Hugo von Hofmannsthal
Shakespeares Könige und große Herren
Ein Festvortrag
[33] Ich glaube zu wissen, was Sie bewogen haben kann, mich hierher zu rufen, damit ich vor Ihnen spreche. Es war keinesfalls der Drang, etwas Neues zu erfahren; keinesfalls konnten Sie erwarten, daß ich den Lasten des Wissens um Shakespeare, mit denen Ihre Speicher überfüllt und Ihre Schiffe bis zum Sinken überfrachtet sind, auch nur eine Handvoll des Meinigen als einen substantiellen Gewinn hinzufügen könnte; keine der Dunkelheiten, wofern es noch Dunkelheiten gibt, mit denen Sie ringen, konnte von mir ihre Durchleuchtung erhoffen, keine der Feststellungen, welche Sie von früheren Generationen übernommen haben und den Generationen hinter uns gereinigt und vertieft hinterlassen, konnte aus meinem Munde ihre Bekräftigung zu empfangen wünschen. Aber vielleicht fühlen Sie sich beengt und beinahe geängstigt durch soviel aufgestapelten Reichtum; vielleicht betäubt Sie manchmal der ungeheure Strom einer Tradition, in dessen verworrenem Rauschen sich die Stimme Herders mit der Stimme von Sarah Siddons vermengt. Und eine Stimme in Ihnen – war es Erinnerung oder Intuition? – gemahnte Sie, daß es neben der reinen Leidenschaft des Verstehens noch eines zweideutigen Elementes, eines geheimnisvollen hybriden Organs bedürfe, um den rechten Zauber zu wirken: da traten Sie aus dem stillen Gemach des Forschers heraus in den Wald des Lebens, und, wie der Zauberer nach dem Alräunchen, griffen Sie nach irgendeinem Lebendigen, griffen Sie nach mir und stellten mich in diesen Kreis. Gewohnt, das wundervolle Phänomen in seine Elemente zu zerlegen und in den flutenden Strömen seines geteilten Lichtes mit Ihrem Denken zu wohnen, verlangt es Sie manchmal, einen Lebenden von draußen hereinzurufen, in dessen Seele dies unzerlegte Ganze Shakespeare anpocht, wie das einlaßbegehrende Schicksal; für dessen Augen dies ungeteilte Licht die Abgründe und die Gipfel des Daseins bestrahlt. Und in Ihrem Gedächtnis, in dem eine fast grenzenlose Tradition lebendig ist, regt sich ein altes Wort, zuweilen verdunkelt und doch nie ganz vergessen: es seien dies die wahren Leser Shakespeares und in ihnen Shakespeare auch einzig wahrhaft lebendig, die eine Bühne in sich trügen.
»Die Gabe der inneren Darstellung ... die ganz bestimmte Produktivität: die Aktion, wie sie auf dem Papier, in sich selbst als eigenstes Erlebnis hervorzubringen«, um dieses Dinges willen – und die Worte, mit denen ich es umschreibe, sind Worte eines aus Ihrer Mitte –, lassen Sie mich glauben, daß Sie mich hergerufen haben. Um dieses Dinges willen, und weiter mit den Worten Karl Werders: »Shakespeares Sachen sind Darstellung, nicht bloße Schilderung. Wer sich von ihm nur erzählen lassen will, der mißversteht ihn. Wer ihn nur hört, indem er ihn liest, liest ihn nur halb und mißhört ihn darum. Gespielt will er sein: weil dann das mitgehört und mitgesehen wird, was er nicht sagt und nicht sagen darf- wenn er so echt und groß sein will, wie er ist. Wollte er sagen, was für jene Unproduktiven nötig wäre, um ihn, ohne daß er ihnen vorgespielt würde, zu verstehen, so müßte er aufhören, Shakespeare zu sein.«
Wenn ich mich an diese Worte halte und bedenke, daß sie bei Ihnen Tradition sind, unverlierbare Tradition wie alles definitiv Wahre und Kluge, das einer der Männer ihres Faches jemals hingeschrieben hat, und wenn ich mich zugleich des Abschnittes aus Otto Ludwigs Studien erinnere, dessen erste Zeile lautet: »Shakespeare hat seine Stücke aus dem Herzen der Schauspielkunst herausgeschrieben« und dessen spätere Sätze die tiefsten dichterischen Probleme streifen, so ist es mir völlig durchsichtig, was Sie bewogen haben kann, mich hierher zu rufen: Sie vermuteten, ich müsse es verstehen, Shakespeare mit der Phantasie zu lesen. Um den Leser Shakespeares war Ihnen zu tun, um einen, von dem Sie jene »ganz bestimmte Produktivität« voraussetzen und fordern dürften; und mir ist, wenn ich Ihre Nachsicht nicht verscherzen will, so darf ich Ihnen von nichts sprechen als von dem, was eine Lust ist und eine Leidenschaft, eine bewußte empfangene Gabe, eine angeborene Kunst viel leicht wie Flötenspielen oder Tanzen, eine zerrüttende und stumme innere Orgie: vom Lesen Shakespeares.
