Therese Huber
Drei Abschnitte im Leben
eines guten Weibes

[155] Amtsrichter Reck ward von dem Dorfe, welches er bis jetzt mit seiner Familie bewohnt hatte, in eine ansehnliche Provinzialstadt, dem Sitz eines Landescollegiums, versetzt. Er hatte mehrere Söhne, aber nur eine Tochter, bei der nach dem frühen Tode seiner Frau eine Tante Mutterstelle ersetzt hatte. Molly – so wollte die Mode damals, daß man den Namen Maria verändere – hatte vielleicht bei diesem traurigen Loose, Waise zu sein, für ihre Bildung nicht verloren. Das Andenken der nie gekannten Mutter ward ihr Religion. Gott und sie waren die Zeugen, die Richter, die Lohner ihrer Handlungen, und die Tante hatte alle Eigenschaften, eine Tochter zu erziehen. Ueberstandenes Unglück in einer bald durch den Tod getrennten Ehehatte der Tante Meier weiches Herz stark gemacht, sie hatte Geist und Bildung, und ihr Alter, das Molly's nur um funfzehn Jahre übertraf, machte sie fähig, ihrer Pflegetochter Freundin zu sein. Molly war eben erst funfzehn Jahre alt, sie hatte bis jetzt neben den Beschäftigungen eines früh gebildeten Verstandes und früh entwickelter Thätigkeit nur die Genüsse der Kinderjahre gekannt, und [155] die Gesellschaft ihrer Brüder in einer rüstigen Kindheit, wie das Landleben sie bietet, wo der Begriff von Schicklichkeit nicht vor der Zeit dem Mädchen die Puppe und dem Knaben den Kreisel entreißt, hatte ihren schönen Wuchs vortheilhaft entwickelt. Die Veränderung, welche bei der plötzlichen Verpflanzung in städtische Verhältnisse in ihr vorging, war sehr groß, sie traf mit der ihres Alters zusammen, und die sorglose, kindische Molly ward in Zeit eines Jahres eine blühende, die Aufmerksamkeit der Männer anziehende Jungfrau.

Damals – denn wenn Molly noch lebt, ist sie eine alternde Matrone – waren die Lebensverhältnisse anders wie jetzt; man lebte für sein Haus und in seinem Hause; die Tochter die erste Geschäftsführerin in der Wirthschaft, der Vater die gesetzgebende, die Mutter die vollstreckende Gewalt. Molly bemerkte wohl, daß sie den Männern gefiel, und es war ihr ganz recht; aber sie versprach sich selbst, daß ihr kein Mann gefallen sollte – in einem gewissen Sinne nämlich – bis der Rechte käme. Wer aber der Rechte sein sollte, darüber dachte sie nicht nach; sie machte sich nur den Begriff immer klarer, daß oftmals lieben, eine Unwürdigkeit sei, unglücklich lieben, ein endloser Kummer, und das Lieben überhaupt eineKnechtschaft, vor der ihr freier Sinn sich sträubte. Wie sie einst mit der Tante über solche Dinge sprach, sagte diese: wenn nun aber ein wackerer Mann um Dich wirbt, willst Du Dich dann erst daranmachen, ihn zu lieben, oder willst Du hoffen, daß der Rechte um Dich werbe? – Das Erste, Tantchen! rief Molly, das Erste! Ich weiß [156] wohl, daß ich dem Vater, der so viel für die Brüder thun muß, die Last meiner Versorgung sobald als möglich abnehmen muß – hier füllte sich ihr Auge mit Thränen – und, fuhr sie nach einer Pause heiter fort, muß denn alles Lieben zum Heirathen führen? – Von Seite der jungen Herren, die Dir auf dem Fuße nachgehen, gewiß nicht. – O Tantchen, rief Molly mit niedlichem Zorn, o, neben diesen wollen wir das Wort Liebe nicht nennen. – Nimm Dich in acht! bist Du wirklich so besonnen, so ist Dein Herz sicher, aber darum nicht die Meinung, die man von ihm hat. Der Haufe verzeiht Liebeleien, aber keine Männerherrschaft, in der Du Dir zu gefallen scheinst. – Molly schwieg ernsthaft. Die Tante hatte sie errathen, aber verstanden doch nicht. Molly hatte, ohne zu begreifen, wohin das führt, wirklich ein Betragen gegen die Männer angenommen, was ihr trotz ihrer zarten Jugend, ja durch sie, Männerherrschaft, welche die gleichgültigen Zuschauer wol mit Koketterie verwechseln, erwarb. Die Männer fanden bei der ersten Bekanntschaft, daß sie mit Alltäglichkeit bei diesem Mädchen nicht auskämen; die Gemeinern zogen sich deshalb zurück, die Geistvollern wollten diese befremdliche Erscheinung kennen lernen, und angezogen durch ihre Neuheit, gaben sie sich dem Kinde hin, das mit überlegnem Geist Weltton und Modesprache durch weibliche Würde und Genialität mehr denn ersetzte.

Unter diesen Letzten war Herr von Rode, ein junger Berner, den eine Rechtssache nach Altenburg, Molly's Wohnorte, geführt hatte. Er war sehr liebenswürdig und sehr gebildet. Molly's Jugendblüte und stolze Haltung bei [157] der unbefangensten Fröhlichkeit hatte ihn angezogen, ihr Geist machte seine Begierde rege, auch das Herz dieses sonderbaren Wesens ins Spiel zu bringen. Er glaubte nach dem Stückchen Lebensweg, den er schon zurückgelegt hatte, die Weiber zu kennen, und hielt die Sorglosigkeit, mit der Molly einige Männer um sich her beschäftigte, mit dem Einen tanzte, mit dem Andern ein sehr ernstes, Leben und Pflicht betrachtendes Gespräch führte, dem Dritten versprach, seine Partie beim Reversi zu machen, für Koketterie. Nach Männerart wollte er nun ihr Herz rühren; da entschlüpfte sie seiner Nähe, wie ein Vögelchen dem zu täppischen Vogelsteller, zog einen andern ihrer sogenannten Anbeter in das Gespräch, und wie des Vögelchens leichtherziger Gesang schwatzte sie mit heiterer Ironie, wenn Herr von Rode Spannung und Heftigkeit als Zeichen schwer behaupteter Selbstherrschaft wahrzunehmen gehofft hatte. Herr von Rode hatte in seiner Vaterstadt, wo der Umgang zwischen beiden Geschlechtern sehr früh beginnt, indem die Coterien gleicher Zeitgenossinnen die Brüder und Verwandten ihres Zirkels von der Zeit an aufnehmen, wo eine Jungfrau aus dessen Mitte Braut wird (so war es wenigstens vor funfzig Jahren) – Herr von Rode hatte, schön, reich und müßig, wie seine jungen Landsleute im Allgemeinen, zu guter Zeit ein bischen Lovelace zu sein versucht und fand in Molly einen würdigin Gegenstand des Besiegens. Allein er war ein Mann von edeln Anlagen, der bald in dem sechzehnjährigen Mädchen Eigenschaften wahrnahm, die sich nicht zur Kokette passen. In ihrem Gespräch, wenn sie es zwanglos [158] lenkte, herrschte eine ernste Lebensansicht vor, ihre Heiterkeit, wenn sie dessen Gegenstand wählte, war rein wie ihr Auge, und wenn ihre glühende Lebhaftigkeit sie eben dem Strafblick einer alternden Gespielin oder vernachlässigten Dame aussetzte, zog ein Kind, dessen bittende Stimme sie hörte, das Eintreten ihres Vaters, das errathene Bedürfniß eines alten Mütterchens im Winkel des Sophas ihre ganze Aufmerksamkeit an sich; sie ließ ihre Bewunderer stehen, flog jenen Gegenständen zu und ließ sich von den eiteln Männern wieder aufsuchen, oder sie schmollen, welches nie lange dauerte, da ihre Eitelkeit ihnen die unfehlbare Aussicht, Molly werde den nächsten Mann, dessen Betragen ihn auszeichnete, eben so freundlich in ihr Gefolg aufnehmen wie jeden von ihnen, unerträglich machte. Dieses Verhältniß, das nur im Gesellschaftszimmer und in Ballsälen stattfand, nahm für Herrn von Rode nach und nach eine andere Gestalt an. Er lernte das reine Wesen in ihren häuslichen Verhältnissen kennen, da Hofrath Reck's Vorliebe für die Schweiz und sein Geschäftsverhältniß zu dem jungen Ausländer diesem die Auszeichnung verschafft hatte, sich zuweilen dem Zirkel zugesellen zu dürfen, der sich um Tante Meier versammelte. Es gehört ein sehr verderbtes Gemüth dazu, um das Asyl der Gastfreundschaft und den heiligen Familienverein entweihen zu wollen. Rode's Lovelaceplänchen, die gewiß nie weiter gegangen waren als auf eine damals schon der Empfindsamkeit sich zuneigende Liebelei, wurden aufgegeben, und ohne sich zu fragen, was er denn Besseres wollte, nahm Liebe sein Herz ein, Liebe, [159] die er gern zur Leidenschaft hätte ansteigen sehen; denn alsdann würde er ihrem Gegner, dem schauderlichen Gedanken an den uralten Adel seines Geschlechts, und der ihn erwartenden ebenbürtigen Hand eines verkümmerten Zweigleins einer geldreichen aussterbenden Familie entgangen sein. In diesem innern Streit liebte er fort, und das machte Molly ihm leicht, denn mit Niemand tanzte sie lieber, scherzte sie lieber in naivem Ernst oder sprudelnder Fröhlichkeit, gab ihm Fächer aufzuheben, bat ihn um Thee – doch sobald er seiner Unterhaltung eine zärtliche Wendung geben wollte, behandelte sie ihn mit so viel Muthwillen, wie erfahrne Weiber nur thun, wenn sie ihrer Herrschaft gewiß sind; Molly aber that es, weil sie an den Umfang ihrer Herrschaft gar nie gedacht hatte.

In der Gegend von Altenburg sollte in dieser Zeit eine Hinrichtung stattfinden, und die jüngern Männer von Molly's gesellschaftlichem Kreis verabredeten Lustpartien nach diesem furchtbaren Schauspiel. Vom Tanze abtretend, fragte Molly Roden nachlässig: Sind Sie auch von einer der gefühlvollen Frühstücksgesellschaften? – »Ja wohl! wir reiten nach Basterberg, frühstücken beim Baron, essen in der neuen Schenke nach dem Actus zu Mittag und kommen mit Fackeln nach Hause.« – Was zieht Sie denn zu diesem Schauspiel? – »Zu dem Schauspiel? gar nichts.« – Nun, es ist doch ein Moment, in dem Schauspieler und Zuschauer einem denkenden Wesen Stoff zu Beobachtung geben müssen. Ich dachte, Sie, als einstiger Magistrat und Blutrichter, wollten mit Hintansetzung Ihres Gefühls diese machen. Freilich [160] ist die Exposition beim Frühstück und die Schlußscene in der neuen Schenke dem Beobachten nicht sehr günstig. – Rode blickte mit Befremden und Beschämung auf das Mädchen, die mit einem Gemisch nachlässigen Spottes und hohen Ernstes vor sich hinsprach, indem sie einen Blumenstrauß ordnete und die welken Blüten davon oftmals an ihre vom Tanze glühenden Wangen legte. – Sie misbilligen das Besuchen eines solchen Schauspiels? fragte Rode nach einigem Stillschweigen. – Das sagte ich nicht, erwiederte Molly, jetzt den Blick kalt und sicher auf ihn richtend; meinem Geschlecht ziemt die gefühlbesiegende Vernunft nicht. Ich glaube dem Vater, der dieses Schauspiel für den Beobachter nützlich hält; mein Gefühl sagt mir aber, daß es furchtbar leichtsinnig ist, eine Lustpartie aus dem Moment zu machen, wo der gewagteste Menschenwille einen Sünder der Möglichkeit eines gebesserten Lebens entreißt. – Auf diese, mit edelm Ernst von den jugendlichen Lippen gesprochnen Worte folgte ein kurzes Gespräch, in welchem Rode sich anheischig machte, der Hinrichtung nicht beizuwohnen.

