Friedrich Wilhelm von Hackländer
Europäisches Sklavenleben

Erster Band

1. Kapitel
[7] Erstes Kapitel.
Der Theaterwagen.

Es ist eigenthümlich, theurer und geneigter Leser, daß man beim Beginn einer Geschichte so gern Betrachtungen über das Wetter anstellt, – eigenthümlich, aber durchaus nothwendig. Was wollte man zum Beispiel von einem Gemälde halten, wo sich die Figuren – und wären sie auch noch so interessant – in einer Staffage bewegten, von der man nicht sagen könnte, von welcher der vier Jahreszeiten sie gerade beherrscht werde. Es bringt den Leser nichts so in eine angenehme Stimmung, als wenn er beim Beginn eines Kapitels erfährt, die Sonne habe mit voller Gluth geschienen, der Wind habe gesaust oder der Regen in schweren Tropfen an die Fensterscheiben geklatscht. Bei uns findet er aber von diesen drei ebengenannten Dingen nichts; unsere einfache und dieses Mal vorzugsweise sehr wahrhaftige Geschichte beginnt im Winter, – jener Jahreszeit, wo man die Natur als erstorben betrachtet, ihr als unschön so gern den Rücken kehrt, um in glänzende, durchwärmte Säle einzutreten und sich an künstlichen Blumen und Freuden zu ergötzen, da man lebendige und natürliche so wenige gefunden.

[7] Aber man thut Unrecht, geneigter Leser; es gibt Wintertage, deren eigenthümliche Schönheit wir nicht vertauschen möchten für den blüthenreichsten Frühlingsmorgen, für den glänzendsten Sommerabend. Wir meinen nämlich einen Wintertag, wo die Erde nach einem Thauwetter oder nach einem gelinden Regen mit schweren Nebeln bedeckt war, wo alsdann diese Nebel durch eine plötzliche Kälte zu dichtem Reif erstarrten, wo sich der Boden mit einem Male weiß bezog, ohne aber verhüllt zu sein durch eine langweilige einförmige Schneedecke, die in ihrem kalten Gleichheitsprinzip Berg und Thal zudeckt und ohne Unterschied begräbt und verbirgt endlose Wiesen und Moorgründe, stille Thäler, kleine Seen und allerliebste Gärten. – Gewiß, jener so plötzlich angesetzte Reif ist wunderbar schön; jene Verhüllung, wo doch Alles in seiner ursprünglichen Gestalt erscheint, nur mit weißem, feinem Pelze bedeckt. Die dunkle Erde schimmert leicht durch den Flaum, es ist kein Thal, keine Schlucht verdeckt: Alles behält die ihm eigene Gestalt. Dort auf der Wiese scheint weißes Gras zu wachsen; die kleinen Sträucher sind mit den feinsten Kristallen bedeckt; wenn man einen Baum ansieht, so möchte man darauf schwören, seine Zweige seien von Zucker und er erwarte nur, wie er da ist, auf irgend eine Weihnachtstafel gesetzt zu werden.

Dabei ist die Luft klar und scharf, und wenn du einen Berg hinansteigst, so zieht dein Athem in einer bläulichen Wolke dir voraus; während du aber durch den Hohlweg gehst, um zu dem Plateau zu gelangen, wo die alte Straße mit der neuen Chaussee zusammentrifft, und wo du die weite, große Stadt übersehen kannst, versäume es ja nicht, rechts und links zu blicken und dir genau zu betrachten einen Stein, einen Strauch, ja jeden Gegenstand, den du willst; denn wenn du am heutigen glückseligen Tage irgend etwas genau untersuchst, so entdeckst du Zaubereien ohne Ende, ganze Eiswelten in jedem Maßstabe. Hier von der Wand des Hohlwegs herab hingen gestern noch die kahlen erstorbenen Zweige [8] einer Brombeerstaude, naß, fast triefend von dem angesetzten Nebel, heute ist daraus ein Brillantschmuck geworden, würdig, den Hut einer Fürstin zu zieren, ein Schmuck von Tausenden von Diamantblumen in der phantastischsten Gestalt, und jetzt, wo ein Strahl der Sonne darüber hingleitet, glänzend wie eine ganze Million von Lichtbergen. Ja, so ein Tag verschönert mehr als Frühlingsluft und Sommerhitze; bemerken wir nicht hier neben uns einen Erdhaufen, gestern noch kahl, mit einigen mageren Grashalmen und zerstreutem Stroh, der heute mit einem Mal eine ganze Eisresidenz geworden! Weiße Steine bilden eine förmliche Stadt, die rings von Zaubergärten eingeschlossen ist; man muß nur genau hinsehen und das Ding nicht oberflächlich betrachten. Es sind da Straßen und Plätze mit den regelmäßigsten Alleen von weißbereiften Grashalmen, auch imposante Waldungen; nur Alles, was im Sommer grün erscheint, ist jetzt weiß und hat eine fabelhafte Form. – Ah! es ist schade, daß unsere Illusion durch einen Sperling gestört wird, der jetzt plötzlich in die Stadt hineinfliegt und den größten Platz mit seinen beiden Füßen bedeckt. Aber auch er gehört zur Zauberwelt, denn wie er jetzt nach einem Regenwurme pickt, den Kopf in den Reif steckt, ihn wieder empor hebt, und ihn dann mit der Beute hin und her schlenkert, stieben von allen Seiten funkelnde Brillanten davon. Doch gehen wir weiter.

Wenn wir uns auch nicht mehr so in's Detail einlassen wollen, so erblicken wir doch Sachen, die nicht minder merkwürdig sind. Auf der Spitze des Berges steht eine kleine Laube, vom Ende eines Gehölzes blickt sie in's Thal; ihre Mauern haben eine röthliche Farbe, zwei Fenster funkeln wie Augen. Ueber das Dach schlingen sich wilde Reben, vielleicht auch Geisblatt, und hängen an den Seiten herab, Alles mit Reif überzogen; sie verleihen der Front des Häuschens, das in der Entfernung wie ein colossales Riesenhaupt aussieht, schneeweißes Haar und silberfarbenen Bart. Es ist täuschend, dies Riesenhaupt, und wenn man es so über den [9] Berg herüberlugen sieht, so wendet man unwillkürlich seinen Blick, um zu sehen, was es da unten Merkwürdiges gebe.

Ah! es ist die große Stadt, die vor uns weit ausgestreckt im Thale liegt; in allen Farben zeigen sich die Häuser, ein wahres Chaos von Grau, Grün, Roth, Blau, Schwarz mit ebenso vielen Schattirungen und unbeschreiblichen Tönen. Dazwischen heben sich die riesenhaften Thürme zahlreicher Kirchen hervor, sind aber trotz ihrer ausgezeichneten Gestalt nicht deutlich zu erkennen, denn der Nebel von gestern und vorgestern erscheint plötzlich wieder und zieht graue Schleier über die Stadt; dazu dampfen Tausende von Schornsteinen und Alles das bildet in weniger als einer halben Stunde eine ziemlich dichte Decke, durch welche man nur noch in einzelnen Umrissen die Häusermassen ahnet. Doch wird der Nebel nicht oben bleiben: er sinkt zusehends tiefer und tiefer und gibt uns jetzt einen neuen unbeschreiblich schönen Anblick. Gänzlich verschwunden ist die Stadt und es ist gerade, als ständen wir am Rande eines ungeheuren See's – jenes verzauberten See's, dessen wir uns aus unserer Kindheit erinnern, in welchem die versunkene Stadt liegt, die wir, wenn wir sie auch nicht sehen, doch hören. An unser Ohr schlägt dumpfes Murmeln und Rasseln, zuweilen rollt es deutlich auf dem Pflaster, und wenn wir noch nicht überzeugt waren, so sind wir es im nächsten Augenblicke, denn viele Uhren schlagen hell und deutlich die vierte Nachmittagsstunde.

Da nun aber die vierte Nachmittagsstunde an einem Tage im Monat Dezember nicht weit von der Nacht entfernt ist, so wollen wir unsere Zauberlandschaft verlassen und uns zur Stadt hinab begeben. Fürchte sich der geneigte Leser nicht vor dem Nebel: er scheint artig gegen uns zu sein und sinkt schneller hinab als wir gehen. Schon treten die höheren Gebäude wieder aus der scheinbaren Wasserfluth empor, und jetzt, da wir das Thor erreichen, sind die grauen Schleier mit Hülfe eines leichten Abendwindes zerrissen und wehen nur noch in einzelnen Stücken um unser Gesicht, während [10] sie eilig gen Süden fliehen. Auch die Sonne berührt uns mit einem letzten Blick und färbt die Landschaft rosig und violett.

Das Ende einer langen Straße, in der wir wandeln, führt in's Freie und zeigt, wie holdselig die Sonne der Erde gute Nacht sagt. In unnennbar süße beruhigende Farben hüllt sich die Landschaft ein, bevor sie in Schlummer sinkt, und wie ein liebendes »Gute Nacht!« zittert der letzte Strahl der sinkenden Sonne über sie dahin. – Die stattlichen Gebäude zu unserer Rechten empfangen diesen letzten Gruß schon kälter und gesetzter; es fallen tiefe, scharf ausgeprägte Schatten der gegenüberliegenden Häuser schon auf ihre oberen Stockwerke; nur Fries und Dach ist noch hell beleuchtet. Diese Schatten steigen langsam empor, wie eine Schlafdecke; denn wenn sie das ganze Haus eingehüllt haben, kommt die Nacht, und es schließt seine müden Augen. – – Daß die Sonne nun endlich hinter den Bergen niedersinkt, bemerkt man an einer Gaslaterne, die draußen einsam vor dem Thore steht, denn auf ihren Scheiben blitzte noch vor wenig Augenblicken ein helles Licht, ein Licht, das darauf tief röthlich niederstrahlte und plötzlich ganz verschwand.

Um vier Uhr Nachmittags und auch noch etwas später sind um diese Jahreszeit die Straßen einer großen Stadt ziemlich belebt; man besorgt noch seine Gänge vor der einbrechenden Nacht, man schließt viele Gewölbe und Läden, und dann haben auch alle Schulen ihre Thore geöffnet und ausgespieen eine Legion kleiner Vagabunden, die nun in gewisser Beziehung Straßen und Plätze ziemlich unsicher machen. Da werden Trottoirs benützt zu Schleifbahnen, die kleinen Bursche fassen Posto hinter einander, ihre Tornister auf dem Rücken, und wer zufällig mitten zwischen sie hinein und auf das glatte Eis geräth, wird ohne alle Barmherzigkeit niedergerannt. Was die Schneeballen anbelangt, so hat der Himmel bis jetzt ein Einsehen gehabt und gönnte der Jugend noch nicht dieses Vergnügen zum Schaden ihrer Nebenmenschen. In der Nähe der Schule, [11] wenn auch nicht unmittelbar vor dem Hause selbst, ist der Lärmen nun eine Zeit lang am stärksten. Wenn so der ganze Strom aus dem Thore stürzt, so scheint jeden nur die Lust zu treiben, endlich in's Freie zu kommen; sind sie aber draußen, so finden sie sich gleich wieder in einzelnen Gruppen zusammen, einer der Schlimmsten gibt den Ton an, und dann ziehen sie, wie es heißt, nach Hause, in Wahrheit aber auf so großen Umwegen, daß die Glocken schon alle Fünf geschlagen haben, bis die letzten und wildesten mit blauen Nasen und krumm gefrorenen Fingern in das warme Zimmer treten, wo Mama ihnen den Kaffee aufgehoben hat.

Auf den Straßen und Plätzen ist es nunmehr wieder ruhiger geworden; wer draußen nichts zu thun hat, bleibt im geheizten Zimmer; zum Spazierengehen und Fahren ist es zu spät, und die Zeit, wo man Gesellschaften besucht, noch nicht herangerückt. Es dämmert bereits; der Laternenanzünder mit seinem langen Stocke, an welchem oben ein kleines Lichtchen sich befindet, läuft eilig durch die Straßen, und selbst ernsthafte Vorübergehende unterbrechen zuweilen einen Augenblick ihren Gang, um zuzusehen, wie die Flamme so plötzlich emporstrahlt. Auch die Läden erleuchten sich nach und nach, und helles Licht zeigt die ausgelegten Stoffe in doppelt schönen Farben und verlockt allenfallsige Käufer.

Um diese Zeit, geneigter Leser, rollt ein Wagen über die Straßen der Stadt, meistens durch jene Viertel, wo sonst nicht viele Equipagen zu sehen sind. Dieser Wagen, eine breite Glascalesche, kommt aus den königlichen Marstallsgebäuden und ist gewöhnlich bespannt mit zwei Rappen; auf dem Bock sitzt ein alter Kutscher mit weißen Haaren in einen dicken blauen Mantel gehüllt und mit ziemlich mürrischem Gesicht. Als dieser Würdige am heutigen Tage die Zügel in die Hand nahm, fragte er einen Bedienten im blauen Ueberrock, der im Begriff war, hinten aufzuklettern: »Wird Alles geholt?« worauf dieser erwiderte: »Alles.« –

So rollt der Wagen dahin, und der Bediente hintenauf hält [12] sich bequem an den Riemen desselben fest und schlenkert sanft hin und her; er hat im Gegensatz zum Kutscher ein freundliches, stets lächelndes Gesicht, und er würde seinem Collegen gern ein Wort mittheilen, doch weiß er wohl, daß er von dem da vornen keine Antwort bekommt.

In den entlegeneren Straßen, wohin der Wagen fährt, hält er meistens vor den kleinsten, unscheinbarsten Häusern. Dort springt der Bediente vom Tritt herab, zieht heftig an einer Klingel, die außen am Hause angebracht ist und wartet alsdann, während der alte Kutscher seine Zügel nachläßt, noch ein paar Zoll mehr zusammensinkt und die Peitsche auf den Schenkel aufstützt. Nachdem die Klingel ertönt, öffnet sich irgendwo im Haus ein Fenster, ein Kopf sieht heraus und es wird herabgerufen: »Gleich, gleich, Schwindelmann! Ich will nur meinen Kaffee austrinken;« oder: »Ich packe gerade meinen Korb zusammen.« Darauf brummt der Kutscher etwas in den Bart, Schwindelmann aber pfeift eine Melodie und hüpft von einem Fuß auf den andern, um sich warm zu machen. Bald nachher hört man Tritte auf der Treppe des kleinen Hauses; die Thüre öffnet sich und ein junges Mädchen erscheint in derselben, fest in ein großes Tuch oder einen Mantel gewickelt, während hinter ihr eine Schwester oder eine Mutter ein großes Paket, einen Korb oder dergleichen im Arme hat, welchen Schwindelmann sogleich übernimmt und in den Wagen befördert. Dann läßt er den Tritt herunter, und wenn der Wagen dicht am Hause vorgefahren oder die Straße gerade trocken ist, so hüpft die junge Dame, die unter der Hausthüre steht, gewöhnlich mit einem einzigen Sprung in den Wagen. Ist es aber schmutzig oder die Calesche hat nicht recht herangekonnt, so sagt das Mädchen auf der Hausschwelle: »Schwindelmann, sei artig«, und dann lacht Schwindelmann, hebt sie so leicht auf, wie vorhin das Paket und befördert sie mit einer schwingenden Bewegung in den Wagen, schließt den Schlag und läßt sogleich weiter fahren.

[13] Das geschieht so an vier bis fünf Häusern nach einander, und da hiebei der Wagen durch eben soviel junge Damen angefüllt wird, so tritt Schwindelmann an den Schlag und fragt: »Haben wir noch Platz zu Einer oder Zwei, oder müssen wir heimfahren?« Er jetzt auch wohl hinzu: »Es wird kalt heute Abend und der alte Andreas möchte früh nach Haus! Ihr könnt wohl ein Bischen zusammenrücken.« Und dann lachen die drinnen meistens laut auf, es kreischt auch hie und da Eine, die ein wenig an ihre Füße gestoßen wurde; da aber die Calesche breit ist und die Mädchen den alten Andreas gut leiden können, so drücken sie sich zusammen und machen noch Platz für Zwei, Drei, so daß der Wagen oft mit Acht dahinrollt, nicht mitgerechnet ein paar kleine Kinder, die unterwegs ebenfalls noch mitgenommen werden, die sich aber sehr dünn machen und rechts und links am Schlage stehen bleiben müssen. Die Pakete und Körbe allein verursachen dem ehrlichen Schwindelmann einige Verlegenheiten. Wenn es gutes Wetter ist, weiß er sich zu helfen; er bepackt alsdann die ganze Decke der Calesche, schiebt dem brummenden Andreas auch zuweilen eines der Passagierstücke auf den Sitz, er selbst nimmt nicht selten einen großen Korb auf den Kopf, das heißt, wenn es unterdessen dunkel geworden ist, und so rollt der Wagen dahin, die Pferde langsam trabend, Andreas mürrisch und verdrießlich, und die junge weibliche Welt im Innern meistens lustig und heiter und tausend gute und schlechte Witze machend.

Diese Equipage aber, geneigter Leser, die du in der Residenz wöchentlich mehrere Male zwischen vier und fünf Uhr Nachmittags bei dir vorüberrollen siehst, ist der Theaterwagen, von Leuten mit wenig Witz und viel Behagen auch der Thespiskarren genannt, seiner Abstammung nach eine geborene Hofcalesche, die so lange für die Ehrendamen und Ehrenfräulein benützt wurde, bis diese kostbaren Wesen behaupteten, nicht länger mit Ehren darin fahren zu können.

[14] An dem Nachmittage nun, wo unsere Geschichte beginnt, fuhr der Theaterwagen abermals und ziemlich früh durch die Straßen. Es wurde an diesem Abend ein neues Ballet gegeben, und das ganze große tanzende Personal mußte zusammengeholt werden. Der Wagen war schon ziemlich besetzt und Schwindelmann trat an den Schlag, um sich zu überzeugen, daß noch für Jemand Platz da sei, oder genugsam guter Wille, um zusammenzurücken.

»Wen holen wir noch?« fragte eine Stimme aus dem Wagen.

»Mamsell Clara,« antwortete der Theaterdiener.

»Ah! die Prinzessin!« lachte eine andere Tänzerin aus dem Wagen. »Die vornehmen Plätze sind besetzt; sie wird sich mit einem Rücksitz bequemen müssen.«

Und eine Dritte fügte hinzu: »Ich fürchte, Mamsell Clara wird es übel nehmen, wenn wir sie einladen, als Sechste bei uns zu sitzen.«

Schwindelmann konnte unter Umständen grob werden, bevor aber dies geschah, zupfte er sich selbst an einem seiner Ohren, als wenn er sagen wollte: »Mäßige dich.« Heute that er auch also, mäßigte sich aber nicht, sondern entgegnete mit ziemlich lauter Stimme: »Spart doch euer Geschwätz; wenn Jede von euch auch nur halb so zufrieden wäre wie die Clara, so brauchte man in der Garderobe ein paar Ankleiderinnen weniger, und wir würden in der halben Zeit fertig. Pfui Teufel! so ein Aufheben zu machen! – Wollt ihr oder wollt ihr nicht?«

»Ich habe im Grunde nichts dagegen,« sagte lachend eine Stimme aus dem Wagen.

Zwei Andere erwiderten: »Ich auch nicht, wenn sie sich behelfen will.«

Und eine Vierte rief: »Ich weiß was Neues: die Clara hat ein Verhältniß mit dem Schwindelmann; die wird protegirt,« – ein [15] schlechter Witz, über den aber alle Fünf in Ermangelung eines bessern laut hinaus lachten.

Unterdessen schlug Schwindelmann brummend und murrend den Schlag zu, und der Wagen rollte durch ein paar Straßen, um endlich vor einem alten, aber ziemlich großen Hause zu halten. Dies Gebäude mit hohem, spitzem und ausgezacktem Giebeldach hatte vier Stockwerke, rechnete man aber die Wohnungen in benanntem hohem Giebel dazu, sechs Etagen, in welchen jedoch wenigstens fünfzehn Familien wohnten. Abends, wenn die Fenster beleuchtet waren, sah dies Haus aus wie eine Kaserne oder eine Fabrik, hatte auch sonst mit diesen beiden einige Aehnlichkeit, denn hier hörte man ein ewiges Summen und Rauschen, und den ganzen Tag lief Groß und Klein geschäftig die alten, ausgetretenen Treppen auf und ab.

Schwindelmann sprang von seinem Tritt herab, zog an einer Glocke, die außen angebracht war, und kaum ertönte der Klang, als sich auch schon oben hoch im Giebelfelde ein Fenster öffnete und eine schwache, zitternde Stimme herabrief: »Gleich, gleich – sie kommt schon.«

»Sie wird sich wieder recht abhetzen,« sagte nachdenkend Schwindelmann, worauf die Fünf in dem Wagen ein abermaliges Gelächter erhoben, welches ihnen aber von dem Theaterdiener die Bemerkung eintrug, daß sie sammt und sonders keine Schwäne seien.

Jetzt öffnete sich die Hausthüre und zwei Gestalten wurden sichtbar, eine größere und eine kleinere. Die größere war Clara, die kleinere ihre sechsjährige Schwester, die ein Paketchen unter dem Arm hatte, während die Tänzerin selbst ein größeres trug, das auch Schwindelmann sogleich mit außerordentlicher Sorgfalt abnahm.

»Hast du die Näherei?« fragte Clara darauf ihre kleine Schwester. »Gib sie her, mein Herz, und geh' hinauf, es ist kalt.« Darauf beugte sie sich zu dem Kinde nieder, nahm das Paketchen aus [16] ihrer kleinen Hand und strich ihr leicht über das Haar, ehe sie in den Wagen stieg.

Schwindelmann drückte den Schlag zu und sagte zu dem Kutscher: »In's Theater!« worauf der Wagen davonrasselte.

Clara hatte sich leicht in eine Ecke gedrückt und sprach mit einer ruhigen und sanften Stimme: »Ich kann in der Dunkelheit nicht sehen, wer von euch da ist, ich sage euch aber insgesammt guten Abend, und es thut mir wahrhaftig leid, daß ihr meinetwegen so eng zusammenrücken müßt.«

»O, wir sind das schon gewöhnt,« entgegnete die Tänzerin ihr gegenüber. Und eine Andere versetzte: »Wenn du nur nicht immer so furchtbar viel Gepäck mitbrächtest. Was thust du denn heute wieder mit den zwei Paketen?«

»In dem großen sind meine Tanzröcke,« erwiderte schüchtern das Mädchen, »und in dem kleinen – – ja, darin habe ich eine Arbeit.«

»Eine Arbeit?« lachte eine Stimme aus der andern Ecke. »Bei deinem Fleiße mußt du am Ende noch reich werden.«

Clara antwortete nur mit einem tiefen Seufzer, und da der Wagen, der bis jetzt auf einer chaussirten Straße gefahren war, das Pflaster erreichte, so wurde die Conversation plötzlich abgeschnitten. Wenige Minuten nachher fuhr Andreas bei einem großen Gebäude vor und hielt dicht an einer erleuchteten Treppe.

Das Aussteigen ging wie das Einsteigen vor sich, nur in umgekehrter Ordnung; zuerst empfing Schwindelmann die Pakete und Körbe, dann half er den Eigenthümerinnen aussteigen. Clara, die zuletzt kam, wurde auch hier von dem Theaterdiener wieder einigermaßen begünstigt. »Da Sie zwei Pakete haben,« sprach Schwindelmann, »so will ich Ihnen eins hinauftragen.« Hierauf schloß er den Wagen, sagte dem Kutscher, er müsse um neun Uhr wieder kommen und erstieg hinter den Tänzerinnen die Treppen.

2. Kapitel
[17] Zweites Kapitel.
Schwarze und rothe Schleifen.

Wenige unserer geneigten Leserinnen werden schon in einer Theatergarderobe gewesen sein. Von den Lesern gar nicht zu reden; denn für sie sind die Ankleidezimmer, namentlich die des Ballets, vor, während und nach einer Vorstellung vollkommen verschlossene und unzugängliche Orte, wir wollen nicht sagen ein verbotenes Paradies, obgleich sich auch hier wie dort ein Hüter befindet: vor der Balletgarderobe freilich nicht mit flammendem Schwerte, wohl aber mit großem Stock, angehörend einem alten invaliden Portier von ziemlich mürrischem Gemüthe, und auf die Privilegien der Theaterankleidezimmer eifersüchtig wachend wie ein alter Türke. An ihm scheitert alle Bestechung, und nur wir vermögen es vermittelst der Macht, die uns verliehen, den geneigten Leser unsichtbar einzuschwärzen.

Diese Balletgarderobe besteht aus drei ineinandergehenden großen Zimmern; in jedem befinden sich mehrere Ankleidespiegel, rechts und links mit Armleuchtern versehen, die aus der Wand heraustreten und aus welchen Gasflammen brennen. Diese Armleuchter sind zum Drehen eingerichtet, um dem Spiegelglas eine größere oder kleinere Helle zu verleihen; an den Wänden dieser Zimmer befinden sich kleine, weiß angestrichene Kästen, die wie eben soviele Kommoden aussehen, nur daß sie statt der Schubladen Doppelthüren haben. Jedes dieser Schränkchen ist mit dem Namen der Tänzerin versehen, der es angehört, und hier verwahrt sie die nothwendigen Gegenstände zum täglichen Gebrauch, die sie nicht jedesmal mit nach Hause nehmen will. Es ist das wie der feldkriegsmäßig [18] verpackte Tornister eines guten Soldaten, und enthält alle Mittel für unvorhergesehene Fälle. Da befinden sich neuere und ältere, engere und weitere Tanzschuhe, sowie Vorrathsbänder zu denselben, ein paar Tricots zum Auswechseln, falls irgend ein Unglück geschähe, kleine Lappen und Flecken von verschiedenen Sorten, Nadeln und Faden von allen möglichen Größen und Farben. Auch die Theatertoilettegegenstände sind hier verwahrt: rothe und weiße Schminke, Pomade, Kämme, Haarnadeln, eine Schachtel voll Magnesia zum Pudern und die nothwendige Pfote eines verstorbenen Hasen, um die weiße Schminke auf dem Gesicht gleichmäßig zu vertheilen.

Es mag ungefähr fünf Uhr sein, und der letzte Wagen, den wir begleitet, hat mit seinem Inhalte das weibliche Balletpersonal vollständig zusammengebracht. In den drei Zimmern befinden sich vielleicht vierundzwanzig junge Mädchen, die lachend und plaudernd durcheinander rennen, sich ihrer Mäntel und Halstücher entledigen, ihre verschiedenen Anzüge ordnen und nun mit Hülfe der Ankleiderinnen daran gehen, sich von unten herauf anzuziehen. Sonderbar ist es, daß die Gespräche, namentlich aber Scherzen und Lachen, so lange nicht zum rechten Durchbruch kommen wollen, bis die Kleider und Unterröcke den Tricots und enganliegenden Leibchen nicht Platz gemacht haben. Ist aber erst die ganze leichtfüßige Schaar unten vollständig gerüstet und bis zur Taille mit den enganliegenden Tricots versehen, so scheint ein anderer Geist in sie gefahren zu sein, und Spässe, eigenthümliche Attitüden und unaussprechliche Pas wechseln so drollig ab und werden mit so schallendem Gelächter begleitet, daß sich oftmals die Oberanzieherin veranlaßt sieht, die Hauptschuldigen durch ihre Brille fest anzusehen und ernstlich um Aufhören des Spektakels zu ersuchen. Hierauf wird aber das leise Gekicher und die anscheinend harmlosen Spässe doppelt eifrig fortgesetzt. Ein lauter Schrei erhebt sich dazwischen, denn es wurde heftig an eine der Thüren geklopft; es ist Monsieur [19] Fritz, der Theaterfriseur, der sich von außen erkundigt, ob er eintreten dürfe. Alsbald setzen sich die Damen des ersten Zimmers durch umgeworfene Mantillen oder Tücher, sowie durch Tanzröcke, die provisorisch über den Schooß gelegt werden, in gehörige Verfassung, um den eintretenden jungen unglücklichen Mann gehörig empfangen zu können, was übrigens nicht ohne einiges Gekreisch abgeht. Wir sagen: unglücklichen jungen Mann, und zwar aus doppelten Gründen, denn einmal ist es keine Kleinigkeit, vierundzwanzig junge Mädchen zur Zufriedenheit zu frisiren, und anderentheils hat Monsieur Fritz den Versuch gemacht, gegen die eine oder die andere der hübschen Tänzerinnen gelegentlich zu avanciren, was ihm nun bei jeder Veranlassung auf's Schonungsloseste vorgehalten wird.

Der Theaterfriseur und Schneider werden seltsamer Weise von den Tänzerinnen meistens für Wesen gehalten, welche der Liebe unfähig sind, für geschlechtslose Geschöpfe, und es ist eigentlich sehr gut, daß diese Ansicht besteht, denn sonst wäre des Zierens und Genirens kein Ende.

Monsieur Fritz ist also eingetreten; die Thüre zum zweiten Zimmer wird geschlossen, weil man dort noch nicht so weit angezogen ist, und das Frisiren nimmt unter Scherzen und Lachen seinen Anfang.

Aber man muß nicht glauben, daß Alle in diesen lustigen Ton mit einstimmen, daß es Allen gleichgültig ist, wenn die umgeworfene Mantille zufällig von den Schultern herabrutscht, wenn der Friseur das Haar lockt oder ein Diadem aufsetzt. Nein, diese Stunde des Anziehens und später des Heraustretens vor die Lampen, vor das versammelte Publikum, sind für manche dieser armen Mädchen Stunden der bittersten Qual, ja tiefen Herzeleids. Man wird sagen: warum brauchen sie Tänzerinnen zu bleiben? Sie sind es ja aus freiem Willen geworden. – Doch ist diese Ansicht eine vollkommen falsche; ihr Wille wurde und wird nicht gefragt. [20] Da ist eine Mutter in dürftigen Verhältnissen, die hat zwei kleine hübsche Mädchen; da sie aber für das tägliche Brod zu Haus arbeiten muß und keine Magd anschaffen kann, um ihre armen Kinder, wie so viele Reiche und Glückliche, zu beaufsichtigen und zu verpflegen, so betrachtet sie die Balletschule als eine gute Gelegenheit, die Kinder zu versorgen und bedenkt nicht, wie theuer dieselben dieser erste Schritt meistens zu stehen kommt Die kleinen Mädchen werden untersucht, ob sie gerade Glieder haben, auch hübsche Augen und gesunde Zähne, und dann werden sie eingeschrieben zu einem äußerlich oft glänzenden, aber innerlich meistens erbärmlichen Leben. Anfangs betrachtet man Alles mit dem glücklichen Leichtsinn der Jugend; die kleinen Wesen freuen sich, wenn sie in den engen Tricots mit einem goldenen Gürtel hinaus dürfen, und ahnen nicht, daß all' dieses glänzende Schmuckwerk goldene Ketten sind, die sie zu Sclavinnen machen und an ein bewegtes, ja wildes Leben fesseln. Dies Bewußtsein kommt erst nach einigen Jahren und meistens wenn es zu spät ist, wenn die Tänzerin nichts Anderes gelernt hat und allein auf den Balletsaal und die Bühne angewiesen ist, um von der geringen Gage sich und oft noch Eltern und Geschwister zu erhalten.

Es ist dies ein Leben, in vielen Fällen schlimmer als das einer wirklichen Sclavin; ist diese traurig, ist ihr Herz von Kummer und Schmerz zerrissen, so ist es doch ihrem Herrn gleichgültig, ob sie die Lippen zusammenbeißt, ob eine Thräne über ihre Wange herabträufelt; aber die Tänzerin muß lachen, muß vor den Lampen eine Glückseligkeit heucheln, wenn auch ihr Herz darüber brechen möchte. – Es ist wahr, eine Sclavin wird wie eine Waare untersucht, ihre Gestalt, ihr Wuchs, ihre Augen, ihre Zähne, aber das geschieht nur einige Mal in ihrem Leben; die Tänzerin dagegen muß sich allabendlich von dem gesammten Publikum untersuchen lassen: jedes Glas richtet sich scharf auf sie und jedes Auge prüft genau die Formen ihres Körpers, um dem Nachbar sagen zu können: [21] »Sie ist schöner geworden, sie blüht auf,« oder: »Sie nimmt ab, es geht zu Ende mit ihr.« –

Und das setzt sich auch hinter den Coulissen fort und spielt in's gewöhnliche Leben hinüber. Wem es nur irgend möglich ist und wer hiezu ein Recht zu haben glaubt, macht sich ein Vergnügen daraus, zu untersuchen, ob eine Tänzerin fest geschnürt sei, und jeder Geck glaubt eine Verpflichtung zu haben, diesem armen Mädchen nachzulaufen, eben weil es eine Tänzerin ist. – – Und da bei hat sie nicht einmal das Mitleid ihres Geschlechtes für sich. Was ist eine Tänzerin? – Ein Geschöpf, über welches die Nase zu rümpfen man berechtigt ist, der es ja ein Vergnügen macht, sich so und so vor dem Publikum zu präsentiren. – Nein, ihr Damen vom ersten und zweiten Rang, es macht ihnen in den meisten Fällen kein Vergnügen und es ist nur ein Beweis, daß es auch bei uns Sclaven und freie Menschen gibt, ein Beweis, auf welch' traurige Weise auch bei uns die Glücksgüter vertheilt sind; denn wenn immer nach der Reinheit der Gesinnung und den Gefühlen des Anstandes die Stellen des gesellschaftlichen Lebens vertheilt wären, so säße manche Tänzerin in eurer Loge, nachlässig zurückgelehnt mit verächtlich zugedrücktem Auge, und Manche von euch zeigte sich da unten dem lachenden Publikum. Das heißt, wenn an ihr irgend etwas zu zeigen ist. – – – –

Im dritten Zimmer ist dasselbe Treiben, dieselbe Geschäftigkeit wie in den beiden anderen. Hieher entlud sich der Inhalt des letzten Wagens, den wir begleitet, und da diese Tänzerinnen später kamen als ihre Colleginnen, so ist man hier auch noch weiter im Anzuge zurück. Doch ist jede Tänzerin eifrig beschäftigt; die Ankleiderinnen helfen ihnen angelegentlichst und bald schält sich aus dem Chaos von Tricots, Weißzeug, gestickten Kleidern, falschen Blumen und dergleichen mehr etwas Solides und Fertiges heraus, und das stellt sich nun vor die Spiegel, probirt vorläufig die neue Frisur, schminkt sich nach der Lancaster'schen Methode, oder läßt [22] sich von einer der Schneiderinnen noch hie und da etwas am Anzuge ändern.

Vor einen der Spiegel tritt gerade eine als Nymphe des Waldes gekleidete Tänzerin; fleischfarbene Tricots sind oben mit einem äußerst kurzen Rock bedeckt, der Oberkörper steckt in einem Leibchen von hellgrünem Atlas, das bei jeder Bewegung des Körpers kracht und sich dehnt. Neben ihr auf einem Stuhl sitzt eine andere Tänzerin, die Arme über einander geschlagen, die Füße weit, von sich abgestreckt, so daß der Tanzrock mehr als eine Spanne über dem Knie bleibt. Beide sind sehr schöne Mädchen, die vor dem Spiegel hat dunkle Haare, blitzende Augen und ist tadellos gewachsen. Die Andere, eine Blondine, hat ein sanftes Gesicht und ruhige, weniger leidenschaftliche Bewegungen.

»Hast du bemerkt,« sagte Letztere, »daß die Marie dort in der Ecke wieder eine Thräne um die andere fallen läßt? Warum nimmt das Mädchen auch keine Vernunft an!«

»Wird schon kommen,« erwiderte die vor dem Spiegel, indem sie sich übermäßig stark zurückbog, um zu sehen, ob die Verbindung zwischen Rock und Leibchen nichts zu wünschen übrig ließe. »Wem ist es am Ende nicht so ergangen? Wer von uns hat ein Verhältniß ganz vollkommen nach seiner Neigung anfangen können?«

»Ich,« versetzte die Blonde; »und deßhalb dauert mich die Marie.«

»Nun, du hast was Rechtes,« entgegnete die Andere lachend und hob mit einem gelinden Ausdruck der Verachtung ihre Oberlippe, während sie mit den Händen ihre Hüfte umspannte und sich selbstzufrieden in dem Spiegel besah.

»Aber er wird mich heirathen,« fuhr die Blonde fort.

»Und dann bist du fertig! Nein, nein, Elise, da macht's unsereins ganz anders. Und wenn die Marie nun einmal nicht will, wer kann sie zwingen?«

»Du weißt, daß sie keine Eltern mehr hat und bei ihrer Tanze wohnt.«

[23] »Bei dem Drachen am Kanal! Oeffentlich hat sie Aepfel feil und verkauft Singvögel; was sie aber im Geheimen treibt, wissen wir. – Pfui Teufel! Nun, zwingen soll sie sich nicht lassen; man muß mit ihr sprechen.«

»Thu' das, Therese,« sagte die Blondine. »Du weißt, die Marie ist ein gutes Geschöpf, ruhig und sanft, sie ist keines großen Widerstandes fähig und eine intime Freundin hat sie auch nicht.«

»Man muß mit ihr sprechen,« wiederholte stolz Therese. »Laß mich nur machen.« Mit diesen Worten trat sie noch einmal fest vor den Spiegel hin, hob den Kopf hochmüthig in die Höhe, besah sich rechts und links, griff nochmals sich lang streckend um ihre Taille und wandte sich dann höchlich zufrieden mit einer halben Pirouette vom Spiegel, worauf sie stolz wie eine Kaiserin nach der vorhin angedeuteten Ecke schritt.

Hier war der unvortheilhafteste Platz des ganzen Gemaches; er war neben einem Fenster, wo wenig Licht hinfiel und sich nur ein kleiner Wandschrank befand. Hier mußten sich die Jüngsten begnügen, bis sie endlich älter und erfahrener wurden und durch den Abgang einer Collegin oder durch irgend eine Protektion an einen bessern Platz vorrückten.

Die zwei Mädchen, die sich hier angezogen, waren beide jung, beide schön, sie hatten beide dunkles Haar und dunkle Augen und waren doch unendlich von einander verschieden.

Wir kennen Beide bereits; von der Einen sprachen eben die beiden Tänzerinnen an dem großen Spiegel; die andere war Mamsell Clara, welche zuletzt in den Wagen gestiegen.

Die Erstere war ein Bild der Frische und Ueppigkeit, dabei hatte sie eine gute Taille, starke Arme, ein rundes, blühendes Gesicht, und die Röthe ihrer Wangen drang so stark hervor, daß sie mit keiner anderen Schminke zu bewältigen war; von Nothauflegen war gar keine Rede, und schon nach den ersten Schritten des Tanzes [24] glühte sie so, daß man ihr vorwarf, sie sei ungeschickt und übermäßig geschminkt. Ihre Augen waren dunkel und glänzend, der Gesichtsausdruck aber nicht sehr geistvoll; Hände und Füße ließen auch etwas zu wünschen übrig, woher es denn auch wohl kam, daß es ihr schwer wurde, eine graziöse Stellung anzunehmen, und sie, obgleich wie gesagt ein sehr schönes Mädchen, doch nie in die ersten Reihen gestellt wurde.

Clara war von einer mittleren Größe und mit einer Zierlichkeit und Eleganz gewachsen, die Jedermann in Erstaunen setzte. Dabei hatte sie den kleinsten Fuß, die kleinste Hand, und ihre Taille, nicht unverhältnißmäßig schmal, stand zu dem langen und vollen Oberkörper in so richtigem Verhältniß, daß das schärfste Kennerauge in diesem Körper nur die vollkommenste Harmonie entdecken mußte. Auch Hals und Kopf paßten vortrefflich zu dem Ganzen; ihr Gesicht war lang, doch nicht schmal, die Farbe desselben etwas blaß; dabei hatte sie große Augen und zwischen frischen Lippen glänzend weiße Zähne. Ihr fast schwarzes Haar war wegen seiner Fülle der Kummer des Friseurs, denn Monsieur Fritz war, wie er sagte, nicht im Stande, irgend eine correcte Frisur damit herzustellen. Wenn wir dabei versichern, daß dieses Mädchen mit einer außerordentlichen natürlichen Grazie begabt war, daß keine ihrer Bewegungen etwas Eckiges hatte, daß ihr Körper und ihre Füße schmiegsam und biegsam wie bei keiner Anderen waren, daß sie den größten Pas mit Leichtigkeit lernte und nach dem ersten Jahr vor allen ihren Colleginnen während des Tanzes auffallend hervortrat, so wird man sich wundern, weßhalb sie bei dem Corps de Ballet blieb und nicht zur Solotänzerin ausgebildet wurde. Doch hatte das seine guten Gründe, und Clara, die, wie wir später sehen werden, fast schutzlos in der Welt stand, dagegen viel Schutz zu verleihen hatte, fand nicht die Zeit, täglich die langwierigen Exercitien zu machen, die nothwendig sind, wenn man es in der Tanzkunst zu Etwas bringen will. Dabei fürchtete sie sich auch [25] vor dem ersten Tänzer, der sich ihr anfänglich auffallend genähert hatte, dem sie aber mit ihrem richtigen Gefühl schaudernd auswich. Ueberhaupt konnte sie sich nie mit dem wilden Treiben vieler der anderen Tänzerinnen befreunden und nahm deßhalb eine isolirte Stellung ein, die häufig Veranlassung war, daß sie Spott und Neckereien aller Art ertragen mußte. Mamsell Marie war die Einzige, welche mit großer Anhänglichkeit an Clara hing, sie wahrhaft verehrte und fast unterthänig gegen sie war, wie gegen eine Gebieterin.

Die beiden Mädchen waren stillschweigend übereingekommen, Monsieur Fritz so wenig als möglich in Anspruch zu nehmen, und da sie sich schon seit längerer Zeit so gegenseitig bedienten und, namentlich Clara, eine große Fertigkeit erlangt hatten, so wurde es ihnen nicht schwer, sich gegenseitig die kunstvollsten und schwierigsten Frisuren zu machen. Dadurch waren sie meistens vor allen Uebrigen fertig, so auch heute, und als in allen Zimmern und vor allen Schränken noch große Bewegung herrschte, hatten sie ihre gewöhnlichen Kleider schon aufgeräumt und beschäftigten sich, völlig angezogen, mit etwas Anderem.

Diese Beschäftigung war aber sehr verschiedener Art: Clara hatte sich vor ihr Schränkchen gesetzt, das zweite Paketchen ihrer Näherei geöffnet und fing an zu arbeiten, während Marie an dem Fenster lehnte und mit gefalteten Händen in die dunkle Nacht hinaussah. Uebereinstimmend aber waren die Gesichtszüge beider Mädchen; auf beiden lag ein tiefer Schmerz und die etwas gerötheten Augen zeigten Spuren von häufigem Weinen. Clara hatte stark roth auftragen müssen, um die durchdringende Blässe ihres Gesichts zu bewältigen. Weßhalb die am Fenster geweint, haben wir bereits erfahren, und wenn wir einen Blick auf die Arbeit der Anderen werfen, sind wir auch hier über die Ursache des Schmerzes nicht mehr im Zweifel: Clara nähte an einem Kinderkleidchen und war eben im Begriff, dasselbe mit schwarzen Schleifen zu besetzen.

[26] In diesem Augenblick kam Mamsell Therese von ihrem Spiegel und trat mit erhobenem Kopfe vor die Beiden hin. »So, ihr seid schon fertig?« sagte sie. »Und Clara ist schon wieder am Arbeiten? – Was machst du denn da?«

»Mir ist heute Nacht meine kleine Schwester gestorben,« antwortete das Mädchen. Und als sie ihren Kopf aufhob, um die Tänzerin anzuschauen, standen ihre großen Augen voll Thränen.

»So, so,« entgegnete Therese mitleidig, »deine arme kleine Schwester ist gestorben? Ei, ich habe nichts davon gewußt. Und da machst du ihr das letzte Kleidchen?«

Clara nickte stillschweigend mit dem Kopfe.

»Wie alt war denn das Kind?«

»Sie war zwei Jahre – aber so lieb – so lieb –«

»Nun ihr ist wohl,« versetzte die Andere; »aber es thut mir leid für dich, du hast das Kind gewiß sehr gern gehabt.«

»Wie ihr eigenes,« sagte Marie am Fenster, und unter dem Dunkel des Vorhanges glänzten ihre feuchten Augen hervor.

Einige andere Tänzerinnen in der Nähe, namentlich die blonde Elise, welche ihrer Freundin gefolgt war, hatten diese Unterredung theilweise gehört und traten nun mitleidsvoll näher. Bald war Clara von allen Damen umringt, die sich im Zimmer befanden, und es war ein eigener Anblick, wie die vorhin noch so lachenden Gesichter der jungen lustigen Tänzerinnen auf das dürftige Todtenhemdchen niederschauten. Um dasselbe herum stand nun so plötzlich ein lautloser Kreis, glänzend in Spitzen, Atlas, Silberstoffen und falschen Brillanten. Dabei contrastirte die Stille hier im Zimmer auffallend mit dem Lärmen in den andern; dort wurde geplaudert, gelacht, auch wohl ein lustiges Lied gesungen und zwischen hinein blätterten die Castagnetten und hörte man hin und wieder das taktmäßige Auftreten der Füße, wenn die Eine oder die Andere irgend einen Pas versuchte.

»Aber warum nähst du schwarze Schleifen auf das Kleid?« [27] fragte nach einer längeren Pause Therese, indem sie sich niederbeugte und das Kleidchen mit der Hand berührte. »Man nimmt ja gewöhnlich Rosaband; auch sind die hier von Baumwollenzeug.«

Clara blickte in die Höhe und versuchte zu lächeln, aber es wollte ihr nicht recht gelingen. »Schwarz ist ja die Farbe der Trauer,« sagte sie, »und dann hatte ich diese Bänder schon; Roth ist so theuer.«

»Du hast sie von einem Kleid heruntergetrennt,« fuhr die Andere fort, nachdem sie genauer hingesehen. – »Ich will das nicht leiden.« Dabei richtete sie sich stolz in die Höhe. »Dein Schwesterchen soll nichts Schlechteres haben, als die anderen Kinder. – Allons!« wandte sie sich an die Andern, »sucht rothes Atlasband zusammen, aber eilt euch. – Wie viel Schleifen brauchst du ungefähr?«

»Laß nur gut sein, Therese,« bat Clara, »meine Liebe zu dem armen Kind ist nicht geringer, wenn ich auch schwarze Schleifen hinnähe.«

»Aber es muß einmal so sein,« entgegnete Therese eigensinnig, »du hast ja kaum mit deinem schwarzen Band angefangen. Macht, daß wir rothe Schleifen bekommen!«

Schon auf den ersten Ruf hin waren mehrere der Tänzerinnen zu ihren Schränken geeilt, und eine brachte das Verlangte herbei.

Therese durchschritt alle Zimmer und rief nach rothem Atlasband.

»Wozu?« fragten mehrere Stimmen. »Zu welchem Zweck?«

Und kaum hatte die Tänzerin erklärt, um was es sich handle, so wurden bereitwillig Schränke und Schachteln geöffnet und jede der glänzenden Nymphen, der strahlenden Göttinnen und edlen Ritterfräuleins beeilte sich, ihre rothe Schleife zu bringen, so daß Clara kaum mit dem Annähen fertig werden konnte.

Wie wohl that ihr übrigens diese Theilnahme und wie erfreut [28] war sie, als nun das Kleidchen fertig war und nicht mehr so düster in Schwarz und Weiß aussah, sondern freundlich und rosig, wie es für das liebliche Gesichtchen des verstorbenen Kindes paßte.

»Wann wird dein Schwesterchen begraben?« fragte die blonde Tänzerin, die jetzt in den Kreis trat, in ihrer Hand einen kleinen Kranz haltend von künstlichen Orangenblüthen, fast ihr einziges und bestes Eigenthum, das sie aber gerne hingab, um das Köpfchen der Verstorbenen damit zu zieren. »Wann wird es begraben?« wiederholte sie. »Denn es versteht sich von selbst, daß wir Alle mitgehen.«

»Natürlich,« sagte Therese, »da wird gewiß keine fehlen. Und an Blumen bringen wir mit, was wir auftreiben können; die jetzt gewachsenen und blühenden sind freilich theuer, aber es thut nichts, sollte es auch ein gemachter Strauß sein. Es hat die gleiche Wirkung, wenn es nur vom Herzen kommt.«

»Es soll mich freuen,« erwiderte Clara, »wenn ihr auf den Kirchhof kommen wollt; das Begräbniß ist übermorgen um zehn Uhr.«

»Verlaß' dich darauf, es fehlt keine,« versetzte Therese bestimmt. Und damit nahm sie das fertig gewordene Kleidchen in die Höhe und Alle betrachteten die wohlgelungene Arbeit.

In diesem Augenblicke ertönte eine Klingel dreimal und heftig; es war das Zeichen für die Tänzerinnen, auf die Bühne zu kommen, weßhalb die Schränke eilfertig zugeschlossen wurden. Jede trat noch einen Augenblick vor den Spiegel, streckte den Oberkörper so weit als möglich in die Höhe, zog den Tanzrock herab, betrachtete prüfend die Schuhe, ob nirgendwo ein Fehler zu entdecken sei, und darauf flatterte die leichte Schaar die Treppen hinab und rauschte auf die Bühne, wie ein anderes wildes Heer.

3. Kapitel
[29] Drittes Kapitel.
Sclavinnen.

Wie meistens vor einem größeren Ballet ein kleines Lustspiel gegeben wird, so auch am heutigen Abend. Es geschieht das, um den ersten Hunger des Publikums zu stillen, um den Zuspätkommenden genügende Zeit zu lassen, ihre Plätze einzunehmen, und um Alle, oftmals durch einige Langeweile, empfänglicher zu machen für den nun folgenden Spektakel, für Decorationen, Costüme, Tänzer und Tänzerinnen. Hiezu wird meistens ein harmloses Lustspiel gewählt, an dem man nicht viel verliert, wenn man auch erst in der Mitte desselben in's Theater kommt; es hat gewöhnlich eine einfache Decoration, damit man hinten genugsam Platz hat für die Zurüstungen, sowie eine Stelle, wo sich das Corps de Ballet aufhält und wo die Solotänzerinnen die verzweifeltsten Anstrengungen machen, damit ihre Glieder nachher im höchsten Glanze der Gelenkigkeit erscheinen.

Es ist heute Abend ein Ballet in vier Aufzügen, zwölf Tableaux, mit viel Tyrannei, viel Liebesschmerz und ungeheurem Gefühl. Eine Scene, wo viel des Letzteren vorkommt, muß als sehr schwierig noch probirt werden. Der Herzog, ein gutmüthiger Kerl, – so scheint er wenigstens im ersten Aufzug, obgleich der emporgewichste Schnurrbart und der lange drohende Knebelbart deutliche Vorzeichen sind, daß später einiges Zähneknirschen und Augenverdrehen stattfinden wird, – der Herzog also kommt, wie es in Balleten meistens der Fall ist, unglücklicher Weise in dem Augenblick zu seiner Braut, wo deren eigentlicher Liebhaber, der junge Ritter Astolfo, ebenfalls bei ihr ist. Das gibt eine furchtbare Scene; der Herzog bleibt wie angewurzelt stehen und gleitet [30] dann mit einem fürchterlichen Blick, fast ohne die Füße zu bewegen, bis auf die andere Seite der Bühne. Ritter Astolfo zieht sein Schwert; einige zwanzig Tänzerinnen, die Begleitung der Braut, schaudern im Chor, die Cavaliere des Herzogs schlagen ein Pantomimisches Hohngelächter auf, und die Braut reißt sich endlich aus ihrer Erstarrung in die Höhe, faßt ihren verzweifelnden Liebhaber an der Hand und tanzt vor den Augen des erstaunten Herzogs ein Pas de deux, worin sie ihm deutlich zu verstehen gibt, hier, Astolfo, sei ihr Jugendfreund und schon seit erster Kindheit von ihr geliebt worden, sie könne und werde ihn nie verlassen, sie scheere sich den Henker um den Herzog und sein ganzes Reich, und werde eher sterben, als ihm angehören.

Diese Scene wurde, wie gesagt, nochmals in der Geschwindigkeit durchgemacht, worauf der erste Tänzer in Abwesenheit des Balletmeisters das Corps de Ballet eine kleine Revue passiren ließ. Er schaute nach, ob die Frisuren übereinstimmend mit der Vorschrift waren, ob die Schuhe in gutem Zustande, ob die Tricots fest und sorgfältig angezogen seien. Die meisten der jungen Damen ließen sich diese Untersuchung lachend gefallen, namentlich wenn der Tänzer, ein hagerer junger Mann mit sehr lebhaften Augen, gerade nicht in's Detail einging. Andere, um geschwind fertig zu sein, drehten sich vor seinen Augen lachend mit einer Pirouette, um sich von allen Seiten zu präsentiren und machten darauf ein übermäßiges Battiment, um so Tricots und Schuhe im besten Glanz vorzuzeigen und sprangen dann in die Coulisse zurück. Einige der Tänzerinnen beantworteten die Aufforderung ihres Collegen, näher zu treten, mit einem unbeschreiblichen Blick, drehten ihm ganz einfach den Rücken oder ließen sich auch, die Hände auf den Hüften, nicht im Mindesten in ihrer Unterhaltung stören.

»Wo ist Mamsell Clara?« rief der Tänzer, nachdem er das Mädchen vergebens gesucht, obgleich sie nicht weit von ihm hinter einem gemalten Baume stand. – »Wo ist Demoiselle Clara?« [31] wiederholte er mit lauter Stimme. »Ich muß sie bitten, augenblicklich vorzutreten.«

Diesem zweiten Ruf mußte Folge geleistet werden, und das Mädchen trat, obgleich widerstrebend, aus die halbdunkle Bühne, in deren Mitte der lange Tänzer allein stand.

»Es ist doch sonderbar,« sagte er mit einem häßlichen Lächeln, »daß man Sie immer zweimal rufen muß. – Es wäre wahrhaftig für Ihr Fortkommen besser,« setzte er leise hinzu, »wenn Sie meinen Aufforderungen gleich auf das erste Mal Gehör gäben.«

»Was wollen Sie von mir?« fragte die Tänzerin mit unsicherer Stimme.

»O, für jetzt nicht viel,« entgegnete ihr College. »Sie tanzen in der vordersten Reihe, Sie tanzen zu sechs mit mir, ich möchte nach Ihrem Anzuge sehen; dann könnten wir auch geschwind die letzte Stellung probiren.«

»Mein Anzug ist in Ordnung,« versetzte das Mädchen, indem es einen Schritt zurücktrat.

»Ihre Schuhe nicht zu weit?«

»Ein wenig, aber ich habe sie eingenäht.«

»Ihre Tricots fest angezogen? Ich will keine Falten bemerken. – Lassen Sie sehen.«

Das Mädchen rührte sich nicht. Doch wenn es auf der Bühne nicht so dunkel gewesen wäre, hätte man deutlich bemerken können, wie selbst unter der Schminke eine glühende Röthe ihr Gesicht überfuhr.

»Seien Sie nicht kindisch,« sagte der Tänzer, »und lassen Sie sehen. Sie wissen, Clara, daß ich mit mir nicht spassen lasse und daß Sie auf eine Zulage nächsten Monat durchaus nicht zu rechnen haben, wenn ich Sie immerwährend wegen Ungehorsams und Widersetzlichkeit anzeigen muß. – Nun!«

Das arme Mädchen knitterte mit der rechten Hand ihren seidenen Tanzrock zu tausend Falten zusammen, dann erhob sie ihn ein paar Zoll hoch, so daß ihr Knie sichtbar wurde.

[32] Der Tänzer wollte sich genauer überzeugen, doch trat Demoiselle Clara abermals einen Schritt zurück.

»Sie sind ein kindisches Mädchen,« sprach der Vorgesetzte: »Sie werden noch viel lernen müssen oder Sie bringen es zu gar nichts. – Sind Sie nicht zu fest geschnürt?«

»Ich schnüre mich nie fest,« entgegnete Clara kurz abgebrochen und wollte sich entfernen.

Der erste Tänzer aber faßte ihren Arm und hielt sie fest. »Ich glaube,« sagte er mit leiser Stimme, »die Schneiderinnen behandeln Sie mit gar keiner Aufmerksamkeit; für Ihre unvergleichliche Taille findet sich gar nichts Passendes in der Garderobe; man müßte Ihnen eigentlich immer neue Sachen machen. Und wenn Sie wollen, Clara –«

Das Mädchen versuchte ihre Hand zwischen den feuchten Fingern des dürren Tänzers hervorzuziehen; es durchschauerte sie eisig. Doch hielt er sie fest.

»Es scheint mir,« fuhr er stockend fort, während er sich auf sie herabbeugte, »die Garderobière will Ihnen nicht wohl; sie gibt Ihnen immer alte zu stark wattirte Leibchen. – Ah! ich muß das untersuchen! – –«

Doch wurde dem diensteifrigen Collegen zum Glücke des jungen Mädchens für jetzt keine Zeit zu dieser Untersuchung gelassen, denn als er sie beginnen wollte, kamen aus der Seitencoulisse zwei der Tänzerinnen in einem so rasenden Walzer dahergeflogen, daß sie kein Hinderniß beachten konnten und mit solcher Gewalt gegen den ersten Tänzer anprallten, daß dieser weithin auf die Bühne flog und nur durch eine Säule, die er krampfhaft ergriff, vor einem gänzlichen Falle errettet wurde.

Clara, die hocherfreut aber erstaunt war, sich so plötzlich befreit zu sehen, fühlte sich von den beiden Colleginnen ergriffen und mußte den tollen Wirbel mitmachen, der in einem weiten Bogen über die Bühne ging und nicht eher endigte, bis alle Drei wieder [33] hinter den Coulissen angekommen waren. Dort hielt die Eine, die Kräftigste von Allen, – es war Demoiselle Therese, – das Terzett mit einem plötzlichen Rucke fest, löste ihre Arme aus denen der beiden Anderen und ließ sich laut lachend auf eine gepolsterte Rasenbank niederfallen. Clara schöpfte einen Augenblick tief Athem, dann sagte sie: »Wie danke ich dir, Therese; du hast mir da aus einer sehr unangenehmen und schmerzlichen Scene weggeholfen.«

»Die aber morgen wiederkehren wird, mein Schatz,« lachte die Andere.

»O mein Gott, ich weiß das; aber was kann ich dagegen thun? Ich, ohne Schutz, hülflos und allein dastehend!«

»Dagegen kannst du zweierlei thun,« entgegnete Demoiselle Therese, indem sie ihren rechten Fuß auf das linke Knie hinaufzog, um ihren Schuh anzusehen, ob er bei dem raschen Walzer keinen Schaden genommen. »Wie ich gesagt habe, zweierlei, entweder du läßt dir die Narrheiten gefallen, du läßt dem lächerlichen Kerl seine Grille –«

»Nie! nie!« rief Clara entrüstet.

»Nun wohl,« sagte gleichmüthig die Andere, so schaffst du dir einen Liebhaber an, der unserm ersten und zweiten Tänzer und allen Denen, die das Recht zu haben glauben, deine Taille untersuchen zu dürfen, an einem schönen Morgen zwei Worte sagt, ungefähr des Inhalts: »Mein lieber Freund! Wenn Sie sich nochmals unterstehen, der Demoiselle Clara mit der Spitze Ihres Fingers zu nahe zu kommen, so mache ich mir dagegen das Privatvergnügen, Sie dreimal nacheinander auszischen zu lassen.«

»Oder,« setzte die blonde Tänzerin, welche die Dritte im Bunde gewesen war, hinzu, »dein Liebhaber macht sich das Vergnügen, Abends in einer dunklen Straße dem ersten Tänzer oder sonst Jemand ein paar freundliche Worte zu sagen.«

»Darnach der Liebhaber ist,« antwortete Therese mit etwas [34] verächtlichem Tone, »kann das auch geschehen; doch ist es nicht sehr nobel.«

»Aber ich will keinen Liebhaber,« versetzte schüchtern das junge Mädchen, dem diese Rathschläge gegeben wurden. »O mein Gott, ich bin eine Tänzerin, das ist wahr, aber ich habe mich doch zu sonst nichts verkauft.«

»Aber verkauft hast du dich,« entgegnete Demoiselle Therese, und umspannte mit ihren beiden Händen ihre schlanke Taille. »Verkauft haben wir uns Alle mit Leib und Seele.«

»Das wäre ja schrecklich!« meinte die blonde Tänzerin. »Nein, Therese, du übertreibst; ich habe mich nicht verkauft.«

»Du hast dich nicht verkauft?« fragte Therese hochmüthig, indem sie sich stolz aufrichtete und ihre blitzenden Augen so fest auf die Collegin richtete, daß diese die ihrigen scheu zu Boden niederschlug. »Wir sind hier unter uns, und ich für meine Person will mich wahrhaftig nicht besser machen als ich bin. Erinnerst du dich noch – es sind jetzt drei Jahre, wir Beide waren damals Sechszehn alt – weißt du noch, Schatz, wie man dir eine Zulage versprochen und wie dich der Balletmeister da hinten in's blaue Zimmer bestellte, in das blaue Zimmer mit dem gelben Sopha? – Ja, mein Kind, du bekamst eine Zulage, das heißt, du erhieltest sie später, aber – sprechen wir nicht mehr davon. – Hat man dir noch keine Zulage versprochen, meine schöne Clara?«

»Nein, nein,« entgegnete diese finster, »wenn man mir sie auch verspricht, so gehe ich doch nicht in's blaue Zimmer.«

»Das wird man dir schon sagen, mein Lieb,« erwiderte finster lachend Therese. »Man bestellt dich und du kommst. Damit ist die Sache abgemacht.«

»Ich bin keine Sclavin,« versetzte stolz die junge Tänzerin. Und dabei warf sie ihre Lippen auf und ihr Auge blitzte.

Therese lächelte still vor sich hin, dann blickte sie in die Höhe zu einem gemalten Palmbaume, der seine riesige Blätterkrone über [35] die drei Mädchen ausstreckte und sagte: »wir stehen gerade unter dem rechten Symbol; du meinst, wir seien keine Sclavinnen, das heißt Sclavinnen, was die Leute so darunter verstehen. Sclavinnen, die in jenen Ländern wohnen unter einem freundlich lachenden und sonnigen Himmel, von Blumen umgeben und schönen Früchten, die nicht Kälte und Hunger kennen. Nein, du hast Recht, solche Sclavinnen sind wir nicht. – Aber unsere Sclaverei ist viel härter, viel dauernder, viel grausamer. Diejenigen, welche mit einem dunkeln Gesichte auf die Welt kommen, wissen ganz genau, daß einmal eine Abstufung zwischen ihnen und ihren weißen Schwestern besteht; warum hat Gott die beiden Racen geschaffen? Er hat wohl seine Gründe dazu gehabt. Aber wir, Sclavinnen durch Geburt und Verhältnisse, obgleich unser Gesicht nicht eine Idee dunkler ist, als das der Anderen, die mit Verachtung auf uns herabschauen – übrigens bin ich mit meinem Gesichte wohl zufrieden, – wir haben das volle Recht, unseren Zustand bitterer zu empfinden, als jene Anderen. Und welch Herzeleid thut man ihnen, das uns nicht doppelt geschieht?«

»Weil wir Tänzerinnen sind,« seufzte Clara mit gefalteten Händen.

»Nicht blos weil wir Tänzerinnen sind,« fuhr die Andere fort. Und bei jedem Worte, das sie sprach, blitzten ihre weißen Zähne. »Seht unter all' euren Bekannten nach der ganzen Classe, der wir angehören, alle wir, die wir keine Schuld daran haben, daß wir nicht vornehm geboren wurden, wir alle sind Sclavinnen und haben ein härteres Loos als Jene, die wirklich so heißen.«

»Da ist ein neues Buch geschrieben worden,« sagte Clara; »habt Ihr davon gelesen? Mein Vater übersetzt es zu Hause für einen Buchhändler und ich lese die Correcturbogen.«

»Freilich habe ich es gelesen,« erwiderte die andere Tänzerin. »Und die Absicht der Verfasserin ist gewiß lobenswerth; aber lächerlich ist es, wie man bei uns dafür schwärmt, wie man sich an [36] fremdem, vielfach eingebildetem und übertriebenem Elend wollüstig erlabt, während man dicht vor der Nase dasselbe in noch viel größerem Maßstabe hat.«

»Therese spricht wie ein Buch,« versetzte die Blondine. »Aber es ist begreiflich und ich beneide dich wahrhaftig um deine Sucht, Alles zu lesen und dich über Alles belehren zu lassen.«

»Das kommt daher,« bemerkte Therese mit ruhigem Tone, »weil ich nur mit gebildeten Leuten umgehe und vielen Sinn für alles Schöne und Gute habe. An mir ist mindestens eine ganze Gräfin verloren gegangen.«

»Man sagt sogar, du seiest eine halbe Prinzessin,« meinte lachend die blonde Tänzerin.

Therese zuckte mit den Achseln, dann fuhr sie fort: »und seht nur die Meisten von Denen an, welche für die Leiden jener unglücklichen Geschöpfe scheinbar so warm fühlen und Alles thun zur Verbreitung des Buches, um der Welt zu sagen, wie schrecklich es in jenen fernen Ländern zugehe, wie es so christlich und nothwendig sei, jenen Leuten ein paar stille Thränen zu weihen, seht sie euch doch an! ich kenne ein Paar, die nach der Sclaverei so viele tausend Meilen von sich ausschauen und die zu Hause darüber stolpern; die das Elend jener unglücklichen Menschen täglich und stündlich beklagen, und die in ihrem Hauswesen und für ihre Mitmenschen selbst die scheußlichsten Sclavenhändler sind. – Ah! ich rede mich in eine wahre Wuth hinein.«

»Und du übertreibst,« sagte Elise.

»Worin übertreibe ich? Bist du nicht verkauft – bin ich nicht verkauft, sind es nicht all die tausend armen Mädchen, die für ihr tägliches Brod arbeiten? Vorausgesetzt, daß sie hübsch sind. – Und an wen sind sie verkauft? Vielleicht wie jene Schwarzen an einen Herrn, der sein Interesse dabei hat, sie gut zu behandeln, damit er sie erhält? – Nein! tausendmal nein! Was kümmert sich Dieser oder Jener bei uns um ein armes Mädchen, das ihm [37] heute gefallen? Er läßt sie durch die Finger gleiten, läßt sie so tief sinken als ihm beliebt; er fragt nicht, ob sie Hunger und Kälte ausstehen muß, und wenn er ihr nach Jahren begegnet, dem Mädchen, jetzt abgehärmt und elend, das er früher jung und schön in seine Arme gedrückt, so zuckt er verächtlich die Achseln oder er lacht über sie.«

»Aber man kann mein Kind nicht wie dort verkaufen,« sprach nachsinnend die blonde Tänzerin.

»Leider! leider!« rief heftig die Andere. »Wo könnte man die armen Dinger verkaufen, daß sie in Hände kämen, die sie ordentlich nährten und verpflegten, statt daß Tausende bei ihren Müttern in Kummer und Elend zu Grunde gehen! Und wozu soll Manche ihr Kind erziehen? Zu dem Geschäft, das sie selbst treibt? – Ah! das muß ich sagen, da sieht sie ein glückliches Loos vor Augen und blickt in eine schöne Zukunft, wenn sie ihrem armen kleinen Kinde den rothen Mund küßt!«

»Ja, es ist für Manche besser, wenn sie sterben,« sagte Clara mit leisem, traurigem Tone.

»Aber wir leben,« erwiderte Therese, dies energische und schöne Mädchen. »Und ich meines Theils will Allem trotzig die Stirn bieten, was über mich hereinbrechen will. – Denen da draußen,« – damit streckte sie ihre rechte Hand gegen das Publikum aus, das man lachen und applaudiren hörte, – »denen habe ich einen ewigen Krieg geschworen, und ich führe ihn auf meine eigene Art. Es sollte mich wahrhaftig gar nicht wundern, wenn ich nicht für meine vielen glücklichen Siege noch einmal General würde.« Damit warf sie den Kopf stolz in den Nacken und verschwand in dem Dunkel der Coulissen.

Clara blieb noch einen Augenblick nachsinnend stehen, dann sagte sie still für sich: »Sie hat nicht ganz Unrecht. Habe ich doch gestern in dem Buche gelesen, daß die Sclavinnen, ehe man sie verkauft, wie eine Waare untersucht werden. – Ah! etwas Aehnliches [38] schien der da hinten auf der Bühne auch mit mir vorzuhaben. – Und er wird in seinen Versuchen nicht ablassen. – Fürchterlich! Fürchterlich!« seufzte das junge Mädchen, und ein tiefer Schauder durchbebte ihren Körper.

4. Kapitel
Viertes Kapitel.
Ein Loch im Vorhange.

Das kleine Lustspiel war zu Ende, der Vorhang sank herab, und das Publikum, nachdem es einigen wenigen Applaus gespendet, lehnte sich bequem auf seine Sitze, lachte, scherzte, sprach rechts und links, mit dem Hinter- und dem Vordermann; und so entstand ein artiges kleines Summen in dem weiten Hause. Dazwischen hörte man Logenthüren auf- und zuschlagen, Sperrsitze niederklappen, kurz das Geräusch der Eintretenden, welche das ihnen langweilige Lustspiel vorbeigehen ließen, um sich jetzt mit frischem Sinn an dem Ballet zu ergötzen. Im Parterre unterhielt man sich von den Schönheiten und den Mängeln des eben vorübergegangenen Stückchens, man sprach von dem neuen Ballet, namentlich aber von der Besetzung desselben, die nun natürlicher Weise, wie immer von diesen Kunstrichtern etwas zu wünschen übrig ließ. Da hätte der diese Rolle übernehmen müssen, und jene Tänzerin die Rolle der Anderen. Von den Dekorationen versprach man sich ohnehin nicht viel; und was die Maschinerie anbelangt, was war da von einem Maschinisten zu erwarten, dem jeden Augenblick die Flugwerke in der Luft hängen blieben, bei dem die Vorhänge auf halbem Wege nachdenkend wurden, und nicht herab wollten, und durch dessen Schuld die Leute, die nicht versinken sollten, versanken, [39] dagegen Geister, Gespenster und Hexen, die unter die Erde gehörten, hartnäckig und trotz alles Stampfens auf der Oberfläche blieben! –

Auf der Scene bewegte sich ein noch regeres Leben durcheinander. Die Dekorationen des Lustspiels waren weggeräumt; das Theater stellte einen großen Festsaal vor mit weißen und vergoldeten Säulen; Kronleuchter wurden herabgelassen und angezündet; die Tänzerinnen des Balletcorps schwärmten ab und zu und hielten sich viel in der Nähe des Vorhanges auf, wo an den beiden Löchern, durch welche man auf das Publikum schauen kann, immer wenigstens ein halbes Dutzend stand, die sehnlich auf eine Ablösung harrten, um nach irgend Jemand sehen zu können.

Geneigter Leser, wenn du dich im Theater befindest und der Vorhang niedergefallen ist, so erscheint dir an demselben alles so einfach und unschuldig. Der langweilige rothe oder blaue Faltenwurf, die Masken oder Köpfe, die darauf gemalt sind, das Alles kommt dir außerordentlich harmlos vor; für dich ist die Hauptgardine nichts weiteres als ein Vorhang, der das Publikum von der Bühne vollkommen scheidet. Du bemerkst keine Bewegung an demselben, durchaus nichts Auffallendes, wenn du nämlich kein Eingeweihter bist. Wir sehen das Ding schon mit ganz anderen Augen an, heften unseren Blick fest auf den großen Vorhang und sehen, daß derselbe in Zeichen spricht wie der beste Telegraph. In jeder anständigen Gardine befinden sich wie gesagt zwei Löcher mit einigen schwarzen Flecken umgeben, die von Weitem einem Gesichte nicht unähnlich sind, wie man sie denn auch fast den Abdruck eines Gesichts nennen könnte, denn die dicken pomadisirten Augbrauen, die sich beständig dagegen drücken, dunkeln nach und nach durch, ebenso die Schnurr- und Kinnbärte, und treten so allmählig an der anderen Seite hervor. Durch diese beiden Löcher nun wird eine fortwährende und umständliche Conversation mit Diesem oder Jenem aus dem Publikum unterhalten; natürlich hat jeder seine Zeichen, die er versteht. Eine neue Person, die hinter den Vorhang an [40] jene Stelle tritt, ist dadurch bemerkbar, daß sich derselbe sanft bewegt, was so viel heißt, als: gebt Achtung! Nun wird ein Finger durchgesteckt, mit oder ohne Handschuh, denn das hat Beides seine Bedeutung: der Finger bewegt sich nach rechts, nach links, nach oben oder nach unten, vier neue Zeichen, die wichtige Dinge telegraphiren. Der Finger bewegt sich auf und ab und erzählt so eine ganze Geschichte; der Finger verschwindet mehrere Male und kommt mehrere Male wieder, und erklärt damit, wenn und was nach dem Theater geschehen könnte. Oft erscheint die Oeffnung schwarz, dann wird sie plötzlich weiß; man hält ein Sacktuch daran, ein Zeichen von außerordentlicher Bedeutung. Spricht das Loch im Vorhang nicht, so spricht sie selbst, die sonst so langweilige Gardine; man bemerkt an irgend einer Stelle, wie sie ein Finger berührt, der sich längs eines Theils der Bühne fortbewegt, oder hinter der Leinwand allerlei Figuren macht; man entdeckt ein paar Füßchen, die den Versuch machen, sich unter der Bordure einzubohren; man sieht endlich, wie der Vorhang an den beiden Seiten zuweilen, anscheinend ohne alle Absicht, eine kleine Bewegung macht. Alles das hat seinen Grund, lieber Leser und wenn du dir einmal zufällig die Mühe geben willst, diese Zeichen und damit die strahlenden Blicke deiner Nachbarn und Nachbarinnen, sowie auch andere Zeichen zu beobachten, welche diese gegen den Vorhang machen, so hast du im Zwischenakt viel Vergnügen und du amusirst dich während desselben oft weit besser als in manchen langweiligen Stücken.

Die Solotänzerinnen sind jetzt auch auf der Bühne erschienen. Doch ist es im gegenwärtigen Augenblicke nicht der Mühe werth, viel von ihnen zu sagen. Sie dienen dem Theater schon seit einer ziemlichen Reihe von Jahren und sind dadurch wohl größere Künstlerinnen, aber weder jünger noch hübscher geworden. Es ist das fast bei jedem Theater anders: dort ist das Balletcorps verbraucht und unansehnlich und die Solotänzerinnen jung und frisch, [41] anderswo umgekehrt. Und gerade so war es auch hier der Fall. Dafür ergab sich aber für die jungen hübschen Mädchen vom Chor auch nicht die geringste Aussicht, einen Solotanz zu erhalten; die alte Garde hielt hartnäckig an ihrem Privilegium und nahm keine jungen Rekruten in ihre Reihen auf.

Das Ballet begann wie immer mit einer langen Ouverture; endlich flog der Vorhang empor, das Publikum beklatschte den Glanz und die Pracht der Dekoration, und die Geschichte nahm mit einem strahlenden Ballfeste ihren Anfang. Die Musik erklang lustig und herausfordernd, Tänzer und Tänzerinnen wogten lebhaft durcheinander, jetzt in scheinbarer Unordnung, aus welcher sich aber die schönsten Figuren entwickelten. Die ganze Bühne war angefüllt mit buntfarbenen seidenen Gewändern, mit Gold- und Silberstickerei, mit fliegenden Schärpen, blitzenden Brillanten und wallenden Federn. Vollkommen geblendet war das Auge der Zuschauer und kam erst wieder zur Ruhe nach der ersten Scene, nachdem das Balletcorps auf allen Seiten verschwunden war, nachdem die Klingel ertönt, die Dekorationen gewechselt und das Theater einen Garten bei Mondscheinbeleuchtung darstellte, wo er und sie sich fanden und verstanden.

Nach so einem großen anstrengenden Tanze kommen die armen Tänzerinnen gewöhnlich in einer Verfassung hinter den Coulissen an, welche Aehnlichkeit mit der von jungen Rennpferden hat, welche trainirt werden. Die Stärksten und Ausdauerndsten unter ihnen tanzen von der Bühne ab, um hinter derselben schwer athmend stehen zu bleiben; Andere erreichen zur Noth wohl eine Bank oder einen Stuhl, wo sie sich niederlassen können. Die Schwachen und Unbehülflichen haben aber nicht sobald die schützende Coulisse erreicht, als sie krampfhaft irgend einen Pfahl oder eine Latte fassen, die Hand an das Herz pressen, die Stirne irgendwo anstützen und in Schweiß gebadet allmählig und keuchend ihren Athem an sich ziehen. Alle aber sind erschöpft, und wenn Manche sogar in diesem [42] Augenblicke lachen und plaudern, so geschieht es doch mit großer Anstrengung und mit auf- und abwogender Brust. Dabei wird aber der Anzug und die Frisur nicht außer Acht gelassen und die Eine beschäftigt sich mit der Anderen, hier eine Locke wieder aufzustecken, dort eine Schleife zu befestigen, oder einen Schleier, der sich gelöst hat, wieder anzubinden.

»Das muß ich schon sagen,« meinte Demoiselle Therese, eine der Ersten, die wieder vollständig zu Athem kam. »Der Kapellmeister ist heute wieder einmal ganz von Sinnen. Hat man je ein so rasendes Tempo gesehen? Mir ward mein Leibchen zu eng, und das will doch viel sagen«. – »Armer Schatz,« wandte sie sich an eine schmächtige Collegin, welche, die heiße Stirne an einen Balken gedrückt, vergeblich darauf zu warten schien, daß sich ihr Herzschlag beruhige, »dich habe ich noch zu guter Zeit aufrecht erhalten; ich werd's aber dem da drunten stecken, wenn er im Zwischenakt heraufkommt. – – Fühlst du dich unwohl?« wandte sie sich abermals an die erschöpfte Collegin.

Diese schüttelte mit dem Kopfe und versetzte nach einer längeren Pause: »unwohl gerade nicht, aber es hat mich furchtbar angegriffen; wenn du mich nicht aufrecht gehalten hättest, so wäre ich am Soufleurkasten niedergestürzt. Ich danke dir, Therese.«

»Keine Ursache,« entgegnete diese, »aber ich will dir was sagen: du bist zu fest geschnürt, laß dich ein Bischen loser machen.«

»Ich kann nicht,« sagte die Andere mit leiser Stimme, »mein Kleid ist mir so eng genug; ich würde mich gerne krank melden, aber wenn ich das jetzt schon thue, so muß ich fürchten, entlassen zu werden, und wovon soll ich alsdann leben?«

Demoiselle Therese zuckte die Achseln und wandte sich hinweg. »Armes Geschöpf!« murmelte sie zwischen den Zähnen. Dann winkte sie jener Tänzerin, die sich in der Garderobe neben Clara angezogen, und die mit verweinten Augen in der Fensternische gestanden. [43] Die Beiden gingen etwas abseits und stellten sich hinter eine Felspartie, die im dritten Akte vorkommen sollte.

»Du hast mir etwas mitzutheilen,« sprach Demoiselle Therese hier zu ihrer Collegin. »Elise hat es mir gesagt.«

»Es ist mir recht lieb, daß ich mit dir sprechen darf,« antwortete die andere Tänzerin. – »Aber haben wir auch Zeit?«

»Ueber eine Viertelstunde; die langweilige Gartenscene dauert Wenigstens zehn Minuten, dann kommt der Chor der Ritter und Burgfräulein, bei dem wir ja nichts zu thun haben. – Nun, fängt deine Tante endlich an, dich zu plagen?«

Das junge Mädchen nickte mit dem Kopfe und sah einen Augenblick stumm vor sich nieder. Dann sagte sie: »du kennst meine Tante?«

»Leider kenne ich sie. Der Teufel soll sie holen! – Aber weiter; ich habe immer geglaubt, du erfahrest nichts von ihrem heimlichen Geschäfte.«

»Lange erfuhr ich auch nichts davon,« versetzte Marie. »Gott! wenn man sechszehn Jahre alt ist, hat man ja keine bösen Gedanken. Und dann habe ich im Hause auch nie was Schlimmeres bemerkt; wir leben wie die ruhigsten Bürgersleute.«

»Ja, ja, das glaube ich wohl,« lachte Therese. »Madame vermittelt blos. – Nun, und endlich?«

»Was soll ich sagen, endlich? Schon seit mehreren Wochen spricht sie von der schweren Zeit, von dem wenigen Verdienst, den ich habe; meine Wäsche allein koste mehr, sagte sie, und daß es auf längere Zeit nicht so gehen könne. – – Warum ich mir keinen Geliebten anschaffe? meinte sie neulich.«

»Ah! zu einem Geliebten wird sie schon Einen in Aussicht haben. Tritt dir Jemand häufig in den Weg, auf den du Verdacht hast, oder kommt irgend wer in's Haus, dem sie dich verkaufen will?«

»Nein, nein,« sagte das junge Mädchen, »in meine Nähe kommt Niemand. Und doch hat sie Jemand in Aussicht für mich.«

[44] »Also ein kalter Handel!« sprach verächtlich die schöne Tänzerin. »Pfui Teufel! das ist sehr unangenehm.«

»Nicht wahr, es ist schrecklich, Therese? O gib mir einen Rath! Ich habe ja Niemand auf der Welt, dem ich mich anvertrauen könnte, Niemand, der mir die geringste Hülfe leiht, wenn ich mich weigere.«

»Es ist eine vollkommene Niederträchtigkeit,« entgegnete Demoiselle Therese nachdenkend. »Aber wenn du nichts Näheres weißt, so ist dir schwer zu helfen. – Wer ist's denn? Hat man dir keinen Namen genannt?«

»Den Namen kann ich dir nicht sagen, aber er kam einmal in unser Haus und zufällig war ich im Nebenzimmer und habe an der Thüre gehorcht. Da hat sie freilich gesagt, sie wolle mich nicht zwingen, aber es wäre ihr recht, wenn sie sich so aus der Verlegenheit reißen könne.«

»Du hast ihn also gesehen?«

»Ja!«

»Und kennst du ihn nicht?«

»Nein.«

»Ist es ein junger Mann?«

»So ziemlich; in die Dreißig.«

»Aber liebes Kind,« versetzte halb ärgerlich Therese, »wenn du mir keine genaueren Kennzeichen anzugeben im Stande bist, so kann ich dir keinen Rath ertheilen. Ich muß vor allen Dingen wissen, um wen es sich handelt; ich muß den Feind kennen, wenn wir den Krieg beginnen wollen. Erkundige dich also, wenn du kannst, nach seinem Namen.«

»Vielleicht kennst du ihn.«

»Wohl möglich, wenn ich ihn sehe.«

»Ich will ihn dir zeigen.«

»So ist er also im Theater?«

»Ja, ich habe ihn gesehen.«

[45] »Ah! das ist etwas Anderes,« erwiderte die Tänzerin lachend. »Dann wollen wir ihn im Zwischenakt beobachten, und wenn ich ihn kenne, will ich dir aufrichtig sagen, ob da viel oder wenig zu befürchten ist.«

Hiemit hatte die Unterredung ein Ende, denn der Inspicient rief in diesem Augenblicke: »Meine Damen, das dritte Tableaux beginnt!« Die Klingel ertönte; die Dekoration wechselte abermals; das Theater stellte einen weiten Park vor, die beiden unvorsichtig Liebenden freuen sich ihres Lebens inmitten des ebenfalls lustigen Hofstaates, da erscheint plötzlich der Herzog, begleitet von Fackelträgern und jetzt erfolgt die Scene, wie wir sie schon oben beschrieben. Fürchterlich schön war der Herzog anzusehen, und als er so über die Bühne dahinglitt, angefüllt mit Wuth und Rachedurst, die Fäuste geballt, den Bart ordentlich emporgesträubt, da wurde ihm ein unendlicher Applaus zu Theil. Die unglückliche Braut sinkt nach ihrem großen Pas de deux in Ohnmacht, der ganze Chor macht übermäßige Anstrengungen, Entsetzen, Schrecken, sowie alle möglichen Leidenschaften auszudrücken, und – der Vorhang fällt.

Es war ein Glück, daß die Solotänzer und Tänzerinnen sich im Zwischenakte umziehen mußten, denn sonst wäre an dem Vorhang nicht so bald eine Oeffnung frei geworden. Auch ohnedies mußte Demoiselle Therese ihr ganzes nicht geringes Ansehen aufwenden, um ein halbes Dutzend verschiedenartiger Gespenster und junger Teufel, die im letzten Akt vorkommen, zu verscheuchen, bis sie endlich an der Gardine einen Platz erobern konnte. Dann stellte sie ihre Collegin vor sich hin und sagte: »jetzt schau durch und sage mir, wo er sitzt.«

Die andere Tänzerin legte ihr Auge eine kleine Weile an die Oeffnung, dann trat sie zurück und bat Therese, hinauszuschauen und mit dem Blick ihren Erklärungen zu folgen. »Du siehst,« sagte sie, »die königliche Mittelloge, von der zähle rechts vier Säulen. – Hast du?«

[46] »Allerdings,« entgegnete Therese, »doch ich sehe da Niemand als den alten General von L.«

»Ja, aus dem ersten Rang,« erwiderte die Andre eifrig. »Ich meine aber den zweiten Rang.«

»Ah! du meinst den zweiten Rang!« versetzte Demoiselle Therese in gedehntem Tone. »Das wird sich kaum der Mühe verlohnen. – Nun, wir wollen nochmals zählen. Die erste, zweite, dritte, vierte Säule – halt!«

Hierauf schaute sie einen Augenblick aufmerksam hinaus, dann fuhr sie heftig zurück und rief aus: »ah! Marie! du mußt dich irren; der Herr in der dritten Loge kann's doch nicht sein! Oder ist der, den du meinst, vielleicht grade weggegangen; sieh noch einmal hin.«

Die jüngere Tänzerin sah nach dieser Aufforderung über die Achsel ihrer Freundin, dann, sagte sie ruhig: »nein, er sitzt noch da; sieh, er scheint sich zu langweilen, er legt den Kopf in die Hand.«

»Ganz richtig. Und du irrst dich nicht?«

»Wie sollte ich mich irren! Ich habe ihn vorhin ganz deutlich gesehen und gleich erkannt. – Du weißt also, wer er ist? Und die Dame, die neben ihm sitzt?« –

»Die Dame, die neben ihm sitzt, ist seine Frau. – Schöne Geschichten!«

»Das wäre schrecklich!« rief das junge Mädchen aus. »Was ist da zu thun, Therese? O deute nach; du mußt mir helfen!«

Diese blickte, ohne eine Antwort zu geben, noch eine Zeit lang in das erleuchtete Haus, dann trat sie einen Schritt zurück und auf ihrem schönen Gesichte zeigte sich ein finstres Lächeln. Sie preßte die Lippen zusammen, stemmte die rechte Hand in die Hüfte und fuhr mit der Linken über die Stirne, während sie eifrig nachzudenken schien. – »Ja ja, es wird gehen,« sagte sie nach einer längeren Pause. »Warte, Heuchler!«

»Du kennst ihn also?« fragte Marie.

[47] »O ja, ich kenne ihn, obgleich ich ihn nie gesprochen. Das ist einer von den scheinheiligen Bösewichtern, welche die Achsel zucken, wenn man nur vom Ballet spricht; mit dem Haus habe ich überhaupt eine Geschichte abzumachen. Du weißt, meine Schwester ist eine Nätherin; sie suchte die Kundschaft dieses Hauses nach; Madame war nicht abgeneigt dazu, und meine Schwester glaubte schon so glücklich zu sein, dort hie und da etwas verdienen zu können. Der Herr aber meinte, eine Arbeiterin von unbescholtener Familie wäre ihm lieber. – Von unbescholtener Familie!« setzte die Tänzerin hinzu und biß ihre Zähne übereinander. »Das war vor vier Jahren, und die Aeußerung ging allein auf mich, und war ich doch damals so unbescholten wie nur eines der jungen Mädchen auf allen Gallerien; aber ich war eine Tänzerin und somit ein verlorenes, bescholtenes Geschöpf. – Doch wir wollen uns revanchiren!«

»Was soll ich aber thun?«

»Vorderhand sollst du nichts thun, und mir nur genau berichten, wie die Angelegenheit steht,« antwortete Therese. »Aha!« fuhr sie spöttisch lachend fort und machte einen tiefen Knix gegen den Vorhang, »man will sich mit dem Ballete einlassen – gut denn! ich erkläre dir da oben den Krieg; du sollst einen heftigen Kampf haben und keine Schonung.«

5. Kapitel
Fünftes Kapitel.
Clara.

Wie alles in dieser Welt ging auch das Ballet zu Ende; der Liebhaber der Braut wurde auf die eine oder andere Art tanzgemäß [48] weggeschafft, der Herzog verzieh, und im letzten Akt fand eine ungeheuer glänzende Vermählung statt, wozu der magere Tänzer mit der ersten Tänzerin einen Pas de deux nach allen Regeln der Kunst tanzte. Eines bemühte sich, seinen Körper noch unschöner zu verdrehen als das Andere, und beide zusammen strebten darnach, dem Publikum zu beweisen, zu welch erstaunlich unzweckmäßigen Wendungen und fürchterlichen Verzerrungen man die menschlichen Glieder mit Kunst und Ausdauer zu bringen im Stande sei. Namentlich der magere Tänzer setzte Alles in Erstaunen, und man hätte darauf schwören mögen, er habe im Rücken ein besonderes Gelenk und seine Kniee können sich wie bei einem Nürnberger hölzernen Collegen einwärts und auswärts biegen. Dabei überboten sich beide in übermäßigen Pirouetten und wahnsinnigen Sprüngen. Schnellte die Tänzerin bei einer sanften Melodie einen Schuh vom Boden empor, so brachte es der Tänzer mit Pauken, Trompeten, mit Tschambidibam und Bumbidibum, mindestens auf zwei und einen halben. Und hiebei nicht genug, daß er mit Gottes Hülfe wieder auf seine Füße niederfiel: er machte auch während des Herabfallens die schauerlichsten Versuche, schief gegen den Fußboden zu kommen, was vielleicht außerordentlich schwierig, jedenfalls aber sehr häßlich war. Dazu spielte die Musik immer toller, Tänzer und Tänzerin lachten immer krampfhafter gegen einander und gegen das Publikum; zuletzt hatte die ganze Geschichte etwas Hexenartiges und man konnte der Befürchtung nicht los werden, es sei für die Beiden da oben hier auf Erden Alles vorbei, irgend ein gespenstiger Wirbelwind führe sie fort in unabsehbare Weiten nach öden, unendlichen Haiden, und dort müßten sie sich ohne Publikum fort drehen, immer fort bei Sonnenschein und Mondeslicht; oder plötzlich säßen sie à cheval auf ein paar tüchtigen Besenstielen und führen rechts und links in die Luft auf. Doch ehe es zu diesem fürchterlichen Ende kam, fiel glücklicher Weise der Vorhang, das: Publikum applaudirte und verließ alsdann stürmisch das Theater.

[49] Auf der Bühne wurden die Lampen ausgelöscht und schon nach einer Viertelstunde lagen die vorhin noch so erhellten und belebten Räume in nächtlichem Dunkel und tiefem Schweigen da. Wenn einer der alten Zimmerleute, der über die Bühne hinweg und nach Hause ging, zufällig hustete, so schallte es gerade in dem weiten leeren Hause, als habe oben auf der vierten Gallerie eine sehr bekannte Stimme ebenfalls gehustet.

Die Garderoben allein waren noch voll Leben, Licht und Bewegung. Letztere aber hatte nichts mehr von der ruhigen Emsigkeit des Anziehens; man sah keine Tänzerinnen mehr behaglich vor dem Spiegel stehen, wie zu Anfang des Stückes; jede beeilte sich mit dem Ausziehen, streifte Leibchen und Röcke herunter so rasch wie möglich und schlüpfte in ihre gewöhnlichen Kleider. Die Tricots auszuziehen, hätte für jetzt viel zu viel Zeit in Anspruch genommen, weßhalb die meisten sie anbehielten, Strümpfe und Schuhe darüber zogen und durch diese kleinen Kunstgriffe in einer unglaublich geschwinden Zeit zum Nachhausefahren bereit standen.

Schwindelmann erschien an der Thüre und die, welche zuerst fertig waren, wurden auch zuerst nach Hause geführt; daher auch der Wetteifer, mit welchem das Auskleiden vor sich ging.

Demoiselle Clara hatte ihre Toilette mit größerer Ruhe gemacht, Tricots, Schuhe und was dazu gehört, ausgezogen und ordentlich hingelegt, alsdann ihre Sachen sorgfältig zusammengepackt, das Kleidchen mit den rothen Schleifen ebenfalls in ein Tuch gewickelt, und war gerade fertig geworden, als der Wagen wieder kam und Schwindelmann ihr winkte, mitzufahren.

Es war ein kalter dunstiger Abend; die Gaslaternen brannten mit einem röthlichen Lichte, und den Athem der Pferde sah man deutlich wie weißen Dampf aus ihren Nüstern hervorkommen. Das Rollen der Räder auf dem Pflaster klang dumpf, und da die Calesche ringsum verschlossen war und fünf der ziemlich erhitzten Tänzerinnen in sich schloß, so liefen die Scheiben so dicht an, daß [50] keine derselben ihre Straße erkennen konnte und es bei jedesmaligem Anhalten eine kleine Debatte gab, wo man sich eigentlich befinde. Schwindelmann schlichtete diesen Streit aber augenblicklich, indem er die betreffende junge Dame bei ihrem Namen rief. Endlich erklang der von Demoiselle Clara, worauf diese mit ihren beiden Paketen den Wagen verließ, ihren Colleginnen gute Nacht wünschte und an die Hausthüre trat.

»Soll ich für Sie anläuten?« fragte der freundliche Schwindelmann.

Doch das Mädchen erwiderte eifrig: »Ich danke recht sehr; ich habe meinen Hausschlüssel, und wünsche eine gute Nacht.«

Ehe sich aber Schwindelmann hierauf entfernte, sagte er leise zu der jungen Tänzerin: »Sie werden mir schon erlauben, Fräulein Clara, daß ich morgen Früh ein Bouquet für Ihr kleines Schwesterchen bringe; ich habe einen Freund, der Handelsgärtner ist und der es mir fast umsonst gibt.« Nachdem der Theaterdiener diese Worte angebracht, wartete er keine Genehmigung oder keinen Dank ab, sondern trat an seinen Wagen, schloß geräuschlos den Schlag, nannte dem Kutscher eine Straße und fuhr davon.

Clara blieb an ihrer Hausthüre stehen, ohne den erwähnten Schlüssel herauszuziehen. Sie horchte auf den davonrollenden Wagen, und als er ihr weit genug entfernt schien, verließ sie das Haus wieder und ging die Straße hinab, bis sie in der schon völlig dunkeln Häuserreihe den noch spärlich erleuchteten Laden eines Bäckers erreichte. Hier trat sie ein, zog eine magere Börse hervor, und nachdem sie ein paar kleine Weißbrode gekauft, ging sie sehr langsam nach ihrem Hause zurück. Wir sagen sehr langsam; ja mehrere Male blieb sie beinahe stehen, öfters aber schaute sie hinter sich, und jeden Augenblick horchte sie auf das entfernte Rollen eines Wagens oder auf schallende Fußtritte, die sich in irgend einer Nebenstraße verloren. Dann schüttelte sie den Kopf [51] und sagte mit leiser Stimme: »Sonderbar! Es ist heute das erste Mal, daß ich ihn nicht gesehen; er war nicht im Theater auf seinem Platze, er stand nicht am Wagen, als wir einstiegen, und auch hier ist nichts von ihm zu sehen.«

Mit diesen Worten hatte sie ihre Hausthüre wieder erreicht, suchte ihren Schlüssel hervor, drehte das Schloß auf und wollte gerade in den finstern Gang schlüpfen, als sich eilige Schritte auf der Straße näherten, die Gestalt eines Mannes sichtbar wurde und eine leise Stimme rief: »Fräulein Clara – nur einen Augenblick!«

Die Tänzerin blieb in der geöffneten Thüre stehen und erwartete ruhig die Ankunft dieses Mannes, der darauf in drei Sprüngen neben ihr in dem dunkeln Flur stand. Er holte tief Athem und konnte kaum sprechen. »Ich bin so gelaufen,« sprach er nach einer kleinen Pause, »um Sie noch einen Augenblick zu sehen; wie froh bin ich, daß ich noch zur rechten Zeit komme.«

»Sie waren nicht im Theater,« versetzte das Mädchen. »Ich hatte nicht erwartet, Sie heute Abend noch zu sehen.«

»Ich konnte nicht, Fräulein Clara, es war mir unmöglich, das Theater zu besuchen. Ah! hören Sie, wie ich gelaufen bin; ich war in einer großen, sehr langweiligen Gesellschaft, und erst vor einer Viertelstunde gelang es mir, mich wegzuschleichen. Ich bin nur gekommen, Ihnen eine gute Nacht zu wünschen.«

»Das freut mich in der That,« entgegnete das junge Mädchen und sah ihn treuherzig mit ihren großen Augen an. »Sie haben mich ganz verwöhnt, und wenn ich Sie nicht im Theater sehe oder am Wagen oder hier eine Sekunde, so fehlt mir etwas.«

»Wie danke ich Ihnen für dieses Wort, und wie bin ich so froh, daß Sie mir wenigstens erlauben, Sie einen Augenblick zu sehen und zu sprechen. Ach, Fräulein Clara, wenn Sie nicht so hart und unerbittlich wären, so hätte ich schon lange einen Vorwand gefunden, mich bei Ihrem Vater einzuführen.«

[52] »Nein, nein,« erwiderte eifrig das Mädchen; »ich will keine Vorwände und kann Sie auch bei uns nicht sehen. Ist es nicht genug, daß ich Ihnen hier an der Thüre eine freundliche gute Nacht sage? Ich habe so Etwas in meinem ganzen Leben noch nicht gethan. Sind Sie damit nicht zufrieden?«

»Doch, doch, liebe Clara! ich bin ja damit zufrieden. – Aber Ihre Hand werden Sie mir heute Abend nicht versagen.«

»Nun meinetwegen!« entgegnete freundlich lachend die Tänzerin. »Eine Hand will ich Ihnen reichen, aber dann müssen Sie auch still nach Hause gehen.«

»Und zufrieden,« sagte ebenfalls lachend der junge Mann.

Clara nahm nicht ohne einige Mühe die Pakete, den Hausschlüssel und das Brod in die eine Hand, um die andere ihrem jungen Freunde reichen zu können. Er faßte sie eifrig mit seinen beiden und drückte in aller Geschwindigkeit mehrere Küsse auf ihre niedlichen Finger, eine Überschreitung der gegebenen Erlaubniß, welche Clara dadurch bestrafte, daß sie ihre Hand hastig wegzog, flüchtig gute Nacht rief und die Thüre hinter sich zudrückte und verschloß.

Der junge Mann blieb noch einen Augenblick auf der Schwelle stehen, blickte an dem Hause hinauf, ohne irgend etwas ihn Anziehendes zu sehen, als ein matt erleuchtetes Fenster droben hoch in dem Giebelfelde. Nachdem er dieses eine Weile betrachtet, und nachdem es ihm geschienen, als bewege sich ein weißer Vorhang an diesem Fenster, gerade so, als öffne Jemand die Thüre und trete in's Zimmer, verließ er seinen Standort und ging dann in der That höchst zufrieden seiner Wege.

Clara war unterdessen die dunklen Treppen hinaufgestiegen, hatte ein wahres Labyrinth von finsteren Biegungen und schmalen Gängen hinter sich gelassen und erreichte nun den vierten Stock, wo sie nach einigem Suchen mit der Hand eine Thüre fand, die sie geräuschlos öffnete. Sie trat in ein unerleuchtetes Zimmer, [53] doch hatte sie vor sich eine andere Thüre, durch deren breite Spalten und Risse einiges Licht in dies erste Gemach fiel, hier eine zweifelhafte Helle verbreitend, bei welcher man einen kleinen Tisch entdeckte, auf dem etwas Bettwerk lag, über welche man ein weißes Tuch gebreitet hatte. Clara ging auf den Zehen durch dieses Zimmer, öffnete die andere Thüre und trat in das Wohnzimmer der Familie, welches dem geneigten Leser näher zu beschreiben wir genöthigt sind.

Es war dies ein ziemlich großes und kahles Gemach mit schiefen Seitenwänden, welche der Stellung des Daches folgten, und einem einzigen Fenster, das wir schon von unten beobachtet haben. Das Meublement bestand aus einem großen eisernen Ofen, von dem übrigens, der wenigen Wärme im Zimmer nach zu urtheilen, ein sehr bescheidener Gebrauch gemacht wurde; neben demselben stand in einer Ecke ein Schreibtisch, das heißt, ein großer Tisch mit Büchern und Papieren aller Art bedeckt, hinter demselben befand sich ein Stuhl, auf welchem ein Kissen von rothgestreiftem Zeug lag; in einer anderen Ecke war ein gewöhnliches Bett und ein Kinderbett. Unter dem einzigen Fenster stand ein Tisch und ein paar Stühle, daneben eine große alte Kommode, über welcher ein Spiegel hing. Sonst bestanden die Verzierungen sämmtlicher Wände aus einem Crucifix mit halb vertrocknetem Zweig über dem großen Bette, sowie aus dem Portrait einer berühmten Tänzerin, das dieselbe bei ihrer Anwesenheit einer Jeden vom Ballet zum Geschenk gemacht hatte.

In dem Zimmer befanden sich zwei kleine Kinder, ein Mädchen von sechs und ein Bübchen von vier Jahren, die zusammen in dem kleinen Bette lagen – Clara's Stiefgeschwister, und ihr und Clara's Vater, ein alter Mann, der an dem Schreibtische stand und im Begriffe war, sich eine Feder zu schneiden, wobei er gerade den Kindern einige Ermahnungen zurief, da sie nicht einschlafen wollten, sondern sich unruhig hin und her warfen.

[54] Als Clara in das Zimmer trat, wurde ein Weinen, das aus der Ecke kam, wo die kleine Bettlade stand, plötzlich unterdrückt.

Der alte Mann trug einen langen blauen, fadenscheinigen Rock, den er bis zum Halse zugeknöpft hatte, gelbe Sommerhosen, obgleich es Winter war, und ein paar große, dicke Hauspantoffeln. Trotzdem er auf der Nase eine Brille hatte, mußte er doch die Finger mit der Feder ganz nahe vor die Augen halten, um den Spalt abknixen zu können.

»Seid nur ruhig, seid nur ruhig,« sagte er gegen das Bett gewendet; »eure Leiden sind noch klein, theilweise eingebildet; ihr steigt den Berg aufwärts und könnt schon einigermaßen Mühseligkeiten ertragen, da ihr dereinst Hoffnung auf eine schöne Aussicht habt. Uebrigens kann ich euch wahrhaftig nicht helfen und ihr müßt schon warten bis die Clara kommt, unser aller Hort und Stern.«

Darauf erfolgte das Weinen, von dem wir oben gesprochen, und wurde unterdrückt beim Eintritt der jungen Tänzerin.

»Ah! da ist sie ja!« sprach der alte Mann. »Grüß dich Gott, liebe Clara. Du kannst auch jetzt wieder eine Trostspenderin sein; die beiden kleinen Geschöpfe da haben allerlei Kummer, den sie dir anvertrauen werden.« Bei diesen Worten ließ er sich auf das Kissen von gestreiftem Zeug nieder, schob das Schreibpapier zurecht, murmelte: »Seite zweiundvierzig,« und machte sich wieder an seine Arbeit.

Die beiden kleinen Kinder hatten sich beim Eintritt der Schwester aufrecht in ihr Bettchen gesetzt und schauten aufmerksam und mit leuchtenden Augen allen Bewegungen derselben zu, wie sie ihr großes Tuch ablegte und ihre Pakete, und wie sie darauf das Weißbrod auf den Tisch unter dem Fenster legte. Namentlich das letzte Manöver schien ihren vollen Beifall zu erringen, denn während das kleine Mädchen blos ihren Mund spitzte, sagte der Knabe halblaut und mit lächelndem Gesicht und indem die Thränenfluth auf seinen Wangen plötzlich stockte: »Ein Brod! ein Brod!«

[55] Clara trat an den Tisch, wo ihr Vater emsig schrieb, und bot ihm einen guten Abend. »Bist du noch immer am Schreiben?« sagte sie. »Es ist schon spät, Vater; du solltest deine Augen schonen.«

»Ei, mein liebes Kind,« entgegnete heiter der alte Mann, »vor Thorschluß oder vor dem Läuten der Abendglocke legt man nicht die Hände in den Schooß, es kommt ja nächstens doch eine lange, lange Zeit, wo ich meine Augen schonen kann und muß, deßhalb will ich sie jetzt noch ein Bischen gebrauchen. – Aber siehst du, Clara,« fuhr er sich empor richtend fort, indem er sie fest anschaute, »in diesem Moment mache ich von meinen Augen den mir liebsten Gebrauch.«

»Und welchen?« fragte lachend die Tänzerin.

»Dich anzusehen, mein Kind; das ist Trost und Licht in meinen Tagen. Heute Abend sieht dein Kopf aus wie der einer Fürstin, und wenn ich mein Bischen Phantasie zusammennehme, so könnte ich mir eine Zeit vorstellen, wo du ein wirkliches Diadem trägst und diese falschen Brillanten in deinem Haar echt und von großem Werthe sind.«

»Wenn ich je dergleichen wünschte,« versetzte Clara, während sie eine der weißen mageren Hände ihres Vaters nahm und sie küßte, »so thäte ich es nur um deinetwillen. Welch' schönes Leben würden wir führen! – Aber warum haben die Kinder vorhin geweint? Haben sie dich geärgert, muß ich sie zanken?«

»O nein! o nein!« erwiderte der alte Mann, »sie haben den Abend über recht artig gespielt; ich habe mich selbst an ihren Kindereien ergötzt,« setzte er mit einem fast unmerklichen Seufzer hinzu, und lehnte sich in den Stuhl zurück; »es ist eigenthümlich, sie haben sich große Gastmahle zubereitet und von herrlichem Essen und Trinken gesprochen.«

»Während ihr zu Nacht gespeist?«

»Das könnte ich eigentlich nicht sagen,« antwortete der Vater.

[56] »Richtig, jetzt fällt mir etwas ein, was ich fast ganz vergessen hätte.«

»Doch nicht, das Geld von dem Buchhändler holen zu lassen?« fragte ängstlich das Mädchen.

»O nein! den Versuch habe ich wohl gemacht,« entgegnete schmerzlich lächelnd der alte Mann; »aber der Herr Blasser sei nicht zu Hause, sagte man mir.«

»Und darauf bekamt ihr kein Geld?«

»Natürlicher Weise,« antwortete gutmüthig der Vater. »Wenn man nicht zu Hause ist, kann man auch nicht bezahlen.«

»Und euer Nachtessen? – Ich hatte das so gut angeordnet.«

»Ja, das hattest du, liebes Kind; aber der Mensch denkt, Gott lenkt, und wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren. Uebrigens hatte ich mich an den Phantasien der Kinder gelabt, und während wir gemeinschaftlich ein schwarzes, sehr gutes Brod aßen, träumten wir von Torten und Pasteten und allerlei köstlichen Leckerbissen.«

»Halb und halb habe ich mir das gedacht,« sagte Clara, indem sie zu lächeln versuchte, »und wenigstens einiges Weißbrod mit nach Hause gebracht; ich will geschwind zur Nachbarin gehen, ich sah noch Licht, als ich die Treppen herauf kam, und will mir etwas Milch von ihr geben lassen, dann mache ich euch in aller Geschwindigkeit eine kostbare Suppe.«

Diese letzten Worte sprach sie mehr gegen das kleine Bettchen gewendet, worauf die Kinder sie mit strahlenden Blicken ansahen und mit dem Kopfe nickten; der kleine Bub stand sogar auf, als Clara eilig das Zimmer verließ, und versuchte es, ihr nachzuschauen, was einen äußerst komischen Anblick gab, da seine Kehrseite nicht gehörig bekleidet war.

Der alte Mann hatte sein Buch aufgeschlagen, die Feder eingedunkt und fing wieder an emsig zu schreiben.

Clara ging mit einigem Widerstreben zu der Nachbarin, von der [57] sie vorhin gesprochen. Es war dies eine Wittwe mit zwei Töchtern, von, wenigstens äußerlich, sehr frommem und gottesfürchtigem Lebenswandel; so versäumte sie für ihre Person fast keinen Gottesdienst, und wenn ein Buh- und Bettag angesetzt war, so schlich sie zerknirscht über die Straßen und man hätte darauf schwören sollen, sie, obgleich frei von eigenen Lastern und groben Fehlern, habe sich aus Barmherzigkeit eine tüchtige Sündenlast ihrer Mitmenschen aufgeladen und helfe so aus christlicher Liebe die allgemeine Verderbniß geduldig mittragen. Was ihre Töchter anbelangte, so gingen diese nur in die Garnisonskirche und nur Vormittags von Zehn bis halb Zwölf, zur gleichen Zeit, wo auch fromme Soldaten, von gläubigen Lieutenants geführt, auf hohen und höchsten Befehl zum wohlgefälligen Wandel angehalten wurden.

Die Wittwe mit ihrer Familie gehörte in die Klasse der »verschämten Hausarmen,« und wurde von Glaubensgenossen so reichlich unterstützt, daß sie alle ihre Zeit der Beschaulichkeit zuwenden konnte und nicht viel zu arbeiten brauchte.

6. Kapitel
Sechstes Kapitel.
Die Familie Wundel.

Als Clara auf höfliches Anklopfen in das Zimmer trat, das, obgleich ebenfalls im vierten Stock, doch recht wohnlich und angenehm eingerichtet war, drang ihr der angenehme Duft eines guten Nachtessens entgegen, der von gerösteten Kartoffeln und Bratwürsten herzurühren schien, ein kräftiger Geruch, welcher der müden Tänzerin einen einzigen und stillen Seufzer abpreßte. Die Wittwe hatte sich eben zu Tische begeben und saß in einem guten Stuhle; [58] die eine, ihrer Töchter hatte ebenfalls Platz genommen, die andere befand sich noch vor dem Spiegel, um ihre Frisur wieder in Ordnung zu bringen, die durch Abnahme des Hutes einigermaßen Schaden gelitten. Das Zimmer war von einer lieblichen Wärme erfüllt, denn in dem Ofen krachte und prasselte ein gutes Holz.

»Ei, Fräulein Clara,« sagte die Wittwe, indem sie die ergriffene Gabel wieder niederlegte, »was verschafft uns noch so spät das Vergnügen?«

»Ich wollte Sie nur freundlichst bitten, Madame Wundel,« entgegnete das Mädchen, »mir mit ein wenig Milch auszuhelfen; die unsere ist alle geworden und ich bin so spät aus dem Theater gekommen, daß der Laden im Nachbarhaus bereits geschlossen war.«

»So, so, Milch wollen Sie haben? – Du lieber Gott! wenn wir nur selbst noch etwas haben. Ich fürchte fast, wir haben heute wieder alle zum Kaffee gebraucht. – Weißt du nicht, Emilie,« wandte sie sich an ihre Tochter, die am Tische saß, »ist noch etwas da?«

Hiebei hätte aber ein mehr argwöhnischer Beobachter als die junge Tänzerin deutlich bemerken können, wie Madame Wundel leicht mit ihren Augen zwinkerte.

Emilie, als gelehrige Tochter, verstand übrigens dies Zeichen vollkommen, denn während sie die Schüssel mit den Bratwürsten an sich zog, sprach sie mit dem ruhigsten Tone von der Welt: »Es thut uns wahrhaftig leid, Fräulein Clara, aber wir haben nicht einen Tropfen Milch mehr im Hause.«

»Richtig, ich besinne mich,« bekräftigte die Wittwe und ergriff ihre Gabel wieder, »es ist kein Tropfen mehr da.«

»Und ihr irrt euch alle Beide,« versetzte ruhig die andere Tochter, die vor dem Spiegel stand und sich nun herumdrehte, »man hat heute Abend zwei Töpfe gebracht, und wir können der Clara schon bis morgen einen davon geben.«

Madame Wundel preßte krampfhaft ihre Hand, in der sie die [59] Gabel hielt, zusammen und sandte ihrer jüngern Tochter einen nichts weniger als liebevollen Blick zu. »Wie die es so genau weiß!« sagte sie alsdann. »So sieh' du nach, Emilie. Wenn Milch da ist, so steht sie mit Vergnügen zu Diensten.«

Emilie stieß die Schüssel etwas ärgerlich zurück, und sprang auf, um in die Nebenkammer zu gehen.

Die arme Tänzerin stand wie auf Kohlen, denn trotz ihres arglosen Gemüthes fing sie doch an, die fatalen Hin- und Herreden sowie die finstere Miene der Madame Wundel zu begreifen.

Die jüngere Tochter hatte sich unterdessen an den Tisch gesetzt und schien durchaus nicht von dem Blick der Mutter eingeschüchtert zu sein. – »Ich habe Ihnen auch noch meine Complimente zu machen,« sagte sie ruhig zu Clara. »Sie haben heute Abend vortrefflich getanzt und sehr schön ausgesehen.«

Auf diese unvorsichtigen Worte stieß die würdige, aber vorsichtige Mutter ihre aufrichtige Tochter unter dem Tische so derb mit dem Fuße, daß sie zusammenzuckte.

»Sie waren also im Theater,« fragte die Tänzerin, welche diesen Ausspruch mütterlichen Gefühls nicht bemerkt hatte. »Ja, ich glaube, es ist ein schönes Ballet; wir können das freilich nie genau sagen, weil wir mitwirken, aber es wurde viel applaudirt. – Gehen Sie öfters in's Theater?«

»Sie geht zuweilen hin, natürlich höchst selten,« erwiderte Madame Wundel mit einem Ausdruck sittlicher Entrüstung auf dem Gesichte. »Was wollen Sie? Jugend hat nicht Tugend. Ich und meine ältere Tochter betreten nie das Theatergebäude – niemals; der Herr soll mich bewahren!«

»Es ist aber doch ein angenehmes Vergnügen,« sagte Clara, um etwas zu erwidern, mit einem unruhigen Blick auf das Nebenzimmer, denn sie hörte dort ein starkes und verdächtiges Plätschern.

Madame Wundel lehnte sich in ihren Stuhl zurück und zuckte [60] die Achseln, während sie gen Himmel blickte. »Es wohnt in der Nachbarschaft eine christliche Familie,« versetzte sie, »die zuweilen Billete geschenkt erhält, und da bietet man hie und da meiner Tochter eines an. Sie können denken, daß es mir Kummer verursacht, aber was will ich machen? Es ist traurig, aber wahr, daß trotz der größten Ermahnungen bei manchen Menschen die Gnade nicht zum Durchbruch kommen will.«

In diesem Augenblicke trat Emilie Wundel mit dem ersehnten Topfe aus dem Nebenzimmer, Clara empfing ihn dankend, versprach auf morgen Früh die Wiedererstattung und verließ das Zimmer.

Wir können dem geneigten Leser nicht verschweigen, daß das Abendbrod dieser verschämten Hausarmen, bestehend aus gerösteten Kartoffeln und Bratwurst, wozu noch etwas Bier getrunken wurde, nicht ohne einige Streitigkeiten vorüberging. Von der älteren wurde die jüngere Tochter mit einer wahren Verachtung behandelt und Madame Wundel meinte, ihre Letztgeborene sei und bleibe nun einmal eine kolossale Gans, und es hätte sie wahrhaftig gar nicht gewundert, wenn sie vorhin noch hinzugesetzt hätte, das Theaterbillet sei nicht geschenkt, sondern gekauft worden, – was denn auch leider der Wahrheit sehr nahe gekommen wäre.

Unterdessen hatte im gegenüberliegenden Zimmer der alte Mann fleißig darauf los geschrieben und der kleine Knabe stand hartnäckig an seinem Bettchen aufrecht, obgleich ihn sein entblößtes Hintertheil in dem kühlen Zimmer einigermaßen fror. Es war aber auch kein Wunder, daß der kleine Mann seine Nase beharrlich nach der Gegend hindrehte, wo die Schwester verschwunden war. Es kam nämlich aus dem Zimmer der Wittwe Wundel jener angenehme Geruch, von dem wir vorhin gesprochen, und der, so schwach er herüberdrang, doch von dem Bübchen gleich entdeckt wurde. Kleine arme und hungrige Kinder haben eine gar feine Nase.

»Du,« sagte der Knabe zu seiner Schwester, »Clara bringt uns was Gutes zum Essen.«

[61] »Sie wird nichts mitbringen,« entgegnete das verständigere Mädchen.

»Aber ich rieche was, und was Gebratenes. Bekomm' ich nichts davon?«

»Nein, davon kriegst du nichts; das ist für andere Leute, die es gekauft und gekocht haben.«

»Ihr seid recht dumm,« antwortete das Bübchen; »warum kauft ihr nicht auch etwas und kocht es uns? Tann könnten wir es essen; denn wenn ihr etwas kauft und uns bratet, so gehört es uns und nicht anderen Leuten.«

Der alte Mann, der ebenfalls durch den Geruch aufmerksam geworden war, erhob seinen Kopf und sagte lächelnd: »Das Kind spricht sehr logisch; seine Folgerungen sind ganz richtig; nur ruht seine Thesis auf schwachen Füßen.«

»Komm herab in's Bett,« sprach das Mädchen, als drüben abermals die Thüre aufging; »du wirst dich erkälten, und wenn dich Clara so bloß dastehen sieht, so zankt sie mit mir.«

Jetzt kam die Tänzerin mit ihrem Milchtopf zurück. Die beiden Kinder schauten vergnügt empor, das Bübchen klatschte in seine kleinen Hände und rief: »Siehst du, jetzt kommt das Gebratene.«

»Nein, nein, es ist nichts Gebratenes,« entgegnete lachend die ältere Schwester, »aber was viel Besseres. Jetzt mache ich eine Milchsuppe mit Brocken darin, und ihr sollt sehen, wie das schmeckt!«

»O laß mich zusehen, wie du es machst!« sagte das Bübchen. »Bitte, Clara, laß mich zusehen!«

»Aber es wird dich frieren im Zimmer.«

»O, es thut nichts, wenn es mich friert; ich friere gern, wenn ich nur zusehen darf.«

»Aber dann bekommst du einen Husten,« erwiderte Clara, während sie den Topf mit Milch in die verglimmenden Kohlen stellte, »und wirst krank werden.«

[62] »Das thut nichts,« entgegnete entschlossen der Knabe, »wenn ich zusehen darf, bekomme ich gern einen Husten und werde auch gerne krank.«

»Nun meinetwegen,« versetzte die gutmüthige Schwester, »dann könnt ihr helfen das Brod einschneiden. Aber vorher muß ich dir ein Röckchen anziehen und Strümpfe.« Und darauf nahm sie den kleinen Bruder aus dem Bette, legte ein Kissen auf die Kommode und setzte ihn darauf. Das größere Mädchen zog sich allein an.