Ich spreche nicht von denen, die Shakespeare lesen wie die Bibel oder sonst ein wahres oder großes Buch. Nicht von denen, die ihre vom Leben ermüdeten und gewelkten Gesichter über diesen tiefen Spiegel beugen, um zu sehen: »So war es immer, so ging es stets« und sich die »Brust des argen Stoffes zu entladen«. Nicht von denen, deren Herz voll ist mit »dem Schimpf, der auf dem armen Manne haftet«, mit »des Rechts Verzögerung, der Ämter Frechheit«, mit all den übrigen so furchtbar wirklichen Übeln aus Hamlets Monolog. Ich spreche nicht von allen diesen, die zu den weisesten aller Bücher sich kehren, schutzsuchend, wenn sich vor ihrem empörten Auge der Lauf der Welt gräßlich verrenkt hat. Aus ihnen zwar scheint sich mir das innere Mark von Shakespeares Werk stetig zu ernähren. Aber die, von denen ich sprechen will, sind es, aus denen sich auch die blühende Haut ernährt und immerfort den ganzen gespannten Glanz der Jugend behält. Es sind die, für deren Leidenschaft in jedem Werk Shakespeares ein Ganzes lebt. Jene andern, welche die Erfahrung zu Shakespeare zurückgetrieben hat, sind mit ihrer Seele, die vom Schmerz und der Härte des Lebens gewaltsam gekrümmt ist, wie der Körper eines Musikinstrumentes, der wundervolle Resonanzboden für den Fall der Hoheit, Erniedrigung der Guten, die Selbstzerstörung der Edlen und das gräßliche Geschick des zarten dem Leben preisgegebenen Geistes. Aber die, von denen ich sprechen will, sind ein Resonanzboden nicht nur für dies allein, sondern noch für tausend viel zartere und viel verstecktere, viel sinnlichere und viel symbolhaftere Dinge, aus deren verflochtener Vielfalt sich die geheimnisvolle Einheit zusammensetzt, deren leidenschaftliche Diener sie sind. Für sie existieren nicht bloß die großen Geschicke, die jähen Wendungen des Schicksals, die riesenhaften Zusammenbrüche – wenn die Töchter Lears in die Burg hineingehen, weil ein rauhes Wetter losbricht, und die schwere Tür hinter ihnen sich dröhnend schließt, und der alte Mann dasteht, preisgegeben sein weißes Haar dem Sturm und schweren Regen, sein Herz der finstern Nacht und dem Taumel des hilflosen Zorns; wenn Macbeth und seine Frau im dämmernden Burghof die Blicke ineinanderbohren und halbe Worte tauschen; wenn Othello immer wieder aus einer Tür heraustritt in den Hof, oder aus einer andern Tür auf den Wall, und Jago ist immer einen Schritt hinter ihm, immer dicht an ihm, und die Rede fließt aus seinem Mund wie ein fressendes Gift, wie ein verzehrendes, nicht zu löschendes Feuergift, das durch die Knochen ins Mark frißt, und der andere horcht immer und gibt mit schwerer Zunge, mit einer Zunge, die sich im Mund windet wie ein Schlachtopfer, die Einreden, und sein Aug wälzt sich blutunterlaufen, so hilflos wie eines gemarterten Stieres Aug in der Höhlung, und der andere hat immerfort die Fänge in seinen Eingeweiden, und so schleift er ihn hinter sich, der Stier den Hund, durch Zimmer und Gänge, Türen und Höfe, und nie kommen sie auseinander, als bis zuletzt im Todeskampf ... für die unablässige Bewunderung derer, von denen ich Ihnen spreche, sind diese Dinge, obgleich sich nichts von Menschen Geschaffenes mit ihnen vergleichen läßt, nicht das Einzige, um dessentwillen sie sich in diese von einem Geist erbaute Welt verlieren. Für sie gibt es hier noch unbegrenzte andere Begegnungen, bei denen nicht die Seele sich angstvoll ins Dunkel drückt und zu sich selber ruft: Guarda e passa! Diese Gedichte sind nicht einzig erfüllt mit Dingen, deren Anblick aus der gleichen Ordnung der Dinge ist wie der Maelstrom, das brandende, finstere Meer, der Bergsturz oder das im Tode erstarrende menschliche Gesicht. Nicht alles in ihnen haucht die grauenvolle Einsamkeit aus, welche um die ungeheuersten Geschicke herumschwebt wie um die Wipfel der eisigen Berge. Zuweilen sind in einem dieser Gedichte die menschlichen Geschicke, die dunklen und die schimmernden, ja selbst die Qualen der Erniedrigung und die Bitternis der Todesstunde zu einem solchen Ganzen verflochten, daß gerade ihr Nebeneinandersein, ihr Ineinanderübergehen, Ineinanderaufgehen etwas wie eine tief ergreifende, feierlich -wehmütige Musik macht, wie in »Heinrich VIII.« der Sturz Wolseys und dann seine Fassung, der reine Klang seiner großen resignierten Worte, mit dem Sterben der Königin Katharina, diesem Verklingen einer sanften, leidenden Stimme, und der Festmusik, die um den König und die neue Königin herum ist, sich unlöslich zu einem melodischen Ganzen verbindet, das einer Sonate von Beethoven in der Führung des Themas und in den pathetischen Bestandteilen man kann kaum sagen wie nahe verwandt ist. Und in den romantischen Stücken, im »Sturm«, in »Cymbeline«, in »Maß für Maß«, »Wie es euch gefällt«, im »Wintermärchen«, ist das Ganze so durchwoben von dieser Musik, vielmehr es mündet alles in sie hinein, es gibt sich alles an sie hin, alles was nebeneinander steht, was gegeneinander atmet und seinen Atem in Haß oder Liebe vermischt, was aneinander vorüberstreift, was sich aneinander entzückt oder entsetzt, was lieblich und was lächerlich ist, ja was da ist und was nicht da ist – soferne ja in jedem Gedichte auch die Dinge mitspielen, die nicht in ihm vorkommen, indem sie rings um das Ganze ihre Schatten legen – alles miteinander gibt erst die unnennbar süße Musik des Ganzen, und eben von dem, der diese hört, wollte ich Ihnen ja sprechen. Denn er ist es, der Shakespeare mit der ganzen Seele, mit dem ganzen Gemüt und aus allen seinen Kräften liest, und von ihm, in dem diese Leidenschaft wohnt, lassen Sie mich sprechen wie von einer Figur, so sprechen wie Milton in seinen Versen von dem Leichtherzigen und dem Schwermütigen spricht, oder La Bruyère von dem Zerstreuten und dem Ehrgeizigen. Mir ist, als hätten diese Stücke wie »Cymbeline« und »Der Sturm« und die anderen die Kraft, sich immer wieder in der Phantasie eines schöpferischen Lesers eine innere Bühne zu schaffen, auf der ihr Ganzes leben und ihre Musik tönen kann, so wie sich die Gestalten des Lear und des Shylock, des Macbeth und der Julia immer wieder den Leib eines genialen Schauspielers unterjochen, um in diesem zu leben und zu sterben, und wirklich sind der Leser Shakespeares und der Schauspieler Shakespeares nahe verwandt. Nur daß um den einen sicheine der Gestalten herumlegt wie eine Haut, und in dem anderen alle gleichzeitig leben wollen. Dem einen winkt ein Schatten abseits: »Gib mir dein ganzes Blut zu trinken«, den andern umdrängt ein ganzer Schwarm. Ich glaube genau so, mit dem geheimnisvollen Erwachen einer »bestimmten Produktivität«, an einem Tage, der nicht wie alle Tage ist, unter einem Wind und Wetter, das nicht ist wie sonst Wind und Wetter, erzwingt sich die Gestalt, vom Schauspieler gespielt zu werden – und er spürt, ohne Willen, diese muß er, einmal muß er sie spielen –, und erzwingt sich das Stück:
»Heute liest du mich und ich lebe in dir.« Ich glaube nicht, daß einer, »der eine Bühne in sich trägt«, an dem Tage hätte »Romeo und Julia« lesen können, wo es ihm bestimmt war, den »Sturm« zu lesen. Vielleicht griff er nach »Romeo und Julia«; er blätterte darin, aber das Buch ließ ihn kalt. Es verlockte ihn nicht. Die Reihen der Verse, auf die sein Auge fiel, waren ihm heute stumpf und nicht wie lebendige Augen, nicht wie Blumenkelche, in die man hinabschauen kann bis auf den Grund. Die Überschriften des Aktes und der Auftritte, auf die sein Auge fiel, waren ihm heute nicht wie ein verstecktes Pförtchen in einer geheimnisvollen Mauer, nicht wie schmale Lichtungen, die sich auftun und ins dämmernde Herz des Waldes führen. Er legte den Band wieder hin und schon wollte er ohne Shakespeare ins Freie gehen. Da fiel sein Blick auf dieses Wort: »The Tempest«. Und er wußte in einem Blitz: »Ich vermag Leben zu spenden. Ich vermag heute diese Wesen Prospero und Miranda und Ariel und Caliban in mir stärker aufleben zu lassen, als ein Wasser verwelkte Blumen aufleben macht. Heute oder nie bin ich die Insel, auf der diese alle gelebt haben. Heute oder nie trage ich die Höhle in mir, vor deren Eingang Caliban sich sonnt, das Dickicht von hohen unglaublichen Bäumen, in deren Wipfeln Ariel hingleitet wie ein zauberhafter Vogel, die Luft dieser Insel, eine südliche Abendluft aus Gold und Bläue, in der Mirandas Schönheit schwimmt wie ein Meereswunder in seinem Element. Heute oder nie bin ich alle diese zugleich, bin Prosperos Hoheit und Ferdinands Jugend, Ariels geisterhafte dienende Liebe und Calibans Haß, bin Antonio der Böse, Gonzalo der Ehrliche, Stephano der betrunkene Schuft. Warum auch sollte ich nicht alle diese sein? In mir sind so viele. In mir begegnen sich so viele.« – Wirklich, in jedem von uns leben mehr Wesen, als die wir uns eingestehen wollen. Irgendwo in uns liegen immer die Schatten knabenhafter, grausiger Dämmerstunden und bilden eine Höhle, in der Caliban wohnt. Es ist soviel Raum in uns: wir haben über manches, das in uns herumtreibt, nicht mehr Gewalt als der Reeder gegen seine übers Meer taumelnden Schiffe. –
So geht er hinaus und hat den »Sturm« in der Tasche. Die Wiese ist zu nah der Straße, der Wald ist schon zu dunkel. Lange schlendert er hin und her, lange kann er sich nicht entschließen, bevor er auf einem Baumstamm sich hinläßt und zwischen Sommerfäden und moosige Zweige das magische Theater projiziert. Noch bedarf es einer letzten Steigerung innerer Kräfte, er muß sich selber verlöschen, sich selber versinken, ganz leer sein, ganz Schauplatz, ganz jene Insel, ganz Bühne. Da tritt Prospero aus der Höhle, ein Schatten von Müdigkeit ist auf seinem adeligen Gesicht, und Mirandas Blumenhände greifen nach der Spange, ihm den dunklen Zaubermantel von der Schulter zu lösen. Und nun ist er, der Leser, nur ein Instrument: nun spielt das Buch auf ihm.
Sie werden mir sagen, daß mein Leser Charles Lamb oder Théophile Gautier heißt, daß er ein Dichter ist, in welchem fremde Gedichte nochmals lebendig werden. Aber dies ist ganz gleich. Worauf es ankommt, das ist die Musik Shakespeares und daß immer wieder welche da sein müssen, denen es verliehen ist, die ganze Musik dieser Gedichte zu hören. Aber die ganze, die ganze. – Da ist »Maß für Maß«. Ein Ding voll Härte, mit finsteren Stellen, mit einer sonderbaren spröden Mischung des Hohen und des Niedrigen. Schwieriger in den Worten, minder schnell uns ergreifend in den Motiven als die übrigen. Ein Ding, das erst lebt, wenn man seine ganze Musik einmal gehört hat. Es gleicht den Gesichtern gewisser seltener Frauen, deren Schönheit nur der weiß, der mit ihnen glücklich war. Wie furchtbar ist dieser Vorgang an sich, diese Geschichte von dem ungetreuen Richter, ungetreu seinem Amt, ungetreu dem armen Verurteilten, ungetreu der guten Schwester, wie hart und finster ist dies alles, wie das Herz zusammendrückend, empörend, aufreizend, abstoßend. Wie hart und finster, wie wehtuend ist Claudios Geschick, seine Todesangst, das Anklammern an den Strohhalm, der ihn retten kann. Und dies alles um eines unsinnigen Gesetzes willen, um einer Sache willen, die nicht besser ist als ein alberner Zufall, eine »Niete in der Lotterie«. Und auf dies Unheil, das uns aufreizt, wieder Unheil gepfropft. Und welch ein wundervolles Ganzes aus alledem! Welche Lichter auf dem Finsteren, welches Leben des Schattens durch das Licht. In dem Mund dessen, der sterben soll, und der Angst hat vor dem Sterben, welche Töne, welche Beredsamkeit, welche Worte, klüger als er selbst, tiefer als seine seichte Tugend – wie preßt der Tod den besten Saft aus ihm heraus. Und in dem Mund des Mädchens, das hilflos ist, das verraten ist, welche Kraft, welches Schwert Gottes auf einmal in ihrer Hand! Und nun die vielen anderen. Wie sie durcheinander hinleben, wie ihr bloßes Auch-da-Sein die Luft anders macht: das Dasein dieses alten Mörders Barnardine, der seit sieben Jahren zum Tode verurteilt ist, neben diesem Knaben Claudio, der es seit vierundzwanzig Stunden ist. Und das Dasein des stillen Klosters mit Bruder Thomas und Bruder Peter, mit soviel Ruhe, soviel Geborgenheit neben diesem Kerker, neben dem Palast, darin der böse Angelo haust wie die giftige Spinne im Mauerwerk. Und auf einmal sind wir draußen aus der Stadt, da sitzt Mariana vor dem »Meierhof, um den ein Graben läuft«, und eines Knaben Stimme singt das süße Lied: »Heb, o heb die Lippen weg!« ... Und zwischen diesem und jenem, der alles verbindet wie ein Chorus, der verkleidete Herzog, der hier die leben sieht, die er sonst nur von oben, von ferne gesehen hat, er, dessen Anwesenheit unser Herz beruhigt wie im bangen Traum ein tiefes Wissen: wir träumen nur, und aus dessen Mund Worte fallen, so mit nichts zu vergleichende Worte über das Leben und das Sterben. Und zwischen diesen Gestalten, damit noch überall Leben ist und das Licht überall über lebendes Fleisch hinspielt und der Schatten überall Lebendes modelliert, noch diese ganze Gesellschaft von gemeineren, niedrigeren Menschen, und doch auch der mindeste von ihnen nicht ganz entblößt von irgend einer Güte oder Witz, oder einer Art von Grazie oder Höflichkeit, nicht ganz ohne die Fähigkeit, Sympathie zu äußern oder etwas Gutes zu sagen oder einen guten Vergleich zu machen, und zwischen allen diesen Gestalten welche Lebensluft, welch ein Miteinander-auf-der-Welt-Sein, welche kleine und doch unermeßbar tiefe Zartheiten gegeneinander, welcher Austausch von Blicken voll Mitleid oder Spott – welch ein Ganzes, nicht der Berechnung, nicht des Verstandes, nicht einmal der Emotionen, ein Ganzes nicht aus dem Gesichtspunkt der Farben allein, nicht aus dem der Moral allein, nicht aus dem der Abwechslung von Schwer und Leicht, von Traurig und Heiter allein, sondern aus allem diesen zusammen welch ein Ganzes »vor Gott«, welch eine Musik!