Molly sagte mit schönem Erröthen und kindlicher Freude: Nicht wahr, das ist anständiger? da kommen Sie morgen zur Tante und lesen ihr vor. – Der Zauber, welcher in diesem Gemisch jugendlichen Uebermuthes, weiblicher Herrschlust, edlem Sinn und ernster Güte lag, wirkte so mächtig auf Rode, daß er sich mit verjüngtem Herzen den Rest dieses Abends ihr hingab. Molly war in ihrer Heiterkeit sanfter als gewöhnlich und begünstigte ihn mit den kleinen Vorzügen, zu denen [161] das verfeinerte Leben so viel Veranlassung gibt, daß es, trotz seiner Verkünstelung, dennoch zur Idylle Stoff bieten kann.

Wie Rode sich selbst überlassen war, schämte er sich ein bischen des unwillkürlichen Gefühls, das ihn bemeistert hatte, reihte den kleinen Vorgang des verflossenen Abends wieder an seine ehemaligen Lebenserfahrungen an und überzeugte sich, Molly's Herzens nun Herr geworden zu sein. Dennoch hatte er Edelmuth genug, um das liebliche Mädchen durch keinen Verdacht zu beleidigen, als könne die Liebe, welche er ihr eingeflößt zu haben glaubte, sie zu einer Schwäche verleiten; er hoffte nur, jetzt ein Geständniß herbeiführen und ein Romänchen fortspielen zu können, das die übrige Zeit seines Aufenthalts in Altenburg angenehm beschäftigen würde. Daß er Molly Kummer machen werde, verbarg er sich gar nicht; allein da sie ihm sehr theuer geworden war, und er vorher sah, daß er sie mit sehr tiefem Schmerz verlassen würde, so schien ihm das eine ganz artige Compensation, die ihn alles tiefern Nachdenkens über die Moralität seiner Handlung überhob.

Den folgenden Abend begab er sich, wie ein guter Feldherr fest entschlossen, seinen gestern gewonnenen Vortheil gut zu benutzen, zur Tante. Molly saß schon am Theetisch, um den man sich früher als gewöhnlich versammelt hatte, weil eine Freundin vom Lande noch diesen Abend abzufahren gesonnen war. Rode grüßte Molly mit einem Wesen, das auf Einverständniß deutete, sie rief lustig ihrem Vater zu: Väterchen, da ist Herr von Rode, und ich bekomme den Fächer! – Sie erzählte [162] nun nachlässig und mit dem Einschenken beschäftigt, daß der Vater ihrer Versicherung: Herr von Rode werde nicht in Bastenberg frühstücken, nicht habe glauben wollen, und weil sie darauf bestanden, habe er einen Fächer und sie das nächste Pickenik gewettet, es sei also. Rode war sehr empfindlich, eine Sache, die nur, so lange Molly sie als ein Geheimniß zwischen ihr und ihm behandelte, einen Werth hatte, als Theetischscherz behandelt zu sehen; er knüpfte deshalb, sich dem Theetisch nicht wieder nahend, ein Geschäftsgespräch mit dem Hofrath an. Während diesem und dem bald erfolgenden Abschied des Besuchs vom Lande fiel Rode in seinem Innern darauf, Molly's Benehmen für eine List zu halten, durch welche sie wollte bei Tante und Vater allem Verdacht eines Einverständnisses vorbauen, oder für einen Beweis kindischer Freude über ihren Einfluß auf seinen Willen. In beiden Fällen schien es ihm, daß er von seinen gestrigen Vortheilen nichts verloren habe. Dieser Ueberlegung zufolge betrug er sich, nachdem Molly von der Begleitung ihrer Freundin zurückgekommen war, mit der versteckten Vertraulichkeit eines begünstigten Liebhabers. Das Mädchen machte große Augen, wie er ihr zuflüsterte, daß er sehr glücklich über ihre heutige Einladung sei. Sie sagte laut zur Tante gewendet: Diese Einladung hat kein besonderes Verdienst; meine Tante erlaubt mir, Bekannte unseres Hauses an ihrem Theetisch zu versammeln. – Aufs neue piquirt fing Herr von Rode ein gleichgültiges Gespräch an; Molly's lebhafter Geist gab ihm schnell eine interessante Wendung, und ehe man sich's versah, war der[163] Zauber wiederhergestellt. Jetzt reichte das junge Mädchen Thee herum, Herr von Rode nahte sich, ihr seine Tasse zu nehmen, und war linkisch genug, indem er sie aus ihrer Hand nahm, einen Händedruck zu wagen. – Nieder klirrte die Tasse, der heiße Thee floß dem erboßten Rode in die Schuhe, und Molly, sehr kaltblütig ihr Kleid abreibend, sagte: Sie faßten die Tasse ungeschickt – weiter ist kein Unglück. – Das war zu viel! Koketterie, kindische Laune, kalter Spott – was war in dem Mädchen? Mühsam gewann Rode seine Fassung wieder, während der Diener die Theefluth auftrocknete; aber er hütete sich weiter an diesem Abend, auf seinen über Molly gewonnenen Einfluß zu bauen.

Wirklich schmollte er ein paar Tage und hätte es noch länger gethan, wäre nicht eine Schlittenfahrt dazwischen gekommen, bei welcher das Loos so gefällig war, ihn Molly zum Führer zu geben. Eine solche Schlittenfahrt war damals ein sehr glänzendes Fest, ohne ähnlichen Lustbarkeiten in der östreichischen Kaiserstadt im mindesten zu gleichen. Man bediente sich der kleinen Rennschlitten, wo der Cavalier hinter der Dame sitzt, die Vorreiter, in deren Zahl und glänzender Livree sich die Eitelkeit des Cavaliers am vortheilhaftesten zeigen konnte, trugen die Farbe des Pelzes oder der Kleidung der Dame, wenn es ihm möglich gewesen war, sie zu erforschen, und eben diese Farbe herrschte in dem Federbusch des flüchtigen Schlittenpferdes. Rode begab sich zur Tante, um sich die Gunst, Molly's Führer zu sein, zu erbitten; jubelnd empfing das fröhliche Mädchen der Tante Einwilligung und gab mit komischer Wichtigkeit [164] dem besänftigten Rode ihre Aufträge wegen einiger die Lustfahrt betreffenden Anstalten.

Molly, in einem bescheidenen Amazonenkleidchen von grünem Kamelot mit einer schmalen goldenen Litze, ein grün sammtenes Pelzmützchen schief über das hellbraune Haar gedrückt, sah wie die sorglose Freude aus. Es war einer der sonnenhellen Februartage, wo in jener Gegend die Oberfläche des Schnees zu schmelzen beginnt und im rechten Moment die Schlittenbahn spiegelglatt ist. Das fröhliche Schellengeläut, die bunten Farben der Damenpelze und der Federbüsche der leicht dahinfliegenden Rosse steigerten die Fröhlichkeit in Molly's Köpfchen zu einer poetischen Laune; sie nahm ihrem Führer die Zügel aus den Händen, beharrte eigensinnig, zu lenken, und nöthigte ihn solchergestalt den größten Theil des kurzen Wegs zu einer so anhaltenden Aufmerksamkeit auf sein Schlittenpferd, das bei Molly's unkundiger Führung stets die beste Lust hatte, nebenauszufahren, daß ihm keine Zeit, seine Dame zu unterhalten, gegönnt war. Molly's poetische Spannung dauerte fort; denn wie, an Ort und Stelle angekommen, der gute Herr von Rode, hinter ihrem Sessel postirt, während der eleganten Collation ihr die schönsten Dinge zu sagen hoffte, war das Mädchen zu keiner bleibenden Stätte zu bewegen, sondern indeß der arme Ritter die Tante mit Kuchen bediente, war sie am Arm eines silberhaarigen alten Stallmeisters, ihres Vaters Hausfreund, aus dem Saal entwischt, um auf einer kleinen Anhöhe neben dem Gasthof die glühende Abendröthe zu betrachten, die, eine kalte Nacht verkündend, den klaren [165] Wintertag beschloß. Molly sah den Kindern der Landleute zu, die mit kleinen Schlitten diese Anhöhe herabfuhren, und lachte ihren alten Führer aus, der sie aufmerksam machte, daß die Bahn der Kinderschlitten bis an einen Weg reiche, der zwar kein Heerweg war, auf dem aber jeden Augenblick ein Bauerwagen fahren und die Pygmäenschlittchen zermalmen konnte. Noch ein paar Sekunden, und des alten Stallmeisters Befürchtung ward gerechtfertigt; ein Wagen, nach Landesart mit Stieren bespannt, kam hinter den Häusern hervor, der Stallmeister schrie den Kindern zu; aber da war an kein Halten zu denken; der Knecht hingegen, der die Stiere führte, hielt seine Thiere an, und das war vielleicht gut, denn nun standen diese unerschütterlich still, indeß die Schlitten einer nach dem andern an die Wagenräder anfahrend oder unter dem Wagen durchschießend, ihre kleinen waghalsigen Führer ausschütteten. Die Kinder erhoben ein Zetergeschrei; Molly flog die Anhöhe herab, um den Zerschmetterten zu helfen. Die Stiere sahen sorglos vor sich hin und schienen diesen Unglücksfall schon längst in die Berechnung ihres Schicksals aufgenommen zu haben. Nicht so ihr Führer; der bediente sich des umgekehrten Endes seiner Peitsche, um ohne alle Mishandlung, ganz phlegmatisch fluchend, den Kinderknäuel auseinanderzuwirren; welches dann auch sehr schnell gelang, denn nur ein rothbäckigtes Bübchen von sieben Jahren hatte das eine Bein gegen die Radspeichen zerbrochen. Der Stallmeister nahm das Unglück sogleich wahr, faßte den Knaben behutsam auf die Arme und trug ihn, von Molly begleitet, zu seinen Eltern. Indem[166] er mit männlicher Ruhe dieser armen Leute Jammergeschrei zu stillen suchte, zog Molly sehr behende und behutsam dem Bübchen seine Kleidung ab und erhielt es auf dem Bekte ruhig liegend, indem sie mit süßer Schmeichelstimme ihm vorsprach und ihm ihre Uhr, ihr Halsband und dergleichen Herrlichkeiten zum Spielen hinreichte. Der Wundarzt kam, Molly half mit wundersamem Muth bei dem Verbande, aber nicht ohne große Anstrengung, denn indem sie fortfuhr dem Kinde mit lächelndem Gesicht zuzusprechen, rollten ihre Thränen, wie Thautropfen über ein Marmorbild, über ihr erbleichtes Gesicht.