Wie war das Bübchen so froh, als es die Hoffnung hatte, zusehen zu dürfen, wie die Milchsuppe eingebrockt wurde. Er schlang seine beiden Aermchen der Schwester um den Hals, drückte sein rundes Gesicht fest auf ihre schwellenden Lippen und sagte: »Du bist die allerbeste Clara, und ich habe dich lieb – so viel und so groß wie – wie – ein ganz großes Haus.« – Nachdem der Knabe hinreichend bekleidet war, um die kühle Temperatur in dem Zimmer aushalten zu können, zu welchem Zwecke ihm die Schwester noch ein großes wollenes Tuch um seine Füße schlang, wurde er auf den Tisch gesetzt, an welchem die jüngere Schwester bereits auf einem Stuhle stand, nachdem sie eine große irdene Suppenschüssel herbeigeschleppt.

Die junge Tänzerin nahm die Milch von den Kohlen, und als sie solche in die Schüssel goß, bemerkte sie an der bläulichen Farbe derselben, daß es nicht räthlich sei, um eine größere Menge zu erzielen, noch etwas Wasser zuzusetzen; dies Geschäft hatte Mamsell Wundel im Nebenzimmer bereits gehörig selbst versehen.

»Mir scheint,« sagte der alte Mann an seinem Schreibtisch, indem er seine Feder einen Augenblick anhielt und durch die Brille nach dem Tische schaute, »wir bekommen noch ein Nachtessen. Ei, ei! das ist, obgleich Verschwendung, doch sehr wohlthätig. Auch trifft das prächtig mit meiner Arbeit hier zusammen; ich übersetze auch gerade ein Souper in Onkel Tom's Hütte, und es ist sonderbar, [63] wenn ich von Essen und Trinken schreibe, da bekomme ich einen stärkeren Appetit.«

»Mir geht's auch so, Papa,« antwortete Clara, wobei sie lachend herum schaute. »Wenn ich zum Beispiele in einem Lustspiele bin und sie fangen auf der Bühne an zu essen und zu trinken, da könnte Einem das Wasser im Munde zusammenlaufen; und es geht nicht allein mir so: Alle, die um mich herum sitzen, haben begehrliche Augen und machen spitze Mäuler, – wie du, du kleiner Fresser.« Damit patschte sie dem Bübchen mit dem Löffel um den Mund, was dieser aber gar nicht übel zu nehmen schien, sondern die herabrinnenden Tropfen begierig ableckte.

Der Vater hatte seine Feder niedergelegt, die Brille abgelegt und wischte sich die trübe werdenden Augen.

»Dieses Innere von Onkel Tom's Hütte,« sagte er nach einer Pause, »ist als recht komfortable geschildert und kommt Einem gar nicht so unrecht vor; es ist ein anständiges, festes Gebäude mit einem kleinen Garten davor; auf dem Herde lodert ein Feuer und verbreitet in dem Zimmer eine behagliche Wärme.« – Er sprach das mit leiser Stimme und mehr zu sich selber.

Clara schien auch nicht darauf zu achten, denn sie wandte sich in diesem Augenblick zu ihrer kleinen Schwester und sagte zu ihr: »Aber warum hast du es hier in dem Zimmer so kalt werden lassen? So kann der arme Papa ja nicht schreiben; seine Finger müssen ihm ganz starr werden.«

»Schon die Idee eines Kamins hat etwas höchst Behagliches,« fuhr der alte Mann fort, indem er sich die Hände rieb; »man sieht in die spielenden Flammen, man stellt sich behaglich davor hin und dreht die mächtigen Holzblöcke mit der Zange herum.«

»Ich hätte gern Holz nachgelegt,« entgegnete das kleine Mädchen, »aber Papa hat selbst zugesehen und meinte, wir müssen noch acht Tage lang mit auskommen, ehe du neues kaufen könntest, und wenn man da zuviel brauche, werde es nicht langen.«

[64] »Ich begreife nur nicht,« sprach Clara, »du bist doch schon so ein erwachsenes und vernünftiges Mädchen, daß du nicht früher zur Madame Wundel gegangen und sie um etwas Milch gebeten hast; sie hätte es dir auch nicht abgeschlagen. Da muß man nachdenken, mein Kind; ihr hättet schon um acht Uhr eure Milchsuppe essen können, und nun habt ihr bis jetzt gehungert.«

»Es war noch ein Stück Brod in der Schublade,« erwiderte die jüngere Schwester, »und das haben wir drei gegessen.«

Der alte Mann schaute träumerisch an die Decke empor und sagte: »Tante Cloe steht am Küchenfeuer und aus ihrer Bratpfanne hervor dringt der Geruch von was Gutem; sie hat eben noch ein Stück Speck hineingethan und bemerkt, daß der Kuchen sich wunderschön färbt, daß er sich zu einem prächtigen Braun anläßt: darauf hebt sie den Deckel der Backpfanne weg und läßt einen schöngebackenen Pfundkuchen sehen, dessen sich kein städtischer Zuckerbäcker zu schämen gebraucht hätte. – Ah!« fuhr er mit lauterer Stimme fort, »es ist etwas sehr Vortreffliches um so einen Kuchen.«

Bei dem Worte Kuchen wandte das Bübchen rasch den Kopf herum und seine Theilnahme für die Milchsuppe wurde augenscheinlich geringer.

»Der Papa spricht von Kuchen,« sagte die kleine Schwester zu Clara; »haben wir vielleicht welchen?«

»O nein,« entgegnete die Tänzerin in bitterem Tone. »Papa spricht nur einiges vor sich hin aus dem Negerleben von Amerika.«

Das Bübchen aber gab sich nicht so leicht zufrieden, sondern er wandte den Kopf herum und rief laut: »hast du Kuchen, Papa? Du hast was von Kuchen gesagt?«

»Ich habe eigentlich nur laut gedacht,« versetzte der alte Mann mit einem trüben Lächeln; »ich hatte vorhin gelesen von den armen Negersklaven –«

»Die Kuchen essen?« fragte das Mädchen.

[65] »Allerdings, mein Kind,« sagte der Vater träumerisch, »die Kuchen essen und ein warmes behagliches Zimmer haben.« Dabei rieb er sich die Hände und zog den alten fadenscheinigen Ueberrock fester um seine Schultern.

»Ah!« antwortete das kleine Mädchen, indem sie ihren Kopf auf die Hände stützte und in die dünne Milchsuppe schaute, »wenn sie Kuchen essen, so sind sie ja nicht arm. – Wir haben keinen Kuchen zu essen und oft kein warmes Zimmer; also sind wir auf jeden Fall noch viel schlimmer daran.«

»Das Kind hat in mancher Beziehung nicht unrecht,« sprach kummervoll der alte Mann, indem er seinen Blick umherlaufen ließ auf den kahlen Wänden seiner Wohnung, auf den ärmlichen Möbeln und Betten, und ihn dann auf die kleine Schüssel voll Milch heftete, in welche zwei Kreuzerbrode gebrockt waren, und die ein vollständiges Abendessen abgeben sollte für vier Personen, die bis Abends zehn Uhr gefastet. – –

»So, jetzt ist es angerichtet!« rief die Tänzerin mit lustiger Stimme. Sie wollte dadurch alle trüben Gedanken verscheuchen. »Jetzt laß deine Schreiberei sein, Papa, und komm' zu Tisch.«

»Das reicht ja kaum für euch aus,« entgegnete dieser, »eßt nur, eßt nur, ich schreibe noch.«

Doch blickte er, seinen eigenen Worten widerstreitend, sehnsüchtig nach dem Tische, und als das kleine Mädchen ihm entgegenlief und ihn bei der Hand fortzog, brauchte sie gar keine Kraft anzuwenden, um ihn bis an die Milchschüssel zu bringen.

Die Familie setzte sich um den Tisch herum; Jedes hatte seinen Löffel ergriffen, doch ehe das Abendessen eigentlich begann, mußte sich das Bübchen entschließen, sein gewöhnliches Tischgebet herzusagen. Es faltete die Hände und sprach:

»Komm, Herr Jesu, sei unser Gast, und segne was ich bescheeret hab'.«

Es war dies ein Sprachfehler, den man ihm trotz aller angewandten [66] Mühe nicht abgewöhnt hatte, und den er sich heute Abend vollends nicht verbessern ließ, denn seine ganze Seele schwamm in der Milchschüssel.

So ging nun das Nachtessen vor sich, und die kleine Familie beim flackernden Scheine der Talgkerze wäre in ihrer Zusammenstellung ein kleines, herrliches Genrebild geworden. Der alte Mann mit dem wohlwollenden freundlichen Gesichte, der nur mit großen Zwischenpausen aß, die junge schöne Tänzerin in dem ärmlichen Kleidchen, das volle schwarze Haar aber frisirt wie eine Fürstin und aus demselben hervor zahllose falsche Brillanten blitzend. Sie behauptete, fast gar keinen Hunger zu haben, und schaute mit dem liebenden Blick einer jungen Mutter den beiden kleinen Geschwistern zu, die eine Wette eingegangen zu haben schienen, wer von ihnen zuerst auf den Grund der Suppenschüssel gelange. Wir müssen gestehen, daß sich das Bübchen am Tapfersten hielt, namentlich aber viel Milch schlürfte und die Brocken mehr oder weniger verschmähte. Doch ist hiebei nicht zu übersehen, daß es von dem Stück Brod vor ein paar Stunden das größte Drittel erhalten.

»Karl, Karl!« sagte Clara, die ihm lächelnd zusah, »du vergißt wieder ganz die Geschichte von dem Kinde und der Eidechse. Das mußt du ihm erzählen, Marie.«

Und darauf sprach die kleine verständige Schwester: »das Kind saß vor der Hausthüre und hatte ein Schüsselchen mit Milchsuppe vor sich stehen, da kam die Eidechse und aß mit, aber die Eidechse trank blos die Milch und ließ die Brocken liegen, da nahm endlich das Kind sein Löffelchen«, schlug das Thier auf die Schnauze und rief: »wenn du mithalten willst, so iß auch Brocken, du Ding!«

»So iß auch Brocken, du Ding!« wiederholte Clara und schlug den kleinen Bruder zum Scherz abermals mit dem Löffel, auf seinen milchtriefenden Mund, worüber dieser in ein unauslöschliches Gelächter ausbrach, so daß er fast an einem Brocken, den er gehorsam zu sich genommen, erstickt wäre.

[67] Jetzt war die Milch fast verzehrt und es blieb auf dem Grund der Schüssel nur eine kleine bläuliche Fluth.

»Seht ihr wohl,« rief plötzlich das Bübchen mit großem Ernst: »ihr alle habt wieder nicht an die arme Anna gedacht. Soll sie denn gar nichts zu essen bekommen?« – Er meinte damit die kleine todte Schwester, die draußen im Vorzimmer lag und den ewigen Schlaf schlief.

»Sie will nichts mehr essen,« sagte Marie; »sie ist ja gestorben und jetzt im Himmel.«

Clara, die trotz ihrer Beschäftigung den ganzen Abend an die Verstorbene gedacht, die aber durch ihre Erwähnung den Schmerz des alten Mannes nicht verwehren wollte, zwinkerte leicht mit den Augen und blickte ihren Vater von der Seite an.

Dieser hatte, wie schon bemerkt, fast gar nichts gegessen und saß schon lange da mit gefalteten Händen. Denn wenn er auch im Drange der Arbeit nicht so innig an das Kind gedacht, so fiel ihm die Erinnerung an dasselbe jetzt doppelt schmerzlich auf die Seele, als er nun am Tische den leeren Platz sah, wo sonst die kleine Anna auf ihrem Stühlchen gesessen. Er stieß einen tiefen Seufzer aus und seine Augen funkelten auf eine ganz eigenthümliche Art.

»Die Anna ist nicht im Himmel,« sagte entschieden das Bübchen; »wie kann sie im Himmel sein, da sie draußen auf dem Kissen liegt? Sie kommt erst in den Himmel, wenn sie begraben ist, und das geschieht morgen.«

»Schon morgen?« versetzte der alte Mann und sah seine ältere Tochter fragend an. – »Du hast Alles besorgt, nicht wahr, Clara?«

»Alles so gut wie möglich,« erwiderte die Tänzerin; »und wenn die beiden Kinder brav sein wollen, so zeige ich ihnen das Kleidchen, in welchem die Anna ein Engelein wird.«

Sie stand auf, um das kleine Paket zu holen, blieb aber an der Kommode länger als nöthig war stehen, um ihre hervorstürzenden [68] Thränen, namentlich vor den beiden Kindern, zu verbergen. Da aber diese endlich ungeduldig wurden, so mußte sie wieder kommen und ihnen das Kleidchen zeigen. Nachdem sie den Tisch abgeräumt, schlug sie das Tuch auseinander und breitete es vor ihnen aus.

»Das ist schön,« sagte der Knabe; »ich möchte das Kleidchen wohl einmal anprobiren, mir müßte es recht gut stehen.«

»Warte nur, Karl,« entgegnete ernst der Vater, indem er mit der Hand über die Augen fuhr, »einem solchen Kleide entgehst du nicht; wenn du aber recht brav und folgsam bist, so möge der liebe Gott gnädigst bewilligen, daß du eins bekommst, das noch viermal so lang ist.«

»Mir wäre dies schon recht,« antwortete das Bübchen, wobei es die rothen Schleifen durch die Finger gleiten ließ, »das ist wirklich schön. – Und du hast es ganz selbst gemacht?« fragte er die ältere Schwester.

»So schönes rothes Band!« sagte Marie. »Das sieht doch besser aus als die schwarzen Schleifen.«

»Ja, ja, es ist freundlicher,« versetzte der Vater. – »Wo hast du denn das Band noch aufgefunden?«

»Die im Theater haben es mir gegeben,« erwiderte Clara, »und es hat mich recht gefreut, daß sie so viel Antheil nahmen.«

»Es ist sonderbar,« sprach lächelnd der alte Mann, »wie die Dinge in dieser Welt so seltsam ihren Platz wechseln. Dies rothe Band, das vielleicht noch gestern in den Haaren einer Tänzerin geflattert, kommt nun morgen in die kühle Erde. Aber es ist schön, daß sie dir so geholfen, es freut mich; und wenn mein Kind in den Himmel einschwebt, so werden ihnen diese Schleifen dort oben keine üble Nachrede machen. – Amen!« –

»Amen!« wiederholte auch Clara, und dann setzte sie mit gewaltsam verändertem Tone hinzu: »Aber jetzt, Kinder, zu Bett! Ihr habt gegessen und getrunken und könnt nun ruhig schlafen.«

[69] Dabei lächelte sie durch ihre Thränen und sagte zu dem Bübchen: »Gaislein bist du satt?«

Worauf der Knabe lachend erwiderte:


»Oh! wo sollt' ich satt von sein?
Ich sprang über ein Gräbelein
Und fand kaum ein Blättelein.

Aber ich bin schläfrig und bitte dich, liebe Clara, mich zu Bett zu legen.«

Dies geschah denn auch; Clara lockerte zuerst die dünnen Kissen in dem Bett, dann zog sie die Kinder aus und legte sie hinein. Sie krochen dicht an einander hin, um sich zu erwärmen und die ältere Schwester deckte zu dem gleichen Zweck noch einen wollenen Rock über sie hin. Dann sprachen die Kleinen zu ihrem Spasse den Spruch von vorhin ein paar Mal gegenseitig und entschliefen bald unter Lachen und Scherzen.

7. Kapitel
Siebentes Kapitel.
Sklavenleben.

Der Vater setzte sich an den Schreibtisch, um noch einen angefangenen Bogen zu vollenden, und die Tänzerin zündete eine Lampe an, nahm das Kleidchen und den Kranz von Orangenblüthen und ging in's Vorzimmer. – Hier lag das todte Schwesterchen auf emem weißen Kissen und war mit einem Tuche zugedeckt. Als Clara dieses Tuch wegzog, durchschauerte es sie leicht, und als sie darauf das Kind betrachtete, rollte eine Thräne um die andere aus ihrem Auge. Es lag da so ruhig als ob es schliefe, [70] die Augen halb geöffnet, die Händchen über der Brust gefaltet. Daß es wirklich todt war, sah man nur an der gelblichweißen Gesichtsfarbe, an der glanzlosen Haut und an einem schmerzlichen Zug, der um den zusammengepreßten Mund und das spitzige Näschen spielte, und man fühlte das, wenn man, wie Clara es that, das warme lebensfrische Gesicht an die bleichen Lippen des Kindes drückte und dann jene eisige sonderbare Kälte empfand, jene Kälte, die mit nichts Anderem zu vergleichen ist; jene Kälte, welche die unerbittliche Hand des Todes zurückläßt.

Clara deckte das Kleidchen mit den rothen Schleifen über ihre kleine Schwester hin, legte den Blumenkranz auf ihr Haupt und sank dann vor der Kleinen auf die Knie. Das Kind hatte viel gelitten und war in herben Schmerzen gestorben. Vor dem inneren Auqe der Tänzerin gingen Stunde um Stunde die zwei kummervollen Jahre vorüber, welche dies arme Kind durchlebt und welche Clara mit ihm geduldet und gelitten. Das war ein harte Zeit gewesen seit der Geburt der kleinen Anna. Ihre Mutter, Clara's Stiefmutter, war wenige Tage nach der Geburt des kleinen Kindes gestorben und die Tänzerin hatte es aufgezogen als wäre es ihr eigenes. Ah! sie liebte das arme kränkliche Geschöpf mehr als Alles in der Welt. Sie hing in seinen Leiden inniger an ihm, als an dem Vater und den anderen Geschwistern; es war ihr Eigenthum, sie hatte es sich erobert durch durch die unermüdlichste Sorgfalt, durch unzählige Nachtwachen. Ein halbes Jahr nach der Geburt hatte der Hausarzt gesagt: es ist ein Wunder, Fräulein Clara, daß Sie mit Gottes Hülfe das Kind durchgebracht haben. – Ja, es lebte, es gedieh, und das junge Mädchen sah mit Entzücken, wie es stärker und kräftiger wurde, wie es eines Tags zum ersten Mal lächelte, wie dann lange Unterredungen mit ihr hielt, aber in unartikulirten Tönen, nur ihr allein verständlich. – – – – Und doch mußte es sterben. Wie hatte sie dem Tode diese Beute streitig gemacht![71] Wie hatte sie Tag und Nacht über seinem Lager gewacht, am Morgen seinen ersten Blick empfangen, am Abend seinen letzten! Wie war sie athemlos die vier Treppen hinaufgerannt, um hineintretend zu fragen: »was macht das Kind?« – Da endlich überfiel es eine neue Krankheit, und schon nach wenigen Tagen ging sein Athem schnell und schwer, sanken seine Augen ein und wurden Mund und Nase spitzig. Wenn sich auch Clara überreden wollte, das seien nur vorübergehende Symptome, und wenn sie auch an jedem Abend die ganze Familie an das Bettchen führte und fragte: »nicht wahr, heute geht's mit der Anna besser? ihre Augen sind lebhafter, ihr Athem leichter,« so schüttelte doch der Hausarzt den Kopf, und der verzweifelte Blick, mit dem die junge Tänzerin an seinen Lippen hing, verhinderte ihn mehrere Tage, die Wahrheit zu sagen. Endlich aber mußte er doch eingestehen, daß alle Hoffnung vergebens sei. –

An dem Tage war gerade ein neues Ballet, und Clara mußte tanzen und lustig sein; aber im Zwischenakte stahl sie sich von der Bühne weg und ging an eine kleine Thüre, welche auf die erste Gallerie führte, und dort wartete sie, bis der Leibarzt des Königs seine Loge verließ. Das war ein alter freundlicher Herr, und als er vorbeigehen wollte, hatte sie sich ihm beinahe zu Füßen geworfen, auch konnte sie lange vor ihren Thränen nicht sprechen. Dem Arzte erschien es natürlich sonderbar, hier von der glänzend gekleideten, aber weinenden Tänzerin angehalten zu werden, doch da er ihr ein paar liebevolle Worte sagte, so war Clara bald im Stande, ihm ihr Leid mitzutheilen. Er versprach nach dem Kinde zu sehen und kam auch noch an demselben Abend zum Erstaunen sämmtlicher Hausbewohner, die seinen Wagen anfahren hörten. Doch zuckte er ebensogut die Achseln wie der Hausarzt, und nachdem er das Kind einige Minuten angeschaut, auch sich nach den Vorgängen erkundigt, tröstete er das Mädchen so gut er konnte und sagte richtig voraus, das kleine Kind werde die Nacht nicht[72] überleben. – – Am andern Morgen war es todt. In Clara's Leben entstand eine große Lücke; sie sah vor sich ein weites, graues Feld, in dessen Mittelpunkte das todte Kind schwebte, das langsam vor ihren Augen versank. –

Das Alles überdachte sie in der heutigen Nacht, und all' die Tage, welche das Kind gelebt, gingen in einem stillen Gebete vor ihrem Geist vorüber. Endlich erhob sie sich wieder, deckte das Tuch über das weiße Gesicht der Kleinen, nachdem sie dasselbe vorher noch mit ihren Küssen und Thränen bedeckt: dann ging sie gefaßter in das Wohnzimmer zurück.

Der alte Mann schien eben seine Arbeit für heute Nacht beendigt zu haben, er klappte das Buch, aus welchem er übersetzte, zu, und legte die Feder darauf hin; dann lehnte er sich in seinen Stuhl zurück und sah nachdenkend vor sich hin.

Clara, welche noch keinen Schlaf verspürte, setzte sich ihm gegenüber und bedeckte ihre rothgeweinten Augen mit der Hand.

»Das Buch ist ein eigenes Stück Arbeit,« sagte der Vater, »wohl für Amerika berechnet, namentlich jene Distrikte, wo man Sklaven hält oder für deren Abschaffung alle möglichen Schritte thut. Wie es aber mit seinem gewiß vielfach übertriebenen und eingebildeten Elend bei uns so großes Aufsehen machen konnte, ist mir nur dadurch erklärlich, wenn ich überhaupt unsere kindische Sucht nach Fremdem in's Auge fasse, oder eine Art wollüstig kitzelnder Grausamkeit annehme, mit der man nach weit entfernten fremden Leiden schaut, da man nicht den Muth hat, das Auge auf den eigenen Weg vor sich zu senken, um hier eine ungleich härtere Sklaverei zu entdecken, tieferen Jammer, größeres Elend.«

»Glaubst du das wirklich, Vater?« fragte nachdenkend Clara, die an jene Unterredung auf der Bühne dachte.

»Ob ich es glaube, mein Kind!« entgegnete finster der alte Mann. »Fragst du mich das im Ernst? Blicke doch zunächst auf uns Alle, auf dich selbst. Sieh doch, wie es uns bei angestrengtem [73] Fleiße, bei der größten Thätigkeit nicht möglich ist, unsere kümmerliche Lage zu ändern; sieh doch zu, wie ich mich hier bis Mitternacht mit meiner Feder abmühe, und ohne deine Hülfe, mein gutes Kind, doch nicht im Stande wäre, ausreichend für unsern nothdürftigen Unterhalt zu sorgen.«

»Es ist wahr, Vater, es ist sehr wahr.«

»Jener Onkel Tom zum Beispiel ist glücklich gegen mich zu nennen; er ist ein Sklave geboren, und konnte, ich gebe zu, daß es sehr traurig ist, von einem Tag auf den anderen gewärtigen, was ihm endlich zugestoßen. Und wenn nun diese Geschichte wirklich wahr, wenn solche Grausamkeiten dort jenseits der Meere verübt werden, so haben seine Leidensgenossen das Mitleid aller Nationen für sich; man beklagt ihr Dasein, man bejammert ihr Schicksal, man thut durch Wort und Schrift, was man kann für Erleichterung des Looses jener schwarzen Sklaven, während man dagegen zu Hause wieder Alles thut, um uns recht hinabzudrücken, recht den Fuß auf den Nacken zu setzen, uns, den weißen Sklaven der Armuth und Geburt. – – Die Verfasserin,« fuhr der alte Mann nach einer Pause fort, eine Amerikanerin, Augenzeuge des von ihr geschilderten Sklavenlebens, hatte gewiß die schönste und lobenswertheste Absicht. Glaubst du vielleicht, mein Kind, daß der Gedanke, Etwas zur Beglückung jenes gedrückten Theiles des Menschengeschlechtes beizutragen, die zahllosen Buchhändler in unseren damit und mit so vielem Anderem gesegneten deutschen Landen vermocht hat, das Publikum mit Onkel Tom's Hütten zu überschwemmen, in Wort und Bild, in Gesängen und Theaterstücken? – Glaubst du das? – Ich nicht! Ich habe von einem gehört, der seinen Enthusiasmus so weit trieb, daß er seine sämmtlichen Zimmer mit Schilderungen aus jenem Negerleben ausschmückte, in übermäßiger Freude, daß er endlich etwas gefunden, was in den jetzt interesselosen Zeiten nach seinem Ausdrucke zieht. Tritt doch hin vor diesen – geistigen Sklavenhändler, der dir die Arbeit [74] ruheloser Tage und schlaflosen Nächte, der dir ein Stück deines Inneren, das du ihm geschrieben, anbietest, abfeilscht, ja abjaunert, der dir ein paar magere Kreuzer hinwirft für dein bestes Herzblut; – tritt doch vor ihn hin und sage ihm, du habest auch eine Elise gefunden, deren Mann, ein fleißiger Mann, sich von ihr und ihrem Kinde trennen müsse und weit über's Meer fliehen, weil er hier kein Brod für sich und die Seinen mehr findet. Der hiesige Georg ist freilich kein Sklave, und sein Weib und sein Kind sind bei keiner guten Herrschaft, die sie auf's Freundlichste pflegt, auf's Beste erhält, die ihr Hülfe verspricht und in guten tief gefühlten Worten Trost spendet. O nein, mein Kind, die hiesige Elise, obgleich auch einstens schön, jung und blühend, ist nun nach wenigen Jahren ein armes, verkümmertes Weib geworden und sitzt auf einer ungeheizten Bodenkammer mit ein paar traurigen Gesellschaftern, dem Hunger und der Kälte; und dazu pfeift der Wind höhnend durch die Risse des Daches; sie selbst friert gern und muß ja frieren, denn in ihren letzten warmen Rock hat sie ihr Kind gewickelt und es schlummert nun leise an ihrer Brust, und wenn es auch zuweilen stöhnt und sich im Schlafe hin und her wendet, so ist es doch im Augenblick vor der Kälte geschützt, und wenn der liebe Gott im Himmel sie nicht gänzlich verlassen hat, so findet sie wohl im Laufe des Tages eine mitleidige Seele, die ihr mit etwas Suppe aushilft. – Vorderhand aber hungert sie und hofft, hofft auf ihren Gatten, daß er ihr Hülfe sendet, hofft auf die Barmherzigkeit des Himmels, daß er ihren kränklichen Körper genesen läßt, um sich alsdann durch Arbeit wieder fortbringen zu können. – – Und wie sie so sinnt und denkt, erweitern sich vor ihren Augen die zahlreichen Spalten und Risse im Dach, und ihr Blick fliegt hinaus über die Dächer der Stadt hinweg in das weite Land und über andere Städte und andere Länder, und endlich sieht sie vor sich eine weite, graue, hie und da mit Schnee bedeckte Fläche, eine trügliche Ebene, die auf [75] und niederwankt. – Sie fühlt auch den Seewind, denn es fröstelt sie kalt und schaurig an; am Ufer des weiten Meeres aber stehen Leute und erzählen sich von dem großen Sturm, der gestern stattgefunden und von dem großen Auswandererschiff, das mit so vielen Menschen elend zu Grunde gegangen. – –

Wie das Weib an diese Stelle des Traumes gekommen, da schreckt sie zusammen und ein herzzerreißender Schrei erweckt fast das Kind auf ihrem Schooße, sie aber zum klaren Bewußtsein. Sie streicht krampfhaft lachend das Haar aus ihrem Gesichte und redet sich ein, es sei doch lächerlich, eine solch' traurige, solch' schlimme Vorahnung zu haben. – –

»Und sie hat in ihrem Geiste die Wahrheit gesehen,« fuhr der alte Mann erschüttert fort. Und dabei hatte er die Hände gefaltet und blickte mit einem seltsam stieren Gesicht an die Decke des Zimmers. – »Aus der Tiefe auf stiegen nächtlich die Geister der Ertrunkenen und sie flogen unverwandten Blicks aufwärts gen Himmel. Es waren viele, viele darunter, wie sie hier in dem Buche beschrieben sind, und auch ihnen wurden droben als armen Sklaven eilfertig die Thüren des Paradieses aufgerissen und sie trugen Alle an sich ihr Sklavenzeichen, nicht jenes eingebrannteT.F. an der Hand, das man im Nothfall ausschneiden oder mit einem eleganten Handschuh bedecken kann, sondern ihnen war dasselbe auf die Stirne geschrieben, und an den zusammengebissenen Zähnen und auf den weißen eingefallenen Wangen las man ein ganzes Sklavenleben, ein Dasein ohne Lust und Freude, dahingeschleppt in Kummer und Entbehrungen.«

Clara hatte mit Entsetzen diesen wilden, so heftig ausgestoßenen Worten, ihres sonst gemüthlichen und ruhigen Vaters gelauscht. Sie drückte ihre Hand auf seinen Arm, wie um ihn zu erwecken, zu besänftigen, und es gelang ihr auch; seine Augen verloren ihren starren Ausdruck und er blickte sie mit inniger, väterlicher Zärtlichkeit an, die aber nicht ohne eine tiefe Traurigkeit war. [76] Dann legte er seine Hand auf ihr dunkles Haar, auf ihre zierliche Frisur, und warf sie leicht auseinander, daß ein paar falsche Perlen und Brillanten auf den Boden rollten, die er verächtlich mit dem Fuße von sich stieß, dann die junge Tänzerin auf die Stirne küßte, wobei ein paar Thränen aus seinen Augen auf die ihrigen herabträufelten.

»Ich verstehe dich wohl, mein Vater,« sagte Clara nach einer Pause; »auch ich bin ja eine arme Sklavin, tief erniedrigt durch meine Stellung und durch die Bösartigkeit der Menschen.«

»Sei es, mein Kind,« erwiderte ruhiger der alte Mann, »sei es wenigstens äußerlich; aber bewahre dein Inneres, bewahre dein Herz, dein gutes Gewissen, daß du frei und stolz um dich blicken kannst, daß du das Auge Gottes nicht zu scheuen hast. Was kümmern dich dann die Reden der Menschen!« –

Einen Augenblick blieb es hierauf still in dem Gemach, und der Vater blickte während der kleinen Pause mit ungetrübter Zärtlichkeit auf das junge Mädchen, dann aber drückte er sie sanft an sich, sein Blick wurde wieder finsterer, und um seinen Mund spielte abermals ein hartes, ja verächtliches Lächeln. »Da haben sie,« sagte er, »aus dem Buch ein Lied gemacht.« Es behandelt den Moment, wo die Sklavin Elise mit ihrem Kinde über die auf- und abschwankenden Eisschollen des Ohio flieht; allerdings eine entschlossene und schöne That. Dieses Lied ist nun von irgend Einem zierlich in Musik gesetzt und wird nun schmachtend gesungen von Tausenden deutscher Frauen und Jungfrauen zu den Akkorden eines Klaviers oder dem Geklimper einer Guitarre, sich selbst und den Zuhörern zum unaussprechlichen Vergnügen, und es ist eine Heldenthat, deren Vorbild man Tausende von Meilen weit herholen mußte, weil sie nichts Aehnliches aufzuweisen hat im lieben Vaterlande. – So glauben sie – –

»Ich habe aber eine Mutter gekannt,« fuhr der alte Mann [77] fort, indem er sich erhob und im Zimmer auf-und abschritt, »die hat für ihr Kind noch unendlich mehr gethan, und man hat sie nicht gepriesen in Büchern und Balladen. Dieses Weib war ein armes unglückliches Weib, und obgleich sie nicht von Sklavenhändlern gejagt wurde, so jagten sie doch noch viel grimmigere Feinde: Noth und Hunger. Sie schrak nicht vor der Arbeit zurück, aber sie hatte in ihren guten Tagen nur gelernt, mit der Nadel kunstvolle Arbeiten zu machen, und nun waren ihre Finger vor Kälte steif geworden, und da sie zurückgekommen und verarmt war, so wollte ihr auch Niemand mehr etwas anvertrauen, womit sie sich einen Verdienst machen und das Leben ihres Kindes fristen konnte. Dieses Weib war keine geborene Sklavin; sie war von einer guten ehrlichen Familie, und deßhalb konnte es ihr in ihrem tiefen Jammer nicht gelingen, irgendwo nur ein Almosen zu betteln; auch hatte sie nicht das Geschick dazu: glücklichere und erfahrenere Almosensammler ließen sie nicht aufkommen. – Da irrte sie Abends herum, ihr Kind in ein ärmliches Tuch gewickelt, – ich glaube es war um die Weihnachtszeit und da thut es doppelt weh, wenn man mit einem halberfrorenen hungrigen Wurm vor hellerleuchteten Fenstern stehen muß, um zuzusehen, wie andere glücklichere Kinder in der Fülle der Gesundheit jubelnd um den glänzenden Weihnachtsbaum springen; – das arme Weib hatte gerade keinen Neid auf diese Eltern und Kinder, sie wünschte nur ein kleines Brod für das ihrige, und als sie so an einem Bäckerladen vorbeikam, wo viel zierliches Backwerk ausgelegt war, kam ihr der Gedanke, dort etwas für ihr Kind zu stehlen. – – – Anfangs schauderte sie zurück, denn sie war arm, aber ehrlich. Als aber das kleine Kind vor Hunger leise wimmerte, als sie so gejagt war von Noth und Verzweiflung, da streckte sie die zitternde Hand aus und nahm ein kleines Brod hinweg, konnte aber damit nicht entfliehen, denn als das Verbrechen begangen war, stand sie vor Schrecken festgebannt. –Die Sklavin entging nicht ihren [78] Verfolgern, sie wurde jenseits ihres mit schwimmenden Eisschollen bedeckten Ohio's nicht von freundlicher Hand aufgenommen. – Die weiße Sklavin erhielt für sich und ihr Kind kein warmes Zimmer, kein gutes Bett; sie fiel der strafenden Gerechtigkeit anheim; sie ist verschwunden und verschollen, kein Buch beschreibt ihre größere That, keine Ballade besingt ihr Elend und das ihres Kindes.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Nach diesen Worten hob der alte Mann seine Hand wie beschwörend gen Himmel und durchschritt mit hastigen Schritten das Zimmer nach allen Richtungen. So oft er aber bei dem Stuhle seiner Tochter vorüberkam, berührte diese leicht seine Hand, worauf sein Schritt jedes Mal ruhiger, sein Blick sanfter wurde. Endlich blieb er vor Clara stehen, faßte ihre Hand und sagte, nachdem er ihr eine Zeitlang in die dunklen Augen gesehen, mit lächelndem Ausdruck im Gesicht: »ja, ja, es ist leider wahr, mein Kind, wir Alle sind Sklaven; sieh' nur mich, deinen Vater, an, glaubst du nicht, daß ich eben so gern ein Zuckerfeld bearbeiten würde, wenn das meine Kräfte zuließen, als diese geistigen Frohndienste zu versehen, die vielleicht hundertste Uebersetzung eines Buches zu machen, das mir unangenehm, ja unheimlich ist! – – Aber ich weiß mich zu trösten, liebe Clara,« fuhr er nach einer Pause fort, während welcher sein Gesicht wieder den alten gemüthlichen und heiteren Ausdruck erlangt hatte, während seine Augen wieder sanft und freundlich strahlten und um den Mund wieder das alte zufriedene Lächeln erschien. »Ja, ja, ich weiß mich zu trösten,« sagte er, »denn siehst du, mein Kind, wären wir, ich, du und vielleicht noch Tausende von Menschen der gleichen Klasse allein dazu berufen, die Sklaven aller anderen zu machen, es wäre entsetzlich, es könnte das nicht lange fortbestehen, und bald müßten sich die Niedergedrückten mit einem einzigen Schrei der Verzweiflung gegen die usurpirte Herrschaft ihrer Unterdrücker auflehnen. [79] Aber es ist nicht so: Alle sind Sklaven, Alle haben keinen freien Willen, auch die, welche stolz auf uns herabblicken; und je höher sie stehen, desto herber fühlen sie ihre Sklaverei.«

Das junge Mädchen sah ihren Vater fragend an, und sagte: »Aber, lieber Vater, die Reichen, die sich für ihr Geld alle Genüsse dieses Lebens verschaffen können –?«

»Sind die Sklaven eben dieses Geldes,« versetzte rasch der alte Mann, »die Sklaven ihrer Leidenschaften, die Sklaven eines oft kranken und deßhalb für viele Genüsse unbrauchbaren Körpers. Sieh' dich um, mein Kind, mit offenem, ruhigem Blick, frage durch alle Schichten der menschlichen Gesellschaft, erkundige dich, wer vollkommen glücklich und zufrieden sei; – du wirst Wenige finden, und wahrlich diese Wenigen am wenigsten in den hohen und reichen Ständen. Dort drückt die unzerreißbare Sklavenkette des sogenannten guten Tons, des Herkommens am stärksten, wenn sie auch der oberflächliche Beschauer nicht sieht, da sie unter Gold und Blumen versteckt ist; dort verletzt ein Wort, ein Blick die kranken Herzen, dort gelten freundliche Augen und lachende Lippen nicht für den Ausdruck eines zufriedenen Gemüths; sie dienen nur dazu, Verdruß, Haß, Wuth, Neid zu verdecken: ein Händedruck, ein freundliches Wort will dort nichts sagen, es ist das hundert Mal die Maske eines Sklaven, der viel lieber knirschend in seine Kette beißen möchte, und den nur die Macht, das Ansehen des Anderen dazu zwingt, ein süßes Gesicht zu machen und den Rücken zu krümmen. –«

»Und alle schleppen diese Kette mit sich herum und lassen sie erst fallen, wenn der erstarrten Hand mit ihr zugleich die Zeichen der Macht und des Reichthums entfallen. – Es ist dies wahrlich in der Welt recht schön und klug eingerichtet,« fuhr der alte Mann lächelnd fort; »Einer ist wie gesagt der Sklave des Andern, und so hängen alle Menschen an einer gewaltigen Kette, vom Bettler bis hinauf zum Könige.«

[80] »Aber der König ist frei,« sagte lächelnd das Mädchen, »ihn kannst du nicht zu den Sklaven rechnen.«

»Gewiß, mein Kind, ihn auch,« antwortete der alte Mann und starrte nachdenkend, doch nicht unfreundlich aussehend vor sich hin. »Er ist auch Sklave der Verhältnisse, seines Schicksals, ja theilweise seiner Umgebung; sein Wille vermag nicht immer durchzudringen; und glaube mir, er in seiner Höhe fühlt es doppelt hart, wenn sich ihm eine andere unsichtbare Gewalt gegenüberstellt, wenn sein Befehl an einer Intrigue abgleitet. Es sind vielleicht nur Kleinigkeiten, die den Herrscher mit den unsichtbaren Ketten umgeben und einengen, aber gerade weil er sonst herrscht und gebietet, fühlt er hier um so schmerzhafter, daß er gefesselt ist. – Ja, Alle, Alle sind Sklaven!«

Bei diesen Worten erhob der alte Mann seine Augen, ließ sie einige Minuten auf dem schönen Gesichte seiner Tochter ruhen, dann wandte er sie sinnend gegen die Mauer, welche das Gemach umgrenzte, die aber seinen Blick nicht aufhielt; sie schien sich vor ihm zu öffnen und er in weite Fernen, in andere Verhältnisse, in fremdes Leben zu schauen. Seinen Mund umspielte ein freundliches Lächeln; er sah in Gestalten und Bildern vor sich, was er vorhin in Worten ausgesprochen; er blickte in die Zukunft und zugleich in die nachfolgenden Kapitel dieses Buches.

8. Kapitel
Achtes Kapitel.
Arthur.

Es mochte etwas über zehn Uhr an dem Abend gewesen sein, als der junge Mann, welcher der Tänzerin, Mamsell Clara, so [81] unverhofft, wenn auch vielleicht nicht unerwartet, einen guten Abend gewünscht, das Haus verließ, nachdem sie die Thüre sanft hinter ihm zugemacht. Als er hierauf durch die Straße ging, konnte er sich nicht enthalten, noch öfters nach dem Hause mit dem hohen Giebeldache zurückzuschauen, und da bemerkte er nur noch ein einziges kleines Fenster erhellt; das übrige Haus lag schon in tiefer nächtlicher Ruhe und Dunkelheit. An dem Lichte aber, das noch so freundlich hinaus schien, saß sie wahrscheinlich; sie blickte vielleicht in die Flamme, die auch er jetzt von Weitem sah – sie mochte vielleicht sogar an ihn denken.

Unter diesen angenehmen Träumereien setzte der junge Mann seinen Weg fort wie Jemand, der durchaus keine Eile hat. Er befand sich, wie wir bereits wissen, in einem entlegenen Stadttheile, wo die Straßen krumm und winkelig liefen, bald mit Häusern besetzt waren, bald nur mit einfachen Gartenmauern, hinter denen Bäume ihre nackten Aeste emporstreckten, und die seltsam angestrahlt waren von dem Schein einer Gaslaterne, die auf der Höhe der Mauer brannte und sowohl diesseits als jenseits das Terrain beleuchtete.

Zuweilen wurde in dieser Gegend der Stadt die Straße von Kanälen durchschnitten, und dann passirte man kleine hölzerne Brücken, auf denen der Fußtritt in der nächtlichen Stille so seltsam klang. Allerlei unregelmäßige Gebäude, Kirchen, große Fruchtspeicher, alte Thürme stellten sich dem Wanderer trotzig und verziert mit weißen Schneekappen in den Weg und man mußte genau seine Richtung kennen, um sich in diesem Labyrinthe nicht zu verirren. Es gab auch freilich noch einen andern Weg, um von dem erwähnten Hause mit dem Giebeldach in die besseren und vornehmeren Stadtviertel zu gelangen, doch suchte der junge Mann, den wir eben begleiten, deßhalb diese andere Straße zwischen den alten Häusern hindurch, weil ihn die seltsamen Formen dieser Gebäude anzogen und er sich ergötzte an dem sonderbaren Lichteffekt, der [82] dadurch hervorgebracht wurde, daß die Straßen immerfort in einer Schlangenlinie liefen, weßhalb oft jener Theil grell beleuchtet ward, während die vorspringende Ecke im tiefsten Schatten lag.

Bald befand sich der einsame Spaziergänger in der Nähe des großen Fruchtmarktes, dem ältesten Theile der Stadt, wo es noch mehrere Häuser gab, die durch ihren Aus- und Eingang ein paar Straßen mit einander in Verbindung setzten. Einer dieser Passagen pflegte der junge Mann nie aus dem Wege zu gehen, weder bei Tage noch bei Nacht, und er erfreute sich jedesmal an der förmlichen Tunnelgestalt, welche der Hauptdurchgang zwischen den Gebäuden bildete.

Das waren zwei alte, massive Häuser mit großen Thoren und mehreren Höfen; zwischen jenen lag die Passage, von der wir oben gesprochen. Es war das eine Art gewölbter Gang, der unter dem einen Hause durchlief und mit der Straße in Verbindung stand. In diesem Gange selbst befand sich eine einzige Thüre, welche durch ein eisernes Gitter verschlossen wurde und vermittelst einer steinernen Treppe in den ersten Stock des großen Gebäudes führte, wo sich eine sonderbare Restauration und Gastwirthschaft befand. Hier war nämlich der Aufenthalt sämmtlicher Bänkelsänger, Orgelmänner, Besitzer von Raritätenkasten, Poeten, welche den Leuten Mordgeschichten erklärten, Harfenmädchen und ähnlichem Volk. Alle fanden hier für billiges Geld ein Unterkommen; man nahm es hier mit den Pässen und Papieren nicht sehr genau, und der Wirth dieser mildthätigen Anstalt, Herr Scharffer, galt nicht blos als sehr entschlossen, wenn es darauf ankam, eine unschuldige Harfenistin vor den Krallen der Polizei zu beschützen, sondern man munkelte auch, er habe schon zum öfteren Male sehr gefährliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft längere Zeit vor den Augen der Justiz zu verbergen gewußt.

Dem sei nun wie ihm wolle, dieser Gasthof – er hieß der Fuchsbau – war, wie gesagt, sehr malerisch gelegen, und schon [83] zum Oefteren von armen Künstlern benützt worden, um das Album irgend einer vornehmen Dame mit einem interessanten Gegenstand zu bereichern. Man fand hier Kloster- und andere Höfe, Theile irgend einer Burg, und wenn man dazu eins der Harfenmädchen nahm, die man zuweilen am Fenster sah, so war ein artiges Bildchen fertig.

Der junge Mann, dem wir folgen, durchschritt träumend den äußeren finsteren Hof und blieb, als er jenen Durchgang erreicht, still betrachtend vor dem herrlichen Lichteffekt stehen, der sich seinem Auge darbot. Der ganze Schein einer Laterne war förmlich in diesen Durchgang gepreßt und strahlte nur in einzelnen Blitzen auf den Hof hinaus, hier die schönen Sculpturen eines Thorbogens erleuchtend, dort von den matten Scheiben irgend eines alten Fensters abstrahlend. Nachdem er sich dies einige Augenblicke betrachtet, wollte er seinen Weg fortsetzen, als er hörte, wie das eiserne Thor in dem Durchgange geöffnet wurde; er vernahm deutlich das Klirren der Schlüssel und hörte Fußtritte, welche die Treppe herab kamen. Da man nicht wissen konnte, mit welcher Gesellschaft man hier zusammentraf, so blieb der junge Mann noch einen Augenblick stehen, um die Anderen vorangehen zu lassen und ihnen alsdann zu folgen. Doch mußte er sich eine Weile gedulden, denn zwei Männer, welche aus dem Hause traten, blieben vor der Gitterthüre plaudernd stehen. Der Eine war der Wirth, Herr Scharffer selbst, ein großer Mann in einer grauen Jacke, einer einfachen Hausmütze, unter der ein sehr entschlossenes und markirtes Gesicht hervorschaute; es war eine Physiognomie, die man, wenn man sie einmal gesehen, nicht so bald wieder vergißt und die man mit ein paar Bleistiftstrichen treffend hinzeichnen kann. Er hatte eine große und lange Nase, einen breiten, stets lächelnden Mund und einen kohlschwarzen, struppig abstechenden Backenbart. Der andere Mann, der neben ihm stand, hatte einen großen Radmantel über die Schultern geschlagen, der ihm bis über die Nase reichte [84] und so sein Gesicht schwer erkennen ließ. Er trug einen gewöhnlichen runden Hut und in der Hand unter dem Mantel ein Spazierstöckchen, mit dem er heftig auf seine Stiefel schlug.

Dem Zuschauer im Hofe waren diese beiden Männer vollkommen gleichgiltig, ja er hatte schon die Absicht, bei ihnen vorbei zu gehen, als der Unbekannte mit dem Mantel einige Worte lauter sprach, worauf der Klang dieser Stimme den jungen Mann plötzlich aufmerksam machte.

»Aber sie soll von hier fort,« sagte er mit klarem und bestimmtem Tone. »Sie soll unter allen Umständen und schon morgen fort. Teufel auch! Man hat ihr noch vor einem halben Jahre mit neuen Papieren ausgeholfen und sie mobil gemacht. Ich kann mich nicht so überlaufen lassen.«

»Sie hat so fest darauf gerechnet,« entgegnete der Wirth, »Sie werden ihr nochmals helfen. Deßhalb erlaubte ich mir auch, Sie hieher zu bitten; übrigens ist sie nicht unbrauchbar; es ist ein Teufelsmädchen.«

»Ja, ja,« meinte der Andere nachsinnend, setzte aber mit lauterer Stimme hinzu: »aber zu bekannt, hier viel zu bekannt.«

»Bah!« versetzte der Wirth, »dafür haben wir Mittel, und die ist mit allen Hunden gehetzt. Was gilt die Wette, sie stellt sich Ihnen irgendwo als französische Gouvernante vor, und Sie sollen sie nicht wieder erkennen. Mein Rath wäre wahrhaftig, sie da zu behalten; seit die Lisette verschwunden ist, fehlt uns Jemand derartiges. Du lieber Gott! bei dem ersten größeren Unternehmen befinden wir uns in Verlegenheit.«

»Aber es kann nicht sein, es kann wahrhaftig nicht sein!« erwiderte der Andere, wie es schien, ärgerlich; »wir wollen ihr Empfehlungen geben, sie soll nach B. gehen, aber hier kann ich sie nicht gebrauchen; das wäre compromittirend.«

»Nur ein paar Tage,« bat der Wirth, »sprechen Sie ein kluges Wort mit ihm.«

[85] »Mit wem?«

»Nun, mit ihm,« sagte der Wirth mit leiserer Stimme, indem er sich scheu umblickte.

»Ah! mit ihm ist schlecht Kirschen essen,« entgegnete der Andere. »Und so Kleinigkeiten! Ich habe wichtigere Sachen für ihn!«

»Aber ich bitte herzlich darum,« fuhr der Wirth dringender fort. »Man kann ihm auch einmal wieder einen Gefallen erweisen.«

»Ihr seid wahrhaftig ein eigensinniger Kerl, Scharffer,« sprach der im Mantel, indem er ungeduldig mit den Achseln zuckte. »Laßt sie laufen; glaubt mir, es ist besser.«

»Ich habe es ihr so gut wie versprochen.«

»Nun denn, in's Teufels Namen! Ich will ihn darum fragen; aber wenn er befiehlt, sie solle abreisen, dann macht mir keine Geschichten, und versteckt sie nicht heimlich bei euch.«

»Gegen seinen Befehl? – Gott soll mich in Gnaden bewahren!« sagte der Wirth, indem er erschreckt zurücktrat. »Nein, nein, durch Schaden wird man klug, und ich verlange in meinem Leben nicht mehr, mit ihm auf unfreundliche Art zusammenzukommen.«

»Ja, er kann hart sein,« erwiderte der Andere lachend, während er seinen Mantel, der herabgerutscht war, wieder über die Schultern warf. – »Nun, gute Nacht! Vergeßt mir nicht Zeichen und Adresse für die nächste Woche; sichtbar bin ich für keinen Menschen.«

»Will's schon behalten!« versetzte der Wirth. »Schneegäßchen Nummer vierundachtzig.«

»Schön,« sprach der Unbekannte im Mantel, und ging mit hallenden Tritten den Durchgang hinab.

Der junge Mann, der dieser Unterredung, ohne es zu wollen, gelauscht, wäre gerne gefolgt. – Diese Stimme war ihm nicht unbekannt; doch wenn er daran dachte, der, dem diese Stimme gehörte, solle hier eine solch' vertrauliche Conversation mit dem verrufenen Wirth zum Fuchsbau halten, so mußte er lächeln. Das war ja gar [86] nicht möglich! Und doch – wie gern hätte er sich überzeugt! Aber es war unmöglich, denn Meister Scharffer blieb, sobald der Andere fortgegangen war, aufmerksam lauschend stehen und schaute bald auf die Straße, bald auf den Hof. Erst als die Tritte des Mannes im Mantel gänzlich verklungen waren, trat der Wirth in das Haus zurück, schloß die Gitterthüre hinter sich und stieg langsam die schmale, steinerne Treppe hinaus.

So schnell als möglich eilte jetzt der junge Mann auf die Straße und bis zur nächsten Ecke, wo er horchend stehen blieb. Doch war es für dies Viertel schon Schlafenszeit, und man hörte nirgendwo auf der Straße ein Geräusch; Alles war todtenstill, so sehr er sich auch anstrengte, vernahm er doch keinen Ton von Fußtritten. Kopfschüttelnd schritt er durch mehrere enge Straßen über den großen Fruchtmarkt und kam nach einer Viertelstunde in einen belebteren Stadttheil und in die Nähe des Schlosses. Dort blieb er vor dem hohen steinernen Portal einen Augenblick stehen, denn hier schieden sich drei Wege, die er alle drei verfolgen konnte, den ersten nach Haus, den zweiten in ein beliebtes Kaffeehaus und den dritten zu einem Bekannten, dem jungen Grafen Fohrbach, der vielleicht schon in seiner Wohnung anzutreffen war, und es von jetzt ab bis ein paar Stunden nach Mitternacht gerne sah, wenn man eine Tasse Thee bei ihm nahm und eine Cigarre rauchte. Er entschied sich für das Letztere; er ließ das Schloß rechts liegen, beging die weitläufigen Nebengebäude desselben und gelangte nach kurzer Zeit in jene lange Straße, in welcher der geneigte Leser zu Anfang dieser wahrhaftigen Geschichte bei Sonnenuntergang einen flüchtigen Blick geworfen.

Da wir nun aber im Begriffe sind, dem in der breiten Straße vor uns Wandelnden in eine kleine auserlesene Gesellschaft zu folgen, so halten wir es für unsere Schuldigkeit, dem geneigten Leser zu sagen, daß der junge Mann, dem wir heute Abend gefolgt, der Sohn eines reichen Banquiers der Residenz ist, daß er in einer [87] Akademie zugleich mit den Söhnen der ersten Familien des Landes erzogen wurde, daß er durch sein gebildetes, feines und liebenswürdiges Betragen in allen Kreisen gern gesehen ward, daß er seines Zeichens ein Maler war und mit seinem Vornamen Arthur hieß; – den hiezu gehörigen Familiennamen werden wir später noch kennen lernen.

Graf Fohrbach war der einzige Sohn seines Vaters, des alten Generals und jetzigen Kriegsministers, und wohnte, seit er mündig geworden, in einem kleinen reizenden Hinterhause des väterlichen Palastes. Der nachsichtige alte Herr hatte ihm in der Mauer, die Hof und Garten umgab, einen neuen Eingang herstellen lassen, an dem sich eine Klingel befand, die mit dem kleinen Hause in Verbindung stand. Eigentlich befanden sich hier zwei Schellenzüge, jede für die Dienerschaft des Grafen von besonderer Bedeutung. Die eine war für die Vertrauten und Freunde, und wenn sie erklang, so sprang die kleine Thüre in der Mauer wie von sich selbst auf, um dann hinter den Eingetretenen sogleich durch eine unsichtbare Macht wieder zugedrückt zu werden.

Auf diese Art trat auch Arthur in den winterlichen Garten, dessen Bäume in weißem Reif prangten; die Blumenbeete waren mit Tannenreisern zugedeckt; Spaliere und Statuen unter starrenden Strohdecken gaben so recht das Bild des tiefen Winterschlafs, in den die Natur versunken war. Aus dem Schornstein eines kleinen Gewächshauses zur Seite qualmte eine dicke Rauchwolke, und das war das einzige Zeichen von Leben, das man im Hof und Garten sah; ein Weg, der bei dem großen Hause vorbeiführte, war vom Schnee rein gefegt und brachte den Maler in wenig Augenblicken in die Thüre des Pavillons, in welchem Graf Fohrbach residirte. Auch hier öffneten sich Haus- und Vorthüre wie von selbst und erst, als man die letztere hinter sich hatte, trat man in ein hell erleuchtetes und sanft erwärmtes Vestibül. Ein Diener in Livrée hob schweigend einen schweren Teppichvorhang auf und [88] ließ den Ankommenden in ein Vorzimmer treten, Wo sich der Kammerdiener des Grafen befand.

Dieser war ein alter Mann mit weißen sorgfältig gebürsteten Haaren, und schien derselbe im schwarzen Frack und weißer Halsbinde auf die Welt gekommen zu sein; wenigstens erinnerte sich von der jetzigen Generation Niemand, ihn je anders als in diesem Anzuge gesehen zu haben. Er las gerade in einem Buche, erhob sich aber aus seinem bequemen Fanteuil, als der Thürvorhang rauschte und ging dem Eintretenden freundlich entgegen.

»Ah! Herr Arthur kommen früh,« sagte der alte Mann, der sich diesen vertraulichen Ton seit den Zeiten der Schule, wohin er seinen Herrn begleitet, nicht mehr abgewöhnt hatte und ihn auch auf die genaueren Bekannten und Freunde desselben ausdehnte. Doch war es eine Auszeichnung, also von ihm angeredet zu werden; entfernteren Bekannten oder Leuten, über deren Charakter er nicht genau in's Klare kommen konnte, gab er ihre vollständigen Titel. – »Der Herr Graf ist vor einer halben Stunde aus dem Theater gekommen.«

»Und ist schon Besuch da?« fragte der Maler.

»O ja,« entgegnete der Kammerdiener mit freundlicher Stimme, »Herr Eduard, Herr Eugen sind da, sowie auch,« setzte er mit plötzlich ernster werdendem Tone und feierlichem Wesen hinzu, »der Herr Baron von Brand.« Darauf nahm er halbverstohlen eine Prise – die goldene Dose ließ er fast nie aus der Hand – nickte ernsthaft mit dem Kopfe, als wollte er ausdrücken: es ist gewiß so, wie ich gesagt, und ging sodann auf die Thüre des Nebenzimmers zu, diese zu öffnen.

»Ist der Herr Baron schon längere Zeit im Salon?« fragte Arthur.

»Er kam vor einer kleinen Viertelstunde,« entgegnete der Kammerdiener.

»Zu Wagen oder zu Fuß?«

[89] »Zu Fuß, – wie die Lakaien sagen, von dem Haupthause her; er schien drüben einen Besuch gemacht zu haben.«

»So, so,« erwiderte nachdenkend und mit leiser Stimme der Maler, fuhr aber laut fort, als er den aufmerksamen Blick sah, mit dem ihn der Kammerdiener betrachtete: »ja, das habe ich mir gedacht; ich glaubte schon, ich hätte ihn anderswo gesehen, aber ich habe mich geirrt.« Nach diesen Worten grüßte er den alten Mann freundlich und trat in einen kleinen Salon, der mit ein paar Lampen erhellt war, in dem sich aber Niemand befand. Dicke Teppiche, die den Boden bedeckten, dämpften seinen Schritt und so konnte er einzelne Worte einer Conversation im Nebenzimmer hören, ohne daß man dort seine Annäherung bemerkte.

Arthur hob den Thürvorhang auf und kam in ein achteckiges Gemach, von welchem noch nach drei anderen Seiten Thüren ausliefen: nach dem Eßzimmer, dem Schlafzimmer und nach einem anderen kleinen Vorsaal, der an ein Glashaus stieß, durch welches allein der Pavillon mit der Einfahrt des Haupthauses in Verbindung stand. Zu diesem Eingang besaß nur Graf Fohrbach die Schlüssel, die er selten, fast nie Jemand anvertraute.

Das achteckige Gemach war mit einem außerordentlichen Comfort ausgestattet, und erschien namentlich bei Nacht äußerst wohnlich; silbergraue Tapeten widerstrahlten das Licht eines kleinen Kronleuchters mit Lampen auf die freigebigste Art; die Fensteröffnungen sah man nicht, da Vorhänge von roth gestreifter Seide davor zusammengezogen waren. Von dem gleichen Stoff waren die meisten Möbel hergestellt, und alle von einer wahrhaft raffinirten Bequemlichkeit. Der Salon war ziemlich groß und hatte Platz für eine Menge Divans, Fauteuils, Chaiselongues, die aber alle ziemlich auffallend durcheinander geschoben waren und von denen drei und vier immer einen kleinen Plauderwinkel bildeten. Ein Smyrnateppich bedeckte den Boden und überall, wo es möglich war, sah man obendrein noch kleine persische Vorlagen. Etwas Eigenthümliches [90] hatte übrigens dieser Salon oder vielmehr die Einrichtung desselben. Ueberall, wohin man blickte, herrschte eine malerische Unordnung, ohne daß übrigens irgend etwas verwahrlost gewesen wäre. So lagen zum Beispiel Handschuhe, Bücher, ein Blumenbouquet zusammen auf einem rothseidenen Fauteuil, ein schwerer Kavalleriesäbel stand mitten in einer Gruppe von Blumen und Sträuchern aufgepflanzt, und über den Schultern eines marmornen Amors hing als Schärpe ein reicher persischer Stoff, den der Graf Gott weiß zu welchem Zwecke gekauft.

Obgleich das ganze Haus frei lag und der Wind nach Belieben um dasselbe her sausen konnte, so bemerkte man doch in dem Salon nichts hievon, denn er stieß nur mit der Fensterecke an das Freie; die übrigen Theile waren, wie bereits erwähnt, von anderen Gemächern umgeben, woher es denn auch kam, daß das Zimmer so behaglich, warm und angenehm war. Im Kamin brannte ein helles Feuer, und vor demselben standen einige Fauteuils, in welchen die jungen Leute, von denen der Kammerdiener vorhin gesprochen, so bequem wie möglich ausgestreckt lagen.

9. Kapitel
Neuntes Kapitel.
Coeur de Rose.

In dem Augenblick, als Arthur eintrat, wurde die Unterhaltung nicht gerade besonders lebendig geführt; irgend Einer hatte eine Bemerkung hingeworfen, welche den Anderen vielleicht nicht Wichtig genug erschien, um viel darauf zu antworten. Genug, man hörte einige beistimmende Ja, ein Ah! dann rauchten Alle ruhig ihre Cigarren fort. Graf Fohrbach, der mit dem Rücken gegen den Kamin saß, winkte dem Eintretenden freundlich mit der Hand und [91] sagte: »Es freut mich, daß Sie noch kommen, Arthur; rollen Sie einen Stuhl herbei. Wo das kleine Rauchmaterial ist, wissen Sie; wenn Sie aber eine lange Pfeife wollen, so klopfen Sie nach gutem türkischen Gebrauch dreimal in die Hände.«

Der Maler dankte und nickte den drei anderen Herren zu, welche sich im Zimmer befanden. Zwei von ihnen, welche der Kammerdiener mit Herr Eugen und Herr Eduard bezeichnet hatte, saßen vor dem lodernden Feuer, der Dritte, der Baron von Brand, lehnte dem Hausherrn gegenüber nachlässig an dem Kamingesims, auf welches er den rechten Arm gestützt hatte, während er die linke Hand zwischen dem zugeknöpften schwarzen Fracke verbarg.

Arthur langte nach einer Cigarre und zündete sie an; nachdem er die einfachen Fragen, als: ob er im Theater gewesen, ob es nicht heute Nacht verflucht kalt werde, mit Ja oder Nein beantwortet hatte, lehnte er sich in den Fauteuil zurück und konnte nicht unterlassen, seine Augen mehreremal über das Gesicht und die Gestalt des Baron Brand hingleiten zu lassen, was uns wir im Interesse des geneigten Lesers ebenfalls zu thun erlauben wollen.

Der Baron Brand mochte einige Jahre über Dreißig zählen; er war von mittlerer Größe, schlanker Taille und, obgleich ziemlich mager, sah man an ihm doch eine hochgewölbte Brust und sehr breite Schultern. Nebenbei, daß die Körperformen dieses Mannes etwas sehr Elegantes, ja Graziöses hatten, entnahm man noch an Allem, was er that, eine außerordentliche Gelenkigkeit, welche auf eine große Körperkraft hindeutete, welche er auch in der That besaß und von der er gerne scherzweise Proben ablegte. Seine Kopfform war eher länglich als rund, sein Teint weiß und frisch, die grauen Augen sehr lebhaft, das Haar von sehr hellem Blond, oder wenn man wollte streifte es, aber kaum merklich, in's Röthliche. Er trug es aus dem Gesichte gestrichen, kurz geschnitten und emporstehend, was zugleich mit dem aufgedrehten Schnurrbart seinem Gesichte etwas Keckes, ja Unternehmendes gab.

[92] Von den zwei anderen jungen Herrn war Eugen von S. der Aelteste dieser Gesellschaft – er mochte vielleicht nahe an die Vierzig sein – eine feste, gedrungene Gestalt mit schwarzem Haar und großem Schnurrbart gleicher Farbe, und trug als Major die Königliche Adjutantenuniform. Der Andere, Eduard von B., war ein junger Assessor, der sehnsüchtig nach dem Rathstitel verlangte und sich schon darauf hin ein äußerst bedächtiges Reden und Benehmen angewöhnt hatte.

Graf Fohrbach endlich, der Hausherr, ebenfalls Adjutant des Königs, hatte höchstens achtundzwanzig Jahre und war ein hübscher, lustiger Offizier von gutem, treuem Gemüthe, aber etwas zu fröhlicher Natur und namentlich, wenn er Waffenrock und Säbel abgelegt hatte, zu allerlei kecken, zuweilen unüberlegten Handlungen aufgelegt.

Es trat eine längere Pause ein, während welcher alle Vier rauchten und sich der Hausherr mit dem Kopf an das Kamin lehnte, um mit großer Aufmerksamkeit dem blauen Dampfe zuzuschauen, wie er in kunstreichen Ringeln an die Decke emporstieg.

»Was meinen Sie, Baron?« sagte er endlich. »Ich hätte wohl Lust, die Wette von voriger Woche nochmals mit Ihnen durchzumachen.«

»Was ist das für eine Wette?« fragte der Major.

»Wir saßen neulich beim Kaffee,« erzählte der Hausherr, »als der Baron Brand auf seinem neuen Rappen vorüber kam. Du weißt, wie er mit der Flüchtigkeit dieses Pferdes renommirt.«

»Und da man deine Leidenschaft für Wetten kennt,« sagte der Assessor, »so trugst du ihm natürlicher Weise gleich eine an?«

»Das versteht sich von selbst,« erwiderte lachend der Graf. »Ich schlug ihm also die bekannte Geschichte vor, er solle nach dem eine Stunde weit entfernten A. hin und zurück reiten, und ich wolle unterdessen ein halbes Pfund kleiner Bisquite auf einem Sitze essen. Wer zuerst mit seinem Geschäft zu Ende sei, ich mit dem [93] Essen oder er mit dem Hin- und Herreiten, habe begreiflicher Weise gewonnen.«

»Und ebenso begreiflich verlorst du,« versetzte der Major. »Ich habe diese Wette schon oft machen und verlieren sehen.«

»Freilich verlor ich,« entgegnete der Hausherr, »aber es fehlten keine sechs Bisquit mehr, und ich hätte unfehlbar gewonnen, wenn ich nicht mit meinem verfluchten Husten wenigstens zwei Minuten eingebüßt hätte. Aber wie gesagt, ich proponire die Wette nochmals, ich kann mich nicht so schlagen lassen.«

Der Baron, dem diese Worte galten, blickte auf den Sprecher nieder und lächelte dabei. Aber dieses Lächeln paßte so gar nicht zu der hohen Stirne, zu dem ganzen kecken Kopfe; es war etwas Süßes und Geziertes darin, ebenso wie in seiner Sprache, ja wie in den Worten, die er sprach. Es war eine wirkliche Enttäuschung, ihn, nachdem man ihn gesehen, auch reden zu hören. Dabei war der Klang seiner Stimme frisch und kräftig, aber die Manier, wie er seine Worte aussprach, weichlich, ja läppisch – eine böse Angewohnheit oder der Beweis von einem schwachen, verzärtelten Gemüthe.

»Nein, nein,« sagte er lachend, »die kleine Wette hat mir zu wohl gethan; ich versichere Sie auf Ehre, es ist etwas Deliciöses, eine Wette zu gewinnen. Und bei Ihnen kommt man selten dazu, lieber Graf. Aber wenn Sie dieselbe vielleicht umgekehrt annehmen würden, so könnten Sie versichert sein, ich mache mir das unendlichste Vergnügen daraus.«

»Daß der Baron den Bisquit verschluckte?« fragte der Major mit seiner tiefen Stimme, »das wäre ein Anblick für Götter! Da betheilige ich mich bei der Wette, wenn ich zuschauen darf; ich sehe ihn schon vor mir, wie er mit dem Daumen und dem Zeigefinger jedes Bisquit auf die zierlichste Weise herumdreht, um es mit Anstand in den Mund zu schieben. – Nein, da würden Sie nicht weit kommen.«

[94] Der Baron lächelte wohlgefällig, wobei er zwei Reihen schneeweißer Zähne zeigte, dann fuhr er mit der Hand durch das dichte Haar, zupfte seinen Hemdkragen in die Höhe und entgegnete: »Sie haben Recht, Major, ich könnte meine Wette verlieren, blos durch den Gedanken, vor den Augen Anderer hastig und ungeschickt zu essen. Ich halte das für fürchterlich; wenn ich überhaupt im Stande wäre, eine neue gesellschaftliche Ordnung einzuführen, so gäbe es keine Diners, keine Soupers mehr. Es ist doch in der That nichts unangenehmer und alle Illusion zerstörender, als wenn man um sich herum eine ganze Menge essender Lippen und kauender Zähne sieht. – Coeur de rose! ich verabscheue das, und wenn ich namentlich an einer Dame Antheil nehme, so bin ich völlig unglücklich, wenn ich mich neben sie zu Tische setzen muß. Ich verbleibe alsdann das ganze Diner mit niedergeschlagenen Augen.«

»Unglücklicher Baron!« versetzte Graf Fohrbach. »Man kennt Ihre niedergeschlagenen Augen. Das ist eines von Ihren unwiderstehlichen Mitteln; Sie schauen nur auf Ihren Teller, um dann plötzlich das neben Ihnen sitzende arme Schlachtopfer mit einem einzigen Blicke niederzuschmettern.«

Der Baron lächelte wie ein vollendeter Geck, worauf er vergnügt seine Fingerspitzen besah, dann den aufrecht stehenden Enden seines Schnurrbarts eine noch drohendere Stellung gab, nachdem er seine Cigarre auf das Kamingesims niedergelegt. »Sie thun mir Unrecht,« sprach er; »ich versichere Sie, wenn ich zuweilen meine Augen auch aufschlage, so habe ich gewiß niemals die Idee, indiscrete Blicke umherzuwerfen. Sagen Sie selbst, meine Herren,« wandte er sich an die Uebrigen, »kann man überhaupt zurückgezogener leben, kann man weniger aus sich selbst machen, als ich thue?« Bei diesen Worten und einem Lächeln, das augenscheinlich dazu bestimmt war, seine eigenen Worte Lügen zu strafen, zog er sein Tuch aus der Tasche und fuhr zierlich damit an seinem Bart [95] und seinen Lippen umher. Das Wehen des Tuches verbreitete einen eigenthümlichen, sehr angenehmen Geruch.

»Da hat er wieder ein neues Odeur entdeckt,« sagte Graf Fohrbach, indem er mit der Hand die Luft gegen sich fächelte und dann den Geruch eifrig einsog. »Was Teufel ist das wieder?«

»Das sind seine Geheimnisse,« versetzte lächelnd der Major. »Aber es riecht in der That nicht unangenehm. Wo bekommen Sie das her, Baron? Wie heißt dieses höchst angenehme Parfum?«

Der also Gefragte wedelte mit seinem Schnupftuche hin und her, dann steckte er es in die Tasche und antwortete mit großer Wichtigkeit: »Sehen Sie, meine Herren, das sind meine Geheimnisse. Jeder Mensch hat die seinigen; der Major, als zweiter Chef der Adjutantur, kennt alle geheimen Ordonnanzen Sr. Majestät; unser theurer angehender Rath blickt in die Entstehung der Gesetze hinein; Sie, Graf Fohrbach, beschäftigen sich mit den Geheimnissen verschiedener Anzüge und unser junger Maler untersucht fast dieselben Geheimnisse, nur daß er sich gang an's Aeußere hält. – Aber mein Departement ist das der feinen Odeurs; meine Forschungen sind emsig darauf gerichtet, und meine Arbeiter und Gesandten darauf hingewiesen, mich im Fach des Wohlriechenden beständig an kalt zu halten.«

»Teufel auch!« rief der Major laut lachend, »das war eine schöne Rede. – Aber jetzt wissen wir gerade so viel wie vorher. Nun, seien Sie ehrlich, wie heißt dieser kostbare Wohlgeruch und wo ist er zu haben?«

»Hier ist er vorderhand nicht zu haben,« entgegnete sehr ernst der Baron. »Ich bekomme ihn von einem Freunde aus Konstantinopel, wo fast das ganze Fabrikat in's Serail geht. Er wird nur von einem einzigen Künstler, einem Armenier, gemacht und heißt coeur de rose.«

»Aha! Daher kommt denn auch Ihr neuer Schwur!« erwiderte der Hausherr. – »Ihr werdet doch bemerkt haben, daß der gute Baron seit einiger Zeit nur beicoeur de rose schwört? – [96] Aber ich kenne ihn,« setzte er mit einer Handbewegung hinzu, »morgen Früh erhalten wir Alle einen Flacon coeur de Rose.«

»Das wäre in der That zu viel verlangt,« sagte bedächtig der Assessor, »denn der gute Baron, der im Punkte des Geruchs ein Monopol haben will, müßte sich augenblicklich ein anderes Odeur anschaffen.«

»Aber halten Sie es nicht für gefährlich, Baron,« meinte lachend der Graf, »so ausschließlich ein Odeur für sich zu besitzen? Das könnte doch bei Ihren vielen Eroberungen zu unangenehmen Verwicklungen führen. So ein armer Ehemann kommt in das Boudoir seiner Frau und merkt gleich, daß Sie da gewesen sind.«

»Das ist gewiß schon oft passirt,« sagte der Major. »Und wenn man das recht in's Auge faßt, so kann man sich eine Verstimmung, die man hie und da bemerkt, erklären. – Apropos! um von Verstimmungen zu reden, so muß dem alten Baron von W. auch wieder was in die Quere gelaufen sein.«

»Ei der Teufel!« versetzte Graf Fohrbach aufmerksam, »erzähl' uns das, Major.«

»Es war eigentlich nur ein Spaß,« entgegnete dieser, »denn wenn wirklich etwas daran wäre, so müßtest du an: Ersten davon wissen.«

»Von dem alten Baron weiß ich verflucht wenig,« erwiderte der Hausherr. »Es ist dir bekannt, daß ich gar nicht in seinem Vertrauen stehe.«

»Aber die Baronin kommt doch häufig in euer Hans.«

»Ah! die schöne junge Frau!« sprach melancholisch der Baron Brand, indem er seufzend in die Höhe blickte.

»In unser Haus?« sagte der Graf. »Du weißt doch, daß ich mit Papa kein gemeinschaftliches habe, und was drüben geschieht, davon erfahre ich nicht besonders viel.«

»Aber zu deiner Mutter kommt die Baronin häufig,« erwiderte der Major.

[97] »Das ist wohl wahr,« versetzte Graf Fohrbach; »aber leider nie in den Stunden, wo ich drüben bin.«

»Er hat leider gesagt, dieser vortreffliche Graf!« mischte sich der Baron mit einem süßen Lächeln in das Gespräch. »Das Leider klingt mir ungeheuer verdächtig.«

»Diesmal hat Sie Ihr gewöhnlicher Scharfsinn getäuscht,« entgegnete trocken der Hausherr. – »Aber was meintest du mit einem Auftritt?« wandte er sich an den Major.

»Oh, es ist eigentlich unbedeutend. Du weißt wohl, daß man von unserem Dienstzimmer in den gegenüberliegenden Flügel des Schlosses sieht, wo Seine Excellenz, der Generaladjutant des hochseligen Königs, der Baron W., wohnt; und du weißt auch, daß ich sehr gute Augen habe. Da stand ich nun vorgestern am Fenster, halb hinter dem Vorhang verborgen, und betrachtete mir die gegenüber liegenden Fensterreihen von oben bis unten. An einem dieser Fenster steht Seine Excellenz mit dem gewöhnlichen finstern Blick, aber nicht mit der gewöhnlichen Ruhe. Jetzt fängt er auf einmal an, auf den Fensterscheiben zu trommeln; es schien mir irgend ein Sturmmarsch zu sein, aber er trommelte nur einige Takte.«

»Wahrscheinlich zum Loslassen der Plänkler,« meinte der Assessor.

»Vielleicht wohl. Es muhte etwas vom Loslassen darin vorkommen, denn gleich darauf ließ er sich selbst los. Sein nicht gerade schönes Gesicht wurde dunkelbraun, sein eines Auge blickte eine Zeit lang stier in den Hof hinaus, dann wandte er sich mit einer raschen Bewegung um und gesticulirte und telegraphirte in's Zimmer hinein, was ich mir ungefähr mit den Worten übersetzte: Madame, ich kann und will Ihren Worten nicht glauben, hol' der Teufel die ganze Geschichte! Aber wenn ich noch einmal sehe, Madame, daß Sie die Vorhänge Ihres immer verschlossenen Wagens hinaufziehen oder daß Sie Jemand Anders anblicken wie mich, so scheue ich einen öffentlichen Eclat ganz und gar nicht und schicke Sie nach[98] Schloß Werdenberg, wo Sie mit undurchdringlichen Waldungen und den alten Portraits meiner Familie kokettiren können!«

»Ich möchte den Major mir nicht gegenüber wohnen haben,« sagte der Baron; wobei er sich indessen Mühe gab, ein starkes Gähnen zu unterdrücken. Offenbar war ihm die Erzählung langweilig.

»Aber woher vermuthest du, daß diese ganze Geschichte sich auf die arme Frau bezog?«

»Ich vermuthe nie,« sprach ernst der Major, »sondern ich urtheile nur nach Vorfällen und Thatsachen. Nachdem also Seine Excellenz den wahrscheinlichen Sturmmarsch mehrmals auf die Fensterscheibe getrommelt und öfters wie ein Kreisel in das Zimmer hineingeflogen war, verschwand er plötzlich vor dem Fenster. Ich blieb an dem meinigen stehen und dachte: du willst doch sehen, ob da nichts weiter vorfällt. Nun dauerte es aber nicht lange, so fuhr drüben ein Wagen vor, Seine Excellenz kamen die Treppen herab, setzten sich ein und fuhren davon. Eine lange Weile nachher wurde drüben an den Fenstern nichts sichtbar, und man bemerkte nur etwas wie einen Schatten im Zimmer auf- und abgehen. Endlich erschien die Baronin zwischen den Vorhängen, sie hatte ein weißes Tuch in der Hand, und ich sah deutlich, wie sie ihre vom heftigen Weinen gerötheten Augen an die Scheiben drückte. So blieb sie einen Augenblick stehen, dann zog sie sich in's Zimmer zurück und die Geschichte war zu Ende.«

»Ist denn der Baron so außerordentlich eifersüchtig und gibt ihm seine Frau Ursache dazu?« fragte der Assessor.

»Das erste ja, das zweite gewiß nicht,« erwiderte der Major. »Sie ist ein armes, kleines, gedrücktes Weib, das bei dem alten Währwolf ein rechtes Sklavenleben führt. Wie hätte die Frau so glücklich sein können, wenn sie in die rechten Hände gefallen wäre! Ich kenne in der That kein freundlicheres, besseres und reicheres Gemüth. Daß sie schön ist, wißt ihr selbst am Besten zu beurtheilen.«

»Sehr schön,« sagte der Baron nun wirklich gähnend; »Figur, [99] Gesicht, Alles. Es wäre eine vollendete Schönheit, nur will mir das Haar nicht gefallen.«

»Das Haar? – Ah! da muß ich bitten,« entgegnete eifrig der junge Maler, der hier eine Veranlassung hatte, sich in das Gespräch zu mischen. »Es gibt kein glänzenderes Haar, kein schöneres Blond.«

»Baron, geben Sie das zu!« rief Graf Fohrbach lustig. »Und Sie werden das Haar gewiß schön finden, wenn ich Ihnen sage, daß es mit dem Ihrigen einige Ähnlichkeit hat.«

Alles lachte, doch Arthur sagte sehr ernst: »Der Graf hat recht; es ist da nichts zu lachen; das Haar der Baronin W. hat in der That mit dem unseres Freundes hier eine große Aehnlichkeit; ja, ich möchte noch weiter gehen und behaupten, daß ich sogar in der Gesichtsbildung der beiden Genannten eine gewisse Harmonie finde.«

»Baron, das schmeichelt,« meinte der Hausherr. »Und der Teufel soll mich holen, Arthur hat nicht ganz Unrecht. Forschen Sie einmal in Ihren Geschlechsregistern nach, am Ende sind die Familien Brand und die der Baronin mit einander verwandt.«

Auf das hin flog ein düsterer Schatten über das lachende Gesicht des Barons, er preßte eine Sekunde lang die Lippen auf einander, worauf aber sogleich wieder seine Züge von dem bekannten süßen und unwiderstehlichen Lächeln erheitert wurden. Er stellte sich breit vor den Spiegel, der über dem Kamine hing, betrachtete sich lange und forschend, sowie mit großer Selbstzufriedenheit, und sagte endlich mit entschiedenem Tone: »Nein, meine Herren, ihr irrt euch, die Baronin, so schön sie ist, kann keine Ansprüche machen, mir ähnlich zu sehen.«

Es sollte das natürlicher Weise nur ein Scherz von dem jungen Manne sein, doch alle Anwesenden, da sie mit seinen Schwächen bekannt waren, konnten sich eines schallenden Gelächters nicht erwehren.

»Wir wollen die Sache nicht weiter untersuchen,« meinte der Major; »nur so viel ist jetzt gewiß, daß die Baronin eine sehr schöne Frau ist.«

[100] »Und der Baron ein schöner Mann,« sagte galant der Hausherr. – »Aber,« setzte er ungeduldig hinzu, »ich begreife nicht, wo unser Thee bleibt. Es muß doch eilf Uhr vorüber sein. – Klingeln wir.«

Dabei hob er seinen Arm empor und zog an der über seinem Haupte befindlichen Glockenschnur.

10. Kapitel
Zehntes Kapitel.
Herr von Dankwart.

Fast zu gleicher Zeit öffnete sich die Thüre und der alte Kammerdiener trat herein, gefolgt von einem Lakaien, der auf einem großen Präsentirteller das Theeservice hereinbrachte, einen Tisch in die Nähe des Kamins stellte und auf demselben Geschirr und Tassen zu ordnen begann, dazu Butter und Brod, etwas kaltes Geflügel und eine einzige Flasche Champagner. Er war mit diesem Arrangement noch nicht zu Ende, als der Bediente, der das Service gebracht und sich wieder entfernt hatte, abermals in das Zimmer schlich und dem alten Manne einige Worte in das Ohr flüsterte.

Dieser richtete sich in die Höhe, dachte einen Augenblick nach, schüttelte leicht mit dem Kopfe und ging zu dem Grafen hin, dem er meldete: »Herr Baron von Dankwart sind draußen und lassen fragen, ob der Herr Graf zu Hause seien.«

»Nein,« antwortete dieser ganz ruhig, indem er die Achseln zuckte. »Ich bin für den Herrn von Dankwart selbst am Tage nicht zu Haus; er soll mich in der Nacht ungeschoren lassen!«

Der Kammerdiener blickte auf den Bedienten, die ser zog mit einem sehr verlegenen Gesicht die Achseln in die Höhe, worauf der [101] alte Mann seinem Herrn sagte: »Er hat die zweite Klingel gezogen, weßhalb ihm der Portier sogleich geöffnet.«

»Woher weiß er, beim Teufel! daß an meinem Hause zwei Klingeln sind? Für ihn ist nur die einzige da!«

In diesem Augenblicke schien der Vorhang, der im äußeren Zimmer hing, sich leicht zu bewegen. Der Bediente hustete verlegen, näherte sich seinem Herrn auf einige Schritte, und sagte mit vorgestrecktem Halse zu ihm: »Euer Erlaucht wollen gnädigst verzeihen, aber der Herr Baron von Dankwart sind bereits draußen im Salon.«

Graf Fohrbach, der ebenfalls ganz genau gesehen, daß bei der Thüre sich etwas bewege, blickte scheinbar nachsinnend zur Decke empor und rief dann mit so lauter Stimme, daß man ihn nothwendig draußen hören mußte: »Ah! das kann nur ein Irrthum sein; Baron von Dankwart kenne ich gar nicht: es gibt keinen Baron dieses Namens hier. – Nicht wahr?« wandte er sich an den Assessor.

»Ich kenne auch keinen Baron dieses Namens,« entgegnete der Gefragte mit vollen Backen, denn er hatte eben angefangen, dem kleinen Goutté zuzusprechen.

»Ah! welch' vortreffliche Spässe!« ließ sich eine laute Stimme im Hinterhalt vernehmen, während ein kleiner Mann zwischen den Vorhängen der Thüre sichtbar wurde, der sich die Gesellschaft schalkhaft lachend betrachtete und sich mit außerordentlicher Beweglichkeit und etwas gespreiztem Wesen derselben näherte. Ein paar Mal schaute der kleine Mann mit vieler Wichtigkeit rechts und links, und seine Hände zuckten beständig, als wolle er sie einer Menge unsichtbaren Bekannten zum Schütteln darreichen, – ein Manöver, das er nun am Kamin angekommen, dort ebenfalls genau auszuführen trachtete, ohne aber großen Anklang zu finden.

Der Graf hatte sich einer Tasse Thee bemächtigt, die er mit einer Hand hielt, während er in der andern die Cigarre hatte. – [102] »Ah! Sie sind's, bester Herr von Dankwart?« sprach er scheinbar erstaunt. »Die Bedienten sprechen alle Namen so furchtbar ungeschickt aus; aber Sie werden verzeihen, daß ich Ihnen meine Hand nicht reichen kann, ich mühte sonst die Tasse oder Cigarre fallen lassen.«

Der kleine Mann, der seine gelben Glacéhandschuhe schon zu dem erwähnten Zwecke emporgehoben hatte, kam durchaus nicht aus dem Gleichgewicht; er hob seine Finger etwas höher, um dem Grafen sanft auf die Schulter zu klopfen, wobei er lachend sagte: »wie dieser gute Graf so ungeheuer bequem ist! Nun, unter Bekannten nimmt man's nicht so genau.« Hierauf sah er forschend im Zimmer umher, rief dem Major einen guten Abend zu, grüßte den Assessor vertraulich, und stieß den Baron von Brand, der am Tische beschäftigt war und ihm deßhalb den Rücken drehte, sanft mit dem Finger in die Seite.

Worauf dieser ohne umzuschauen, einfach mit dem Kopfe nickte, und dabei sagte: »Ah! Herr von Dankwart, so spät noch? – Es freut mich, Sie zu sehen.«

»Das ist in der That ein possirlicher Herr!« erwiderte laut lachend der kleine Mann; »dieser theure Baron von Brand behauptet, mich zu sehen und dreht mir den Rücken; das ist außerordentlich komisch!« Alsdann legte er seinen Hut auf eine Chaise longue, sah sehr freundlich aber nicht ohne Wichtigkeit nochmals im Kreise umher, natürlicher Weise, ohne aber den Maler zu bemerken, der ihm am nächsten saß, und ließ sich dann mit einem leichten Seufzer in den neben ihm stehenden Fauteuil hineinfallen.

Der Graf konnte nicht umhin, Arthur dem eben Angekommenen vorzustellen. »Herr Arthur, ein junger talentvoller Maler,« sagte er – »Herr von Dankwart, Geschäftsmann Ihrer Hoheit, der Frau Herzogin.«

Arthur verbeugte sich, und der kleine Mann drehte mit großer Lebendigkeit seinen Kopf herum, indem er versetzte: »Habe noch [103] nie die Ehre gehabt, in der That noch niemals die Ehre, von Ihnen zu hören, was mir eigentlich sehr befremdend ist, denn die Herren alle hier werden mir bezeugen, daß sich jeder Künstler um meine Bekanntschaft bemüht, daß – wie soll ich mich genau ausdrücken? – es für jeden Künstler von Wichtigkeit ist, von mir gekannt zu sein.«

»In dem Falle,« entgegnete Arthur lächelnd, »muß ich dem heutigen Abend besonders dankbar sein, daß er mir das Glück verschafft, Ihre Bekanntschaft zu machen, und mir gestattet, so viel Versäumtes nachzuholen.«

Herr von Dankwart schaute einen Augenblick aufmerksam in das Kamin; er schien die Antwort des Malers vollkommen überhört zu haben; wie es überhaupt eine Gewohnheit von ihm zu sein schien, nur zu sprechen und zu fragen, ohne eine genügende Antwort zu erwarten. – »Sollten Sie es glauben, bester Graf,« sagte er nach einer Pause, »daß die jungen Künstler völlig auf eigenen Füßen stehen wollen und die Protection tüchtiger Männer für gar nichts achten, keine gute Lehre, keinen Rath mehr annehmen wollen? Ich versichere Sie – nun, ich brauche es eigentlich nicht zu betheuern; die Welt weiß, wie ich mich auf Anordnung und Colorit verstehe, – aber die Herren wollen Alles besser wissen. – Haben Sie das Portrait Ihrer Hoheit gesehen, seit es fertig ist – früher etwas mangelhaft, etwas leer in der Staffage, aber jetzt superb, herrlich! gemalt von Herrn Wiesel –?«

»Ein sehr gutes Portrait!« versetzte Arthur.

»Jetzt freilich,« erwiderte Herr von Dankwart mit scharfer Betonung des ersten Wortes. »Ihre Hoheit steht vor dem Portal Höchst Ihres Landhauses und schaut hinaus in die Gegend. Das war Alles recht schön und gilt, die Allerhöchste Figur kann man sehr gelungen nennen, aber sie schaute in eine Gegend, ohne daß sich etwas Interessantes begibt; also blickte Ihre Hoheit, wenn ich mich so ausdrücken darf, aufmerksam in ein Nichts, denn die bekannte [104] Gegend dürfte doch nicht im Stande sein, die gespannte Aufmerksamkeit Ihrer Hoheit zu fesseln. Darin lag der Fehler, ich fühlte das gleich, obgleich ich mich lange vergebens bemühte, dem Maler Wiesel dies ebenfalls begreiflich zu machen; aber es wäre Schade, wenn man es nicht geändert hätte. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, aber es war eine Leere da, die dem verständigen Beschauer drückend erschien.«

»Und dieser Leere halfen Sie?« fragte trocken der Major.

»Allerdings,« entgegnete wichtig Herr von Dankwart.

»Was aber nicht schwer sein mußte,« warf der Baron von Brand dazwischen, indem er sich mit dein Battisttuch den Schnurrbart wischte. »Man brauchte ja nur ein zierliches Rosengebüsch anzubringen.«

»Diesmal hatte ich eine bessere Idee,« sagte lächelnd der kleine Mann mit Selbstzufriedenheit. »Wiesel war erstaunt darüber; unter uns gesagt, er äußerte sich, es schmerze ihn tief, daß ihm das nicht selbst eingefallen. Ich ließ also,« – fuhr Herr von Dankwart mit gehobener Stimme fort, wobei er Daumen und Zeigefinger der linken Hand vereinigte und sie bestimmt auf und ab richtete, während er diese Worte sprach, – »ich ließ also hinten aus dem Gebüsche den kleinen Hund der Frau Herzogin heraustreten, wodurch die ganze Scene belebt wurde und ein Gegenstand da war, auf welchen sich der fragende Blick der hohen Frau im nächsten Augenblicke richten würde.«

»Vortrefflich!« meinte der Major, indem er große Wolken aus seiner Cigarre blies.

»Und malte Wiesel den Hund?« fragte Arthur.

»Ob er ihn malte!« entgegnete Herr von Dankwart im wegwerfenden Tone, »auf allerhöchsten Befehl –«

»Ich dachte, Sie hätten es befohlen,« sagte bedenklich der Assessor.

»Ich – nun ja, ich,« erwiderte der kleine Mann mit vieler [105] Würde. »Natürlich ich, aber wie es sich von selbst versteht, im hohen Auftrage, im Namen Ihrer Hoheit, der Frau Herzogin. – Aber wissen Sie auch,« fuhr er nach einer Pause in natürlicherem Tone fort, »weßhalb ich eigentlich hieher gekommen.«

»Nein,« versetzte bestimmt der Graf, »ich habe keine Idee davon.«

»Man hat mich versichert, Sie hätten eine Sendung des vorzüglichsten Latakia erhalten, und nun bin ich da, um zu untersuchen, ob er wirklich von so guter Qualität ist. Sie werden mir zugestehen, daß man bis jetzt die beste Pfeife bei mir rauchte; ist aber die Ihrige vorzüglicher, lieber Herr Graf Fohrbach, so kann ich Ihnen in der That nicht helfen; in dem Falle müssen Sie mir einen Theil erlassen. – Soll ich in die Hände klatschen?« – Nach diesen Worten und einem vergeblichen Versuche, mit den kurzen Füßchen den Fußboden zu erreichen, warf sich Herr von Dankwart graziös in dem Fauteuil hin und her und stützte die Ellenbogen auf die Kniee, die Handflächen ausgebreitet, um sie leicht zusammenschlagen zu können.

»Lassen Sie das Klatschen nur sein,« sprach ruhig Graf Fohrbach, »wissen Sie, mein theurer Herr von Dankwart, man ist hier im Hause nur an meine Befehle gewöhnt und Ihr Klatschen könnte mißverstanden werden. Aber ich will für Sie die Klingel ziehen; mit Vergnügen sollen Sie eine Pfeife haben.« Damit hob der Hausherr seinen Arm in die Höhe, schellte zweimal, worauf sich in der Thüre des anstoßenden Schlafzimmers der Jäger des Grafen zeigte und auf erhaltenen Befehl eine angezündete lange Pfeife brachte, die er dem kleinen Mann in den Mund steckte.

Während demselben auf diese Art das Maul gestopft wurde und endlich einmal stille stand, und während er sich mit Behaglichkeit in dem Fauteuil ausstreckte, haben wir Muße, ihn dem geneigten Leser näher zu beschreiben.

Herr von Dankwart war von sehr kleiner Gestalt, die, an sich [106] in recht guten Verhältnissen, nur zu dem ziemlich dicken und unförmlichen Kopfe durchaus nicht Passen wollte, welcher der ganzen Figur etwas Zwerghaftes verlieh. Der eben erwähnte Kopf bildete ein vollkommenes Dreieck von dem spitzen Kinn an bis zu der breiten Stirne, die nach oben an eine außerordentlich dünne Haarlichtung stieß und sich solchergestalt fast bis zum Hinterkopf fortzusetzen schien. Das Gesicht hatte einen ganz eigenthümlichen Ausdruck; es lag etwas Verschmitztes und zugleich sehr Hochmüthiges darin. Die Wangen waren sehr eingefallen und selbst das Gesträuch des dort wuchernden Bartes war nicht im Stande, diese tiefen Thäler auszufüllen. Der Mund war ziemlich klein, die Augen aber weit geöffnet und von einer unangenehmen bläulichen Farbe und geistlosem Ausdruck. Obgleich Haar und Bart so sorgfältig als möglich gepflegt waren, so machte doch der ganze Kopf den Eindruck, als sei er vernachlässigt worden, habe lange Zeit vergessen in einem Winkel gelegen und sei dort von den Ratten abgenagt worden. – Der Anzug des Herrn von Dankwart war untadelhaft von den fein lackirten Stiefeln an bis zu den steifen und hohen Halskrägen; er befand sich im schwarzen Frack und schien aus einer Soirée zu kommen.

Hier, beim Grafen Fohrbach, hatte sein Erscheinen indeß nicht zur Belebung der Unterhaltung beigetragen. Der Hausherr lehnte ziemlich verdrießlich an dem Kamin und ließ große Rauchwolken aus seiner Cigarre aufsteigen; der Major war still und einsylbig geworden, und während sich der Assessor bei einer soliden Restauration mit Champagner und kaltem Geflügel beschäftigte, tauchte der Baron von Brand verschiedene Bisquits in Zuckerwasser – au fleur d'orange.

Der kleine Mann rauchte seinen Tabak prüfend aus der langen Pfeife, sog den Dampf ein, verschluckte ihn unter verschiedenen Grimassen, trank eine Tasse Thee darauf und ließ eine Weile nachher den Tabaksrauch nach ächter orientalischer Manier wieder dem Magen herauf steigen, um ihn hierauf von sich zu blasen.

[107] »Der Latakia ist gut,« sagte er nach einer Pause, »ich möchte sagen, fast so gut wie der meinige, und wenn es Ihnen recht wäre, mein lieber Graf, so machten wir einen kleinen Tausch. – Apropos,« fuhr er nach einem abermaligen tiefen Zuge fort, ohne vorher eine Antwort abzuwarten, »um vom Tauschen zu reden, so kennen Sie, lieber Major, gewiß den kleinen Fuchsen des Prinzen A. Halten Sie ihn von einer guten Zucht, von einer unverfälschten Race, würden Sie zum Beispiel zu einem Tausche zwischen jenem Pferde und meinem Schimmel rathen?«

Der Major blickte einigermaßen erstaunt empor und entgegnete: »Der Fuchs ist ein vortreffliches Pferd, und bei allem Respekt vor Ihrem Schimmel begreife ich doch nicht, wie einem Kenner hiebei ein Tausch einfallen könnte.«

»Es ist vielleicht dem Prinzen darum zu thun,« meinte der Baron von Brand mit einem süßen Lächeln, »etwas zu bekommen, was dem Herrn von Dankwart gehörte; wie man auch sonst wohl die unbedeutendsten Sachen, wenn sie großen Männern angehören, in hohem Werthe hält.«

Der Graf Fohrbach lächelte in sich hinein, und Herr von Dankwart blickte verwundert auf den Sprecher; doch da er dessen gleichmüthiges, unbewegliches Gesicht sah und sich gnädigst erinnerte, man müsse dessen beschränktem Verstande schon etwas zu gute halten, so begnügte er sich damit, die Achseln zu zucken, die Backen aufzublasen und alsdann aus seinem Pfeifenkopfe eine Menge Rauch zu stoßen.

»Es wird spät,« sagte der Major, »ich gehe nach Hause. – Du kannst morgen nicht auf die Jagd?« wandte er sich an den Grafen.

»Herrendienst!« erwiderte dieser; »ich bin morgen in das Vorzimmer gefesselt. Wenn du Nachmittags zurück kommst, kannst du mir erzählen, wie es draußen ausgesehen.«

»Ich komme gegen Abend und werde dich besuchen,« versetzte [108] der Major, indem er sich erhob. »Nun, Assessor, du fährst doch mit mir?«

»Ich hatte auf einen Platz bei Ihnen gerechnet, lieber Major,« sagte Herr von Dankwart, »und schickte deßhalb meinen Wagen nach Hause.«

»Daran haben Sie bei diesem Wetter sehr unrecht gethan,« entgegnete der also Angeredete. »Den Teufel auch, man muß im Winter nicht so unvorsichtig sein! – Ich könnte Ihnen nur ein kleines Bänkchen in meinem Coupé anbieten, aber es ist voll Pelzfußsäcke und dergleichen.«

»Lassen Sie sich eine Droschke holen, Herr von Dankwart,« meinte der Baron von Brand. »Sie können sich denken, daß ich Ihnen mit großem Vergnügen einen Platz bei mir anbieten würde, aber erstens habe ich da den Maler aufgeladen, und zweitens fahren wir nicht ganz direkt nach Hause. – Sie waren auch einmal ein fröhlicher Garçon und werden mich schon verstehen.« Bei diesen Worten hatte er seinen Hut genommen und Arthur leicht angestoßen, als er bei diesem vorüber kam.

Unter dem allgemeinen Aufbruch, der nun erfolgte, schien das ziemlich lange Gesicht des kleinen Mannes, mit dem er diese Abweisungen erhalten, nur von dem Hausherrn bemerkt zu werden. Dieser führte den Major wie absichtslos in eine Ecke, und sagte dort leise zu ihm: »Rückt in Gottesnamen zusammen und nimmt mir den Kerl mit fort, sonst sitzt er mir dahin, langweilt mich noch eine Stunde, und ich muß ihn am Ende nach Hause fahren lassen.«

»Recht!« erwiderte der Andere, indem er den Mund zum Lachen verzog, »wir wollen ihn in die Mitte nehmen.« Dann wandte er sich an Herrn von Dankwart und sagte ihm: »Sie werden hoffentlich so gut von unserer Galanterie denken, daß wir Sie nicht bei Nacht und Nebel allein und zu Fuß nach Hause gehen lassen. Wenn Sie den Mittelplatz zwischen diesen respektabeln [109] Körpern einnehmen wollen« – dabei zeigte er auf den Assessor und sich selbst – »so wird's uns freuen.«

»Das ist mir wahrhaftig angenehm,« entgegnete hierauf Herr von Dankwart mit großer Lebhaftigkeit; »und ich versichere Sie, den Weg zu Fuß zu machen, wäre mir eine Kleinigkeit, da ich bedingungsweise die kühle Nachtluft liebe; aber ich habe Ihnen einiges nicht Unwichtiges mitzutheilen. Ihre Hoheit nannte beim Frühstück Ihren Namen und – doch davon später! Bringen wir also diesen guten Assessor nach Hause, er wohnt nicht weit von hier, und dann fahren wir äußerst angenehm zu mir.« – Bei diesen Worten erhob sich Herr von Dankwart stolz und beruhigt, zog seinen schwarzen Frack in die Taille hinein, warf den Kopf mehr als gerade nöthig war, in die Höhe und reichte seine Finger mit vieler Grazie rechts und links zum Abschiede. Da aber zufälliger Weise Niemand besonders darauf achtete, so gingen mehrere schöne Händedrücke für diese undankbare Welt verloren.

An der Thüre sagte der Baron von Brand zu dem Hausherrn: »Ich hätte bald vergessen, Sie zu fragen, lieber Graf, wie Sie es morgen bei dem Begräbniß der Fräulein von M. halten?«

»O, ich schicke einfach einen geschlossenen Wagen hin.«

»Kutscher und Bedienten?«

»Natürlicher Weise; je größer die Pracht, desto mehr bezeugt man sein Beileid. – Gute Nacht! – Gute Nacht!« –

Der Wagen des Majors fuhr zuerst ab, er selbst darin mit dem Assessor und dem Herrn von Dankwart; doch muß man durchaus nicht glauben, es habe der Letztere sich des angebotenen Mittelplatzes bedient; im Gegentheil, er setzte sich unter vielen wichtig ausgesprochenen, im Grunde aber sehr unwichtigen Redensarten in die rechte Ecke des Coupé's und versicherte, man könne sagen was man wolle, die in hiesiger Residenz gebauten Wagen seien alle unerträglich, ein Uebelstand, dem er aber abhelfen werde, indem [110] er gerade im Begriffe sei, einen neuen Unterwagen zu construiren, so vortrefflich, ja sinnreich erdacht, daß er nothwendiger Weise bei der Ausführung die allgemeine Bewunderung erregen müsse.

Als Arthur im zweiten Wagen mit dem Baron durch die Straßen fuhr, und dieser über gleichgültige Dinge sprach, fiel dem Maler abermals die Aehnlichkeit mit der Stimme auf, die er heute Abend an jenem Durchgange gehört.

»Es ist sonderbar,« sagte er, »wie sich zwei Organe gleichen können; heute Abend zog ich in den Straßen der Stadt umher und hätte unter anderen Verhältnissen darauf schwören wollen, Sie, Baron, da gehört zu haben.«

»Ei der Tausend,« entgegnete Herr von Brand, »und wo war das, wenn ich fragen darf?« Dabei zog er ein Sacktuch hervor, und der ganze Wagen füllte sich mit dem eigenthümlichen Parfum des schon erwähnten coeur de rose.

»Natürlich ist es eine Täuschung,« fuhr der Maler fort, »es war in der Gegend des Marktplatzes, wo die alten merkwürdigen Häuser stehen, für uns Künstler ein interessanter Platz. Es ist dort ein Durchgang.«

»So, ein Durchgang? – Ich erinnere mich nicht.«

»Das glaube ich wohl,« sagte Arthur lachend. »Dieser Durchgang führt namentlich zu einer sonderbaren Kneipe, wo sich herumziehende Musikanten, Gaukler von der Messe, und allerhand Leute von noch weniger ausgesprochenem, aber doch einträglichem Gewerbe zusammen finden.«

»Ah! das muß nicht uninteressant sein!« meinte der Baron. »Waren Sie schon da?«

»In dem Hause selbst nie.«

»Das ist schade, sonst könnten Sie mich einmal hin führen; man sieht da lustige und pikante – – Scenen; ich liebe dergleichen. – Wie heißt die Kneipe?«

»Zum Fuchsbau,« entgegnete Arthur.

[111] »Habe den Namen nie gehört,« versetzte lachend der Baron, »will mir ihn aber merken.«

Damit war der Wagen an dem Hause Arthur's angekommen; der Kutscher hielt die Pferde an, der junge Maler öffnete den Schlag, sprang heraus und wünschte dankend eine gute Nacht.

Als der Baron seine Wohnung ebenfalls erreicht, verließ er das Coupé, welches nach den Stallungen fuhr, während er in den Thorweg seines Hauses trat. Hier war er eben im Begriff, die Klingel zu ziehen, als er bemerkte, daß ihm Jemand von der Straße nachgefolgt war, der, dicht in einen Mantel gehüllt, ganz nahe vor ihn hintrat.

Der Herr von Brand wich bei dieser plötzlichen Begegnung einen Schritt zurück und griff mit der Hand in seine Brusttasche, vielleicht absichtslos, vielleicht aber hatte er auch dort eine Waffe verborgen.

Der Andere, welcher diese Bewegung sah, rief laut lachend: »Gut Freund! Baron; lassen Sie nur stecken! – Teufel auch! ich glaube, Sie hätten nicht übel Lust, eine Pistole gegen mich zu wenden.«

Der Baron, welcher augenblicklich diese Stimme zu erkennen schien, sprach im Tone der höchsten Ueberraschung: »Wie? Sie sind es, gnädigster Herr? – Ich muß gestehen, ich hätte Euer Durchlaucht nicht zu der Zeit hier erwartet.«

»Daran sind Sie selbst Schuld; man findet Sie ja nie, und wo Sie oft sind, habe ich nicht immer Lust hinzugehen.«

»Ah! zum Grafen Fohrbach!«

»Ganz recht! ganz recht! – Haben Sie Zeit für mich zu zwei Worten?«

»Die ganze Nacht. – Aber wollen Euer Durchlaucht nicht zu mir hinauf spazieren?«

»Nein, nein, ich will nach Hause. – Kommen Sie einen Augenblick in die Straße, es ist gleich abgemacht.« – Damit faßte [112] er den Baron unter dem Arm, und Beide traten aus dem Thorwege hinaus, um bei der Häuserreihe in langsamem Schritt auf und ab zu gehen.

»Sie wissen,« sagte der Unbekannte, »ich habe es mit vieler Mühe durchgesetzt, daß Eugenie von S. zum Ehrenfräulein ernannt wurde.«

»Schön,« entgegnete der Baron, indem er mit dem Kopfe nickte; »sie wird im Schlosse wohnen. – Euer Durchlaucht haben da die beste Gelegenheit, sich ihr zu nähern.«

»Teufel auch! wenn mich das nur was nützt! – Sie soll sehr streng sein und wird hier bald einen Anhang von Leuten haben, die mir gerade nicht besonders gewogen sind; ihre Mutter war eine genaue Bekannte des Grafen Fohrbach, sie selbst ist eine Nichte des Major von S. – Und dann ist Eugenie zu schön, siemuß Aufsehen erregen; man wird sich um sie bewerben. – Ich fürchte wahrhaftig den jungen Grafen Fohrbach.«

»Pah!« lachte der Baron, »wen hätten Sie zu fürchten, gnädiger Herr?«

»Na, lassen wir alle Schmeicheleien,« entgegnete der Andere mit einer ungeduldigen Kopfbewegung; »ich stehe schon für mich ein, aber die Partie ist ungleich: Sie wissen, ich bin weder bei den Fohrbach's noch bei Major S. sehr gelitten, habe also keine Verbündeten.«

»Mit Ausnahme des Vaters,« erwiderte der Baron mit seltsamem Lächeln, das aber der Andere nicht sehen konnte, denn er fuhr ungeduldig fort:

»Was nützt mich der Vater? Ich muß hier auf dem Platze auf sie einwirken können.«

»So muß man Ihnen Verbündete schaffen.«

»Deßhalb wende ich mich an Sie. – Glauben Sie, daß das möglich ist?«

»Auf die großen Familien kann ich begreiflicher Weise nicht [113] einwirken, aber ich sehe wohl ein, es ist nothwendig, daß wir vorderhand von allen ihren Schritten unterrichtet werden, daß wir erfahren, wohin sie geht, wen sie empfängt, mit einem Wort, was sie thut und treibt.«

»Und ist das möglich? – Es wird schwierig sein.«

»Nicht so sehr,« meinte der Baron nach einigem Nachdenken. »Was ich verspreche, das Pflege ich zu halten. – Aber auch Graf Fohrbach muß beobachtet werden.«

»Das ist auch meine Ansicht, bester Baron,« sprach eifrig der Andere; »ich wäre Ihnen zu tausend Dank verpflichtet, wenn Sie im Stande sind, so Etwas für mich anzurichten.«

»Verlassen sich Euer Durchlaucht ganz auf mich; ich mache mich anheischig, Ihnen in kurzer Zeit täglich, ja stündlich die gründlichsten und getreusten Berichte sowohl über Fräulein von S., als auch über den Grafen zu machen. – Dagegen aber, gnädigster Herr, hoffe ich, auch vorkommenden Falls vielleicht auf Sie rechnen zu können.«

»Sie wissen, bester Baron, daß Ihnen mein ganzer Einfluß zu Befehl steht –«

»Und ich werde mir erlauben,« unterbrach ihn Herr von Brand, »Euer Durchlaucht – einstens daran zu erinnern.«

»Das hoffe ich, und – die Sache wäre abgemacht.«

»Vollkommen.«

»Ich erhalte meine Berichte –«

»Sobald das Fräulein da ist.«

»Nun denn, vorderhand meinen besten Dank! – Gute Nacht, Baron!«

»Gute Nacht, gnädigster Herr!«

11. Kapitel
[114] Eilftes Kapitel.
Zwei Begräbnisse.

Es ist seltsam, wie man erst nach und nach dazu kommt, Kirchhöfe zu besuchen und ohne Scheu zwischen den kleinen Hügeln umherzuwandeln. Man geht zuweilen hin bei gewissen Veranlassungen, dem großen Schwarm folgend und irgend eine Person zu ihrer letzten Ruhestätte begleitend, die einem im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen ist. Zu der Zeit ist für uns hinter den Mauern des Kirchhofes noch ein fremdes, ja fast gänzlich unbekanntes Land. Vorübergehend schauten wir wohl durch das Gitterthor, und sahen Steine, Kreuze, blühende Rosen und wehende Trauerweidenzweige, und wir liebten es, nicht mehr davon zu wissen, denn der ganze Garten war ein Räthsel, dessen Lösung uns frühe genug klar werden würde. – Wir schritten also im Zuge zwischen den Gräbern dahin, lasen hie und da einen bekannten Namen, traten an ein offenes Grab, sahen Den hinabsenken, den wir begleitet, und kehrten dann wieder zurück, froh darüber, eine oftmals lästige Pflicht erfüllt zu haben. – Da trat der Tod näher in den Kreis der Freunde und zum ersten Mal schritten wir im Zuge, mit wirklichen Thränen im Auge. Wir begleiten Jemand in sein frühes Grab, dessen Augen noch vor Kurzem in das unsrige geblickt, dessen Hand die unsrige gedrückt. Und während wir dahin schreiten auf dem breiten Wege, schauen wir uns schon sorgfältiger um, denn es ist uns schon von größerem Interesse, die Umgebung kennen zu lernen, zwischen der unser Freund ruhen, vielleicht träumen wird. Sie schauen uns nicht mehr so fremd an, die verschiedenartig geformten Steine, die kleinen Gärtchen, von Gitterwerk eingefaßt, die verschiedenen Kreuze in ihrer einfachen Gestalt, nur in der Ausführung [115] so verschieden, vom künstlich gebildeten Marmor bis zum ärmlichen Holz, alle Schichten der menschlichen Gesellschaft darstellend; nein, sie tauschen geheime Zeichen mit uns aus, sie wissen es wohl, daß wir sie auf dem heutigen Gange mit Interesse betrachten. Kommt aber erst die Stunde, wo wir der feuchten Erde draußen etwas anvertrauen, das uns noch näher liegt als Bekannte oder Freunde, kommt jener Augenblick, wo man etwas von unserem warmen Herzen losreißt, um es von den kalten Schollen zudecken zu lassen, so haben wir auf diese Art ein Plätzchen erhalten, ein Eigenthum, an dem wir Stunden lang sitzen können, um träumerisch an vergangene Tage zu denken, während wir auf die sprossenden Pflanzen und Gräser blicken. Und dann hat der Kirchhof nichts Fremdes mehr für uns; wir haben alle Scheu vor seinem stillen Raume verloren, wir machen gerne Bekanntschaft mit seinen Wegen, seinen Bäumen, seinen verschiedenen Monumenten; denn Alles das bildet ja für uns die Umgebung für einen einzigen, sei es auch noch so bescheidenen Platz, für einen Mittelpunkt, der unser Alles ausmacht, für ein kleines Fleckchen Erde, in dem unser Liebstes ruht.

Von da an interessirt man sich auch für die anderen Gräber; – Alles, was sich auf dem Friedhofe befindet, scheint einer einzigen, großen Familie zu gehören, der Verwandtschaft der Todten. – – Man freut sich über bunte Blüthen, die hier und dort entstehen, über einen neuen Stein, der aufgerichtet wird, über ein kleines ärmliches Gipsfigürchen, das einen betenden Engel vorstellt, und das herzliche Liebe auf ein stilles, lange verwildertes Grab gesetzt.

Es gibt Leute, welche sich am Liebsten auf dem Kirchhofe ergehen bei einem düsteren, melancholischen Wetter, wenn ein leiser Wind durch die Bäume rauscht, wenn einzelne schwere Regentropfen melancholisch herabrieseln, oder wenn an den umliegenden Bergen dichte Nebel hangen, die wie graue Schleier tief in das Thal herab [116] hängen, und Monumente, Bäume, und Sträucher nur in undeutlichen Umrissen ahnen lassen: stilles, verdrießliches Wetter, wo die Natur mit trauert, wo die Kapelle des Friedhofes wie ein nebelhaftes Gespenst aussieht, wo an den Brettern, Hauen und Schaufeln ein Tropfen nach dem andern hinabläuft, wo das offene Grab recht freundlich aussieht, wie ein trockener Zufluchtsort gegen die nasse und kalte Witterung draußen. – Wie gesagt, es gibt Leute, die dieser Ansicht sind. Wir aber können uns damit nicht einverstanden erklären; wir lieben den Kirchhof an einem klaren, heitern Tage, wie der des gegenwärtigen Kapitels ist, wo die Sonne mit aller Pracht aufsteigt. – – Auf dem Kreuze der Kapelle und dem Metalldache derselben funkeln Blitze, mit den Bergen rings umher liebäugelnd, die wie im rosigen Licht freundlich lächelnd in's Thal herab blicken.

Im hellen Glänze liegt die ganze Gegend, wie an einem Tag allgemeiner Freude. Obgleich es Winter ist, haben doch die Sonnenstrahlen seit einigen Tagen eine eigene Kraft; halbverwelkte Blätter scheinen ein neues Leben zu empfinden, ein paar frühzeitige Blumen haben unbesonnener Weise ihre Kelche geöffnet, um heute Nacht eines frühzeitigen Todes zu sterben; der Reif an den Bäumen löst sich auf und tropft als Wasser herab; von dem weißen Schnee ist fast nichts mehr zu sehen, und wo noch hie und da in einer Vertiefung etwas liegen blieb, da unterbricht das nicht unangenehm den einförmigen, blätterlosen Kirchhof. Und doch ist hier Alles lebhafter, festlicher geschmückt, als in jedem anderen Garten, denn die vielen Kreuze und Steine brauchen nicht auf neue Blätter und Blumen zu warten, sie stehen da, immer fertig, immer geputzt, von der Sonne bestrahlt und von ihr mit tiefen, scharf ausgezackten Schatten geschmückt. – – Ja, die Immortellenkränze, die hier hängen, sind so warm und schön beleuchtet, daß man glauben könnte, die todten Strohblumen hätten sich eben jetzt geöffnet.

[117] So liegt der Kirchhof da im hellen Morgensonnenscheine; die hohe Mauer, welche mit aus- und einspringenden Winkeln in einer ununterbrochen glänzenden Linie, hie und da tiefe Schatten werfend, ihn umgibt, scheint darauf stolz zu sein, und von ihrem Rande glänzen glatte Kieselsteine, helle Glasscherben und dergleichen mehr gar wunderbar in der Sonne. – Und Alles ist hier so still und aufmerksam; die Arbeiter haben zwei Gräber beendigt, ein großes auf dem schönsten und freiesten Platze des Kirchhofs, ein kleines zwischen alten hölzernen und vermoderten Kreuzen und eingesunkenen Hügeln in einem entfernten Theile, wo man viele Gräber und wenig Wege sieht, wo die Besuchenden sparsam, der blühenden Blumen wenige sind.

Die subalternen Kirchhofbeamten sitzen auf der Treppe der Kapelle, sie haben fadenscheinige schwärze Fräcke an, und Einer läßt eine zinnerne Schnupftabaksdose herumgehen, welche mit den Emblemen seines Handwerks, einem Todtenkopf und zwei Knochen, geziert ist.

Jetzt schlagen die Glocken auf dem Kirchthurme in der Stadt an, und der Schall dringt durch die klare Morgenluft recht hell herüber. Einige Augenblicke scheinen selbst die Kreuze und Steine diesen bekannten Klängen zu lauschen; man könnte glauben, hie und da strecke sich eines von ihnen, um auf den Weg zu schauen und früher zu erfahren, wer denn dort schon wieder gebracht werde.