In der Aufführung von »Was ihr wollt« durch Beerbohm Tree und seine Truppe endet das Stück – und man sagt, das ist nicht der geniale Einfall eines Regisseurs, sondern eine alte englische Bühnentradition – so, daß jeder Herr seiner Dame die Hand reicht, und so, paarweise, der Herzog und Viola und Olivia und Sebastian und hinter ihnen drein das Gefolge, tanzen sie über die Bühne hinaus, Hand in Hand, die einander entzündet und gequält, einander gesucht und getäuscht und beglückt, und so waren alle nur die Figuren eines Tanzes mit Suchen und Nichtfinden, mit dem Haschen nach dem Falschen und dem Fliehen des Richtigen, und dies ist nun die letzte Figur und einen Augenblick weht etwas darüber hin wie ein Schatten, der Schatten eines Denkens an den Totentanz, der auch alles gleichmacht, wie hier alles gleich ist und alles zusammen, die Hände in den Händen, eine doppelte Kette macht, eine »Figur«, in der das einzelne Schicksal nur soviel Wert hat wie der bunte Fleck in einem Ornament, wie das einzelne Thema in einer großen Musik. Und wenn diese aus einer alten Tradition geschöpft ist, so war es doch einmal, beim erstenmal, der geniale Einfall eines Regisseurs, der dieses wundervolle Symbol erfunden hat, die menschlichen Körper, in deren Gebärden er fünf Akte lang das Erlebnis jedes einzelnen ausgedrückt hatte, im letzten Augenblick durch einen Rhythmus zusammenzubinden und in ihnen die Ganzheit dieses Ganzen auszudrücken. Und auch dieser Regisseur, werden Sie sagen, war ein Dichter. Aber das ist er immer, jeder schöpferische Regisseur ist ein Dichter und immer wieder von Zeit zu Zeit nimmt das Schicksal aus denen, die »eine Bühne in sich tragen« und in schwelgerischer Einsamkeit Shakespeare für sich spielen, einen heraus und gibt ihm eine wirkliche Bühne. Und so blitzt unter den hunderten Bühnen, auf denen Shakespeare zum Schein gespielt wird – ich meine, auf denen er gespielt wird, weil es so hergebracht ist, oder weil er zum Bestand des Repertoires gehört, oder weil er gute Rollen enthält –, eine Bühne auf, wo er aus Leidenschaft gespielt wird, und wie Macbeth und Shylock und Othello und Julia immer wieder die Seele und den Leib eines genialen Schauspielers unterjochen, so unterjocht die Musik der ganzen Stücke immer wieder die Seele eines schöpferischen Regisseurs und das Gerüst einer jungen Bühne und lebt aufs neue. Denn das Lebendige lebt nur vom Lebendigen und Flamme nur von dem, was verbrennen will.
Da ich ankündigen ließ, ich wolle Ihnen von den Königen und den großen Herren bei Shakespeare sprechen, so war damit eingestanden, daß ich Ihnen von nichts anderem sprechen will als von dem Ganzen in Shakespeares Werk. Es ist, als hätte ich gesagt, ich wollte von feierlichen und erhabenen Tönen in Beethovens Symphonien, oder ich wollte vom Licht und den Farben bei Rubens sprechen. Denn wie ich dies ausspreche: »Könige und große Herren«, so überflutet sich Ihr Gedächtnis mit einem Gedränge von Gestalten und Gebärden, dem keine Vision zu vergleichen ist, es wäre denn die jenen Greisen auf den Mauern von Troja zuteil wurde, als sich vor ihren Augen die Staubwolken teilten und die Sonne auf den Harnischen und den Gesichtern der unzählbaren den Göttern nahverwandten Helden brannte. In Ihnen drängt mehr an Gestalten, an Bildern, an Gefühlen herauf, als Sie fassen können. Sie fühlen sich zugleich an Lear erinnert, der ein König, jeder Zoll ein König, und an Hamlet, der ein Prinz, so durch und durch ein Prinz ist; und wie sehr an Richard II., diesen älteren Bruder Hamlets, der so viel von seinem königlichen Blut spricht, um dessen Schultern der Königsmantel hängt, qualvoll wie jenes Kleid, getaucht in das Blut des Nessus, das endlich herabgerissen wird, und da erst recht den Tod bringt. Und das Gesicht Heinrichs VI., bleich, als wäre der Kopf abgehauen und auf eine Zinne gepflanzt, ist einen Augenblick in Ihnen, und das Gesicht des milden Duncan. Sie sehen blitzschnell irgend eine gebietende, mehr als königliche Gebärde des Antonius, und es weht Sie ein Hauch an von dem Geisterkönigtum Prosperos auf seiner Insel und dem Märchenkönigtum jener idyllischen Könige im roten langen Mantel mit Herrscherstäben in den Händen, Leontes von Sizilien und Polyxenes von Arkadien und Cymbeline und Theseus. Aber diese Flut steigt immer höher, und Sie sehen in ein Gewirr adeliger Gebärden hinein, daß Ihnen schwindelt. Die Gebärden des Gebietens und der Verachtung, des hochfahrenden Trotzes und des Edelmutes funkeln vor Ihren Augen wie tausend sich kreuzende Blitze. Diese Worte »Könige und große Herren« haben auf ein Gedächtnis, dessen Tiefen mit Shakespeare getränkt sind, eine Macht, immer wieder neue Fluten aus allen Brunnen emporsteigen zu lassen. Überschwemmt von Gestalten und nicht mehr zu gestaltenden Visionen werden Sie in sich