß ich mich gegen ihn verstellen sollte.
DER PHILOSOPH: Sie nehmen meine Worte in einem ganz andern Sinne, als ich sie dachte.
DER FÜRST: So geht es Ihnen oft bei unsern Taten.
DER PHILOSOPH: Dies soll ich ja erfahren. Ich wollte jetzt nicht mehr sagen, als daß für unsereinen, der den Großen der Erde naht, das unschuldigst Scheinende in einem gewissen Sinne zur Schlinge wird. Und muß mir Ihr Vorsatz nicht so neu als sonderbar vorkommen?
DER FÜRST: Ich glaubte, in Ihnen einen rauhen, steifen Pedanten zu finden, und den gedacht' ich abzuführen; als ich aber [159] den festen, stattlichen Mann erblickte – und reden hörte, da lispelte mir meine Eitelkeit zu, meinen Lobredner aus ihm zu machen.
DER PHILOSOPH: Ein Fürst vermag viel, und ich wünschte, Sie vermöchten dies. Doch hängt es nicht von Ihnen ab?
DER FÜRST: Von mir? Von mir allein? Dann wären Sie es schon längst; machen Sie mich indessen ein wenig mit Ihren Verhältnissen bekannt. Mit Ihrer Denkungsart bin ich es so ziemlich; aber ich möchte von Ihnen hören, wie sie entsprungen ist.
DER PHILOSOPH: Das wollten Sie hören? Was hätte der Unabhängige, der Unbedeutende von sich zu sagen?
DER FÜRST: Bedeutend haben Sie sich genug gemacht; vergessen Sie nur nicht, daß Sie, so unabhängig Sie auch seien, vor mir als Ihrem Richter stehen, daß Leute draußen ungeduldig auf den Ausgang des Verhörs warten.
DER PHILOSOPH: Ebendiese Leute beweisen mir, daß Ihnen meine Verhältnisse bekannt genug sind. Sollten Sie nicht alles erforscht haben?
DER FÜRST: Vielleicht nur dies nicht, was ich eigentlich wissen wollte, was mich reizen konnte, so mit Ihnen zu verfahren, wie ich getan habe und ferner tun will. Zum Beispiel: Jene Leute sagten mir kein Wort davon, daß Sie ein Virtuos wären, und zwar einer der Virtuosen, um die wir uns gar nicht kümmern, für die wir gar nicht regieren, die gar keiner Regierung bedürfen. Beim ersten Blick, beim ersten Laut erkannt' ich diese Virtuosität in Ihnen, ob ich sie gleich seit meinem zehnten Jahre nicht mehr gesehen und bemerkt habe.
DER PHILOSOPH: Ich kenne mir keine Virtuosität.
DER FÜRST: Warum so ernst? Ist die Tugend etwas anders?
DER PHILOSOPH: Die Tugend? Von der Tugend reden Sie?
DER FÜRST: Ich, ein Fürst, zu einem Philosophen, der doch das Ding am besten kennen muß, weil er am meisten davon redet.
[160]DER PHILOSOPH: Ja so; so reden Sie davon?
DER FÜRST: Nein, nicht so, sondern so ernsthaft, als Plato selbst am Hofe des Dionys davon reden konnte. Sie lächeln! Natürlich ...
DER PHILOSOPH: Ich bin kein Plato! Sie wissen doch, wie es dem Philosophen da erging.
DER FÜRST: Ich bin kein Dionys, bin mit meinem Philosophen hier überhaupt aufs Lernen gar nicht gesteuert.
DER PHILOSOPH: Das denk' ich wohl; die Welt ist seitdem so umgekehrt, daß nicht mehr die Fürsten zu den Philosophen in die Schule gehen ...
DER FÜRST: ... sondern daß die Philosophen zu den Fürsten in die Schule gehen sollten! Vielleicht wäre dieses schon damals heilsamer gewesen; vielleicht täten wir recht gut, das Ding nun einmal am andern Ende anzufassen.
DER PHILOSOPH: Das beste Mittel sicherlich, allem Philosophieren dieser Art ein Ende zu machen!
DER FÜRST: So würde wenigstens Ruhe in der Geisterwelt.
DER PHILOSOPH: Und die Ruhe in der Geisterwelt sicherte die Ruhe in der Körperwelt! Aber um wieder auf die Tugend zu kommen, die Sie beliebten, eine Virtuosität zu nennen ...
DER FÜRST: ... und zwar die Ihrige!
DER PHILOSOPH: ... an die Sie dennoch glaubten?
DER FÜRST: Gerade wie an die Poesie.
DER PHILOSOPH: Wie? An die Poesie? Wie soll ich das verstehen?
DER FÜRST: Ist die Tugend etwa in unserm Alltagsleben etwas anders? Hat sie nicht alle Eigenschaf tender hohen Poesie? Idealischen Sinn? Erhabenheit und Stärke der Seele? Schwebt sie nicht hoch über der Erde und ihren niedrigen Verhältnissen? Beruht nicht sie wie jene auf der innern selbständigen Kraft des Menschen? Ist sie nicht eine Trennung von allem Gemeinen, Prosaischen?
DER PHILOSOPH: Dennoch teilen Sie die Menschen in Dichter und Prosaisten ein.
[161]DER FÜRST: So meine ich; nur daß der erstern und guten Ursachen wenige sind und sein müssen, daß wir uns um diese gar nicht zu bekümmern haben, sie wegen ihrer Virtuosität weder glücklich noch unglücklich machen können. Was wären sie ohne uns? Sind wir es nicht, die ihre Virtuosität recht sichtbar machen und ihren leichtgläubigen Bewunderern zur Schau ausstellen?
DER PHILOSOPH: Sonderbar!
DER FÜRST: Etwa, daß die Kraft, die diese Virtuosität in ihrer Spannung erhält, auf dem stolzen Bewußtsein eignes Werts beruht und vielleicht an Stärke selbst das Gefühl der Herrschaft übertrifft, auf das sich unser Dasein gründet? Stolz ist eine feste Grundlage, und ich baue viel darauf. Ebendarum nahen uns diese Virtuosen so selten, ebendarum können wir sie so wenig in unserm Kreise vertragen. Sie wissen wohl, wie sich Leute benehmen, die sich einer Virtuosität bewußt sind; wie sie sich auszeichnen durch Blick, Gebärde und Worte, wie sie uns und jedem Höhern (nach irdischem Verhältnis) zu verstehen geben, unsre und aller Herrschaft scheitere an der ihrigen, sei gar nichts gegen die ihrige.
DER PHILOSOPH: Nur darum erscheinen solche Virtuosen nicht in der Fürsten Kreise?
DER FÜRST: Der Stolze bei dem Stolzen?! Der Mann, der auf seiner eignen Stärke und Kraft ruht, bei dem, der keine Kraft ertragen kann, die er nicht leiten, zu seinen Absichten verwenden kann?! Wär' ich kein Fürst, ich würde diese Rolle spielen. Alexander wußte, was er sagte.
DER PHILOSOPH: Rolle! Rolle! Allerdings l Mit dieser Unterlage, mit dieser Folie, die Sie der Tugend – verzeihen Sie! –, nicht der Tugend, Ihrer Virtuosität da geben, was wäre es anders? Soll ich auch darauf antworten?
DER FÜRST: Warum nicht? Wenn Sie können.
DER PHILOSOPH: Wenn Sie es nur hören wollen! So sage ich dann: Ich sehe wohl, daß ein Fürst von Ihrem Verstande einen schönen, feinen und reichhaltigen Gedanken fassen [162] kann; aber damit der schöne Gedanke die wahren Früchte trage, so müßte der, welcher ihn gedacht hat, wenigstens für einige Augenblicke aufhören können, ein Fürst zu sein. Nun erlauben Sie gnädigst, daß ich mich entferne, denn jetzt möchte meine Virtuosität bald in Pedanterei ausarten.
DER FÜRST: Ehe ich Sie näher kenne?
DER PHILOSOPH: Ich kann Ihnen wohl nicht bekannter werden; Sie können wohl schwerlich bei der nähern Bekanntschaft etwas gewinnen.
DER FÜRST: Aber Sie doch durch die meinige!
DER PHILOSOPH: Sie erlauben den Zweifel. Ich spiele keine Rolle! Das, was ich bin, bin ich so ernsthaft, daß Sie mein Ernst empören würde. Auch ist der Unglaube, den Sie mir zeigten und so bilderreich aufstellten, ebendas, was ich an den Großen der Erde am meisten hasse, weil es die Quelle alles dessen ist, was wir Kleinen zu leiden haben und zu tadeln finden.
DER FÜRST: Wie, wenn ich nun mehr Grund zu meinem Unglauben hätte als Sie zu Ihrem Glauben? Wie, wenn die Erfahrung mir streng bewiese, täglich aufdränge, daß Ihr Glaube zwar schöner klingt, aber weniger stichhält?
DER PHILOSOPH: Ich beneide Sie nicht darum und kann nur die bedauern, die dadurch leiden. Meine Erfahrung geht von mir aus, ich traue ihr, weil nichts Äußeres den Menschen in mir verhüllt.
DER FÜRST: Ist dem Fürsten die seinige weniger wert? Sie sollen sie hören; und wenn der Philosoph nicht am Ende eingesteht, er würde an meiner Stelle ebenso denken und handeln, so soll der Philosoph mit allem Rechte laut sagen dürfen, was er bisher aus bloßer Menschenliebe meinen Untertanen vorgetragen hat. Gefällt der Vertrag? Ist er nicht neu?
DER PHILOSOPH: So, daß er mir ein Spiel zu sein scheint, welches der Mächtige zur Abwechslung, zum Zeitvertreib mit [163] dem Philosophen zu spielen denkt. Wir haben in dieser Art noch sonderbarere Dinge.
DER FÜRST: Ist das Leben etwas anders als ein Spiel, und sei es auch das Leben eines Philosophen? Spielt der Fürst mit Ihnen, was hindert Sie, mit dem Fürsten zu spielen? Gar viele spielen mit uns, mit denen wir zu spielen glauben. Sie kennen doch Montaignes Katze? Wir sind gar oft die Katze dieses launigen Philosophen, der der Wahrheit meistens näher kömmt als unsre heutigen Philosophen. Ich werde Sie rufen lassen. Bringen Sie alle Ihre Vorwürfe wohlgeordnet mit. Ich will sie auf einmal hören und keinem ausweichen. Dafür fordre ich biedere Offenheit. Der Richter und Gesetzgeber des Geisterreichs soll als Richter des stolzen Herrschers eines irdischen, bürgerlichen Volks dasitzen, alle Majestät verschwinden und bloß der Mensch,in dieser Lage, erscheinen. Jetzt gehe ich, meine Rolle im Geheimen Rat zu spielen. Dort warten meiner ganz andere Schauspieler. Und wie sind Sie jetzt mit mir zufrieden?
DER PHILOSOPH: Noch weniger als sonst. Vorher glaubt' ich, Ihre Taten entsprängen nur aus denen dem Menschen gewöhnlichen Leidenschaften; jetzt seh' ich eine noch trübere, giftigere Quelle! Ein System, das die Vernunft aus den schwärzesten Farben aufgetragen hat, in das weder Glaube an Tugend noch Menschenliebe einen Lichtstrahl werfen.
DER FÜRST: Leider kommt jeder Fürst, der denkt, endlich dahin.
DER PHILOSOPH: ... der nur als Fürst denkt, wie gesagt. Ich kam glücklicher, als ich gehe.
DER FÜRST: Dies ist nur der Rache Anfang. Kann man sich an dem Philosophen ärger rächen, als wenn man ihm beweist, sein Lieblingsgedanke sei ein Hirngespinst?
DER PHILOSOPH: Nur das – wenn ich wiederkehren soll –: Wie heißt der Lieblingsgedanke?
DER FÜRST: »Wir könnten oft anders, besser sein, als wir sind; und daß es geschehe, hängt nur von den Menschen ab; sie [164] müssen anfangen, anders und besser zu sein!« – Aber wenn Sie sie kennten, wie ich sie kenne!
DER PHILOSOPH: Ich hoffe, Sie sprechen nur von denen, die um Sie sind.
DER FÜRST: Und warum? Wirken wir nicht durch sie – mit ihnen? Kann es anders sein? Können wir sie anders, besser machen? Das ist ja der Philosophen, nicht der Fürsten Werk. Und hören Sie! Noch ein Vertrag – und ein recht feierlicher dazu! Sie oder die Philosophen sind mit den meisten Fürsten unzufrieden, die meisten Fürsten sind es mit den Menschen. Die Fürsten nun grade abzusetzen, wäre ein Wagestück, wobei wahrscheinlich die Menschen mehr gefährdet würden als ihre Fürsten. Zum Belege verweise ich Sie auf die Geschichte der Empörungen alter und neuer Zeit. Wie, wenn die Philosophen nun einmal sich recht verständen und mit der Besserung des Menschentiers anfingen? Aus ihnen lauter solche weise, uninteressierte, leidenschaftlose, kurz, tugendhafte Geschöpfe machten, wie sie selbst zu sein vorgeben? Fangen Sie und die übrigen Philosophen meines Landes dieses große, erhabene Werk an, und gelingt es Ihnen mit meinen Untertanen, so steig ich von meinem Fürstensitz herab und setze die Tugend darauf ein. Bis dahin aber bedürfen sie wahrlich meiner mehr, als ich ihrer bedarf.
307
[165] [463]EIN Dichter verbessert gewöhnlich seine jugendlichen genialischen Werke, wenn sein Genius durch Erfahrung und Kunst schon gedemütigt und die kühne, schaffende Kraft desselben im Sinken ist. Nur dann fängt er an, auf das Publikum und mit dem Publikum zu rechnen. So errötet und ärgert sich oft der Welt–, Staats- und Geschäftsmann über eine schöne, kühne, uneigennützige Tat seiner Jugend, bedauert, damals nicht klüger gewesen zu sein, und würde sie nun gern, wie der Dichter sein genialisches Werk, verbessern, um sie unter anderer, einträglicherer Gestalt herauszugeben.
308
ICH weiß nicht, ob es nötig und vorteilhaft ist, die zu kühngenialischen Produkte der Dichtkunst dem Publikum in einer [463] vernünftigern, das heißt, kältern Gestalt noch einmal zu geben: der Dichter sieht wenigstens immer so dabei aus, als hätte er sich aus Gefälligkeit und Bescheidenheit nun selbst kastriert. Doch er ist ja Herr über seinen Leib. Was soll man aber zu dem sagen, der die Werke anderer verbessert, der sich dem Publikum als Genie-Verschneider aufdringt, ohne dazu aufgefordert zu sein? Und wenn dies nun gar ein Genie dem andern tut? Wenn es gar den Stolz der deutschen Literatur, Lessings »Nathan«, verbessert auf die Bühne bringt?
309
MIT oben genannten Dichterwerken, den kühn-genialischen Produkten der Jugend, steht es vielleicht wie mit dem Beischlaf. Ein Mann, den etwas Erschlaffung zum Künstler in diesem Punkt gemacht hat, fördert vielleicht auch ein recht feingeformtes Kind zur Welt. Vergleicht es aber mit dem, das der gezeugt hat, auf den die volle Kraft der Natur so wirkte, daß er nur ihrem Drang gehorchte und kaum wußte, was er tat!
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[464] [38]ES ist (nach meiner vielleicht zu runden Art zu reden) zu bedauern, daß die physische Natur des Menschen nicht in einem Hauptpunkte von der Beschaffenheit seines moralischen Seins abhängt. Folgte z.B. der physische Tod sogleich von selbst und notwendig auf den moralischen, innern Tod, welch ein gewaltiger Zuchtmeister würde dann über dem Menschengeschlecht schweben? Die Verbrecher gehen jetzt frisch und gesund vor unsern Augen herum und sind es nur dann mit voller Kühnheit, wenn das in ihnen abgefahren oder abgestorben ist, was sie vorher noch auf Augenblicke beunruhigte. Die Seele kann also in dem Menschen als ein recht stinkender Kadaver liegen und der Leib noch ganz frisch blühen. Da aber nur solche Seelen diese moralische Vermoderung riechen, die noch gesund sind, und diejenigen, welche in gleicher Fäulnis mit ihr liegen, den Pestgeruch gar nicht für stinkend halten, vielmehr von ihm angezogen werden, so muß sich doch der so Tote für lebend halten? Ohne daß mich der Kantianer zurechtweise, begreife ich sehr wohl, daß es um alle Moralität und um das daraus fließende Verdienst für uns getan wäre, wenn uns ein solcher drohender Zuchtmeister zur Erhaltung der Gesundheit unsrer Seele so gewaltiglich zwänge; der empirische Pöbel aber würde sich recht gut dabei befinden.
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[38] [134]PLATO sagt: Die Menschen würden dann weise und folglich gut regiert werden, wenn Philosophen auf den Thronen säßen. Freilich, er hat ihnen ein Muster dazu hinterlassen. Wenn er aber die heutigen recht abstrakten Systeme unsrer deutschen Schulphilosophen lesen könnte, so würde ich ihn fragen, ob er auch ihre Schöpfer darunter verstanden habe? Mich deucht, ein gutgesinnter, verständiger, gerechter Mann sei Philosophs genug, um über Menschen zu herrschen (ich will sagen: zu regieren); da überdem alles, was diesen heilsam und nützlich ist, gar zu sehr aus ganz alltäglichen empirischen Prinzipien fließt.
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[134] [271]WARUM ist doch der Deutsche nach dem für ihn verderblichen und schimpflichen Frieden, da man ihn wie eine Herde teilt, aufgebrachter auf die Franzosen als selbst auf die Engländer und [271] einen ihrer größten Bundesgenossen während des Kriegs? Weil der Mensch immer mehr auf die Wirkung, durch die er leidet, als auf die Ursache sieht, die das Leiden veranlaßt hat.
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[272] [134]ES ist freilich zu bedauern, daß der Gesetzgeber nicht auf das Höhere im Menschen, sondern nur auf das Niedere in ihm Rücksicht nehmen darf; daß er, sozusagen, den erhabenen Schöpfer vergessen und nur an das Geschöpf auf dieser Erde denken muß. Tut er dieses aber in dem rechten Sinn, so dient er wahrscheinlich beiden.
Vollkommenheits- oder Vervollkommnungsträumer nehmen den Menschen zu hoch, Moralisten und Theologen zu einseitig, Philosophen zu systematisch; Kameralisten berechnen ihn bloß nach [134] den Abgaben, Politiker nur nach der Geduld als Werkzeug, Kommerzienräte kaufmännisch, gewisse Leute zu sklavisch, zu niedrig, Juristen zu förmlich. Wer nun also ist der Mann zum Gesetzgeber? Der, welcher den wahren Geist der Sache von allen Genannten hat, ohne eins davon ausschließend zu sein. Man verzeihe mir meine Unbescheidenheit; wenn man sich einmal etwas zu wünschen erlaubt, fängt man nicht mit wenigem an.
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[135] [312]WENIGE Weiber kennen die Freundschaft, weil sie nur die Liebe kennen; doch einigen gelingt es noch, sie kennenzulernen, wenn sie physisch aufhören, es zu sein. Die Männer können damit zufrieden sein, ob ich gleich darum nicht glaube, daß es die Natur aus Vorliebe für sie so eingerichtet hat. Die erste altkluge Rechenmeisterin hat es wohl nur als ein beförderndes Mittel zu ihrem Zweck berechnet, und wir sehen es hier wie anderwärts, daß sie sich nicht geirrt hat.
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[312] [6]DER tiefdenkende Mann, der kühne, starke Gedanken und Einfälle über Menschen und die moralische Welt mit Wärme so offen und frei hinwirft, als sie plötzlich in ihm entstehen, trifft gewöhnlich in diesem Augenblick den Gegenstand auf dem rechten Punkt. Faßt der Zuhörer diesen rechten Punkt, so fällt ebenso plötzlich ein starkes Licht in seinen Geist, und er sieht auf einmal den Gegenstand hell erleuchtet, den er bisher nur in ferner Dämmerung erblickte. Der Zuhörer aber, welcher den Gegenstand auf alle Seiten wendet und überall gleiche Beleuchtung sucht, ihn gar an kaltes Licht ohne Wärmestoff hält, dem verschwindet nicht allein der beleuchtete Punkt aus den Augen, der Gegenstand selbst wird noch finsterer für ihn.
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[6] [398]DAS verwickelte Rätsel ist einmal hingeworfen, damit doch unser Geist bei Muße in hoher Kultur etwas zur Übung vorfinde; jeder zerrt daran nach Sinn und Kraft, wenn er die Zeit dazu hat, sich um etwas Vergebliches zu bemühen. Nur die Philosophen tun es aus Amtspflicht. Die ewige Weisheit aber, die immer billig und gerecht ist und die auch auf das Vergnügen, den Genuß und das Glück derer dachte, die auf uns folgen sollen, hat dafür gesorgt, daß dieser Zeitvertreib den spätesten Nachkommen zur Übung in den Hauptpunkten gerade so unabgenutzt verbleibe, wie ihn uns unsre Vorfahren zur Erbschaft hinterlassen haben. Wenn diese ewige Weisheit zuzeiten lächelt, so tut sie es vielleicht nur, wenn sie auf einen von uns blickt, der das Rätsel gelöst zu haben glaubt. Aber gehörte dies nicht auch dazu, um unsern Geist recht glücklich zu machen? Und hat sie nun das Vergnügen, so zu lächeln, schon oft gehabt, so wird es ihr gewiß auch in Zukunft nicht daran fehlen.
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[398] [438]WENN man nun endlich durch unermüdete Geistesanstrengung, durch Selbstdenken alles philosophische Wissen der Menschen erschöpft hat und eines jeden großen Mannes System sich vorerzählen kann wie Märchen aus der höhern Welt, so steht man endlich zwischen dem Pantheismus, dem Skeptizismus und seinem Gegner, dem Glauben. Die Vorstellung des ersten zermalmt uns; sie schleudert uns in dem Augenblick an die harten Schalen dieser Gottheit, da wir uns zu ihr erheben; ja, sie verschlingt uns ganz, wenn wir uns durch diese drängen und mit ihr vereinigt fühlen wollen. Die Vorstellung des zweiten treibt wenigstens ein sonderbares Spiel mit uns; ein Spiel, wobei weder der Geist noch die Sinne zu gewinnen scheinen, weil sich keine der Parteien von dem Gewinst der andern überzeugen lassen will; denn wenn auch eine in ehrlich erspieltem Vorteil zu sein glaubt, so beweist ihr die andre gleich, sie habe falsch gespielt und müsse sich erst von diesem Vorwurfe reinigen, bevor sie den Gewinst einstreiche. Was aber den dritten betrifft, so fordert er wirklich gar zuviel Entsagung auf uns und unsre Selbständigkeit, als daß wir ihn so leicht und unbedingt von uns erhalten könnten. Man müßte etwas in sich zerstören, das in der Tat nicht dafür in uns gelegt zu sein scheint – ein so sonderbares Ding, daß es selbst aus dem Zwitterlicht der Dämmerung die schwankenden Strahlen in einen Punkt zu sammeln weiß. Und hellt dieser Punkt auch die Finsternis nicht ganz auf, so leuchtet er doch. Auch weiß leider jeder, daß es zu diesem dritten nur des ersten Schritts[438] bedarf, um erbärmlich und abgeschmackt zu werden. Was soll man also tun? – Seine Pflicht!
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[439] [420]MAN schreit immer, die Regenten, Großen, Richter usw. sollten nur gerecht und billig sein, so würde alles gut gehen. Die Sache selbst ist klar und richtig; sie sollten es sein, wir sollten es alle sein, und ich selbst wollte noch lauter als alle schreien, wenn[420] Schreien dieses bewirken könnte. Aber ich werde wenigstens nicht lauter als andere schreien, bevor ich nicht zwei Menschen gesehen haben werde – sie sollen sogar Freunde sein –, die immer äußerlich und innerlich gegeneinander in Tat und Urteil gerecht und billig gewesen sind. Vielleicht hat sich dieser Fall noch nie ereignet; vielleicht könnt' ich eher einen Elefanten von einem Floh verschlingen sehen, als daß er sich ereignete. Freilich, jedem scheint das Ding sehr leicht, wenn er es braucht; der andere darf ja nur wollen; aber sobald es der andere fordert, so arbeitet merklich und unmerklich – oft in dem weisesten und schönsten Redner über diesen Punkt – ein gewisser Dämon in dem Innersten, der zwar das Streben in dem Menschen zu der berühmten Perfektibilität nicht hindern kann, aber dadurch, daß er uns immer an unsern liebsten Freund erinnert, Kraft genug hat, uns nicht dahin gelangen zu lassen. Vielleicht wäre aber ohne diesen Dämon das Streben nach Perfektibilität gar nicht in dem Menschen. Also wozu das? Damit man, wenn es möglich ist, etwas bescheidner im Klagen werde, zuzeiten über sich selbst Gericht halte und, ehe man andere verdammt, den Stich des eignen Gewissens nicht vernachlässige.
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»WAS du willst, daß dir die Leute tun sollen, das tue ihnen auch!« ist ein leichter, schöner, klarer Spruch – das Hauptgebot in der Gesellschaft, ja der Schlüssel zur täglichen nötigen, für sie sogar hinreichenden Moral. Auch richtet er, weil doch die Menschen durch Erfahrung an Wiedervergelten glauben lernen, wirklich mehr aus als die erhabensten Prinzipien der Moral. Er steht, wie bekannt, im Evangelio, und der erhabene Meister selbst hat ihn ausgesprochen. Die Kantianer mögen es mit ihm ausgleichen, daß er hier auf niedrigen, sinnlichen Grund gebaut hat; das ist er doch? Gleichwohl, so allgemein nützlich, so heilsam dem einzelnen, so faßlich er auch für den Beschränktesten ist, so hat ihn doch keiner von den Myriaden Staubgewordener und denen es bevorsteht, Staub zu werden, durchaus befolgt, [421] vielleicht gar nicht befolgen können – selbst der Meister nicht, der ihn ausgesprochen hat; denn als Reformator, der zerstörend zu Werke gehen muß, konnte er es am wenigsten, da seinem höhern Zweck alles andere weichen mußte. Wem könnte es nun unter uns gelingen? Etwa dem Regenten? Die Beziehung gilt bei ihm nur sehr eingeschränkt, und ließe er sich einfallen, den Spruch in seinem ganzen Umfang zu befolgen, so möchte[n] er und seine Untertanen wegen gewisser Nachbarn sich sehr schlecht dabei befinden. Die Philosophen und Moralisten? Fragt die Gegner ihrer Systeme und ihr bürgerliches Leben. Die Religiösen, die Heiligen? Schlagt das Kapitel der Toleranz oder lieber die Kirchengeschichte und die Legende selbst auf. Dem Staatsmann? Die Politik scheint diese Regel ganz auszuschließen: Da heißt es – um nur wieder auf die Nachbarn zu kommen und ihre Amtsgefährten und sonstigen Verhältnisse ganz zu vergessen –: »Uns soviel Gutes und Nützliches als möglich, euch soviel Böses und Nachteiliges als möglich; wir gewinnen, was ihr verliert.« Die Hofleute? Das Wort hat schon entschieden. Die Kaufleute? An der Börse laufen keine Narren herum, es müßte dann ein Laie sein. Die Weiber? Welche Schöne oder auf Schönheit Anspruch machende putzt die andre, wenn es nicht die Mutter oder eine Kupplerin ist, um die Sache grob zu nennen, ob ich gleich weiß, daß so etwas in höherm Stande mit vieler Feinheit getrieben wird. Der Bettler? Wer steht uns dafür, ob ein Bettler dem andern die Wunde nicht darum gegen die Kälte bedeckt oder gar zu heilen sucht, damit er nicht das Mitleiden der Vorübergehenden zu seinem eignen Nachteil zu sehr errege? So möchte es die ganze Leiter herab und herauf gehen, die Edeln und Großmütigen in jedem Stande ausgenommen; doch auch diesen gelingt es nicht, denn der Edelste selbst ist es nicht darum, um als Muster der Vollkommenheit dargestellt zu werden: Er ist es darum, weil er sich so rein hält, als es ihm die Welt zu sein erlaubt.
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[422] [38]WENN gewisse Staatsleute von einer moralischen Kolik plötzlich überfallen werden oder wenn sie das Gewissen bei einem [38] wichtigen Geschäfte stört und sich nicht will stillen lassen, so bleibt den armen Kranken kein anderes Rettungsmittel übrig, als die Prinzipien der Welt- und Regierungserfahrung, von Leuten ihres Standes (also von Empirikern, wie sie selbst sind) zur Arznei verarbeitet. Schlägt das Mittel wirklich an, gelingt die Kur, so greifen sie, um allen übeln Vorfällen dieser Art vorzubeugen, so oft nach diesem Opiat, daß es am Ende ein wahres Tonikum für sie wird; und dieses soll selbst das physische Opiat nicht sein. Wenn ihr einen Mann kennt, der solche Palliative gebraucht hat oder noch braucht, so hütet euch vor ihm; er ist gefährlicher als der, welcher sein Gewissen nie recht gefühlt hat. Mit der Kunst, es einzuschläfern, hat jener gar viele andere Künste erlernt, worauf doch vielleicht dieser nicht gefallen ist. Vielleicht hat sich sogar der bloß Praktisch-Gewissenlose noch vor dem zu hüten, der durch Theorie zur Praktik emporgestiegen ist.
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[39] [6]ES ist sehr und mehr als wahrscheinlich, daß gewissen Leuten mißfalle, was ich hier und da über sie und über die Menschen überhaupt sage. Ich habe nur eine und sehr kurze Antwort, deren Kraft sie erwägen mögen, wenn es ihnen gefällig ist: Ich hätte es gar nicht gesagt, noch weniger geschrieben, wenn es mir nicht schon seit so langer Zeit mißfallen hätte. Ich setze noch hinzu:Da ich weder ihre Gunst noch ihr Wohlgefallen suche, mir beides gar nicht wünsche, so scheide ich hier von ihnen, ohne ihnen je anders genaht zu sein, als in diesem einzigen, verlornen Augenblick.
[6] Wie gern sagte ich nicht recht viel Schönes und Vortreffliches von dem Menschen; hätte ich doch auch meinen Teil daran!
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[7] [455]DER Schriftsteller, der nicht Ich zu sagen wagt, wenn er von sich spricht, kömmt mir vor, als sei er sich keines wahren, kräftigen, selbständigen Ichs bewußt und bitte deswegen im voraus den Leser um Vergebung, daß er ihm keines vorzuführen habe. Derjenige, welcher in der vielfachen Zahl von sich spricht, macht seine Bescheidenheit in obiger Rücksicht verdächtig und scheint sogar auch fremdes Gut geladen zu haben.
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[455] [416]DIE Schwärmerei, welche dem Leser oder Zuhörer den wenigsten, wohl gar keinen Genuß gewährt, ist die der Vernunft. Wenn nämlich ein recht philosophisches Genie, um als Originaldenker aufzutreten, eine Idee oder den Schatten einer Idee zu einem ihm nagelneu scheinenden System so ins Feine gesponnen hat, daß er nun das ganze Gebäude an diesen Faden hängen zu können glaubt, so wird er von diesem Augenblick an so schwärmerisch verliebt in sein Geistesgeschöpf, daß er, der doch schon allen Glauben in den Prämissen und Prinzipien verworfen hat, nun den derbsten Köhlerglauben hinter sich läßt und ihn sogar von uns fordert. Lachen könnte man wohl, wenn dem Dinge eine lächerliche Seite abzugewinnen wäre; es ist aber zu abgenutzt dazu und gewährt folglich gar keinen Genuß.
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[416] [260]DER Schleier, welchen asketisch-mystische, heuchlerische, pfäffische, sein wollende Religion in Verbindung mit einer tückischen Politik und der gestalt- und gehaltlosen Schulphilosophie seit Jahrhunderten gewebt, geflickt und dick gefärbt hat, ist endlich zerrissen und fliegt in Lumpen über den größten Teil Europas her. Mögen böse Genien diese Lumpen in der Luft immer zusammenlesen und zu einem Ganzen für gewisse Reiche zusammenflicken; uns sollen sie das Licht nicht mehr verhüllen. Ja es sind seit Jahren alle große[n], wichtige[n] Wahrheiten so laut und öffentlich gesagt worden, daß man sie nun mit Sinn, Kraft und ohne Besorgnis anhört; der menschliche Geist erschrickt nicht mehr vor ihnen. Die Regenten kennen ihre Pflicht, man darf von diesen Pflichten reden, und die Völker wissen nun auch durch Erfahrung, daß sie der Regenten bedürfen. Doch gibt es noch einige Länder, wo man Märtyrer werden könnte.
