Johann Gottfried Herder
Übers Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele

[Motto]

Est Deus in nobis!

Virg.

1. Entwickelung der ursprünglichen Bestimmung

[399] I. Entwickelung der ursprünglichen
Bestimmung der beiden Fähigkeiten der
menschlichen Seele,zu erkennen
und zu empfinden, und die allgemeinen Gesetze,
denen sie folgen

Erkennen und Empfinden scheinet für uns vermischte, zusammengesetzte Wesen in der Entfernung zweierlei; forschen wir aber näher, so läßt sich in unserm Zustande die Natur des einen ohne die Natur des andern nicht völlig begreifen. Sie müssen also vieles gemein haben oder am Ende gar einerlei sein.

1. Kein Erkennen ist ohne Empfindung, d.i. ohne Gefühl des Guten und Bösen, der Bejahung und Verneinung, des Vergnügens und Schmerzes: sonst könnte die Neugierde, erkennen, sehen zu wollen, weder dasein noch reizen. Die Seele muß fühlen, daß, indem sie erkennet, sie Wahrheit sehe, mithin sich genieße, ihre Kräfte des Erkennens wohl angewandt, sich also fortstrebend, sich vollkommner wisse: je inniger und unaufgehalten sie das gewahr wird, desto inniger empfindet sie Wohllust.

Setzt, die Seele erkenne nicht (ein Zustand, den wir zum Teil nur aus der Ohnmacht kennen), so ist Tod da: Lähmung. Die Seele hat ihr Dasein gleichsam, d.i. ihren Genuß an sich und der Welt, verloren.

Setzt, die Seele betrachte etwas, was Unding ist, als Wahrheit; so kann sie's nur so lange, als die dunkle Vermischung unvollständiger Ideen ihr noch den Schatten als Wahrheit vorhält. Sie kommt aber zu sich: die Ideen werden weniger, heller, tiefer: sie findet kein Vergnügen mehr am Wahne, weil sie inne wird, daß sie bei ihm nichts gedacht habe. Sie wirft ihn weg und wählt Wahrheit.

[399] Setzt endlich, die Seele erkenne, schreite fort; aber unsanft, ohne Maß dessen, was sie fassen soll zum Gebrauch ihrer Kräfte: die Arbeit wird ihr sauer, sie fühlt sich unwillig, bis sie zuletzt, wenn sie nicht durchbrechen kann, am Orte der größten Dunkelheit zu rückkehret. Sie hört über den Gegenstand zu denken auf, unter dem sie zu erliegen schien, der sie mit Schwarz umhüllte: sie hat ihre Lust zu erkennen an ihm gebüßet und wandert anderswohin aus!

Das Erkennen der Seele läßt sich also nicht ohne Gefühl des Wohl- und Übelseins, ohne die innigste geistige Empfindung der Wahrheit und Güte denken. Das Wort Neugierde, Verlangen nach neuen Erkenntnissen, sie auf die leichteste, beste Weise zu sehen, sagt's.

2. So läßt sich keine Empfindung ganz ohne Erkennung, d.i. wenigstens ohne dunkle Vorstellung der Vollkommenheit, und zwar fortrückender Volkommenheit, denken: selbst das Wort Empfindung sagt's. Man muß mit sich und seinem Zustande beschäftigt sein, sich also und seinen Zustand fühlen, im Wohlstande und in der Fortdauer oder im Gegenteil fühlen, d.i. dunkel erkennen, in der sanften Fortdauer eine Art Wachstum, Zunahme, Genuß mehrerer, längerer Vollkommenheit ahnden, d.i. dunkel voraussehn, oder es ist kein Zustand der Empfindung. Selbst wenn wir uns eine Pflanze empfindend denken: so ist's, wie der tiefste Grad von Empfindung, so auch der dunkelste Zustand der Selbsterkenntnis und dessen, was in dies Selbst einfließt. Wir können nach dem gemeinen Begriffe nicht umhin, selbst in Gott, in dem Wesen, was weder durchs Erkennen noch Empfinden wachsen kann, beide Zustände nach unsrer Analogie zu setzen, weil wir sonst keinen innern Zustand eines Wesens kennen. Ja wenn bei der Empfindung Tätigkeit sein soll, unsern Zustand zu ändern oder darin zu beharren, wie die Aufgabe mit Recht zum Grunde setzt, so ist beides nicht ohne Erkenntnis, und zwar einen sehr vorzüglichen Grad derselben, möglich.

Erkennen ist also nicht ohne Empfindung: Empfindung nicht ohne ein gewisses Erkennen. Laßt uns beide Fähigkeiten nun genauer bestimmen und in ihren Grundgesetzen entwickeln.

Vom Gefühl der Pflanze wissen wir nichts, und vom Phänomenon des Triebes der Bewegung im Steine noch minder; laßt uns also vom untersten Grad unsrer tierischen Empfindung anfangen: wir fahlen uns in einem sehr vielartigen und zu einem [400] Zwecke äußerst fein organisierten Körper lebend. Körperlich zu reden, fühlt sich die Seele, d.i. unsre Kraft, zu erkennen und zu wollen, selbst in ihren abgezogensten Verrichtungen mit dieser Masse, wenigstens mit Teilen derselben, verbunden, daß sie diesen Ort im Universum nicht verlassen kann, wohin sie sich von einer fremden Macht gesetzt siehet. Sie fühlt weiter ihre selbstgedachte und abgezogenste Kenntnisse als Resultate ihrer Verbindung mit dem Körper und (noch immer körperlich zu reden) als ein Werkzeug, oder vielmehr als ein Aggregat unzählbarer Werkzeuge, ihr Kenntnisse zu gewähren. Sie fühlt endlich, im weitesten Verstande, sich als Inwohnerin gleichsam in diesen Körper ausgegossen, daß sie mit allen Werkzeugen desselben empfinde, desselben körperliche und organische Kräfte brauche, dadurch immer eine Kraft von sich anwende, sich also im Gebrauch dieser Kraft fühle, wohlseind, daurend in sanftem Maß fortstrebend fahle – sich also in diesem Körper wie in einem Spiegel ihr[er] selbst erkenne. Dies ist unser Zustand, und daher kommt die innige Vereinigung der Kraft, zu erkennen und zu genießen, zu sehn und zu empfinden.

Diesen Zustand nun bis auf den tiefsten Abgrund uns innigst und doch deutlich vorzustellen ist nicht möglich, weil wir weder die Natur der Gedenkkraft noch der Empfindungs- und Körperteile aus dem Universum und aufs Universum hin erklären und beziehen können. Und schon aus dem Grunde sind alle Systeme über die Verbindung der Seele und des Körpers nichtig. Wir sind in eine Welt unendlicher Ideen und Würkungen gesetzt, an denen wir, aber nur als einzelne Wesen, teilnehmen, und wissen selbst nicht, wohin oder woher jede unsrer Ideen würke. Wie sollten wir nun wissen, auf welche Art wir einzelne Wesen wurden? wie sich aus der allgemeinen Natur der Dinge die Kraft zu erkennen mit der Masse Organisation zu Empfindungen gattete, daß sie, wenigstens dem Scheine nach, zusammen und ineinander würken? Wer begreift, wie in der raum- und zeitlosen Unendlichkeit Raum, Zeit und einzelne Dinge wurden? Niemand! Die Untereinanderordnung deutlicher klarer und dunkler, aber lebhafter und würksamer Ideen ist das Meisterstück der göttlichen Kraft und Weisheit, die in jedem einzelnen Punkt nicht anders als aus der Zusammenordnung des Ganzen eingesehen werden müßte.

Wir müssen hier also bloß bei der Erfahrung und bei klaren Begriffen bleiben, von denen es gnug ist einzusehen, warum sie [401] nicht vollständig werden konnten. Da finden wir nämlich die Kräfte der Seele gleichsam ausgebreitet in alle mannigfaltige Verrichtungen des organischen Leibes. Ohne gewisse Teile, fühlen wir, kann unser Denken nicht vor sich gehn: die Affekten regen verschiedne Gliedmaßen und Teile: die Sinnlichkeit hat ihre Werkzeuge: das organische Gefühl verbreitet sich über den ganzen Körper – alle Teile und Glieder also tragen auf die verschiedenste Weise zum Wohl der Seele bei, und dies Wohl kann sich nicht anders äußern, als daß sie sich in allen Teilen wohl fühle. Hiebei sollten wir nun stehnbleiben. Die Seele fühlt sich im Körper, und fühlt sich wohl, wenn sie fortdauret, ihre Verrichtungen tut und die Verrichtungen des Körpers ihr analog würken. Mens sana in corpore sano. Könnten wir tiefer hin fühlen und uns aus dem tiefen Traume der sinnlichsten Kräfte wecken: so würden wir ohne Zweifel inne, wie die Seele sich genau in allem fühle. Wie sie die Modulation des Geblütsumlaufs höre und auch eben der Modulation ähnlich denke! Wie das Othemholen durch seinen Druck auf die Maschine zugleich der Takt sei, der die Modulation der Gedanken regiere! Wie in jedem starken oder schwachen Gliede, nach Maß des Beitrags desselben zum Ganzen, die Seele sich schwächer oder stärker fahle, freudig würke, oder matte. Kurz, der Körper würde uns alsdenn deutlich, was er uns jetzt nur dunkel oder verworren ist, Analogon, Spiegel, ausgedrücktes Bild der Seele. Und hier liegt nun der Bestimmungsgrund unsrer ersten wichtigen Frage über die Natur des Erkennens und Empfindens: nämlich das Erkennen der Seele kann als ein deutliches Resultat all ihrer Empfindungszustände betrachtet wer den; die Empfindung also kann nichts anders sein als gleichsam derKörper, das Phänomenon des Erkennens, die anschaubare Formel, worin die Seele den Gedanken siehet. Dies ist die ursprüngliche Bestimmung beider Fähigkeiten, die sich in der Entwicklung aller merkbaren Fälle und Zustände zeiget.

Da hiezu das Bild des ganzen Körpers mit all seinen Empfindungen ein zu dunkles, vielartiges Bild wäre, sintemal er von zu vielem andern abhängt, ein Sklave des großen Laufs der Natur ist und der Seele nur unvollständig zugehöret: so lasset uns ihr eigentlicheres Gebiet, die Sinnlichkeit im engern Verstande, betrachten, und wir werden die ursprüngliche Bestimmung beider Fähigkeiten, des Erkennens und Empfindens, auf die angegebne Weise sehen.

[402] Immer nämlich ist jeder Sinn ein Organ, der Seele Empfindung und unter der Hülle derselben Erkenntnis zu geben Sie stellen ihr alle ein Mannigfaltes vor, wo ihr Macht und Amt gegeben wird, daraus ein Eins zu machen. Jeder Sinn auf seine Weise, aus seinen Gegenständen liefert ihr Schemata des Wahren und Guten, d.i. viele in eine Empfindung vermischte Ideen und Teile des Weltalls, die aber also vermischt der Sphäre des Sinnes angemessen sind, d.i. die der Seele also vorgestellt werden, daß sie auf solche Weise in ihrer Menge leicht gefaßt und bis zu dem Grade Klarheit und Deutlichkeit aufgelöst werden können, als es fürs Wohl des Ganzen itziger Zeit und in dem Zustande gehöret. Bei der Empfindung jedes Sinnes übt sich also die Seele im Erkennen, d.i. sie hat eine sinnliche Formel vor sich, die sie auf die möglich leichteste Weise entziffert und in ihr ein Resultat von Wahrheit und Güte suchet.