Der geneigte Leser weiß es bereits, wenn er jetzt aus den Thoren der Stadt zwei Züge hervorkommen sieht, an der Spitze des einen den großen Trauerwagen mit den reich geschirrten Pferden, an der Spitze des anderen aber einen Kirchhofdiener, der unter seinem langen breiten Mantel Etwas trägt; er wird mit uns den ersteren Zug vorbei lassen: eine lange Reihe von reichen Equipagen mit bunten Wappenschildern am Schlag, Kutscher und Bediente in großer Livree, und er will sich dem zweiten Zug anschließen, welcher von dem Hauptwege, den jener andere stolz betritt, [118] bescheiden abweicht und sich in den nämlichen Regionen des Kirchhofs verliert, von denen wir oben gesprochen. Bei beiden Zügen sieht man unter den Sacktüchern Thränen fließen; wenn es aber von der tiefen Trauer der Anzüge abhinge, so müßte dort größerer Schmerz zu finden sein als hier.

Hinter dem Manne mit dem Mantel schreiten die beiden kleinen Geschwister, und die gute ältere Schwester hat das Mögliche gethan, um sie der traurigen Handlung gemäß herauszuputzen. Das kleine Mädchen trägt ein schwarzes Merinokleid, das aber auf allen Nähten und den Aermeln schon stark in's Röthliche schimmert; dem hellbraunen Röckchen des Bübchens eine andere Farbe zu geben, war nicht wohl möglich, weßhalb sich Clara begnügt hatte, an seiner Mütze eine ziemlich lange Florschleife anzubringen, die an der Seite herunter hing und von dem kleinen Leidtragenden mit bedeutendem Stolze betrachtet wurde.

Die junge Tänzerin selbst ging mit ihrem Vater; hinter ihnen folgten die Colleginnen, die, sowie ein Paar Tänzer des Theaters mit dem würdigen Schwindelmann, es sich nicht hatten nehmen lassen, die kleine Leiche zu begleiten. Natürlicher Weise schritt Mademoiselle Therese in erster Reihe; sie trug ein schwarzes Atlaskleid, sehr zierliche Schuhe, einen violetten Sammthut, und das Gesicht mit einem dichten Schleier bedeckt. In ähnlicher Toilette, soviel wie möglich Trauer ausdrückend, befanden sich die übrigen Tänzerinnen; alle hatten in ihren Händen Blumenbouquets, theils wirklich blühende, theils künstlich gemachte.

Die beiden Züge kamen fast zu gleicher Zeit an den betreffenden Stellen an, und von dem Glanz und der Pracht, mit der die verstorbene Stiftsdame zur Erde bestattet wurde, ging ein guter Theil auf das Begräbniß der kleinen Anna über. – »Und ohne daß es nur einen Kreuzer kostete,« – meinte Schwindelmann.

Drüben am Grabe stand einer der ersten Geistlichen, und ein Musikchor unterstützte seine Bemühungen, die Umstehenden in eine [119] recht traurige Stimmung zu versetzen; sie bliesen einen Choral, und einzelne Akkorde derselben hörte man deutlich auch am anderen Ende des Kirchhofs. Ja, die Musik klang dort viel sanfter und angenehmer, und dann vernahm man vor allen Dingen nicht das häßliche Echo der Kirchhofmauer, welche jeden lauten Ton hart und ohne Rücksicht auf den Takt zurückwarf.

Als die Musik geendigt, wurden die Beiden zu gleicher Zeit in ihre Ruhestätte hinabgelassen, und jetzt müssen wir gestehen, daß hier bei der kleinen Anna weit mehr thränende Augen der in dem dunkeln Schooß der Erde Verschwindenden nachschauten, und daß hier alle die kleinen Hände der Tänzerinnen zitterten, als sie eine Hand voll Erde hinab warfen, ja sich dieselben weit bewegter fühlten, als es drüben bei den Herrschaften der Fall war, wo Einer nach dem Anderen, aber Alle in der Reihenfolge ihres Ranges, hervortrat, sich offiziell die Augen wischte, und mit tiefer Trauer die Schaufel ergriff, um der Dahingeschiedenen eine letzte Ehre zu erweisen; dann betete der Pfarrer dort leise das herkömmliche Gebet, hier aber Clara mit lauter Stimme, was ihr gerade ihr Herz eingab, und als sie sagte: »Leb wohl, mein Schwesterchen, es lag nicht in unserer Macht, dich zu retten, obgleich wir Alles an dir nach unseren Kräften gethan. Auch du mußtest sterben, so klein, so lieb und so unschuldig; doch ist es weit besser so: du hättest ein elendes Leben geführt voll Kummer, Noth und Entbehrungen!« – als sie das gesagt und ihre Thränen floßen, da weinte ihr Vater, der alte Mann, ebenfalls vor sich hin, und das Bübchen, welches dies bemerkte und zu gleicher Zeit sah, daß nun die kleine Schwester völlig mit Erde bedeckt war, fing an ganz trostlos zu werden und erhob ein gewaltiges Klagegeschrei. Die umstehenden Tänzerinnen, die bei den Worten Clara's Manches denken mochten, blickten dem Arbeiter aufmerksam zu, wie er nun das kleine Grab ebnete, und Manche hatte, in tiefe Gedanken versunken und her Thränen nicht achtend, die von ihren Wangen herab floßen, [120] die Hände auf einem nebenstehenden nassen Grabstein gefaltet und schien nicht daran zu denken, daß sie ihre neuen Glacéhandschuhe verderbe.

Drüben, wo der Pfarrer eben seine Rede begonnen, war Alles stille wie in einer Kirche; nur hie und da hörte man ein unterdrücktes Husten und Räuspern. – – Da auch fast kein Windhauch die Luft des unermeßlichen glänzenden Himmelsgewölbes bewegte, ertönten die Worte des Geistlichen laut und klar, und drangen weit in die Ferne.

Hier bei dem anderen Grabe hörte man wohl die einzelnen Töne, doch ohne den Zusammenhang zu verstehen, man vernahm nur zuweilen Worte und Ausrufungen, die aber trotzdem recht gut für die kleine Leiche paßten. Es klang herüber von der Liebe Gottes für alle seine Geschöpfe, reich und arm, von einem freudigen Wiedersehen, von einer Vergeltung jenseits nach den guten Thaten hier auf Erden, und nach dem, was man hier geduldet und gelitten. – – Amen! Dieses letzte Wort klang lauter als alle übrigen, und dann vernahm man das Geräusch einer Menge, die sich zum Weggehen anschickte, lautes Husten, Stimmengemurmel, Fußtritte auf dem breiten harten Wege, endlich das Rollen von Wagen, in denen sich Jeder eilfertig nach Hause begab. – Die anderen Leidtragenden im Winkel des Kirchhofes – es waren ihrer auch viel weniger – reichten der armen Clara die Hand, sagten ihr ein paar freundliche Worte und schlichen darauf, nachdem sie ihre Blumen in das frische Grab gesteckt, leise davon. Von den Männern blieb Schwindelmann allein zurück, um die Blumen zu ordnen, die man ihm darreichte; es war eine recht hübsche Menge, und die künstlich gemachten, die am längsten aushielten, rangirte er an dem Kopfende. Endlich war auch dieses Geschäft besorgt, und schickten sich die Letzten an, miteinander fortzugehen. Das war Clara, ihr alter Vater, die beiden kleinen Kinder und Therese. Letztere hatte draußen einen Wagen und ließ es sich nicht nehmen, ihre Freundin nach Hause zu begleiten.

[121] Der alte Mann verließ die Kinder am Thor des Kirchhofes, denn er mußte in der schon gestern besprochenen Angelegenheit einen Gang zu seinem Buchhändler thun. Schwindelmann hatte Dienstgeschäfte und empfahl sich mit einem Händedruck von Clara, worauf er in seinem gewöhnlichen kurzen Trabe in die Stadt zurückkehrte.

Demoiselle Therese hob die Kinder in den Wagen, ließ Clara einsteigen und setzte sich an ihre Seite. Bei dem Bübchen war dies Nachhausefahren das beste Linderungsmittel für den Schmerz um die kleine Schwester; er schaukelte sich in den weichen Kissen, lief mit den Pferden Trab, das heißt, in seinen Phantasten, und indem er seine Beine so schnell als möglich auf und ab bewegte, trommelte er zur Abwechslung auf die Fensterscheiben und verfiel endlich in ein langes und tiefes Nachsinnen, als dessen endliches Resultat er Therese fragte, wo sie den Wagen eigentlich her habe und ob sie seiner Schwester Clara nicht auch einen ähnlichen verschaffen könne.

Clara selbst hatte diese Frage überhört, denn sie dachte an allerlei, an verschiedene Leute, die auf dem Kirchhof waren, sowie an Andere, die sie nicht dagesehen, und als jetzt der Wagen bei einem gewissen großen Hause vorbei rollte – es war ein sehr stattliches Gebäude, welches an der Spitze gothische Fenster und mehrere Balkons hatte – da blickte sie erröthend auf die Seite und seufzte tief auf.

Clara's Vater war inzwischen auf einem anderen Wege zur Stadt zurückgekehrt, und wenn er auch, je näher er an die Häuser kam, um so langsamer ging, so erreichte er dieselben doch am Ende, sowie auch das Ziel seines Ganges, obgleich er recht kleine Schritte, ja sogar wohl absichtlich einen Umweg gemacht; auch rechnete er unterwegs viel zusammen, wenigstens spreizte er im Dahingehen die Finger seiner linken Hand oftmals weiter von einander und fuhr mit dem Zeigefinger der rechten daran herum, worauf er[122] nachdenkend zum Himmel aufblickte. Wir glauben aber nicht, daß das Resultat dieser Berechnungen für den alten Mann angenehm oder befriedigend ausfiel, denn so oft es beendigt zu sein schien, ließ er seinen Kopf ein paar Linien tiefer zwischen die Schultern sinken und zog auch wohl ein rothgelbes Sacktuch aus der Tasche, um damit über das Gesicht zu fahren.

Endlich bog er aus der engen in eine breitere Straße ein und blieb vor einem Hause stehen, neben dessen Thüre ein kleiner schwarzer Schild angebracht war, auf dem mit goldenen Buchstaben geschrieben stand: »Johann Christian Blaffer und Comp.«

Da es uns, geneigter Leser, kraft einer gewissen Zaubermacht, verliehen ist, mit Leichtigkeit uns von einem Ort zum andern zu versetzen, ohne Treppen, Wege und dergleichen benützen zu müssen, ja sogar ganz verschlossene Thüren für uns kein Hinderniß sind, so wollen wir uns in den ersten Stock des gedachten Hauses begeben, und unsichtbar in ein Zimmer an der Treppe eintreten, wo wir den Herrn des Hauses und des schwarzen Schildes, Johann Christian Blaffer, Verlagsbuchhändler, antreffen.

12. Kapitel
Zwölftes Kapitel.
Johann Christian Blaffer und Comp.

Der würdige Mann, der diese Firma repräsentirte, saß bei seinem Frühstückstisch und hatte eine Menge Druckpapiere aller Art: Zeitungen, Broschüren, Correcturbogen und dergleichen neben sich liegen; er stöberte emsig darin herum, hatte aber die Gewohnheit, alle paar Minuten über das Blatt, das er gerade in der Hand hatte, hinwegzusehen und einen Blick in das Nebenzimmer, [123] zu werfen, dessen Thüre halb geöffnet war; meistens blieb es aber nicht bei diesem Sehen, denn sehr häufig räusperte sich Herr Blaffer sehr laut, oder er spuckte auf die Seite und rief alsdann mit heiserem, schnarrendem Tone: »Herr Beil! – Herr Beil! – ich glaube nicht, daß ich Sie auf meinem Comptoir angestellt habe, um Decke und Wände zu betrachtet: Sie thäten weit besser, Herr, wenn Sie sich um Ihr Buch bekümmerten, oder die Bestellzettel sortirten. Was Teufel haben Sie denn immer an die Decke zu schauen?«

»Es ist eine Art Naturwunder, Herr Blaffer, was meine Aufmerksamkeit zufällig in Anspruch nimmt,« antwortete eine tiefe Baßstimme.

»Ich huste in Ihr Naturwunder!« rief entrüstet der Prinzipal, und führte das auch wirklich aus; nur bediente er sich des Spucknapfes dazu.

»Eine Fliege, Herr Blaffer,« fuhr die Baßstimme fort, »im Monat Dezember eine lustige Fliege; sie spazierte soeben an den Wänden und an der Decke umher. Es wäre mir von Wichtigkeit, zu ergründen, ob diese Fliege ein übrig gebliebener Familienvater vom vorigen Jahre oder ob sie ein zufällig neu geschaffenes Geschöpf ist. Ich möchte eine Abhandlung darüber schreiben, vielleicht könnten wir sie selbst verlegen.«

»Sie sind ein Narr!« entgegnete ärgerlich der Prinzipal, indem er emsig in einer Zeitung blätterte; in Wahrheit blickte er aber schärfer als je in das Nebenzimmer.

Es war dies das eigentliche Comptoir, ein Zimmer wie viele der Art, mit weiß getünchten Wänden, an welchen ein Posttarif und ein paar Landkarten hingen, mit einem eisernen Ofen, einem großen doppelten, zweisitzigen Schreibpult und einem Bücherschrank, worin sich die Werke befanden, die Herr Blaffer verlegt oder von seinen Freunden zum Geschenk erhalten.

[124] An dem Ende des Schreibpultes saß Herr Beil, ein Mann von einer merkwürdigen Persönlichkeit. Er war klein, engbrüstig, und sah bis zum Halse, von unten an gerechnet, etwas verwahrlost aus; aber auf diesem Halse, der ziemlich lang war, befand sich ein Kopf, der wohl zu dem tiefen Basse der Stimme, aber durchaus nicht zum Körper des Mannes paßte. Dieses lange Gesicht, die breite Stirne, dieses schwarze Haupthaar und der wohlgepflegte Husarenbart hätte einem sechsfüßigen Untergestell alle Ehre gemacht, während das Alles zusammen hier ziemlich lächerlich aussah. Herr Beil war dabei ärmlich gekleidet und schien durchaus keine Vorliebe für weiße Wäsche zu haben; unter dem alten blauen Ueberrocke sah man eine graue Weste, welche so fest an die hohe schwarze Merinohalsbinde anschloß, daß man auf die Vermuthung kam, sie sei oben angenäht, was wohl auch der Fall sein mochte. Dieses unvortheilhafte Aeußere war ihm, obgleich er kein schlechter Arbeiter war, schon oftmals bei Erlangung guter Stellen hinderlich gewesen, und er mußte sich daher mit sehr mittelmäßigen begnügen, was einer der Gründe war, weßhalb er sich denn auch jetzt hier auf dem Comptoir des Herrn Blaffer befand. Da ihm aber die Beibehaltung seiner Condition nicht besonders am Herzen lag, er auch wohl wußte, daß der Prinzipal für das wenige Geld, was er ihm gab, nicht leicht einen anderen Arbeiter bekomme, so nahm er sich, wie wir bereits vorhin gesehen, hie und da einige Freiheiten heraus, wofür er ein dankbares Publikum an dem Lehrling des Geschäftes hatte, der, den Prinzipal sehr fürchtend, sich außerordentlich darüber freute, wenn der Andere demselben ein paar passende Worte sagte.

Besagter Lehrling war ein blasser blonder Mensch mit einem immerwährenden, halb blödsinnigen Lächeln auf den Lippen, der, wie wir später genauer erfahren werden, bei dem Herrn Blaffer im Hause wohnte und in seinen Freistünden Dienste verrichten mußte, die gerade nicht mit dem Buchhandel und der Literatur zusammenhängen.

[125] Herr Beil warf einen durchdringenden Blick auf den Lehrling und zeigte ihm die bewußte Fliege, die in der That, aber ziemlich matt, an der Decke umher spazierte, rückte hierauf das große Buch vor sich hin und fing an einzutragen.

Der Prinzipal trat in diesem Augenblicke in das Comptoir.

Dieser war ein magerer, ziemlich großer Mann in die Vierzig; er ging etwas vorn übergebeugt und liebte es, die Hände auf dem Rücken zu halten. Seine Kleidung, ziemlich alt, abgeschaben und nicht gewählt, bestand aus einem blauen Frack, dessen spitze Schöße hinten über einander gingen, aus einer grauen Hose, die, eng anliegend, die Mode der weiten Beinkleider glücklich überdauert hatte, und nun wieder elegant geworden wäre, wenn sich nicht die Schwächen des Alters an den Knieen sehr bemerkbar gemacht hätten. Herr Blaffer trug ziemlich große Schlappschuhe, und um dieselben nicht von den Füßen zu verlieren, hatte er sich einen Schlittschuhgang angewöhnt, vermittelst dessen er nun, die lange dürre Nase und das spitze Kinn emporgehoben, die gebogenen Kniee vorgestreckt, in dem Zimmer auf und ab fuhr. Dabei hatte sich dieser Mann ein unangenehmes Gesichterschneiden angewöhnt, indem er das linke Auge zukniff und den Mund höhnisch verzog. Dies that er namentlich, wenn er sich in einer Gemüthsaufregung befand, was bei seinem giftigen reizbaren Temperament häufig genug vorkam.

Nachdem Herr Blaffer einige Male im Comptoir auf und abgefahren war, blieb er mit einer plötzlichen Wendung vor dem Lehrling stehen, schlug ihn leicht an den Kopf und sagte »Sie sind ein junger verschwenderischer Taugenichts. Meinen Sie denn, das Makulatur hätte kein Geld gekostet, daß Sie mit Ihren Füßen darauf herumtrampeln?«

»Da haben Sie Recht, Herr Blaffer,« versetzte der Commis, indem er geräuschvoll ein Blatt umwandte, »Makulatur ist eine theure Geschichte, namentlich die, womit er gerade einpackt.«

»Ich habe Sie nicht um Ihre Ansichten gefragt,« antwortete [126] entrüstet der Prinzipal, während er sein Gesicht auf die oben beschriebene Art verzog.

»Es ist die Geschichte des türkischen Reiches,« fuhr der Andere mit lauter Stimme fort, »die vor vier Jahren gedruckt wurde, und von welcher von der ersten Ostermesse ein Exemplar mehr zurückkehrte, als fortgeschickt worden. – Ja, ja, so ist's, und Sie machten mir von diesem merkwürdigen Buch ein Exemplar zum Geschenk, das dient mir von da ab jede Nacht zum Einschlafen. – Ein schönes Werk! – Pagina sechsunddreißig – Rostbraten und Comp. – sechs Exemplare: keine Hühneraugen mehr! – 1850, bei Johann Christian Blaffer.« –

Diese letzten Worte sprach Herr Beil mit großer Gemüthlichkeit, während er dabei das eben Bemerkte eintrug.

Der Prinzipal hatte anfangs Lust, sich ernstlich zu ärgern; da er aber seinen Untergebenen kannte, so begnügte er sich damit, die Arme über einander zu schlagen, seinen Commis mit einem festen Blick anzusehen und zu sagen: »Herr Beil, werden Sie denn eigentlich nie vernünftig werden? – Es ist wahrhaftig schade, daß ein Mensch von wirklich einigen guten Anlagen durch seine ewigen Faseleien nie auf einen grünen Zweig kommt.«

»Da haben Sie wieder einmal Recht,« antwortete der Commis scheinbar mit großem Ernste. »Ich bin fürchterlich herunter gekommen, wie gesagt – 1850, bei Johann Christian Blaffer. – Es ist ganz entsetzlich!«

Der Prinzipal hatte keine Antwort erwartet, sondern sich in das Postpaket vertieft, das am frühen Morgen gekommen war, dann sah er nochmals die Bestellzettel durch, bald mit einem Lächeln auf den Lippen, bald mit einem finsteren Stirnerunzeln.

Letzteres trat aber häufiger ein als ersteres, denn da Herr Blaffer zugleich ein Commissionsgeschäft hatte, so gehörten die dickleibigen Postpakete, welche jeden Montag und Donnerstag kamen, dem größten Theile seiner glücklicheren Collegen, und ihm [127] selbst blieb nur äußerst wenig, und noch dazu meistens Artikel, die sich schlecht ausnahmen gegen die schweren Zahlen, die hinter andern Werken prangten.

»Bah! bah!« machte der Buchhändler zuweilen und warf irgend einen Zettel mit geringschätzender Miene auf den Tisch. – »Was das deutsche Publikum nach und nach verwildert!« sagte er dann seufzend, »es ist fabelhaft. Nichts als Schund, Schund und wieder Schund! – Das zieht! – Die schönsten Uebersetzungen gehen nicht mehr und die besten deutschen Originalwerke, für die der Verleger Zeit und Kosten aufgewendet, bleiben schmachvoll liegen. Pfui Teufel! – Die besten, besten Werke!«

»Vierhundert Mittel gegen die Engbrüstigkeit und den Husten,« sprach Herr Beil, indem er seine Feder tiefer als gewöhnlich in's Dintenfaß tauchte. – »Gestatten Sie davon Disponenda?« fragte er den Prinzipal, indem er sein linkes Auge, welches Herr Blaffer nicht sehen konnte, gegen den Lehrling auf eine bedeutungsvolle Art zukniff, so daß dieser harmlose junge Mensch beinahe laut aufgelacht hätte.

Herr Blaffer legte nach einer kleinen Weile das Postpaket seufzend nieder und versetzte: »Wenn Onkel Tom nicht wäre, oder ein paar gangbare Dumas'sche Romane, so sollte mich der Teufel holen, wenn ich noch länger deutscher Buchhändler bliebe. Da haben wir vierzig anständige Bestellungen auf die Hütte; nehmen Sie und lassen Sie solche gut versenden.« – Damit reichte er ein Paket über den Pult hinüber. – »Ich hätte, weiß Gott, nie gedacht,« fuhr er nach einer Pause mit einem grinsenden Lachen fort, »daß der Sklavenhandel so ergiebig wäre. Es ist doch was Schönes darum, wenn man so jeden Posttag seine vierzig Schwarze verhandelt.«

»Ja, ja,« entgegnete der Commis wie tiefsinnig, »dazu haben Sie auch alles Zeug, Herr Blaffer; Sie haben eigentlich Ihre Bestimmung verfehlt.«

[128] »Und welche Bestimmung, Herr Beil, wenn ich fragen darf?«

»Sie hätten Ihren Papa seliger bitten sollen, daß er Sie in irgend einem Sklavenlande geboren werden ließ, da würden Sie mit der Zeit ganz artige Beiträge zu einer zweiten Ausgabe irgend einer Onkel Tom's Hütte geliefert haben.«

Der Principal begnügte sich, die Achseln zu zucken und dann mit der Hand an seine Stirne zu fahren, als wollte er auf solche Art pantomimisch anzeigen, wo die schwache Seite seines Commis eigentlich zu finden sei.

Herr Beil stöberte unterdessen eifrig in den Bestellzetteln und sortirte unter den vierzig, die ihm übergeben, mit sichtlichem Wohlbehagen einige Zehn heraus, die er lächelnd über den Pult zurück schob, indem er sagte: »Sie haben sich ein wenig geirrt, Herr Blaffer; auf diesen Zetteln werden allerdings Onkel Tom's Hütten verlangt, aber von anderen Firmen.«

Der Buchhändler, der unterdessen das Bestellbuch eifrig durchgesehen, würdigte diese Einwendung gar keiner Antwort, sondern schob die Zettel mit der Hand wieder zurück und versetzte anscheinend ruhig und bestimmt: »Wenn ich Ihnen Zettel zur Auslieferung übergebe, so liefern Sie aus und machen mir weiter keine unnützen Bemerkungen, denn – –«

Da der Principal seinen Satz nicht beendigte, so hielt sich der Commis hiezu für verpflichtet und sagte: »Ich bin der Herr und ihr seid die Sklaven. – Also vierzig Onkel Tom's Hütte, erster Theil. – Gut!«

In diesem Augenblicke wurde leise und bescheiden an die Thüre geklopft.

Der Buchhändler, der dies wohl hörte, that übrigens nicht, als ob ihn das Klopfen im Geringsten anginge, Herr Beil ebensowenig, obgleich er einen Augenblick in die Höhe schaute. Nur der harmlose Lehrling, der sich am nächsten bei der Thüre befand, wandte [129] das Gesicht herum und rief von »Herein!« die erste Sylbe, die zweite aber blieb ihm in der Kehle stecken, denn er erinnerte sich augenblicklich eines Verbots des Principals, nicht »Herein!« zu rufen, bis ein zwei- oder dreimaliges Klopfen erfolgt sei.

Herr Blaffer hatte dafür seine guten Gründe und er pflegte zu sagen: wer zwei- oder dreimal klopft, der verlangt selten was von uns, wer aber einmal und so bescheiden anpocht, ist größtentheils ein Bettler oder unbekannter Schriftsteller.

»Habe ich Ihnen nicht schon hundertmal gesagt,« lispelte der Principal mit gedämpfter Stimme, aber trotzdem sehr eindrucksvoll, »daß Sie Ihr Maul halten sollen, wenn angeklopft wird! Wie können Sie überhaupt Herein! rufen? – Wer will zu Ihnen? – Niemand! Sie –«

»Junger Sklave!« ergänzte Herr Beil, wobei er aufmerksam eine Illustration zum bewußten Buche anschaute, als gälte dieser der besagte Ausruf.

Indessen klopfte es zum zweiten Male und etwas lauter.

Auch diesmal gab der Buchhändler keine Antwort; doch wurde der erste Commis von einem gewaltigen Husten überfallen, der ihm einen bösen Blick des Chefs eintrug und worauf sich dieser denn nun veranlaßt sah, sein gastliches »Herein!« erschallen zu lassen.

Die Thüre öffnete sich und der alte Mann trat herein, den wir vom Kirchhofe, vom Grabe seiner Tochter, hieher begleiteten und dem wir vorausgeeilt sind.

Begreiflicher Weise hatte er seinen Hut schon draußen abgenommen, und als er nun so demüthig an der Thüre stehen blieb, strich er verlegen sein weißes Haar von der Stirne zurück, begrüßte den Principal, den Commis und sogar den Lehrling.

»Ah! Herr Staiger!« sagte der Principal, indem er ihn mit einer Handbewegung begrüßte. »Setzen Sie sich einen Augenblick dort auf die Kiste, ich muß hier eben einen wichtigen Artikel in [130] der Buchhändlerzeitung durchlesen, der auch auf Sie einige Beziehung hat.«

Bei diesen Worten warf Herr Blaffer einen schnellen Blick auf seinen Commis, doch war Herr Beil anscheinend gänzlich vertieft in die Beschauung seiner Zettel.

Der alte Mann ließ sich auf die Kiste nieder, nahm seinen Hut zwischen die Kniee und richtete die hellen, klaren Augen auf den Buchhändler, welcher übrigens nicht geneigt schien, diesen offenen Blick zu erwidern.

»Ja,« fuhr Herr Blaffer fort, indem er mit seinem knöchernen Zeigefinger der rechten Hand über die Zeitung fuhr und etwas zu suchen schien; »hier steht's. – Richtig! Onkel Tom's Hütte bei Johann Christian Blaffer. – Geben Sie Achtung, ich muß es Ihnen vorlesen, obgleich es nicht gerade sehr angenehm klingt. – Von dieser unten Uebersetzung, der vierundvierzigsten in hiesiger Stadt und, wenn wir nicht, irren, der sechshundertsten im gesammten Deutschland, tritt uns als Uebersetzer ein ganz obscurer Name entgegen. – Wer ist dieser Herr Staiger, der u.s.w. u.s.w. Man muß indessen nicht zu viel auf Recensionen geben,« sagte Herr Blaffer, indem sein Blick das Zeitungsblatt verließ. »Wissen Sie, der Beurtheiler macht eigentlich mir allein den Vorwurf; ich hätte mir sollen einen bekannten Namen erwerben, um ihn auf den Titel zu setzen, wissen Sie, einen Doktor so und so. Es hat ja deren genug, vollkommen genug, die außerordentlich zufrieden sind, wenn man ihnen Veranlassung gibt, ein anständiges Honorar zu erwerben.«

Bei diesen Worten sah der alte Mann schmerzlich in die Höhe.

»Dann spricht der Artikel ferner,« fuhr Herr Blaffer fort, »von mangelhaften Stellen in der Uebersetzung, und vor allen Dingen beklagt er sich über die Langsamkeit, mit der die einzelnen Lieferungen bei mir erscheinen. – Und das muß wahr sein, Herr [131] Staiger, langsam geht die Geschichte vorwärts. An dem wie vielsten Hefte sind wir eigentlich?«

»Am vierten,« entgegnete ruhig Herr Beil, »während vierundzwanzig andere Buchhandlungen hiesiger Stadt das zweite kaum ausgegeben haben.«

»Die zweite Lieferung!« rief Blaffer mit einem wahren Giftblick auf seinen Gehülfen. »Den zweiten Band wollen Sie sagen. – Doch das ist gleich viel. Sie müssen sich wahrhaftig beeilen, mein lieber Herr Staiger, sonst kommen uns die anderen weit zuvor.«

»Ich arbeite Tag und Nacht,« erwiderte der alte Mann, »denn es ist mir selbst darum zu thun, etwas für mich und die Kinder zu verdienen. Hier ist Manuscript zur fünften Lieferung; sie wäre schon ganz fertig, doch habe ich in den letzten Tagen einiges Herzeleid zu Haus gehabt, was mich am Arbeiten verhindert. Wenn man ein sterbendes Kind vor sich sieht, Herr Blaffer, so will es einmal so gar nicht recht vor sich gehen mit der Uebersetzung des Sklavenlebens eines anderen Welttheils.«

»Es ist Ihnen ein Kind gestorben?« fragte theilnehmend der Commis. »Doch nicht Mamsell Clara?«

»Nein, nein!« entgegnete eifrig der alte Mann; »das hat der liebe Gott denn doch nicht gewollt. Mein kleinstes Mädchen starb, ein armes Kind, das immer kränklich war.«

»Nun, so danken Sie dem Schöpfer, daß er es zu sich genommen. Kinder sind ein Segen, aber auch eine Last. – Nun geben Sie ihr Manuscript her. – Aber da fehlen noch zwei Bogen, bis die Lieferung fertig ist. Ah! ich wollte, wir hätten sie ganz!«

»Das wollte ich auch,« sprach Herr Staiger mit einem verlegenen Lächeln, indem er den Hut zwischen den Händen herum drehte und von der Kiste aufstand. – »Das wollte ich in der That auch, mein verehrter Herr Blaffer, denn sehen Sie, ich hatte darauf [132] gerechnet, die fünfte Lieferung heute Früh noch zu beendigen, – es ist Mitte des Monats, das Bischen Einkommen meiner Tochter Clara ist längst verbraucht, die kleine Leiche hat meine Kasse in Anspruch genommen, und so wäre ich denn außerordentlich glücklich und zufrieden, wenn die fünfte Lieferung fertig wäre, um – um – das Geld dafür – –«

»Auch ich wäre sehr zufrieden, wenn die fünfte Lieferung fertig wäre,« unterbrach ihn rasch der Buchhändler. Es ist sehr traurig, daß sie nicht fertig ist. Da wartet das Publikum, da wird man hinausgeschoben, da kommt man mit dem Buch in's neue Jahr hinein, und da muß man mit der Heimbezahlung warten, daß Einem Hören und Sehen vergeht. – Ah! ihr Schriftsteller seid glücklich gegen uns zu nennen: hier das Manuscript, hier das Geld. Aber wissen Sie, wie lange ich warten muß, wie lange sich der Buchhändler überhaupt gedulden muß?

»Nein, ich weiß es nicht,« sagte geduldig der alte Mann.

»Oft zwei Jahre,« fuhr der Buchhändler mit lauter Stimme fort und betonte die »zwei Jahre« außerordentlich stark. »Zwei volle Jahre! Ja, das ist entsetzlich!«

»Alsdann nehmen Sie aber auch große Summen ein,« entgegnete Herr Staiger. »Aber hier handelt es sich nur um ein paar Gulden, die ich in zwei, höchstens drei Tagen wieder abgearbeitet habe, nur eine Kleinigkeit als – – – Vorschuß.«

»Kommen Sie einem Buchhändler nicht mit Vorschüssen!« rief entrüstet Herr Blaffer. »Diese Vorschüsse bringen doppelten Schaden. Erstens kosten sie uns Geld, das man noch nicht einmal schuldig ist, also verlieren wir Zins, und zweitens entfremdet es den Autor dem Verleger. Nur um Gotteswillen keine Vorschüsse!«

»Aber bei dem wirklich kleinen Honorar, welches Sie mir zahlen,« erlaubte sich der alte Mann mit großer Aengstlichkeit zu sagen, »könnten Sie mir wohl für einmal diesen Gefallen thun. Ich brauche nur vier Gulden.«

[133] »Kleines Honorar!« rief entrüstet der Buchhändler. »Ich bitte Sie um Gotteswillen, Herr Staiger, Sie erhalten für den Druckbogen, glaube ich, einen Gulden und dreißig Kreuzer, und das nennen Sie ein kleines Honorar! – Wer schrieb uns doch gestern,« wandte sich Herr Blaffer an den Commis, und bot uns eine Nebersetzung zu einem Gulden und zwölf Kreuzern per Bogen an? – Es war sogar ein bekannter Name. – War es nicht Doctor Hintermaier? – Soll ich Ihnen den Brief zeigen? fragte er rasch den alten Mann. – »Beil, sehen Sie in H. nach und suchen Sie nach dem letzten Schreiben von Doctor Hintermaier.«

»Da werde ich vergebens suchen,« erwiderte ruhig der Commis, »das ist einer von den Briefen, die Sie angeblich in Ihrer Privatsammlung aufzuheben pflegen.«

»Möglich! möglich!« unterbrach ihn rasch der Principal, denn er fürchtete, noch Unangenehmeres zu hören. »Ich werde ihn wohl in der Tasche meines Ueberrocks haben. – Nun, es ist ja gleichviel! Aber ich versichere Sie: den Bogen zu einem Gulden und zwölf Kreuzern.«

Herr Staiger schüttelte den Kopf und entgegnete gedankenvoll: »Das kann nicht mit redlichen Dingen zugehen; da müßte man von anderen Uebersetzungen abschreiben.«

»Ja, das ist auch eine Kunst,« versetzte der Buchhändler, indem er mit dem Daumen und Zeigefinger seine lange Nase zwickte. »Das ist nicht so ganz schlecht, aus drei Uebersetzungen eine vierte machen. Wenn man es geschickt anfängt, merkt's das Publikum nicht und der Verleger erspart sein theures Geld. – Aber das kann ich Sie versichern, mein lieber Herr Staiger: von Vorschüssen müssen Sie mir nicht sprechen. Vorschüsse bewillige ich selten, und nie bei Artikeln, an denen man so wenig verdient, wie bei diesem unglückseligen Buche.«

Der Buchhändler hatte sich ordentlich in die Hitze hineingesprochen und seine Rede klang um so überzeugter, als er auf dem [134] Gesichte seines ersten Commis zu lesen glaubte, daß dieser mit ihm übereinstimme, was äußerst selten geschah.

Herr Beil hatte die Augenbrauen in die Höhe gezogen, den Kopf nachdenkend auf die Seite geneigt und sagte nach einer Pause mit der größten Ruhe und Ueberzeugung: »Sehen Sie, mein verehrter Herr Staiger, diesmal ist der Herr Blaffer vollkommen in seinem Recht. Sie wünschen einen Vorschuß – zu welchem Zwecke? Wahrscheinlich um Holz zu kaufen, weil es Sie und Ihre kleinen Kinder zu Hause friert. Ferner um Brod zu kaufen, weil es Ihre Familie hungert; dann endlich, um die Kosten des kleinen Begräbnisses zu bezahlen, weil dies, namentlich für arme Leute, ein theurer Spaß ist – – Ernst wollte ich eigentlich sagen. Dazu also wollen Sie Vorschuß? – Habe ich nicht Recht?«

Der alte Mann nickte traurig lächelnd mit dem Kopfe.

»Aber der Herr Blaffer verweigert Ihnen diesen Vorschuß, obgleich es nur ein paar armselige, lumpige Gulden sind. Und der Herr Blaffer, obgleich ein sehr ehrenwerther Mann wie der selige Brutus, kann nicht anders handeln. Sie sollen für ihn ein Buch übersetzen, das von allerlei großen und kleinen Leiden einer Menschenklasse handelt, die man Sclaven nennt. Darin kommen Hunger, Durst, frierende, auch sterbende Kinder und dergleichen schöne Sachen mehr vor. Das aber mit dem richtigen Tone wieder zu erzählen, würde Ihnen schwer fallen, wenn Ihnen nicht die große Güte des Herrn Blaffer Veranlassung gäbe, all' diese schönen Dinge bei sich selbst zu erleben. Sehen Sie, nur aus dem Grund verweigert er Ihnen den Vorschuß. – Sie frieren zu Hans, Sie hungern auch ein klein wenig, Ihre Kinder ebenfalls, und Alles das macht Sie geschickt, die vortrefflichste Uebersetzung zu liefern für das bekannte Haus Johann Christian Blaffer und Compagnie.«

Damit schlug Herr Beil dröhnend sein Buch zu, rutschte von dem Comptoirstuhl herab und verließ das Zimmer, nachdem er zuvor vor einem armseligen Spiegel in der Ecke seinen großen schwarzen[135] Schnurrbart so horizontal als möglich nach beiden Seiten hinaus gestrichen.

Der Buchhändler hatte anfangs nicht gewußt, was die Rede seines Commis bedeuten solle. Ja, sie war ihm zuerst sehr gutmeinend vorgekommen, und er hatte sie mit einem beistimmenden Kopfnicken begleitet. Bald aber hörte dieses Kopfnicken auf, die Nase hob sich drohend und immer drohender, sein aschgraues Auge blitzte und die zuckenden Finger suchten nach irgend etwas Schwerem, um es seinem Gegenüber an den Kopf zu werfen. Doch bezwang er sich männlich, that einen tiefen Athemzug, und indem er mit der einen Hand verächtlich auf Herrn Beil zeigte, wie er noch vor dem Spiegel stand, wiederholte er mit der anderen die Pantomime von vorhin nach der Stirne.

Während jener Rede hatte der alte Mann auf seinen Hut geblickt und den Commis nur ein einziges Mal angesehen. Aber dieser Blick, den er ihm zuwarf, war freundlich, ja dankend. Er schien auch jetzt vollkommen resignirt zu sein und zog sich nach der Thüre zurück, um das Zimmer zu verlassen, als dieselbe nach einem kurzen aber heftigen Anklopfen von außen so rasch geöffnet wurde, daß sie Herrn Staiger beinahe auf die Seite drückte.

13. Kapitel
Dreizehntes Kapitel.
Uebesetzungs-Angelegenheiten.

Der junge Mann, der unter die Thüre des Zimmers trat und sich in diesem einen Augenblick umschaute, ehe er näher kam, war der Maler Arthur, der dem geneigten Leser bereits bekannt ist. Er [136] überzeugte sich durch einen Blick, daß sich Herr Blaffer auf seinem Comptoirstuhl befand, dann nahm er seinen Hut ab und trat in das Gemach.

»Ah! Sie sind's, mein vortrefflicher junger Freund!« rief der Principal, indem er von seinem Sitz herab hüpfte und mit vor gestreckten Händen und Knieen auf den Eingetretenen zurutschte »Ah! Sie sind pünktlich, wie ich es liebe und wie ich es selbst in allen Geschäften bin. Schlag eilf Uhr. Wollen wir nicht in mein Wohnzimmer spazieren?«

»Ich meines Theils befinde mich ganz gut hier,« sagte der Maler, nachdem er für die freundliche Begrüßung mit einem Kopfnicken gedankt, ohne jedoch den doppelten Händedruck besonders stark erwidert zu haben. – »Geschäfte macht man am besten im Geschäftslokal ab, und Anderes führt mich nicht daher.« Bei diesen Worten trat er an den Pult, um Hut und Stock abzulegen; und als er sich darauf umwandte, entdeckte er erst den alten Mann, der den Griff der Thüre erfaßt hatte und sich eben Hinausschleichen wollte.

Herr Blaffer sah sich genöthigt, die beiden Herren mit einander bekannt zu machen. – »Herr Staiger,« sprach er, »einer meiner Uebersetzer, – Herr Arthur Erichsen, einer unserer talentvollsten, geachtetsten jungen Maler, ein Talent, welches so Großes verspricht, und sich dennoch herablassen will, unser geringes Werk zu illustriren.«

Arthur schüttelte unmuthig den Kopf über diese Worte des Buchhändlers; doch konnte einem aufmerksamen Beschauer nicht entgehen, daß er dies eigentlich nur that, um eine augenblickliche Verlegenheit, ja eine gelinde Röthe, die sich über sein Gesicht verbreitete, zu verbergen. Er kannte ganz genau den alten Mann, der vor ihm stand, und er hatte eigentlich gehofft, ihn hier zu treffen. Daß ihn der Vater der schönen Tänzerin, die er so sehr liebte, noch mit keinem Auge gesehen, machte er sich gewissermaßen [137] zum Vorwurf und ging deßhalb auf den alten Mann mit einiger Befangenheit zu, wobei er ihm aber freundlich seine Hand entgegen reichte.

»Ich freue mich in der That, Sie zu sehen,« sagte Arthur; »recht sehr freue ich mich, und obgleich Sie wohl im Begriff zu sein scheinen, wieder hinweg zu gehen, so bitte ich Sie doch, da zu bleiben, indem mir Ihre Ansicht bei der Unterhandlung mit Herrn Blaffer von Wichtigkeit ist.«

Herr Staiger blickte einigermaßen überrascht in das freundliche Gesicht des unbekannten jungen Mannes, der, seinem Aeußeren nach, offenbar den besten Ständen angehörend, sich nicht an sein abgeschabtes Röckchen zu kehren schien und ihm so freundlich entgegen kam.

Der Buchhändler zuckte leicht die Achseln, bat den Maler, ihm gegenüber den Platz des Herrn Beil einzunehmen, und kletterte dann ebenfalls wieder auf seinen Schreibbock hinauf.

Arthur blickte fragend auf den alten Mann, der hinter der Thüre neben der Kiste stehen geblieben war, dann wandte er sich an den Lehrling und sagte ihm ruhig und bestimmt: »Bringen Sie doch dem Herrn einen Stuhl; Sie sehen ja, daß wir sitzen und Herr Staiger uns zu Liebe da bleibt.«

Der Buchhändler nickte verdrießlich mit dem Kopfe, und der junge blonde Mensch eilte nicht ohne ein kaum bemerkbares Lächeln in's Nebenzimmer, von wo er alsbald mit einem der besten Stühle seines Principals zurück kam.

In diesem Augenblicke trat Herr Beil in das Zimmer, wollte sich aber wieder zurückziehen, da er seinen Platz besetzt fand.

Arthur blickte in die Höhe und als er den Commis sah, der ihm wohl bekannt war, nickte er ihm freundlich entgegen und sagte: »Sie werden entschuldigen, lieber Herr Beil, daß ich einen Augenblick Ihren Stuhl eingenommen, ich werde übrigens nicht lange Gebrauch davon machen, da wir bald im Reinen sein werden.«

[138] Bei diesen Worten flog an diesem Morgen das erste freundliche Lächeln über das Gesicht des Buchhändler-Commis. »Ah! Sie sind es!« versetzte er; »freut mich recht, Sie zu sehen. Warten Sie, ich will Ihnen gleich einen Bogen Papier unterbreiten, denn ich sehe, Sie haben schon den Bleistift in der Hand; sonst zeichnen Sie mir wieder allerlei Ungeheuer in mein Hauptbuch.«

»Seien Sie unbesorgt,« entgegnete Arthur lächelnd, »ich habe mir Ihre Lektion von neulich gemerkt.«

»Nun endlich zur Sache!« rief ungeduldig der Buchhändler. »Lassen Sie uns in Frieden, Herr Beil! Schauen Sie lieber diesem jungen faulen Schlingel da zu, der mit einer Langsamkeit einpackt, daß es wahrhaftig zum Erbarmen ist. – Also, Herr Staiger,« wandte er sich an den alten Mann, »da Sie nun einmal da sind, ist es mir lieb, wenn Sie zuhören, auch vielleicht Ihren Rath geben. Herr Erichsen will also die Freundlichkeit haben, zu unserer Ausgabe von Onkel Tom's Hütte vortreffliche Illustrationen zu machen. Es ist mir ein Bedürfniß, Originalzeichnungen zu er halten, denn ich hasse den Nachdruck, selbst wenn er vollkommen erlaubt ist wie hier, wo es sich nur darum handelt, englische Originale zu benutzen.«

Während dieser Rede sah Herr Blaffer so salbungsvoll an die Decke des Zimmers empor, und machte ein so merkwürdig ehrlich sein sollendes Gesicht, daß sich Arthur nicht enthalten konnte, diese herausfordernden Züge mit einigen kecken Umrissen auf das Blatt Papier zu skizziren.

»Was meinen Sie nun,« fuhr der Buchhändler fort, »sollen wir zu jeder Lieferung eine Illustration geben, was allerdings acht für den Band machen würde, oder wollen wir uns damit begnügen, für zwei Lieferungen eine herzustellen? – Was meinen Sie dazu, Herr Staiger?«

»Wenn man zu jeder Lieferung eine Illustration machte,« sagte schüchtern dieser, »so würde das wohl die Kosten bedeutend erhöhen.«

[139] »Auf die Kosten kommt es Herrn Blaffer nicht an,« versetzte der junge Mann, während er ruhig fortzeichnete, wenn die Arbeit nur gut wird.

»Allerdings,« meinte kleinlaut der Principal; »nur ist das Holzschneiden eine sehr theure Geschichte.«

»Dafür kosten Sie ja aber die Zeichnungen fast gar nichts,« warf der Maler leicht hin. »Sie haben mich gebeten sie zu machen, und da ich mich gerade einmal in dem Genre versuchen möchte, so zeichne ich Ihnen die Illustrationen für eine Kleinigkeit.«

»Ja, ja,« sprach mühsam lachend der Buchhändler, »was ihr Herren Kleinigkeiten nennt. – Nun, es kommt mir ja nicht darauf an. Also machen wir zu jeder Lieferung ein Illustration, und Sie werden sie mir gleich auf's Holz zeichnen.«

Arthur nickte mit dem Kopfe.

»So wären wir vorderhand im Reinen,« fuhr Herr Blaffer fort, und sagte, indem er sich an den alten Mann wandte: »Jetzt hätten wir für heute nichts mehr mit einander abzumachen; besorgen Sie mir also das Manuscript zur fünften Lieferung und Sie sollen alsbald haben, was Sie gewünscht. – Guten Morgen, Herr Staiger!«

»Noch einen Augenblick!« bat der Maler, ohne aber von seinem Papier in die Höhe zu sehen. »Im Interesse der Illustrationen wäre es mir sehr erwünscht, mich zuweilen mit dem Herrn Staiger besprechen zu können. Wir wollen doch nicht gerade die gleichen Scenen wie in der englischen Ausgabe illustriren; der Ansicht werden Sie doch auch sein, Herr Blaffer?«

»Jedenfalls etwas ganz Neues,« antwortete der Buchhändler. »Herr Staiger wird gewiß gern zuweilen in Ihre Wohnung kommen.«

»Gewiß,« sagte der alte Mann, »wenn Herr Erichsen mir nur sagen will, wenn ich ihn zu Hause treffe.«

[140] »Gott bewahre!« entgegnete eifrig der Maler, indem er sich aber noch tiefer auf das Blatt Papier niederbeugte. »Das werde ich nimmermehr zugeben, daß Sie Ihre kostbare Zeit in Gängen nach meiner Wohnung verschleudern. Ein Künstler wie ich, der bald hier bald da ein Stück von der Außenwelt gebraucht, schlendert viel in den Straßen umher, und wenn Sie mir – – Ihre Wohnung angeben wollen und mir sagen, wenn ich Sie am besten treffe, so mache ich mit dem größten Vergnügen, – gewiß mit dem größten Vergnügen hie und da einen Sprung zu Ihnen.«

»Es wird mir eine große Ehre sein,« antwortete Herr Staiger, »wenn Sie meine Dachkammern aufsuchen wollen; aber sie sind etwas entlegen – Balkengasse Nummer vierzig über vier Stiegen. – Was die Zeit anbetrifft, wo Sie mich zu Hause finden, so bin ich gemeiniglich den ganzen Tag da; wenn ich je einmal ausgehe, so geschieht das zwischen zwölf und ein Uhr nach meinem Mittagessen.«

»Balkengasse Nummer vierzig,« sprach der Maler mit leiser Stimme, während er eifrig fortzeichnete. »Ich will mir's gewiß merken.«

Unterdessen war Herr Beil an den Pult getreten, und während er that, als betrachte er sich die Zeichnung, welche Arthur auf das Blatt Papier hinwarf, schob er diesem unbemerkt ein kleines Zettelchen zwischen die Finger, worauf die Worte standen: »Erkundigen Sie sich unbefangen nach dem Honorar, was für eine Uebersetzung bezahlt wird.«

Herr Staiger hatte bereits den Drücker der Thüre in der Hand und wollte sich entfernen.

»Apropos!« sagte Arthur ganz gleichgültig, »das Uebersetzen muß doch eigentlich ein gutes Geschäft sein. Man braucht keine Vorstudien zu machen, man schreibt eigentlich nur ab, man bezahlt gute Honorare; es muß doch etwas dabei zu verdienen sein. Nicht wahr, Herr Staiger?«

[141] »O gewiß, wenn man fleißig ist,« entgegnete statt des Gefragten der Buchhändler, »wenn es Einem rasch von der Hand geht.«

»Wäre es indiscret von mir,« fuhr der Maler fort, »wenn ich Sie fragte, wie viel zum Beispiel für einen solchen gedruckten Bogen dieser Onkel Tom's Hütte bezahlt wird?«

Diese Frage mußte allerdings an gegenwärtigem Orte sehr indiscret erscheinen, denn Herr Blaffer zog seine Augenbrauen finster zusammen, Herr Staiger blickte zur Erde, und während Herr Beil eine ungemein freundliche Grimasse zog, sperrte der blonde Lehrling seinen Mund vor Verwunderung und Freude weit auf.

»Das ist eigentlich schwer zu sagen,« nahm der Buchhändler nach einer längeren Pause das Wort; »ich bemerkte schon, wer fleißig ist, wem's von der Hand geht, der kann es schon zu was bringen.«

»Da wäre also die erste Frage,« fuhr der Maler unerschütterlich fort, während er die Gesichtszüge des Principals in einer erschreckenden Ähnlichkeit auf das Papier feststellte, »wie lange schreibt man an so einem Druckbogen? – Nun, Herr Staiger, Sie sind doch gewiß ein recht fleißiger Mann, was bringen Sie also an einem Tage vor sich?«

Der Gefragte wußte nicht recht, ob und was für eine Antwort er geben sollte. Er blickte auf den Buchhändler, der ein Lineal heftig zwischen den Fingern drehte, dann sah er den Herrn Beil an, der ihm auf eine so heftige und eindringliche Art zunickte, daß er sich eines kleinen Lächelns nicht erwehren konnte.

»Nun?« fragte der Maler.

»Ja – a, ja – a – a, es ist eigentlich so, wie Herr Blaffer sagt,« meinte der alte Mann, »wenn man viel arbeitet, so kann man Etwas verdienen; ich zum Beispiel –«

»Aber was kann Sie das interessiren!« warf der Buchhändler [142] dazwischen. »Kommen Sie einen Augenblick in meine Wohnstube, wir wollen unsere Conditionen wegen der Zeichnungen festsetzen, und dann will ich Ihnen auch wohl gern Einiges über die Uebersetzungsgeschichten sagen.«

»Lassen Sie doch den Herrn Staiger sprechen,« entgegnete Arthur gleichgültig. »Gott! mein verehrter Herr Blaffer, wir kennen ja einander. Wenn Sie zu Papa auf die Kasse kommen, so weiß ich, daß man Sie dort gern über alles Mögliche belehrt.« – Dies war eigentlich ein Stich auf den Buchhändler, denn wenn er Geldgeschäfte hatte, Wechsel umsetzte, oder fremde Papiere einhandelte, so studirte Niemand genauer die Kurszettel als der Herr Blaffer, der oftmals unbescheiden genug gewesen war, wegen einiger Gulden die Einsicht in Correspondenzen zu verlangen.

»Nun also –?«

»Gewöhnlich stehe ich des Morgens um vier Uhr auf,« sagte der alte Mann, »mache mir ein kleines Feuer an, rücke meinen Tisch an den Ofen, und wenn meine Finger, die während der ebengenannten häuslichen Geschäfte etwas einfrieren, wieder warm geworden sind, so nehme ich meine Feder und fange an zu arbeiten. Allemal aber habe ich schon eine Stunde vorher in meinem Bette einige Kapitel durchlesen müssen, damit mir die Arbeit nicht ganz fremd ist. So arbeite ich fort bis um sieben Uhr, wo die Kinder aufstehen und – nach ihrem Frühstück verlangen.« – Dies sagte Herr Staiger mit einem trüben Lächeln. – »Darum habe ich mich aber nichts zu bekümmern,« fuhr er fort, »denn meine älteste Tochter Clara sorgt dafür, weßhalb es mir auch keine Zeit wegnimmt. Diese fünf Stunden nun, von Vier bis Neun, sind mir aber die kostbarsten, denn da Clara um neun Uhr fort geht, so befinde ich mich von der Zeit an mit den kleinen Kindern allein und werde alle Augenblicke von ihnen gestört, besonders von meinem Buben, der noch nicht in die Schule geht. Bald muß ich ihn vom Fenster wegholen, bald ihm irgend ein Spielzeug machen, [143] damit er ruhig sitzt, und wenn es eilf Uhr geworden ist, so muß ich auch sehen, daß das Feuer wieder besser brennt, damit Clara, welche um Mittag kommt, in sehr kurzer Zeit unser Essen fertig bringt. Von Zwölf bis Eins nun ist meine Erholung; nach dieser Zeit fange ich wieder an zu arbeiten, und schreibe dann so fort bis neun, zehn, auch Wohl eilf Uhr.«

»Und was haben Sie dann vor sich gebracht,« fragte eifrig der Maler, »in der Zeit eines solchen langen Tages?«

»Wenn es mir gut von der Hand geht, einen ganzen Bogen,« antwortete Herr Staiger. »Wissen Sie, mein lieber Herr, sechszehn enggedruckte Seiten, wie das hier ist keine Kleinigkeit.«

»Das kann ich mir denken,« sagte Arthur seufzend. »Gott! wenn ich mir das vorstelle, unsereins, so an Luft und Freiheit gewöhnt, sollte so hinsitzen über das Papier gebeugt, Stunde um Stunde arbeiten, mit dem Geiste und mit der Hand, immer in zwei Sprachen denken; ah! ich bin überzeugt, ich meines Theils würfe die Feder nach der ersten Stunde weg! – Nun aber haben Sie einen ganzen Bogen beendigt. Jetzt hoffe ich doch, Sie wissen warum? Sie werden nun doch ein Anständiges verdient haben, so daß Sie zum Beispiel nach dreitägiger angestrengter Arbeit in der Woche die übrige Zeit Ihrer Erholung widmen können oder etwas zurücklegen für Ihre Kinder.«

Dem Herrn Blaffer war diese Unterredung offenbar peinlich und unangenehm; er rückte mißmuthig hin und her, er schnappte nach rechts und nach links, er zog an seiner ohnedies sehr langen Nase, und sagte endlich, indem er es, aber nicht ganz logisch, versuchte, ein anderes Thema anzuschlagen: »O, was wollen Sie, bester Freund! arbeiten muß ein Jeder, ich, Sie, der große Theil der Menschen, die da leben, und wenn auch Manche von uns angestrengter arbeiten, als die anderen schaffen müssen, so leben sie dafür in einem wohlgeordneten civilisirten Staate, der ihr Eigenthum schützt, ihren Herd, Weib und Kind beschirmt vor roher Gewalt. [144] – Das muß man einsehen; man muß mit seinem Schicksal zufrieden sein, man muß bedenken, wie viele Tausende von Menschen viel schlimmer daran sind als wir, wie Unzählige in einer Sklaverei leben, gegen deren Leiden unsere Mühe und Noth wahrhaftes Labsal zu nennen ist, – wahrhaftig, aus dem Gesichtspunkte kann man dies vortreffliche Buch der amerikanischen Dame nicht genugsam preisen und loben. Freilich, materielle Entbehrungen haben jene unglücklichen Sklaven im Allgemeinen nicht zu ertragen; sie wohnen gut, sie essen und trinken nicht schlecht, sie sollen sich auch, wie aufmerksame Beobachter versichern, bei der Arbeit nicht übermäßig anstrengen, und überhaupt nur da arbeiten, wo sie durch Drohungen hiezu angehalten werden – eine Erscheinung, die aber rein aus ihrem geknechteten Zustand herzuleiten ist. Sie dürfen Sonn- und Festtage halten, sie haben freilich ihre Tanz- und anderen Vergnügungen; der größte Theil der Herren pflegt seine Sklaven, wenn sie krank werden, hält meistens einen eigenen Arzt hiezu auf seiner Pflanzung, füttert sie aus der Vorrathskammer, wenn zufällig einmal Mißwachs eintritt; – und gerade in dieser guten Behandlung liegt das Empörende. Denn glauben Sie nicht, daß der Pflanzer mit seinen Sklaven aus Mitleid so umgeht! Nein, er thut es nur, weil sie ihm als bloße Waare gelten; er nährt, kleidet, pflegt sie, sorgt auch, wie gesagt, für ihr Vergnügen, aber er thut das nur, um sie, als Waare betrachtet, nicht unter ihren Werth herab zu bringen.«

»Aber er thut es,« versetzte ruhig Herr Beil, »und da er es nun einmal thut, sind die Schwarzen jenseits des Oceans wahrhaftig nicht so schlimm daran, wie ihre weißen Brüder diesseits.«

»Das ist ihr materielles Wohl, das thierische, gemeine Leben. Sehen wir aber die andere, die Schattenseite dieses Bildes, wie sie uns die geistreiche Amerikanerin in diesen vortrefflichen Heften schildert.«

[145] »Bei Johann Christian Blaffer und Compagnie,« murmelte der Commis. »Halten Sie gefälligst Ihr Maul, Herr Beil,« entgegnete der Buchhändler-Principal, der für sein Buch die Lanze eingelegt hatte, und nun, ein zweiter Don Quixote, gegen etwelche Windmühlen loszurennen im Begriff war. – »Also die andere Seite, die eigentliche Knechtschaft! Man achtet nicht das Heiligste, was der Mensch besitzt, die Familienbande; man reißt sie gewaltsam aus einander, damit der Vater hier untergehe in Noth und Jammer, die Mutter dort, die Kinder verkümmern unter der Peitsche ihrer Peiniger.«

»Das kommt auch bei uns vor,« sagte gedankenvoll der alte Mann, »nur daß es nicht gerade öffentlich geschieht auf dem Sklavenmarkt unter dem Hammer des Auctionärs, aber dafür desto mehr im Geheimen. Auch sind es nicht wohlbeleibte Pflanzer, die hier so die Familien zerreißen und Mutter von Kind trennen, sondern viel schlimmere Gebieter: Hunger, Noth und Laster aller Art, und ich möchte in der That wissen, ob jene schwarze Mutter, deren Kind man verkauft, das also den Herrn wechselt, ohne aber deßhalb schlechter gehalten zu werden, schlimmer daran ist, als eine weiße, die gezwungen ist, ihr Kind zum Vetteln herzugeben, und die sehen muß, wie es siech und elend wird, langsam dahin stirbt oder sich durchreißt, um später jedem Laster in die Hände zu fallen.«

»Auch kauft man bei uns Kinder genug,« sagte gleichmüthig Herr Beil, »namentlich Kinder weiblichen Geschlechts, wenn sie über sechszehn Jahre alt sind.«

Der Blick des Principals, welchen er für diese Bemerkung seinem Commis zuschleuderte, war ein entsetzlicher Blick, und die Bewegung, die er hervorgerufen, brachte den würdigen Buchhändler ganz aus seinem Vortrag heraus. Er fuhr mit der Hand über die Stirne, schnappte nach Luft und bemerkte nach einem augenblicklichen Stillschweigen mit erzwungenem Lächeln: »Es ist eigentlich sonderbar, wie so ein gewaltiger Stoff einem die Nerven aufregt.«

[146] »Ja, ja,« erwiderte Arthur, der unterdessen die Gestalt des Buchhändlers, den er als Sklavenhändler skizzirt, mit ein paar Strichen vollendete, »wir sind dadurch ganz von unserem Thema abgekommen.«

»O es ist nicht der Mühe werth,« meinte Herr Blaffer.

Worauf der Commis halblaut sagte: »Es ist freilich nicht der Mühe werth, das Honorar nämlich; – aber er muß es Ihnen aussprechen; dringen Sie nur darauf.«

»Nun, Herr Staiger,« fuhr der Maler fort, »was bringt Ihnen so ein mühevolles Tagewerk? Was verdienen Sie bei der Uebersetzung eines Bogens?«

»Das Honorar ist ein Gulden und dreißig Kreuzer,« sagte der alte Mann.

Welche Worte Arthur mit einem Tone wiederholte, als habe er nicht recht gehört. – »Ein Gulden und dreißig Kreuzer für vierzehnstündige mühevolle Arbeit des Geistes und des Körpers! Ein Gulden dreißig Kreuzer, die Ihnen nur so lange bezahlt werden, bis Ihr Verstand die Marter nicht mehr erträgt, Tage, Wochen lang die Punkte und Striche hinzumalen, die man Buchstaben nennt! Die Sie sogar nicht erhalten, wenn es Ihnen einmal nicht gelingt, einen Tag Ihrer Frohnarbeiten zu vollenden, die Sie an Sonn- und Festtagen nicht haben, wenn Sie auch diese Tage, die doch zur Ruhe bestimmt sind, nicht ebenfalls mit Ihrer schweren, schweren Arbeit ausfüllen!«

»Aber, mein lieber Herr,« entgegnete der alte Mann mit einem sanften Tone, »ich theile da das Schicksal von Tausenden und aber Tausenden meiner Mitmenschen, von allen Denen, die um Taglohn arbeiten, und bin am Ende weit besser daran als diese. Mich hindert doch keine Witterung an meiner Arbeit, ich kann an meinem Schreibtisch sitzen, mag die Sonne scheinen oder mag es regnen oder schneien.«

»Ja, das ist wahr,« versetzte der Maler; »was das anbelangt, [147] leben Millionen unserer Arbeiter in traurigeren Verhältnissen als Sie, verehrtester Herr, aber auch als jene Schwarzen, deren Jammer uns so nachdrücklich vor Augen geführt wird, den Sie übersetzen, den ich illustrire. Mag ihnen dort die Sonne scheinen oder mag Sturm und Regen den Himmel verfinstern, das ist jenen Sklaven gleichgültig: ihr Herr sorgt für sie und ihre Kinder, und ihnen ist es ganz recht, wenn sie wochenlang im angenehmen Nichtsthun vor ihren Hütten sitzen können; ihnen schmilzt nicht jeder fallende Regentropfen das Brod im Schranke wie unserem Taglöhner. – Ah! es wären wahrhaftig für unsere deutschen Leser keine Uebersetzungen und keine Illustrationen nothwendig; sie sollten nur verstehen, auf Straße und Feld zu lesen und zu schauen; aber das Elend, das wir täglich vor uns erblicken, hat für die empfindsamen Leser und Leserinnen jenes Romans nicht das Pikante, das Appetitliche, nicht das wollüstig die Nerven Kitzelnde, wie die Geschichte der jungen schönen Mulattin, die von ihrem Herrn verfolgt wird und bereit ist, eher ihr Leben herzugeben als ihre Ehre. – Ah! das liest sich vortrefflich und sieht sich außerordentlich schön an. Aber wie schon gesagt, um auch das lebendiger und wahrer zu haben, dazu braucht man nicht nach Onkel Tom's Hütte zu gehen; das haben wir Alles bei uns ebenso schön in der lieben Heimath.«

»Sehr wahr,« meinte Herr Beil, wobei er es nicht unterlassen konnte, einen festen Blick auf seinen Principal zu werfen, der unterdessen von seinem Stuhl herabgerutscht war, und nun der ernsten Conversation durch ein ziemlich mißtöniges Lachen eine heitere Wendung zu geben versuchte.

»Eigentlich haben Sie mit Ihrem Lachen Recht, Herr Blaffer,« fuhr Arthur fort. »Warum auch trübselige Gedanken! Kurz ist das Leben, treten wir so viel wie möglich auf die Sommerseite desselben, und wenn wir ja einmal durch schwarze Schatten hindurch müssen, nun, so wollen wir uns bemühen, auch daraus etwas [148] zu lernen. – Jetzt ersuche ich Sie aber, einen Augenblick mit in's Nebenzimmer zu kommen, ich will Ihnen da in der Geschwindigkeit meine Bedingungen wegen der Illustrationen mittheilen. – Herr Staiger,« wandte er sich an diesen, »Sie bitte ich, noch einen Augenblick zu bleiben; wir gehen zusammen fort, wenn es Ihnen recht ist.«

Was nun der Künstler im Nebenzimmer mit dem Buchhändler verkehrte, halten wir nicht für unsere Pflicht, dem geneigten Leser genau anzugeben: nur das Resultat der Unterredung soll er erfahren, weil es für den alten Mann draußen ein angenehmes war. Der Buchhändler nämlich, als er in's Comptoir zurück kam, schritt mit einem gerade nicht zu sauren Gesichte gegen seinen Pult, öffnete die Kasse und händigte dem überraschten Herrn Staiger den gewünschten Vorschuß von vier Gulden ein, wobei er lächelnd sagte: »Sehen Sie, mein Verehrtester, ich mache mir eigentlich ein Vergnügen daraus, Ihren Wunsch zu er füllen: es ist nur meine Gewohnheit, jede Sache reiflich vorher zu überlegen. Wahrhaftig, ich bin nicht unerkenntlich für Ihre an sich gar nicht so schlechte Uebersetzung, und sowie sich die Zahl der Abnehmer unseres Romans auf zweitausend steigert, mache ich es mir zur Pflicht, Ihr Honorar auf drei Gulden zu erhöhen, ja, sobald sich die Abnehmer vermehren, was voraussichtlich in den nächsten Monaten geschehen kann – – wollte sagen in den nächsten Wochen,« verbesserte sich Herr Blaffer, denn er fing einen bedeutsamen Blick des Malers auf, »ja vielleicht mit dem nächsten Posttage; wir wollen sehen, wir wollen sehen!«

Herr Blaffer hatte durch all' das Vorgegangene einen anstrengenden Morgen gehabt, und als sich nun der alte Mann mit Arthur unter vielen Danksagungen entfernt, zog der Principal einen dicken Paletot an, verschloß seinen Pult sorgfältig, nahm Hut und Stock und entfernte sich, um, wie er sagte, noch einen wichtigen Geschäftsgang zu machen. Dergleichen wichtigen Geschäftsgänge [149] kamen übrigens um die Essensstunde einige Mal in der Woche vor; Herr Blaffer war nämlich Junggeselle, also ließ er nicht die zarte Hälfte seines Ich's zu Hause zurück und konnte sich beruhigt in das Wirthshaus begeben, um dort etwas Besseres zu verzehren, als dem Herrn Beil, der ebenfalls im Hause beköstigt wurde, und dem Lehrling vorgesetzt zu werden pflegte.

Der Buchhändler verließ also sein Haus, und der blasse Lehrling, der bis jetzt Bücher eingepackt, eilte an ein Fenster, das auf die Straße ging, und wartete da, bis der Principal um die nächste Ecke verschwunden war.

Herr Beil hatte sich wieder auf seinen Comptoirstuhl gesetzt und nahm mit triumphirendem Lachen das Blatt in die Hand, welches Arthur zurückgelassen. »Sehen Sie,« rief er seinem schmächtigen Untergebenen zu, »da steht er, wie er leibt und lebt, der Sklavenhändler Blaffer, und auch wir sind nicht vergessen, mich hat er auf Ehre als Onkel Tom dahin conterfeit, und da unten das miserable Ding mit den auffallend gekrümmten Schienbeinen und dem verwahrlosten Kopfe gleicht Ihnen wie ein faules Ei dem andern.«

Der Lehrling schien aber keine besondere Lust zu haben, auf diese Spässe einzugehen. Er setzte sich auf die Kiste hinter der Thüre, ließ den Kopf melancholisch auf die Brust sinken und stieß einen tiefen Seufzer aus.

»Nun,« sagte Herr Beil, indem er über den Bogen Papier hinweg sah, »wo fehlt's Ihnen, junger Buchhändler? Sehen Sie nicht wahrhaftig aus wie unser würdiger Chef, wenn er einen Retourzettel erhält, auf dem geschrieben steht: Wird nur gegen Baar expedirt. – Hat Sie die Unterredung von heute Morgen angegriffen?«

Der Lehrling schüttelte betrübt den Kopf.

»Oder ist Ihr Hunger stärker als gewöhnlich? – Auch das nicht? – Nun, dann weiß ich nicht, was Ihnen fehlt. Bitte, sprechen Sie sich deutlicher aus, theuerster Anton!«

[150] »Sie wissen wohl, daß ich nicht Anton, sondern August heiße,« entgegnete betrübt der Lehrling. – »Haben Sie den Herrn Erichsen gesehen?«

»Sonderbare Frage!« meinte Herr Beil, indem er den Bogen Papier weit von sich abhielt, um den Totaleindruck der Zeichnung besser zu genießen.

»Ach! ist das nicht ein angenehmer junger Mann!« fuhr August fort, »so elegant gekleidet, feine helle Handschuhe, so ein schönes und freies Benehmen, und hat was gelernt. Wenn ich dagegen unsereins ansehe –«

»Unsereins!« entgegnete der Commis scheinbar entrüstet, indem er die eine Spitze seines gewaltigen Schnurrbarts in die Höhe drehte. – »Unsereins! Nun ich denke, meine Repräsentation ist auch nicht ganz Ohne, und wenn Sie fleißig Brochuren verpacken, pünktlich Ihre Pakete austragen, und wenn dann einstens Herr Blaffer stirbt und Sie zum Erben einsetzt, so können Sie auch gute Paletots tragen und seine Handschuhe.«

»Ach, machen Sie doch nicht immer Ihre Spässe, mit denen es Ihnen doch nicht Ernst ist!«

»Das ist mein blutiger Ernst, Sie junger Wortklauber; ich halte was auf mich, und wenn ich einmal zufälliger Weise in die rechte Carrière hinein gerathe, so sollen Sie ihr blaues Wunder sehen. – Der Buchhandel,« setzte er mit anderem Tone hinzu, »ist freilich auch nicht das, was mir in meinen süßen Träumen vorschwebt.«

»Ach, Herr Beil,« fuhr der Lehrling fort, ohne seinen Blick vom Boden zu erheben, »hätte man mich nur was Rechtes lernen lassen, glauben Sie mir, ich habe den Kopf dazu. Wollte ich doch auch ein Zeichner und Maler werden, und als ich noch in die Schule ging, da sagten die Lehrer, ich hätte ein schönes Talent und es könnte auch einmal etwas Gutes aus mir werden.«

»Immer die alte Jeremiade!« antwortete Herr Beil, indem [151] er das Papier sinken ließ und den Lehrling nicht ohne Interesse betrachtete. – »Sie sind aber ein junges Ungeheuer,« fuhr er nach einer Weile im früheren Tone fort; »lehrt Sie der Herr Blaffer nicht täglich und stündlich etwas Gutes und Neues, Sie und Ihre Schwester Maria?«

»Ich kann eigentlich nicht verlangen, daß er mich hätte sollen viel lernen lassen,« entgegnete der Andere, »aber so ein paar Privatstunden hätte ich wohl noch haben sollen.«

»Wie nahe ist Ihnen der Herr Blaffer verwandt?« fragte nachdenkend der Commis, der die vorige Rede überhört zu haben schien.

»Eine eigentliche Verwandtschaft existirt gar nicht zwischen uns, nur war er mit meinem Vater sehr befreundet.«

»Und als Ihre Mutter starb, hatte unser ehrbedürftiger Principal, den Gott erhalten möge, diverse Forderungen an sie zu machen. Sie aber hatten keine lebende Seele, weßhalb Sie in's Blaffer'sche Haus kamen!«

»Mit meiner Schwester Marie.«

»Und Ihrem Vermögen, was schon lange darauf gegangen sein soll für Ihren Lebensunterhalt. – So sagt man nämlich, und damit ihr Beide auch als nützliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft heran gebildet würdet, avancirten Sie zum zehnjährigen Lehrling, und sie – Maria nämlich – versieht die Stelle unseres Dienstmädchens.« – Diese letzten Worte sprach Herr Beil mit einer merkwürdigen Weichheit, während er nachdenkend an die Ecke des Zimmers blickte. – Einige Augenblicke darauf aber kehrte er wie gewaltsam zu seinem früheren Humor zurück, indem er laut lachend nochmals auf die Zeichnung schaute, sie alsdann zusammen faltete und in die Tasche steckte. »Meiner Seel'!« sagte er, »es ist zwölf Uhr vorüber, jetzt will ich einmal Hausinspection halten und nach Küche und Köchin sehen.«

Ehe Herr Beil hierauf das Comptoir verließ, zog er einen bessern Rock an, der hinter der Thüre hing, brachte Haar und [152] Bart in Ordnung und ging in's Nebenzimmer, von wo man unterdessen Tellergeklapper vernahm.

Hier befand sich die Schwester des Lehrlings, welche wir dem Leser mit einigen Worten vorzustellen uns veranlaßt sehen. Es ist das ein junges Mädchen von vielleicht achtzehn Jahren, von feiner Gestalt, kleinen Händen und Füßen, einem runden, frischen Gesicht, welches dunkelblondes Haar umgibt, kurz von einem Aeußeren, das eigentlich gar nicht zu der groben Kleidung paßt, die es bedeckt. Noch weniger harmonirt damit ihr eleganter, schlanker Oberkörper, der an der Taille zu umspannen ist, und der gegen oben zu einer wahrhaft bewunderungswürdigen Breite und Fülle aus einander geht. Wenn man die Schwester neben dem Bruder, dem Lehrling nämlich, sah, so hätte man ihrem Wesen nach glauben können, er sei das Mädchen und sie der Knabe. August war zärtlich, erschrocken, mit weichem, biegsamen Gemüth, sie dagegen keck, lustig, ja trotzig und widerstrebend.

Herr Blaffer hatte mit dem Mädchen eine gar eigenthümliche Erziehungs- und Behandlungsweise eingeschlagen, welche übrigens nicht dazu beitrug, ihren Charakter weicher zu machen. Bald schien er in ihr die Tochter eines Freundes zu sehen, und redete ihr lieblich, ja schmeichelnd zu, ja auffallend schmeichelnd, wie Herr Beil behauptete; bald aber behandelte er sie mit der größten Härte, ließ sie alle niedrigen Dienste verrichten und strafte sie unnachsichtlich für die kleinsten Vergehungen. Er behauptete, sie habe ein etwas leichtsinniges Temperament und ein sehr undankbares Gemüth, was sie namentlich darin bewies, daß sie die Freundlichkeit, mit der sie meistens die Männer behandelte, die mit ihr in einige Berührung kamen, durchaus nicht auf ihren Umgang mit ihrem Herrn und Meister ausdehnen wollte; sie war eine widerspenstige Sklavin, wie sich der Buchhändler schon hatte vernehmen lassen, wenn er nämlich nicht daran gedacht, daß sich Herr Beil in seiner Gehörweite befand. Der Commis aber befand sich oft [153] in dieser Gehörweite, ohne daß es der Principal wußte, und wir können dieses an sich tadelnswerthe Betragen nur dadurch entschuldigen, daß sich Herr Beil auf's Heftigste in das Mädchen verliebt hatte und in beständiger Angst lebte, die Zwistigkeiten zwischen Herr und Dienerin, die oftmals ausbrachen, könnten einmal für das Mädchen auf sehr unangenehme Art endigen.

Das mußte schon wahr sein, Maria gab sich häufig nicht einmal die Mühe, ihre Scheu, ja ihren Widerwillen vor ihrem Herrn zu verbergen, namentlich in jenen Tagen nicht, wo er es versuchte, sie durch Liebe und Sanftmuth zu erziehen. Dann war ihre Laune unerträglich, wogegen sie ordentlich aufzuleben schien, und sich auf ihrem schönen Gesichte Frohsinn und Heiterkeit abspiegelte, wenn sie Scheltworte und die schlechteste Behandlung mit oder ohne Veranlassung zu ertragen hatte.

Seit einigen Tagen war in dem Hause vollkommen ruhiges Wetter gewesen, ja Herr Blaffer hatte sich auffallend sanft benommen und sogar einmal die Aeußerung gethan, er sehe ein, das passe sich eigentlich nicht, daß Maria in seinem Hause alle die niedrigen Dienste versehe, und er finde es angemessen, nächstens ein wirkliches Dienstmädchen anzustellen. Diese Aeußerung hatte dem Herrn Beil einen Stich in's Herz gegeben, und er setzte seine Beobachtungen um so eifriger und genauer fort, als Maria ihm sichtlich auswich, oft in tiefen Gedanken vor sich hinstarrte und sich durch keinen lustigen Einfall aufheitern ließ.

Obgleich der Commis, wie schon gesagt, das Mädchen liebte, so sind wir doch durchaus nicht berechtigt, an eine Gegenliebe zu glauben. Sie benahm sich gegen ihn nicht freundlicher und zuvorkommender als gegen jeden Anderen, und Herr Beil warf während vieler schlimmen Stunden in seinem Kopfe die schreckliche Vermuthung umher, irgend ein unternehmender junger Mann habe sich vielleicht in ihr Herz geschlichen und mache es unempfänglich für all' die Beweise von Zuneigung und Liebe, die er ihr schon gegeben.

[154] Unterdessen hatte sie den Tisch gedeckt, das mehr als bescheidene Essen aufgetragen, und die Drei setzten sich dazu hin, ziemlich stumm und einsylbig; der Lehrling ließ den Kopf hängen, der Commis hatte keine guten Einfälle, und wenn er einen höchstens halbwegs ordentlich zu Tage brachte, so hatte dieser nur die Wirkung, daß das Mädchen, das, ohne einen Bissen anzurühren, auf ihren Teller hinstarrte, erschrocken in die Höhe fuhr und mit einem sehr erkünstelten Lächeln um sich schaute.

14. Kapitel
Vierzehntes Kapitel.
Häusliche Scenen.

Auf dem Kirchhofe der Stadt, den wir in einem der vorigen Kapitel verließen, fanden, wie der geneigte Leser bereits weiß, an jenem Morgen zwei Begräbnisse Statt. Das erste, das vornehmere, war das einer sehr alten und sehr adeligen Stiftsdame, die es ihren nun lachenden Erben recht sauer gemacht hatte. Es war eins von jenen kränklichen Wesen, von denen man achselzuckend spricht: »und sie lebt immer noch?« – eine Frage, die aber Jahrzehnte und Jahrzehnte mit einem »Ja!« beantwortet wird. Endlich aber hatte der unerbittliche Tod das hochadelige Wappen nicht länger geachtet und der alten Dame zum letzten Reigen die Hand gereicht, [155] was ihr gerade in diesem Augenblicke sehr unangenehm und unerwartet kam, denn es kreuzte einige Entwürfe, die sie nächstens auszuführen beschlossen hatte. Aber da wir Alle des Todes allerleibeigenste Sklaven sind, so genügte, wie schon gesagt, ein Wink von diesem Tyrannen, und sie, die gestern noch in dem Hofcercle so außerordentlich recherchirt war, und so angenehm mit den hohen und höchsten Herrschaften geplaudert hatte, ließ nun Fächer und Blumen plötzlich den steifen Fingern entgleiten und streckte sich lang aus, jenen gewissen eigenthümlichen Zug im Gesichte, den alle glücklichen, zufriedenen Menschen, wie zum Beispiel ihre gestrige Gesellschaft, nicht ohne einen unerklärlichen Schauder anzusehen vermögen.

Die Stiftsdame war sehr vornehm und sehr stolz gewesen; doch hatte sie sich in allen Ständen der Gesellschaft einen freundlichen Namen erworben, denn sie gab den Armen und sonstigen Hilfsbedürftigen nicht ungern, namentlich aber da, wo die öffentlichen Blätter ihre Gabe, Größe und Zweck derselben, in mehreren dankerfüllten Zeilen dem allgemeinen Publikum tiefgehorsamst ersterbend hinstammelten.

Sie war zur selben Stunde gestorben, wie das kleine Schwesterchen der Tänzerin, nächtlicher Weile, als noch tiefe Schatten über Wald und Flur lagen. Vielleicht hatten die beiden aufschwebenden Seelen einen und denselben Weg, und zogen, nachdem alle Standesunterschiede abgestreift, Hand in Hand dahin. Sollte aber auch sogar der Tod dieses Gleichheitsprinzip nicht durchzusetzen vermögen, so könnten wir auch vielleicht annehmen, der arme kleine Engel sei gerade zur rechten Zeit mit der alten Stiftsdame gestorben, um, hinter ihr drein gleitend, die lange weiße Schleppe zu tragen. Wenn sich aber zufällig ihre Wege theilten, und die kleine unschuldige Seele, an Freuden und Erlebnissen leicht, lustig aufwärts flatterte, während die andere, an Thaten und an Ehren reich, nicht im Stande war, sich so weit empor zu schwingen, so blickte sie vielleicht [156] zum ersten Male sehnsüchtig nach dem armen Kinde und sprach ein leises Gebet, es möge droben ein stilles Fürwort für sie einlegen, oder es möge die kleinen Händchen niederstrecken und sie mit sich empor ziehen.

Das sind übrigens Ansichten und Phantasieen, und das Wahre all der Sache ist, daß das Kind, wie wir bereits wissen, in einem Winkel beerdigt wurde, während der Leichenconduct der Stiftsdame sich über den schönsten Theil des Kirchhofes verbreitete, und dort bei der Begierde, die vortreffliche Rede zu hören, von manchem stillen, bescheidenen Grab Immergrün und Epheu schonungslos niedertrat.

Der Zug war in jeder Hinsicht imposant zu nennen. Da waren alle Schichten der Gesellschaft vertreten, da fuhren glänzende Wagen in der königlichen Livree, denen der Prinzen, der hohen Würdeträger bei Hof, der Minister, des niederen Adels, der reichen Bürgerschaft, der Beamtenwelt, kurz, wer eine Equipage hatte, die sich anständiger Weise hinter die lange Reihe anschließen konnte. Da saßen die Kutscher der höchsten Herrschaften gravitätisch auf ihrer Bockdecke, die Peitsche hoch, das wettergebräunte Gesicht und die rothen Nasen mit einem leichten künstlichen Anflug von Schwermuth schattirt; da kamen ihre minder vornehmen Collegen mit minder vornehmer Haltung, aber in ihren reichsten Anzügen; ihnen folgten endlich die Kutscher der Anverwandten in der schwarzen Trauerlivree, Florepaulettes auf den Schultern, ganz in schwarzes Tuch gekleidet und mit ziemlich zerknirschter Miene. Daß die meisten Wagen leer fuhren, versteht sich von selbst; ihnen schloß sich erst eine unendliche Reihe Fußgänger aller Stände an, würdevoll einher schreitend, den Blick zu Boden, die eine Hand vielleicht in die Brust des Paletots vergraben, und in leisem Gespräch, natürlicher Weise handelnd von den Tugenden der Verblichenen. Wenn man aber auch über andere Dinge sprach, so gab man sich doch das Ansehen, als sei man mit Leib und Seele bei dem traurigen [157] Geschäfte, und es wurde vielleicht über einen Proceß, ein Avancement, über die Fünfprocentigen oder die Preise von Baumwolle und Käse nur mit hoch emporgezogenen Augenbrauen gesprochen, begleitet von ernstem, würdigem Kopfnicken und salbungsvoll herabhängender Unterlippe.

Die Gefühle der meisten Leidtragenden, wenn sie nicht gerade den nächsten Verwandten angehören, treten in ihren Contrasten während des Hin- und Herweges am schärfsten bei einem militärischen Begräbnisse hervor. Wie dumpf und schauerlich wirbeln die Trommeln, wie klagen die Hörner in einzelnen schwermüthigen Accorden auf dem Hinwege, wie abgemessen und langsam ist der Schritt der Colonne, die mit dem Kameraden geht, und wie ernst und düster die Haltung, mit der sie um das Grab stehen, bis es zugeschaufelt ist. Sobald dies aber geschehen, hebt der kleine Tambour seine Trommel in die Höhe, schraubt das Kalbfell schraffer und spuckt auch gelegentlich und verstohlen in die Hände, um seine Schlegel recht behend und flink rühren zu können, denn kaum haben sie dem Kirchhof den Rücken gekehrt, so schwingt der Tambour-Major schon mit einer ganz anderen Miene seinen Stock, und die Trommeln, auf denen es vorhin klang: drum – drrum – drrrrrum – drrum – drum – drrrrum! schallen jetzt Rataplan – rataplan – rataplan – plan – plan, und darauf fällt die Musik ein, aber lustig, heiter und schmetternd; der Choral ist vergessen und irgend ein klingender Marsch führt die Truppen, nun um einen stillen Mann weniger, nach der Kaserne zurück.

Bei bürgerlichen Begräbnissen ist das, wenn auch mit weniger Geräusch und weniger auffallend, die gleiche Geschichte. Die würdigen Kutscher wenden ihre Wagen nach der Ceremonie um und suchen einer an dem andern vorbei in vollem Trabe nach Hause zu kommen, wobei es denn nicht selten eine Bemerkung, ein Wort setzt, das durchaus nicht passen will zu der ernsten [158] Haltung von so eben. Von den Fußgängern sind manche draußen vor dem Thore geblieben, denn der Nasen ist feucht, Erkältungen in dieser Jahreszeit sehr gefährlich, und der Anblick der stillen Hügel mahnt auf so unangenehme Art an die Vergänglichkeit alles Irdischen. Was nun aber, erbaut von der Predigt, wieder heraus kommt, löst sich in einzelne Gruppen auf und geht plaudernd, guter Dinge, auch wohl lachend nach Hause; Mancher schlägt für sich sein Rataplan und denkt: es ist gut, daß ich diesmal noch zu den Begleitern gehöre.

Unter den Haufen, die sich an diesem Morgen nun nach allen Seiten hin zerstreuen, bemerken wir einen dicken Herrn, mit stattlichem, umfangreichem Oberkörper, aber etwas gekrümmten Beinen, die wahrscheinlich der Last, die sie Jahre lang tragen mußten, am Ende erlagen, nachgaben und etwas Sichelförmiges annahmen. Der schon ziemlich alte Herr hat ein volles, wohlwollendes Gesicht und gibt sich offenbar die Mühe, namentlich wenn er grüßt, sehr würdevoll und gravitätisch auszusehen. Zu diesem Zweck zieht er alsdann seine Augenbrauen finster zusammen, ist aber nicht im Stande, einen lachenden Zug um den gutmüthigen Mund zu vertilgen, weßhalb sein Gesicht bei diesen Veranlassungen meistens in einer lustigen Composition von Ernst und Scherz erscheint. Zu beiden Seiten desselben gehen zwei junge Männer von einigen dreißig Jahren, der Eine blond, mit einem offenen, gutmüthigen Gesicht, nachdenkenden Augen, in welchen man hie und da Zerstreutheit liest, der Andere mit dunklem Haar und Backenbart, mit einer Brille auf der Nase, hinter der sich ein paar stechende Augen befinden.

»Ich sage euch,« bemerkte der alte Herr, indem er ruhig eine Prise nahm, »die verstorbene Stiftsdame war eine respektable Frau. Was hat sie nicht Alles den Armenanstalten unserer Stadt gethan, und wie herablassend war sie nicht gegen Jeden, der mit ihr umging! – – Herablassend sage ich und wiederhole[159] es; sie, eine Baronesse von einem der besten Häuser! Hat sie nicht meine Frau, so oft sie uns besuchte, mit – mit – wie soll ich sagen? – ja, mit wahrer Freundschaft behandelt!«

»So oft sie zu uns kam!« versetzte spöttisch der Herr mit der Brille. »Aber welches waren die Veranlassungen zu diesen Besuchen?«

»Nun,« entgegnete der alte Herr, indem er die Hände von sich streckte, »die Veranlassungen waren die edelsten und besten; sie veranstaltete Sammlungen zur Ausstattung armer Mädchen und zur Unterstützung hülfsbedürftiger alter –«

»Schnappstrinker.«

»Wa–s?« fragte der alte Herr, der dies Wort nicht recht verstanden hatte. – »Und abgesehen von diesen Besuchen begegneten wir ihr nie am dritten Orte, ohne daß sie ein charmantes Lächeln, eine freundliche Begrüßung für uns hatte.«

»Und für unsere Kasse,« warf der Andere ein. »Sonst aber ließ sie uns, wie ich es auch begreiflich finde, auf der Stufe stehen, zu der wir gehören, und wenn sie auch gnädiger Weise zu uns herabstieg, so konnten wir doch verschlossene Thüren finden, wenn wir es uns einfallen ließen, einmal eine Treppe höher anzuklopfen.«

Der alte Herr zuckte die Achseln und sagte: »Das finde ich ganz in der Ordnung; streng geschiedener Rang und Stand ist durchaus nothwendig, und daß das auch in meinem Hause so gehalten wird, darein setze ich meinen Stolz.«

»Namentlich Mama,« sagte träumerisch der andere junge Mann mit dem blonden Haar.

»Allerdings; deine Mutter ist von strengen Grundsätzen, und das ist ein Segen, der im ganzen Hauswesen sichtbar wird.«

»Nur bei Einem dieses Hauswesens,« bemerkte lachend der mit der Brille, »ist von diesem Segen nicht viel zu sehen. Arthur hat von den Grundsätzen Mama's nie viel profitirt.«

[160] »Arthur ist leider ein Künstler,« entgegnete der alte Herr, »und kommt hiedurch in Kreise und Berührungen, die freilich nicht besonders gut auf ihn einwirken, aber –«

»Laßt doch die Geschichten gehen!« meinte der mit dem blonden Haar. »Ich weiß nicht, Alfons, daß du nie mit deinen Neckereien und Sticheleien aufhören kannst; wahrhaftig, das wird am Ende unerträglich, und du kannst keine Stunde damit still sein. Ich möchte nicht deine Frau sein.«

»Und ich nicht der Mann deiner Frau,« entgegnete Alfons mit einem unangenehmen Lächeln.

Bei welchen Worten über das Gesicht des andern jungen Mannes etwas wie ein leichter Schmerz zuckte. Er biß sich auf die Lippen, reichte dem dicken Herrn die Hand und sagte: »Ich muß einen Augenblick nach Hause, komme aber später. Adieu Papa!«

Das Zwiegespräch der beiden jungen Leute war ziemlich leise geführt worden, und der alte Herr, der einen Schritt voraus war, hatte es nicht so recht verstanden. Er reichte dem Abschiednehmenden die Hand und rief ihm dann nach: »Vergiß nicht zu Tische zu kommen, Eduard; du weißt, Mama hat euch eingeladen.«

Darauf ging er mit dem Herrn, welcher die Brille trug und der sein Schwiegersohn war, die gerade Straße hinab, der Andere dagegen, sein wirklicher Sohn, bog links ein und schritt langsam einem großen Hause zu, in dessen erstem Stock er wohnte.

Es war, wie wir wissen, Winter, und ein ziemlich kalter und rauher Morgen. Auf der Treppe des Hauses saß ein kleines Mädchen von vielleicht drei Jahren, in einem eleganten feinwollenen Kleidchen, aber es saß auf dem kalten Steine und seine Aermchen und Nacken waren ganz roth vor Kälte.

Der junge Mann trat erschrocken näher, hob das Kind auf und fragte: »Was thust du hier, Anna? Warum bist du nicht [161] droben im warmen Zimmer? – Wer hat dich so allein auf die Straße gelassen? – Ist Oscar droben oder wo ist er?«

Das kleine Mädchen, ein hübsches Kind mit klaren braunen Augen, lächelte über die hastigen Fragen des Papa's. »Ich bin herunter gegangen,« entgegnete es, »die Thüre war offen, Oscar ist freilich auch mit gegangen, aber er ist um die Ecke gelaufen, und will sich um einen Sechser Bindfaden kaufen.«

»Und Mama ist oben?«

»Ich glaube wohl,« erwiderte das Kind gleichgültig, »habe sie aber schon lange nicht mehr gesehen.«

Der junge Mann biß die Zähne über einander, nahm seine Tochter auf den Arm und stieg hastig in den ersten Stock des Hauses, vor dem dies kleine Zwiegespräch geführt wurde. Eine breite und hohe Glasthüre, die von der Treppe auf den Gang führte, stand offen; links befand sich Küche und Kinderzimmer, und aus dem letzteren erscholl ein lautes und lustiges Lachen. Der Hausherr setzte das Kind auf den Boden und schritt rasch auf die Thüre zu, hinter welcher es so fröhlich zuging. Er öffnete sie heftig und sah, was er auch nicht anders erwartet, seine sämmtliche Dienerschaft, Köchin, Stubenmädchen und Kindsfrau in heiterer Unterhaltung begriffen, während draußen die Thüre offen stand und während eines seiner lieben Kinder fast unangezogen in der Kälte vor der Hausthüre saß, und das andere, ein Bübchen von vier Jahren, ohne Aufsicht in der Nachbarschaft herum lief. Man hätte es dem Vater nicht verdenken können, wenn er in diesem Augenblicke seinen Spazierstock zu einem andern Zwecke benutzt hätte; doch bezwang er sich und fragte mit ernster und fester Stimme: »Wo sind die Kinder?«

In dem Augenblicke, wo der Hausherr erschien, hatte jede der drei dienenden Damen mit einer unglaublichen Geschwindigkeit und Geistesgegenwart irgend ein Stück Arbeit ergriffen; die Köchin that, als habe sie sich ein Haushaltungsbuch geholt, das [162] Stubenmädchen fuhr mit der Schürze leicht über den Tisch, und die gewissenhafte Hüterin der Kinder nahm etwas Wäsche aus einem neben ihr stehenden Korbe.

»Die Kinder waren im Augenblicke da,« sagte die Letztere mit ziemlich gleichgültigem Tone, »sie werden im Salon oder Schlafzimmer sein.«

»Sie werden sein!« entgegnete heftig der junge Mann. »Ist das auch eine Antwort: sie werden sein? Sind Sie vielleicht dazu da, um mir so unbestimmte Antwort über das Ihnen Anvertraute zu geben?«

Die also Angesprochene zuckte die Achseln; die Köchin sah ihren Herrn mit einem unfreundlichen Blick an, und das Stubenmädchen eilte naserümpfend hinweg, und man hörte sie draußen auf dem Gange sagen: »Es ist doch in dem Hause keine Ruhe, jetzt haben wir schon wieder Aerger und Lärmen!«

»Anna saß vor der Thüre auf der kalten Treppe,« sprach der Vater des kleinen Mädchens, indem er sich gewaltsam bezwang, »und mein Bube läuft ohne Aufsicht in der Nachbarschaft herum. Heißt das vielleicht Ihre Pflicht erfüllen?«

»Die Kinder sind erst vor ein paar Sekunden fort gegangen. Anna kann sich kaum niedergesetzt haben und Oscar muß da unten vor dem Hause sein.«

»So gehen Sie augenblicklich und holen ihn; schließen Sie die Glasthüre zu und behalten hier die Kinder bei sich im warmen Zimmer. Ich sage Ihnen, Frau Bendel, nehmen Sie sich ja in Acht oder es geht mit uns Beiden auf eine sehr unangenehme Art auseinander.«

»Ich thue was ich kann,« entgegnete die Person weinerlich; »aber ich weiß, Sie mögen mich nicht leiden, und wenn Madame nicht so mit mir zufrieden wäre, so hätte ich schon lang dieses Hans verlassen.«

Der Hausherr gab weiter keine Antwort, doch ballte er die [163] rechte Faust heftig zusammen, seufzte tief auf und trat anscheinend ruhig in das Zimmer seiner Frau.

Obgleich es bereits eilf Uhr war, hatte Madame doch eben erst ihren Kaffee getrunken. Sie war eine junge und hübsche Frau mit stark blondem Haar, welches noch vollkommen unfrisirt unter einer zerzausten, aber mit Blumen besetzten Haube stak. Der übrige Anzug paßte hiezu: sie trug einen wohl feinen und eleganten Morgenrock, doch hatte sie ihn weder um ihre schlanke Taille zusammen gezogen, noch oben gehörig befestigt, und hatte, um die hierdurch entstandenen Blößen zu bedecken, darüber eine Sammtmantille geworfen, die, nur für die Straße bestimmt, jetzt an der Rücklehne und auf dem Sitz grausam zerknittert wurde.

Madame erhob nicht den Kopf beim Eintritte ihres Gemahls, ja sie gab dem kleinen Fauteuil, in welchem sie saß, durch einen heftigen Ruck eine solche Richtung, daß sie dem Eintretenden den größten Theil ihres Rückens zuwendete.

»Ich bin es, mein Kind,« sagte der junge Mann mit ziemlich sanfter Stimme.

Er erhielt keine Antwort.

»Ich bin so eben von dem Begräbniß der Fräulein von M. zurückgekehrt; du warst noch nicht auf, als ich ging. Wie befindest du dich, hast du gut geschlafen?«

Madame zuckte statt aller Antwort die Achseln und öffnete phlegmatisch ein Buch, das in ihrem Schooße lag.

»Ich möchte wissen, wie du geschlafen hast,« fuhr der junge Mann mit etwas stärkerer Stimme fort.

Worauf sie abermals die Achseln zuckte, den Kopf halb herum warf und mit moquantem Tone entgegnete: »Was kümmert dich meine Nachtruhe, überhaupt meine Ruhe? Man hat ja vor dir doch keinen Frieden, nicht bei Tag, nicht bei Nacht.«

»Wie, du hast vor mir keinen Frieden?«

»Oh!« entgegnete Madame mit aufgeworfener Oberlippe, »es [164] war recht ruhig, so lange du fort warst, aber kaum betrittst du das Haus, so beginnt gleich wieder dein Schelten mit den armen Dienstboten.«

»Mit den armen Dienstboten!« erwiderte er, indem sein sonst so sanftes Auge anfing aufzuflammen. »Ah! mit den armen Dienstboten! Hat Jungfer Babett wieder rapportirt? es ist übrigens gar nicht einmal der Fall, daß ich besonders heftig geworden bin, obgleich ich, bei Gott im Himmel! die gegründetste Ursache gehabt hätte.«

Es erfolgte keine Antwort, vielmehr schien sich Madame eifrig in die Lectüre ihres Buches zu vertiefen.

»Du weißt natürlicher Weise nicht, wo die beiden Kinder sind?«

»In sehr guten Händen, hoffe ich; die Kindsfrau hat mein volles Vertrauen.«

»Nun denn, als ich eben nach Hause komme – es hat beiläufig gesagt zwölf Grad Kälte – sitzt Anna in einem dünnen Kleidchen vor der Hausthüre, und Oscar läuft in der Nachbarschaft herum, die drei Frauenspersonen aber sitzen drüben in dem Zimmer, plaudern auf's Eifrigste und thun nicht, als ob überhaupt Kinder für sie in der Welt wären.«

»Und das wundert dich?« sagte Madame nach einer peinlichen Pause.

»Wie verstehe ich deine Frage?«

»Anna wird an die Treppe gelaufen sein, ihren lieben Papa zu empfangen, ihm ihren guten Morgen zu bringen, ihm zu schmeicheln. Es könnte das eigentlich komisch erscheinen; die Kinder werden ja förmlich dressirt, dich als erste, ja ich möchte sagen, als einzige Person im Hause zu betrachten.«

»Und wer dressirt die Kinder so, um mich deines Ausdrucks zu bedienen?«

»Nun, wahrscheinlich du.«

»Und wenn dir nun meine Dressur zuwider ist, warum übernimmst [165] du nicht einmal diese Mühe? Es wäre doch wahrhaftig deine Pflicht als Mutter, die Kinder zu unterweisen. – Aber,« setzte er achselzuckend hinzu, »dann müßtest du sie freilich ein paar Stunden des Tages um dich haben, und das wäre zu viel verlangt.«

»Ich sehe die Kinder, so oft es nothwendig ist,« entgegnete Madame gereizt.

»Heute Morgen schien es dir also noch nicht nothwendig, denn wie mir Anna sagte, hast du noch nicht ein einziges Wörtchen zu ihr gesprochen. – O Bertha! Bertha!« setzte er mit weicherer Stimme hinzu, »es ist fast schon die Hälfte des Tages vorüber und du hast deine Kinder noch gar nicht gesehen. Ich muß dir gestehen, ich begreife das nicht, mir ist es am Morgen der süßeste und liebste Anblick, wenn ich die lieben und unschuldigen Gesichtchen sehe.«

»Ha! ha! ha!« lachte Madame überlaut, »natürlicher Weise dein süßester Augenblick, du hast mich ja vorher gesehen, und darauf brauchst du begreiflich eine Erholung. – Aber der kleinen Katze,« fuhr sie fort und nickte heftig mit dem Kopfe, »werde ich's doch noch ernstlich und fühlbar vertreiben, beständig meine Angeberin zu machen. – Ein anderer Mann freilich würde auf das Gerede der Kinder nichts geben, aber du bist glückselig, sobald es dir gelungen ist, eine Gelegenheit zum Zanken vom Zaune zu brechen.«

»Hat das Kind Unwahrheit gesprochen, hast du ihm vielleicht schon heute Morgen ein freundliches Wort gesagt?«

Es erfolgte wieder einmal keine Antwort, vielmehr schlug Madame eifrig ein paar Blätter des Buches um.

Der junge Mann wiederholte gelassen seine Frage zwei bis dreimal, dann schwoll aber die Ader seiner Stirne und er klemmte die Unterlippe zwischen die Zähne. »Du wirfst mir immer vor,« sagte er endlich mit gepreßter Stimme, »ich bräche die Gelegenheit, mit dir zu zanken vom Zaune. Daß es Zank und Streit in [166] diesem Hause genug gibt, es ist nur zu wahr; der Friede ist leider aus diesen Gemächern und hier aus diesem Herzen gewichen, aber freilich nicht meine Anhänglichkeit an dich, meine innige Liebe zu den Kindern.«

Madame zuckte verächtlich mit den Achseln.

»Diese Anhänglichkeit und Liebe,« fuhr er mit erhöhter Stimme fort, »halten mich wie Ketten an dich, an dies Haus, das mir schon oft zur Hölle, zu einem Orte der fürchterlichsten Marter geworden ist. Dafür sind es aber auch wirkliche Ketten, die ich tragen muß; ich bin leider nicht Mann genug, sie zu brechen, und sie machen mich zum Sklaven deiner Laune, die fürchterlich unerträglich ist.«

Madame blickte finster in die Höhe.

»Ich habe gesagt, deiner Laune, denn ich will dir zu meiner eigenen Beruhigung nicht einmal wirkliche Fehler zuschreiben, sondern es sollen meinetwegen nur Launen sein, die dich veranlassen, deine Kinder den Dienstboten zu überlassen, und wenn ich, dein Mann, mich über die Nachlässigkeit deiner Dienstboten beklage, ihnen noch Recht zu geben. – Es soll Laune sein, Bertha, wenn deine fürchterliche Gleichgültigkeit gegen Alles, was mir, den Kindern im Hause geschieht, mich zur Verzweiflung bringt. Es soll Laune sein, wenn aus deinem Munde Tage, Wochen lang kein angenehmes, liebreiches Wort kommt, wenn du Alles mit verdrießlichem, moquantem Blick betrachtest, wenn dich im reichsten Sonnenscheine des Lebens jener Glanz nicht freut, der dich umgibt, sondern dich jede Fliege ärgert, die um dich summt, wenn du das tausendfach Gute und Schöne, was dir Gott verliehen, nicht sehen willst, und du dagegen emsig nach einer kleinen Wolke spähst, damit du einen Vorwand hast, mir ein verdrießliches Gesicht zu machen.«

»Phrasen! Phrasen! unausstehliche Phrasen!« entgegnete achselzuckend Madame, »Reden? die ich schon zum Uederdruß gehört.«

[167] »Und ich nenne ferner Laune,« fuhr unerschütterlich der Gemahl fort, »wenn du – ja, ich will sagen – eine junge schöne Frau, die in der Nettigkeit ihres Anzugs dem ganzen Hause ein Muster geben sollte, um eilf Uhr Morgens so erscheinst – – – wie du hier vor mir sitzest.«

Einen Augenblick schien Madame über diese letzte Rede, wie sie es schon einige Mal vorher gethan, mit leidig lächeln zu wollen. Doch warf sie verstohlen einen Blick in den Spiegel, und da sie vielleicht finden mochte, daß ihr Gemahl nicht so ganz Unrecht, ja vielmehr vollkommen Recht habe, so flog eine tiefe Röthe über ihr Gesicht, sie preßte die Lippen heftig auf einander und öffnete sie alsdann wieder, als wolle sie etwas zornig erwidern, doch siegte ihr angebornes Phlegma, jene Gleichgültigkeit, von der ihr Mann sagte, daß sie ihn zur Verzweiflung brächte, über diese Aufwallung. Sie warf ihm einen finsteren, verdrießlichen Blick zu, dann senkte sie den Kopf auf ihr Buch herab und vergrub sich tief in den Fauteuil.

Der junge Mann war, wie er vorhin sagte, in der That der Sklave seiner Frau; und seine Sklaverei war von der härtesten Art. Hätte er ihr Gemüth besessen, hätte er Gleichgültigkeit mit Gleichgültigkeit erwiedern können, so würden die Beiden eine Ehe geführt haben, wie leider so viele andere. Ja, oder wäre sie bei seinen Reden ebenfalls heftig geworden, hätte ihr volles Herz ausgesprochen, hätte ihre Ansichten, ihre Ideen, ihre Gründe für dies und das mitgetheilt, so wäre nach einem kleinen, oft wohlthätigen Sturme Alles wieder im gleichen Geleise gegangen. Da sie aber das nicht that, da sie bei jeder Veranlassung die Gekränkte und Mißhandelte spielte, wenn er, ein offener, ehrlicher Charakter, ein rasches Wort dazwischen warf, und da sie dies Spiel mit außerordentlicher Gewandtheit fortsetzte – es war auch wohl ihr wirkliches Gefühl – so glaubte er am Ende fast beständig, er sei zu weit gegangen, und hot also wieder die Hand zur Versöhnung.

[168] Auch heute ging er, die Hände auf den Rücken gelegt, eine Zeit lang unmuthig auf und ab, wobei er es aber nicht unterlassen konnte, von Zeit zu Zeit einen Blick nach seiner Frau zu werfen und dann jedesmal zusammen zuckte, wenn sie so ruhig und theilnahmlos in ihrem Buche weiter las.

»Ah! Bertha,« sagte er endlich nach einem längeren Stillschweigen, »es kann wahrhaftig nicht so fortdauern, das mußt du einsehen. Glaube mir, unser ganzes Hauswesen geht dabei zu Grunde.«

Es erfolgte natürlicher Weise keine Antwort.

»Unsere Kinder, die armen, kleinen, lieben Kinder leiden sehr darunter Noth, wenn du, ihre Mutter, dich nicht um sie bekümmerst.«

Keine Antwort.

»Es sollte dir ja ein Vergnügen sein,« fuhr er zitternd vor Aufregung und doch mit erzwungener Ruhe fort, »ihre kleinen Spiele zu überwachen, sie zu beaufsichtigen, oder wenn du das nicht willst, nur deinen Dienstboten einzuschärfen, daß sie ihre Pflicht thun. Es ist das ja eine Kleinigkeit.«

Madame schien eifrig und mit großer Aufmerksamkeit zu lesen.

»Ueberhaupt,« fuhr er wärmer fort, »wäre es deine Pflicht und Schuldigkeit, nach deinem Hauswesen, deinen Dienstboten zu sehen; ich will dir ja gewiß nicht verwehren, zu thun, was jede Frau deines Standes thun darf: Besuche zu machen, zu lesen; aber es muß doch auch eine Zeit geben, wo du begreifst, daß du nicht blos dazu auf der Welt bist.«

Madame zog ihre Augenbrauen in die Höhe, als interessire sie eine Stelle in dem Buche außerordentlich.

»Dann kann ich dich auch versichern, Bertha, daß du eine große Beruhigung in der Erfüllung deiner Pflichten finden wirst, daß das dein an sich etwas trauriges Gemüth erheitern wird, und dich der Wahn verläßt, als seiest du eine unglückliche Frau. –[169] – Ja ein Wahn, ein schrecklicher Wahn, mein Kind,« setzte er etwas heftiger hinzu; »du bist von Gott begünstigt wie wenige, du lebst nicht nur behaglich, sondern sogar glänzend; dein Mann, deine Kinder sind gesund – sage, was willst du mehr? Hast du kein beneidenswerthes Loos, hast du keine glückliche Existenz getroffen? – Und doch beständig traurig, beständig verdrießlich! – Oh! das ist unerträglich!« rief er ausbrechend, »ganz unerträglich, und wenn ich es auch schon lange in Geduld ertragen, so wird dieselbe doch bald zu Ende sein, denn ein solches Leben führe ich länger nicht mehr!«

Nachdem der junge Mann an der Thüre, wohin er geeilt, noch einen Augenblick gewartet, ob sie nicht vielleicht doch noch ein versöhnendes Wort von sich hören ließe, ein einziges kleines Wort, ja nur einen sanften oder freundlichen Blick, der ihm – wir sagen leider! – Veranlassung gegeben hätte, wieder gegen die Frau einzulenken, nachdem er so eine Zeit lang vergebens gewartet, ging er in erneuertem Zorne durch die Thüre und stieß sie hinter sich ziemlich unsanft in's Schloß.

Auf seinem Arbeitszimmer angekommen, warf er sich in seinen Schreibstuhl und blickte, tiefes Weh im Herzen, rings in dem elegant, ja reich möblirten Gemache umher. Hier war für jede Bequemlichkeit des Lebens gesorgt, hier standen Luxusgegenstände aller Art, und die ganze Einrichtung verkündigte einen reichen Besitzer. Er stützte die Arme auf die beiden Lehnen des Sessels und ließ den Kopf tief auf die Brust herab sinken. Wie hatte er seine Frau geliebt! Wie hatte er sich ein häusliches Glück so schön und zart ausgemalt, einen Familienkreis mit lieben Kindern, eine behagliche Existenz in seinen vier Pfählen, unberührt vom Sturme des Lebens. Ach! und wie war die Wirklichkeit geworden! Hier in seinem Innern sauste der Sturm und riß die schönsten Blüthen ab, und wenn er ja einmal Frieden haben wollte, mußte er sein Hans verlassen, um unnatürlicher Weise Ruhe und Frieden [170] im Gewühl der Welt zu suchen und zu finden. Wie hatte er sich jene Abende so freundlich und schön ausgemalt, an dem großen runden Tische sitzend, beim hellen Schein der Lampe, mit ihr so vergnügt und freundlich zu plaudern, Beide traulich in die Ecke des Sopha's geschmiegt, während draußen die Feinde aller Geselligkeit, Wind und Regen, an die Fenster schlugen. – Ach! auch das hatte er nicht gefunden, und wenn zu Hause die Lampe angezündet wurde, so verließ er meistens seine Wohnung und suchte in einem Kreis von Bekannten, was er zu Haus nicht fand. –

Lange saß er so vor seinem Pulte in tiefe Träumereien versunken, um endlich achselzuckend in die Höhe zu fahren und sich selbst zu versichern, daß er vor der Hand kein Mittel wisse, diesen Zustand zu ändern. Er sah sein Leben dahin ziehen in einer Abhängigkeit, in einer Sklaverei, ärger als die, welche mit hochgeschwungener Peitsche zur angestrengtesten Arbeit treibt.

Madame ihrerseits hatte nicht so bald die Thüre sich schließen gesehen, als sie das Buch, welches sie in der Hand hielt, heftig auf den Boden warf und mit den Füßen weit von sich stieß. Sie legte ihren Kopf in dem Fauteuil zurück, kaute heftig an den Nägeln und murmelte endlich, während sich ihre Brust heftig hob: »Nein, diese ewigen Quälereien sind nicht mehr zu ertragen! Ist es nicht bald so weit mit mir gekommen, daß ich auf Commando bald lachen, bald weinen soll? Auf welch empörende Art bin ich von ihm überwacht! Nicht blos, was ich sage, was ich thue, nein! nein! jeden meiner Blicke beobachtet er und glaubt, es brauche nichts mehr als seinen Befehl, um mich heiter und glücklich zu stimmen. – Ah! das ist ein unerträgliches Leben, ein Leben voll Elend und Knechtschaft! Was nützt mich der Reichthum, der mich umgibt, bin ich nicht in all' dieser Pracht und Herrlichkeit eine elende Sklavin?«

Der geneigte Leser kann sich denken, daß nach dieser häuslichen [171] Scene der junge Mann allein zum Diner in's elterliche Haus ging, Madame schützte Kopfweh vor und blieb zu Hause.

15. Kapitel
Fünfzehntes Kapitel.
Lebende Bilder.

Das Haus des Commerzienrathes Erichsen war in jeder Beziehung auf das Reichste und Comfortabelste eingerichtet. Die Familie bewohnte den ersten Stock; unten waren Comptoir und Kassen.

Den Chef des Hauses haben wir bereits kennen gelernt, ebenso seinen Schwiegersohn, Herrn Alfons, den Mann mit dem schwarzen Haar und der Brille. Er hatte Marianne, die einzige Tochter des Banquiers, geheirathet, und die Mutter, die sich eher entschließen konnte, den Sohn als die Tochter aus dem Hause zu lassen, räumte der Letzteren den zweiten Stock ihrer Wohnung ein, was um so weniger auffiel, da Herr Alfons Theilhaber des Banquiergeschäfts war, und in geschäftlicher Beziehung die rechte Hand des Commerzienrathes.

Dieser würdige Herr war nominell das Haupt der Familie; in Wahrheit aber schwang die Commerzienräthin ein eisernes Scepter und regierte fast völlig unumschränkt. Wir sagen fast völlig unumschränkt, denn der Einzige im ganzen Hause, der es hie und da wagte, ihr offen entgegen zu treten und der auch zuweilen ihr gegenüber Recht behielt, war ihr Schwiegersohn.

Der Commerzienrath, ein heiterer Mann, der gern lebte und leben ließ, hatte sich schon zu Anfang der Ehe die Zügel aus den [172] Händen winden lassen, indem er viele Concessionen machen mußte, um die Hand der reichen Bürgerstochter zu erhalten. Er wurde von dieser stolzen Sippschaft durchaus nicht als ebenbürtig betrachtet, denn einige freundliche Basen hatten nachgewiesen, daß sein Großvater zwei Brüder gehabt, von denen der eine als Rathsdiener starb, und der Andere lange Jahre der selbst eigenhändige Betreiber und schaumschlagende Besitzer einer Barbierstube gewesen. Wenn man dagegen die lange Linie stolzer Vorfahren der jetzigen Commerzienräthin betrachtete, so konnte man eine Mißheirath nicht läugnen. Da folgten sich in stolzer Reihe Stadt-, Kanzlei-, Justiz-, Regierungs-, Hof- und andere Räthe, und eine Seitenlinie hatte sich sogar in ein adeliges Geschlecht verwachsen, während von dem Urahnherrn der Familie zweifelhaft war, ob er nicht sogar ein heruntergekommener Edelmann gewesen sei; wenigstens deutete man so das Wappen mit zwei Beilen, während dagegen boshafte Neider versicherten, diese Emblemen bezögen sich auf die ehrbare Metzgerei, deren Oberzunftmeister jener erwähnte Ahnherr gewesen.

Dem sei nun aber, wie ihm wolle, das Haus der Commerzienräthin war in seiner Sphäre tonangebend, und wer zu ihren Gesellschaften gezogen wurde, der konnte sich überall präsentiren lassen. Familienunglück hatte man freilich auch gehabt, aber es war mit dem Mantel christlicher Liebe und mit schweren Wechselbriefen bedeckt worden. Man sprach in übelwollenden Kreisen von dem zarten Verhältniß einer Nichte des Hauses mit einem unternehmenden Lieutenant der Infanterie, den man am Ende in die Familie aufnehmen mußte, weil es seltsame Umstände ziemlich gebieterisch verlangten. Nachdem aber die Commerzienräthin hiezu, freilich nach langen Bitten, einmal ihren Consens gegeben und ihre wichtige Hand auf das junge Paar gelegt, war es rein gewaschen und brauchte sich nicht schüchtern zu bewegen wie andere minder reiche und vornehme Colleginnen, denen etwas Aehnliches, sehr Menschliches passirt. – Es ist das so der Welt Lauf und kommt häufig vor.

[173] Im Gegensatz zu ihrem Gemahl war die Commerzienräthin eine große, hagere Frau mit einem strengen, magern Gesichte, aus dem die lange spitze Nase wie ein Zeigefinger hervorsah. Wir gebrauchen dieses Bild, um dadurch die Wirkung auszudrücken, die es auf Jeden ausübte, gegen den diese Nase gedreht wurde; es war eine unmittelbare Aufforderung, ein förmliches Hinweisen, eine Erlaubniß, jetzt endlich zu sprechen oder jetzt endlich das Maul zu halten. Diese Nase wurde von den beiden stechenden Augen gleich zweien Trabanten unterstützt, von denen es nur eines Blinzelns bedurfte, um genau zu wissen, was die Commerzienräthin eigentlich wünschte. Hierüber blieb selten Jemand im Zweifel, und wenn sie obendrein ihre Blicke durch ein Wort unterstützte, so wußte man gleich, woran man war; und wie schon vorhin bemerkt, gehorchte alsdann fast Alles ohne Widerrede.

Das Diner war vorüber, der alte Herr, der wie immer sehr gut gespeist hatte, beschäftigte sich mit seiner Verdauung, indem er, die Hände auf den Rücken gelegt, in dem weiten Gemach auf und ab spazierte. Dabei nickte er zuweilen mit dem Kopfe und hob wohl auch hie und da die Nase schnüffelnd in die Höhe, als wolle er erforschen, ob sich nicht bald durch eine Thürritze hindurch ein angenehmer Kaffeeduft bemerklich mache.