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[260] [39]DA das Spiel mit dem Gewissen das älteste Spiel der Welt zu sein scheint, so kann man eben nicht sagen, daß die Jesuiten die Kasuisterei erfunden hätten; sie haben sie nur zur Wissenschaft erhoben und als solche zum Heil der Seele angebaut und rühmlich ausgeführt. Wenn ein Priester den Gläubigen so etwas mit Salbung und kraft seines Berufs zum Heil der Seele ausgearbeitet übergibt, so müssen sie es doch annehmen und befolgen, um nicht für Ketzer angesehen zu werden. So viel ist wenigstens durch den Fall der Jesuiten selbst in katholischen Landen gewonnen, daß das Spiel mit dem Gewissen jetzt nur den alten Gang geht, daß es nicht mehr als Wissenschaft so öffentlich gelehrt wird und nicht mehr den wichtigsten Teil der römisch-katholisch-jesuitischen Theologie ausmacht. In diesem Sinne hätte man sie besser Dämonologie genannt.
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[39] [62]DER Mensch wird alles müde, nur nicht, sich selbst zu lieben. Auf dieses Gesetz hat die Natur alles gebaut, und wir gehorchen ihr auch nur so lange, als wir es befolgen. Wer da glaubt, daß ich dieses dem Menschen zum Nachteil sage, der nahe sich nur dem, der dieses Gesetz zerrissen hat; dieser wird ihn vielleicht zu seinem Schaden lehren, was ich hier nur andeute. Wer sich nichts ist, ist auch andern nichts, wenn er ihnen nicht noch etwas Schlimmers ist.
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[62] [439]ES gibt Geisterpöbel, der durch nichts geadelt werden kann. Wie wär' es sonst möglich, daß Leute, die von Jugend auf und ihr Leben durch die Wissenschaften getrieben und das Schönste, Vortrefflichste, was der menschliche Geist hervorgebracht, gelesen haben, gleichwohl so wenig liberale, edle Gesinnungen haben, als hätten sie sich in dem Kot gewälzt und nie die Teppiche betreten, welche Götter für uns gewirkt zu haben scheinen. Ich glaube, sie werden in jenem Leben vor dem Anblick des Großmeisters selbst, vor aller seiner Herrlichkeit – und enthüllten sich ihnen auch alle die großen Geheimnisse, zu welchen die Wissenschaften auf Erden nur Vorbereitung sein könnten – immer noch Geisterpöbel bleiben.
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MAN sagt und glaubt wahrscheinlich etwas Rechtes zu sagen: »Es ist nichts Abgeschmacktes und Törichtes, das nicht ein oder der andre berühmte Philosoph gesagt und behauptet hätte.« Zugestanden! Es ist aber auch nichts Schönes, Gutes, Vortreffliches, das nicht ein Philosoph gesagt hätte. Das wenige Wahre, soweit wir es erkennen, sind wir ihnen obendrein allein schuldig.
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[439] [378]EIN Beweis, daß der Mensch die Idee von Gott selbst erschaffen sollte, liegt auch darin: Er fängt mit einem rohen, gestaltlosen Klotz oder Stein an, vervollkommt die grobe Materie bis zum Apollo von Belvedere, dem Jupiter Olympius und endigt mit einem unendlichen, alleserschaffenden und -erhaltenden Geist. Ist er soweit, so räsoniert er darüber, versinnlicht und verunstaltet wohl auch wieder das Erhabenste, was seine Vernunft erreicht hat. Er fühlt dann, daß er für seine Sinne zu weit gegangen ist; und da er nun einmal nicht stehen bleiben kann noch soll, so sucht er das Unmögliche zu bewirken: das Gedachte der Vernunft mit dem Gefühlten der Sinne zu vereinigen. So fängt er auch mit sich als rohem Tier an und arbeitet es bis zu einem Newton aus, um sich zum Räsonieren über sich selbst und sein Geschlecht ein weiteres Feld zu öffnen. Hier liegt die Quelle seiner Größe, seines Geistesglücks: Er steht zwischen zwei Finsternissen, die ihn gänzlich einhüllen, durch seine schaffende Kraft wirft er Licht dazwischen, sein erhabnes Geisteswerk steht umstrahlt da und erhellt selbst die ihn rings umgebende ferne Finsternis so weit, daß sie ihn wie Dämmerung umschwebt.
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[378] [389]DAS russische gemeine Volk stellt, sobald ein Mensch verschieden ist, ein Glas Wasser neben den Leichnam und legt ein Stückchen Leinwand dazu, damit die Seele des Abgeschiedenen sich von ihrem Unrat reinigen möge. Der Einfall ist naiv, menschlich, sogar moralisch, und das Bad kostet nicht viel. Man sieht, daß die griechischen Geistlichen ihr Handwerk nicht so gut verstehen wie die katholischen. Diese ersannen oder kopierten von den Heiden ein recht großes Seelen-Feuerbad, aus dem vor der bestimmten Zeit nichts erlösen kann als die Messen, die der Priester zur Errettung der Gequälten für bare Münze liest.
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[389] [21]DAS Lächerliche an uns tut uns darum so viel Schaden, weil es sozusagen vor uns herläuft. Weil wir uns schon gezeigt haben, ehe wir noch die Zeit hatten, uns zu zeigen. Der erste Augenblick bewirkt das Urteil – und meistens, ohne Appellation zu [21] gestatten; es gehört viele Zeit, Geduld, viel Geist, ja Glück dazu, um von diesem so rasch urteilenden und schnell verdammenden Richterstuhl wieder in Ehren eingesetzt zu werden.
332
DAS Lächerliche, das uns anklebt, scheint im Grunde weder eine Sünde noch ein Verbrechen zu sein; da es aber das einzige Verbrechen in der Gesellschaft ist, das, kaum bemerkt, kaum gesehn, schon für immer abgeurteilt und verdammt wird, so muß es beinahe mehr – ich will nicht sagen: als Mord, doch mehr als Bankerutt an Ehre und Habe sein.
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WER mir nicht glaubt und sich mit eignen Augen und Ohren überzeugen will, was für ein schreckliches Gebrechen oder Verbrechen das Lächerliche in der großen Welt ist, der muß suchen, in einer vornehmen Gesellschaft gegenwärtig zu sein, wenn ein berühmter – oder noch besser: ein allgemein geschätzter, rechtschaffener Mann zum erstenmal darin auftritt und den Versammelten durch etwas Lächerliches an sich die Last der Achtung abnimmt oder wenigstens erleichtert.
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DIE unterste Klasse, der Pöbel, um »vornehm« zu reden, der in allem Freude findet, weil ihn keine höhern Ansichten daran hindern, ergötzt sich herzlich an dem Lächerlichen seiner Nebenmenschen und gibt ihnen dafür sein eignes Lächerliche gerne preis. Unter der feinen Welt ist es ganz verschrien, und mit vielem Recht; Leute, die so viel Lächerliches, Unanständiges tun, können es nicht besser decken als mit der Grazie des Betragens, dem leichten liebenswürdigen Anstand, der sanft ernsthaften, vornehmen Miene, kurz mit dem, was der Tanzmeister und die Weiber lehren.
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[22] ERNSTHAFTE, wichtige Ämter vertragen wirklich ein anklebendes oder durch Affektation erworbenes Lächerliche nicht. Es gibt da Augenblicke, wo die rechte Miene zum Amte mehr wirkt als der Geist zum Amte. Auch dies ist sehr natürlich: Die rechte Miene verdeckt die unsichtbaren Lücken unsers Geists, das Lächerliche macht die schlechte Bildung oder Verbildung desselben nur auffallender und unangenehmer.
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DIE Deutschen haben von allen Völkern das meiste Lächerliche für die große Welt an sich; vielleicht weil sie noch gar zu ehrlich sind und die große Welt noch allzusehr verehren und bewundern. Wer nichts anstaunt, steht mehr auf seinem Gleichgewicht. Der Engländer glaubt, ihn kleide alles, er habe zu allem Recht; er verachtet, was er nicht besitzt und nicht mehr erwerben kann, tritt keck, auch wohl bengelhaft auf. Der gutmütige Deutsche will wenigstens zeigen, daß er sein Möglichstes tue, andern zu gefallen, und in diesem ehrlichen Eifer merkt er kaum, wie schlecht es ihm oft gelingt. Der Franzose und der Russe haben den sichersten, feinsten und für alle Auftretende[n] gefährlichsten Takt, das Lächerliche auf den ersten Blick auszufinden. Wer sich vor ihnen auf seinen Sprach- oder Tanzmeister allein verläßt, der wird von ihnen über seinen Irrtum belehrt werden, vorausgesetzt, er habe Sinn genug, auszufinden, daß das eben sein Lächerliches sei, was man an ihm am meisten bewundert. Wo Leute von Welt einen Genuß finden, sparen sie sich ihn auf, suchen ihn weislich zu vermehren, vielleicht weil sie der wirklichen Genüsse so wenige haben.
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[23] [135]EXZENTRITÄT und Originalität nützen eigentlich keinem; doch unbedeutenden Leuten läßt man sie so hingehen, wenn sie den Schaden davon tragen wollen; aber das Wesen der Regenten und Staatsleute verträgt sie ganz und gar nicht, und wenn diese dadurch etwa einen zweideutigen Ruhm erwerben, so bezahlen die ihn teuer, auf deren Kosten er erworben wird. Die Völker könnten also immer den Himmel bitten: »Bewahre uns vor exzentrischen und originellen Regenten und Ministern!«, wenn man zur Abwendung eines Übels zum Himmel flehte, das sich, aus besondern Gründen, so selten auf Erden zeigt. Was aber solche Exzentrität bei einem Regenten wirkt, der Anlage zu höhern Tugenden hat, das hat Schweden an seinem berühmten Helden Karl dem Zwölften wohl erfahren, und Europa wird an die Folgen davon durch Rußland immer mehr erinnert werden, wenn es dieselben etwa vergessen sollte. Vielleicht ist Karl der Zwölfte seinen Hofleuten und Hoflehrern gar zu früh entsprungen, denn diese, nebst den Staatsbeamten, arbeiten gewöhnlich und sehr weislich darauf, alles Exzentrische und Originelle in dem Lehrling bis auf den verborgensten Keim dazu auszurotten. Sie und die Welt fahren freilich gut dabei; das Übel ist nur, daß sie oft etwas ganz anders für exzentrisch und originell halten, als ich hier andeuten wollte. So geht nun, um das Gefährlich-Seltne zu vermeiden, das Nötig-Seltne oft zugrunde.
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[135] [231]WER in vollem Ernste auf die Opinion des Volks baut, der kann auch dem Sumpfe entstiegene, hin und her flatternde Irrwische für Fixsterne halten. In der Beurteilung großer, berühmter Männer (ich meine zugleich: guter und edler), die Einfluß auf die politische und moralische Welt haben, zeigen sich Große und Kleine, Vornehmere und Geringe, gewöhnlich ganz als einverstandner Pöbel. Was sonst nie übereinstimmt, tut es hier. Tadeln ist hier leicht; aber in der Tat: Es gehört mehr als das Mögliche dazu, daß die Meinung einer solchen schwankenden Menge ineinem Punkt richtig zusammentreffe, da nur die Kleinigkeit dazu erfordert wird, daß der Verstand aller so aufgeklärt und hell sei, ihren Vorteil recht zu erkennen und die Lagen, Verhältnisse eines solchen Mannes, der sich mutig und tapfer für sie bemüht, klar einzusehen. Diese Kleinigkeit wird uns denn wohl, weil wir doch nach der Meinung weiser Männer wirklich im Steigen zur Veredlung und Vervollkommnung sind, mit den übrigen Kleinigkeiten auch noch kommen. Bis dahin zieht jeder einen solchen Mann in seine eigne Lage, und weh' [231] ihm, wenn er nicht recht hineinpaßt; es hilft ihm nichts, wenn er auch in tausend und tausend andere Lagen paßt. Die Vornehmen sind hier die allerschlimmsten, denn da sie alle groß und mächtig werden wollen, so soll er nur durch das berühmt werden, was er ausschließend für sie tut. In der Welt bescheidet man sich noch, weil man muß; aber empörend ist es, daß auch so viele Geschichtschreiber in diesem Punkte Pöbel sind.
339
[232] [197]DIE Großen der Erde finden gewöhnlich im Unglück nur mehr Stoff des Mißtrauens und des Mißfallens gegen die Menschen und an den Menschen, weil sie sich selbst die Ursache desselben selten zuschreiben. Dieses ist eine natürliche Folge der Lehren, die ihnen gewisse Leute geben; und diejenigen stärken sie noch mehr in diesem Glauben, die an die Stelle derjenigen zu treten suchen, die man bei dem unglücklichen Ereignis gebraucht hat.
340
AUCH auf den Stärksten kann der Schwächste wirken, wenn er es einmal dahin gebracht, ihm vertraulich nahen zu dürfen. Er [197] braucht den Starken ebendarum nicht bei seinen Schwächen anzugreifen; am sichersten richtet er den Angriff auf seine Stärke selbst durch seine Stärke, und gelingen wird es ihm, wenn er sie nur zu seinen Absichten zu reizen versteht. Der Kräftig-Mutige fühlt das Gewicht seiner Stärke; und da er sich durch sie alles zutraut, verläßt er sich auf sie und ist hier am wenigsten verwahrt; seine Schwächen kennt er und deckt darum die Blößen durch Verteidigung. Ein solcher Mann gebraucht oft seine ganze Kraft und ahndet nicht, daß er das Werkzeug eines Schwächlings oder Elenden ist, und was das Schlimmste ist, er gebraucht sie dann gewöhnlich, wo er sie nicht brauchen sollte, oder tut mehr, als er getan haben würde, wenn er ihr selbst die Richtung gegeben hätte. Als Minerva den edlen Ajax verblendete, erwürgte er die Schafe der Griechen und wähnte, seine Feinde zu erwürgen. Die Listige rettete dadurch ihre Lieblinge nicht allein von seiner gefährlichen Stärke, sie richtete den ihr Verhaßten durch den Mißbrauch derselben selbst zugrunde. Die Anwendung versteht sich: Der Moralisch-Starke hat sich vor niemand mehr zu hüten als vor dem Moralisch-Schwachen, dem er Einfluß und die Leitung seiner Kraft und seines Muts verstattet.
341
[198] [62]WER sich aus bloßem Stolze unabhängig gemacht hat, wozu mancher kömmt, dem es in der Welt nicht nach seinem hohen Sinn gelungen (weil er vielleicht die ihm niedrig scheinenden Abhängigkeiten überspringen wollte, um gleich zu einer recht großen in der Herrschaft über andere zu gelangen), der endigt gewöhnlich mit Abhängigkeit von sich selbst. Er muß sich nun ärger despotisieren, als ihn andre despotisiert hätten, um sich im stolzen, philosophischen Schein der Unabhängigkeit zu erhalten.
342
[62] [216]GEBE der Fürst einem reichen Hofmanne die Freiheit – das heißt, er entlasse ihn, wenn er müde ist, sein Gesicht zu sehen –, und dieser freie Mann wird vielleicht sterben, bevor er gewahr wird, daß das Grün der Bäume auf seinem Landgut frischer ist als das Grün der Bäume in dem Schloßgarten. Von besserer, gesunderer Luft will ich gar nicht reden; seiner Brust ist keine zuträglich als die der fürstlichen Gemächer. Sein eignes Schloß, und wäre es größer als Versailles, wird ihm ein Hundestall scheinen; er denkt nur an die engen Kammern, die er im Untergeschoß oder auch unter dem Dache des fürstlichen Schlosses bewohnte – ach! – und in denen nun ein anderer Glücklicher sich bläht! So mußt' es sein! Wie hätte sonst aus der Gesellschaft [216] von Menschen, die zu Selbsttätigkeit und den daraus fließenden Genüssen geschaffen sind, ein Hofleben entstehen, sich so ausbilden, so vervollkommnen können!
343
[217] [267]DIE Französische Revolution hat unsern Schriftstellern einen reichen Stoff zu Büchern geliefert; ihre Folgen gewähren einen ebenso reichen, wo nicht reichern, denn sie können jetzt sogar Erbauungs-, Trost-und Stärkungsbücher in allen Formen über dieselbe schreiben und den so reichen Stoff asketisch-politisch behandeln. Auch glaube ich beinahe, es wird vor dem Drucke dieses Blattes geschehen sein.
344
[267] [501]EIN Schriftsteller mustert Gott, den Staat, die Natur, das Alte und Neue, schont weder der Toten noch Lebenden, haut alles nieder, um durchzusetzen und zu erheben, was ihm als Wahrheit vorkommt. Läßt nun der Mann seine Scharmützel und Schlachten endlich drucken, so will er gar nicht leiden, daß die Rezensenten das an ihm tun, was er an andern getan hat. Ist dies, auch billig? Wer Krieg führen will, muß vertragen können, was der Krieg mit sich bringt. Und ist nicht jede Schriftstellerei eine Art von Krieg? Wird sie nicht abgeschmackt, wenn sie gar zu friedlich einhergeht? Krieg der Torheit, der Narrheit, den Irrtümern, dem Wahn, den Vorurteilen, der Vermessenheit, dem Laster! Ist dieses nicht das Feldgeschrei in der Geisterwelt, auf Erden wenigstens? Legt ihr nicht die Moralität, worauf sie sich gründet, diese Verpflichtung auf? Freilich sind die Rezensenten nur leichte Truppen auf diesem lärmenden Schlachtfelde, aber um so gefährlicher, wenn ihr Blößen gebt und nicht geschlossen steht; da fallen sie mutig über euch her, und der Sieg ist leicht. Vielleicht ist ebendieses die Ursache, daß man sie nicht leiden kann. Aber sie hauen ein, wo keine Blößen sind! Der Husar ist der Prahler unter den Soldaten, das ist ja weltbekannt; er tut tausend Lufthiebe, bis einer trifft; aber der Husar der literarischen Armee hat euch gewiß getroffen und noch dazu am rechten Fleck verwundet, wenn ihr laut aufschreit und auf ihn schimpft.
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[501] [240]ALS sich der junge Alkibiades mit andern auf der Straße spielenden Knaben vor einen fahrenden Karren mitten in den Weg legte und dem Fuhrmann trotzig zurief: »Fahre nun zu!«, legte sich doch wohl der Bube eines Optimaten, Aristokraten oder Patriziers hin. Da nun der Fuhrmann ein Bauer oder Sklave war, so wußte jeder von beiden, wieviel und was einer von dem andern zu fürchten hatte. Der Fuhrmann eines Aristokraten, wenn der Herr selbst auf dem Wagen gesessen hätte, würde ihm wahrscheinlich einen Hieb auf den H*** gegeben haben und [240] das vielleicht zu des Buben und Athens Bestem. Ein Hieb zu rechter Zeit könnte wohl für manchen Staaten zerstörenden Mann von wichtigen Folgen gewesen sein; aber solche Leute teilen gewöhnlich schon als Knaben den andern Hiebe aus, und diese sind wohl noch dumm genug, es für Zeichen des Heldenmuts zu nehmen. Wer in die Alkibiade verliebt ist und sich über das, was ich sage, ärgert, der begebe sich nur dahin, wo Leute seiner Art ihr Wesen treiben.
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[241] [423]PHILOSOPHEN und Dichter haben uns den auf einer wilden Insel jung ausgeworfenen Naturmenschen, der sich da nach ihrer Angabe aus sich selbst ohne alle fremde Hilfe entwickeln soll, sehr anziehend beschrieben; aber ebendarum, weil sie selbst nicht so aufgewachsen sind und sich durch fremde Hilfe entwickelt haben, schreiben sie nur Romane. Selbst derjenige, welcher nach einem solchen Zustande lange genug unter uns lebte, um unsre Sprache und durch sie unsre Begriffe zu erlernen, würde aus sich und seiner Erfahrung diesen Naturmenschen nicht mehr beschreiben können; denn in dem Augenblick, da er wirklich denkt, erinnert er sich auch nicht mehr, was er in seinem Innern gewesen ist, da er noch nicht dachte.
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DER Mensch fängt nur dann an, unglücklich oder des Unglücks fähig zu werden, wenn ihm die moralische Welt aufgeht. Welch ein Text! Rousseau hat ihn durchgeführt, und er war das Thema seines ganzen denkenden Lebens. Ich wundere mich nicht, daß er hier zu weit ging: Er sah nur sich selbst – den Mann nämlich, der so wie er über den moralischen und politischen Menschen dachte – in dem physischen Naturmenschen. So läßt sich dieser Zustand ganz vortrefflich ertragen; und wenn wir uns recht philosophisch selig träumen wollen, so träumen wir so. Das, was uns ärgert und zu solchen Träumereien reizt, kömmt dann am schlimmsten von unserm Richterstuhl weg; und dies vermindert unser Vergnügen nicht. So fand sich natürlich der edle Rousseau in dem Fall jener philosophischen Dichter; aber der Hauptsatz, von dem ich ausging, bleibt unerschütterlich wahr – für mich nämlich.
348
[423] [406]NACH den wichtigen Entdeckungen, die man in neuern Zeiten in der physischen und politisch-moralischen Welt gemacht hat, sollte man doch hoffen können, endlich hinter die Geheimnisse beider zu kommen und sowohl über die Natur als den Menschen etwas Bestimmtes und Klares zu wissen. Aber diese Entdeckungen scheinen nur das Gegenteil zu bewirken; denn jede neue macht die Auflösung des Rätsels schwerer und es selbst verwickelter. [406] Man muß ja immer auf noch nicht entdeckte Kräfte, auf noch nicht vorgekommene Erscheinungen schließen, die das Angenommene in einem Augenblick wieder umstoßen können. Wir haben die zwei neuesten Entdeckungen dieser Art erlebt: den Galvanismus und die Französische Revolution. Der Physiker ist darum nicht weiter: Er kennt nur die Erscheinung einer ihm verborgenen Kraft mehr. Ist der Mensch durch philosophisch-politisch-moralische Betrachtungen über die Französische Revolution, die an Kraft, Ausdehnung, Sonderbarem, Unerwartetem und an Wirkung alles übertraf, was in dieser Art geschah, der Enthüllung des Rätsels über sich nähergekommen? Er hat nur eine scheußliche Erfahrung mehr aufzuzeichnen. Und diese Erfahrung hat sogar gute Köpfe rückwärts geführt, der Schwachen Begriffe ganz verwirrt. Selbst dem kühnen, starken Selbstdenker bleibt nichts übrig, als es wie einen Versuch anzusehen, wobei der Mensch einmal etwas ernstlicher als gewöhnlich vorzuhaben schien, sich über sich selbst, seine Natur und seinen moralischen Wert recht laut und schreiend zu erklären und das düstere Rätsel der Lösung näherzubringen. Wir wiesen jetzt, wie es ihm gelungen ist; und alles, was wir in diesem Sinn gewonnen haben, ist, daß wir ihm in diesen Versuchen nun noch viel weniger trauen werden.
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[407] [464]DIE Welt, das menschliche Herz sollen der Spiegel des moralischen Schriftstellers sein, so sagt man; aber er wird darin nichts erblicken als seinen eignen leeren Kopf, wenn er nicht vorher einen sehr hellen Spiegel in seinem eignen tiefen Innern gefunden und sich lange genug darin beschaut hat. Er muß sogar in dieser Beschauung so lange vor sich selbst gesessen haben, bis er ganz genau weiß, wie die Gegenstände der äußern Welt durch das Medium seines Geistes in seinen eignen Spiegel reflektieren. Mischt sich zu viel oder zu wenig von seinem eignen Lichte darunter, sind die Strahlen seines Lichts zu warm oder zu kalt, so wird er freilich noch immer ein Gemälde sehen, nur nicht so ausgeführt, wie's ihm aufgegeben worden. Der Berechnung der Strahlenbrechung muß er sich überdem gar sonderlich befleißen, und weh' ihm, wenn er die Nuancen der Farben nicht rein zu unterscheiden weiß! Hat er es aber nun wirklich so weit gebracht, [464] so sitzt er zwar vor einem sehr sonderbaren Schattenspiel, aber wahrlich vor keinem Schauspiel, das ihm viel Freude macht, und der Optikus, der so etwas aus ganz gemeinen Spiegeln zusammensetzt, bringt ein viel lustigeres und ergötzenderes Spiel hervor, und das darum, weil er sich nur an das Äußere der Gestalten hält und halten muß.
350
[465] [471]HORAZENS Satiren und Briefe sind in dem leichten Tone des Hof- und Weltmanns geschrieben, der unter einer erträglichen Regierung lebt, dem es übrigens ganz gut geht, der nichts zu fürchten hat und die Toren nur leise an den Ohren zupft. Aus dem ernsten, finstern Ton Juvenals und Persius' hört man die schweren Zeiten, worin sie lebten; ihre Satiren sind ein lautes Geschrei des empörten Gefühls, welches ihnen die Tyrannei und die sie begleitenden Laster und Verbrechen abgedrungen haben. Sie kitzeln die Toren nicht mit dem Witz, über den Klügere nur lächeln; sie schinden die Verbrecher so, daß der Schuldlose selbst einen Schauder fühlt. Horaz hätte wenigstens zu solchen gefährlichen Zeiten weislich geschwiegen wie jeder schöne Geist, dem seine Lage behagt. Aber Männer wie Juvenal und Persius schreiben zu allen Zeiten. Wer ihre Satiren für übertrieben hält, der hat nicht zu gewissen Zeiten und nicht in großen Städten gelebt. Wer sich da umsieht, findet immer noch die Leute, die ihnen gesessen haben, die äußere Form bloß ausgenommen. Solche Dichter sind die Geschichtschreiber der Sitten ihrer Zeit.
351
[471] [334]WER den wärmsten Eifer für die Wahrheit und das Gute überhaupt so oft scheitern und noch öfter lächerlich hat werden sehen, der wird endlich – wenn er besonders viel unter den Großen lebt, ein ruhiges Leben liebt und dadurch recht klug für sich zu werden anfängt – gegen die Torheiten, den Wahn und sonstige Gebrechen so tolerant, daß er jene Eiferer wirklich für Ruhestörer ansieht. Die gepriesene Toleranz so vieler liebenswürdigen Welt- und Geschäftsleute fließt aus ebendieser Quelle, und wenn ihr sie einmal intolerant sehen wollt, so stellt ihnen einen Eiferer entgegen, den sie zu fürchten haben; alle andere[n] behandeln sie mit Lieblichkeit und übergeben sie dem Lächerlichen.
352
EIN politisch-neutraler Bürger war nach den Gesetzen eines griechischen Staats nicht mehr wert, es zu sein. Zu was bestimmte nun der Oberherr der Geister die Neutralen in der moralischen Welt? Wenn sie hier nichts waren, was werden sie ihm dort sein? Ja, was können sie ihm sein, da sie ihr Beglaubigungsschreiben zu dieser Bürgerschaft weder vorgezeigt noch benutzt haben?
353
[334] [477]ES gibt gräßliche Träume oder besser Gesichte, die bloß von der Materie erzeugt zu werden scheinen, besonders bei innern Krämpfen, wenn der Geist, die Seele von den innern physischen Leiden so unterjocht wird, daß die leichte Phantasie, die den Traum zur angenehmen Lüge macht, gar nicht wirken kann. Diese Gesichte werden so widrig-gräßlich durch ihre grelle Wahrheit, daß ich sie nicht besser als mit allzuwahr scheußlichen Tragödien vergleichen kann, die auch nur durch die Materie auf uns wirken und ebendarum die widrige Wirkung auf uns machen, weil wir dabei nichts mehr durch den Geist und seine Dienerin, die Phantasie, wahrnehmen. Wenn Gesichte des ersten Leidenden aus Eingeweiden voller Schärfe entspringen, so entspringen sie vielleicht bei solchen tragischen Poeten aus einem kalten Herzen und einem Kopfe voller Dünste, vielleicht gar aus zu leeren Eingeweiden. Wenn die Schreiber der scheußlich-gräßlichen, schalen Ritter-, Geister- und Gespensterromane ihren Anteil an der Vergleichung fordern, so gesteh' ich, daß sie das Recht dazu längst – und mehr, als nötig war – erwiesen haben.
354
[477] [272]SÉGUR, ein sehr guter Kopf, schreibt den Gang, welchen die Französische Revolution genommen, der Furcht aller Parteien zu; ebenso schreibt er ihr alle die politischen und militärischen Sottisen der gegen Frankreich im Kabinett und im Felde Krieg führenden Mächte zu. Wenn sich dieses nun wirklich so verhält, so können die Franzosen jetzt immer nach geendigtem Kriege der Göttin Furcht einen Tempel bauen und weihen; sie hat sie, von außen wie von innen, gut bedient. So bauten die Römer, sagt man, dem Ridiculo (dem Lächerlichen) einen Tempel, nachdem Hannibal von Rom abgezogen war, und zwar auf ebendem Platze, wo seine äußersten Posten gestanden hatten. Die Franzosen werden schon die Stelle in der Champagne finden, wo die Vorposten ihrer Feinde zuletzt gestanden, wenn ihnen so etwas, einfallen sollte.
355
[272] [114]DIE Schwachheit ist die Mutter der Macht; und wenn der wackere Sohn der Mutter nicht bei der Geburt den Leib zerreißt, so geschieht es nicht aus Schonung: Wer sollte ihn sonst säugen und nähren?
356
DAS Lämmergeschlecht zeugt und gebiert sich wenigstens nicht selbst den Wolf zum Wächter; auch darin kann sich der Mensch des Vorzugs über die Tiere der Erde rühmen.
357
[114] [136]EIN Fürst muß nie als Mensch, immer nur als Fürst versprechen und sein Wort von sich geben. Wenn er sich übereilt oder man ihn überlistet hat, wie kann es der Mensch gegen den Fürsten entschuldigen und wie kann der Fürst den wortbrüchigen Menschen entschuldigen? Pflicht muß nicht von Pflicht losbinden; also um diese zarte Kollision zu vermeiden, schließe ich mit dem Satze, mit dem ich angefangen habe.
358
WER, über andre gesetzt, nie vergißt, warum er über sie gesetzt ist, den wird keiner auf seiner Höhe beneiden. Jeder wird vielmehr wünschen, ihn noch höher stehen zu sehen.
359
FÜRSTEN sollten von echten Republikanern auferzogen und unterrichtet werden, nicht um Republikaner im gemeinen Sinn zu werden, sondern um Mann des Gemeinwesens zu werden, um von ihnen zu lernen, was sie dem Menschen schuldig sind:
Wer dieses erfüllt, der ist schon Republikaner, und säß' er auch auf einem unumschränkten Throne.
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[136] [272]IN England herrschte ehemals ein esprit public et politique; vielleicht poltert er zuzeiten noch dort; vielleicht regt sich nun auch so etwas in Frankreich. In Deutschland herrscht bisher nur ein literarischer Geist, und wahrlich: Dies ist ein Glück für uns, wir müßten ja sonst vor Scham, Gram, Ärger und Wut des Todes sterben, wenn wir das, was man seit dem Kriege mit uns gemacht hat, in einem solchen Sinn betrachteten; welcher Deutsche könnte den Frieden überleben, der uns in Regensburg zugeschnitten wird? Jetzt rührt uns doch wenigstens die Verachtung und Mißhandlung nicht allzusehr. »So weiß die Vorsehung alles zum besten zu lenken«, kann und muß der Optimist sagen. Er gab den Deutschen, was ihnen frommen sollte: Geduld und viele Herren von innen und von außen.
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[272] [398]WEISHEIT mit Kraft verbunden ist eine seltene Erscheinung, auf diesem Planeten wenigstens. Man setzt gewöhnlich diese zu, indem man nach jener steigt. Vermählt zeugten sie Götterkinder.
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[398] [465]SONST guten, aber gemein gewordenen Gedanken kann man wieder Nachdruck und Leben durch neue kräftige Darstellung geben, das heißt: Münzen, die sich durch langen Umlauf so abgeschliffen haben, daß keiner sie mehr nach dem Nennwert annehmen will, wiederum vollwichtig mit Rand und Bild ausprägen.