Beim Geschmack z.E. fühlet die Seele ein Mannigfaltes, das sie in eins verwandelt. Alles zu Einförmige im Geschmacke macht Ekel, Überdruß und, wenn's also einartig zu lange fortgesetzt wird, Erbrechen. Sind zu verschiedne Teile zusammengesetzt, die sich nicht auflösen lassen, so wird der Geschmack widrig, die Seele erliegt darunter, und im unausgeartet natürlichen Zustande war ein so widriger Geschmack auch Zeichen der Ungesundheit der Speise. D.i. die Seele erkannte dunkel aber lebhaft, daß der Leib die mit ihm oder unter sich zu verschiedenartige Teile nicht einigen, nicht mit ihm in dem Zustande unmühsam und zum Wohl des Ganzen assimilieren konnte; sie stieß sie also zurück und sehnte sich nach andern. Kann sie's aber, so wird das dolce piccante, das sanfte Vielförmige, die angenehme Reizbarkeit daraus, wo sich die Seele durch den Sinn sanft beschäftigt fühlt, wo sie leicht auflöset und ihrer Natur assimilieret, kurz, wo sie eine gewisse Formel der Wahrheit und Güte auf eine sanft gemischte Art entziffert und sich also würklich in einer der Erkenntnis analogen Handlung fühlet.

Der Geruch würkt schon tiefer und in einer zur Seele nähern Region. Orient, das Land der Düfte und Gerüche, fand die Ideen derselben schon so fein, daß sie sie zur Speise der Seele, der Genien und zur Nahrung der Götter machten, wenn sie ja Speise genössen. Das Pasten am Geruche war ihnen schwerer Hunger, und andre Sprachen sagten in einer andern Beziehung einen Menschen von verstopfter Nase für einen dummen Menschen [403] auch nicht umsonst. Der Geruch liefert schon seine Formeln der Erkenntnis in der Mischung von Düften; er ist gleichsam der Geist des Geschmacks, der ohne ihn tot ist, und eine nahe Pforte zu den feinern Sinnen. Die Seele schwimmt mit ihm in einem vielartigen Äther, den sie, wie Dissonanzen, leicht auflöset und in eins, die Natur ihres feinen Organs, verwandelt. Daher ist der Geruch so stärkend und ruft die Lebensgeister wieder: die Seele fühlt sich in ihm gleichsam in der Mittelregion zwischen Geist und Körper mit einer angenehmen Formel des Erkennens beschäftigt.

Gehör und Gesicht endlich sind die Spiegel- und Tonkammer der Seele. In der Tonkunst löst die Seele immer auf, nur dunkel, weil sie sonst das Mannigfaltige verlöre. Der Rameausche Erfahrungssatz zeigt, daß jeder Ton die aufsteigenden harmonischen Töne mit enthalte, und der Erfahrungssatz des großen Tartini zeiget, daß auch der Gang der Melodie als ein Resultat zweier gegebnen Töne schon mechanisch vorausgefühlt werden könne; aus welchen beiden Grundsätzen zusammengenommen sich der ganze Mechanismus der Tonkunst erkläret. In Harmonie und Melodie übet sich die Seele also an Formeln des Erkennens, der Reduktion vieles zu einem auf die angenehmste Weise. Nicht das aber bloß, sondern in der ganzen Natur liegen Materialien zum Wohllaute um uns, woran wir uns unaufhörlich üben. Um uns tönt ein großes, ewiges Konzert von Bewegung und Ruhe. Der Sturm oder das Säuseln der Lüfte, die Musik, die in jedem körperlichen Tone von seiner Anschwingung bis zu seinem Ersterben durch alle Grade der Bebung liegen muß, gibt unsrer Seele ewig ein fortstrebendes Geschäfte der Auflösung, Voraussicht, des Genusses ihr[er] selbst in jedem Tone. Die menschliche Stimme endlich vollendet alles. In jeder Periode tritt schon den Tönen nach uns eine Formel des Ausdrucks vor, eine Mannigfaltigkeit zur sanften Einheit, eine Modulation von Empfindungen, die sehr tief, uns unmittelbar gleichartig würken. Bei dem Gesicht wird alles am klärsten. Alle Farben und Flächen um unser Auge sind ihm harmonisch; das man bald fühlen kann, wenn man sich einen gelben Himmel, eine feuerrote Wiese, schwarzes oder schneeweißes Laub der Bäume zusammengedenket. Die Natur nahm die mittlern, sanftesten Farben und verteilte sie also, daß die Seele am längsten auf ihnen ruhen und sie am leichtesten auflösen konnte. Den Wechsel zwischen Tag und Nacht setzte sie [404] durch sanfte Übergänge, Morgen-und Abendröte zusammen, und wo sie konnte, lieferte sie Symmetrie, leicht zu fassende Wohlgestalt und Schönheit. Die Bäume wachsen in sanfter Verjüngung und sind das natürliche Muster der schönsten, festesten Formel der Baukunst. Ohne daß sie's weiß, umfaßt die Seele den Stamm, gleitet sanft umher und mit ihm in die Höhe, fühlet also dunkel das Streben aller Radien in demselben zum Mittelpunkte, d.i. Vollkommenheit des Zirkels, und das sanfte Fortstreben hinauf in gerader Linie auf seiner Wurzel, in seinem Kreise, bis zum Überfluß seiner Äste zum Nutzen und zur Notdurft. Nichts hat die Natur eckig gemacht, nichts, daß sich das Auge dran stoße. Wo ein Kleineres dem Druck des Größern unterliegt, ist's mit der größten Sparsamkeit, der mindesten Ausnahme. Die Pflanze richtet sich wieder in die Höhe, wenn sie dem pressenden Steine entkam; die umgekehrte Wurzel wendet sich selbst in der Erde, und der vom Winde gebogne Baum verjüngt sich noch in seiner gebeugten Stellung. Warum hat die Natur alle Gestalten der Tiere mit Symmetrie bekleidet? Inwendig in ihrem Baue sind sie's nicht, da arbeitete sie für die Notdurft und nicht für die feinere Notdurft einer durchs Auge gestaltsammlenden Seele. Im Meer und im Staube sind Geschöpfe, wo sie auch im Äußern noch der Bedürfnis unterlag; die Glieder der Berechnung ihrer Gestalten treten noch nicht helle hervor oder scheinen ungleichartig nebeneinander. Je näher sie dem Menschen kam, desto mehr bildete sie den Staub harmonisch. Vögel und Fische symmetrisch geschuppt und befriedet: die Tiere symmetrisch gefärbt und gebildet: endlich paßte sie diese Weisen wieder zusammen, und die Menschengestalt ward! Welche Formel von Wahrheit und Güte in jedem Gliede, in jedem Zuge! Ein Ausdruck unnennbarer Tiefe! eine Formel vom Weltall im leichtaufzulösendsten, umfaßbarsten, simpelsten Bilde. Dieser Formel, sehn wir offenbar, blieb die immer verändernde Mutter auch in den Geschlechtern hinter dem Menschen so lange treu, als sie's bleiben konnte, und lauter solche seelenvolle Bilder legte sie dem Gesichte des Menschen umher, daraus Seele, d.i. Wahrheit und Güte, unter jeder harmonischen Gestalt zu suchen und zu finden. Sie übt und sammlet das Erkennen unter lauter Empfindung: diese ist nichts als die leichteste, meistbeschäftigende, angenehmste Aufgabe zu jener.

Welche unabsehliche Weisheit, Güte und Wahrheit des Urhebers der Natur herrscht in dieser Einrichtung. Jeder Teil des [405] Weltall, der sein Bild ist, und also auch in so hohem Grad jede menschliche Seele ist mit jedem Sinne, unter jeder Gestalt, nichts als der Wahrheit und Güte fähig. Kein Sinn, als Sinn kann sie trügen: alle Vorstellungen, selbst die dunkelsten, sind prägnant von Wahrheit im Schoße der Empfindung: Irrtum ist nichts als eine Vermischung und Zusammenwerfung zu vieler Teile, deren Grund wir noch nicht sehen, also nichts als ein Übel unterwegens auf dem Gange zur Wahrheit. Und da es nun der natürliche Fortschritt ist vom Dunklen zum Hellern, vom Unvollständigen zur Vollständigkeit, welch ein schöner Weg ist jeder Seele bestimmt im Universum. Sie läutert und scheidet immer: jede sinnliche Empfindung, die Hülle der härtsten Notdurft übt sie und hält sie auf dem Wege: sie soll unter allen Gestalten nichts als Wahrheit und Güte ernten, die eins sind. Sie übt sich immer im Erkennen, indem sie empfindet.

Nun gab uns die Gottheit so viel Sinne, als sie uns auf dieser Stufe des Daseins, ohn uns zu überladen, geben konnte, oder vielmehr wir sind auf jede Weise, da wir's hier sein konnten, unendlicher, ganz Sinn. Wir sind z.B. nie ohne Gehör und hören gewissermaße den Schall der Sphären, den Wohlklang des Universum, in dunkler Tiefe; nur weil er uns übermannt, weil unser Ohr der Menge und Stärke unterliegt, hören wir gar nicht, wie ein Kind den Schall des Geschützes nicht vernimmt, wenn Erwachsne dafür erbeben. Auf einem Lichtstrahl gleiten wir bis in die fernsten Tiefen des Universum, bis unser Auge dunkel wird und sich der Himmel für uns bläuet. So mit allen Sinnen, und auch das ist wie weise Güte des Urhebers. So wird jedem Sinn seine Sphäre; worunter er erliegen würde, empfindet er gar nicht: da wird scheinbare Ruhe! da wölbt sich der Himmel! – Da ein Sinn also nicht das Universum durchdringen und ertragen konnte, so gab uns die Gottheit viele schwächere Sinne, um uns in Abwechslung an verschiednen Formeln der Wahrheit und Güte zu üben, von denen immer doch ein Resultat auf das Innere der Seelen zurückfallen sollte. Ein Blick in die Natur des Frühlings z.E., welche reiche Ernte für die Seele! Duft, Lied, schöne Farbe, Wohlgestalt – alles fließt zusammen und füllet die Empfindung – ein angenehmes Chaos von Schöpfersideen voll Weisheit und Güte, das auch das Bild Gottes die Schöpferin in uns, so viel und weit sie kann, nachempfindet und sich, soviel sie kann, zu einer Welt voll Wohlordnung für sich bildet. Jede Empfindung endlich liefert die Kenntnis auf [406] die fruchtbarste und leichteste Weise: das ist das Kriterium der Empfindung. Viel ist in ihr zusammengehüllt, das auf einmal in die Seele kommt, dadurch sie zur Entwicklung gelockt wird. Sie sieht sich auf einmal im Besitz eines solchen Schatzes und strebt den Schatz zu genießen; sie strebt aber auf eine so sanfte Weise, daß sie, wie die Aufgabe bemerket, nur mit sich selbst beschäftigt, nur genießen oder genießen zu wollen scheint, und eben damit rückt sie erkennend weiter. Sie unterhält sich selbst so unmühsam, als ob sie ganz von der Empfindung unterhalten würde und nicht wirkte, sondern genösse. In solcher Blüte von Notdurft und Liebe keimt das Erkennen, die Frucht! – Weise Güte des Vaters unsrer Empfindungen und Kenntnis!