Jetzt war der Wundarzt fertig, der Knochenbruch war ohne Splitter, das Kind gesund, also eine nahe, gründliche Heilung zu hoffen; die Rosenfarbe der Freude kehrte auf Molly's Wangen zurück, und im Gefühl, geholfen zu haben, wendete sie sich jetzt vom Kinde ab. – Da erblickte sie die Tante und Herrn von Rode hinter sich, die schon lange Zeugen ihrer Thätigkeit waren. – Der Ruf des stattgehabten Unfalls hatte die Tante auf die Abwesenheit der Nichte aufmerksam gemacht, sie war ihr mit Herrn von Rode nachgeeilt; der alte Stallmeister, den des jungen Mädchens Benehmen in der Seele freute, hatte sie bei ihrem Eintritt in die Bauernstube verhindert, sie darin zu stören, und beide sahen dem Bemühen des hülfreichen Kindes mit Rührung zu. Unbefangen begrüßte sie die Freunde, bat die Eltern des Knaben, ihr recht oft Nachricht von dessen Befinden zu geben, versprach diesem Spielzeug zu schicken und hüpfte an Rode's Arm zu der Gesellschaft zurück. Rode war[167] wirklich tief gerührt, sinnlich und übersinnlich ergriffen. Er mochte es auszudrücken versuchen, da stand die Kleine mitten im Schnee still; »a propos, Tantchen, rief sie, sagen Sie doch dem Herrn von Rode, ein für alle Mal von der Geschichte gar nicht mehr, besonders da oben (auf die jetzt erleuchteten Gesellschaftszimmer des Gasthofes deutend) zu sprechen.« – Madame Meier bat mit Bestimmtheit darum, und Herr von Rode sah viel zu sehr seinen Vortheil dabei ein, Molly's Geheimniß zu besitzen, um indiscret sein zu wollen.

Die Gesellschaft fuhr mit Fackeln zurück, um sich in der Stadt zu einem Thee dansant zu versammeln. Die empfundne Gemüthserschütterung hatte Molly ernster als gewöhnlich gestimmt, Rode hatte einen ähnlichen Eindruck empfangen; die Unterhaltung war für die Schellenbegleitung sehr solide, der Schlittenführer hielt sie aber dennoch für sehr zweckmäßig. Kurz vor der Stadt entstand eine Unordnung unter den vordern Schlitten, Herr von Rode mußte den seinen lange halten lassen; da kamen ihm alberne Gedanken bei, und die Nähe von Molly's schöner Wange, neben der er sich, das Leitseil zu ordnen, hinbog, verleitete ihn, vom Schlittenrecht zu sprechen. Molly rückte behend zur Seite und sagte nachlässig aber entschieden: Ja, das versteht sich, das Recht löse ich, sowie Sie mich zu meiner Tante geführt haben. Die Schlitten brachen auf, Rode war sich gram, wie ein Gimpel zutäppisch gewesen zu sein, und zerstreute sich mit der Neugier, was für ein Gesicht das Mädchen machen würde, wenn er sie vor den Augen der Gesellschaft an das Schlittenrecht erinnerte. [168] Sie machte gar kein Gesicht – sondern ehe er sie erinnern konnte, sobald sie, noch an seinem Arm, die Tante begrüßt hatte, warf sie die Kappe zurück und bot ihrem Führer mit einer höchst graziösen Verbeugung die Wange zum Kuß dar. Ein alter Engländer, der neben der Tante stand, rief angeheimelt von dem Tableau: Die niedliche junge Dame könnte unsern schönsten Misses diesen echt altenglischen Gruß lehren, so national ist ihr Anstand! – und Molly flog sorglos in ein Nebenzimmer, um sich von ihrem Pelze zu befreien.

Rode's Herz war nun wirklich befangen, es lief diesen Abend mit seinem Patrizier und seinem Menschenverstand davon; denn während Molly ein paar Tänze überschlug, machte er ihr, was man ehemals eine Liebeserklärung nannte. Die Jungfrau hörte ihn sehr ruhig an, ließ ihn auch ausreden und sagte erst nach einigem Zögern: Nun, wenn ich das Alles in dem Sinn aufnehme, wie Sie es ausdrücken, was würde denn da? – Gott! ich wäre der glücklichste Mensch! rief Rode. – Ich wäre aber nicht glücklich, erwiederte Molly rasch, sondern spielte einen platten Roman, der mit Selbstverachtung und Misachtung Ihrer endete. – Jener fuhr auf. – Ruhig, mein Herr! Ihre Erklärung hatte ich von Ihrem Verstande nicht erwartet, aber mein Herz habe ich schon länger dagegen verwahrt. Vor einem Roman muß ich es schützen – denn es ist ein weiches Herz; daß ein solches Verhältniß zwischen dem berner regierenden Herrn und mir nur ein Roman bleiben kann, sagt mir mein Stolz, somit erwarte ich, daß Sie dieses Gespräch nie erneuen. – Sobald Rode sein Befremden [169] über dieses Benehmen bemeistert hatte, suchte er sich in Empfindungen auszubreiten; Molly ließ ihn sprechen, pflückte Wachs von einer vor ihr stehenden Kerze, machte Kügelchen und fragte plötzlich: Wollen wir sehen, ob sie die Wahrheit sagen? Da! wenn die fünf Kugeln ein Kreuz machen, muß ich Ihnen glauben. – Sie rollte sie auf den Tisch, und die fünf Punkte bildeten von allen Gestalten der Welt am wenigsten ein Kreuz. – Da sehen Sie nun, wie übel ich daran wäre, hätte ich die Sache im Ernst genommen, rief sie sorglos und hüpfte dem Tänzer entgegen, der sie jetzt zur nächsten Anglaise abrief. Rode war tief gekränkt, er schmollte den übrigen Abend, indeß Molly mit gleicher Heiterkeit ihren Weg fortging. Wie die Tante sich entfernen wollte, suchte sie den Unzufriednen auf und bat um ihren Pelz, Kappe und dergleichen, die er ihr abgenommen. Ihre Stimme war so mild, sie legte, um ihm von dem Gespräch, in dem er zu sein vorgeben wollte, zu unterbrechen, ihre Hand so zutraulich auf seinen Arm, daß er irre an ihr wurde. Ist das recht, so mit mir zu spielen? fragte er bedeutend, indem er sie die Treppe herabführte. – Spielen? rief Molly erschrocken; also ist's Ihnen nicht möglich, mich in meinem unbefangenen Sinn hinleben zu lassen? – Hier stieg sie in den Wagen, beschämt über Rode's Irrthum, und Rode war durch den Ausdruck ihrer Stimme aufs neue bewogen, ihr Wesen für Wahrheit zu halten.

Das hat nun wol nie in der Wirklichkeit statt gefunden, daß nach so einer Erklärung zwischen einem jungen Mann und einem jungen Mädchen ein unbefangenes [170] Verhältniß stattgefunden hätte. Molly hätte Geistesfreiheit genug dazu gehabt, aber Roden fehlte es an Reinheit der Gesinnung und Charakterkraft; er zerstreute sich in Beflissenheit gegen andere Frauen und versuchte hie und da bei Molly eine günstigere Stunde zu einer zärtlichen Rede zu finden. – Obschon im Innern verwundet, war nun alle Gefahr für ihr Herz verschwunden; sie ließ ihrem Muthwillen oder ihrem Verstand freie Hand, ihre Gespräche mit Rode zu wenden. Endlich einmal, in einem sehr schlechten Concert, sagte ihr Rode sehr schöne Dinge, auf die sie durchaus nicht hörte; beleidigt rief er: Wie kann diese Musik Sie beschäftigen? Ich glaube Sie zögen die Trommel selbst meinem lästigen Gespräch vor! – »Diesem Gespräch unfehlbar. Wie gern ich Musik einem bessern Gespräch aufopfere, haben Sie bei dem Ihren mit mir oft erfahren« – und nun horchte sie wieder gespannt auf eine unbarmherzige Geige.

Denselben Abend sagte Molly's Vater, daß er Herrn von Rode Briefe zugeschickt habe, die seine unverzögerte Abreise nach **n erfoderten, was auch keine Schwierigkeit fände, da seine Proceßgeschäfte beendigt wären. Des folgenden Morgens kam er auch wirklich, alle noch nöthige Abrede mit Hofrath Reck zu nehmen, und am zweiten Tage stattete er seinen Abschiedsbesuch ab. Der Mann war lange mit gastfreier Güte in dieser Familie aufgenommen gewesen, er hatte sich Wohlwollen und Achtung erworben, alle Mitglieder derselben waren bei seiner Abreise gerührt. Nachdem Rode den Vater, die Tante umarmt, nahte er sich Molly, küßte ehrerbietig [171] ihre Hand, hielt sie, sein Gefühl zu bemeistern bemüht, in der seinen und sagte bewegt: »Sein Sie glücklich, so glücklich, wie Ihr schönes Gemüth es verdient!« – Jetzt ließ er ihre Hand, seinen Blick fest auf ihr erröthendes Antlitz geheftet, langsam los und eilte dann schweigend hinweg.

Was war denn das für eine wunderliche Standrede, junges Frauenzimmerchen? fragte der Vater, indem er von Rode's Begleitung zurückkehrte. – Hm! das sind schöne Redensarten! antwortete die Kleine humoristisch, weil ihre Thränen hervorquellen wollten. – Die schicken sich aber doch nicht in das gewöhnliche gesellschaftliche Verhältniß. Was meinst Du, Schwester? zu Tante Meier gewendet. – Ja, liebes Papachen, rief Molly, unsers war auch ungewöhnlich. Hätten Sie eine ordentliche, gescheute Jungfer aus mir gezogen, so wäre mir's vielleicht geglückt, alle Barettlestöchter der *eschen Republik aus Herrn von Rode's Herzen zu verdrängen. – Mir däucht, daß auch der Scherz über so einen Gegenstand unziemlich ist, sprach der strenge Hofrath, indem er die Tante fragend ansah; Molly aber unterbrach ihn mit aufloderndem Selbstgefühl: Erlauben Sie! rief sie, die Tante, welche Zeuge alles meines Thuns und Vertraute meiner Gedanken ist, wird bezeugen, daß Herrn von Rode's Worte mir Ehre machen – und in einem höchst wohlkleidenden Kothurn verließ sie das Zimmer um – im Ernste Rode einige Thränen zu weihen.

Molly erfuhr noch in demselben Jahre, daß Herr von Rode eine reiche Erbin aus einem vornehmen Geschlecht seiner Vaterstadt geheirathet hatte – die Weichheit, [172] welcher sie bei seiner Abreise nachgegeben, war jugenöliche Trauer um eine hinschwindende Freude gewesen, nicht Schwäche des Herzens – vor der hatte sie ihr weiblicher Stolz gänzlich bewahrt; sie erfuhr daher Rode's Heirath mit etwas weiblichem Spott, wegen der Barettlestochter, aber ohne alle Betrübniß, und mit eben so heiterer Verstandesansicht gab sie noch ein Jahr später einem wohlhabenden, sehr schätzenswerthen, aber viel ältern Mann ihre Hand. Molly hat kein Herz, sagte ein Theil ihrer Bekannten; sie hat mit Koketterie ihre Anbeter festgehalten, keinen begünstigt, niemals geliebt, sagten Andere; die Eitelkeit leitet ihre Handlungen, sagte ein Dritter. Sowie bisher ihre Liebenswürdigkeit ihr die erste Stelle in der Gesellschaft einräumte, will sie sich durch Geld und Rang auch nach ihren Blütentagen die erste Stelle zusichern. – Sie heirathet aus Depit, rief ein verblühtes Fräulein von Dreißigen; seit der berner Patrizier sich verabschiedet, war es offenbar, daß sie nur eine Versorgung suchte; sie behandelte ja die jungen Herren mit einer Pedanterei! – Sachte, sachte, Fräulein Miekchen – nahm eine sehr betagte Dame das Wort, die bisher, ohne mitzusprechen, jede Sprechende mit den offnen klaren Augen angesehen hatte, welche gute Alte so auszeichnen – wenn eine so gute Tochter, eine so sittsame Jungfrau, wie Molly, die Jugend und Schönheit zum Malschatze bringt, einen reifen Mann wählt – denn das wissen Sie, meine Damen, daß Molly die Wahl hat – so ist's vielleicht ein Beweis, daß sie das Bedürfniß hat, ihren Gatten schätzen zu können, und daß ihre jungen Herren [173] ihr nicht besondere Werthschätzung einflößten. – Die Greisin hatte das junge Herz errathen, weil ihr Herz rein geblieben war wie das Herz der blühenden Jungfrau.