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[465] [493]WENN Zuhörer oder Leser die hohen Gefühle, edlen Gesinnungen, strengen Grundsätze, starken und kühnen Gedanken eines Redenden oder eines Schriftstellers für übertrieben ausgeben, so irrt man selten, wenn man die Ursache davon nur in dem Zuhörer oder dem Leser sucht.
364
[493] [165]WENN das Denken in einem Staate nicht erlaubt ist, so fühlt man nur, und das endlich so gewaltig, daß man vor lauter düsterm, starkem Fühlen wirklich nicht mehr denkt. Darum müßte man nun auch, um immer auszukommen, das Fühlen in einem solchen Staate verbieten können.
Ich schmeichle mir, den klugen Beamten eines gewissen Staats, worin das Denken für so gefährlich gehalten wird, einen neuen Ausweg zur Sicherheit und Begründung ihrer Macht eröffnet zu haben. In diesen gefährlichen Zeiten ist jeder Biedermann [165] verbunden, für solche wachsame Leute das Mögliche zu tun. Ich tue mein Möglichstes und schlage vor: In allen öffentlichen Blättern dem Wundarzt einen Preis zuzusichern (versteht sich von einer beträchtlichen Summe – die Sache ist es wert!), der eine Operation ersinnt, wodurch man jedem Neugebornen (weil es diesem am wenigsten gefährlich und der Artikel Population nicht außer acht zu lassen ist) die Gefühlsfibern aus dem jungen Herzen schneiden kann. Bei Unmündigen geht so etwas wahrscheinlich an, und die Zeugungskraft wird hier nicht wie bei einer gewissen andern Verschneidung gefährdet. So wäre für alles gesorgt, aller Gefahr vorgearbeitet; denn die Verschneidung des Geistes und der Vernunft nehmen in dem gewissen Lande die Kirchen- und Schullehrer ohnedem schon über sich.
365
[166] [407]WENN wirklich alle Welten in dem Ungeheuern All bewohnt sind (wie man aus der Analogie schließen könnte), die Bewohner dieser Welten in der Enthüllung der Geheimnisse über sich und das, was sie umgibt, nicht weitergekommen sind als wir und sie den nämlichen Forschungstrieb haben, der uns Unwissende plagt, ihre Geister also ebenso von unten aufwärts nach oben springen, um die Enthüllung des Rätsels zu erspringen, so muß wirklich durch das unendliche Universum ein solches Springen von unten nach oben sein, daß man sich verwundern könnte, wie der unaufhörlich und so ungeduldig Befragte die Antwort noch immer zurückhalten kann. Man sollte meinen, Überdruß, [407] Ekel und Ermüdung an einem so lärmenden Schauspiel müßten ihn wahrlich schon lange bewogen haben, sie den rastlosen, schreienden Springern hinzuwerfen. Aber es ist ein so weiser und schonender als mächtiger Geist; er kennt, was er gemacht hat, und wir können ihm nichts weismachen; wäre dieses möglich, es wäre wohl schon längst geschehen.
365 a
[408] [465]EIN Schriftsteller, der kein Individuum ist oder der keinen Charakter hat, sieht uns so nüchtern aus seinem Buche an, daß wir ihn, käme er in Person, so höflich als möglich – vorausgesetzt, daß wir bei der gehörigen Laune dazu wären – nach der Türe führten, ja sie ihm wohl noch selbst öffneten. Doch ist ein solcher Mann seinesgleichen ein willkommner Gast; Nüchternheit vermählt sich gern mit Nüchternheit und zeugt in dieser Ehe ebendie Abgeschmacktheit, die wir so behaglich in der Gesellschaft herumlaufen sehen. Wer daran zweifelt, der betrachte nur zwei Männer von Charakter, wie ernst, trocken, eisern, klug, stark sie zusammen leben, wie leicht sie einander stoßen, wie kühn und gerüstet sie sich bekämpfen! Seht nun auf die Abgeschmackten, sie leben so selig zufrieden miteinander, so vertraut, so genügsam und vermissen so wenig, daß man sie beneiden möchte!
365 b
[465] [408]DIE Masse der möglichen Ideen, derer die Menschen fähig waren, scheint beisammen zu sein, und obgleich der Selbstdenker durch eigne Kraft Schöpfer eines Teils derselben werden kann, so wird er doch schwerlich ganz neue zu dem gesammelten Schatze hinzufügen. Nur durch treffende kühne Ansichten, wichtige neue, überraschende Kombinationen, Erforschungen neuer Verhältnisse und wirkende Darstellung kann er hier Eroberer werden und das Eroberte durch die Kraft seines Geistes zu seinem Eigentum machen.
365 c
[408] [40]TOLERANT gegen alle Schwachheiten des Geistes und Herzens zu sein, das geziemt dem Manne, nur nicht gegen die Schlechtigkeit. Hier muß er als Priester seiner Göttin ganz im Priestergeiste handeln, keine Ketzerei gestatten; sonst hat er sich nur um seines Selbst willen in die moralische Welt geschlichen und ist des Platzes nicht wert, den er sich anmaßt.
365 d
[40] [399]AUCH Wahrheiten, oft die nötigsten, schlafen ein und wollen zuzeiten wieder aufgeweckt sein; hier kommt es aber hauptsächlich darauf an, wer der Mann ist, der sie weckt, wie er sie weckt und zu welcher Zeit, zu welchem Zwecke er sie weckt.
365 e
[399] [50]ICH kenne keinen reinern Genuß, als einen Mann zu sehen von hellem Verstande, von durch Wissenschaften, Welt und Erfahrung ausgebildetem Geiste, der ganz seinen Pflichten lebt und jede derselben so erfüllt, daß man das Gepräge dieses Geistes an jeder erkennt. Hat das Herz seine Wärme dabei nicht verloren, ist sie nun geläutert, ruht der Geist umschwebend auf dem Herzen und doch von ihm getragen, sieht man die Strahlen der Begeistrung in den Augen dieses Mannes ohne allen Anstrich des lodernden, dampfenden Enthusiasmus, den grellen Widerschein des Bluts: so gewährt der Anblick eines solchen Mannes einen erhabenen Genuß; er steht als Rechtfertigung der Menschheit gegen die da, welche sie darum zu erniedrigen streben, weil sie zu feig und schlecht sind, sich zu ihr emporzuheben.
365 f
[50] [321]WER über die zwei Perioden des Lebens, den der Jugend, da der noch reine und kühne Geist durch das Herz stürmt und zu uneigennützigen, gefährlichen Taten gewaltig treibt, und den im reifern Alter, wann die kalte Vernunft, das Pflegekind der Erfahrung und des Egoismus, gleich dem gebietenden Neptun Virgils das »Quos ego!« ausspricht – wer, sage ich, über diese zwei Perioden ganz ruhig nachsinnt, macht gewöhnlich in diesem Augenblick der Menschheit den Prozeß, um von dem Tribunal des eignen Gewissens mit dem Spruch »Es ist doch umsonst!« losgesprochen abzutreten. So endigen die Invaliden der moralischen Welt endlich durch Selbstverstümmlung und gleichen dem Feigen, der sich die rechte Hand abhaut, mit welcher er zur Fahne schwören soll. Auch für die Heroen der Menschheit ist obige Betrachtung traurig und niederschlagend; aber ihr Geist, ihr Herz, ihr Blut, ihre ganze Lebenskraft empörten sich gegen diesen stillegebietenden Ruf; und blicken sie auch düstergrimmig in das schwarze Gewölke, das die Erfahrung vor ihrem Geist zusammengetrieben, so treten sie doch zu neuen Kämpfen in das drohende Gewölke, erleuchten die sie einhüllende Finsternis durch ihren Geist und lösen so die Zweifel an der Möglichkeit einer Welt, für die sie gestritten, noch streiten, für die sie kämpfend sterben.
365 g
[321] [224]WER auf einem wichtigen Posten – an dem Ruder des Staats, an der Spitze der Heere, eines Departements – steht, ist mit hellem Verstande, mit Kenntnissen, guten Gesinnungen, Talenten, selbst Genie doch noch nicht der Mann seines hohen Postens; er ist mit allen diesen Gaben immer nur noch ein Mensch, wie es andere sind und werden können. Zum Mann – dazu muß ihn erst der festbestimmte Charakter und die wahrhafte Energie machen. Ist dieser geistige Stempel der Mannheit auf seiner Stirne, in seinen Worten, Urteilen, Taten und Handlungen sicht-, fühl- und merkbar, so prägt er sich so in den Seelen und Herzen der Menschen, denen er vorsteht, ab, als habe ihn die eherne Faust des unwiderstehlichen Schicksals eingedrückt, und so macht ein solcher Mann aus Menschen – Männer zu Tat und Zweck.
366
[224] [23]ES ist eine traurige, niederschlagende Überzeugung, zu der man aber durch die Erfahrung und die Weltgeschichte gezwungen wird, sosehr sich auch Geist und Herz dagegen empören und von den Beweisen verwundet und gemartert werden:
Die Schlechtigkeit und Bosheit, welcher Art sie seien, haben [23] [= hätten] immer Anführer und Beschützer gefunden, unter denen sich die durch sie Verwandten zu einem allgemeinen Zweck versammeln und einverstanden verbinden konnten; aber noch keiner habe die Erfahrung gemacht oder in der Weltgeschichte gelesen, daß sich etwas Ähnliches mit der Tugend ereignet hätte. Erschiene auch hier oder dort ein solcher Mann, der den Mut dazu hätte und es durch Taten zeigte, der Anführer und Beschützer seiner Geistes-und Herzensverwandten sein und bleiben zu wollen, so stehe er doch bald so einzeln und unbegleitet da, als sähen ihn seines Geistes und Herzens Verwandten für einen Waghals an, mit dem es gefährlich, ja gar unnütz wäre, gemeinschaftliche Sache zu machen. So könnte nun der Bösewicht und Verbrecher zu allen Unternehmungen – zu Mord, Vergiftung, Aufruhr, Staatsumwälzungen – Gesellen und Helfershelfer finden, aber keiner könne auf einen Mann in der Welt oder in der Geschichte zeigen, der zu edlen Unternehmungen für das Beste der Menschheit oder zur Bekämpfung der Bosheit, der moralischen und politischen Schlechtigkeit überhaupt solche tätige Gefährten gefunden hätte oder finden könnte, die es gewagt hätten oder wagen möchten, unter seiner Anführung den Kampf nur zu beginnen; von Ausdauren sei nicht die Rede.
Diese Klage lautet sehr traurig; aber das Traurigste muß ich selbst hinzufügen, sosehr es auch meinen Geist verdunkelt, so tief es auch mein Herz verwundet:
Wäre auch der größte, unumschränkteste Monarch ein Mann in diesem edlen Sinn, so würde eine solche Rolle, laut angekündigt, für ihn gefährlich werden, und er muß sich mit der Politik, das heißt: mit der Gegenpartei, berechnen und so das Größte, Erhabenste für den Menschen im stillen, im dunkeln auszuführen suchen, während die durch die Zahl allgewaltige Gegenpartei im Licht der Sonne so offen wirkt, als sei sie nur darum von der Hand des Allmächtigen angezündet worden, um ein solches Schauspiel von dem Anfang bis zum Untergang dieser Welt zu beleuchten.
367
[24] [129]WENN ein Fürst auch nur den gewöhnlichen Menschenverstand hat, so kann er von denen, die ihn umgeben, leicht lernen, was sie für eine Meinung von ihm haben; er darf nur aufhorchen, wie sie ihn um Gesinnungen, Handlungen und Taten lobpreisen, die man andern Leuten, die keine Fürsten sind, gar nicht anrechnet – als Verdienst anrechnet, wäre zuviel gesagt. Hat er etwas mehr als gewöhnlichen Verstand, so wird er bald bemerken, welche seiner Gesinnungen, Handlungen und Taten denen, die ihn umgeben, am besten gefallen und die nötigen Lehren für sich, sein und seines Volks Bestes herausziehen. Fehlt's ihm aber gar am gewöhnlichen Verstande, so ist jedes Wort verloren.
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[129] [260]ICH habe alle Hoffnung, daß es nun den Fürsten leichter werden wird, besser, tätiger und aufgeklärter in ihrem und über ihr Amt und über die Pflicht dazu zu werden. Von den vielen wichtigen, großen Ursachen zu dieser schönen Hoffnung will ich jetzt nureine kleine anführen. Kühne und mutige Denker haben endlich den Götzentempel zerschlagen, in welchem Hof- und Staatsleute die Fürsten gefangen hielten und dort den gefesselten Götzen mit Abgötterei und Anbetung speisten, während sie als von ihm bestellte Pfaffen ihr Wesen ohne Furcht und Scheu mit der Gemeinde trieben. So sind die Fürsten nun auch und sogar freie Menschen geworden, die selbst herumwandeln, sehen, hören [260] bemerken dürfen, wohin, wie und was sie wollen. Wahrlich, der müßte doch sehr einfältig oder des Götzendiensts gar zu sehr gewohnt sein, der sich heute noch in eine Blende sperren und da mit elendem Weihrauch von so feilen, verdächtigen Priestern beräuchern ließe. Wer aber eine rechte Schimpf- und Spottrede auf die Popularität der Fürsten hören will, der bringe einen in diesem Götzendienst grau gewordnen Priester auf dieses Kapitel. Sie führt nach seiner Behauptung nichts weniger als den Untergang aller Staaten herbei. Ganz natürlich: Der Fürst muß keinen Menschen sehen, am wenigsten allein; Kluft zwischen ihm und seinem Volke! Da wandelt sich's gemächlich und sicher am Abgrund hin, er verschlingt nur den, der ihn überspringen will! – Mögen sie immer reden, die Zeit hat entschieden; das Vorurteil ist zerrissen, welches diese Vormünder so kräftig unterstützten; die Fürsten wissen, daß sie darum nicht aufhören, Fürsten zu sein, wenn sie den Menschen als Menschen nahen.
369
[261] [25]DIE scheußlichste, empörendste Gotteslästerung ist der Spott derer über den Gerechten, die ihn selbst mit Wunden der Verleumdung bedeckt haben, den sie nun so zugerichtet dem Volke zum Besten auf die Schaubühne der Welt aufstellen, damit auch andere an ihm zu Gotteslästerern werden und die Zungen der Toren, Unwissenden, Verblendeten und Schadenfrohen an ihm den Mord vollenden. Sinkt das Schlachtopfer endlich hin, so ist die Satire auf die Menschheit fertig, die sich in vergangenen Geschichten dieser Art ganz wie Schmähschrift auf dasselbe liest.
370
[25] [114]WENN uns die gutmütige, vertrauende Einfalt des einzelnen naiv und interessant vorkömmt, wie naiv und interessant muß die Einfalt eines ganzen Volks gewissen Fürsten und mehr noch gewissen Staatsleuten vorkommen! Vielleicht gar erhaben, wenn sie dabei denken, diese Einfalt sei das Werk ihres eignen Verstandes, sie hätten dieselbe erschaffen und verständen die Kunst, sie zu benutzen. Sie schmeicheln sich hier, wie in vielen andern Dingen; denn dieses zu bewirken, dazu gehört mehr Schlechtigkeit [114] als Kenntnis. Aber düster-erhaben ist dieses nie allgemein aufhörende Schauspiel wirklich für einen nachsinnenden Beobachter: Millionen fühlender, denkender Menschen zu sehen, die alle mehr oder weniger wissen, wie schlecht man mit ihnen umgeht, wie schlecht man von ihnen denkt, wie man sie so tief verachtet, daß man sie nicht mehr fürchtet, und die doch alle durch ein unsichtbares Band zusammengehalten werden, das nur jene vermessenen Künstler zerreißen können, wenn sie allzu gewaltsam daran zerren. – Nennt es Einfalt, ihr Verblendeten! Die allgewaltige Not, die Eltern, die Kinder, Verwandten, Freunde, die süßen Gewohnheiten, die haben dieses Band an jedes Herz geknüpft; diese sind die treuen Diener eurer Macht, die ihr so schändlich für ihren Dienst belohnt.
371
[115] [267]EINE niederdrückende, schmähliche Frage, deren Antwort aber einen Band erforderte: Warum trat in Deutschland während der ganzen Französischen Revolution, die doch die Toten selbst in den Gräbern bewegte, auch nicht ein einziger starker, großer [267] Mann auf? Warum auch nicht einer, der nur versucht hätte, die Kräfte und den Mut des tapfern und edeln Volks zum Gegenkampf zu vereinigen? Warum traten solcher Männer so viele zur Zeit des Dreißigjährigen Kriegs auf? Glaubt man, der Deutsche habe keine Triebe, kein Gefühl mehr? Oder hielt man es sich, seiner selbst bewußt, keines Versuchs wert?
372
[268] [334]GEHORCHEN ist leichter als Befehlen; beim Gehorchen schieben wir uns selbst fort, beim Befehlen müssen wir andere fortschieben. Wenn man sich selbst fortschiebt, zieht man die Haken des Widerstands ein, um vorwärtszukommen. Wenn man andere fortschieben soll, so drücken die meisten in dem Augenblick ebendiese Haken des Widerstands heraus, da man aufhört, sie selbst fortzustoßen. Wer nun nicht die Kunst versteht oder die Kraft nicht hat, ihnen diese Haken auszurupfen oder sie ganz zurückzudrängen, der geht auf Igeln.
373
[334] [324]ES gibt geistreiche und wahrhaft witzige Leute, denen aber der Witz nicht plötzlich, nicht im rechten Augenblick, nicht zur Stelle zu Gebote steht. Später fallen ihnen die feinsten, giftigsten Repliken ein; sie haben nur die Reue davon, und man könnte sie nicht übel mit gewissen, in einem besonders bedeutenden Augenblick Verunglückten vergleichen. Sind diese Leute darum [324] trägen Geistes? Ich glaube, ihr Herz ist nur noch zu gut für den Witz; der Unwille und der Zorn müssen es erst reizen, die Gutmütigkeit verhüllen, dann blitzt ihr Witz.
374
[325] [480]ICH hasse die kränkliche sogenannte moralische Empfindsamkeit und Empfindlichkeit, jene aus Büchern angelesene Krankheit, womit uns sowohl reine, hohe als gezierte Seelen beschwerlich fallen. Zum Leben gehört Kraft und Mut, man mag auf dem Thron sitzen, in der Hütte wohnen oder an dem Eckstein sein Brot erbetteln. Um etwas zu taugen, um gerechnet zu werden, das heißt: nützlich zu sein, muß man sich und andere verteidigen können. Was soll man nun zu den Lehrern und Büchern sagen, die unsern jungen Leuten den Mut so früh zerknicken, sie so herzens- und seelenkrank machen, daß sie körperlich und geistig zu nichts zu brauchen sind, als uns Ekel zu erwecken? Sie verschneiden sie zu Kapaunen in der Geister- und der wirklichen Welt.
375
[480] [341]ES gibt solche flache Köpfe unter denen, die sich zu Lehrern der Menschen aufwerfen, daß sie in einem Kapitel ihres Buchs gegen allen Despotismus der Fürsten zu Felde ziehen und in dem andern, wenn sie von Erziehung reden, es höchlich beklagen, daß sich die Regierung nicht, wie in dem hochberühmten Sparta, der Erziehung bemächtigt und sie durch strenge Gesetze leitet Arme Wichte! Gibt es wohl einen scheußlichern Despotismus als den, welcher sich bis in das väterliche Haus drängt, durch der Mütter und Väter Herz greift! Was gehört unser durch Geist und Herz, wenn es unsre Kinder nicht sind? Und was wäre das Leben wert, wenn wir nicht nach unserm eignen Sinn und Gefühl mit ihnen verfahren dürften? Nach China mit diesen Philosophen, dem verhaßten Lande der Geistesdespotie!
376
[341] [334]ALLER Anfang ist schwer! – dies fühlt man niemals mehr, als wenn man anfangen will, sich etwas zu versagen. Helfen die physische Unmöglichkeit oder drohende Gefahr nicht aus, so [334] bleiben die meisten beim Anfang stehen, es sei denn, daß sie sich etwas versagten, um sich etwas Wichtigers zuzusagen – zuzusichern – oder daß einer die Kunst versteht, sie dasselbe glauben zu machen.
377
[335] [315]DER große Mann unterscheidet sich durch gar vieles von dem kleinen. Unter andern auch dadurch, daß er aus vielem Kleinen etwas Großes macht und dieser aus dem Großen selbst etwas Kleines.
378
[315] EIN schönes, tugendhaftes Weib ist die Zierde der Schöpfung; ein mutiger, verständiger, edler, schöner Mann ist es auch. Vermählt nun diese beiden Zierden der Schöpfung und seht, was sie für Kinder hervorbringen. Hier eben äfft uns die Natur am sichtbarsten und zeigt sozusagen mit dem Finger darauf, was und wie sie es mit der immer steigenden Veredlung meint. Das wäre doch wenigstens der rechte Weg, um sicher auf das physisch und moralisch Vollkommne zuzusteuern.
379
[316] [136]ZU manchem heutigen Fürstentadler möchte man das ganz Einfältige sagen: »Wir sollten alle besser sein!«
380
[136] [290]ÜBER sich selbst brütend dasitzen, heißt noch nicht über sich denken. Dieses fordert eine klare, aufrichtige Korrespondenz zwischen einem Dinge, das das Verstecken, Verbrämen, Verzieren und das Dunkel überhaupt liebt, und einem andern Dinge, das sich nicht eher betören und betrügen läßt, als bis wir gar nichts mehr wert sind; dann ist ohnedem die Abrechnung geschlossen. Diese zwei Dinge nun sind das Herz und der Geist (oder der Verstand, die Vernunft, jede Benennung kömmt ihm zu). Wenn das Herz sich in dieser gemeldeten Korrespondenz in sein Dunkel nun zurückziehen will, so wirft der Verstand des Mannes, der es ernstlich vorhat, über sich selbst zu denken, und den alsdann das im Herzen sitzende Ich nicht bestechen kann, so viel Licht hinein, daß kein Winkel unbeleuchtet bleibt. Geschieht dieses nun öfter und überzeugt sich das verzagte, interessierte Ding, daß ihm keine List mehr aushilft, so bequemt es sich endlich und bringt sich nach und nach bei dem unbestechlichen Richter selbst so in Kredit, daß der Hauptzweck, das Einverständnis zwischen beiden, eintritt. Aller Prozeß, alle Schikanen, alle Bestechungen hören dann auf; man sitzt über sich als Richter da und urteilt über das Vergangene und Gegenwärtige ab, als habe man einen Dritten vor seinen Stuhl gezogen. Wer dieses nun nicht versucht hat, der weiß noch nicht, woran und was er ist, noch weniger aber weiß er, wie man andre richten muß.
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[290] EINE gänzliche Aufrichtigkeit mit und gegen sich selbst gehört gewiß zu den seltenen Erscheinungen im innern Menschen. Ich meine eine solche, wobei man es sich nicht genügen läßt, zuweilen zufriedene oder bescheidene, aber flüchtige Blicke auf seine Innern Gedanken, Empfindungen, Wünsche, Begierden, die Quellen derselben und auf wirklich begangene Torheiten, Versehen und moralische Verbrechen überhaupt zu wenden. Das heißt: Nur das Bewußtsein davon über die Oberfläche des Herzens hinwehen lassen, höflich und schonend an sich und seiner eignen Bekanntschaft vorbeischleichen und sich mit Hilfe der Eitelkeit, der Sophismen der Selbstliebe, des Leichtsinns oder des von dem Selbstbetrug zubereiteten Balsams der Hoffnung, künftig weiser und besser zu sein, aus einem schlimmen und lästigen Handel ziehen. Ich rede von der Aufrichtigkeit, wobei man alles oben Gemeldete von allen Seiten betrachtet und erwägt, sich in jedem Vorfall selbst bespiegelt, so genaue Abrechnung mit sich hält, daß das Bewußtsein davon uns ganz durchdringt und sich so in dem Gedächtnis, nebst der neuen Bekanntschaft, die wir dadurch mit uns gemacht haben, in unser Herz und unsern Geist eingräbt, als sei von einem Dritten die Rede, den wir eben nicht sonderlich lieben, der uns überlistet oder sonst einen schlechten, tückischen Streich gespielt hat. Wer nun so aufrichtig mit und gegen sich verfahren ist, auf alles gelauert hat, was in seinem tiefsten Innern liegt, der kann wohl endlich sagen, er kenne einen Menschen.
Diese Bekanntschaft ist aber den meisten so lästig und widerlich, daß man wohl mit Recht von den meisten sagen kann, sie begehen den größten und gröbsten Betrug an sich selbst.
382
[291] [186]DIE Menschen in der Gesellschaft bequemen sich nicht allein zu allem, was ihnen ihre Regenten zuschneiden und zum Geist der Zeit zu machen wissen; sie helfen ihnen auch noch durch Mittel zu ihrem Zweck, welche diese selbst weder ersonnen hätten noch ersinnen konnten. Da nämlich in den modernen Monarchien jedem sein Platz genau bestimmt angewiesen ward und folglich die Tätigkeitstriebe von der besten wie von der gefährlichsten Art einer festgesetzten Regel unterworfen sind, so erfand die innere nach außen strebende Unruhe zur Schadloshaltung die erkünstelte Liebe, wie sie Romane und Schauspiele zur Ergötzung und zum Unterricht malen. Sie setzte mit Hilfe der Eitelkeit, Eigenliebe und Einbildung ein Spiel zusammen, das diese drei tätigen Gehilfen bald zu einem wirklichen Bedürfnis und gar zu der stärksten Leidenschaft zu machen wußten. Von der Natur legten sie ihr unter, was nötig war, um das Schauspiel zu unterhalten und den Nachkommen dasselbe Vergnügen zu verschaffen. So auf das Welttheater produziert, spielt diese erkünstelte Liebe ihre Rolle mit einer Ausbildung und einer Allgemeinheit, daß man versucht werden könnte, zu glauben, der Keim zu diesem Spiele liege ganz natürlich in dem Menschen [186] und er müßte ihn nun mit allen seinen übrigen Trieben und Fähigkeiten unbedingt entwickeln.
383
[187] [97]ES ist eine traurige und niederschlagende Bemerkung, daß von tausend Verbrechen, die von dem Menschen in der Gesellschaft begangen werden, kaum eins aus wahrhafter Not entsteht, daß sie meistens allein aus dem entspringen, was die Menschen Phantasie nennen, was sie sich zu Bedürfnissen erkünstelt haben.
384
[97] [474]MAN sagt, es sei sehr schwer, gute dramatische Werke zu schreiben; ich glaub' es wohl. Der Dichter muß nicht allein ein Stück aus der moralischen Welt ohne allen Überfluß und alles fremde Angehänge herausschneiden; er muß es auch noch so abrunden, daß es der Leser oder Zuschauer in seinem Geist gleich in den Ort, woraus es geschnitten, einpassen kann. Ferner müssen seine Leute zwar die tiefsten Geheimnisse des Herzens beichten, aber weil dieses unter den Menschen ungewöhnlich ist, muß der Dichter es so einzurichten wissen, daß es ihnen nur der Drang der Lage – die Notwendigkeit und die Leidenschaften – abgedrungen zu haben scheinen. Nur in diesem Fall erlauben wir ihm, unsre tief verborgen gehaltenen Geheimnisse zu verraten; geschieht es anders, so sieht alles wie zwecklose Ausschwätzerei aus und gleicht dem Schnickschnack in einer Wochenstube, an den keiner glaubt, der keinen aufmerksam auf sich selbst macht.
385
WER sich anmaßt, über den moralischen Wert anderer zu richten und abzuurteilen, bevor er es über den seinigen als unparteiischer und lange prüfender Richter getan hat, der ist kein Forscher, er ist ein Delator der menschlichen Natur. Wer dieses so wie ich zu sagen wagt, der hat es wenigstens versucht.
386
IN dem Dichter spiegelt sich die moralische Welt nur dann ab, wenn er in seiner eigenen Brust Raum genug hat, sie aufzunehmen, und ihn gewisse Hindernisse nicht abhalten, sich ganz und innig mit ihr zu vermischen. Macht das Talent ebendiese [474] moralische Welt zum bloßen Schauspiel, so beweist es uns, daß es ihren Schauplatz in den Kopf verlegt hat.
387
[475] [40]ES würde mehr rechtschaffne Leute geben, wenn mehrere den Mut hätten, es zu sein; den Willen dazu haben wirklich sehr viele. Wahr ist es: Um in jeder Lage tugendhaft zu sein und gewissenhaft zu handeln, dazu gehört mehr Mut, als Schlachten beizuwohnen. Ich rede von solchen Lagen, wo der Mann sich sagen muß: »Ehre, Glück, Freiheit, Weib, Kinder, Haus und Gut, alles steht auf dem Spiel, wenn du es gegen die Mächtigern wagst! Und Glück, Gut können vermehrt werden, Weib und Kinder gewinnen, wenn du beförderst oder nicht hinderst, was man vorhat, wozu man dich brauchen will. Deine Ehre selbst wird nicht gekränkt, da du es mit deinem Gewissen allein auszugleichen hast.« Wenn aber nach diesen Betrachtungen, die auch der Rechtschaffenste machen darf, der Mann doch den Mut hat, all das Genannte um der innern Tugend willen zu wagen und dabei weder ein Schwärmer noch Enthusiast, sondern ein verständiger Mann ist, der die Mächtigern, mit denen er es vorhat, nicht in seinen hohen Sinn zwingen will, vor ihnen keine Parade davon macht, sondern zufrieden ist, daß sie ihn darnach handeln lassen, so kann es ihm sogar gelingen, tugendhaft zu bleiben und doch Weib, Kind, Glück, Gut, Freiheit und Ehre zu retten. Ja noch mehr: Eine solche Lage, so überstanden, sichert ihn wahrscheinlich vor der zweiten Probe, wenn er auf derselben Stelle und an demselben Ort verbleibt.
388
[40] [129]ES ist ganz natürlich, daß nur von Höflingen erzogene Fürsten immer ihren Willen haben wollen und darauf als das vorzüglichste Fürstenprivilegium halten. Sie kennen ja nichts anders in sich von dem innern Menschen, da man nur dieses gereizt und ausgebildet hat. Die ihn so bildeten, finden ihr Werk so lange herrlich fürstlich, bis der wohlerzogene Schüler auf den Lehrer selber zuschlägt.
389
ES ist nicht wahr, daß der Wille solcher wohlerzogner Fürsten doch der Natur – als dem Sturm, dem Regen, der zu großen Hitze, der zu strengen Kälte, die ihnen eine Jagd, Lustfahrt oder das Exerzieren verderben – weichen müsse; es ist nicht wahr, daß ihr Wille einem nicht folgsamen Pferde sich unterwerfe; wäre es an dem, so müßten nicht die sie Umgebenden und der Stallmeister dafür büßen.