3. Es ist leicht zu erachten, daß das sogenannte höhere Denken der Seele ganz auf dem Wege fortgehen müsse. Solang noch alles im Klumpen daliegt, heißt'sGedächtnis: da dies aber nur durch die Einbildung möglich ist, so sieht man, es ist nur das zurückgeworfne Bild, die vorige Formel, abgekürzt in der Seele, die andern Kräften zur Grundlage dienet. In allen Werken der Einbildung sehn wir nur zweite Abdrücke der Empfindung, und je natürlicher das Werk ist, desto mehr ist's für den Seelenforscher ein Spiegel der sinnlichen Kräfte des Urhebers. Welche Sinnen bei ihm geherrschet? welche stumpf oder verstümmelt waren? nach welchen Gesetzen er das Chaos so verschiedner Eindrücke ordnete? wie klar oder dunkel er in jedem die Wahrheit und Güte selbst oder nur ihr Kleid im Nebel fühlte? Das alles zeigt sich darin wie im Spiegel. Die Einbildung ordnet in sinnliche Bilder; da aber in einer menschlichen Seele sie nie ohne Verstand sein kann, in wie unmerklichem Grad er auch würke: so äußert sich immer wieder die vorige Kraft, die aus dem Chaos der Sinne, des Gedächtnisses, der Einbildung und Begierden Teile wählt und zu ihremeinen Zwecke ordnet. Hier wird also Naturlauf im kleinen; ein Gebrauch vieler Mittel zu einem – darauf beruht Kunst und Handlungsweise und alle Sittenlehre zur Glückseligkeit unsres Ganzen. Auch hier also bleibt die vorige Analogie sichtbar: daß unsre Verstandskräfte nämlich Gesetze der Natur, Regeln ihres Laufs aufsuchen und nachahmen, daß sie sich an solchen unter der Hülle jeder Empfindung üben und ebenso weiterwürken. Die Empfindung ist also wieder Blume des Erkenntnisses und der Handlung.

Lasset uns nämlich alle Affekten betrachten: was sind sie anders als sehr starke vielfassende und lebhafte Begriffe, Bilder, [407] Gestalten und Formeln dessen, was wir für gut oder böse halten? Die Natur hat sie als den leichtsten Weg gewählt, auf einmal so starke Eindrücke, so vielfache Kenntnisse und Eigenschaften in die Seele zu bringen, als auf dem Wege des deutlichen Erkennens nicht möglich wäre. Liebe und Haß, Furcht und Hoffnung, Glaube und Verzweiflung, Mitleiden und Barmherzigkeit, Fröhlichkeit und Reue, Bewundrung und Verachtung, Scham und Ehrbegierde usw., wie heftig würken sie ins Gemüt! malen den Gegenstand der Leidenschaft mit Feuerfarben tief in die Seele! erregen alle Winde und Neigungen derselben zum Wollen, zur Tat! Und da doch unter jeder derselben ein angebliches Gute enthalten ist, wonach die Seele fleucht: so sehn wir in ihnen dasselbe Gesetz würkend, was wir in jeder Handlung der Seele bemerkten, Erkenntnis nämlich im Schoß der Empfindung. Und hier mußte also, damit die Erkenntnis würksam werde, die Empfindung, das Symbol derselben, mit Feuercharakteren malen. Das Schiff des Lebens hatte, zum mindsten bei außerordentlichen Seelen, die Winde nötig.

Auch zeigt sich hier nun bei dieser Einhüllung ebendie vorige Regel der Richtigkeit, Wahrheit und Güte des Schöpfers. Was sich uns nicht durch die Empfindung, im höchsten und reinsten Umfange betrachtet, als gut empfiehlt, stößt die Seele von sich: es liegt schon in der Natur des fühlenden Wesens, daß es sich davon befreie. Scheint etwas gut, was es nicht ist: so ist der Irrtum nur durch den Nebel, durch die Zusammenfassung des übertäubenden Zuvielen, dessen Verknüpfung unter sich oder Beziehung auf uns wir nicht einsahen, entstanden. Die Eigenschaften rücken näher, lösen sich auf, und der Irrtum muß einen Ort haben, wo er verschwindet. Das Böse ist nur durch Irrtum und Schwäche entstanden: es muß nach der Analogie des Schöpfers einen Ort geben, wo, wenn jener weichet, diese Schwäche, die bloß aus dem Unterliegen unter zu vielem entstanden, sich in Kraft verwandele. Keine Empfindung kann und soll bis zu Ende trügen: die dunkelste und überwältigendste ist nur in einem langsamen Gange und größerm Kampfe der Weg zur hellen und um so reichern, richtigern Erkenntnis. Die menschliche Seele und das Universum für sie ist voll Anlagen zur Weisheit, Güte und Tugend in jeder Leidenschaft, in jeder Erscheinung.

Darauf beruht nun auch die ganze Sittenlehre. Die Seele nämlich zu leiten, daß sie sich nicht täusche, daß sie in jedem [408] Spiegel des Guten und Wahren auch nichts als diese reine Substanz erblicke, sich auch selbst in verworrenen Gestalten an sie gewöhne, damit sie nie eine Wolke für die Göttin umarme, sondern stets den graden Weg zur Freude und Glückseligkeit treffe. Sie wappnet uns also mit Vernunft und anerkannter Lehre der Weisheit in das Feld des Streits und übt uns, von dieser Lehre nicht zu weichen, bis wir überwunden. Wo die Seele schon eine üble Gewohnheit angenommen, falsch zu sehen und zu rechnen, d.i. falsche Größen zu substituieren, die nicht dastehn, und unter einem angewohnten schiefen Winkel die Gegenstände zu nehmen, damit sich ihre Gestalt verwirret: so setzt sie dieser übeln Gewohnheit Bollwerke, Affekt dem Affekt entgegen und bietet alles auf, der Seele freies Auge und freie Hand zu verschaffen, das Wahre und Gute in allen Phänomenen zu sehen, in allen Empfindungen zu umarmen und anzustreben mit allen Begierden. Da sind alsdenn Verstand und Wille eins! Handlung ist die lichte, freie Idee des Wahren und Empfindung ihr reines Bild, ihr starker allvermögender Ausdruck. Das ist das hohe Ideal der ursprünglichen Bestimmung beider Fähigkeiten, dem wir uns aber nur immer nähern.

Lasset uns nun nochmals die Reihe von Erfahrungen sammlen und ordnen, die uns beide Kräfte in ihrem Ursprunge zeigen; das Grundgesetz, darauf sie sich zurückführen, erhellet denn von selbst.

1. Die menschliche Seele als ein eingeschränktes Wesen hat auch keine unendliche Kraft, zu erkennen, und umfasset nicht das Weltall in seinem ersten Grunde. Der Schöpfer hat sie also an eine organische Materie als einen künstlichen Auszug des Weltall geknüpft, daß sie mittelst seiner erkenne und sich das Weltall nach Analogie desselben bilde. Das ist der Leib, ein Analogon ihrer Kräfte und ein Auszug, Symbol, ein vorstellender Spiegel des Universum für sie (à la portée d'elle).

2. Die Begriffe mittelst dieses Körpers sind Empfindungen, d.i. dunkel zusammengehüllte Vorstellungen des Weltalls nach einer leicht faßlichen, angenehmen Formel, d.i. für einen Sinn eingerichtet. Die Seele, die sich nicht mit dem Körper aus deutlichen Begriffen gesellet, sondern sich in solchen Zusammenstrom des Universum nur wie findet, kann nichts tun, als daß sie würke, d.i. die Empfindungen auflöse, wie sie ihr zuströmen. Ihre Natur ist eins, und sie bringt ein deutliches oder klares Eins in alle das Vielfache im Spiegel ihrer Organe. Ihre Natur [409] ist Wahrheit und Güte; sie bringt also dies Wesen in jedes Phänomenon, das ihr die Natur aufgibt. Sie erkennet, will, handelt.

3. Die allweise Natur, die sich überall gleich ist, hat's also so gefüget, daß ihr nichts zuströmen kann, was nicht Symbol der Wahrheit, Güte und Vollkommenheit sei, wenn sie's auflöset, d.i. klär und deutlich siehet. Um sie nun an diesem Geschäft unablässig zu üben, gab sie ihr die vielartigsten Probleme auf, d.i. sie gab ihr verschiedne Sinne, und in jedem denselben Empfang auf eine andre Weise. Sie schränkte aber diese Sinne für sie (à la portée d'elle) ein, damit sie keinem derselben unterläge, und gab ihr das Principium der Tätigkeit zur Natur, sich anderswohin zu wenden, wenn sie nicht mehr erkennete. Dies ist das Phänomenon der menschlichen Freiheit, das am tiefsten in der willkürlichen Aufmerksamkeit liegt, eine Seite des Weltalls zu verfolgen oder davon zu abstrahieren, wenn sie uns nichts mehr brächte oder wir sie nicht zu umfassen vermochten. Und da stiftete der Schöpfer eine so weise und gütige Zusammen-, Unter-und Nacheinanderordnung dieser Symbole des Weltalls, daß die Seele, das Steuerruder in der Hand, immer fortstrebe. Der größte Teil des Unendlichen muß noch dunkel bleiben, weil wir keinen Sinn dafür haben: eben deswegen ignorieren wir ihn auch und freuen uns schon jetzt, in jedem Sinn eine Formel zur Auflösung des Universum, ein Pfand der Gottheit und Symbol des Unendlichen an Wahrheit und Güte zu besitzen.

4. Schließen wir nun nach dieser Analogie weiter, so muß sich alles Gegebne in aller gegebnen Zeit zur Wahrheit und Güte auflösen und kein Punkt des Ganges müßig bleiben. Jeder Irrtum muß eine Wolke sein, die sich einmal zertrennet, und jede auch fehlgeschlagne Übung in Entwirrung der Symbole des Weltalls muß der Seele eine neue Formel geben, die sie witzige und beßre. Mit der Fortdauer der erkennenden Seele ist also auch immer Fortstreben verbunden. Sie umfaßt mit jedem Schritte ein größer Teil des Weltalls und wird immer mehr geübt, das Bild Gottes, Wahrheit und Güte, in allem zu entwickeln, immer mehr in wenigerer Zeit auf leichtere Weise in ihr Wesen zu assimilieren, das eben das Eins der Wahrheit und Güte ist, das sie in allem findet.