nach einem Wort suchen, um diese ganze Geisterwelt wieder in einen Begriff zusammenzuballen. Sie fühlen, daß jene Worte nicht nur drei Viertel aller Gestalten heraufbeschwören, die Shakespeare geschaffen hat, sondern auch das, was zwischen diesen Gestalten vorgeht, und auch zwischen diesen Gestalten und den niedrigeren, die neben ihnen da sind; daß diese Worte nicht nur auf die Gestalten selbst Bezug haben, sondern auch auf den leeren Raum, der um sie herum ist, und auf das, was diesen leeren Raum erfüllt und was die Italiener »l'ambiente«, das Ringsherumgehende, nennen. Sie werden gewahr, daß es wirklich etwas gibt, das in dieser Welt Shakespeare von einem Punkt zum anderen hinüberleitet, wirklich etwas Gemeinsames zwischen der Szene, da Kent, der Unerkannte, dem Lear seine Dienste anbietet, »weil in diesem Gesicht etwas sei, dem er dienen möchte«, und jener Waldidylle von den Söhnen des Königs Cymbeline, die in der Höhle aufwachsen, fessellos wie junge schöne Tiere und doch von königlichem Blut; zwischen dem finsteren Gegeneinanderstehen der englischen Barone in den Königsdramen und dem gütigen Gebieterton, in dem der edle Brutus zu seinem Pagen Lucius redet; zwischen dem Ton des adeligen Feldhauptmanns Othello, ja zwischen Cleopatra, die eine Königin, und Falstaff, der – after all – ein Edelmann ist. Sie fühlen wie ich dies Unwägbare, Ungreifbare, ein Nichts, das doch alles ist, und Sie nehmen mir das Wort von den Lippen, womit ich es benennen möchte: die Atmosphäre von Shakespeares Werk. Dies Wort ist so vag wie möglich, und doch gehört es vielleicht zu denen, von denen wir lernen müssen, einen sehr bestimmten und sehr fruchtbaren Gebrauch zu machen.
Aber zu keiner andern Zeit des Jahres vielleicht hätte ich gewagt, vor Ihnen von etwas so Vagem zu reden und darin etwas so Großes, ja eigentlich das Allergrößte zu suchen, als jetzt, da Frühling ist.
und größer als sonst ist jetzt der Mut, alle schönen Dinge frisch zu sehen, auch diese Dinge, und von dem an ihnen, wovon immer gesprochen zu werden pflegt, von den Charakteren, von der Handlung und ihrer Idee, von allen diesen fester umschriebenen Dingen nicht zu sprechen und jener fließenden, kaum greifbaren Wahrheit, die sich aber wie keine zweite auf das Ganze von Shakespeares Werk bezieht, nachzugehen.
Der Augenblick selbst hat so viel Atmosphäre. Ich meine diesen Augenblick im Leben der Natur, diesen Augenblick des noch nicht voll erwachten, noch nicht üppigen, noch von Sehnsucht durchhauchten Frühlings, an welchem der Todestag eines menschlichen Wesens, das uns fast mythisch geworden ist, und von dem wir kaum mehr zu fassen vermögen, daß es jemals sterblichen Menschen ein Gegenwärtiges war, Sie hier vereinigt. Ich kann nicht sagen, daß es mir als etwas wesentlich anderes erscheint: die Atmosphäre des Frühlings zu spüren oder die Atmosphäre eines Dramas von Shakespeare oder eines Bildes von Rembrandt. Hier wie dort fühle ich ein ungeheures Ensemble. (Lassen Sie mich lieber dieses kühle, aus dem Technischen der Malerei genommene Wort gebrauchen als irgend ein anderes. Ich hätte so viele zur Verfügung: ich könnte von einer Musik des Ganzen sprechen, von einer Harmonie, einer Durchseelung, aber alle diese Worte scheinen mir etwas befleckt, etwas welk und voll der Spuren menschlicher Hände.) Ein Ensemble, worin der Unterschied zwischen Groß und Klein aufgehoben ist, insofern eines um des andern willen da ist, das Große um des Kleinen willen, das Finstere um des Hellen willen, eines das andere sucht, eines das andere betont und dämpft, färbt und entfärbt, und für die Seele schließlich nur das Ganze da ist, das unzerlegbare, ungreifbare, unwägbare Ganze. Die Atmosphäre des Frühlings zu zerlegen, war immer die Leidenschaft der lyrischen Dichter. Aber ihr Wesentliches ist eben Ensemble. Überall vollzieht sich etwas, brütet etwas. Die Ferne und die Nähe flüstern zueinander, der laue Wind, der über den noch nackten Boden hinschleicht, haucht gleichzeitig eine dumpfe Beklommenheit und eine dumpfe Luft. Das Licht ist überall gelöst, wie das Wasser, aber kein Augenblick ist trächtiger mit der Fülle des Frühlings, als wenn es mitten im Tag sehr finster wird, schwere dunkle Wolken über den wie von innen leuchtenden erdbraunen Hügeln brüten und aus den nackten Ästen die Orgie der fast delirierenden Vogelstimmen in das Dunkel hinaufdringt. Hier ist unter einer unfaßbaren Phantasmagorie alles verändert. Das Kahle, das immer öde und traurig schien, ist voll Wollust. Die Finsternis drückt nicht, sie macht jauchzen. Die Nähe ist so geheimnisvoll wie die Ferne. Und der einzelne kleine dunkle Vogel auf nacktem Ast arbeitet aus seiner Brust so viel von der Seele des Ganzen hervor wie der tiefe dunkle Wald, der dem Wind den Geruch feuchter Erde und des knospenden Grüns mitgibt.