390
[129] [72]DER Arme sagt seufzend: »Der Reiche kann alles!« – Antwort' dem Armen: »Nur nicht glücklich sein, weil er nicht gelernt hat, sich selbst dazu zu brauchen.«
391
[72] [62]WENN man ein so feines Gehör hätte (welches ich aber aus Menschenliebe keinem Sterblichen wünsche), daß man die leisesten Töne des menschlichen Herzens hören könnte, so würde man das Echo des Ausrufs der Natur der stumpfen Küchenmagd in Sternes »Tristram« bei jedem Unglücksfall vernehmen. Wer den »Tristram« gelesen hat, weiß, daß, nachdem der gute Trim mit der ihm eignen herzlichen Beredsamkeit den Tod Bobbys, des Sohns des guten Shandys, in der Küche angekündigt und durch seinen Schmerz aller Herzen bewegt hatte, Obadiah ausrief: »Er ist tot!« Das stumpfe Küchenmensch aber antwortete: »So bin nicht ich! (So am not I!)« Ein ebenso tiefer als wahrer Griff in das menschliche Herz, deren man bei diesem Schriftsteller so viele findet! Wer aber glaubt, daß ich dieses anführe, um dem Menschen einen Vorwurf machen zu können, der irrt [62] sich sehr. Wenn nun alle Nächsten, Verwandten, Hausgenossen, Umstehende und Zuschauer bei jedem sich ereignenden Unglücksfall, von welcher Art er sei, einen allzu starken, allzu tiefen, allzu lange dauernden Anteil nähmen, wenn sie alle so tief und gewaltig davon erschüttert würden, daß sie samt und sonders in Untätigkeit versänken, wie würde die Gesellschaft bestehen und fortgehen, die einmal doch bestehen und fortgehen soll? Wer würde das wieder heilen und herstellen, was der Unglücksfall verletzt und zerstört hat? Wer aus solchen Trieben und Gefühlen gegen den Menschen und seinen moralischen Wert schließt, der weiß nicht, worauf die Natur gebaut hat, um das hervorzubringen, was uns so hoch erhebt und so tief erniedrigt. – Mitleid mit dem Unglücklichen fühlt jeder, weil er sich selbst in dem Mitleid fühlt; und vielleicht ist der der Tätigste bei dem Unglück, welcher sein Selbst am tiefsten in dem Mitleid fühlt. Nur diejenigen, die da vorgeben, das Mitleiden ganz rein, ohne alle Rücksicht auf sich selbst zu fühlen, die lassen es bei dem Lobe ihres edlen Selbsts bewenden, stehen als Zuschauer, Redner da, während die aufrichtigeren, niedrern Seelen tätig helfen. Wer die Hand nach einem Egoisten ausstrecken mag, der greife hier zu; er bemüht sich nicht umsonst
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[63] [241]DIE nur von Hofleuten erzogenen Fürsten erinnern sich gewöhnlich darum so wenig froher und interessant empfundener Augenblicke aus ihrer Kindheit, woran doch der erwachsene Mann so vieles knüpft, weil man sie nie als Kinder behandelt und nur die einförmige, kalte, erstarrende Vorstellung in ihnen zu entwickeln sucht, daß sie Fürsten sind, es immer sein werden und in allem sein müssen. Erinnert sich aber ein so Erzogener eines Umstands aus jener für uns meistens so glücklichen Zeit, so wird er euch erzählen, wie dieser oder jener sich gegen ihn vergessen habe. – Ihr könnt es dann so übersetzen: Dieser oder jener hat ihm die Wahrheit gesagt, und er war dazu verdorben.
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[241] [63]ICH kenne gar viele Menschen, die wirklich gern gut und weise wären, wenn sie nur nicht glaubten, sie kauften beides über den Wert, den es in der Welt hat – und das mit solchen Dingen, die höhern Wert in ebendieser Welt haben.
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[63] [307]WENN es sich ereignen sollte, daß zwei Moralisten zusammenkämen, um über die Prinzipien ihres Systems und den Wert derselben, folglich über ihren und des Menschen Wert und das, was ihm den rechten Wert geben soll, in forma zu disputieren, so gebe ich ihnen den einfältigen Rat, da sie doch ihren und ihrer Systeme Wert auf keine sichtbare Waage legen können: sich einer dem andern aufrichtig und ehrlich vorher ihr Leben und ihre Erfahrung, die Geschichte ihrer Kindheit, ihrer Jugend und höhern Bildung, die Art und Weise, wie sie sich bei allen geraden und krummen Vorfällen des Lebens benommen, was sie getan und unterlassen haben, nebst dem Warum, wie sie Freunde und Weiber geliebt, was ihnen die meiste Freude gemacht, welches ihr angenehmster Genuß gewesen, worauf sie einen vorzüglichen Wert setzen, wonach sie besonders streben – wechselseitig mit den kleinsten Umständen und ohne Schminke frei zu erzählen. Zu dieser wechselseitigen moralischen, sonderbaren Beichte rate ich ihnen überdem, einen besonnenen, ehrlichen Mann einzuladen, der aus Vorsicht für beide das Protokoll über alles Gesagte und Bekannte führe. Sind sie dann soweit und hat ihnen der besonnene Mann die Beichte vorgelesen, so wette ich, die Sache ist für immer zwischen ihnen so abgetan, daß sie an kein weiteres Disputieren denken werden, es sei denn, daß es zwei grundgelehrte Männer wären, denen es nicht um die Sache, sondern um die Ehre zu tun ist.
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[307] DAS Interessanteste bei einem gedankenvollen Buch würde sein, wenn der Verfasser die Geschichte, Veranlassung und die ganze, auch die entfernteste Verknüpfung, Verbindung seiner Gedanken zugleich mit den Gedanken lieferte. Aber das Ding ist unmöglich, wenn es recht zugeht; denn hier sind Blitz und Schlag beisammen. Wenn ich auch den Materialisten viele Gründe für ihre Behauptung zugeben kann, so kann ich es doch hier nicht, ob sie gleich die Assoziation der Ideen für sich sehr gut zu brauchen wissen. Alles ist langsam gegen diese Wirkung, selbst das schnelle Licht. Bei dem Blitz, der Elektrizität, dem neuen Galvanismus seh' ich Reiben, Stoßen, Vorbereitung; bei dem Pulver den Funken, der die Explosion bewirkt. Aber was stößt, reibt, bewirkt hier? Ein Wort, ein Schall, ein Nichts; denn das ist »Nichts« für uns, dessen wir uns nicht bewußt sind. Hier ist ein Kontakt durch die Welt der Geister oder der Materie, dem nachlaufen mag, wer Zeit zu verlieren hat.
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[308] [40]DAS Wort »Kraft« ist ein schönes, ausdrucksvolles Wort in der deutschen Sprache. Es schien mir oft wie das Wort »Tugend« [40] in den Schriftstellern der Griechen und besonders der Römer zu lauten. Ich gebrauchte es oft in diesem Werke; jetzt könnte mich die Röte der Scham oder der Bescheidenheit daran hindern.
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[41] [372]SOVIEL muß doch der Materialist zugeben, daß es die Meinung ist, die Seele komme uns von dem Oberherrn der Geister – also vom Himmel – und kehre wieder zu ihm zurück –, welche die erhabensten Gedanken, Empfindungen und wohl auch Taten hervorgebracht hat. Wenigstens muß er selbst darüber erstaunen und seinen Dogmatismus so lange fallen lassen, bis er ihn bei kälterm Sinne wieder aufnehmen kann.
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[372] [86]VERLANGEN und Streben nach Wahrheit ist für den Menschen genug; die Wahrheit selbst wäre zuviel für ihn. Das erste bringt alles Treffliche hervor (das Törichte gehört dazu, um das Treffliche bemerkbar zu machen), was wir dem Oberherrn der Geister als selbst erworben vorlegen; was könnten wir ihm alsunser vorzeigen, wenn er uns alles gesagt hätte? Ich glaube kaum, daß wir uns die Mühe geben würden, es auswendig zu lernen, um es uns einander zum Zeitvertreib zu erzählen. Zeitvertreib! – als wenn dann noch die Rede davon sein könnte!
399
ICH möchte eher und leichter aus unserer Beschränktheit als aus unserer Unbeschränktheit auf einen Gott schließen, wenn er uns die letztere erteilt hätte. Beweist es nicht mehr Allmacht, Millionen von Geistern so abzustufen, wie wir einander kennen, als sie alle in eine Form zu werfen und ihnen den Vorhang so aufzuziehen, daß jeder sehe, was der andre sieht? Dann wär' es ein Marionettenspiel, von Marionetten gesehen, und kein Geisterspiel, von Geistern selbst entworfen und aufgeführt.
400
[86] [423]ICH will einmal einige recht verwegene, beleidigende und zugleich unnütze Fragen tun. Ich möchte wohl wissen, was der Mann, dem das Unmögliche gelänge, eine Kunst oder ein Arkanum zu erfinden, wodurch er die Menschen wirklich tugendhaft [423] machen könnte, für eine Belohnung von ebendiesen Menschen zu erwarten hätte? Ob man so geschwind und begierig zu ihm laufen würde, wie man zu den Wundermännern, Scharlatanen: Mesmer, Lavater, Gaßner, Cagliostro lief? Ob seine Bude so besucht werden würde als die Buden der Modehändlerinnen, Schönheitsverkäuferinnen und sonstiger Söhne und Töchter des Luxus, der Torheit und der Eitelkeit? Ob man den seltnen Mann nicht für einen Störer der Ruhe halten würde? Ob die wachsamen Staatsbeamten ihn nicht bei den Fürsten als einen verkappten Jakobiner angeben würden, der sie zu entthronen suchte? (Diese schlössen freilich nicht am dümmsten, da die Tugend keines Zwangs bedarf und sich selbst beherrscht.) Ob andere, die keine Staatsleute sind, nicht laut schreien würden, der gefährliche Mann gehe damit um, uns arme Menschen um alles Vergnügen, allen Genuß zu bringen? Ob auf ihren Witz, ihre Klugheit stolze Männer nicht ebenso laut rufen würden, er wolle uns zu Schafsköpfen machen? Ob – kurz, ob man ihn nicht für einen Narren halten würde, den man, um doch menschlich gegen ihn zu verfahren, zwischen vier Mauern allein einsperren müßte, um ihm Gelegenheit zu geben, seine seltene Kunst in der Stille auszuüben?
401
VON der Freiheit – der metaphysisch-moralischen – habe ich nicht geredet und werde niemals davon reden, weil ich mich keiner Sklaverei und Abhängigkeit des Geistes und des Herzens erinnern mag. Auf diesem Haß gegen solche Sklaverei ruht mein ganzes Dasein. Wie könnt' ich nun von einer solchen zweideutigen Freiheit reden, die man sich nur durch eigne Kraft praktisch erwerben kann!
402
[424] [82]DIE Physiologen, Psychologen, Anthropologen und Anatomiker entziffern, beschreiben, erklären, zerschneiden den Menschen, um uns zu sagen, was der Mensch ist, woraus er besteht. Nur das können sie uns nicht sagen, was ihn zusammenbindet, was ihn zum Menschen macht. So sucht der Wilde die Musik in der Laute des Europäers, indem er sie zerschneidet.
403
HABEN wir eine Seele? Wer beweist es! Aber sonderbar ist es, daß die Menschen so etwas erfinden konnten und, da sie es einmal erfunden hatten, so fein, schön, gewiß und bestimmt davon reden konnten, es immer noch besser und schöner lernen. Diese Dunkelheit, in der sich unsre Seele vor uns selbst verborgen hält, ist vielleicht recht gut und nützlich für den Menschen und seine Seele selbst. Wüßte der Mensch genau, wie seine Seele beschaffen wäre, wo sie sich aufhielte, fühlte er sie an Stelle und Ort, könnte sie sich ihm selbst, und zwar durch sich selbst, anschaulich machen und das übrige Verhältnis zwischen ihr und dem tierischen Körper bliebe, was es nun ist, so glaube ich beinahe, um doch höflich von allen und auch von mir zu reden, der Mensch würde seine Seele noch mehr mißbrauchen, sie noch willkürlicher, tyrannischer behandeln, als er es jetzt tut. Vor etwas Unbekanntem, das sich gar nicht zeigt, das sich so vornehm verhüllt hält und immer auf dem Thron hinter dem Vorhang sitzt, hat man doch noch etwas Furcht und Ehrerbietung. Der Keckste verbeugt sich alsdann doch zuzeiten noch vor seinem unsichtbaren Herrn, wenn er auch nicht dabei dächte, daß er es vor sich selber tut.
404
[82] [378]DIE verbreitetste Idee unter dem Menschengeschlecht, von dem Höchsten durch Kultur bis zum Niedrigsten, ist die Idee des blinden Zufalls. Der Mann von Verstand, der diesen Augenblick drüber lachte, der Gläubige, von dessen Haupt kein Haar ohne die Vorsehung fällt, vergessen beide Verstand und Glauben, wenn sich etwas ereignet, das sie nicht erwarteten, das ihnen zuwider ist, dessen Zusammenhang sie nicht begreifen können. Sie sprechen beide das Wort Zufall aus, ohne daß der eine denkt, er spreche jetzt als ein Tor und der andre als ein Ketzer. [378] So wird der »Zufall« zum Sündenbock in der moralischen Welt; kann man in der Geschwindigkeit den Teufel nicht erreichen, so greift man nach dem blinden Zufall, und der Knoten ist zerhauen. Warum nicht? Wer sich in einem Netze verwickelt fühlt, hilft sich, wie er kann. Kann er es nicht lösen, so zerreißt er's. Mag der Aussteller des Netzes die Maschen wieder stricken, die der Verstrickte zerreißen mußte, um sich zu retten.
405
[379] [412]DA ich hin und wieder wirklich von den spekulativen Philosophen nicht mit der ihnen schuldigen Ehrerbietung gesprochen habe, so könnte mancher glauben, ich achtete ihrer nicht, wie sie es verdienen. Sie selbst werden sich wenig darum bekümmern, weil sie Philosophen sind; aber um ihrer Bewunderer willen sage ich: daß ich, der ich alle Kraftübung des Geistes achte, die ihrige sehr hoch achte. Nur wünscht' ich, daß sie uns den Horizont nicht gar zu hell machten oder daß andere nicht glauben möchten, sie [412] sähen ihn wirklich so hell, wie sie, die Meister des Lichts, versichern. Im Helldunkel spaziert (ich würde sagen wallet, wenn die Poeten dieses Wort nicht gar zu abgeschmackt gemacht hätten) der menschliche Geist gar zu angenehm.
406
[413] [312]GROSSE Männer und große Genies sind darum viel leicht zur wirklichen Freundschaft und dem traulichen Umgang nicht gemacht und gestimmt, weil sie zu wenig Geistesverwandte finden, sich immer herablassen müssen und so selten oder gar nicht mit den Gefährten aufwärtssteigen können. Wer sich nun immer herunterbeugen muß oder den Stolz hat, zu glauben, daß er es immer tue, wird es endlich so müde, daß ihm das vermeinte Opfer gar zu beschwerlich wird. Aber ebendiese großen Genies und großen Männer sollten bedenken, daß die verbundenen Kräfte der Kleinen, die sie so niedrig sehen, doch mehr ausrichten, als sie selbst auszurichten fähig sind; daß sogar ein solcher Wicht in [312] einem oder dem andern Punkt sie in Kenntnissen, Geschick und Fertigkeiten übertreffen und belehren kann, von denen sie gar keine Ahndung haben. Große Männer und große Genies können aber doch Freunde unter sich sein, da sie Verwandte sind? Allerdings – sobald einer den andern für den Größern oder das Größere erkennt und es auch eingesteht!
407
[313] [87]ICH glaubte ehemals, es könnte gar vieles anders, besser gemacht und eingerichtet von oben herabgekommen sein. Erfahrung und Nachdenken machen jeden mäßiger in diesem Punkt; sie haben auch auf mich gewirkt. Da aber ein jeder, der einmal eine gewisse Schelle getragen hat, ihren fernen Klang noch in den Ohren behält, wenn auch die teuer erkaufte Weisheit sie lange zerschlagen hat, so kann ich noch heute nicht alle Wünsche zum Bessern aufgeben. Es deucht mich also noch heute, es wäre gar nicht übel gewesen, wenn der Oberherr und Schöpfer der Geister die Seelen der Menschen, bevor er sie ihnen zum Behuf dieses Lebens zusandte, von Erzengeln oder Genien so hätte behandeln lassen, wie wir das Eisen behandeln, um Stahl daraus zu machen. Wir machen es glühend, tauchen es in kaltes Wasser, hämmern darauf, machen es wieder glühend, tauchen es wieder ins Wasser, hämmern immer darauf und bringen endlich ein Ding heraus, das ebendas Metall als Feile zernagt oder als sonstiges Werkzeug zerschneidet, aus dem es entstanden ist. Machten es nun diese Erzengel und Genien auf Befehl des Großmeisters in der großen Welt- und Schöpfungsschmiede so mit unsern Seelen, so kämen sie uns ganz zugerüstet zu, um dem Hämmern des Schicksals, dessen allezeit fertige Diener unsere Brüder im Fleische sind, zu widerstehen. Wir würden dann die Schläge derselben nicht allein besser vertragen, sondern auch selbst kräftiger zuschlagen können; das Zernagen und Zerschneiden, wenn wir uns nicht anders zu helfen wüßten, bliebe uns noch obendrein übrig. Von der Schwäche, dem Hauptübel der moralischen Welt, wäre dann gar nicht mehr die Rede, da wir alle von festem, stählernem Charakter wären; derjenige, welcher es unternehmen wollte, unsre Grundsätze aufzulösen, zu zertrümmern, müßte wenigstens eine nagendere Feile oder ein schneidenderes Werkzeug sein, und bekannt ist es, daß Stahl sich unter dieser Arbeit selbst abnutzt. Aber nun fühle ich plötzlich, daß es mir hier wie allen Projektmachern und Weltverbesserern ergeht; auch ich habe nur einen kleinen Umstand bei meiner kosmopolitisch-guten Absicht vergessen: das Herz, den fleischigten Hauptmuskel in [87] unserer Brust, der eine so große Rolle über die Seele selbst spielt, daß sie, gestählt, wahrscheinlich an ihm zersplittern und zerspringen würde, da sie doch jetzt als ungestählt im Vorteil ist, sich biegen zu können und, wenn die Kraft, die sie biegt, nachläßt, sich wieder auszustrecken oder auszudehnen.
Ich sehe nun schon, daß es mir trotz dem bestimmtesten Willen nicht gelingen wird, etwas Wesentliches zur Weltverbesserung beizutragen, und überlasse es daher Glücklichern oder denen, die stark genug im Glauben dazu sind. Ich für meinen Teil habe das Geheimnis, meine Seele hier auf dieser Erde zu stählen, da gefunden, wo es jeder finden kann, und zwar so, daß der fleischigte Muskel selbst Fleisch geblieben ist, sonst wäre wahrlich das Geheimnis nichts wert – gelind genannt, wäre es Selbstvergiftung, ob man bei dieser Vergiftung gleichwohl noch leben kann, wie die Erfahrung zeigt.
408
[88] [355]EIN Mann, der sich ohne wahre moralische Kraft, durch Willelei (der Purist vergebe dieses Wort, der Franzose nennt es velléité), durch Anmaßung, Eitelkeit, fremde Anspornung zu etwas Großem im Tun oder Denken ernstlich erheben will, gleicht einem Hypochondristen, dem der Arzt ein Tonikum verschrieben hat. Da ein Tonikum verstopft, so fühlt der Hypochondrist wirklich einige Tage etwas, das neuerregter Stärke gleicht. Es ist aber nur der Reiz auf schwache Nerven, und da die Verstopfung sich bei schwachen Eingeweiden gewöhnlich allzusehr durch das Gegenteil auflöst, so ist der Hypochondrist nach der falschen Stärke auch gewöhnlich noch schwächer. Wer weiß, ob obige Kraftäußerung, wenn der Mann das Wagestück nun wirklich näher betrachtet oder es gar versucht, nicht dieselbe Wirkung hervorbringt.
409
ICH möchte aus dem Obengesagten eine Lehre für diejenigen Pädagogen ziehen, welche aus allen Kindern alles machen wollen. Mich deucht, das Wichtigste für die Zukunft der Kinder ist, daß man sie im Moralischen und Literarischen nicht über ihre verliehene Kraft und Fähigkeit ansporne. Zu oft mißlungene Versuche, das Bewußtsein vergebens auf diesen Zweck hinzuarbeiten, machen ebenso leicht schlechter und träger. Wer für das Herz und den Geist seiner Schüler und Zöglinge das ausfindet, [355] was sie tragen, fassen und wirklich durchsetzen können, der arbeitet nicht allein der Natur und der moralischen Welt gemäß, er arbeitet auch für das wahre Glück der armen ihm Anvertrauten, die in diesen zarten Jahren gar nicht ahnden, in welcher gefährlichen Lage sie sich befinden, wie hier schon das Schicksal den Knäuel, den sie einst abwickeln sollen, entweder in Ordnung aufrollt oder ohne alle Aufmerksamkeit untereinanderzerrt. Weh dem, der hier die zerrissenen Fäden einst heraussuchen muß!
410
[356] [341]SOLANGE in Europa die Kinder noch so weit das Eigentum der Eltern bleiben, daß sie dieselben selbst erziehen dürfen, so fürchte ich die Dauer des Despotismus nicht, mit welcher Kraft und Gewalt er sich auch hier und dort auf den Thron gesetzt haben mag. Wäre es einem oder dem andern großen Fürsten zu Ende des letzten Jahrhunderts eingefallen, die Erziehung der Unmündigen nach einem rechten Staatsplan über sich zu nehmen, sie hätten gewiß in den Pädagogen und den Philosophen, die in Griechenland und den Idealen noch in der Wiege liegen, große [341] Helfer, Verteidiger und Lobredner gefunden. Die Staatsleute hätten vielleicht dazu weislich geschwiegen, da diese Leute, ohne zu wissen, für wen und für was sie arbeiten, klar bewiesen haben würden: der Tag einer neuen moralischen Umschaffung des Menschengeschlechts sei zum Heil der Welt nun endlich gekommen. Jawohl: einer Umschaffung! Aber es ist wirklich zu bewundern, daß dieser glückliche Gedanke keinem großen Fürsten in dem Drang der Not gekommen ist; die Zeit war ganz dazu gemacht, und die große Zahl der Menschen ist ohnedies immer zu der Zeit gemacht. Vielleicht glaubt mancher, die Kosten hätten diese Fürsten doch wohl abgeschreckt. Gutmütige Einfalt! Darauf war eine Finanzspekulation zu bauen, gegen die Staatslotterie, Lotto und andre Spekulationen dieser Art nur Lumpereien sind. Ich gestehe es offenherzig: Gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts hätte ich mich gehütet, mit diesem Satze, besonders wegen des letzten Umstands, laut zu werden; jetzt fürcht' ich es nicht mehr; denn da, wo es zu fürchten wäre, hat man schon allen Gefahren vorgearbeitet.
411
[342] [372]DIE Leute, welche von den Menschen fordern, daß sie immer und bei allem an Gott denken sollen, wissen gar nicht, wie dem Menschen zumute ist, der sich durch Bestimmung, durch Geschick recht im Gedränge der wichtigen Weltgeschäfte befindet; und ihre ausgedehnte Forderung beweist, daß ihnen ein stilles, ruhiges Leben zuteil geworden ist. So läßt es sich nun freilich leicht lehren und predigen. Da aber solche drängende, verworrene Geschäfte den Tätigen keine Zeit lassen, an sich selbst zu denken, wie sollten sie an Gott denken können? Man denkt doch nur an ihn, wenn man sich selbst denkt, das heißt, wenn man sich seiner Seele erinnert oder sie uns durch ein Zeichen einen neuen Beweis von ihrem Dasein gibt. Soll der Kaufmann auf der Börse an ihn denken, wenn er wichtige Geschäfte betreibt, so muß ihm eine schwarze Nachricht von dem Fall eines großen Hauses, der ihn selbst zu stürzen droht, zu Ohren kommen. Soll sich der Staatsmann, der einen großen, weitsehenden Plan zu Krieg, Eroberung oder Teilung eines benachbarten Reichs bearbeitet, seiner erinnern, so muß ihn die Ungnade des Fürsten während der Arbeit überfallen. Genug der Beispiele; vielleicht denkt der Philosoph, der eine Metaphysik schreibt, um uns Gottes Dasein [372] zu beweisen, am wenigsten an ihn; vielleicht denkt der oft ebensowenig an Gott, der jeden Sonn-und Feiertag über ihn predigt.
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[373] [322]DAS Gefühl, die Empfindungen junger Leute scheinen darum erfahrnen Männern so leer und albern oder wie erkünstelte Gefühlelei und Empfindelei, weil diese jungen Leute noch keine festen Gegenstände für ihr Herz und ihren Geist gefunden haben. Sie laufen mit beiden noch hin und her und suchen, woran sie sich hängen mögen. So gleichen sie jungen Hunden, die die Natur mit Instinkt zur Jagd versah, die aber der Jäger noch nicht in die Schule genommen hat. Auch sie laufen hin und her, belfern und schnauben, schnauben und belfern selbst da, wo gar kein Hase über das Feld gelaufen ist. Abgerichtet, weiß der Hund, wann, wo und wie er jagen soll; erfahrner, weiß der junge Mann, welcher Gegenstand es verdient, daß man dabei denke oder dabei fühle, und wie es derselbe verdient.
Wenn erfahrne Männer aus diesem und andern Gründen so leicht über junge Leute absprechen, so sind sie nicht allein hart und ungerecht, sie sind auch in diesem Augenblick keine weise[n], erfahrungsvolle[n] Männer mehr; wie könnten sie sonst vergessen, wie ihnen vor ihrem Eintritt in die Welt zumute war, was ihnen diese Welt gewesen und was sie überhaupt ist?
413
DIE Erfahrung muß aus vielen Teilen zu einem ganzen runden Stück geworden sein, wenn sie etwas taugen, uns billig und gerecht machen soll. Die Teile selbst sind: die Kindheit, die Knaben- und Jünglingsjahre und das männliche Alter; an der Grenze des wirklichen Alters stoßen sie zusammen, und dieses scheint ihnen da »Halt« zuzurufen. Die meisten überspringen diese Grenze, ohne sich an den Zuruf zu kehren, vielleicht ohne ihn zu vernehmen. Die nachsinnend stehen bleiben, denen naht ein ernster, aber sanfter Geist, vereinigt die so ungleichen Gesellen friedlich in eins, scheidet das Allzugrelle, Allzuabstechende und läßt jedem derselben nicht mehr von seiner eignen Farbe, als zur Erinnerung und dem freundlichen Verein nötig ist. So setzt sich ein moralisches Ganze aus Dingen zusammen, die sonst gar nicht beisammen bestehen können: [322] Unschuld, Zutrauen, Ungezogenheit, Torheit, Wildheit, Fehltritte, Mißgriffe, Irrtümer, Täuschung, Verstand und Weisheit; und das alles ordnet und schickt sich so schön ineinander, daß man es in sich selbst fühlen muß, um die Möglichkeit davon, nebst dem Glück, das es gewährt, recht einzusehen und recht zu fühlen.
414
[323] [408]WER die Welt wie einen Guckkasten ansieht – das sagt mancher von sich und glaubt etwas recht Philosophisches zu sagen –, der sieht sie an, wie der Narr ein Narrenspiel ansieht. Die Welt ist ein sehr ernsthaftes und für unser Fassen zu großes, zu erhabnes Schauspiel – um ein sehr einfältiges Wort zur Bezeichnung zu gebrauchen –, ein Schauspiel, das wahrscheinlich einen Zuschauer erfordert, wie wohl nie einer im Fleische geboren worden ist, wohl nie geboren werden wird. Das, was manchen zu obigem Ausspruch reizt, ist es eben, was mir die letzten Worte abdringt.
– Wer ist der Richter, der sich ein Endurteil über solch ein Stück anmaßen darf? Versuch es nur mit einer Szene und wage dann zu sagen, du habest in keinem Umstande geirrt!
415
[408] [7]WARUM ich diese Gedanken und Empfindungen bei meinem Leben drucken lasse? Da ich ihrentwegen nichts fürchte noch hoffe, so weiß ich eben nicht, warum ich sie nicht sollte drucken lassen. Aber ich habe einen besondern Grund. Ich möchte nicht gern, daß man sie nach meinem Tode in Kapitel oder bestimmte Rubriken einteilte und sie so zum regelmäßigen Buch machte, das sie gar nicht sein sollen. Man würde mir dadurch ebenden Gefallen tun, den man einem Odendichter täte, wenn man seine Oden zerschnitte und unter einem moralischen Inhaltsverzeichnis dem Publikum gäbe. Meine Gedanken sind freilich keine Oden, das beweist ja die schlichte Prosa; aber es läuft doch, wie durch die verworren scheinende, von einem Gegenstand zum andern springende Ode, ein einziger Geist und Sinn hindurch; den soll der Leser nun selbst ausfinden, wenn es ihm der Mühe wert scheint.
416
[7] [91]WIE nah wir bei aller Kultur noch immer dem Stande der Wildheit sind, beweisen wir in unsern Leidenschaften, wenn wir sie so recht ausbrechen lassen. Mancher unter uns würde dann gern ein völliger Wilder sein, wenn er nur bei der Neigung und Kraft dazu auch die nötige Macht hätte. Wenigstens ist es nicht die Kultur, die solchen Leuten das Gebiß und den Kappzaum anlegt; nur die Wiedervergeltung mit ihrem Gefolge von Schreckgespenstern tritt ihm in den Weg. So gut nun die Kultur für die Kühlern und Vernünftigern ist, so ist es doch nicht übel, daß wir[91] uns zuzeiten aus dem Stande der Wildheit etwas rekrutieren oder auffrischen; wir würden sonst gar zu artig, gar zu duldsam werden.
417
[92] [413]ES ist ein ganz artiges Bestreben unsrer Philosophen, das denkbare Nichts zu einem erkennbaren Etwas zu machen. Aber hätten wir wohl dieses Streben in uns erschaffen und aus uns herausziehen können, wenn es nicht wirklich da und nötig wäre? Dem Spötter selbst fährt wohl zuzeiten der Schatten dieses Nichts an der Stirne vorüber.
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[413] [399]AUF der breiten Heerstraße zur Torheit, wo man mit sechsen, vieren, zweien und einem Pferde Galopp und Trott fahren und reiten kann, führt auch ein schmaler Fußpfad im Zickzack zur Weisheit hin. Der ihn gehen will, muß freilich behutsam wandeln, um nicht überfahren zu werden; auch muß er das Geklatsche, Geschrei, den Staub und Kot, womit die Fahrenden ihn bedecken, nicht scheuen, die Stöße selbst aber nur für Mittel ansehen, die zum Ziele fördern. Wer aber querfeldeinher bequem wandern und der Weisheit von der Seite beikommen will, der kann leicht eine ihrer Repräsentantinnen, die Trägheit, für die Dame, die er sucht, erhaschen und sie vielleicht noch gar für die wirkliche halten.
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[399] [379]WENN die Dankbarkeit allein den erhabenen Gedanken von Gott erfunden hätte, was für ein Mensch müßte der gewesen sein, welcher ihn zu den andern zum erstenmal so bezeichnete? Was für eine große Idee müßte man sich überhaupt von dem Menschengeschlecht machen? Ich möchte dieses lieber erwiesen sehen als alles, was die Philosophen von Aristoteles bis Kant uns zu erweisen gestrebt haben und noch streben. Der Gedanke ist schön und erhebend. Schade nur, daß die schönen, erhebenden Gedanken darum noch nicht die wahrsten sind. Das letzte bringt uns nur zu oft zum Selbstmord unsers Vergnügens.
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[379] [291]UM den Schlüssel zu den großen, wichtigen, erbärmlichen und törichten Weltbegebenheiten, die man erlebt hat, und dadurch zu sich selbst nach und nach zu finden, muß man sie von ihrem Ursprung an, mit allen bedeutenden Ereignissen, nebst den großen und kleinen, den schwarzen und zweideutigen Geistern, [291] die sie veranlaßt, bewirkt und durchgesetzt haben, langsam und still vor sich vorüberziehen lassen. Aber da hierbei alles auf den Gesichtspunkt ankommt, so muß man auch die Kunst verstehen, sich davorzusetzen. Ist es damit richtig, so kann man, da jetzt die Sinne kühler sind und die Parteilichkeit schweigt, diese Beschauung als ein Reinigungsbad von seinen Vorurteilen gebrauchen. Man hat noch überdem einen Genuß, den kein Werk des Genies gewährt: Man sitzt als doppelter Mensch davor, einmal als der, welcher man war, als sich die Begebenheiten ereigneten, und nun als der, welcher sich selbst durch sie mustert, indem er sie bei sich vorüberziehen läßt.
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[292] [373]SOBALD man über die Religion denkt, ist es keine Religion, so sagt der Katholik und scheint mir darin recht zu haben. Das Denken will durch einen dunkeln Weg dahin führen, worauf man die Religion gebaut hat; auf dieser Reise macht man nun so viele Entdeckungen und Erfahrungen, daß man wohl als ein kluger, aber selten als ein religiöser Mann wiederum nach Hause kommt. So geht es uns mit allen Reisen durch diese Welt: Wir segeln mit einem starken Glauben an hohe Tugend aus und sind froh, eine einzige stille gefunden zu haben, noch froher, wenn wir eine solche stille Tugend unversehrt in die Heimat bringen.