5. Das ist also das Hauptgesetz, wornach die Natur beide Kräfte geordnet: nämlich, daß Empfindung würke, wo noch [410] kein Erkennen sein kann: da diese vieles auf einmal dunkel in die Seele bringe, damit diese es sich bis zu einem Grad aufkläre und ein Resultat ihres Wesens darin Ende: daß dies auf die leichteste, angenehmste Art geschehe, damit das Meistmögliche in der kürzesten Zeit erkannt und die Seele sanft fortgeführet im Würken außer sich werde, als ob sie allein mit sich würkte und sich beschäftigte. Großes Meisterstück der mütterlichen Vorsehung, und ihm bleibt die Seele bei jedem Schritte des Daseins, selbst in Nebel und Irrtum, treu. – Es entwickelt sich aus den gegebnen Grundsätzen eine Philosophie der Seele, des Weltalls, der Gottheit, über die ich mir nichts Erhebenderes denke. In jedem kleinsten Teile des Unendlichen herrscht die Wahrheit, Weisheit, Güte des Ganzen: in jedem Erkenntnis wie in jeder Empfindung spiegelt sich das Bild Gottes, dort mit Strahlen oder Schimmer des reinen Lichtes, hier mit Farben, in die sich der Sonnenstrahl teilte. Erkennen ist Glanz der Sonne genießen, die sich in jedem Strahle abspiegelt: Empfindung ist ein Farbenspiel des Regenbogens, schön, wahr, aber nur als Abglanz der Sonne. Gehet diese klar auf am Firmament, so verschwindet der Regenbogen mit all seinen Farben.

2. Prüfung der wechselseitigen Abhängigkeit

II. Prüfung der wechselseitigen Abhängigkeit
der Fähigkeiten des Erkennens und Empfindens
nebst der Art, wie eine in die andre Einfluß hat

Sind unsre Grundsätze bisher richtig gewesen, so erhellet, daß kein endliches Geschöpf bis zum obersten Engel hinauf nicht ohne Empfindungen sein kann, d.i. daß sein Erkennen noch immer vom Empfinden abhange. Solange er das Unendliche nicht umfasset (und wenn kann er das?), so sieht er nur einen Teil desselben, das übrige liegt dunkel auf ihm, er kann's nur verworren fassen. Er faßt es aber doch, denn in ihm liegt ein lebendiger Spiegel des Universum, d.i. die Kraft seines Wesens ist der Kraft der Gottheit ähnlich, was sie sich vorstellt, kann sie nur unter dem Bilde der Wahrheit und Güte fassen. Also strebt sie immer, sich nach ihrer Analogie ein Weltall zu bilden, und kann, sofern sie jede Formel treu empfängt und richtig berechnet, [411] nicht irren, und wo sie irrt, rückt sie, wenn der Irrtum überwunden ist, weiter. Der oberste endliche Geist (wenn's im Unendlichen ein endliches Oberstes gibt) hat mit uns der Beschaffenheit nach ein Los, sosehr er uns an Größe und Umfang dieses Loses übertreffe. Es ist der nächtlichste Irrtum, aus Scheu dieses Lebens ihm entfliehen zu wollen: hinter demselben findet man immer dies Leben wieder, nur erschwert und verärgert, wenn man der Fortleitung der Natur nicht folgte.

Auf unsrer Stufe des Daseins, sehn wir, hängt unser Erkennen noch von sehr dunkelm Empfinden ab; uns dämmert nur der erste Strahl der allgemeinen, höchsten Vernunft vor; wir sind nur einen Schritt über das ganz sinnliche Tier erhoben. Dies erliegt noch unter lauter Empfindungen, die es auf klare, helle, lebhafte, prägnante Weise, aber noch nicht deutlich wie wir siehet: der Sonnenstrahl ist ihm noch lauter Farbe und Schimmer. Auch selbst das Tier aber kann auf seiner dunkeln Stufe nicht anders als Gottheit empfinden: jeder Sinn liefert ihm, ebensowohl wie uns, ein Bild, eine reiche Formel von Wahrheit und Güte, die es ebenso wie wir, nur dunkel, berechnet und in ihm das Resultat, seinem Wesen gemäß, findet. So geht's tief hinab bis zum Zoophyt und zur Pflanze: ihre Organisation ist schon ein künstlich gebildeter Zustand, das Universum unter einem gewissen Sinne zu einem lebendigen Eins zu sammlen, andre Dinge in sich zu assimilieren, das Fremde fortzustoßen und damit fortdaurend und fortstrebend sein Wesen zu erhalten. So muß es mit den Gesetzen der Bewegung in der toten Materie sein: denn Bewegung ist das dunkelste Analogon des Lebens. Und eben daher sind in der Natur keine Abteilungen, Klassen, Arten. Alles fließt wie Farbe des Sonnenstrahls ineinander, fängt vom Mindesten an und bereitet sich zum Höhern vor. Vom Mindsten aber bis zum Höchsten herrscht nur ein Gesetz, das All zu repräsentieren, von Dunkelheit zur Klarheit, vom Empfinden zum Erkennen zu steigen, die beide auch eins sind, und wo sich in allem eine Gottheit spiegelt. Auf solcher ersten Stufe des Erkennens stehn wir.

Aus dem gegebnen Gesichtspunkte läßt sich auch über die Frage von angebornen Ideen mehr bestimmen, über die man nur zu sehr gestritten hat, weil – man sich nicht verstand; so daß ich auch zweifle, ob selbst Leibniz in seinem vortrefflichen Werke überLockes Versuch sich den Schülern dieses Systems befriedigend gnug ausgedrückt habe. Da sie nämlich [412] alle Ideen für ausgedruckte Gedanken (pensées), einzelne Bilder und Symbole (faits, modi etc.) nehmen und an den sogenannten qualitatibus secundis der Begriffe hangen: so wird ihnen Leibniz, Descartes, Spinoza, Shaftesbury, Plato und wer auf die Seite neige, immer Ungereimtheit sagen, sowenig diese Weltweise darin Ungereimtheit dachten, und kaum glaube ich, daß auch das Gleichnis von der Bildsäule, die im Marmor schon mit vorgerissenen Adern liegt, die Sache gnug rechtfertige. Man trete in die gegebne Vorstellungsart, und das Ja und Nein bestimmt sich von selbst. Ist in unsrer Seele die Kraft, zu erkennen nach dem Bilde der Gottheit, d.i. Wahrheit und Güte zu finden und in ihr Wesen zu wandeln: so ist sie sowenig eine glatte Tafel, als unser Leib es vom ersten Augenblick seiner Bildung ist, und ich glaube, man könne sich kein unförmlicher Bild denken. Das Gesetz Gottes ist schon mit Flammenschrift in ihr Herz geschrieben: in ihr glühen Kräfte, lebendige Funken, alles in ihr Wesen zu verwandeln, was sie kann, das Bild der Gottheit in allem anzuerkennen und als ein Teil ihres Selbst zu genießen. Und das sind nun die angebornen, allgemeinen Ideen, das Recht und Unrecht, die Wahrheit und Güte, die sie in allem zu finden strebt: sie sind ihr Bild und Wesen selbst. Einzelne Empfindungen aber sind ihr nicht angeboren, und noch weniger kann und soll sie historische Fakta, Symbole u.dgl. in sich studieren. Selbst das Bild ihres Leibes ist ihr ja nicht helle einwohnend: sie weiß nicht, wie ihr Ich zu dem sie immer begleitenden Symbol gekommen. Nun aber kann sie doch nichts tun, als ihr Ich, was ihr angeboren ist, mit diesem und mit allen ihr vorkommenden Symbolen zu verbinden: mir das, was ihrer Natur ist, mit sich zu assimilieren; an allen Erscheinungen und Begebenheiten übt sie nur, als an Symbolen, das, was ihr angeboren ist. Da ist's nun die höchste Weisheit des Urhebers, daß in allem einerlei Ideen hervorleuchten oder hervorschimmern – die tiefste Geometrie, das Bild der Gottheit, das sie eben deswegen überall anerkennet, weil's ihr angeboren ist. Wäre dies Erkennen nicht der tiefste Grund der Seele, so wäre ihr ja alles gleichviel: so wäre sie für jede äußere Empfindung taub. Ein Atom, eine glatte Tafel müßte auch immer eine glatte Tafel, d.i. ein völliges Unding, bleiben. Ich weiß kaum, ob es eine superfiziellere Denkart geben könne als diese, die gar nichts sagt. Sobald man aber über die leeren Töne hinaus ist, müssen beide Parteien [413] gerade eins denken: denn niemand kann unser Erkennen durch Empfindung und unser Empfinden, damit Erkenntnis werde, leugnen.

Auch über den Einfluß des Leibes und der Seele gibt der gegebne Standpunkt kläreres Licht: denn er ist doch im Grunde nichts als der wechselseitige Einfluß zwischen Erkennen und Empfinden. Ich kann's mir nämlich nicht denken, wie das sogenannte System des Einflusses, wenn man's etwas mit Sinn vorstellet, ungereimt sein sollte, da es doch offenbar das System der Natur, d.i. simple Erfahrung ist, und die andern zwo im Grunde nichts sagen. Behauptete jemand, die Seele als ein immaterieller Geist würke auf Körper als ein Körper, durch Stoß, Schlag u.f., so hat er ungereimt geredet. Er hat auf einmal die Seele materiell und immateriell angenommen, und darüber ist kein Wort zu verlieren. Man muß also, um wenigstens konsequent zu irren, annehmen: entweder daß die Seele selbst Körper sei, wenn sie auf Körper stoße, daß sie der Schöpfer in die Zirbeldrüse aufgehangen, daß sie sich in derselben umherdrehe und damit Gedanken wie der Seidenwurm Fäden aus sich ziehe oder wie eine Spinne alle aufgezogne Fäden des Nervensystems durchtaste und was dergleichen schon der Erfahrung widersprechende Ungereimtheiten mehr sind. Und mit ihnen allen wird der Widerspruch nicht gehoben, daß das, was den Augenblick vorher kein Gedanke, Körper war, jetzt Gedanke, erkennende Seele werde. Oder man muß, wie's doch offenbar ist, die erkennende Kraft, sofern sie erkennt, als unkörperlich annehmen, und alsdenn kann sie freilich weder stoßen noch hauen noch schlagen; bedenkt man aber nicht, daß sie, um im Körper tätlich zu empfinden, das alles weder tun kann noch soll, oder sie könnte nicht empfinden?