Ich könnte Ihnen immer wieder diesen Begriff der Atmosphäre hinreichen, wenn ich nicht sicher wäre, daß Sie mich sogleich und völlig verstanden haben, und wenn ich nicht fürchten müßte, Sie zu ermüden. Der Tod eines Menschen hat um sich seine Atmosphäre, wie der Frühling. Die Gesichter derer, in deren Armen einer gestorben, sprechen eine Sprache, die über alle Worte ist. Und in ihrer Nähe sprechen die unbelebten Dinge diese Sprache mit. Das Dastehen eines Stuhles, der immer woanders stand, das Offenstehen eines Schrankes, der niemals für lange offenstand, und tausend Dinge, die in einem solchen Augenblick auf einmal da sind, wie Spuren von Geisterhänden: dies ist die Welt, die an den Fensterscheiben endet. Aber das Draußen hat irgendwie auch dieses fatale, im tiefsten mitwissende Gesicht. Die Laternen, die brennen wie alle Tage; das Vorbeigehen der ahnungslosen fremden Menschen, die um die Ecke biegen und unten vorüberkommen und wieder um eine andere Ecke biegen: dies verdichtet sich zu etwas, was sich vorüberzieht wie eine gräßliche eiserne Kette. Und, in diesen Augenblicken, das Wiederkommen der lange vergessenen Menschen. Das Auftauchen von solchen, die sonderbar, verbittert oder ganz fremd geworden sind und aus denen doch jetzt Worte und Blicke hervorbrechen, die sonst nie an den Tag kommen. Das plötzliche Staunen: Wie kamen wir auseinander? wie ging dies alles zu? Das plötzliche Erkennen: Wie nichtig ist alles! wie ähnlich sind wir alle untereinander, wie gleich! Auch dies ist Atmosphäre. Auch hier knüpft ein Etwas das Nahe und Ferne, das Große und Kleine aneinander, rückt eines durchs andere in sein Licht, verstärkt und dämpft, färbt und entfärbt eins durchs andre, hebt alle Grenzen zwischen dem scheinbar Wichtigen und dem scheinbar Unwichtigen, dem Gemeinen und Ungemeinen auf und schafft das Ensemble aus dem ganzen Material des Vorhandenen, ohne irgendwelche Elemente disparat zu finden.
Die Atmosphäre im Werk Shakespeares ist Adel. (Der König ist nur der größte Herr unter den großen Herren, und jeder von ihnen ist ein Stück von einem König.) Dies alles im Sinne des Cinquecento, das heißt, unendlich freier, unendlich menschlicher, unendlich farbiger als irgend etwas, womit wir diese Begriffe zu verbinden pflegen. Und dann das Ganze aus Shakespeares Seele herausgeboren, nicht nur die Gestalten und ihre Gefühle, sondern eben vor allem die Atmosphäre, die Luft des Lebens, ce grand air – wenn dieses Wortspiel erlaubt wäre –, die alles umfließt. Nur so läßt sich von dieser Atmosphäre sprechen wie von etwas Gegebenem: alle diese Gestalten (das dumpfere Viertel, das nicht zu ihnen gehört, ist nur da, um ihnen den Kontrast zu geben) lösen sich in dem Gefühl ihres Adels auf, wie die Figuren auf den Bildern Tizians und Giorgiones in dem goldenen leuchtenden Element. In ihm bewegen sich solche Gruppen wie Romeo, Mercutio, Benvolio, Tybalt, solche wie Antonio, der adelige Kaufmann, und seine Freunde; der verbannte Herzog in den Ardennen ist mit all den Seinen von diesem Fluidum umflossen, und – wie sehr! – Brutus und sein ganzes Haus. Um alle diese herum ist dieses Licht und diese Luft so voll und so stark, daß es niemals möglich war, es zu übersehen. Ein adeliges Bewußtsein, nein tiefer als das, ein adeliges Sein unter der Schwelle des Bewußtseins, ein adeliges Atmen; damit verschwistert ein bewunderswert zartes und starkes Fühlen des andern, eine gegenseitige, fast unpersönliche, dem Menschlichen geltende Neigung, Zärtlichkeit, Ehrfurcht: habe ich Ihnen mit diesen Worten – schwächlich wie sie sind, um das namenlos Lebendige auszudrücken – nicht ins Gedächtnis gerufen, was allen diesen so verschiedenartigen jungen Menschen gemeinsam ist, dem melancholischen Jacques wie dem leichtherzigen Bassanio, dem tiefen heißen Romeo wie dem spröden klugen Mercutio? Das Element, in dem diese Wesen gezüchtet sind, ist wundervoll zwischen Anmaßung und Höflichkeit. Ein junges Atmen voll Trotz und doch Erschrecken bei dem Gedanken, verletzt zu haben, ein Sich-Anschließen, Sich-Aufschließen und doch In-sich-geschlossen-Bleiben. Ihr Gleichgewicht ist das schönste Ding, das ich kenne. Wie schöne, gutgebaute leichte Schiffe liegen sie schaukelnd auf der Flut des Lebens über ihrem eigenen Schatten. Etwas Überströmendes ist an ihnen, etwas Expansives, in die Luft Überflutendes, ein Luxus des Lebens, eine Verherrlichung des Lebens an sich, etwas unbedingt das Leben Grüßendes, etwas, das die pythischen und nemeischen Oden des Pindar heraufbeschwört, diese strahlendsten Siegerbegrüßungen. Und schließlich ist nicht nur Prinz Heinz ihr Bruder, sondern ein wenig auch Falstaff. Aber lassen wir sie, obwohl es schwer ist, sich von ihnen zu trennen. (Wie nehmen sich neben dem lässigen Luxus ihrer Reden die Reden in fast allen anderen Dramen aus, wie dürr, wie gierig nach einem Ziel, wie die Rede von Pfaffen oder Advokaten oder von Verzückten oder von Monomanen.) Sie sind Jünglinge; und Brutus ist ein Mann. Sie sind ohne ein anderes Schicksal als die Liebe, sie scheinen wirklich nur zur Verherrlichung des Lebens in diese Bilder gesetzt, wie ein glühendes Rot, ein prangendes Gelb; und Brutus hat ein inneres Schicksal voll Erhabenheit. Aber er ist ganz auf dasselbe gestellt wie sie; nur in reiferer Weise. Nicht die