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[373] [292]DER, welcher den Wunsch äußerte: es möchte in der Brust eines jeden ein Glasfenster angebracht sein, damit man klar sehen könnte, was in dem geheimen Kabinett des Menschen vorgehe, hatte wahrscheinlich den Vorhang vor oder hinter das seine schon bestellt oder selbst verfertigt.
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[292] [224]»DES Brot ich esse, des Lied ich singe« ist eigentlich nur ein Soldatenlied, das Ludwig XIV. mit Louvois und seinem Beichtvater Tellier gedichtet und in Musik gesetzt hat. Aber auch viele unsrer deutschen Staatsleute, Beamten, Gelehrten und Politiker [224] haben es sich zugeeignet, wissen es ganz auswendig und pfeifen es so laut, daß man es in ganz Deutschland hört.
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[225] [424]ES gibt sehr kluge Männer, die, nachdem sie die Politik, die ganze Staatswissenschaft, die Geschichte in Rücksicht auf selbige studiert und die selbst erlebten Welthändel als ein Studium [424] betrieben haben, sich feste Regeln und Grundsätze aufstellen, nach denen sie nun alles, was sich ferner ereignen mag, beurteilen wollen. Sie gehen gar so weit, daß sie es einem andern als Gebrechen oder Geistesschwäche anrechnen, wenn er nach den unvorgesehenen Ereignissen über eine Begebenheit seine Meinung ändert. Diese Männer gleichen nicht übel den Wetterbeobachtern, die vom ersten Januar bis zum einunddreißigsten Dezember laufenden Jahrs das Wetter aufzeichnen und nun im künftigen immer auf denselben Tag dasselbe Wetter erwarten. So wie es an Tagen regnen, stürmen wird, an denen es im vergangenen Jahr schönes, mildes Wetter war, so können ebendie politischen Begebenheiten oder das politische Ereignis hier jetzt ganz sanft, ruhig, wohl gar zum Vorteil vorübergehen, die zu andrer Zeit, an anderm Ort, unter andern Umständen den Staat erschüttern. Das Bewußtsein hiervon ist wahrscheinlich die Ursache, daß man Staatsleuten, Meteorologen die Mißgriffe und Irrtümer so leicht vergibt, obgleich die Folgen derselben sehr verschieden sind. Darum glaube ich immer, daß die Menschen so lange nur gerecht sind, als sie nicht denken und nachsinnen, weil dann eigentlich keiner auf dem Richterstuhle sitzt, der etwas in die Waage wirft, welche uns die blinde Göttin Gerechtigkeit darreicht.
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[425] [471]ES gehört ein weiser Mann dazu, um die Schellenkappe wie Rabelais und Sterne zu tragen; ihr glaubt, sie hätten sie noch auf dem Kopfe, während ihr schon lange damit geziert vor ihnen sitzet.
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[471] [63]DIE sogenannte feinere Erziehung erhebt die natürlichen tierischen Triebe der Selbsterhaltung zur höhern, gelehrtern Selbstliebe; die Welt veredelt dann gewöhnlich diese leicht begriffene und wohlgepflegte Selbstliebe zum Egoismus, und nur der Tod wirft endlich noch einmal den so vollendeten und moralisch Ausgebildeten in die allgemeine Masse der Natur – wie alles [63] ausgefegte Unreine –, wo er nun wider Wissen und Willen und zum erstenmal ohne Berechnung auf das geliebte, einzige Selbst das wieder hergeben und zum weitern Nutzen des Ganzen in Luft, Wasser, Erde usw. zerstreuen lassen muß, was sie ihm körperlich geliehen hat.
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ES ist doch sonderbar, daß, wenn wir wirklich weiser geworden sind, wir mehr uns als andern durch unsre Weisheit nützen und nützen können. Es scheint, daß sich das Besonnene, Überlegende, nach allen Seiten Hinsehende und überhaupt das Regelmäßige mit der Tätigkeit nicht vertragen kann – vielleicht auch, daß die Handlungen, die man für Menschen und durch Menschen betreiben will, die Beleuchtung der Weisheit nicht immer gestatten können. Rasch tun und denken, ohne die Nebenumstände viel zu erwägen – das lieben die Menschen; und die Weisheit erwirbt sich wirklich so durch eignen und anderer Schaden; sie ist da, wenn man die Nebenumstände recht erwägt, und das ist es auch wahrscheinlich, was die andern weniger brauchbar macht. Dem sei nun, wie ihm wolle, es erheitert die Farbe des menschlichen Lebens nicht
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[64] [190]WER da glaubt, der Fall ereigne sich nicht oft, daß rechtschaffene Männer ganz ernsthaft wegen ihrer Tugend um Verzeihung bitten müssen, der hat nicht am Hofe gelebt, auch wohl nicht Gelegenheit gehabt, zu beobachten, wie es sich unter großen und wichtigen Staatsbeamten dient. Und es ist noch immer viel, wenn man einem solchen abbittenden Sünder verzeiht.
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[190] [465]WER interessant schreiben will, vermag es nur über einen Gegenstand, der das Herz und den Verstand in enge, freundliche Verbindung setzen kann. Das Herz muß den Verstand erwärmen [465] und der Verstand über die Glut hauchen, wenn sie in Flammen ausbrechen will. Aus dem Verstande allein läßt sich viel Kluges, aber schwerlich etwas Interessantes schreiben; aus dem Herzen allein läßt sich wohl noch etwas so Interessantes schreiben, daß der Verstand etwas Kluges darin finden kann.
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[466] [317]EIN Mann mag große, bedeutende, wichtige Augenblicke gelebt haben, aber gewiß keinen so schönen und glücklichen als das tugendhafte Weib, da sie zum erstenmal als unschuldige Jungfrau das Wort Liebe gegen den wirklich Geliebten in Gegenwart der Mutter aussprach, lispelte oder mit etwas leisem Atem hinhauchte. Sie erlebt ihn gar zweimal, wenn ebendieser Augenblick für ihre Tochter kommt.
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[317] [335]WENN man im Alltagsleben die Erfahrung machen will, wie es in einem Punkte in dem großen Leben hergeht, so darf man nur einigemal Don Quichotte genug sein, sich in einen bürgerlichen Krieg zweier recht feindlich erklärter Gegner zu mischen und für den einen lebhaft und feurig Partei ergreifen: épouser sa cause et ses intérêts. Man ist dann entweder in Gefahr, den Haß der andern Partei ganz auf sich und größtenteils von dem Gegner abzuziehen oder daß die beiden feindlichen Parteien sich vertragen und auf unsre Kosten Frieden machen. So kann man die politische Rolle eines kleinern Fürsten, der sich in die Händel der großen mischt, auf eigne Kosten spielen, sei man auch der kleinste Bürger.
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[335] [7]ALS ich zum erstenmal in P ... in Garnison lag und die Kniffe, Ränke, die Gewandtheit der falschen Spieler (Grecs) entdeckte, so erstaunte ich nicht so sehr, als ich wohl nach meiner damaligen und jetzigen Denkungsart darüber hätte erstaunen sollen. Mein Geist scheint im voraus geahndet zu haben, daß ihn noch wichtigere Entdeckungen in ganz andern falschen Spielen auf dieser Welt erwarteten. Wäre er nun bei den ersten Entdeckungen gar zu erstaunt gewesen, was wäre ihm für die andern übrig geblieben?
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[7] [455]ALTE Schriftsteller in Deutschland schlagen wirklich die jungen Leute, die sich in etwas versuchen, oft gar zu sehr nieder. Es kömmt mir manchmal vor, als wollten sie durch dieses Benehmen ihre eignen Jugendsünden dieser Art gut und sie das Publikum vergessen machen. Ich hasse eine solche kluge Reue.
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[455] [399]MAN ist weniger stolz (in gutem Sinn genommen) auf seine Weisheit als auf seine Kraft, weil die Weisheit sich mit der Kraft berechnet, selten aber die Kraft mit der Weisheit. Obendrein ist man schon dadurch weise, daß man weniger anmaßend ist, und Kraft ist anmaßend, muß es etwas sein. Aber ruht nicht auch die Weisheit auf der Kraft? Wenn man auch die Kälte dafür nehmen will, so ruht sie wirklich immer drauf.
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[399] [64]ES gibt Leute, in denen der Egoismus so früh aufsteht und gehen lernt oder mannbar wird, daß man sagen sollte, sie hätten selbst ihre Mutter nur für eine Milch gebende Kuh gehalten. Aus diesem Grunde sind mir gar zu weise Jünglinge verdächtig, und ich mag sie nicht nahe um mich haben. Die Mutter dieser Weisheit ist gewöhnlich Feigheit, die den Namen Klugheit mißbrauchen lernt; und ebendieser Bastard Klugheit treibt den Egoismus früh zur Reife. Der weise Knabe baut diesem Götzen schon ein Tempelchen in seinem Herzen, während seine Kameraden Kartenhäuser bauen.
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[64] [447]VON keinem Volke läßt sich im ganzen mehr Gutes sagen als von den Deutschen, von keinem spricht man weniger, und keinem läßt man weniger Gerechtigkeit widerfahren, wenn man von ihm spricht. So hat z.B. selbst noch kein Deutscher, soviel mir bekannt ist, angeführt: daß die Deutschen das einzige Volk in Europa sind, das sich wirklich philosophisch veredelt hat und ganz weltbürgerlich gesinnt worden ist. Wenn dies kein hoher Grad der Veredlung ist, so zeige man mir auf Erden einen höhern vorderhand. Daß die Deutschen keinen Nationalcharakter haben und haben konnten, folglich auf diese charakterlose Weltbürgerschaft gestoßen werden mußten, beweist nicht, was es beweisen soll; wäre es dies, so wäre es das Werk der Klugheit. Nein, diese Weltbürgerschaft entspringt wirklich aus einem aufrichtigen, treuen, menschenliebenden und -achtenden Herzen, das sich weder von Sprache, Farbe noch Gebräuchen stimmen läßt. Die Deutschen hassen kein Volk der Erde, selbst über die Franzosen, die sie am meisten geplagt haben, lachen sie nur. Sie vertragen sich mit den Europäern, Asiaten, Afrikanern und Amerikanern, finden überall als Weltbürger ihr Vaterland, geben auch wohl ihre Landessitten und ihre Muttersprache nach und nach hin, um denen zu gefallen, bei denen sie Schutz und Sicherheit gefunden haben. Da sie dieses nun alles ohne Lehrmeister gelernt haben, sie der Durst nach Gold und die Ehrsucht nicht außerordentlich zu treiben scheinen und sie überdem nicht sehr biegsam, geschmeidig und politisch sind, so muß der Grund dieser weltbürgerlichen Veredlung vorzüglich in ihrer seltnen Gutmütigkeit liegen.
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[447] [115]WARUM so wenig Menschen glücklich sind und werden, kommt wohl auch daher, daß jeder an die politische Welt die Forderung macht, ihn besonders nach seinem Sinn und Wunsche glücklich zu machen, und das ebenso, als wenn er mit einem Bestallungsbrief vom Großherrn dieser und aller politischen Welten an sie geboren worden wäre. Dieses ist nun freilich eine sehr beschäftigte, eigensinnige, stolze, hartherzige und harthörige Person, und es gehören außer Zufall und Verdienste um sie noch gar viele Künste dazu, um von ihr bemerkt und gehört zu werden. Schreien und Poltern hilft ohnedem zu nichts bei ihr. Und doch glaubt mancher, er brauche den Brief an sie nur vorzuzeigen und recht laut von seinem Rechte zu reden. Es ist vielleicht nicht übel, an einen solchen Brief zu glauben, nur setze man den Inhalt nicht selbst auf, sonst zerreißt ihn der, welcher ihn unterschreiben soll.
Auch ist es nicht übel, sich zuzeiten eines wirklichern Bestallungsbriefs zu erinnern (dessen an die Natur), während man an der Bekräftigung des erstern arbeitet. Mancher ist dann so glücklich, zu vergessen, daß er den ersten in der Tasche trägt.
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[115] [181]WAS in den Vorzimmern eines Großen gemein klingt, lautet oft edel und erhaben in seinem Kabinett, wenn er es selbst sagt und das ebenden Leuten, die es den Augenblick vorher als gemein angehört haben. Warum nicht? Wenn ebender Mann aus einem erbärmlichen Wichte einen bedeutenden Mann machen kann, warum soll er nicht einen gemeinen Gedanken adeln können?
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[181] [433]WELCH ein Geist muß das gewesen sein, der die Mythe der neun Musen erfunden hat? Wäre einem Manne unserer Zeit, einem schönen Geist oder auch einem Philosophen, so etwas in den Sinn gekommen, ich wette, er hätte nur eine Muse, und zwar die seines Fachs, erfunden oder aufgestellt. Welch ein Geist und Sinn, welch eine Zeit, welch ein Volk gehörten also dazu, um diese Dichtung hervorzubringen! Und war es nicht zugleich die erste Enzyklopädie in dem leichtesten Gewande? Ich sehe diese neun Mädchen des griechischen Himmels, die das Göttliche uns so reizend darstellen, nie ohne einen innigen geistigen Genuß, wobei mich immer dünkt, meine Seele habe Fittiche wie die Psyche ebendieses Volks. Das einzige, was mich wieder auf die schwere Erde herunterzieht, ist die Mannsperson Apollo, die unter ihnen sitzt oder ihnen vorsitzt. Da hier alle Erzeugung geistig vorgeht, was soll er da? Mich an das Serail der Morgenländer erinnern? Er ist wirklich überflüssig und verkörpert das Göttliche um sich her, so weibisch zart man ihn auch ausstaffiert. Ich glaube zu meiner Zufriedenheit, der erste Erfinder hat nur die neun, das Himmlische oder Geistige auf Erden vorstellende Göttinnen erschaffen und ein Gelehrterer im modernen Sinn diesen Präsidenten hinzugepfuscht. Brauchten die eines Vorsitzers oder Aufsehers, die selbst aus der göttlichen Quelle schöpften? Brauchten die durch ihn verbunden zu werden, die es schon durch ein Band waren, das in der unsichtbaren Welt für Geister gewebt ward?
440
[433] [241]WIE leicht Fürsten zum Ruhm der Großmut gelangen, beweisen die einfältigen Lobsprüche, die man ihnen über die Errichtung der Invalidenhäuser macht. Ludwig XIV. ließ sich nicht wenig darüber loben; das ist nun ganz natürlich; aber daß er Lobredner dafür fand, ist weniger natürlich. Als wenn viele Menschlichkeit dazu gehörte, für Leute zu sorgen, die mehr für uns getan haben, als sie für Vater und Mutter und für sich selbst getan hätten, nämlich sich krumm, lahm, gliederlos schießen zu lassen und auch ohne dies ein Leben zu führen, das oft zum Vorschmack der Hölle dienen kann! Indessen, wenn das Loben nötig ist und zu etwas Gutem hilft, so lobe man nur immer.
441
[241] [389]WENN ich den Stock des menschlichen Denkens und Wissens betrachte, so deucht mich beinahe, der große Denker über uns hat Ursache, damit zufrieden zu sein, wie wir seine Mitgabe angewandt haben. So wie ich überhaupt zu glauben wage, daß er zufriedener mit dem Menschen ist, als sich gewisse Leute, aus wohl bekannten Ursachen, vielleicht nicht selbst einbilden, sondern uns einbilden machen wollen. Ihm mißfällt es wahrscheinlich am meisten, wenn er sich bis zum Mißfallen herabläßt, daß [389] man in seinem Namen toll, wahnsinnig, verfolgend und gewaltsam ist.
442
[390] [379]OB die Menschen gleich sehr erhabene Ausdrücke zur Bezeichnung des unbegreiflichen Wesens auswendig gelernt haben und sogar glauben, sie zu verstehen und richtig anzuwenden, so lassen sie dieses Wesen doch immer noch so menschlich erbärmlich handeln, als sie selbst handeln; ihre Götter sind und bleiben die homerischen und die jüdischen und sind nur den Namen nach von diesen verschieden.
443
NEHMT aus der Sprache zwei Wörter, die wir beide nicht begreifen, und auch dem Menschen die Erinnerung daran – »Gott« und »Natur« –, so stürzt alles zusammen, was wir begreifen; unser Wachen selbst wird zum Träumen. Die Schöpfer dieser Wörter haben erst die Träumenden zum wirklichen Erwachen[379] gebracht, da sie denselben zwei Laute zuriefen, welche die Seele, ohne sie zu erkennen, zu Wesen schuf, an die sich die Phantasie der Träumenden knüpfen ließ.
444
[380] [335]WER das Gold als Gold liebt, der ist sein Sklave; wer es aber als bloßes Werkzeug zu seinen Absichten gebraucht, der sucht andere zu seinen Sklaven zu machen und macht sie auch wirklich dazu.
445
[335] [116]WENN die Staatsbürger oder, um es deutsch zu nennen, die Untertanen alle vernünftige, gescheite Leute wären, so würden sie alle ehrlich sein, und ihre Ehrlichkeit würde sich gewiß besser für sie selbst verzinsen als etwa ihre Schlechtigkeit. Denn es könnte die große Folge haben, daß die, welche sie in dem Namen eines andern beherrschen, selbst vernünftige, gescheite Leute werden müßten. Ich sage dies nur darum, damit doch auch die Untertanen ihren Anteil für sich herausnehmen, wenn sie mit den Klagen über genannte Leute gar zu laut werden.
446
[116] [170]KEINER ist fertiger im Borgen als der, welcher einem andern die Bezahlung als Erbschaft hinterlassen kann, der also für seine Person keinen Wechsel unterschreibt und das Wechselrecht nicht zu fürchten hat. Das sehen wir an der großen Fertigkeit der Staatsschuldenmacher. Der Debitor ist ein philosophisches Abstraktum; man bürdet ihm alles auf, was die Not erfordert, um seinen Satz zu beweisen. Der Kreditor selbst muß an alle jenem angedichtete Eigenschaften glauben, und wäre er auch von keiner einzigen überzeugt.
447
[170] [166]WENN uns ein Bewunderer der Alten mit ihrer klassischen Literatur demütigen will, so können wir ihn mit etwas Größerm, Wichtigern und Wesentlicherm niederschlagen: mit unserer Staatswissenschaft. Gegen diese sind jene Klassiker nur Kinder, da wir überklassisch darin geworden sind. Sie ist zugleich die Wissenschaft, die wir den europäischen Fürsten ganz allein verdanken, denn ohne sie hätten wir wahrscheinlich ihre gegenwärtige Vollkommenheit nie erreicht. Daraus ist auch zu sehen, was Fürsten und Staatsbeamte für die Wissenschaften tun können, wenn sie sich's ernstlich angelegen sein lassen.
448
[166] [292]WER nur Schlechtes von den Menschen zu sagen weiß, der ist wenigstens insofern ehrlich, daß er uns zeigt, er rede nur nach Beobachtungen an sich selbst.
449
IN der Jugend ruft man sich zuzeiten zu: »Oh, daß du doch vernünftiger wärest!« In reifern Jahren möchte man sich wohl manchmal zurufen: »Oh, daß du doch noch glauben könntest!«
450
[292] [242]»LE bourreau! il m'a fait avaler des couleuvres«, sagte doch der lebhaft fühlende Franzos, wenn ihn sein Fürst mit unverdienten Bitterkeiten kränkte. Ein deutscher Hofkavalier sagt bei solcher Gelegenheit, wenn er noch etwas zu sagen wagt: »Seine Durchlaucht sind heute nicht gut gestimmt« oder: »Seine Durchlaucht geruhen heute nicht, bei guter Laune zu sein.«
451
[242] [323]WENN die Zeit der völligen möglichen Kraft des physischen Lebens auch die des moralischen wäre, das heißt, wenn wir im frischen mutigen Alter auch schon unsre mögliche moralische Ausbildung haben könnten, was würde uns in reifern Jahren das Hinschwinden und den Verlust der erstern ersetzen und uns darüber trösten? Wahr ist es, die Welt würde eine ganz andre Gestalt haben; aber ich zweifle, daß sie gefälliger und ruhiger wäre. Des Lärmens und der verwegnen Wagstücke würden gewiß noch mehr sein.
452
[323] [349]DIE orientalischen Metaphern, Hyperbeln und Bilder, die wir in der frühsten Jugend, als ersten Unterricht, in den Grundbüchern der Religion lesen, sind es, die die Köpfe der meisten so verwirren, exaltieren und verzerren, daß sie späterhin der nordische, kältere Sinn selbst nicht mehr heilen kann. Das heißt doch eine Pflanze aus ihrem vaterländischen Boden reißen, auf einen fremden werfen, ohne sich zu bekümmern, ob sie zu Unkraut ausschlage. Fragt nur einen darüber, in dessen Kopf die klassische Literatur nicht etwas aufgeräumt hat.
453
[349] [335]WENN das Glück einen großen Mann verläßt oder die Menschen durch zu lange Dauer zu sehr ermüdet, so sind seine Bewunderer nicht damit zufrieden, seine Fehler auf allen Straßen auszuschreien; sie dichten ihm auch Gebrechen und Laster an und finden Gläubige in jedem Horchenden.
454
[335] [72]DER Lastträger ruft aufwärts: »Hilf mir!«, das heißt: Trage meine Last! Der Feige ruft: »Steh mir in Gefahr bei!«, das heißt: Fechte für mich! Die Unglückliche, die im Mondschein herumirrt, um ihr täglich Brot zu suchen, sieht auch schüchtern aufwärts, sagt wohl noch: »Du nährst den Sperling!« Der Faule, Untätige sitzt still und hofft, der Himmel werde für ihn tätig sein. Zu diesen sagte schon Demosthenes: »Aber ihr sitzet da still und untätig, ohne daran zu denken, daß der Träge nicht einmal seinen Freunden zumuten darf, etwas für ihn zu tun, geschweige denn den Göttern.«
455
[72] [212]VON einem bedeutenden und kühnen Mann, der seine Gesellschaft aus H***, Spielern, Säufern, Verschwendern, Schuldenmachern, Possenreißern, Tagdieben und Glücksjägern zusammensetzt und den saubern Schweif überall nach sich zieht, könnte man sagen: Er rekrutiert sich seine Armee vor der Hand, auf gewisse Fälle.
456
[212] [481]WENN der Philosoph Plato aus dem guten Sokrates so oft einen Schwätzer machte, ist es denn wohl ein Wunder, daß mancher Geschichtschreiber und die meisten dramatisch-historischen Romanenschreiber aus den großen Männern alter und neuer Zeit erbärmliche Wichte machen? Plato brauchte einen Schwätzer, um ihm seine Grillen aufzuheften, diese Geschicht- und Romanenschreiber einen großen Namen, um uns das Maß ihres eignen Geistes darzureichen. Hat der witzige Aristophanes die Werke Platos gelesen, bevor er sein Lustspiel »Die Wolken« schrieb, so wundre ich mich nicht, daß er es geschrieben hat; ich hätte es bei Lesung des Plato oft selber schreiben mögen. Die Dichter, die soviel vom Plato reden, müßten ihn lesen, um sich für immer von dem Kitzel zu heilen, als philosophische Forscher vor uns gedruckt aufzutreten. Wenn ich mich aber an den Grillen Platos ärgere, die uns sein Sokrates gar katechisieren muß, so bewundere ich um so mehr sein Weises, Großes, Herrliches, Erhabenes, das er uns hinterlassen hat, und weiß recht gut das Echte, Ernst-Philosophische von den sophistischen Spielereien zu unterscheiden.
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[481] [505]VOR der Erfindung der Buchdruckerei waren die Wissenschaften bloß eine Sache der Optimaten und der Reichen; ihre Bekenner machten folglich einen aristokratischen Staat aus. Nach der Erfindung derselben neigte sich diese Staatsverfassung immer mehr zu einer Republik. Jetzt scheint sie ganz eine Demokratie geworden zu sein, und wenn sie etwas von dem Nachteiligen der Demokratien hat, so hat sie auch all ihr Gutes. Der Letzte im Volke darf hier reden und predigen, wenn er Zuhörer findet, und jeder genießt das Recht seiner Souveränität, weil die Ausübung derselben keinem einzelnen vorzugsweis' verstattet wird. So herrscht Gleichheit in dem Geisterreich – dem Stande nach; was nichts taugt, geht unter; dies ist das herrschende Gesetz. Das Wahre, Nützliche, Große, Erhabene ist wahr, nützlich, groß, erhaben, es sage und dichte es der Bauer oder der Edelmann. Daß nur die wirklichen Optimaten und Aristokraten sich über die Allgemeinheit der Wissenschaften beklagen, begreife ich wohl; es wäre doch angenehm, so ausgezeichnet an Geistesbildung über der Menge hervorzuragen, wie man durch Macht und Reichtum hervorragt – ich übergehe die andern Vorteile. Aber daß Gelehrte selbst diese Allgemeinheit zuzeiten so vornehm beklagen, das könnte einen wundern, wenn man des Törichten bei denen nicht so vieles fände, wo man es am wenigsten suchen sollte. Das Geisterreich ist unermeßlich, unendlich; wir haben alle Platz darin, und – merkt es wohl! –: es drückt auf das politische und zieht es nach!
458
[505] [335]ZWEI Männer, von denen der eine alle Handlungen seines Lebens nach seinen Träumen einrichten wollte, der andere [335] dasselbe nach den Prinzipien der neuen Philosophie täte, würden nach einigen wiederholten Versuchen in einem gewissen Hause zusammentreffen, wo man die Leute einzusperren pflegt, die sich und andern zu beschwerlich sind.
459
[336] [88]WÄREN die Menschen so schlimm, als sie mancher denkt und malt, so ließe sich gar nicht mit ihnen leben; wären sie so gut, als sie mancher haben will, so bliebe das Leben selbst stehen. So segeln oder lavieren wir in der Mitte, wenn auch nicht mit Vertrauen, doch mit dem Schein davon; die andern tun dasselbe gegen uns, und das Leben geht.
460
[88] [232]WENN die Großen einen gemeinen Mann beim Aufruhr unterstützen und ihn dazu reizen, so geschieht es darum, um größer über den einzigen Großen zu werden. Sie lassen dann den Kleinen die Ketten los, verhüllen eine Zeitlang die Schmiede, wo man sie verfertiget, unterhalten aber sorgfältig das Feuer in der Esse; der Hammer und der Amboß ruhen nur aus. So steht der große Adel in der Geschichte, wenn vom Aufruhr und dem Haupt desselben die Rede ist.
461
[232] [353]MAN sagt immer zu jungen und auch zu erwachsenen Leuten, sie sollten sich gute, große, berühmte Männer zum Muster vorstellen. Die Lehre ist gut und leicht gegeben. Wenn sie aber selbst kein Muster in sich gefunden haben und finden können, wohin sollen sie das fremde stellen? Um das Gute, Große sich vorzustellen, muß man es doch fühlen und denken können. Nachäffen kann es wohl mancher Bube, wenn er noch den Cornelius Nepos liest. Wo keine Quelle liegt, mag man immer mit der Wünschelrute den Boden berühren; und wenn das Erinnern an gute, große Männer auch solche Männer hervorbringen könnte, was hätte nicht Plutarch aus der Welt gemacht? Das wahrhaft Gute und wahrhaft Große weckt sich selber auf: Es ist da und steht auf eignem festem Grund. Verkennt sich ein solcher Mann [353] und läuft fremden Mustern nach, so nimmt er Schattierungen an, schiebt sich fremde Bewegungsgründe unter, beurteilt seine Lage falsch, bringt gewöhnlich etwas ganz anders hervor, als er hervorgebracht hätte, vertauscht eignen Wert für fremden und setzt noch obendrein den seinigen Gefahren aus.
Also soll man es ganz unterlassen? Das sage ich nicht. Aber so wie nichts angenehmer für unsern Geist und Herz ist, als auf einen großen und guten Mann zu deuten, so ist auch nichts bedenklicher, besonders wenn man es für einen andern tun, wenn man ihm den rechten Punkt andeuten und die Empfänglichkeit dafür in ihm erwecken will. Die Finger dazu hat jeder an der Hand; aber den Geist, der den Geist des großen und guten Mannes dem Geiste des andern darstellen will! – Gespenster, Zerrbilder großer Männer des Altertums und der neuern Zeit sieht man in allen Schulen – und in den Schulen nicht allein. Man bannt sie auch in den historischen Romanen für das erwachsene Publikum und leiert ihnen noch ein Lied dazu.
462
[354] [390]VON allen großen, außerordentlichen Menschen, um nur menschlich zu reden, die je gelebt haben, ist Christus der verkannteste. Mißkannt und mißverstanden von seinen Feinden, mißkannt und mißverstanden von seinen Schülern, von seinen Freunden, Verehrern, die ihm Macht, Ehre, Glück und den täglichen Unterhalt verdanken: so lebte, starb er, und so ist er's noch. Jeder deutet und zeigt auf ihn hin, von dem Papste bis auf den letzten, ärmsten Dorfpfarrer; aber wer in seinem Geiste? Und haben ihn seine Verehrer nicht in jedem gekreuzigt, den sie aus heiligem Eifer in seinem Namen schlachteten? Tun sie es durch Verfolgung da, wo sie es können, nicht noch täglich?
Nur wenige Weise erkennen ihn und schweigen, weil die Juden, die ihn kreuzigten, nicht mit mehr Blindheit geschlagen waren als die meisten auf seinen Namen getauften Christen.
463
[390] [116]WER den Großen und den Staatsbeamten überhaupt durchaus und in allem Konsequenz wünscht, der spricht den Völkern das politische Todesurteil. Nur die Inkonsequenzen sind es, die jene wieder etwas in die Gewalt des Volks bringen. Freilich muß das Volk die Inkonsequenzen meistens mit Gut und Blut bezahlen; auf der Konsequenz aber stände ein ganz anderer Preis. So gleicht sich das Widersprechendste in dieser Welt aus, und nur der wundert sich darüber, der alles aus einem Grundsatz leitet.
464
[116] [190]WENN man eine Hofintrige neben einer wichtigen Staatssache herlaufen sieht, sie gehe nun auf die Personen, die das Geschäft betreiben sollen, die Sache selbst oder auf beide, so kann man mit Sicherheit voraussagen, daß entweder die Sache ganz fallen oder in einer ganz andern Gestalt erscheinen werde, als man zur Absicht hatte. Die angewiesenen Personen müssen sie nun, um sich zu erhalten, selbst verdächtig machen oder, da sie sich durch die Intriganten zur Intrige getrieben fühlen, die Intrige auf Kosten des Geschäfts zur Hauptsache machen. Man wird hier auf die zwei Prinzipien der moralischen Welt, wo sich nicht das Böse nach dem Guten, sondern das Gute nach dem Bösen zu modifizieren scheint, sozusagen mit der Nase gestoßen. Aber was tut der Fürst dabei? Wie ist ihm zumute? Ist er ein Mann, so zerhaut er den Knoten. Ist er es nicht, so hat ihn die Intrige, ohne daß er es ahndet, zu ihrem Haupte gemacht. Hat er durch lange Erfahrung die Philosophie der Gleichgültigkeit erworben, die den Schwachen, dem es nicht an Verstand fehlt, sehr bald beschleicht, so denkt er: Sie wollen es so, es ist ihre und nicht meine Sache. Ludwig XV. zog sich, wie bekannt, mit diesem Spruch aus jeder Verlegenheit.
465
[190] [116]ES gibt Staaten auf dieser Welt und hat ihrer immer gegeben, wo das Gute wirklich zuzeiten durch Zufall, wohl auch durch Not geschieht. Diese Staaten verdanken also ihre Dauer nur diesem Zufall und dieser Not, doch ohne ihnen zu danken. Das Volk allein glaubt, das Ding sei doch noch da, der Wille dazu habe sich ja gezeigt; und so faßt es im seligen Glauben neue Hoffnung.
466
[116] [190]WENN mancher Staatsmann so viel Geist, Kraft und Zeit zum Besten des Staats anwendete, als er sich gezwungen glaubt, zur Erhaltung auf seinem Posten anwenden zu müssen, so könnte es ihm oft gelingen, einen festen Grund zur Erhaltung seines Postens zu legen. Aber wozu wird es ihm helfen, wenn die Erfahrung [190] ihm gezeigt hat, daß bei dem Fürsten, dem er dient, die Intrigen mehr ausrichten als dem Staate geleistete Dienste? Daß er doch später oder früher fallen muß, machte er auch immer des Staats Beste[s] allein zum Beweggrund seiner Handlungen? Ich würde antworten: Und gleichwohl stößt ihn die Klugheit selbst auf diese politische Regel; denn es wäre doch möglich, daß so etwas ganz Neues auch auf einen solchen Fürsten wirkte, wenn man schonend, gelinde und doch mit Kraft verführe; aber da gewöhnlich die Gegenwart für solche Leute alles ist und sie dieselbe so eilend zu benutzen wissen, als man sie dazu treibt, so würd' ich etwas Vergebliches mehr gesagt haben.