Unser Körper ist als Ganzes und als Werkzeug der Seele nur ein Aggregat vieler Teile, und das Aggregat, weiß jedermann, ist nur Phänomenon, Begriff der Ordnung. Aufs Aggregat kann die Seele nicht würken, ohne daß sie aufs Einzelne würke, und das Einzelne sind auch im Körper nichts als Kräfte: Kräfte der Empfindung, auf deren innern Zustand sie gewiß als denkendes Wesen würken kann, da Empfinden und Denken im Grunde einerlei ist. Ich sehe also, selbst nach dem System des Erfinders der prästabilierten Harmonie, gegen diesen Einfluß und Einwürkung nicht den mindsten Zweifel. Niemand hat's besser, als er, gewußt und angenommen, daß [414] der Körper als solcher nur ein Phänomenon von Substanzen sei, die in der Vermischung und Verwirrung eine Substanz schienen, wie's die Milchstraße, Nebelsterne, Regenbogen und unzählige Phänomene der Natur. Selbst die scheinbare Bewegung erklärte er für ein Phänomenon innerer Kräfte; und auf diese sollte die Seele nicht würken können, sie, die selbst eine so innige Kraft ist? Ihr sollte nicht ein Aggregat von dunkel empfindenden Kräften untergeordnet sein können, die alle gleichartig auf sich würken und über die sie herrschet, deren dunkle Probleme sie mit Intuition anschauet und im Resultat davon ihr eigen Wesen immer heller erblicket? Ich sehe nicht den mindesten Zweifel, und alles spricht dafür. Das System der Harmonie ist wahr, aber unvollständig: es erklärt nicht, was es erklären soll. Nicht der Philosoph, der sich seines Systems bewußt war, nahm dazu die Zuflucht, sondern der witzige Kopf, der bei dem Phänomenon stehnblieb und im Drange der Not das Gleichnis von den zwo Uhren zu Hülfe rief, das hier gar nicht passet. Weder Seele noch Körper ist eine solche für sich gehende, mechanische Uhr. Die Seele hat bei ihrer göttlichen Natur, da sie eingeschränkt ist, Sinne nötig, die ihr das Weltall ihrer göttlichen Natur gemäß vorspiegeln. Der Körper ist in Absicht der Seele kein Körper: ist ihr Reich: ein Aggregat vieler dunkel vorstellenden Kräfte, aus denen sie ihr Bild, den deutlichen Gedanken, sammlet. Sie sind also würklich voneinander abhängig und füreinander zusammengeordnet. Den Grund des Aggregats vom Körper finde ich nicht anders als in der Seele: und im Körper den Grund, warum die Seele aus solchen und diesen Formeln sich das reine Weltall, das in ihr liegt, wecket. Kurz, der Körper ist Symbol, Phänomenon der Seele in Beziehung aufs Universum.

Die ganze Seelenlehre, glaub ich, bekäme nicht bloß mehr Leichtigkeit, Kürze und Anschaulichkeit, sondern auch mehr Aussichten auf Seiten des Universum, wenn sie auf diese Vorstellungsart bauete. Wir haben doch schon überhaupt für alle Verrichtungen der Seele kein eigentliches Wort, und dieser Ausdruck dünkt mich eben der Standpunkt zu sein, auf den die Natur unser zusammengesetztes Dasein hinstellte. Wir werden sie nie ganz übersehen, wenn wir uns immer nur bei einer Seite aufhalten, bei dem Idealismus ihrer Kräfte oder bei den qualitatibus secundis körperlicher Ideen – zwei Ufer, [415] woran auch zwo berühmte Philosophien lange laviert haben. Auf der Höhe des Meers ist freie, große Fahrt: und da versuche ich mich weiter.

Wenn's nicht aus dem absoluten Dekret Gottes, sondern aus Natur der Seele als eines eingeschränkten Geistes ist, daß sie nicht ohne Empfindungen, also ohne Körperorgane, existiere: und wenn sich nun all ihre Anerkennungen ihrer Natur, d.i. allgemeiner Ideen, aus Datis und nach Maßgabe dieser Organe sammeln: so, sieht man, ist die Physiognomik im weitesten Verstande, d.i. die psychologische Physiologie, der wichtigste Teil der Weltweisheit. Sie allein kann uns ins Heiligtum der Seele fahren: denn der Körper ist nur lebendwürkendes Symbol, Formel, Phänomenon der Seele. Ohne alle Mystik und im schärfsten philosophischen Verstande ist der innere Mensch dem äußern durch und durch einwohnend: dieser nur die Hülle von jenem, und die Haller, Mead, Zimmermann sind mehr, als alle Grübler a priori, seine Vertrauten: denn a priori wissen wir von der Seele nichts.

Durchschauten wir nun den ganzen menschlichen Körper und sähen in jedem Teil und Gliede desselben den Beitrag der lebendigen Kräfte desselben zum Gefühl, zum Erkennen und Empfinden: wir oft würden wir unter dem Diaphragma Ursachen des und jenen moralisch-psychologischen Zustandes finden, die wir jetzt im Kopf suchen! Hier hat die Seele stumpfe, schwache, zerrüttete Werkzeuge solcher, dort andrer Art. Hier ist Nervengebäude schwach, dort die Muskeln kraftlos: hier wird das Othemholen schwer: dort ist der Lauf des Blutes stockend. Hier war der Geruch vom ersten Othemzuge dumpfig: dort das Gesicht schwach und dämmernd, hier schwieg das Gehör usw. Die Seele schreibt schwach, oder falsch, wenn der Körper ihr schwach oder falsch diktieret.

Man ist gemeindlich geneigt, das nur immer bei dem einen Sinn oder Ort des Mangels so bleiben zu lassen und zu glauben, das übrige sei unvollständig oder gar um so vollständiger; man vergißt aber eins, daß die Seele nach dieser Analogie auch in andern Fällen, wo sie richtiger handeln könnte, doch forthandelt: denn alle Empfindungen sind Formeln ihrer Übung im Erkennen. Wer also im Einmaleins eine falsche Kombination der Zahlen sich angewöhnte, der bringt diese in allen Exempeln an und verwirret sie alle. Jeder Irrtum ist [416] nicht bloß an dem Orte der Wahrheit hinderlich, sondern überall, wo der Schloß der Schatte seiner Analogie wird. Hat jemand sich einmal den Kopf mit einer Hypothese von Lieblingswahn verrückt: so wird ihn weder Logik noch Mathematik flugs davon befreien. Er bringt in diese seinen falschen Kalkül mit hinein und verwirrt sie, wo er sie nur verwirren kann – in der Anwendung. Barocci, sagt Winckelmann, malte selbst der Anlage nach grünes Fleisch, weil sein Auge vermutlich grünes Fleisch sahe. Guido und Guercino zeichneten und färbten nach dem Temperamente, was auf ihrem Gesichte herrschet. Durch Künste, Handlungen und Denkart hält diese Ähnlichkeit stich – jeder erkennt nur nach seiner Empfindung. Er stellt sich das Weltall nur nach den Formeln vor, die ihm sein Körper zubrachte. Er empfindet nur im beständigen Horizont seines Körpers. Der künstliche, veränderliche Horizont wirkt nach ebender Ähnlichkeit weiter. Welchen Bildern ein Mensch begegnet, welche Erziehungsweise er genossen, wie sich die Bilder bei ihm gemischet, wie lang er jedem Bilde, jeder Leidenschaft nachgehangen – alles muß Spuren lassen, wie das Wasser in einer steinbildenden Höhle. Es sollte das heilige pythagoreische Tagwerk, zumal an unsern Jahrstagen, sein, zu untersuchen: wie auch nun die Seele Gestalt genommen? und auf welche Weise sie gleichsam aus ihrer Kindheit erwachsen? Was jede Hauptsituation des Lebens auf sie gewürket? An welchen Nebeln sich ihre Felder und Vorurteile zusammengezogen und festgesetzet haben? usw. Wie in einen Abgrund sieht man bei Untersuchung dieser Tiefe! Alles hängt aneinander, erinnert aneinander, entwickelt sich auseinander, wie ein großer Knäul: Natur und Kunst spielt durcheinander. Das war die Ahndung, auf die jener Physiognom bei Sokrates traf und nicht traf; es gibt aber auch hier wenige Sokrate. Die meisten Menschen gehn im Traum des Lebens so mechanisch fort, als das Salz Kristalle anschießt. Ihre Denkart ist durch Empfindungen des Zufalls gebildet wie ein Stück florentinischer Marmor.

Und umgekehrt könnten und sollten doch die Erkenntnisse ebensosehr auf die Empfindungen zurückwürken, als diese auf jene: denn wenn die Seele ihrer Bestimmung folgt, so ist sie immer in dem Kreise, den ihr der Sinn vorhält und gleichsam verzäunet, der Natur überlegen, d.i. das Phänomenon kann und soll nur auf sie würken, sofern es mit ihrer Natur analogisieret, [417] zur Wahrheit und Güte durch Reiz und Schönheit – Aber wir wollen noch ohne moralischen Ton physisch fortfahren:

Wenn keine zwei Dinge in der Welt gleich sind, so sind's gewiß auch keine zwo Seelen: selbst, wenn man noch gar nicht ihre Empfindungswerkzeuge zu Rat ziehen dörfte. Nach der Stelle also, die die Seele im Geisterreiche hat, gibt sie auch auf das, was ihr von außen vorgestellt wird, jedesmal Druck, d.i. sie analysiert's in die Gestalt ihres Wesens. Die innere Kraft gibt dem ganzen Symbol von Empfindung von sich selbst aus Richtung, Dauer, Zweck, Fortleitung: denn nicht der äußere Körper ist's, der in meine Seele kommt (er bleibt immer auf seiner Stelle), sondern der Geist, das Bild von ihm, das vermittelst meines Organs mir analog war. Wie sich also die Gestalt der Seele formt, so fängt sie auch an, über die äußern Vorstellungen zu herrschen, gibt der Aufmerksamkeit Richtung, diesem Bilde ihrer Natur gemäß Innigkeit und Tiefe, jenem Ausbreitung, Dauer, Fülle. Sie und was sie zu sich rechnet, Leidenschaft oder Vernunft, gibt dem ganzen Horizonte unsrer Empfindungen nach ihrem Augpunkte Farbe, Umkreis und Höhe. Wir leben immer in einer Welt, die wir uns selbst bilden.

Hier ist's nun, wo die Sittenlehre zu uns tritt, unserm schwebenden Schiffe Steuer und Kompaß zu geben, daß uns unsere Fahrt nicht gereue. Nachdem jemand innere Stärke hatte, seine Empfindungen stets zur Wahrheit und Vollkommenheit zu erhellen und aufzuklären, nachdem ward er weise. Wer seiner Phantasie nicht unterlag, wen die Leidenschaft nicht lange fortriß, oder wer sich, im Strudel fortgerissen, mit desto mehr Stärke wappnete und ans Land trat: ohne Zweifel ist das ein andrer Mann, als wes, ohne mit Begierden zu kämpfen, ewig unter Rosen schlummerte, eine Menschenauster war an Verstand und Empfindung. Diese schwache Seele hat sich an wenig Sinnlichkeiten geübt, jene zerfloß auf der Oberfläche und brachte es nie zur Fertigkeit, zum Resultate. Jener im Gegenteil zog die Zügel der Neugierde stark an, empörte Empfindung gegen Empfindung, bis Stille wurde – – Und so geht's ins Unendliche fort. Die Empfindungen liefern der Seele rohe Materialien, Beute: sie prägt ihr Bild darauf nach ihrer Natur und bisher erworbnen Übung. So hängen beide Fähigkeiten voneinander ab: so fließen sie ineinander.