Sehr zartfühlende Gemüther, besonders wenn ein lebendiger Geist sie vielseitigen Anregungen von außen aussetzt, entdecken sehr bald, daß es kein anderes Mittel für sie gibt, den Verletzungen durch das Leben zu entgehen, als indem sie ihre Vernunft stets die Runde gehen lassen, damit sie jedem Angriff zuvorkomme. Ist ihr Gefühl einmal angeregt, so geräth es mit der Außenwelt in so schmerzlichen Kampf, daß nur Zeit und Opfer die Ruhe wiederherstellen. Sie entgehen dem nicht, trachten aber darnach, wie sie können. Das macht dann Sonderlinge, gutherzige Murrköpfe, und bei dem zartern Geschlecht verschloßne Charaktere, die mit ihrem vollen Herzen einsam durch die Welt gehen und, oft verkannt, sich des Tages freuen, wo die Herzen sollen offenbar werden. Zu den Letzten hätte vielleicht Molly gerechnet werden können, wenn sie nicht als Mutter so viel geliebt, als Gattin so viel Pflichten erfüllt hätte und durch die dankbare Achtung ihres Gatten für so Vieles entschädigt worden wäre, daß sie mit seliger Wehmuth das Gefühl trug: Liebe, eigentliche Liebe, die Liebe der Jungfrau zum Jüngling, diese Blüte des irdischen Daseins, nie gekannt zu haben.


Tante Meier war zur Ruhe eingegangen, Vater Reck lebte im Kreise mehrerer Enkel bei seinem Schwiegersohn, [174] der trotz seiner sechzig Jahre seine, durch die veränderten Staatsverhältnisse ihm übertragne ansehnliche Amtswürde mit rühmlicher Thätigkeit verwaltete. Wir erneuen unsere Bekanntschaft mit Molly, der jetzigen Frau von Frank, neunzehn Jahr nach ihrer Heirath in einer sächsischen Residenz, wohin ihr Gemahl versetzt war. Frau von Frank wollte ihr Haus während der häufigen Durchmärsche, die jetzt stattfanden, den Lasten der Einquartirung nicht entziehen; sie legte den Kriegern, die sie aufnahm, den starken Zaum der Sitte an, indem sie dieselben freundlich als Gäste behandelte und durch gebildeten Ton Gleichgesinnte anzog, Rohe entfernte. Maria, ihre achtzehnjährige Tochter, war jetzt so blühend, so liebenswürdig wie ihre Mutter, da das neidische Fräulein ihr schuld gab, aus Depit heirathen zu wollen; sie war vielleicht schöner noch als diese, aber den festen klaren Sinn, der Molly fähig machte, ihre Neigung zu Herrn von Rode zu beherrschen, und der ihr diese Neigung besiegen half, sobald ihre Achtung für ihn abnahm, den hatte sie nicht. Die Töchter starker Mütter bilden sich weichmüthig oder starrköpfig aus – so will es die Wechselwirkung in der geistigen Natur. Maria war weich, aber innig wie ihre Mutter und reines Herzens wie sie. Das junge Mädchen war in dem Innern des Hauswesens, welches den einquartirten Gästen stets unzugänglich blieb, als hülfreiche Tochter beschäftigt und zeigte sich bei Tisch und in den Gesellschaftsstunden stets an der Seite ihrer Mutter, mit dem Anstand, der ihr Bewunderung zuzog, aber alle Zudringlichkeit abwehrte. Nach sehr blutigen [175] Kriegsvorfällen ward das Cadre eines bairischen Regiments nach *tha verlegt, um dort seine Ergänzung abzuwarten, ein Lieutenant desselben ward auf Herrn von Frank's Haus verlegt, »Herr Lieutenant von Rode,« buchstabirte Robert, Frank's zehnjähriger Sohn, indem er den Quartierzettel hereinbrachte, und setzte mit einem Hops hinzu: »'s ist eine recht schmucke Ordonnanz, die ihn bringt.« Frau von Frank verwandelte beim Anblick des Quartierzettels die Farbe, ging zu der Ordonnanz hinaus, sie um die Bedürfnisse ihres Herrn zu fragen und schickte dann Maria, das Abendessen zu bestellen, indeß sie die Anordnung des Gastzimmers betrieb.

Lieutenant Rode führte sich bei seinen Quartierleuten mit der angenehmen Höflichkeit ein, welche auch noch jetzt seinen Landsleuten – er war ein Berner – den Zutritt in Familienkreise erleichtert. Milde Sitte, Theilnahme an einfachen Freuden, Ehrbarkeit des Wortes und der Geberde setzten zwischen dem hübschen Krieger und seinem bourgeois beim kleinen Abendessen bald einen Ton fest, der allen Zwang ausschloß und keine zutäppische Vertraulichkeit noch hirnlose Courmacherei fürchten ließ. Frau von Frank erfuhr auf ihre erste Frage, daß sie den Sohn ihres ehemaligen Anbeters, des jetzigen berner Rathsherrn, vor sich habe. Von jenem Andenken war, wie in schönen Seelen von jeder Erinnerung, wie bitter die Gegenwart einst gewesen ist, heiteres Wohlwollen übriggeblieben. Der Jüngling schien ihr verwandt, sie fühlte sich für ihn zu Dienst und Güte verpflichtet, und indeß ihr Gatte, der seinen Vater ebenfalls gekannt hatte, sich mit ihm über den [176] Zustand seines Landes und den Einfluß besprach, den die Umwälzung der Begriffe noch vielmehr als die des Besitzthums und der Oberherren, und viel unauslöschlicher hervorgebracht hatte, nahm sie wahr, daß der junge Mann seines Vaters rechtgläubige Ansichten nicht theile, und der Wunsch, seinen vaterländischen Verhältnissen zu entgehen, ihn zu fremdem Kriegsdienst vermocht hatte. Lebhaft sich in Herrn von Rode's Lage versetzend, den der Zwiespalt zwischen seinen Ansichten und denen seines Sohnes sehr quälen mußte, trug ihr Bemühen, in des Jünglings Seele jede persönliche Unzufriedenheit gegen den Vater zu vertilgen, sehr viel bei, diesen schnellere Fortschritte in ihrem Wohlwollen machen zu lassen, sowie er auch jedes Mitglied der Familie gewann. Mit dem alten Herrn spielte er Schach, dem Knaben machte er eine feste, schwere Armbrust und übte ihn recht systematisch im Schießen, mit Marie lebte er, leider, wie ein freundlicher Verwandter, der ohne Ansprüche alle süßen Rechte des Familienmitgliedes hat, und daraus erfolgte, was wol bei bisher freien Herzen nicht zu vermeiden ist – die jungen Leute waren verliebt, ohne daß eine Spur von Leidenschaft weder gleichgültige Zeugen noch die Mutter selbst aufmerksam machen konnte. Frau von Frank hatte Marien bei des jungen Kriegers Eintritt in ihr Haus von seinem Vater erzählt; aber ihr das flüchtige Verhältniß bekannt zu machen, das diesem einst ein so lebhaftes Interesse für sie gab, hielt sie das Gefühl zarten Anstandes ab; durch eine lästige Warnung der Klugheit ward sie aber bewogen, Rode's Familiendünkel und die Erstarrung in allen Begriffen, welche [177] einer Klasse seiner Mitbürger eigen ist, lebendig darzustellen. Was Mariens Herz gegen Gefahr bewaffnen sollte, ward in diesem demüthig bescheidenen reinen Herzen zum Verräther an ihrer Ruhe. Die Natur der Empfindung, welche Albert ihr einflößte, blieb ihr unbekannt, sie kannte nur die Liebe zu ihrem Vater und zu ihrem jüngern Bruder, dessen Wärterin sie schon gewesen war. Was ihr Herz, nicht kindlich wie für den Vater, nicht mit Sorgfalt und Aufopferung – also mütterlich – wie für den Bruder bewegte, das hielt sie jetzt für Schwesterliebe und überließ sich ihm ohne Scheu. Albert hingegen, der von Frau von Frank's Ermahnung, sich herzlich und unbedingt mit seinem Vater zu versöhnen, innig gerührt worden war, erklärte ihr nach den ersten vierzehn Tagen seiner Anwesenheit in ihrem Hause, daß er ihm geschrieben und solche Vorschläge gethan, die ihn gewiß fröhlich in sein schönes Vaterland zurückführen würden. Mit der Ungeduld, eine schöne That gelungen zu sehen, wartete die wohlmeinende Frau auf die Antwort ihres ehemaligen Verehrers, war aber sehr bestürzt, als sie in der Zeit, wo diese Antwort eingelaufen sein konnte, die heitere, milde Stimmung des jungen Mannes ganz verschwunden, und indeß sie noch mit sich zu Rathe ging, ob sie ihn nicht um die Veranlassung dazu befragen sollte, auch eine beunruhigende Veränderung in seinem Verhältniß zu Marien eintreten sah. Die gute Mutter hatte die Sorgen, die große Kinder machen, noch nicht erfahren. Die kleine uns geben, scheinen so schwer! aber wenn das Aergste kommt, die Leidensflut über dem Haupte der Mutter[178] zusammenschlagen will, kann sie das kleine Kind rund mit ihren Armen umschließen, an ihrem Busen verbergen, auf ihrem Rücken forttragen – das große Kind geht nur neben ihr, sie ruft es, sie führt es; aber wie oft strömt die Flut zwischen sie Beide, daß es ihre Stimme nicht mehr hört, und ihrem Recht und ihrer Kraft, es mit Gewalt dem Untergang zu entreißen, ist es entwachsen. – Wie sie ängstlich beobachtete und schmerzlich nachsann, schlüpfte Marie einst am späten Abend zu ihr ins Schlafzimmer und bat nach lang vergeblich bekämpften Thränen: O liebe Mutter, mache, daß Albert fortgehe! – Frau von Frank hatte beim ersten Anblick von ihrer Tochter leidenschaftlichem Schmerz Fassung, ja Klarheit des Geistes gewonnen und wußte, nachdem sie mühsam die Ursache von diesem Schmerz erfragt, augenblicklich und mit Bestimmtheit, was ihr zu thun gebühre. Albert hatte vielmehr in seiner schnell erwachsenden Liebe zu Marien als in Frau von Frank's Zureden den Beweggrund gefunden, seines Vaters Versöhnung zu suchen. Er hatte schon drei rühmliche Feldzüge gemacht, der Schluß des gegenwärtigen ließ einen Frieden hoffen; er erbot sich gegen seinen Vater, dann sogleich seinen Abschied zu nehmen und sein Vaterland nie mehr zu verlassen – die einzige Bedingung, die er ihm setzte, war – die Erlaubniß, ihm Marie als Schwiegertochter zuführen zu dürfen. – Er hatte, ungeachtet der Verschiedenheit der Meinungen, die ihn von seinem Vaterlande entfernten, nicht sein Sohnesverhältniß zerrissen, sondern war in fortwährendem freundlichen Verkehr mit den Seinigen geblieben; dem zufolge hatte [179] er schon in den ersten Tagen seines Aufenthalts bei Frau von Frank seinem Vater von seinem Glücke geschrieben, in dem Hause seiner ehemaligen Bekannten zu wohnen, hatte ihm deren Grüße bestellt und mit Innigkeit ihre Güte, ihre Liebenswürdigkeit gelobt; sein Vater hatte also Zeit gehabt, sich mit den Bildern seiner Vergangenheit, die ihm die ehemalige reizende Molly darstellten, wieder bekannt zu machen – aber wie matt erschienen sie auf dem falben, übermoosten Gemälde seiner Phantasie! Seufzend gestand er sich, daß nie ein Bestreben seines Duodezehrgeizes seine Seele so gehoben habe, wie damals ein schöner Gedanke, aus Molly's Munde gehört, oder in ihren blitzenden Augen gelesen, und dann dünkte er sich doch ein ganzer Held, daß er damals sein thörichtes Herz beherrscht, und rechnete die Gelegenheiten her, wo ihm die Sippschaft seiner kalten, stumpfen, leeren Gemahlin Einfluß verschafft hatte, und wie er durch seine Heirath mit einer nichtsbedeutenden Fremden zu einem dunkeln Landjunkerleben verurtheilt gewesen sein würde. Welchen peinlichen Eindruck mußte deshalb Alberts Brief, sein Geständniß, seine Bedingung der Rückkehr ins Vaterland auf ihn machen! Seit drei Jahren zitterte er für das Leben des einzigen Sohnes, seit drei Jahren verfolgte ihn seine Gemahlin mit kraftlosem Klaggewinsel von Ahnungen und Schrecken, und nun hatte er die Wahl zwischen diesem und einem noch größern Uebel – und endlich noch das peinliche Gefühl, der Frau, deren fester, reiner Sinn noch in halb kindischer Jugend seine Liebe verwarf, jetzt, nun sie seinen Sohn mütterlich aufgenommen, wieder selbstsüchtig [180] gegenüber treten zu müssen. Aber die Gewohnheit, das ihm als recht und heilsam Erscheinende nur auf dem Wege alt hergebrachten Uebereinkommens zu suchen, und die Erfahrung, daß es da gefunden werde, gab ihm die nöthige Entschlossenheit, seinem Sohn seine Einwilligung zu einer Verbindung mit Marien unbedingt abzuschlagen; er versprach ihm dagegen jede Freiheit seines Willens zu jedem andern Entschluß, und wenn er seinen Abschied vom Kriegsdienst nehmen wollte, nach seiner Rückkehr ins Vaterland eine gänzlich unabhängige Lage. Frau von Frank erwähnte er dabei mit der ehrerbietigsten Anerkennung, ja, um den Sohn zur Nacheiferung in einer heldenmäßigen Selbstüberwindung zu bewegen, entdeckte er ihm die Neigung, die er einst gegen diese liebenswürdige Frau bekämpft zu haben sich rühmte.