Zur weitern Erläuterung führe ich indessen nur die Antwort eines gewissen Staatsmanns an einen gewissen Fürsten an, der ihn beim Abschied für gewisse allzu starke und allzu kühne Erhaltungskniffe mit Vorwürfen in sehr bittern Ausdrücken beehrte. Der Staatsmann hörte sie gelassen an und sagte dann nach geziemender Verbeugung: »Könnten Ew. Durchlaucht ein Fürst ohne Hof sein oder Ihre Angehörigen, nebst Ihrer Durchlauchtigen Gemahlin, andern gewissen Damen und allen ihren und dieser Angehörigen, so in Ordnung halten, wie ich meine Angehörigen und meine Frau nebst ihren Angehörigen in Ordnung halte, so hätt' auch ich ein rechtschaffener, gerader, ehrlicher Mann sein können. Versuchen Sie es mit einem andern, und wenn er Ihnen nicht in Jahr und Tag dasselbe sagt, so denkt er es doch gewiß.«
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[191] [242]EIN gewisser Fürst, der gewöhnlich aus Vorliebe, Grille, Gunst oder auf Empfehlung eines Begünstigten seine Staatsbeamten anstellte, antwortete bei jeder Erinnerung, die ihm einer seiner nächsten Verwandten machte, der Mann habe nicht die Fähigkeiten und Kenntnisse zu diesem Platze: »Was er nicht weiß, wird er unter mir lernen.« Er hätte immer hinzusetzen können: »Ich bezahle ja das Lehrgeld nicht.«
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[242] [171]ZUM Glück der politischen Welt, wenn sie in Ruhe ist, und zu ihrem Unglück in aufrührischer Bewegung hat die Natur sehr wenige Menschen mit den seltenen Fähigkeiten und Geisteskräften ausgestattet, die zum Haupt einer Partei gehören. Die Französische Revolution selbst, die so vieles Außerordentliche hervorgebracht, kann diesen seltenen Charakter nicht zeigen. Um ihn zu beschreiben, muß man die große Liste der menschlichen Schwächen ganz überspringen und das Register aller Haupttugenden und Hauptlaster allein aufzeichnen; so tritt aus dem Gemische der Zerstörer und auch der Retter hervor.
469
DER Superfeine in der Politik liegt oft schon in dem Netze von gröbern Fäden, während er an dem seinigen für andre noch strickt. Der Feine wird von dem Gröbern, Gerade-, Ehrlich-, Treuherzigscheinenden überlistet, weil ebendiese Grobheit und Geradheit dessen Feinheit ist.
470
[171] [296]ICH will, wenn ich über einen Mann urteilen soll, nicht allein wissen, welche Tat er ausgeführt, sondern wie und durch was für Mittel er sie ausgeführt hat. Dadurch kann eine kleine Tat zur großen und eine große zur kleinen werden; auch sind oft bei der ersten mehr Schwierigkeiten als bei der letzten zu überwinden. Also das Wie, Wodurch, Warum, die Tat – und dann den Mann!
471
ES ließe sich eine so artige als erbauliche Unterhaltung zwischen zween Männern dichten, worin der eine dem andern von dem Menschen und den Gefahren des menschlichen Lebens erzählte, ohne daß er je starke Leidenschaften gefühlt hätte. Der andere könnte ihn zur Vergeltung von dem Meere und seinen Gefahren unterhalten, ob er gleich dasselbe nie befahren und gesehen hätte und es bloß aus Reisebeschreibungen kennte.
472
[296] [92]HÄTTE die Natur dem Menschen den Genuß der physischen Liebe nur auf eine gewisse Periode des Jahrs, wie den Tieren, erteilt, wodurch er also nicht Liebe, sondern nur Befriedigung eines gewaltsamen Bedürfnisses geworden wäre, so fehlte uns gewiß einer der stärksten und reizendsten Triebe zur gesellschaftlichen Ausbildung – wenn anders die Gesellschaft dann noch entstanden wäre. Was wäre uns ein Weib, das uns die Natur das Jahr nur einmal reizte? Was wären wir dem Weibe, dem sie uns nur einmal zuführte? Höchstens würden wir die übrige Zeit zusammen grasen. Das Gefühl des Geschlechtstriebes, das, wenn es einmal rege wird, immer rege bleibt und selbst im Alter nicht ganz ausstirbt, hat uns die Welt und die Natur verschönert; ihm danken wir die süße Täuschung, aus ihm entsproß das Gefühl der Liebe und der ihr verwandten Freundschaft. Es mischt sich in alle unsere geselligen Empfindungen auch da, wo wir es nicht ahnden; und wenn es durch die Ehe die Gesellschaft geordnet hat und zusammenhält, so verdanken wir ihm auch den einzigen Reiz, der weder von Macht, Stand, Ansehn noch Reichtum abhängt. Sobald dieser physische Trieb erwacht, entwickeln sich die schlafenden Fähigkeiten; die wahre Einbildungskraft, das wahre Geistige, das moralische Selbst streben auswärts, lösen sich, möchte man sagen, von ihren Banden, knüpfen sich an andre Wesen an, werden, schaffen und genießen. Hätte die Natur diesen Trieb auf einen Zeitpunkt festgesetzt, so folgte Einschlafen aller dieser Kräfte nach Befriedigung derselben, und wir ruhten nur von dem Sturme aus, bis er wiederum das Blut bewegte. Wie der Mensch der Natur für diesen Trieb, auf den sie so viel gegründet hat, dankt, beweist der Wahnsinn, womit ihre ungeratnen Söhne ihn zu verdammen wagten.
473
[92] [97]WER es in der Welt so weit gebracht hat, daß er aus Liebe zum Guten und Gerechten und aus Haß gegen das Schlechte und Gewalttätige gar nicht mehr in Hyperbeln [Übertreibungen] spricht, der wird auch keine Tat mehr wagen, die höher als die gewöhnliche Regel der Klugheit steht. Wenn man einen solchen Mann in der Not zur Hilfe auffordert, so hat er schon durch Ton und Blick gesagt, was man von ihm erwarten muß. Er spricht alsdann die bilderlose, reine Sprache, wodurch sich kalte Schriftsteller den Ruhm der Korrektheit erwerben.
474
[97] [296]BEVOR man im bürgerlichen Leben über die Leute abspricht, die man Überspannte betitelt (deren Zahl – im Sinn, wie ich sie nehme – gar klein ist), sollte man sich genau untersuchen, ob man nicht selbst allzusehr herabgespannt oder allzu klug sei. Wir finden im Juli und August die Sonne oft zu heiß und meinen, es sei auch mit weniger genug; aber ebendiese Hitze treibt die [296] Früchte zur rechten Zeit zur Reife; so bringt eine gewisse Überspannung in der moralischen Welt oft Früchte hervor, die nie erschienen wären, deren Keim wir gar nicht geahndet hätten. Da aber dieses Wort auch einen Narren bezeichnet, so sage ich nur, daß solche Leute wohl Narren in den Augen sehr kluger Männer sein können, daß aber wahrscheinlich die Klugen selbst, wenn solche Narren auf einmal ganz verschwänden, die Narren von Männern werden könnten, die noch etwas mehr als klug sind.
Da man gern über solche Märtyrer zum Besten der Gesellschaft herfällt, so sage ich noch, daß allzu scharfer Tadel gewisser Kraftäußerungen im Menschen das Menschengeschlecht selbst beeinträchtiget und daß die Allzuklugen bei ihrem Tadel ein wenig an sich selbst denken sollten.
475
ES ist ein großes Übel, daß das Streben nach Macht und Reichtum die Menschen auf dem Wege zu ihnen oft so verdirbt, daß man voraussagen kann: Gelangen sie zu ihrem Zweck, so werden sie dieselben gewiß mißbrauchen. Sie geben gewöhnlich ebendas von ihrem eignen Stock im voraus aus, was zum rechten Gebrauch das Nötigste und Beste wäre. Was sie aber dafür gegeben haben, kann man, da der eigene Stock des Menschen aus vielerlei besteht, nur dann erfahren, wenn sie es uns praktisch zeigen. Entweder haben sie die Theorie schon auf dem Wege erlernt, was dann ihr Geheimnis bleibt, oder die Theorie entwickelt sich aus der Praktik selbst.
476
ES ist wenigstens ein gewagter Schluß, den Menschen nach seiner Hauptleidenschaft, die er selten verbirgt oder verbergen kann, beurteilen zu wollen. Die Mittel, welche er zu ihrer Befriedigung anwendet, geben den Schlüssel zu dem Wert seines Herzens und seines Verstandes; aber diese zeigt er nicht, die muß man ihm ablauern, abstehlen, abgraben oder sonst suchen, wie man dazu kommt.
477
[297] [93]DIE Vernunft mag noch so stolz und anmaßend sein – alles, was sie denkt, allen Stoff, den sie verarbeitet, verdankt sie doch dem Herzen, den Sinnen und der Einbildungskraft. Zur Vergeltung hat sie das Spiel a priori ersonnen und sucht sich in das Eroberte als Eigentum zu setzen.
478
DA wir in der Sinnenwelt alles durch Täuschung oder einen wohltätigen, für uns eigentlich gewebten Flor sehen, so scheint uns dadurch die Natur auf die Täuschung in der geistigen oder Verstandeswelt vorbereitet zu haben. Wir sind mit der ersten Täuschung so zufrieden, weil wir den Vorteil davon täglich einsehen, daß man keine Klagen darüber hört. Warum sind wir es nicht mit der zweiten, die uns wohl noch nötiger ist? – Weil die Zufriedenheit hier wahrscheinlich nicht zweckmäßig war, weil das, was sie in ihren Schleier hüllt, die Aufgabe unsers Lebens ist.
479
[93] [413]WARUM treten heute keine Männer wie Mesmer, Gaßner, Lavater auf? Ist dieses Geschlecht ganz ausgestorben? Oder fühlen Männer dieses Geistes, daß Torheit und Schwärmerei nicht an der Tagesordnung sind? Ach nein, sie fühlen, was wir täglich sehen; die Philosophen haben sich ihres Eigentums bemächtigt, schwärmen durch die Vernunft; und um es recht zu können, töteten sie die Einbildungskraft und schufen aus ihrem eiskalten Leichnam die Einbildung.
480
[413] [501]AUF Voltaire schimpfen wir schon lange; Newton ist uns nun auch der Mann nicht mehr; an Buffon und Bailly haben wir gar vieles auszusetzen; mit Locke und Condillac ist es abgetan; Montesquieu ist zu weit zurück; Rousseau ist kein Philosoph; Diderot und Raynal sind Phrasenmacher, Deklamateurs; Gibbon,[501] Robertson, Hume hätten es wohl besser machen können; mit Laplace wird es auch nicht dauern – so sagen und urteilen große und berühmte, kleine und unberühmte Männer im deutschen Vaterlande. Was für große Männer müssen wir also im Vaterlande haben, da man uns über die genannten so belehrt, da diese denen so wenig g[e]nügen, die uns so eines Bessern belehren? – Also dürfte man die Fehler großer Männer nicht aufdecken? In der Art, sie aufzudecken, liegt die Sache; denn wenn man so schulmeisterlich meistert, muß man es besser machen können.
481
[502] [493]MERCIER hat sich nach Frankreich verirrt; nach vielen seiner Werke, alten und neuen Dramen, Moralien und Erzählungen zu urteilen, war er wirklich zum Autor für das große deutsche Publikum bestimmt. Auch hat er in Deutschland ein größeres Publikum als in dem Vaterlande, in das er sich verirrt hat.
482
[493] [250]ICH hatte ehemals wohl den Tacitus in Verdacht, er übertreibe ein wenig aus tiefem Gefühl und Haß gegen gewisse Dinge, was einem Geiste, wie der seinige, leicht widerfahren konnte und auch wohl verzeihlich wäre. Seitdem aber das Schicksal gewollt [250] hat, daß ich die Kommentare zu seinen Werken lebendig aufführen und vor meinem Geist vorübergehen sehen sollte, finde ich seine düstern Farben zuzeiten selbst nicht düster genug. Wohl dem, der nur von solchen Dingen liest und den Römer als Antiquar und Philolog kommentiert.
483
[251] [191]ICH kann es wohl begreifen, wie ein Mann, der von seinen Einkünften lebt, sonst artig oder liebenswürdig ist und weiter keine Ansprüche macht, ohne Feinde leben kann; wie dieses aber einem Staatsbeamten, von welchem Range er sei, der streng auf Pflicht und Gewissen hält, gelingen könnte, das begreif' ich nicht und möcht' es gern erfahren. Bisher schloß ich, wenn ich auch den Mann nicht kannte, aus dem Ton, den Klagen, den Vorwürfen, der Art der Beschuldigungen, den Feinden eines solchen Mannes [191] auf den Mann – auf sein Gegenstück aber aus dem Lobe, der Aufzählung und der Art der seinen Freunden geleisteten Dienste und habe mich noch nicht betrogen. Ich komme mit der einfältigen ersten Regel der Rechenkunst aus: So viele Feinde gewisser Art, so viele strenge Pflichterfüllungen; so viele Freunde gewisser Art, so vieles Vorbeischleichen an denselben. Die Feinde oder Freunde, die der Mensch – und nicht der Beamte – sich macht, diese streicht die Billigkeit.
484
DAS Empfehlen zu Posten und Ämtern, von dessen Beamten an- und untereinander, ist eine immer dauernde, immer wirkende Staatsverschwörung gegen ebenden Staat, dem sie vorstehen; und was das Sonderbarste ist; ohne daß sich die Verschwornen für Verschworne und folglich für Staatsverbrecher halten. Vielleicht wollen sie hiermit zeigen, daß sie doch ineinem Punkt aus gutmütiger Einfalt des Herzens handeln.
485
[192] [129]HAT man lange gelebt und beobachtet, so freut man sich wohl noch herzlich, wenn man erfährt, daß ein Fürst einen guten Gedanken faßt; aber zum Enthusiasmus läßt man es so leicht nicht mehr kommen. Man freut sich nur im stillen und wartet weislich [129] ab, was die Männer aus dem Gedanken machen, durch die er verarbeitet in der Wirklichkeit auftreten soll.
486
[130] [399]ZU allem ist Zeit vorhanden; aber zu nichts mehr als zum Enthusiasmus in dieser politisch-kultivierten, philosophischen Welt. Der Ekel, den öftere Täuschung dieser Art verursacht, teilt sich einem Teil unsers Wesens mit, auf welchen stärkende Magentropfen gar nicht wirken können. Wollt ihr sehen, ob einem [399] dieser Fehler bleiben wird, so beobachtet ihn nur, wenn ihm nach der Begeisterung die kalte, strenge Wahrheit des Ausgangs der Sache, die ihn begeisterte, erscheint. Hängt er die Flügel, tadelt er sich strenge, spricht er von Vorsicht auf die Zukunft, tut ihm die Täuschung um seinet-, nicht um der Sache willen weh, so schließt nur sicher: Der wird bald ein kluger Mann, er hat den Fehler nur im Kopfe. Steht aber der Mann mit strengem, auch wohl finsterm Blick vor ebendieser kalten Wahrheit, sieht er sie entschlossen, auch wohl mit Unwillen an, ärgert er sich wie einer, der an sich nicht denkt, empfiehlt er sich ihr endlich als ein Mann, den so etwas wohl grimmig, aber nicht irremachen kann, so sagt nur immer: Der Fehler wird ihm bleiben, er sitzt ihm tief. Und daraus wird nun endlich der weise Mann, von dem ich oben sprach.
487
[400] [356]DEN Alten verzeiht man vieles, die Natur nimmt ihnen zuviel ab; was ich ihnen aber nicht verzeihen kann, ist, daß sie die jungen Leute gar zu früh altklug machen wollen. Höre ich einen solchen Praktikus mit grauem oder weißem Kopfe mit selbstgefälliger Geschwätzigkeit einem Jüngling die rechten Lehren zum Glückmachen in der Welt erteilen und sich als Beispiel dazu aufstellen, so deucht mich immer, ich höre eine alte Kupplerin, die ein unreifes Mädchen zu etwas Gewissem beschwatzen will, wovon das Mädchen gar nichts weiß, weil die Natur darüber noch kein Wort zu ihm gesprochen hat.
488
[356] [130]FÜRSTEN, die nur gute Nachrichten hören wollen und denen die Diener die schlechten verschweigen müssen, um nicht verhaßt zu werden (bis das Schweigen für beide Teile gar zu gefährlich wird), vergessen wenigstens das Patent, das sie von Gott zu ihrem Fürstentum und Fürstenwesen auf die Welt gebracht haben wollen. Sie sollten doch bedenken, wie viele schlechte Nachrichten ihr Oberherr von uns und auch von ihnen selbst erhält (auch den gemeldeten Umstand könnten sie dazu rechnen), bis eine einzige gute zu ihm gelangt, wie lange das nun schon währt und was er noch an den wenigen seltenen guten Nachrichten auszusetzen finden mag.
489
DIE Geduld, welche gewöhnlich in den Geschäften des Staats einer mit dem andern hat, kann alles sein: Berechnung auf das gleiche Betragen, Bewußtsein eines Fehlers oder Mangels, Anerkennen einer allgemeinen Schwäche des Menschengeschlechts, Verlangen, sich beliebt zu machen, Schwäche des Kopfs und des Herzens unter dem Namen der Güte und Nachsicht, Furcht – alles, was man will; nur Tugend kann sie niemals sein und heißen: denn sie wird immer zum Nachteil des Dienstes und der zu betreibenden Sache ausgeübt. Es gibt sogar der Fälle viele, wo man sie Staatsverbrechen nennen möchte.
490
DER Mann, der zum erstenmal das Wort »Tugend« klar dachte und warm aussprach, hat dem Menschen das Diplom des Adels ausgestellt und das rechte Wort dazu gefunden. Die Roturiers dieser Art mögen nun machen, was sie wollen, das Diplom werden sie wenigstens nicht zerreißen; denn die Bewachung des Archivs, wo es verwahrt liegt, wird ihnen nie vertraut werden, [130] sosehr sie sich auch darum bemühen mögen. Die Fürsten haben dieses Diplom politisch nachgestochen; das konnten und mußten sie als Fürsten, es bewährt sich aber für uns nur durch jenes echte.
491
[131] [505]DIE Sprache konnte wohl dem Menschen in der gesellschaftlichen Verbindung kommen, aber die Rede dem Auge und dem Verstande durch ein Alphabet zu versinnlichen, dieses scheint dem Nachsinnenden Götterwerk. Da es aber gewiß, wie jede andre Entwickelung unserer Geistesfähigkeiten, Menschenwerk ist, so beweist es doch, daß der Mensch wirklich mehr ist, als ihm selbst mancher gute Kopf heute zugestehen will. Der Mensch hat in dieser Art wirklich so viel Göttliches ausgeführt, daß mich [505] die Vergötterung seinesgleichen gar nicht wundert. Damit aber das Göttliche um so schöner aus dem Dunkel herausstrahle, mußte und konnte das Teuflische und das Verteufeln anderer auch nicht fehlen.
492
[506] [477]ALLE wohldenkende[n], um die Menschheit besorgte[n] Schriftsteller sollten die Propheten religiöser und politischer Art zu einem Gegenstande besonderer Aufmerksamkeit machen; denn alles, was sie gegen solche Toren tun, ist eine Wohltat für die gegenwärtigen und künftigen Geschlechter. Der unwissende Weissager Ziehen ist schon lange gestorben, und gleichwohl könnte ich, nur von einigen Jahren her, den authentischen Fall erzählen, daß eine seiner Wahrsagungen, von einem kühnen und gefährlichen Geist zur rechten Zeit, am rechten Ort gebraucht, einen so entscheidenden Einfluß auf eine gewisse Weltbegebenheit gehabt hat, daß dem Leser, wenn ich jetzt deutlich reden [477] möchte, das Herz ächzen würde; und wär' er ein Mann von Humor, so würde ihm das Lächeln gewisser Art, womit man die Götter des Tuns der Menschen wegen höhnt, auch nicht ausbleiben. Die Weissagung reizte nicht allein zur Tat, sie unterstützte auch dabei; die Folge war freilich wie die Folge aller dieser Torheiten; aber die dafür bezahlten? die dadurch litten? So ein Tor begeht Verbrechen an der Menschheit, wenn er schon Staub geworden ist. Darum nieder mit solchen gefährlichen, stolzen Narren, die die Gottheit lästern, indem sie glauben, sie habe ihnen, den elenden Wichten, den Vorhang vor ihren Geheimnissen weggezogen! Ins Narrenhospital mit ihnen und auch dort in eine einsame Kammer, damit sie allein Narren bleiben! Für den Spott sind sie zu schlecht, und er hat noch keinen geheilt.
493
[478] [336]»SEI Freund, als ob du Feind werden könntest, und Feind, als ob du Freund werden könntest!« ist eine von den klugen Vergiftungsregeln, die ebenso abscheulich als durch die Erfahrung praktisch nützlich sind. Wer sie aber abscheulich findet, dem helfen sie zu nichts; die andern befolgen sie, wenn sie dieselbe noch nicht kennen. Sie kennen nur einen Freund; und dieser nahe Freund hat nicht allein mehr Augen als das Ungeheuer der Fabel, welchem Jupiters eifersüchtige Gemahlin die Nebenbuhlerin zur Aufsicht übergab; er ist auch seiner Pflicht so getreu, daß selbst die süßeste Musik der Flöte Merkurs, und käm' noch Apollo mit seiner Laute hinzu, seine hundert und mehr Augen nicht zum Schlummer zu bringen vermöchten.
494
NOCH ein kleiner Vergiftungsspruch: »Schmeicheleien kosten nichts!« Wahr! – wenn man seinen und anderer moralischen Wert für nichts rechnet.
495
[336] [425]WER die Tugend zu sehr als ein Abstraktum oder als ein volles, rundes, schweres Ganze ansieht und mit dieser steifen, strengen Anschauung tätig in der Welt sein will, der setzt sich zweierlei Gefahren aus: entweder daß sie ihm mit ihrem Gewicht so schwer wird, daß er sich darunter nicht bewegen kann und die andern durch den Anblick seiner Last niederdrückt, oder daß er, um sich die Last leichter zu machen, an gedachtem Ganzen so lange vereinzelt, zergliedert und verkleinert, bis sich aus den Trümmern gar nichts mehr zusammensetzen läßt. Um auf seinem Schwerpunkt zu stehen, bedarf man keiner Rüstung; auch die leichte, sanfte Gestalt einer Grazie ruht darauf. Ein tugendhafter Mann kann sich gar so leicht bewegen, daß ihm der [425] Zuschauer nur im Augenblick des Bedürfnisses und der Not ansieht, er sei unter seinem Gewande bewaffnet.
496
[426] [233]NEUE Menschen wirken auf keinen Menschen mehr und über das rechte Maß als auf die Fürsten. Die alten, die sie täglich sehen, kennen sie in Beziehung auf sich schon auswendig, und keiner von diesen kann mehr eine lebhafte Empfindung in ihnen erwecken. Nur ein neuer Ankömmling vermag es noch. Da nun Fürsten doch auch empfinden wollen, weil dem Menschen das Empfinden wirklich einige angenehme Minuten machen kann, so ist für den neuen Ankömmling nichts gefährlicher als diese plötzliche Aufwallung der Freude, des Vergnügens, der Hoffnung, der Versprechungen und Einladungen. Es ist das Wetterleuchten eines Enthusiasten, für den der Enthusiasmus gar nicht gemacht ist, weil der Enthusiasmus es für ihn nicht ist, weil er für ihn weder geboren noch erzogen werden soll. Vergißt dieses nun der neue Ankömmling in der Bezauberung oder hat er noch nicht die Erfahrung gemacht, ahnden oder wissen zu können, wem eigentlich diese Aufwallung zuzuschreiben sei, schreibt er sie wirklich seinem empfehlenden Äußern und dem Anerkennen seines innern Werts zu, so wird er bei der zweiten, dritten Aufwartung in seinem Traum ein wenig irre werden und bei den folgenden vermutlich ganz daraus erwachen. Und dies ist für den Fürsten und den neuen Ankömmling gut. Dem ersten nützt nicht, was man gemeiniglich engouement nennt; und der zweite bezahlt es gewöhnlich über seinen Wert.
497
[233] WER an einem großen und noch mehr an einem kleinen Hofe Glück zu machen sucht, ohne vorher die Situationskarte des Landes mit allen Bergen, Hügeln, Tälern, Ebenen, Gräben, Gebüschen, Morästen usf. aufs sorgfältigste aufzunehmen und sich recht zu vergegenwärtigen, der kommt mir wie ein Feldherr vor, der in einem sehr kupierten Lande den Krieg nach einer Homannschen Karte führen wollte. Die Namen der Städte, Burgen, Schlösser und Dörfer findet er darauf, das übrige wird er mit seinem Schaden näher kennenlernen. Der Lohnlakei, die Klatscher und Windbeutel, das Pöbelvolk des Hofs und der Stadt, dem Geiste nach, werden meinem Glücksjäger auch den Namen der Hauptpersonen nennen und sogar noch mehr als Homann tun: Sie werden jedem die in den Straßen laufenden Anekdoten in Gutem und Bösem anhängen; aber er entwerfe nur seinen Plan darnach!
498
[234] [336]WER da sagt: »Ich traue keinem Menschen«, traut den Menschen schon insoweit, daß er glaubt, man könne ihnen so etwas ins Gesicht sagen. Er wird schon weiter gehen oder weiter geführt werden, als er gehen wollte, da man seinen Leibspruch kennt.
499
[336] [308]WENN es Prediger gibt, die, um ihre Gemeinde von der Sünde des Fleisches zu heilen, immer mit Gottes Wort dagegen donnern, so gibt es auch Ärzte, die immer damit anfangen, daß sie ihren Kranken ein Vomitiv und dann eine Purganz verschreiben. Beide sind Menschenkenner, die der gemeinen Heerstraße folgen, auf welcher der größte Haufen wandelt, solange er es vermag. Auch machen beide Artikel genannten Kunstverständigen das Handwerk leicht: Es ist ein ewig stehender Text und ein ewig laufendes Rezept.
500
[308] [282]IST die Menschenkunde eine Wissenschaft? Kann man sie aus Büchern lernen? Wenn man die Zeit in Anschlag bringt, die zu ihrer Erlernung gehört, und gewisse Kosten berechnet, die sie veranlaßt, so möchte man sie wohl eine Wissenschaft nennen.
[282] Ob man sie aber aus Büchern lernen kann? Warum nicht? So wie die Naturgeschichte aus Linné, Buffon, Réaumur, Lacépède usw., wenn man die Tiere, Insekten, Vögel, Pflanzen usw. in schwarzen Bildern und in Beschreibungen gesehen und gelesen hat; nur daß hier der Irrtum für den so Gelehrten unschädlicher ist. Die Bücher von der sogenannten Menschenkunde beschreiben uns den Menschen wohl innerlich und äußerlich, sagen uns auch ganz deutlich: Der Mensch ist das und das, handelt so und so, aus diesem und jenem Triebe, dieser oder jener Ursache, kann so handeln, muß so handeln – das Wie, Warum allein fehlen nur. Nur der, welcher die Menschen lange handeln gesehen und recht aufgemerkt hat, der kann die Elemente, Regeln, Maximen, Züge, Beschreibungen beim Lesen zu Fällen machen, das heißt, beleben, dramatisieren; und hätte er auch keinen andern Nutzen davon, so genießt er wenigstens das Vergnügen, längst vergangne Szenen geistig zu wiederholen. Es ist hier überhaupt wie mit vielen diesem Punkte verwandten Dingen. Es kommen Seelen oder Geister auf diese Welt, die von Haus aus in einen Flor eingehüllt zu sein scheinen; alle Anstrengung, ganz hell zu sehen, ist für sie verlorne Mühe. Diesem und jenem fliegt eine Seele mit so hellen Augen zu, daß er ohne alle Mühe sieht, und zwar Dinge, wovon jene gar nichts ahnden. Die ganz Blindgebornen sind die Seligen der Welt, und diese helfen sich mit dem Tasten und Fühlen durch das Leben.
501
DIE von sich selbst und ebendadurch von andern am ärgsten Betrogenen sind ebendiejenigen, die von ihrer großen und tiefen Menschenkenntnis so überzeugt sind, daß sie nicht allein damit laut prahlen, sondern fest glauben, sie könnten sich nie in einem Menschen irren. Solche Leute bezahlen täglich das Lehrgeld und nennen sich immer Meister in der Kunst. Ihre Eitelkeit dreht einen dicken Strick zusammen, den jeder darum so leicht ergreifen kann, weil ihr Stolz ihn für einen feinen, gar unsichtbaren Faden hält.
502
[283] IST die Menschenkenntnis auch allen nötig? Hinter dem Pfluge, in der Schmiede kann man sie entbehren, wenn man für den Meister arbeitet, seine Ware nicht selbst verkauft und so gesunden, starken Leibes ist, daß man der Gunst des Meisters entbehren kann, weil der gesunde Arbeiter immer einen findet, der ihn braucht und bezahlt. Dieses läßt sich indessen nicht auf Sklaven anwenden; denn diese sind, soviel ich weiß, die zuverlässigsten Menschenkenner – aber welch eine Menschenkenntnis! Wenn jemand die peinliche Arbeit übernehmen wollte, eine Galerie ihrer Herren und Herrinnen nach ihrer derben Malerei auszumalen, so würde er, wenn er nichts hinzusetzte und ausließe, ein Werk zur Geschichte des moralischen Menschen liefern, gegen das jedes andere dieser Art nur ein Narrenspiel ist.
503
UND wer ist nun der Hauptlehrer der Menschenkunde? Erstlich die Selbstliebe, wenn man sie ehrlich, billig für sich und andere behandeln will, da sie ganz auf wechselseitiges Bedürfnis gegründet ist. Das Verlangen, über seinen und anderer Wert richtig zu urteilen, mischt sich dann wohl auch darunter. Kommt dies Verlangen wirklich hinzu, so ist der Geistesgenuß noch obendrein der Lohn. Zweitens, wenn man es nur ehrlich und billig mit sich selbst meint, der Egoismus, der sich nicht um den Wert, um den Genuß, sondern bloß um die Sache, die man dadurch gewinnt, bekümmert, der das Bedürfnis zu einem hohen Luxus gebracht hat, in dem nur er zu schwelgen denkt. Von dem dritten, dem hohen Zweck, sich und andere dadurch zu bessern, schweige ich, weil ich daran glaube und weil man andern das nicht beweist, woran man glaubt, man müßte denn erst überzeugt sein, daß der auch daran zu glauben fähig sei, dem man es beweisen will.
Von Hof-, Welt-, Staats- und Geschäftsleuten rede ich gar nicht, weil diese gewöhnlich nichts anders von dem Menschen kennen und in ihm achten, als was ihr hohes Interesse an ihm beleuchtet; die übrigen Eigenschaften sind meistens für sie unnütze und folglich[284] dunkle Seiten. Wer recht schiefe Urteile über Leute von der dritten Art – als über gelehrte, gute, rechtschaffene, einfache, ja auch sogar über große, berühmte Männer und Genies – von ihnen hören will, der merke auf, wenn sie vom Verdienst, vom Wert des Menschen oder der Menschen überhaupt in ihren Gesellschaften oder bei Geschäften reden. Aber wer sie selbst kennenlernen will, der merke noch genauer auf, wie sie sich ihren eignen Wert und ihre eignen Verdienste malen; da strahlt ein Licht, daß es den Einfältigen wirklich verblenden könnte. Da nun diese gewöhnlich die Lehrer der Fürsten in der Menschenkunde sind, so sterben auch viele Fürsten dahin, ohne den Menschen gekannt zu haben. Daraus entsteht nun zuzeiten ein ganz sonderbarer Kampf zwischen dem Fürsten, der so gelehrt worden, und dem Fürsten, der doch auch zuzeiten anders fühlt. Er empfindet oft etwas, das den Lehrern widerspricht; da diese aber dafür sorgen, daß er nie zur wahren Kenntnis gelange, so stirbt er in einem unruhigen Traume und das mit einer Seele hin, die ihm ganz unbekannt geblieben ist. Viele Totengespräche weiser Leute beweisen das, und es wäre darum nicht übel, wenn mancher Fürst sie hinter dem Rücken seiner Lehrer läse.