[418] Es wird daher widrig, Erscheinungen der einen Fähigkeit leugnen oder untergraben zu sehen, sobald man sie aus seinem engen System nicht deutlich herzuleiten vermag. Die Würkungen der Einbildungskraft bei den Muttermälern z.E. mögen diesmal, statt hundert andern Sachen, die Probe sein. Wenn's über sie einmal offenbar Fakta gibt: so, dünkt mich, sollte es verlacht werden, wenn der Verlacher sagt: Wie hat das aber durch die Nabelschnur dahin kommen können? Wäre von einem mechanischen Druck die Rede, da Stirn auf Stirn, Rücke auf Rücke, Form auf Form sich stoßen sollte, wie man zwei Marmortafeln aufeinanderpreßt, so könnte der mechanische Philosoph so fragen. Nun aber, dünkt mich, ist von Würkungen der Seele, die keine Marmortafel ist, die Rede: die kann nur in den Körper, als ob es nicht Körper sei, d.i. auf die einfachen Kräfte, gleichsam auf das empfindende Geisterreich desselben würken: und nun messe der erhabne Philosoph diesen den Raum aus, wie und wieviel derselben durch die Nabelschnur würken können? Mich wundert's sehr, wie noch kein scharfsinniger Kopf darauf gekommen ist, die Generation des Menschen zu leugnen, weil – sie keiner begreift. Begreift doch niemand einmal, wie die künftige Hülle des Embryons an seinen Ort der Bildung komme, und geschieht's deswegen nicht? Nichts dünkt mich überhaupt elender, als die Würkungen der Seele durch nichts als Hieb und Stoß zu erklären: das kleinste Aufheben des Arms, ja nur die Erscheinungen des Lichts, der Schwere, der Elektrizität, des Magneten usw. (und das sind doch die einigen Kräfte der Natur, die wir kennen) sollte uns etwas anders lehren. Wie würkt die Scham, der Zorn, die Wollust plötzlich vom Auge in die entferntesten Körperteile? Durch Hieb oder durch Stoß? Und so allgegenwärtig gleichsam sind doch alle Eindrücke und Empfindungen der Seele: Geist würkt immer auf Geist, auf Kraft und nicht aufs hölzerne Phänomenon, den Körper.

Ebenso roh und mechanisch sind meistens die Begriffe und Schwürigkeiten, die sich viele vom Ursprunge der Seele und vom Abscheiden derselben, wenn die Empfindungen des Körpers aufhören, gemacht haben. Man dachte sich unter der schaffenden Kraft Gottes gewiß was sehr Besondres, wenn man sie in gewissen Tagen sich an menschlichen Seelen erschöpfen ließ, die, ich weiß nicht, in welchem Limbus, so lange müßig auf die Schöpfung ihres Körpers harren. Eine menschliche [419] Seele ohne menschliche Organe! und so lange müßig! und nun hinzugeführt, da das Dach fertig ist, unter dem sie hause! Ist göttliche Kraft da, die aus zween eins bilde: warum sollte nicht auch göttliche Kraft dasein, die einer dunkler bisher empfindenden Substanz, die gewiß nicht müßig war, sondern auf dem Wege der Kontinuität fortklimmte, jetzt den Grad Helle, Kraft, Deutlichkeit gebe, daß sie menschliche Seele werde und über das Aggregat ihrer neuen Organe herrsche? Dies letzte, das Aggregat solcher Organe, begreifen wir gewiß (wenn wir nicht wieder mechanische Keime oder moules zu Hülfe nehmen wollen) gewiß weit weniger als jenes, die Schöpfung oder vielmehr Fortrückung zu einer menschlichen Seele. Sobald man sich einmal denkt, daß die geistige, wahre Kräftenwelt eine andre ist als die körperliche, die wir mit dunkeln Sinnen in ungeheuren Massen und Verwirrungen sehen: sobald man sich denkt, daß die ganze Natur in jedem Punkt und Zeitpunkt nichts als der allwürkende Gott sei, der nichts unordentlich, nichts im Sprunge tun kann: so bald verschwinden uns dergleichen Zweifel, aus den Halbbegriffen der Sinnlichkeit geschöpft, aus den Augen. Wo wir das Empfindungsvermögen von außen sich bilden sehen, da muß innig gewiß der Erkenntnisgrund dasein, zu dem es sich bilde. Die menschliche Seele schwebt in einem Reich andrer Kräfte, als das unser Auge sieht, und so ist auch, wenn das äußere Phänomenon ihrer Empfindungen zerstört wird, ihr supponierter mechanischer Tod dies unbegreiflichste Unding, was mit einer Phrase genannt werden kann. Wird denn eine einige Kraft des Körpers vernichtigt? und haben wir wohl von einer vernichtigten Kraft, die aus allen Kräften des Weltalls vernichtigt werden könne, d.i. die jetzt sei und jetzt nicht sei, und doch nicht seiend als gewesene Kraft gedacht werde, einen Begriff? Solchen Nutzen hat's, sich nur das Verhältnis und den innern Begriff des Erkennens und Empfindens recht zu denken. Wenn für meine erkennende und empfindende Kraft diese Organe zerstört, d.i. aufgelöst werden: so erkenne und empfinde ich nicht durch diese Organe, ich löse ihre Formeln nicht mehr auf – das begreife ich wohl; aber keinen Schritt weiter. Daß eine Kraft sterben, und zwar durch körperlichen Stoß und Hieb sterben soll, ist, als ob das Ding plötzlich ein Unding werden soll, und zwar durch die Würkung eines Undinges, das auf jenes nicht würken kann. Von dem allen begreife ich nichts.

[420] Auch über die Einförmigkeit und Verschiedenheit unsrer Erkenntnisse und Empfindungen läßt sich aus der gegebnen Abhängigkeit Schluß fassen, darüber man sich so heftig veruneinet. Wer ins Tollhaus geht, wird sich keinen Augenblick wundern, daß alle Narren auf ganz verschiedne Weise rasen, und daß Menschen auf so verschiedne Weise denken und empfinden, darüber wundert man sich oft. Sowenig aber zwei menschliche Angesichte, zwei Körper einander gleich sind: sowenig können's zwo Seelen sein, die hinter so verschiednen Organen und Symbolen des Weltalls lauschen. Der tiefste Grund der Empfindungen ist allemal individuell; er liegt aber auch so tief, daß er nicht mitgeteilt werden kann noch soll. Er ist das innigste Gewebe meiner einzelnen Hülle – wer weiß und soll's wissen, wie sich meine Seele in ihm fühle? Auch der dunkelste Grund der Sensationen ist ganz einzeln, wie man, meistens nur im Übermaß der Leidenschaft und Narrheit, aus sehr sonderbaren Fällen siehet. Würde jedermann die innigste Seite seiner Gefühle und Liebhabereien, seiner Träume, Einbildungen und Gedankenfahrten ausdrucken können: wir bekämen Sonderbarkeiten zu lesen und zu hören, die uns ungeheuer dünkten, und sie sind doch wahr. Da wir in solchem Falle uns immer allein zur Regel nehmen, so verdammen wir jede Abweichung, die wir nicht aus unserm Mechanismus erklären, ohne zu bedenken, mit wie ungleich weitern Kräften die Natur würke. Die neuere mechanische Philosophie will es mit der Herkunft des Menschengeschlechts ausdrücklich nicht ohne schwarzen und roten Adam abgehen lassen: hätte der Stachelschweinmann, der schon einen Sohn nach seinem Bilde zeugte, sein Geschlecht fortgesetzt, so hätte gewiß ein Stachelschwein-Adam mit allen Keimen zukünftiger Menschen der Art erdacht werden müssen, oder er wäre unerklärt geblieben. Die mechanische Philosophie betrachtet die Natur als abgestorben, tot, die bloß aus alten, abgelebten Keimen würke, und (noch größeres Wunder!) zugleich als ein mechanisches Automat, das doch aus innern Kräften selbst würke. Und freilich wird alsdenn Erkennen und Empfinden das fremdeste Unding in der Welt, das allein in all seinen Kräften und reichen Erscheinungen erklärt werden kann, wenn in jedem Punkt innige Kraft Gottes würket.

Aber so mannigfalt nun das Universum auf jeden Punkt ströme, so ist doch überall, was daraus gesammlet wird, eins [421] und dasselbe. Woran die Seele sich übe und durch welche Sinne sie würke, was sie daher erbeutet, ist Wahrheit: mit welchen Leidenschaften sie strebe, was sie sucht, ist Glückseligkeit, Vollkommenheit, Gutes. Alle Menschen arbeiten aneinem Produkt, nur aus verschiednen Aufgaben und Zahlen und jeder auf seine Weise. Je mehr die Menschen sich aus der Region von Empfindungen zum Erkennen, zur Vernunft erheben, desto mehr sind sie eins. Empfindungen sind die Farben; Erkenntnis der Sonnenstrahl; jene brechen sich verschieden, dieses ist überall eins. Hier haben nun alle endliche Geschöpfe einerlei Gang: unten am Berge sind vielgestaltige Nebel, oben am Gipfel scheint's helle. Jeder läutre seine Aufgabe zum hellen Resultat.

Traurig ist's also, wenn die Menschen den Mitteln unterliegen und die Zwecke darüber vergessen. Alle Empfindungen sind nur Mittel, Materialien, Symbole, woraus sich etwas entwickeln soll, was bleibt! Je mehr sie zufahren, desto schöner; aber um so reiner und besser und schneller suche auch zu läutern und die Schlacken dahinten zu lassen, daß du in die Gegend des Lichts kommest. Wer mit Empfindungen als Zwecken und umgekehrt mit Erkenntnissen, mit Abstraktionen als bloßen Symbolen spielt, zeiget, daß er in beiderlei Fällen noch ein Kind sei und Schatten statt der Wahrheit hasche. Den edelsten endlichen Geist können wir uns nicht ohne Sinnlichkeit gedenken; seine Sinnlichkeit ist aber auch voll Geistes: er umfaßt ein Universum, das er sich aufs klärste und tätigste auflöset.

Das Hauptgesetz also des Einflusses und der Abhängigkeit beider Kräfte liegt in der Natur des eingeschränkten, endlichen Wesens. Durch Empfinden lernt's nämlich erkennen: Sinne und Gefühl sind ihm der reichste, leichtste und angenehmste Ausdruck des Guten und Wahren. Es steht an einem noch unentzifferten Weltall und lernt's entziffern, die allgemeinen Eigenschaften desselben, die göttlicher Natur sind, in seine Natur auflösen. – – Wir treten jetzt ins reiche Feld der Gattungen und Arten.

[422]

3. Grundsätze, die da zeigen, wie das Genie und der Charakter

III. Grundsätze, die da zeigen, wie
das Genie und der Charakter eines Menschen
von dem Grade der Stärke und der
Lebhaftigkeit und des Fortgangs
einer und der andern dieser Fähigkeiten
und deren Verhältnisse untereinander abhängt

Mit Scharfsinn ist über diese Frage schon viel gearbeitet. Alle Schriftsteller vom Genie und von den menschlichen Charakteren, unter denen, damit ich Deutsche nicht nenne, Huarte, Addison, Helvétius und soviel andre zum Teil große Namen stehen, haben im einzelnen viel Vortreffliches bemerkt; die Akademie fodert nicht Wiederholung oder Sammlung desselben, sondern erste Grundsätze aus den zwo Hauptquellen. Sie will den Strahl in seine Farben geteilt sehen, ohne zu fragen, wie sich nachher jedes Gefäß in jedem Tageslichte gefärbt zeige.