Das waren doch Funken genug, um den Kopf eines liebeheißen einundzwanzigjährigen Jünglings in Brand zu setzen? – Für seinen Vater war also sein Leben selbst nicht so wichtig als der Stolz seines Namens? Er ließ diesen sogar lieber auf dem nächsten Schlachtfelde untergehn, als ihn mit dem eines würdigen Bürgers zu verbinden – konnte er dem Vater Liebe um Liebe geben, dessen Liebe also in kleinlicher Selbstsucht erstickt war? Ja, diesem Vater fehlte nicht einmal das sinnliche Bild von dem Liebreiz, der des Sohnes Herz Marien gewonnen hatte, denn er gab ja vor, Mariens Mutter geliebt zu haben, er mußte also begreifen, wie liebenswürdig die Tochter jetzt sei. – Und dieser Gedanke entspann eine andere Ideenreihe, die sein empörtes [181] Gemüth nicht zu beschwichtigen geschickt war. Er ward zu einem Vergleich verleitet zwischen der Frau, die bei veränderten Umständen seines Vaters Gattin hätte werden können, und der Frau, die seine Mutter geworden war: er stellte die ernste Pflichterfüllung, das geistvolle Leben, die anmuthige Thätigkeit, das innige Beisammensein von Frank's Familie neben die schlaffe Unthätigkeit, die leere Zeittödtung, die weichliche Schmeichelliebe und kalte Theilnahmlosigkeit, die in seinem Vaterhause geherrscht hatten; und seine Leidenschaft legte ihm zur Pflicht auf, Gehorsamsbande zu sprengen. Er versprach sich, an Mariens Seite ein kleines Paradies zu bauen, in das er seinen Vater selbst einst einführen wollte; denn an diesen hatte ihn von jeher das dunkle Gefühl gefesselt, daß er besser sei als alle seine Umgebungen. Jetzt fand er dieses Gefühl dadurch gerechtfertigt, daß, ohne darum froher zu sein, der Vater stets so bereitwillig gewesen war, sich mit ihm als Knabe und Jüngling aus dem flachen Zirkel seines Salons hinwegzuschleichen, um in der freien Natur trübe zu träumen. Das alles hatte der aufgeregte Jüngling Marien gesagt; eine große Gesellschaft, in der er, wie er meinte, unbeobachtet mit ihr sprechen konnte, verschaffte ihm Gelegenheit dazu, und er hat sie, es ihrer Mutter zu wiederholen, und zugleich seine Bitte um ihren Segen zu seinem festen Entschluß: sobald der Frieden ihm einen ehrenvollen Abschied erlaube, bei dem Fürsten, dem er jetzt diene, eine Civilanstellung zu suchen, und dann sie als sein Weib einzuführen in eine Hütte, die nicht ganz leer sein würde, denn er besitze [182] ein kleines, ihm von einer Tante hinterlassenes, von seinem Vater unabhängiges Erbtheil.

Es war Frau von Frank gelungen, durch die Ruhe ihres Benehmens Mariens weiches Herz zu beschwichtigen, sodaß sie am Ende ihres Berichts mehr jungfräuliche Beschämung als Schmerz empfand. Was sagt meine Marie zu Alberts Entschluß und Vorschlag? fragte sie ziemlich lange, nachdem diese ihren peinlichen Bericht beendigt hatte. Aber sie fragte vergeblich, denn statt aller Antwort erfolgte nur ein neuer Ausbruch von Schmerz. Gut, mein Kind, wenn Du zu weich bist, mir zuerst Deine Gedanken zu eröffnen, nahm die Mutter von neuem das Wort, so will ich Dir sagen, welches Deines Vaters Ansichten sein müssen, denen ich beistimme. Wir Beide können nur Herrn von Rode's Abneigung gegen eine Verbindung zwischen unsern Kindern beipflichten, und aus ganz gleichen Gründen. Er sieht eine solche Schwiegertochter für ein Hinderniß bei seines Sohnes Glück an, und wir verachten die Sippschaft und die Verhältnisse, in welchen gleiche Bildung, gleiche Ansprüche an Achtung keine Geltung haben. Du wirst Albert seine Ehrenbahn in seinem Vaterlande nicht verkümmern wollen; auch Du wirst Dich nicht in eine Familie drängen wollen, der Du unsere Verachtung zubrächtest; also kannst Du Alberts Frau nicht werden. Nun wird Albert sagen, und Du wirst fühlen, daß er recht hat, daß ihr jener Sippschaft und jenen Ehren freudig entsagen wollt; allein dann ist Albert ein rebellischer Sohn, einem solchen aber fehlt es an Vertrauen zu sich selbst und einst zu seinen Kindern; er ist ein [183] schlechter Bürger, denn er warf Pflichten gegen das Ganze um seiner Persönlichkeit willen von sich; das nimmt ihm die öffentliche Achtung und in der Stunde der Prüfung die Selbstachtung. Du kannst also nicht sein Weib werden. – Mariens Thränen stockten in ihren überfließenden Augen, sowie die Seufzer in ihrer beklommenen Brust; mit hohler, mühsamer Stimme, indem sie ihre unnatürlich kalte Hand in ihrer Mutter Hände legte, sagte sie jetzt einfallend: Ich darf und will Alberts Gattin nicht werden; wehe aber Denen, die zwei schuldlose Herzen verderben! – Und nun rannen die verhaltenen Thränen einzeln und wie halb erstarrt über die marmorblasse Wange des heftig erschütterten Mädchens.

Den folgenden Tag, viel früher als dem jungen Krieger die Frauen zu begrüßen vergönnt war, beschied ihn die Mutter, welche mit ihrem geehrten Gatten die nöthige Abrede genommen hatte, zu sich. Ihr festes Gemüth bedurfte bei ihm mehr Beharrlichkeit und Geduld, einen edeln Entschluß zu befördern, als bei dem demüthig stolzen Herzen der Tochter; denn in diesem hatte des alten Herrn von Rode's ehemals gegen ihre über Alles hochverehrte Mutter bezeigte Selbstsucht eine Kraft, sich selbst zu opfern, entwickelt, deren sie sich selbst nicht bewußt war. Alberts endlicher Entschluß war kein Resultat einer klaren Einsicht, sondern Verzweiflung an der Möglichkeit, jetzt seinen Zweck zu erlangen, und Rache gegen seinen Vater, die er auf Kosten seines Lebens in der nächsten Schlacht zu befriedigen gedachte. Albert war einundzwanzig Jahr alt – wir wollen ihm nicht zürnen. Frau von Frank war schmerzlich bewegt! – [184] Allein sie sagte sich, daß der Schmerz der ersten Liebe im Kriegsgetümmel und im liebenden Kreis herzlich erfüllter Pflichten nicht unauslöschlich ist, und sie ertrug des Jünglings Toben und ertrug der Tochter stummen Schmerz.

Noch in derselben Stunde, da Alberts Gespräch mit Frau von Frank statthatte, suchte ihr Gatte seine Tochter auf; gewohnt, ihre Gefühle ihren häuslichen Pflichten unterzuordnen, fand er sie auch jetzt, zwar mit verweinten Augen, aber sanftem Lächeln um den wehmüthigen Mund, neben ihren beiden jüngsten Geschwistern, ein paar muntern Mädchen, deren Arbeit sie anordnete. Liebe Marie, rief er ihr zu, laß den Mädchens ihr Nähezeug wegpacken, und rüstet Euch gleich mit mir nach Bergdorf zu fahren. Ich habe eine Commission auf dem Schlosse, da könnt Ihr ein paar Tage bei Deinem alten Lehrer, dem Pfarrer, bleiben. – Die kleinen Mädchen jauchzten; Marie verstand den Sinn von ihres Vaters Entschluß, der Schmerz lähmte ihre Zunge, ihre Bewegungen; aber die Schwestern, welche sie heute schon zehn Mal gefragt hatten: Mariechen bist Du krank? hingen an ihrem Halse und riefen unter Liebkosungen: Komm! komm! da wird Dir gewiß besser! und zogen sie zu den Kleiderschränken fort, damit sie ihnen ihre Reisegarderobe übergeben möchte. Nach einer Stunde stand der Wagen vor der Thür, Kinder und Mutter waren versammelt, um von einander Abschied zu nehmen, nur der Vater hielt sich noch in seinem Cabinet auf. Marie lag weinend in der Mutter Armen, als er, Albert an der Hand führend, ins Zimmer trat. [185] Kommt Mädchen, rief er, nehmt von unserm jungen Freund Abschied, denn er wird bei unserer Rückkehr kaum mehr bei uns sein. – Albert schloß die ihm weinend entgegeneilenden kleinen Mädchen in die Arme, schluchzte laut und blickte zu Marie hin, die heldenmäßig gefaßt, ihm die Hand bot; er warf einen flüchtigen Blick auf den Vater, der die ausgestreckte Hand ergriff und sehr weich und innig sagte: Marie, der Krieger bedarf der edeln Mädchen Beifall, ehre unsern Albert mit einem schwesterlichen Kuß. – Einen Augenblick preßte der Jüngling die Jungfrau an seine Brust, dann wankte er mit ihr an den Wagen. Wie der Vater jetzt seine Gattin zum Abschied umarmte, hob diese seine Hand zu ihren Lippen, und diese Bewegung und ihr durch Thränen in Dankbarkeit leuchtender Blick verjüngte die Frau so sehr, daß sie in diesem Augenblick vielmehr der theilnehmenden Schwester als der Mutter der betrübten Maria zu gleichen schien.