504
WOZU alle die strengen Beobachtungen und Bemerkungen an dem und über den Menschen? Das Leben ist ein Spiel: Je weniger man daran denkt, was man treibt, je unterhaltender ist es, je mehr genießt man! Wahr ist es, das Leben der Kinder ist ein Spiel, und nie spielen sie munterer, eifriger, heiterer und mutiger, als wenn die Alten, Vernünftigen ihnen zuschauen und sich daran ergötzen. Treibt es denn auch so, und wir wollen schweigen, uns ergötzen; nur laßt das nicht weg, was das Spiel der Kinder den Alten so angenehm und erfreulich macht. Dann müßte der ein Tropf sein, der euch daran hinderte. Es ist nur der Einsatz des Spiels, der uns so nah angeht und uns so aufmerksam macht.
505
[285] [380]NACH dem System Epikurs und manches andern kümmern sich die Götter nicht um uns. Aber warum kümmern sich denn die um die Götter, die dieses, lehren und denen es andere nachsagen? Wem sie nichts sind und sein können, der sollte sie wenigstens in Ruhe lassen und, wenn er es kann, sich selbst ein unbescholtner Gott werden. Aber hierin scheint eben die Schwierigkeit für manchen zu liegen.
506
[380] [298]MAN fühlt den hohen Wert der Tugend nie tiefer, als wenn man auf Menschen in dem Augenblick stößt, da sie eine sehr gute Tat vollführt oder ein Verbrechen begangen haben. Es ist aber nicht genug, sie nur physiognomisch oder physiologisch und pathologisch anzustarren; man muß sie in dem Geiste ansehen, den ich hier andeuten will. Hier wirkt ein Blick, eine Betrachtung dieser Art mehr als die wohlgeschriebensten Lehrbücher von der Ethik des Aristoteles bis auf die Tugendlehre Kants. Demnach müßten nun die Richter, da sie die meisten Verbrecher, Schurken und Bösewichter unter allen Farben des geängstigten Gewissens sehen, durch lange Praktik die tugendhaftesten Männer sein und werden. Aber vielleicht fehlt es ihnen am Gegenstück dazu, da man nach guten und edeln Taten vor ihnen nicht zu erscheinen pflegt. Der ärgste Bösewicht muß überdem von Rechts wegen einen Advokaten als Verteidiger haben, und diesem macht es sein Beruf zur Pflicht, für das scheußlichste Verbrechen Entschuldigungen auszusinnen, wenn er es nicht mehr leugnen kann – ein so scheußliches als nötiges Geschäft, das aber auf Advokat und Richter nicht ohne eine gewisse Wirkung bleiben kann.
507
[298] [217]SO nützlich die Klugheit im Leben auch sein mag, so ist es doch am Hofe und unter den Großen nicht genug, klug zu sein; man muß auch noch die Klugheit besitzen, seine Klugheit nicht zu zeigen – oder davon nur soviel zu zeigen, als in dem oder jenem Fall unumgänglich nötig ist, und auch das noch mit der größten Behutsamkeit. Der recht Kluge muß außerdem noch die Kunst verstehen, wenn er vor den Mächtigen und Großen steht, seine eigne Klugheit ganz zu der ihrigen umzubilden; alles, was er sagt, vorträgt und in den Horchenden legt, so einhüllen, daß es nun der Horchende als das Seinige in den vor ihm Stehenden und ihn bewundernd Anhörenden niederlegen kann. Auf diesem Wege kann es sogar einem rechtschaffenen Manne gelingen, etwas Gutes zu wirken. Ebendies ist es nun, was das Leben am Hofe mit den Großen und Staatsleuten für den Kleinern in Geschäften so unsicher und gefährlich macht; und das Opfer, das man von ihm fordert, geht wirklich stark gegen den innern Menschen; er muß nicht allein den Stolz, die Eigenliebe, die Eitelkeit des Mächtigern mit seinem Stolz, seiner Eigenliebe, seiner Eitelkeit, seinen Kenntnissen und dem Bewußtsein davon füttern, er muß auch noch ganz ohne dieselben vor ihm zu stehen scheinen. Wen aber dies zu stark empört, der ist für ein solches Leben nicht gemacht; er weiß noch nicht, daß man den Mächtigen und Großen nur dadurch, daß man ihm alles zu geben scheint, was man besitzt, leiten und beherrschen kann.
508
SO mögen es manche Staatsleute auch wohl leiden, daß in dem Manne mehr stecke, als er ihnen zeigt. Sie haben das Vergnügen des Geistes, ihn zu durchschauen, das noch höhere, ihn durch die von ihm anerkannte Macht über ebendiesen Geist in Schranken [217] zu halten, und noch den Vorteil, ihm den Lohn durch einen Blick zuzeiten zu gewähren, ihm dadurch merken zu lassen, daß sie wirklich so etwas in ihm vermuten; der Blick selbst aber ist solcher Art, daß man darin deutlich lesen kann, der ihn Schenkende habe seinen Lohn schon im voraus abgezogen und gewähre nur den Rest. Nur mit dem, den sie im Kabinett, auf Promenaden, am Tische (wenn die Gesellschaft aus sichern Freunden besteht) aussaugen, den sie also zu nichts anderm gebrauchen wollen, dem gestatten sie nicht allein Stolz, Eigenliebe und Eitelkeit; im Gegenteil: Sie sind so freundlich gut gesinnt, daß sie dieselben noch dazu reizen. Wenn der Topf überlaufen soll, vermehrt man das Feuer, um gemein zu reden. Ist der Mann endlich so übergelaufen, daß all sein Vorrat versprudelt ist, so mag man ihm die Diskretion empfehlen; dadurch sichert er sich wenigstens des Lebens Unterhalt, ein freundliches Gesicht und bei Gelegenheit das Vergnügen, über das gefragt zu werden, was man entweder vergessen hat oder was aus der Schule in den sich ereignenden Umstand nicht passen will.
509
EIN artiges Spiel ereignet sich zuzeiten, wenn plötzlich ein rechtschaffner Mann von Kenntnissen und Fähigkeiten, der von allem Obigen nichts weiß, die Gunst eines Fürsten gewinnt und dieser ihm mit Wärme ein dem Staat nützliches Geschäft überträgt, worüber er sich aber mit dem Minister unterreden soll. Natürlich tritt nun jener vor den Mann mit allem dem Zutrauen, dem Glauben und dem Selbstbewußtsein und auch der Wärme, welche der Fürst, die gute Sache und das Vertrauen ihm einflößen. Er drückt sich also gerade, frei, rund und gewiß dringend aus. Ergrimmt und erstaunt nun anfangs letzterer über diesen Mann, so wird zuletzt der Mann selbst im Erstaunen kein Ende finden und kaum wissen, über wen er eigentlich ergrimmen soll. Er spielt wirklich eine Zeitlang für viele Leute die lustige Person in einem Possenspiel, das er allein für ein ganz ernsthaftes Drama hält. Und da man ihn am Ende abtreten läßt, ohne laut [218] zu lachen, so kann er zu der Rolle der lustigen Person auch wohl zum zweitenmal gelangen. Vielleicht, daß er dann endlich ausfindet, nur er trage die Narrenjacke.
510
[219] [225]DAS, womit es dem Fürsten wirklich ernst ist, wird über Nacht und Tag ein Paradewort an seinem Hofe. Er sei tugendhaft, so bringt er plötzlich die Tugend in der Leute Mund. Hat er sie nun recht im Herzen und hört sie mit dem Herzen allein von den Lippen andrer, so muß er endlich, wenn er die Tugendredner für ihr Bekenntnis doch gar zu sonderbar handeln sieht, durch eine Art ganz neuer Heuchelei das Wort etwas um seinen Kredit und dadurch um den Kredit auf sich selbst zu bringen suchen. Der Fall ist vielleicht weniger selten, als er es auf den ersten Anblick zu sein scheint.
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[225] [390]ES gibt Leute, die so gutmütig fromm sind, daß sie sich recht herzlich betrüben können, wenn sich die Geistlichen gar zu menschlich aufführen. Ich bin ganz anderer Meinung; und ohne mich eben über ihre allzu menschlichen Schwachheiten, Gebrechen – und was man sonst noch will – zu freuen, so kann ich doch nicht anders, als den Laien ein wenig darüber Glück zu wünschen. Hätten jene, wie die gutmütigen Leute zu wünschen scheinen, immer den ehrwürdigen, leidenschaftlosen, liebevollen, um das Glück, die Ruhe, Zufriedenheit der andern besorgten Geistlichen nur erträglich vorgestellt oder nur um der Herrschaft willen geheuchelt und sich von gar zu menschlichen Schwachheiten und zu groben Gebrechen rein gehalten, sie würden das Menschengeschlecht ohne alle Rettung geistig und körperlich unterjocht haben. So sichert nun jede ihrer Torheiten – und was sonst Arges von ihrer Seite kund wird – die fernere Freiheit des Menschengeschlechts. [390] Führten nicht die Laster der Geistlichen die Reformation herbei und salbten dem wackern Luther den Weg dazu? Hätte Choiseul mit der Pompadour den Jesuiten beikommen können, wenn sie am Ende ihrer Tage nicht den Menschen gar zu stark, zu unklug und zu öffentlich gezeigt hätten? Solange sie bloß Jesuiten waren, gingen sie vorwärts auf dem Wege zu jener Herrschaft; und hätten sie früh die Kunst verstanden, die andern Ordensgeistlichen zu ihrem Zweck so zu bezaubern und zu gewinnen, wie sie die Könige, Gemahlinnen und Mätressen bezauberten und gewannen, wie stände es mit der Menschenfreiheit? Der feine, verachtende Stolz, die studierte List, der zu offne Zweck, ihre Gegner überall zu verdrängen und allein zu herrschen, von ihrer Seite; der gröbere, heftigere Stolz, der offen laut erklärte Krieg, der alte Besitz der Herrschaft und das eingebildete Recht darauf, von seiten ihrer Gegner, retteten die Laien. Wer ohne die äußern Zeichen der Macht und dem, was aus ihr fließt, herrschen will, muß aufhören, Mensch für diese Erde zu sein, wenigstens den Schein davon an sich tragen.
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[391] [65]WIE sehr bei dem größten Teil der Menschen Eitelkeit und törichter Stolz den Herrn spielen, beweist auch: daß viele in ihrem Innern besser mit denen zufrieden sind, die ihnen eine Bitte höflich, schmeichelnd, mit Anerkennung ihres Werts und ihres Rechts zur Sache abschlagen, als mit denen, die ihren Wunsch ohne alles Wortgepränge, ohne weitere Auszeichnung erfüllt haben. Gegen diese halten sie die Dankbarkeit beinahe für überflüssig; sie taten es ja so grad und kalt, als habe es sie nichts gekostet; jenen glauben sie doch etwas für die besondere Achtung und Auszeichnung schuldig zu sein. Es ist also sehr natürlich, daß die Großen, wenn ihnen etwas an so einem wohlfeilen Ruf liegt, für die Kleinen mehr mit schönen Worten, schmeichelnden Versprechungen und geheuchelter Anerkennung ihrer Verdienste als mit Taten tun.
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DAS größte Zeichen der Verderbnis in großen Städten sind nicht die Laster, die man wirklich begeht: daß man sich laut und öffentlich derer rühmt, die man nicht begangen, die zu begehen man die Kraft, den Mut nicht hat.
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SOLANGE die Leidenschaft nur noch in dem Herzen, in dem Blute eines Menschen stürmt und seine Vernunft ganz übertäubt, weiß man noch, wem man ausweichen muß, was man zu vermeiden hat. Hat sie aber einmal die Vernunft so in ihr Interesse gezogen, daß diese ihr Diener wird, indem sie ihr eignes Geschäft zu tun wähnt, so stellt dieser gefährliche Sophist zum Besten des im Hinterhalt lauernden Tiers Fallen aus, vor welchen der Vorsichtigste selbst nicht immer sicher ist.
515
[65] [25]MENSCHENVERACHTUNG fängt immer mit dem Bekenner derselben selbst an, so stolz sie sich auch gebärden mag. Man beweist, daß man ein Gebrechen in sich entdeckt hat, das dazu berechtigt; die üble Laune darüber läßt man an andern aus. So möchte gern der Stolze dieser Art einen Vorhang vor das Geheimnis ziehen, welches sein Gewissen aufgedeckt hat; und wenn's möglich ist, sucht er sich noch als biederer, aufrichtiger Menschenkenner aufzudringen.
516
WER auf dem großen Welttheater glaubt, die erlernte und tief studierte Verstellungskunst sichere ihn vor allem Erkennen, der muß sich auch für den einzigen Schauspieler in der Komödie halten. Wo alles Rollen spielt, hält man auch wohl die Rechtschaffenheit für eine Rolle, und wer hierin für natürlich gehalten werden will, muß starke Proben davon abgelegt haben, wenn er die Mitspielenden davon überzeugen will.
517
WENN der Juwelier, um einen fehlerhaften Edelstein zu heben, die Folie dahinterlegt, so zieht der Weltmann durch sorgfältige Ausbildung seines Körpers die Folie vor den Stein. Beide wollen Fehler durch täuschenden Glanz verhüllen, und beiden gelingt es bei den Nichtkennern.
518
[25] [187]WENN man an einem Hofe die Cour besucht, so sieht man lauter Freunde – liebliche, zuvorkommende Gesichter; die Größten und Mächtigsten erheitern sich da etwas, und es werden Leute von ihnen höflich begrüßt, die gar nicht begreifen können, wie sie zu der Ehre kommen. Ist die Cour vorüber, so fährt alles auseinander; jeder erinnert sich seiner wahren Verhältnisse wieder und um so lebhafter, weil sie während des glänzenden, freundlichen, liebreichen Tumults ein wenig übertüncht oder durch die schöne Harmonie etwas eingewiegt worden sind. Der Fürst weckt freilich schon manchen Großen früher auf, wenn er mit einem andern länger und freundlicher als mit ihm spricht, aber noch mehr, wenn er ernsthaft mit dem andern spricht: Dies deutet auf ein Verständnis, das man schnell ausfinden muß.
519
[187] [317]MICH wundert nicht, daß es unsern Staats- und Geschäftsmännern so schwer fällt, einen festen, ernsten, gehaltnen Charakter aufzustellen, zu behaupten und durchzuführen; sie haben es heutzutage nicht mit den Männern allein zu tun, sondern auch mit den Weibern, die, wo es noch so ziemlich geht, die Herrschaft der politischen und bürgerlichen Welt nur mit uns geteilt haben. Zu den Zeiten, da die Weiber noch ganz auf das häusliche, innere Leben beschränkt waren und es ohne Verlust der Ehre nicht verlassen durften, hatten es solche Männer doch nur mit dem Teil des menschlichen Geschlechts zu tun, der der Kraft achtet, weil er darauf sein Dasein gründet. Der Krieg wurde demnach mit gleichen, allen bekannten Waffen geführt, und gewisse Schwächen bedurften der Verteidigung nicht. Jetzt wäre mancher noch glücklich, wenn er es mit Männern und Weibern zu tun hätte; viele haben es nur mit Weibern zu tun und mit Männern, die die Weiber schon lange im moralischen Sinn entmannt haben.
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WAHR ist es, die heutige Herrschaft der Weiber in der hochkultivierten Welt hat unsern Lastern eine leichtere, gefälligere, graziösere Gestalt gegeben. Die Laster jener Zeit waren roh, schamlos, empörend frei und unverhüllt, und wenn sie zum Gegengewicht auch ganze, durchgeführte Tugenden vorzeigen können, so setzen wir ihnen eine größere Zahl von Halbtugenden entgegen und stehen als Sieger da. Unsre Weiber werden uns [317] hier nicht widersprechen, da wir diese Halbtugenden in ihrer Schule gelernt haben und uns darin üben müssen, wenn wir sie nicht zur Verschwörung gegen uns reizen wollen.
Gleichwohl gibt es auch heute noch Männer, die so hoch gestimmt sind, daß sie auf Gerichtsbänken, in Geschäften, am Hofe, im Staatsdienst, ohne die Gefahr für sich zu achten und zu fürchten, Eifer, Treue, Kühnheit zeigen, wenn sie im Enthusiasmus ihrer Weiber vergessen und nur an ihre Pflicht und Ehre denken. Müssen sie aber vor der Ausführung der Tat nach Hause gehen und ist nun am folgenden Tag ernstlich die Rede von der Ausführung des Wagstücks, so vernimmt man aus ihrem Tone, was sie für Weiber haben, wie diese sie in die Schule genommen und während des Unterrichts behandelt haben.
521
DIE Weiber wollen immer bei allem das Reelle gewinnen, weil sie am meisten brauchen; gewisse Dinge, die wohl der Mann noch für Gewinn und hohen Gewinn im Leben hält, haben keinen oder wenig Reiz für sie. Die Königin, unter deren Herrschaft sie selber stehen, weiß damit nichts anzufangen. Nur wenn der Mann über andere steigt und sie sich dadurch im Rang über andere Weiber erheben können, rechnen sie es für Gewinn – und sollte es das Reelle selber kosten!
522
DA die Weiber weder Charakter haben, haben sollen noch haben können (denn sie setzen sich nur durch Erkünstelung in gewisse Charaktere und sind dann gefährlicher als wir), so ist er auch ebendas, was sie an den Männern nicht vertragen können. Besteht der Mann darauf, so ist er die Hauptquelle des häuslichen Kriegs, die Gemahlin wirft ihn ihm als Eigensinn, Rechthaberei, Stolz, Despotismus vor, deutet auf Sanftmut und Gefälligkeit, wodurch sich das schöne Geschlecht zum Glück der Menschheit auszeichnet; hat sie ihm aber den Charakter nun endlich ganz ausgezogen, so nimmt sie nicht den Charakter, sondern[318] gewöhnlich alles das gegen ihn an, was sie ihm vorher zum Vorwurf machte. Klagen nun zwei Weiber in schwesterlicher Vertraulichkeit über ihre Männer, so schließt man selten fehl, wenn man denkt: die Klagenden sind noch nicht ganz mit dem Charakter ihrer Männer fertig; der wechselseitige Rat soll und wird aufhelfen. Aber um gerecht zu sein, muß ich hinzusetzen, daß, wenn die Weiber auch den Charakter nicht an ihren Männern lieben, so lieben sie ihn um so mehr an ihren Liebhabern; hier ist der Entschlossenste, Kühnste oft noch nicht kühn und entschlossen genug. Das Gemeine, Alltägliche dem Manne; das Außerordentliche, Heroische dem Liebhaber!
Doch um höflicher und auch bestimmter zu reden, hätt' ich – anstatt Weiber – Damen sagen sollen, man würde es vielleicht erträglicher gefunden haben; und weil ich doch einmal an meiner Apologie bin, so setze ich noch hinzu: Wenn es die Natur bei den Frauen nicht auf den Charakter anlegte, der uns im politischen Leben so nötig ist und auf dem unser männlicher Wert beruht, so hat sie ihnen die schönsten, friedlichsten Eigenschaften und Tugenden gegeben, wodurch sie sich und alle ihre Angehörigen mehr beglücken können, als wir es mit allen Kraftäußerungen zu tun vermögen. Welche unter ihnen dieses nun weder empfinden noch achten will, die erkünstle, erträume sich einen Charakter, pflanze den Mann auf das Weib, handle tätig unter dieser Zwittergestalt; die Natur wird doch ihr Recht behaupten und sich früh oder spät für den an ihr begangnen Mißbrauch rächen.
523
[319] [93]DER niedrigere oder höhere moralische Wert eines Menschen, den ein plötzlicher großer Unglücksfall so niedergeworfen hat, daß er an aller Geisteskraft vernichtet vor uns liegt, ließe sich leicht bestimmen, wenn er sagen könnte und wollte, durch welche Idee oder Empfindung er sich emporgehoben hat. Die nähere oder entferntere Verwandtschaft dieser Idee oder Empfindung (die oft durch ihre plötzliche Wirkung in Erstaunen setzt) mit dem gemein Physischen und seinen Trieben oder dem höhern Geistigen würde zum Maßstab werden, an dem wir den innern Gehalt des so Auferstandnen abmessen könnten. Dieses Vermögen der Selbstheilung und Wiederherstellung, wodurch der Mensch das widrigste Schicksal besiegt, gehört – besonders im moralischen Sinn betrachtet oder durch die feinere Mischung mit dem Physischen, ohne welches jenes nicht wirken kann – zu den Bezeichnungen seiner Natur, die das in ihm aufgegebene Rätsel ebenso anziehend machen, als sie es verwirren.
524
[93] [416]MAN kann ein klarer Denker ohne Gefühl, aber kein starker, kühner Denker ohne dasselbe sein. Der erste übt eine Fähigkeit in völliger Besonnenheit und wirkt nur durch den Kopf. Bei dem [416] letzten denkt der Geist; und in dem Augenblick, da das Feuer des Herzens das Gedachte durchglüht, fühlt er, daß das von ihm Hervorgebrachte wahre Schöpfung geworden ist; und kühlt er mit ätherischem Hauche die Flamme, so geschieht es darum, daß sein so geschaffenes Werk ohne Dampf hervortrete. Wenn der erste die Materie ganz zum kalten Geistigen verfeinern will, so drückt der andere durch Verschmelzung der Materie so viel vom Geiste auf, daß sie beide nur ein Stoff zu sein scheinen.
525
[417] [286]DER wahre Menschenkenner muß für alles Sinn haben, was im Menschen liegt und durch ihn geschieht; er muß kein Vorurteil hegen, es stamme nun aus ihm selbst oder von der Schule her. Selbst das Widersprechendste muß er an das zu knüpfen wissen, woraus es entsprungen ist; so wird er auch durch irgend etwas Männer mit sich verwandt finden, von deren Verwandtschaft ihm so wenig träumte, daß ihn die bloße Ahndung derselben vorher empört haben würde.
526
EIN rechter Mensch, der gelebt, genossen, gedacht, gefühlt und gewirkt hat, ist der Inhalt seines Geschlechts. Durch Lage, Umstände, Schmerz und Freude, Glück und Unglück, Ehrgeiz und Mißlingen, Begierden und Leidenschaften sind nach und nach alle gute[n] und schlechte[n] Triebe seines Herzens, alle edle[n] und gefährliche[ n] Kräfte seines Geistes berührt worden, und wenn sie auch nicht alle in Tätigkeit übergingen, so ließen sie doch so viel Spur nach, daß das Bewußtsein davon in dem Augenblick erwacht, da er etwas an einem seinesgleichen wahrnimmt, das auf das von ihm Gedachte, Gefühlte oder wirklich Begangene Bezug hat; ein Blick, ein Wort sind oft dazu hinreichend. – Darum sieht auch der Geübte das Ziel des Vorbereitetesten schon vor seinem Geiste stehen, wenn dieser es in der weitesten Entfernung hinter seinem eignen Rücken so verhüllt aufgestellt zu haben glaubt, daß es nur von ihm selbst nach und nach herbeigezogen und enthüllt werden könne.
527
[286] [97]MAN sagt als einen Gemeinspruch von höherer Art: kein Mensch habe es noch gewagt oder dürfe es wagen, alle seine Gedanken laut zu sagen. Der Sinn davon ist deutlich, und es kann wohl an dem sein; aber ich glaube, der es täte, würde dem Erprüften und Erfahrungsvollen nicht viel Neues sagen, den andern würde es ganz unnütz sein. Vielleicht hat auch noch kein Mensch seine besten Gedanken in Gesellschaft gesagt und das ebendarum, weil er in Gesellschaft war. Vielleicht hat auch noch kein Mensch seine größten und erhabensten Gedanken so an das Licht der Welt gebracht, wie er sie gedacht und empfunden hat. Denn entweder sind es Blitze, die sich in keine Rahmen fassen lassen, oder sie entspringen so plötzlich und einzeln, daß der Verbindungsfaden gänzlich zerrissen scheint oder so verloren und dünne vor den Sinnen schwebt, daß sie ihn nicht mehr fassen können. Schaltet man ihn nun an Ort und Stelle ein, so steht er als ein Gedanke da, der gefallen kann, aber gewiß erweckt er den wahren Geist und Sinn nicht, aus dem er entsprungen ist. Vielleicht ist dieses [97] auch die Ursache, daß uns viele Gedanken in den Werken der Genies der alten und neuen Zeit so dunkel scheinen. Wer hohen, platonischen Glaubens ist, könnte diese Gedanken Abglanz, Abschattung, Einwirkung aus der Geisterwelt nennen, die uns so an unser wahres Vaterland zuzeiten erinnern will; und ist er stark in diesem Glauben, so kann er auch noch hoffen, den verlornen Faden dazu einst wieder aufzufinden. So leer dieses nun der kalten Vernunft auch scheinen mag und muß, so muß sie sich doch über das sonderbare Spiel einer Einbildungskraft, die so etwas trotz ihr träumen kann, verwundern, sollte sie sich auch nicht daran ergötzen. Und wenn sie nun auch die sich so versteigende Einbildungskraft iin die Schule nimmt und ihr das Törichte ihrer Seherei recht streng verweist und beweist, so kann doch diese noch immer fragen: »Obermeisterin, woher und wie konnte es mir, trotz dir, kommen oder mich anfliegen? Ich tat ja nichts dabei, ich schuf ja nichts, und du selbst warst wach!« Wahrlich, die Poesie der Seele für ein Wesen, das auf dieser Erde so wenig für das Poetische gemacht zu sein scheint, ist ein sonderbares Ding! Ein Rätsel in Morgenrot gehüllt, auf das der mühsam Wandernde oft so starr hinblickt, daß er selbst des kümmerlichen, schmerzvollen Wegs vergißt, ob er gleich weiß, daß er das lockende Rätsel nie enthüllen wird.
528
[98] [447]ICH höre und lese, daß einige unserer vorzüglichsten Schriftsteller der deutschen Sprache den Vorwurf machen, sie sei für [447] ihren Geist und Genie ein zu hartes, schwer zu behandelndes und undankbares Werkzeug; sie möchten dieselbe gern mit einer andern vertauschen oder lieber in einer andern gedichtet und geschrieben haben. Ich gönne ihnen den Gewinn ihrer Äußerung. Wenn ich mich aber beklagen sollte, so würde ich nur darüber klagen, daß ich mehr in Tönen anderer Sprachen reden muß als in der vaterländischen.
529
[448] [198]BEI der Veränderung eines Staatsministers und bei dem Antritt eines neuen hat man am Hofe und in der Residenz den Genuß aller Schauspielarten alter und neuer Zeit. In demselbigen Augenblick laufen nebeneinander her: das ernste Drama und das Possenspiel, das Heldenschauspiel und die Komödie, das weinerliche Schauspiel und das Bockfüßler-Stück der Griechen. Das Lustigste aller dieser Schauspiele zusammen ist, daß sich gewöhnlich alle Schauspieler, die Hauptperson und den Oberdirekteur der sämtlichen Spektakels selbst nicht ausgenommen, in ihrer Meinung über den Knoten der aufgeführten Stücke irren. Was schadet's? Man hat Mitleiden gefühlt, gelacht, gehofft, gekrittelt, räsoniert, geschwatzt, Beifall gegeben und ausgezischt; hat dies eine Zeitlang gedauert, so sieht man dem wirklichen [198] Schauspiel, das nun die Hauptperson in der Tat aufführt, ganz gleichgültig zu und wartet ruhig auf ein neues Stück.
530
[199] [98]DER Mann, welcher die Idee vom Paradiese als ruhigen, seligen, künftigen Aufenthalt für uns erschaffen oder erträumt hat, war entweder ein sehr tief politischer Menschenkenner oder ein sehr glücklicher Phantast. Vielleicht war er auch keins von beiden; denn er traf Gesang und Musik schon erfunden an. Ein Geschöpf nun, das Gesang und Musik aus sich erschaffen, dabei so fühlen, schwärmen, ahnden konnte, konnte leicht auf so etwas verfallen, und für dieses ließe sich noch Höheres erfinden. Wer Musik und Gesang anhört, dessen Geist richtet sich sozusagen auf und hebt sich in sanftem Fluge über der Erde empor. Was soll man von einem Geschöpf sagen, das sich aus Holz und Gedärmen der [98] Tiere eine Geisterleiter von Tönen bilden konnte, die es bis dahin leitet, wo es die Quelle aller Harmonien denkt, träumt oder ahndet? Vielleicht ist gar die Musik die Hauptquelle aller der Gefühle und hohen Ahndungen, welche späterhin die Philosophen zu Begriffen zu machen strebten, vielleicht haben sie gar ihre Metaphysik daraus aufgeführt. Aber dieses alles sind ja Träume, Schwärmereien, die gerade zum Un- und Wahnsinn führen! Für den gewiß, der das Augenblickliche, Sonderbare, Außerordentliche und Wundervolle zu seinem gemeinen, alltäglichen Dasein machen will! In ihren Kreis wollten die Unsterblichen den Sohn des Staubes nicht ziehen; sie gaben ihm nur dieses wunderbare Ahnen und Träumen als Würze zum Leben, als Gegengift gegen alle Übel, die ihre Fähigkeiten zur höhern Kultur nach und nach hervortreiben mußten. Wer sich ihnen nun näherdrängen will oder glaubt, es zu können oder getan zu haben, der bezahlt gewöhnlich die Reisekosten nach jenem Feen- und Dichterlande mit seinem eigenen Verstande.
531
[99] [426]DIE weisen Leute, welche die Bescheidenheit, die nur eine stille, angenehme Begleiterin der Tugend sein sollte, zur Tugend selbst gemacht haben, wußten oder dachten nicht, welchen Dienst sie den Schurken in der Welt geleistet haben. Diese mögen sie recht gern so sehen; und wenn sie die Begleiterin so laut präkonisieren, so geschieht es darum, daß sich die Hauptperson selbst in die Begleiterin verkriechen soll. Es ist ihnen so ziemlich gelungen; denn die Tugend, die eigentlich kräftig tätig sein sollte, geht nun so still, zahm und fromm einher, als fürchte sie, mit jedem Laute ihren neuen aufgedrungenen Ehrennamen zu gefährden, als sei ihr Tun und Wirken selbst Ruhmrednerei. So herrscht eine Stille in der moralischen Welt, die beinahe verabredet zu sein scheint. Der Schurke schweigt, er weiß, warum; der Rechtschaffene, Biedere schweigt auch, weil er muß, weil man ihm Schweigen zur Tugend und Reden zur Prahlerei gemacht hat. Muß er nicht selbst seine Blicke nach dem Tone der Gesellschaft abmessen, wenn er darin gelitten sein will?
532
[426] [455]ES ist nichts Erbärmlichers als ein schales, leeres Buch, worin sich noch überdem der Autor selbst in Person schlecht und schlechter als sein Buch zeigt. Aber noch trauriger ist es anzusehen, wenn sich der Autor eines guten Buchs – es sei in demselben selbst oder im bürgerlichen und literarischen Leben – platt, flach, elend und unter dem Wert seines Buchs zeigt. Tut dieses gar ein großer Autor oder ein Genie, so möchte das ganze hohe Geisterreich in Klage und Jammergeschrei ausbrechen. Da sich Fälle der ersten zwei Arten nun täglich und der dritten wohl auch zuzeiten ereignen, so muß der Charakter in der literarischen Welt ebenso selten als in der politischen und gleich schwer zu erhalten sein. Der Autor, der wie ein Mann wirken will, muß nicht allein hoch von sich denken, seinen Charakter so durchführen, wie er ihn einmal angegeben hat, er muß auch gleich, fest und unverwundbar vor dem Publikum stehen bleiben; tut er dieses, so zieht er es zu sich hinauf; tut er es nicht, so zieht ihn, sei er auch noch so groß, der schlechteste Geselle ebendieses Publikums noch tiefer zu sich herunter, als er sich selbst gestellt hat.