Wir legen also aus dem Vorigen zuerst voraus, daß, da Erkennen und Empfinden sich im Grunde nicht entgegenstehen, es nur apparent sein müsse, wenn sich die Genies und Charaktere beider Fähigkeiten zu einem Grade trennen. Sie müssen sich einander wieder nähern, und zuletzt das Empfinden doch wieder als Hülle des Erkennens erkannt werden. Um also von der Mannigfaltigkeit dieser Farbenbrechung nicht verwirret zu werden, nehmen wir noch selbst die beiden Fähigkeiten des vermischten Geschöpfs für eins und unterscheiden an ihnen nur Innigkeit und Ausbreitung. Ein Mensch existiert z.E. entweder stark in seinem Ich, an Erkennen und am Empfinden, oder ist weit außer sich verteilet: jenen wollen wir das tiefe, dies das reiche Genie in weitestem Verstande, oder praktisch jenes den starken, dies den schnellen und hellen Charakter nennen.

Ein Mensch mit innigem Empfindungsvermögen fühlt sich in jeden Gegenstand tief hinein und empfindet also Weniges, aber viel. Er hat nur seine ihm ähnliche Situationen, auf denen er aber lange ruhet und seine Seele ihnen einzuverleiben scheinet. Kommt's also zum Erkennen: so erkennet er tief und innig; kommt's zum Handeln, so würkt er stark, aus dem Grunde der Seele. Der Ausdruck folgt beidem als Übergang und Naturgemälde.

[423] Die Natur hat solche Menschen meistens schon von außen durch simple, tiefgeprägte Züge und Glieder bezeichnet. Man siehet kein unstetes Auge, keinen kleinen, fliegenden Blick, nicht verwirrte, halbentworfne Mienen; sondern, was die Bildung sagt: saget sie wohl.

Ein Mensch, der sich nun durch alle Teile und Glieder, Nerven und Muskeln also innig und ganz fühlet, ein völliger, gesunder, in starker Wahrheit alles empfindende Mensch, hat offenbar die Anlage zum weisen und glücklichen Menschen. Nicht nur gegen andringende Übel hat ihn die Natur gewappnet, sondern ihm auch mit seinen gesunden, richtigen Sinnen Summen von Güte und Wahrheit vorgelegt, mit denen er zugleich den Druck erhält, sie wohl anzuwenden. Von welchen Vorurteilen kann er frei sein, da er die Gegenstände wahr und tief siehet und mit jedem Sinn eine Probe vollständiger Empfindungen empfängt, nach deren Ähnlichkeit er sich weiter übe.

Ein Mensch von vollständigen Trieben und Empfindungen wird also nie aus Schwachheit träge, menschenfeindlich und grausam sein können. Er strebt zur Tat mit dem Bewußtsein des Rufs und der Stärke; und warum sollte er also andre mit kleinmütigem Neide, mit List und üppigem Hochmut hintergehen? Er kennet die kleine Triebfedern nicht, weil er nur durcheine große handelt: er sieht nicht einmal auf sich zurück, um sich doch selbst seine Größe zu entwickeln, sondern ist im Gegenstande, im Geschäft, mit Kraft und Seele. Das Herz voll großer Tat und Wahrheit kann mit nichts, also am wenigsten mit sich selbst tändeln.

Hohes Ideal der Menschheit! aber es kann nicht oft existieren. Die Natur arbeitet ins Mannigfalte, ins Unendliche; sie verändert mit allen Graden und kann also selten diese Tiefe über alle Organe erstrecken. Indem sie nun an einigen würkt und, von äußern Hindernissen überwältigt, bei andern nachläßt: so wird dem Scheine nach Unförmlichkeit. Ein Zug ist tiefer ausgedrückt und steht hervor; die Empfindung wird mehr auf diese als jene Seite gezogen; das ist nun der Grund zu dem, was man große Leidenschaften, Charaktere nennet. Da dringen von Kind auf gleich Umstände herzu, mehr diese als andre Seiten der Existenz zu nähren, oder wenn sie nicht da sind, ruft sie die Natur: das Genie schlägt sich durch, und der Charakter assimiliert, was er kann, in sich. Wir sehn, wennein [424] Glied des Körpers verstümmelt wird, daß sich die Säfte wohl nach dem andern, nachbarlichen, ihm homogenen hinziehen und es ungewöhnlich verstärken; so geht's mit diesem Genie an Empfindungen und Trieben. Die von der Natur versäumten und im Verfolg ungebrauchten Organe dorren, andre nehmen zu sehr überhand. Je mehr also die Kunst der Teilanlage der Natur forthilft und durch vielfältige Anlässe den Menschen auf eine Seite, zu einem Zweck hinreißet, um so mehr kann er unter Tausenden Genie und Held seiner Art werden bis zur Tollheit. Die meisten, die in den Tollhäusern liegen, sind Genies; nur sie sind die wenigsten: die meisten ihrer Brüder laufen frei umher.

In diesem Ursprunge liegt auch die Ursache, über die so oft geklagt wird, daß die Natur nur selten große Genies bildet. Wie man's meistens nimmt, ist's aus ebendem Grunde, als warum sie wenig Höcker bildet. Die Natur hält Maß, oder wenn sie hie und da Übermaß im einzelnen hervorbringt, so gehört auch eine große Menge äußerer Umstände dazu, diesem Übermaß fortzuhelfen. Das geschieht nun minder in simplen Naturzuständen als im Zusammentreffen der Kunst, in großen Gesellschaften. Hier, wo alle Gelegenheiten, Anlässe und Berufsarten verteilt, und lauter kleine Zähler zu einem großen Nenner sind: da kann's oft Punkte geben, wo Bildung und Ruf von außen mit dem innern Ruf zusammentrifft, nun eben dieser Keim zum Übermaße gereizt, gelockt, genährt, gebildet wird, und das gibt alsdenn die sogenannten großen Männer und Leidenschaften in Partikularsphären, von denen Helvétius, nur viel zu mechanisch, wie mich dünkt, und ungründlich gesprochen. Die andern großen Leute im Keime können's oder wollen's nicht vollenden. Hier würkt der einen Leidenschaft, die Triebfeder zum Ungewöhnlichen werden soll, eine andre Leidenschaft durch Anlässe von außen oder moralische Übung entgegen. Jene fühlen unbestimmt und dunkel; es ist aber nichts, was das dunkle Gefühl wecke. Einem andern tritt der Engel des Herrn, die Notwendigkeit, entgegen; und später sieht er, daß er und die Welt dabei gewonnen und nicht verloren. Überhaupt ist auch darin die größte Weisheit der Natur sichtbar, daß sie große Männer nur so selten und einzeln, wie Sterne in dunkler Nacht, streuet; mit mehrern könnte die menschliche Gesellschaft nicht bestehen.

Im gegebnen Standpunkte wird offenbar, wiefern und [425] warum es sei, daß solchen Leidenschaften und teilweise ausgeprägten zu starken Charakteren oft Vernunft und Tugend entgegenstehe, worauf Helvétius so viel bauet und beide gar als unvereinbar betrachtet. Im Grunde wären sie's nicht. Empfindung ist der Vernunft gar nicht entgegen, sondern, wohlgeordnet, bloß das sinnliche Schema und Organ derselben. Ein tiefes Empfindungsvermögen muß also auch immer eine Quelle tiefer Erkenntnisse sein, wie wir noch immer mitten unter den Ruinen mißratner oder teilweise nur geratener großer Seelen sehen. Wenn bei ihnen die gute Natur zurückkehret, sehen wir hinter allen Ausschweifungen eine Anlage zu würklich großen Eigenschaften, für denen wir oft verstummen und erstaunen. Das zeigt immer, daß das Gepräge der Natur, das in dem einen tief würkte, auch an der andern Stelle gewürkt hätte, wenn es dahin geleitet wäre. Der große Mann, der alle seine große Leidenschaften zu lenken, zu ordnen, zu wägen weiß und durch alle Vernunft zeiget, muß gewiß eine so tiefere Vernunft in Einsicht und Tätigkeit zeigen, als kein Pygmäe und Flatterer von Empfindung je mit seiner Vernunft, als einer ausschließenden Eigenschaft, je er reicht hat. Überhaupt ist Vernunft und Tugend keine Abstraktion in der Luft, wo alles selig ruhet; sie wird im Kampfe geboren und erzeigt sich eben mit unter Leidenschaften und Trieben durch Königskraft und Ordnung, die selbst die stärkste, reinste Leidenschaft werden kann und soll.

Es sind also nur immer Ungeheuer, auf die der vorige menschenfeindliche Satz passet. Wo die Natur so ungleich ausgebildet ist, daß hier Leidenschaft wie ein wildes Tier fodert, dort alles in Dörre schläft: wo also auch die Vernunft, die nur immer der Abglanz und Gegenschein der sinnlichen Kräfte ist, so ungleiche Tiefen und Untiefen hat und keine Gegenkräfte empören kann, sich dem Ungeheuer zu widersetzen – freilich, da ist obgedachte Halbphilosophie nur zu wahr; aber leider! Die Politik und Kunst kann freilich solche Menschen, wenn sie zu ihren Zwecken einstimmen, vortrefflich brauchen, wie sie ja auch Löwen und wilde Tiere braucht; deswegen aber fodert das Ideal von Größe, Würde und Stärke der Menschheit mitnichten solche Übung. Die Lehre der Tugend und Glückseligkeit will, daß nichts also vorgebildet werde, damit das Gleichgewicht der Leidenschaften, Vernunft und stille, starke Würksamkeit, d.i. Handlung, unmöglich sei, und selbst [426] Politik und Kunst kann die letztere nie ganz ausschließen. Selbst alle wilden Tiere, die sie braucht, muß doch Vernunft regieren. Und da ist's die schädlichste Unwahrheit, zu glauben, daß ein Temperament großer Eigenschaften und Leidenschaften Tugend verhindern müsse. Freilich geschieht's oft, und es kann durch Übung so weit kommen, daß es fast nicht anders mehr sein kann; das ist aber nur immer Mißbildung auf der Stelle. Wo diese starke Leidenschaft möglich war, mußte auch eine andre möglich sein, die ihr das Gegengewicht leiste, oder vielmehr selbst diese Leidenschaft enthielt, nur recht angegriffen und geläutert, ein Resultat ebenso tiefer, herrlicher Vernunft in sich, und diese, in Tätigkeit gesetzt, war Leidenschaft ebenso tiefer Tugend. Die stärkste Seele hat auch zur stärksten Tugend Anlage, wenn sie die Empfindungen gehörig erschöpft und ordnet. Sie hat in jeder Empfindung viel zu entwickeln, sie hat aber auch viel Entwickelungskraft und intensive Ruhe. Was sie hervorgräbt, ist Gold an Wert und Schwere. Seelen von der Art sollte man allein groß nennen, weil sie's auch allein sind. Miltons Teufel baute das Pandämonium und schlug eine Brücke übers Chaos; er ward aber mit beidem weder glücklicher noch größer. Alle Stärke ohne Vernunft und Güte ist entweder Abenteuer, sublime Narrheit oder Abscheulichkeit, die sich in beiderlei Falle selbst straft; und auch je vollkommner die Verfassungen der Menschen werden, desto mehr müssen sie Abenteurer verlachen und Abscheulichkeiten, mit Lumpen der Größe behangen, hassen und verachten. Wahrhaftig große Seelen sind tief eingedrückte Kraftpunkte, Pole, um die sich ein ganzes Firmament drehet. Ihre riefe Empfindung reifte zur tiefen Vernunft und erhabnen Güte.