Der Wagen fuhr ab, und nun sorgten die kleinen Mädchen dafür, daß Marie unbeobachtet weinen konnte, oder noch besser, um sie zu trösten, ihren Schmerz zu bemeistern sich zwang. Der Gedanke, daß Albert nun dem Krieg gerade entgegengehe, und Kanonen, Bajonette und Flinten dem lieben Freund unmittelbar drohen sollten, war den Kindern jetzt plötzlich so nahe gerückt, daß sie den Vater mit tausend Fragen über dessen Zukunft bestürmten, weil sie nach Kinderart Trost von außen suchten, anstatt ihn bei der Einkehr in ihr Inneres zu finden. Der Vater ging in ihre Befürchtungen ein, sprach von den Schrecknissen der Gefahr, der Pflicht [186] des Kriegers und der Freude, die liebende Verwandte genössen, wenn der Krieger mit Ruhm gekrönt heimkehre, ja von dem edeln. Stolz, der auch den Schmerz aufwöge, wenn ein schöner Tod ihnen den Geliebten entriß. Die Absicht des weisen Mannes gelang; indem er die Jüngern zerstreute, gesellte er Mariens Schmerz eine edle Ansicht allgemeiner Theilnahme bei, die rückwirkend den Geliebten verklärte; und so glückte ihm, ohne von ihren innern Empfindungen im geringsten unterrichtet zu scheinen, daß er diese besänftigte. Einige Tage, in dem Schoos der Natur, dem Genuß und den Beschäftigungen des Landlebens, unter den Augen ihres geehrten Jugendlehrers zugebracht, halfen dem lieben Kinde den Sturm in ihrem Herzen zu der stillen Feier umzuwandeln, in der unter Hoffnung und Gebet, im Fortschritt der wohlthätigen Zeit die Liebe zum Einzelnen auf alle Wesen vertheilt wird.

Albert hatte Marie heldenmäßig bis zum Wagen geführt. Von Herr von Frank durch Ueberraschung zu der gewaltsamsten Selbstbeherrschung gezwungen, grollte er dem Mann, der so viel Kraft von ihm verlangte, aber unter seinen Foderungen bleiben wollte er nicht. Doch wie der Wagen fortrollte, vermochte er eben noch der Mutter eine ordonnanzmäßige Verbeugung zu machen, dann eilte er in sein Zimmer und trieb es ein paar Tage in allen Ehren recht lieutnantsmäßig mit Lahmreiten seines Lieblingspferdes, Umherirren in des Waldes Nacht und solchen Paroxismen, die dem Jüngling nachgesehen werden, denen das wahrhaft edle Mädchen aber gar bald männlichen Sieg über die Gewalt des Schmerzes [187] vorzieht. Zwischen seinen Gewaltritten stellte er sich fleißig bei seinem Chef ein und verlangte dringend nach Beschleunigung des Aufbruchs, und wenige Tage nach Herrn von Frank's Rückkehr, die ohne seine Töchter ererfolgte, weil der Pfarrer in Bergdorf sie durchaus nicht hatte verabschieden wollen, kam der Befehl, mit dem nun gesammelten Regiment zum siegreich fortschreitenden Heere zu stoßen. Die sichere Aussicht auf Gefahr und Schlachtruf schien die Wertherslaune wie einen Morgennebel zu zerstreuen: die Siegesgöttin, die Göttin des Ruhmes, die ihm von jeher gewinkt, hatte jetzt Mariens Gestalt; die Todesgöttin, die der Krieger so oft statt ihrer umarmt, hatte Mariens Engelzüge – mit Entzücken stürzte er in Frau von Frank's Zimmer, das er seit dem Tag vor Mariens Abreise nie außer den Gesellschaftsstunden betreten, sank ihr zu Füßen und rief, ihr die Marschordre hinreichend: O, verzeihen Sie dem armen Jüngling, der noch nicht dem Schicksale nachzugeben gelernt hatte! Jetzt verstehe ich es und gehe meiner Bestimmung froh entgegen. Aber Ihren Segen bedarf ich – und Mariens Andenken! – setzte er leiser und sein Antlitz auf Frau von Frank's Schoose bergend hinzu.

Es war eine große Erleichterung für dieser Frau bestürmtes Herz, jetzt um die Abreise ihres jungen Lieblings weinen zu dürfen. Sie schenkte ihr die Thränen, die sie Mariens Kummer hatte versagen müssen. Mit gehaltenem Schmerz hatte sie ihrer Tochter Schicksal dem so vieler ihrer Schwestern und auch dem ihren ähnlich werden sehen, die aus ihrer Jugend meist nur [188] die Erinnerung im Entblühen zerstörter Blumen, in der Knospe erstarrter Blüten in das Matronenalter hinübernehmen.


Wann warst du glücklich, zarte Liebe?
Wurdest oft von Thränen trübe
Und erstarbst im Jammer dann. –

Diese Worte eines alten Liedes tönten durch ihres Knaben heiteres Geschwätz, durch das freundliche, vernünftige Gespräch mit ihrem Gatten hin, wie die Klänge einer Aeolsharfe, der man, wenn sie zur Gewohnheit geworden sind, nicht mehr zuhört, indem sie doch unbemerkt den Geist stimmen. Die Empfindsamkeit einer Matrone erhält die Schamhaftigkeit der ersten Jugendgefühle zurück; aber aus den entgegengesetzten Gründen: das aufblühende Mädchen verschließt sie in ihrem Busen, weil sie in überreicher Hoffnung des Lebens noch nicht deren Gegenstand ausschied; die Matrone verschließt sie, weil sie keine Theilnahme mehr erwartet. Sie liebt nur noch mit Mutterliebe, und die Mutter behält alles Weh für sich und nimmt aller Geliebten Weh noch dazu in ihr Herz auf. Sie sah das ganze Feld ihres Lebens hinab, und es glich ihr einer Herbstwiese, wo Zeitlosen mit ihrer Geistergestalt das matte Grün erhöhen. Fern an ihrer Grenze standen die Blütenbäume der Jugend, entlaubt, mit zerschlagenen Blüten! – Wann warst du glücklich, zarte Liebe? – Doch ihr geregeltes Gemüth führte die Erinnerung ihrer gelungenen Thaten bald gegen diese gefühlvollen Träume ins Feld. Ein beglückter Vater, der seine Greisentage heiter im Kreis seiner Enkel beschlossen, ein edler Gatte, den der häusliche Friede [189] Jugendthätigkeit und Mannesheiterkeit erhielt, Gedeihen geliebter Kinder – und jetzt zu ihren Füßen der wackere Jüngling, den sie seiner kindlichen Pflicht zurückgeführt, den sie vor Jugendthorheit behütet, an dem sie recht gethan hatte. – Sie legte ihre Arme um des Knienden Hals und sagte ihm mütterlich zärtliche Worte, erhöhte seine Entschlossenheit und strebte sein Herz zu seinem Vater zu lenken; aber diese Wunde war noch zu frisch, er versprach seinen Freunden wie ein Mann, nicht wie ein Verzweifelnder zu fechten, und verließ mit eines Sohnes Empfindung das gastfreie Haus.


Es war abermals eine Zahl Jahre verflossen, Marie war die Gattin eines liebenswürdigen, von ihr mit Herzenseinstimmung gewählten jungen Mannes, von dem nach vierjähriger Ehe noch nicht der Zauber der Liebe gewichen war, denn seine junge Gattin hatte allen Reiz jungfräulicher Bescheidenheit mit der Frauenwürde zu vereinen gewußt. Warnfeld war bürgerlicher Besitzer eines großen Gutes in der Nähe von **tha, wo Mariens Vater gewohnt hatte; diesem wackern Manne war noch das Glück geworden, Enkel zu herzen, er hatte die Zuversicht, in seinem Schwiegersohn seiner Gattin eine Stütze, seinen jüngern Kindern einen Vormund zu hinterlassen, und entschlief endlich mit heiterer Zuversicht, obschon der furchtbare Kriegszug nach Norden damals die Ruhe der Gegend gefährdete. Frau von Frank weinte an dem Grabe Dessen, den sie kindlich geliebt hatte, und legte sich selbst das Gelübde ab, fortzuleben, [190] würdig, als sei noch sein Auge ihr Richter. Ihr Sohn war zu wissenschaftlichen Zwecken vom Hause entfernt, sie hatte mit ihren beiden, jetzt zu anmuthigen Jungfrauen erwachsenen jüngern Töchtern einige Wochen bei ihrer Tochter Marie zugebracht und sich jetzt gewöhnt, Freude ohne die Theilnahme ihres geehrten Gatten zu genießen, Beschlüsse ohne seine weise Entscheidung zu nehmen. – Da trieb sie die Anhäufung von Kriegszügen zur Stadt zurück, wo Eigenthum und Haabe ihre Gegenwart erfoderte. Jeder kleinlichen Furcht fremd, begnügte sie sich, wie die fliehenden Heerhaufen und die Transporte der Verwundeten sehr häufig wurden, ihres Gatten alten Diener, der ihr seit seinem Tod unnütz geworden war, wieder ins Haus zu nehmen, damit sie mehr Hülfe habe und mit mehr Anstand vor den bedrängten Kriegern erscheine. Der alte Kaspar war schon seit Mariens Geburt im Hause gewesen, und wie Albert von Rode so traurigen Abschied nahm, hatte er das Seinige gedacht und seinen alten Kopf verdrießlich geschüttelt, auch ein Mal für sich gebrummt: Es ist ein gottloser Hochmuth, solche Herzkinder zu trennen! – Wie er aber Marien wieder heiter emporblicken sah, und er sie bei der Erinnerung: »an den werthen Herrn Lieutenant,« dessen Namen er in allen Zeitungen zu finden verhoffte, zwar erröthend aber unbefangen sagen hörte: Gott wird ihn ja schützen! – da gab er sich zufrieden, und wie er seine liebe junge Herrschaft späterhin ihrem Bräutigam so heiter und innig das Jawort am Altar geben sah, da dankte er Gott, der es so gelenkt, daß »das liebe Kind im Lande geblieben.« [191] Der alte Kaspar sagte ein paar Mal bei den unordentlich durchziehenden Haufen: Ach Gott, das ist baiersche Uniform! – Mehr wagte er selbst nicht zu sagen, in heiliger Scheu, die Furcht möge das Unglück herbeiziehen. Eines Abends kam er aber ganz verstört ins Zimmer, bat seine Herrin um ein geheimes Gehör und erzählte ihr, er sei, wie schon alle vergangene Tage – was sie ihm gewiß verzeihen werde – im Hospital gewesen, um die anlangenden Verwundeten und Kranken abladen zu helfen, oder sonst Handreichung zu thun – dann setzte er, seine dürre Hand auf die Brust gelegt, hinzu: »Es will da drinne noch gar nichts davon wissen, daß die Leute unsere Feinde sind, denen wir so manches Jahr versprochen und geschworen haben – nun! und mögen sie's sein, so bedürfen sie Hülfe. Da kommt nun vor einer halben Stunde ein Wägelchen, darauf lag mehr Stroh und weniger Krüppel als auf den übrigen Karren. Ein alter Franzos ruft: man solle ihm helfen den todtschwachen Baiern herablassen. Ach Gott! mein Herz ahnete Alles! Ich springe an den Wagen, der alte Franzmann half mir mit kräftigen Armen, ich faßte den Kranken um den Nacken, und muß ihm wol etwas gesagt haben – da seufzt er und liegt mir wie Blei auf der Schulter .... Nein, nein Ihr Gnaden, er war nicht todt, aber ohnmächtig vor Ueberraschung – er war so schwach, daß er den Weg, den man ihn führte, seit zwei Tagen nicht erkannt hatte, so im Hinbrüten des Fiebers und der Schmerzen. – Ich weiß nicht, ob ihn meine Stimme aufgeschreckt hatte. Ich trug ihn ins Hospital, ich sagte zum Aufseher: [192] Herr Director, der Offizier muß zur verwitweten Frau Finanzräthin von Frank gebracht werden, er ist ihr Pflegesohn. Lassen Sie mich ihn indeß auf Ihr Sopha legen – und wie ich ihn sanft hinlege« – – Kaspar konnte vor Thränen lange nicht fortfahren, seine Herrschaft ihn vor Thränen nicht antreiben; mit verhülltem Gesicht drückte sie dem Alten die Hand und rief: »Weiter! – weiter!« – Wie ich ihn hinlege, zwang sich Kaspar zu erzählen, so sehe ich, daß seine liebe, liebe Rechte, mit der er meine alte Hand beim Abschied so deutsch schüttelte, fort ist! fort! – »O mach ein Ende, lieber Alter!« rief Frau von Frank mit angstvoller Ungeduld. Nun! da kommt der alte Franzose, der ihn abladen half. – Wo ist mein Kamerad? rief er, und schleppt sich ans Sopha – ach Gott! und hatte nur ein Bein und ist noch nicht geheilt, und hatte doch Tag und Nacht für unsern Herrn Lieutenant gesorgt. – »Nun, Kaspar, habt Ihr eine Sänfte bestellt?« – »Ja, ja! und nun laufe ich dem Kranken entgegen.« –