Die Commerzienräthin saß in der rechten Sophaecke kerzengerade aufrecht, denn sie hielt es nicht für anständig, daß ihr Rücken die weichen Kissen berühre. In der linken Ecke saß ihre Tochter Marianne, die Frau des Herrn Alfons, und da diese schon mit der Zeit vorgeschritten war, so lehnte sie behaglich hinten über, während ihre Füße einen Stützpunkt auf denen des Tisches gefunden hatten. Es war ein hübsches kleines Weib, blond wie ihre Brüder, und wie der ältere, der neben ihr saß, mit Augen, die viel Sanftmuth, ja Duldung verriethen. Sie hatte ihren Kopf auf die Seite geneigt, und schien ihrem Bruder zuzulauschen, der ihr eifrig etwas zuflüsterte, wahrscheinlich die Erzählung des Auftritts von [174] heute Morgen; sie hörte ruhig und aufmerksam zu, und nur zuweilen, wenn sich seine Stimme etwas laut erheben wollte, drückte sie ihre Hand auf seinen Arm, wobei sie von der Seite einen Blick auf die Mutter warf, die indessen theilnahmlos, mit hoch erhobener Nase, für Niemand Auge und Ohr zu haben schien, und zuweilen mit ihren Fingern gleichgültig auf dem Tische trommelte. Wir sagen schien, denn in Wahrheit entging ihr keine Miene, keine Bewegung all' derer, welche sich im Zimmer befanden.

Die lebhafteste Gruppe von der Familie bildete übrigens Arthur und Herr Alfons, die an einem der hohen Fenster standen und zusammen sprachen, auch wohl lachten. Alfons hatte den hoch erhobenen Arm auf den Fensterrahmen gestützt, den Kopf darauf gelegt und schaute seinem Schwager zu, der, während er hie und da eine Bemerkung hinwarf, zu gleicher Zeit beschäftigt war, mit einem umgekehrten Zahnstocher allerlei Figuren auf die angelaufenen Fensterscheiben zu zeichnen.

»– Sehr gut! – sehr gut! – sehr brav!« sagte Alfons, indem er die vergängliche Arbeit aufmerksam betrachtete; »das wird ein schöner Kopf, und eine Aehnlichkeit. – Jetzt keinen Strich weiter, so steht's vor mir. Wahrhaftig, ich möchte schwören, daß dies Gesicht existirt.«

»Wie kann man nur so etwas sagen!« antwortete lächelnd der Maler, »eine Phantasie, eine Idee. Aber schau nur, wie sich die Gesichtszüge ändern, wie der Hauch auf der Scheibe nach und nach schmilzt. Das Gesicht war vordem lachend und freundlich, jetzt wird es ernst, finster, drohend und jetzt ist es wie von schmerzlichen Thränen überzogen. – Das ist der Lauf der Welt.«

»Ja, man erlebt das häufig,« entgegnete der Schwager; »Freude, Glück verschwinden so schnell, und hat erst so ein Gesicht den kleinsten Anflug von einer Schmerzenslinie angenommen, so greift er immer weiter um sich, und am Ende entstellt und verstört er Alles.«

[175] »Ganz recht,« versetzte Arthur, wie es schien, nicht ohne Beziehung, »aber man muß sich auch hüten, aus einem Gesicht, das uns lieb und freundlich angelächelt, jenen ersten kaum bemerkbaren Zug des Schmerzes hervorzurufen.«

»O, das kommt ganz von selbst. Du, Glücklicher, hast nur keine Gelegenheit, das zu bemerken; du flatterst von Blume zu Blume, und wenn in deiner Praxis so ein Schmerzenszug sichtbar wird, suchst du schon nach einer neuen und frischen Blüthe.«

»Nicht immer,« sagte ernst der Maler.

»Apropos,« fuhr der Andere leiser fort, indem er sich tiefer hinab beugte, »du bist doch ein wahrhaft lockerer Zeisig. Aus welchem Zweck treibst du dich denn so viel in der Nähe der Balkengasse umher? Ich habe das neulich zufällig erfahren. Ist denn da wieder was Besonderes los?«

»Ich?« fragte scheinbar verwundert Arthur. »Daß ich öfter da wäre, als an anderen interessanteren Orten wüßte ich gerade nicht.«

»Ah! so gehört die Balkengasse zu den interessanten Orten?«

»Allerdings, nach den Begriffen des Malers. Da sind die alten pitoresken Häuser, der Kanal, das beständige Gewühl von Menschen; man kann da die besten Studien machen.«

»O, ihr Maler seid in der That ein glückseliges Volk, euch ist gar nicht beizukommen und wenn man euch auf der That ertappt. Streift ihr in der Mitternacht herum, so werden Mond- oder Schattenstudien gemacht, attrapirt man euch am allerfrühesten Morgen in irgend einem verdächtigen Viertel, so habt ihr die wunderbaren Abwechslungen des jungen aufsteigenden Lichtes beobachtet, und trifft man euch in Person bei einer sonderbar ausschauenden Unbekannten, so versteht sich das, ganz von selbst, denn ihr waret gezwungen, an ihr äußerst interessante Studien zu ma chen. Ja, ja, in der That, ihr habt ein beneidenswerthes Gewerbe.«

»Es ist eigentlich schade, daß du nicht auch ein Maler geworden [176] bist,« sagte Arthur, indem er auf die Fensterscheibe hauchte, und mit wenigen Strichen den Kopf eines Satyrs entwarf.

Der alte Herr, der auf seinem Spaziergange durch's Zimmer zufällig hinter den Beiden stehen geblieben war, hatte die letzten Worte gehört und sprach nun lächelnd: »Nein, nein, Alfons, 's ist besser so; Gott soll uns bewahren! Wir haben an Einem Künstler genug; nicht wahr, Mama?«

Die Commerzienräthin wandte ihre spitze Nase ruhig nach dem Fenster, glättete den Kragen ihres Chemisettes und entgegnete: »Das will ich meinen, mehr als genug!«

»Hörst du es, Arthur, was Mama gesagt, mehr als genug –?«

»O, ich habe das schon tausendmal gehört.«

»Und Mama hat Recht,« fuhr der Commerzienrath fort. »Künstler, – nun ja, es soll am Ende auch solche Leute geben, und wer einmal angewiesen ist, sein Brod auf diese Art verdienen zu müssen, der kann es in Gottes Namen thun; aber in unserer Familie bist du der Erste, der sich – wie soll ich sagen? – veranlaßt sah, keinen – eigentlich soliden Geschäftszweig zu ergreifen.«

»Der Erste,« sagte bestimmt die Commerzienräthin; »und von der ganzen Malerei hast du, wie es mir scheint und wie ich mir sagen ließ, die unsolideste Branche erwählt.«

»Eine unsolide Branche?« fragte Arthur verwundert, indem er sein Gesicht vom Fenster in's Zimmer wandte. »Ah, Mama! das genau zu erfahren wäre ich neugierig.«

»Die unsolideste,« entgegnete fest die Commerzienräthin. »Was bringst du eigentlich zu Stande? – Eine Landschaft, an der man sein Vergnügen haben könnte? – Nein! – oder ein würdiges Portrait? – Auch das nicht! Da zeichnest und malst du allerlei Firlefanz, so daß man den Leuten, die für deine Kunstfertigkeit schwärmen, nichts von deinen Arbeiten zeigen kann, ohne in Verlegenheit zu gerathen.«

[177] »Das ist schon wahr,« sagte Alfons leise und lachend, »Venus malst du zu oft, und badende Mädchen, auch Tänzerinnen und dergleichen.«

»Mama hat Recht,« sprach wichtig der Commerzienrath, indem er den Versuch machte, seine Weste herab zu ziehen; »das eigentlich Solide fehlt dir. Hast du nicht vor einem halben Jahr das Portrait unserer Freundin, der Oberregierungsräthin, ganz vergeblich angefangen? Hast du es nicht trotz ihres oftmaligen Erinnerns bis jetzt unvollendet gelassen?«

»Einer so würdigen Frau von so gutem Hause,« setzte ernst die Commerzienräthin hinzu.

»Allerdings,« sagte Arthur, »eine würdige Dame mit rothem Gesichte, röthlichem Haar, die gemalt zu sein wünschte in einer Haube mit rothen Bändern, in einem rothen Kleid und rothem Shawl. Das war nicht auszuhalten. Es hätte meine Augen ruinirt.«

»Es wäre aber ein artiges Bild geworden,« meinte Alfons ironisch, »das vielleicht irgend einmal bei einem Stierkampf hätte verwendet werden können.«

»Thomas!« rief die alte Frau ihrem Gatten, ohne den Worten ihres Sohnes und Schwiegersohnes weiter Aufmerksamkeit zu schenken, »wir sind jetzt alle so ziemlich hier versammelt – nur deine Frau fehlt wie gewöhnlich,« wandte sie sich mit Beziehung an ihren älteren Sohn, – »und könnten also in einige Ueberlegung ziehen, wann und auf welche Art wir die große Soirée veranstalten wollen, die ich für unumgänglich nothwendig gefunden habe, nächstens den uns befreundeten Familien zu arrangiren.«

»Ganz recht, mein Kind,« entgegnete der Commerzienrath, während er sich die Hände rieb; »wir müssen ziemlich ausgedehnte Einladungen machen.«

»Aber in gehörigen Grenzen,« antwortete ernst die alte Dame.

»Das versteht sich ganz von selbst.«

[178] »Bis zur sechsten Rangklasse,« sagte Alfons lächelnd, aber leise zu Arthur.

»Soll getanzt werden, Mama?« fragte Marianne.

»Ueber die Art dieser Soirée bin ich noch nicht mit mir im Reinen,« entgegnete die Commerzienräthin; »ein Ball, ein einfacher Thé dansant ist etwas Gewöhnliches, ich möchte wieder etwas Neues arrangiren, etwas, von dem man auch spräche, das uns Veranlassung gäbe, so viel wie möglich der Bekannten und Freunde einzuladen.«

»So warten Sie doch bis Carneval, und arrangiren Sie alsdann einen maskirten Ball.«

»Ich hasse die Maskeraden. Aber ich habe etwas Anderes ausgedacht.«

»Das ist auf jeden Fall vortrefflich,« sagte der alte Herr, wobei er sich dem Sopha näherte. – »So laß hören!«

»Ich denke,« fuhr die Frau würdevoll fort, »wir veranstalten lebende Bilder; der grüne Saal wäre ganz Passend dazu, es ließe sich da sehr gut ein Vorhang anbringen, und dann hat auch Arthur bei dieser Veranlassung die beste Gelegenheit, den Leuten zu beweisen, daß er auch in seiner Kunst etwas Reelles zu leisten versteht.«

»Die Idee, Frau Mama, ist charmant,« sprach der Maler. »Lebende Bilder, hübsch arrangirt – wahrhaftig ein vortrefflicher Gedanke! Ich werde mich der Sache mit allem Eifer annehmen.«

»Der grüne Saal ist ganz passend dazu,« meinte der Commerzienrath.

»Nicht übel,« sagte Alfons mit einem beistimmenden Kopfnicken.

Und Marianne flüsterte ihrem Bruder zu: »Ich würde mich gern darauf freuen, aber du wirst sehen, mein Mann erlaubt mir nicht, daß ich ebenfalls mitmachen darf.«

»Und meine Frau,« entgegnete der Bruder verstimmt, »wird [179] an so dummem Zeug, wie sie sagt, keinen Spaß finden – nachdem nämlich ihre Laune ist – und mir schon zum Voraus den ganzen Abend verderben.«

»Gewiß, mein Kind,« versetzte der Commerzienrath, »wir sind stolz auf deine Erfindung.«

Die alte Dame fühlte sich einigermaßen geschmeichelt, daß ihr Vorschlag mit Akklamation gut geheißen wurde. Wenn sie auch ihren Willen auf alle Fälle durchgesetzt hätte, so war es ihr doch angenehm, auf keine großen Widerreden zu stoßen.

»Darf ich auch mitmachen?« fragte Marianne ihren Gemahl.

Worauf Alfons, der am Fenster ein ziemlich freundliches Gesicht gemacht hatte, jetzt die Augenbrauen finster zusammen zog, die Brille empor rückte und in wegwerfendem Tone entgegnete: »Liebes Kind, das muß man jüngeren Frauen und Mädchen überlassen. Ueberhaupt kannst du als Tochter des Hauses nur vielleicht daran denken, einen Platz im Hintergrunde einzunehmen, wenn gerade ein solcher vorhanden wäre, und ihn Niemand anders ausfüllen will. Da stehe ich für meine Person in keinem lebenden Bilde, und es würde mir am Ende nicht gerade passend erscheinen, wenn du mit fremden jungen Leuten da in allerhand sonderbare Stellungen kämest.«

Die Commerzienräthin hob ihre Nase um einige Zoll empor und antwortete mit einem scharfen Blick aus ihren grauen Augen: »Die Arrangements sind meine Sache, Herr Schwiegersohn und wenn ich es vielleicht für gut finde, Marianne irgendwo zu plaziren, so würden Sie wohl nichts dagegen haben.«

»Und warum nicht?« fragte Herr Alfons ziemlich hochmüthig. »Sie wissen, Mama, ich achte Ihre Arrangements bis an die Thüre meiner Wohnung; was dahinter zu befehlen ist, besorge ich selbst.«

»Ruhig! ruhig!« sagte beschwichtigend der Commerzienrath, denn er sah, wie der Teint seiner Ehehälfte anfing etwas gelblich [180] zu unterlaufen. »Hat man denn keine Ruhe vor euch? Das wird sich ja Alles finden; Madame wird arrangiren, wie sich von selbst versteht.«

Alfons lächelte seltsam in sich hinein.

»Der sollte deine Frau haben,« sagte die Schwester in der Sophaecke mißmuthig zu Eduard.

»Oder ich etwas von seinem harten und festen Temperament,« entgegnete dieser seufzend.

»Also lebende Bilder!« rief Arthur freudig. »Vortrefflich, in der That, Mama! – Und Sie überlassen mir die Anordnungen?«

»Du wirst den Saal unter meiner Aufsicht herrichten,« erwiderte ernst die Dame, »du wirst über einige Bilder nachsinnen und sie mir zur Auswahl vorlegen.«

»Schön, schön. – Und welche Arten von Bildern wünschen Sie hauptsächlich, Mama? Sollen es Genrebilder sein oder sollen wir auch stellen nach bekannten historischen Gemälden, nach heiligen Bildern und dergleichen?«

»Von Allem etwas,« meinte die Commerzienräthin. »Ich werde dir eine Liste anfertigen von den achtbarsten Personen, die ich zur Mitwirkung einladen will.«

»Nur von den achtbarsten Personen?« fragte der Sohn kleinlaut.

»Wie so?«

»Nun, ich dachte, Mama, man sollte eigentlich auf die schönsten Gesichter und Figuren sehen, und wer am besten hier und dort zu gebrauchen ist.«

»Auch das, aber ich kann den Rang und Stand nicht ganz außer Augen lassen.«

»O weh, Mama!«

»Ich weiß, was sich schickt,« fuhr unerschütterlich die alte Frau fort. »Ich kann doch zum Beispiel in einem Bilde einer Kanzleiräthin nicht eine besonders schöne Figur zutheilen, und von [181] einer Oberregierungsräthin verlangen, daß sie sich mit Geringerem begnüge!«

»Dann lassen Sie lieber Beide weg, Mama, und nehmen nur jüngere Personen.«

»Jüngere Personen?« fragte ernst die Mutter. »Und wer will da eine Grenzlinie ziehen? In lebenden Bildern zu stehen, fühlt sich jede jung genug, und mit Costüm und Schminke läßt sich schon viel ausrichten.«

»Da Sie von Costümen sprechen, Mama,« sagte Arthur nach einer längeren Pause, »wie wollen Sie, daß es damit gehalten wird? Wenn Sie wünschen, so bitte ich den Intendanten des Hoftheaters, uns mit Einigem auszuhelfen.«

»Costüme des Theaters!« versetzte ernst die Commerzienräthin, indem sie den Kopf schüttelte. »Das wird nicht wohl angehen. Kleider von Leuten wie Sängerinnen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen und dergleichen Personen in mein Haus bringen zu lassen, wäre mir nicht angenehm; auch würde mir das manche Mutter einer unschuldigen Tochter wegen verübeln.«

»Aber die Kleider können doch ihrer Sittsamkeit nichts schaden!« meinte Arthur halb ärgerlich.

»Solche Personen,« fuhr ernst die Mutter fort, »Tänzerinnen und dergleichen können sich etwas darauf einbilden, auf diese Art mit uns in Berührung gekommen zu sein. Und ich mag das nicht.«

»Aber der Zweck heiligt die Mittel,« sprach begütigend der Commerzienrath. »Und ich glaube, wenn man etwas Schönes arrangiren will, so kann man wahrhaftig nicht ohne die Costüme des Theaters sein.«

»Sie thun gerade, Mama,« bemerkte Arthur, »als würden uns dieselben angeboten und wir hätten nur so das Recht, sie zu verwerfen. Es ist überhaupt noch eine große Frage, ob man uns Costüme bewilligt. Und dann nehmen Sie mir nicht übel, wenn auch die meisten der eingeladenen Damen es sich leider für keine[182] Ehre rechnen, mit Schauspielerinnen und Tänzerinnen in Berührung zu kommen, so werden sie dagegen, wo es sich um Vergnügen handelt, die Kleider derselben nicht verschmähen. Es ist gerade so mit dem Theaterbesuch; ich kenne Herren und Damen genug, die vor einem Ballet auf ihrem Gesicht die außerordentlichste Verachtung zeigen, und die es im Gefühl ihrer Würde und Unschuld nicht begreifen können, wie es einer der Tänzer und namentlich der Tänzerinnen wagen könne, ein paar Hand breit Tricots zu zeigen, die aber, wenn einmal der Vorhang aufgezogen ist, ihr Glas nicht mehr vom Auge lassen.«

»Ah! lieber Freund, das thue ich auch,« sagte salbungsvoll und mit ernstem Gesichtsausdruck Herr Alfons; »aber du wirst mir glauben, daß ich es nicht thue, um die unanständigen Bewegungen zu sehen, sondern daß ich bei mir denke: du willst doch einmal sehen, wie weit eigentlich die Verworfenheit des menschlichen Geschlechtes zu gehen im Stande ist.«

»Ah! mein lieber Schwager,« entgegnete entrüstet der Maler, »dazu brauchst du weder das Theater noch dein Opernglas; das kannst du viel näher haben.«

»Arthur! Arthur!« rief der Commerzienrath. »Muß man denn beständig bei euch den Vermittler machen! Immer Reibereien und unangenehme Reden! Ich werdet Mama noch verdrießlich machen.«

»Das ist möglich; aber auf die Gefahr hin, Mama verdrießlich zu machen, erkläre ich, daß, wenn ihr lebende Bilder aufführen wollt und dazu keine ordentlichen Costüme anschafft, mögt ihr diese her bekommen, woher ihr wollt, aus der ganzen Sache nichts Rechtes werden wird und ich mich nicht da hinein mischen kann.«

Die Commerzienräthin versicherte, sie würde das Beste in dieser Sache auszuwählen wissen, und es dann wie immer verstehen, ihren Willen durchzusetzen. Darauf erhob sie sich mit aufrechtem Haupte aus ihrer Sophaecke und gab damit das Zeichen zum allgemeinen [183] Aufbruch. Marianne ging in ihre Wohnung hinauf, nachdem sie einen fast vergeblichen Versuch gemacht, von dem Gemahl ein freundliches Wort zu erhalten. Herr Alfons drückte die Brille fester an die Augen, knöpfte seinen Rock zu und schickte sich an, in das Comptoir hinabzusteigen, wo Commis und Lehrlinge diesem Augenblicke mit einem unbehaglichen Gefühl entgegen sahen. Der Commerzienrath schloß sich in sein Kabinet ein, um seine Zeitungen zu lesen und über das Fallen und Steigen der Papiere nachzudenken. Arthur aber ging in sein Atelier, das er nur im Hintergebäude des elterlichen Hauses haben durfte; Mama hatte sich ein für allemal dahin ausgesprochen: sie wolle ihr Haus rein erhalten.

16. Kapitel
Sechszehntes Kapitel.
Eine Mutter und ihr Kind.

Es war nun vollkommen Winter geworden, das heißt, die Erde war nicht blos von starkem Frost erstarrt, sondern sie hatte auch die bekannte weiße Livree angezogen und verschwunden waren von ihrer Oberfläche all' die kleinen Poesieen und Merkwürdigkeiten, die wir bei unserm Spaziergang im ersten Kapitel dieser denkwürdigen Geschichte entdeckt und dem geneigten Leser mitgetheilt haben. Alle seinen Nuancirungen draußen hatten aufgehört, Feld und Wiese waren gleichförmig bezogen; wo sich ein Wald befand, da erschien die Gegend etwas mit Grau schattirt; einzelne Bäume waren kaum noch sichtbar, der Schnee lag schwer auf den Zweigen und schien jedem einzelnen Strauche, jedem Baume eine Pelzmütze aufgestülpt zu haben, worunter er sich behaglich und warm verstecken konnte. Isolirt stehende Häuser rings um die Stadt sahen [184] aus dem allgemeinen Weiß recht langweilig hervor, namentlich solche, die sich an der Landstraße befanden, denn hier war es öde und leer. Von den sonst so zahlreichen Fuhrwerken aller Art bemerkte man heute nicht viel; in dem tiefen Schnee gab es keine rechte Bahn, weßhalb sich auch draußen noch keine Schlitten sehen ließen; nur Holzwagen fuhren langsam dahin, und ein einsamer gelber Postwagen aus irgend einem Orte der Nachbarschaft, welchem die Eisenbahn zur Seite lag.

In der Stadt dagegen wurde der tiefe Schnee wie immer als eine Einladung des Winters betrachtet, sich seiner als Schlittenbahn zu bedienen, und nachdem man am Morgen nothdürftig Bahn gemacht, hörte man auf allen Straßen das Klingeln der Schellen und lustigen Peitschenknall, und mußte sich bei dem allgemeinen Leben recht in Acht nehmen, daß man nicht von einem Schlitten umgerannt oder von einem Wagen überfahren wurde, wobei namentlich letztere gefährlich waren, da man kaum das Rollen der Räder vernahm. Heute schienen denn auch die Straßen der Stadt nur dem Vergnügen geweiht, und wer draußen nichts zu thun hatte, der blieb gerne zu Haus. In den vornehmeren Stadtvierteln bewegten sich glänzende Schlitten, das Gestell vergoldet, die Sitze mit Teppichen und Pelzen bedeckt, aus denen heitere Gesichter, sanft geröthet von Frost und eifrigem Gespräch, hervor blickten. Die Fiaker und Droschkenführer hatten ebenfalls ihre Wagen zu Haus gelassen und hielten in langen Reihen, die Pferde vor einfachere Schlitten gespannt, welche von der lieben Jugend umstanden wurden, die sehnsüchtig Jedem nachblickte, der sich eines solchen Fuhrwerks bediente.

Wenn es so aus den breiten Straßen geräuschvoll und lebendig war, so erschienen dagegen die schmalen Gassen und abgelegenen Plätze um so einsamer und stiller. Schlitten sah man hier keine, Wagen rollten selten vorüber, und wenn hie und da einer vorbei kam, so hörte man nur das Klingeln von ein paar kleinen Schellen; [185] das Rollen der Räder selbst war ebenso unhörbar wie der Fußtritt der Vorüberwandelnden. In den meisten dieser Straßen war nur eine nothdürftige Bahn an den Häusern gekehrt, die noch obendrein selten betreten wurde, und wenn nicht da und dort auf einem Platze eine Schaar Knaben ihre Spiele getrieben hätte, sich gegenseitig bombardirt und Schneemänner gemacht, so hätte man glauben können, Häuser und Menschen befänden sich alle zusammen in einem seltsamen Winterschlafe. Nur jene Viertel, durch welche der Kanal floß, von dem wir schon früher sprachen, sahen einigermaßen lebendiger aus. Hier wohnten viele Handwerker, namentlich Schmiede, vor deren Häusern sich der weiße Schnee bald rußig und schwarz färbte oder ganz weggeschmolzen wurde, wo man eine heiße Radschiene zur Abkühlung hinausgewälzt hatte. Auch viele Wäscherinnen befanden sich in dieser Gegend und weil die Trockenplätze bei diesem Wetter für sie unbrauchbar waren, so hatten sie längs dem Kanal lange Seile gezogen und hier hingen nun die verschiedenartigsten gewaschenen Zeuge, deren bunte Farben: grün, blau, roth, gelb, recht lebendig von dem weißen Schnee abstachen.

Wenn uns der geneigte Leser folgen will, so wenden wir uns nach einem dieser Häuser hier, einem alten finstern Gebäude mit hohem Giebeldach, dessen vordere Seite, die uns erst mit ihren vergitterten Fenstern anblickt, zur Fruchtkammer benützt wird, während sich im hinteren Theile, der auf den Kanal geht, verschiedene Wohnungen befinden. Zu ihnen gelangt man durch den Hof des eben genannten Hauses über eine alte Wendeltreppe, deren Stufen ausgetreten sind, deren Steinwände wie polirt glänzen, und wo ein alter schmieriger Strick sich dem unsicher Umhertappenden als treuer Führer in der halben Finsterniß darbietet.

In dem ersten Stocke angekommen, betreten wir ein weites mit Steinplatten belegtes Vestibul, auf das lange Gänge münden, die entweder um den Hof herum nach der Fruchtkammer führen, oder ein anderes ebenso großes Nebengebäude mit dem, welches[186] wir gerade betreten, verbinden. Beides ist übrigens der Fall, und die zwei Gebäude, die hier an der hinteren Seite an dem Kanale liegen, wurden in früheren Zeiten einmal zu einer Kaserne benützt, und durch die eben erwähnten Gänge verbunden. Später hatte man aber für das Militär bessere und hellere Räume erbaut und alsdann die vielen Zimmer hier zu zwei und drei abgetheilt und solche an die verschiedensten Leute und Gewerbe zu Wohnungen vermiethet. Ueber einzelnen Thüren bemerkte man die Nummern der ehemaligen Kasernenzimmer, bei anderen aber waren sie verwischt oder man hatte sie absichtlich übertüncht. Auf dem Vestibul stand alter Hausrath; hier schliffen ein paar Knaben aus dem glatten Steinboden wie auf einer Eisbahn, vermittelst einigen Schnee's, den der Wind durch ein Fenster ohne Scheiben herein geweht hatte.

Die Atmosphäre hier roch etwas moderig und feucht, was sich durch die Nähe des Kanals erklären ließ, sowie auch dadurch, daß die Hausthüren selten oder nie verschlossen wurden und allem Wetter Einlaß gewährten.

Eine dieser Wohnungen in der alten Kaserne nun, die wir unsichtbarer Weise betreten, bestand aus einem ziemlich großen Gemache, dessen Wände weiß getüncht waren, und das durch zwei ziemlich hohe Fenster erhellt wurde. Ein großer Ofen erwärmte diesen Raum recht behaglich; zwischen beiden Fenstern an der Wand befand sich ein großer Tisch, vor demselben gepolsterte Stühle mit gestreiftem Kattunüberzug, in der Ecke ein alter Sopha, an den Wänden ein kleiner Spiegel und ein paar vergilbte Kupferstiche in nußbraunen Rahmen. Zwei Thüren, je eine an jeder Seite dieses Zimmers, führten in andere Gelasse, die außer einer Küche auf der andern Seite des Vestibuls noch zu diesem Appartement gehörten.

Auf dem Tische des Wohnzimmers stand ein Kaffeegeschirr, und wenn auch dasselbe von grobem Steingute war, so duftete doch der Inhalt nicht unangenehm, die Milch sah recht gut aus, und auf einem Suppenteller befand sich Zucker in großen Stücken, während [187] weißes Brod daneben lag. Eine Frau saß an dem Tische und schien sich eine große Tasse Kaffee gemischt zu haben, denn sie rührte langsam mit einem Löffel darin herum. Diese Frau mochte ungefähr fünfzig Jahre alt sein, war von mittlerer Figur, einfach gekleidet, und hatte ein ziemlich breites aber kluges Gesicht, aus dem sich Spuren von früherer Schönheit zeigten; ihr Mund hatte etwas Gutmüthiges, namentlich wenn sie lachte, was sie häufig und wie es schien absichtlich that, um sich ein wohlwollendes Ansehen zu geben, denn sobald sich ihre Gesichtszüge beruhigten, erschienen sie schlaff, ausdruckslos, und dann trat ein scharfer, unheimlicher und zurückstoßender Glanz der Augen hervor.

Ihr gegenüber an dem Tische befand sich eine junge Person, die ungefähr zweiundzwanzig Jahre alt war, obgleich ihr Aeußeres auf höheres Alter deutete. Es war das ein schmächtiges Mädchen, ziemlich dürftig angezogen, mit eingefallenen blassen Wangen, aus denen jene leichte Röthe spielte, die man im Munde des Volkes »Kirchhofsrosen« nennt. Dabei hatten ihre Augen einen unheimlichen trockenen Glanz, und die weißen Hände, die sie vor sich auf dem Tisch gefaltet hielt, zitterten öfters, wenn auch kaum merklich. An dem einen Fenster saß auf einem Stuhle ein anderes Mädchen, welches in der Frische und dem Schimmer einer blühenden Gesundheit den vollkommensten Gegensatz zu der eben Geschilderten bildete, und die wir bereits kennen; denn es war Mademoiselle Marie vom Balletcorps. Die Frau am Tische ist ihre Tante, Madame Becker, und die schwindsüchtige Person ihr gegenüber eine Nähterin aus der Stadt, die vor einigen Augenblicken eingetreten war, und über deren ziemlich unverhoffte Erscheinung die Frau nicht gerade erfreut zu sein schien. Sie hatte ihr ziemlich mürrisch einen Platz angeboten und rührte nun langsam ihren Kaffee herum, während sie sagte: »Nun sprech' Sie, Katharine, was führt Sie eigentlich daher? Wenn ich Ihr helfen kann, so wollen wir sehen, was sich machen läßt. Aber in der Angelegenheit ist nicht viel zu thun.«

[188] Die Nähterin war offenbar zu sehr aufgeregt, um augenblicklich mit vollkommener Ruhe antworten zu können. Sie versuchte es, einen tiefen Athemzug zu thun, wobei ihre Nasenflügel leicht erzitterten und die Röthe auf den Wangen noch mehr hervortrat.

»Ich bin wirklich etwas zu schnell gegangen,« sprach sie nach einer Pause. »Wenn man im Tagelohn arbeitet, so muß man so wenig Zeit als möglich verlieren. – Ich wäre gerne schon gestern Abend gekommen – aber ich weiß, daß Sie nach acht Uhr nicht gestört sein wollen, und heute Morgen um sieben Uhr war es auch noch zu früh.«

»Sie hätte ja die Agnes schicken können,« warf Madame Becker leicht hin, »Ihre jüngere Schwester.«

Ein eigenthümliches Lächeln überflog die bleichen Züge der Anderen, während sie hastig erwiderte: »Nein, nein, die Agnes hat keine Zeit, gewiß nicht, gar keine Zeit. – – Aber ich bin so unruhig, daß ich eigentlich gar nicht sprechen kann.« Damit wandte sie ihren Kopf nach der hinter ihr sitzenden Tänzerin und sah darauf die Frau an, als ob sie fragen wollte, ob sie vor dem jungen Mädchen sprechen dürfe.

Madame Becker nickte mit dem Kopfe und versetzte halblaut: »Nur ungenirt, es kann nichts schaden, wenn sie weiß, wie's im Leben zugeht. Halb und halb kann ich mir schon denken, was Sie von mir will, Katharine.«

»Nicht wahr, das können Sie sich denken?« entgegnete hastig die Nähterin, und ihr Auge flammte heftiger. »O, das können Sie sich gewiß denken; aber ich habe keine Ruhe mehr. Sie wissen, die Woche über kann ich nicht fort, nun war ich aber schon zwei Sonntage draußen bei der Frau, und jedesmal war sie nicht zu Hause, das Kind ebenfalls nicht. Ach! und das ist hart für mich!«

Madame Becker zuckte scheinbar gleichgültig mit den Achseln. »Das ist zufällig,« sagte sie; »Sie will doch nicht verlangen, [189] Katharine, daß die Frau Ihretwegen am Sonntag zu Haus bleibt? Sie hat auch ihre Gänge zu machen.«

»Aber es ist hart für mich,« entgegnete die Andere, während sie die Hände faltete. »Wofür arbeite ich die ganze Woche vom Morgen bis in die Nacht hinein? Was hält mich aufrecht, wenn ich oft glaube, nun kann ich nicht mehr? – Nichts, nichts, als das kleine Kind; das ist meine Freude, mein Glück, das ist die Feier meines Sonntags, sein liebes Gesichtchen zu sehen, es tausend und tausendmal zu küssen, seine Haare, seine Stirne, seine Augen, seine Aermchen und Hände. – Ach! und es kannte mich recht gut! – Jeden Sonntag habe ich ihm was mitgebracht; – und das blaue Wollenkleidchen war so hübsch! – – Und nun habe ich es seit vierzehn Tagen nicht gesehen!« –

Die arme Person hatte das Alles in fieberhafter Erregung gesprochen; dabei blitzte ihr Auge umher; ohne die Frau vor sich anzusehen, schien sie weit, weit in die Ferne zu blicken, als sähe sie dort das Lächeln ihres Kindes, als drücke sie ihm die Küsse aus, wie sie eben beschrieben.

Madame Becker zuckte die Achseln, trank ihre Kaffeetasse leer, dann sagte sie: »Katharine, Sie ist immer noch so lebhaft und stürmisch wie früher, immer oben hinaus, nie eine ruhige Ueberlegung.«

»Nein, ich bin nicht mehr wie früher,« entgegnete schmerzlich die Nähterin: »ich habe vierzehn Tage gewartet, nachdem ich zwei Sonntage vergebens draußen war und ruhig heim ging, ohne mein Kind gesehen zu haben, da man mir sagte, die Frau käme wahrscheinlich nicht vor später Nacht nach Hause. – – Das hätte ich freilich früher nicht gethan,« fuhr sie lebhafter fort, während sie ihre Augen weit öffnete. – »Früher wäre ich auf der Treppe sitzen geblieben, die ganze Nacht und den andern Tag, und so viel Nächte und so viel Tage, bis sie mit meinem Kinde nach Hause gekommen wäre. – Aber es thut sich nimmer mehr,« [190] fuhr sie zusammensinkend fort; »wenn auch der Wille da ist, die Kraft fehlt.«

»Jetzt habe ich Sie ruhig ausreden lassen,« versetzte Madame Becker nach einer längeren Pause, während welcher sie ihre Haube zurecht zog und einigemal freundlich zu lächeln versuchte, doch wollte ihr das nicht recht gelingen, und der unheimliche Blick ihres Auges drang überwiegend vor. »Jetzt habe ich Sie also ruhig ausreden lassen; jetzt sag' Sie mir, was will Sie eigentlich; soll ich vielleicht hinaus gehen und nach Ihrem Kinde sehen, oder was muthet Sie mir sonst zu?«

Die Tänzerin am Fenster, die beschäftigt war, ein paar fleischfarbene Schuhe mit neuem Bund zu versehen, hatte die Hände mit dieser Arbeit in den Schooß sinken lassen und lauschte aufmerksam den Reden der Nähterin. Ja, sie erhob sich langsam und stellte sich in die Fenstervertiefung, scheinbar, um auf die Straße hinaus zu sehen, in Wahrheit aber, um besser zu hören, was Jene sprächen.

Die Nähterin hatte ihre beiden weißen Hände auf den Tisch gelegt und beugte sich so weit wie möglich zu der ihr gegenüber sitzenden Frau hin, die sie fest anschaute und mit ihrem Blick zu bannen schien.

»Sie wissen, Frau Becker,« sagte sie alsdann mit leiser aber eindringlicher Stimme, »was damals mit ihm ausgemacht wurde. – Sie haben das ja selbst besorgt. – Als er mich verlassen, habe ich jede Hülfe von ihm zurückgestoßen, jede Unterstützung für mich und mein Kind; – das wissen Sie ganz genau, – denn ich wollte nichts mehr von ihm; es war ein Fluch an dem, was aus seiner Hand kam. – O, ich habe das lange geahnt! Er sollte also gehen, wohin er wollte, und machen was ihm beliebte, aber dafür mußte er mir mein Kind lassen, – mein Kind, für das zu arbeiten mir eine wahre Lust ist. – O ein Vergnügen, Frau Becker; denn wenn ich Abends müd' und matt nach Hause [191] komme und küsse die Locken, die ich von ihm habe, so bin ich wahrhaft frisch und munter und schlafe ohne viel Beschwerden, weil es mir dann im Traume erscheint und sich an meine Brust drückt, an meine Brust, die mich oft so seht schmerzt! –«

Die Frau machte ein Zeichen der Ungeduld.

»Ich komme schon zu Ende,« fuhr die Andere fort, nachdem sie tief Athem geholt und einen Augenblick geschwiegen. »Aber wissen Sie, Frau Becker,« sagte sie matt lächelnd, »Sie müssen mir schon verzeihen, wenn ich das Kind so oft erwähne, ich habe ja Anderes nichts zu denken. – Nun, also! Er schien sich auch, Gott sei Dank! um das kleine Ding gar nicht mehr zu bekümmern, ich erfuhr überhaupt nichts mehr von ihm, bis vor drei oder vier Wochen, da sagte mir die Babett, die mit mir zusammen nähte: weißt du auch schon, daß er heirathen will? – Es ist mir gleichgültig, entgegnete ich; habe ich doch mein Kind. – Ja, aber das Kind möchten sie gern haben. – Wer? rief ich erschrocken. – Nun, sie, seine Familie; sei doch nicht so dumm, das kannst du dir ja denken, es kann ihnen doch wahrhaftig nicht gleichgültig sein, daß ein Kind von ihm und dir lebt und gedeiht.«

»Das dumme Schwatzmaul!« murmelte die Frau in sich hinein.

»Bei den Worten,« fuhr die arme Person fort, indem sie sich über die Stirne wischte, »brach mir der kalte Angstschweiß aus, – wie jetzt, und ich wäre gleich zu der Frau hinaus gerannt, aber es war mir un möglich. Auch war es Freitag, und den Sonntag darauf ging ich ja hin, das war, wie ich Ihnen vorhin sagte: sie war ausgegangen und hatte das Kind mitgenommen. – Wie mich das bestürzt machte, Sie können es sich gar nicht denken, Frau Becker. Ich konnte mich nur etwas wieder trösten, als ich das kleine Bettchen sah und seine Alltagsschuhe, die daneben standen. – – Nun, nehmen Sie mir's nicht übel, deßhalb bin ich eigentlich hier, Sie will ich ja nur fragen, auf's Gewissen [192] fragen, wie es mit der Sache steht. Sie kennen ja die Familie und haben vielleicht sogar mit ihm zu thun. Ob er sich verheirathet, ist mir ja ganz gleichgültig, aber das Kind ist mein; von dem Kinde darf er nichts mehr wollen. Nicht wahr, das sehen Sie auch ein? – Und er hat ja kein Recht an das Kind, hat sich ja auch nie darum bekümmert, und ich habe auf der weiten, weiten Welt nichts Anderes, was mich an dies Leben festhält!«

Madame Becker hatte sich bei dieser längeren Rede eine neue Tasse Kaffee zurecht gemacht und besorgte dies Geschäft absichtlich sehr langsam, wahrscheinlich um Zeit zu gewinnen, ihre Antwort zu überlegen. Sie mußte von der Sache wissen, denn während die arme Person ihr gegenüber sprach, räusperte sie sich ein Paarmal nicht ohne Verlegenheit, schaute auch wohl gegen die Straße hinaus und nach ihrer Nichte, der Tänzerin, hin, die sich aber so fest in die Fensternische hinein gedrückt hatte, daß die Frau nicht wußte, ob das Mädchen da sei oder ob sie in's Nebenzimmer gegangen.

»Sieht Sie, Katharine,« sprach sie endlich sehr langsam, um ihre Worte überlegen zu können, »was ich vorhin sagte ist wahr. Sie handelt immer vorschnell und oben hinaus und denkt immer das Schlimmste von den Männern. Das muß man nicht thun. Am Ende freilich ist was Unangenehmes passirt; wer kann für so ein kleines Kind einstehen?«

»Nicht wahr? – nicht wahr? – o mein Gott!«

»Ja, ich sage, es sei möglich, ohne daß ich das weiß. Daß die Frau Bilz zweimal nach einander nicht zu Haus war, hätte an sich nicht viel zu bedeuten; das kann vorkommen. Aber neulich ist sie mir begegnet und hat den Kopf geschüttelt, als ich nach dem Kinde fragte, – ich frage immer darnach, Katharine, – da sagte sie: ja, es ist recht kränklich, und selbst bei der sorgfältigsten Pflege weiß man doch nicht, was mit dem armen Wurm geschieht.«

[193] »Aber mein Kind war nicht kränklich,« sagte ängstlich die Nähterin, »wenigstens noch nicht vor vierzehn Tagen; da fand ich es frisch und gesund.«

»Na! frisch und gesund wollen wir gerade nicht behaupten,« entgegnete die Frau, nachdem sie aus einer kleinen Dose verstohlen eine Prise genommen; »einen Treff hat das Kind leider schon bei der Geburt gehabt. Denkt nur an den Jammer, mit dem Ihr es getragen.«

»Ja, ich habe damals unendlich viel Jammer ausgestanden.«

»Und das feste Schnüren in der ersten. Zeit! Ihr hattet damals eine reputirliche Kundschaft, Katharine, lauter feine, solide Häuser, und da läßt man so was nicht gern merken. Aber die armen Würmer leiden darunter.«

Die Nähterin schüttelte ungläubig den Kopf und sah gedankenvoll vor sich hin. »Nein, nein!« sagte sie nach einer Pause, »dem Kinde hat nichts gefehlt, das hat mich der Arzt versichert. Ich habe ihn ja fast auf den Knieen gebeten, mir die Wahrheit zu sagen.«

»So glaubt, was Ihr wollt,« versetzte Madame Becker scheinbar ereifert; »mir kann es ja recht sein. Aber wie ich Euch schon sagte, die Frau Bilz machte über den Zustand des Kindes so ein bedenkliches Gesicht, daß ich schon im Begriffe war, Euch aufzusuchen; doch wußte ich nicht, wo Ihr den Tag über seid und Abends habe ich keine Zeit.«

»Dann hätte die Frau aber zu mir kommen sollen, das wäre doch nicht mehr als recht und billig gewesen.«

»Ja, ja, sie hätte es gekonnt, aber sie hat auch viel zu thun. Nun, hoffen wir das Beste!«

»Was kann ich machen!« seufzte die Nähterin betrübt, indem sie die Hände faltete. »Und wenn das Kind krank würde und stürbe – du lieber Gott im Himmel! das war' auch mein Ende; aber ich müßte es über mich ergehen lassen. – Das Andere [194] aber, Frau Becker,« fuhr sie heftiger fort, indem sie ihre rechte Hand drohend erhob, »das Andere aber ließe ich nicht ruhig geschehen, so schwach ich bin, das können Sie mir glauben. – Aber nicht wahr, ich habe nichts zu befürchten, sie wollen mir das Kind nicht nehmen?«

»Ei! wo denkt Ihr hin? Es fällt gewiß Niemand ein, das zu thun,« antwortete die Frau und wandte ihren Kopf der Thüre zu, wo sich ein leises Klopfen vernehmen ließ.

»Wenn Sie nur das denken, so beruhigt es mich,« erwiderte Katharine; »und nur um ein wenig Trost zu haben, kam ich hieher. Ich habe einen halben Tag Arbeit versäumen müssen,« fuhr sie schmerzlich lächelnd fort, »und das fällt mir schwer. – Aber nicht wahr, Frau Becker, noch einmal, es geschieht mir gewiß nichts Schlimmes?«

Es klopfte zum zweiten Male an die Thüre.

»Was soll ich wissen?« meinte Frau Becker, die ungeduldig den Kopf herum wandte und dann ihrer Nichte rief und ihr auftrug, sie solle nachsehen, wer an der Thüre sei.

Die Nähterin erhob sich langsam, wobei sie ihre eine Hand auf den Tisch stützte und leise hustete.

17. Kapitel
Siebenzehntes Kapitel.
Falsches Zeugniß.

Die Tänzerin ging nach der Thür, öffnete sie geräuschlos und sprach einige Worte mit Jemand, der draußen stand und ließ alsdann eine ältliche Bauersfrau in's Zimmer treten, die ziemlich verlegen an der Thüre stehen blieb und die ihre Blicke fragend nach[195] der Madame Becker richtete, welche ebenfalls aufgestanden war und etwas erschrocken auf die Eingetretene sah. Katharine wandte gleichfalls ihren Kopf herum und stieß einen lauten Schrei aus, worauf Madame Becker ungeduldig mit dem Fuß stampfte und einen leisen Fluch zwischen den Zähnen murmelte.

»Da ist die Frau!« sagte das Mädchen, indem sie ihre Augen weit aufriß und die Blässe ihres Gesichts wahrhaft gespenstig wurde. – »Da ist die Frau! – Jetzt werde ich doch etwas erfahren über mein Kind!«

Die Bauersfrau kam ziemlich unbehülflich näher, streckte ihre beiden Hände aus und verwandte kein Auge von dem Gesicht der Madame Becker; that sie das nun, um sich an den Mienen derselben Raths zu erholen, oder scheute sie sich vielleicht, die unglückliche Mutter des Kindes anzusehen.

»Nun?« rief ihr Madame Becker ziemlich eifrig entgegen. – »Was will Sie eigentlich? – Zu mir? – Gewiß zu Katharine. – Da steht sie. Sag' Sie, was Sie weiß. – Ist vielleicht ein Unglück geschehen?«

Die Bauersfrau zog ihre Achseln entsetzlich in die Höhe, wobei sie mit einiger Anstrengung nach dem Himmel hinauf zu schielen versuchte, es aber nur zu einem häßlichen, verdrehten Blick brachte.

Madame Becker zuckte hierauf ebenfalls mit den Achseln und warf einen mitleidig sein sollenden Blick auf die Nähterin, die da stand, ein Bild des Jammers, mit bleichen Wangen, auf denen jetzt allmählig kleine rothe Punkte sichtbar wurden, – die schon erwähnten Kirchhofsrosen, die nun bald in ihrer ganzen schrecklichen Pracht auf dem stillen Gesichte wieder aufflammen sollten.

»So ist dem Kind etwas passirt?« fragte Madame Becker nach einer langen und schrecklichen Pause. »Was hat's da gegeben?« – –

»Todt!« entgegnete die Bauersfrau, ohne daß sie es wagte [196] dem flammenden Blick der Mutter zu begegnen. – »Todt! – todt! – Das Kind ist todt!«– –

In diesem Augenblicke trat die Tänzerin vor und legte ihre warme Hand sanft aus die kalte Rechte Katharinens, schlang ihren Arm um sie und drückte sie in tiefstem Mitgefühl fest an die Brust, die, sein leises Schluchzen unterdrückend, sich hoch und gewaltsam hob und senkte.

»Also todt!« sagte Madame Becker. »Und wie ist das gekommen?«

»Wie kommt das bei so kleinen Kindern!« entgegnete die Bauersfrau, indem sie den Kopf auf die rechte Seite senkte; »vorige Woche noch ziemlich gesund und wohl, gestern Nacht mausetodt. – Hier ist der Schein, Alles in Ordnung ausgestellt. – Ja, es ist traurig aber wahr.«

Katharina blickte mit trockenen und heißen Augen wie in einem tiefen Traume um sich her. Lange schaute sie die beiden Weiber vor sich an, bald die Eine, bald die Andere, und keine konnte diesen Blick ertragen. Dann aber bog sie ihren Kopf leicht zurück und streifte so die glühende Wange der Tänzerin; und es war, als ob diese Berührung eines guten, mitfühlenden Wesens eine Beruhigung über ihre Seele gebracht hätte, denn ein paar Sekunden nachher senkte sie ihren Kopf auf ihre Brust und brach zwischen den Armen des jungen Mädchens zusammen, die sie sanft auf einen Stuhl niedergleiten ließ und dann neben ihr kniete, um ihr Haupt zu unterstützen.

Jetzt erst wagte die Bauersfrau das unglückliche junge Weib anzusehen; doch that sie es scheu und verlegen, machte auch gar keine Miene, der Niedergesunkenen beizuspringen, sondern sagte zu Madame Becker: »Es ist wahrhaftig ein Jammer; aber was kann man machen? Jetzt übersteht sie es auf einmal und sonst wäre es doch für ihr Leben eine immerwährende Last und Plage gewesen.«

Die Angeredete hatte beide Arme auf den Tisch gestützt und [197] blickte in das bleiche Gesicht der Ohnmächtigen. »Ob es besser ist,« sprach sie mit scharfem unangenehmem Tone, »was geht es uns eigentlich an? Geschehen sollt' es und geschehen ist es; und ich hoffe,« setzte sie leise hinzu, »daß Sie Alles gut besorgt hat, Frau, denn es ist im Grunde eine kitzliche Geschichte, für welche Sie den größten Theil empfangen und für welche Sie auch mit Ihrer Haut einstehen muß.«

»Bst! bst!« entgegnete die Bauersfrau, indem sie ihre Augen einen Moment auf die Tänzerin heftete und sich dann der Frau näherte, zu der sie sagte: »Kommt doch da weg, wenn Ihr schwätzen wollt, geht mit in's Nebenzimmer! Ich habe Euch noch allerlei mitzutheilen.«

Damit gingen die beiden Weiber in das andere Gemach und ließen die Tänzerin bei der Unglücklichen allein.

Marie befand sich in großer Gemüthsbewegung; sie athmete schnell und heftig und sandte den beiden Weibern einen forschenden Blick nach. Dann lehnte sie sanft das Haupt Katharinens an die Stuhllehne und eilte in ihr Schlafzimmer, wo sie vom: Bett ein Kissen, von der ärmlichen Toilette ein kleines Fläschchen mit kölnischem Wasser nahm. Das Kissen schob sie unter den Kopf der noch immer bewußtlos Daliegenden, drückte diesen sanft hinein und goß dann einige Tropfen des wohlriechenden Wassers auf ihr Tuch, worauf sie Schläfe und Stirn des armen Mädchens leicht damit rieb.

Das Alles that sie mit einer seltsamen Hast und warf dabei verstohlen die Blicke auf die Thüre des Nebenzimmers, welche Madame Becker nicht fest hinter sich zugezogen hatte. Nachdem sie darauf wieder ein paar Sekunden lang aufmerksam in das bleiche Gesicht der Kranken geblickt, erhob sie sich rasch, als sie sah, wie sich deren Lippen langsam öffneten und ein leichter Seufzer aus der Brust emporstieg. Darauf öffnete Katharine matt ihre Augen und sah die Tänzerin mit einem dankbaren Blicke an.

[198] Maria lächelte ihr zu, zeigte mit der linken Hand auf 's Nebenzimmer und legte alsdann einen Finger der rechten Hand auf ihren Mund, als wollte sie sagen: Stille! sprich kein Wort; mach' kein Geräusch!

Katharine schien das vollkommen zu verstehen und auch wohl zu begreifen, daß dort im Nebenzimmer etwas verhandelt würde, was für sie von großem Interesse sei, denn sie schloß ihre Augen und öffnete sie wieder zur Beistimmung, faßte die Lehne des Stuhls mit ihren Händen und folgte dann mit den Augen der Tänzerin, welche sich geräuschlos und geschmeidig wie eine Schlange um den Tisch herum wandte, an die etwas geöffnete Thüre des Nebenzimmers gelangte, ohne daß man nur einen Fußtritt gehört hätte. Dort blieb sie einige Minuten lauschend stehen und kehrte dann ebenso vorsichtig und leise zu Katharine zurück, kniete vor sie nieder, legte abermals den Finger auf den Mund und drückte darauf ihre beiden Hände fest auf die der armen Person, wobei sie ihr bedeutungsvoll in die Augen sah.

»Sprich kein Wort!« flüsterte sie, »ja, wenn die Beiden heraus kommen, so schließe deine Augen wieder. Kannst du es ertragen, wenn ich dir was sage, das nicht so schlimm ist, als was du eben gehört?«

Katharina nickte mit dem Kopfe.

»Lange nicht so schlimm, aber auch nicht angenehm. – Sei ruhig – im Grunde doch angenehm. Aber du mußt nicht aufschreien!«

Katharine machte mit den Augen ein verneinendes Zeichen.

»Bst!« fuhr die Tänzerin fort, indem sie einen ängstlichen Blick nach der Thüre warf; »es ist wahr, was du vorhin sagtest: er wird sich verheirathen.«

Katharine seufzte.

»Und das Kind –« fuhr Marie leise fort; –

»Nun, das Kind? – – Das Kind –?«

[199] »Es ist nicht todt,« hauchte das Mädchen kaum vernehmlich. – »Es lebt, aber sie haben es fortgebracht.«

– »Mir gestohlen –!«

»Wohin sie es gebracht haben, weiß ich nicht, aber ich erfahre es; sei ganz ruhig. Wir haben auch unsere Freunde!«

»Sie haben es fortgebracht! O, ich kann mir denken, um es zu verderben – das arme kleine Kind! Glaubst du nicht auch, Marie?«

Jetzt nickte die Tänzerin traurig mit dem Kopfe.

»Sie hätten es geschwind umgebracht, aber sie fürchteten sich. O, ich kann mir denken, wohin sie es gebracht haben. Zu so einem schrecklichen Weib, da wollte er damals schon, ich sollt' es hinthun. Gott! mein Gott! Da brauchen sie es nicht auf einmal umzubringen, da geht es langsam zu Grunde, da stirbt es stündlich – täglich – an – Hunger – Kälte – – Elend! –«

Bei diesen letzten Worten sank das arme Geschöpf abermals in die Kissen zurück, ihre Augen schlössen sich und fielen tief ein, und zwischen den bleichen Lippen zeigte sich ein einziger Blutstropfen.

»Sie stirbt!« rief die Tänzerin. »Sie stirbt!« schrie sie laut hinaus.

Und auf diesen Ruf hin kamen die beiden Weiber aus dem Nebenzimmer heraus und traten an den Sessel.

»Die arme Creatur!« sagte Madame Becker und stellte ihre Schnupftabaksdose auf den Tisch, um eine der kalten Hände Katharinens zu ergreisen, die jetzt schlaff herunter hingen. Der Pulsschlag zitterte nur noch in den Adern und schien nächstens ganz erlöschen zu wollen.

Aber das menschliche Herz ist stark und leistet fast das Unmögliche im Ertragen von Jammer und Elend.

»Wenn sie sterben würde,« sprach die Bauersfrau, »es war' das wahrhaftig kein Unglück für sie. Was soll die auch ein wenig [200] länger auf der Welt? Wenn sie heute nicht erliegt, treibt sie es doch vielleicht kein halbes Jahr mehr.«

Unterdessen hatte sich die Tänzerin über die Ohnmächtige hingebeugt und ihre frischen Lippen berührten fast den bleichen Mund der Anderen, während eine schwere Thräne um die andere aus ihren Augen herabrann.

»Seid doch stille!« bat sie nach einer Pause. »Sprecht nicht so laut, man sagt, so Ohnmächtige könnten manchmal Alles hören, was man neben ihnen spricht. Seht, sie ist gewiß nicht todt, ihre Lippen zittern, ihre Augen fangen an sich zu bewegen.«

»Ich habe genug von vorhin,« sagte die Bauersfrau, »und habe nicht Lust, noch einmal dieselbe Geschichte zu hören. Wenn sie wirklich wieder aufwacht, so gebt ihr den Todtenschein, er ist ächt und richtig.« – Sie warf Madame Becker einen bedeutsamen Blick zu. – »Auch kann sie die Bettchen und Kleider holen, wenn sie will.«

»Ich werde es ihr sagen,« entgegnete Madame Becker mit einem scheinheiligen Ausdruck im Gesicht; »und was die Begräbnißkosten anbelangt, so kann Sie sich an mich halten, Frau. Du lieber Gott! man hilft gern so einer armen Creatur ihren Kummer lindern.«

»Sind nicht groß, die Kosten,« versetzte kopfschüttelnd die Bauersfrau; »meine Schwester hat's heute Früh besorgt in ihrem Dorfe. Es war das ein kleines Loch, wenig Arbeit. Jetzt liegt schon der Schnee darauf; das wird ihr ein Trost sein, – denn wenn sie's nächstes Frühjahr aufsuchen kann,« setzte sie mit bedeutsamem Achselzucken hinzu, »so ist ihr Jammer auch schwächer geworden. – Adieu, Jungfer Marie!«

Die Tänzerin nickte stumm mit dem Kopfe, ohne aufzublicken, denn sie war beschäftigt, das Gesicht der Ohnmächtigen abermals zu waschen.

Madame Becker steckte ihre Schnupftabaksdose in die Tasche, nahm ein warmes Tuch vom Nagel, das sie umhing, und schickte [201] sich an, mit der Bauersfrau das Zimmer zu verlassen. An der Thüre warf sie noch einen scheuen Blick auf die Kranke. – »Es kommt mir doch etwas grauselich vor,« sagte sie dann leise zu ihrer Begleiterin. »Wenn ich mir das Mädchen so von hier aus betrachte, so meine ich wahrhaftig, es sei todt und wir trügen davon die Schuld.«

»Ach was!« entgegnete die Andere, »seid nur nicht so kleinmüthig, so was kommt schon im Leben vor. Todt ist sie auch nicht; seht, sie reißt ihre Augen auf und schaut nach uns her.«

»Ja, ja, Frau, Ihr habt Recht, sie blickt nach uns her, aber mit einem schauerlichen Blick.«

Damit zog sie die Andere zur Thüre hinaus.

Es brauchte wohl eine Viertelstunde Zeit, ehe sich Katharine so weit erholt, daß sie die Tänzerin um die näheren Umstände befragen konnte.

Marie sagte, was sie gehört:

Das Kind war also nicht gestorben, aber man hatte ein anderes, das gestern Nacht seinen Leiden erlegen, unterschoben und so wirklich einen Todtenschein erhalten. Wohin sie das lebende Kind gebracht, hatte keines der Weiber gesagt, wohl aber, daß es auf den Antrieb seiner Familie geschehen, die damit das letzte Band zwischen ihm und seiner ehemaligen Geliebten zerreißen wollte.

»Sei nur ruhig,« sagte die Tänzerin zu der Unglücklichen, deren Hände heftig zitterten, »sei ruhig, wir wollen schon erfahren, wohin sie das Kind gebracht.«

»Von deiner Tante glaubst du es zu erfahren?«

»Nein! nein! die sagt mir nichts; ich habe schon meine Wege.«

»Aber bald, Marie, nicht wahr? Bald, bald suchst du es zu erfahren, denn glaube mir, wohin sie auch das Kind gebracht haben, es befindet sich an einem Orte, wo es nicht lange leben kann; ich kenne solche Anstalten. – Du siehst mich schaudernd an? – ja, Marie. Gott erhalte deine Unschuld; sie nennen das keinen [202] Mord, wenn so ein Kind langsam dahinsiecht. – Es ist dann gestorben.« –

Die Tänzerin bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen und finstere Gedanken bewegten ihr Herz. Hatte sie in der Umgebung, wo sie sich befand, vielleicht eine bessere Zukunft zu gewärtigen, als die Unglückliche, die vor ihr saß? Hatte ihre Tante nicht schon Andeutungen genug fallen lassen über nutzlos verschwendete Jugend und Zeit, über ein Kapital, das man nicht ruhig könne liegen lassen und das seine Zinsen tragen müsse! – Gräßlich! gräßlich! – – Und das unglückliche Mädchen vor ihr hatte doch der Liebe Alles gegeben, was sie besaß, sie aber stand in Gefahr, verkauft zu werden, wie die geringste Sklavin! –

»Wie dank' ich dir, Marie,« sagte die Nähterin, die sich allmählig wieder erholt, »wie dank' ich dir für deine Güte, für deine Hülfe! Glaube mir, ich will für dich beten und es wird dir keinen Unsegen bringen. – Für mich selbst wag' ich es kaum; du bist so gut, so unschuldig, so frisch und gesund und kannst einmal recht glücklich werden. Dann denke auch zuweilen an mich, die gewiß lange todt ist. Und wenn du, liebe, gute Marie,« fuhr sie leiser fort, indem sie ihre beiden Arme um den Hals der Tänzerin schlang, »wenn du einmal einen braven Mann hast und es dir gut geht, und du hast eine halbe Stunde Zeit, so besuche mein Grab und gib meinem armen Kinde, wenn es noch lebt und du es an irgend einer Ecke stehen siehst, ein kleines Almosen.«

Bei diesen Worten stürzte ein erleichternder Thränenstrom aus den Augen Katharinens, und die beiden Mädchen hielten sich eine Zeit lang umschlungen und weinten heftig; die Eine, indem sie mit trübem Blick an die Vergangenheit dachte, die Andere, indem sie finster in die Zukunft schaute. –

Der laute Klang eines Glöckchens vor dem Fenster riß sie aus ihren Träumereien empor.

»Ist es denn schon so spät,« fragte die Tänzerin, »daß der [203] Theaterwagen drunten hält, mich abzuholen? Verzeih', Katharine, da muß ich mich eilen; ich darf den Schwindelmann nicht warten lassen.«

»Und ich will auch gehen,« sprach seufzend die Andere, indem sie sich schwankend erhob. »Aber nicht wahr, Marie, ich sehe dich morgen oder sobald du etwas weißt?«

»Gewiß, Katharine, gewiß!« antwortete die Tänzerin, während sie ihren großen Korb auf den Tisch stellte, noch einmal flüchtig die Gegenstände darin übersah und die Tanzschuhe, an denen sie vorhin gearbeitet, dazu legte. »Ich werde heute Abend noch mit Einigen darüber sprechen. O, die Mädchen bei uns wissen recht gut Bescheid und Manche kennen die ganze Stadt.«

»Und du kommst dann zu mir Abends nach acht Uhr? – Mit welcher Ungeduld will ich dich erwarten!«

»Verlaß dich auf mich; ich thu', was ich kann.«

Damit band die Tänzerin ein Tuch um ihren Kopf, wickelte sich in einen alten verblichenen Shawl, noch ein Erbstück ihrer verstorbenen Mutter, nahm den großen Korb unter den linken Arm und begleitete mit dem rechten Katharinen sorgfältig nach der Thüre, die sie abschloß und den Schlüssel im Ofenloch versteckte.

Es ging etwas langsam die Treppe hinunter und Schwindelmann, der unten an der Thüre stand, trippelte ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Drei bis vier Colleginnen streckten ihre Gesichter aus dem Wagenfenster hervor und blickten neugierig auf das bleiche Mädchen, das mit einem Händedruck und bittenden Blick sich von Marie verabschiedete und nun langsam an den Häusern dahin schlich.

»Der Teufel auch!« sagte Schwindelmann, »Mamsell Marie, Sie lassen uns lange warten. Das sind wir bei Ihnen nicht gewöhnt.«

»Es thut mir leid,« entgegnete die Tänzerin, »und ist wahrhaftig nicht meine Schuld.«

[204] »Wer ist denn das?« fragte Schwindelmann, indem er auf Katharina zeigte, die schon an den nächsten Häusern erschöpft stehen blieb.

»Eine unglückliche Person, der es sehr schlecht ergangen,« erwiderte Mamsell Marie.

»Und wo wohnt sie?« fragte eine der Tänzerinnen aus dem Wagen.

»In der Schlossergasse.«

»Dahinfahren wir gerade auch,« sagte nachdenkend Schwindelmann. Und als ihn ein bittender Blick des jungen Mädchens traf, rief er in den Wagen hinein: »Was meint ihr da drinnen, haben wir bis zur Schlossergasse noch Platz für eine arme kranke Person, die sonst vielleicht im Schnee stecken bleibt? – Es hat nicht Jedermann einen Wagen, wie ihr Prinzessinnen, und was man seinem Nächsten thut, das wird Einem im Himmel gut geschrieben.«

»Gott! der Schwindelmann wird fromm!« lachte eine lustige Stimme aus dem Wagen. »Mir ist es gleichviel.«

»Mir auch!« riefen ein paar Andere.

Und darauf sprang Mamsell Marie in den Wagen, der Schlag blieb offen. Andreas fuhr fort und Schwindelmann trabte neben der Equipage her, bis zur armen Katharine, die zu ihrer großen Verwunderung solcher gestalt auf die angenehmste und bequemste Art nach ihrer Wohnung in der Schlossergasse befördert wurde.

Schwindelmann aber wurde seit jenem Abend von den Tänzerinnen zum Hoftheater-Samariter ernannt.

18. Kapitel
[205] Achtzehntes Kapitel.
Hinter der achten Coulisse.

Wenn auch schon in Schrift und Zeichnung so tausenderlei mitgetheilt worden ist von dem Leben und Treiben hinter den Coulissen, so war das insofern recht oberflächlich, als es nur jenen Theil derselben behandelte, welcher, ziemlich hell vom Lampenlicht beschienen, dicht an der Bühne liegt. In die weiter zurückgezogenen Räume, namentlich in die Tiefen des Theaters hinter dem letzten Vorhang, sowie in die dunkeln Nischen zwischen Einschlag-, Donner- und Regen-Apparat, oder jenem stillen Raume, wo die Seile der verschiedenen Glockengeläute hängen, drangen wenig neugierige Blicke Uneingeweihter; von all' diesen dunkeln Orten wurde noch wenig Interessantes und Wahres berichtet, und diese sind doch, wie alle Räume im Himmel und auf Erden, mit Wesen, und zwar mit geschäftigen und sehr wichtigen Wesen bevölkert.

Hier haust nämlich seit unvordenklichen Zeiten und sobald die Dekoration eines jedesmaligen Actes steht, das Geschlecht der Maschinisten und Zimmerleute, der Feuerwächter und der Aushelfer. Der Glanz und der Lärm der Bühne ist ihnen verhaßt, sie suchen gern ein stilles Plätzchen, wo sie ruhig zusammen plaudern oder auch einzeln über so Manches nachdenken können. Das sind meistens keine ganz gewöhnlichen Menschen, und Viele von ihnen haben schon verschiedene Carrièren versucht, ehe sie endlich hier als die unsichtbaren Lenker der Pracht und Herrlichkeit des Theaters hängen geblieben sind. Den ganzen Tag hier in einem ewigen Halbdunkel beschäftigt, haben sie sich allmählig daran gewöhnt und lieben die stillen Räume mit ihrem sanften, zweifelhaften [206] Lichte mehr wie den Glanz der Sonne. Ja, wenn sie Mittags nach Hause gehen, so drücken sie ihre Mützen tief in's Gesicht und scheinen ordentlich scheu auf der Straße dahin zu flattern, wie aufgestörte Nachtvögel. Unlieb ist ihnen bei der Arbeit der neugierige, scharf blitzende Sonnenstrahl, der zuweilen bei einer Tagesprobe durch eine Oeffnung aus die finstere Bühne zuckt und mit einen langen, schmalen Streifen so reines Gold, so glühendes Licht zwischen die schwarzen Schatten hinein wirft, daß die gemalten Blumen erbleichen und das abendlich noch so frische Grün grau und moderig aussieht.

Sie, diese armen Arbeiter, den ganzen Tag in der Finsterniß umhertappend, lieben überhaupt den Sommer und den Sonnenschein wenig, wenn letzterer draußen über Berg und Thal scheint und alle Menschen sich an seinem Strahle erfreuen, sich an der frischen Luft erlaben, welche die duftenden Blumen und Bäume aushauchen, während sie die knarrenden Seile auf und ab ziehen, bestaubte Coulissen aufhängen und einen künstlichen Donner und Regen hervorbringen, der nichts Erquickendes hat und nur Legionen von Motten und einige Fledermäuse aufjagt.

Der Winter ist ihnen lieber; da sind die anderen Menschen auch in's Haus gebannt, und da sitzt es sich gar nicht unbehaglich an dem breiten eisernen Ofen hinter der achten Coulisse, während draußen der Sturm heult oder der Regen auf das Zinndach des Theaters niederprasselt.

Ja, hinter der achten Coulisse ist ein recht heimliches Plätzchen, wie gemacht zum Versammlungsort der Maschinisten und Zimmerleute. Gleich rechts daneben ist die Flugmaschine, mit der es auf den Schnürboden hinauf geht und links die eine Treppe, welche unter das Podium führt; die Zeichen zum Donner und Regen hängen dicht daneben und zwei Sprachrohre münden hier ebenfalls, durch welche man Befehle augenblicklich nach allen Theilen der Bühne hinschleudern kann. Da stehen meistens Fauteuils und [207] sonstige Sitzgelegenheiten, die in den nächsten Akten gebraucht werden und worauf man es sich bequem macht.

Auch in anderer Beziehung hat dieses Plätzchen so weit nach hinten seine guten Eigenschaften. Das unangenehme Volk der Statisten in ihren seltsam duftenden Anzügen treibt sich mehr vorn am Eingange herum und tritt hier Niemand in den Weg und auf die Hühneraugen; den Künstlern ersten und zweiten Ranges ist es da hinten natürlicher Weise viel zu dunkel und einsam und selbst das leichtfüßige Corps de Ballet hüpft, wenn es ja einmal auf die andere Seite des Theaters muß, mit einem großen Sprunge bei der achten Coulisse vorbei, denn es zieht da manchmal sehr stark, namentlich dringt gewöhnlich eine kalte Luft unten aus dem Podium hervor.

Die Dekoration des ersten Aktes steht und es ist eine jener angenehmen Opern, in denen allaktlich die Scene stehen bleibt, weßhalb die meisten Maschinisten und Zimmerleute nichts zu thun haben. Hinter der achten Coulisse ist nun ein artiges Plauderstübchen eingerichtet und wer nicht gerade einen bestimmten Posten auf der anderen Seite hat, der findet sich hier ein. Da ist ein königlicher Thron, der nachher gebraucht wird und auf welchem der erste Maschinist sitzt; doch hat er das Kissen von rothem Sammt herumgedreht und begnügt sich mit dem ledernen Unterfutter.

Dieser erste Maschinist war Herr Hammer, ein schon ältlicher Mann, der sehr stark schnupfte, sehr gern erzählte und dazu beständig mit dem Kopfe nickte, welches Nicken er vielfach mit dem Ausrufe: »Ja – a! ja – a!« begleitete, was er wahrscheinlich that, um seine Zuhörer zu versichern, seine Erzählung sei wahr und nicht erfunden, welch' Ersteres von dem ganzen Theaterpersonal stark bezweifelt wurde, denn der erste Maschinist war dafür bekannt, daß er etwas heftig lüge, besonders wenn er auf die Feldzüge zu sprechen kam, die er mitgemacht.

Wir können hier eine andere Persönlichkeit nicht übergehen, [208] die sich ebenfalls oft hinter der achten Coulisse einfindet, aber dem Range nach eigentlich später genannt werden müßte. Es ist dies der Schneidergehülfe Herr Schellinger, eine kleine dürftige Gestalt mit stark gekrümmtem Rücken und etwas zitternden Händen. Herr Schellinger war an die Sechszig, hatte Zeit seines Lebens in jeder Beziehung stark gearbeitet und erfreute sich nun dafür ziemlich dürftiger Umstände und einer mangelhaften Gesundheit. Er war ein denkender Künstler gewesen, ein Mann von tiefer Phantasie, und da er auf dem Schneidertische so viele freie Stunden hatte, in denen sein Geist unabhängig von der Knechtschaft der Nadel umher ziehen konnte in der weiten Welt, so reiste er beständig, das heißt immer in Gedanken, und hatte dabei die Eigenthümlichkeit, daß er sich nach der Rückkehr von einer so weit ausgesponnenen Tour steif und fest einbildete, er habe wirklich diese Reisen gemacht, und daß er die wunderbarsten Dinge davon erzählte. – Wenn er in der Garderobe mit dem Anziehen fertig war, so stahl er sich auf die Bühne und placirte sich meistens in die Nähe des ersten Maschinisten, von dem er komischer Weise behauptete, es sei auf der ganzen Welt Niemand, der so lügen könne wie der Herr Hammer. Deßhalb paßte er auch jedem Worte desselben auf und suchte ihm augenblicklich nachzuweisen, wo er blau färbe.

Auf der linken Seite des Thronsessels befand sich ein schwarzer Sarg, der aus der letzten Scene von Romeo und Julie, die gestern Abend auf der Bühne geliebt und gelitten, stehen geblieben war. Auf dem Kopfende desselben saß der Garderobegehülfe, die Hände über den Knieen gefaltet, den Kopf etwas nach der linken Seite geneigt, um besser hören zu können. Neben ihm befanden sich ein paar Zimmerleute: rechts vom Throne stand eine Gestalt, die des näheren Betrachtens werth ist.

Es war dies ein kleines zartes Männchen in einem abgeschabten [209] schwarzen Frack, mit einem klugen Gesichte, auf welchem das Alter und vielleicht auch ein lustiges Leben tiefe Furchen gezogen hatten. Aus dem schwarzen Halstuch ragte ein ziemlich hoher Hemdkragen hervor, aschfarben wie der Teint dieses Mannes, welchem nur ein paar scharfe dunkelblaue Augen etwas Lebhaftes verliehen; den Scheitel bedeckte eine kleine fuchsige Perrücke, die aber nirgendwo mehr festliegen wollte und rings herum struppig und drohend in die Höhe stand. Das Merkwürdigste an diesem Manne aber war unbedingt eine ziemlich große Wasserspritze, die er geladen und aufgezogen an seinem linken Arm trug. Dies war Herr Wander, ein Mann, der seltsame Schicksale gehabt. Von guter, vermöglicher Familie, hätte er in seiner Jugend ein unabhängiges Leben führen können, wenn ihn nicht eine unüberwindliche Leidenschaft zum Theaterleben an den Thespiskarren gespannt hätte, wo er übrigens mehr zum eigenen Vergnügen als zur wirklichen Hülfe mit lief. Das ging Alles so lange gut, als Jugend und Geld ausreichte; dann aber wollte sich kein Theaterdirektor mehr mit dem Herrn Wander einlassen, er durfte die geliebten Bretter nicht ferner betreten, und da es ihm denn doch einmal unmöglich war, von dem für ihn so anziehenden Leben und Treiben zu lassen, so half er aus, wo man gerade seiner kleinen Dienste bedurfte. So diente er nach und nach als Inspicient, Requisiteur, Souffleur, ja er frisirte sogar eine Zeit lang in der Herrengarderobe, und als das Alles nicht mehr ging und ihn Niemand mehr haben wollte, so kehrte er in seine Heimath, die Residenz, zurück, wo er das doppelte Glück hatte, eine kleine Erbschaft zu machen, sowie von dem Intendanten die gnädigste Erlaubniß zu erhalten, bei großen Vorstellungen als überzähliger Spritzenmann aushelfen zu dürfen.

Der Spritzenmann, geneigter Leser, ist eine Person, welche mit dem sehr großen Exemplare eines Instrumentes, das dir unter einem unaussprechlichen Namen bekannt ist, hinter den Coulissen auf und ab [210] wandelt und sorgsam an Lampen und Decorationen umher späht, um zuzuspritzen, wo sich ein verdächtiger Funke zeigt.

Vor dem Thronsessel auf einer künstlichen Rasenbank saß Herr Schwindelmann, der jetzt ebenfalls, sobald sich sämmtliche Künstler und Künstlerinnen im Theater befanden, nur am Ende eines jeden Aktes zu thun hatte, denn seine Nebenbeschäftigung war alsdann, den großen Portalvorhang herab zu lassen.

An der Coulisse Numero acht, die sehr weit hineingeschoben war, lehnte der Sohn des Herrn Hammer, ein junger Mensch von einigen zwanzig Jahren, eine schöne, kräftige Gestalt. Er war ebenfalls Maschinist und sprach gerade mit einem Kameraden, der neben ihn auf einem hölzernen Blocke saß, und der dem Aeußern nach den vollkommensten Gegensatz zu ihm bildete. War der junge Hammer mit seiner breiten und muskulösen Gestalt, mit dem frischen gutmüthigen Gesichte ein Bild der Gesundheit und des Lebens, so war der Andere ein leibhaftiges Conterfei der Krankheit, ja des Todes. Er saß mit gefalteten Händen, an den Fuß und wenn er so schwer und tief athmete, so bemerkte man auf dem Rücken durch das dünne Röckchen hindurch, womit er bedeckt war, wie die Schulterblätter zitternd auf und ab gingen. Sein Gesicht war eingefallen, und er schien, in tiefes Nachdenken versunken, auf die schwarze, schauerliche Bank zu stieren, auf welcher Herr Schellinger saß.

»Ja – a, ja – a,« sagte der erste Maschinist, mit dem Kopfe nickend, indem er sich an den kranken Mann wandte, »nur nicht den Muth verloren, Albert. Dann kann und wird Alles gut gehen. Wenn einmal der Winter vorbei ist, mit seinem ewigen Schnee und Frost – wenn der Frühling kommt –«

»Und wenn er reisen könnte,« meinte der Garderobegehülfe mit näselnder Stimme und aufgehobenem Zeigefinger. »Wenn er reisen könnte, da links herüber nach Italien, wo die meisten [211] Leute über hundert Jahre alt werden. – Als ich damals dort war –«

»Wir wissen die Geschichte schon, ja – a, ja – a,« unterbrach ihn Herr Hammer. »Als Ihr in Italien waret und ebenfalls krank, und als sie Euch mit dem bewußten Mückenfett kurirt.«

»Nein, es war Schlangenhaut,« entgegnete ruhig der Schneider, »von der großen Schlange, die sich am Baume aufhängt und dann selbst ihren Balg abstreift. Ich habe ein Stück davon mitgebracht. – Wollt ihr es sehen? – –«

»Später! später!« sprach ungeduldig Herr Hammer, und fuhr dann zu dem Anderen gewendet fort: »Wie ich Euch sagte, Albert, laßt Euch nur zuweilen vor den Regisseuren und dem Obermaschinisten sehen. Faßt nur hie und da ein Tau an und thut, als wenn Ihr was schafftet. Haltet Euch dabei immer nur an meinen Sohn Richard, der reißt Euch schon durch. Und im Grunde ist es ja ganz einerlei, man thut damit der Theaterkasse keinen Abbruch, denn Richard arbeitet für zwei.«

»Ich bin ihnen sehr dankbar dafür,« erwiderte der Kranke, »denn wie sollte ich existiren, wenn man mich als untauglich entließe! Da wäre mein letztes Brod gebacken und ich müßte gerade Hungers sterben. Sie haben überhaupt schon so viel an mir gethan, daß ich gar nicht weiß, wie ich es wieder gut machen soll. – Ach! wer würde mich als Taglöhner nehmen!«

»Ja, es ist eigentlich ein prekäres Geschäft, so von seiner Händearbeit im Taglohn leben zu müssen,« sagte Herr Wander. »Ich habe das oft mit angesehen, wenn man sechs Tage schafft, so hat man sechs Tage Lohn; aber nun kommt der Sonntag, der doch zur Ruhe und zur Freude für Menschen und Vieh geschaffen ist, und an dem ist nichts da zu beißen und zu nagen, wenn man nicht von den paar Kreuzern der Wochentage sich etwas aufhebt. Das ist schlecht eingerichtet.«

»Und wenn man erst krank wird,« versetzte Albert, indem er [212] langsam den Kopf erhob; »ich sage es noch einmal: wenn ich von euch keine Hülfe hätte, ich wäre mit Weib und Kindern ein verlorner Mann!«

»Dafür sollte dem, für den man schafft, auch die Verpflichtung obliegen, Einen zu unterhalten, wenn man keine Hand mehr regen kann,« meinte der junge Hammer.

»Das wäre nicht so übel,« sagte nachdenkend der Schneider. »Und ich will dir was sagen, Richard, das kannst du haben. Da mußt du dich schwarz anstreichen lassen und zu die Geschlafen gehen; da hast du's, wie es dein Herz begehrt: du arbeitest da ziemlich hart, das ist wahr –«

»Bah!« erwiderte der junge Zimmermann, »was das harte Arbeiten anbelangt, davon kann unsereins auch erzählen. Ich will am Ende nicht einmal vom Theater sprechen; aber man sollte einmal so ein Dutzend lumpige Neger, die sich in ihrem Baumwollenfeld bei ihrem Schaffen und ein Bischen Prügel beklagen, man sollt' die sein thuenden Hallunken auf einmal auf einen Zimmerplatz hinaus thun, so wo es gilt, mit achtziger Balken zu arbeiten, namentlich im Spätherbst, wenn ein Dach aufzusetzen ist, und wo jeden Morgen das helle Glatteis auf den Balken sitzt. Da hat man immer sein Todtenhemd an; und was die Prügel anbelangt, da braucht man nur einen jähzornigen Obergesellen zu haben, der ein Lattenstück gut anzugreifen versteht; da fliegen die Funken davon, das kann ich euch versichern.«

»Aber dafür seid Ihr ein freier Mann,« meinte Herr Wander, indem er seine Spritze vorsichtig auf den Boden stellte, und eine Prise aus der dargebotenen Dose des ersten Maschinisten nahm.

»Ein freier Mann!« lachte der Andere. »Ja, Ihr versteht's! – Jetzt bin ich frei, dachte auch der Esel eines Tages, an welchem er die Säcke abgeworfen, und sagte das dem Wolf einen Augenblick vorher, ehe dieser ihn auffraß.«

[213] »Der Richard hat nicht ganz Unrecht,« sagte leise Herr Schellinger. »So ein Geschlaf hat's gar nicht schlecht; ich möchte auch eins sein. So ein Kerl sitzt in seiner Hütte, ißt den ganzen Tag die theuersten Früchte, nährt sich von Reißbrei und jungen Hühnern, und wenn er einmal nicht schaffen will, so gibt er Bauchschmerzen vor und bleibt zu Hause.«

»Das kannst du auch thun,« bemerkte Schwindelmann.

»Ja, aber nicht unter den vorhin angegebenen Bedingungen,« entgegnete der Schneider. »Wo bleibt dann der Reißbrei und die Früchte?«

»Pfui, Schellinger!« sagte lachend Herr Wander, »du bist eine knechtisch gesinnte Natur! Was nutzt dich das Bischen Essen und Trinken, wenn du dafür von allem Erhabenen und Schönen, was die Freiheit bietet, nichts erreichen kannst?«

»Was habe denn ich armer Schneider je Erhabenes und Schönes zu erreichen gehabt?«

»Wenn du ein Geschlaf bist,« entgegnete lachend Richard, »so kannst du dir kein eigenes Vermögen erwerben, kein Haus besitzen.«

»O, das wäre schade!« grinste der Schneider.

»Ja – a, ja – a!« sprach der erste Maschinist, »und könnte niemals Abgeordneter oder Stadtrath werden.«

»Wozu ich als freier Mann freilich hier alle Aussicht habe,« meinte höhnisch Herr Schellinger.

»Aber Spaß bei Seite!« warf der Schwindelmann dazwischen, indem er seinen Nachbar verstohlen an die Seite stieß, »über das Geschlafenleben kann uns Niemand besser aufklären wie der Schellinger. Nicht wahr, du bist ja da hinten in Südamerika gewesen, und hast den Onkel Tom besucht?«

»Es ist das schon lange her,« entgegnete kopfnickend und träumerisch der Schneider; »ich glaube so an die zwanzig Jahre, aber ich erinnere mich seiner noch recht gut. – Unter uns gesagt, der [214] Onkel Tom« – damit schob er wichtig die Unterlippe vor, zog die Augenbrauen in die Höhe und schüttelte mit dem Kopfe – »der Onkel Tom, na! ihr versteht mich!«

»War er ein etwas verwegener Bursche?« fragte Richard, indem er sich, um besser zu hören, fester in die Coulissen hinein drückte.

»Der Hafer hat ihn gestochen,« fuhr Herr Schellinger fort. »Er hatte es zu gut; es war so ein Bischen Wühlerei dabei, was Demokratisches, weßhalb er auch verkauft wurde. Und das Buch,« sagte er geheimnißvoll, indem er den Zeigefinger erhob, »soll auch eigentlich keine Bibel gewesen sein, sondern eine Verfassungsurkunde, die er für die Schwarzen entworfen. – Ich habe es in der Hand gehabt.«

»Aber das Verkaufen wirst du nicht rechtfertigen wollen? Denke dir, du hast Weib und Kind, mit denen du schon lange Jahre lebst, nun will man dir deine Frau verkaufen.«

»Ja, das hätte er sich schon gefallen lassen,« sagte Herr Wander. »Nicht wahr, Schellinger, darüber hättest du kein Buch geschrieben?«

Der Schneider gab über diese schlechten Spässe keine Antwort, er blickte nachdenkend an den Schnürboden hinauf und erwiderte dann: »Das Verkaufen ist allerdings sehr hart. Aber als ich da hinten war, da hat mich so ein amerikanischer Oberamtmann darüber aufgeklärt. Man muß das Ding nicht mit unserem Maßstab messen. Was Teufel! Wenn ich hier bei uns heirathe und Kinder bekomme, so hat kein Mensch ein Wort darein zu sprechen; Frau und Kinder sind mein, das weiß ich, denn ich lebe in einem Lande, wo man mir alles Andere, nur nicht die Familie verkaufen kann.«

»Wenigstens nicht öffentlich,« sagte Richard finster.

»Nun also,« fuhr der Schneider fort, »ich versichere euch, als ich damals da hinten war – ich kam gerade von Mexico herüber, [215] wo ich mich eine Zeit lang bei den Schwarzen aufhielt – da hatte ich auch nicht übel Lust, mich zu verheirathen.«

»Wenn das deine Alte gewußt hätte!« meinte Schwindelmann. Wir waren so zu sagen schon einig, da ging ich eben zu jenem Oberamtmann und trug ihm die Sache vor. Er dachte eine Zeit lang nach, spuckte – mit Respekt zu vermelden – mehrere Male gerade aus an die Bäume, und das mit solcher Kraft und Geschicklichkeit, daß ein Kolibri, den er treffen wollte, todt herunter fiel.

»Ah! – Schellinger!«

»Gott straf mich, es ist wahr! – Seht ihr die Honoratioren da hinten herum, die zu faul sind, ein Gewehr zu tragen, gehen auf solche Art auf die Vögeljagd, und wenn man so durch den Wald geht, da sieht man sie bald hier und bald da mit gespitztem Maule stehen, und auf einmal patsch! – patsch dich! – prrdauz! Da rappelt's droben und herunter fällt euch so ein Lämmergeier, der mit ausgespreitzten Flügeln seine sechsunddreißig Fuß mißt.«

»Lüg' du und der Teufel!« rief Schwindelmann. – »Schellinger, wie kann man so unverschämt sein!«

»Es ist leider wahr,« entgegnete traurig der Schneider; »man gewöhnt sich in Amerika das Spucken auf diese heftige Art so leicht an. Als ich hieher zurück kam, könnt' ich's nimmer lassen, und eines Tages passirte mir ein großes Unglück. Da stand mein ältester Sohn vor mir, ich – patsch dich! und fliegt ihm die linke Hand fort.«

»Aber, Schellinger,« sagte ziemlich ernst der erste Maschinist, »du hast ja nie einen Sohn gehabt!«

»Das ist leicht möglich – aber gewiß ohne meine Schuld,« versetzte unerschütterlich der Schneider. »Ich habe es meiner Frau immer gesagt. Nun, dann war es der älteste Sohn von sonst Jemand. Aber wahr ist die Geschichte, und wenn Einer die Probe davon machen will, da steh' ich zu Befehl.«

[216] »Na, wir glauben es ja!« erwiderte Schwindelmann. »Aber jetzt bleib' bei deinem Oberamtmann. Er rieth dir also vom Heirathen ab?«

»Das versteht sich,« erzählte Schellinger weiter. – »Siehst du, sagte der Oberamtmann, – er sprach natürlicher Weise amerikanisch – wenn du hier heirathest, so hast du freilich den Schutz der Gesetze, aber der ist verflucht gering, und wenn du Kinder kriegst und es gibt so 'ne rare Rasse, wie du selber bist, da geht dein Herr gleich her, ehe sie noch ausgeflogen sind –«

»Was, Schellinger, ehe sie noch ausgeflogen sind? – Was soll das heißen?«

»Habt ihr denn nie gehört, daß es da gewisse Stämme gibt, die sich ordentliche Vogelnester in die Bäume hinein bauen; es sind eigentlich Menschennester, und darin führen sie ihre Haushaltung, und wenn die Kleinen anfangen zu laufen, da müssen sie zuerst den Baum herunter und herauf trappeln, und das nennt man ausfliegen. Das ist nämlich der Stamm der sogenannten Vögelneger.«

»Und darunter habt Ihr Euch vorzugsweise wohl aufnehmen lassen?« fragte Herr Hammer.

»Es war nur ein vorübergehendes Gelüste,« antwortete der Schneider, indem er die Hände auf seine Kniee legte und den Kopf tief herab sinken ließ. – »Aber was nutzen mich meine schönen Geschichten! Ihr seid wahrhaftig zu dumm, die Moral davon heraus zu finden.«

Der erste Maschinist legte den Finger an die Nase, nickte mit dem Kopfe und sprach: »Ja – a, ja – a, es ist nicht ganz ohne, was der Schellinger meint; er will nämlich sagen, wenn es auch eine totale Ungerechtigkeit ist, so einem armen Geschlafen sein Weib und seine Kinder zu verkaufen, so ist es doch lange nicht so schlimm, als wenn so was bei uns geschähe. Der Geschlaf weiß vorher, wenn er sich verheirathet, daß dort so Mode [217] ist, sein Vater ist vielleicht verkauft worden, seine Mutter, seine Brüder, was weiß ich! Und da kann es ihm mit seiner Familie auch so gehen; er sieht das immer vor Augen, meint der Schellinger, und gewöhnt sich am Ende daran, und so wäre es denn lange nicht so schlimm, denkt der Schellinger, als wenn man unsereins Frau und Kinder verkaufen wollte.«

Der Schneider nickte stumm mit dem Kopfe, als wollte er sagen, seine Rede sei vollkommen richtig ausgelegt worden.

»Ja,« meinte Richard, indem er die Arme über einander schlug, »so Eines weiß es nicht besser, wie die Köchin von dem Aal sagte, als sie ihm lebendig das Fell abzog. Und dagegen müßte man schon Schritte thun.«

»Das muß man aber den Amerikanern überlassen,« mischte sich Herr Wander in's Gespräch. »Gott! was geht uns die Geschichte eigentlich an, und was können wir dazu thun? Ich begreife nur eigentlich nicht, wie die Geschichten der amerikanischen Miß, die das Buch geschrieben, bei uns so viel Spektakel haben machen können.«

Der Schneider lächelte kopfschüttelnd vor sich hin, wurde aber nicht beachtet.

»Aber da finden sie ein Vergnügen daran, sich Grausamkeiten erzählen zu lassen, die weit weg von uns geschehen, darüber ein Maul zu machen und zu jammern. – – Und weßhalb haben die meisten dieser Enthusiasten kein Herz, wenn man ihnen vom Unglück zu Hause erzählt, und schmachten über den Ozean hinüber, wenn da einmal ein Onkel Tom verkauft wird oder irgend eine Mulattin davon läuft? – Ich will es euch sagen: den Jammer haben sie wohlfeil, da hat man ihnen gut sagen: na! wenn euch denn das Elend da hinten in Amerika so ungeheuer schmerzt, so thut was dafür, – da zucken sie die Achseln und entgegnen: was können wir thun? Wir haben nur unsere Thränen. – Ja, Thränen sind wohlfeil!«

[218] »Sie haben aber auch Adressen an die Amerikanerinnen gemacht, die Weiber in England,« sagte Schwindelmann.

»Ganz richtig!« lachte Herr Wander; »aber die gescheidten Amerikanerinnen haben ihnen artig heimgegeigt und ihnen gesagt: bekümmert euch um die Sklaverei bei euch, die ist viel härter und grausamer als die unsrige.«

»Ja – a, ja – a, und haben Recht gehabt. Es gibt bei uns wahrhaftig mehr Sklavenhalter als in Amerika. – Apropos, es heißt ja, sie soll auch hieher kommen, die Amerikanerin; sie macht eine Rundreise durch Europa und läßt sich sehen.«

»Da wollen wir ihr ein festlich beleuchtetes Haus veranstalten,« meinte Richard. – »Aber etwas muß man dem Buch doch lassen, man sieht, daß es Jemand geschrieben hat, der das Leben in Amerika genau kennt.«

Der Schneider schüttelte abermals und mit ziemlich verächtlichem Lächeln den Kopf.

»Nicht, Schellinger? Hat die Amerikanerin ihr Land nicht gut beschrieben?«

»Das hat gar keine Amerikanerin geschrieben,« sprach der Schneider mit schmerzlichem Tone.

»Was Teufels! ist denn Madame – – Stowe keine Amerikanerin?«

»O ja,« entgegnete Schellinger, indem er das spitze Kinn in sein rechtes, mageres Händchen stützte; »die Stowe ist eine Amerikanerin; ich kenne sie ganz genau, eine recht brave Frau, sie wohnte da links um die Ecke; wenn man nach Amerika fährt, kommt man dicht am Hause vorbei, gleich nebenan ist das Wirthshaus zum weißen Roß, wo man einen sehr guten Clevner trinkt. Der Wirth ist ein Spanier und heißt Schwitzgäbele.« – Das Alles erzählte er mit so melancholischem Tone und stierte dabei vor sich hin, daß man glauben konnte, ihn schmerze tief die Erinnerung an jene schöne Reise, und [219] er sehe leibhaftig vor sich das weiße Roß und den Spanier Don Schwitzgäbele.

»Und da wohnte die Stowe?«

»Da wohnte sie gleich nebenan. Ich reiste damals mit einem Preußen, der den Spleen hatte und überall Berlin vor sich sah, denn als er den Mississippi erblickte, rief er aus: ganz wie bei uns zu Hause; nur ist die Spree zur Regenszeit ein wenig größer und meistens viel klarer. – Die Stowe nahm uns freundlich auf, wir speisten bei ihr zu Mittag, sehr gut und sein. Alles war von Bernstein, die Schüsseln, Gabeln und Löffeln, kurz Alles, Alles.«

»Von Bernstein?« fragte Herr Wander erstaunt. »Hat man in Amerika so viel Bernstein?«

»Da wird er gefunden,« entgegnete ruhig Herr Schellinger.

»Ah! der kommt ja aus der Ostsee, das weiß ich besser!« rief Schwindelmann.

»Das ist ein großer Irrthum,« fuhr der Garderobegehülfe fort. »Von den amerikanischen Pferden kommt der Bernstein her; wenn sie wild aufgefangen werden, so hebt man ihnen den linken Vorderfuß auf, und da hat jedes ein großes Stück Bernstein, das schlägt man los und macht die schönsten Sachen daraus.«

»Aber, Schellinger!«

»Als wir bei der Madame Stowe gegessen hatten, ließ sie ein paar wild gefangene Pferde herein kommen, schlug den Bernstein vor unseren Augen los und gab Jedem von uns ein Stück. – Ich weiß wohl, daß ihr mir nicht glaubt, aber ich will euch überzeugen. – Seht her.« Bei diesen Worten fuhr er mit der Hand in, seine Rocktasche und brachte eine unbedeutende Cigarrenspitze von Meerschaum hervor, an welcher sich ein kaum nennenswerthes Stück Bernstein befand. – »Da schaut her,« fuhr er fort, »das habe ich mir davon machen lassen, und wenn ihr mir bei allem dem nicht glauben wollt, so schreibt in Gottes Namen an den Preußen in Berlin, der mit mir gereist ist. Seine Adresse weiß [220] ich freilich nicht mehr, aber er ist nicht schwer zu finden, denn er heißt Müller.«

»Was machen sie draußen auf der Bühne?« fragte der erste Maschinist seinen Sohn. »Haben wir bald Actus?«

»O nein, es sind noch vier lange Scenen. Der Schellinger kann schon noch seine Geschichten zu Ende bringen. – Also die Stowe ist nicht die Verfasserin von dem bekannten Buch?«

Der Schneider schüttelte mit dem Kopfe, rieb sich die Hände und blickte, seit längerer Zeit zum ersten Mal, in die Höhe, als er mit großer Bestimmtheit sagte: »Die Frau denkt nicht daran; das ist ein braves Weib, die ihre Hühner und Gänse füttert, ihren Kindern die Strümpfe stoppt und ihre Wäsche pünktlich besorgt, viel zu pünktlich – die schreibt keine Bücher – Stowe, sagt' ich zu ihr, als wir nach Tische eine Cigarre mit einander rauchten –«

»Wie? sie rauchte auch?«

»Alle Amerikanerinnen rauchen zu Hause. Also ich sagte zu ihr: Stowe, hat Sie das Buch geschrieben oder nicht?«

»Wenn hast du diese Reise eigentlich gemacht, Schellinger?« fragte Richard lächelnd.

»Ich habe euch schon einmal gesagt, daß es ungefähr zwanzig Jahre her sein mögen,« entgegnete der Garderobegehülfe.

»So, vor zwanzig Jahren hast du sie gefragt, ob sie das Buch geschrieben hat? – Na, das hab' ich nur wissen wollen.«

»Aus ihr Ehrenwort habe ich sie damals gefragt,« versetzte ruhig der Schneider, indem er aufblickte, »und sie sagte: nein, Schellinger, ich hab' es nicht geschrieben, Gott straf' mich! Ich kenne aber den Verfasser: es ist von einem pietistischen Pfarrer in Rheinpreußen.«

Die Zuhörer hatten lange an sich gehalten, jetzt aber brachen sie in ein so lautes Gelächter aus, daß der Inspicient, der mit seinem Buche hinter den Coulissen hin und her ging, erschrocken herum fuhr und eifrigst Ruhe gebot.

Schellinger zuckte die Achseln und sprach nach einer Pause: [221] »Ihr seid so verwildert, daß man euch gar nichts Vernünftiges mehr erzählen kann, und ich bin einmal so ein Narr und kann es nicht lassen, an jene Zeit, welche die glücklichste meines Lebens war, zurück zu denken. Ich versichere euch, wenn man hier unsere miserable Kälte annimmt, so ist es eine wahre Wonne, da mit den Negern so still und friedlich zu leben, unter den Palmenbäumen zu sitzen und reife Orangen zu verspeisen. So ein Negerdorf hat etwas sehr Angenehmes, und sie wohnen ganz charmant. Na! ihr habt das ja in der Beschreibung gelesen; auch essen sie vortreffliche Kuchen, trinken Dattelwein und singen dazu: ›Noch ist Polen nicht verloren.‹ Das kann ich euch versichern – Gott straf' mich! – an das lumpige Leben hier zu Land habe ich nicht mehr gedacht, wenn ich so Abends mit ihnen vor ihren Hütten auf der seinen Matte lag, neben so einem behaglichen Schwarzen; die Weiber saßen daneben und vor ihnen im Grase spielten die weißen Kinder.«

»Die weißen Kinder, Schellinger?«

»Die weißen Kinder!« entgegnete nachdrücklich der Schneider. »Wißt ihr denn nicht, weßhalb die Schwarzen so schwarz sind? – Nun, das will ich euch sagen. Die Sonne hat eine so furchtbare Kraft, daß sie einen dort in fünf, sechs Jahren ganz schwarz brennt.«

»Du bist aber weiß geblieben, Schellinger!«

»Ja, ich hatte keine Anlage zum Schwarzwerden,« erwiderte der Garderobegehülfe; »man muß dazu gestimmt sein wie die Neger –«

»Aber, Schellinger –« wollte Richard fortfahren ihn zu examiniren.

»Laßt ihn doch,« rief Schwindelmann, »daß wir fertig werden; draußen der Herzog hat schon seinen Degen gezogen und wird im nächsten Augenblick seinen Freund erstechen, dann fällt der Vorhang. – Also die Negerkinder kommen weiß aus die Welt?«

»Und mit einer Anlage zum Schwarzwerden?« fragte Richard lachend.

[222] »So ist es,« entgegnete der Schneider, indem er sich ruhig erhob, denn auch seine Zeit war gekommen, in die Garderobe zu gehen. »Die Negerkinder kommen weiß aus die Welt, aber sie haben um den Bauchnabel einen kleinen schwarzen Ring, der immer größer und größer wird, bis sie zuletzt vollkommene Neger sind.«

Nach diesen Worten legte Herr Schellinger seine beiden Hände auf den Rücken und ging gesenkten Hauptes ruhig davon, ohne sich weiter um seine Zuhörerschaft zu bekümmern, die aber auch im nächsten Augenblick aus einander stob; Jeder eilte an seinen Posten und Schwindelmann ließ den großen Portalvorhang herab.

19. Kapitel
Neunzehntes Kapitel.
Richard und Marie.

Der Zwischenakt auf einem großen Theater bietet wieder ein ganz anderes belebtes und nicht minder interessantes Bild dar, als das Treiben hinter den Coulissen. Dort befindet sich nun Niemand als die Arbeiter, welche neue Coulissen aufhängen, Versatzstücke heran tragen, »aus dem Wege!« rufen, dort plötzlich stehen bleiben, wenn ihnen ein Vorgesetzter des Theaters in den Weg kommt, hier Einen der niederen Völker, der nicht schnell genug ausweicht, unsanft auf die Seite stoßen. Alles Andere strömt auf der halbdunkeln Bühne zusammen, wo sich auch gewöhnlich der Intendant einfindet, seine kleinen Audienzen ertheilt, sowie Tadel und Lob spendet. Die ersten Künstlerinnen sind in die Garderoben geeilt, nachdem ihnen vorher die Sängerin-Mutter vor einer der Coulissen einen warmen Shawl umgeworfen.

Lieber Leser, der du vielleicht nicht weißt, wie eine Sängerin-Mutter [223] beschaffen ist und woran sie zu erkennen, betrachte dir während der Vorstellung eine Dame, die, ehe der Akt anfängt, hinter der Prima Donna die Bühne betritt, ihr während des Gehens den Schleier in malerische Falten wirst oder eine Feder etwas kokett herab biegt, die ihr bei langen Kleidern die Schleppe sorgfältig nachträgt und meistens eine große Tasche am Arm hat, worin sich kölnisches Wasser, Eibischsaft, etwas Hustenzucker und ein Fläschchen mit Gerstenschleim befindet, – eine Frau, gewöhnlich nicht sehr groß, aber meistens wohlbeleibt, gekleidet mit einer halb verblichenen, kümmerlichen Eleganz. Wenn du sie näher anschaust, erinnerst du dich dunkel, jene Mantille oder diesen Kopfputz früher einmal auf der Bühne gesehen zu haben. – Sie lobt ihre Tochter in den Zwischenakten, damit diese den Muth nicht verliert, sie bringt ihr einen Stuhl, bis eine neue Seine kommt, und dann schickt sie dieselbe mit einer guten Ermahnung hinaus vor die Lampen. Ist die Sängerin-Mutter früher selbst Sängerin gewesen, so bleibt sie an der Coulisse stehen und singt die ganze Partie mit, natürlich leise, wobei sie sich gesteht, daß sie das zu ihrer Zeit Alles viel besser und schöner gemacht, daß es keine Stimme mehr gäbe, daß die Kunst zu Grabe gehe und daß sie selbst der letzte Mohikaner gewesen. – Ist die Sängerin-Mutter aber eins jener harmlosen Wesen, das zu Hause kocht, wascht, bügelt, auf der Straße die Sonnen- und Regenschirme trägt, ihre Tochter auf allen Reisen begleitet, im Vorzimmer schläft, die zudringlichen Courmacher abweist, sowie die guten Freunde des Hauses unterhält, bis Mademoiselle ihre Toilette gemacht, die aber dafür keine Vergangenheit hat, und, wenn sie einmal nach Hause schreibt, nur verstohlener Weise den Namen des kleinen Gäßchens auf die Adresse setzt, wo sie einstens gelebt, – so trippelt sie hinter den Coulissen aus und ab, folgt seitwärts der Tochter in großer Angst, bald vor- bald rückwärts, entsetzt sich über die Todtenstille des Hauses oder athmet tief auf bei [224] dem kleinsten Applaus, ist in beständiger Furcht, ihre Tochter möchte irgend ein Unglück haben, einen Fehltritt thun, kurz, ist das rührende Bild einer jener unglückseligen Hennen, die zufälliger Weise statt Hühnern Enten ausgebrütet und die nun verzweiflungsvoll am Ufer des Teiches zurück bleiben müssen, während jene in dem gefährlichen Element lustig umher plätschern.

Auch die Tänzerinnen erscheinen im Zwischenacte, leicht geschürzt, kurz geröckt, mit feinen Knöcheln und sehr starken Waden, und drängen sich eifrig um den großen Portalvorhang, dessen beide Oeffnungen beständig von einem neugierigen Auge benützt werden. Man sieht, ob dieser oder jener Platz besetzt ist; man gibt sich kleine Zeichen und tritt endlich seine Stelle schmollend einer Anderen ab.

Nachdem das wichtige Geschäft des Hinaussehens beendigt, umgaukelt die Sylphidenschaar den Intendanten, der ruhig und groß in dieser Brandung stehen bleibt, ein unerbittlicher und hier wenigstens unerschütterlicher Fels. Da naht sich eine von ihnen tänzelnd und schwänzelnd, die Hände auf die Hüften gestützt, mit hin und her wiegendem Oberkörper, und trägt keck eine Bitte vor um Urlaub, Zulage, von der sie übrigens zum Voraus weiß, daß sie nicht bewilligt wird. Dort pirouettirt eine aus der Coulisse in rasendem Umdrehen und steht endlich vor dem Beherrscher dieser Bretter mit einem großen Applomb still, indem sie erschreckt thut, als habe sie ihn jetzt erst gesehen.

Auch junge Schauspieler treiben sich in dem Zwischenact auf der Bühne umher, schauen ebenfalls gelegentlich durch den Vorhang, sprechen mit Sängerinnen und Tänzerinnen, machen dem Intendanten eine tiefe Verbeugung, des Winks gewärtig, wo er die Gnade haben wird, sich zu erinnern, daß sie ebenfalls auf der Welt sind. Auch würdige alte Männer stehen da, ruhig und groß; der Regisseur im dicken Paletot und großen Filzschuhen, grämlich und verdrießlich,[225] wenn nicht Alles nach Wunsch gegangen; der Inspicient, der sich entschuldigt; daß die Pistole nicht zur rechten Zeit los gegangen, oder daß Herr X. einen Augenblick zu spät aufgetreten. Und zu ihnen tritt der Kapellmeister, wischt seine Brille ab, vertheilt eine Prise und meint, der erste Akt sei nicht ganz schlecht gegangen, nur seien es der Bässe zu wenig, die Violinen zu schwach besetzt, und wenn dem nicht abgeholfen würde, solle der Henker dirigiren.

Die Choristen und Choristinnen halten sich in der Nähe der großen Oefen auf; Erstere sind gelangweilt, denn sie haben den ganzen Abend draußen zu stehen, und dann wird die Geschichte voraussichtlich bis gegen zehn Uhr dauern; von den Choristinnen stehen Einige in Gruppen bei einander, unterhalten sich nicht ohne Neid von den neuen und viel geschmackvolleren Costümen der Tänzerinnen, daß da nichts gespart werde an Sammt und Seide, daß die Tricots immer schöner und die Röcke immer kürzer würden. So sprechen die Jüngeren vom Chor, während die alte Garde daneben auf einigen Bänken von dem langen, ermüdenden Stehen ausruht und wollene Strümpfe strickt.

Das dauert hier Alles so lange, bis der Obermaschinist gemeldet, die neue Decoration stehe, meistens aber, bis der Inspicient aus den Garderoben zurückkommt und dem Regisseur anzeigt, daß Madame X oder Fräulein Y mit ihrer Toilette so weit gediehen sei, daß der zweite Akt beginnen könne.

Das Umkleiden der Damen ist ein schrecklicher Hemmschuh im Theater, und manches Stück, das durch ein rasches Spiel sich die Gunst des Publikums erwerben würde, wird zu Grabe getragen, weil der erste Liebhaber oder die erste Liebhaberin es für nöthig findet, sich jeden Akt in einem neuen Costüm zu zeigen. Von einer Dame kann man sich das schon gefallen lassen, aber bei einem Manne grenzt solch maßlose Eitelkeit schon an's Fabelhafte, und sollte nicht geduldet werden.

[226] »Platz vom Theater!« ruft der Regisseur. Und das hat dieselbe Wirkung, wie der erste Hahnenschrei nach der Walpurgisnacht. Rechts und links stieben sie aus einander die glänzenden, luftigen Gestalten, verbergen sich vor dem Lichte, das gleich von den Prosceniumslampen aufsteigen wird und flattern in die dunkeln Winkel zurück, wo sie angewiesen sind, sich ruhig und still zu verhalten, bis abermals ihre Zeit gekommen. Wenn sie aber auch nach dem Theaterreglement angewiesen sind, kein Geräusch zu machen, nicht hörbar zu plaudern und nicht laut zu lachen, so wird diesem Befehle doch zum Oefteren keine Folge geleistet, und der Inspicient muß sein: »bssst – bsssst! – seien Sie doch still in's Kukuks Namen? –« vielmals und meistens ohne großen Erfolg wiederholen.

Jetzt zum zweiten Akt ist noch ein Zuwachs auf die Bühne gekommen, der während des ersten Akts mit dem Ankleiden beschäftigt war, das Ballet nämlich, welches nun auch gerade nicht zur Vergrößerung der Ruhe beiträgt. Hinter dem letzten Vorhang arbeitet ein Pas de cinque und macht einen schwierigen Pas nochmals durch; dazu klopft der erste Tänzer, der ihn arrangirt, so leise wie möglich in die Hände, um sich vornen nicht bemerkbar zu machen; aber die Prima Donna auf der Scene hört diesen Lärm doch; namentlich wenn sie an das große Bogenfenster im Hintergrunde tritt, um nach ihrem Geliebten auszuschauen, bemerkt sie deutlich, wie die vier Tänzerinnen auf die Bretter springen, daß es jedesmal einen dumpfen Schlag gibt, was gerade nicht zu ihrer Erheiterung beiträgt, vielmehr sagt sie ein paar spitzige Worte, als sie nach der nächsten Scene abgeht, welche sich aber die Tänzerinnen nicht sehr zu Herzen nehmen, denn die Prima Donna ist verhaßt, weil sie neulich einmal gesagt, der Tanz sei keine Kunst, und die Tänzerinnen nur beziehungsweise Künstlerinnen. –

Mademoiselle Marie hatte sich während des Anziehens fortwährend mit dem Schicksal der armen Katharine beschäftigt: sie sprach mit ihrer Freundin Clara darüber, doch hatte diese sie mit [227] ihren großen klaren Augen so unbefangen und unschuldig angesehen, und eine so unpraktische Antwort gegeben, daß Marie wohl einsah, die Andere wisse in dem Falle eben so wenig zu helfen als sie selbst.

»Weißt du was,« hatte Clara gesagt, »sprich mit Therese darüber, die wird dir einen guten Rath ertheilen können, denn wie sie kennt Niemand die Stadt und ihre Verhältnisse.«

Darauf hatte Marie ihre Toilette beendigt, indem sie ein Hütchen mit Blumen recht keck und verwegen auf der linken Seite des Kopfes befestigte. Unter demselben wallten die üppigen Haare hervor, und als sie sich im Spiegel besah, mußte sie gestehen, daß sie gar nicht unvortheilhaft aussehe. Und darin hatte sie Recht; sie war nett und zierlich vom Kopf bis zu den Fußspitzen.

Mit sich selbst zufrieden, tänzelte sie die Treppen hinab, und als sie auf die Bühne trat, warf sie einen forschenden Blick rechts und links, vielleicht um Mademoiselle Therese zu finden, vielleicht auch nicht; und Letzteres erscheint uns sehr wahrscheinlich, denn Therese lehnte an der ersten Coulisse und schien gleichgültige Dinge mit einem der Tenoristen zu sprechen. Marie aber wandte sich nach dem Hintergrunde und schritt, die Füße sehr auswärts, mit dem Rock hin und her wedelnd, langsam bei der achten Coulisse vorbei, wo sich wieder Einige aus der Gesellschaft des ersten Aktes versammelt hatten. Andere aber fehlten, unter diesen Richard, der ganz hinten beschäftigt war, irgend ein neues Seil über eine Rolle zu werfen. Daß er dies sehr ungeschickt that, wollen wir ihm im gegenwärtigen Augenblicke nicht übel nehmen, denn er sah weder auf das Tau noch auf die Rolle, vielmehr aufmerksam hinter die Coulisse, wo sich die Tänzerin vorsichtig näherte.

Diese bemerkte beim Näherkommen den Zimmermann recht wohl, that aber nicht dergleichen, sondern wandelte über die Bühne, scheinbar in der einzigen Absicht, um auf die andere Seite zu gelangen.

[228] Richard ließ das Seil los, das er in der Hand hatte, welches nun mit ziemlichem Geräusch auf den Boden niederpolterte, und die natürliche Folge hievon war, daß die Tänzerin heftig erschrak, stehen blieb und sich umschaute, wer ihr diesen Schrecken eingejagt.

»Ah! verzeihen Sie, Marie!« sagte der Zimmermann, »wenn ich Sie ein wenig erschreckt, aber ich konnte nicht dafür! Als ich Sie kommen sah, glitt mir das Tau aus der Hand, und da liegt es.«

»So, so, Sie sind es, Richard?« entgegnete das junge Mädchen unbefangen. »Ich habe wahrhaftig geglaubt, es fiele mir etwas auf den Kopf. – Man muß sich sehr in Acht nehmen,« setzte sie altklug hinzu, »denn alle Augenblicke passirt hier Etwas, wie der Regisseur sagt.«

»Ei der Tausend!« versetzte schmunzelnd der Zimmermann, »beim Ballet ist doch lange nichts vorgefallen, denn da geben wir alle doppelt Achtung, das können Sie mir glauben.«

»Und weßhalb geben Sie beim Ballet doppelt Achtung, Herr Richard? – Das wird den meisten von euch ebenso gleichgültig sein, als wenn einmal bei der Oper oder beim Schauspiel ein Unglück geschieht.«

»Denn meisten freilich,« erwiderte Richard, indem er die Hände reibend näher trat, »aber mir ist ganz besonders daran gelegen, das können Sie mir glauben, Marie. Und wenn Sie auf eine Flugmaschine müssen,« setzte er lächelnd hinzu, »da schau ich die Drähte ganz besonders an und habe meine Augen überall. Wehe denen drunten an der Wende, wenn sie mir nicht genau aufpassen! Ja wahrhaftig, ich würfe ihnen einen Gewichtstein an den Kopf.«

»Dafür bin ich Ihnen sehr dankbar,« sagte das Mädchen, das bereitwillig stehen geblieben war; »es ist immer angenehm, wenn Jemand da ist, der ein klein wenig Interesse an Einem nimmt, wenn man auf der Bühne ist.«

»Nun, ein klein wenig brauchen Sie gerade nicht zu sagen,« [229] entgegnete der Zimmermann, indem er sich durch das volle Haar strich; »sagen Sie nur keck ein großes Interesse. Sie wissen doch, Marie, daß es so ist, und auch nicht blos auf dem Theater, sondern auch sonst, – wo es nun gerade ist, auf der Straße, in Ihrem Hause, wo ich Sie sehe und wo ich Sie nicht sehe.«

»Ei der Tausend! Sie machen nur ja eine förmliche Liebeserklärung, Richard!«

»Wenn Sie es so nennen wollen, so thun Sie es, Marie; aber der Name ist gleichgültig. Die Sache ist jedoch wie ich gesagt – soll mich der – na! – ich will nicht fluchen! – ich habe es Ihnen schon lange einmal gestehen wollen, aber ich weiß wohl, ihr vom Ballet seid ganz eigenthümliche Frauenzimmer; da mag jeder Narr kommen und euch schöne Sachen vorschwatzen, das ist euch schon recht und ihr hört gerne zu; aber wenn es Unsereins mit euch gut meint und euch das gerade heraus sagt, so lacht ihr ihn aus und lauft nachher zu den Anderen und sprecht: denkt euch nur, das und das hat mir der Richard gesagt. Aber wenn ich so etwas erführe, Marie, das wäre mir – hart, recht hart.«

Nun müssen wir dem geneigten Leser versichern, daß diese Liebeserklärung, wie die Tänzerin es nannte, ihr eigentlich nicht so unverhofft kam, wie man von einem Blitz sagt, der aus heiterem Himmel herabfährt. Der junge Zimmermann hatte ihr schon unterschiedliche Proben seines Wohlwollens gegeben, hatte, wie er vorhin angedeutet, bei allen vorgekommenen Schwierigkeiten gewissermaßen über sie gewacht, die Versenkungen, wenn es ihm möglich war, selbst geleitet, die Flugmaschine durch sein eigenes beträchliches Gewicht jedesmal vorher probirt. Auch waren alle diese kleinen Aufmerksamkeiten nicht unbemerkt an dem Herzen der Tänzerin abgeglitten; wir müssen das eingestehen, wie wir auch vorhin nicht verschwiegen, daß Marie vielleicht etwas Anderes gesucht als ihre Collegin Therese. Bis jetzt hatte sie aber dies Benehmen Richards gegen sie nur für Scherz gehalten und demselben weiter keine Folge [230] gegeben. Was wollte sie auch? Er war der einzige Sohn eines ziemlich vermöglichen Vaters, ein hübscher Mensch, dem wohlhabende Bürgerstochter nachschauten, und in seinem Handwerke, der Zimmerei' so wohl erfahren, dabei mit der Mechanik des Theaters so wohl vertraut, daß ihm hier eine dauernde Anstellung nicht fehlen konnte. – Und nun sagte er ihr mit einfachen Worten, daß er nur an sie denke, daß er sie liebe. –

Das Mädchen schrak ordentlich zusammen und in ihrem Geiste tauchten allerlei seltsame und schöne Phantasieen auf. Sie glaubte daß er wahr spreche; ach! und dieser Gedanke war doch zu süß, um ihn unbedingt annehmen zu können. Sie, in den traurigsten und gedrücktesten Verhältnissen geboren und erzogen, bis jetzt von dem fürchterlichen Willen ihrer Tante abhängig, sollte einstens noch glücklich werden können, sollte nicht untergehen in dem Abgrund, neben dem sie schon lange gewandelt; denn daß es Richard mit ihr ehrlich meine, wenn er es einmal gesagt, davon war sie fest überzeugt. Er war als sehr solid und arbeitsam selbst bei den Theaterleuten bekannt, und sogar der Intendant hielt große Stücke auf seine Redlichkeit und gab Alles auf sein Wort, denn bei schwierigen Flugwerken zum Beispiel mußte sich Richard immer zuletzt überzeugen, ob Rollen und Taue auch in Ordnung seien, und erst wenn er gesagt, es sei Alles richtig, gab sich der Chef zufrieden.