Interpretation, die seine Seele den Dingen gibt, sondern die Haltung im Dasein, dies Adelige ohne Härte, voll Generosität, voll Güte und Zartheit meine ich, diesen Ton, dessen Wohllaut nur aus einer Seele hervordringen kann, in deren Grund die tiefste Selbstachtung eingesenkt ist. Abgesehen von seinem Schicksal, das sich in ihm vollzieht und ihn –»nach düsterem Ratschlag, gepflogen vom Genius mit seinen dienenden Organen« – zu der großen Tat seines Lebens treibt, der dann alles weitere, und auch der Tod, folgt wie das Wasser dem Wasser, wenn die Schleuse geöffnet ist; abgesehen von seinem inneren Schicksal, ist dies Trauerspiel, dessen Held Brutus ist, fast allein erfüllt mit dem Licht dieses adeligen Wesens, in dessen Strahl alle anderen Figuren sich modellieren, indem sie nahe an Brutus herantreten. Was zwischen ihm und Cassius vorgeht, ist nichts anderes als das Reagieren des Cassius, der minder edel ist und sich minder edel weiß – (dies beides ist unlöslich verbunden: » Sich wissen in dem Stande der Erwählten«, dies ist alles) –, gegen die Atmosphäre, die um Brutus herum ist. Von ihm zu Brutus nichts als ein vergebliches – inneres, stummes – Werben, ein Werben mit allen Qualen der Eifersucht, das Cassius vor sich selber verhehlt, das vielleicht auch Brutus, wenn er es durchblickt, vor sich selber verhehlt, nicht wissen will, nicht analysieren will, sicherlich. Und von Brutus zu Cassius eine unglaubliche Schonung, ein zartes Sich-Gleichstellen, bis zu dem Augenblick jenes einzigen Losbrechens; und da sind es seine Nerven, die losbrechen, nicht sein Wille. (Er hat vor einer Stunde den Brief bekommen, daß Portia tot ist, und er spricht nicht davon.) Und dann, beim Abschied, nochmals: »Noble, noble Cassius«. Daß er es sagt, er, der wirklich zweifach edel ist, zu dem minder Edlen, daß es ihn treibt, das zweimal zu sagen! So steht Brutus zu Cassius. Und Portia! Sie hat nur diese eine, nie zu vergessende Szene. Sie ist ganz umwoben von Brutus' Atmosphäre. Ganz aus diesem Licht, das von ihm ausstrahlt, ist ihr edles Gesicht modelliert. Oder strahlt das Licht von anderswo her, und sind beide, Brutus und Portia, aus diesem Licht und seinem Dunkel modelliert? Wer kann vor einem Rembrandt sagen, ob die Atmosphäre um der Gestalten willen da ist, oder die Gestalten um der Atmosphäre willen? Aber es gibt einige Stellen, die sichtlich nur da sind, um das ganze Licht zu fangen, das die Seele dieser Atmosphäre ist. Ich meine die Auftritte mit dem Knaben Lucius und den anderen Dienern. Sein Ton zu Lucius. (In den Szenen Prosperos mit Ariel kommt dieser Ton wieder.) Wie er sich entschuldigt, daß er ihm den Schlaf verkürzt, auf den seine Jugend so viel Anrecht hat. Und dies: »Schau, da ist das Buch, das ich dich suchen hieß. Es war in meinem Oberkleid. Du mußt Geduld mit mir haben. Bear with me, gentle boy«. Dann, wie Lucius unterm Stimmen der Laute einschläft und Brutus hingeht, die Laute wegzunehmen, auf die sein Arm im Schlummer gesunken ist, »damit er sie nicht bricht«. Ich weiß nicht, was einem Menschen, der liest, die Tränen in die Augen treiben kann, wenn es nicht ein solches Detail ist. Das ist der Mann, der Cäsars Mörder war. Es ist der Feldherr in seinem Zelt. Es ist der letzte Römer; und er wird morgen bei Philippi sterben. Und jetzt geht er hin, bückt sich und zieht unter einem Schlafenden eine Laute weg, damit sie nicht verdorben wird. In dem Augenblick, da er dies tut, diese kleine Handlung, diese bürgerliche, weibliche kleine Handlung – dies, was einer Frau naheläge zu tun, einer Hausfrau, einer guten Mutter –, in diesem Augenblick, so nahe am Tode (Cäsars Geist steht schon im Finstern da), sehe ich sein Gesicht: es ist ein Gesicht, das er nie vorher hatte, ein zweites wie von innen heraus entstandenes Gesicht, ein Gesicht, in dem sich männliche mit weiblichen Zügen mischen wie in den Totenmasken von Napoleon und von Beethoven. Hier kann man weinen, nicht bei Lears Flüchen, und nicht, wenn Macbeth, in seine eisernen Qualen eingeschnallt wie in einen zentnerschweren Panzer, den Blick auf uns richtet, der uns das Herz zusammenschnürt. Von solchen kleinen Zügen muß eine bis zur Anbetung gesteigerte Bewunderung Shakespeares immer wieder aufleben. Denn es gibt doch, es gibt doch in einem Kunstwerk nichts Großes und Kleines; und hier, wie Brutus, der Mörder Cäsars, die Laute aufhebt, damit sie nicht zerbrochen wird, hier wie nirgends ist der Wirbel des Daseins und reißt uns in sich. Dies sind die Blitze, in denen ein Herz sich ganz enthüllt. Wie Ottilie in den »Wahlverwandtschaften« die alte Anekdote nie mehr vergessen kann, daß Karl I. von England, schon entthront und von seinen Feinden umgeben, da der Knopf von seinem Stock ihm hinunterfällt, um sich sieht und gar nicht begreift, daß sich niemand für ihn bückt, und sich dann selbst bückt, zum erstenmal in seinem Leben, und wie dieser Zug in ihrem Herzen sich eingräbt, daß sie sich immer bückt, auch wenn einem Mann etwas auf den Boden fällt – dies, oder in »Krieg und Frieden« der Schrei, den bei der Hasenhetze Natascha auf einmal ausstößt, dieser wilde Triumphschrei eines jagenden Tieres aus der Kehle einer eleganten Dame: dies sind solche Blitze. Aber bei Shakespeare sind sie überall. Sie sind die Entladungen seiner Atmosphäre.