533
[455] [166]IN einem Lande, worin man den Verstand durch überstrenge Zensur für Kontrebande erklärt und den aus gebildeten als gefährlich ausschreit, wird leicht grobe Sinnlichkeit herrschend; die Verbindung mit dem Geisterreich löst sich auf Kosten des Staats selbst auf, und man ersetzt durch verdoppelten Mißbrauch an dem Irdischen, was man an dem Geistigen unterlassen muß. Die Folgen sind noch bedeutender, treten noch schneller ein, wenn höhere Bildung vorher geachtet ward. Setzen gar benachbarte [166] Regenten hohen Wert darauf und finden ihr und ihres Volkes Heil darin, so blasen der beleidigte Stolz, das Bewußtsein der Geringschätzung und Verachtung anderer Völker zur Rache, und man glaubt sich um so mehr berechtigt, den Staat für sein Mißtrauen feindlich zu behandeln. Noch mehr! In einem solchen Lande werden Bücher zu gefährlichen Lehrmeistern, derer Bekanntschaft man sich in andern Ländern schämen würde.
534
[167] [192]DER lustige Kanonikus Franz Beroalde, Herr zu Verville, wirft in seinem kaustischen und nur zu schmutzigen Bankett manchmal sehr närrisch-gescheite Fragen auf. Unter andern: »Woraus setzen die Leute, welche die Geschäfte der Welt betreiben, dieselben zusammen?« »Aus dem Gute der andern.« – »Was sind die Geschäfte der Welt?« »Ein Mittel, fortzukommen.« – Das Mittel, fortzukommen, umfaßt alles, ist selbst aus vier Elementen des Betrugs (piperies) und aus der Quintessenz der Kniffe zusammengesetzt. Die Bezeichnung der vier Elemente und ihrer Quintessenz mag man bei dem Kanonikus selbst aufsuchen: Er trägt die Schellenkappe der Narren seiner Zeit und setzt sie oft lachend denen auf, die sich für kluge Leute halten.
535
WENN die Ehr- und Herrschsucht den Staatsmann durch Intrige, Falschheit, Niederwerfen anderer, kühne Unternehmungen [192] und Wagstücke (von rechtlichen Männern rede ich hier nicht) endlich so weit gebracht haben, daß er auf derjenigen Höhe steht, wohin er strebte, so fällt ihm wohl noch ein, sich durch nützliche und rauschende Taten bei dem Volke beliebt zu machen und sich um dessen Liebe ehrlich und treu zu bewerben. Aber gewöhnlich wirken dann erst in voller Kraft die Mittel, die er vorher angewandt hat, wenden sich gegen ihn, und der hochgeschossene Baum wird in ebendem Augenblick abgehauen, da er Blüten treiben wollte, die Früchte versprachen. Ist es nun wirklich einem solchen Mann ernst gewesen und der Mensch etwas in ihm erwacht, so würde sich auch der Beleidigteste an ihm gerochen glauben, wenn er die Wirkung des Gefühls beobachten könnte, das diesem in die Einsamkeit folgt, um ihn nie mehr zu verlassen.
536
[193] [493]JE älter man wird, das heißt: je mehr man Erfahrungen macht, je größer unser Wirkungskreis im tätigen Leben wird, je mehr überzeugt man sich, daß zum Leben vorzüglich Mut und Kraft gehören. Ich rede von Menschen, die wirklich leben und das entwickeln, ausarbeiten und verarbeiten, was ihnen dazu gegeben ist; ich weiß ja wohl, daß des Lebens im höhern Sinn auf diesem Erdenrunde, in dieser von der Politik (gut und schlecht angewandt) zugeschnittenen und zugemessenen Gesellschaft zuviel wäre, wenn jeder die ihm verliehenen Kräfte ausübte. Aber da keiner lebt – von dem, der auf dem Throne sitzt, bis zu dem, der auf der Straße sein Brot bettelt –, welcher nicht gegen physische und moralische Übel, die ihm die Notwendigkeit der Natur und seine Brüder in der Gesellschaft durch eine gleiche starke Notwendigkeit [493] aufdringen, zu kämpfen und zu streiten hat, so kann auch keiner derselben Mut und Kraft entbehren. Überzeugt hiervon, wie ich es bin, kann man sich einen Begriff von meinem Wohlgefallen an den schwächlichen Werken unsrer sogar berühmten Schriftsteller machen, die jetzt meistens so schreiben, als schrieben sie für Menschen, die nur zum Lesen, Bücherschreiben, Seufzen, in der Einbildungskraft zu schwelgen, sich mit Idealen zu füttern und dadurch endlich zum Dulden und zu einer völligen Resignation in das Schicksal gemacht wären. Das Letztberührte verträgt sich freilich sehr gut mit unsrer politischen leidenden Lage im Vaterlande und scheint besonders mit den letzten Schand- und Schimpfperioden, der in der deutschen Reichsgeschichte höher als unser höchster gotischer Turm hervorragen wird, zu harmonieren. Man könnte darum diesen gutmütigen Lehrern noch danken, daß sie sich in den Geist der Zeit schicken, ihre Schule nach dem Bedürfnis dieser Zeit und der darin lebenden Menschen einrichten; aber so unschuldig sie auch von ihrer Seite hierbei verfahren, so ist doch klar: Diese Schriftsteller beweisen dem Publikum, was das Publikum ihnen beweist, was beide ihre Erziehung und ihre Ansicht der Welt gelehrt haben, kurz: daß die Deutschen kein politisches Volk sind und werden sollen und also recht für die Lehren der Resignation gemacht sind. Das übrige Obenangeführte dient zum Kitzel des Publikums und zum ergiebigen Erwerbungszweig der Autoren. Das ganze Lese- und Schreibewesen ist bloße Unschuld, die nichts bezielt. Jetzt ziehen zu diesem Behuf sogar unsre tragischen Dichter das alte eherne Schicksal aus der Rumpelkammer des griechischen Theaters hervor, unbekümmert, ob es sich mit unsern Sitten, unsrer Denkungsart und Aufklärung vertrage. Auch dies ist im Geiste der Zeit; es soll uns ja nicht zum Kampfe gegen die moralischen und physischen Übel stählen, sondern ihnen wie Schafe unterwerfen. Vielleicht berechnet man auch hier ebenso unschuldig nur die poetische Wirkung, welche das düstre, über der Bühne unsichtbar schwebende Scheusal von altem Schicksal hervorbringen soll. Das Gespenst schreitet dann über die Häupter der zerknirschten Zuschauer [494] einher und wird oder muß sich zu einer schwarzen Volkssage unter uns ausbilden, die wirklich von bedeutenderm Einfluß als der Glaube an andre Gespenster und den Teufel selbst werden kann. Wohl mag dieses dichterisch-dunkel-philosophische Ungeheuer seine Rolle in Deutschland vorzüglich gespielt haben, aber es fand auch die Marionetten zu seinem Spiel; und unsre Poeten, moralische und politische Schriftsteller putzen, schnitzeln und bilden so nürnbergerisch an ebendiesen Marionetten fort, als seien sie von dem Popanz und denen, die durch ihn bestehen, bezahlt. Doch der Meister und die Gesellen bekümmern sich auch darum nicht; die gefälligen Marionetten bezahlen die Leute selbst, die sie so kitzeln, einschrecken und entmannen.
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[495] [65]NACHDEM die Hauptsache bei der Erschaffung des Menschen geschehen war, so war das übrige – ihn nämlich zu dem Törichten und Großen, Niedrigen und Erhabenen, Schlechten und [65] Guten zur Gesellschaft auszustatten – etwas Leichtes. Ein tiefer Schnitt in das Herz, in den das ganze Ich sich verkriechen und als Selbst- und Eigenliebe polypenartig hervorwachsen konnte, von dem leise schleichenden oder stark wallenden Blut gleich genährt einige glänzende mit Luft gefüllte Blasen der Eitelkeit in das Gehirn; ein kräftiger Stoß an die Nerven zum Nachahmen; ein Blasbalg unter die Seele, um sie zum Stolz und Ehrgeiz aufzuschwellen, den die Gäste im Herzen so gerne als kräftig und rastlos bewegen, bewirkten dieses Wunder. Könnte man diese Dinge, die jetzt so leicht scheinen, weil sie da sind, und deren feine und zweckmäßige Vermischung einen so großen Werkund Rechenmeister voraussetzen, einem Stein mitteilen, auch er würde uns in Erstaunen setzen – und viele so begabte Steine würden wahrscheinlich, weil ein jeder Haupt- und Schlußstein sein wollte, ein so lang dauerndes Erdbeben in unsrer alten Mutter Erde verursachen, daß sie uns mit allen unsern ernsthaften und törichten Spielen verschlingen würde.
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[66] [413]DASS die Hoffnung das Mächtigste im Menschen ist, beweist auch dieses, daß man noch immer die spekulative Philosophie treibt, neue Systeme aus den alten zusammensetzt und sie an einen noch dünnern Faden hängt.
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[413] [286]ES ließe sich noch ein sehr sonderbares, auffallendes und ebenso wahres als nützliches moralisches Werk schreiben; aber der Mann, welcher es unternähme, müßte den dichterischen Geist Platos und Shaftesburys, den großen, reinen Verstand Kants und die niedriger gestimmten Geister und Sinne Rochefoucaulds, Helevetius', Mandevilles und dergleichen Leute haben, das heißt also: hohe Poesie im Herzen und kalte, philosophische, selbstgemachte [286] Welterfahrung und Menschenkenntnis im Kopfe. Er müßte außerdem keine Vorliebe für eine oder die andre haben (das kleinste Vorurteil würde alles verderben) und das Hohe, Mittlere und Niedrige so gegeneinander im richtigen Gleichgewichte in ihm stehen, daß weder die Einbildungskraft oder das Idealische überhaupt noch die niedre Sinnlichkeit oder das grob Wirkliche die geringste Herrschaft übereinander ausübten. Dann müßte ein solcher seltner Mann eine Tonleiter verfertigen, wodurch alle hohe[n], mittlere[n], niedre[n] Triebe, Begierden, Neigungen, Eigenschaften, Fähigkeiten, physische und geistige, durch welche die Gesellschaft sich bildet, verbildet, verunreinigt, verwirrt, erfreut, plagt, glücklich, unglücklich macht und doch besteht, genau bestimmt, angegeben und nach ihren Wirkungen gegeneinanderüber gestellt werden. Wäre diese Leiter nun mit der gehörigen scharfen Bestimmtheit und dem kalten Abwägen, ohne alle Vorliebe, entworfen, so würde man erkennen, daß oft aus dem Erhabnen, Großen und Guten Elendes, Kleines, Niedriges, Böses, aus dem Weisen Törichtes, aus dem Klugen Unsinn, aus dem Besten das Schlechteste und so umgekehrt entsteht oder sich doch so untereinander vermischt und durcheinanderläuft, daß man gar nicht begreift, wie Gift zur wohltätigen Arznei und wohltätige Arznei zu Gift wird. Gleichwohl geschieht es, und der Zweck wird befördert, an dem wir alle, Gute und Schlechte, Weise und Toren, mit schlechten und mit guten Trieben arbeiten, arbeiten müssen, auch dann noch arbeiten, wenn wir nicht wollen, und noch dazu zweckmäßig arbeiten, wenn wir glauben und wünschen, das Gegenteil zu tun. Wer da glaubt, daß ich damit auf gut leibnizisch-theologisch dem Optimismus das Wort rede, der irrt sich. Ich sehe nur ein Stück der Notwendigkeit, an dem wir alle weben, ohne zu wissen, wo der Einschlag des Gewebes hängt, wo der Endfaden festgeknüpft werden soll, warum uns das Gewebe mit einer so zweideutigen, hell dunkeln Farbe übergeben ward. Doch dies hat sich der Obermeister vorbehalten und uns dadurch allein zum Weben des Stücks geschickt, unverdrossen und wahrscheinlich nur dadurch [287] des Verdiensts und des Lohns fähig gemacht. Die Tonleiter, von der ich sprach, könnte indessen wenigstens dazu dienen, daß wir ruhiger, bescheidner und gemäßigter im Urteilen würden.
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[288] [439]EIN Mann von reinem, einfachem Geist und Sinn kann wohl eine Wahrheit denken und aussprechen; damit sie aber die Menge mit Gefallen höre und sie einigen Einfluß auf sie habe, müssen sie Scharlatane einkleiden, ausschmücken und dann predigen; das heißt: Sie müssen ihr das Menschliche anhängen. So tut nun die Wahrheit auch die Wirkung, deren Prediger und Zuhörer wert sind.
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[439] [136]WEM der schöne Enthusiasmus für die Menschheit anfängt beschwerlich zu sein und wer sich davon heilen will, der begebe sich in einen großen Staat, worin der Regent mit nichts als dem Glück und dem Besten seines Volks im allgemeinen, ohne auf einen einzelnen Stand zu sehen, treu und weise beschäftigt ist. Er wird da so viel von ebenden Menschen hören, für die der Regent so unverdrossen als weise arbeitet, daß er gar leicht zum Fanatiker des Menschenhasses werden könnte. Wenn er aber ebendiesen Regenten trotz aller dieser Undankbarkeit bei seinem edlen Wirken fest und mutig verharren sieht und Sinn hat, so [136] wird er nicht allein den rechten Mittelpunkt zwischen dem glänzenden Enthusiasmus und dem schwarzen Fanatismus, sondern auch eine weise, dem Gutdenkenden nötige Ruhe finden. Der Blick auf das Überirdische, wenn sein Auge durch seinen Geist dazu gebildet ist, wird ihm ohnedem erweitert.
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MAN sagt: »Regenten sollten ihr Volk in ihrem Herzen tragen.« Es ist zu wünschen; aber sagte man nicht besser und mehr zum Vorteil des Volkes und der Regenten selbst, sie sollten es vorzüglich in ihrem Verstande tragen? Denn, wie ein Fürst ein ganzes Volk – von Menschen zusammengesetzt, wie sie sind und besonders wie er sie sieht und sehen muß – in seinem Herzen auf die Länge tragen kann, ohne unter dieser Last zu erliegen, begreife ich nicht, besonders wenn er ein edler Mann ist. Und ist das Herz nicht der große Hebel unsers Lebens? Will nicht auch der Fürst leben, als Mensch leben? Der Verstand lernt endlich die niedrigsten Erscheinungen, den Unsinn und Unverstand, die Vorurteile und Gebrechen nebst ihren Ursachen begreifen – kurz: er lernt das Wesen der Menschen überblicken; und wenn es ihm auch nicht gelingen kann, dieses so gebildete und in politische Gesellschaft gedrängte Volk anders zu machen, so lernt er es doch ertragen und allenfalls zu dem Zweck der Gesellschaft geschickter zu benutzen. Doch Herz hat ein jeder, und vielleicht trägt sich's auch leichter mit dem Herzen, weil dem Herzen überhaupt mehr Entschuldigungen gestattet werden; auch darf es bei diesem wichtigen Geschäfte wahrlich nicht fehlen, nur muß der Verstand die Oberherrschaft ausüben.
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[137] [495]ES ist nicht genug, daß der Dichter idealischen Sinn habe; ohne den Geist, die Wirklichkeit, das praktische Leben überhaupt recht innig und wahr zu erkennen und zu durchschauen, ist und verbleibt er mit diesem hohen Sinn allein ein Phantast, der den Verstand des Lesers nur ärgert und das Herz und die Einbildungskraft desselben gerade in die Lage versetzt, worin sie sich während eines lästigen Traums befinden. Die Einbildungskraft treibt er in ein Labyrinth, ohne ihr einen Leitfaden zu reichen, und das Herz kitzelt er bis zum Unmut. Die hohe Einbildungskraft oder der idealische Sinn soll und muß den heterogenen Stoff der Wirklichkeit durchglühen, zerschmelzen, läutern, verarbeiten und mit dem Glanze überziehen, der diese Wirklichkeit des Stoffs den Sinnen täuschend darstellt, ohne den Glauben an sein nur verhülltes Dasein aufzuheben. So macht es die mächtigste aller Zauberinnen, die Natur, mit ihren einfachen Elementen, aus welchen sie die Gegenstände im geheimen Dunkel zusammensetzt, die uns bei ihrer Erscheinung entzücken und erheben, wodurch sie uns durch sanfte Wonne, durch erhabnen Schauder, aus Furcht und Erstaunen entsprungen, bald in die düstre Tiefe zieht, bald in die schwindelnde Höhe, auf unserm Geiste angehauchten Flügeln, emporträgt. Sie verbirgt den Sinnen die innere grobe [495] Zusammensetzung, um vor uns in anlockender, reizender Wirklichkeit zu leben. So macht sie Wasser zum Spiegel für Sonne, Mond, Hügel und Haine, zu murmelnden Bächen, zu einwiegenden Kaskaden, den Wind zum Gesäusel der Geister im dunkeln Walde, Licht, mit weichenden oder nahenden Schatten gemischt, zur Morgen- und Abendröte, Staub zu Gebirgen, Erde, Farbe und Flüssigkeit zu grünen Wiesen und wohlriechenden, zarten Blumen – und so macht der Dichter den Menschen zu einem höhern Wesen, an das man glaubt, weil er seine Gewebe, gesponnen aus der Wirklichkeit und der innern höhern Ahnung in uns, an ebendieselben knüpft. Der Vorsprecher liegt schlummernd in unserm Herzen, der Verstand braucht ihm nur zuzulispeln, um ihn zu erwecken, ihn wach und gläubig zu erhalten. Und sind wir nicht alle bereit, dem süßen Lügner zuzuhören, da die schwere Wirklichkeit uns alle und immer mehr ermüdet und drückt?
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[496] [408]DA die Philosophen nun schon einige tausend Jahr her den Menschen ohne Unterlaß mündlich und schriftlich zurufen, daß [408] sie Kinder, Toren und Narren seien, so werden sie ihnen höchstwahrscheinlich dasselbe Lied noch viele tausend und tausend Jahre in allerlei Melodien vorsingen. Wahrscheinlich mit demselben Erfolg, und ebenso wahrscheinlich werden die, denen dies Lied gesungen wird, immer dasselbe her vorbringen oder hervorbringen müssen, was sie bisher hervorgebracht haben. Aber auch die Philosophen selbst werden in Zukunft nicht ermangeln, so wenig wie bisher, ihren Anteil zum allgemeinen Stock der von ihnen bescholtnen Sache beizutragen.
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[409] [137]WARUM klären sich die Begriffe über Fürsten, ihr Amt, über ihre Untertanen und ihre Pflichten vom Anfang des letzten Jahrhunderts bis auf heute immer mehr auf? Warum denkt man jetzt milder, menschlicher, weiser und politisch richtiger von ihnen und ihrem Amt? Weil der Mißbrauch der Bibel und dadurch [137] die Vorstellung des orientalischen Despotismus unter den Aufgeklärten verschwunden ist und selbst bei dem Volke sich gemildert hat. Weil man Gott reiner und erhabner denkt, nicht mehr als bebender Sklave wähnt, er habe eins seiner Geschöpfe, ohne allen Vorbehalt, durch einen von ihm geheiligten Bestallungsbrief zum allgewaltigen Herrn über Seel' und Leib eingesetzt. Weil die tückische Politik der Päpste, die ihre Trutz- und Schutzwaffen in dem Alten Testament, um über die Fürsten selbst zu herrschen, suchte und fand, durch den trugvollen Gebrauch erst verhaßt und dann lächerlich geworden ist. Der wahre Herrscher steht Jetzt vor uns wie ein uns verwandtes Wesen, als ein Gegenstand der Verehrung, Dankbarkeit und nicht des Schreckens. Und hier seh' ich wirklich ein Fortschreiten zur steigenden Veredlung des Menschengeschlechts, wovon gutmütige Weise schon so lange und so schön reden. Laßt uns den Manen der abgeschiedenen Weisen und auch denen, die ein Opfer ihrer menschlichen Lehre wurden, danken; sie haben uns eine Erbschaft hinterlassen, die der Vergänglichkeit trotzt, die weiter an uns nichts fordert, als ihrer würdig zu werden und zu bleiben. Vielleicht aber hätt' ich sie ebendieses kleinen Umstands wegen nicht unvergänglich nennen sollen.
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[138] [502]WENN ein deutscher Mann von Genie ein wichtiges Werk schreiben sollte, so müßte er nun noch das äußerste anwenden, nach Paris oder London zu reisen, um dasselbe dort unter seiner Aufsicht übersetzen und dann als französisches oder englisches Original drucken zu lassen. Er könnte dadurch so viel gewinnen, daß sein Werk auch in Deutschland geachtet und geschätzt würde; und ließe er nun gar sein Original als Übersetzung drucken, so könnte er noch obendrein die Freude erleben, daß ihm die Rezensenten nur Übersetzungsfehler vorzählten.
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[502] [336]DER Mann, der ein tätiges Leben führt und wichtige, besonders Staatsgeschäfte zu betreiben hat, tut damit noch nicht genug, wenn er seinen durch Schlaf gestärkten Leib morgens anständig kleidet; er muß auch, bevor er unter die Menschen tritt, mit [336] denen er diese Geschäfte zu betreiben hat, seine Seele und sein Herz durch edle Grundsätze wieder aufwinden oder besser täglich neu erschaffen und so mit Schutz- und Trutzwaffen auftreten.
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[337] [496]MAN vergißt in Deutschland nichts geschwinder als gute, weise und verständige Bücher. Die schalen Autoren tauchen das Publikum zu ihrem Vorteil in diesen Lethe, der von Leipzig aus sich durch das Vaterland ergießt und von daher aus sehr reicher Quelle fließt. Ich nehme mir daher die Freiheit, Mösern, den Verfasser der patriotischen Träume, meinen lieben Landsleuten in das Gedächtnis zurückzurufen, unbekümmert, was ich dadurch meiner Ehre schade. Möser ist nicht allein ein trefflicher Schriftsteller für das Praktische und das Gemeinwesen, er hat auch Witz – vielen feinen Witz und einen Geist, der ebendiesem praktischen Leben die treffendsten neuen Seiten abzugewinnen weiß. Überdem schreibt er, wie wahrlich mancher jetzt nicht schreibt, dessen Schriften wir als Werke des Genies lesen und der den Geist des Lesers so in das Leere hinaufschraubt, -treibt, -zieht oder -wirft, daß der gutmütige Leser wirklich in Gefahr ist, sein eignes Gewicht oder seinen Anziehungspunkt zu verlieren und ein im Raume schwimmendes Atom zu werden.
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[496] [138]ES ist ein so seltenes als erhabnes Schauspiel für den Geist des erfahrungsvollen und edeldenkenden Mannes, einen Regenten zu sehen und zu beobachten, der durch Moralität, Bildung, Denkungsart und feste Grundsätze hoch über seinem Volke steht und es zu sich hinaufzuwinden strebt. Alles arbeitet – aus Vorurteilen, Wahn, Gewohnheit, mißverstandnem Interesse, Hab- und Herrschsucht, eingewurzeltem falschem Stolze, eitler Besserwisserei –, ihn von seiner Höhe herabzuziehen; keiner will hinauf: die Kraft, der Wille dazu soll erst durch Anerkennung, durch den Geist und das Herz erschaffen werden. Er arbeitet nicht allein mit dem widerstrebendsten, widersprechendsten und widerspenstigsten Stoffe, der sich mit nichts vereinigen und verschmelzen [138] will, den er, da er nur heilen und nicht verwunden will, nur sanft und schonend berühren darf; er muß auch die Höhe selbst, worauf er steht, verhüllen, seine Absicht kaum fühlbar werden lassen und dem am tiefsten Stehenden so zu nahen scheinen, daß dieser kaum bemerkt, wie und durch was für Mittel er ihn wirklich hebt. Da nun eine solche Schöpfung alle Kraft des Geistes und Herzens, das höchste Maß der Geduld erfordert und doch weder durch strenge Worte noch rasche Taten, sondern nur durch die leisesten Mittel sich entwickeln kann, ob gleich die täglichen empörenden Erscheinungen auf die Notwendigkeit des schnellen Treibens dringen, der Regent also säen muß, wo er in Jahren nur ernten kann, so ist eine solche Schöpfung das Größte und Schwerste, was der Mensch für Menschen unternehmen kann. Sie ist eine Aufgabe der Erziehung, die, weil sie so selten in der Geschichte vorkommt, beinah unmöglich gelöst werden zu können scheint. Und doch wird und kann sie dem gelingen, der den Willen dazu hat, der das Werk in diesem Geist angreift, dessen Geist und Sinn die durchdringt, die ihm nahen, der also eine Zahl harmonierender Geister um sich her versammelt, die wieder ebenso rein ausstrahlen, was sie von ihm empfangen haben oder was er in ihnen auferweckt hat. Ein rechtschaffener, menschlich denkender, kluger Fürst macht das Glück des Weisen; wem aber das Schicksal den Genuß eines solchen Schauspiels geschenkt hat, der hat das höchste Glück in der moralischen Welt erlebt, der genießt wirklich und wachend, wovon die edlen Männer alter und neuer Zeit nur träumten, weil sie es nicht einmal zu hoffen wagten.
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WENN der Regent aufrecht sterben soll, das heißt, in der Ausübung seines Amts und seiner Pflicht, so muß der Weise mit der Wahrheit leben und sterben: Er ist der Menschheit berufener Priester, so wie jener ihr Verwalter ist. Verdankt er die Freiheit, die Wahrheit zu sagen, dem Regenten, unter dem er lebt, so lebt er schon auf Erden in dem hohen Geisterreich.
552
[139] [292]WER Stoff zur Bewunderung, Verwunderung, Demütigung und Erhebung suchen will, der hat ihn ganz nah bei der Hand; er setze sich nur hin, nehme alle seine Triebe, Leidenschaften, moralische Eigenschaften, geistige Fähigkeiten, wie er sie im gesellschaftlichen Leben und Wirken entwickelt hat, vor, mustere[292] sie, erwäge, schätze eine jede nach ihrem Wert und Unwert und vergesse keine. Dann forsche er ihrem Ursprunge, den Veranlassungen zu ihrem Wirken nach, bemerke genau, wie sie sich gegeneinander verhalten, beherrschen, unterdrücken, verschlingen, reizen, erwecken, wie die nötigsten hervorragen und immer wach sind, wie nötig auch die gefährlichsten sind, wie die gefährlichsten oft die besten, zuträglichsten, die besten die gefährlichsten, unnützesten werden können, wie es keine einzige zur völligen Herrschaft in Ruhe über die andere bringen kann – und er wird Ursache genug finden, über sich und den Menschen zu erstaunen. So kann jeder eine Welt in sich entdecken, die aus zahllosen Teilchen, Strichen, Punkten, Schatten und Wirklichkeit von so widersprechender Art zusammengesetzt ist, daß man gar nicht begreift, was für eine Kraft diese Mischung und Spaltung zu einem harmonischen Ganzen und wie sie es dazu vereinigen kann. Wer diese Betrachtung nun besonnen, ohne Vorurteil, Vorliebe und Wahn anstellt, der findet endlich, daß er wirklich einen Staat in nuce mit sich herumträgt, in dem zwar, nach dem einzelnen zu urteilen, die physischen, politischen und moralischen Revolutionen so an der Tagesordnung sind, daß er mehr zur Anarchie als zu einer zweckmäßigen Verwaltung geschaffen zu sein scheint, den aber gleichwohl die Macht eines Oberherrn, den man nach und nach in sich selbst konstituiert, so in Einigkeit verbinden und zusammensetzen kann, daß das Widersprechendste nicht allein sich ineinanderfügt und ordnet, sondern daß es auch pflichtmäßig und ohne Zwang die Dienste zum Besten des Ganzen leistet, die dieses von ihm fordert, und zwar so, daß jeder Teil des Ganzen gewinnt. Zur Selbstkenntnis gehört ferner, daß man scharf und ehrlich prüfe, welche Triebe und Fähigkeiten man am meisten und zu welchen Zwecken man sie gebraucht habe; hier aber muß das zweideutige Zwitterlicht keinen schreken, wenn er zur Klarheit und Deutlichkeit gelangen will.
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[293] [50]WENN auch der Mensch die bedingte Möglichkeit zu seinem Glück so weit vergäße, um sich über die Beschränktheit seines [50] Geistes zu beklagen, so kann er es doch nicht über den reichen, unerschöpflichen Vorrat, der ihn zum Genuß und Verarbeitung bei seinem Eintritt in die Welt erwartet, zu dessen Besitzer er als Eroberer geboren wird und dessen er sich durch eigene Kraft so bemächtigen kann, daß er unabhängig damit nach Belieben wirkt. Der üppigste Schwelger und Verschwender findet hier mehr, als er mißbrauchen und verzehren kann, denn der Vorrat wächst ihm unter dem Genuß zu: Er selbst, das ganze Menschengeschlecht, die Gegenwart, die Zukunft, das Vergangene, das Vorher und Nachher, die schwindelnde Höhe und die dunkle Tiefe, sein Wirken und Denken, das Wirken und Denken derer, die ihm Spur und Denkmäler des Geistes hinterlassen haben, die ganze Natur mit ihren Geheimnissen, die intellektuelle Welt mit ihren immer reizenden Rätseln stehen ihm zu Gebot, und alles, was er ihnen durch eigne Kraft abdringt, wird sein Eigentum. Und damit dieser Genuß nie aufhöre, der Reiz dazu nie ersterbe, so sinkt das Ziel, nach dem er strebt, immer mehr in Helldunkel, je mehr er ihm zu nahen glaubt. Wahrlich, der denkende Mann und der Schriftsteller wahrer Art treiben einen Luxus, schwärmen in seinem unzählbaren, immer sich mehrenden Gefolge, gegen den aller Luxus des bloß Sinnlichen leerer Tand ist, den kein Fürst der Erde – und sei er reicher als der Herr aller Indien – bezahlen und erschaffen kann. – Was sind die goldnen Paläste der Großen, alle ihre Genüsse gegen die Feenschlösser mit ihren Zaubergärten, in denen der Dichter lebt? Was die Spekulationen der Staatsleute – und wenn sie auch der glänzendste Erfolg krönen sollte – gegen die Träume des Philosophen oder eine gefundene Wahrheit? Was die feinsten und pfiffigsten Erfindungen des politischen Rechenmeisters gegen den Moralisten, der eine Fackel in die moralische Welt wirft, neue Ansichten erleuchtet, den Menschen von der dunkeln Erde emporhebt und die Kraft in ihm erweckt, das zu ertragen, was die politische Welt aus Not und auch nicht aus Not aufdrängt? Was die studierte Rede des Kanzlers in dem Kabinett, wenn er einen von seinem Handwerk gewinnen oder verwirren [51] will, gegen das, was der Mann voll Geist, Sinn und Rechtschaffenheit ohne List und Trug dem Publikum mitteilt? Und haben alle diese Leute samt und sonders das Recht, die politische Welt zu ordnen, zu erschüttern, zu zerstören, zu leiten und zu beherrschen, so haben jene den Bestallungsbrief von einem Höhern, diese politische und moralische Welt zu mustern, zu verbessern, zu beleuchten, und die erstern, so stolz sie seien, müssen bei ihnen in die Schule gehen, ob sie gleich die Lehrer nicht anerkennen wollen und oft Undank lohnen. Was die Welt Gutes aufzeichnen kann, verdankt sie ihnen doch, und so wird man mich auch verstehen, von welchen Leuten ich hier reden wollte.
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[52] [140]ICH habe die höchste Stufe des moralischen Glücks in dem Augenblick erreicht, da ich nichts anders mehr für Glück erkenne. Ich will es nur gradezu nennen, und wer dann noch daran zweifelt, der mag nach den*** ziehen. Reif durch Welterfahrung, mit festem Sinn, geprüftem Herzen, mein Dasein in den Jahren, wo uns gewöhnlich alle Hoffnung verlassen will, an die schönste Hoffnung nicht allein fest anzuknüpfen, sondern diese Hoffnung tagtäglich so in Wirklichkeit übergehen zu sehen, daß ich mein seltnes Glück sich immer fester gründen fühle. Der Genius der Menschheit in Norden arbeitet an seinem erhabenen Plane so schonend als weise fort. Sein Herz erzeugt die Taten, und sein heller, milder Geist leitet sie. Diese Taten belegen, was ich von ihm sagte, und geben meinen Worten Kraft. Nun nennt ihr selbst Rußlands Alexander!
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