Marie hatte nicht bemerkt, daß während sie so träumte, Richard ihre beiden Hände ergriffen hatte und freundlich lachend den Versuch machte, ihr in die niedergeschlagenen Augen zu blicken. Sie sah das lange nicht, denn jetzt plötzlich fielen ihr die Worte der armen Katharine ein, als sie zu ihr gesagt: wenn du einmal einen braven Mann hast und es dir gut geht, und du hast eine halbe Stunde Zeit, so besuche mein Grab und gib meinem armen Kinde, wenn es noch lebt und du es an einer Ecke stehen siehst, ein kleines Almosen. – – Diese Worte verwandelten sich in ein freundliches Bild, und sie stand mit Richard Hand in Hand an einem kleinen [231] armseligen Grabe und legte auf Dornen und Disteln, die dort wucherten, einen frischen Kranz von duftenden Rosen. – Ah, wenn das wahr würde!

Da schrak sie empor, denn draußen im Saale applaudirte grade das Publikum lang und heftig; – etwas von ihren Phantasieen war der Wahrheit gemäß, denn wenn auch nicht neben einem Grabe, so stand sie doch Hand in Hand mit Richard auf der halb dunkeln Bühne, und er sagte lachend: »Na, Mädel, lange genug hast du dich bedacht, ob du Ja oder Nein sagen sollst. – – Nun, was ist's, Marie? Bin ich dir angenehm oder nicht? Willst du es mit mir wagen oder hast du auch so verfluchte Liebschaften im Kopf wie die Anderen und willst lieber ein kurzes lustiges Leben führen?«

»Nein, nein,« entgegnete eifrig das Mädchen, »gewiß nicht, Richard.«

»Na, ich glaub's schon,« versetzte er gutmüthig. »Ich glaube, daß du ein braves, ehrliches Mädchen bist; es ist das freilich ein Wunder, wenn man deine Tante – die Gott verdammen soll! – ansieht. Aber glaub' mir, Marie, ich habe dir aufgepaßt, so genau ich konnte, und namentlich immer auf deine Arme und Hände gesehen –«

»Und warum das?« fragte sie lächelnd unter Thränen, die langsam aus ihren Augen hervor quollen.

»Ei, das will ich dir sagen,« entgegnete er lustig. »An den Armen und Fingern sieht man's gewöhnlich bei euch zuerst, weißt du, da lassen sich auf einmal verdächtige Ringe sehen und eine Armspange; und das sind des Teufels Ketten, mit denen ihr fest geschlossen werdet. – Neulich hatt' ich dich schwer im Verdacht.«

»Ich weiß, ich weiß,« erwiderte sie fröhlich. »Da hatte mir auf der Bühne Therese eins von ihren Armbändern geliehen. Ich mußte doch als Hofdame geschmückt kommen!«

»Jetzt aber plaudern wir bald eine Viertelstunde zusammen,« [232] sagte er nun scheinbar ungeduldig, »und ich weiß noch nicht einmal, woran ich bin. Gleich muß ich hinüber zum Verwandeln, deßhalb sage mir, wie du es meinst, einfach Ja oder Nein. Wenn du Ja sagst, so ist die Sache abgemacht und ich komme dann nächstens zu deinem alten Drachen, um mit ihr ein ernstes Wort zu reden. – Nun? – Wenn du aber Ja gesagt, so habe ich ein Recht auf dich wie du auf mich, und dann, Marie, nimm dich in Acht und stelle dich so, daß die bösesten Leute nur Gutes von dir sagen können; denn wenn mir einmal Einer herkäme und so allerlei schlechtes Zeug in die Ohren zischelte, da gäb's ein Unglück, das kann ich dich versichern. – Nun, wie ist's?«

»Ja – ja!« sagte die Tänzerin, nachdem sie ihre beiden Hände zurückgezogen: »ich mag dich wohl leiden, Richard; und was das Andere anbelangt, da kannst du ganz ruhig sein. Du weißt, wie mir das Treiben so vieler junger Mädchen verhaßt ist.«

»Amen!« sprach er, indem er ihre rechte Hand ergriff und sie schüttelte. »Wenn es nicht so strenge gegen das Theaterreglement ginge, dann müßtest du mir einen Kuß geben, aber ich hole mir ihn später nach; wenn du an deinem Kanale aussteigst, wirst du mich schon sehen. – Adieu, Marie!«

Damit ging er an sein Tau zurück, während die Tänzerin über die Bühne hinüber flog und sich an einem einsamen Plätzchen auf eine Rasenbank unter einer Gruppe von gemalten Palmbäumen niederließ. Warum sie hier ihre Hände faltete und eine Zeit lang heftig weinte, wußte sie nicht. Aber endlich erschrak sie, daß sie es gethan, denn sie dachte an ihre rothe Schminke, und als sie erschrocken auf ihren Busen sah, bemerkte sie auf dem hellgrünen Atlas große dunkle Flecken.

Bald waren diese Schäden übrigens wieder vertilgt; Clara hatte ihr geholfen, sich auf's Neue zu schminken und dabei einen Theil des süßen Geheimnisses erfahren. Clara war hiedurch ebenfalls nachdenkend geworden, und als die Andere nun abermals [233] hinab hüpfte, um Therese aufzusuchen, blieb sie droben in der Fensterecke sitzen, stützte den Kopf auf die Hand und versank in tiefe Träumereien.

Therese befand sich noch immer hinter der ersten Coulisse: sie hatte ihren rechten Fuß auf einen kleinen Schemel gestellt und hielt sich mit der einen Hand an der Ranke einer Waldblume, die über ihrem Kopfe herabhing. »Wo steckst du denn, mein Schatz?« rief sie der heran kommenden Marie zu. »Ich habe schon nach dir gesehen, aber du warst verschwunden. – Ich hoffe doch nicht –«

»Ich suchte dich auf der andern Seite,« entgegnete Marie.

»Hast du was Neues erfahren? – Von ihm – von dem sauberen Herrn auf der zweiten Gallerie?«

»Nein, nein! Meine Tante läßt mich, Gott sei Dank! in Frieden; sie hat in den letzten Tagen nichts darüber gesprochen: ich hoffe schon, sie hat meinen inständigen Bitten Gehör gegeben.«

»So, das hoffst du?« erwiderte Therese. »Da kennst du die Alte schlecht. Ich will dir gelegentlich einmal erzählen, wie sie es mir gemacht hat. Nimm dich aber zusammen, das rathe ich dir. Der, den du mir da oben gezeigt hast, läßt nicht so leicht nach, das ist einer von den stillen Scheinheiligen, die im Trüben fischen und im Dunkeln langsam aber sicher gehen.«

»Aber am Ende habe ich doch meinen freien Willen!« sagte ängstlich Marie.

»Den hast du nicht, arme Sklavin,« entgegnete die Andere, indem sie sich hoch aufrichtete. »Schau mich an, ich sehe auch gerade nicht aus wie Jemand, der sich leicht zwingen ließe. Und doch – man wird am Ende müde. – Aber sprechen wir nicht mehr darüber!« Damit warf sie die Oberlippe trotzig in die Höhe, und ließ die Federn ihres Kopfputzes langsam durch ihre Finger gleiten und setzte mit ruhigem Tone hinzu: »Du hast mich also gesucht! nun denn, was soll's?«

[234] Marie erzählte nun ihrer Collegin von der armen Nähterin, von dem Kinde, das man derselben geraubt, von dem man aber den Todtenschein beigebracht, und das sich nun wahrscheinlich irgendwo befände, wo es, so befürchte die Mutter, langsam dahin siechen werde.

Ueber die Züge Theresens hatte sich während dieser Erzählung ein so höhnisches, ja böses Lächeln gelagert, daß man ordentlich davor zurückschrecken konnte. Sie biß ihre Zähne auf einander und schien angelegentlich die Spitze ihres seidenen Schuhes zu betrachten. In Wahrheit aber schaute sie weit hinaus durch Gebälk und Fundament, tief in die Erde und mußte dort etwas Schreckliches erblicken, denn plötzlich schrak sie auf, schauderte zurück und preßte ihre Hand mit einem tiefen Athemzuge auf's Herz.

»Du hast mich nicht angehört,« sagte Marie, während sie ihre Freundin ängstlich betrachtete. »Du hast mich gewiß nicht verstanden.«

»Oh! es ist leicht, das zu verstehen,« entgegnete Therese; »ich begreife dich vollkommen und weiß was du willst. Es gibt solche Orte, wo man kleine Kinder aufbewahrt, bis der gnädige Gott sie zu sich abruft. Aber dahin zu kommen, ist sehr schwer; sie sind verschlossen wie das Grab, dessen Vorzimmer sie ja auch sind. – Laß' mich nachdenken; mit Gewalt durch die Polizei ist nichts zu machen, sie hat ja einen Todtenschein erhalten, also existirt das Kind eigentlich nicht mehr. – Wenn ich mich auch irgendwo hinwenden wollte, wo eine solche Anstalt besteht, glaube mir, man läßt mich eben so wenig eindringen, wie die Mutter jenes Kindes. O, die sind schlau wie der Teufel!«

»Aber du könntest mir doch eine Adresse geben, damit ich's ihr mittheile.«

»Die ziehen bald hierhin, bald dorthin – aber wart' einmal, – da fällt mir eben ein, in dem Hause, wo der alte Schellinger wohnt – du kennst ihn doch, unsern armen Freund, da hinten steht er, – da soll sich so was befinden.«

[235] »So wollen wir hin und ihn fragen.«

»Das wäre sehr unklug; bei dir hätte es am Ende nichts zu sagen, aber ich könnte mich in ein schönes Licht bringen,« entgegnete Therese, sonderbar lächelnd. »Nein, nein, das müssen wir gescheidter anfangen. Ich traue in dem Punkt dem alten Fuchsen nicht recht', wir müssen Jemand an ihn abschicken, der ihn vorsichtig ausholt.«

»Du hast Recht, Therese,« versetzte das junge Mädchen. »Aber wem sagen wir es?«

Die Andere zuckte die Achseln und antwortete nach einigem Nachdenken: »Das ist für mich eine unangenehme Commission; wenn ich es auch Einem sage, so machen sie ihre schlechten Witze; und ich hasse das.«

»Ich weiß schon, was ich thue,« sagte eifrig Marie. »Ich erzähle die ganze Geschichte dem Zimmermann Richard, der soll mit dem Schellinger sprechen.«

»So, dem Richard erzählst du es, mein Schätzchen?« entgegnete die andere Tänzerin lachend. »Ah! das ist dein Vertrauter! Ja, ja, man treibt so allerlei, wenn man mich sucht und sich dann erst ungeheuer lange hinter dem letzten Vorhange aufhält. – Nun, erschrick nur nicht: du brauchst dich dessen nicht zu schämen, und wenn er es gut mit dir meint, was ich hoffe und glaube, so greis' zu, und wie ich schon früher gesagt, nimm dich zu Hause doppelt in Acht. – Aber jetzt geh' und sprich mit Richard darüber, erzähle ihm offen die ganze Geschichte, wie du mir so eben gethan.«

Diesen Rath befolgte denn auch Marie, und man kann sich leicht denken, daß sich der Zimmermann von der Tänzerin gerne hinter eine Coulisse führen und sie da unter vielen Neckereien die traurige Geschichte vortragen ließ.

Das Resultat dieser Erzählung war, daß er während des dritten Aktes den Garderobegehülfen auf die Seite nahm und ein [236] längeres Gespräch mit ihm hielt, worauf er von ihm zurück hinter die achte Coulisse trat, wo diesmal der erste Maschinist selbst, der Herr Hammer Vater, die Conversation leitete und von seinen Kriegsthaten erzählte.

Der alte Schellinger hatte sich indessen auch bald wieder näher geschlichen; er zuckte oftmals die Achseln, wenn der Andere irgend etwas besonders Seltsames vorbrachte, schüttelte bedeutsam den Kopf und flüsterte auch wohl dem Schwindelmann zu: »Ich versichere dich, er lügt fürchterlich!«

Bald ging die Oper zu Ende, der Vorhang fiel für heute Abend zum letzten Male, wurde dann langsam wieder empor gezogen, nachdem die Zuschauermenge fast das Haus verlassen. An den Eingangsthüren wogten und drängten noch die letzten Massen und in den Gängen sah man noch Kopf an Kopf.

Richard, der heute Abend gar keine Eile zu haben schien, befand sich auf der halb dunkeln Bühne und neben ihm stand Schellinger, während etwas rückwärts Herr Hammer einigen der Zimmerleute und Maschinisten noch eine merkwürdige Geschichte erzählte.

»Ja–a, ja–a,« sagte er, »das habe, ich noch vergessen, wie es damals in dem Kriege bei uns zuging. Als mich eines Tags der selige Bernadotte zu sich kommen ließ und mir eine Depesche auftrug, – es handelt sich vom Auswendiglernen und ich erzähle euch das nur, weil heutigen Tages unsere Schauspieler so viel Wesens daraus machen, wenn sie einmal in ein paar Tagen eine lumpige Rolle memoriren müssen, – Hammer, sagte Bernadotte zu mir, hier ist eine Depesche an Napoleon. Hast du wohl Courage, sie durch die feindliche Armee an den Kaiser zu bringen? Wenn sie dich aber damit erwischen, so schießen sie dich todt. – Ist denn der Inhalt so gefährlich, Excellenz? fragte ich. – Sehr wichtig und gefährlich, entgegnete er und zeigte sie mir. Das waren sechszehn enggeschriebene Seiten Französisch. – Wissen Sie was, Excellenz, sagte ich ihm, vertrauen Sie mir die Depesche eine halbe Stunde an, [237] dann komme ich wieder und Sie sollen mit dem Hammer zufrieden sein. – Und er gab sie mir und eine halbe Stunde nachher brachte ich ihm seine Depesche wieder und sprach: Excellenz wollen die Gnade haben und mich gefälligst überhören zu wollen. – Und das that er, und ich sagte ihn die Depesche her, alle sechszehn Seiten und irrte mich nur zweimal, indem ich Allerhöchstdieselben sagte, wo nur Höchstdieselben stand.«

»Brrr!« machte Schwindelmann. Die Andern lächelten verstohlen und Schellinger blickte melancholisch im Kreise umher, als sei er betrübt, daß man ihm den Rang abgelaufen. Dann schlich er zu dem Theaterdiener hin und sagte ihm abermals: »Nein, der Hammer übertreibt; was der Mann sich das Lügen angewöhnt hat!«

»So, nun sind wir fertig!« rief der erste Maschinist; »das dauert immer lange, bis das Haus leer ist. Ja–a, ja–a, wenn ich mir denke, daß es hier einmal brennen könnte, das müßte ein fürchterliches Unglück geben.«

»Noch schlimmer als in C.,« sagte Schellinger, »denn da hatten sie doch weite Treppen und Gänge, und Viele konnten entfliehen; die da verbrannten, blieben sitzen, weil sie vor Schrecken wie erstarrt waren.«

»Nein, nein,« entgegnete Herr Wander, »so ist es nicht, Schellinger; der Rauch hat sie gleich betäubt und erstickt.«

»Vor Schrecken blieben sie sitzen,« sprach hartnäckig der Schneider; »ich war dabei.«

»O Schellinger, wie kannst du lügen!« sagte der erste Maschinist. »Haben wir nicht an dem Abend zusammen hier gestanden, gerade wie heute?«

»Ja, ja, – es ist möglich,« entgegnete traurig der Garderobegehülfe; – »aber es ist doch wahr, daß sie vor Schrecken gestorben sind, ich habe die besten Nachrichten. – Den Tag nach dem Unglück hatte ich Briefe von C. – ganz ausführliche und [238] unzweifelhafte, denn sie kamen – von Einem, der selbst mit verbrannt ist.«

In diesem Augenblick erloschen sämmtliche Lichter am Kronleuchter, Alle entfernten sich lachend, und die Bühne blieb öde und leer.

20. Kapitel
Zwanzigstes Kapitel.
Toiletten-Geheimnisse.

Das kleine Appartement des Grafen Fohrbach nahm sich bei Tage, trotzdem, daß es Winter war, außerordentlich reizend und elegant aus. Wenn auch die meisten der Fenster auf den Garten gingen und man dort nichts sah als schneebedeckte Wege, kahle Aeste, eingehüllte Bäume und hie und da durch die nackten Gesträuche ein Stück der Gartenmauer, so bildete dagegen der Salon in dem wir uns neulich Abends befanden, einen höchst angenehmen und wohlthuenden Contrast. An diesen Salon nämlich stieß ein großes Glashaus, welches den Pavillon des jungen Grafen mit dem elterlichen Hause verband, und auf Befehl der alten Excellenz als neutraler Grund betrachtet wurde, das heißt, der junge Graf konnte hier wohl auch mit einigen Bekannten spazieren gehen, seinen Kaffee da nehmen, eine Cigarre rauchen; doch war ihm nicht erlaubt, dies allerliebste Gewächshaus insofern zu seinen Appartements mit heran zu ziehen, um auch hier kleine Feten und Gesellschafter: zu geben. Dies Recht hatte sich der Papa vorbehalten, weßhalb denn auch der Kammerdiener des jungen Grafen angewiesen [239] war, so oft sich größere Gesellschaft bei sei nem Herrn befand, diese Eingänge zum Gewächshaus zu schließen, damit nicht unwillkürlich gegen den Befehl des Papa und Kriegsministers gehandelt werde.

Heute Morgen dagegen – es mochte zehn Uhr vorüber sein – standen die weiten Flügelthüren, die vom Salon aus in's Gewächshaus führten, offen, und es ist uns schon erlaubt, einen neugierigen Blick hinein zu werfen.

Das Glashaus bildete den vierten Theil eines Kreises, sowie oben ein spitzes Gewölbe in gothischer Form, bestand auf beiden Seiten aus Eisen und Glas, und enthielt einen förmlichen Wintergarten. Von dem Salon des jungen Grafen aus stieg man ein paar Stufen hinab. Auf den hohen Ruhebänken dieser kleinen Treppe standen rechts und links Marmorfiguren in einem wahren Wald von blühenden Pflanzen aller Art, an deren Postament Schlinggewächse empor rankten und sich oben mit anderen Wucherstauden zusammenschlangen, die an der Decke des Glashauses emporkrochen und ihre sonderbaren Blüthen, tiefblaue und weiße Glocken, über die Häupter jener Figuren herab hängen ließen. Dunkler Epheu umschlang die Wände der kleinen Treppe sowie die Ruhebänke, und aus dem tiefen Grün dieser Blätter glänzte hie und da eine brennend rothe, fremdländische Blume, die jetzt ihren Sommer hatte, wo bei uns Schnee und Eis lag, hervor.

Die Wege des Glashauses waren mit dem feinsten hellgelben Sande bedeckt und schlängelten sich in der willkürlichsten, eigensinnigsten Form um Gruppen und Bosquetten herum, die aus Orangen, Lorbeer, Citronen, fremden Nadelhölzern bestand und deren Ecken meistens mit Krystallgefäßen geschmückt waren, in welchen Goldfische herum schwammen oder irgend eine seltene Blume sich recht auffallend präsentirte.

Die Mitte des ganzen Glashauses bildete eine große Kuppel mit hochstämmigen Bäumen besetzt, die einen marmornen Springbrunnen [240] umstanden, aus dessen oberster Etage ein Strahl empor sprang, der, sich in der Luft vertheilend, von Schaale zu Schaale mit melodischem Plätschern zurück fiel. An vier Seiten dieser Kuppel befanden sich Volièren, deren gefiederte Bewohner, arme Sklaven, schon jetzt freudig ihre muntern Lieder sangen, während draußen ihre freien Kameraden noch mit allen Mühen des Lebens, mit Hunger und Frost, zu kämpfen hatten.

Jenseits der Kuppel setzte sich das Glashaus in gleicher Weise wie diesseits fort; dort befand sich ebenfalls eine kleine Treppe mit Ruhebänken, Epheugewinden, mit Blüthen, Blumen, Schlingpflanzen und Marmorstatuen; doch waren die Flügelthüren, welche in das Haus Seiner Excellenz führten, fest verschlossen, sowie die inwendigen Vorhänge herab gelassen.

Aus dem diesseits geöffneten Glashause drang in den Salon des jungen Grafen ein äußerst angenehmer Duft; es strich die duftige Atmosphäre herüber, die in gut erhaltenen Glashäusern herrscht, jener nicht zu bezeichnende Geruch, bestehend aus den verschiedensten zarten Dünsten, welche die Pflanzen aushauchen, wenn nach dem Bespritzen mit frischem Wasser über die erquickten Blätter so langsam ein Tropfen nach dem andern herab rieselt.

Im Salon des Grafen war es behaglich warm, ohne heiß zu sein. Aus dem Glashause strömte auch erwärmte Luft herein, und im Kamin spielte ein lustiges Feuer. In der Nähe des letzteren stand ein großer runder Tisch mit Geschirren verschiedener Art beladen, aus deren Unordnung man ersah, daß dort eben gefrühstückt worden war; es befanden sich hier zwei Couverts mit darüber hingeworfener Serviette und leeren Stühlen davor, während ein dritter Sessel noch besetzt war und zwar durch den Baron Brand, der behaglich in demselben ausgestreckt war, von Zeit zu Zeit eine neben ihm stehende Chocoladetasse an den Mund brachte, dazu eine Cigarre rauchte und in einem Journale las.

[241] An diesen Salon stieß, wie wir bereits wissen, das Arbeitszimmer des Grafen, sowie Garderobe und Schlafgemach. In letzterem befand sich der Hausherr; vor einem großen Spiegel stehend war er beschäftigt, sich anzuziehen. Die Thüre in's Arbeitszimmer stand offen, und hier bemerkte man den Maler Arthur, der an einem Fenster saß, vor sich ein weibliches Portrait hatte und im Begriffe war, von demselben eine Copie in Aquarell zu machen.

Der Eingang in den Salon war verschlossen und es hing diesseits vor demselben ein dicker persischer Teppich herab.

Graf Fohrbach hatte seine Toilette ungefähr halb beendigt, und an seinen Stiefeln mit Sporen und an einem Beinkleid mit rothen Streifen bemerken wir, daß er im Begriffe ist, sich in Uniform zu werfen. Der alte Kammerdiener stand mit dem ernstesten Gesichte von der Welt neben ihm und reichte ihm die verschiedenen nöthigen und unnöthigen Geräthschaften, die das wichtige Geschäft des Ankleidens erforderte. Jetzt hatte er eine kleine silberne Büchse mit weißer Bartwichse aufgeschraubt, der Graf nahm etwas davon mit Daumen und Zeigefinger und drehte mit Hilfe dieser wohlriechenden Masse seinen Schnurrbart keck in die Höhe, wobei er sich nicht ohne Wohlgefallen im Spiegel besah.

»Wenn man euch Herren so bei der Toilette sieht,« rief der Maler aus dem Nebenzimmer, »so begreift man vollkommen, daß euch von der vielen Zeit, die ihr habt, doch so wenig übrig bleibt. Jetzt sind Sie bereits eine halbe Stunde mit Ihrem Anzug beschäftigt und, wie ich sehe, noch nicht übermäßig vorgerückt.«

»Der Anzug, mein Lieber, ist eine wichtige Sache,« gab der Graf zur Antwort, »namentlich wenn man, wie ich heute, den Dienst hat. Ich versichere Sie, da kommen eine solche Menge Leute in's Vorzimmer, die oft Stunden lang warten, Fremde, Herren vom Civil, Vorgesetzte und Kameraden, und das fängt zuerst an, die Wände zu besehen, Plafond und Fußboden, und dann kommen wir [242] an die Reihe. Ah! ich versichere Sie, das Alles betrachtet uns genauer, als es eine Geliebte oder junge Frau macht.«

»Das habe ich nicht gewußt,« entgegnete Arthur lachend.

»Deßhalb müssen wir in unserem Anzug so außerordentlich, ja übermäßig correct sein. Glauben Sie mir, für die Minister und dergleichen, die zum täglichen Rapport kommen, oder überhaupt für Alle, die Audienz haben, sind wir Adjutanten ein wahrer Barometer. Aus uns fiel der erste allerhöchste Sonnenblick, wenn ein solcher da war, oder wir bemerkten die ersten Wolken am Horizont aufsteigen, und diese Witterung zeigen wir nun an und verheimlichen sie, je nach Umständen.«

»Durch den Anzug?«

»Durch den Anzug, durch den Ausdruck unseres Gesichts, ja durch die Stellung unseres Bartes.«

»Ah! das ist ja erstaunlich!« rief Arthur. »Und wer versteht sich auf diese kleinen und seinen Nuancen?«

»Alle, denen was daran gelegen ist. Ja, ihr meint, das Ding sei so leicht, man habe da nur im Vorzimmer zu stehen und eine Meldung zu machen. Nein, nein! Das will Alles durchdacht sein, denn ich versichere Sie, so gut es bei den Schauspielern denkende Künstler gibt, so gibt es auch bei uns denkende Adjutanten.«

»Erstaunlich!« entgegnete lustig der Maler. – »Und wie betrachtet man einen solchen Barometer, den Sie heute vorzustellen das Glück haben; das heißt, wie liest und versteht man seine Zeichen?«

»Das ist nicht leicht zu sagen,« erwiderte der Graf, indem er seinen Waffenrock zuknöpfte, den ihm der Kammerdiener zu gleicher Zeit fest in die Taille hinein zog. »Sehen Sie, zum Beispiel man hat seine Freunde, die man gerne avertirt, wie es drinnen aussieht, ohne ein Wort zu sprechen, denn Sie wissen, in dem Vorzimmer halten sich oft die Kammerdiener auf, die immens seine Ohren [243] haben. Ist es ein schönes klares Wetter, so geht man vergnügt auf und ab, summt auch, natürlicher Weise pianissimo, eine kleine Arie oder steht in ruhiger Beschaulichkeit an einem der Fenster. Gibt es dagegen Wolken, so macht man ein ernstes Compliment, dreht den Schnurrbart ein klein wenig in die Höhe, oder rückt häufig an Säbel und Schärpe, um ja Alles in bester Ordnung zu haben.«

»Und wenn nun der Barometer Sturm anzeigen soll?«

»Dann lehnt man sich gedankenvoll an eine Tischecke,« erwiderte der Graf, indem er seinen Säbel festhakte, »und hält vor allen Dingen den Federhut unter dem Arm. Es zeigt das an, daß man jeden Augenblick gewärtig sein kann, zu irgend einer unangenehmen Commission hinaus gesprengt zu werden.«

Jetzt war die Toilette beendigt; der Kammerdiener steckte seinem Herrn ein parfumirtes Sacktuch in die linke Tasche des Waffenrocks, reichte ihm Federhut und Handschuhe, und verließ darauf mit unhörbaren Schritten das Zimmer. Der Graf trat in das Nebengemach, stellte sich hinter den Stuhl des Künstlers, indem er das bald fertige Aquarell mit Wohlgefallen betrachtete.

Es war das Portrait einer schönen Frau, deren Jugend in die letzte Hälfte des vorigen Jahrhunderts fiel; das sah man an dem gepuderten Haar, und dem eigenthümlichen Schnitt des Kleides, – das Bild der Großmutter des Grafen, von welchem Arthur seinem Freunde gerne eine schöne Copie machte.

»Ich bin Ihnen für Ihre gelungene Arbeit sehr dankbar,« sagte der Hausherr; »ich habe schon lange gewünscht, dies Bild zu besitzen.«

»Von Dank kann keine Rede sein,« entgegnete der Maler. »Ich bin noch stark in Ihrer Schuld; die beiden alten köstlichen Reiterpistolen, die Sie mir neulich verehrten, sind wahre Meisterwerke und machen den schönsten Theil meiner Sammlung aus.«

[244] »Kleinigkeiten!« versetzte der Graf, indem er sich auf die Lehne des Stuhles stützte. »Wenn das Aquarell fertig ist, so werde ich noch eine Büchse dazu auftreiben. Es ist schade, daß ich Ihre Liebhaberei für alte Waffen nicht früher kannte, ich habe schon so manches werthvolle Stück verschleudert. – Doch indem ich hier plaudere, fällt mir ein, daß draußen der Baron sitzt und wahrscheinlich ungeduldig meine Rückkunft erwartet.«

»Das glaube ich nicht; er sitzt ruhig am Tische, trinkt seine Chocolade und liest die Zeitung. – Eigentlich ein seltsamer Herr.«

»Allerdings ist er in manchen Beziehungen ein sonderbarer Mensch, aber ein guter Kerl und ich mag ihn wohl leiden.«

Der Maler schaute sich nach dem Salon um; als er aber sah, daß der Teppich vor der Thüre hing, blickte er wieder auf seine Arbeit.

»Unbesorgt!« lachte Graf Fohrbach, der diese Bewegung gesehen; »das ist Alles bei mir wohlweislich eingerichtet. Ich mag es nicht leiden, wenn die Bedienten zu viel hören; ich muß doch irgend ein Asyl haben, wo ich vollkommen allein sein kann. – Beide Thüren, die zum Schlafzimmer und die zum Salon, haben geheime Federn und bleiben nie offen stehen. Sie fallen geräuschlos in's Schloß und sind so sorgfältig gearbeitet, daß nicht das lauteste Wort durchdringen kann.«

»Kennen Sie den Baron schon lange?« fragte anscheinend gleichgültig der junge Maler.

»Seit ungefähr einem halben Jahre; ich gehe sonst nicht leicht neue Bekanntschaften ein, aber er brachte mir von W., woher er kam, ganz außerordentliche Empfehlungen von guten Freunden. Auch amusirt mich zuweilen sein geziertes Wesen; er ist dabei gutmüthig, sehr gebildet, hat viel gesehen, und, wenn er will, erzählt er vortrefflich. Eine innige Freundschaft möchte ich gerade nicht mit ihm eingehen, aber zum gewöhnlichen Umgang gefällt mir die Art, wie [245] er sich gehen läßt und wie man ihn ebenfalls gehen lassen kann. Jetzt sitzt er zum Beispiel draußen; wenn ich ihn ruhig da lasse und mich durch die Hinterthüre entferne, um meinen Geschäften nachzugehen, so findet er das ganz natürlich und kommt Abends zum Thee mit demselben freundlichen und unbefangenen Gesicht.«

»Ich brachte das Gespräch nicht ohne Absicht auf den Baron,« sagte Arthur.

»Wie so?«

»Ich will Ihnen das gelegentlich einmal erzählen, es ist ein höchst eigenthümlicher Vorfall und doch vielleicht wieder ganz unbedeutend! ich weiß selbst nicht, was ich davon denken soll. – Aber Sie sind eilig, und ich will Sie heute Morgen nicht aufhalten.«

»Aufrichtig gesagt, ja, lieber Arthur,« erwiderte Graf Fohrbach. »Aber vergessen Sie Ihre Geschichte nicht, ich gestehe wohl, daß ich mich für den Baron interessire.«

»Hat er Vermögen?«

»Für das was er ausgibt, muß er reich sein. Ich traf ihn neulich bei Ihrem liebenswürdigen Papa – meinem Banquier, der ihm auf die freundlichste Art von der Welt ein Paket Banknoten einhändigte. Der Kassier verbeugte sich tief vor ihm, und das ist ein guter Barometer – wie Sie wohl am besten wissen –«

»Wie Sie im Vorzimmer Seiner Majestät!«

»Allerdings, junger Spötter! – Doch – – Teufel! wie vergeßlich ich bin! Da habe ich Sie um etwas bitten wollen – was war es doch? – Richtig, jetzt fällt mir's ein. – Wie viel Uhr ist es wohl?« unterbrach er sich. – »Lassen Sie nur stecken, ich will im Salon nachsehen, da ist eine Standuhr, die täglich nach der im Schloß gerichtet wird.«

Damit hob er den Thürvorhang auf und ging in's Nebenzimmer.

Der Baron saß noch ruhig bei seiner Chocolade und las aufmerksam [246] seine Zeitungen. Doch studierte er besonders die hinteren Seiten derselben, wo sich die Annoncen befanden. Als der Graf eintrat, wandte er kaum den Kopf herum, nickte vielmehr nur leicht, als ihm dieser sagte: »Verzeihen Sie, Baron, daß ich Sie sitzen ließ, aber Sie wissen, Herrendienst geht vor allem Anderen. Ich muß um elf Uhr in's Schloß, und es ist wahrscheinlich schon halb vorbei; da muß ich mich ungeheuer beeilen.«

»Ei, mein lieber Graf,« entgegnete der Baron mit sanfter Stimme, indem er seine Tasse niedersetzte und sich auf die zierlichste Art von der Welt den Schnurrbart strich, »da haben Sie Zeit genug. Ihr vortrefflicher Kutscher bringt Sie ja in zwei Minuten an die Thüre der Freitreppe.«

»Da haben Sie Recht, mein Bester,« versetzte der Graf, der aus einer reich mit Gold und Steinen incrustirten Mappe eine Lage Postpapier heraus nahm. »Aber ich bin Geschäftsmann und muß vorher noch einen wichtigen Brief schreiben. Doch um Sie nicht in Ihrer Lectüre zu stören, will ich mich in's Nebenzimmer begeben.«

»Ich lese Anzeigen,« sprach gähnend der Baron, »fand aber da etwas, was mich erschreckte. Da ist ein Kerl, der kündigt einen Odeur an, von dem er sagt, es sei das feinste Oel, was man den Rosen entziehen könne und habe den sanften Geruch dieser Blume, ohne jedoch an das Scharfe, Unangenehme des gemeinen Rosenöls zu erinnern.«

»Das wäre Ihr coeur de rose!« entgegnete Graf Fohrbach. »Ei, ei! Baron, am Ende hat Sie Ihr Armenier verrathen und Ihr Geheimniß ist in Jedermanns Munde.«

»Unbesorgt!« sagte der Baron, indem er sein Battisttuch hervorzog und es unter die Nase preßte; »diese Feinheit bringt nur er hervor, und wenn der Kerl da in der Zeitung wirklich etwas Aehnliches anpreist und verkauft, so wird doch die gemeinste Nase den Unterschied deutlich riechen.«

[247] »Das ist ein Trost für Sie,« erwiderte der Graf, der bei diesen Worten in's Nebenzimmer eilte. Doch rief er noch durch die Thüre: »Nur einen Augenblick, Baron! Ich bin gleich wieder bei Ihnen.«

Die Thüre fiel zu und man hörte deutlich, wie das Schloß einschnappte.

Zweiter Band

21. Kapitel
[7] Einundzwanzigstes Kapitel.
Jäger und Kammerjungfer.

Der Baron schaute in diesem Augenblick über seine Zeitung hinweg, dann ließ er die linke Hand, in der er sie hielt, langsam sinken und wandte den Kopf nach rechts und nach links, während er forschend durch das ganze Zimmer blickte. Dabei war der Ausdruck seines Gesichtes auf einmal ein ganz anderer geworden: das Auge, das sich gewöhnlich so affektirt und matt hinter den herabfallenden Augenlidern verbarg, blitzte unter den scharf zusammengezogenen Augenbrauen hervor; seine Lippen, die meistens halb geöffnet waren und von einem süßen Lächeln umspielt wurden, erschienen voll Spannkraft und Energie, und ließen, als sie sich leicht emporzogen, zwei Reihen schneeweißer Zähne sehen. – Er legte die Zeitung nieder, stützte die rechte Hand leicht auf den Tisch und erhob sich von seinem Stuhle, ohne das geringste Geräusch zu machen. Dann wandte er sich um, glitt durch den Salon nach dem Schreibtische des Grafen, wo sich in einer breiten Schaale von Bronze Bleistifte und alle möglichen Schreibmaterialien befanden. Dazwischen lag ein kleines Petschaft, dessen Griff aus [7] Gold in getriebener Arbeit bestand und reich mit Steinen besetzt war. Dieses Petschaft nahm der Baron geräuschlos aus der Schale fort, betrachtete es einen Augenblick, steckte es in die Tasche seines Rocks und ging dann ebenso leise wie er gekommen, zu seinem Stuhle zurück, auf welchen er sich wieder setzte. Nun nahm er abermals die Zeitung in die Hand, wandte den Kopf, wie vorhin beschrieben, rechts und links, um alle Ecken des Salons zu besichtigen und dann nahm sein Gesicht plötzlich wieder jenen weichen und schlaffen Ausdruck an, den wir bereits kennen.

Jetzt klingelte der Graf im Nebenzimmer und der alte Kammerdiener ging durch den Salon, kehrte aber gleich wieder dahin zurück, zündete eine Wachskerze an, nahm Siegellack und wühlte alsdann einige Augenblicke vergeblich in der Bronzeschaale. Er schien überrascht zu sein, blickte im Zimmer umher und ging dann in's Nebenzimmer, wo er unter der Thüre stehen blieb und seinem Herrn einige Worte sagte.

»Mein Petschaft muß da sein,« hörte man den Grafen antworten; »das kleine mit dem goldenen Griff, es liegt in der Bronzeschale.«

»Euer Gnaden verzeihen,« entgegnete der Kammerdiener, »es liegt nicht an seinem gewöhnlichen Platze.«

»Das müßte mit dem Teufel zugehen,« erwiderte der Graf. »Ich habe es gestern Abend noch da gesehen.«

Mit diesen Worten trat er in den Salon, ein Briefchen in der Hand; der Kammerdiener folgte mit dem brennenden Lichte.

»Jetzt bin ich vollkommen beruhigt hinsichtlich meines Odeurs,« sagte der Baron mit wichtigem Tone; »jener Fabrikant nennt es Rosensaft. Ich bitte Sie, Rosensaft! Dabei fällt mir gleich so 'ne schmutzige Brühe ein. Ah! coeur de rose ist eine schöne Erfindung.«

»Gewiß, gewiß!« entgegnete zerstreut und einigermaßen ärgerlich der Graf, denn er hatte ebenfalls vergeblich in der. Bronze [8] schale und auf dem ganzen Tische nach dem Petschaft gesucht. Er sah den Kammerdiener an; dieser zuckte die Achseln.

»Wer hat das Zimmer heute Früh in Ordnung gebracht?« fragte er mit heftigem Tone.

»Der Jäger, Euer Gnaden.«

»Wieder der Jäger! – Wann soll denn der Geschichte einmal ein Ende gemacht werden?«

»Es ist eigenthümlich,« sprach der alte Mann, »der Mensch hatte so vortreffliche Empfehlungen und wie sehr ich beständig aufgepaßt, ich habe nie etwas Unrechtes bemerkt.«

»Aber Sie werden mir nicht ableugnen können, daß seit einem halben Jahre, als der Mensch in meinen Diensten ist, jeden Augenblick aus diesem Salon Etwas verschwindet.«

»Leider!«

»Haben Sie sonst auf Jemand von den Leuten Verdacht, auf George vielleicht oder auf Karl?«

»Gott soll mich bewahren!«

»Nun, also bleibt's an dem Jäger hängen, und der Sache soll ein Ende gemacht werden; ich will's!«

»Aber, gnädigster Herr, man kann ihm Nichts beweisen.«

»Das braucht's auch gar nicht; ich will gewiß nicht sein Unglück; man zahlt ihm einen halbjährigen Lohn, sagt ihm, er habe mir nicht convenirt und gibt ihm meinetwegen ein erträgliches Zeugniß.«

Der alte Mann nickte mit dem Kopfe.

»Wie Sie selbst sagten, kann man ihm Nichts beweisen, also wollen wir auch seiner Zukunft nicht hinderlich sein. Aber mir ist es unheimlich, daß hier alle Augenblicke so was vorfällt.«

Der Graf hatte etwas heftig und laut gesprochen, während er sich an dem Schreibtische im Salon niedergelassen, um besser in der Bronzeschale suchen zu können, so daß sich sogar der gleichmüthige Baron veranlaßt sah, aufzustehen und näher zu kommen.

[9] »Ja, was ist denn vorgefallen, mein bester Graf?« fragte er, indem er sich in dem Spiegel über dem Kamin Haar und Bart zurecht strich und dann an dem Feuer seine Fußspitzen wärmte. »Sie sind ja wahrhaftig ganz aufgeregt!«

Der Graf wollte von dem Petschaft sprechen, doch der Kammerdiener sah ihn bittend an. »Ach!« sagte er mit verdrießlichem Tone, »ich bin mit einem meiner Leute nicht zufrieden, mit meinem Jäger, ich muß ihn fortschicken, was mir sehr unangenehm ist. Es ist überhaupt so schwer, ordentliche Leute zu bekommen.«

»Das weiß Gott!« entgegnete der Baron, indem er sich umwandte und die Hände auf den Rücken legte. »Aber da fällt mir was ein. Vor ein Paar Tagen wurde mir Jemand empfohlen, von sehr guter Hand und dringend empfohlen, ein Mensch, der schon längere Zeit in W. in den besten Häusern diente, und obendrein ein gelernter Jäger. Für seine Ehrlichkeit und Treue kann man garantiren; wenn Sie's mit dem versuchen wollten!«

»Warum nicht, auf Ihre Rekommandation! – Er soll sich bei meinem Kammerdiener melden, ich nehme ihn an.«

»Schön,« sagte der Baron mit seinem sanftesten Lächeln; »da haben wir einmal wieder ein gutes Werk gethan.« – Er trat an den Tisch, stützte sich mit der linken Hand darauf und schlug mit einem Finger der Rechten auf die Bronzeschale, daß sie einen hellen Klang von sich gab. – »Aecht? – Antik?« fragte er.

»Ich habe sie von einem Bekannten erhalten, der sie in Pompeji erbeutet. – Aber Teufel! Es ist schon drei Viertel auf Elf. – Lassen Sie meinen Wagen vorfahren,« sagte er zu dem Kammerdiener, der sich verdrießlich entfernte. »Jetzt muß ich siegeln und habe mein Petschaft verloren. Ah, Baron!« rief er aus, »Sie können mir helfen.« Dabei fielen seine Blicke auf die goldene Uhrkette des Anderen, an welcher sich eine Menge Kleinigkeiten, unter Anderem auch ein orientalischer Ring mit einem Carniol befand, auf den einige arabische Buchstaben geschnitten waren. [10] »Leihen Sie mir einen Augenblick Ihren Ring, um meinen Brief damit zuzusiegeln, es ist ja kein Wappen darauf. – Also kann es Sie in keiner Weise kompromittiren,« setzte er lachend hinzu.

Der Baron zuckte mit der Hand nach seiner Uhrkette und sein gleichmüthiges, lächelndes Gesicht war im Begriff, einen ganz anderen Ausdruck anzunehmen. Wie aber ein geschickter Equilibrist sich noch in dem Momente, wo er fallen will, kräftig und gewaltsam in's Gleichgewicht hinein schwingt, so auch der Baron. Seine Finger, welche hastig die Uhrkette, wie um sie zu verbergen, ergreifen wollten, glitten jetzt leicht daran herunter und blieben an dem bewußten Ringe hängen. »Ah! Sie wollen mit meinem Talisman siegeln, bester Graf!« sagte er alsdann mit seinem gewöhnlichen freundlichen Lächeln. »Nehmen Sie sich in Acht! Sie wissen doch, daß diese mysteriös geschnittenen Steine nur für den heilbringend sind, der sie besitzt, und daß, wenn sich ein Anderer derselben bedient, zum Beispiel wie Sie, lieber Graf, jetzt zum Siegeln, dies für den Empfänger von unangenehmen Folgen sein kann!«

»Sind Sie denn wirklich abergläubisch, Baron?« fragte der Graf und hob eine Stange Siegellack an das brennende Licht, während er den Brief vor sich hinlegte. – »Uebrigens,« fuhr er lächelnd fort, »ist mir am Wohl und Wehe des Empfängers oder der Empfängerin nicht viel gelegen, und wenn also Ihre Befürchtungen wirklich wahr wären, so könnte es derjenigen, welche diesen Brief erhält, am Ende Nichts schaden, wenn dieser Brief einige Dornen auf ihren Pfad streute.«

»Coeur de rose!« sagte der Baron, indem er sich höchst verwundert stellte, »da führen Sie ja eigenthümliche Korrespondenzen. Ich will nicht hoffen, daß der Brief an Jemand aus der Gesellschaft geht!«

»Seien Sie ganz unbesorgt, Baron! Glauben Sie denn, ich würde mich in dem Fall eines Ihrer Siegel bedienen? Ah! das wäre indiscret! Dieses Schreiben geht an ein ganz obscures Wesen, [11] von dessen Existenz Sie gar keine Ahnung haben; eine stille Wittwe, die hie und da meine gewissen kleinen Privatangelegenheiten arrangirt. – Aber jetzt geben Sie Ihren Ring her, mein Siegellack ist flüssig.«

»Armer Talisman!« sagte der Baron mit affektirter Wehmuth, während er die Kette loshakte und den Ring seinem Bekannten darbot; »ein Abdruck von dir scheint mir da in schöne Hände zu kommen. – Coeur de rose! das hätte sich die reizende Griechin, die ihn mir verehrt, gewiß nicht träumen lassen.«

Der Graf siegelte rasch und sorgfältig das Villet, dann betrachtete er aufmerksam die sonderbaren für ihn unleserlichen Schriftzeichen und versetzte: »So, der Abdruck ist schön gelungen; meinen herzlichen Dank! – Jetzt muß ich aber eilen, sonst komme ich zu spät in's Schloß und das wäre entsetzlich. – Kann ich Sie mitnehmen?«

Der Baron sann eine Sekunde nach. »Besuch auf dem Kastellplatz,« murmelte er, »dann in der Königsstraße, in der hohen und breiten Straße, – ja, ja, bester Graf, ich nehme einen Sitz in Ihrem Wagen an! Sie lassen mich an der Ecke des Kastellplatzes entspringen.«

»Schön,« erwiderte Graf Fohrbach; »gehen Sie nur voraus; ich folge in der Sekunde.«

Während nun der Baron in das Vorzimmer ging, sich dort den Paletot anziehen ließ, einen dicken Cachemir um den Hals schlang, den Hut aufsetzte und nach dem Wagen schritt, eilte der Graf in sein Arbeitskabinet, wo der Maler saß und sagte diesem: »Adieu, lieber Arthur, ich muß in den Dienst. Bleiben Sie hier, so lange Sie wollen; Sie wissen, wo Cigarren und Pfeifen sind. Aber wenn Sie fortgehen, erzeigen Sie mir, dem Freunde, eine Gefälligkeit. Werfen Sie diesen Brief auf die Stadtpost, aber heute Morgen noch; es liegt mir Alles daran, daß er im Laufe des Tages an seine Adresse gelangt, besonders aber, daß meine [12] Dienerschaft die Adresse nicht sieht. Ich stehe zu allen Gegendiensten bereit.«

»Mit großem Vergnügen,« entgegnete Arthur, indem er das Billet neben sich legte. »Wenn ich für meine Person die Adresse lesen darf und es mir nicht zu sehr aus meiner Route liegt, so werde ich ihn selbst besorgen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Natürlicher Weise!« entgegnete der Graf lachend, während er fort eilte; und er sagte noch unter der Thüre: »aber wenn Sie ihn selbst überbringen, so nehmen Sie sich in Acht; Sie könnten da in ein Kreuzfeuer von schönen Augen hineinkommen, das selbst einem Maler gefährlich werden dürfte. – Adieu!«

Damit eilte er fort, ließ sich im Fluge den Mantel umwerfen und traf den Baron schon an der Gartenthüre neben dem kleinen Coupé stehend. Beide setzten sich ein und der Wagen schoß mit einer außerordentlichen Geschwindigkeit davon.

»Da fällt mir eben ein,« sagte der Baron, der sich jetzt in seine Ecke geschmiegt hatte, »Sie könnten mir einen kleinen Dienst erzeigen, Graf Fohrbach, und ich bin überzeugt, keine Fehlbitte zu thun, da heute Ihr Herz gegen mich von Dankbarkeit erfüllt sein muß. Bedenken Sie, daß ich Ihnen einen vortrefflichen Jäger verschafft, und daß ich Sie mit meinem Talisman siegeln ließ. Coeur de rose! Das sind keine Kleinigkeiten!«

»Sie wissen, bester Baron, daß ich mir auch ohne das ein Vergnügen daraus machen würde, Ihnen nützlich sein zu können. Wovon handelt es sich?«

»Ich komme mir ordentlich als Dienerschafts-Kommissionär vor,« entgegnete gutmüthig lachend Herr von Brand. »Ich habe, wie gesagt, den Jäger plazirt, jetzt habe ich noch eine vortreffliche Kammerjungfer zu vergeben, für die ich eine gute Stelle suche, wo möglich im Schlosse. Es ist ein sehr braves und empfehlenswerthes Geschöpf.«

»Ist sie jung und hübsch?«

[13] »Ah! mein lieber Graf, Ihre Frage könnte mich beleidigen! Ich versichere Sie, ich sehe blos auf die inneren Eigenschaften dieses Mädchens. Aber um tugendhafte Bedenken Ihrerseits zu beschwichtigen, versichere ich Sie, daß die erwähnte Person gerade nicht zu jung und auch gerade nicht zu hübsch ist, so – so wie ich glaube; aber sie kann einer Toilette assistiren wie keine und spricht französisch.«

»Das wird sich machen lassen,« meinte Graf Fohrbach, »und wenn Ihnen wirklich ein Gefallen damit geschieht, Baron, so können Sie Ihrer Empfohlenen sagen, sie sei schon so gut wie plazirt. Und Sie wünschen, daß sie in's Schloß kommt?«

»Gerade daran wäre mir etwas gelegen; – sie soll eine sehr brave Person sein.«

»Ich werde mit der Frau von B. gelegentlich davon sprechen. Aber hier ist der Kastellplatz, wo ich Sie absetzen soll.« – Er zog bei diesen Worten heftig an der Schnur, die zum Kutscher draußen führte, worauf der kleine Wagen fast augenblicklich stille hielt.

»Meinen doppelten Dank!« rief der Baron lachend, nachdem er ausgestiegen; »für die Kammerjungfer und die Fahrt.«

»Und meinen gleichfalls,« entgegnete der Graf, »für den Jäger und den Talisman.«

Und der Wagen rollte davon.

Der Herr von Brand blieb an der Ecke des großen Kastellplatzes stehen; es war dies, wie schon der Name besagt, ein weiter Raum in der Nähe eines alten Schlosses, in welchem sich Archive und Möbelmagazine befanden. Dies alte düstere Gebäude war mit Thürmen flankirt, und hatte eine Menge ein- und ausspringender finsterer Winkel, von denen einige dazu dienten, das herabstürzende Regenwasser aufzufangen, weßhalb sich auf dem Boden derselben große zusammengekittete Steinplatten mit einer vergitterten Oeffnung versehen befanden, durch welche alle Feuchtigkeit ablief.

[14] Heute Morgen, wo der Frost der letzten Tage von einem starken Thauwetter verdrängt worden war, wo es ziemlich heftig regnete und der Schnee auf den Dächern mit außerordentlicher Geschwindigkeit schmolz, stürzte das Wasser in kleinen Fällen aus den seltsam geformten Dachrinnen hervor in jene Winkel hinab, um alsdann durch die erwähnte Oeffnung sprudelnd und schäumend unter der Erde zu verschwinden.

Der Baron schritt um das alte Kastell herum bis zur hinteren Seite, wo sich zwischen einem Thurme und einem riesenhaften Kamin der dunkelste dieser Winkel befand. Hier öffnete er behutsam Paletot und Rock, nahm das uns bekannte Petschaft aus letzterem heraus und ließ es auf den Steinboden niederfallen, so daß es alsbald von der Fluth des Regen- und Schneewassers in den Schooß der Erde hinabgeschwemmt wurde. Darauf lächelte er eigenthümlich, knöpfte Rock und Paletot wieder zu, schob die Hände in die Taschen und verschwand in einer engen Straße, die auf den Kastellplatz mündete.

22. Kapitel
Zweiundzwanzigstes Kapitel.
Auf der Polizeidirektion.

Der Baron hatte sich eine seltsame Tournure angewöhnt; er ging nämlich, wenn er allein über die Straßen schritt, scheinbar in Gedanken vertieft, den Kopf etwas vornüber gebeugt, die Augen vor sich auf die Fußspitzen geheftet. Wir sagen, er sah nur scheinbar so achtungslos aus, denn in Wirklichkeit bemerkte er Alles, was ihm begegnete, und wenn er hie und da sein Auge leicht aufschlug und um sich schaute, so faßte er in einer Sekunde die [15] Häuser der beiden Seiten auf und wußte ganz genau, ob Jemand im zweiten, dritten oder vierten Stock am Fenster gewesen.

Seine Freunde spotteten darüber und sagten ihm lachend, er kokettire mit seinem tiefen Nachdenken, mit seinem gänzlichen Unbeachtetlassen der ganzen übrigen Welt, – wenn aber an einer Straßenecke, sei es auch auf Tausend Schritte Entfernung, der lumpigste Junge seine Mütze schwenke, so sehe er das augenblicklich, halte es für eine Begrüßung und lüpfe respektvollst den Hut.

Daß der Baron gerne grüßte, das leugnete er selbst nicht. – – »Was wollt ihr!« sagte er, »ich bin einmal ein Mensch, der, das weiß ich ganz genau, keine glänzenden Eigenschaften, keine überraschenden Talente entwickeln kann; um aber nun Etwas zu haben, das mich vielleicht vor vielen andern Menschen auszeichnet, so befleißige ich mich einer musterhaften Höflichkeit und besitze eine außerordentliche Artigkeit.« – »Und ein eigens für Sie erfundenes Parfum,« hatten die Freunde lachend hinzugesetzt. – Worauf der Baron sehr wichtig erwiderte: »Das ist wahr –coeur de rose.«

So ging er denn auch am heutigen Tage sinnend dahin, ließ den Kastellplatz hinter sich, sah fast immer auf den Boden und warf nur hie und da einen Blick auf die Vorübergehenden und auf die Häuser zu beiden Seiten. Er durchschritt mehrere Straßen, wandte sich rechts, dann links und kam an einen andern Platz der Residenz, wo nämlich die eleganten und reichen Stadtviertel anfingen, deren zwei Hauptstraßen hier zu beiden Seiten in eines der größten Kaffeehäuser mündeten. Diesem Café gegenüber lag ein stattliches Gebäude – die Polizeidirektion.

Mit einem einzigen Blick überschaute der Baron den ziemlich großen Platz, als er in der Nähe des Café's wie immer scheinbar gedankenlos schlendernd, aus einer der Seitenstraßen heraustrat. Ihm gegenüber mußte aber plötzlich Etwas erscheinen, was seine ganze Aufmerksamkeit fesselte, denn er blieb mit einem Male stehen, [16] wandte sich und, um den ihm Begegnenden nicht aufzufallen, nach einem Bilderladen, wo er angelegentlichst ein paar Kupferstiche zu betrachten schien, in der That aber seine Augen fest auf die andere Seite des Platzes gerichtet hielt.

Dort befand sich ebenfalls ein eleganter Laden, und ein Strom von Menschen trieb bei ihm vorbei; es war das eine ziemlich wirre Masse von Fußgängern aller Art: Herren in Paletots, Damen in Mänteln, viele Regenschirme und viele Equipagen, die ab und zu fuhren und bald vor diesem, bald vor jenem Gewölbe hielten.

Während der Baron da stand und schaute, änderten sich seine Gesichtszüge in der gleichen Art wie vorhin im Salon des Grafen Fohrbach, nur mit dem Unterschiede, daß jetzt Entschlossenheit weniger vortrat, dagegen eine gespannte Aufmerksamkeit alle Muskeln seines Gesichtes zusammenzog.

Ohne unsere Hilfe wird der geneigte Leser unmöglich errathen, was der Baron so aufmerksam betrachtete, weßhalb wir es für unsere Schuldigkeit halten, diesen Gegenstand näher zu bezeichnen.

Zwischen dem Gewühl der Wagen und Fußgänger bemerken wir einen Bedienten in anständiger Livrée, ohne Regenschirm, den himmlischen Wassern trotzend, der anscheinend vollkommen sorglos und durchaus nicht eilig an den Häusern vorbei schleicht. Jetzt hatte er beide Hände in die Hosentaschen gesteckt, im nächsten Momente zog er sie hervor und legte sie auf dem Rücken zusammen. Dabei blieb er zuweilen einen Augenblick stehen, schaute an den Himmel hinauf und schien Etwas in Ueberlegung zu ziehen, worauf ihn das Resultat dieses Nachdenkens vorwärts trieb, denn er machte ein paar schnelle Schritte, um gleich darauf wieder nachdenkend stehen zu bleiben; endlich pflanzte er sich vor einem der Gewölbe auf, beschaute aber nicht die ausgelegten Waaren, sondern blinzelte nach der Polizeidirektion, die nur noch wenige Schritte vor ihm lag.

[17] Das Alles bemerkte der Baron vor dem Bilderladen und sprach leise zu sich selber: »Wenn der Kerl da einen Auftrag hätte, so würde er sich bei dem scheußlichen Wetter wahrscheinlich beeilen, da er aber auf Etwas zu spekuliren scheint und auf alle Fälle über Etwas nachdenkt, so will mir sein Herumschlendern dort bei dem verdächtigen Gebäude durchaus nicht gefallen. – Passen wir auf.«

Jetzt hatte der Lakai wieder einige Schritte gethan und befand sich an dem großen Eingang der Polizeidirektion. Er blieb hier abermals stehen, betrachtete das Haus von oben bis unten, blickte verstohlen in das Vestibul, las hierauf eifrig die an der Mauer aufgeklebten Anzeigen, dann setzte er einen Fuß auf die unterste Treppenstufe, zog ihn aber wieder zurück und schlich an dem Hause vorüber.

Der Baron athmete tief auf. – Jetzt aber ballte er krampfhaft die rechte Hand, streckte sich hoch empor und sein Auge blitzte; drüben war der Bediente wieder umgekehrt und nach abermaligem Zaudern nun in der Thüre des Polizeidirektions-Gebäudes verschwunden.

Einen Augenblick verharrte der Baron in der eben beschriebenen Stellung, dann biß er die Zähne über einander, nickte mit dem Kopfe und murmelte: »Das war ein glücklicher Zufall!« worauf er in das Kaffeehaus trat, eine Cigarre verlangte, eine Zeitung nahm und sich an die Thüre stellte; anscheinend in das Journal vertieft, blickte er fast jede Sekunde auf den Platz hinaus.

Er mußte nun eine gute halbe Stunde warten, bis der Lakai drüben wieder aus dem Gebäude heraustrat. – »Ich will nun sehen, wie er davon geht,« dachte der Baron, »schleicht er unentschlossen zurück, wie er gekommen, so ist vielleicht Nichts verloren; – wenn nicht – – ah! der Hallunke!« – Dieser Ausruf entfuhr ihm etwas lauter als er es gerade gewollt, da er bemerkte, wie der Bediente drüben förmlich die Treppe hinabstürzte und als werde er gejagt über die Straße dahin flog.

[18] Ein Paar harmlose Zeitungsleser in dem Kaffeehause, die das laute Wort des Barons vernommen, blickten erstaunt in die Höhe, schrieben es aber wohl einem Artikel zu, den der Baron in seinem Journal gelesen, denn dieser bezwang sich augenblicklich und schaute so harmlos in die Spalten, als interessire ihn sonst Nichts auf der ganzen weiten Welt; auch blieb er noch eine gute Viertelstunde an der Thüre stehen, worauf er ruhig von dannen ging und ebenso über den Platz schritt bis zum nächsten Fiakerstand. Dort setzte er sich in einen Wagen, gab dem Kutscher eine Adresse, forderte ihn auf, schnell zu fahren und befand sich kurze Zeit darauf an der Thüre seiner Wohnung.

Da wir später und zu gelegenerer Zeit dem Baron einen Besuch zu machen gedenken, so wollen wir uns jetzt nicht mit einer Beschreibung dieser Wohnung aufhalten, um so weniger, da der Herr des Hauses selbst außerordentlich eilig zu haben scheint. Schon auf der Treppe pfiff er auf eine eigenthümliche Art, worauf ein Bedienter herbeisprang und die Glasthüre aufriß, die in den ersten Stock führte. »Sogleich meinen Wagen!« befahl der Baron, indem er vorüberschritt und sich in sein Ankleidezimmer begab, wo ihn der Kammerdiener erwartete. Kurze Zeit nachher hörte man einen Wagen vorfahren, und als der Bediente die Meldung davon brachte, hatte sich der Baron bereits umgekleidet. Er trug einen eleganten einfachen Morgenanzug, ließ von dem Kammerdiener ein rothes Band in das Knopfloch befestigen, zog einen leichten Paletot an, und eilte ebenso geschwind die Treppen hinab, wie er hinaufgestiegen war.

»Nach der Polizeidirektion!« rief er dem Kutscher zu; das leichte Coupé flog davon und hielt kurze Zeit darauf vor dem uns bekannten Gebäude.

Von dem Gesicht des Barons war unterdessen jede Wolke verschwunden, und ein heiterer Sonnenschein lächelte aus allen seinen Zügen. Er schritt leicht und gewandt die breite Treppe [19] hinauf, die sich oben theilte und links zu den Kanzleien, rechts zu der Wohnung des Präsidenten führte. Die letztere Richtung nahm der Baron, und bei der großen Glasthüre angekommen, zog er ziemlich stark an der Klingel. Ein Bedienter, welcher öffnete, machte eine tiefe Verbeugung und führte ihn in einen eleganten Salon, wo er ihn mit den Worten allein ließ, er werde der gnädigen Frau augenblicklich den Besuch des Herrn Baron melden, und er zweifle auch nicht, daß die gnädige Frau sichtbar sei.

Das war denn auch der Fall; der Baron brauchte nur kurze Zeit zu warten, die er dazu anwandte, sich vor das Bild einer ziemlich hübschen und sehr wohlbeleibten Frau zu stellen, und dort wie in Entzücken versunken stehen zu bleiben. Endlich hörte er eine Thüre öffnen und fuhr mit einem halberschreckten: »Ah!« herum, als er das Original dieses Bildes erblickte, welches sanft lächelte, da es seine Verwirrung bemerkte.

Dieses Original, die Gemahlin des Polizei-Präsidenten, war nicht mehr ganz so hübsch wie das Portrait, wohl aber noch um Einiges beleibter. Sie verwandelte ihr sanftes Lächeln in ein freundliches, als ihr der Baron, den Hut in beiden Händen haltend, verbindlichst näher trat und mit Beziehung auf das Gemälde, bei dessen Anschauung man ihn ertappt hatte, ausrief: »Ah! gnädigste Frau, so oft ich eben das Bild betrachte, hasse ich unsern Künstler immer mehr; – was hätte er daraus machen können! – Ein so lohnendes Werk! – Doch schweigen wir von der Copie, da ich so glücklich bin, dem schönen Original die Hand küssen zu dürfen.« Darauf führte er die dicken Finger der Präsidentin an seinen zierlich zusammengezogenen Mund und ließ sich auf einen Fauteuil nieder, wohin ihm die gnädige Frau dankbarlichst winkte.

»Sie werden gewiß erstaunt sein, daß ich Ihnen schon wieder lästig falle,« sagte der Baron, nachdem er sich auf's Zierlichste gesetzt, mit einem süßen Lächeln; »aber es müssen schon vier Wochen sein, daß Sie die Gnade hatten, mich letztmals zu empfangen.«

[20] »Ei, Baron,« entgegnete lächelnd die Präsidentin, »es sind noch nicht acht Tage.«

»Unmöglich!« entgegnete er erstaunt. »Ich versichere Sie: volle vier Wochen.«

»Es war vergangenen Donnerstag,« beharrte sie freundlich lächelnd, »und heute haben wir Mittwoch, Da Sie meinen Worten nicht zu glauben scheinen, bester Baron, so will ich Auguste rufen lassen, die Ihnen gewiß genau sagen wird, wann Sie da waren.«

Der Baron verstand die zarte Anspielung der Mutter, doch schien ihm offenbar dieses Glück zu groß. Er athmete tief auf, schlug die Augen nieder und betrachtete angelegentlich seine lederfarbenen Handschuhe.

Die Präsidentin klingelte, und da ihre Tochter Auguste ganz zufälligerweise selbst kam, um sich nach ihren Befehlen zu erkundigen, so konnte sie gleich da bleiben, was sie denn auch nicht ohne einige sehr gut an den Tag gelegte Verwirrung that.

Auguste war ein hübsches blondes Mädchen von einigen zwanzig Jahren. – Als Mama ihre Entscheidung über den streitigen Fall von vorhin verlangte, schlug sie sanft die Augen nieder und sagte erröthend: »Sie waren in der That am vergangenen Donnerstag hier, Herr Baron.«

»Und ich dachte, es seien volle vier Wochen,« entgegnete er. – »Wie ist mir die Zeit so lange geworden!« setzte er leiser hinzu, indem er der Mutter eine Sekunde in die Augen sah und alsdann einen verheerenden Streifblick auf die Tochter warf.

Letztere antwortete mit einer vollen Lage aus ihren hübschen blauen Augen und wandte sich darauf scheinbar in Verlegenheit ab, doch manöverirte sie wie ein gut geführtes Kriegsschiff und lud nach dieser Bewegung ihre Geschütze zu einem neuen Angriff.

»So muß ich also doppelt um Verzeihung bitten,« sagte eifrig der Baron, »daß ich Sie heute schon wieder belästige.«

[21] »Ihre Besuche sind uns jeder Zeit angenehm,« versetzte die Mutter.

»Ah!« seufzte der Baron, indem er die Augen öffnete und schloß wie ein vollkommener Geck, »das ist in Ihrem Munde nur ein freundliches Kompliment; aber ich zähle Stunden und Tage, bis mir wieder das Glück zu Theil werden darf, mich nach Ihrer kostbaren Gesundheit erkundigen zu dürfen.«

»Und verzählen sich?« sprach lächelnd Auguste.

»Doch ohne meine Schuld,« antwortete der Baron und machte eine Bewegung, als wolle er die rechte Hand zierlich auf sein Herz legen und mit einem Blick, der deutlich sagte: Kann ich dafür, daß entfernt von Ihnen mir Tage zu Wochen werden? –

Es entstand hier eine kleine liebliche Pause. Der Baron schien in tiefes Nachdenken versunken, aus dem er jetzt aber empor fuhr und hastig sagte: »Aber mein jetziger Besuch, gnädige Frau, ist nicht ganz ohne Grund. Denken Sie sich, wir waren gestern Abend beim Grafen Fohrbach und es kam die Rede auf Ihre letzte Soirée. Natürlicherweise sprachen wir über elegante Toiletten, und darauf behauptete ich, Sie, gnädigste Frau, seien damals in einer veilchenblauen Atlasrobe mit weißen Camelien im Haar erschienen; Graf Fohrbach stritt für eine von Rosafarbe, und ich muß gestehen,« setzte er fast beschämt hinzu, »daß wir darüber eine kleine Wette eingingen. – Nun war ich vorhin drüben in dem Kaffeehause –«

»Gegenüber unserem Hause?« fragte Auguste lächelnd, und wir glauben, daß sie ein wenig erröthete.

»Ja, mein Fräulein,« erwiderte der Baron, indem er abermals die Augen niederschlug, »Ihren – Fenstern gegenüber.«

Worauf ihn wiederholt eine volle Lage ihrer Blicke traf.

Nachdem sich der Baron einigermaßen erholt, nahm er seine Rede wieder auf und lispelte: »Ich war also in dem Kaffeehause. – Ich bin oft dort. – Heute aber erwartete ich mit Ungeduld [22] die schickliche Stunde, um Ihnen meine Aufwartung machen zu können und Ihr Urtheil, unsere Wette betreffend, zu vernehmen. Da sah ich denn, daß mir Graf Fohrbach leider schon zuvorgekommen.«

»Graf Fohrbach?« fragte verwundert die Präsidentin. »Ich weiß Nichts von ihm; du auch wohl nicht, Auguste?« wandte sie sich an ihre Tochter.

»Er war nicht hier,« versicherte diese bestimmt.

»Nicht in Person,« sagte der Baron, setzte aber mit einem fast schmerzlichen Lächeln hinzu: »doch ich bin vielleicht indiskret. – Nein, nein, ich kann mich nicht irren, ich erkannte deutlich die Livrée des Grafen, der wahrscheinlich schriftlich um Ihre Entscheidung bat.«

»Theuerster Baron, da haben Sie falsch gesehen,« lachte die Präsidentin. »Wir Beide wissen von keinem Schreiben des Grafen Fohrbach,« setzte sie hinzu, nachdem sie ihre Tochter mit einem Blicke befragt.

»Es gibt allerdings Momente, wo man trüber als gewöhnlich sieht, zum Beispiel, wenn man zu lange in ein helles Licht geschaut,« versetzte der Baron mit Beziehung und in einem schwärmerischen Tone, »aber diesmal irre ich mich nicht: es war einer der Leute des Grafen, der ungefähr vor einer halben Stunde in Ihr Haus trat. Oh! ich habe die Thüre genau beobachtet.«

»Vielleicht hat der Graf an Papa geschrieben,« meinte Auguste mit einem kalten Blick auf das Nebenzimmer.

»Ich glaube nicht,« sagte die Präsidentin; »und wenn auch, doch gewiß nicht in Ihrer Angelegenheit.«

»Es wäre mir aber sehr interessant,« erwiderte der Baron, »das genau zu erfahren. Sie wissen, gnädigste Frau, wenn man einmal eine Wette eingegangen hat, so überwacht man gern alle Schritte seines Gegners, selbst die unschuldigsten.«

»Leichtsinnige junge Leute!« rief die Präsidentin, indem sie [23] schalkhaft mit dem Finger drohte. – »Wetten da auf die Camelien, die ich im Haar trage,« setzte sie sehr geschmeichelt hinzu.

»Wenn Sie wünschen, will ich Papa fragen,« sagte Auguste.

»Ja, ja,« meinte auch die Präsidentin, »das kann ja gleich geschehen. Laß dem Präsidenten sagen, der Herr Baron von Brand sei da; er wird sich gewiß ein großes Vergnügen daraus machen, auf einen Augenblick herüber zu kommen.«

»Aber wir stören ihn in seinen wichtigsten Amtsgeschäften,« sprach der Baron.

Worauf die Präsidentin sich verbeugend erwiderte: »Für einen Freund des Hauses hat mein Mann immer eine Viertelstunde übrig.«

Auguste ging hinaus, um den Papa zu benachrichtigen, und der Polizei-Präsident machte dem Worte seiner Gemahlin alle Ehre, denn er erschien fast augenblicklich, rieb sich vergnügt die Hände, und freute sich auf's Außerordentlichste, den angenehmen Besuch begrüßen zu dürfen.

23. Kapitel
Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Räubergeschichten.

Der Polizei-Präsident war ein kleiner magerer Mann mit einem ernsten, dürren Gesichte, grauen stechenden Augen und einer langen Nase, mit welcher er sich übrigens viel zu thun machte. Er faßte sie häufig, zog sie bald rechts und bald links, und boshafte Spötter behaupteten, er steure damit seinen ganzen Körper, indem er zuerst immer die Nase gewaltsam in die Richtung brächte, welche [24] er einschlagen wollte. So viel war übrigens gewiß, daß er seine Richtung oft veränderte; stand dieser würdige Beamte aber einmal stille, so drückte er sanft an seiner Nase herum, als wolle er sie sich für künftige Dienste freundlichst geneigt erhalten.

Der Baron war aufgesprungen und machte dem Chef der Polizei ein tiefes, ehrerbietiges Kompliment, dann folgte ein freundschaftlicher Händedruck, dann die Bitte, sich gnädigst niederlassen zu wollen, mit dem Versprechen, es ebenso zu machen, worauf Beide in ihre weichen Fauteuils zurücksanken, der Präsident steif, in aufrechter Haltung, nachdem er zuvor seine Nase sanft befühlt, der Baron elegant, graziös, dabei schlaff und zusammengesunken: jeder Zoll ein vollkommener Roué.

»Ich hatte einen kleinen Streit mit den Damen,« sagte er mit niedergeschlagenen Augen, »den Sie, Herr Präsident, allein im Stande sind zu schlichten.«

»Der Baron behauptet nämlich,« ergriff die Präsidentin lachend das Wort, »der junge Graf Fohrbach habe heute Morgen an uns geschrieben; es betrifft eine Wette, die dich übrigens nicht interessirt. Wir versicherten den Baron, keinen der Leute des Grafen gesehen zu haben, er aber beharrte auf dem Gegentheil und behauptete am Ende, wenn wir Nichts davon wüßten, so habest du ein Schreiben des Grafen Fohrbach erhalten.«

»Von Seiner Excellenz dem Kriegsminister?« sagte nachdenkend der Präsident, indem er seine Nase tief herabzog. – »Habe Nichts von ihm erhalten.«

»Ach Gott! nein,« entgegnete seine Gemahlin, »von dem jungen Grafen, dem Adjutanten Seiner Majestät.«

»Von dem noch viel weniger,« erwiderte der Chef der Polizei. »Worauf gründen Sie Ihre Behauptung, bester Baron?« wandte er sich an diesen, wobei er seine Nase losließ, die nun ein paar Zoll in die Höhe schnellte.

»Auf meine beiden Augen,« erwiderte der Baron; »vor einer [25] halben Stunde sah ich die Livrée des Grafen in dieses Haus treten.«

»Ah! mein Bester, da haben Sie sich gewaltig geirrt,« sagte der Präsident; »es kam in der That ein Bedienter in Livrée in dieses Haus, aber er trug einen dunkelgrünen Rock, während die Leute des Grafen Fohrbach dunkelbraun, fast schwarz tragen.«

»Ah! – ah!« machte der Baron mit verblüfftem Tone, »dann habe ich mich gewaltig geirrt und ich bitte die Damen tausendmal um Verzeihung; dem Grafen Fohrbach habe ich in der That Unrecht gethan. Sprechen wir von was Anderem; wie gesagt, ich bitte inständigst um Verzeihung.«

»Und wer war denn eigentlich bei dir?« fragte die Präsidentin, deren Neugierde erregt war, ihren Mann, der in Nachdenken versunken schien und seine Nase auf der linken Seite kratzte.

»Das ist eine ganz eigenthümliche Geschichte,« antwortete er nach einer Pause, »eine ganz sonderbare Geschichte. – Läßt sich ein Bedienter bei meinem Sekretär melden und dieser bringt ihn zu mir. Wie gesagt, dunkelgrüne Livrée – amarant aufgeputzt und gelbe Knöpfe.«

Der Baron schüttelte nachdenkend und nachsinnend den Kopf. »Dunkelgrüne Livrée,« sagte er, »amarant und goldene Knöpfe. Wissen Sie auch bestimmt, Herr Präsident, daß es dunkelgrün und nicht dunkelbraun war, wie die Leute des Grafen Fohrbach?«

»O pfui, Baron! schämen Sie sich,« versetzte lachend die Präsidentin. »Sind Sie immer noch nicht überzeugt?«

»Vollkommen, meine Gnädigste; aber ich dachte eben darüber nach, welches Haus dunkelgrün mit Amarant und Gold hat, und ich kann nicht darüber in's Klare kommen. – Der Obersthofmeister hat dunkelgrün mit Gelb; der Herzog Alfred dunkelgrün mit Blau; die Herzogin Schwester die gleiche Farbe mit Violett, und das ist Alles. – Es muß das ein ganz obscures Haus sein.«

[26] »Das ist es auch,« erwiderte der Präsident und setzte seine Nase in Freiheit, da er mit der rechten Hand in die Rocktasche griff und daraus ein Papier hervorzog. »Die Livrée,« fuhr er fort, »die auch mir ganz unbekannt war – und das will viel sagen, denn auf der Polizei sind wir so ziemlich von allem Dem unterrichtet – gehört einem Herrn A., einem Privatmann, Rentier – was weiß ich? – kurz einem alten Herrn, der in seinem Hause vor dem E'schen Thore wohnt.«

»Richtig!« rief der Baron, indem er sich an die Stirne klopfte, »wie kann man so vergeßlich sein? Dem alten A. gehört die Livrée, – ganz recht! ganz recht! Nun, mein lieber Herr Präsident,« setzte er mit einem vergnügten Lachen hinzu, »wenn Sie mit dem in Verbindung treten, – denn ich entnehme Ihren Worten, daß Sie ihn noch nicht kennen – so werden Sie die Bekanntschaft eines ganz närrischen und sonderbaren Kautzes machen.«

»Ei, ei!« machte der Chef des Polizeidepartements, indem er ziemlich bedächtig drein schaute.

»Ein ganz eigenthümlicher und sonderbarer Kautz,« fuhr Baron Brand fort; »ein Original.«

»So, ein Original?« fragte lebhaft die Präsidentin. »Das ist mir interessant. Wir sind wohl nie mit ihm in Berührung gekommen?«

»Gewiß nicht, meine Gnädigste,« bemerkte der Baron, nachdem er vorher mit großer Aufmerksamkeit die Glieder seiner goldenen Uhrkette geordnet, die sich etwas verdreht hatten. »Gewiß nicht; es ist das ein Mann hoch in den Sechzigen, der selten aus dem Hause geht, Gesellschaften nie besucht, auch fast gar keinen Umgang hat. Sie werden bei seiner kleinen Villa vor dem E'schen Thor zuweilen vorbei gekommen sein; es ist das ein Gebäude ganz von dem Aussehen einer Festung en miniature, rings herum Gräben, dahinter Mauern, mit Eisen beschlagene Thore, kurz alle Apparate, um sich einen gewaltigen Feind vom Leibe zu halten.«

[27] »Ah! Das ist in der That merkwürdig,« sagte der Präsident. »Und was fürchtet der Mann in einem wohlgeordneten Polizeistaate, bei einer Gesetzgebung, die mit unnachsichtlicher Strenge die Verbrechen aufsucht und bestraft? – Ja, Herr Baron, ich kann Sie versichern: aufsucht und findet. Wollen Sie mir wohl glauben, daß von zwanzig Morden im vergangenen Jahre die betreffenden Thäter eingefangen wurden?«

»Mit dem größten Vergnügen glaube ich das,« erwiderte der Baron mit sanfter Stimme. »Aber als sie die Thäter einfingen, waren die Mordthaten alle geschehen.«

»Allerdings,« sprach der Chef der Polizei mit einiger Entrüstung, »es versteht sich von selbst, daß die Frevelthaten geschehen waren; und das war an sich sehr gut, denn die Polizei muß doch, was das Einfangen anbelangt, in der Uebung bleiben.« Und bei diesen Worten ergriff er abermals seine unglückliche Nase und zog sie tief herab, wobei seine Augen so vergnüglich glänzten, als habe er eben einen Kapitalverbrecher eingefangen. »Ich denke darin wie jener berühmte englische Staatsmann, der, wie Sie wissen, sagte: wenn es im Parlament keine Opposition gäbe, so würde ich mir eine kaufen. – Und wenn es bei uns keine Diebe und Mörder gäbe, so würde ich mir à tout prix welche anschaffen, denn sie sind der Schleifstein, auf welchem der Eifer der Beamten, um mich richterlich auszudrücken, stets scharf und blank erhalten wird.«

»Ah, Papa, das sind ja schreckliche Grundsätze!« meinte Auguste, während sie den Baron von der Seite anblickte.

Dieser erwiderte lächelnd: »O, seien Sie unbesorgt, mein Fräulein, vorderhand braucht Papa dergleichen nicht zu kaufen, es gibt noch genug davon im Lande, und ist auch noch nicht Alles entdeckt, das kann ich Sie versichern; die Polizei hat immer und vollauf zu thun; nicht wahr, Herr Präsident?«

Dieser nickte ernst und bedeutsam mit dem Kopfe, worauf [28] seine Gemahlin sagte: »Aber mit euren Räuber- und Mordgeschichten erfahren wir nimmermehr, welche Art von Original der Herr A. ist! – Baron, seien Sie so artig und erzählen Sie uns das.«

Der Herr von Brand hatte unterdessen durch verschiedene brennende Blicke mit der Tochter des Hauses scharf geplänkelt, und sein Feuer war lebhaft erwidert worden, ja er hatte schon eine kleine Pantomime riskirt, indem er seine rechte Hand sanft auf die Stelle des Herzens legte, worauf sie die Augen niederschlug, fast ein klein wenig erröthete und einen stillen Seufzer mühsam unterdrückte. Man sah das an der heftigen und dann plötzlich unterbrochenen Hebung ihres Busens.

»Ja so!« erwiderte der Baron auf die Frage der Präsidentin, indem er plötzlich aus einem tiefen Traume aufzuwachen schien, »ja so, – richtig – vom Herrn A., Räubergeschichten glaube ich. – Ah! Das hätte ich beinahe rein vergessen.«

»Nein, keine Räubergeschichten, bester Baron,« sagte die Präsidentin mit einem zweifelhaften Lächeln, »Sie wollten von den Seltenheiten dieses Herrn erzählen.«

»Ja, darin kommen auch Räubergeschichten vor,« erwiderte der Baron mit einer graziösen Verbeugung.

»Ei der Tausend!« sprach aufmerksam der Präsident und ließ seine Nase wieder so hastig los, daß sie augenblicklich empor schnellte und zu schnüffeln anfing, als wittere sie arme Sünder.

»Räuber und Mörder,« fuhr Herr von Brand fort, »aber – nur in der Phantasie. Stellen Sie sich nämlich vor, meine Damen, dieser Herr A., ein reicher Kapitalist, kann nun einmal von der Idee nicht loskommen, man laure ihm den ganzen Tag auf, man wolle ihn um's Leben bringen, man wolle sein Geld rauben. Auf jedem Schritte fürchtet er Räuber und Mörder; deßhalb ist sein Haus mit Graben und Mauer umgeben und deßhalb hat dieser arme Mann bei Tag und Nacht keine ruhige [29] Minute, er vertraut Niemand den Schlüssel zum Hof- und Hausthor an; so oft es klingelt, öffnet er selbst, und sowie es anfängt dunkel zu werden, bewaffnet er sich und seine Bedienten und macht drei-bis viermal des Nachts eine förmliche Patrouille durch das ganze Gebäude. Er hat alsdann einen Säbel umgeschnallt, ein paar Pistolen im Gürtel stecken; sein Bedienter trägt ein Gewehr sowie eine Laterne an einer langen Stange, und so ziehen sie denn vom Keller bis hinauf auf den Söller und untersuchen jeden finsteren Winkel, jeden Riegel, jedes Schloß.«

»Ja, ja, – so, so,« machte lächelnd der Präsident; »ich glaube, mir geht ein Licht auf.«

»Es ist auffallend,« fuhr der Baron in gleichmüthigem Tone fort, »wie eine solche Furcht vor Räubern und Mördern ansteckt.«

»Doch Sie nicht?« fragte die Präsidentin.

»O meine gnädige Frau, ich für meine Person wäre beinahe zur Furchtsamkeit geneigt, aber ich kenne das Schalten und Treiben unserer vortrefflichen Polizei und bin deßhalb äußerst ruhig. – Aber nein, ich wollte Ihnen nur sagen, daß ein solches Beispiel der Furchtsamkeit auf sehr merkwürdige Art schwache Charaktere mit ergreifen kann. Als ich nämlich vor zwei Jahren hier war, bekam ich zufällig einen Bedienten, den jener Herr A. entlassen; es war dies ein ganz brauchbarer und tüchtiger Mensch, bis auf seine Furcht vor Räubern und Mördern. Darin hatte ihn das Beispiel seines früheren Herrn so verdorben, daß ich fast einen andern Burschen gebraucht hätte, um jenem bei Tag und Nacht Gesellschaft leisten zu lassen. Sobald es dunkel wurde, scheute er sich, allein über Korridore und Treppen zu gehen. Da er aber, wie gesagt, sonst ein ordentlicher Mensch war, so nahm ich ihn über diese Lächerlichkeiten vor und versuchte es, sie ihm auszureden. – Umsonst! Sein früherer Herr hatte die Phantasie des Burschen systematisch mit Räubergeschichten vollgepfropft, wie man einen Kettenhund, um ihn schärfer zu machen, dadurch [30] reizt, daß man von außen an's Hofthor oder an seine Hütte schlägt.«

»Und er glaubte an diese Räubergeschichten?« fragte sehr aufmerksam der Präsident.

»Vollkommen; in seiner Phantasie existirte eine ganze wohlorganisirte Räuberbande, die sollte ihren Sitz – ich weiß nicht mehr wo – haben, und von der fabelte er mir ein Langes und Breites vor.«

»Ganz dieselbe Geschichte,« sagte der Präsident, wobei er seinem Riechwerkzeuge mehrere zärtliche Nasenstieber gab.

»Ich mußte ihn entlassen,« fuhr Herr von Brand fort, ohne, wie es schien, auf jene Worte zu achten. »Er hätte mir die ganze Dienerschaft angesteckt, ja es war das ganz eigenthümlich, bei diesem Menschen complet zur fixen Idee geworden. Wenn er mit dem Wagen vor irgend einem Laden hielt, so konnte er mir sagen, während er den Schlag öffnete: Sehen Sie, Herr Baron, hier oder dort das schlechte Gesicht; der gehört auch mit dazu.«

»Und ließen Sie sich von ihm nie einen Ort nennen, von dem er glaubte, dort könne die Räuberbande ihren Sitz haben?«

»O ja! – Und darin hatte er eine lebhafte Phantasie; da nannte er mir scheinbar verdächtig aussehende Orte und Winkel, irgend ein einsames Haus in einem stillen Stadtviertel, oder eine halb verfallene Schenke vor den Thoren. Ich weiß das nicht mehr so genau; ich habe die Details vergessen.«

Der Polizeipräsident streckte sich würdevoll in die Höhe, schaute einen Augenblick an die Decke, dann sagte er: »Ja, es ist kein Zweifel: ganz dieselbe confuse Geschichte. – Aber es ist doch höchst merkwürdig.«

Der Baron schien die Worte des Papa's gar nicht zu beachten, sondern beschäftigte sich häufig mit der Tochter, deren Sitz er durch allerhand kleine Manöver mit seinem Fauteuil Zoll um Zoll näher rückte. Bald ließ er einen Handschuh fallen, und um [31] ihn zu erreichen, mußte er seinen kleinen Lehnstuhl ein wenig vorrollen, bald suchte er während des Sprechens ein Gemälde an der Wand aufmerksam zu betrachten, und um das thun zu können, brauchte er nur eine für seine Zwecke entschieden günstige Bewegung zu machen.

»Es scheint wohl heute einmal der Tag der Geschichten zu sein,« sagte neugierig die Präsidentin zu ihrem Gemahl. »Was ist denn das, worauf du anspielst?«

»Dasselbe, was der Baron soeben erzählte,« erwiderte der Beamte, indem er das Papier, welches er vorhin aus der Rocktasche genommen, langsam entfaltete. »Wie schon gesagt, da kommt heute Morgen ein Bedienter zu meinem Sekretär auf die Kanzlei –«

»Ah! der in der Livrée: dunkelgrün, amarant ausgeputzt mit gelben Knöpfen! – Ich vergesse so was nicht: aber Sie müssen mir zu meiner Entschuldigung eingestehen, daß sie der des Grafen Fohrbach auffallend ähnlich sieht. – – Doch verzeihen Sie, Herr Präsident,« unterbrach der Baron sich selbst, »tausendmal bitte ich um Entschuldigung; – Sie wollten eine Mittheilung machen?«

»Allerdings; dieser Bediente also läßt sich bei meinem Sekretär melden, thut anfänglich sehr verlegen und spricht endlich von einer weitverzweigten Räuberbande in hiesiger Stadt.«

»Der Bediente des Herrn A.?« rief lachend der Baron. »Sehen Sie, meine Damen, das ist also in dem Hause noch immer dieselbe Wirthschaft, – eine wahre Manie.«

»Ich muß gestehen«, fuhr der Präsident fort, »daß sowohl mir wie meinem Sekretär diese Angabe eigentlich komisch erschien. – In hiesiger Residenz, wo wir die Zügel des Gesetzes mit Kraft und Umsicht führen, sollte sich eine Bande wohl organisirt und fast unsichtbar aufhalten können! – Lächerlich! – Aber dieser Mensch beharrte so fest und entschieden auf seiner Angabe, wollte uns so genaue Beweise vorlegen, ja machte sich anheischig, uns das Haupt [32] jener Spitzbubenbande in die Hände zu spielen, daß es uns ordentlich stutzig machte.«

»Sehen Sie diese Phantasien!« rief lachend der Baron. »Ja wahrhaftig, man sollte diesem Herrn A. alle Dienerschaft verbieten; er macht aus den armen Teufeln complette Narren.«

»Ja, ich glaube auch, daß es diesem Kerl nicht recht im Kopfe war; er verlangte zweitausend Gulden und dann wollte er uns den Ort, die Zeit der Zusammenkünfte, Alles auf's Bestimmteste angeben; natürlich habe ich darüber nicht zu verfügen, und müßte zuerst an die vorgesetzte Behörde berichten.«

»Was du aber jetzt nicht thun wirst,« sprach ziemlich entrüstet die Präsidentin; »man könnte ja in die Gefahr kommen, sich vollkommen ridicul zu machen.«

Der Präsident zuckte mit den Achseln. »Es wäre wahrhaftig geschehen,« sagte er, »ohne die interessanten Mittheilungen des vortrefflichen Barons; ich war eigentlich von Anfang nicht dafür; die Sache zu beachten, aber mein Sekretär meinte das Gegentheil.«

»Ueberflüssiger Diensteifer der Subalternen!« sprach wegwerfend die Präsidentin.

Der Baron zuckte beistimmend mit den Achseln.

»Er wollte ihn sogar da behalten,« fuhr der Chef der Polizei fort, »ich aber, der die Lächerlichkeit dieser Angabe halb und halb durchschaute, begnügte mich damit, ihn seinen Namen und Wohnort auf dies Papier schreiben zu lassen und schickte ihn seiner Wege, wobei ich ihm anbefahl, er solle morgen wieder kommen.«

»Ohne mich im Geringsten in den Gang Ihrer Geschäfte mischen zu wollen,« sagte der Baron mit einer ehrerbietigen Handbewegung, »muß ich mir doch erlauben, Ihrer Handlungsweise vollkommen beizupflichten. Es würde den alten Mann draußen unsäglich alterirt haben, wenn sein Bedienter so plötzlich verschwunden wäre; es hätte seiner traurigen Phantasie von Räubern und Mördern neue Nahrung gegeben.«

[33] »Das war auch meine Idee,« erwiderte der Präsident, »weßhalb ich glaube, Alles auf's Beste arrangirt zu haben. Hier ist das Papier, lesen Sie, Baron! Kommt der Bursche morgen wieder, so wollen wir ihm allerdings etwas genauer auf den Zahn fühlen, und sollten wir darauf hin uns weiter mit ihm einlassen, so wäre es nur, daß er neue und glaubwürdige Angaben machte.«

»Woran ich sehr zweifle,« antwortete der Baron, während er mit gleichgiltiger Miene das Papier in die Hand nahm. Doch zuckten seine Finger fast unmerklich, als er es nun öffnete. – »Ja, ja,« sagte er, »das ist die ungebildete Handschrift eines Bedienten, und die Adresse auf's Genaueste angegeben, auch beigefügt, auf welche Art man ihn benachrichtigen könne, ohne daß sein Herr Etwas merkt. In der That, ich fürchte auch, der Verstand dieses Burschen hat einigermaßen noth gelitten.«

»Lassen Sie das Papier sehen«, sagte die Präsidentin und streckte die Hand darnach aus.

Der Baron reichte es ihr auf die graziöseste Art, doch folgte sein blitzendes Auge scharf beobachtend allen ihren Bewegungen und seine Zähne preßten sich unwillkürlich aufeinander, als sie das Papier, nachdem sie es gelesen, zusammen knitterte und Miene machte, es in den lodernden Kamin zu werfen.

Der geneigte Leser muß schon unseren Worten glauben, daß dies ein qualvoller Moment für den Herrn von Brand war. Obgleich sein Gesicht die größte Gleichgiltigkeit affektirte, so wagte er doch kaum zu athmen und fühlte sich in die größte Spannung versetzt; glücklicherweise aber hielt Auguste die Hand ihrer Mutter auf, entnahm ihr das Papier und faltete es langsam auseinander, um es ebenfalls zu lesen. Hiebei durfte der Baron ungezwungen ihre kleinen weißen Hände betrachten, die das unglückselige Blatt hielten, sowie dem Lauf ihrer Augen folgen, welche die harten Schriftzüge durchliefen. Nachdem sie gelesen, knitterte sie das Papier ebenfalls zusammen, warf es aber nicht [34] in den Kamin, sondern ließ es achtungslos neben sich auf den Teppich fallen.

Der Baron blickte mit gierigem Auge darauf hin, indem er mit Sehnsucht auf eine glückliche Gelegenheit lauerte, den kleinen Knäuel an sich zu bringen. Doch ließ sich dies nicht leicht ohne Aufsehen thun, er hätte zwischen Vater und Mutter hindurch schlüpfen oder es sich noch einmal zur Ansicht reichen lassen müssen; und dies gab seine Klugheit nicht zu.

Unterdessen hatte sich auch sein Besuch über die gewöhnliche Zeit ausgedehnt und er mußte fürchten, dem Präsidenten beschwerlich zu fallen. Indessen half ihm sein gutes Glück über diese Klippe hinweg.

»Sie werden mir verzeihen,« sagte nämlich der alte Herr, »daß ich Sie verlassen muß, aber meine Geschäfte rufen mich in die Kanzlei. Es ist meine Stunde, wo ich den Rapport der verschiedenen Polizei-Kommissäre empfange; bleiben Sie aber ruhig bei den Damen. Ich glaube nicht, daß ihr etwas Besonderes vorhabt.« – Dabei sah der Chef der Polizei seine Frau an, und der Baron warf auf Auguste einen der glühendsten Blicke, den er aufwenden konnte, worauf Beide wie aus einem Munde sagten, daß sie sich außerordentlich geschmeichelt fühlten, wenn der liebenswürdige Freund des Hauses sie noch einige Zeit so vortrefflich unterhalten wolle wie bisher.

Der Präsident erhob sich ernst und würdevoll, seine Finger glitten von der Nase herab, als er seine Hand dem Baron zum Abschied reichte.

Dieser sprang elastisch in die Höhe, versicherte, er verdanke dem Präsidenten eine angenehme Morgenstunde, werde aber nächstens um dieselbe Zeit wieder kommen, – »wenn es mir nämlich,« setzte er hinzu, »einmal erlaubt wäre, höchst indiskret zu sein.«

Der Präsident sah ihn fragend an.

»Es ist kindisch, was ich da sage,« fuhr der Baron lachend [35] fort. »Aber es würde mich auf's Höchste interessiren, wenn es mir vergönnt wäre, einmal so einem Polizeirapporte beizuwohnen. Da müssen doch ganz merkwürdige und seltsame Dinge zu Tage kommen.«

»Gewiß,« versetzte der Chef der Polizei, »dieser Rapport ist zuweilen sehr interessant; man könnte ganze Romane daraus zusammen stellen. Wenn Sie in der That einmal anwohnen wollen, so soll es mir ein großes Vergnügen machen. – Ich werde Sie alsdann den Beamten,« setzte er lächelnd hinzu, »als einen neuen geheimen Sekretär vorstellen.«

»Zu viel Ehre und Glück für mich, Herr Präsident,« erwiderte der Baron. Doch wenn er auch die Worte an den Papa richtete, so sah er doch dabei die Tochter mit einem innigen Blicke an. – »Aber ich halte Sie beim Wort; nächstens wird sich Ihr geheimer Sekretär bei Ihnen melden.«

»Abgemacht!« sprach der Präsident mit freundlicher Geberde, aber einem ziemlich steifen Kopfnicken und verließ dann den Salon.

24. Kapitel
Vierundzwanzigstes Kapitel.
Papier und Schlüssel.

Der Baron war eine kleine Weile neben seinem Fauteuil stehen geblieben, nun aber wandte er sich geschickt gegen die Kaminecke, wobei er zur Präsidentin gewendet sagte: »Ich weiß wahrhaftig nicht, gnädige Frau, wie es kommt, aber wenn ich einmal in Ihrem Hause bin, so wird es mir schwer, dasselbe zu verlassen; es ist hier Alles so zuthunlich, so heimlich, – gewiß, ich darf nur [36] selten kommen, denn sonst müßte ich befürchten, Ihnen überlästig zu werden.«

Bei diesen Worten hatte er sich mit dem Rücken gegen das Kamin gestellt; vor ihm saß Auguste, zu deren Füßen der kleine Papierknäuel lag. Er hätte ihn mit der Spitze seines Stocks erreichen können.

In diesem Augenblicke trat ein Bedienter ein und meldete eine Frau von B., welche der Präsidentin aufzuwarten wünsche.

»Ah! jetzt muß doch geschieden sein,« sagte seufzend Herr von Brand und schlug die Augen nieder, um sie gleich darauf mit einem unaussprechlichen Ausdruck zu Auguste zu erheben. – Er mußte jenes Papier mit sich fortnehmen, mochte es kosten was es wolle, ja er war schon im Begriff, als letztes Mittel sich ohne Weiteres darnach zu bücken und es aufzuheben, als Auguste bei einer kleinen Wendung des Fauteuils ihren zierlichen Fuß darauf setzte.

Die Präsidentin war rasch aufgestanden, um den neuen Besuch zu empfangen, und sagte zu ihrem Gaste: »Bleiben Sie ja, Baron, bleiben Sie ohne Umstände, ich kann die Damen im Nebenzimmer empfangen, wenn du es nicht vielleicht vorziehst, Auguste, unserem Freunde im Kabinete deine Zeichnungen und Blumen zu zeigen.«

Nun würde der Baron zu jeder andern Zeit sich Nichts daraus gemacht haben, die Zeichnungen und Blumen anzuschauen; aber wenn er in diesem Augenblicke den Salon verließ, so war jenes Papier, jetzt unter dem Fuße des jungen Mädchens, für ihn verloren, weßhalb er um jeden Preis bleiben mußte. – »Wenn mir Fräulein Auguste erlaubt,« sagte er so herzlich und verbindlich als möglich, »und mich für würdig hält, ihre herrlichen Zeichnungen und Blumen zu sehen, so werde ich mir dafür morgen eine eigene Stunde ausbitten. – Sie sehen, wie unbescheiden ich bin, doppelt unbescheiden, da ich, trotzdem sich Ihnen ein neuer Besuch ansagt, [37] doch noch zaudere, Ihren freundlichen Salon zu verlassen. – Aber ich muß wohl.« Dies letzte Wort begleitete er mit einem tiefen Seufzer und warf dabei einen solch schwermüthigen Blick auf das junge Mädchen, daß dieses ordentlich zusammen schrak und ihre Augen auf den Boden herabsenkte.

Die Präsidentin dagegen lächelte äußerst freundlich bei diesen Worten und verließ den Salon, indem sie eifrig sprach: »Ich versichere Sie, Baron, Sie erzeigen mir eine wahre Freundschaft, wenn Sie noch einige Zeit bei uns verweilen; der Besuch daneben wird mich nicht lange aufhalten, ich werde gleich wieder da sein.«

Nachdem sich die Thüre hinter der Präsidentin geschlossen, warf Herr von Brand einen forschenden Blick im Zimmer umher; und er that das auf so auffallende Weise, damit Auguste sehe, er schaue nur um sich, um zu erfahren, ob sie auch wirklich recht allein seien. Dabei dachte er: »Ich habe vielleicht zehn Minuten Zeit, bis Madame zurückkehrt, während derselben muß ich ohne Aufsehen das Papier erobern, koste es mich selbst eine Liebeserklärung.« – Er verließ seinen Platz, setzte sich in den Fauteuil des Papa's und brachte denselben durch eine geschickte Wendung in die Nähe des Kamins, dem Augustens dicht gegenüber.

In dem Gespräch entstand eine kleine verlegene Pause, welche übrigens der Baron dazu benützte, dem jungen Mädchen schwärmerisch in die Augen zu blicken.

Sie erröthete leicht und griff ein Gespräch gewaltsam wieder auf.

»Sie erwähnten vorhin einer Wette,« sagte sie, »ich glaube, es betraf die Farbe der Camelie, welche Mama bei der letzten Soirée in ihrem Haare trug. Sie haben auf Weiß gewettet, Graf Fohrbach auf Rosa; er hat gewonnen: Mama trug allerdings eine Rosacamelie.«

»O ich wußte das, Fräulein Auguste,« erwiderte er und spielte befangen mit dem Knopfe seines Stockes; »ich wußte ganz [38] genau, wer in dem schönen blonden Haar eine weiße Camelie trug. – Ich muß es Ihnen gestehen – es war in dem Augenblick nur der Wunsch, ja das Bedürfniß meines Herzens, von Ihrem Hause, von Ihrer Mutter, von – Ihnen ohne Verdächtigung reden zu können, was mich veranlaßt, jene Wette einzugehen. – Sie, Fräulein Auguste, trugen eine weiße Camelie. Wie könnte ich so etwas vergessen!«

»Es ist wahr,« entgegnete das Mädchen, indem sie die Augen niederschlug, »ich trug eine solche Blume.«

»Und während der letzten Française entfiel derselben ein einziges kleines Blättchen,« fuhr der Baron inniger fort, »das ich – niederfallen sah,« verbesserte er seine Rede, welche dem Blicke nach, von welchem sie begleitet war, hätte heißen müssen: »das ich aufhob und nun, obgleich verwelkt, auf meinem Herzen verwahre.«

Auguste hatte übrigens diesen Blick verstanden und seine Rede richtig ergänzt, denn als sie nun scheu und erröthend zu ihm aufblickte, wurde ihre Brust offenbar von einem kleinen, aber süßen Seufzer geschwellt.

»So angenehm jener Ball Anfangs für mich war,« sagte der Baron nach einer kleinen Pause, »so fühlte ich mich doch im Verlauf desselben – ich kann es nicht läugnen – auf's Schmerzlichste berührt. War es mir doch nur möglich, von Ihnen, theuerstes Fräulein, zwei Walzer, eine Française und eine Mazurka zu erhalten; ach! und ich hatte gehofft, so den ganzen Abend mit Ihnen dahinzufliegen! – Gewiß, Auguste, ich habe da schreckliche Stunden verlebt, und Sie fühlten das nicht einmal. Sie sahen es nicht, wie ich in einer Ecke des Salons stand, wie Ihnen meine Augen folgten, während Sie so froh dahin flogen, Sie ahnten nicht, daß ich etwas Ungeheures darum gegeben hätte, wenn Sie nur ein einziges Mal den Kopf gewandt, wenn Sie mir, dem ferne Stehenden, nur einen einzigen Ihrer süßen Blicke geschenkt hätten.«

[39] Während der Baron diese Worte sprach, beugte er sich vorn über, so daß der Hauch seines Mundes ihre Stirne berührte. Auch faßte er bei den letzten Worten eine ihrer Hände, hob sie sanft empor und drückte sie fest, innig und zu wiederholten Malen an seine Lippen.

Das Mädchen schrak zusammen, ihr Körper zuckte sichtlich, und dabei zog sie den linken Fuß, der bis jetzt auf dem Papier gestanden, zurück, während sie zu gleicher Zeit das erröthende Gesicht gegen den Boden wandte. – Vielleicht um ihre Verlegenheit zu verbergen, vielleicht auch um ihre Hand auf schickliche Art denen des Barons entziehen zu können, beugte sie sich hastig vorn über, ihre Blicke suchten irgend einen Gegenstand, und da sie zufällig vor sich das bewußte Papier erblickte, so bückte sie sich schnell darnach, hob es auf, glättete es auf ihrem Knie und legte es alsdann zu einem langen Streifen zusammen, den sie sich langsam um den Finger wand.

Während dieser bedeutungsvollen Pause hatte indessen Herr von Brand seine Zeit nicht verloren. Er rückte seinen Fauteuil noch etwas näher zu dem Mädchen hin und legte seinen Arm geschickt auf die Lehne des Stuhles, von wo er nur langsam herabzusinken brauchte, um genau die Stelle ihrer feinen Taille zu treffen. Dabei blickte er ihr von unten herauf sanft lächelnd in die Augen, und während er natürlicherweise für seine Kühnheit von vorhin – ihr nämlich die Hand geküßt zu haben – um Verzeihung bat, beging er eine noch weit größere, da sie nicht sogleich eine Antwort gab, indem er seine Hand ihrem Kinne näherte und ihren Kopf ganz leise hob und aufwärts wandte; und er that das mit einem Blicke voll Innigkeit und Liebe. – – Dem konnte das Mädchen nicht widerstehen, weil sie hiezu nicht den festen Willen hatte, doch schlug eine tiefe Röthe auf ihrem Gesicht empor, als sie ihm, doch nur eine Sekunde lang, fest in die glühenden Augen schaute. Aber sein Blick war so feurig, daß er unmöglich zu ertragen war, weßhalb[40] denn auch das Mädchen mit einem leichten Seufzer ihre Augen schloß in der festen Ueberzeugung, es schließe nun auch ihr Leben mit einem süßen Ende oder es geschehe ihr sonst etwas Schreckliches. – Und so war es auch; denn kaum schloßen sich ihre Augen, so fühlte sie den weichen Druck zweier fremden Lippen auf den ihrigen und ein unnennbares Gefühl durchzuckte sie so heiß und stürmisch, daß sie in der That einer halben Ohnmacht nahe war.

Wie schon oben angedeutet, hatte der rechte Arm des jungen Mannes die Lehne des Fauteuils zur gelegenen Zeit verlassen, hatte sich um ihren schlanken Körper gelegt und drückte sie leicht auf die Seite, während seine linke Hand langsam ihre rechte erhob, – dieselbe rechte Hand, um deren Zeigefinger sie das bewußte Papier geschlungen hatte. Als der Baron so diese Hand erhob, that er es gewiß nur in der Absicht, um zuerst die kleinen niedlichen Fingerspitzen zu küssen, und darauf das gleiche Geschäft bei den seinen Grübchen auf den Knöcheln zu versehen. Begreiflicherweise mußte er zu diesem Zwecke den Papierstreifen abwickeln, was er denn auch muthwillig, scherzend that. Auguste, die nun das A des Liebesalphabets glücklich hinter sich hatte, ging, wenn auch mit feuchten Augen gerne durch diesen Scherz auf das B über, ja sie lächelte recht freundlich, als nun der Baron das Papier neckend um jeden einzelnen Finger wickelte, diesen darauf küßte und es dann wieder entfernte. Das war ein recht harmloses Spiel, das auch ziemlich lange fortgesetzt wurde; bald aber verschwand der Streifen gänzlich von der Hand und alsdann begnügte sich der junge Mann nicht mehr damit, daß er die Hand küßte, sondern er wandte sich nun an den Arm und avancirte dort über glattes Gold und kalte Steine hinweg und so weit hinauf, bis undurchdringliches Spitzengewebe und ein anschließender seidener Aermel seinen weiteren Forschungen für diesmal ein Ziel setzten.

Es ist wunderbar, wie ein erster gelungener Kuß im Stande ist, so viele bis dahin unübersteigliche Schranken zu Boden zu [41] werfen, wie er weite Klüfte ausfüllt, die uns bis dahin trennten, wie er eine Vertraulichkeit hervorzuzaubern vermag, an die man bis dahin in seinen kühnsten Träumen nicht gedacht. Das geht im Allgemeinen so und man sah es auch in diesem speziellen Falle; Auguste zog ihre Hand nicht mehr zurück, sondern ließ sie in der des Barons ruhen, auch schloß sie ihre Augen nicht wieder, sondern sah den jungen Mann, der an ihrer Seite saß, zuweilen recht forschend und fest an, warf auch wohl zuweilen einen Blick auf die Thüre des Nebenzimmers, durch welche die Mama verschwunden war.

»Wir haben nun zusammen ein kleines, theures und liebenswürdiges Geheimniß,« sagte der Baron schmeichelnd, indem er ihre Hand an seine nun wirklich brennende Stirne legte. »Bewahren wir es noch für eine kurze Zeit, Auguste, lassen wir es noch eine Weile verborgen vor den Augen der übrigen Welt, uns freuend, daß wir Beide Etwas gemeinschaftlich besitzen, von dem die Uebrigen keine Ahnung haben. O, eine solche Heimlichkeit ist so süß, mein Mädchen; es gibt nichts Seligeres, als so im Gewühle der Welt scheinbar fremd an einander vorbei zu streifen, wo doch ein Blick, ein leiser Druck der Hand, ein verstandenes Wort deutlich spricht und vollständige kleine, liebe, heimliche Geschichten erzählt, während wir öffentlich einem langweiligen Gespräch zu lauschen scheinen.«

»Gewiß, gewiß,« versetzte Auguste, »ich freue mich darauf.«

»Und jetzt brauche ich nicht mehr mit tiefem Weh im Herzen von ferne zu stehen, wenn du im Arme anderer Tänzer an mir vorüberfliegst, mein süßes Kind. Ja, ich werde sogar glücklich sein, wenn sie dir schön thun, wenn ich sehe, daß sie in deiner Gunst Fort schritte zu machen scheinen, während ich doch weiß, daß die – mir Glücklichem ganz allein gehört. – Und dann wirst du auch zuweilen den Kopf nach mir wenden, wirst mir einen kleinen, kleinen Blick schenken. Nicht wahr, meine liebe, süße Auguste?«

[42] »Ja, ich werde das thun und werde es gern thun,« entgegnete das Mädchen. Und dabei senkte sie ihren Kopf etwas auf die Seite, wodurch es ihm möglich gemacht wurde, sie leicht auf die Stirne zu küssen.

Der Baron hatte noch immer ihre Hand mit der seinen gefaßt, und beide ruhten auf ihrem Schooße auf der kühlen Fläche des glatten Atlaß, womit sie bekleidet war. An dem Gürtel trug das Mädchen eine Chateleine von polirtem Eisen, deren Ende mit den vielen bekannten Kleinigkeiten versehen auf ihrem Knie ruhte. Zuweilen ließ der Baron ihre Hand los und faßte die glänzenden Kettchen an, die er leicht aufhob, um dann ein paar Sekunden lang mit dem Fingerhut, der Scheere, dem kleinen Büchlein und anderen Sachen, die daran hingen, zu spielen.

Nach Augenblicken, wie der vorhergegangene, ist es angenehm, sinnend und betrachtend stillschweigen zu dürfen, oder Fragen über gleichgiltige Dinge zu stellen, die aber, in einem gewissen unbeschreiblichen Tone gestellt, liebenswürdig neckend und mit zärtlichem Ausdrucke der Stimme beantwortet werden.

»Ah!« sagte der Baron nach einer Pause, »was ist das für ein Schlüssel? – Aber gestehen Sie mir die Wahrheit, Auguste; er ist zu groß, als daß er zu irgend einem Necessaire oder Kästchen einer jungen Dame gehören könnte.«

»Das ist mein Geheimniß,« entgegnete sie schalkhaft, »und ich werde es Ihnen unter keiner Bedingung anvertrauen.«

»Jetzt gerade verlange ich es zu wissen. Sie haben meine Neugierde erregt und die muß befriedigt werden. – Nehmen Sie sich in Acht, Auguste,« setzte er sie zärtlich anblickend hinzu, »ich bin eifersüchtig wie Othello. Und bei diesem außergewöhnlichen Schlüssel erwacht begreiflicherweise mein Argwohn.«

»O Tyrann, der Sie sind! Vorhin haben Sie kaum gewagt, zu bitten, jetzt wollen Sie schon verlangen. – Nein, nein! Die Bestimmung dieses Schlüssels sage ich Ihnen nicht, denn ich will [43] Ihnen nur gestehen, das könnte wahrhaftig Ihren Argwohn erregen.«

»Ah! kleine Verrätherin!« entgegnete der Baron neckend. »Sie sind noch so jung und tragen schon verdächtige Schlüssel bei sich. Aber es ist meine Pflicht, für Ihr Bestes zu wachen, und somit lege ich feierlich auf diesen Schlüssel Beschlag und nehme ihn an mich; denn das ist eine Waffe, die in Ihrer unerfahrenen Hand gefährlich werden könnte.«

»Aber er hält fest an mir,« erwiderte lachend das Mädchen, als sie sah, daß er vergebliche Bemühungen machte, den Schlüssel von dem Stahlringe zu trennen. Es war dies übrigens ein gefährliches Spiel auf ihrem Knie und der junge Mann beeilte sich auch nicht, an der ihm wohl bekannten verborgenen Feder zu drücken, welche den Ring öffnete. Endlich that er dies doch und der Schlüssel fiel in seine Hand.

»Sehen Sie,« sprach er, indem er denselben triumphirend in die Höhe hob, »hier wäre das Instrument, das ich, wie schon gesagt, verpflichtet bin, zu mir zu nehmen. Seien Sie aber jetzt ein artiges Kind und sagen Sie mir, welche Thüre dieser Schlüssel aufmacht.«

»Ich sage es nicht,« entgegnete sie kopfschüttelnd; »gewiß nicht. Den Raub kann ich nicht hindern, doch soll er ein Räthsel in Ihrer Hand bleiben.«

»Aber wenn ich dich herzlich um die Auflösung bitte, mein süßes, süßes Mädchen?« sagte der Baron schmeichelnd, indem er ihre Hand ergriff und sie abermals an seine Lippen führte. – »Vertrau es mir an, es ist das ein kleines, angenehmes Geheimniß mehr.«

»Nein, nein!« versetzte Auguste eifrig. Und dabei suchte sie den Schlüssel zu fangen, den er neckisch in die Höhe hielt. »Nein, nein, ich werde es nicht sagen; deßhalb geben Sie mir ihn nur wieder, denn was nützt er Sie, da Sie seine Bestimmung doch nicht wissen?«

»O ich werde sie erfahren,« entgegnete er heiter und vergnügt, [44] »ich werde mich nächtlicher Weise einschleichen wie ein Dieb, ich werde sämmtliche Schlösser deines Hauses untersuchen, bis ich weiß, wo das rechte ist.«

»Dazu wären Sie wahrhaftig im Stande,« sagte das junge Mädchen mit einem seltsamen Blicke; »weiß Gott, ich traue Ihnen so Etwas zu. Und das wäre ja ein wahres Unglück.«

»So beuge diesem Unglücke vor und sage die Wahrheit, – die kleine, süße, angenehme Wahrheit.«

»Und wenn ich es thue, erhalte ich meinen Schlüssel wieder?«

»Wir wollen sehen.«

»Nein, nein, von: ›Wir wollen sehen,‹ darf keine Rede sein; ein einfaches Ja oder Nein! – Bekomme ich alsdann meinen Schlüssel wieder?«

»Wenn er nichts Gefährliches verschließt, ja.«

»Keine Bedingungen; darauf lasse ich mich gar nicht ein. Ich sage Ihnen, zu welcher Thüre der Schlüssel paßt, und Sie geben ihn mir zurück. Gehen Sie das ein?«

Der Baron zuckte lächelnd die Achseln, dann sagte er: »Sie sind grausam, Auguste; aber was kann ich machen? Sie haben mich in der Hand. – Doch ich will Ihnen noch einen andern Vorschlag machen: Sie sagen mir die Bestimmung dieses Schlüssels, darauf gebe ich Ihnen denselben zurück und dann erlauben Sie mir, Sie nach Umständen wieder darum zu bitten.«

Das Mädchen zauderte, eine Antwort zu geben, endlich aber sprach sie: »Das ist eine gefährliche Bedingung; wenn Sie sich auf's Bitten legen, da weiß ich am Ende nicht, was ich machen soll. Nein, nein, es ist mir zu gefährlich.«

»Aber Sie können mir ja meine Bitten abschlagen,« erwiderte er so innig und zärtlich als möglich.

»Und wenn ich nun nicht im Stande wäre, Ihnen diese Bitte abzuschlagen?« sagte das Mädchen nach einer kleinen Pause mit unsicherer Stimme.

[45] »O, dann wäre ich ja doppelt glücklich!« rief der Baron, indem er sie leidenschaftlich an sich drückte und ihre Lippen suchte, deren Auffinden sie ihm gerade nicht besonders schwer machte. – »Doppeltes, seliges Glück! – – Hier ist der Schlüssel,« sagte er nach einer längeren Pause; »darf ich nun wissen, was er verschließt?«

»Gewiß, obgleich wir eigentlich viel Lärmen um Nichts gespielt haben. Sie kennen ja unseren Garten hinter dem Hause; am Ende desselben befindet sich ein kleiner Pavillon, von dem eine Thüre auf die Straße führt. Diese Thüre nun –«

»Oeffnet dieser Schlüssel!« rief der Baron hastig. »Ah! meine geliebte Auguste, jetzt bitte ich Sie doppelt, zehnmal, tausendmal darum. – Nicht wahr, Sie sagten ja vorhin, Sie können mir Nichts abschlagen?«

Das Mädchen nickte mit dem Kopfe und reichte stillschweigend den Schlüssel wieder zurück, den er eifrig ergriff, zu gleicher Zeit aber faßte er auch ihre Hand, die er, sowie den vollen weißen Arm, mit unzähligen heißen Küssen bedeckte.

In diesem Augenblicke mußte der Besuch im Nebenzimmer entlassen worden sein. Die Präsidentin, eine kluge, verständige Frau und gewiß auf's Innigste besorgt für das Wohl ihrer einzigen und heirathsfähigen Tochter, hustete laut und vernehmlich, ehe sie die Thüre zum Salon öffnete. Gewandt rückte der Baron seinen Fauteuil zurück, ehe die Mutter eintrat, und gewandt griff das junge Mädchen ein plötzlich hingeworfenes Gesprächsthema auf, in das nun die Beiden so vertieft schienen, daß sie den Eintritt der Präsidentin gar nicht bemerkten und laut hinaus lachten über die köstliche Geschichte der Frau von A., die neulich Abends nach dem Theater zufälligerweise in ein ganz fremdes Coupé gestiegen sei.

Auf einmal aber bemerkte der Baron die Mutter, sprang nun leicht und graziös in die Höhe, indem er versicherte, jetzt müsse alle Geduld erschöpft sein und er habe die Damen mehr gelangweilt, als bei der größten Freundlichkeit zu verantworten sei.

[46] Umsonst versicherte die Präsidentin, die Unterhaltung des werthen Gastes werde ihr eine wahre Erholung sein nach der Fatigue des eben gehabten Besuches. Der Baron war nicht zu halten, obgleich ein langer und schmerzlicher Blick auf Auguste dieser deutlich zu verstehen gab, wie schwer es ihm sei, sich jetzt loszureißen. Darauf küßte er die Hand der Mutter flüchtig, die der Tochter mit einer wahren Inbrunst und verschwand leicht und gewandt aus dem Salon.