Ich weiß nichts, das ans Herz greift wie der Ton Lears, wenn er zu Edgar spricht. Zu seinen Töchtern spricht er wie ein wütender Prophet oder wie ein vor Schmerz trunkener Patriarch. Zu seinem Narren spricht er hart. Aber zu Edgar, diesem nackten Verrückten, den er in einer Höhle gefunden hat, spricht er in einem Ton – freilich, es ist etwas von Wahnsinn in diesem Ton –, aber der Grundton ist eine unglaubliche Höflichkeit des Herzens, eine unbeschreibliche Courtoisie, und man ahnt, wie dieser König manchmal beglücken konnte, wenn er gnädig gelaunt war. Es ist die gleiche Höflichkeit, deren Schein den milden Duncan umfließt, wie er ankommt und dies sagt von der guten Luft, die um Macbeths Burg sein muß, weil die Mauerschwalbe hier nistet. Und das gleiche Licht ist auf der kleinen Szene Richards II. mit dem Stallknecht (kurz vor seinem Tode); und das gleiche, aber stärker, südlicher, prangender, in jeder Szene zwischen Antonius und Cleopatra, und zwischen Antonius und seinen Dienern, und zwischen Cleopatra und ihren Dienerinnen: welche Ehrfurcht vor sich selbst und vor der Größe ihres Daseins, welche »olympische Luft«, welche Allüre, wenn die Geschäfte einer Welt im Vorgemach harren müssen, indessen sie einander umarmen: »Das Leben adeln heißt so tun« ...; und das gleiche Licht, nur wie mit zornigen Blitzen zwischen geballten Wetterwolken durchdringend, auf den hundert Gestalten der stolzen Peers von England, deren Gefühl von sich selbst (das, was einer von ihnen ausspricht: »our stately presence«) in weiten Falten um sie fällt, pompöser, wilder, wirklicher, als ein Mantel mit Hermelin verbrämt. Aber ich könnte ohne Aufhören sagen: »Es ist hier« und »Es ist dort«; denn ich sehe es ja überall. Und ich könnte eine frische Stunde lang zu Ihnen sprechen, wollte ich zeigen, wie ich in diesem Fluidum die Gestalten aller dieser königlichen und adeligen Frauen leben fühle, von Cleopatra bis zu Imogen. Ja, so sehr sehe ich es überall, daß ich im tiefsten betroffen werde, wenn ich eine Gestalt erblicke wie Macbeth, die fast nichts von dieser Atmosphäre um sich hat. Mir ist dann, Shakespeare habe ihn mit einer besonderen Furchtbarkeit umgeben, wie eine eisige Todesluft um ihn streichen lassen – einen gräßlichen Anhauch der Hekate –, die rings um die Gestalt alles Lebendige, Leicht- Vermittelnde, mit Menschen Verbindende weggezehrt hat, alles das, was um Hamlet als eine Lebensluft so sehr herum ist, in der Szene mit den Schauspielern so sehr als eine Expansion seines ganzen Wesens, als ein prinzlich-gnädiges Sich-gehen-Lassen, in den Szenen mit Polonius und mit Rosenkranz und Güldenstern als ein bewußtes Gebrauchen seiner prinzlichen Übermacht, ein ironisches und schmerzliches Ausspielen seiner Überlegenheit – auch dieser Vorrang nichts wert, auch diese Gabe nichts nütz, als sich selbst damit zu quälen.
Meine Herren! Die Dinge, von denen ich Ihnen sprach, scheinen es mir zu sein, die das Ganze von Shakespeares Werk zusammenhalten. Sie sind ein Geheimnisvolles und das Wort »Atmosphäre« bezeichnet sie in ebenso unzulänglicher, fast leichtfertiger Weise wie das Wort »Helldunkel« ein gleich Geheimnisvolles in Rembrandts Werk. Dächte ich an die Figuren allein – und es sind die Figuren allein, als stünden sie im luftlosen Raum, die man gewöhnlich zum Gegenstand der Betrachtung macht –, so hätte ich versucht, von der shakespearischen »Haltung« zu sprechen. Denn es handelt sich darum, das Gemeinsame zu sehen oder zu fühlen in dem, wie alle diese Figuren im Dasein stehen. Die Figuren Dantes sind in eine ungeheure Architektonik hingestellt, und der Platz, auf dem jede steht, ist ihr Platz nach mystischen Entwürfen. Die Gestalten Shakespeares sind nicht nach den Sternen orientiert, sondern nach sich selber; und sie tragen in sich selber Hölle, Fegefeuer und Himmel und anstatt ihres Platzes im Dasein haben sie ihre Haltung. Aber ich sehe diese Figuren nicht jede für sich, sondern ich sehe sie jede in bezug auf alle andern und zwischen ihnen keinen leblosen, sondern einen mystisch lebenden Raum. Ich sehe sie nicht unverbunden nebeneinander dastehen wie die Figuren der Heiligen auf der Tafel eines Primitiven, sondern aus einem gemeinsamen Element heraustreten wie die Menschen, Engel und Tiere auf den Bildern Rembrandts.
Das Drama, ich meine nicht nur das Drama Shakespeares, ist ebensosehr ein Bild der unbedingten Einsamkeit des Individuums wie ein Bild des Mit-Einander-da-Seins der Menschen. In den Dramen, die Kleists kochende Seele in ihren Eruptionen herausgeschleudert hat, ist diese Atmosphäre, dieses Mit-Einander der Gestalten vielleicht das Schönste des Ganzen. Wie es diese Kreaturen fortwährend nacheinander gelüstet, wie sie die Anrede wechseln, anstatt der fremderen plötzlich das nackte Du auf den Lippen haben, einander mit Liebesblicken ansehen, einander an sich reißen, sich eins ins andere hineinsehnen, und dann wieder erstarren gegeneinander, fremd auseinanderfahren, um einander wieder glühend zu suchen: dies erfüllt den Raum mit glühendem Leben und Weben und macht aus dem Unmöglichen ein Lebendiges.
Darum, weil auch das, was zwischen den Gestalten vorgeht, für mein Auge von einem Leben erfüllt ist, das aus gleich geheimnisvollen Quellen herflutet wie die Gestalten selbst, weil dies Einander-Bespiegeln, Einander-Erniedrigen und -Erhöhen, Einander-Dämpfen und -Verstärken für mich nicht weniger das Werk einer ungeheuren Hand ist als die Figuren selber, vielmehr, weil ich hier so wenig wie bei Rembrandt eine wirkliche Grenze sehen und zugestehen kann zwischen den Gestalten und dem Teil des Bildes, wo keine Gestalten sind, darum habe ich nach dem Wort »Atmosphäre« gegriffen, weil die Kürze der Zeit und die Notwendigkeit, uns schnell, in festlicher Schnelle zu verstehen, mir verwehrt hat, ein größeres und geheimnisvolleres Wort zu gebrauchen – Mythos.
Denn wenn es mir möglich gewesen wäre, mit noch ganz anderer Eindringlichkeit als heute die Gewalt Rembrandts in Ihrem Innern heraufzurufen und zugleich und mit der gleichen Eindringlichkeit die Gewalt Homers, dann wären diese drei Urgewalten, die Atmosphäre Shakespeares, das Helldunkel Rembrandts, der Mythos Homers, für einen Augenblick in eins zusammengeflossen, wir wären, diesen glühenden Schlüssel mit der Hand umklammernd, zu den Müttern hinabgesunken und hätten dort, wo »nicht Raum, noch weniger eine Zeit«, in eins verflochten mit jenem tiefsten Dichten und Trachten ferner Genien, schemenhaft, das tiefste Dichten und Trachten der eigenen Zeit erblickt: zu schaffen ihrem Da-Sein Atmosphäre, ihren Gestalten den hellen und dunklen Raum des Lebens, ihrem Atmen den Mythos.