Albert hatte seit seinem Abschied von Marien alle Feldzüge mitgemacht, war Hauptmann geworden, war mit Orden geziert; aber auch in den kurzen Friedenszwischenräumen betrat er sein Vaterland nicht wieder; und ob er gleich in fortgesetztem Verkehr mit seiner Familie stand, hatte er doch jede ihrer Bemühungen, ihn seines Vaters Vorschlägen geneigt zu machen, von sich gewiesen. Seine Mutter war gestorben, von seinen Schwestern lebte die eine mit einem der angesehensten Mitglieder der Republik in einer sehr unglücklichen und, durch des Gatten Nichtswürdigkeit, in einer unwürdigen [193] Ehe; die zweite hatte, dem Vater zu gehorchen, einen würdigen Geliebten aufgegeben, dessen Stand als Schulmann der Familie nicht genügte, jetzt war sie des Vaters Trost und Stütze, lebte aber ein früh von Liebesgram getrübtes, freudeloses Leben. Mariens Andenken war nie aus Alberts Herz gewichen; aber es behauptete seinen Platz schon lange nicht mehr als Ziel seines Strebens, als Preis seiner Mühen, sondern war die letzte und schönste seiner Jugenderinnerungen geworden; – wie der heilige Christ selbst dem reifen Mann das Symbol des Kinderglücks bleibt, so war Marie für ihn Symbol seines Jünglingsalters. – Albert hatte sein Leben nie geschont, wie sein Kriegsrang und seine Ehrenzeichen bewiesen; aber Tod und Wunden waren ihm erspart worden, bis bei Leipzig sein Arm zerschmettert ward, und sein gänzlicher Verlust allein ihm Hoffnung machte, sein Leben zu erhalten. Die Heilung ging langsam in dem Qualm der überfüllten Spitäler, ein tägliches Fieber blieb zurück, es stieg bei dem Transport des Halbgeheilten bis zur gefährlichsten Stufe – ohne die Sorgfalt des edeln Krüppels, den uns Kaspar schilderte, wäre er vielleicht nicht mehr lebend unter Frau von Rode's mütterliche Pflege gelangt.

Hier finden wir ihn nun wieder, umgeben von der zartesten Sorgfalt, von seiner mütterlichen Freundin bewacht und bedient. In der Gegend von Leipzig hatte Albert oft gedacht, daß er sich *tha näherte, hatte nachgefragt, ob Niemand in jener Stadt die Familie Frank kenne; und er hatte vernommen, daß Marie glückliche Gattin und Mutter sei. Ein sehr gemischtes Gefühl [194] beengte bei dieser Nachricht seine Brust. Freudige Theilnahme an des theuern Mädchens Wohl, dunkles Mitleid mit sich selbst – er kam sich wie ein am Seelenleben Verkrüppelter vor; den Gedanken an seinen Vater entfernte er und stürzte sich kampfdurstig in die schicksalsvolle Schlacht. Wie sein Arm abgelöst war, und er, über den höchsten Schmerzengrad hinaus, nun Linderung genießend auf seinem Lager ruhte, war's ihm, als sei auch der Unmuth gegen sei nen Vater gelöst; Gram ging nun gegen Gram auf, der Vater drang dem Sohn ein verkümmertes Leben auf, und nun gab das Schicksal dem Vater einen verstümmelten Sohn. Da ward sein Gemüth sanfter, und selig fühlte er sich, wie er bei wiedererwachtem klaren Bewußtsein sich unter dem Dache fand, unter dem er einst sein höchstes Glück, seinen höchsten Schmerz empfunden hatte.

Frau von Frank, jeder kleinlichen Rücksicht abgeneigt, meldete Herrn von Rode unverzüglich, daß sein Sohn ihrer Pflege anvertraut sei, legte aber zugleich die Meinung der Aerzte bei, die eine weitere Reise in dem bevorstehenden Winter unmöglich hielten. Lächelnd über sich selbst, daß ihr Herz noch immer jung sei, und sie doch so klug sich betrüge, schickte sie Rose und Minchen zu ihrer Tochter Warnfeld, der sie Alberts Zustand und Gegenwart ohne Rückhalt mittheilte und sie bat, die Schwestern bei sich zu behalten, weil sie zwar heute noch wie bei Alberts erstem Aufenthalt von der Kraft des weiblichen Herzens gegen phantastische Neigungen überzeugt sei; aber mit jedem Jahre schüchterner würde, irgend eines Wesens Wohl oder Weh willkürlich auf [195] die Probe zu setzen. »Behalte unsere lieben Mädchen bei Dir, setzte sie hinzu, ich kann mich unserm Kranken ungestörter widmen und, wenn ihm Gott seine Genesung schenkt, ohne Hinderniß ihn Euch zuführen, oder dieses Wiedersehen vermeiden.«

Frau von Frank erwartete seit einigen Tagen die Antwort auf ihren Brief an Alberts Vater, als dieser bei einem, schon mehrere Tage anhaltenden Wintersturm selbst in *tha eintraf. In dem Herzen der edeln Frau, die ihm entgegentrat, regte sich zuerst die reine Freude einer Jugenderinnerung, die ihr keine Schamröthe aufdrang; Mitleiden mit dem Vater, der den Sohn, dem er in der Blüte des jungen Lebens das Heimathland verleidete, nun als Schwerkranken, als unersetzlich Verstümmelten wiederfand, nahm aber schnell ihr ganzes Herz ein; sie gedachte der verletzenden Stellung, in der sich Herr von Rode zweimal gegen sie befunden, einzig um jeder Erinnerung daran durch die offenste Herzlichkeit zuvorzukommen. Es bedurfte Vorsicht, um den Kranken auf das Wiedersehen des so lang entfremdeten Vaters vorzubereiten; aber sobald Albert dessen Nähe wußte, freute er sich deren, denn durch sein jetziges Leiden allen Ansprüchen an Glücks- und Ehrenbahnen enthoben, fürchtete er seines Vaters Ehrgeiz nicht mehr, sondern sehnte sich nach seiner Liebe. Bald war ein sehr genügendes, einfaches Leben zwischen Vater, Sohn und dessen gütiger Pflegerin, hergestellt; obschon Herr von Rode nicht der letzteren Hausgenoß ward, genoß er doch bei seinem Sohn ihrer täglichen Gesellschaft, und wie Albert so weit hergestellt war, daß er, über die Hausflur [196] schleichend, seine Abende in Frau von Frank's Zimmer zubringen durfte, entstand in des jungen Mannes Kopf bei der häuslichen Gegenwart des Vaters und seiner mütterlichen Freundin, bei des Erstern sichtbarem geistigen Wohlsein in diesem lieben Verhältniß, ein sehnliches Verlangen, diese verehrte Frau durch andere Bande Mutter zu nennen, als die einst das Glück seines Lebens in sich bedungen hätten. Der Wunsch ward zu einer Art Plan, zu welchem es nöthig war, daß Herr von Rode die ganze Familie seiner Wohlthäterin kennen lernte. Er gewann es in dieser Absicht über sich, in seines Vaters Gegenwart von Marien und ihrem Gatten zu sprechen und über die Abwesenheit ihrer jüngern Schwestern zu klagen. Es gibt Verhältnisse im Leben, wo die Vorsichtigen, die Erfahrnen, die dem Gefühl Entwöhnten selbst ihre Vernunft vom Herzen entführen lassen, und so ging es jetzt Herrn von Rode und Frau von Frank. Der Erstere verbarg es sich nicht, daß er ein anderer Mensch geworden und geblieben wäre, wenn er an der Hand der milden, klaren, durch Reinheit der Seele noch mit Anmuth geschmückten Frau durchs Leben gewandelt wäre, und wie eingewiegt in dem Wohlsein des Augenblicks, ließ er sich seine Wünsche, die er wohl hätte erkennen und des Sohnes Absichten, die er wohl hätte durchblicken können, nicht klar werden. Er unterstützte Alberts Bitten, ihn mit ihren Kindern bekannt zu machen; denn wehmüthig suchte er Dem Freude zu geben, den glücklich zu machen nicht mehr in seiner Macht stand. Frau von Frank verhehlte sich keinen Augenblick, daß Albert eine Verbindung zwischen [197] ihr und seinem Vater herbeizuführen bemüht war; sie konnte sich nicht verbergen, daß ihr Jugendfreund auf dem Wege war, sie zu wünschen; aber sie war sich bewußt, daß die Nothwendigkeit, ihre Neigung zu opfern, jetzt wie vor dreißig Jahren obwalte, und dazu war sie ohne Anstrengung entschlossen. Doch liebevoll und ehrend sollte ihr Betragen sein, und gerne wollte sie jeden Freundschafts-, jeden Achtungsbeweis geben, indem sie selbst die Anfoderung um den größten entfernte. Sobald, nach dem früh eingetretenen Thauwetter, die Wege erträglich waren, bat sie ihren Schwiegersohn, der ihr Vertrauter und Rathgeber war, mit Rose und Adele auf einige Tage in die Stadt zu kommen. Albert versprach sich unendlich viel Freude, seine kleinen Freundinnen wiederzusehen; er erzählte mit der, den Genesenden eignen Weichheit seinem Vater von ihrer kindlichen Einfalt, ihren Spielen, ihrem herzlichen Abschied, und keines der beiden Eltern durfte seinem Gefühl Einhalt thun, denn es waren ja Erinnerungen, neben denen der Gedanke an seine veränderte Gestalt so leicht erweckt werden konnte.