Auf der Treppe athmete der Baron tief auf, schaute einen Augenblick wie forschend um sich her, sprang dann flüchtig die Stufen hinab und warf sich in seinen Wagen, nachdem er dem Kutscher zugerufen: »Nach Hause!«

Die Pferde zogen an, das leichte Coupé flog dahin, und der junge Mann griff mit einem seltsamen Blicke des Triumphes in seine Brusttasche, wo er das bewußte Papier und den Schlüssel verwahrte. »Das ist viel auf einmal,« sprach er laut zu sich selbst, während sein Auge blitzte, »dieses für mich so kostbare Blatt, unbezahlbar nach dem, was ich über den Schreiber desselben erfahren, und dann ein Schlüssel, um ungehindert zu jeder Zeit in den Gartenpavillon des Polizeipräsidenten gelangen zu können. – Glück, du warst mir günstig! – Aber das arme Mädchen droben! – Ah! es war ein trauriges Mittel zum traurigen Zweck. Sie ist schön und gut, auch noch ziemlich unerfahren. – Arme – arme Auguste!« – An diese letzten Worte, die der junge Mann noch ziemlich heiter aus sprach, mußten sich plötzlich ernste, finstere Gedanken reihen, Gedanken, die ihm in kurzer Zeit furchtbar wurden, denn das Auge verlor fast mit einem Male seinen Glanz und stierte matt mit schrecklichem Ausdruck in die Ecke des Wagens, und der Kopf sank auf die Brust herab, während er die Unterlippe heftig zwischen die Zähne klemmte. Darauf wurde sein Gesicht aschfarben und fahl, und nach und nach trat ihm ein kalter Schweiß auf die Stirne. Man hätte glauben sollen, es habe ihn ein heftiger Krampf befallen, der sein Herz stille stehen ließ und [47] seine Glieder löste; willenlos sank er in sich zusammen, und wenn er sich nicht zuweilen aufgerafft hätte und tief seufzend mit der Hand über die Stirne gefahren wäre, um einen Augenblick auf die Straße zu schauen, hätte man meinen können, auf dem weichen Kissen liege ein schwer Erkrankter – ein Sterbender. Ja, wer ihn vor einigen Minuten am Hause des Präsidenten so leicht und gewandt in den Wagen springen und dann bei seiner Wohnung hätte aussteigen sehen, würde darauf geschworen haben, das sei nicht derselbe Mensch: dieser hier, welcher langsam die Treppen hinauf schlich, sei mindestens um zehn Jahre älter als jener, der dort die Stufen so flüchtig hinabgesprungen.

Wir können aber dem geneigten Leser nicht verschweigen, daß der Baron Brand zuweilen solche fürchterliche Augenblicke hatte, wo ihn ein entsetzliches Seelenleiden befiel und dahin warf, wie Jemand, den eine tödtliche Krankheit erfaßt. Sein alter Kammerdiener kannte diesen Zustand, und er führte alsdann seinen Herrn langsam zu einem weichen Fauteuil, mischte ihm ein niederschlagendes Pulver, verdüsterte das Zimmer, indem er die Vorhänge zuzog, und überließ ihn dann seinen finsteren Träumereien.

So geschah auch heute, und dann schlich der Kammerdiener leise auf den Zehen gehend zum Zimmer hinaus und trat in das anstoßende Gemach, wo er einen großen Schrank von geschnitztem Eichenholze sorgfältig abschloß und den Schlüssel zu sich steckte.

In diesem Schranke aber befanden sich die Pistolen und sonstigen Waffen des Barons.

25. Kapitel
[48] Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Das Siegel des Herrn von Brand.

Der Maler Arthur Erichsen hatte unterdessen in dem Arbeitszimmer des Grafen Fohrbach das Aquarell beendigt, von dem Zeichenbrette herabgeschnitten, auf einen großen weißen Carton befestigt, und dann neben dem Original im günstigsten Lichte aufgestellt. Hierauf nahm er das Billet, welches neben ihm lag, betrachtete einen Augenblick das Siegel und las die Adresse:

»An Madame Becker, Kanalstraße Nr. 8.«

»Kanalstraße Nr. 8,« sagte Arthur, »das muß in einem der sehr alten Häuser sein mit den langen unheimlichen Gängen. Nun, es bringt mich nicht gerade übermäßig weit von meinem Wege ab, und da dem Grafen viel daran gelegen zu sein scheint, daß der Brief bald besorgt wird, so will ich den Gang selbst unternehmen. Ich treibe mich überdies gern in so einem alten Gebäude herum.«

Arthur steckte das Billet in die Tasche und ging durch den Salon in's Vorzimmer, wo er seinen Ueberrock fand, und wo der alte Kammerdiener neben einem Lehnstuhle stand und mit dem bisherigen Jäger des Grafen verkehrte. Dieser schien sich mit Mühe aufrecht zu halten, während seine Finger krampfhaft mit den glänzenden Knöpfen seiner Uniform spielten, und während sein Gesicht erschrocken und bleich aus dem schwarzen Bart hervorleuchtete.

»Das ist hart, Herr Kammerdiener,« hörte ihn Arthur sagen, »wenn man so plötzlich fortgeschickt wird. Sie haben gut reden von einem Zeugnisse; alle Welt kennt den Herrn Grafen Fohrbach und weiß, daß er nicht leicht Jemand wegschicke. Da werden alle[49] Herrschaften die Achseln zucken und Wunder meinen, was ich begangen hätte. – Und was habe ich denn begangen? – Ich weiß es nicht und Sie sagen es ja nicht.«

»Von einem Vergehen wird ja auch nicht gesprochen,« antwortete der alte Mann, indem er seine Blicke auf die Schnupftabaksdose, die er in der Hand hielt, heftete. »Der Herr ist einmal der Herr, und wenn ihm unsere Nase nicht mehr gefällt, so hat er das Recht, uns aus dem Dienst zu schicken.«

»Und vielleicht für Zeit Lebens unglücklich zu machen! – O! das ist ja entsetzlich! Ich habe meinen Dienst gethan, wie Jeder, das müssen Sie mir bezeugen; ich war der Erste und der Letzte auf dem Platze, denn ich hoffte hier ein dauerndes Brod zu finden. – Haben Sie mir je ein böses Wort gesagt, Herr Kammerdiener? – Gewiß nicht! Ich nahm mich zusammen, denn ich dachte an Weib und Kind. Bei Unsereinem geht es bitter zu, wenn man eine Zeit lang keine Condition hat. – Was werden sie daheim sagen, wenn ich so plötzlich fortgeschickt bin!«

Der Kammerdiener zuckte die Achseln und entgegnete: »Ich kann darin Nichts machen; der Herr Graf haben befohlen und ich darf der Sache nicht einmal mehr erwähnen. Doch will ich Ihnen im Vertrauen einen guten Rath geben; daß er hilft, glaube ich kaum: Wenden Sie sich an einen der Freunde des Herrn, daß er ein gutes Wort für Sie bei dem Grafen einlegt.«

Das war ein sogenannter Kanzleitrost und als solchen schien ihn auch der verabschiedete Jäger aufzunehmen. Er seufzte tief auf, fuhr sich mit der Hand über die Augen und ging in sein Zimmer. Dort legte er wahrscheinlich seine glänzende Uniform ab, zog einen ärmlichen Rock an und ging nach seiner Wohnung, wo er der Frau und vier Kindern, die um eine Schüssel mit Kartoffeln saßen, die Kunde von seiner unverhofften Entlassung zum Nachtisch brachte.

Arthur ging unangenehm erregt seines Weges und nahm an [50] der nächsten Ecke eine Droschke, die ihn in kurzer Zeit nach der Kanalstraße brachte.

Hier stieg er aus und schritt über den öden Hof, den wir dem geneigten Leser in einem der vorigen Kapitel geschildert, nach dem Hintergebäude mit der steinernen Wendeltreppe; diese stieg er hinauf und befand sich nun in einem der langen Gänge, wo er ungewiß war, an welche Thüre er klopfen sollte. Der Zufall führte ihn übrigens ziemlich glücklich, denn nachdem er zwei Thüren vergeblich geöffnet und in zwei Zimmer geblickt, aus denen ihm eine warme, unangenehme Atmosphäre entgegen drang, wo er zerlumpte und schlecht genährte Kinder auf dem Boden sitzen und scheltende, schmierige Weiber am Kochfeuer stehen sah, welche ihn ziemlich unfreundlich hinaus wiesen, kam er endlich an die Wohnung, die er suchte. Es war die dritte Thüre, an welche er klopfte; von innen rief man »Herein!« und als Arthur in das Gemach trat, sah er am Fenster eine Frau stehen, die ihm augenblicklich ein paar Schritte entgegen kam, und, wohl in Folge seines feinen und eleganten Anzugs, einen tiefen Knix machte.

»Ich suche Madame Becker.«

»Ihnen aufzuwarten habe ich die Ehre vor Ihnen zu stehen,« entgegnete die Frau mit ihrem besten Lächeln, worauf sie abermals knixte und den jungen Mann mit einer Handbewegung bat, auf dem Sopha Platz zu nehmen.

Arthur lehnte das aber ab, indem er entgegnete: »Ich danke Ihnen recht sehr; unser Geschäft ist bald abgemacht.«

»Sie sind an mich empfohlen?« fragte verschmitzt lächelnd die Frau.

»Das eigentlich nicht,« versetzte Arthur. »Ich komme nur im Auftrage eines Bekannten, des Grafen Fohrbach.«

»Ah! des Herrn Grafen!« sagte die Frau doppelt freundlich. Doch zog sie gleich darauf ihren Mund lächelnd in die Breite, die Augenbrauen in die Höhe, schüttelte bedächtig den Kopf und meinte [51] »der Name des Herrn Grafen ist eine der besten Empfehlungen, – ein charmanter junger Herr! liebenswürdig und gutmüthig; aber schwer, schwer im Umgang, das kann ich Sie versichern. Und doch war er nie unzufrieden mit mir. – Nun, wir wollen schon sehen. Bitte recht sehr, gefälligst einen Augenblick Platz zu nehmen.«

Den Maler interessirte das Gesicht der Frau; er schaute sie mit einem prüfenden Blicke an und studirte offenbar in diesen seltsamen Zügen, die Verschlagenheit, Gutmüthigkeit, List neben anderen gewiß recht schlimmen Leidenschaften ausdrückten. – Er zog das Billet aus der Tasche hervor, um es Madame Becker darzureichen.

»Ah! noch eine schriftliche Empfehlung!« sagte diese; »das wäre vollkommen unnöthig gewesen, der Herr empfehlen sich schon hinlänglich durch Ihr angenehmes Aeußere, und da ich durch den Namen des Herrn Grafen sicher bin, auf alle Verschwiegenheit rechnen zu können, so bitte ich nur frei heraus zu sagen, womit ich dienen soll.«

»Und womit können Sie mir eigentlich dienen?« fragte lächelnd Arthur, den diese sonderbare Unterhaltung zu interessiren begann.

»Ah! das ist eine seltsame Frage,« entgegnete Madame Becker, während sie ihren Mund spitzte und den Versuch machte, schelmisch auszusehen. »Ich erwarte nur Ihre Befehle, wie es Ihnen der Herr Graf auch wohl gesagt haben wird. Anbieten kann ich Ihnen Nichts, das werden Sie natürlicherweise bei mir voraussetzen; aber die ganze Stadt kenne ich wie meine Tasche, und wenn Sie mir einen Namen nennen, Straße, Haus und Nummer, so erfahren Sie in wenig Tagen, ob ein Besuch möglich oder unmöglich ist.«

»Ah so!« versetzte Arthur laut lachend. »Vorderhand ist es mir nicht möglich, Ihnen irgend dergleichen anzugeben, da ich selbst darüber noch im Unklaren bin.«

»Das thut auch Nichts,« antwortete wichtig die Frau, indem sie die rechte Hand auf die Hüfte legte und mit dem Zeigefinger [52] der linken den jungen Mann vertraulich auf den Arm stieß. »Wir kennen unser Geschäft. Eine Beschreibung der Person, eine Straße, wo sie meistens gesehen wird, ein Haus, in das sie häufig geht, das ist Alles, und dann verlassen Sie sich auf Madame Becker; es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn wir in acht Tagen nicht wüßten, woran wir sind.«

»Nun, ich will mir das merken,« sprach immer noch lachend der Maler; »aber vorderhand bin ich nur bei Ihnen, um diesen Brief zu übergeben.«

»Richtig, den Brief!« entgegnete die Frau. »Das hätten wir bald vergessen. Nehmen Sie einstweilen Platz; ich will meine Brille holen. In die Ferne sehe ich natürlicherweise wie ein Falke, aber mit dem Geschriebenen geht's nicht mehr so leicht. Und dann haben der Herr Graf eine feine, kaum leserliche Hand wie ein Frauenzimmer.«

Mit diesen Worten eilte sie in's Nebenzimmer und Arthur ließ sich auf dem Sopha nieder.

Gleich darauf kam Madame Becker zurück, setzte sich neben den Maler und nahm aus einem Futteral eine Brille, die sie mit großer Bedächtigkeit auf ihrer Nase befestigte. Dann nahm sie den Brief in die Hand und sagte: »Gewiß, gewiß, lieber Herr, mit Seiner Gnaden, dem Grafen Fohrbach, ist es eigentlich schwer Geschäfte zu machen. Das werden Sie wohl einsehen; es ist nicht Alles möglich auf dieser Welt, und meistens ist er auf das Unmögliche versessen. – Nun, wir wollen sehen!«

Damit brachte sie das Billet dicht an die Augengläser, las die Adresse, nickte mit dem Kopfe und wandte alsdann das Schreiben auf die andere Seite, um als eine kluge Frau auch das Siegel zu betrachten. Doch kaum hatte sie einen Blick auf die arabischen Buchstaben desselben geworfen, so fuhr sie erschrocken zurück, ließ Hand und Brief abermals sinken und betrachtete den neben ihr sitzenden jungen Mann mit einem Ausdrucke der höchsten [53] Ueberraschung, ja eines unverkennbaren Schreckens, von oben bis unten.

»Der Brief ist von dem Herrn Grafen Fohrbach?« fragte sie nach einer Pause.

»Allerdings; ich dachte mir, Sie kennten ja die Handschrift,« entgegnete Arthur, dem das plötzliche ängstliche Wesen der Frau auffiel.

»Die Handschrift wohl – aber das Siegel? Haben der Herr Graf diesen Brief wohl selbst gesiegelt?«

»Ohne Zweifel; ich glaube nicht, daß er ähnliche Schreiben von Anderen siegeln läßt.«

»Sehen wir, sehen wir!« sprach eifrig Madame Becker, indem sie das Couvert hastig abriß. »Wenn er nur was Mögliches verlangt! Heiliger Pancratius! wenn er nur was Mögliches verlangt!«

Sie entfaltete das Schreiben, zog die Augenbrauen in die Höhe, und während sie las, ließ sie ihre Unterlippe schlaff herabhängen. Nachdem sie geendigt, schüttelte sie bedeutsam den Kopf und stieß einen tiefen Seufzer aus. – »Sie sind natürlich der Vertraute des Herrn Grafen,« sagte sie und blickte den jungen Mann lauernd an; »Sie wissen wahrscheinlich, was in dem Brief steht?«

»Nein, nein, ich weiß es nicht!« entgegnete Arthur hastig, dem das sonderbare Wesen der Frau im höchsten Grade auffiel. – »Ich weiß es nicht und verlange es auch nicht zu wissen. Meinen Auftrag habe ich erfüllt: der Brief ist in Ihrer Hand und ich bin fertig.« Damit stand er auf.

Gegen alle Regeln der Höflichkeit, die Madame Becker sonst gewissenhaft gegen ihre Kunden, wozu sie auch im Geiste schon den jungen Mann rechnete, beobachtete, blieb sie nachdenkend auf dem Sopha sitzen, legte die Hände in den Schooß und starrte träumerisch vor sich hin. »Das wird rein unmöglich sein,« murmelte sie. [54] – »Aber das Siegel! – Wie kommt das Siegel dahin? Das scheint mir ein gemessener Befehl zu sein. – Nun, ich muß Alles versuchen, helf' was helfen mag!« Sie seufzte abermals tief auf, schien dann plötzlich aus ihrem Nachsinnen zu erwachen und sprang eilig vom Sopha in die Höhe, als sie sah, daß sich der junge Mann der Thüre bereits genähert hatte. Sie zupfte an ihrer Haube, ihre Züge nahmen das uns bekannte Lächeln an, dann rieb sie sich die Hände und sagte: »Wenn Sie den Herrn Grafen sehen und etwas sagen wollen, so bitte ich ihm zu vermerken –«

»Geben Sie mir keine Kommissionen, Madame,« antwortete Arthur. »Verstehen Sie mich gar nicht falsch: ich sollte nichts als Ihnen diesen Brief übergeben, kann daher auch durchaus keine Antwort über nehmen. – Ich wünsche recht guten Morgen!«

»So habe ich denn die Ehre, mich Ihnen bestens zu empfehlen,« erwiderte die Frau mit einem tiefen Knix. »Bitte, vergessen Sie vorkommenden Falls meine Wohnung nicht und wenden sich alsdann an Ihre unterthänigste Dienerin!«

Die Thüre schloß sich hinter dem Maler, Madame Becker öffnete sie nochmals, um Höflichkeits halber auf den Gang hinaus zu grinsen, dann zog sie sich in ihr Zimmer zurück, nahm hastig das Couvert von dem Sopha und eilte an's Fenster, wo sie wiederholt das Siegel genau betrachtete. – »Es ist kein Zweifel,« murmelte sie, »es ist sein Petschaft, er muß ihn kennen. – Oh je! oh je! Das wirkt freilich mehr, als wenn er mir fünfhundert Gulden versprochen hätte. Also er schreibt: Sie wohnt Balkenstraße Nr. 40 über vier Treppen, ihr Vater ist, wie ich höre, ein armer Schriftsteller, und das Mädchen müssen Sie kennen, sie heißt Clara Staiger und ist Tänzerin am Hoftheater. Thun Sie alle Ihre Schritte, beste Madame Becker, es kommt mir diesmal nicht auf die glänzendste Belohnung an. – – Der braucht mir da wohl Name und Wohnung anzugeben! kenne sie wohl mit ihrem Trotz und Hochmuth, kenn' die ganze Bagage, den alten Simpel, [55] ihren Vater, und weiß wohl, was ich da zu erwarten habe. – Ei, Herr Graf, da haben wir schon mehrere Mal angebohrt und schöne Antworten bekommen. Der Teufel auch! Das ist eine saubere Kommission! – Wenn nur das Siegel nicht auf dem Briefe stände! – Aber da muß schon ein Uebriges geschehen. Wir wollen das überlegen; ich darf gar nicht mehr in das Haus hinein. Ich glaube, der Alte macht' einen Höllenlärm und hetzt mir sämmtliche Miethsleute auf den Hals. – Wir wollen doch einmal sehen, ob da Niemand aus- und eingezogen ist. Ich habe mich um den Fratz lange nicht mehr bekümmert.«

Bei diesen Worten holte sie aus einem alten Schreibtische ein Buch hervor – es war ein Wegweiser der Residenz und – blätterte eifrig darin. – »Balkenstraße Nr. 36 – 38 – 40. Da ist's! – Ah! ah! Unten wie früher, Belletage und zweiter Stock ebenfalls; dritter Stock: Steuerinspektor Weiß – kenne ich nicht! – vierter Stock: Schriftsteller Staiger, Clara Staiger, Tänzerin. – Aha!« fuhr sie lächelnd fort, »da hat's eine Aenderung gegeben. – Schön! schön! die Frau Wundel ist eingezogen. Na, das gibt einen Anhaltspunkt. – Und wohnt Thür an Thür mit dem hochnasigen Balletmädchen. Die Wundel gehört zu meiner Bekanntschaft, und wenn man der ein paar Kronenthaler verspricht, so läuft sie für einen durch's Feuer.«

Hierauf schlug Madame Becker das Buch zu und nahm bedächtlich und sichtlich erheitert eine Prise. –

Kopfschüttelnd verließ Arthur das alte Haus, stieg nachdenkend die Wendeltreppe wieder hinab und suchte seine Droschke auf, die er in einer Nebenstraße wartend fand; er stieg hinein und fuhr fort. Wenn er auch als junger Mann von großem Vermögen, als lustiger Gesellschafter seiner vornehmen Freunde, sowie als Maler in mancherlei Verhältnisse des geheimnißvollen Lebens der großen Stadt, die er bewohnte, eingeweiht war, so hatte er doch bis jetzt von der Existenz der Madame Becker, sowie von deren eigentlichem [56] Geschäftsbetrieb noch gar keine Ahnung gehabt. Das war ja förmlicher, wohl organisirter Sklavenhandel, nur daß sich das arme Schlachtopfer, welches hier ausersehen und verkauft ward, diesem Handel nicht durch die Flucht entziehen konnte, denn es wußte ja nicht, daß man es verfolgte. Leise und vorsichtig wurden ihm Fallen gestellt, wurden ihm unsichtbare Schlingen um die Füße gelegt, und auf einmal stürzte es hin, verrathen, verkauft, in die Arme seiner Verfolger, um darauf hin immer tiefer zu fallen, hinab in den schmutzigsten Schlamm des menschlichen Lebens, der, zäh und gewaltig, seine Beute nicht wieder fahren läßt.

Diese Gedanken hatten den jungen Mann einigermaßen unmuthig gestimmt, und es war ihm leid, den Brief an seine Adresse überbracht zu haben. »Wer weiß,« sagte er sich selbst, »ich bin vielleicht somit die Ursache, daß jenes Weib ihre Kreaturen auf irgend ein armes Mädchen losläßt! – Aber,« tröstete er sich, »was ich nicht gethan, hätte morgen der Postbote besorgt, gewiß nicht harmloser und unwissender als ich heute.«

Arthurs Selbstgespräch wurde hier unterbrochen, als er an einer vorher bezeichneten Stelle hielt; er sprang aus dem Wagen, sah sich flüchtig um und eilte nun von den höheren Gegenden der Stadt einem tiefer gelegenen Viertel zu und durchkreuzte mehrere schmale Gassen mit hohen Häusern, deren spitze Giebel vor Alter etwas gegen einander geneigt waren, was im Sommer diese Wege angenehm kühl, im Winter aber frühzeitig dunkel und unendlich schmutzig machte. Auch über kleine Plätze kam er, ging wieder eine Zeit lang an den nächsten Kanal, wie an jenem Abend, wo wir ihn zum ersten Male gesehen, überschritt einige glatte schlüpfrige Brücken und befand sich jetzt am Eingang der Balkenstraße.

Der geneigte Leser wird vielleicht das Ziel seiner Wanderung errathen. Waren doch schon mehrere Tage verflossen, seit er den alten Herrn Staiger bei seinem Buchhändler getroffen, seit er ihm einen Besuch versprochen, einen Besuch, den er zu machen gedachte, [57] natürlicher Weise nur in der Absicht, um sich Raths zu erholen behufs der Illustrationen zu Onkel Tom. Warum er jetzt gerade zur Mittagsstunde hinging, diese Frage könnten wir dahin beantworten, daß es jetzt überhaupt zu Besuchen die schicklichste Zeit war, denn wir sind weit entfernt, zu glauben, es habe Arthur gewußt, daß der Balletsaal um Mittag geschlossen würde und die Tänzerinnen alsdann nach Hause gingen.

So oft auch schon der Maler, das müssen wir gestehen, Clara bis an die Hausthüre begleitet hatte, so war er doch nur Einmal weiter als zwei bis drei Schritte in den Flur hinein gelangt, und das bei einem fruchtlosen Versuch, ihre Hand noch länger festzuhalten, nachdem sie einige Minuten mit ihm geplaudert hatte. In Fällen wie der vorliegende aber haben sich gewiß viele unserer geneigten Leser schon zurecht gefunden, und Arthur that dies ebenfalls ohne große Schwierigkeit. Er passirte den ersten, zweiten und dritten Stock, und nur auf dem vierten geschah es ihm, daß er an eine falsche Thüre klopfte. Man rief »Herein!« und er sah eine ältliche Frau vor sich, recht anständig gekleidet, die eine weiße Schürze umgebunden hatte und einen Kochlöffel in der linken Hand hielt. Sie kam augenscheinlich von ihrem Herde und beschäftigte sich mit Bereitung ihres Mittagessens, denn ein angenehmer Duft von Zwiebeln und gebratenem Fleische drang auf den Gang heraus.

Der junge Mann sah gleich, daß er falsch gegangen war, denn er wußte, daß Clara's Mutter schon vor mehreren Jahren gestorben war.

»Verzeihen Sie,« sagte er, »ich suche Herrn Staiger.«

Worauf Madame Wundel, die es in eigener Person war, ihm freundlich erwiderte, gleich nebenan sei die gesuchte Thüre, er möge aber nur ohne anzuklopfen durch das Vorzimmer gehen, indem sich dort gewöhnlich Niemand aufhalte.

Arthur dankte auf's Freundlichste, was die Wittwe sehr huldreich und herablassend hinnahm. Sie hatte offenbar ihr Wohlgefallen [58] an dem hübschen jungen Manne, und da sie eine brave Frau war, die möglicherweise mit ihren Töchtern Alles gemeinschaftlich genoß, so rief sie diese durch ein leises Räuspern herbei und zeigte ihnen durch die Thürschwelle den Besuch, der zu Staigers gehe.

»Die Clara ist aber nicht daheim,« sagte die ältere Tochter Emilie, indem sie ihren Kopf so weit als möglich zur Thüre hinaus streckte.

»Ach was, Clara!« entgegnete die Mutter; »der war von guter und stiller Familie. Der läuft keinen Tänzerinnen nach; ich wette Zehn gegen Eins, der hat den alten Schreiber wegen irgend einer Schuld zu mahnen. – Paßt mir auf, Emilie, der kommt bald wieder zurück.«

»Ich will ein paar Bücher und Noten draußen auf dem Gange abstäuben,« versetzte die ältere und sehr gelehrige Tochter.

»Thu' das, mein Kind,« erwiderte die Mutter. »Aber streich' die Haare zurecht, du siehst ein wenig zerzaust aus.«

Damit ging sie an ihren Kochherd zurück, während Arthur zu gleicher Zeit durch das fast dunkle Vorzimmer schritt und nun an die Thüre des Wohnzimmers klopfte.

»Herein!« klang es ihm entgegen: und eine feine Kinderstimme setzte hinzu: »Wenn's kein Schneider ist!«

26. Kapitel
Sechsundzwanzigstes Kapitel.
Illustrationen.

Arthur hatte sich vorgenommen, die Wohnung des Mädchens, das er still und wahr liebte, behaglich und angenehm zu finden, wenn auch gerade nicht viel von dem, was zum Comfort des Lebens [59] gehört. Das Vorzimmer erschien ihm aber etwas zu ärmlich; er bemerkte Nichts als in einer Ecke ein Bett und in der anderen einen alten Stuhl. Das Wohnzimmer kennt der geneigte Leser bereits; wenn er es auch nur bei Nacht gesehen, so müssen wir ihm doch leider die Versicherung geben, daß es heute beim trüben Tageslicht – einem falben Lichte, das sich kaum nothdürftig durch die hohen, finsteren Dächer und den Schnee und Regen, der draußen fiel, herein stehlen konnte, – nicht viel wohnlicher aussah.

Herr Staiger in seinem unvermeidlichen blauen Ueberrock saß am Fenster und schrieb wie immer eifrig darauf los. Wärmer war es heute freilich in dem Zimmer, als an jenem Abend, und das kam daher, weil das kleine Mädchen gerade im Begriff war, einen Topf Kartoffeln in dem Ofen sieden zu lassen. Die Thüre desselben stand halb offen, und es drang ein leichter Wasserdampf daraus hervor, der von dem Bübchen, das neben seiner Schwester stand, begierig aufgesogen wurde.

Der alte Mann an dem Fenster richtete seinen Blick von der Arbeit auf und sah den Eingetretenen scharf an. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe er ihn erkannte, dann aber steckte er die Feder hinter das Ohr, erhob sich freundlich und eilte seinem Bekannten entgegen, um ihm herzlich die Hand zu schütteln.

Das Bübchen schaute aufmerksam zu; es hatte auf seinem Kopfe einen Hut von Papier in militärischer Form und in der Hand ein sehr kunstlos gearbeitetes hölzernes Schwert. Es hatte vorhin von dem Schneider gesprochen, und als der Fremde eintrat, den Griff seines Schwertes erfaßt. Jetzt aber, als es sah, daß der fremde Mann in friedlicher Absicht zu kommen schien, fuhr es mit der Hand an seinen papierenen Hut und grüßte militärisch.

»Sehen Sie, ich halte Wort,« sagte Arthur, »und wäre schon früher gekommen, aber ich wollte Ihnen Zeit lassen, um wegen unseres Geschäftes zu überlegen.«

»Ah! was die Illustrationen anbelangt! Ja, ich habe mich [60] auch schon damit beschäftigt und Einiges aufgeschrieben. Kommen Sie an meinen Arbeitstisch und nehmen Sie Platz.«

Arthur setzte sich dem alten Manne gegenüber an's Fenster und blickte nachdenkend hinaus. Es war dies dasselbe Fenster, durch welches er so oft Licht schimmern sah, wenn es ihm erlaubt war, die Tänzerin bis an's Haus zu begleiten. Jetzt war er ohne ihr Vorwissen in ihr Asyl gedrungen und hatte damit gewissermaßen ihren dringenden Wunsch, ihren Befehl übertreten. Doch entschuldigte er sich mit den Umständen, welche ihn hieher geführt, und redete sich ein, er würde ja im Auftrage des Buchhändlers den alten Herrn auch besucht haben, selbst wenn er nicht gerade Clara's Vater wäre, was auch so halb und halb seine Richtigkeit hatte.

»Haben Sie schon an unsere Sache gedacht?« fragte Herr Staiger. »Wird es Ihnen nicht schwer werden, hier in unserem stillen Leben Physiognomien zu Ihren Gebilden zu finden, oder wollen Sie sich ganz Ihrer Phantasie überlassen?«

»Nein, nein!« entgegnete Arthur, »ich werde mich so viel als möglich an Personen halten, die mir gerade aufstoßen, natürlicherweise, ohne gerade Porträts zu liefern. O, es gibt hier Köpfe, genug, die ganz prächtig für Sklaven und ihre Käufer und Verkäufer passen.«

»Glauben Sie?« sagte der alte Mann und sah ihn mit einem leuchtenden Blicke an. »Das habe ich mir auch schon gedacht; und meinen Sie nicht auch, daß es hier bei uns nicht nur Menschen gibt, die den in diesem Buche beschriebenen gleichen, sondern daß sich auch für manche unserer Verhältnisse darin große Aehnlichkeiten finden?«

»Gewiß!« erwiderte Arthur lächelnd, und dachte an Madame Becker und Herrn Blaffer. Dem Gedanken an den letzteren lieh er auch Worte, indem er sagte: »ich würde mir gar gern das Vergnügen machen, unseren gemeinschaftlichen Buchhändler und Freund als Sklavenhändler darzustellen. Aber er wird es nicht zugeben, daß man ihn auf solche Art in Holz schneidet und verewigt.«

[61] »Nein, gewiß nicht!« versetzte Herr Staiger. »So Etwas wollen wir auch gar nicht unternehmen; Gott soll mich bewahren! Das müßte mich ohne Weiteres um seine Kundschaft bringen.«

Das Bübchen war unterdessen näher geschlichen, steckte den Kopf unter den Arm seines Vaters und sah den fremden Mann mit seinen großen treuherzigen Augen an.

Nothwendigerweise mußte jetzt Arthur fragen: »Das sind Ihre Kinder, Herr Staiger?«

Und eben so sicher war es, daß der alte Mann darauf antwortete: »Es sind meine beiden jüngsten; meine älteste Tochter wird bald nach Hause kommen. Die haben Sie gewiß schon oft gesehen?«

So unbefangen nun diese Frage an und für sich war, so verursachte sie doch dem Maler einiges Herzklopfen, denn er wußte nicht, ob der Vater das öftere Sehen auf das Hoftheater bezog, oder ob er am Ende Kunde hatte, daß der vor ihm sitzende junge Mann seine Clara schon zum öfteren Male nach der Balkenstraße begleitet habe.

Doch fuhr der alte Herr gleich darauf arglos fort: »Meine Tochter ist bei dem Ballet angestellt, und da wäre es doch möglich, daß Sie vielleicht schon ihren Namen gelesen und sie gesehen haben.«

»Clara tanzt sehr schön,« sagte das Bübchen mit Bestimmtheit; worauf es sich aber augenblicklich dieser Worte schämte und seinen Kopf unter den Arm des Vaters verbarg.

»Woher weißt du das, kleiner Mann?« fragte Arthur lachend. »Du gehst doch gewiß noch nicht in's Theater.«

»Sie haben bei der Schwester so lange gebettelt,« antwortete Herr Staiger statt des Gefragten, »bis Clara sie einstens in eine Generalprobe nahm. Auch übt sie sich zuweilen hier zu Hause.«

»Dort an der Stange,« setzte der Knabe hinzu; »und dann hat sie ein kurzes Röckchen an und einen schwarzen Spenser. Wenn [62] du es einmal sehen willst, so mußt du morgen früh kommen; jetzt ist es dazu zu spät, denn wir werden gleich essen.«

»Das ist wahr; daran habe ich nicht gedacht,« entgegnete Arthur, »und ich bin zu einer ganz ungelegenen Zeit gekommen.«

»Clara wird gleich nach Hause kommen,« sprach das Bübchen, »dann kannst du sie sehen. Aber tanzen thut sie nicht.«

»Ich wäre auch zu einer schicklicheren Stunde gekommen,« fuhr Arthur fort, anscheinend ohne auf das Geplauder des Kleinen zu achten, »aber Sie sagten mir selbst, von Zwölf bis Eins sei die Stunde Ihrer Ruhe.«

Es ist für alle Fälle des Lebens gut, wenn der Mensch mit Verstand und Ueberlegung zu lügen versteht.

»Die Kinder plaudern immer von dem, was sie am liebsten thun,« erwiderte Herr Staiger; »und dazu gehört namentlich das Essen.«

»Wir haben heute Kartoffeln mit Gänsefett,« sagte Karl mit dem größten Ernst; »und das mag ich; vielleicht bringt auch Clara eine Wurst mit. Willst du mitessen?«

Die vorsichtigere und einige Jahre ältere Schwester hatte sich in diesem Augenblicke hinter den Stuhl ihres Vaters geschlichen und zog den kleinen Indiskreten ein paar Schritte zurück: erstens, um ihm die Nase zu putzen, und zweitens, um ihm artiges Betragen einzuschärfen. Doch war er nicht so leicht von dem Gaste – ein solcher war nämlich in der Familie etwas Seltenes – wegzubringen, und Arthur ermunterte ihn, da ihm die unbefangenen Reden des Kleinen Spaß machten.

Herr Staiger zog unter seinen Papieren einen beschriebenen Bogen hervor und sagte: »Sie haben mich neulich gebeten, einige Momente aufzuschreiben, die ich zu Illustrationen für besonders geeignet hielte. Ich habe es mit Schüchternheit gethan, und hier sind nun ein paar verzeichnet. Man muß natürlich die grassesten Episoden hervor heben, und daran fehlt es in dem Buche nicht. [63] Es ist da zusammen getragen, was ein Menschenherz nur erschüttern und zerschmettern kann.«

»Und läßt sich leicht zeichnen,« versetzte Arthur, »da dort Alles ohne Scheu und öffentlich vor sich geht. – Aber gerade diese Oeffentlichkeit,« fuhr er fort, »mit der jene Sachen in den Sklavenstaaten betrieben werden, gewährt für die armen Schlachtopfer eine Art Trost. Man bringt sie auf den Markt, sie wissen, daß sie verkauft werden, es geht das Alles nach bestimmten, wenn auch harten Gesetzen, nicht wie bei uns, wo dieselben schauderhaften Geschichten im Geheimen und mit raffinirter Grausamkeit betrieben werden. Hier wäre es schwieriger, eine Onkel Tom's Hütte zu illustriren, denn man kann dem hiesigen Sklavenhändler nicht das Zeichen seiner Würde, die große Peitsche anhängen. Der ist hier gekleidet, wie jeder andere ehrliche Mensch auch, und verschwindet förmlich unter der Menge ohne besondere Kennzeichen.«

»Ein Merkmal haben sie doch öfters an sich,« sagte der alte Mann nachdenkend, indem ein leichtes Lächeln über seine Züge flog; »sie schlagen gern die Augen nieder, befleißigen sich eines scheinheiligen und äußerlich sehr frommen Lebens.«

»Ah ja! von denen, die keine Betstunde versäumen und dagegen ihren sündigen Nebenmenschen mit so leichtem Gewicht messen!«

»Und Zehn vom Hundert nehmen.«

»Und Rechnungen zum zweiten Male schicken, wenn sie vielleicht voraussetzen, man habe die Quittung von der ersten verloren.«

»Ah! wir kommen da in's Zeug hinein,« sprach lachend der alte Mann, »wie ein paar böse Klatschschwestern bei ihrem Kaffee. Ich ertappe mich in jüngster Zeit leider oftmals über so menschenfeindlichen Gedanken, die mir früher gänzlich fremd waren. Ich weiß nicht, was daran schuld ist.«

»Vielleicht die Uebersetzung Ihres Buches; man stellt da Vergleichungen an über Menschen und Zustände, die gerade nicht zur Erheiterung und zum Erhalten der guten Laune beitragen.«

[64] »Darin haben Sie nicht ganz Unrecht,« meinte der alte Mann. »Aber wenn ich lange übersetzt habe, so nehme ich gewöhnlich ein angenehmes Gegengift; hier habe ich es in diesen Büchern.«

»Ah! Charles Sealsfield!« erwiderte Arthur freudig, indem er eins der dargereichten Bücher aufschlug und den Titel las. »Das sind herrliche, liebenswürdige Schilderungen desselben Lebens, welches uns die Verfasserin von Onkel Toms Hütte gibt. Ginge es dem Rechten nach, so müßten diese Lichtstrahlen weit mehr Auflagen, weit größere Verbreitung finden, als diese tiefen Schatten. Aber leider gibt es so viele Menschen, denen es nur im Trüben wohl ist.«

»Und die das Licht scheuen,« entgegnete Herr Staiger ernst und feierlich und sah wie träumend an die Decke des Zimmers. – – »Aber sie sind mächtig in ihrem Schatten,« sprach er nach einer längeren Pause, »und sie beschwören ihn von allen Seiten herauf durch heuchlerische Gebete und Zuschautragen von falscher Buße. Wie dichter Nebel steigt es langsam empor und kämpft mit den heiteren Sonnenstrahlen; aber glauben Sie mir, diese Nacht wird das Licht überwältigen; langsam aber sicher wird der heitere Glanz eines lustigen und darum doch nicht sündenhafteren Erdenlebens verschwinden. Der Gesang fröhlicher Vögel verstummt, denn diese lieben das Sonnenlicht, und nur Geschöpfe der Nacht werden sich künftig gütlich thun in den dichten grauen, stinkenden Nebeln, die sich langsam aber sicher um uns schlingen; – der Gesang der Freude verstummt nach und nach, und der einzige Klang, der noch an unser Ohr schlägt, ruft uns melancholisch und traurig zu: thut Buße, geht in euch; ihr habt kein Recht auf das freundliche Sonnenlicht, das ein gütiger Schöpfer ausströmen läßt durch das ganze Firmament; ihr habt kein Recht an den Genuß dieser Erdengüter, an Lust und Freude; denn ihr seid [65] allesammt geborne Sünder und unwerth der Gnade! – Doch ich predige Ihnen da schreckliche Sachen vor,« unterbrach sich der alte Mann plötzlich, indem er mit der Hand über die Augen fuhr. »Sie sind ja jung, gewiß auch glücklich, und sehen mir gerade aus wie Jemand, der die Kraft in sich fühlt, des Lebens Güter im rechten Maße zu genießen. Thun Sie also und es wird Sie nicht gereuen! – Aber wovon sprachen wir doch, ehe ich ein so finsterer Seher ward? – Ah! richtig, von den Werken Sealfields! – Ja, das ist wahr, an diesen frischen kräftigen Schilderungen, an diesem Buche, dem die Wahrheit aus den Augen spricht, erfreut sich mein Herz. Das ist ein Leben, wie es wirklich ist; das sind Geschöpfe, wie sie existiren, keine krankhaften Gestalten, die unter allen Verhältnissen die rechte Backe hinhalten, nachdem die Linke ihren Schlag empfangen. – Sehen Sie, wenn ich müd und matt vom Arbeiten bin, da habe ich so meine Stellen, die ich durchlese, wie diese hier, wo das Zeichen ist.«

Das Bübchen, das sich bei diesen für ihn unverständlichen Reden offenbar gelangweilt hatte, war unterdessen dem Maler näher und näher gerückt, hatte zuerst sanft seinen Rock berührt, dann seinen Hut von einem benachbarten Stuhle genommen und probirte ihn nun statt der früheren militärischen Kopfbedeckung.

»So einen Hut möchte ich auch,« sagte es plötzlich und stellte sich vor Arthur hin, so daß dieser laut auflachte über den komischen Anblick des kleinen Mannes.

»Da mußt du erst groß werden,« erwiderte er, »da wird es dir hoffentlich nicht an einem solchen Hute fehlen.«

»Vor allen Dingen mußt du aber erst etwas Tüchtiges lernen,« meinte der Vater. »Aber jetzt lege den Hut wieder dahin; es ist nicht schicklich, Sachen anzugreifen, die einem nicht gehören. Wenn das Clara sähe, würde sie böse werden.«

Auf diese Mahnung hin legte Karl den Hut wieder auf den [66] Stuhl und wandte sich dann mit der naiven Frage an Arthur: »Hast du denn auch Etwas gelernt?«

»O ja,« entgegnete dieser lächelnd; »und Etwas, das dir gewiß große Freude machen wird, wenn ich es dir zeige.«

»Was ist denn das?«

»Ich habe Zeichnen und Malen gelernt. Wenn ich wieder komme und du hast ein klein Blatt Papier und ein Bleistift, so will ich dir zeigen, was ich kann.«

»Eine Tafel habe ich,« entgegnete das Bübchen, »und darauf malt Clara allerlei schöne Sachen.«

»So laß mich sehen, was dir Clara malt,« sagte eifrig der junge Mann.

»Jetzt habe ich es ausgewischt,« erwiderte der Kleine; »aber sie kann mir die schönsten Schlangen malen, auch Krokodile, Soldaten und Offiziere.«

»So, auch Offiziere?«

»Ja freilich; die haben Alle einen großen Schnurrbart, einen dünnen Leib und gerade Beine.«

In diesem Augenblicke wandte das Bübchen hastig seinen Kopf herum, dann brach es plötzlich alle Unterhaltung ab, indem es jubelnd rief: »Clara kommt!« und zur Thüre hinaus in's Vorzimmer eilte.

Die Schwester mußte ebenfalls Tritte auf der Treppe gehört haben, denn auch sie war hinausgegangen, kluger Weise, um Clara auf den unbekannten Besuch vorzubereiten.

Arthur erhob sich von seinem Stuhle; ihm klopfte das Herz und er fühlte sich ungemein befangen. Wie wird sie diesen plötzlichen Besuch aufnehmen? dachte er. Wird sie nicht zürnen, da sie dir ausdrücklich verboten, das Haus ihres Vaters zu besuchen? – Daran war aber jetzt nichts mehr zu ändern, und der Maler hoffte, daß sich schon Gelegenheit geben würde, eine kleine Verstimmung [67] des geliebten Mädchens in die Erlaubniß umzuwandeln, von jetzt ab ferner kommen zu dürfen.

»Und wer ist es denn?« vernahm er jetzt die Stimme Clara's im Vorzimmer, worauf das kleine Mädchen Etwas zischelte, was man nicht verstand, das Bübchen aber laut erwiderte: »Ein Mann mit einem schwarzen Hute, und er hat mir gesagt, er könne allerhand schöne Dinge malen, Schlangen und Krokodile, besser als du, und wenn er künftig wieder kommt, wird er mir auch Soldaten und Offiziere machen. – Hast du eine Wurst mitgebracht?«

»Pfui, Karl! sei stille! – Ein Maler also? – Ah!«

Damit öffnete die Tänzerin die Thüre, blieb aber überrascht auf der Schwelle stehen, und ihr Gesicht, Hals und Nacken überzog sich mit tiefer Röthe. Sie erkannte ihn augenblicklich; obgleich es eine Wirkung der Freude war, welche das Blut gewaltsam nach ihren Wangen trieb, so war es doch auch wohl die Erwartung, was er hier bei dem Vater zu thun habe, und daneben auch ein klein wenig Verdruß, als sie aus seiner Anwesenheit ersah, daß er ihrem strengen Befehl nicht Folge geleistet habe.

»Meine Tochter Clara,« sagte Herr Staiger, der aber glücklicherweise gerade sein Manuscript zusammen schob und das Buch von Sealfield darauf legte. – »Meine Aelteste, der Stolz der Familie!«

»Ah Papa!« versetzte das Mädchen in großer Verlegenheit. Und da hiedurch ihr liebes Gesicht das Recht erhielt, einige Verwirrung zu zeigen, so brauchte sie diese nicht zu verbergen, als nun der alte Mann lachend sagte:

»Ei mein Kind, du darfst nicht erröthen: wer so mütterlich für uns Alle sorgt, der darf in Wahrheit der Stolz der Familie genannt werden. Habe ich nicht Recht, Karl?«

Das Bübchen hatte sich an ihren Arm gehängt und ergriff statt aller Antwort ihre Hand, die er nun bald hier bald da an [68] sein Gesichtchen drückte; die kleine Schwester dagegen nahm Hut und Tuch in Empfang, die Clara eilig ablegte. Dann warf sie verstohlen einen Blick in den Spiegel und näherte sich nun leicht, graziös und unbefangen dem Fenster, an welchem Arthur stand.

27. Kapitel
Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Ein einfaches Mittagessen.

Wie war das Mädchen, erhitzt von dem Tanze und der Aufregung, so wunderbar schön! Wie glänzten ihre dunklen Augen, wie leicht und elegant schritt sie daher! Arthur sah mit der innigsten Liebe auf sie, und er mußte sich gestehen, lange kein so liebliches Bild gesehen zu haben. Er senkte seinen Blick in ihr Auge, tief, innig und bittend, und namentlich der letztere Ausdruck schien ihren Unmuth zu verscheuchen.

»Das ist Herr Arthur Erichsen, ein junger Maler und ein neuer freundlicher Bekannter, den ich mir erworben. Wir trafen uns neulich beim Buchhändler Blaffer, von dem er den Auftrag hatte, Onkel Toms Hütte zu illustriren, und er kam nun hieher, um sich mit mir über diese Illustrationen zu besprechen.«

»Gewiß, mein Fräulein,« nahm Arthur eifrig das Wort, »ich besuchte Ihren Papa in der Absicht, um mir seinen Rath zu erbitten, auf welche Art diese schwierige Arbeit am besten anzugreifen sei.«

Clara lächelte ein wenig, aber so unmerklich, daß nur Arthur es sah. Ein Liebender bemerkt ja Alles, und auch für ihn nur war deßhalb der momentane Blitz in ihren Augen verständlich, [69] sowie ein unbedeutendes Zucken der Mundwinkel, – dieser kleinen, reizenden Mundwinkel.

Die Röthe von vorhin war von ihrem Gesichte gewichen, ja hatte einer leichten Blässe Platz gemacht, als sie vor Arthur stand, die Hand auf den Tisch gestützt, und ihm sagte: »Es freut mich sehr, daß Sie Papa besucht haben und daß Sie so gütig waren, mit ihm über Ihre Arbeit zu plaudern. – Ach!« setzte sie hinzu, »es kommt so selten Jemand zu ihm, der mit ihm zu sprechen versteht, gegen den er seine Ideen und Ansichten austauschen kann, daß es ihm gewiß, gewiß recht lieb war, daß Sie ihn besuchten.«

Wir müssen gestehen, daß Arthur athemlos auf ihre Worte gelauscht; und als sie ihn so treuherzig und lieb ansah und ihm sagte, es sei dem Papa gewiß – gewiß recht lieb, daß er gekommen, da durchzuckte ihn ein unnennbar süßes Gefühl, sein Herz schien einen Augenblick die Pulsschläge auszusetzen und still zu stehen vor übergroßer Freude und Seligkeit. Er gestand sich oft, dies sei einer der süßesten Momente seines Lebens gewesen, und es thue ihm nur leid, daß er gewaltsam seine Thränen zurückgehalten habe, die im Begriffe waren, ihm in die Augen zu treten.

Auch Clara fühlte Aehnliches, denn nachdem sie gesprochen, wie wir soeben hier niedergeschrieben, blieb sie noch eine Sekunde ruhig vor ihm stehen, schaute ihn so herzlich an, wie er sie, und Beide hatten den gleichen Gedanken: sie waren froh, daß sie sich jetzt endlich einmal im hellen Licht des Tages sahen, und so nahe, – nicht wie früher immer im Halbdunkel der Straße, wenn sie aus dem Wagen sprang, oder beim falschen Glanz der Lichter.

Wie lange dieses gegenseitige Beschauen wohl gedauert hätte, weiß der liebe Gott. Glücklicherweise aber legte sich das Bübchen in's Mittel und zog die beiden hochfliegenden Seelen in den Bereich der Wirklichkeit zurück.

»Die Kartoffeln sind fertig,« sprach es mit bestimmtem Tone, »sie platzen schon auf.«

[70] »Dann ist es Zeit!« rief Arthur, indem er wie aus einem tiefen Traum erwachte; »und ich muß mich entfernen, um Sie nicht in Ihrem Mittagessen zu stören.«

Bei diesen Worten sah der alte Mann seine Tochter bedeutsam an, und als Clara sanft lächelte, sagte er: »O, lassen Sie sich gar nicht stören, lieber Herr Erichsen, bleiben Sie noch eine Weile da; wir plaudern vielleicht noch ein wenig. Ich kann Ihnen leider von unserer einfachen Kost Nichts anbieten, – nun – eben – weil sie gar zu einfach ist. – Aber draußen,« setzte er hinzu, indem er durch's Fenster sah, »schneit und stürmt es so gewaltig, daß Sie unmöglich in diesem Augenblicke fort können; auch speisen Sie gewiß später.«

Wenn man Etwas gerne thut, so läßt man sich leicht dazu überreden. Arthur blickte fragend auf Clara, die lächelnd ihre Augen niederschlug. Doch schien ihm dies Augenniederschlagen von einem kleinen Kopfnicken begleitet zu sein, weßhalb er sich denn eifrigst und gern bereit erklärte, noch eine halbe Stunde da zu bleiben.

Die jüngere Schwester hatte unterdessen den Tisch gedeckt, Clara ging in das Vorzimmer, und ihr folgte das Bübchen, welches eine richtige Ahnung hatte, daß sie sich vor dem Gaste geniren würde, die bewußte Wurst aus der Tasche zu ziehen, daß dies aber draußen unverzüglich geschehen müsse. – Und so war es denn auch. Die Tänzerin kam alsbald mit einem Teller wieder herein, auf dem der erwähnte Leckerbissen lag. Dann setzte sich Alles um den Tisch herum; er war ärmlich aber reinlich gedeckt mit einem groben doch weißen Tischtuch und glänzenden Zinntellern.

Der Maler, der eine Aufforderung zum Mitessen ablehnte, setzte sich einen halben Schritt rückwärts neben Clara. Er konnte so seinen Arm auf die Lehne ihres Stuhles stützen, und wenn er nun den Kopf vorn über lehnte, und sie ihm plötzlich Etwas [71] sagen wollte, so berührte ihr kühles, volles, duftiges Haar seine heiße Stirne.

»Karl, du mußt beten,« sagte die jüngere Schwester zu ihrem Bruder, der an seinem Platze saß und die Augen unverwandt auf einen Punkt des Tisches gerichtet hatte. Das dort auf dem Zinnteller nahm seine ganze Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch, daß er mechanisch seine Hände faltete und gedankenlos sein Morgengebet anfing:


»Engelein komm',
Mach' mich fromm!«

Doch wurde ihm diese Nachlässigkeit nicht gestattet und er brachte nun den uns schon bekannten Tischspruch vor, natürlicherweise mit unverbesserlichem Fehler, setzte auch hinter dem »Amen!« rasch hinzu: »Jetzt bekomme ich auch Wurst.«

Nun nahm das Mahl seinen Anfang, der Vater und die jüngeren Kinder griffen herzhaft zu; nur Clara spielte mit ihrem Essen, und es schien ihr fast unmöglich, einen Bissen hinunter zu bringen.

Arthur munterte sie lächelnd auf, sich selbst nicht zu vergessen, und er that dies, indem er das außerordentlich schöne Aussehen der Kartoffeln lobte; darauf erfolgte nun natürlicherweise die Einladung des alten Herrn, auch eine zu versuchen, und er forderte Clara zu diesem Zweck alsbald auf, einen Teller zu bringen.

Dies lehnte aber Arthur eifrigst ab, und nach einigem Hin- und Herreden, Nöthigen und Weigern entschloß er sich endlich, einen Bissen von dem Teller der Tänzerin und zwar mit deren Gabel zu nehmen. Hiebei bewährte sich nun aber das Sprichwort, daß der Appetit während des Essens kommt, denn dem ersten Bissen folgte ein zweiter, ein dritter und ein vierter, zwischen welchen aber jedes Mal die Gabel gewechselt wurde, das heißt, einmal nahm sie Clara, und dann erhielt sie der Maler wieder. Da sich hiebei auch ihre Hände berührten, ihre Blicke viel Schönes zu [72] einander sprachen, und das Haar der Tänzerin häufig sein Gesicht streifte, so hielt Arthur ein Mittagsmahl, wie es kein König besser und köstlicher haben konnte.

Leider war das Diner bald zu Ende; aber als sich nun Arthur endlich alles Ernstes entfernen wollte, denn sein Herz war übervoll, meinte das Bübchen, nach dem Essen ginge man nicht gleich fort, wie es schon gehört habe, und bat den Maler, er möge nun so artig sein, ihm eine Schlange oder ein Krokodil zu machen. Er brachte deßhalb seine Tafel herbei, zerrte den Künstler an das Fenster und zwang ihn, dort wieder Platz zu nehmen.

Der alte Mann stellte sich einen Augenblick daneben, und nachdem er seinen Sohn vergeblich ersucht, den Herrn nicht zu plagen, verlor er sich in's Vorzimmer, wo er sich auf einen Stuhl setzte, ein Taschentuch über sein Gesicht hing und ein kleines Mittagsschläfchen machte.

Die jüngere Schwester und Clara räumten den Tisch ab, dann setzte sich letztere an die andere Seite desselben. Arthur hatte die Tafel ergriffen und entwarf eine solch' riesenhafte Schlange, daß die berühmte des Kapitän Boa dagegen nur ein Regenwurm war. Während des Zeichnens aber warf er einen Blick im Zimmer umher, und als er bemerkte, daß das kleine Mädchen in einer Ecke neben dem Ofen mit dem Spülen des Geschirrs beschäftigt und die Thüre des Vorzimmers fest zugezogen war, sagte er zu Clara: »Sind Sie mir böse, daß ich hergekommen?« worauf diese nach einer Pause erwiderte: »Ich hatte mir wohl gedacht, daß dies am Ende geschehen würde.«

»Aber erst viel später,« entgegnete Arthur, »denn ich hätte Ihren Befehl gewiß respektirt; aber es ist so, wie Ihr Vater gesagt: wir trafen uns bei dem Buchhändler, und wenn auch hier nicht Ihre Wohnung gewesen wäre, so hätte ich doch den Uebersetzer von Onkel Tom's Hütte aufsuchen müssen. – Nicht wahr, Sie zürnen mir nicht?«

[73] Clara schüttelte den Kopf und antwortete: »Ich weiß nicht, was icj davon halten soll; ich kenne Sie schone seit einiger Zeit, aber ich kannte Sie bis jetzt nur wie Etwas, das kommt und verschwindet wie ein Traum – wie der Schein der Sonne; oder auch,« setzte sie lächeldn hinzu, »wie Regen und Sturm.«

»Und wie Etwas,« bemerkte Arthur, indem er den Griffel sinken ließ, »was uns eigentlich nicht viel kümmert, was uns gleichgiltig ist, wenn es auf einmal ganz ausbleibt, an das wir nicht mehr denken, wenn es nicht wieder erscheint.«

»O nein!« erwiderte die Tänzerin, »nicht so ganz. Sagen wir lieber, wie etwas – Angenehmes, das uns widerfährt, und das wir dankbar hinnehmen, dem wir vielleicht betrübt nachblicken, weil es uns plötzlich ganz verschwindet, das wir aber kein Recht haben, zurückzurufen, weil – weil – wir nun einmal kein Recht dazu haben.«

»Aber die Schlange hat noch keine Zähne,« sprach das Bübchen. »Mach' ihr große! Und dann will ich auch ein Krokodil haben.«

»Soll ich dir nicht lieber deine Schwester Clara zeichnen?« fragte der Maler.

»Mir wäre ein Krokodil lieber,« entgegnete das Kind; »Clara sehe ich den ganzen Tag. Wenn du sie aber nachher zeichnen willst, ist es mir auch recht.«

Arthur that wie ihm befohlen, dann aber nahm er das Gespräch von vorhin wieder auf.

»Und weßhalb,« fragte er, »hätten Sie kein Recht, – mich zurückzurufen?«

»Und auf welche Art sollte ich es thun, wenn Sie plötzlich ausgebliebe wären? – Wenn ich auch vielleicht gewollt hättem ich sah Sie ja nur auf Augenblicke, bald hier, bald da, ich wußte ja kaum Ihren Namen. Und dann hatten Sie mir auch nie gesagt:

[74] morgen sehe ich Sie wieder, oder übermorgen, – ein solches Versprechen hätte mich auch ängstlich gemacht.«

»Weil Sie mir wohl hätten antworten müssen: ja, es ist mir recht, ich will Sie morgen oder übermorgen wieder sehen, – und weil Ihnen das wie eine Verpflichtung vorgekommen wäre, und weil Sie keine Verpflichtungen gegen mich übernehmen wollen.«

»Es ist vielleicht so,« sagte Clara, indem sie ihn lächelnd anblickte, »ich habe mich immer davor gefürchtet. Und deßhalb bat ich Sie auch, nicht in unser Haus zu kommen.«

»Sehen Sie, Clara,« versetzte der Maler halb und halb betrübt, »es ist doch, wie ich mir dachte: Sie spielten mit mir, und wenn Sie mir einmal nicht mehr erlauben wollten, Ihnen an der Treppe des Theaters oder am Wagen gute Nacht zu sagen, so wären Sie vielleicht rasch an mir vorübergeeilt und hätten mich gar nicht mehr angesehen.«

»Das hätte ich gewiß nie gethan, so lange Sie sich mir so ruhig und still gezeigt, wie Sie thaten. Glauben Sie mir, die anderen Tänzerinnen schelten mich kalt, gefühllos, ja hochmüthig, weil ich es nun einmal nicht machen kann wie sie; aber ich bin es nicht. Von Hochmuth kann ja auch keine Rede sein; doch habe ich immer davor zurückgebebt, mit irgend Jemand in nähere Berührung zu kommen. Ich weiß ja wohl, daß ich eine arme Tänzerin bin, daß ich mich hinausstellen muß vor die Lampen, daß mich Jedes ansieht wie es mag, und daß nun Jeder das Recht zu haben glaubt, mit dem Mädchen so geradehin zu sprechen, wie es ihm in den Mund kommt. Das fürchtete ich auch von Ihnen, und deßhalb schrak ich zurück, als Sie das erste Mal mit mir sprachen.«

»Aber Ihre Furcht war überflüssig.«

»Gewiß, und ich danke Ihnen herzlich dafür,« erwiderte Clara. – »Aber wissen Sie wohl,« fuhr sie nach einem kleinen Stillschweigen fort, in der Absicht, das Gespräch zu ändern, »wissen [75] Sie wohl, daß ein paar von den anderen Tänzerinnen es wohl gemerkt haben, daß ich mit Ihnen hie und da gesprochen?«

»Sie hatten mich schon auf der Bühne gesehen?«

»Nein, da nicht, aber neulich Abends, als Sie am Wagen standen, wie wir einstiegen. Da sind Alle mit Reden über mich gefallen. Ich hätte mich so lange verstellt und immer Alles abgeleugnet, und nun käme es auf einmal heraus und ich sei furchtbar versteckt, aber jetzt könne ich nicht mehr leugnen.«

»Und was sollten Sie nicht läugnen können?«

»Daß ich Sie Abends am Wagen gesehen.«

»Und ist das so schlimm?«

»Ah!« sagte Clara lachend, »nehmen Sie mir nicht übel! wenn man so plötzlich aus dem Dunkel daher schießt und einer Tänzerin sagt: o wie vortrefflich haben Sie heute getanzt! O wie schön sahen Sie aus!« –

»Ja, das habe ich gesagt,« unterbrach sie Arthur träumerisch.

»Und wenn man einen obendrein bei der Hand faßt, das ist doch schlimm genug. Und an dem Abend habe ich mich auch eigentlich vor Ihnen gefürchtet.«

»Aber ich mußte Ihnen damals ein Wort sagen, Clara. Ich konnte nicht nach Hause gehen, ohne Ihre Hand berührt zu haben; mein Herz war zu voll. Waren Sie wirklich böse auf mich?«

»Nur eine Weile,« entgegnete das Mädchen, indem sie ihn mit ihren großen Augen anschaute, »und eigentlich auch nur, weil mich die Anderen so neckten.«

»Was sagten sie denn?«

»Ob jetzt endlich ein Prinz gekommen sei oder ein regierender Herr, den ich für würdig genug befunden, daß er mir den Hof machen dürfe. – Aber ich erzähle Ihnen da lauter dummes Zeug, worüber Sie lachen werden,« setzte sie schmollend hinzu.

»Gewiß nicht, Clara, es interessirt mich auf's Höchste.«

»Und der Schwindelmann hatte es sogar bemerkt.«

[76] »Wer ist Schwindelmann?«

»Schwindelmann,« entgegnete sie einigermaßen erstaunt, »ist der Theaterdiener, der uns zu den Vorstellungen abholt und im Wagen wieder nach Hause bringt.«

»Ein junger Mann?« fragte Arthur mit einer eifersüchtigen Regung.

»O, Sie müssen Schwindelmann kennen!« fuhr sie fort, ohne den Sinn seiner Frage zu verstehen. »Er läßt den großen Portalvorhang herab und kennt namentlich mich genau. Er und mein Vater sind zusammen in die Schule gegangen.«

»Ah so!« sagte Arthur sichtlich erheitert. »Und der Schwindelmann hat es gesehen, daß ich Ihnen die Hand gab?«

»Das will ich meinen, und er war sehr mürrisch. Sonst trägt er mir immer meinen Korb und nimmt ihn hinten zu sich auf den Wagen; aber an dem Abend schob er ihn zu mir herein und brummte allerlei in den Bart.«

»Das scheint mir ein braver Mann zu sein, der Theaterdiener,« sagte Arthur.

»Auch fuhr er mich an dem Abend nicht zuerst nach Haus wie sonst, sondern zuletzt. Und dann ließ er den alten Andreas, den Kutscher, nach Hause, blieb bei mir an der Treppe stehen und hielt mir eine starke Predigt.«

»Und das Alles, weil ich Ihnen die Hand gereicht?«

»Allerdings; natürlicherweise bildete er sich noch viel mehr ein. Es sei schade um mich, sagte er, ich hätte mich so gut gehalten, Alle hätten die größte Achtung vor mir, man könne mir nicht das geringste Ueble nachsagen, und nun finge ich auf einmal so dumme Streiche an!«

»Schwindelmann scheint mir bösartig zu sein,« versetzte Arthur einigermaßen ärgerlich.

»Nein, er ist sehr gut,« versetzte die Tänzerin. »Wissen Sie, er hat beim Theater schon sehr viel erlebt,« sprach sie mit sehr [77] ernster Stimme; »er hat gesehen, wie schon manches Mädchen unglücklich wurde, und da er mich, wie gesagt, gern hat, so warnte er mich auf's Allerernstlichste.«

»Vor einem Händedruck?«

»Nicht nur ganz davor,« entgegnete sie heimlich lachend, »aber er sagte, das wäre der Anfang, und er hatte nicht Unrecht darin. Es ist bis jetzt Alles gekommen, wie der Schwindelmann mir vorher gesagt,« sprach sie auf einmal sehr ernst werdend, indem sie vor sich niedersah. – »Zuerst würden Sie sich mir Abends in den Weg stellen, mit mir zu sprechen; und das haben Sie auch gethan, – anfänglich weniger und dann häufiger. – Dann aber« – hier stockte sie einen Augenblick, und fuhr erst fort, als sie Arthur aufmerksam und fragend anblickte – »dann aber würden Sie unter irgend einem Vorwand in unser Haus kommen; und dann – – wäre ich auf dem Wege des Verderbens – o mein Gott!« –

Diese letzten Worte sprach das Mädchen mit gepreßter Stimme und in sichtlicher Angst, und als sie ausrief: »O mein Gott!« preßte sie ihre beiden Hände vor das Gesicht, sprang auf und eilte zu ihrer kleinen Schwester, der sie emsig half, Teller und Gläser zu ordnen, ohne sich im Augenblick weiter um ihren Gast zu bekümmern.

Arthur war überrascht sitzen geblieben und hatte die Tafel in den Händen des Bübchens gelassen, welches sie eifrig an sich nahm und mit zu den Schwestern hin sprang, um ihnen das Krokodil und die schöne Schlange zu zeigen.

Auch der alte Herr trat jetzt nach vollbrachter Mittagsruhe wieder in's Zimmer und mußte ebenfalls die seltsamen Thiergestalten bewundern.

Obgleich der Maler dem aufgeregten Mädchen gerne noch einige begütigende Worte gesagt hätte, so war dies doch nicht möglich. Sie kam nicht an das Fenster zurück, sie ließ ihn ruhig [78] seinen Hut nehmen und wandte sich erst nach ihm um, als er dem Vater die Hand reichte, dem Bübchen auf den Kopf pätschelte und der jüngeren Schwester freundlich zunickte. Dann bot auch sie ihm einen freundlichen guten Tag, wobei er allein bemerkte, wie sie durch Thränen lächelte.

Als er hierauf gedankenvoll die Treppe hinab ging, schüttelte er den Kopf und sagte: »Thränen bei mei nem ersten Besuch, und Schlangen, die ich zeichnen mußte; wenn das nur keine bösen Vorzeichen sind!«

Eine lange Zeit hatte, während Arthur bei Herrn Staiger war, draußen auf dem Gange Mademoiselle Emilie Wundel Bücher und Noten ausgeklopft, auch hie und da einen Vers aus irgend einer Arie getrillert, ohne daß der angenehme junge Mann zurück gekommen wäre. Endlich war Clara erschienen, und als er auch jetzt noch nicht kam, ging die Ausklopferin achselzuckend in ihr Zimmer zurück. – »Da hätte ich schön warten können,« sagte sie hohnlachend, »das ist ja eine abgekartete Geschichte! Wie man auch so dumm sein kann!« – Damit meinte sie die vorsorgliche Mutter. – »O die Clara! Ich für meine Person habe ihr nie was Gutes zugetraut, das kann ich euch versichern; die hat's lange heimlich getrieben; jetzt wirft sie alle Scham bei Seite und läßt ihre Liebhaber am hellen Tage in's Haus kommen. Ihr werdet schon sehen: Einen nach dem Andern. – Pfui Teufel über dies Volk vom Ballet!« –

28. Kapitel
[79] Achtundzwanzigstes Kapitel.
Betrachtungen.

Wir wissen nicht, theurer und geneigter Leser, ob du in deinem Leben schon in den Fall gekommen bist, in lebenden Bildern mitzuwirken. Daß du öfter welche gesehen, nehmen wir unbedingt an. – Es ist das Stellen lebender Bilder in Familiencirkeln eine Krankheit, die hie und da einreißt, die oftmals sporadisch auftritt, dann aber auch für gewisse Winter ganze Städte epidemisch beherrscht. Das sind Zeiten der forcirten Bewunderung, wo man oftmals nach ausgestandenem Jammer den Lenker aller Dinge anklagen möchte, daß es überhaupt Bilder gibt, und daß Jemand auf die – schöne Idee kam, lebende Bilder zu arrangiren.

Wie schon bemerkt, so erfaßt die Lust nach diesem Vergnügen oftmals ganze Städte, und alsdann entgeht keiner seinem Schicksale; wer nicht zum Mitstehen gepreßt wird, der muß zusehen; und welche Art von Schlachtopferei menschlicher Grausamkeit die schlimmere sei, soll der Beurtheilung einer zweiten Miß Stowe vorbehalten bleiben.

Man hat alle Arten von Vergnügen erschöpft, man hat große Kaffeegesellschaften arrangirt, in welchen eine ungeheure Menge von Backwerken verzehrt, eine Anzahl guter Namen zerrissen, ja eine Masse von Zukunften vernichtet wurde. Was das Letztere anbelangt, – die harmlosen Zuthaten zum Kaffee nämlich, – so müssen wir den geneigten Leser versichern, daß die Vieruhr-, überhaupt die Nachmittagskaffeegesellschaften die schlimmsten, die blutdürstigsten sind. Das Mittagessen ist vorüber gegangen, und der Gemahl, der vielleicht in der Kanzlei von einem Vorgesetzten bedeutend geärgert wurde, kam verdrießlich zu Tische und findet, daß die Suppe versalzen, die lange Sauce des Gemüses zu mehlig [80] und die Räucherung des Schweinefleisches nicht vollkommen gelungen sei. Es gab das eine kleine häusliche Scene, die Kanzleiräthin erlebte einige scharfe Bemerkungen, welche in viel kräftigerer Tonart, aus allen Registern klingend, in der Küche wiedergeorgelt wurden. Darauf ist das Bäbele verdrießlich geworden; »es ist überhaupt keine Freude in dem Hause;« denkt sie, und statt daß sie mit dem Spülen um halb Drei fertig wäre, zieht sie dies Geschäft bis halb Vier hinaus, wo sie dann erst langsam die Hände mit Seife wascht, um darauf der ängstlich harrenden Gebieterin das Kleid zuzumachen. Diese, geärgert, echauffirt, kann mit dem übrigen Anzug kaum fertig werden, und erscheint nun statt um vier Uhr eine Viertelstunde später – der geneigte Leser mag selbst beurtheilen in welcher Laune – zum Kaffee.

Wie schon angedeutet, diese Nachmittagsgesellschaften sind entsetzlich, und der Geist der Verleumdung muß sie einstmals in höchsteigener Person erfunden und dazu geladen haben den gelben Neid, die grüne Bosheit, gräuliche Heuchelei, und alle andern Schwestern und Brüder dieser Geschlechter. Hier wird Alles, was in den Bereich der giftigen Zungen kommt, zerstückelt, zerrissen, verdammt ohne alle Gnade und Barmherzigkeit. – Abends bei einem harmlosen Thee geht es schon einige Grade sanfter und gemüthlicher zu. Am Ende des Tages ist man überhaupt versöhnlicher gestimmt, ist zu Liebe und Duldung geneigter jeder Mensch, ja sogar die Zunge der schlimmsten Frau. Da geht es denn oftmals ohne bedeutendes Blutvergießen ab; es herrscht hier – mit Ausnahmen natürlich – ein Geist der Sanftmuth; nur zuweilen wird ein guter Name geknickt, ein bis dahin guter Ruf vernichtet.

Aber im Laufe des Winters werden sie langweilig diese Gesellschaften, man hat sich schon zum Oefteren auf gleiche Weise beisammen gesehen, man hat schon unzählige Mal die neu plattirte Theemaschine bewundert oder das Porzellanservice, das voriges Jahr [81] angeschaffte; auch weiß man, daß der Silbervorrath aus achtzehn Löffeln besteht; die neuen Ueberzüge des Sopha's und der Stühle geben keinen rechten Stoff mehr zur Unterhaltung, ja sogar die eigenen Zungen sind abgenutzt und die Zähne haben sich stumpf gebissen an dem Wohl und Wehe des lieben Nächsten. Was das Schlimmste ist, es ist vielleicht keiner der glühenden Wünsche erfüllt worden, mit denen man die Wintersaison eröffnet, – es kamen die Wasser all', die gebeten wurden, aber die Einladungen dagegen fielen spärlich aus. Madame konnte sich trotz des großen Aufwands von Zucker, Thee und Backwerk nicht aus der siebenten Rangklasse erheben und hineinschmuggeln in höhere Regionen.

Man vergrößert nun die Theegesellschaften; statt daß man, wie bis jetzt, die Magd oder einen entlehnten Bedienten herum schickt und auf eine Tasse mit Zuthaten einladen läßt, werden nun Karten geschrieben, auf denen es heißt: Herr und Madame Backstein bitten Frau Regierungsräthin Hintenüber mit vier Töchtern zu einem Thé dansant auf morgen Abend etc. Unten links in der Ecke steht das bekannte: U.A.w.g. – Um Antwort wird gebeten; die jüngeren Damen übersetzen es sich aber: Und Abends wird getanzt.

Zur gewöhnlichen Theegesellschaft war doch nur eine kleinere Anzahl von Gästen versammelt, die der Salon ohne viele Schwierigkeiten in sich aufnehmen konnte, eine Anzahl Auserwählter, ein Elitencorps, ein Cadre der Armee; zum tanzenden Thee dagegen ist nun die sämmtliche Mannschaft einberufen wor den: Kriegsreserve, Landwehr ersten und zweiten Aufgebots, ja längst schon nicht mehr dienstfähige und sehr strapazirte Invaliden. Da rüstet sich nun Alles, diesem Rufe Folge zu leisten, und erscheint zu Fuß und zu Wagen. Einige Zeit nach der angegebenen Stunde sind dann die hinteren Zimmer auch glücklich mit Menschen vollgepropft, und die vorderen füllen sich nach und nach ebenso an. Man becomplimentirt sich, man stößt einander, man tritt sich auf die Hühneraugen, man [82] kann nicht zu einer hübschen Frau gelangen, denn sie ist von einem Kreis von Vaterlandsvertheidigern umgeben, und wenn man endlich glaubt, durchbrechen zu können, wird man von einem langweiligen Kerl zurückgehalten, der durch die hinten Stehenden fast auf uns hinaufgeschoben wird, der mit stets offenem Munde spricht, uns beständig in gelinder Anfeuchtung erhält, und der, ehe er sich in eine Unterhaltung mit Jemand einläßt, auf alle Fälle vorher ein stärkeres Parfüm sich hätte aufgießen sollen.

In einem der hinteren Zimmer sitzt die corpulente Hauswirthin in schwitzender Selbstwonne, zählt unruhig die Häupter ihrer Lieben und denkt mit Wallenstein:


– – – – – – – – – – – – – – – So Vielen
Gebietest du! Sie folgen deinen Sternen
Und setzen, wie auf eine große Nummer,
Ihr Alles auf dein einzig Haupt, und sind
In deines Glückes Schiff mit dir gestiegen.
Doch kommen wird der Tag, wo diese Alle
Das Schicksal wieder aus einander streut;
Nur Wen'ge werden treu bei dir verharren.
Den möcht' ich wissen, der der Treuste mir
Von Allen ist, die dieses Lager einschließt.
Gib mir ein Zeichen, Schicksal! Der soll's sein,
Der an dem nächsten Morgen mir zuerst
Entgegen kommt mit einem Liebeszeichen.

Während dem steht der dürre Gemahl im altmodischen schwarzen Fräckchen an der äußern Zimmerthüre und freut sich, wie ein Kind auf die Weihnachtsbescheerung, über jeden Neuangekommenen. Rechts und links streckt er die Hände zum sanften Drucke aus, während er einem Dritten zuwinkt und zu einem Vierten sagt: »Ei, Sie kommen sehr spät, Herr Hofkapellmeister.«

Letzterer ist aber offenbar der Klügste, denn zu einem solchen [83] Thé dansant in einem stillen Bürgershause früh zu kommen und spät zu gehen, dazu gehört mehr Heldenmuth als mancher Mensch besitzt. Hat man erst einmal seine Pflicht gethan, der Frau vom Hause ein Compliment gemacht, hat sich darauf wieder wie ein Krebs zurückgezogen – eigentlich ein schlechter Vergleich, denn ein Krebs braucht nicht rückwärts zu schauen und läuft behaglich im kühlen Wasser, während an dir sehr unbehaglich das Wasser herunter läuft und du jeden Augenblick hinter dich sehen mußt, um nicht die Perle irgend einer Rangklasse umzurennen – so kann man sich ja das Uebrige am andern Morgen von einem Freunde, der bis zum Ende geduldet und gelitten, der Morgens früh um drei Uhr, an allen Gliedern wie gerädert, der Hausfrau zum Abschied die Hand geküßt und ihr versichert hat, daß er lange keinen so charmanten Abend verlebt, erzählen lassen, kann da behaglich den Bericht anhören, wie der Andere die Tanzmusik noch von ferne gehört, den Thee und manches Andere von Nahem gerochen, das Backwerk gesehen und das Souper geahnet habe.

Aber auch die Gastgeberin fand nicht ihre Rechnung bei der Sache, keine Belohnung für die aufgewendeten großen Kosten: ihr Sohn, der angehende Referendär, hat umsonst der Tochter des Präsidenten den Hof gemacht; ihre beiden Töchter waren vergeblich in der glänzendsten Toilette erschienen, in ganz neuen blauen und rosa Barègekleidern; einige junge Leute, für welche man diese Fallen gestellt, waren nur tändelnd um dieselben herum geflogen, keiner hatte sich die Flügel am Strahlenlicht ihrer Augen verbrannt, – und Friederike war doch schon seit vier Jahren beinahe Zwanzig vorüber und ihre Schwester Louise ein paar Monate älter. Auch schien der Hausherr verdrießlich über die großen aufgewendeten Kosten und legte den Fascikel »Thé dansant vom vierten,« seufzend zu seinen Haushaltungsrechnungen. Sein Chef und Kanzleidirektor hatte ihm nicht die gehörige Aufmerksamkeit erwiesen, und die Frau des Ministers war nur einen Augenblick da gewesen, hatte [84] sogar zwei und ein halbes Mal gegähnt und über ungeheure Fatigue geklagt, als sie sagte, sie müsse heute Abend noch in eine andere Soirée fahren, zur Baronin Schnabilinsky. – –

Das hat man nun Alles hinter sich; man will keinen Thé dansant mehr veranstalten, man will auch nicht zurückgreifen zu den langweiligen Theegesellschaften, und da taucht einem erfindungsreichen Kopfe die Idee auf, lebende Bilder zu stellen; es ist das eine schöne Abwechslung und ein vielversprechendes Vergnügen. – Aber wie es dem armen Menschenkinde so oft geht: er sieht nur die Außenseite, ohne sich um die Schattenpartien zu bekümmern.

Wir können ein Wort darüber mitsprechen, geneigter Leser, denn wir kennen das Kapitel lebender Bilder, wir haben dieses Vergnügen durchgekostet und genossen in allen seinen betrübenden Einzelheiten. Wir haben in lebenden Bildern mitgewirkt in der unschuldigsten und angenehmsten Art derselben, wo sie harmlos improvisirt waren, wo eine einfache Stubenthüre das Proscenium bildete, wo vorhandene Shawls, Tücher, Hüte, Hauben, Mäntel und Mantillen die ganze Garderobe ausmachten.

Wir haben das ferner mitgemacht, wo in großen reichen Häusern appart eine Bühne aufgeschlagen wurde und Costüme eigens für diesen Abend gemacht waren, wo renommirte Künstler die Tableaux arrangirten und wo nichts gespart war an Dekorationen und Gewändern.

Wir haben endlich mitgewirkt an der Aufführung lebender Bilder in großen öffentlichen Lokalen, wo keine Einladungen stattfanden, wo die Zuschauer sich Billete kauften und wo die Einnahme für einen guten Zweck bestimmt war; wir haben dabei die traurigsten Erfahrungen gemacht, haben dabei gesehen, welch' unendliche Schwächen das Menschengeschlecht hat, wie Wenige unter ihnen wirklich einer guten Sache zulieb, die man vorschiebt, etwas thun, wie das eigene Ich überall selbstsüchtig hervorbricht, wie ein armer Unternehmer von dergleichen Geschichten beständig am Rande des [85] tiefen Abgrundes hintaumelt, in welchen er hinein stürzen und sich auf's Allerhöchste blamiren kann, weil Madame oder Fräulein A. am Tage vor der Aufführung absagen läßt, da ihr die Rollen nicht brillant genug sind, den andern Abend aber dafür in ihrer Loge sitzt und die schärfste Kritik übt; weil ferner die Madame B. die Madame C., D. und F. dir abwendig macht, da auch Mamsell Y. und Z. mit wirken sollen, die, Beide einer anderen Rangklasse angehörend, nicht würdig genug befunden worden sind, neben den Reichern und Vornehmern für die leidende Menschheit zu wirken. Man kann es Jenen eigentlich auch nicht übel nehmen, daß sie sich zurückziehen, denn es könnte da ja der traurige Fall eintreten, daß eine der Rangklasse nach geringere, in Wahrheit aber vielleicht viel bessere und edlere Mitwirkerin bei den lebenden Bildern einen Tag nach der Aufführung es wagen würde, die andere eines freundlichen Grußes zu würdigen und ihr dergestalt an ihrem Credit schadete bei Vettern, Nichten, Basen und Muhmen, ja bei der ganzen hochpreislichen unfehlbaren wirklichen und Geldverwandtschaft. –

Einer kleinen Andeutung des oben Gesagten konnten wir uns nicht enthalten, denn es wird gewiß auch anderswo zuweilen mit ähnlicher Lieblosigkeit verfahren, einer Lieblosigkeit der sogenannten bevorzugten Klassen gegen andere, die in ihren Aeußerungen so sehr nachhaltig und verletzend, ja die im Stande sein kann, Zukunft und Lebensglück zu untergraben, die sich nicht in einer einzelnen Mißhandlung gegen den Nebenmenschen Luft macht, sondern die ein schwaches Gemüth, wie es deren ja viele gibt, durch fortgesetzte Quälereien und Nadelstiche zu Tode martert. Es ist das ein Kapitel, welches in keiner Sklavengeschichte fehlen darf, und das auch in Onkel Tom's Hütte vorkommen würde, wenn es dort bürgerliche Rang- und Klassenunterschiede gäbe, und wenn sich in Amerika eine schwarze Kommerzienräthin zieren würde, mit einer Gleichgefärbten am nämlichen Tische ihren Thee zu nehmen, weil sie selbst vielleicht nur die Urenkelin eines Barbiergehilfen ist, [86] während der Vater dieser vielleicht noch im gegenwärtigen Zeitpunkte seine Kunden einseift. – Darin sind die Schwarzen glücklicher, denn sie kennen keine Standesunterschiede und haben, wenn auch gleiche Leiden, doch in dieser Beziehung auch gleiche Freuden, wogegen bei uns freien Weißen neben der großen Peitsche, die das allgemeine Schicksal über uns schwingt, noch so viele Peitschen um unsere Ohren sausen, deren Schlag, heimtückisch und aus dem Dunkel nach uns geführt, viel schmerzlicher ist als der Schlag der großen Zuchtruthe. Diese Schläge aber, geliebter Leser, sind unsichtbar wie die gewissen zauberhaften Ohrfeigen, und es wäre gar zu komisch, wenn es auf einmal möglich gemacht würde, all' die kleinen Geißeln zu sehen, die ein Mensch gegen den andern schwingt. Das wäre erstaunlich amusant, wenn du zum Beispiel bemerken könntest, wie jener Mann, der dir so theilnehmend erzählt, man habe von dir ausgesagt, du hättest neulich diese oder jene Schlechtigkeit begangen, aber es sei eine niederträchtige Verleumdung, und er selbst wisse das ganz genau, – wie er bei diesen Worten seine kleine Peitsche schwingt und dich recht absichtlich tief in's Herz trifft. – Ja, in der That, wir wüßten nicht, was wir um den Anblick geben würden, unsere lieben Nebenmenschen so auf einmal zu sehen bei Spaziergängen, in Gesellschaften, im Theater, bei freundschaftlichen Mittagessen, Alle in gegenseitiger Prügelbeschäftigung, Alle mit langen und scharfen Geißeln in der Hand. Aber es ist doch besser, wenn sie unsichtbar bleiben, denn es würde der geneigte Leser auch wahrnehmen, wie wir, seine harmlosen und ganz unterthänigsten Erzähler, zuweilen eine tüchtige Schnur an unsere Feder binden, um rechts und links um uns zu hauen, zur Belustigung der Unparteiischen, aber auch zur Strafe unserer Weißen Sklavenbesitzer.

29. Kapitel
[87] Neunundzwanzigstes Kapitel.
Eine Probe lebender Bilder.

Der Kommerzienrath Erichsen hatte in seinem Namen und in dem seiner Frau die nothwendigen Einladungen besorgt und eine Auswahl unter den Honoratioren der Residenz freundlichst gebeten, sich zu einer ersten vorbereitenden Probe lebender Bilder an einem gewissen Tage bei ihm Nachmittags drei Uhr einfinden zu wollen. Das Gerücht von diesen Einladungen hatte in den betreffenden Kreisen keine kleine Aufregung hervorgebracht. Manche Dame, die wohl erwarten konnte, zur Aufführung eingeladen zu werden, hoffte aber mit Zittern und Zagen auch auf ein an sie gerichtetes Gesuch zur Mitwirkung und schrak bei jedem Tone der Klingel zusammen, ob der ersehnte Bediente nicht erscheine. Manch' schüchterne Frage an das Schicksal, das heißt in diesen Fällen an die Mutter und den Spiegel, wurde gethan, ob es denn wohl möglich sei, da ausgeschlossen zu werden, wo die Erwählten sich in schönen Stellungen und noch schöneren Costümen vor der ganzen Gesellschaft zeigen werden.

Der Kommerzienrath war der Erste, der seit langen Jahren wieder die Tableaux in Aufnahme zu bringen versuchte, und man bemerkte deutlich an so Vielem, daß diese Idee eine zeitgemäße sei. Man hofirte dem alten Herrn, noch mehr aber der finsteren Räthin auf die auffallendste Art von der Welt; es kamen Besuche über Besuche und deßhalb die alte Dame tagelang nicht von ihrem Sopha, der Bediente nicht von der Hausthüre hinweg. Im Theater schmachtete man im ganzen zweiten Range nach der Loge des Banquiers, wie es der gesammte Adel im ersten Range bei festlichen Gelegenheiten nach der Loge Seiner Majestät zu machen pflegt. Der Kommerzienrath war in diesem Augenblicke nicht blos der König [88] der Börse, er war auch der König seiner Gesellschaft, und wenn er in seine Loge trat, so zuckte es rechts und links von den Stühlen empor; mancher lange Hals von der Weiße eines Schwans und der Kehlengelenkigkeit einer Gans that das Uebermögliche, um sich um einen neidischen Pfeiler herum biegen zu können. Unternehmende Beamtentöchter der Kommerzienräthin gegenüber bemühten sich auf's Auffallendste, ihre körperlichen Reize in's beste Licht zu setzen; sanfte Blondinen stützten sich schüchtern und melancholisch auf den Arm und schlugen in unnachahmlicher Weichheit zuweilen die Augen auf, um ihre Qualifikation zu irgend einer Heiligen oder gar zur Himmelskönigin darzuthun. Andere mit blitzenden Augen und vollen schwarzen Haaren sahen verwegen über die linke Schulter irgend einen zusammengehockten Rechnungsrath an, als fühlten sie die Kraft einer Judith in sich und sähen sich vielleicht veranlaßt, nächstens ihrem stillen Nachbar den Kopf abzuschlagen.

Arthur hatte übrigens während dieser Zeit zu Hause mit Mama bedeutende Kämpfe zu bestehen. Die Costümfrage war glücklicher Weise zu Gunsten des Theaters entschieden worden, und sogar mit Beihilfe einer alten geizigen Oberregierungsräthin, die von Adel war, wenn gleich etwas zweifelhaftem, dabei drei eingeladene erwachsene Töchter besaß, und die förmlich vor dem Gedanken zurückschauderte, denselben Costüme machen zu lassen.

Was aber die Einladungen betraf, so konnte der Maler zu seiner großen Verzweiflung hierin nicht den Sinn der Mutter ändern. Er hatte natürlicher Weise die schönsten Frauen und Mädchen aufgeschrieben, sowie Männer von guten Gestalten und interessanten Köpfen; die unbeugsame Mutter aber verfuhr streng nach dem Gesetz: sie fing oben bei ihrer Rangliste an, und da die gelben Töchter des Kanzleidirektors begreiflicher Weise vor der schönen, jungen Sekretärsfrau und vor den reizenden Töchtern des Postmeisters kamen, so wurden jene zur Aufführung eingeladen, diese aber zum Zusehen verdammt.

[89] Der verhängnißvolle Tag der ersten Probe kam so heran; Arthur hatte den größten Saal des väterlichen Hauses dazu eingerichtet, indem er vorn auf verschie denen Staffeleien die auserwählten Bilder aufstellte, im Hintergrunde aber eine kleine Estrade errichtet hatte, worauf probirt werden sollte. Der Kommerzienrath hatte sich von dieser Probe zu entschuldigen gewußt – er war auch in Wahrheit gänzlich überflüssig, und die alte Dame verstand, wie wir wissen, auch ohne ihn das häusliche Scepter zu schwingen. Sie saß steif in ihrer Sophaecke; ihr hartes Gesicht war noch ernster als sonst, und wenn man die finster herabgezogenen Augenbrauen betrachtete, so bemerkte man, daß sich die Dame in keiner freundlichen Gemüthsstimmung befand.

Außer dem alten Herrn war so ziemlich die ganze Familie versammelt; Marianne saß wie damals neben ihrer Mutter in der anderen Ecke des Sopha's; Alfons, der Schwiegersohn, ging mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab, und die beiden Söhne des Hauses, Arthur und Eduard, standen neben einander am Fenster. Ueber Alle aber schien sich ein verdrießlicher Geist niedergelassen zu haben.

Die Kommerzienräthin hatte in den letzten Tagen mancherlei Aerger erlebt, ihre Schwiegertochter war mürrischer und unaufmerksamer gegen Mann und Kinder als je gewesen, und Alfons hatte ebenfalls mit seiner Frau einige heftige Scenen, die lebenden Bilder betreffend, gehabt. Er erklärte es nämlich für unpassend, daß sie selbst mitwirke, hatte auch unter Anderem gesagt, er finde diese Tableauxgeschichte durchaus nicht anständig und begreife nicht, wie Mama dergleichen arrangiren möge; er für seine Person werde sich wohl hüten, in irgend einem Bilde mitzuwirken; – wofür ihm Arthur übrigens sehr dankbar war; – auch halte er es für unschicklich, hatte er ferner gemeint, mit jungen Männern oder auch mit jungen Damen in so vertrauliche Gruppen zusammen zu treten, wie es so häufig die Bilder erforderten. Die Kommerzienräthin [90] hatte darauf ziemlich heftig zu Gunsten ihrer Soirée gesprochen, doch war immer von diesem ausgestreuten Samen ein Körnchen bei ihr aufgegangen, welches von einem dem Hause befreundeten Geistlichen genährt wurde, der unter Anderem mit niedergeschlagenen aber dabei verdrehten Augen nur ganz ergebenst darum gebeten hatte, keine Heiligenbilder oder Darstellungen aus der heiligen Schrift zu wählen.

Arthur stand, wie gesagt, bei seinem älteren Bruder am Fenster, und wenn auch letzterer angelegentlich auf die Straße zu blicken schien, so warf er doch zuweilen verstohlener Weise einen Blick in die hinterste Ecke des Zimmers, wo seine Frau in einem Fauteuil lag, die Fingerspitzen beider Hände an einander hielt und sehr beruhigt an den winterlichen Himmel hinauf blickte. Eduard schien dagegen wie oft sehr aufgeregt.

»Du kannst dir nicht denken,« sagte er leise zu sei nem Bruder, »wie diese Frau es versteht, mich zu plagen und zu quälen. Ich will nichts davon sagen, daß sie mir täglich ein finsteres, mürrisches Gesicht macht, so daß ich es im ganzen Jahre ohne Anstrengung behalten kann, wenn sie mich einmal heiter anblickt, – aber ihre Gleichgiltigkeit gegen mein Haus, gegen ihre Geschäfte als Frau, ja gegen meine Kinder ist oft wahrhaft empörend!«

Arthur zuckte die Achseln. »Euch Beiden ist schwer zu helfen,« sagte er.

»Das sehe ich leider Gottes ein. Aber soll ich denn diese Geschichten ewig ertragen? – Ich mag nach Hause kommen, wenn ich will, so finde ich Ursache zum Klagen und zum Streit.«

»Du nimmst auch Alles zu genau.«

»Ich nähme Alles zu genau!« erwiderte Eduard vorwurfsvoll; »ich möchte dich sehen, wenn du an meiner Stelle wärest! Du weißt zum Beispiel, wie sehr ich auf Ordnung in meinem Schreibzimmer sehe.«

[91] »Ja, ja; darin hat ja deine Frau nichts zu thun und kann also nichts in Unordnung bringen.«

»Sie geht selbst auch nicht hinein; aber sie läßt meine Papiere, meine so zierlich aufgestellten Sachen den Kindern zum willkommenen Spielzeug.«

»Das ist freilich arg.«

»So komme ich denn gestern nach Hause; sie ist in ihrem Salon, unsere Mägde halten Kaffeegesellschaft im Hinterzimmer, mein Herr Sohn und meine Fräulein Tochter beschäftigen sich gerade damit, aus ganz wichtigen medizinischen Gutachten, die ich da liegen habe, Düten zu schneiden, in welchen sie meinen feinen Tabak und Streusand unter einander mischen, um sich einen Laden zu arrangiren. Dazu haben sie meine Pfeifen von den Gestellen herabgenommen, ein paar sind schon zerbrochen, und ich komme noch gerade recht, um größeres Unheil zu verhüten.«

»Da würde ich in Zukunft mein Schreibzimmer abschließen und den Schlüssel beständig bei mir tragen.«

»Allerdings hätte ich vielleicht dort Ruhe, aber um nicht den ganzen Tag Ursache zum Aerger vor mir zu sehen, müßte ich schon das ganze Haus abschließen und Niemand darinnen lassen als mich und meine Kinder. Du hast gar keine Idee davon, Arthur, was diese Frau für ein Talent zur Unordnung besitzt; es ist dies ein wahres Talent zu nennen und wäre unter anderen Bedingungen erstaunenswerth. Sie schließt keine Thüre und kein Fenster, sie legt keinen einzigen Gegenstand an den gehörigen Platz; läßt sie sich einmal herab, dem Hund sein Futter zu geben, so bekommt er dasselbe in irgend einer meiner kostbaren japanischen Tassen; zieht sie eine Uhr auf, so sprengt sie entweder die Feder oder verwickelt die Ketten in einander. – Nun, von ihrer Toilette will ich gar nicht sprechen, das hast du ja vor Augen und wirst es mir deßhalb glauben. Betrachte sie ein einziges Mal, ob der Anzug, den sie trägt, vollkommen zu einander paßt! Ich wette hundert [92] gegen eins, daß dir eine ganze Menge Unordnungen beim ersten Anblick in die Augen springen werden. – Siehst du, Arthur, und das macht mich unaussprechlich elend; ich befinde mich den ganzen Tag in einer krankhaften Aufregung.«

»Wodurch du aber die Sache nicht besser machst,« entgegnete der Maler. »Eben diese krankhafte Aufregung ist schuld, daß du wie ein Falke nach Allem spähst und gewissermaßen froh bist, wenn du etwas findest, was dir gestattet, diese Aufregung explodiren zu lassen.«

»Nein, gewiß nicht.«

»Was du mir da Alles erzählt hast, sind an sich nur Kleinigkeiten; aber obgleich ich mir wohl denken kann, daß sie dich auf's Tiefste verstimmen, wenn sie beständig vorkommen, so solltest du dir doch einmal fest vornehmen, dich dadurch nicht zum Zorn hinreißen zu lassen, sondern ruhig und bestimmt das zu sagen, was du sagen willst, dann dich auf dem Absatz umzudrehen und deiner Wege zu gehen.«

»Du hast Recht, lieber Arthur,« versetzte seufzend der Bruder. »Wenn ich das nur könnte! Aber ich bin es nicht im Stande; wenn ich zu Hause nur einen einzigen Menschen hätte, der es mit mir hielte, der mich unterstützte! Aber ich versichere dich, bis auf die Kinder hinab komplottiren sie gegen mich. – Und erst unsere Dienerschaft! Die handelt vollkommen nach dem Beispiel von Madame. – Unordnung und Gleichgiltigkeit vornen und hinten.«

»Aber denen kannst du doch befehlen.«

»Ich befehle auch, um von ganz gewöhnlichen Dingen zu reden, daß zum Beispiel meine Kinder Punkt acht Uhr jeden Morgen ihren Kaffee haben sollen, und zwar an einem bestimmten Tische; ich setze es nicht durch, Gott bewahre! Eins wird im Bett gefüttert, das andere verzehrt sein Frühstück auf dem Waschtisch, und ich bin schon dazu gekommen, daß Oskar in aller Gemüthlichkeit [93] sein Brod in das Seifenwasser tunkte und dann aufaß. Sollen Einem da nicht die Haare zu Berge stehen?«

Arthur zuckte beistimmend die Achseln.

»Du weißt, ich will immer um ein Uhr zu Mittag speisen,« fuhr Eduard fort; »aber ich bringe es nicht dahin. Bald will sie Nachmittags etwas vorhaben, und es steht dann die Suppe schon nach zwölf Uhr auf dem Tisch, bald ist es Zwei und ich mag klingeln wie ich will, es erscheint Niemand. – Das sind freilich Alles keine großen Sachen, aber es ist viel schlimmer als ein schweres Unglück, das uns betrifft und mit einem Mal zu Boden schlägt, – es martert uns mit beständigen Nadelstichen zu Tode.«

»So wird also deinen Befehlen nicht Folge geleistet, und wenn du hie und da eine Scene aufführst, was nicht selten bei dir vorkommt –?«

»So habe ich selbst den Schaden davon. Madame zieht bei dem leisesten Wort ein Gesicht und sagt mir während vier Wochen nicht die Tageszeit, ich bin in meinem eigenen Hause wie die reine Gottesluft, ich existire als Gegenstand für Niemand – man sieht mich gar nicht an. Und das zu ertragen bin ich einmal nicht im Stande!«

»Und deßhalb bist du der Erste, der wieder gute Worte gibt!« sagte Arthur mit leisem Tone.

»Was soll ich machen? – Ich kann solch' ein Leben zu Haus nun einmal nicht ertragen. Du hast gar keine Idee davon, was es heißt, so ein finsteres Gesicht vor sich zu sehen. Morgens vom Aufstehen, bis Abends, wo man zu Bette geht, kein Zorn, kein Aerger, der sich dem meinen entgegensetzt, nein – nein, eine unheimliche Gleichgiltigkeit, die Schwüle eines Gewitters, das nicht zum Ausbruch kommt, das keine wohlthätigen Blitze herabsendet, welche die Luft reinigen, und bei dem man nur in der Ferne ein gelindes Donnern hört. – Letzteres besorgen an solchen Tagen meine freundlichen Dienstboten, die im Verein mit Madame mich [94] zu bestrafen trachten, indem sie meine Befehle schlecht und mürrisch ausführen, jeden Augenblick Gläser und Schüsseln hinfallen lassen und die Thüren zuschlagen, daß Einem Hören und Sehen vergeht.«

Obgleich Eduard diese Schilderung seiner häuslichen Sklaverei dem Bruder im Tone des tiefsten Schmerzes machte, so konnte sich doch dieser eines kleinen Lächelns nicht erwehren. – »Es sind das allerdings Nadelstiche,« sagte er, »aber du mußt sie zu pariren wissen. Waffne deine Haut mit Geduld, tritt fest auf, zeige deinen Frauenzimmern den Herrn, und wenn sie anfangen mit dir zu boudiren, so zwinge dich, darüber zu lachen und nimm die Sache ebenfalls gleichgiltig.«

»Wie oft habe ich mir das schon vorgenommen!« versetzte Eduard mit betrübtem Tone; »aber ich kann nicht. Ach! wie könnten wir so glücklich sein, wenn meine Frau anders wäre! Ich liebe sie immer noch wie damals, und wenn hie und da ihr Gemüth freudig ist und sich in ihrem Auge ein Sonnenstrahl zeigt, so bin ich der glücklichste Mensch von der Welt, vergesse und vergebe Alles, trage sie auf den Händen und –«

»Verderbe damit Alles,« warf Arthur ein. – »Aber ich habe gut predigen, wir haben vom Vater das weiche Gemüth, vielleicht ginge es mir gerade so. Du mußt dich in Geduld fassen.«

»Ja,« seufzte der Andere, »ich muß mich in Geduld fassen. Aber wenn die Geduld einmal bei mir zu Ende ist, wenn mein trostloses Hauswesen von keinem Strahl der Freude mehr erhellt und wenn es rings um mich immer finsterer wird, dann – – gibt es doch noch einmal ein gräßliches Unglück,« setzte er mit ganz leiser Stimme hinzu.

Während dieser Unterredung, die am Fenster und natürlicher Weise nicht laut geführt wurde, schien für die Uebrigen ein Engel oder ein Polizeidiener, wie man zu sagen pflegt, durch das Zimmer zu schweben, denn es sprach weiter Niemand; nur die alte Dame machte hie und da einiges Geräusch, indem sie mit den [95] Fingern leicht auf dem Tische trommelte, was bei ihr jedoch immer als ein Zeichen ziemlich übler Laune anzusehen war.

30. Kapitel
Dreißigstes Kapitel.
Gesellschaftliche Correspondenzen.

Um drei Uhr sollte die Probe beginnen, und man hatte bis dahin noch ungefähr eine halbe Stunde Zeit.

Der Bediente trat in das Zimmer und überreichte der Kommerzienräthin zwei Briefe. Sie öffnete dieselben, las sie durch und reichte sie dann ihrem Sohne Arthur.

»Hochverehrtheste Frau Räthin,« hieß es in dem einen; »Sie werden wahrscheinlich überzeugt sein, wie außerordentlich schätzenswerth und höchst angenehm mir jede Ihrer freundlichen Einladungen ist. Deßhalb kämpfte ich auch bis heute, ja bis um diese Stunde, ehe ich den Entschluß fassen konnte, Ihnen vorliegende Zeilen zu übersenden, mit denen ich Ihnen, hochgeschätzte Frau, unter tiefstem Bedauern anzeigen muß, daß es mir unmöglich ist, in den lebenden Bildern mitzuwirken. Natürlicher Weise können Sie verlangen, den Grund dieses meines harten Kampfes und späten Schreibens zu erfahren; aber nehmen Sie es mir nicht übel, werthgeschätzte Frau, wenn ich Ihnen die Wahrheit sage. Es wurde gestern nämlich gerüchtsweise bei Obertribunalraths erzählt, es sei durch Ihren Herrn Sohn Arthur auch eine Einladung zu den lebenden Bildern an den Doktor F. mit seiner Frau gelangt! – Wenn diese Leute auch hie und da in größeren Gesellschaften gesehen werden, so bin ich fest überzeugt, daß Sie, werthgeschätzte Frau, doch Anstand nehmen, sie zur Aufführung lebender Bilder einzuladen. [96] In einer Soirée kann man sich ausweichen, aber in einem Tableau – meine Töchter befinden sich in unbeschreiblicher Aufregung und Angst. Denken Sie, wenn es Ihrem Herrn Sohn, dem Herrn Maler Arthur, am Ende einfiele, die Frau Doktor F. in einem Bild neben meine Julie oder meine Emilie zu plaziren! Ich bin fest überzeugt, die Frau würde darauf hin eine nähere Bekanntschaft versuchen, und dafür müßte ich – doch ganz besonders danken. Uebrigens bin ich wie immer mit aller Freundschaft


Ihre

Albertine Wasser,

verwittwete Tutelar-Räthin.«


Die Kommerzimräthin hatte, während ihr jüngster Sohn las, jede Miene desselben mit Ruhe aber großer Bestimmtheit betrachtet, ja, sie war mit ihrer langen spitzen Nase seinen Augen gefolgt, wie sie auf dem Papier hin und her liefen, und als bei Erwähnung des Doktors F. und Frau ein verächtliches Lächeln über seine Züge flog, drückte die alte Dame ihre Augenbrauen finster herab und trommelte drohend und in einer unbeschreiblichen Taktart auf dem Tische.

»Nun?« fragte sie streng, nachdem Arthur den Brief durchlesen und nun lächelnd aufschaute. »Was ist an dieser Geschichte?«

»Sie kennen ja den Doktor F. und seine liebenswürdige Frau,« erwiderte Arthur, – »einen meiner besten Freunde; sie wurden Ihnen durch mich vorgestellt.«

»Das weiß ich; – aber die andere Geschichte!«

»Sie machten mit Papa auch einen Gegenbesuch.«

»Schicklichkeitshalber. Aber –«

»Sie luden die Beiden im vergangenen Winter zu dem großen Thé dansant ein,« fuhr der Sohn ruhig fort.

»Das that ich,« entgegnete sehr ernst die Mama, »erstens, [97] weil ich auf deine Bitten die Vorstellung geduldet, zweitens, weil sich die Leute, so lange sie hier sind, nicht unanständig aufgeführt, und drittens, weil, wie die verwittwete Tutelar-Räthin ganz richtig bemerkt – das bei einer großen Soirée in der Menge verschwindet.«

»Aber F.'s waren auch später noch einmal da,« sagte Arthur, indem er den Brief leicht auf den Tisch warf und die rechte Hand fest auf diesen stützte – eine Haltung, die Jemand annimmt, der zum ernstesten Widerstand entschlossen ist.

Die Nase der Kommerzienräthin erhob sich einen halben Zoll höher. Sie hörte auf zu trommeln und griff nach ihrem Sacktuche, in das sie leise hinein hustete. – »Allerdings hast du Recht,« fuhr sie darauf mit nicht weniger Ruhe fort, als ihr Sohn; »das geschah abermals auf deinen dringenden Wunsch und war eine ganz kleine Gesellschaft, die ich mit großer Umsicht für die F.'s ausgesucht. Dabei war unter Anderem der Buchhalter deines Papa's nebst seiner Frau, dein – Freund und Kollege, der Professor C. und ähnliche Leute. – Aber die Geschichte, die in dem Briefe angedeutet ist, wie ist es damit?«

»Doktor F. wurde mit seiner Frau von Ihnen zum Zusehen eingeladen, ist also doch einmal von der Gesellschaft. Da ich nun die Frau in einem der Bilder sehr gut brauchen kann,« fuhr Arthur in sehr entschiedenem Tone fort, »so bat ich ihn ebenfalls zur Probe. – So ist die Geschichte, und also hat die verwittwete Tutelar-Räthin Recht.«

»Ah!« machte die alte Dame, und ihre Augen schoßen ein paar Blitze auf den ungerathenen Sohn. Sie ergriff darauf abermals ihr Taschentuch und hustete stärker hinein als früher. Dann brachte sie ihre rechte Hand wie vorhin auf den Tisch und begann ihr Trommeln von Neuem. Diesmal aber war es unverkennbar der Rhythmus eines Sturmmarsches.

Einen Augenblick schaute sie alsdann fragend im Kreise umher, [98] als wollte sie jeden Einzelnen auffordern, über diese unerhörte That einige mißbilligende Worte zu sagen.

Aber Alle schwiegen; nur Alfons neigte den Kopf auf die Seite, lächelte fatal und sagte: »Das hättest du nicht thun sollen, Arthur.«

»Und warum nicht?« fuhr dieser auf.

»Weil die F.'s nun einmal nicht zu unserer – Gesellschaft gehören.«

»Sie sind uns vorgestellt, sie kommen in unser Haus!«

»Aber sie haben nicht das Recht, eine Einladung zu prätendiren; sie sind nur geduldet,« meinte Alfons, während er seine Brille näher an die Nase drückte.

»Und weßhalb sind sie bloß geduldet?« brauste der Maler stärker auf. »Wer hat das Recht, den Doktor F., dessen Name, ja dessen kleiner Finger mehr werth als zwei Dutzend Räthinnen mit ihrem Anhang, nur zu dulden? Wer kann sich unterstehen, dieser braven Frau gegenüber von Duldung zu sprechen? – einer ehrbaren, verständigen, musterhaften Frau, in jeder andern Stadt eine Zierde der Gesellschaft.«

»Und eine schöne Frau,« sagte Alfons höhnisch.

»Ja wohl, eine schöne Frau, Alfons!« rief der Maler. »Das wirst du, wie ich mich erinnere, ganz genau wissen, und ebenso kannst du mir am besten beistimmen: eine brave und tugendhafte Frau. – Nicht wahr, Alfons, davon –«

Er wollte sagen: »davon hast du einstens Beweise erhalten,« aber er bemeisterte sich glücklicherweise, doch wohl nur, weil er einem bittenden Blick seiner Schwester Marianne begegnete.

»Was ist es denn eigentlich mit dieser Frau?« fragte die Schwiegertochter der Kommerzienräthin von ihrem Fauteuil aus, ohne aber ihre Lage dabei im Geringsten zu verändern.

»Das will ich dir sagen, Bertha,« fuhr der Maler fort. »Wir sind ja hier unter uns.«

[99] »Stille!« rief die Kommerzienräthin. »Nach deinen heftigen Reden von vorhin zu schließen, bitte ich mir aus, daß du es unterläßt, diesen Punkt vor den beiden Frauen zu erörtern. Ueberhaupt gehört das nicht hierher, und ich möchte mir fast erlauben, den Papa herauf rufen zu lassen, um mich mit ihm zu besprechen, was in diesem eigenthümlichen Falle zu thun wäre.«

»O, dazu brauchen Sie nicht den Papa,« erwiderte Arthur nicht ohne Beziehung; »Sie werden schon selbst einen Entschluß fassen, Mama. Aber Sie wissen um die Sachlage; ich habe den Doktor F. mit seiner Frau nun einmal eingeladen, er wird in einer Viertelstunde da sein. Haben Sie nun vor, etwas gegen ihn zu thun und mich so zu compromittiren, so verlassen Sie sich darauf, daß ich mich nicht scheuen werde, die Sache Jedermann zu erzählen, der sie hören will!«

Während die Kommerzienräthin, ohne viel auf die Rede ihres Sohnes zu achten, mit sich zu Rathe ging, was hier zu beschließen sei, näherte sich der arme Eduard seiner Frau; er hatte schon vorher alle Versuche gemacht, einen freundlichen Blick von ihr zu erhaschen, aber sie schien heute nun einmal für nichts Anderes Sinn zu haben, als für den grauen winterlichen Himmel, den sie mit der größten Aufmerksamkeit betrachtete. Jetzt aber, wo sie auf ihre Frage von vorhin keine Antwort erhalten, schien es dem unglücklichen zuvorkommenden Ehemann die passendste Gelegenheit, seiner mißstimmten Frau einige Aufmerksamkeit zu widmen.

Er näherte sich dem Fauteuil und sagte leise: »Du hast vorhin wissen wollen, was es mit den F.'s für eine Bewandtniß habe, und weßhalb man sie nicht gern in die Gesellschaften ziehe?«

»O, es ist mir ganz gleichgiltig, wenn ich es auch nicht weiß,« entgegnete Madame.

»Aber du fragtest ja darnach!« sprach Eduard eifriger.

»Ja, wie man so fragt.«

»So will ich es dir sagen,« flüsterte er. »Den Doktor F. [100] kennst du ja – er ist einer unserer geschicktesten und talentvollsten Aerzte, noch sehr jung, hat aber schon eine sehr große Praxis.«

»Allerdings größer als die deinige,« entgegnete die liebenswürdige Frau.

Eduard biß sich auf die Lippen, bemeisterte sich aber und fuhr ruhig fort: »Der Vater der Doktorin ist ein unbedeutender Rechnungsbeamter – eine arme aber brave Familie. Doch ist ein Fehltritt vorgekommen, – – mit ihrem jetzigen Manne natürlich. Die Sache konnte nicht verheimlicht werden, denn ihr ältestes Kind kam etwas frühzeitig auf die Welt.«

»Das ist die ganze Geschichte?«

»Das ist Alles, was man der Frau nachsagen kann, denn sonst ist sie ein Muster von Ordnung, liebt ihren Mann und erzieht ihre Kinder auf's Sorgfältigste.«

»Unbegreiflich!« entgegnete hierauf Madame, und im Gegensatz zu dem soeben geführten Gespräch mit so lauter Stimme, daß man es deutlich im ganzen Zimmer hören konnte. – »Das kommt ja zuweilen vor; ist denn nicht eurer Cousine Emma, der jetzigen Hauptmännin S., ganz die gleiche Geschichte passirt?«

»Nun ja; sprich doch leise!«

»Und davon hat man ja gar kein Aufhebens gemacht; die kommt ja nach wie vor in alle Gesellschaften,« sagte Madame noch lauter.

Die Kommerzienräthin war bei diesen Worten heftig zusammengeschreckt, sie hustete und trommelte abwechselnd und war schon im Begriffe, ihrer Schwiegertochter eine passende Antwort zuzuschleudern, doch fragte Arthur in diesem Augenblicke ziem lich gelassen:

»Nun, Mama, was beschließen Sie wegen – dieser Geschichte? Die Zeit drängt; wir haben nur noch einige Minuten Zeit, und ich bin überzeugt, daß Doktor F. sehr pünktlich sein wird.«

[101] »Das glaube ich auch,« versetzte Alfons höhnisch lachend. »Solch eine Gelegenheit kommt nicht sobald wieder.«

Die Kommerzienräthin hatte ihren Entschluß gefaßt. Sie trommelte noch leise auf den Tisch, daß es klang wie ein dumpfer entfernter Donner. Dann sagte sie: »Die Sache ist nun einmal geschehen, und kann ich, ohne den Anstand des Hauses zu verletzen, nichts mehr daran ändern; ich will dich also vor den Leuten nicht bloßstellen, dagegen sei es deine Aufgabe, die F. äußerst wenig in den Bildern zu beschäftigen, vielleicht nur in einem, wozu ich selbst mit Sorgfalt die anderen Personen aussuchen werde. Und dieses Bild, worin sie plazirt werden soll, wird alsdann in der Aufführung begreiflicherweise nicht gestellt; du hast das also dem Doktor F. zu unterbreiten und ihn zu veranlassen, bei der Vorstellung nicht unter den Mitwirkenden zu erscheinen. Wie du es anfängst, ist deine Sache; möge es dir recht schwer werden, denn die Voreiligkeit, die du begangen, verdient ihre Strafe!«

Arthur kannte seine Mutter und wußte, daß vorderhand eine Erwiderung zu nichts führen würde. Er trat an das Fenster zu Eduard und zeichnete gedankenvoll mit seinem Nagel eine fürchterliche Fratze auf die angelaufene Scheibe.

»Hast du was mit – der Wasser gehabt?« fragte Eduard.

»Nein,« entgegnete Arthur, »aber ich mag die Familie nicht, das wissen sie wohl. Ihre Töchter, die aufdringlichen Schneegänse, hassen mich ganz besonders; ich hätte sie einmal zeichnen sollen, habe mich jedoch für diese Ehre bedankt.«

»Weßhalb haßt denn die Tutelar-Räthin die Doktorin F. so grimmig?«

»Das ist sehr einfach; es hat der Wasser selbst die größte Mühe gemacht, in den Kreisen der Gesellschaft, wo sie jetzt gelitten ist, durchzudringen. Und das mit einigem Recht, weil über ihre Familie ein sehr räthselhaftes Dunkel schwebt und weil sie eine boshafte, gallsüchtige kleine Person ist. Hauptsächlich aber dringt [102] sie auf Ausschließung der F., weil sie doch gar zu schlecht neben ihr aussehen würde. Denke dir die schöne Doktorin und die kleine, halbverwachsene Frau ohne alle Taille, mit ihrem gelben Teint und dem bösartigen Blick!«

»Pfui, Arthur!« sagte Eduard lächelnd, »man sollte ja glauben, du seiest in einer Kaffeegesellschaft. Wie kann man sich so ereifern! – Sei jetzt stille, Mama hat ihren zweiten Brief gelesen und ihn Alfons übergeben. Er soll ihn vorlesen, sagte sie; geben wir Achtung!«

Alfons nahm in der That das zweite Billet aus den Händen seiner Schwiegermutter und nach einem gebieterischen Kopfnicken von Seiten derselben las er:

»Liebe Lotte! Deine Einladung habe ich allerdings erhalten, es ist mir aber wahrhaftig unmöglich, davon Gebrauch zu machen. Wie sich wohl von selbst versteht, wird dein Schwiegersohn, Herr Alfons, mitwirken, und da kann ich meinem Sohn doch nicht zumuthen, mit von der für uns so angenehmen Partie zu sein. Du weißt, daß sie einige heftige Worte zusammen hatten, und obgleich sich dein Schwiegersohn im größten Unrecht befand, so sah er sich doch bis heute nicht veranlaßt, meinem Karl einige versöhnliche Worte zu schreiben.


Sonst wie immer

deine treue Freundin

Louise.«


Marianne hatte bei dem Vorlesen dieses Briefes die Lippen zusammengebissen, Alfons zuckte nach Beendigung desselben mit den Achseln. »Ich kann da nichts sagen und thun,« meinte er. »Wenn Madame glaubt, ihr Herr Sohn habe Recht, so kann ich mir das ruhig gefallen lassen; ich aber behaupte, er hat Unrecht, und ich habe mir nun einmal vorgenommen, diese jungen Herren ihre Zudringlichkeiten fühlen zu lassen.«

[103] »Und was hat denn der, von dem es sich handelt, so Schlimmes begangen?« fragte ernst die alte Dame.