2. Die andre Art der Empfindungen und Erkenntnisse, Lebhaftigkeit, Schnelle mit Ausbreitung verbunden, hat die Sprache schon mit einem ziemlich angemeßnen Ausdruck Geister (esprits), im weitern Umfange, bezeichnet. Dort war der Lichtstrahl unzerteilt; hier spielen schon alle Farben, die freilich, in eins vereinigt, vielleicht gerade den vorigen Lichtstrahl ausmachen würden. Ihr Verstand, ihre Tugend ist wiederum ihren Empfindungen gemäß.

Die Anlage dieser Subjekte ist ein verbreitetes Empfindungsvermögen, das leicht gleitet und also schwächer auf jedem Punkte würket. Schon ihre Bildung zeigt's oft, die beseelt [427] ist, Physiognomie hat, in Munterkeit webet. Ihr Feuer ist aber nicht gediegene Glut, sondern Lichtstrahl, Schimmer, der wenn nicht wärmet, so weit umher leuchtet. Ihre Triebe sind nicht Leidenschaft, sondern Phantasie; ihre Taten mehr Flug, Anlage zum Handeln. Sie sind fliegende Boten, den Tätern nach- oder vorhergesandt, zum Entwerfen oder zum Lobpreisen, zum Verkündigen, zum Zeigen.

Leute dieser Gattung haben einen großen Kreis der Würkung; sie würken aber in jedem Punkte nicht viel. Sie sind zu vielem geschickt, und in keinem groß. Das tiefe Genie hatte Ausbreitung nötig, damit es untereiner Empfindung nicht erläge. Das lebhafte Genie hat Innigkeit nötig, damit es im Schönen der weiten Oberfläche nicht gar zerfließe.

Wenn der starkfühlende Kopf ausschweift, so sind's große Leidenschaften und Laster; wenn die muntre Seele irrt, sind's ewig kleine Fehler, bei denen sie doch nie zur Besinnung kommt, daß die Vernunft herrsche.

Trifft ein Genie dieser Art in eine gute Sphäre, so kann's mit seiner schnellen Vieltätigkeit auch auf leichte Art viel Angenehmes und Nützliches verrichten: es wird ein Triebrad der Gesellschaft. Gerät's aber unter Frivolitäten, so wird der feine Geist, der spielende Kopf. der Kleinmeister, das Gesellschaftsmännchen daraus und hundert bekannte Erscheinungen mehr. Die Komödie und guten Wochenblätter haben sich meistens mit Fehlern der Art beschäftigt, und eine große Reihe witziger Schriften und witziger Köpfe zeigen sie tätig.

Kommt der leichte, lebhafte Geist auch zum Ziele, das uns die Natur in allem vorsteckt, zur Richtigkeit und Wohlordnung: so wird bei ihm die leichte, aber weitverbreitete Tugend und Wahrheit den Mangel der Stärke und Intensität erstatten. Er Endet also auch auf seiner Wurzel Gang zur Vollkommenheit, Glückseligkeit und Ruhe. Die Natur bedorfte handelnde Wesen in beider Gattung und erzeigt sich beiden auf verschiedne Weise gleich gütig. Das Genie und die tiefe Leidenschaft ist der Mittelpunkt; der aufgeklärte und aufklärende Geist sind die Strahlen und Radien umher. So wird der große Zirkel der Welt.

Lasset uns nun sehen, welchen Fortgang beide Gattungen Kräfte nehmen, nach den Gegenständen, an denen sie sich üben; wir bleiben aber nur, der Aufgabe gemäß, bei Grundsätzen, aus denen die reiche Ernte der Anwendung folget.

[428] Es gibt einen Zustand der simpeln sinnlichen Empfindungen, den man nun einmal den ungekünstelten Naturzustand zu nennen gewohnt ist, obgleich in jedem Zustande Natur würket. Alle feinere Fäden stecken hier noch in einem Knäul und wirken ineinem starken Seile. Die Vernunft existiert hier noch bloß in Handlungen ohne Raffinement: die Leidenschaften sind Naturtriebe und Gewohnheiten ohne Geschwätz und Nachschmeckerei. Hier übt sich also die Seele nicht überhelle, aber sehr fest, stark und tätig.

In diesem Zustande ist's, wo alles gleichsam noch Übung ist: Gedanke liegt in der Empfindung, Theorie in der Praxis begraben. Die ersten Genies, die das Menschengeschlecht bildeten, waren alles, Dichter, Philosophen, Meßkünstler, Gesetzgeber, Musiker, Krieger; aber alles nur im Keime zu ihrer neu sich bildenden Gesellschaft, d.i. sie waren vorzüglich große, tätige und gute Menschen. Sobald eine Wissenschaft auch auf ihre Simplizität zurückgeht: so wird sie ganz praktisch, wie die Philosophie des Sokrates, wie die Politik und Redekunst im Sinne der Alten. Spekulation, die auch in ihren Folgen ganz und gar nicht praktisch ist, ist auch nie wahr, wie das Geschwätz der Scholastiker in den mittlern Zeiten gnug zeiget. Die vollständige Wahrheit ist immer nur Tat; das Erkenntnis- und Empfindungsvermögen ist im Grunde der Seele und war auch bei den Urvätern unsrer Bildung eins. Alles wuchs aus einer Wurzel zur Glückseligkeit und Wahrheit.

Wie sich aber nun die menschliche Gesellschaft teilte, so glaubte man sich auch in diese Fähigkeiten teilen zu können: der eine sollte denken, der andre wollte empfinden oder handeln. Es wurden also theoretische und praktische Genies in allen Klassen und Arten. Man teilte sich in die Linie, die sonst einer durchlief; jeder lief von einem gegebnen Punkt auf seine verschiedne Seite, und da konnte er nun allerdings jeden Punkt gründlicher erforschen. Im Grunde aber bleibt's immer noch eine und dieselbe Linie. Von jedem Punkt eines Endes müssen sich Halbkreise zum andern linde ziehen lassen. Genies und überwiegende Kräfte kehren sich auch an die Grenze nicht und laufen, nachdem sie Standpunkt haben, ins gegenüberstehende Ende über. Was die ganze Wissenschaft umfasset, muß notwendig Theorie und Praxis gleich anschauend umfassen, wie Erkennen und empfinden würklich nur eins ist. Nur also zum bessern, leichtern Anbau teilte man sich in die [429] Sphäre; man ward zum größern Nenner ein kleinerer Zähler, je nachdem man selbst kein Ganzes mehr sein konnte.

Nun fanden sich also die Halbdenker und Halbempfinder. Moralisten, die keine Täter, Heldensänger, die keine Helden, Redner, die keine Geschäftführer, Regelngeber, die keine Künstler waren u.dgl. Was vorher Sensation war, war jetzt Sentiment, vor- oder nachgeschmeckte Handlung. So schlimm das für jeden einzelnen war, der halb untätig war und sich am Schatten begnügte: so gut war's für die Gesellschaft. Je mehr die Köpfe sich teilten, desto mehr ward alles durchsucht und jeder Punkt bebauet. So sind die Theorien gestiegen, bis endlich die höchste Philosophie wieder gebietet, zur Praxis zurückzukehren, und die bessere Politik wird ihr zeitig gnug helfen. Jede Wissenschaft wird so simplifiziert werden, daß sie wieder Tat werden muß. Es werden Zeiten kommen, da wieder Erkenntnis in der geläuterten, eigengefühlten Empfindung wohne. In weitere Klassifikationen läßt man sich nicht ein; weil sie schon häufig in andern Büchern, Huarte, Helvétius, den Abhandlungen vom Genie, kritischen und Wochenblättern stehen und die Aufgabe nur eigentlich Grund- und Hauptgesetze begehrte.

Die Natur, sehn wir, würkt hieher mit all ihren Operationen. Sobald eine Erkenntnis Anschauung geworden, so wird sie gleichsam als Fertigkeit verwahrt und nachher immer als taube, zusammengehüllte Erkenntnis, als symbolische Empfindung angewandt: wir handeln mit vorher erlangten Erkenntnissen wie mit Zeichen der Algebra, bei denen wir die Bedeutung vergessen dörfen, so daß sie doch das Resultat geben. Sooft diese Abkürzungsformel angeklagt wird und soviel Schaden sie bei Menschen, die nie von den Symbolen ab und zur Erkenntnis der Wahrheit wollen, stiftet: so weise ist der Gang der Natur, uns auf die kürzeste Weise zu neuen Kenntnissen und Empfindungen fortzutreiben. Das ist die Unruhe (uneasiness), die Leibniz so vortrefflich aus den unmerklichen Vorstellungen, die zur Helle dringen, aus den Empfindungen, die befriedigt sein wollen, erkläret. Die Natur ritzt uns immer mit diesen sanften Stacheln: wir sind ganz: der größte Teil von uns ist in der dunkeln Zukunft. Was wir erkannt und genossen haben, ist der unendlich kleinste Teil gegen das, was noch auf uns wartet.

Hierin sind der Wilde und der Gebildete einander gleich; [430] jeder in seinem Kreise. Mit feinen oder groben Kenntnissen und Empfindungen übt jeder sich in bei den und alle auf eine Weise; was dem einen an Helle und Schnelle abgeht, wird ihm durch Stärke und Dauer ersetzt. Alle suchen auf ihrem Punkte Genuß der Welt durch Empfindungen und Erkenntnisse, soviel sie deren zu einer Art sanft fortschreitenden Würkung aus ihrem Mittelpunkt der Ruhe brauche. Überall keimt Same zur Glückseligkeit und Tugend!

Vortrefflich ist die Aussicht, die jedes endliche Geschöpf da in seine ewige Dauer hat. Sein Gang ist immer fortschreitend: das Weltall muß ihm immer mehr und tiefere und hellere Phänomene des Wahren und Guten liefern: mit jeder Enthüllung derselben zum Erkennen und zum vollständigen Erkennen der Tat muß seine innere Kraft wachsen. Er strebt hinauf zur Gottheit und wird höherer Glückseligkeit fähig. Denken wir uns im ganzen Universum diese, jede auf ihrer Stelle, durch Empfindung erkennende, sich entwickelnde, fortstrebende Geschöpfe, so wird unser Blick in ein Unendliches der Weisheit und Güte verschlungen, und wir freun uns, daß uns ein solches, nie zu raubendes, ewig glückseliges und in der Glückseligkeit steigendes Los ward. In jeder enthülleten Empfindung erkennen und genießen wir Gott!

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TextGrid Repository (2012). Herder, Johann Gottfried. Theoretische Schriften. Übers Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele. Übers Erkennen und Empfinden in der menschlichen Seele. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-5C69-4