Die jungen Mädchen kamen in die Stadt; Warnfeld begleitete sie und brachte seiner Schwiegermutter ihre älteste Enkelin, ein liebes geschwätziges Mädchen von drei Jahren mit. Das Wiedersehen der jungen Leute war ganz anders, als Albert es sich vorgestellt; die Zurückhaltung der Mädchen, zu dem innigsten Mitleid gesellt, gab ihm eine Feierlichkeit, die jeden Augenblick in Thränen überzugehen drohte, indeß Albert von Warnfeld's männlicher Herzlichkeit angezogen, von dem [198] Anblick von Mariens Kinde überrascht, sich herzlich und wohlthuend mit ihm befreundete. Er stand nicht an, den Zutrauen einflößenden Mann seinen Wunsch rücksichtlich seines Vaters und Frau von Frank mitzutheilen, und Warnfeld durchlickte Herrn von Rode um so leichter, da er, von Rose, Minchen und der kleinen Molly umgeben, wie ein lang des Lichts beraubter Baum, dem eine erwärmende Herbstsonne seine Laubkrone mit frischem Grün färbt, sein Gefühl in lebendigen Anregungen äußerte. Rose und Adele verwendeten an den Vater alle Herzinnigkeit, die sie dem Sohn sittsamerweise verhehlen mußten, und die kleine Schwätzerin Molly rühmte sich der Entdeckung, einen neuen Großpapa in Herrn von Rode erhalten zu haben; ein Einfall, den ihr der Umstand, einen andern ältlichen Mann – denn Rode war bei seinem selbst verkümmerten Leben nicht jung geblieben – an des Großvaters Stelle bei Tisch, und in dem Wohnzimmer sitzen zu sehen, sehr nahe legte.

Wenige Tage waren verflossen, so verlor sich die kleine Spannung zwischen den Jugendbekannten, und obgleich sehr behutsam, sprachen die Mädchen, ohne ihre Thränen zu verbergen, von Alberts Unglück, und bewiesen ihm mit heroischer Verachtung des Uebels, wie ein Mann, mit Ehrenzeichen und Kriegsruhm geziert, so lange noch ein edles weibliches Herz auf Erden schlüge, seinen Arm nie vermissen könnte. Warnfeld nahm wahr, daß sein junger Freund mit unruhiger Lebhaftigkeit in dem vertraulichen Abendzirkel die ihm so lieben Gesichter erspähen zu wollen schien. Besonders beobachtete er ihn, wie er sein Auge auf seinem Vater ruhen ließ, [199] der, Molly auf den Knien, wie ein freundliches Familienhaupt, der Aelteste des Kreises, vollkommen vergnügt des Augenblicks genoß. Wie sich Herr von Rode eines Abends beurlaubt hatte, und die Hausgenossen wie gewöhnlich auseinandergehen wollten, bat Albert Frau von Frank um eine Unterredung und entdeckte ihr darin ohne Rückhalt seinen innigen Wunsch, seines Vaters peinigende Zweifel rücksichtlich ihrer Gesinnungen heben zu dürfen. Die Matrone, ihrer weiblichen Würde gewiß, ging ohne Umschweife in Alberts Anliegen ein, allein nur um seine Wünsche gänzlich zu vernichten. Unverhohlen deutete sie den unzubeseitigenden Grund in der Denkart an, welche Herr von Rode dadurch geäußert, daß er zweimal eine Standesansicht dem eignen Herzensglück und dem zwei ihm lieber Menschen vorgezogen hatte. Jetzt weiß ich, fuhr sie fort, hat er jene Ansicht aufgegeben; allein das verlöscht nicht die Vergangenheit. In der Verbindung, die Sie wünschen, müßte ich Alles, was dahin deutet, vermeiden, und diese Künstlichkeit würde mein Leben verbittern und entheiligen; als Freundin darf ich ihn schonen, oder mit ihm rechten; ich bin frei, danke ihm sein Wohlbehagen bei den Meinen und bezeige ihm meine Achtung für seine Güte, seinen Geist. – Albert stritt lange, stritt heftig und fragte endlich mit ernster Bedeutung: bedenken Sie, theure Frau, daß Sie durch diese Fehlschlagung auch meine verarmte Zukunft zerstören? – Keineswegs, Albert, antwortete Frau von Frank, so weit ist Ihr Vater mit sich im Klaren und mit uns einig; Sie haben gänzliche Freiheit, Ihre Lebensweise einzurichten; [200] mit Freuden übergibt er Ihnen, welches seiner Güter Sie wollen, übergibt sie Ihnen alle und wird die Schwiegertochter, die Ihres Herzens Wahl ihm zuführt, voll Liebe aufnehmen. – Die ich Krüppel wähle! sagte Albert mit Bitterkeit. – Ist's möglich, so von Liebe getragen, so von Achtung gefeiert, noch immer das strenge Wort, mit dem Gott Sie zu höherer Tugend aufrief, nicht als seine Vaterstimme zu erkennen? fragte Frau von Frank, indem ihr Auge voll Thränen mit mütterlicher Liebe auf dem jungen Manne ruhte. – Mutter! Mutter! rief dieser, wissen Sie, was Sie sagen? Wissen Sie, wohin Ihre Worte führen können? – Ich weiß es nicht, ich bedarf jetzt nichts zu wissen, als daß unser Albert voll Glaube, Liebe, Hoffnung sein neues Leben in seinem schönen Vaterlande beginne, sein ihm so unverhofft wiedergeschenktes Leben. Wenn Sie mir schreiben, daß Ihnen Ihre Fluren, Ihre Berge, Ihre lebendigen Quellen wieder lieb sind, dann, Albert, dann weiß ich, daß Sie Gottes Wege verstehen. – Gute Mutter, fromme Mutter, also dann? – Albert, keinen doppelten Sinn! Nur was meine Worte meinten! – Werden Sie ein thätiger Landmann, dann verschmerzen Sie Ihr Unglück und werden, an Geist und Leib genesen, Ihres Herzens Wohl gründen. –

Von diesem Gespräch an betrieb Albert seine Rückreise ins Vaterland. Ob er je Herrn von Rode den Inhalt desselben mitgetheilt hat, wissen wir nicht. That er es, so hatte es sehr günstig gewirkt, denn Herrn von Rode's Betragen ward von da an unbefangener, zutrauensvoller gegen seines Sohnes edle Pflegerin, noch [201] herzlicher gegen deren Kinder, besonders war Rose sein Liebling, und er zeichnete sie durch die Theilnahme aus, die er ihr an seinen Reiseanstalten auftrug, durch die Einzelnheiten, in die er sie über seine häuslichen Verhältnisse einweihte. Albert ward in dem Grade zurückhaltend gegen das junge Mädchen, als sein Vater sie zu sich zog, und dennoch drückten seine Blicke seine Freude aus, so oft er sie zusammen im Gespräch sah.

Warnfeld drang nun auch auf seine Rückkehr und überraschte Frau von Frank durch den Vorschlag, ihre Freunde zu bewegen, ihren Weg in ihr Vaterland über sein Landgut anzutreten. Sie schwieg betreten, aber Rose schmeichelte Herrn von Rode mit süßer Stimme, und Albert schüttelte Warnfeld's Hand mit Innigkeit und rief: »Das war mein Wunsch; mir geziemte aber nicht ein Glück zu erbitten, das nur Ihre Achtung mir verleihen kann.« Mit stürmischer Freude von Alt und Jung ward nun der Reiseplan gemacht, Warnfeld benachrichtigte seine Frau von den zahlreichen Gästen, die sie aufnehmen sollte, und der Frühling schien ausdrücklich früher einzutreten, um Alberts Reise zu begünstigen.

Frau von Frank sah bei dem ersten Alleinsein ihren Schwiegersohn bedenklich an. Lieber Warnfeld, sagte sie, wir sind wie die Kinder: überlegen, beschließen und thun dann freiwillig, was wir zu vermeiden gesucht haben. – Nicht doch, gute Mutter; wir erkennen im Fortschreiten deutlicher, was wir zu erreichen bestrebt sein sollen. – Und wenn der Anblick Deines liebenswürdigen Weibes den guten Albert erinnert, was er einst hoffte? – Der Anblick meines häuslichen Glücks soll [202] Albert und seinem Vater ganz klar machen, wohin unsern jungen Freund sein eignes Glück winkt. – O nur keine Plane! lieber Warnfeld, keine Plane! rief die Schwiegermutter bittend und hob die gefalteten Hände auf; die dünken dem Alter, wie wenn ein Schiffbrüchiger eine Reise um die Welt entwirft. – Plane nicht, aber auch keine zögernde Menschenfurcht, entgegnete Warnfeld und hatte Recht. Der Anblick von Warnfeld's Haushalt, seinem ehelichen Glück, von Mariens anmuthiger Hausfraulichkeit, den Mitteln zur geistigen Fortbildung, die in ihren Verhältnissen, ihren Beschäftigungen lagen, erfüllte Herrn von Rode mit Bewunderung; Albert stand mit brüderlicher Freude seiner Jugendliebe gegenüber und machte ihren Mann aufmerksam, wie Rose ihr ähnlich sei, und beobachtete mit einem Gemisch von Unruhe und Zufriedenheit, wie das junge Mädchen seinen Vater mit den Einrichtungen des Landhaushalts bekannt machte.

Nun hatte man Abschied genommen, ein Jeder war in seine Heimath gekehrt, die Kriegsunruhen waren vorüber, jeder blickte in seinen ruhiger, auch mitunter leerer gewordenen Umgebungen umher; und wie schmerzlich diese Leere von Frau von Frank und ihren Kindern empfunden ward, so störte sie nicht ihr Familienglück, denn freundliche Erinnerung, Bewußtsein eigner Würde, in dem Mutterherzen vielleicht leise Hoffnung machten den Verlust der Freunde erträglich. Alberts Briefe waren fast trocken, sie enthielten Berichte über seine ersten Geschäfte als Landmann; Warnfeld erhielt lange Anfragen, die seine Landbauererfahrung beantworten sollte. [203] Sein Vater drückte dagegen seine Dankbarkeit für seines Sohnes durch Frau von Frank erhaltne Pflege, für seine Seelengenesung, für seine jetzige beglückende Stimmung aus. So verstrich ein Jahr, und das zweite ging zu Ende, der Jahrestag von Alberts Abreise nahte zum zweiten Mal. – Da kam ein Brief von Alberts Vater, der um Rosens Hand für seinen Sohn als das Gut warb, welches einzig das Glück dieses Lieblings verbürgen könnte. »Wir erscheinen nicht nur als Flehende, schrieb er, die Alles erbitten, und nichts dagegen bieten können als die Freude, Glückliche gemacht zu haben; wir erscheinen auch als Reuende, denn meines Sohnes jugendliche Leidenschaftlichkeit trübte einst sowie meine verjährte Thorheit Ihren Frieden. Sie vergalten mit Wohlthun – befragen Sie Ihr Mutterherz, ob Sie die größte Wohlthat, die Sie noch in Ihrer Hand haben, uns spenden dürfen.« –

Rosa's Glück an Alberts Seite erhellt ihrer Mutter Tage wie das milde Abendroth, bei dessen Heraufleuchten der Landmann freudig auf die vollendete Tagesarbeit zurückblickt, weil er hoffen darf, seine Saaten von dem Geber alles Guten begünstigt zu sehen. Abwechselnd schlägt sie ihren Wohnsitz am Fuß der Alpen, oder in der Mitte von Warnfeld's gedeihlichen Feldern auf und erwartet im Kreise von Kindern und Enkeln die sanfte Nacht, die ein so schöner Abend einst herbeiführen muß.

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TextGrid Repository (2012). Huber, Therese. Erzählungen. Drei Abschnitte im Leben eines guten Weibes. Drei Abschnitte im Leben eines guten Weibes. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-84D7-B