»Auf dem letzten Balle,« sagte Alfons sehr wichtig und ruhig, »tanzte er mit Mariannen zweimal. Ich hatte nichts dagegen; als er sie nun aber gar zum dritten Male auffordern wollte, verbat ich mir das, und da erlaubte er sich einige unpassende Bemerkungen, die ich ihm aber sehr passend zurückgab. Ich halte sehr auf den Anstand, Mama, wie Sie wissen, und will nicht, daß meiner Frau gegenüber etwas geschieht, worüber die Leute die Nase rümpfen können.«

»So etwas wird Marianne wohl schon selbst nicht thun, Herr Schwiegersohn,« erwiderte die Kommerzienräthin. »Uebrigens sehe ich gar nicht ein, wie ein dreimaliges Tanzen mit dem Sohne eines sehr befreundeten und sehr achtbaren Hauses unanständig sein könnte.«

»Ich sehe das auch nicht ein, Mama,« sagte die Tochter mit leiser Stimme.

»Das mag sein,« entgegnete Alfons mit erhobenen Augenbrauen, indem er die rechte Hand unter den Rock auf seine Brust steckte. »Es mag sein,« wiederholte er bestimmt, »daß meine Begriffe von Schicklichkeit und Anstand etwas genau und scharf ausgeprägt sind, aber ich halte sie einmal fest, wie ich sie fühle; und man thut in dem Punkt lieber zu viel als zu wenig.«

»Sie hatten nachher in einer Ecke des Saals tüchtige Händel zusammen,« flüsterte Eduard dem Maler zu, worauf Arthur beistimmend mit dem Kopfe nickte.

»Und es sollen da allerlei Dinge zur Sprache gekommen sein,« fuhr der Andere fort, »die sich mit seinen scharf ausgeprägten Begriffen von Anstand und Schicklichkeit nicht gut vereinigen ließen.«

»Ich war nicht da,« entgegnete Arthur zerstreut.

»Nun,« sagte Eduard, »der junge Mann ließ ein paar Worte fallen, die Marianne tief verletzen müßten, wenn sie dieselben erfahren [104] hätte. Es war das bekannte Thema, daß man Niemand hinter dem Busch suche, wenn man nicht selbst stark seinen Aufenthalt daselbst genommen.«

Man kann sich denken, daß nach dem, was soeben in der Familie vorgefallen und was wir dem geneigten Leser erzählt, die Gesichter der sämmtlichen Anwesenden durchaus nicht, wie man zu sagen pflegt, mit einem rosigen Schimmer übergossen waren, vielmehr schien Eines noch düsterer und verstimmter als das Andere. Doch gab es ein gutes Mittel dagegen, den Anfang der Probe nämlich und das Erscheinen der ersten Gäste.

Es ist wahrhaft erstaunlich, was der Mensch Alles kann, wenn er will, und wie sich hier, sobald man Schritte auf der Treppe hörte, die Züge Aller aufheiterten, die Augen einen anderen Ausdruck erhielten, und die Gesichter mit einem freundlichen Lächeln überstrahlt wurden. Bei Manchem gelang diese Umwandlung zwar erst nach einiger Anstrengung, aber sie gelang doch. Die Kommerzienräthin trommelte und hustete nicht mehr, Marianne saß sanft gegen sie hingebeugt, als habe sie ihr irgend eine zärtliche Bemerkung in's Ohr geflüstert; ja Alfons, der eben noch so verstimmte Alfons, stützte die rechte Hand auf den Tisch, während die linke soeben erst von der Schulter seiner Frau herabgeglitten zu sein schien. Es war das in Wahrheit eine rührende Gruppe.

Eduard hatte sich ebenfalls an den Fauteuil seiner Frau begeben und flüsterte ihr zu: »Es kommen Leute, wie du weist, Bertha, mach doch ein freundliches Gesicht und zeige wenigstens nicht vor der Welt deine ewige und traurige Verstimmung!«

Arthur zuckte verstohlen die Achseln und dachte: »Laßt den Doktor F. und seine Frau nur einmal bei der Probe gewesen sein, so wird das Andere sich schon machen« – worauf auch er eine heitere Miene annahm.

Kurz es war erstaunlich, wie das ganze kommerzienräthliche Haus nun auf einmal das Bild der Zufriedenheit und Heiterkeit [105] bot; Alle sahen aus wie das personifizirte Wohlwollen gegen einander und gegen die äußere Welt, und hätte die Kommerzienräthin ihren stechenden Blick und ihre lange spitze Nase verbergen können, so würde die Gruppe auf dem Sopha sogar eine liebliche gewesen sein.

31. Kapitel
Einunddreißigstes Kapitel.
Winterhalter's Decamerone.

Da öffnete sich die Thüre und es erschien zuerst die Familie des Oberregierungsraths von D., für heute aus drei erwachsenen Töchtern bestehend, die von einem emporgeschossenen, noch ziemlich grün aussehenden Bruder, der die gegründetste Hoffnung hatte nächstens zum Justizreferendär zu avanciren, in Abwesenheit von Mama chaponirt wurden. Mama, eine gute, aber etwas dicke und alte Frau, hatte nur eine Einladung zum Zusehen erhalten, wogegen der Vater wegen seiner Amtsgeschäfte unmöglich erscheinen konnte.

Wenn wir sagen, daß Arthur die Töchter zur Ausfütterung irgend eines dunkeln Hintergrundes bestimmt hatte, so ist ihr Aeußeres sattsam beschrieben. Was den Bruder anbelangt, so war es schade, daß keine Thierstücke gestellt wurden: er hätte in seinen unbeholfenen, schweren Bewegungen die Stelle eines jungen Jagdhundes vortrefflich ausgefüllt.

Ihnen folgte in majestätischem Aufzuge die Familie des Obertribunal-Präsidenten. Er, ein großer korpulenter Mann mit einem breiten rothen Gesichte von etwas blutdürstigem Ausdruck, sie, scharf und schneidend im Aeußern, in Reden und Bewegungen, konnte an seinem Arme sehr wohl als Symbol des Schwertes der Gerechtigkeit [106] dienen. Beider Sohn schritt hinter ihnen drein, eine noch nicht vollkommen erklärte Größe, die sich ebenfalls dem Criminalistischen zugewendet hatte, dem Aeußern nach eine schlechte Copie des Vaters und bei allen jungen Damen sehr gefürchtet war, denn da er nichts Besseres zu reden wußte, so unterhielt er sich von seinen Gerichtssitzungen und erzählte gern die schauderhaftesten Mordgeschichten. – Die ganze Familie schritt äußerst würdevoll daher, aufrechten Hauptes, steif und großartig, als eröffneten sie den Zug irgend eines zum Tode Verurtheilten.

Glücklicherweise aber erschien hinter ihnen das wohlgenährte freundliche Gesicht eines jovialen Steuerraths mit Gemahlin, drei Töchtern und zwei Söhnen, und verwischte so das angedeutete traurige Bild. Der Steuerrath begnügte sich nicht mit einem stummen Kopfnicken, sondern er versicherte, daß er sich schon den ganzen Morgen ungeheuer auf die Probe gefreut habe, daß er mitwirken werde, es aber unter einem Adonis oder Apollo schon gar nicht thue, und daß er ferner hoffe, es komme auch irgend eine Rolle in einem Genrebild vor, wo er sich als Fiedler auf dem Fasse auf's Prächtigste ausnehmen würde.

Er würde noch mehr dergleichen vergnügtes Zeug geschwatzt haben, doch erschien jetzt sein Chef, der Obersteuerdirektor, ein noch nicht alter, vornehmer Herr mit mehreren Ordensbändern und zwei blühenden Töchtern, bei deren Anblick der Maler, der wieder ziemlich verdrossen nach seiner Fensterecke zurückgekehrt war, ein freundlicheres Gesicht machte. Diesen beiden Mädchen waren natürlicherweise Hauptrollen zugedacht, und sie wußten wohl, daß sie hiezu berechtigt waren. Sie begrüßten die Kommerzienräthin herablassend, Marianne freundlich, die andern jungen Damen sehr oben hinüber, und der junge Jagdhund, sowie der blutdürstige Criminalist, die ein freundliches Wort anbringen wollten, wurden gar nicht beachtet.

Nach und nach kamen jetzt immer mehr der Eingeladenen, unter [107] Anderem auch der Bankpräsident, ein bleicher, dicker Mann mit außerordentlich spärlichem Haarwuchs, das heißt auf dem Kopfe. Auf den Zähnen hatte er aber desto mehr, und er war mehr wegen seiner außerordentlichen Grobheit als seiner Umsicht bei den Geschäften der Bank berühmt. Als vornehmerer Kollege des Kommerzienraths wurde er von der Dame des Hauses durch ein Aufstehen vom Sopha geehrt und ihm gleich ein Fauteuil untergeschoben, auf dem er sich auch niederließ, ohne in seinem durch Nichts berechtigten unergründlichen Hochmuthe die übrige Gesellschaft weiter eines Blickes zu würdigen.

Als die Kommerzienräthin vorhin aufstand, verband sie als kluge Frau dabei das Angenehme mit dem Nützlichen; denn nach dem Empfang des Bankdirektors begab sie sich in das anstoßende eigentliche Vorzimmer, um dort jene Klasse von Gästen zu empfangen, die es nicht so recht wagten, in das Gemach vorzudringen, wo sich die höchsten und allerhöchsten Herrschaften des Honoratiorenstandes befanden.

Auch Arthur folgte seiner Mutter in dieses Nebenzimmer, denn er wußte, daß dort eine größere und angenehmere Auswahl für die lebenden Bilder sein werde.

Hier fand sich denn auch bald eine zahlreiche Gesellschaft zusammen, und wuchsen auf dieser Schichte der menschlichen Gesellschaft, die um einige Grade tiefer stand, schon anmuthigere Blumen als droben auf der Höhe bei der dürren Vegetation. Hier waren jüngere Kaufleute mit ihren Frauen, versprechende Beamtentöchter, jüngere Räthe und Räthinnen, und Alle lachten, plauderten und summten vergnügt durcheinander, während drinnen nur hie und da ein ernstes und gemessenes Wort fiel.

Dort füllte es sich aber auch nach und nach, denn es wanden sich immer noch dürre Tannen in Gestalt von Regierungs- und Oberregierungsräthinnen, und kümmerliche Fichten, sowie mageres Gestrüpp aller Art, ältliche Gemahlinnen von Finanzdirektoren, geheimen [108] Hofräthen und dergleichen mehr durch das frische und noch grün belaubte Unterholz des Vorzimmers, um die Höhe des Lebens zu erreichen, wo sie eigentlich hingehörten.

Arthur spähte nach seinem Freunde, dem Doktor F., der noch immer nicht erschienen war; aber er hatte als Arzt viel zu thun und mußte vorerst seine Geschäfte besorgen, ehe er an das Vergnügen denken konnte.

Da es übrigens drei Uhr geworden war, so ließ die Kommerzienräthin die Flügelthüre zu dem besprochenen grünen Salon öffnen und die Menge strömte dort hinein. Das jüngere Volk eilte alsbald zu den Staffeleien und betrachtete die aufgestellten Bilder, wobei sich beinahe Jedes eine Rolle aussuchte, die, so sagte man, für seine Persönlichkeit wie gemacht sei. Einige waren dabei bescheiden und meinten, sie würden sich mit Diesem und Jenem begnügen, Andere aber hielten sich für jede Rolle passend; und leider befanden sich Letztere in der Mehrzahl.

Arthur wurde von allen Seiten bestürmt, geschwinde anzugeben, auf welche Art er die Figuren vertheilt habe; doch er war klug genug, dieß nicht zu thun und versicherte, er müsse nach der Ordnung verfahren und zu einem Tableau nach dem andern die betreffenden Namen aufrufen.

Das ging nun ziemlich gut von statten, doch nicht ohne leise Reklamationen der Kommerzienräthin und sehr laute Einreden der betreffenden Damen.

Der Maler mußte schon in einen sauern Apfel beißen, und manche gelbe und magere Räthin als jugendliche Erscheinung vorschieben, während frische Mädchengesichter hinten zu stehen kamen. Dabei überließ sich Arthur auch zuweilen einer lustigen Laune; so übergab er zum Beispiel die Rolle des Holofernes dem Obertribunal-Präsidenten mit dem wilden Gesichtsausdruck, stellte den Bankdirektor als Judas Ischariot und bildete aus drei der vornehmsten und stolzesten Damen eine Gruppe, die er als Nymphen bezeichnete, die aber [109] in Wahrheit Furien vorstellten, was ihm dieselben außerordentlich übel nahmen, als sie es später erfuhren.

Jetzt wurde das Decamerone von Winterhalter vorgeschoben, das duftige, schöne Bild, welches dem geneigten Leser gewiß bekannt ist. Es ist jener herrliche Garten bei Florenz, wo an einem Springbrunnen die sieben schönen Paare junger Mädchen und Männer in anmuthigen Gruppen ruhen und der erwählten Königin zulauschen, die erhaben zwischen ihnen sitzt, das schöne Haupt mit Blumen bekränzt.

»Ah!« machten sämmtliche Damen, umringten in einem weiten Kreise das Bild, und auch viele der jungen Herren streckten die Hälse vor, um sich einen passenden Platz auszusuchen. Wenn es allen Wünschen der Anwesenden gemäß gegangen wäre, so hätte man das Bild wenigstens achtmal besetzen können, denn da war fast Keine, die sich nicht für berechtigt hielt, mindestens als Königin da zu sitzen. Einige Ausnahmen fanden wohl statt, das waren aber schon Solche, die mehrmals vortheilhaft beschäftigt waren, oder sehr ältliche Damen, in deren Herzen aber jener angedeutete Wunsch zu Gunsten ihrer verschiedenen Töchter laut wurde.

Da Arthur bei mehreren Tableaux schon bewiesen hatte, daß er nicht zu bestimmen war, von seiner Liste abzugehen, so wandten sich mehrere vorsorgliche Mütter an die Kommerzienräthin, um eine Einsprache zu Gunsten ihrer Angehörigen zu erwirken, wodurch die alte Dame in augenscheinliche Verlegenheit kam, denn es waren zu wenig Figuren in dem Bilde, um allen diesen Privateinsprüchen genügen zu können. Sogar der Obertribunal-Präsident ließ sich herbei, eine Figur als äußerst passend für seine Emilie zu bezeichnen. Der junge Jagdhund verwandte sich auf's Lebhafteste für seine Schwestern, so daß am Ende die Kommerzienräthin in Folge aller dieser Bestürmungen ihren Sohn auf die Seite nahm und ihn in ernsten und dürren Worten [110] anwies, den billigen Wünschen einiger der vornehmsten Damen, die sie ihm namentlich bezeichnete, nachzukommen und das Decamerone, welches Tableaux den Glanzpunkt des Abends bilden sollte, nach ihrer Angabe zu besetzen. Vergebens waren die Einwendungen Arthur's: Mama hob ihre Nase so hoch als möglich in die Höhe und sagte kurz und bestimmt, sie habe schon während der früheren Bilder sich manche Abänderungen seitens ihres Sohnes gefallen lassen, dießmal aber beharre sie auf ihrem Wunsche, nöthigenfalls Befehle, und wolle von keiner Widerrede etwas wissen.

Arthur dachte einen Augenblick nach, dann flog ein eigenthümliches Lächeln über seine Züge; er nahm seine Liste, änderte Einiges darin ab und bat die zusammengedrängte Schaar der Damen und Herren um etwas Platz, damit er im Stande sei, das Bild stellen zu können.

Erwartungsvoll wich Alles aus einander, der junge Maler arrangirte die Sitze auf der kleinen Estrade im Hintergrunde des Saales und sagte dann, nachdem er einige Worte mit der Kommerzienräthin gesprochen, mit lauter Stimme: »Das Decamerone ist ein Lieblingsbild von Mama, und hat sie die meisten Damen und Herren, die darin vorkommen, selbst bezeichnet.«

»Vortrefflich! – Sehr schön! – Ah! das muß ein superbes Bild werden!« murmelte es vergnüglich durch einander, wobei namentlich die Bittsteller und Bittstellerinnen, die vorhin mit der alten Dame unterhandelt, heitere Gesichter zeigten. Andere aber, die dies wohl bemerkt, stießen sich leicht an, schüttelten die Köpfe und man konnte verschiedene Reden hören: wie man wohl denken könne, was dabei beschäftigt sei, daß man sich an dergleichen Zurücksetzungen gewöhnen müsse, daß bei der Aufführung das Publikum wohl ein richtiges Urtheil haben werde, und dergleichen mehr.

Arthur fing an, die Namen der Damen und Herren abzulesen, und der geneigte Leser wird unserer Versicherung glauben, daß das [111] Decamerone in dieser Zusammenstellung wenn auch kein reizendes Bild doch ein vornehmes wurde.

Was die Männer anbetraf, so konnte man schon zufrieden sein und wurden dabei auch wenig Bemerkungen laut, obgleich sich der junge Jagdhund eine Rolle herausgeschlagen hatte und sich hinstellte wie ein unglücklich ausgestopfter Storch, der durch Selbstmord in's Jenseits gewandert und deßhalb ein melancholisches Air behalten. – Die Damen aber, die nun erschienen und meistens stolz und sicher ihre Plätze einnahmen, mußten schon ein gelindes Spießruthenlaufen aushalten.

»Zwei Töchter des Herrn Oberregierungsraths von D. –«

»Gott!« sagte eine dicke Kanlzeirathstochter, »die Emilie und Auguste! da wird viel weiße Schminke verbraucht werden.«

»Es ist nur ein Glück,« setzte eine ziemlich junge Kaufmannsfrau hinzu, »daß die Emilie sitzt und man ihren Rücken nicht sehen wird.«

»Sie ist wirklich ein bischen ausgewachsen,« meinte eine Andere.

»Das nennst du ein bischen?« sprach eine Vierte. »Mich hat die Corsettmacherin versichert, sie sei ganz in Eisen eingeschnürt, und wenn das nicht der Fall wäre, so müßte sie zusammenknicken wie ein Taschenmesser.«

»Fräulein Pauline von W.,« sagte Arthur.

»Ah! die häßliche Nichte des Ministers!«

»Und in dem schönen Decamerone!«

»Florenz hatte damals eine betrübte Zeit,« sagte boshaft eine andere Stimme; – »Hungersnoth und Krankheit – Pauline wird das recht natürlich darstellen.«

»Aber nehme mir kein Mensch übel, das wird ja ein schreckliches Bild!« bemerkte entrüstet die Kanzleirathstochter. »Ich mache ja durchaus keine Ansprüche, da mitzustehen – denn ich weiß, daß ich nicht schön bin,« setzte sie kokett hinzu; »aber wenn [112] ich so aussähe, wie Pauline, so würde ich mich bedanken, wenn man mich so zur Schau stellte.«

Pauline hatte nun auch wirklich nicht die entfernteste Aehnlichkeit mit einer dieser hübschen Gestalten Winterhaler's, aber sie war die Nichte des Finanzministers, und ihre Mutter die stolz und breit vor dem Bilde saß und wohlgefällig auf ihre Tochter blickte, hatte Connexionen bei Hofe.

Eine Vierte, die der Maler nun aufrief, gefiel eben so wenig als die vorbenannten Drei, und die Vier bildeten auch, um die Wahrheit zu sagen, einen gar betrübten Anblick, der durchaus nicht vermindert wurde, als nun Arthur die beiden schönen Töchter des Steuerdirektors dazu plazirte, die in Jugendfrische und Schönheit strahlten.

Der Platz der Königin war allein noch unbesetzt.

Arthur hatte sich schon mehrmal im Saale umgesehen und endlich gefunden, was er suchte. Es war das eine junge schöne Blondine, ein herrliches, prachtvolles Weib, die bescheiden zurückgezogen neben ihrem Manne, dem Doktor F., stand, der mit dem Steuerdirektor im eifrigen Gespräch an einer Fensternische lehnte. Das Umherschauen des Malers war von verschiedenen jungen Damen falsch gedeutet worden, und Manche, die sich woh berufen fühlte, eine Königin darzustellen, drängte sich auffallend hervor, ja die dicke Kanzleirathstochter, ein unternehmendes Wesen, lehnte sich, um einen Contrast hervorzubringen, schmachtend an eine dürre Hofräthin und sagte zu dem Maler im Gegensatz zu ihren früheren Aeußerungen: »Ah! das wird ein schönes Bild; wie prächtig verlehnen schien, wozu sie leicht die Achseln zuckte und den Knopf neigte, als wollte sie sagen: ich gehöre nicht in den vornehmen Kreis.

[113] »Nun, die Königin!« sprach freundlich die Kommerzienräthin, die sehr geschmeichelt war über die vielen Komplimente, die man ihrem Talente, Tableaux zu arrangiren, von allen Seiten machte.

»Ach ja, die Königin!« wiederholten sehnsüchtig mehrere Damen und blickten erwartungsvoll auf Arthur, der nun durch die Reihen schritt und die widerstrebende Doktorin F. auf den erhöhten Sitz führte.

Hätten aber mehrere Blitze vor der Herrin des Hauses, vor der Frau von W. und den meisten der alten Räthinnen dicht eingeschlagen, die Gesichter hätten nicht länger, die Mienen nicht bestürzter sein können, als nun, da die schöne Königin sich elegant auf ihrem Sitz niederließ und – jeder Zoll eine Herrscherin – ihre Untergebenen betrachtete.

Die Gruppe des Decamerone glich nun einem Strauche, dessen eine Seite voll duftender Blüthen hängt, während über die andere ein eisiger Nordwind fuhr, der nicht nur keine Blume aufkeimen ließ, sondern sogar das Laub verwelkte und verdorrte.

Frau von W., die sich zuerst zu fassen schien, warf der Kommerzienräthin einen nichts weniger als freundschaftlichen Blick zu, dann zuckte sie die Achseln und fragte hierauf ihre Tochter: »Nicht wahr, mein Kind, du sitzest sehr schlecht?«

»Ja, Mama,« erwiderte diese, »es ist sehr anstrengend, und ich werde es an dem Abend kaum aushalten können.«

»Dann bitte ich, sich nicht zu geniren,« versetzte Arthur, indem er sich auf die Lippen biß. »Wenn es Ihnen wirklich zu anstrengend ist, so können wir die Sache anders einrichten.«

Da erhob sich Fräulein von W., trat zu ihrer Mutter zurück, und sagte so laut, daß es die Dame des Hauses hören könnte: »Das kann man doch nicht von mir verlangen, neben der – – Frau Doktorin F. zu stehen!«

»Unter ihr zu sitzen!« sprach entrüstet die Mutter. »Die Probe ist doch bald zu Ende,« wandte sie sich kalt an die Kommerzienräthin, »Sie werden erlauben, daß ich mich leise empfehle.« [114] Damit stand sie auf, machte ein förmliches Kompliment und rauschte mit ihrer Tochter nicht ohne einiges Aufsehen zum Saale hinaus.

Die Schwestern des jungen Jagdhundes sahen sich bedeutsam an und fingen an unruhig auf ihren Sitzen hin und her zu rücken; er selbst, der Justizreferendär-Aspirant, hob die Nase in die Höhe und sagte geringschätzig: »Ihr habt doch eigentlich da einen schlechten Platz bekommen.«

»O ja, das fühlen wir auch,« entgegneten die Beiden einstimmig; und die eine setzte boshaft hinzu: »Wir scheinen doch nicht recht in dieses Bild zu passen,« worauf sie sich langsam erhoben, um sachte auf die Seite und von der Estrade hinab zu rutschen.

Arthur hatte alles Dies vorher gesehen, und um in seine Schlachtordnung keine auffallende Lücke zu bringen, das zuerst ausgetretene Fräulein von W. durch die dicke Kanzleirathstochter ersetzt, was ihn allerdings einen süßen Blick und einen Händedruck kostete, als er sie auf ihren Platz führte.

Der Doktor F. war unterdessen mit dem Obersteuerdirektor näher getreten, und Beide hatten wohl bemerkt, um was es sich handle. Der Doktor biß sich gelind auf die Lippen und warf seiner Frau aus der Entfernung einen Blick zu, den sie mit einem unbefangenen Lächeln erwiderte.

Der Obersteuerdirektor trat dicht an die Estrade heran und sagte seinen beiden Töchtern: »Ihr habt da einen vortrefflichen Platz; sitzt nur recht ruhig und macht dem schönen Tableau alle Ehre!« – eine Bemerkung, wofür ihm die schöne Königin einen Blick des innigsten Dankes zuwarf, denn wir brauchen dem geneigten Leser nicht wohl erst zu sagen, daß diese Frau mit ihrem zarten Gefühl augenblicklich die niedrige Unverschämtheit begriffen hatte, welche die schlecht erzogenen Töchter gebildet sein wollender Stände gegen sie begangen.

Auch das vierte von der Kommerzienräthin octroyirte verwelkte Blatt entfiel dem Strauße und säuselte den Töchtern des Ober regierungsraths [115] nach, um sich in einer Ecke des Saales über die erlittene Kränkung zu besprechen.

Natürlich wurden sie von Arthur augenblicklich durch drei frische Mädchen ersetzt, und als bald der junge Jagdhund, der sich wiederholt eines sonderbaren Hüstelns beflissen, von dem Maler scheinbar ruhig, aber mit einem gewissen festen Blick, gegen einen größeren Herrn umgetauscht worden war, stand das Bild so vortrefflich und schön, daß die Unbefangenen aus der Gesellschaft, als nun probirt wurde, einhellig in die Hände klatschten.

Den Gemüthszustand der alten Räthin bei dieser für sie so empörenden Scene brauchen wir wohl dem geneigten Leser nicht zu schildern; ihre Finger umspannten krampfhaft das Taschentuch, und da sie keinen Tisch vor sich zum Trommeln hatte, so machte sie ihrem Zorn auf andere Art Luft und schien von einem wahren Krampfhusten befallen zu sein.

Die Probe ging nun zu Ende, die Eingeladenen verschwanden, nachdem sie der Herrin des Hauses versichert, die Aufführung der lebenden Bilder werde einen köstlichen Abend geben und sie freuten sich ungemein darauf.

Arthur war mit dem Doktor F. weggegangen und die Räthin schloß sich in ihr Boudoir ein, um ruhig zu überlegen, was auf diese scandalöse Geschichte zu thun sei.

32. Kapitel
Zweiunddreißigstes Kapitel.
Im Fuchsbau.

Der geneigte Leser wird sich vielleicht erinnern, daß wir ihn in einem früheren Kapitel in einen entlegenen Theil der Stadt [116] führten, wo sich in der Nähe des großen Fruchtmarktes, in dem ältesten Theile der Stadt, ein Zusammenbau von alten massiven Häusern befand, die mit zahlreichen Gin- und Ausgängen auf verschiedene Straßen ziemlich sichere Schlupfwinkel waren für allerlei Leute, welche Ursache hatten, die Oeffentlichkeit zu scheuen und der spähenden Polizei nicht unter die Augen zu kommen.

Diese Gebäude, in früheren Zeiten einzeln stehend, waren nach und nach durch Anbaue der verschiedensten Art vereinigt worden. Nach Bedürfniß hatte man Gänge angebracht, Mauern durchschlagen, Höfe überbaut und solchergestalt die Wohnungen unter einander verbunden, so daß aber das Ganze im Innern ein wahres Labyrinth wurde, durch welches den Ein- und Ausgang zu finden für einen Uneingeweihten sehr schwierig, ja in gewissen Theilen ganz unmöglich wurde. Hier befanden sich Ausgänge, die auf irgend einen finstern Hof mit vielen Thüren führten, wo ein des Weges Kundiger, wenn er gerade verfolgt wurde und nur wenige Schritte Vorsprung hatte, plötzlich verschwand, um durch einen andern Eingang des Gebäudes wieder zurückzukehren, ehe der Verfolger ihn zu Gesicht bekam.

Der wirklichen Ausgänge auf die Straßen waren es außerordentlich viele, und obgleich man sie alle kannte, und es nicht schwer gewesen wäre, sie im Falle einer Durchsuchung zu besetzen, was übrigens schon häufig genug geschehen war, so zuckten doch die erfahrensten Polizei-Offizianten bei solchen Veranlassungen die Achseln und nannten das ein vergebliches Bemühen; denn sie seien überzeugt, so sagten sie, es befänden sich da geheime Ein- und Ausgänge durch benachbarte Keller oder Gott weiß wo sonst, von denen Keiner von ihnen eine Ahnung habe.

Natürlicherweise war aber der Sicherheitsbehörde der Eintritt in diese Gebäude durchaus nicht verwehrt und konnte sie hier ihren Amtsgeschäften nachgehen, so oft sie es für nöthig erachtete.

Es wohnten hier eine Menge Familien von den verschiedenartigsten [117] Gewerben, ja in einem Theile befanden sich sogar ein paar elegante Läden, sowie Werkstätten von Schmieden, Wagnern, Sattlern und dergleichen mehr. Von dem Ganzen besaß die hohe Polizei einen sauber gearbeiteten und sehr korrekten Grundriß, den man einstens durch den Stadtbaumeister aufnehmen zu lassen für nothwendig besunden hatte, und darin waren auch die Familien verzeichnet, wo sie wohnten, wie viele Zimmer sie inne hatten, und es wurde strenge darauf gehalten, daß die verschiedenen Aus- und Einzüge der Behörde augenblicklich gemeldet wurden.

Obgleich nun so das ganze Anwesen scheinbar klar und durchsichtig vorlag, so war der Fuchsbau dennoch, wie wir schon oben angedeutet, eine wahre Räuberhöhle und wimmelte von Dieben, Betrügern und allem möglichen Gesindel mit seinem so nothwendigen und zahlreichen Anhang von Hehlern jeder Art. Wie oft hatte man auf dringenden Verdacht plötzliche Haussuchungen angestellt, ohne je etwas gefunden zu haben; der gegründetste Verdacht war nie gerechtfertigt worden, und so fand denn auch die Gerechtigkeit keinen triftigen Grund, den Fuchsbau, wie man schon mehrmals in Vorschlag gebracht hatte, entweder ganz niederzureißen, oder in seiner ehemaligen Gestalt wieder herzustellen durch Entfernung der verschiedenen Anbaue mit ihren labyrinthischen Treppen und Gängen, – ein Vorschlag, dessen Ausführung übrigens auch noch wegen des Kostenpunkts und der Gefährlichkeit in baulicher Beziehung seine Schwierigkeiten gehabt hätte.

Wir haben schon vorhin gesagt, daß das Ganze den Namen des Fuchsbaues hatte; ein besonderer Theil hieß aber der Gasthof zum Fuchsbau, und in diese stillen Gemächer wollen wir den geneigten Leser unsichtbar einzuführen uns erlauben, was so ohne Gefahr geschehen kann, wogegen er in Wirklichkeit mit einem guten Rock bekleidet ein sehr unwillkommener Gast sein würde.

Es ist draußen ein unheimliches naßkaltes Wetter; Schnee, Regen und Wind jagen einander in den engen Durchgang hinein, [118] von dem wir schon früher sprachen, und da bei dieser Hetze die erstgenannten leichten Gesellen verschmolzen und verflogen sind, ehe sie der Sturm recht erfassen kann, so läßt er nun seine Wuth an einer alten Laterne aus, die an rostigen Ketten von dem Gewölbe niederhängt und ächzend hin und her weht.

In dem Durchgang befindet sich jene uns schon bekannte kleine eiserne Gitterthüre, von schweren Stangen gemacht, mit einem sehr soliden und künstlichen Schlosse, sowie oben und unten mit Riegeln versehen, die, wenn sie vorgeschoben sind, ungreifbar in das Eisen zurückfallen und nur durch eine künstliche Vorrichtung wieder zurückgezogen werden können.

Hinter dieser Thüre beginnt eine schmale steinerne Wendeltreppe, die oben auf eine einzige, wieder verschließbare Thüre führt; dann kommt ein gewölbter Gang, spärlich von einem stark eingetriebenen Gaslicht beleuchtet, auf welchen mehrere Thüren münden.

Durch eine derselben treten wir geräuschlos ein und befinden uns nun in einem großen Gemache mit braunen Holzwänden, eben solcher Decke und einem mächtigen Kachelofen. Das Mobiliar desselben besteht aus langen, schweren, eichenen Tischen und Bänken; in einem hohen Eckschranke sind Gläser und Flaschen aller Art verwahrt. Neben diesem Buffet befindet sich ein einzelner Stuhl, ein alter Lehnsessel, in welchem ein kleines vertrocknetes Weib sitzt, welches die Hände in den Schooß gelegt hat und das eine Kellnerin vorstellt. Sie scheint unachtsam vor sich hinzustarren, doch sieht ein aufmerksamer Beobachter, daß sie unter ihren grauen buschigen Augenbrauen die glänzenden kleinen Augen unruhig hin und her laufen läßt. Vor ihr liegt ein großer Hund, dessen zottiges Fell ihr als Fußschemel dient; neben ihr, zwischen dem Eckschranke und der Wand, befinden sich, an starken Dräthen von der Decke herabhängend, mehrere Handgriffe, die wie Klingelzüge aussehen; es sind dies aber nicht so ganz harmlose Gegenstände und aus ihnen beruht theilweise die Sicherheit des Hauses. Der Zug an einem derselben [119] gibt dem Hausknecht ein Zeichen, die Thüren zu öffnen und zu schließen, ein anderer ist eine Art Telegraph, der durch gewisse Zeichen mit den Nebenzimmern kommuniziren kann, ein dritter steht mit einer Allarmglocke für das ganze Haus in Verbindung, und der vierte endlich beherrscht die Gasleitung des Gebäudes und kann durch einen einzigen Zug Alles in die dichteste Finsterniß versetzen.

Das Zimmer, in dem wir uns befinden, ist also, obgleich das allgemeine Schenkzimmer des Gasthofes zum Fuchsbau, zugleich auch die Portierstube für sämmtliche Gebäude, und das alte Weib, ein hartes, verschlagenes, listiges Wesen, wurde mit großer Sorgfalt zur Pförtnerin auserwählt. Und man hätte keine bessere finden können: sie hatte alle Abstufungen des Diebslebens durchgemacht und wer sie bei Vertheilung von Beute oder beim Verkauf gestohlener Gegenstände überlisten wollte, der mußte sich zusammen nehmen.

An einer der langen Tafeln befanden sich vier Männer, von denen drei in eifrigem Gespräch begriffen waren, der vierte aber mit dem Kopf an die Wand lehnte und zu schlafen schien. Dies war ein schlank gewachsener großer Mann in den Dreißigen, der regelmäßige Züge, schwarzes Haar und einen gut gepflegten dichten schwarzen Bart hatte. Seine Kleidung dagegen wahr sehr unordentlich und abgerissen; er trug einen fadenscheinigen grauen Jagdrock, an dem sich vorn auf der Brust nur ein einziger Knopf befand, schwarze, zerlumpte Hosen, und wenn man den einen Fuß genau betrachtete, den er vor sich auf die Bank gelegt, so sah man, daß der Stiefel aufgetrennt und die Sohlen fast gänzlich zerrissen waren.

Die drei Anderen saßen etwas entfernter; einer mit krausem, röthlichem Haar hatte beide Ellenbogen auf den Tisch gestützt und den Kopf auf die Fäuste gelegt. Er hatte ein plumpes, obgleich nicht unangenehmes Gesicht, das aber, besonders die Nase, stark geröthet war. Dieser war einfach, aber gut gekleidet; er trug Lederhosen, hohe Stiefel und ein Wamms von dickem, dunkelblauem Wollenstoff.

[120] Der Zweite lehnte hinten über an die Bank, war mit schäbiger Eleganz gekleidet, hatte ein hiezu passendes mageres Gesicht mit abgefeimten Zügen. Derselbe rauchte eine Cigarre, deren Dampf er empor blies, um ihm behaglich nachzuschauen.

Der Dritte endlich beugte sich über den Tisch, ließ kleine Brodkugeln aus seinen Fingern fallen und schien irgend etwas erzählt zu haben. Dieser, obgleich am besten gekleidet, – er trug eine gutgemachte und saubere herrschaftliche Livrée, – hatte das unangenehmste, ein wahrhaft widerliches Gesicht. Sein vorn fast nackter Schädel wurde von wenigen Haaren umflattert, die er von hinten hervorzukämmen versuchte, und an denen er beständig mit der Hand strich, um die widerspenstigen nach seinem Willen zu gewöhnen. Er schielte ein klein wenig und machte beständig ein spitzes Maul, um welches fast immer ein fades Lächeln spielte.

Diesen Männern gegenüber, fast hinter dem Ofen, befanden sich zwei Frauenzimmer, deren Gewerbe nicht zu verkennen war, denn neben der einen lehnte eine Harfe an der Wand, während auf der Bank zwischen Beiden eine Guitarre mit einem Band von verblichener Farbe war. Zwei Bündel befanden sich auf dem Tische neben einer Schüssel, woraus sie eine Suppe gegessen zu haben schienen; der Löffel der einen lehnte am Rande des Gefässes, während die andere den ihrigen vor sich niedergelegt hatte. Sie waren von verschiedenem Alter und sehr ungleichem Aeußern; die erste mochte wohl an die Dreißig sein, während die andere das zwanzigste Jahr kaum zurückgelegt hatte. Die ältere erschien als eines jener leichtfertigen Wesen, welche Musik treiben, so lange Jemand da ist, der ihnen zuhört, dann aber gerne an einer freundlichen und innigeren Unterhaltung theilnehmen. Sie hatte ein rothkarrirtes Wollenkleid an, und da es ziemlich tief ausgeschnitten war, so bemerkte man ihre vollen Formen, die sie auch durchaus nicht zu verbergen strebte, denn ein kleines Halstuch hatte sie neben sich auf die Bank gelegt. Ihr Gesicht war wettergebräunt, [121] hatte einen kecken, verwegenen Ausdruck, dicke, etwas aufgeworfene Lippen und dunkle, lebhafte Augen. Das Haar trug sie in zwei schwarzen Flechten, die um die Ohren herum an den Hinterkopf liefen, dabei hatte sie einen sogenannten schiefen Scheitel, und war das offenbar ein Mittel, um einige sehr dünne Stellen ihres Haarwuchses zu verdecken.

Die andere, die, welche den Löffel neben sich gelegt hatte, war ein schlankes, schmächtiges Mädchen mit einem schmalen, bleichen Gesichte und blondem Haar. Ihre blauen Augen konnte man selten sehen, da sie meistens vor sich niedersah; ihre Züge drückten Bescheidenheit, Furcht und Scham aus; auch schien sie sich in ihrer Umgebung gar nicht behaglich zu fühlen, denn wenn sie, was bisweilen geschah, einen schnellen Blick rings durch das Zimmer und über die nebensitzenden Männer laufen ließ, so überflog ihre blassen Wangen eine leichte Röthe, und wenn je einer vom anderen Tische herüber sah, so schrak sie ordentlich zusammen.

Der in der Livrée hob sein fast leeres Glas in die Höhe, schlürfte den letzten Tropfen daraus, und wandte alsdann seinen Kopf der Alten zu, die in ihrem Lehnstuhle zu schlafen schien.

»He da! Wein!« rief er, indem er seine leere Flasche auf den Tisch stieß.

»Zuerst Geld,« entgegnete die Alte, ohne ihre Stellung zu verändern.

»Geld?« sagte der Andere, gezwungen lachend. »Ich habe keins mehr; du kannst ankreiden oder kannst mich auch meinetwegen traktiren. Es wäre nicht mehr als billig, wenn wir Alle hier auf Unrechtskosten lebten.«

»Gebt ihr Geld, so bekommt ihr Wein,« erwiderte ruhig die Alte.

»Ich sage dir aber, ich habe keinen Kreuzer mehr.«

»Und Durst für viele Gulden,« meinte der mit dem rothen Haar.

[122] »Es ist mein Ernst,« fuhr der in der Livrée fort, »daß du es aufschreiben sollst, Alte. Man wird doch wohl hier in dem verfluchten Hause noch Kredit haben?«

»Ihr aber habt in dem verfluchten Hause nicht den geringsten Kredit mehr,« erwiderte das Weib. »Ueberhaupt habt ihr genug gesoffen und könnt nach Hause gehen.«

»Du willst uns heimschicken?« entgegnete der Andere höhnisch. »Ich habe nun einmal Lust, die ganze Nacht da zu bleiben; ich will Wein haben und da die Harfenmädel sollen aufspielen. Nachher bitte ich mir ein Zimmer aus; – was meinst du, Nanett?« – Dabei kniff er gegen das ältere der beiden Mädchen das linke Auge zu.

Die Alte würdigte ihn übrigens gar keiner Antwort mehr.

»Na, ich gebe dir noch einen Schluck,« sagte der im schwarzen Frack, indem er seine Cigarre aus dem Munde nahm und seine etwas gelben Vatermörder in die Höhe zupfte. »Du bist trotz deiner glänzenden Livrée doch ein armes Luder. Ich möchte nicht in deinem Rocke stecken.«

»Bah! Und warum nicht? – Wegen des elenden Messerstichs?«

»Ja, ja, wegen des elenden Messerstichs!« lachte der mit dem rothen Haar, indem er seinen Kopf erhob und mit der frei gewordenen Faust sein Glas ergriff, das er austrank.

»Wie war doch die Geschichte eigentlich?« fragte der elegant Aussehende.

Der Gefragte warf ihm einen prüfenden Blick zu, der sagen wollte: kann ich dir auch trauen oder hast du vielleicht im Sinne, die Geschichte irgendwo zu berichten? – doch zuckte er gleich darauf die Achseln und sprach wie zu sich selber: »Teufel! es ist ja ziemlich bekannt und es fällt mir auch gar nicht ein, es zu leugnen. – Wir brachen in der Vorstadt ein, wie ihr Alle wißt, Thomas, der schwarze Johann und ich.«

[123] »Bei deinem Herrn?« sagte lachend der Eine.

»Aber nicht in seiner Livrée!« meinte der Andere.

»Laßt doch eure schlechten Spässe! – Genug, wir brachen ein, – es ist eigentlich kein Einbruch zu nennen, denn ich hatte ja alle Riegel zurückgeschoben; auch ging Alles glücklich von statten, – wir nahmen eine hübsche Summe und Silbergeschirr, nachdem wir vorher den Alten gebunden, und kamen glücklich in's Freie.«

»Dabei hättest du es auch belassen sollen,« sagte der mit dem rothen Haar. »Weßhalb gingst du wieder zurück?«

»Eigentlich nur in der Absicht, um nachzusehen, ob wir ihn auch recht fest gebunden. Und meine Vorsicht war nicht unnöthig, denn er hatte die rechte Hand frei gemacht und wollte sich gerade den Knebel aus dem Munde ziehen; deßhalb gab ich ihm einen tüchtigen Messerstich.«

»Falsch! falsch!« versetzte der im schwarzen Frack, indem er den Dampf der Cigarre weit von sich blies. »Er wurde noch am andern Morgen fest gebunden und geknebelt gefunden, und die Zeitungen machten nun ein großes Geschrei wegen der Unmenschlichkeit der Räuber. Wie hieß es doch? – Eine solche That muß um Rache schreien, und die Vergeltung kann nicht ausbleiben. Nicht genug, daß die eingedrungenen Verbrecher den armen Mann knebelten, einer dieser Bösewichte kehrte auch zurück und versetzte ihm aus teuflischem Muthwillen mehrere Messerstiche.«

»Hörst du?« sagte der Rothhaarige. »Aus teuflischem Muthwillen! Und das soll der Herr gewaltig übel genommen haben.«

»Welcher Herr?« fragte der andere in naseweisem Tone und warf verächtlich die Lippen auf.

»O Bürschlein, Bürschlein!« lachte der im schwarzen Frack; »nimm dich zusammen; hier haben die Wände Ohren.«

»Was geht das mich an? – Bin ich deßhalb ein Dieb geworden, um mich schulmeistern zu lassen? Das sollte mir fehlen!«

[124] »Er hat zu viel getrunken. – Ich will dir einen guten Rath geben: mach' daß du nach Hause kommst, und wenn du ausnahmsweise einmal klug sein willst, so laß' dich in den nächsten vier Wochen nicht im Fuchsbau sehen.«

»Das wird ihn wenig helfen, wenn er ihn suchen läßt; und ich glaube fast, er hat ein Auge auf dich geworfen.«

»Gleichviel; jetzt will ich trinken!« erwiderte der Andere, indem er mit der Faust auf den Tisch schlug. »Wein her! – Und wenn du mir nicht auf mein ehrliches Gesicht borgen willst, alte Canaille, so nimm' hier meine Uhr; ich löse sie morgen wieder ein.« Damit stand er auf, um zu dem Weibe zu gehen, die noch immer keine Silbe geantwortet hatte. Als er aber in die Gegend des Ofens kam, wo die beiden Mädchen saßen, blieb er lächelnd stehen, stützte beide Arme auf den Tisch und sagte leise und widerlich lachend zu der Aelteren: »Ich versetze die Uhr nur um deinetwillen, Schatz, denn ich weiß, daß du eine kostbare Geliebte bist.«

Das Mädchen zuckte verächtlich mit den Achseln, schlug alsdann die Arme über einander und schaute ihn mit einem festen und unaussprechlich frechen Blicke an.

»Nun, nun,« sagte er, halb zurückfahrend; »beiß mich nur nicht! Willst du denn nie und nimmer zahm werden, nie freundlich und nachgiebig?«

»O ja!« entgegnete das Mädchen laut lachend; »gegen Jeden, der mir gefällt, aber nie gegen dich – dich, unseres Herrgotts miserabelsten Knecht.«

»Ich will dir was sagen,« versetzte der Lakai; »was soll man sich mit dem dürren Holze abplagen, wenn grünes daneben wächst! Mach' mir Platz, ich will mich ein wenig bei der kleinen Blonden niederlassen. – Gott verdamm' mich! mach Platz, sag' ich, oder ich will dir zeigen, wo du her bist, Harfenmensch erbärmliches!«

Die Aeltere von den beiden Mädchen, die wohl wußte, daß hier eine kleine an ihr verübte Mißhandlung nicht sehr beachtet [125] würde, besonders da augenblicklich keiner ihrer Freunde und Beschützer da war, duckte sich auf die Seite, um dem Kerl zwischen sich und dem andern Mädchen Platz zu machen. Diese aber faßte verzweiflungsvoll ihren Arm, drückte sich fest an sie und flehte mit leiser Stimme, sie möge sie um Gotteswillen nicht in der Gewalt des rohen Menschen lassen.

»Das pipst auch schon gegen mich,« sagte er hohnlachend; »die hast du wahrscheinlich dressirt: es ist mir aber gleichviel, ob du freiwillig oder unfreiwillig mit mir gehst. Wer einmal hierher kommt, der bietet sich an; das ist von jeher so gehalten worden und wirst du nicht ändern wollen.«

Das junge Mädchen schaute ihre Gefährtin mit einem verzweiflungsvollen fragenden Blicke an, als wenn sie sagen wollte: ist das so, spricht er die Wahrheit? – bin ich hier in die Gewalt eines Jeden gegeben, der seine Hand nach mir ausstreckt? – Es war das ein entsetzlicher Blick, ein Blick voll Jammer und unaussprechlichem Elend, den sie jetzt auf ihre ältere Gefährtin richtete. Dabei öffnete sie erschrocken den Mund, und zwei Thränen rollten langsam über ihre blassen Wangen hinab.

Der Lakai bemühte sich gerade, zwischen dem Tisch und der Bank herum zu kommen und sich neben seine Beute zu setzen, als er sich auf einmal auf die Schulter getupft fühlte. Er wandte sich um und sah den mit dem schwarzen Frack hinter sich stehen; dieser streifte ruhig die Asche seiner Cigarre mit den Fingern ab, dann sagte er im freundlichsten Tone von der Welt: »Laß deine Finger davon, Jakob, ich war eher da als du und habe mit der kleinen Mamsell schon Alles in's Reine gebracht. – Nicht wahr, mein Schatz?«

Das blonde Mädchen, dem sein Beschützer in diesem Augenblick nicht minder schrecklich erschien wie sein Verfolger, blickte in die Höhe und wußte nicht, was es antworten sollte.

[126] »Sage nur ja,« flüsterte ihr Nanette zu, »das ist doch Zeit gewonnen.«

»Nicht wahr, mein Kind?« fuhr der Elegante fort, indem er sich unternehmend durch sein Haar strich; »wir kennen uns schon; sage nur ungenirt diesem Herrn, daß du mir unbedingt den Vorzug einräumen wirst. Ich denke, da wird keinem vernünftigen Mädchen die Wahl schwer werden.«

Als ihre Begleiterin sie nochmals anstieß, hauchte das arme Geschöpf ein leises Ja, worauf eine tiefe Röthe ihr Gesicht überflog, und sie den Kopf weit herab auf die Brust sinken ließ.

»Ich bitte, sich also nicht weiter zu bemühen,« sagte der neue Beschützer zu dem Lakaien. »Komm hinter dem Tische vor und mach' keine Ungelegenheit. Wenn ich auch weiß, daß man Streitigkeiten hier nicht gerne sieht, so soll es mir doch gar nicht darauf ankommen, dir nöthigenfalls ein paar Knochen im Leibe zu zerschlagen. – Aber darum keine Feindschaft.«

»Nein, um solche Waare gewiß keine Feindschaft,« entgegnete der Lakai, der sich schnell faßte, die Sache in einen Scherz verwandelte und darauf lustig lachend hinter dem Tische vorkam, worauf Beide zusammen sich wieder an ihren alten Platz zurückbegaben.

Die Mädchen blieben stumm neben einander sitzen; Nanette hatte ihre beiden Hände vor sich auf den Tisch gelegt und schien aufmerksam ein paar Ringe an ihren Fingern zu betrachten, in Wahrheit aber schaute sie darüber hinweg und war in tiefes Nachdenken versunken.

Nach einiger Zeit stieß die Jüngere sie an und sagte leise: »Können wir nicht irgend wohin zu Bette gehen? ich bin so furchtbar müde.«

Nanette fuhr darauf aus ihren Träumereien empor, ließ sich die Frage nochmals wiederholen und entgegnete alsdann: »Hast du Geld?«

»Noch zwei Gulden,« versetzte die Blonde, »und ich will sie gern opfern, um mit Ihnen allein sein zu können.«

[127] »Nun, es ist mir am Ende auch lieber als hier auf der Bank,« antwortete Nanette; »wir können noch ein wenig plaudern.« Dann stand sie auf, ging zu der Alten hin und sagte ihr leise einige Worte.

Diese nahm aus ihrem Schrank einen Schlüssel und einen zinnernen Leuchter mit einem Talglichte und händigte Beides dem Mädchen ein, jedoch nicht eher, als bis sie vorher ihre knöcherne Hand aufgehalten und dafür einiges Geld in Empfang genommen hatte.

Nanette nahm die Harfe und ihr Bündel, die andere ihre Guitarre, und darauf verließen Beide das Zimmer.

Der mit dem schwarzen Frack wandte den Kopf herum. – »Welche Nummer?« fragte er das Weib.

»Vierundzwanzig,« entgegnete diese; worauf derselbe beruhigt mit dem Kopfe nickte.

33. Kapitel
Dreiunddreißigstes Kapitel.
Sklavengeschichten.

Die beiden Mädchen schritten unterdessen durch den langen Gang bis an eine Thüre, hinter welcher sich eine Wendeltreppe befand.

Nanette, die hier genau Bescheid zu wissen schien, stieg voran, und ihre Gefährtin folgte ihr bei dem flackernden Scheine der Talgkerze abermals über einen langen Gang, dann wieder ein paar Stufen hinab, und so gelangten sie in Nummer vierundzwanzig.

Dies war ein ziemlich großes und kahles Gemach mit einem [128] schlechtem Tische und ein paar wackeligen Stühlen, einem Feldbett mit Strohsack und Wollenmatratze, über welche eine alte schwere Decke lag. Von Leintüchern war nichts zu sehen. Das Zimmer hatte zwei Fenster; in einem derselben fehlten mehrere Scheiben, der Wind sauste zuweilen herein, und Regen und Schnee hatten auf dem Boden eine artige Wasserlache gebildet.

»So, hier wären wir in unserm Appartement,« sagte Nanette; »sehr wohnlich sieht es gerade nicht aus, aber ich habe schon schlechter geschlafen. Du vielleicht auch?«

»Ich – – nicht,« entgegnete die Andere, indem sie ihre Guitarre auf den Boden niedergleiten ließ und einen trostlosen Blick in dem öden Gemach umher warf; »ich gewiß nicht. Doch wie Gott will!«

»Schätzchen!« lachte Nanette, »ich glaube fast, du bist eine verwunschene Prinzeß. Ich habe das gleich heute Abend gedacht, als du in der Scheune zu mir kamst. Es war mir das recht auffallend; aber du mußt gestehen: naseweis bin ich nicht, denn ich habe dich eigentlich noch gar nicht gefragt, woher du so plötzlich kamst, weßhalb du so ängstlich und erschrocken thatest?«

»Das ist wahr,« entgegnete das blonde Mädchen, »und ich danke Ihnen recht sehr dafür. Sie haben mich gerettet; – aber bin ich hier in diesem Hause in Sicherheit? – Dabei schüttelte sie den Kopf und warf einen trostlosen Blick umher.«

»Ehe ich sagen kann, ob du hier in Sicherheit bist,« versetzte Nanette, »muß ich zuerst wissen, was du zu fürchten hast. Als du heute zu mir kamst, da that mir dein Jammern weh, und glücklicherweise konnte ich dir helfen. Die blonde Agnes war mir mit der ganzen Baarschaft davon gelaufen, hatte mir aber ihre Guitarre und, was wichtiger ist, unsere Legitimationspapiere hier gelassen, unter deren Schutz wir vorderhand sicher reisen können. – Daß du nichts von Musik verstehst, habe ich schon gemerkt; dein Kleidchen da schaut auch nicht nach langem [129] Herumreisen aus; also denke ich, du bist irgendwo davon gelaufen.«

Die Andere nickte stumm mit dem Kopfe und ein Schauder überflog sie, vielleicht, weil sie an die Vergangenheit dachte, vielleicht auch, weil in diesem Augenblicke gerade der Wind wieder heftig durch das Fenster herein sauste.

»Dich friert,« sagte Nanette. »Weißt du was: lege dich in's Bett unter die Decke und wenn du warm geworden bist, so erzähle mir von deiner Sache, was du magst; ich höre gern allerlei Unglück; – und Gutes wirst du mir nicht viel zu berichten haben.«

»Können wir nicht die Thüre verschließen?« fragte ängstlich das junge Mädchen. »Ich sehe ja keinen Riegel.«

»Die gibt's hier nicht,« erwiderte Nanette achselzuckend; »das Verschließen ist gegen die Hausordnung und wird namentlich auf den Zimmern, die wir bekommen, nicht geduldet.«

Die Andere faltete die Hände und sah ihre Gefährtin mit einem trostlosen Blicke an. Dann ging sie seufzend nach dem Bette und legte sich, da sie wirklich heftig fror, mit den Kleidern auf die Matraze und unter die Decke.

Nanette nahm einen der Stühle, rückte ihn an das ärmliche Lager und setzte sich so, daß sie sich mit dem Oberkörper und dem Kopfe ebenfalls auf das Bett legen konnte, worauf sie einen Theil der Decke über ihren entblößten Busen zog. – »Also,« sagte sie, »wo kamst du her, das heißt, wenn du mir dein Geheimniß anvertrauen willst?«

»Es ist nur ein schreckliches Unglück, aber kein Geheimniß,« versetzte das junge Mädchen. »Ich kam aus dem Städtchen N., wo ich geboren und aufgezogen wurde.«

»Von deinen Eltern?«

»Nur bis zum zehnten Jahre, dann waren beide todt. Eine entfernte Verwandte nahm sich meiner an; sie hatte keine Kinder [130] und ich durfte bei ihr bleiben; sie lehrte mich stricken, nähen und dergleichen, und brachte mich so weit, daß ich mit sechszehn Jahren einen Dienst annehmen konnte.«

»Du nahmst also einen Dienst an?«

»Ja, bei einem jungen Kaufmanne, der eine ältliche Frau und ein einziges Kind hatte.«

»Das war von deiner Verwandten nicht klug gewählt.«

»O doch! Er stand in dem Ruf eines christlichen und frommen Mannes, es sprach Keiner so schön und gut wie er, und Niemand besuchte häufiger die Kirche.«

»Das sind oft die Schlimmsten!« sagte Nanette.

»Ja, ja, er war schlimm,« fuhr das junge Mädchen fort; »aber ich hatte ja keine Ahnung davon, ich wußte ja lange nicht, was er von mir wollte. Ach! sein Kind, das kleine Mädchen, hatte ich sehr lieb und es mich gleichfalls, und er schien es gern zu sehen, wenn ich mich so recht freundlich mit dem Kinde abgab. Die Frau war kränklich und reiste jeden Sommer in's Bad.«

»Dann warst du mit ihm allein im Hause?«

»Ja,« erwiderte die Andere mit leiser Stimme. Dann fuhr sie fort: »Anfänglich fiel mir nichts Böses dabei ein, daß er häufig lange dabei stand, wenn ich mit dem Kinde spielte oder es aus- und anzog, daß er auch wohl seine Hand auf die meinige legte, ja daß er mich zuweilen scherzend um den Leib faßte. Ich nahm das Alles ganz unbefangen auf, und umsomehr, da er gleich darauf wieder ernste und belehrende Worte zu mir sprach, von der Verdorbenheit der sündigen Welt, daß die Menschen im Allgemeinen so schlecht seien, voll Trug und Arglist, und daß sich namentlich ein junges Mädchen glücklich schätzen müsse, das in einem guten Hause ein Asyl gefunden und dem treue Freunde zur Seite ständen. – Auch – – – auch,« sagte sie mit stockender Stimme, »auch betete er oft mit mir und nahm mich alsdann bei der Hand und schien [131] so ergriffen zu sein, daß er mich am Ende zuweilen auf die Stirne küßte.«

»Schön gemacht!« rief lachend Nanette; »den möcht' ich kennen!«

»Ich lernte ihn kennen,« fuhr das junge Mädchen fort, indem ein Schauder über ihren Körper flog. »Aber erst, nachdem ich ein Jahr im Hause war und vor ein paar Tagen. Die Frau war auf kurze Zeit zu ihren Verwandten gereist, und da eines Abends, als ich in mein Zimmer gegangen war und –«

»Das Uebrige kann ich mir denken,« sagte Nanette, während sie mit einer Hand ein Stück von der Decke zusammen ballte; »du bist ein schwaches Geschöpf, du hattest nicht den Muth zu widerstehen, auch nicht die Kraft dazu –«

»O ja,« entgegnete die Andere, »ich hatte Kraft und Muth zum Widerstand. – Und das war vielleicht gerade mein Unglück. Gott im Himmel! als er mich mit geballten Fäusten verließ, da sagte er es mir vorher, gab mir auch noch eine halbe Stunde Bedenkzeit, mich seinem Willen zu fügen, sonst wolle er mich zertreten wie einen Wurm. Er sei der Herr und ich ein armes, wehrloses Geschöpf, – seine Sklavin, ich müsse mich glücklich schätzen, wenn er ein Wohlgefallen an mir fände. – Eine halbe Stunde gäbe er mir Bedenkzeit, und wenn ich ferner ein angenehmes und vergnügtes Leben führen wolle, so solle ich meine Zimmerthüre, die er offen stehen ließ, hörbar schließen und wieder öffnen. – Aber ich that es nicht; ich warf die Thüre in's Schloß und schob den Riegel vor.«

»Du hattest einen Geliebten?« fragte Nanette, indem sie lächelnd den Kopf herum wandte; »gewiß, du hattest einen!«

»Woher können Sie das wissen?« fragte erschreckt das junge Mädchen. Dann verbarg sie verzweiflungsvoll ihr Gesicht in das grobe Kissen und versetzte: »Ja, ich hatte einen; aber ich habe ihn verloren, wie Alles auf dieser Welt.«

[132] »Das habe ich mir gedacht. – Aber nun weiter! obgleich ich mir denken kann, was erfolgte.«

Das Mädchen wischte ein paar Thränen aus ihren Augen, richtete sich in dem Bette empor und sagte mit leiser Stimme: »Nein, Sie können sich das Schreckliche nicht denken, was nun erfolgte. Ich wurde am andern Morgen aus dem Hause gejagt; – ich hätte gestohlen, sagte er. Was weiß ich, wie er es gemacht, aber als ich mit dem kleinen Kinde von der Straße herein kam, war er mit der Köchin auf meinem Zimmer; ich mußte meinen Koffer öffnen und da fanden sich allerlei Sachen, von denen nur der barmherzige Gott wissen kann, wie die hinein gekommen.«

Bei diesen Worten drehte sich die andere langsam herum und schaute ihre Gefährtin mit einem langen und prüfenden Blicke an. Dann warf sie die Oberlippe in die Höhe, schüttelte mit dem Kopfe und sagte: »Das war sehr dumm. – Und die Polizei –? Doch was brauche ich da zu fragen! Ich kenn' das ja; was sind wir arme niedergetretene Wesen, wenn so eine from me, christliche Seele Böses gegen uns aussagt, und wenn überdies noch der Schein gegen uns spricht! – O,« fuhr sie fort und ihre Augen schossen Blitze, »ich hatte eine Schwester, der es gerade so erging, eigentlich noch viel schlimmer, denn auch sie, ein junges unschuldiges Mädchen, sollte sich ihrem Herrn ergeben, und als sie sich weigerte, beschuldigte man sie allerhand schlimmer Sachen, worauf mein Vater Jenem volle Macht verlieh, die Widerspenstige zur Ordnung und Zucht zurück zu bringen. – Das wurde denn auch mit Hunger und Schlägen probirt, und nachdem sie das eine Zeitlang ertragen, kehrte sie denn freilich zur Ordnung zurück, aber die Zucht – war von der Stunde an beim Teufel. – Doch weiter! – Sie steckten dich ein?«

»Sie wollten es thun,« fuhr das junge Mädchen unter nieder strömenden [133] Thränen fort, »aber er hatte einen Buchhalter, der bat für mich.«

»Ah! der Buchhalter? –«

»Und darauf jagten sie mich einfach aus dem Hause mit der Weisung, nicht wieder zu kommen. O, das war von Allem der entsetzlichste Moment; ich mußte mir ein Bündel mit dem Nothwendigsten zusammen packen, und da ich vorn zur Hausthüre nicht hinaus wollte, – es waren da böse Leute, die von der Geschichte gehört hatten und auf mich warteten, – so öffnete mir der Buchhalter die Thüre des Gartens, die auf das freie Feld führte. Ich faßte in meiner Verzweiflung mit der Hand so heftig in die Dornenhecke, daß mein Blut heraussprang und auf den Schnee tropfte; dann sah ich hinauf an den grauen Winterhimmel und auf den weißen, weißen, einförmigen Schnee, der sich so weit und unabsehhar vor mir ausbreitete. Da war nichts Lebendes zu sehen als eine Schaar Raben, die schreiend über das Feld wegflogen. – Sehen Sie, Henriette, sagte der Buchhalter, da hinaus wenden Sie Ihren Weg, und wenn Sie auch schwer gefehlt haben, er, der die Raben auf dem Felde nährt und die Lilien kleidet, wird sich auch Ihrer erbarmen.«

»Er war fromm wie der Herr,« sagte höhnisch Nanette.

»Darauf wollte er durch den Garten zurück, aber ich schrie laut auf und versuchte, freilich etwas verworren und unklar, ihm den Verlauf des Ganzen zu erzählen. Aber er schüttelte den Kopf und sprach: Henriette, fügen Sie nicht zu dem, was Sie gethan, auch noch Verläumdung und Lüge. Ich kenne den Herrn, – das ehrbarste und beste Gemüth, und so gut, so gut, er könnte einem Kinde nichts zu Leide thun. – Da raffte ich mich zusammen, erhob die Hand und sagte: die Schande überlebe ich nicht, ich thue mir ein Leides an und mein Blut komme über ihn. Damit sprang ich in das Feld hinaus und erst, als ich schon ziemlich weit gelaufen war, blickte ich nochmals um. Da stand er noch immer an der schneebedeckten[134] Hecke und blickte auf die rothen Blutstropfen, die dort von meinen Fingern niedergefallen waren.«

»Das war eine Strafe für ihn!« rief Nanette. »Denn als er das Blut sah, fürchtete er sich und dachte an deine letzten Worte.«

»Ich that mir aber kein Leides an,« fuhr bitter lächelnd das arme Mädchen fort; »ich hatte nicht den Muth dazu, und als ich an einen Fluß kam, wo die Eisschollen neben und über einander hin schliffen, da schauderte mich und ich eilte wieder von dem Ufer hinweg. Ich lief, bis es Abend wurde, und dann kam ich an die offen stehende Scheune, wo ich Sie fand.«

»Das ist eigentlich eine ganz gewöhnliche Sklavengeschichte, wie sie zu Dutzenden vorkommen,« sagte das Harfenmädchen. – »Und wenn es dich interessirt, etwas von mir zu erfahren, so will ich dir gerne damit aufwarten. Eine Ehre ist der andern werth. Doch ist meine Geschichte ein Bischen anders. – Schau mich an,« fuhr sie fort, indem sie sich aufrichtete, »ich sehe nicht aus wie Jemand, der gern duldet und leidet, und damit habe ich mich auch in meinem Leben sehr wenig abgegeben. Wir waren unserer vier Geschwister, die, als der Vater starb und uns als Waisen zurück ließ, sich noch im Hause befanden, das heißt in zwei elenden Dachkammern, wo kein Nagel unser war. Die Schwester, von der ich vorhin sprach, rechne ich gar nicht mit, denn die war damals versorgt; später ist sie freilich im Spital gestorben. – Nun, wir vier, das kann ich dir versichern, wir waren gut aussehende hübsche Mädchen; ich kann das schon sagen, ohne mir zu schmeicheln, denn es ist ja schon ziemlich lange her. Nun hielten wir einen Familienrath, dem eine alte Tante beiwohnte, welche uns versicherte, es könne uns nicht fehlen, wenn wir arbeiten wollten und Lust hätten, uns ehrlich durchzuschlagen. Dabei sprach sie achselzuckend von der fünften Schwester und ermahnte uns, an der ein Exempel zu nehmen und meinte, wir sollen recht tugendhaft bleiben. Aber die Alte hatte gut reden! Die Tugend ist eine schöne Sache für vornehme und [135] reiche Mädchen; da leuchtet sie und glänzt, und wenn sie auch schon Schaden gelitten hat, das thut nichts, da wird sie doch als vollkommen unverletzt dargestellt und es wagt Niemand, öffentlich daran zu rühren. – Aber bei uns armen Geschöpfen, da glaubt Jeder, in dessen Klauen wir gerade fallen, wir seien für ein mageres Brod sein mit Leib und Seele, als hätte er uns auf dem Sklavenmarkte gekauft. – Ich versichere dich, anders sehen es die Meisten, bei denen wir um's Taglohn arbeiten, gar nicht an.«

»Ich kam denn auch gleich in die Hände eines solchen Herrn, eines Fabrikanten, der seine Arbeiterinnen ansah wie der Türke seinen Harem, und der uns mit einem Draufgeld, welches wir erhielten, förmlich von seinen Unterhändlern kaufte. Ich hatte Wind davon erhalten und wollte nicht zu ihm; aber ein altes Weib, das er zu mir schickte, und die er außerordentlich bezahlte, wußte mir die Sache recht lockend darzustellen. Ich ging also in die Fabrik, aber nicht in die Falle; und als nicht lange darauf der entscheidende Moment kam, erhielt mein Herr ein paar tüchtige Ohrfeigen, was meine sämmtlichen Kolleginnen in's höchste Erstaunen setzte, denn die und – Gott verzeih' es ihnen – auch viele ihrer Eltern, hatten sich oder die eigenen Kinder zu allen Diensten förmlich verkauft, und wenn so ein unglückliches Geschöpf sich wohl bisweilen gewaltig wehrte und um Schonung und Erbarmen flehte, so wurde sie meistens von den Anverwandten zur Pflicht zurück geführt. – Ha! ha! ha!« unterbrach sich das Mädchen mit einem lauten Gelächter, »ich versichere dich, es gibt keine größere Sklaverei, als die der tausend armen Mädchen, worunter auch wir gehören, mögen sie nun sein, was sie wollen. – Sklaverei in jeder Richtung; harte Arbeit, kaum das tägliche Brod, um nicht Hungers zu sterben, Mißhandlung aller Art, geistige und körperliche; – und zuletzt wirft man sie weg, nachdem nichts mehr an ihnen zu verderben ist. Und wenn man von Menschenhandel sprechen will, so lasse man nur Einige von uns ihre Geschichte erzählen, das gebe ein artiges Buch [136] zusammen, daß Jedem, der es lesen würde, die Haare zu Berge stehen könnten.«

»Natürlicherweise verließ ich am gleichen Tage, wo ich mich mit dem Herrn entzweit, die Fabrik. Ein junger Musiklehrer, den ich kennen lernte, fand, daß ich eine gute Stimme, auch hinreichendes Taktgefühl; er unterwies mich eine Zeit lang, und dann suchte und fand ich eine Anstellung als Choristin bei unserm Stadttheater.«

»Das war aber dieselbe Sklavenanstalt wie die Fabrik, das kann ich dich versichern, ja insofern noch viel schlimmer, weil es dort nur einen, hier aber viele Herren gab. Auch versteht es sich ja von selbst, daß so eine junge anfangende Choristin in nichts widersprechen darf, wenn sie nur die geringste Aussicht haben will, zu Etwas zu kommen, um gerade vom Hungertode bewahrt zu sein. Der Direktor selbst warf mir freundliche Blicke zu; sein Bruder, Regisseur und erster Tenorist, trug sich mir zum Lehrer an; er wolle meine Stimme ausbilden, sagte er, und nebenbei ein kleines Verhältniß mit mir eingehen. Ich wies das Alles anfänglich zurück und dachte, wenn ich recht fleißig sei, meine Schuldigkeit im Gesang thue, nie zu spät komme und dergleichen mehr, so könne man nichts weiter von mir verlangen. Ich wollte damals trotz der gemachten Erfahrungen noch nicht einsehen, daß wir eine Klasse von Geschöpfen sind, die sich einmal verkaufen müssen, um ihr tägliches Brod zu erwerben.«

»Da war aber auf jenem Theater eine alte würdige Frau, – sie spielte Anstandsdamen und souflirte zuweilen, – ein sehr praktisches Weib, ich sehe sie heute noch vor mir mit ihrem dicken rothkarrirten Shawl, einem großen Beutel am Arm, worin sie Bücher und Obst hatte, eine Brille auf der Nase und mit der Schnupftabaksdose, die sie beständig in der Hand hatte. Sie mochte mich wohl leiden, und eines Tags, als ich dem Bruder des Direktors eine recht schnippische Antwort gegeben und ihm geradezu [137] den Rücken gekehrt hatte, nahm sie mich in den dunkelsten Winkel hinter die Koulissen und sagte mit ihrer schnarrenden Stimme: Mein liebes Kind, mit der Sprödigkeit geht's nun leider einmal nicht in so vielen abhängigen Verhältnissen, namentlich nicht beim Theater, und je mehr man sich dagegen wehrt, um so größeres Herzeleid macht man sich selber. Tugendhaft sein, ist eine schöne Sache, aber es gehört Geld dazu, dann ist es sehr angenehm und leicht. Was sollen aber wir arme Geschöpfe machen? So ein Vorgesetzter, mag er nun heißen wie er will, peinigt dich bis auf's Blut, und wenn er dich am Ende fortschickt, so treibt dich der Hunger zu noch viel Schlimmerem. – Aber das ist ja mehr als Sklaverei! fuhr ich damals auf. Ich habe doch das Recht, zu thun und zu lassen was ich will; wer will mich zwingen? – Mit Gewalt Niemand, antwortete darauf die Alte, das geschieht nur höchst selten, und dann bist du ein armes Schlachtopfer. Aber nein! nein! du mußt Alles freiwillig hergeben und doch gezwungen; das ist die härteste Nuß bei der ganzen Geschichte. – Ich fühlte wohl, daß sie Recht hatte, aber da ich es so recht deutlich fühlte, ballte ich meine Hände zusammen und biß mir die Lippen blutig. Doch wollte ich lange, lange dieser Ermahnung nicht folgen. Aber sie plagten und mißhandelten mich auf alle Weise, sie quälten mich, daß es einen Stein hätte erbarmen sollen. Ich stand allein da, verlassen, und fühlte, daß ich so gar kein Recht gegen diese Behandlungen erlangen konnte, ich fühlte es, daß ich nichts sei als eine arme Sklavin, und wunderte mich nur über mich selbst, daß ich nicht schon gleich Anfangs dem Befehl des Direktors nachgekommen sei, als er mir sagte, ich solle in seine Wohnung kommen, er wolle mir eine kleine Solopartie übertragen und mit mir einstudiren. – Ein ganzes Jahr lang hatte ich ertragen, was ein Mädchen zu ertragen im Stande ist, wurde von meinen Kolleginnen verspottet, von den Männern beim Theater auf alle Weise geneckt und geplagt. – [138] Ja, ein ganzes Jahr hatte ich es ausgehalten, da – nahm ich die mir dargebotene Rolle an und sang eine kleine Solopartie.« –

»Warum blieben sie aber nicht beim Theater,« fragte die Andere; »namentlich wenn Sie Talent dazu hatten?«

»Ich hatte aber kein Talent,« entgegnete das Harfenmädchen finster; »Alle, die mir das gesagt, hatten mich belogen: ich hatte nichts als ein hübsches Gesicht und einen Körper in der Frische der ersten Jugend. Das verlor sich aber schnell, ich sang keine Solopartien mehr, und da die Truppe, bei der ich mich befand, bald aufgelöst wurde, so stand ich mit vielen Andern, die sich um mich so wenig bekümmerten wie ich mich um sie, auf der Straße. Glücklicherweise hatte ich von einem der Orchestermitglieder etwas Harfenspielen gelernt, mein altes Instrument, welches ich jetzt hier habe, wurde mit allem Uebrigen versteigert und ich erhielt es als Bezahlung, da ich einige Gegenansprüche zu machen hatte. – So bin ich jetzt reisende Virtuosin geworden,« setzte sie lachend hinzu, »und wenn ich in der ersten Zeit meiner Laufbahn Manches hinunter schlucken mußte, so habe ich mich jetzt an Vieles gewöhnt und lebe lustig und vergnügt in den Tag hinein, bis ich einstens – hinter einer Hecke sterbe.« –

Diese letzten Worte sprach sie so leise, daß sie ihre Gefährtin nicht verstehen konnte. Auch war diese in ein tiefes Nachdenken versunken, und schrak jetzt, als Nanette schwieg, aus ihren Träumereien auf.

»Aber was soll mit mir werden?« sagte sie und faltete ihre Hände. »Was bin ich schon geworden? – in welches Haus bin ich gerathen?«

»Das sind drei Fragen auf einmal,« entgegnete Nanette, »die schwer oder leicht zu beantworten sind, wie man will. – Was aus dir werden soll? – Nun, bleibe vorderhand was du bist, das heißt, behalte die Guitarre und singe mit mir herum. Du dauerst mich [139] und wenn ich dich jetzt fahren lasse, so bin ich überzeugt, daß du bald in schlechte Gesellschaft geräthst.«

Das junge Mädchen sah bei diesen Worten ihre Gefährtin mit einem sonderbaren Blicke an.

Darauf erwiderte diese lachend: »Ich weiß wohl, weßhalb du mich so komisch betrachtest; du meinst, die Gesellschaft, in der du dich gerade befindest, sei auch eben nicht die respektabelste. Doch glaube das nicht; ich bin reisende Künstlerin, und wenn ich will, kann ich mein Brod auf ganz ehrliche und unbescholtene Art verdienen. – Aber,« setzte sie leiser hinzu, »die Verführung ist so groß. – Deine andere Frage, was aus dir schon geworden sei, kannst du dir am besten selbst beantworten; und drittens endlich, was die Beschaffenheit des Hauses, in dem wir uns gerade befinden, betrifft, so heißt dasselbe der Fuchsbau, macht billige Zechen und gewährt hinlänglichen Schutz vor der Polizei mit ihrem Anhang. – Für tugendhafte Frauenzimmer,« fügte sie bei, indem sie ihren Kopf und Oberkörper auf die Decke zurückwarf und sich lange ausstreckte, »für tugendhafte Frauenzimmer ist das Haus freilich ein wenig gefährlich, denn es sind hier an den Thüren keine Riegel zum Verschließen. – Und du scheinst mir noch recht tugendhaft zu sein?«

»Ach mein Gott!« seufzte das Mädchen und verbarg eine Zeit lang ihr Gesicht, das auf's Neue von Thränen überströmt wurde, in beide Hände. – Welch' unsägliches Elend war nicht seit so kurzer Zeit über dies arme Geschöpf herein gebrochen! Vor ein paar Tagen noch war sie in einem vor der Welt anständigen Hause, in einer guten Stellung, freundlich behandelt, ja zu freundlich, mit der Aussicht auf eine ruhige und behagliche Zukunft. – Und nun aus Allem dem herausgerissen, in diese unheimliche Welt hinein geschleudert, sah sich das junge, bis jetzt noch unverdorbene Mädchen an die Gefährtin, die vor ihr saß, gewiesen, und mußte sich glücklich schätzen, daß das Harfenmädchen sich ihrer annahm [140] und ihr Schutz gewährte. Aus ihrem netten Stübchen, wo das Bett des kleinen Kindes stand, das sie so sehr liebte, befand sie sich jetzt mit einem Mal in dem öden Gemache des verrufenen Hauses, wo Wind und Schnee zu dem offenen Fenster herein jagte, und wo einmal über das andere Mal ein Schauder ihren Körper überflog und die Kälte ihre Glieder erschütterte. Auf Augenblicke hielt sie alles Das für einen Traum, sank in sich zu sammen und schloß die Augen fest, um vielleicht freundliche Bilder, die sie umgaukelten, festzuhalten. – Jetzt aber fuhr sie wieder empor, warf ihre Blicke auf die Gefährtin, die neben ihr ruhte, und fühlte alsdann, wie sich ihr Herz in tiefem Schmerz krampfhaft zusammen zog.

»Nun, antworte mir,« sagte Nanette; »du hast lange genug überlegt. Du behältst Guitarre und Papier der fortgelaufenen Agnes, ich bringe dir morgen ein paar Akkorde bei, lehre dich einige Lieder, und mit deinem Gesichte, mit den verschämt niedergeschlagenen Augen, können wir in den Gasthöfen gute Ernte machen. – Aber,« setzte sie nach einer Pause hinzu, »ich fürchte, du wirst zu vornehm thun, und was das anbetrifft, da muß ich wahrhaftig zu dir sprechen, wie seiner Zeit die alte Theaterprinzeß zu mir. – Reisende Musikantin zu sein ist an sich nicht so übel, aber du verkaufst dich dadurch der ganzen Welt: der Sechser, der in meinen Teller fällt, ist ja nicht für unser Spiel und Gesang, – er gilt meinem vollen Busen oder deinen sanften schmachtenden Augen, deinem schlanken Wuchse. Und darauf glaubt der, der ihn gespendet, sich ein Anrecht erworben zu haben.«

»O Gott! mein Gott!« jammerte das Mädchen.

»Aber man gewöhnt sich daran,« fuhr finster die Andere fort. »Es gibt freilich Leute, die das nicht glauben und die nicht begreifen wollen, warum so ein armes Harfenmädchen, das sich auf's Unverschämteste muß begaffen lassen, das jede freche Hand berühren darf, nicht lieber in's Wasser springt, um so seiner Schande und seinem Dasein ein Ende zu machen. Aber die das nicht begreifen, [141] kennen unsere Lage nicht, obgleich sie so gern aus ihrem warmen Zimmer, von ihrem guten Mittagessen hinweg achselzuckend über uns und unseres Gleichen urtheilen. – Aber entschließe dich! Es ist das Beste, was du ergreifen kannst; denke nicht, daß du nach Hause zurückkehren kannst: dein Herr ist gezwungen, die Klage gegen dich aufrecht zu erhalten. In den Augen der Leute dort bist und bleibst du eine Diebin.«

»O stille! stille!« bat das arme Mädchen, die sich in den heftigsten Seelenleiden auf dem Bette krümmte wie ein zertretener Wurm.

In diesem Augenblicke hörte man Etwas auf dem Gange schleichen und eine Hand, welche an der Thüre vorbei rutschend die Klinke suchte.

34. Kapitel
Vierunddreißigstes Kapitel.
Er! –

»Was ist das?« fragte entsetzt das junge Mädchen, indem sie sich erhob und ängstlich lauschte.

»Es wird der im schwarzen Fracke sein, dem du vorhin seine Frage bejahtest. Er kommt nun, wie er mit dir ausgemacht.«

»Aber ich habe nichts mit ihm ausgemacht!« schrie das Mädchen im Tone der Verzweiflung. »Nichts! nichts! Gott erbarme sich meiner! – O helfen Sie mir! was soll ich thun?«

»Mit mir ziehen, dich unter meinen Schutz begeben,« entgegnete ruhig das Harfenmädchen, ohne den Kopf zu erheben, – »aber warum sich auch so gewaltig sperren? – Oder ihm folgen!«

[142] »Eher den Tod! – ich stürze mich dort zu dem Fenster hinaus.«

»Bist du so tugendhaft?« fragte Nanette mit einem zweifelhaften Lächeln.

Die Andere gab keine Antwort, sondern starrte mit weit aufgerissenen Augen nach der Thüre.

»Gewiß und vollkommen tugendhaft?« fuhr das Harfenmädchen dringender fort zu fragen, und richtete sich halb empor, um die Antwort ihrer Gefährtin besser vernehmen zu können.

Doch schien diese den Sinn der Frage nicht gleich zu verstehen, und als sie ihn endlich begriffen, zuckte sie zusammen, blickte empor und sagte mit aufgehobener Hand: »Ja, ja! bei Gott im Himmel! ja!«

»Ah! wenn das ist,« sprach lustig Nanette, »so wollen wir diesen Tölpel ablaufen lassen; das wären Perlen vor die Säue geworfen!«

Jetzt öffnete sich langsam die Thüre; der Mann, von dem das Harfenmädchen vorhin gesprochen, und der sich drunten zum Beschützer der Andern aufgeworfen, erschien wirklich und blickte vorsichtig in das Gemach. In der Hand trug er ein ausgelöschtes Licht. – »Das ist heute ein furchtbarer Sturm,« sagte er lächelnd; »wo der Wind die geringste Oeffnung findet, da fährt er herein.«

»He, was soll's?« rief Nanette, indem sie sich halb erhob und dabei eine Faust unternehmend in die Seite stemmte. »Wollt Ihr vielleicht Euer Licht bei uns anzünden? – Nun, darauf soll es mir meinetwegen nicht ankommen.«

»Das weniger,« entgegnete grinsend der Eingetretene; ich hätte wohl die Absicht, euer Licht ebenfalls auszulöschen.

»Nun, ich will Euch was sagen, Sträuber,« erwiderte das Mädchen mit bestimmtem Tone, »für Eure schlechten Spässe sucht Euch ein anderes Zimmer. Wir haben das unsrige bezahlt und wollen Ruhe haben.«

[143] »Man will auch von dir nichts, du böses Maul!« sagte der im schwarzen Frack. »Nimm dich in Acht, sonst sollst du es büßen.«

Trotz dieser Drohung blieb er aber ruhig an der Thüre stehen.

»Von wem willst du denn sonst etwas?« fuhr das Harfenmädchen fort, indem sie sich von ihrem Stuhle erhob. »Vielleicht von meiner Schwester? – Willst du sie vielleicht verkaufen, Sklavenhändler, Seelenverkäufer!«

»Von deiner Schwester? -hahaha!- du würdest dich freuen. Das ist aber eine ganz andere feinere Race als die eurige.«

»Mag es nun eine Race sein, welche es will, so sage ich dir, sie ist für dich nicht gewachsen, und wenn du dich nicht bald aus dem Zimmer hinaus machst, so komme ich dir entgegen; und ich glaube, du kennst mich.«

»Du bist eine wilde Katze,« versetzte giftig der Andere. »Und wenn du meinst, ich hätte Lust, mich mit dir herumzuschlagen, so irrst du dich gewaltig. Ich will nur den Lakaien herauf holen, der soll dich halten und dann kannst du zusehen.«

»O, ich habe vor euch Beiden keine Angst, ihr Jauner, ihr miserable! – Nicht wahr, bei ein paar armen Mädchen habt ihr große Mäuler. Soll ich den Mathias bitten, herauf zu kommen? Warte nur, Sträuber; aber ich sage dir im Guten, nimm dich in Acht!« Dabei ging sie einige Schritte vor, und während sie ihm eine ihrer geballten Fäuste entgegen warf, blitzten ihre Augen. »Dieser Abend ist noch nicht vorüber, und es müßte mich Alles trügen, wenn der Johann nicht noch käme. Da will ich dann sehen, was du für ein Gesicht machst, du Vieh, wenn ich mich über dich beklage.«

Diese Drohung, so versteckt sie auch war, machte doch auf den Herrn Sträuber einen sichtlichen Eindruck. Er versuchte zu lächeln und sagte: »Du bist doch in Wahrheit eines der verwegensten Weibsbilder, die ich je gesehen. Von dir will ja eigentlich Niemand etwas, ich halte mich an die Andere; und bin ich nicht in [144] meinem vollkommenen Rechte, wenn ich herauf komme, hat sie drunten nicht Ja gesagt?«

»Ja hat sie allerdings gesagt,« erwiderte das Harfenmädchen, indem sie jetzt ihre beiden Arme in die Seiten stemmte. »Aber weßhalb hat sie es gesagt? – Du wirst dir doch wohl nicht einbilden, daß es ihr Ernst war? – Sie hat Ja gesagt, weil sie sich vor dem Schuft, dem Lakaien, fürchtete. Das wirst du wohl begreifen; für so dumm halte ich dich doch nicht.«

Jetzt hörte man drunten im Hause eine helle Glocke mehrmals anschlagen, und der eigenthümliche Ton derselben klang scharf durch die gewölbten Gänge.

Herr Sträuber zog plötzlich die Augenbrauen in die Höhe, ließ die Unterlippe herab hängen und lauschte aufmerksam.

»Das wird an der kleinen Hinterthüre sein,« sprach Nanette; »Johann kann nach Hause kommen.«

»Nein, nein,« entgegnete der im schwarzen Frack eifrig, indem er die Thürklinke wieder in die Hand nahm, »das ist ganz was Anderes – horch! ich kenne die Glocke.« Dabei erbebte er sichtlich, gerade wie Jemand, den ein plötzlicher Frost überweht oder ein großes Entsetzen anwandelt.

»Was gibt es denn?« fragte jetzt auf einmal das junge Mädchen, welches die Veränderung an dem vorhin noch so kecken Herrn Sträuber bemerkte.

»Ich weiß nicht,« entgegnete dieser mit leiser Stimme; »aber es gibt was. – Horch!« Dabei hielt er den Kopf auf den Gang hinaus. – Aber, sagte er plötzlich, »löscht euer Licht aus, es darf kein Schein davon die Treppe hinab fallen.«

»Ist das nicht eine neue Finte von dir?« fragte argwöhnisch Nanette.

»Nein! nein! sei verdammt!« erwiderte er unruhig, – »aber halte dein Maul! Wenn du das Licht nicht auslöschen willst, so [145] komm mit vor die Thüre, oder bleib drinnen, wie du willst, aber laß sie mich in's Schloß ziehen. – So – leise!«

Das Harfenmädchen hatte dem Mann einige Augenblicke forschend in's Gesicht gesehen, als sie aber da nichts von Hinterlist und Falschheit entdecken konnte, vielmehr nur den Ausdruck des Schreckens sah, so siegte die weibliche Neugierde und sie trat mit ihm auf den finstern Gang hinaus.

Einen Augenblick herrschte tiefe Stille in dem weiten Gebäude, dann aber hörte man den Klang der kleinen Glocke wieder, und darauf hin wurde in einem Stockwerke tiefer eine Thüre geöffnet, man vernahm schwere Männerschritte auf den Steinplatten des Korridors und es wurde eine Stimme laut, welche ängstlich fragte: »Nun was soll's denn eigentlich? – Treibt doch keinen schlechten Spaß mit mir!«

»Der Lakai!« sagte das Mädchen.

»Ja, der Lakai,« antwortete schaudernd Herr Sträuber.

Jetzt verwandelte sich drunten die Stimme desselben aus einem scherzhaften und bittenden Tone in einen trotzigen und widerspenstigen. – »Nun ja,« hörte man ihn sprechen, »was soll's denn? Darnach habe ich wohl ein Recht zu fragen. Wenn ich nach Hause will, so kann ich das thun. – Wer hat ein Recht, mich zu halten?«

Hierauf vernahm man die Schritte wieder, doch statt daß sie wie vorhin in gleichmäßigem Tempo klangen, trampelten sie jetzt eine kleine Weile unordentlich durch einander. Dann hörte man ein Aechzen aus tiefer Brust und hierauf ein Schleifen, als schleppe man eine schwere Last mit sich fort.

»Alle Heiligen!« sagte das Mädchen, »steht uns in Gnaden bei! – da hat's ein Unglück gegeben.«

»Noch nicht,« entgegnete schaudernd Herr Sträuber, »aber es gibt wahrscheinlich eins.« – Dabei horchte er mit erneuter Aufmerksamkeit.

[146] Nachdem das Schleifen da drunten ein paar Sekunden gedauert, hörte man eine andere tiefe Stimme sagen: »Nun, wenn du lieber auf den Füßen gehen willst, ist es mir auch recht; aber laß allen Widerstand, der ist hier vergebens.«

Darauf stieß der Lakai einen tiefen Seufzer aus und entgegnete: »Ich will ja thun, was man verlangt.«

Endlich verklangen die Schritte in die Ferne, es schloß sich wieder eine Thüre und Alles war todtenstill wie vorher.

Die Beiden oben an der Thüre lauschten noch eine Weile, dann trat der Herr Sträuber langsam in das Zimmer zurück. Nanette folgte ihm. – »So sprecht denn!« sagte sie, »was kann es denn da unten geben?«

»Weiß ich's!« entgegnete er verlegen, indem er die Achseln zuckte.

»Ihr wißt mehr, als Ihr sagen wollt. Kanntet Ihr den Klang jener Glocke?«

»Bst! – bst!« machte Herr Sträuber und zog das Mädchen weiter mit sich in's Zimmer hinein. – »Er ist im Hause –«

»Er?« fragte das Mädchen erschreckt.

»Ja, ja, er,« erwiderte der Andere. »Und ich mache, daß ich fort komme, – wenn die Thüre überhaupt heute Nacht noch geöffnet wird,« setzte er nachdenkend hinzu. »Schlaft ruhig! was gehen euch die Geschichten da unten an! Gute Nacht!«

Damit schlich Herr Sträuber zur Thüre hinaus und schritt leise durch den Gang und die Treppen hinab.

Das junge Mädchen im Bette hatte sich halb erhoben und saß da, ein Bild der Angst und des Jammers. Ihr blondes Haar hatte sich aufgelöst und hing über ihr bleiches Gesicht herab, ohne daß sie den Versuch machte, es wegzustreichen. Auch sie hatte drunten verworrene Stimmen und Schritte gehört, hatte das natürlicherweise für eine Gefahr gehalten, die sie bedrohe, und zitterte am ganzen Körper. Erst nachdem Herr Sträuber wieder das Zimmer verlassen, athmete sie tief auf und beruhigte sich etwas.

[147] Nanette trat gedankenvoll an das Bett und sagte: »Leg' dich nur ruhig hin; an uns denkt heute Niemand mehr. Aber du kannst ein klein wenig auf die Seite rücken, ich will mich auch niederlegen, wir haben Platz genug. Vorher aber will ich das Licht auslöschen.«

»Lassen Sie es lieber brennen,« bat das junge Mädchen.

»Nein, das ist gegen die Hausordnung,« entgegnete eifrig die Andere, »man sähe drunten vom Hofe das erleuchtete Fenster, und ich möchte um Alles in der Welt keine Ursache zu irgend einer Klage geben. – Nein, gewiß nicht!« Damit that sie, wie gesagt, drehte die Talgkerze in dem Leuchter um, um sie auszulöschen, warf ihr Oberkleid von sich und legte sich zu ihrer Gefährtin auf das schmale Feldbett, das unter der doppelten Last bedenklich krachte, auch kaum Platz für die beiden bot. Die Mädchen aber behalfen sich so gut wie möglich, theilten sich in die Decke und bald zeigten die tiefen und regelmäßigen Athemzüge des Harfenmädchens an, daß sie ruhig entschlummert sei.

Die Andere wollte nicht so bald der freundliche Schlaf in seine Arme nehmen; wohl preßte sie die Hand auf ihr heftig klopfendes Herz, wohl schloß sie die Augen und suchte mit Gewalt die Erinnerung der vergangenen Tage zu verdrängen, und dann senkte sich auch wohl auf Augenblicke ein leichter Schlummer wie ein durchsichtiger Nebel über sie hin. Doch entrückte er sie nicht der Wirklichkeit: er flog über sie hin, ein leichter, durchsichtiger Hauch, hinter dem schreckliche, hohnlachende Gestalten um so seltsamer ihr Wesen trieben, und den ein tieferer Athemzug, ein lauterer Herzschlag plötzlich durchriß, um wieder auf sie einströmen zu lassen, die schreckliche, fürchterliche Wirklichkeit. – Dann fuhr das Mädchen empor, strich sich angstvoll die Haare aus dem Gesicht und blickte um sich; doch konnte sie nichts erkennen: die dichteste Finsterniß herrschte in dem Gemach, und nur ein leichter unbestimmter Schein ließ die Stelle ahnen, wo sich die Fenster befanden. Nach wie vor sauste der Wind durch die zerbrochenen Scheiben, er heulte um die [148] Ecke des Gebäudes und durch die winkeligen Höfe. Der einzige freundliche Ton, der an das Ohr des armen Mädchens schlug, war eine mitleidige Glocke, welche die zehnte Abendstunde anzeigte.

»O Gott! noch so früh!« seufzte sie. Und dann legte sie sich wieder neben ihre Gefährtin hin, bemühte sich, ruhig zu sein, und derselbe schreckliche Zustand zwischen Wachen und Schlafen kam wieder über sie. – Sie hatte jenen Diebstahl in der That begangen, sie floh, man verfolgte sie. Jetzt stand sie an der Dornenhecke, die den kleinen Garten umschloß, wo sie schon so glücklich gewesen; jetzt sah sie die Blutflecken auf dem weißen Schnee und flog mit den Raben über das Feld hinweg; aber sie wollten sie nicht unter sich dulden und hackten auf sie los, so daß sie zur Erde niederstürzte und, an allen Gliedern gelähmt, langsam fortkroch. – So bewegte sie sich mühsam dahin, immer ihre Verfolger dicht hinter sich, immer eine Faust in ihrem Nacken, die nach ihr faßte und die mit jedem Pulsschlage näher kam; und es schien Jahre zu dauern, bis sie die schützenden Mauern erreichte, hinter denen sie sich jetzt befand. – Ah! endlich einen Augenblick Ruhe! – Die Nebel um ihr Haupt wurden dichter und dichter, die Gestalten verschwammen im einfachen Grau; sie schienen von unten herauf zu zerschmelzen: Füße, Körper und Arme all' der phantastischen Gestalten schwammen weit aus einander und wurden immer undeutlicher, nur die schrecklichen Köpfe waren noch längere Zeit zu erkennen, die Köpfe mit den seltsam lachenden und grinsenden Gesichtern, und vor Allem die unzähligen starren Augen, die sie leuchtend und unverwandt anblickten. – Lange, lange noch sah sie diese Augen durch den Nebel durchschimmern, als die Gesichter schon längst verschwommen waren, zuerst als wirkliche Augen, dann als glänzende Punkte, die langsam zurückwichen, und endlich nur noch lebhafte blaue und grüne Ringe, die zuletzt ebenfalls in Nichts zerflossen. –

35. Kapitel
[149] Fünfunddreißigstes Kapitel.
Ein geheimes Gericht.

So mochte das Mädchen eine Zeit lang ruhiger geschlummert haben, da fühlte sie im Schlafe, daß Jemand ihre Hand ergriff und daran zog. Augenblicklich erwachte sie, griff um sich, faßte den Arm ihrer Gefährtin; und als sie an demselben aufwärts tastete, um sich zu überzeugen, daß es auch das Harfenmädchen sei, welches ihr Handgelenk festhielt, bemerkte sie, daß diese es wirklich war, aber daß sie aufrecht neben ihr im Bette saß. – »Was ist's?« flüsterte das junge Mädchen angstvoll.

»Stille!« antwortete Nanette mit leiser Stimme; »ich muß erwacht sein an dem Schlag der Uhren; es ist elf Uhr. Doch jetzt soeben, als ich wieder einschlafen wollte, hörte ich leises Schleichen auf den Treppen; – hoch! und jetzt auf dem Gange.«

»Was kann das sein?«

»Vielleicht noch ein später Gast, der nach seinem Zimmer geht. – Aber nein, das ist der Schritt eines Weibes. O, ich habe ein feines Gehör. Weißt du, das wird geschärft bei unserem Leben.«

Und das Mädchen hatte Recht; es waren in der That leise schlürfende Tritte, die langsam näher kamen.

Die beiden Mädchen lauschten mit zurückgehaltenem Athem.

Jetzt faßte eine Hand die Thürklinke, drückte langsam das Schloß auf, die Thür öffnete sich und ein Lichtstrahl fiel herein. Doch konnten die Mädchen augenblicklich nicht erkennen, wer der Träger dieses Lichtes war, denn dieser hielt die Hand vor das Gesicht und ließ den vollen Schein des Lichtes in das Zimmer fallen.

»Was soll's?« fragte Nanette scheinbar mit entschlossenem Tone, doch zitterte ihre Stimme ein wenig. Dann rutschte sie [150] mit voller Geistesgegenwart vom Lager herab, um stehenden Fußes erwarten zu können, was es gebe.

Das junge Mädchen hielt ihren Arm umklammert und drückte sich fest an sie.

»Ja, ich bin recht,« sprach eine Stimme an der Thüre; »ich hatte die Nummer vergessen. Richtig, es ist doch vierundzwanzig.«

»Ah! seid Ihr es, Frau?« sagte Nanette nach einem tiefen Athemzuge, denn sie erkannte die Stimme des alten Weibes drunten aus der Schenke. »Ich hatte Angst, als Ihr so langsam die Thüre öffnetet.«

»Ei, ei!« entgegnete grämlich das Weib, »du bist doch sonst nicht so furchtsamer Natur.«

»Das ist richtig, aber es war heute Abend so unruhig im Hause. – Doch was soll's, Frau, wollt Ihr zu uns?«

Die Alte drückte sorgfältig die Thüre hinter sich in's Schloß, dann stellte sie das Licht auf den Tisch und näherte sich dem Bette.

»Schläft die Andere?« fragte sie.

»Nein, nein, ich schlafe nicht!« entgegnete eifrig das junge Mädchen.

»Nun, das ist gut, mein Schatz, dann brauche ich dich nicht zu wecken.«

»Mich zu wecken? – Barmherziger Gott! Wollt Ihr etwas von mir?«

»Ich eigentlich nicht, mein Kind, aber –«

»O Frau, laßt das arme Geschöpf in Frieden!« bat das Harfenmädchen. »Der Sträuber war da, wir haben Mühe gehabt, ihn hinaus zu bringen. Seht Ihr nicht, wie das unglückliche Ding vor Angst zittert!«

»Was Sträuber!« sprach die Frau verächtlich. »Meinst du, ich kümmere mich um solche Lumpen? – Da ist schon was ganz Anderes im Spiel. – Er ist im Hause,« setzte sie leiser hinzu.

[151] »Ich habe es gehört,« erwiderte Nanette. »Aber das kann uns doch nicht betreffen; er weiß kaum, daß wir in der Welt sind.«

»Er weiß Alles,« sagte ernst die Frau. »Und der beste Beweis ist, daß ich hier bei euch bin. Ich habe den Befehl, die da zu holen.«

»Die da? – das junge Mädchen?« rief entsetzt die Harfenspielerin und sprang vom Bette, auf welchem sie bis jetzt saß, als habe sie eine Schlange gestochen. »Alle Heiligen! er läßt sie holen?«

Die Alte nickte mit dem Kopfe.

»So hast du wahrscheinlich Schlimmeres begangen, als du mir gesagt,« fuhr Nanette zu dem Mädchen gewendet fort. »Wozu kann er dich sonst holen lassen! Um Gotteswillen! Wer bist du? – Ah! du hast mir von Blut an deinen Händen erzählt! – Gräßlich! – Sollte das nicht so zufällig an deine Finger gekommen sein?«

Das junge Mädchen blickte um sich, als sei es noch immer in einem schweren, schrecklichen Traume befangen. – »Man will mich holen?« brachte sie endlich mühsam hervor. Und als die Alte ihr entgegnete: »Ja, ja, drum stehe geschwind auf!« setzte sie händeringend hinzu: »Wohin will man mich holen? – O, habt Erbarmen! laßt mich da, ich habe Euch ja nichts zu Leide gethan!«

»Da ist keine Zeit zu verlieren,« sagte kalt die Alte. »Steh auf und bring deinen Anzug etwas in Ordnung.«

»O, Sie waren so gut gegen mich!« flehte das arme Geschöpf, indem sie sich an das Harfenmädchen wandte, das drei Schritte von dem Bette stehen blieb und mit einem wahren Ausdruck des Entsetzens auf ihre bisherige Gefährtin blickte. »Sie wollten mich ja beschützen, lassen Sie mich nicht von hier fort! – Wer kann etwas von mir wollen? Das muß ein Mißverständniß sein; kenne ich doch außer Ihnen keine Seele in dem Hause. Nicht wahr, Sie lassen mich nicht fort von hier?«

[152] »Er hat's befohlen,« versetzte ernst die Alte, »und da hilft kein Widerstreben.«

Das arme Geschöpf blickte fragend zu dem Harfenmädchen hin.

»Nein, da hilft kein Widerstreben,« sagte auch dieses, »gewiß nicht. Komm, steh auf und – helfe dir Gott!« setzte sie leiser hinzu.

Darauf hin ließ das junge Mädchen willenlos geschehen, daß ihr die Alte vom Bett in die Höhe half und daß sich auf einen Wink derselben das Harfenmädchen näherte, ihre herabgefallenen blonden Flechten in die Hand nahm, sie etwas glättete und dann sorgfältig über ihrem Kopf befestigte.

Das alte Weib hakte ihr das Kleid zu und bat sie, ihre Schuhe wieder anzuziehen und sich überhaupt zu beeilen. Dann nahm sie vom Stuhle das Tuch des Mädchens, hing es ihr um die Schultern und zog sie an der Hand mit sich fort.

Nanette begleitete sie bis an die Thüre, und als das Mädchen dieser dort die Hand reichte und ihr dankte für die Freundlichkeit, mit welcher sie sie behandelt, blitzten die dunkeln Augen Nanettens stärker als gewöhnlich, und als sich nun die Thüre hinter den Beiden schloß, rollten ihr ein paar schwere Thränen über das Gesicht herab.

Das junge Mädchen ließ sich von der Frau führen; alle ihre Kraft war dahin und ihre Kniee wankten so, daß sie sich mehrmals an die Wand stützen mußte, um nicht niederzufallen, weßhalb sich das Weib veranlaßt sah, sie mit einigen Worten zu trösten. »Habe nur keine Angst,« sagte sie, »es geschieht dir gewiß nichts. – Nicht wahr, du bist zum ersten Mal hier im Hause?«

»Ja gewiß,« hauchte das Mädchen.

»Und du kennst keinen von den Gesellen, die du heute Abend drunten im Zimmer gesehen? Du hast noch nie mit einem was zu thun gehabt?«

[153] »O mein Gott, nein, nein!« erwiderte schaudernd die Gefragte.

»Nun, so weiß ich nicht, was er von dir will, und da kannst du dich auch ziemlich beruhigen, es wird nichts so Schlimmes sein. Aber jetzt laß' uns eilen, wir haben schon Zeit genug verloren.« – Damit schritt sie rasch voran, Treppen auf, Treppen ab, über lange Gänge hinweg, die sich bald rechts, bald links bogen, dann kamen sie sogar quer durch einen Hof, wieder eine Treppe hinauf, und hielten endlich an einer Thüre stille.

Die Alte klopfte dreimal an; es wurde augenblicklich geöffnet, und das Mädchen fühlte sich plötzlich in ein erleuchtetes Zimmer geschoben. Hinter ihr fiel die Thüre wieder in's Schloß, und als sie sich auf dieses Geräusch hin umwandte, bemerkte sie, daß ihr das alte Weib nicht gefolgt war.

Das Zimmer war groß, geräumig, mit anständigen Tischen und Stühlen versehen, und ein mächtiger Ofen verbreitete eine behagliche Wärme. Ein großer Mann, der in der Mitte des Gemachs auf und ab ging, wies das Mädchen an, sich auf einen der Sitze niederzulassen, dann legte er wie vorhin die Hände auf den Rücken und schritt wieder gleichmüthig hin und her.

Der geneigte Leser, der uns bis hieher zutrauensvoll gefolgt, wolle sich auch unserem ferneren Schutz überlassen und mit uns in ein anderes Zimmer treten, das von dem, in welchem sich das junge Mädchen befand, durch ein kleines, dunkles Kabinet getrennt ist.

Es war dies ein Gemach, höher und weiter als selbst das Schenkzimmer, doch auch wie dieses mit eichenem Holz ausgetäfert. Wände und Decke aber waren besser erhalten, und an letzterer bemerkte man ein ziemlich dunkel gewordenes Gemälde, sowie gut erhaltene Vergoldungen. Wo hier Fenster und Thüren waren, konnte man nicht gut bestimmen, denn beide waren gleichmäßig mit großen dunklen Vorhängen versehen, die von dem Fries bis auf [154] den Boden herab hingen. In einer Ecke dieses Zimmers befand sich ein großes Kamin, in dem mächtige Holzblöcke stammten; daneben stand ein alter geschnitzter Tisch, mit einer grünen Decke behängt, und neben diesem ein Stuhl mit hoher Lehne. Dem Tisch und Stuhl gegenüber in der anderen Ecke des Zimmers befanden sich mehrere Männer von starkem, kräftigem Körperbau und verwegenen Gesichtern, aus denen unternehmende Augen hervor blitzten; Einige von ihnen hatten Bärte, andere waren glatt rasirt. In ihrer Mitte war jener Mann in der Livrée, den wir in der Schenkstube gesehen und dessen Stimme wir auf dem Gange gehört. Er stand aber nicht so aufrecht da wie die Andern, seine Kniee schlotterten, sein Rücken war gekrümmt und seine bleichen Züge vor Angst verzerrt und entstellt.

Alle aber blickten unverwandten Auges nach jener anderen Ecke des Zimmers, und wir ersuchen den geneigten Leser, gleichfalls dahin zu sehen. Dort an dem Sessel mit der langen Lehne stand ein junger Mann, ziemlich groß, dabei aber schlank und von den angenehmsten gefälligsten Körperformen und Bewegungen, die Leichtigkeit und große Kraft ausdrückten. Er trug ein sehr eng anliegendes Beinkleid und hohe glänzende Reitstiefel, die aber bis zu den langen, schweren Sporen hinunter, wie nach einem starken Ritt, dicht mit Koth bespritzt waren. Den Oberkörper bedeckte eine Art Blouse von einem dunkelblauen wollenen Stoffe; die Aermel derselben waren sehr weit, und wenn er die seine, jedoch etwas gebräunte Hand zufällig empor hob, so fielen sie zurück und zeigten weiße, glänzende Wäsche. Um den Leib trug er einen ledernen Gürtel, und an der linken Seite desselben hing ein Tscherkessendolch, eine jener furchtbaren Waffen, die ungefähr anderthalb Schuh lang, oben handbreit sind, und nach unten spitzig zulaufen. Die Scheide war von dunklem Leder, mit Stahl und eingelegtem Golde verziert, und der Griff bestand aus weißem Elfenbein, hatte aber an der Spitze einen gewaltigen [155] Eisenknopf, der offenbar dazu diente, im Handgemenge einen Gegner von oben herab niederzuschlagen.

Der Kopf dieses Mannes war von ebenso gefälligen und angenehmen Formen wie der Körper, nur war sein Teint dunkel gefärbt wie der eines Zigeuners, und dazu paßte auch das kohlschwarze Haar, sowie der Bart von derselben Farbe, den er lang herabhängend trug. Seltsam kontrastirten hiemit die blauen Augen.

In dem Momente, wo wir unsichtbar eintreten, hatte er den rechten Arm auf die Lehne des Stuhles gestützt, und die Finger des linken spielten mit dem Stahlknopfe des Dolchgriffs.

»So stehen also die Sachen,« sprach er mit einer kräftigen, angenehmen Stimme, »und da ich nicht gern Jemand ungehört verdamme, so kannst du sagen, was du noch zu deiner Entschuldigung vorzubringen hast; oder auch sonst Jemand, der für ihn sprechen will, kann vortreten.«

Der Lakai schluckte mehrere Male heftig und blickte scheu und zitternd die Männer an, welche um ihn standen, die ihn aber keines Blickes würdigten und noch viel weniger eine Silbe laut werden ließen.

»So sprich denn selbst!«

»Ach Herr! ich weiß nicht, was ich sagen soll!« jammerte der Gefragte. »Und wenn es denn gar so arg ist, daß ich jenen freilich überflüssigen Messerstich gethan, so bestrafen Sie mich; aber ich flehe Sie an, machen Sie es nicht so streng mit mir!«

»So sei,« antwortete der junge Mann, – »vielleicht zum ersten Mal in deinem Leben – ehrlich und offenherzig. Jener schändliche, niederträchtige Messerstich ist freilich schlimm genug, aber ich will ihn dir verzeihen, wenn du mir gestehen willst, was du sonst noch gegen uns begangen.«

»Ich sonst noch gegen Sie begangen?« entgegnete bestürzt der Lakai und ließ seine Augen im Kreise umherlaufen; »will ich [156] doch verkrummen und verderben, wenn ich etwas gegen Sie gethan habe.«

»Sei ehrlich!« sagte ernst der Frager. »Ich rathe dir, sei ehrlich oder es nimmt mit dir ein fürchterliches Ende.«

»Worin soll ich ehrlich sein? – Ich weiß nichts.«

»Du weißt nichts?«

»Nein, nein!« jammerte der Lakai. »Blickt mich nicht so entsetzlich an – ich – weiß nichts.«

»Nun, so will ich für dich sprechen,« fuhr der junge Mann fort, indem er vor den Stuhl trat, sich ein paar Zoll höher streckte und die rechte Hand in die Seite stemmte, ohne daß aber die linke den Griff des Dolches fahren ließ. – »Paßt mir auf, ihr Männer, und erinnert euch, was ich euch schon vor längerer Zeit von diesem Menschen sagte! Denkt daran, wie ihr für ihn gebeten, als ich ihn schon vor einem halben Jahre wollte verschwinden lassen, denkt daran!« Diese Worte sprach er langsam, bestimmt, aber mit solch schauerlicher Kraft und Kälte, daß jedes derselben wie ein Keulenschlag auf das Haupt des Lakaien niederfiel. Dann setzte er in gefälligerem Tone hinzu: »Weißt du noch nichts, hast du mir noch nichts zu sagen?«

»Nein,« entgegnete der Andere, während er die Zähne über einander biß.

»Nun wohlan, so will ich für dich sprechen. Ich erfuhr vor ein paar Tagen zufällig, daß er, dort jener Mensch, sich – zum Polizeidirektor begeben.«

Dieses Wort wirkte wie ein Donnerschlag sowohl auf den Betreffenden, als auf die umstehenden Männer. Wie auf ein Kommando faßten ihn zwei derselben an den Schultern, als scheine es ihnen, er habe die Absicht, zu entfliehen, woran der Elende jedoch nicht dachte; vielmehr schienen die Kniee unter ihm zusammen zu knicken, und er wäre vielleicht auf den Boden gestürzt, wenn ihn die Männer nicht gehalten hätten.

[157] »Er war also beim Polizeidirektor, sprach dort von einer Verbindung gefährlicher Menschen, die ihm bekannt sei, und machte sich anheischig, deren Aufenthalt, Schlupfwinkel, kurz Alles, was nöthig sei um sich ihrer zu bemächtigen, anzugeben, wenn ihm dafür eine große Summe Geld ausbezahlt würde. – Er verlangte zweitausend Gulden; der Polizeidirektor aber, ein kluger Mann, der überzeugt war, es sei unmöglich, daß sich im Gebiete seines Bezirks eine solche Bande aufhalten könne, glaubte diesen Worten nur halb, und statt den Angeber, wie ich gethan hätte, festzuhalten, ließ er ihn laufen, sagte ihm, er solle wieder kommen, einige Beweise liefern, und machte ihm sogar darauf hin einige Hoffnung aus die gewünschte Belohnung. – Seht, ihr Männer, ich wache über euch, denn ich erfuhr diesen Anschlag noch am selben Tage; eure Freiheit und euer Leben hingen an einem Haare; vergeßt das nicht: nur die eure, ich bin ja ein Wesen, das nicht existirt, das euch beschützt und nur zuweilen hervortritt, um zu bestrafen, um zu belohnen, – eure Vorsehung, wenn ihr wollt, und wie auch dieser Fall wieder beweisen wird! – Denn,« fuhr er kälter fort, »der Sekretär des Direktors war nicht so arglos, wie dieser selbst; er beauftragte einen sichern Polizeidiener, euren Genossen da zu beobachten, ihn auf Schritt und Tritt zu bespähen. Aber habt keine Angst,« setzte er hinzu, als er sah, daß die Männer sich unruhig bewegten, »ich lenkte ihn auf eine andere Fährte und er verfolgt in diesem Augenblicke einen vollkommen harmlosen Menschen. – Sprich du nun, habe ich die Wahrheit gesagt? – Verhält sich die Sache so?«

»Es ist ein Irrthum, Herr!« heulte der Angeklagte; »gewiß, gewiß ein entsetzlicher Irrthum! O wie käme ich dazu!«

Statt aller Antwort steckte der junge Mann die rechte Hand unter seine Blouse, zog eine Brieftasche hervor, nahm aus derselben ein Blatt Papier, das er entfaltete und fragte ihn dann ruhig: »Wie heißest du?«

[158] Der Lakai ließ den Kopf auf die Brust niedersinken und gab keine Antwort.

»Nun, ihr Andern wißt doch, wie er heißt. So lest dieses Blatt, das er dem Polizeidirektor gab, als ihn dieser um seine Adresse fragte. Vielleicht kennt Jemand von euch die Handschrift; den Namen aber werdet ihr auf alle Fälle kennen.«

Auf einen Wink trat einer der Männer vor, nahm das Blatt, blickte hin, übergab es dem Nebenstehenden, und so machte es die Runde bei sämmtlichen Anwesenden. Der Letzte, der sich die Schriftzüge betrachtete, überreichte es dem jungen Manne wieder, indem er sagte: »Ja, Herr, es ist so, wir sind vollkommen überzeugt.«

»Nun denn, so wißt ihr auch, wie ihr einen Verräther bestraft. Nehmt ihn hinweg! Fort mit ihm!«

Umsonst versuchte der Verurtheilte, das Herz seiner Richter zu erweichen; er brachte auch keinen zusammenhängenden Satz zu Stande und stotterte nur unverständliche Worte, dazwischen schluchzte er, schluckte krampfhaft und wand sich in Todesangst unter den Händen der zwei Männer, die ihn fest bei den Armen und Schultern hielten. »Gnade! Gnade!« flehte er und wollte vorwärts stürzen zu den Füßen des jungen Mannes. Dieser wandte verächtlich den Kopf ab und blickte in die Gluth des Kaminfeuers; dabei streckte er die Hand gegen die Männer aus und sagte: »Es bleibt dabei, laßt ihn ohne Aussehen verschwinden!«

Während zwei derselben den Verurtheilten zu einer Thüre hinaus zogen, welche in entgegengesetzter Richtung von derjenigen lag, die zu dem Zimmer führte, wo sich das Mädchen befand, trat einer in jenes Gemach zu dem Manne, welcher bis jetzt ruhig auf und ab geschritten war, nun aber plötzlich stehen blieb und sich an den Eintretenden mit der Frage wandte: »Wie ist's? – Hat er gestanden?«.

»Nichts, aber der Herr hat ihn vollkommen überführt.«

[159] »So wird er verschwinden?«

»Ja, ich soll es dir sagen. – Aber ohne alles Aufsehen.«

»Das versteht sich von selbst,« sprach der Andere mit einem unangenehmen Lächeln. »Es ist spät am Abend, die Straßen einsam, führt ihn hinaus. – Er kann zufrieden sein, denn er erhält sicherlich einen Nachruf; morgen wird man in den Blättern lesen, es habe sich ein bedauerliches Unglück zugetragen, der Lakai eines guten Hauses, so und so mit Namen, sei wahrscheinlich etwas berauscht aus dem Wirthshaus gekommen und in den Kanal gefallen.«

36. Kapitel
Sechsunddreißigstes Kapitel.
Jäger und Kammerjungfer.

Nachdem die Leute das Zimmer verlassen hatten, in dem sich der junge Mann befand, machte dieser ein paar rasche Gänge durch dasselbe, dann trat er vor das hohe Kamin, stützte seinen Arm auf das Gesims und versank in tiefes Nachdenken. – »Bah!« sagte er nach einer längeren Pause, indem er sich erhob und um sich schaute, »laß die Sache gehen, wie sie eben geht. Einer ist einmal der Sklave des Andern, und der Stärkere hat Recht. Die Idee von einer Wiedervergeltung kann und will ich nicht leugnen; was heute dem Einen geschieht, kann morgen dem Andern begegnen, und ich – heute noch Herr dieser ungeachtet alles Trotzes und aller Wildheit doch sklavischen Naturen – könnte vielleicht morgen vor ihnen stehen und mein Urtheil erwarten. – Ah! es ist doch etwas Schönes darum,« fuhr er fort und erfaßte den Griff seines Dolches, »so Herr zu sein über die ganze Welt, der Gebieter des Geringsten [160] und des Höchsten, des alten reichen Podagristen, der uns mit Entsetzen kommen hört, und des jungen, reizenden Mädchens, das von uns erzählt und vielleicht verstohlen und erschrocken ihrer Vertrauten sagt, indem sie dabei auf die andere Seite schaut: Ach! es war eine schreckliche Nacht, und der Letzte, der das Zimmer verließ, trat noch einmal an mein Bett und hob die Lampe hoch empor. O, ich würde ihn wieder erkennen, denn ich that ja nur als ob ich schliefe. – Und das haben mir solch' schöne Lippen schon selbst erzählt. O, dies Leben ist zu beneidenswerth, als daß – es ewig dauern könnte!«

Nach diesem Selbstgespräch war er wieder in tiefe Träumereien versunken; doch raffte er sich rasch empor, schritt durch das Zimmer und zog an einer Klingelschnur, die sich in der Ecke befand.

Gleich darauf trat einer der Männer herein. Auf ein leises Wort zog sich dieser wieder zurück und nach einer kleinen Weile öffnete sich die Thüre abermals, durch welche jetzt der Mann mit dem schwarzen Haar und Bart, den wir in der Schenkstube schlafend gefunden, herein trat.

Dieser hielt sich schüchtern in der Ecke, erhob nur ein paar Mal den Blick verstohlen, um den jungen Mann zu betrachten, der wieder neben dem Lehnstuhle stand, ihn langsam und forschend ansah und dann zu ihm sprach: »Es ist dir schlecht ergangen, wie mir scheint, Josef?«

»Sehr schlecht, Herr,« entgegnete der Gefragte.

»Es ist seltsam aber wahr: was der Teufel einmal gefaßt hat, läßt er nicht sobald wieder fahren. Wenn wir auch unseren Nebenmenschen gegenüber ziemlich freie Geschöpfe sind, so sind wir anderntheils doch wieder erbärmliche Sklaven – Sklaven unserer Thaten, Sklaven unseres Gewissens.«

»Keines von diesen hat mich wieder hergebracht, obgleich Beide mich oft sehr gequält,« entgegnete Josef.

[161] »Ich habe erfahren, daß du kommen werdest.«

»Ich glaube es, Herr; so was bleibt nicht lange verschwiegen.«

»Es thut mir eigentlich leid um dich, Josef, denn ich bin überzeugt, daß du nicht freiwillig zu uns zurückkehrst.«

»Gewiß nicht, Herr. Aber da ich Sie als gut und großmüthig kenne, da Sie mich damals bereitwillig ziehen ließen, als ich Ihnen sagte, ich könne es nicht mehr unter den Genossen hier aushalten und es dränge mich, wieder ein anderer besserer Mensch zu werden –«

»Ein besserer Josef?« fragte lächelnd der junge Mann.

»Verzeiht, Herr, ein anderer denn! – Als Sie mich also ziehen ließen und mich so freundlich und gütig unterstützten mit Empfehlungen, daß ich alsbald eine gute Stelle fand und wieder frei athmend unter meines Gleichen treten konnte, da dachte ich immer an Sie und segnete Ihr Andenken, und als das Unglück geschehen war, als ich nach dem traurigen Schusse nun wieder ausgestoßen aus der Menschheit dastand, war wieder mein erster Gedanke an Sie und es drängte mich, zu Ihnen zurückzukehren.«

»Und zu den Genossen –«

»Wenn es nicht anders sein kann, was will ich thun?«

»Du weißt, Josef, daß ich von jeher große Stücke auf dich gehalten; ich hätte dich in meine eigenen Dienste genommen, aber Jemand, der wie ich, wenn ich mich so ausdrücken kann, nur hie und da erscheint, bedient sich am besten selbst. Doch scheint mir, du hast deinen größten Fehler, die Heftigkeit, immer noch nicht abgelegt. Teufel auch! man schießt nicht gleich auf seinen Vorgesetzten.«

»Wenn er uns aber als sein Vieh, als seine Sklaven behandelt? O Herr, ich hätte Sie sehen mögen!«

»Ja, ich stehe für mich gar nicht ein! – Du hast dich verheirathet?«

»Ja, Herr, es war ein schönes junges Weib.«

[162] »Das war unklug, Josef, siehst du, die Welt liegt im Argen. Wenn man Jägerbursche ist und in einem kleinen einsamen Hause im Walde wohnt, da bleibt man für sich allein und läßt seine ganze Familie aus ein paar guten Jagdhunden bestehen.«

»Wenn er mich in meinem Revier gelassen hätte,« sprach der Andere mit einem trüben Lächeln, »so hätte das gar nichts gemacht. Mein Häuschen lag mit ten darin und ich konnte Alles mit Muße beaufsichtigen.«

»Und er schickte dich in andere Waldungen?«

»Meilenweit, so daß ich Tage und Nächte von Hause sein mußte. O Herr, es war nicht klug von ihm gethan, daß er mich so auf die einsamen Waldplätze hinaussandte. Wenn ich da stand, so Stunden lang an irgend eine alte Eiche gelehnt, und an mein Haus und das Alles dachte, und wenn nun der Abend aufstieg und ich mußte bleiben, wo ich war und ich stellte mir vor, daß sich vielleicht ein Anderer nach meinem Hause schlich, – Herr, ich versichere Sie, da stand ich Qualen aus, die kein Menschenherz auf lange zu ertragen im Stande ist. Das Blut stieg mir siedend zu Kopf, es war mir oft, als hörte ich weit entfernten Hilferuf; doch war es Täuschung, denn der Hund lag ruhig neben mir und spitzte nicht einmal die Ohren. Auch wäre es zu weit gewesen.«

»Und eines Tages verließest du deinen Posten und gingst nach Haus?«

»Ja, Herr.«

»Und fandest Unrechtes?«

»Ich weiß es nicht genau, Herr; aber es mußte wohl so sein. Er kam aus meinem Hause, und da nahm ich, meiner selbst nicht mehr mächtig, die Büchse –«

»Genug! genug!« sagte der junge Mann, indem er sich gegen das Feuer umwandte. »Das Andere wissen wir bereits, auch dachte ich, daß du kommen würdest, und da ich dir, wie schon früher gesagt, wohl will, sorgte ich für dich. Der Waldschütze, von dem [163] du so eben erzähltest, hat den Seehafen erreicht und ist über's Meer –«

»Ich, Herr?«

»Her Waldschütze; so stand es in allen unseren Journalen. Auch war seine That für ihn so vortheilhaft beleuchtet, daß Mancher mitleidig an ihn dachte. – Du bist also ein ganz neuer Mensch und heißest von heute an Franz Karner. Hier sind die Papiere, mit denen du dich legitimiren kannst.«

Mit diesen Worten hatte der junge Mann die Brieftasche wieder hervorgezogen und nachdem er dem Andern ein Zeichen gegeben, näher zu kommen, überreichte er ihm ein zusammengefaltetes Blatt.

»Dann ist ferner hier ein Brief,« fuhr er fort, »den bringst du morgen an seine Adresse. – Lies die Aufschrift!«

»Herrn Baron von Brand.«

»Richtig! Dieser Herr wird dir Anweisung ertheilen, wohin du dich zu begeben hast, und soviel ich vernommen, sollst du in einem sehr guten und vornehmen Hause die Stelle als Jäger erhalten.«

»O wie danke ich Ihnen, Herr!« erwiderte der Andere gerührt, während er die Hand des jungen Mannes ergriff und sie an seinen schwarzen Bart drückte. »Möge Gott mich vergessen, wenn ich Ihrer je vergesse! Aber,« sprach er auf einmal mit ernstem Tone, »wie kann ich meinem neuen Herrn und zugleich Ihnen dienen?«

»Auf die einfachste Art; du hast deine Berichte zu machen über Alles, was in dem Hause geschieht, vornehmlich aber hast du in einem anderen Hause, in welchem der Vater deines neuen Herrn wohnt, irgend eine solide Verbindung anzuknüpfen, wenn dieß geschehen, es zu melden und darauf meine Befehle in Empfang zu nehmen.«

Der junge Mann zog sofort abermals die Klingel und sagte [164] als er die Thüre öffnen hörte, in's Vorzimmer hinaus: »Der Jäger wird anständig gekleidet, du hast dafür zu sorgen, daß er morgen auf unverfängliche Art das Haus verläßt. – Laß das Mädchen kommen!« – Dann winkte er Josef freundlich mit der Hand und dieser zog sich zurück.

Gleich darauf wurde die Thüre zum kleinen Vorzimmer langsam geöffnet und das Mädchen, welches unter derselben erschien, sanft hineingeschoben. Sie hatte ihre Thränen getrocknet, doch war ihr Gesicht mit einer erschreckenden Blässe bedeckt; dabei irrten ihre Augen ängstlich in dem Gemache umher, blieben eine kleine Weile auf dem lodernden Kaminfeuer haften und erblickten erst dann den jungen Mann, der sich wie absichtlich hinter die Lehne des Stuhles zurückgezogen hatte. Sie zuckte erschreckt zusammen; er trat einen Schritt vor.

»Komm näher, mein Kind!« sagte er. »Nur näher, fürchte dich nicht, – ganz nah.«

Das zitternde Mädchen that wie ihr befohlen wurde, doch machte es so kleine Schritte, daß es trotz vieler derselben kaum die Mitte des Zimmers erreichte.

»Hör' auf meine Worte und antworte mir deutlich auf meine Fragen! – Willst du?«

»Ja,« brachte sie mühsam hervor.

»Du kamst heute Abend hier an in Gesellschaft einer Harfenspielerin. – Ich will dir etwas sagen,« unterbrach er sich, indem er das erschreckte Gesicht des armen Geschöpfes bemerkte und ihre in diesem Momente fast glanzlosen, weit aufgerissenen Augen sah, »wenn ich dich etwas frage und es ist so, so brauchst du meinetwegen nichts zu antworten, wenn es dir schwer wird; dein Schweigen ist mir Bejahung. – Du trafst also mit dem Harfenmädchen heute Abend in A. zusammen? Du kamst von N., wo du einem anständigen, frommen Hause entlaufen bist, nachdem du gestohlen.«

[165] »Nein, Herr! nein!« erwiderte jammervoll das Mädchen, »bei Gott im Himmel! das ist nicht so.«

»Man klagte dich aber an, du habest gestohlen, man jagte dich deßhalb fort, alle Menschen, welche die Sache erfuhren, glaubten deinem Herrn und hielten dich für eine Diebin.«

»Aber bei Gott dem Allmächtigen, ich bin's nicht, gewiß, ich bin's nicht!«

»Möglich,« versetzte der junge Mann, »aber bringe Beweise dafür; gegen dich liegen deren genug vor. Du bist ausgestoßen von der Welt, Jedermann wendet sich mit Abscheu von dir, was bleibt dir übrig? – Du mußtest Schutz bei jenem Mädchen suchen. Und worin besteht der Schutz derselben? Das will ich dir sagen: sie wird dich einige Accorde auf der Guitarre lehren, dann ein paar Schelmenlieder; sie zieht mit dir herum in Gasthöfen und Kneipen, und wenn du heute noch keine Diebin bist, so kannst du es doch in ganz kurzer Zeit werden.«

Das Mädchen faltete ihre Hände und blickte mit einem Ausdruck des tiefsten Jammers zu dem Manne auf, der allwissend schien und der ihre Vergangenheit und Zukunft so schonungslos enthüllte.

»Ich weiß nun nicht,« fuhr dieser fort, »ob du nicht im Grunde eine leichtfertige Dirne bist, ob dir das Leben, welches ich dir so eben bezeichnet, nicht vielleicht sehr gut gefällt, ob dir das Herumtreiben nicht lieber ist, als wenn man es dir möglich machte, auf anständige Art dein Brod zu verdienen.«

»Nein! nein!« rief das Mädchen aus, und zum ersten Male drückte der Ton ihrer Stimme nicht Furcht und Entsetzen aus; es war ein Ton der Hoffnung, die das Wort des Fremden in ihrer Brust geweckt, der ihr Herz plötzlich erfüllte, und der sich auch in den zitternden Lauten kund gab, mit denen sie »Nein! nein!« rief.

»Nun denn,« sprach der junge Mann, »man hat Mitleiden mit dir, man will dich vom Abgrund zurück reißen, in den du [166] unfehlbar gefallen wärest. Du sollst eine anständige sichere Existenz haben; du sollst in ein gutes Haus kommen, und es wird von dir abhängen, ob deine Zukunft gut oder schlecht ist.«

Das Mädchen erhob bei diesen Worten die Hände, doch zitterten dieselben so heftig, daß sie kaum im Stande war, sie zusammen zu legen; dann hielt sie dieselben an ihre Stirne, bedeckte ihre Augen und schien eine Sekunde nachzusinnen, ob sie vielleicht nur träume und ob sie nicht etwa in irgend einer Scheune oder wie vorhin in dem Bette neben ihrer Gefährtin erwachen würde. Als sie aber ihre Hände wieder langsam sinken ließ und bemerkte, daß sie sich noch in dem Gemache befand, in das sie vorhin eingetreten, als sie das Kaminfeuer noch immer lodern sah und den Blick des jungen Mannes wahrnahm, der theilnehmend auf ihr ruhte, da war es ihr, als sei dieser ein Engel, vom Himmel zu ihrer Rettung gesandt. Ihren Augen entfielen die Thränen in großen Tropfen und sie sank mit einem lauten Aufschrei zu den Füßen des Fremden nieder, der sie lächelnd aufhob.

»Diesen Zeichen glaube ich,« sprach er.

Das Mädchen erwiderte: »Gott lohne es Ihnen, wenn Sie nichts Uebles von mir denken. Gewiß! ich habe nicht gestohlen, ich bin nicht schlecht; ich bin nur ein armes, unglückliches Geschöpf.«

»Nun gut denn,« erwiderte der junge Mann, der wieder an den Kamin zurückgetreten war, »man hat sich vorgenommen, für dich zu sorgen. Du sollst in die Garderobe einer vornehmen Dame kommen, natürlicherweise als ihre letzte Dienerin, denn ich kann mir denken, daß du nicht viel gelernt hast. Was man im Allgemeinen von einem Frauenzimmer verlangen kann, wirst du zu leisten vermögen; das Andere lernt sich bald, wenn man Lust und Liebe zu seinen Geschäften hat. – Hast du zufällig eine Sprache gelernt?«

»Etwas französisch,« sagte das Mädchen, »in früher Jugend [167] von meiner Mutter, die mit ihren Eltern von Frankreich eingewandert ist.«

»Gut. – Man wird dich nachher in ein ordentliches Zimmer führen, du wirst dort anständige Kleider finden und morgen früh erhältst du neben der Adresse, an welche du dich zu wenden hast, einen Paß und eine Instruktion. Letztere wirst du eifrig studiren, auch dir genau merken, wie du von heute an heißest, denn du erhältst einen andern Namen, ferner, wo du früher gewesen bist, woher du gerade kommst, wer deine Eltern sind und dergleichen mehr. Lerne dies genau, denn man wird dich gewiß darüber examiniren. Verwisch deinen Namen und deine Vergangenheit aus deinem Gedächtnisse, es ist das für deine eigene Sicherheit nothwendig. – Hast du mich genau verstanden?«

»Gewiß, gewiß!« entgegnete das Mädchen. »Aber womit kann ich meinen Dank ausdrücken, womit kann ich Ihnen, meinem Wohlthäter, beweisen, wie sehr ich die unendliche Gnade anerkenne, die mich von einem fürchterlichen Leben zurück reißt, die mir erlaubt, anderen Menschen wieder frei in die Augen sehen zu dürfen?«

»Womit du mir danken kannst? – Das soll dir nicht verborgen bleiben,« versetzte der junge Mann mit ruhigem Tone. »In deiner Instruktion wirst du eine andere Adresse finden, eine Hausnummer, den Namen eines Mannes, zu welchem du dich anfänglich in der Woche einmal zu begeben und dem du alle Fragen, die er dir stellt, mit der vollsten Wahrheit zu beantworten hast. Er wird zum Beispiel wissen wollen, wann deine neue Herrin ausgeht, wohin sie geht, wer zu ihr kommt, was sie zu Hause macht, an wen sie schreibt und dergleichen mehr. Auch wird dir jener Mann zuweilen einen Auftrag geben, den du pünktlich zu erfüllen hast.«

Die Rede machte auf das Gemüth des Mädchens sichtlich einen niederschlagenden Eindruck; sie athmete tief auf, schaute dann zu dem Gesichte des vor ihr Stehenden empor, und als sie auf demselben [168] keine Spur von Scherz, sondern den tiefsten Ernst erblickte, ließ sie ihren Kopf auf die Brust herab sinken.

»Mein Wunsch mag dir hart erscheinen,« fuhr er fort, »aber ein Dienst ist des andern werth, und was ich dir gebe ist mehr, als was ich von dir verlange. Du hast aber noch die Wahl, sage Nein und du sollst ungehindert zurückkehren in das Zimmer, wo du gewesen, zu der Gesellschaft, die du soeben verlassen.«

Er erwartete eine Antwort, da diese aber nicht erfolgte, sondern das Mädchen eifrig mit dem Kopfe schüttelte, so sprach er mit erhobener Stimme und feierlichem Tone, indem er dicht vor sie hintrat: »Wohlan denn! Willst du die Bedingungen eingehen, die ich dir vorgeschlagen, so reiche mir die Hand und sage: ich schwöre bei Gott, der mich strafen soll, wenn ich meinen Schwur breche.«

Das arme Geschöpf zuckte zusammen, blickte zweifelnd um sich und darauf in das Gesicht des ernsten Fragers. Als sie aber sah, wie trotz der finstern Worte seine Züge freundlich waren und sein Auge sie mit Theilnahme betrachtete, als sie sich die Schilderung zurückrief, die er ihr von dem Leben gemacht, welches sie mit dem Harfenmädchen führen würde, und als sie an die vergangenen Tage dachte, an das Haus, aus welchem man sie als Diebin verstoßen, da schrak sie zusammen, blickte scheu hinter sich, als verfolge sie Jemand, und indem sie sich dem jungen Manne hastig entgegen warf, reichte sie ihm die Hand und sagte: »Ich schwöre es!« –

Doch war in den letzten Tagen, namentlich aber an dem heutigen Abend zu viel Entsetzliches auf das Herz des bis jetzt so unerfahrenen Mädchens eingestürmt; ihre Kraft verließ sie, sie sah das Feuer des Kamins vor ihren Augen hoch emporlodern, dann fühlte sie, wie sie in die Kniee sank, worauf sich dichte Schleier um ihr Haupt zu ziehen schienen, diesmal aber ohne Traum, ohne schreckliche Gestalten.

Als der junge Mann sah, daß sie ohnmächtig wurde, umschlang er mit seinem linken Arm ihren Leib und hielt sie sanft [169] aufrecht, während er mit seiner Rechten aus der Blouse ein Taschentuch hervorzog und ihr damit über das Gesicht fächelte. Sie lag da wie schlafend in seinen Armen, und als er sich über sie niederbeugte, um den wiederkehrenden Athem zu erspähen, bemerkte er erst das liebliche Gesicht des jungen Geschöpfes, die schönen, regelmäßigen Züge, die seinen, jetzt schmerzhaft zusammen gepreßten Lippen. Es war nichts Derbes, nichts Ungraziöses an ihrer Gestalt, und er hielt es leicht in seinem Arm, das kleine, warme, eben erst aufgeblühte Mädchen.

»Wenn ich nun ein gewöhnlicher Sklavenhändler wäre, wie so viele meiner geringen und vornehmen Kollegen,« sagte er, »so könnte ich mir leicht für meine Wohlthaten einen süßeren Dank nehmen. Doch begnüge ich mich mit einem einfachen Kusse auf diese gewiß unentweihten Lippen, mit einem Kusse, der ihren Seelenfrieden nicht stören wird, da sie ihn unbewußt empfängt.«

Damit beugte er sich auf sie nieder, küßte sie leicht auf den kleinen Mund, und als er nun sah, wie ihre Brust von stärkerem Athem geschwellt, sich wieder höher hob, hielt er ihr abermals das Taschentuch vor das Gesicht und bald schlug sie die Augen auf.

»Das ist mir nie geschehen,« sagte das Mädchen nach einer längeren Pause, indem sie leicht erröthend einen Schritt von dem Manne zurück trat. »Ich bin in den letzten Tagen recht schwach geworden.«

»Das ungewohnte Leben,« versetzte er; »nun, du wirst dich schon wieder erholen! – Jetzt aber verlaß mich, geh' zurück in das Gemach hier nebenan, da wirst du die alte Frau finden, die dich hergeleitet. Sie zeigt dir ein Zimmer und ein gutes Bett; lege dich ohne Furcht hinein, du könntest im Himmel nicht mit größerer Sicherheit ruhen, als jetzt hier in diesem Hause.«

Das Mädchen, im Begriffe diesem Befehle Folge zu leisten, blieb einen Augenblick schüchtern an der Thüre stehen und sagte [170] mit niedergeschlagenen Augen: »Und Ihnen darf ich später nicht mehr danken, wenn ich in dem Hause aufgenommen bin?«

»Nein, nein!« entgegnete eifrig der junge Mann, »ich glaube und hoffe nicht. Wir Beide werden uns wahrscheinlich niemals wieder sehen.«

»So will ich denn für Sie beten,« erwiderte sie, »recht innig und inbrünstig für Sie beten, indem ich Ihnen oftmals und herzlich danke für das, was Sie an mir gethan. Und so oft ich diesen Dank ausspreche, werde ich gerne an Sie denken.«

»Amen!« sprach er mit lauter Stimme, nachdem die Thüre hinter ihr geschlossen war und der Vorhang wieder herab fiel. »Hätte ich in meiner ersten Jugend,« sagte er nachsinnend, »vielleicht ein solches Mädchen gefunden, es wäre Manches anders gekommen. Aber so geht es, wenn man immer aufwärts blickt und deßhalb mit den Füßen so Vieles zertritt. Dies Geschöpf, gut erzogen, in Sammet und Seide gekleidet, könnte eine Herzogin vorstellen. – Wir wollen sie nicht aus den Augen verlieren.«

Nachdem er diese Worte laut vor sich hin gesprochen, hob er rasch den Kopf empor, ging abermals an das Vorzimmer und sagte dem Manne, der draußen war, einige Worte; dann kehrte er zurück, nahm von einem Tische einen breitkrämpigen Hut, trat wieder holt hinter den großen Lehnstuhl und war plötzlich aus dem Zimmer verschwunden, ohne daß eine Thüre nur im Geringsten geknarrt, ohne daß einer der Vorhänge sich nur im Mindesten bewegt hätte.

Da wir aber in einem aufgeklärten Zeitalter, das nicht an Hexerei glaubt, leben, und wir auch nicht die Absicht haben, ein Märchen zu schreiben, so versichern wir den geneigten Leser, daß Alles auf die natürlichste Art von der Welt zuging. Neben dem Kamine befand sich eine verborgene Thüre, durch einen Druck an einer gewissen Stelle spielte eine Feder, und die Thüre drehte und schloß sich vollkommen geräuschlos.

[171] Der junge Mann aber stieg eine Wendeltreppe hinab, schritt durch ein paar lange dunkle Gänge und trat durch eine gleiche Thüre, wie die neben dem Kamin war, in's Freie. Ehe er aber dieses betrat, nahm er aus einer Nische im eben erwähnten Gange einen Mantel, den er leicht über sich warf, so Blouse und Dolch verdeckend. Hierauf schritt er eilig durch die Straßen dahin, in welchen noch immer Wind, Regen und Schnee ihr tolles Wesen trieben, und verschwand bald in der Dunkelheit.

Dem Mädchen geschah droben, wie er vorausgesagt: die Alte führte sie auf's Freundlichste in ein kleines, behagliches, warmes Zimmer, sie half ihr beim Entkleiden, legte sie sorgsam zu Bette, indem sie ihr freundliche Worte sagte und sie schmunzelnd pätschelte, wie es vielleicht eine Mutter mit ihrem Kinde zu machen pflegt. – Bald schloß sie ihre Augen, doch konnte sie nicht begreifen, daß sie ohnmächtig geworden, und nicht vergessen, wie sie darauf so plötzlich in den Armen des jungen Mannes erwacht sei. Und vorher hatte sie ein eigenthümlicher Duft umweht, so merkwürdig sein, als wenn sie in Rosen gelegen, oder als hätte Jemand eine der prachtvollsten Centifolien recht nahe an ihr Gesicht gedrückt.

37. Kapitel
Siebenunddreißigstes Kapitel.
Ueber das Husten bei Hofe.

Der junge Graf Fohrbach hatte wieder einmal Dienst im Vorzimmer Seiner Majestät. Da es der Adjutanten gerade nicht viele waren, so kam die Reihe ziemlich häufig an ihn. Ehe er sich in das Schloß begab, war zu Hause nichts Wichtiges vorgefallen; [172] er hatte keinen Besuch wie damals, deßhalb frühstückte er auch in aller Stille allein und zündete sich darauf eine Cigarre an, die heute mit besonderem Genuß geraucht wurde, denn sie war für diesen Tag, wenigstens bis zum späten Abend, die einzige und letzte. Dazu waren die Thüren in's Ankleidezimmer wie immer fest verschlossen, damit nicht die leiseste Ahnung eines Tabakgeruchs sich in der Uniform festsetzen könne und so eingeschwärzt werde in das königliche Residenzschloß, Seiner Excellenz dem Herrn Obersthofmeister zum größten Entsetzen, zu einem wahren Horreur aber für sämmtliche Hofdamen, mochten die letzteren auch in ihren respektiven, oft sehr beschränkten Familienappartements von Papa, Bruder oder sonst Jemand seit frühester Jugend gehörig eingeräuchert worden sein. – Das thut die Hofluft. Sie ist so rein, so ätherisch, und Lungen und Herzen werden in derselben so zart und gefühlvoll, daß der geringste befremdende Duft und oft das kleinste Wort ein sehr bemerkbares Hüsteln zur Folge hat.

Ueberhaupt ließe sich über das Husten bei Hof ein ganzes Buch schreiben. Da ist die Art, der Ton, die Stärke und Schwäche desselben von der allergrößten Bedeutung. Einer der Prinzen des allerhöchsten Hofes zum Beispiel stellt sich herablassend zu irgend einer Gruppe Kammerherren, Offiziere und höherer Hofbeamten; er tritt anscheinend ganz vertraulich heran und ein leichtes Hüsteln macht ihn bemerkbar und will andeuten, er wünsche nicht, daß man sich seinetwegen genire. Augenblicklich erweitert sich der bis jetzt kleine Kreis und will damit symbolisch das große und weite Vergnügen ausdrücken, welches Alle empfinden, daß Seine Königliche Hoheit die außerordentliche Gnade hat, sich so freundlich zu nähern. Die Kecksten oder Erfahrensten bringen dieses Gefühl der Treue und Anhänglichkeit durch einige tiefgefühlte Worte zu Tage, die Anderen aber begnügen sich mit einem respektvollen Räuspern, worauf der Prinz, wenn er zufälligerweise nichts Anderes zu sagen weiß, was zuweilen vorkommen soll, stärker hustet und laut versichert, [173] das naßkalte Wetter sei unausstehlich, und wenn es sich nicht bald ändere, so würde es keinem Menschen möglich sein, den Katarrh los zu bringen. Natürlich stimmt Alles bei mit Worten und mit Husten; es zeigen sich auf einmal sehr viele Schnupfenanfälle, und ein junger Kammerherr, der begierig ist, seine tiefe Ergebenheit an den Tag zu legen, blickt verstohlener Weise zum Fenster hinaus und liebäugelt mit einem einsamen Sonnenstrahl so lange, bis ihn ein heftiges Niesen befällt, wodurch er so glücklich ist, auf's Allerdeutlichste die Bemerkung Seiner Königlichen Hoheit zu bewahrheiten.

Darauf ersucht vielleicht der Prinz, die angefangene Conversation fortsetzen zu wollen. – »Hm! hm!« macht er, »wie es scheint, wurde soeben eine pikante Geschichte erzählt. Darf ich daran theilnehmen?«

Der ganze Kreis lächelt verstohlen, und nur ein Einziger hustet auffallend und verlegen. Es ist das ein so bedeutungsvoller Husten, daß sich Seine Königliche Hoheit veranlaßt sieht, ihn in der gleichen Tonart zu beantworten, wobei er leicht mit einem Auge zwinkert und dann freundlich sagt, er bitte, dennoch fortzufahren, er liebe zuweilen eine recht pikante Geschichte.

Die Geschichte wird nun erzählt, nicht ohne viel hm! hm! hm! hm! von allen Seiten, und wenn nun die Pointe kommt, die einigermaßen saftig zu nennen ist, so ergeht sich Seine Königliche Hoheit in einem auffallenden Gehuste, vielleicht der Erzählung beistimmend, worauf sich Alle bemühen, einen ähnlichen Ton von sich zu geben, bis zu dem Erzähler, der nun vor Freude einem völligen Erstickungsanfall fast zu erliegen scheint. Ist dagegen die Geschichte höchsten Orts nicht recht ergriffen oder begriffen worden, so werden die Augenbrauen in die Höhe gezogen, der Husten ist bei Seiner Königlichen Hoheit ein ziemlich trockener, bei den Andern ein mißbilligender, der Erzähler aber, um seine Verlegenheit zu [174] verbergen, zieht sein Tuch aus der Tasche und hustet lange und anhaltend da hinein.

Wie verschieden aber von diesem ist der Ton des Hustens, den vielleicht in der Mitte der Geschichte plötzlich der Kammerherr von sich gibt, als er mit scharfem Auge erspäht, daß sich ein paar unschuldige Hofdamen zufällig dem Kreise nähern. Es ist das wie der Pfiff einer auf Vorposten ausgestellten Gemse; die Geschichte wird plötzlich unterbrochen, und der ganze Kreis spitzt die Ohren. – Wir ersuchen den geneigten Leser, dies jedoch natürlicherweise nur bildlich verstehen zu wollen.

Sind nun die unschuldigen Hofdamen, die sich nähern, wirklich unschuldige Damen, so husten sie mit einer kleinen Verlegenheit, daß sie so plötzlich an einem Kreis tangiren, in welchem sich Seine Königliche Hoheit befindet. Sind sie aber schon vollkommen erfahren in der Sitte des Hofes und lesen an dem Ausdruck der Gesichter, an der Stellung und Haltung einer Gruppe, um was es sich gerade handelt, so wird der erzählende Kreis in einem großen Bogen umgangen, die älteste der Hofdamen blickt hinter ihrem Fächer auf den Kreis, hustet sehr laut und auf eigenthümliche Art und gibt die Uebersetzung dieses Hustens ihrer Gefährtin, indem sie ihr zuflüstert: »Da werden wieder schöne Geschichten abgemacht!«

Um einige Stufen tiefer hinabzusteigen, so wissen namentlich alte gediente Lakaien, Tafeldecker und Kammerdiener ihre verschiedenen Husten auf's Feinste zu nuanciren. Der Lakai, der den Schlag des Wagens schließt, räuspert sich gelinde, wenn vielleicht eine Hofdame in tiefen Gedanken versunken nicht angibt, wohin sie fahren will, wonach er sich hintenauf schwingt und nun oftmals den Kutscher mit lautem Gehuste dirigirt.

Der Kammerdiener im Zimmer des Herrn blickt hustend auf die Uhr, wenn irgend eine bestimmte Stunde herangekommen ist, und erweckt mit einem lauten Gehuste den Thürsteher aus seinen [175] Träumereien, der fast vergessen hätte, voraus zu springen und den Wagen vorfahren zu lassen.

Endlich bei Tafel dirigirt der Hoffourier mit einer wahren Verschwendung von dem feinsten und leisesten Husten das ganze Diner, der Tafeldecker macht den Lakaien auf gleiche Art mit vielsagendem Räuspern auf seine Dummheit aufmerksam, die er begangen, auf einen zerbrochenen Teller oder ein leeres Glas, und ein junger Hofbedienter prallt erschreckt und gelinde hustend vor dem fürchterlichen Abgrund zurück, in den er fast gestürzt wäre, da er im Begriffe war, dem ersten Kammerherrn einen wilden Schweinskopf von der rechten Seite zu präsentiren.

Um nicht zu ausführlich zu werden, wollen wir nur noch des vielsagenden Hustens gedenken, in welchem sich zwei vornehme Staatsbeamte, die sich durchaus nicht leiden können und die nun plötzlich im Vorzimmer zusammenstoßen, steif und gemessen begrüßen. Jeder hat geglaubt, er komme dem Andern zuvor und könne Allerhöchsten Ortes seinem Kollegen eine unangenehme Suppe einbrocken. Dieser Husten klingt wahrhaft nervenerregend, und wir sind überzeugt, daß sich in gleicher Weise zwei Tigerkatzen begrüßen würden, die nur durch ein breites Wasser verhindert sind, sich ihrem glühendsten Wunsche gemäß die Augen auszukratzen.

Ein Husten der furchtbarsten Art aber stört oft den Minister in seinem Vortrage, wenn er zum Beispiel irgend eine Auszeichnung, einen Orden, ein Geschenk für einen armen Künstler verlangt und er mit eindringlichen Worten spricht, wie aufmunternd ein solcher Sonnenstrahl der Allerhöchsten Huld sei, wie das Talent nur wachsen und gedeihen könne im warmen Schein der Königlichen Gnade: ein Husten Seiner Majestät nämlich, wobei sie sich an das Fenster wendet und die Excellenz versichert, es werde doch jetzt endlich ein beständigeres Wetter eintreten. –

Doch kehren wir in die Wohnung des Grafen Fohrbach zurück, der unterdessen Cigarre und Toilette beendigt hat, und nun, im [176] Begriff an den Wagen zu gehen, durch den Kammerdiener einen Augenblick aufgehalten wird, der sich erlaubt, ihm den neuen Jäger vorzustellen.

Das war, wie wir bereits wissen, ein großer, schlank gewachsener Mann, der sich jetzt in der glänzenden Livrée, mit dem schwarzen, wohl gekämmten und frisirten Barte ungemein stattlich ausnahm. Dabei hatte sein Gesicht ein angenehmes Aussehen und sein Auge hielt den festen Blick des Grafen, der ihm einige Fragen stellte, sehr gut aus.

Um drei Viertel auf elf Uhr fuhr Graf Fohrbach am Schlosse vor und stieg die breiten Treppen hinauf bei zahlreichen Wachen, Thürstehern und Lakaien vorbei. Ein verschmitzt aussehender Kammerdiener legte die Hand an den Drücker, um die Thüre zu öffnen und hustete in diesem Augenblicke ziemlich bedeutungsvoll. Es war dies wieder einer jener Husten, von denen wir vorhin gesprochen.

Der Adjutant wandte augenblicklich den Kopf herum und der Kammerdiener lächelte.

»Gibt es was Neues?« fragte Graf Fohrbach leicht hin.

»Nicht viel Besonderes,« entgegnete der Kammerdiener, indem er die Augenbrauen in die Höhe zog. »Die Herren und Damen vom Dienste frühstücken in der gelben Gallerie und es erscheint heute zum ersten Mal das neue Ehrenfräulein Ihrer Majestät.«

Nach diesen Worten öffnete der Kammerdiener leise die Thüre, und sobald der Adjutant eingetreten war, zog er sie geräuschlos wieder in's Schloß, zupfte seine weiße Halsbinde in die Höhe und rieb sich alsdann still lächelnd die Hände.

Graf Fohrbach schritt durch mehrere Vorzimmer, die, wie in den Königlichen Schlössern gewöhnlich, einander ziemlich ähnlich sahen, nur daß Farben der Tapeten und Möbelstoffe in jedem verschieden waren, daß in diesem Alabaster- und Marmor-Vasen, dort welche aus China und Japan standen. [177] Um diese kleine Verschiedenheit aber wieder auszugleichen und eine gewisse Harmonie herzustellen, waren die Gemälde an den Wänden meistens Protektionskäufe, gleich unbedeutend, gleich langweilig.

In der gelben Gallerie, wo der Frühstückstisch servirt war, befand sich außer einigen Lakaien, die emsig und wichtig, geräuschlos und schnell auf einem Nebentische Porzellan und Silber ordneten, vorderhand nur ein alter einsilbiger Kammerherr, der damit beschäftigt war, nachdem er den Barometer prüfend betrachtet, die grauen am Himmel hinziehenden Schneewolken zu beobachten, und unser Bekannter, der Major S., den Graf Fohrbach heute ablöste. Der Major stand in einer Fenstervertiefung, und als er bemerkte, daß ihn der Graf mit den Augen suche, hustete er leicht.

»Wie gehts?« sagte der neue Adjutant, während er zu seinem Freunde in die Ecke trat.

»So, so! – Das Wetter ist nicht ganz klar, es scheinen mir trübe Wolken umher zu ziehen; auch haben wir noch keine Rapporte gehabt, was kein gutes Zeichen ist. Ferner wurde der Intendant des Hoftheaters auf ein Uhr bestellt.«

»Da wird man aufpassen müssen.«

»Für dich gibt's eigentlich nicht viel zu thun. Nach dem Rapport sind einige Audienzen, deren Namen du im Vorzimmer aufgeschrieben findest; das Papier liegt im Pult.«

»Schön. – Wirst du mit uns frühstücken?«

»Ich habe nicht Lust, muß auch nach Hause. – Apropos! du wirst eine Bekanntschaft machen: das neue Ehrenfräulein Ihrer Majestät hat heute den ersten Dienst und kommt zum Frühstück.«

»Ist sie schön?«

Der Major erhob den Kopf, zog die Augenbrauen in die Höhe und entgegnete: »Ob sie schön ist! – ein glänzender Stern am dunkeln Nachthimmel.«

»Nun, wir können dergleichen Sterne brauchen, es war zuweilen [178] recht finster bei uns. – Wie heißt sie? – Nicht wahr, es ist ein Fräulein von S.? Ihr seid ja wohl weitläufig verwandt.«

»Ziemlich entfernt. Sie heißt Eugenie von S. – eine vornehme, aber nicht reiche Familie. Das Mädchen ist kaum Neunzehn, aber groß und majestätisch gewachsen, eine Figur wie Ihre Majestät; dabei dunkles Haar, ein glänzendes Auge und die herrlichsten Zähne von der Welt, ah! ich sage dir, Zähne, glänzend weiß; man ist glücklich, wenn sie den Mund öffnet.«

»Nur wegen der Zähne?« fragte lachend der Graf.

»O nein, sie ist zugleich eines der gebildetsten und gescheidtesten jungen Mädchen, die ich seit längerer Zeit kennen lernte.«

»Natürlicherweise wird sie häufig in euer Haus kommen?«

»Ich hoffe so; weißt du – eine Verwandte –«

»So werde ich mich bemühen, deine Frau zu warnen.«

»Damit du einen Vorwand hast, öfters zu kommen,« erwiderte lachend der Major. »Nimm dich in Acht, junger Mann, wenn sie dich anblitzt und du hast gerade einen erregbaren Moment, so ist's um deine Ruhe geschehen. – Aber,« fuhr er lebhafter fort, während er einen Schritt vortrat, »sage mir offenherzig, hast du sie schon irgendwo gesehen – kennst du sie?«

»Ich gewiß nicht.«

»Du wußtest nicht, daß sie so außerordentlich schön und liebenswürdig ist?«

»Auf mein Wort, nein. Ich habe nur im Allgemeinen von ihr sprechen gehört. – Aber wozu diese Fragen?«

»Nun, ich glaube dir. Vorhin unterhielt ich mich mit der Frau von B. –«

»Mit der Obersthofmeisterin?«

Der Major nickte mit dem Kopfe. »Wir sprachen über die Einrichtung der jungen Dame, über ihre Wohnung und dergleichen –«

»So, über ihre Wohnung! Wird die im Schlosse selbst sein?«

[179] »Natürlicherweise; sie ist aber sehr gut ausgewählt, das kleine Appartement Numero sechzehn, die Fenster der Zimmer gehen auf den geschlossenen Hof, wo es euch nicht vergönnt ist, mit euren armen Pferden halsbrechende Courbetten zu machen. – Aber jetzt höre! Wir sprachen auch von ihrer Dienerschaft: eine ältere Kammerfrau brachte sie mit, ein jüngeres Kammermädchen bekommt sie hier.«

»Ja, was geht das mich an?«

»Ein jüngeres Kammermädchen, das – du empfohlen.«

»Ich empfohlen? – Und an wen?«

»Besinne dich. Du hast der Frau von B. neulich von einem Kammermädchen gesprochen, das eine Stelle suche.«

»Ah richtig!« sagte sich erinnernd der Adjutant. »Ich kenne sie aber nicht; der Baron Brand hat mich darum gebeten.«

»So, so, Baron Brand,« erwiderte der Major nachdenkend. »Das ist ein gefährlicher Mensch bei den Damen; sogar die alte Obersthofmeisterin schwärmt für ihn, und das will viel sagen. Er war gestern Abend bei ihr zum Thee, zugleich mit Fräulein Eugenie von S.; da kam die Rede auf deine Empfohlene und ob sie vielleicht passend sei für das neue Ehrenfräulein. Die Obersthofmeisterin schüttelte lächelnd den Kopf und meinte, sie wisse doch nicht recht, ob deine Rekommandationen in dieser Richtung zu beachten seien; aber Baron Brand erinnerte sich zufällig desselben Mädchens, – was weiß ich! sie habe bei einer seiner Cousinen gedient und besitze die glänzendsten Zeugnisse. – Was glaubst du wohl? Darauf änderte sich mit einem Mal die Ansicht Ihrer Excellenz und deine Empfohlene ist angestellt.«

»Das sind schöne Geschichten!« sprach lachend Graf Fohrbach, indem er seine Säbelkuppel herabzog. »Nun ich hoffe, die Person wird vorkommenden Falles einiges Dankbarkeitsgefühl besitzen.«

»Gegen dich oder gegen den Baron?«

[180] »Ich denke gegen mich, denn ich bin doch der unmittelbare Empfehler.«

»Aber nimm dich in Acht, coeur de rose ist ein verfluchter Kerl. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn er der schönen Eugenie nächstens ein Parfum aufschwätzt.«

»Nein, dazu ist er zu klug; das könnte sie in einen üblen Geruch bringen. – Aber stille! der Kammerdiener an der Thüre hat sich schon dreimal geräuspert – man kommt.«

Die Flügelthüren des anstoßenden Saales wurden jetzt in der That geöffnet und die Damen vom Dienste erschienen. Es waren das meistentheils gereifte Schönheiten, künstlich erhaltene Blumen, aber ohne erquickenden Duft, gerade so wie ihre Schwestern von Papier und Seide, und ebenso wie diese rauschend und klappernd.

Eugenie von S., die bescheiden als die Letzte kam, hätte nicht so wunderbar schön zu sein gebraucht, als sie wirklich war, um zwischen ihren Kolleginnen wie eine Sonne aus grauem Gewölk hervorzustrahlen.

Graf Fohrbach war in der That überrascht von der lieblichen Erscheinung der jungen Dame und einigermaßen befangen, als er ihr von seinem Freunde, dem Major, vorgestellt wurde. Sie verneigte sich auf's Freundlichste und versicherte im Laufe des Gespräches, sie wisse ganz genau, daß sie von ihrer Mutter Sr. Excellenz dem Herrn Kriegsminister empfohlen sei, sie hoffe, diese Empfehlung werde freundlich auf genommen worden sein und ihr so recht bald Gelegenheit werden, einen Mann kennen zu lernen, den sie sehr schätze und verehre.

Natürlicherweise erwiderte der Graf etwas auf diese Worte Passendes, dann setzte man sich zum Frühstück, der Major empfahl sich, Messer und Gabeln fingen an zu klappern, die Bedienten schoßen hin und her wie emsige Schwalben, und bald war das Frühstück beendigt, worauf sich die Damen dahin zurückzogen, woher sie gekommen. Der einsilbige Kammerherr und der Adjutant [181] begleiteten sie bis an die Thüre, und hier hoffte der Letztere noch einen Blick der schönen Eugenie aufzufangen. Sie verneigte sich auch freundlich gegen die beiden Herren, doch galt ihnen Gruß und Blick zu gleichen Theilen, worüber der Graf eben nicht besonders erfreut war.

38. Kapitel
Achtunddreißigstes Kapitel.
Goldene Fesseln.

Den von seinem Freunde erhaltenen Instruktionen gemäß, das heutige Wetter betreffend, nahm nun der neue Adjutant, nachdem er das Vorzimmer zur Wohnung Seiner Majestät betreten, seiner Stellung als Barometer gemäß, eine sehr ernste und würdevolle Haltung an. Der Säbel hing korrekt eingehakt an der Kuppel, die Uniform war fast hermetisch verschlossen, der Federhut wurde mit beiden Händen auf dem Rücken gehalten und darauf ging der Adjutant mit gemessenen Schritten auf und ab, hie und da den Kammerdiener betrachtend, der sich zwischen der Thüre und einer großen Standuhr befand, die er beide zugleich im Auge behielt.

Bald nachher hörte man draußen Equipagen vorfahren, die Tritte fielen herab, die Schläge wieder zu, dann schlürften leise Schritte auf den Steinplatten des Korridors, die Thüren öffneten sich und die obersten Staatsbeamten traten ein.

Graf Fohrbach ging ihnen entgegen und empfing Jeden ernst, würdevoll, aber alle auf verschiedene Art. Die Minister erhielten ein sehr tiefes Compliment, begleitet von einem vollkommen gleichgiltigen Gesichte; nur bei dem des Königlichen Hauses – er war [182] ein genauerer Bekannter des Grafen – zog dieser auf einen fragenden Blick die Augenbrauen etwas in die Höhe und zuckte leicht mit den Achseln.

Die Excellenz nahm den Adjutanten beim Arm und zog ihn in eine Fenstervertiefung, wohin bald nachher noch einige der Vertrauten, nachdem sie den Größen des Staats einige verbindliche Worte gesagt, folgten.

Diese, die Minister, gingen zu Zwei und Zwei auf der anderen Seite des Zimmers mit leisen Schritten und fast unhörbarem Geflüster auf und nieder oder blieben auch an dem Marmorkamine stehen, Hut und Papier in der Hand, mit langen Gesichtern, ernsten Blicken und dem allerwürdevollsten Aussehen. Sie führten eigentlich keine zusammenhängende Konversation; sie sprachen nur Vermuthungen aus und räusperten sich häufig mit vorgehaltener Hand, nickten zuweilen taktmäßig mit dem Kopfe und warfen jede Sekunde die sehnsüchtigsten Blicke nach der gewissen Thüre, nach dem Kammerdiener und nach der Uhr.

Die Gruppe an der Fensternische war schon etwas lebendiger und gesprächiger; man handelte das innere und äußere Wetter ab und brachte Beides mit einander in Verbindung.

»Wird Seine Majestät heute ausreiten?« fragte der Minister des Hauses den Oberststallmeister, welcher diese Frage mit einem bedeutsamen Achselzucken beantwortete, und darauf versetzte:

»Ich weiß nicht, ob es räthlich ist.«

»Es ist auf drei Uhr ein Pferd bestellt,« flüsterte der Kammerdiener aus seiner Ecke in der demüthigsten Haltung und mit einem ganz unterthänigen Spitzen des Mundes, begab sich aber hierauf augenblicklich an die andere Seite der Thüre, nachdem ihm der Hofmarschall für diese Einmischung einen sehr strengen Blick zugeworfen.

»Man kann Seine Majestät bei diesem Wetter unmöglich ausreiten lassen,« sagte der Minister des Innern. »Der König ist [183] ohnedies etwas erkaltet, und das Wetter ist, wie mich der Leibarzt versichert, seiner Constitution durchaus nicht zuträglich.«

»Aber wenn Seine Majestät befohlen hat,« bemerkte schüchtern der Hofmarschall, »so sind Allerhöchstdieselben nicht wohl anders zu bestimmen.«

Der Minister des Hauses warf dem Oberststallmeister einen bedeutsamen Blick zu, worauf sich der letztere durch sein spärliches Haar fuhr und, nachdem er diesen Blick zurückgegeben, ruhig sagte: »Seine Majestät kann unmöglich bei diesem Wetter ausreiten, Seine Majestät wissen nicht, welch' kalter Wind draußen geht.«

»O ja,« warf der Hofmarschall ein, »Sie machten vor dem Frühstück einen kleinen Spaziergang.«

Die Exzellenzen wandten sich hierauf gleichmäßig dem Fenster zu, und die beiden Anderen verstanden diese Bewegung und zogen sich diskreter Weise etwas zurück.

»Seine Majestät soll heute nicht reiten,« sagte der Minister; »ich werde mir auf drei Uhr eine Audienz erbitten, ich habe da etwas Wichtiges vorzutragen und will ihn schon eine halbe Stunde beschäftigen.«

Mittlerweile waren die Minister einzeln in das königliche Kabinet getreten und kamen wieder zurück: einer an der Thür noch mit einem ziemlich verdrießlichen Gesicht, das er aber gewaltsam aufzuklären bemüht war, sobald er in's Vorzimmer zurückkam, um dem Kollegen eine Niederlage, die er erlitten, nicht anmerken zu lassen; ein anderer aber kehrte äußerst strahlend wieder und befolgte das umgekehrte Manöver, weil ihm Alles daran gelegen war, daß die Uebrigen nicht erfahren sollten, es sei ihm ein wichtiger Vorschlag durchgegangen.

Zu denen am Fenster war noch der Intendant des Hoftheaters getreten, der ein sehr verdrießliches und unbehagliches Gesicht machte. »Ich bin da in großer Verlegenheit,« sagte er. »Seine Majestät haben auf heute Abend den schwarzen Domino zu befehlen [184] geruht und das wirft mir mein ganzes Repertoir durcheinander.«

»Wie so, bester Baron?« meinte der Oberststallmeister. »Das sind Kleinigkeiten! Es kann ihnen ja gleichviel sein, was Sie heute Abend geben. – Und dann verlangt seine Majestät durchaus nichts Unmögliches: der schwarze Domino ist vollkommen montirt, war in den letzten Wochen glaube ich fünfmal und macht deßhalb durchaus keine Schwierigkeiten.«

»Excellenz halten mir zu Gnaden, das ist in Wahrheit schwieriger, als es sich ansieht. Allerdings war diese Oper fünfmal in den letzten Wochen; aber gerade das ist mein Kummer: ich wollte sie für den nächsten Sonntag aufheben.«

»Um eine bessere Einnahme zu machen?« fragte lachend der Minister des Hauses.

»Nicht so ganz, Excellenz; vielmehr um der ersten Sängerin ihren Willen zu thun.«

»Wie so?« –

»Wie sie wissen, Excellenz, war die Oper fünfmal an Wochentagen bei mäßig besetztem Hause, also natürlicherweise auch ohne viel Spektakel, ohne großen Applaus, weßhalb Frau Wiesengrün-Spitzkopfin, meine Coloratursängerin, erklärte, sie werde den schwarzen Domino das nächste Mal nur an einem Sonntage singen.«

»Wer hat denn beim Theater eigentlich zu befehlen?«

»Dem Namen nach ich, Excellenz, in Wirklichkeit dagegen sämmtliche Künstler und Künstlerinnen, die Regisseure, der Inspizient, die Maschinisten, die Schneider und dann die Zimmerleute.«

»Ja, ja es ist ein eigenthümliches Verhältniß,« meinte der Oberststallmeister, indem er still vor sich hin lächelte. »Wir kennen das; namentlich die ersten Damen der singenden und der tanzenden Kunst haben mir vor der Zeit graue Haare gemacht.«

[185] »Das ist ja die umgekehrte Welt,« sagte der Minister des Hauses; »da wären Sie ja der Sklave ihrer Untergebenen.«

»Und welcher Sklave!« versetzte wehmüthig der Intendant, der nachdenkend zum Fenster hinaus blickte. »Von welchen Launen bin ich abhängig, von welchen Kleinigkeiten! Ich will nicht sprechen von großen Ereignissen, die überall vorkommen können, von einem Unwohlsein, das ohne alle Verschuldung eintritt, von der Krankheit, welche sich eine Sängerin geholt, weil sie die Laune hatte, am ersten feuchten, kalten Frühlingstage den Kaffee im Freien trinken zu wollen. Ich klage nicht über Störungen, die oftmals beim Theater entstehen, wenn sich ein zartes Verhältniß knüpft oder löst, oder über eine heftige Migräne, die gewöhnlich eintritt, weil eine Kollegin besser gefallen oder mehr applaudirt wurde. Gott der Gerechte! davon will ich nicht sprechen; nein! nein! aber ich werde auf dem Bureau in meinem Hause, zu jeder Tagesstunde geärgert, geplagt, geschunden wegen einer nichtswürdigen Grille, einer Laune, wegen einem neuen Kleide, oder einem Besatz auf ein altes, wegen einer Schleife, wegen eines Wortes, das der Regisseur oder der Kapellmeister einer dieser Prinzessinnen zu viel sagte, wegen eines Zeitungsartikels, und Gott weiß, wegen was Allem sonst noch.«

»Sie sind wirklich ein beklagenswerther Mann,« antwortete lächelnd der Oberststallmeister. »Aber, mein lieber Baron, keine Rose ohne Dornen; – und das müssen Sie schon zugeben«: Rosen wachsen genug in Ihrem Garten.

»Euer Excellenz haben gut reden,« entgegnete der Intendant des Hoftheaters, indem er sich verbeugte; »aber ich versichere Sie nochmals, die Sklaverei, in der ich lebe, ist oft unerträglich. Ich sitze zitternd an meinem Kaffee, – es klingelt. Der Theaterdiener. – Das Stück kann heute Abend nicht sein, Herr H. ist unwohl und kann nicht spielen; das heißt in Wahrheit, er hat sich ein paar neue himmelblaue Tricots von Paris verschrieben und die sind noch nicht angenommen, oder seine Frau hat ihm gesagt, er [186] plage sich in der letzten Zeit übermäßig und solle nun auch einmal einen Anderen für sich arbeiten lassen. – Bei meinem Mittagessen dieselbe Geschichte: mein Ohr hört oft nicht auf das, was meine Frau spricht, nicht auf das Geplauder der Kinder, es erwartet nur den fatalen Ton der Klingel. Das quält mich so fort den ganzen Tag, beunruhigt Nachts meine Träume; ja, da erscheint mir der Theaterdiener mit der Meldung, das ganze Personal sei plötzlich davon gelaufen oder gestorben und ich müsse heute Abend Robert den Teufel ganz allein spielen.«

»Das mag allerdings hart sein, mein bester Baron,« sagte die Excellenz vom Stalle. »Aber glauben Sie mir, auch ich muß Meldungen der unangenehmsten Art anhören.«

»O, Excellenz können Ihr Departement nicht mit dem meinigen vergleichen!« entgegnete eifrig der Intendant. »Sie haben es mit ruhigen, sanften, ja man kann sagen mit vernünftigen Thieren zu zu thun. – Ich aber –«

»Stille! stille!« bat der Minister des Hauses. »Lieber Baron, wenn das ihre Primadonna hörte, wir hätten wahrhaftig in dem nächsten halben Jahr keine Oper. – Aber um wieder auf besagten schwarzen Domino zurückzukommen –«

»Euer Excellenz scheinen sich gern mit dem schwarzen Domino zu befassen?«

»O lieber Freund,« lächelte einigermaßen geschmeichelt der Minister, »ein ältlicher Mann wie ich!« – wobei er aber doch einen verstohlenen Blick in den Spiegel warf und dort bemerkte, daß die neue sanft melirte Perücke eine vortreffliche Wirkung hervorbringe. – »Was ich also bemerken wollte,« fuhr er fort, »so hat der Herr für heute Abend ausdrücklich den schwarzen Domino befohlen. Sie wissen, er war die letzten drei Mal verhindert, die Oper zu besuchen.«

»Ich kann Seiner Majestät diesmal wahrhaftig nicht helfen,« sprach achselzuckend der Intendant. »Gott der Gerechte! ich habe [187] es ja bei Madame Wiesengrün-Spitzkopfin auf's Allerdringlichste versucht, aber schon bei der leisen Andeutung fuhr sie mit der Hand über die Stirne und versicherte mich, es werde ihr jetzt schon ganz dunkel vor den Augen.«

Während dieses Gesprächs war der Hofmarschall ebenfalls leise wieder näher getreten, wurde aber in seiner Aufmerksamkeit durch einen der Oberhoffouriere gestört, der ihm ein Blatt Papier überreichte und ihm ein paar Worte zuflüsterte.

»Das ist ja ganz unmöglich!« rief der Hofmarschall, während Jener sich wieder entfernte. – »Vollkommen unmöglich! – gar nicht zu machen?«

»Was haben Sie, bester Freund?«

»Seine Majestät läßt mir soeben sagen,« antwortete er, »Sie wünschen Ihr Diner im kleinen blauen Saale zu halten. Ich bitte Sie, meine Herren, bei der jetzigen Jahreszeit!«

»O! das wird ganz gut gehen,« bemerkte der Minister des Hauses.

»Im kleinen blauen Saale?« fragte mit einem wahren Schrecken der Hofmarschall. »Ich versichere Sie – ganz unmöglich.«

»Aber wenn der Herr befiehlt,« sagte lachend der Oberststallmeister, indem er sich der Worte des Andern von vorhin bediente.

»Der blaue Saal ist zu klein und zu groß,« versetzte wichtig der Hofmarschall. »Lasse ich einheizen, so haben wir dort gleich eine unerträgliche Hitze; lasse ich nicht einheizen, so klappern die Zähne vor Kälte. Das ist ein Lokal für den Sommer, man muß die Hausordnung nicht so unterbrechen wollen.«

Der Minister das Hauses war unterdessen in das innere Zimmer getreten, kehrte aber bald still lächelnd wieder zurück und sagte dann: »Ich habe um drei Uhr meine Audienz.«

Ihm folgte der Oberststallmeister zum Rapport. Doch blieben Seine Excellenz auch nicht lange im kleinen Kabinet, und als er zurückkam, sagte er zu dem Minister, indem er sanft die Augen zufallen [188] ließ und dabei schmatzte, als genösse er etwas sehr Angenehmes: »Seine Majestät werden nicht ausreiten, Sie haben nach drei Uhr einen ihrer kleinen Wagen befohlen und dabei ausdrücklich gewünscht, die neuen Rappen zu probiren.«

»Ist das möglich?« fragte die andere Excellenz.

»Es wird sich thun lassen,« entgegnete der Oberststallmeister; »natürlicherweise hänge ich auch von meinen Untergebenen ab, namentlich von meinem ersten Stallmeister, denn er muß mir die Versicherung geben, daß die beiden Rappen vollkommen eingefahren sind, und das wird er auch schon thun, wenn er bei guter Laune ist.«

Jetzt kehrte auch der Intendant von dem Rapport zurück und stellte sich wieder achselzuckend zu der Gruppe am Fenster. »Der schwarze Domino!« seufzte er kläglich. »Ich weiß in der That nicht, weßhalb Seine Majestät auf diese an sich langweilige Musik so versessen ist.«

»Sie werden aber doch den allerhöchsten Befehl befolgen müssen?«

»Ich befinde mich da zwischen zwei Feuern; hier befiehlt Seine Majestät, dort will die erste Sängerin nicht.«

»Ich fürchte, wir haben den schwarzen Domino nicht,« sagte der Oberststallmeister, »denn Madame Wiesengrün-Spitzkopfin wird sich nicht erweichen lassen.«

»Ich glaube es auch nicht,« meinte der Intendant des Hoftheaters. »Ich muß auf die Nachsicht Seiner Majestät bauen; um mit Schiller zu sprechen: – der See kann sich, der Landvogt nicht erbarmen.«

»Aber diesmal wird es schwer halten,« versetzte der Hofmarschall. »Seine Majestät sagten mir, Sie freuen sich auf die heutige Vorstellung außerordentlich.«

»Und zu mir sprach der Herr,« entgegnete einigermaßen pikirt der Intendant, »es speise sich im blauen Salon vortrefflich, [189] und er liebe es ebenfalls außerordentlich, da zu diniren.«

»Jeder so gut er kann!« antwortete der Hofmarschall. »Was geschehen kann, geschieht ja gerne. Aber Seine Majestät haben sicherlich nicht an die Beschaffenheit des blauen Saales gedacht.«

»Es thut freilich Jeder, was ihm möglich ist,« meinte wichtig der Oberststallmeister; »es ist ja unsere Pflicht, für das Wohl und die Gesundheit des Herrn zu sorgen. Aber bei solchem Wetter auszureiten, ist gewiß unthunlich.«

Damit entfernten sich die beiden Excellenzen Arm in Arm, nachdem sie den Grafen Fohrbach freundlichst gegrüßt. Der Intendant ging ebenfalls seufzend seiner Wege.

Der Hofmarschall gab, ehe er sich entfernte, einem der Hoffouriere noch einige geheime Befehle, und da wir auf die Diskretion des geneigten Lesers bauen, so wollen wir demselben in's Ohr flüstern, daß der Hofmarschall anordnete, in dem blauen Salon die Vorhänge und Portièren behufs nothwendiger Ausbesserung herunter zu nehmen, auch die Kette des großen Kronleuchters zu untersuchen, die so schadhaft sein müsse, daß es dringend nothwendig sei, sie noch heute durch eine neue zu ersetzen.

Das Vorzimmer blieb einen Augenblick leer und der Adjutant ging nachdenkend auf und ab, hie und da lustig in sich hinein lachend, über Alles, was er während des Rapports vernommen. Es dauerte indessen nicht lange, so fuhr draußen abermals ein Wagen an; es näherten sich Schritte, doch waren sie nicht leise wie die der Minister und Hofbeamten, sondern man vernahm Sporengeklirr und hie und da ein leichtes Aufstoßen eines Kavalleriesäbels: auch hörte man, wie die Wachen ihr Gewehr präsentirten, worauf der Kammerdiener beide Thüren aufriß, um Seine Excellenz den Herrn Kriegsminister einzulassen, der nun in das Zimmer trat im eifrigen Gespräche mit dem Generalstabsarzte der Armee, welcher zugleich als zweiter Leibarzt fungirte.

[190] Der Adjutant nahm seine schönste Haltung an, um den hohen Chef und Vater bestens zu begrüßen.

Der Kriegsminister war ein großer, stattlicher Mann mit stark ergrautem Haar und Bart, ein schöner alter Herr, der in der Generalsuniform vortrefflich aussah und dessen zahlreiche Orden ebensoviele Gefechte und Schlachten zu bedeuten hatten.

Der Generalstabsarzt dagegen war klein, wohlbeleibt, von beweglichem Wesen. Wenn er eifrig sprach, so fuhren seine Augen lebhaft hin und her und sein Arm arbeitete wie ein Telegraph.

Seine Excellenz begrüßte den Sohn freundlich mit der Hand, wobei sie ihm zurief: »Bon jour, mon garçon!« Dann wandte sie sich wieder zu dem Arzte, der sein Gespräch einen Augenblick unterbrochen hatte, und nun zu dem Adjutanten hinlief, mit seiner Rechten dessen Hand freundlich schüttelte und zu gleicher Zeit die Linke auf die breite gewölbte Brust des jungen Offiziers legte. Dann wandte er den Kopf pfiffig lächelnd gegen den Kriegsminister, indem er sagte: »Sehen Euer Excellenz, hier in ihrem Sohne kann ich meine Behauptung ad oculos demonstriren; das ist eine Kavallerie-, überhaupt eine Militärgestalt, das kann was im Sattel aushalten. Bemerken Sie wohl die gut geformte Taille, die aufschwellende Brust und die breiten Schultern?«

Der alte General sah zufrieden lächelnd auf seinen Sohn und schien dem Arzte Recht zu geben.

»Hier kann man die Schultern zusammendrücken, wie man will, da zeigt sich keine Spur von Husten, und wenn man vornen hinklopft, da ist es gerade als höre man ein entferntes Glockengeläute. Und das Untergestell, – solches Zeug braucht man zum Dienst, wenn man es zu Etwas bringen will. – Aber gehen Sie mir nur mit Ihrem Herzog!« schloß er achselzuckend.

»Aber, lieber Freund,« entgegnete ruhig der Kriegsminister, »Sie verkennen offenbar den Standpunkt der Sache. Seine Majestät der König, vielleicht von Bitten bestürmt, haben einmal [191] nachgegeben, haben erlaubt, – nein, haben befohlen, daß der Herzog die Universität und mithin auch die Civilcarrière verlassen soll, um in das Gardedragonerregiment einzutreten.«

»In das Gardedragonerregiment!« rief der Arzt mit einem wahren Aufschrei, indem er beide Hände auf dem hervortretenden Bäuchlein zusammenlegte. »In das Gardedragonerregiment!« wiederholte er und blickte kopfschüttelnd in die Höhe.

»So ist es,« versetzte die Excellenz. »Sie wissen, wie sehr sich Ihre Majestät die Königin dafür interessirt, den Sohn Ihrer Schwester –«

»Statt im schwarzen Frack in der glänzenden Uniform zu sehen,« sagte der Arzt krampfhaft lachend.

»Meinetwegen soll es so sein; aber wie bemerkt, Ihre Majestät baten mich sogar darum, ersuchten mich auf's Freundlichste, mich bei dem König für die Sache zu verwenden.«

»Und Seine Majestät?« – entgegnete der Arzt mit einem pfiffigen Gesichtsausdruck.

»Seine Majestät verlangt natürlich Ihr Gutachten,« erwiderte der Kriegsminister.

»Weil Seine Majestät,« versetzte der Doktor mit erhobenem und wichtigem Tone der Stimme, indem er zu gleicher Zeit mit der rechten Hand zu jedem Wort den Takt in der Luft schlug, »ein Herr von der größten Ueberlegung sind, ein Herr, der selbst genau weiß, was zum Militär nöthig ist, wie man zu einem Gardedragoneroffizier aussehen muß, ein Herr, der mit einem Worte – selbst ein vollkommener Soldat ist.«

»Aber, lieber Doktor, sind Sie nicht kindisch!« sagte fast bittend der alte General. »Mir kann es ja am Ende gleichgiltig sein; aber ich versichere Sie, Ihre Majestät hat sich einmal auf dieses Projekt capricirt; es ist in der That ein Wunsch von ihr, und es würde sie schmerzen, wenn der Herzog nicht unter das Gardedragonerregimet käme.«

[192] »So soll man ihn nehmen! – nehmen! – nehmen! – aber man soll mich nicht fragen. Dann können Sie ihn meinetwegen zum Dragoner, zum Artilleristen, ja zum Kürassier machen; – oder,« sprach der Arzt plötzlich in einem andern Tone, während er die Hände auf den Rücken legte, »sagen doch Euer Excellenz: der Generalstabsarzt hat diesmal total Unrecht; garantiren Sie für seine Gesundheit, Sie, ein langgedienter Kavalleriegeneral, – und ich will Ihnen in keinem Titelchen widersprechen.«

Bei diesen Worten hustete der Kammerdiener an der Thüre bedeutungsvoll, öffnete dann die Flügelthüre, und die beiden Herren, welche wußten, was es zu bedeuten habe, beeilten sich, in das Kabinet zu treten.

Sie blieben nicht sehr lange darin, und als sie wieder heraustraten, sagte der Kriegsminister, indem er den Arzt scheinbar ärgerlich am Arme schüttelte: »Sie sind ein alter hartherziger Kerl; nächstens halte ich eine große Kavallerieparade und lasse Sie in der Suite mitreiten, bis sie schwarz werden.«

»O Excellenz,« entgegnete pfiffig lachend der Doktor, »warum desavouirten Sie mich nicht soeben? Der Herr schien das fast zu erwarten, aber Sie sind ein – Ihnen ist der Herzog auch lieber auf der Universität als unter dem Gardedragonerregiment. Sprechen Sie über mich bei Ihrer Majestät was Sie wollen und mögen: ich halte still, – denn Recht habe ich. – Sie, Graf Fohrbach,« wandte er sich an den Adjutanten, »müssen mir beistimmen, Sie kennen den Herzog. – Ist das ein Kavallerist? – Nie! nie! ebensowenig als ich selber, und wenn mir Einer das Gegentheil beweist, so will ich alles Praktiziren bleiben lassen und Bärte scheeren.«

»Was vielleicht ein großer Vortheil wäre für die leidende Menschheit,« sagte lachend der Kriegsminister, während er seinem Sohne vertraulich die Hand schüttelte und dann mit dem Arzte das Zimmer verließ.

[193] Damit war der Rapport beendigt, und der geneigte Leser, den wir nun einmal in die Geheimnisse eingeführt, kann auch von uns verlangen, daß wir ihm ferner mittheilen, wie der heutige Tag bei Hofe zu Ende ging. Wir thun dieß um so lieber, als wir ihm dadurch der Tendenz unserer wahrhaftigen Geschichten gemäß beweisen, daß kein Mensch auf dieser Welt der Sklaverei entgeht und im Stande ist, beständig seinen Willen durchzusetzen, nicht die Bettler, nicht die Höchsten dieser Erde.

Seine Majestät der König ritten nicht spazieren wie Sie gewünscht. Dieselben fuhren auch nicht mit zwei Rappen, wie Sie befohlen, und das aus einem ganz eigenthümlichen Grunde. Der dienstthuende Stallmeister nämlich hatte sich herausgenommen, die Pferde vor dem kleinen bekannten Wagen zu verschiedenartigen telegrafischen Depeschen zu benützen, vermittelst deren er mit einer Dame zu korrespondiren pflegte. Fuhr Seine Majestät mit Braunen, so hieß das Ja, hatten dagegen Höchstdieselben Rappen vor dem Wagen, so bedeutete das Nein. Weil nun aber am heutigen Tage dieser dienstthuende Stallmeister aus den angegebenen Gründen für nothwendig hielt, zwei Braunen einspannen zu lassen, so waren die Rappen noch nicht vollkommen sicher und vertraut, weßhalb Seine Majestät auf den gewiß sehr billigen Wunsch, mit ihnen zu fahren, verzichten mußte.

Ferner war auch das Diner nicht in dem kleinen blauen Saale, sondern in dem großen rothen. Dasselbe ging auch ziemlich einsilbig und unerfreulich vorüber, denn Ihre Majestät die Königin hatte rothgeweinte Augen, und ließ sich deßhalb entschuldigen. Sie speiste auf dem Zimmer mit ihrer Schwester, der Frau Herzogin, das heißt, sie speisten vielmehr nicht, sondern ergingen sich in verschiedenen Klagen über verfehlte Wünsche im Einzelnen und über den Druck dieses Lebens im Allgemeinen.

Dafür endete aber auch dieser Tag wie er angefangen, und als seine Majestät in's Theater trat, wurde gemeldet, daß Madame [194] Wiesengrün-Spitzkopfin erkrankt sei und daß dafür Fräulein Topf die – –Norma singen werde, was an sich auch eine sehr schöne Gegend ist.

39. Kapitel
Neununddreißigstes Kapitel.
Unter dem Dache.

In dem Hause des Buchhändlers Blaffer, Firma Johann Christian Blaffer und Kompagnie, befanden sich unter dem Dache einige Kammern, von denen ein paar, um den Kunstausdruck zu gebrauchen, gegipst waren, die Wände anderer dagegen die ganz gewöhnliche Holzvertäfelung zeigten, mit welcher auch das Dach unterhalb beschlagen war.

Eine dieser gegipsten Kammern war die Wohnung des Herrn Beil, welche durch einige höchst merkwürdige Lithographien, durch ein paar alte zerrissene Vorhänge, sowie durch ein Stück Teppich vor dem Bette so comfortable als möglich gemacht war. Da zufälliger Weise durch diese Kammer das große Kamin des Hauses lief, so befand sich hier ein kleiner Ofen, was eigentlich polizeiwidrig war. Doch wußte Herr Beil die Behörde hinter's Licht zu führen, denn so oft eine Bauschau oder ein Schornsteinfeger in's Haus kam, so brach er die Röhre dieses unbedeutenden Ofens ab und stellte diesen selbst in eine Ecke wie ein altes Rumpelwerk.

An Möbeln war in diesem Zimmer nicht viel vorhanden: ein altes Bett, ein paar Stühle, und in einer Ecke eine Kiste, welche der erfinderische Eigenthümer dadurch, daß er einen kleinen Strohsack darauf gelegt und darüber ein Stück carrirten Zeug gebreitet, solchergestalt zu einem Sopha eingerichtet hatte.

[195] Auf diesem Sopha nun saßen Herr Beil und August, der Lehrling, stillschweigend neben einander. Es mochte vielleicht sieben Uhr Abends sein; auf einem kleinen wackeligen Tische, den wir seiner Unbedeutendheit wegen beinahe anzuführen vergessen hätten, stand ein sogenanntes Sparlicht in einem abgenutzten blechernen Leuchter, und die trübe, rothe Flamme desselben verbreitete eine zweifelhafte Helle in der Kammer. Hiezu kamen noch verschiedene Luftströmungen, die sich von mehreren Seiten bemerkbar machten und das Licht hin und her wehten, auch der Beleuchtung noch mehr Eintrag thaten, indem nun lange dunkle Schatten bald hierhin bald dorthin flogen.

Herr Beil hatte seinen Kopf gegen die Wand gelegt, die Nase erhoben und schaute an das Dach empor, während er die Füße weit von sich abgestreckt hatte, und die gefalteten Hände auf seinen Knieen ruhen ließ.

Der Lehrling dagegen saß vornüber gebeugt, hatte seine Ellbogen auf die Beine aufgestützt, betrachtete aufmerksam den Fußboden und stieß hie und da einen tiefen Seufzer aus.

Herr Beil rauchte eine Papiercigarre, in deren Bereitung er sehr kunstfertig war. – »Aecht spanisch,« pflegte er zu sagen, »ich glaube wahrhaftig, ich habe etwas von dem Blute irgend eines Don Jose di Mendoza ben Calatravera Bajazzo in mir.«

Heute Abend aber war er nicht zu Spässen aufgelegt, denn wenn der Lehrling häufig laut seufzte, so that der Commis nicht selten dergleichen leise.

In dem Zimmer befand sich in dem Augenblick noch eine dritte Person; das war eine alte Magd, die eben im Begriffe war, die wenigen Reste eines sehr spärlichen Abendessens abzuräumen. Bald war sie damit fertig, wünschte gute Nacht und verließ dann die Kammer, worauf es hier ganz still wurde. Man hörte nichts als zuweilen das Picken der silbernen Taschenuhr des Lehrlings, die auf dem Tische lag, und dann wieder das Sausen eines Windstoßes, [196] der gegen die Dachziegel strich und ihnen durch diese unsanfte Bewegung einen eigenthümlichen Ton des Mißbehagens entlockte.

»So ist denn Alles aus!« ergriff nach einer längeren Pause der Lehrling das Wort, während er kummervoll sein Gesicht in die Höhe wandte, »Alles! – Alles!«

»Für Sie nicht, junger Anfänger!« entgegnete Herr Beil. »Was thut's auch, wenn ich morgen dies Haus verlasse; Sie werden schon einen anderen Commis an die Seite bekommen, der Sie sogar wahrscheinlich viel weniger schuhriegeln wird als ich, der viel behaglicher und freundlicher ist.«

»Möglich, möglich!«

»Sehen Sie, undankbares Krokodil, Sie finden das selbst schon möglich. O, ich werde bald gänzlich vergessen sein.«

Diese letzten Worte sprach Herr Beil mit solch schneidendem Tone des tiefsten Weh's, daß der junge Mensch an seiner Seite sanft die Hand auf seinen Arm legte und hastig entgegnete:

»Ich habe gesagt, es sei möglich, daß nach Ihnen Jemand zu uns käme, der weniger – wie soll ich sagen? – ja, der zuweilen vielleicht weniger rauh mit mir wäre, der mich aber gewiß nicht so lieb hat wie Sie.«

»Hm! diese Möglichkeit will ich zugeben; aber sprechen wir nicht weiter davon. Wenn ich am heutigen Tage ein Wort von Liebe höre, so möchte ich vor Vergnügen aus der Haut fahren.«

»Was haben Sie denn eigentlich mit Herrn Blaffer gehabt?« fragte August nach einer Pause.

»Das kann ich Ihnen so genau nicht sagen,« entgegnete der Commis, wobei er tüchtige Rauchwolken aus seiner Cigarre blies. – »Und doch sollte ich es Ihnen eigentlich sagen; ich will sehen, ob ich eine Handhabe finde, mit der ich die Sache ergreifen kann. – Aber ist es hier nicht unerträglich heiß?« sagte er nach einem [197] augenblicklichen Stillschweigen, während er seinen Rock aufknöpfte; »man merkt wahrhaftig, daß der Winter in den letzten Tagen keine rechte Kraft hatte, so ein bischen elendes Holz erwärmt das kleine Zimmer übermäßig.«

»Ja, ich finde es angenehm warm hier; doch wenn es Ihnen zu heiß ist, können wir die Thüre öffnen.«

»Gut, öffnen Sie die Thüre,« erwiderte der Commis, »oder noch besser, verlassen wir einen Augenblick diese Kammer und gehen wir in die andere da gegenüber! Es ist das eine gute Abkühlung für mich.«

»In die meinige?« fragte der Lehrling.

»Nein, in die andere da neben an.«

»Also in die, wo Marie gewohnt hat?«

»In dieselbe, theuerster Bruder,« sagte Herr Beil. Darauf erhob er sich langsam von seinem Sitze und trat an den Tisch, um den langen Docht des Lichtes mit einer alten Scheere zu putzen. Nachdem er dieß gethan und die Flamme wieder hell brannte und sein Gesicht, das über dieselbe hingebeugt war, vollkommen beleuchtete, konnte man deutlich sehen, wie blaß er war, wie abgespannt seine Züge erschienen. Sein Haar, sonst gut gepflegt und geordnet, hing wild und wüst an seinem Kopfe herunter; nur seine Augen glänzten, doch war der Glanz mehr ein unheimliches, fieberhaftes Brennen.

»Gehen wir also,« sagte er.

Und damit verließen die Beiden die Kammer, um in eine gegenüber liegende einzutreten.

Diese hatte ebenfalls weiße Wände, war aber noch unbehaglicher als die andere, indem das ganze Ameublement hier aus einer alten Bettstelle bestand, in welcher ein Strohsack lag, der in der Mitte auseinander klaffte und seine Eingeweide sehen ließ. Ferner war hier eine große Bücherkiste, die zu Häupten des Bettes stand, und auf welche sich Herr Beil niederließ.

[198] Der Lehrling trat an das Fußende und blickte betrübt zu seinem Freunde hinüber.

»Da ist ein gewisser Goethe,« sagte der Commis nach einem längeren Stillschweigen, »der läßt einen sicheren Faust bei einer ähnlichen Veranlassung sehr schöne Worte sagen«; ungefähr so:


Mich faßt ein wahrer Wonnegraus;
Hier möcht ich volle Stunden träumen!

»Und ich möchte gerade so sprechen, nur daß mich statt der Wonne ein tiefer, tiefer Schmerz ergreift, ein Schmerz, den zu ertragen ich nicht im Stande bin, der mein Herz brechen wird. – O Gott! wie kann ein vernünftiger Mensch ein solches Vieh sein! So sein Alles, sein ganzes Denken und Fühlen, sein Leben und seine Zukunft an ein Mädchen zu hängen! – Es ist wahr, aber unbegreiflich.«

»O nein,« entgegnete August schüchtern, »ich begreife es.«

»Was begreifen Sie, junger angehender Weltbürger, was begreifen Sie von allem Dem, was im Stande ist, mich rasend zu machen?«

»Ich begreife, daß Sie meine Schwester Marie lieben,« erwiderte der junge Mensch.

»Das wäre an sich gerade kein Unglück,« sagte der Andere, indem er seinen Kopf auf das hölzerne Gestell stützte und in das leere Bett schaute. – »Lieben ist eine schöne Sache, aber hoffnungslos lieben ist die Hölle. – Hoffnungslos, weil ich ein armer Teufel bin, weil es dem reichen Manne gefällt, die schöne Frucht zu pflücken, da er gerade Appetit darnach verspürt. – Es ist das wieder eine schöne Sklavengeschichte: der Herr befiehlt, dieses schöne und reizende Mädchen solle ihre Mitsklaven verlassen und aus der elenden Dachkammer hinabsteigen in die schönsten Gemächer des Hauses, damit sie – glücklich werde. Ein anderer Mitsklave, dem das harte Leben, das er Jahre lang geführt, nur dadurch erträglich wurde, daß sie hie und da über seinen Weg schritt, daß sie ihn zuweilen freundlich [199] ansah, daß es ihm dann und wann erlaubt war, ihre Hand zu streifen oder mit schauerndem Vergnügen ihren Arm, ihre Schulter zu berühren, wagt es, darüber Vorstellungen zu machen, und da man ihn nicht durchpeitschen kann, so öffnet man ihm die Thüre und stößt ihn wie einen Hund hinaus. – Mich – mich, mich stößt man hinaus in das kalte nasse Wetter, in den Winter der Jahreszeit und meines freudenlosen Lebens, während er mit ihr im warmen behaglichen Zimmer bleibt, und lächelnd von ihrem Lager hinweg an die dunstigen Fensterscheiben zu treten, die er mit einem Tuche abwischt, das vielleicht von ihren Thränen feucht ist, und hinaus sieht auf die finstere Straße, wo ein bleiches Gespenst vorüber schreitet, das im Grabe keine Ruhe finden kann, weil es die Sehnsucht empor zieht und an jenes Haus zwingt, daß es dort hinstehen muß und hinauf schauen an das matt erleuchtete Zimmer. O, ich begreife jetzt, wie ein Mensch nach und nach wahnsinnig werden kann und dabei deutlich fühlt, wie die Narrheit über ihn herfällt.«

Der junge Mensch hatte seine Hände gefaltet und schaute auf den Anderen mit ängstlichen Blicken. »Aber lieber Herr Beil,« sagte er, »was führen Sie für gräßliche und verworrene Reden? – Reden, die mich auf's Tiefste ängstigen, wenn ich sie auch nicht ganz verstehe.«

Der Commis schien ruhiger geworden zu sein und hatte sich wieder auf die Kiste gesetzt, die er vorhin verlassen. »Ja, ja,« sprach er, tief Athem schöpfend, »das sind Narrheiten, aber es ist doch ein Körnchen Verstand darin. Und dies Körnchen Verstand will ich Ihnen zu Ihrem eigenen Nutzen und Frommen mittheilen, soweit es ihnen dienlich ist und soweit Sie es begreifen können. – Hören Sie mich an!«

»Sie kennen sattsam unseren großen Sklavenhändler Blaffer; er hatte der Sklaven nicht viele, aber einige; er hat sie auch nicht gekauft, denn das ist bei uns unmöglich, aber sie waren an ihn [200] gekettet durch drückende Verhältnisse – Verhältnisse, die ihnen nicht erlaubten zu thun wie unsere glücklichen Brüder in Amerika, nämlich davon zu laufen. Wissen Sie, mein lieber junger Sklave, darin haben wir es nämlich sehr schlimm; wenn es die drüben nicht mehr aushalten können und davon laufen, so finden sie überall Unterstützung und Hilfe und man nimmt sich ihrer an, man sorgt für sie, man hilft ihnen zu ihrem Fortkommen, man unterstützt sie mit Rath und That, und verschafft ihnen, wenn es irgendwie möglich ist, eine angenehme sorgenfreie Existenz. Wir aber, wenn wir einmal nicht mehr im Stande sind, die schlechte Behandlung, die wir erfahren müssen, die wirklichen und moralischen Fußtritte zu ertragen, die uns ein tyrannischer Dienstherr versetzt, wir können nicht davonlaufen, denn wir werden nicht weit kommen; wir sind alsdann faule und nichtsnutzige Diener, widerspenstige Buben oder, ich spreche auch für das andere Geschlecht – liederliche Mädchen, für die sich anzunehmen eine Schande wäre, die nirgendwo Hilfe und Unterstützung finden, und die, wenn sie eine mitleidige Polizei in's Loch steckt, zurückkommen müssen und die Ruthe küssen und sie bitten, daß man sie wieder gnädig aufnimmt.

So stehen unter Anderem die Sklaven des Herrn Johann Christian Blaffer und Compagnie, namentlich seine beiden Leibsklaven, das sind Sie und Ihre Schwester Marie. – Neulich kam ich zufälligerweise dazu, wie Sie, junger Mensch, in einer der vielen Nachahmungen von Onkel Tom's Hütte lasen, und ich erwischte Sie gerade an einer pikanten Stelle, so daß ich mich nicht enthalten konnte, Ihnen einen kleinen Katzenkopf zu appliziren. Ich bin fest überzeugt, daß Sie, sobald ich Ihnen den Rücken gekehrt hatte, jene Stelle mehrmals lasen und sie Ihrem sonst sehr schlechten Gedächtnisse vollkommen einprägten. – Ist es wahr oder ist es nicht wahr? Seien Sie ehrlich.«

»Ich weiß nicht, welche Stelle Sie meinen,« stotterte der Lehrling doch merkte man ihm deutlich an, daß er eine Lüge sprach.

[201] »Denken Sie an den Katzenkopf,« sagte ernst Herr Beil, »und erinnern Sie sich jener Stelle: es war, wo der Pflanzer das Mädchen nöthigen wollte, sein – Zimmer zu theilen, wo er sie mit Hunger und Schlägen traktirte, um sie willfährig zu machen.«

»Ach ja, ich erinnere mich! – und dann entsprang sie.«

»Richtig, sie entsprang und kam glücklich zu zwei reichen und vornehmen Damen, die außerordentlich erfreut waren, eine entsprungene Sklavin unterstützen zu dürfen.«

»Sie nahmen sie mit sich.«

»Und lobten sie, daß sie standhaft Hunger und Schläge ausgehalten und doch unschuldig geblieben sei.«

»Und davon gelaufen, um ihre Ehre zu retten.«

»Sie nahmen sie dann mit sich in ihren Wagen, gaben ihr schöne Kleider, machten sie zu einer Art Kammerjungfer, sie befand sich darauf froh und munter wie Gott in Frankreich –«

»Ja, es ging ihr sehr gut.«

»Und wenn sie nicht gestorben ist, so lebt sie noch, wie es in den alten Mährchen heißt.« – Damit fuhr sich Herr Beil durch sein struppiges Haar und der Lehrling setzte lächelnd hinzu:

»Das war eine recht schöne und angenehme Geschichte, und ich habe den gewissen Katzenkopf gern dafür in Empfang genommen.«

»Und doch nichts dabei gelernt,« sagte fast wehmüthig Herr Beil. – »Denken Sie einmal ein wenig nach, finden Sie denn zwischen jener Sklavengeschichte und Manchem, was hier im Hause geschehen ist, nicht eine gewisse Aehnlichkeit?«

»Nicht sogleich,« entgegnete August.

»Na, besinnen Sie sich einmal, ist Ihnen nie was von Hunger und Schlägen passirt?«

»O ja doch, dessen erinnere ich mich wohl.«

»Und Ihre Schwester? –«

[202] »Auch sie hat mir manchmal geklagt, er habe sie gestoßen und dergleichen.«

»Und dann sie wieder gehätschelt und ihr gute Worte gegeben –?«

»Ja, und jetzt fällt mir noch eine Aehnlichkeit ein.«

»Nun, Gott sei Dank! daß Ihnen endlich ein Licht aufgeht.«

»Meine Schwester ist auch einmal heimlicher Weise fortgegangen.«

»Sehen Sie wohl,« sagte Herr Beil, indem er die Zähne auf einander biß. – »Und da fanden sich auch zwei vornehme und reiche Damen, die ihr halfen?«

»Nein,« erwiderte traurig der junge Mensch, »sie ging zu ihrer Pathin, einer wohlhabenden und sehr frommen Frau. Die hat sie aber schön empfangen. Wie kannst du dich unterstehen, sprach sie, von einem so braven Herrn wegzulaufen, wie der Herr Blaffer ist! Glaubst du, ich werde dich in deinem Ungehorsam unterstützen? Nicht eine Stunde darfst du hier in meinem Hause bleiben, darfst mich überhaupt nie mehr besuchen, bis du mir schriftlich von deinem Herrn bringst, daß er dir deine Unart verziehen und wieder vollkommen mit dir zufrieden ist.«

»Das Zeugniß wird er ihr jetzt geben können,« sagte düster und wie zu sich selbst sprechend Herr Beil. Dann wandte er sich wieder an den Lehrling. – »Und Marie hat der Alten nicht gesagt, weßhalb sie das Haus verlassen?«

»O ja, das that sie; aber da hob die Pathin die Hände zum Himmel auf, verdrehte andächtig ihre Augen und erwiderte: Gott sei uns Sünder gnädig! der Mensch ist schwach und wenn dein Herr je so etwas gesagt hat, so hast du ihn gewiß durch ein leichtfertiges Betragen hiezu aufgemuntert.«

»Amen!« sprach laut lachend der Commis.

»Darauf schickte die Pathin meine Schwester aus dem Hause, und Marie kam wieder hieher zurück.«

[203] »O ich weiß, ich weiß das!« rief gewaltsam ausbrechend der Andere. »Sie blieb einen Tag auf ihrem Zimmer; hier in dieser Kammer, auf diesem Bette saß sie, ein Bild des Jammers; und ich schlich mich zu ihr herauf, nahm ihre Hand und versuchte sie zu trösten.«

»Ich weiß, ich weiß.«

»Da kam jener schreckliche Auftritt! Der Sklavenhändler kam hier herauf, und da er mich sah, übermannte ihn eine eifersüchtige Wuth und er schlug mir mit dem Stocke, den er in der Hand trug, über den Kopf; die Narbe wird nie vergehen. Aber nur Marie ist schuld, daß ich ihn damals nicht umgebracht. Ja, ich hätte ihn doch niedergeworfen, obgleich er fester auf seinen Füßen steht als ich. – Darauf mußte sie hinunterziehen in den ersten Stock, und dort blieb sie ein paar Tage eingeschlossen; wir haben sie Beide nicht mehr gesehen. Es wurde eine Magd angeschafft, wir beide speisten Mittags und Abends allein, und ich – bekam meinen Abschied. – Hurrah: das vergnügte Leben fängt an!«

»Aber nach allem dem, was Sie hier erduldet, muß es Ihnen doch im Ganzen angenehm sein, wenn Sie dieses Haus verlassen können,« meinte der Lehrling.

»Lieber Freund, Sie sprechen wie Sie es verstehen. Glauben Sie denn, daß ich es ohne die gewichtigsten Gründe überhaupt länger als ein paar Tage bei dem Herrn Blaffer ausgehalten hätte? Ach! durch gewisse Sachen, deren Mittheilung Ihnen nichts nützen würde, hatte er mich von Anfang an in der Hand; dann erschien auch Ihre Schwester, und das war ein starkes Band, welches mich an dieses Haus kettete; ja, das würde mich an die Hölle festschließen, wenn ich am Ende aller Qualen nur den kleinsten Hoffnungsstrahl glänzen sähe. – Aber so ist Alles Nacht, – tiefe, dunkle Nacht.«

»Aber wenn Sie meine Schwester wirklich so gerne haben, wie Sie sagen, so müßte es Sie doch eigentlich freuen, daß sie nicht [204] mehr die Magd hier im Hause zu machen braucht und daß sie nicht mehr nöthig hat, hier oben in der kalten Kammer zu schlafen. Ich versichere Sie, es geht ihr jetzt recht gut, sie bewohnt drunten ein angenehmes Zimmer und näht und stickt den ganzen Tag.«

Der Commis schaute bei diesen Worten den jungen Menschen achselzuckend an, dann murmelte er zwischen den Zähnen: »Da helfen keine Katzenköpfe, um den zur Erkenntniß zu bringen. – Also sie näht und stickt?« fuhr er lauter fort; »und was treibt sie nebenbei? lacht sie oder weint sie?«

»Singen habe ich sie freilich lange nicht gehört, auch schaut sie ziemlich betrübt aus; aber Sie wissen, daß sie schon seit langer Zeit nicht recht heiter war.«

»Ja, ich weiß das,« entgegnete Herr Beil, »und ich kann mir auch die Ursachen davon erklären. Aber jetzt will ich Ihnen etwas sagen: gehen Sie in mein Zimmer zurück, ich folge Ihnen sogleich: Sie können auch das Licht mitnehmen, ich brauche es nicht, denn ich will nur ein wenig da zum Fenster hinaus sehen; es ist hier die Wetterseite, und ich möchte wissen, ob es schneien oder frieren wird. Gehen Sie nur, ich komme gleich.«

August nahm das dünne Talglicht und verließ das Gemach, worauf er nach der gegenüberliegenden Kammer ging.

40. Kapitel
Vierzigstes Kapitel.
Ein Abschied.

Der Commis ließ sich auf das Bett nieder, stützte Hände und Kopf auf das hölzerne Gestell und versank in tiefes, finsteres Hinbrüten. Es waren schreckliche, wilde Gedanken, die in seinem Kopfe [205] erschienen, und die gleich drohenden Gespenstern all' sein besseres Denken und Fühlen fast erstickten. – Wie hatte er dieses Mädchen geliebt, wie hatte er sich im Dienste seines Herrn geplagt, indem ihm lange die Hoffnung blieb, es würde möglich sein, daß ihm doch noch einmal das Glück lächle und daß er im Stande sei, ihren Besitz zu erringen. Bei solchen Gedanken hatte er vor Wonne geschaudert. Wenn er sich recht heitere Stunden machen wollte, so träumte er glänzende Träume, wie er endlich vor sie hintreten würde und ihr Alles anbieten, was er habe – eine kleine aber sorgenfreie Existenz. Freilich würde sie ihm vielleicht sagen: sehen Sie, Herr Beil, ich fühle gerade keine übermenschliche Liebe zu Ihnen, aber das wird sich vielleicht später finden; vorderhand achte ich Sie, schätze ich Sie hoch und nehme Ihren höchst achtbaren Antrag an. – Das wäre Alles ganz im Geheimen abgemacht, und der Herr Blaffer damit fürchterlich überrascht worden, – fürchterlich, indem man ihm eine so sicher geglaubte Beute entriß. – Aber das hatte das Schicksal nicht gewollt, es sandte keine Lichtblicke hernieder in sein Leben, es streute nicht irgend eine kleine Gabe auf seinen Pfad, es schien nicht zwei Wesen vor dem Verderben retten zu wollen, – es rauschte finster, gewaltig und unaufhaltsam über sie dahin, und schmetterte sie zu Boden, sie, die vielleicht unter anderen Verhältnissen ein bescheidenes, glückliches Loos hätte finden können.

Er mochte ziemlich lange so gesessen haben auf dem Rande des Bettes, und allmälig lösten sich die wilden Schmerzen seiner Brust in tiefe Wehmuth auf, er fühlte erquickende Thränen in seinen Augen aufsteigen und dann über die Finger, die er davor gepreßt hielt, herabrieseln. Er dachte eigentlich gar nichts mehr, der stechende, wilde Schmerz seiner Seele war verschwunden, und nur ein allgemeineres, aber sanfteres Weh erfüllte ihn vollständig.

Endlich stand er auf, doch wie er sich dabei mit der Hand auf das Lager stützte, raschelte das Stroh unter seinen Fingern, [206] er zog ein paar zerknitterte Halme her, zerdrückte sie in der Hand und schob sie in die Tasche. Dann kehrte er in sein Zimmer zurück, wo August an dem Tische saß, den Kopf auf die Hände gelegt und finster in das flackernde Licht starrend.

»Ich will Ihnen Etwas sagen,« sprach der Commis nach einer Pause, während welcher er ein paar Mal durch das Zimmer geschritten war, »ich hatte mir anfänglich vorgenommen, dieses Haus morgen zu verlassen; aber ich kann es unmöglich noch eine Nacht mit ihm und ihr unter demselben Dache aushalten und bin deßhalb entschlossen, noch heute Abend fortzugehen.«

»Aber es ist ja finstere Nacht,« versetzte erschrocken der Lehrling. »Und wo wollen Sie denn eigentlich hin?«

»O, ich finde wohl noch einen stillen Ort, der mich freundlich aufnimmt,« entgegnete wehmüthig lächelnd der Andere. »Sorgen Sie nicht für mich, machen Sie überhaupt keine so trübe Miene; wenn es einmal geschieden sein muß – und dieser große Moment ist unwiderruflich da – so wollen wir das in guter Laune und mit bestem Humor thun.«

»Sie sehen aber gar nicht aus wie Jemand, der zum Scherzen aufgelegt ist,« sagte August, indem er bedenklich in das verstörte Gesicht seines Freundes sah, in dessen Augen und auf den eingefallenen Wangen noch die deutlichen Spuren der eben vergossenen Thronen zu bemerken waren.

»Da irren Sie sich sehr,« erwiderte Herr Beil, der gewaltsam Athem holte; »ich sehe nur von außen ein wenig griesgrämig aus, bin aber dafür innerlich um so vergnügter; es geht mir in dem Punkte wie den Maikäfern.«

»Wenn es wirklich wahr wäre, so sollte es mich freuen, denn Sie haben mir mit Ihren Worten vorhin und mit Ihren Seufzern förmlich Angst gemacht.«

»Das ist möglich; aber in der That, Sie können mir glauben, [207] die schwarze Stunde ist vorüber; was jetzt noch hinten drein folgt, ist Alles Kinderspiel.«

»Und ist es Ihr fester Entschluß, heute Abend noch dies Haus zu verlassen?«

»Dazu bin ich entschlossen ohne Widerrede; und da ich ziemlich leicht reisen möchte, so will ich mich auch nicht mit viel Gepäck behängen. Sie sollen mein Haupterbe sein, und wenn Sie etwas von meinen Habseligkeiten benutzen können, so thun Sie es ja. Daß mein Inventarium leider nicht groß ist, dafür hat schon der Herr Blaffer seiner Zeit gesorgt; wahrhaftig, das allein könnte mich traurig machen, wenn ich nämlich bedenke, daß die Früchte meiner langjährigen Arbeit in ein paar alten Anzügen und etwas defekter Leibwäsche bestehen. Nun, es ist einmal meine Bestimmung gewesen und ich will mich nicht dagegen auflehnen. – Kürzlich hatte ich auch noch eine Uhr, aber ich versetzte sie vor einiger Zeit bei einer gewissen Gelegenheit, die ich Ihnen nicht nennen kann, will Ihnen aber den Schein des Leihhauses da lassen, und wenn Sie sie je einlösen sollten, so zeigen Sie solche Ihrer Schwester Marie – die Uhr ist damals stehen ge blieben – und sagen ihr dazu, das sei die gewisse Stunde. – Hier ist ferner noch ein kleiner Ring, den bitte ich Marien so bald als möglich einzuhändigen; bemerken Sie ihr hiebei, es habe unser Leben viel Unglück betroffen, aber es werde wahrscheinlich eine Zeit kommen, wo wir Beide in eine gewisse Klarheit kämen, und in einen Zustand, den man ein schöneres Wiedersehen nennt. Wenn das, wie ich nicht anders glaube, körperlich vor sich geht, so werde ich sogleich nach ihrer Hand schielen und nach jenem Ringe, und es sollte mich innig, innig freuen, wenn ich ihn an einem ihrer Finger bemerken, das heißt, wenn ich ahnen würde, daß sie ihn mir zum Andenken so lange getragen.«

August schüttelte den Kopf und sah seinen Freund verwundert an. – »Sie sprechen da Worte,« sagte er, »die ich nicht völlig [208] verstehe, und thun Dinge, die ich nicht begreife. – Warum wollen Sie alle Ihre Sachen hier lassen, da Sie doch nicht mehr in dies Haus zurückkehren werden, und da Sie keine anderen haben, wie ich wohl weiß?«

»Das Letzte ist vollkommen richtig,« entgegnete lächelnd Herr Beil; »aber unter uns gesagt, ich bin eben im Begriff, in eine neue Carrière zu treten, und einen ganz anderen Menschen anzuziehen. Und daran würden mich diese Fetzen hindern; sprechen wir also nicht weiter darüber, thun Sie, was ich Ihnen gesagt und lassen Sie mich ohne Sang und Klang meiner Wege ziehen.«

»O, es kann Ihr Ernst nicht sein, heute Nacht dies Haus zu verlassen! Es ist schon spät, Sie werden kaum noch sonst irgendwie eine Thüre offen finden.«

»O ja, ich finde schon noch ein Haus offen,« versetzte der Andere mit einem leichten Schauder, »und wenn ich da einmal eingetreten bin, so wird meine Ankunft einiges Geräusch verursachen. Es werden sich um mich Leute bemühen, die mich bis jetzt gar nicht gekannt, man wird mich aufs Feinste bedienen und ich werde mehrere Kammerdiener haben, die für meinen Anzug und meine Frisur sorgen; darauf wird man sich auch bemühen, mir ein eigenes Haus zu bauen, und wenn ich dort eingezogen sein werde, so könnte es mir am Ende auch wie einem hohen Herrn ergehen, der von seiner Grafschaft Besitz nimmt, bei dessen Ankunft die Glocken zusammen läuten und das Volk herbeiströmt.«

»Ach! Sie machen wieder Ihre Spässe,« entgegnete der Lehrling. »Wenn Sie ein solches Haus haben könnten, so würden Sie schon lange dahin gegangen sein und hätten nicht Jahre lang dieses Leben geführt.«

»Da haben Sie wieder einmal Recht,« sagte tief bewegt Herr Beil, während er seine Hand auf die Schulter des jungen Menschen legte. »Kinder und Narren sprechen die Wahrheit. Ich hätte [209] allerdings meinem Herzen Manches erspart, wenn ich früher heimgegangen wäre, vielleicht ganz früh, als ich noch ein kleines Kind war und nichts von Sklavengeschichten wußte. Damals hätte es meine Eltern gefreut, wenn ich ihnen gefolgt wäre.«

»Aber Sie werden mir doch Nachrichten von sich geben,« meinte August. »Thun Sie das doch ja, und wenn Sie nicht gar zu weit weg wohnen, so werde ich Sie, sobald ich kann besuchen.«

»Ihnen Nachrichten zu geben wird etwas schwer sein; von dort hieher sind die Posteinrichtungen noch ziemlich mangelhaft; aber was einen Besuch betrifft, so können Sie darüber ganz ruhig sein, ich bin überzeugt, daß es über kurz oder lang dazu kommen wird und wir alsdann ein freudiges Wiedersehen feiern.«

August schüttelte den Kopf und meinte nach einer Pause: »Sie sprechen immer in so unbestimmten Ausdrücken, und ich begreife nicht, weßhalb Sie vor mir all' die Heimlichkeiten haben. Sie könnten mir wenigstens eine Adresse da lassen, damit ich im Stande wäre, Ihnen nächstens einmal Nachrichten von uns zu geben; es wird Sie doch gewiß interessiren, zu erfahren, wie es mir und Marie eigentlich geht.«

»Seien Sie unbesorgt,« erwiderte der Commis, »ich werde das seiner Zeit gewiß schon erfahren. – Wissen Sie,« setzte er eigenthümlich lächelnd hinzu, »wenn auch das Haus, in das man mich dringend eingeladen hat, ziemlich abgelegen ist, so bin ich doch überzeugt, daß es in mannigfaltigem Rapport mit der äußeren Welt steht, namentlich Sommers, wo die Nachtigallen schlagen, wo die Rosen blühen und verschiedenartige Blumen ihre kleinen Wurzeln tief, tief hinab in die Erde treiben. – – Es ist das ein ganz merkwürdiges Haus,« fuhr er nach einem längeren Stillschweigen fort, »und es hat Aehnlichkeit mit den Palästen und hängenden Gärten der Semiramis, denn man wohnt dort parterre und hat über sich die schönsten Terrassen, bedeckt mit [210] Grün und blühenden Blumen. – Aber jetzt genug der Faseleien: die Zeit verrinnt; leben Sie wohl, theurer Antonius!«

Der junge Mensch nahm mit seinen beiden Händen traurig die dargebotene Rechte und sagte mit wehmüthiger Stimme: »Leider weiß ich wohl, daß, wenn Sie einmal einen Entschluß gefaßt haben, es ganz unmöglich ist, Sie davon abzubringen. Aber Sie hätten wohl das Haus morgen Früh verlassen können; wer weiß, es hätte sich doch vielleicht noch Manches besser gemacht.«

»Das ist Alles vorbei, vorbei!« rief der Andere aus, während er seine Rechte an sich zog und darauf beide Hände auf die Schultern des jungen Menschen legte. »Es ist vorbei, August, vollkommen vorbei; machen Sie mir doch eine Rose wieder, die der Sturm zerblättert, oder ein Spiegelglas, das zerschlagen; jene wird Sie nie mehr durch ihren Geruch entzücken, die Stücke des letzteren werden Ihnen nur verzerrte Bilder entgegen werfen. – Ja, es muß geschieden sein!«

Darauf hin zog er den Lehrling einen Augenblick an sich, hob ihm das Gesicht empor, und wie er in die blassen und noch so ganz kindlichen Züge sah, füllten sich seine Augen abermals mit Thränen. – »Du siehst ihr doch sehr ähnlich, August,« sagte er nach einer kleinen Pause; »erschrecklich ähnlich, nur daß sie dunklere Augen hat und einen kleineren Mund. – O, diese Augen und dieser Mund! Wenn ich daran denke, so sehe ich auf allen Seiten die wahnsinnigsten Bilder auftauchen. – Bei Gott im Himmel!« sprach er mit tiefem, klagendem Tone, während er seine Hände schlaff herabsinken ließ, »ich kann nicht mehr da bleiben, und wenn du selbst einen Engel herabsenden würdest, um mich zu trösten. Was wäre mir ein Engel in Reinheit und Tugend gegen ihre Schönheit in Laster und Sünde! – Fort! – fort!«

Damit riß er nochmals den Knaben an sich, drückte leidenschaftlich einen Kuß auf seine Stirne und eilte zu der Kammer hinaus.

[211] An der Treppe blieb er tief athmend und lauschend stehen, und schlich alsdann Stufe um Stufe hinab.

Das Haus lag ruhig und still da; man hörte keinen Laut, als von oben herab das Heulen des Windes und von unten das Picken einer Uhr in der Küche.

So kam er langsam in den zweiten Stock, und war schon die halbe Treppe zum ersten hinabgestiegen, als er auf einmal den vorgestreckten Fuß wieder zurückzog und sich fest an die Wand drückte, um nicht gesehen zu werden; denn es öffnete sich unten in diesem Augenblick eine Thüre und Jemand kam mit einem Lichte heraus und schritt über den Gang daher, um in die Zimmer zu gelangen, welche hinten nach dem Hofe hinaus lagen, wo der Prinzipal wohnte. – Er war es selbst, er kehrte aus den vorderen Zimmern zurück, und da er die rechte Hand vor das Licht hielt, so warf dasselbe glücklicherweise keinen Schein auf die Treppe zum zweiten Stock, wohl aber beleuchtete es seine Züge auf's hellste und ließ sie deutlich erkennen.

Das Gesicht des Herrn Blaffer war immer das gleiche unangenehme und hagere; nur hatte er jetzt seinen Mund lächelnd geöffnet, seine Augen strahlten heiter und zufrieden, und in allen seinen Mienen sprach sich eine gewisse Befriedigung aus. Seine Haltung und sein Gang dagegen waren ebenso schlaff wie früher; er hatte die Kniee gebogen und schlürfte auf seinen weiten Pantoffeln über den Gang, beinahe ohne die Füße aufzuheben. Als er an die Thüre seines Schlafzimmers kam, nahm er langsam einen Schlüssel aus der Tasche seines langen Rockes, schloß auf, trat in das Zimmer und machte die Thüre wieder hinter sich zu.

Der Andere stand während dieser Zeit regungslos auf der Treppe, und wenn er sich auch im tiefen Schatten befand, so war es doch ein Glück, daß Herr Blaffer nicht zufällig aufblickte, denn er hätte sonst das Leuchten der beiden Augen sehen müssen, die [212] fest und mit schrecklichem Ausdrucke auf ihn gerichtet waren; es war ein Glück, sagen wir, denn auf eine solche Entdeckung wäre vielleicht ein gräßlicher Auftritt gefolgt.

Noch einige Sekunden verharrte der Commis in seiner Stellung, dann schritt er noch behutsamer als früher die weiteren Treppen hinab bis auf den ersten Stock, und dort stand er eine Weile unschlüssig, tief aufathmend, in eifriger Ueberlegung. Neben ihm war die Treppe, die weiter hinab führte, gerade vor ihm befand sich eine Thüre, die ihn mächtig anzog. Doch hatte er sich schon der Treppe zugewandt, um aus dem Hause zu entfliehen, als er einen kleinen Lichtschein bemerkte, der nicht breiter als ein Messerrücken von diesem Zimmer auf den Gang heraus fiel. In dem Gemach auf der andern Seite hörte er jetzt den Prinzipal laut husten, und bei diesem Geräusche machte er einen Schritt gegen die leuchtende Spalte, er that auch noch einen zweiten, dritten und vierten, und endlich stand er dicht vor der Thüre, die, wie er sah, nicht verschlossen war. Sie gab dem Drucke seiner Hand nach, und er trat in ein kleines Zimmer, welches in ein anderes führte, aus dem auch der Lichtstrahl kam, den er vorhin auf dem Gange bemerkt hatte.

Leise näherte er sich dem letzteren, dessen Thüre geöffnet war, und als er jetzt auf der Schwelle stand, sah er in das Schlafzimmer des Mädchens und bemerkte sie selbst, die halb entkleidet auf ihrem Bette saß und die Hand auf dem Schooße gefaltet hatte; und obgleich sie den Kopf tief auf die Brust herabgesenkt, bemerkte er doch, daß sie weinte, denn dicke Tropfen fielen glänzend in dem Strahl des Lichtes auf ihre Kniee herab.

Das Geräusch, das er machte, als er unter die Thüre trat, hörte sie augenblicklich, denn sie erhob den Kopf, erschrak auch wohl ein wenig, doch faßte sie sich gleich wieder, als sie sah, daß es Herr Beil war, der nun langsam in ihr Zimmer trat.

Wenn auch zwischen diesen beiden Leuten nie ein Verhältniß [213] geherrscht, das mit gegenseitiger Liebe etwas zu thun hatte, – obgleich wir wohl wissen, wie er das Mädchen anbetete – so bestand doch zwischen ihnen jener Grad von Vertraulichkeit, der ihnen erlaubte, ihre Geheimnisse einander anzuvertrauen und ohne Scheu über die seltsamsten Dinge sprechen zu können.

Als der junge Mann nun aber einige Schritte vortrat, erschrak sie mehr als bei seinem ersten Anblick, denn sein Aussehen war fürchterlich, seine sonst so ruhigen Züge entstellt, seine Augen roth unterlaufen, seine Blicke glühend. Sie machte eine Bewegung, als wolle sie aufspringen und das Zimmer verlassen, doch als er sich hierauf langsam in eine Ecke zurückzog und ihr die Hände wie beschwörend entgegenstreckte, auch sie bittend, ja stehend ansah, da sank sie wieder auf das Bett zurück, preßte die Hände vor das Gesicht und weinte laut und bitterlich.

»Ja, ja,« sagte er nach einer schrecklichen Pause, »es mußte am Ende so kommen.«

»Ja, es mußte so kommen,« erwiderte das Mädchen mit tonloser Stimme.

»Und es kam so?«

»Ja, es kam so.«

»Und sonst keine Hilfe und Rettung?«

»Keine! – keine!«

»Aber ich hätte doch noch ein wenig widerstrebt,« sprach er mit einem schrecklichen Lächeln und einem eisigen Tone. »Man muß nicht sogleich nachgeben.«

Statt aller Antwort entblößte das Mädchen ruhig und schweigend, in diesem Moment, wie es schien, ohne alle Scheu, ihre linke Schulter, nachdem sie das weiße Nachtkleid vorher auf der Brust geöffnet. Und auf dieser weißen vollen Schulter sah man verdächtige dunkle blaue Flecken. – »Das war die letzte Unterredung,« sagte sie mit einem matten Lächeln.

[214] »Sehr triftig und überzeugend,« erwiderte er, »aber ehe es so weit kam, hätte man noch etwas Anderes thun können.«

»Und was denn?« fragte sie, wobei ihr Auge aufflammte.

»Man hätte zum Beispiel in's Wasser springen können.«

»Ach ja!« entgegnete sie mit einem tiefen schneidenden Wehelaute. – »Ach ja, ich habe das auch gedacht, aber ich hatte nicht den Munz dazu.«

»Das ist freilich etwas Anderes,« versetzte er scheinbar ganz ruhig. »Sie hatten Angst, Marie, weil Sie sich fürchteten, diesen unbekannten Weg allein zu machen. – Aber ich wäre mit Ihnen gegangen, o, so gerne wäre ich mit Ihnen gegangen.«

»Mit mir in den Tod?«

»Mit Ihnen in den Tod! – Und wenn wir zusammen in das Wasser gesprungen wären, so hätte ich nur eine Bitte gehabt; Sie hätten mich dann nur bei der Hand festhalten müssen und sagen: Ich danke Ihnen herzlich, daß Sie mich nicht allein ließen, Sie, mein einziger und treuer Begleiter. – Ein so inniger Dank von Ihnen, wenn auch im letzten Augenblick, hätte mich glücklich gemacht. – Und dann schon die Wonne, mit Ihnen sterben zu dürfen! – Wissen Sie wohl,« fügte er seltsam lächelnd hinzu, »daß ich an einen solchen gemeinschaftlichen Tod die ausschweifendsten Hoffnungen knüpfte? – Daß ich in meiner jetzigen Gestalt wohl nicht geliebt werden kann,« sprach er, indem er an seinem seltsam geformten Körper hinab sah, »weiß ich selbst wohl am besten; aber man läßt ja alles Das hier zurück, und wenn wir Beide so zusammen hinauf geschwebt wären, wer weiß, Marie, ob Sie nicht ruhig Ihre Hand in der meinigen gelassen hätten und ob Sie nicht vielleicht auf die Frage: Willst du mit dieser Seele vereint bleiben? ein lautes und freudiges Ja geantwortet hätten. – Doch genug der Worte, – ich komme, um Abschied zu nehmen.«

[215] »So verlassen Sie wirklich dieses Haus?« fragte erschrocken das Mädchen.

»Heute freiwillig,« entgegnete er; »morgen würde mich der Herr Blaffer vor die Thüre werfen.«

»Und mein Bruder, der so sehr an Ihnen hing –?«

»Hat jetzt den Schutz der Schwester, die allmächtig im Hause ist,« entgegnete er mit Bitterkeit. »Doch will ich an alles Das nicht mehr denken,« fuhr er gleich darauf fort, indem er sich mit der Hand über die Augen wischte; »ich will Sie nur sehen, Marie, wie Sie waren, als ich zu Ihnen, einer himmlischen Erscheinung, aufgeblickt, will es nicht wissen, daß dieß herrliche Bild von schmutziger Hand zerstört wurde, will nur einmal und zum ersten Mal vor sie hinknieen, Ihre beiden Hände ergreifen und sie an meine Lippen drücken.«

Bei diesen Worten hatte er sich zu ihren Füßen niedergeworfen, hatte wirklich ihre beiden Hände ergriffen, und während er sie in seinen schwarzen Bart drückte, träufelten seine heißen Thränen darauf hin. – »So leben Sie wohl, Marie,« sagte er, »möge es Ihnen besser gehen, als bisher; gedenken Sie meiner zuweilen, und wenn Sie noch aus vollem Herzen beten können, so nennen Sie auch meinen Namen, wenn Sie sich nach oben um Erbarmen wenden!«

Damit wollte er sich erheben, doch faßte das Mädchen mit ihren beiden Händen krampfhaft seine Arme und versuchte es, ihn festzuhalten; er dagegen wandte alle Kraft an, sich los zu machen, und wie sie so mit einander rangen, zog er sie empor, da er der Stärkere war; doch ließ sie ihn darum nicht los, sie schlang ihre Arme um seine Schultern, indem sie ausrief: »Gehen Sie nicht so fort, verlassen Sie nicht dieses Haus, Ihr Blick ist schrecklich, Sie haben Entsetzliches vor!«

»Ganz und gar nicht,« entgegnete er, nachdem er sanft ihre Hände los gemacht, sie aber fest in den seinigen hielt, »ich habe [216] nichts Schlimmes vor. – Aber Sie sehen ja wohl,« setzte er hinzu, indem er die Zähne Zusammenbiß, »daß hier meines Bleibens nicht ist, jetzt nicht mehr, und könnte ich damit Millionen verdienen. Sie waren mir eine heilige und reine Blume, deren Anblick, deren süßer Duft mich glücklich machte, Sie waren das Ideal, zu dem ich empor blickte; und nun – ist ja Alles dahin, mein Tempel ist zertrümmert, meine Altäre sind umgestürzt, ich habe nichts mehr, an das ich glauben kann auf der ganzen weiten Welt. – Darum will ich mir Besseres suchen und gewiß, ich werde es finden.« – –

Er ließ ihre Hände los, sie sank laut weinend auf das Bett zurück; nachdem er sie noch mit einem schmerzlichen Blick betrachtet hatte, eilte er geräuschlos durch das Vorzimmer auf den Gang hinaus und die Treppen hinab.

Vielleicht wäre sie ihm gefolgt, um noch einen Versuch zu machen, ihn festzuhalten, aber sie fürchtete, es möchte Jemand im Hause erwachen, und weil sie das fürchtete, ließ sie ihn ziehen, obgleich ihr wohl ahnete, wohin ihn seine Schritte führen würden.

41. Kapitel
[217] Einundvierzigstes Kapitel.
Am Kanal.

Herr Beil eilte durch eine Hinterthüre auf den Hof, und da er hier mit der Oertlichkeit wohl vertraut war, so überstieg er ein paar Zäune und befand sich in kurzer Zeit auf der offenen Straße.

Es mochte nahe an Mitternacht sein, als er so einsam zwischen den Häusern langsamen Schrittes dahin ging; er hatte die Hände auf den Rücken gelegt und war so in tiefe Gedanken versunken, daß er es nicht einmal bemerkte, wie der scharfe Nachtwind, da er ohne Hut war, sein Haar empor lüpfte und von der Stirne wehte. Auf den Weg, den er machte, achtete er nicht, wenigstens blickte er nicht in die Höhe und schien sogar nach einiger Zeit verwundert, als er sich auf einmal durch eine Barrière aufgehalten fühlte, gegen die er hingeschlendert war, ohne gerade heftig daran zu stoßen.

Diese Barrière befand sich ziemlich weit außerhalb des Mittelpunkts der Stadt, in einer öden und verlassenen Gegend, wo nur noch hie und da einige Häuser standen; sie lief am Ufer des Kanals hin und hatte den Zweck, Jemand, der vielleicht sorglos umherspazierte, vor dem Hineinfallen in das Wasser zu bewahren, denn der Kanal war sehr tief und auch ziemlich reißend, da er ein paar hundert Schritte abwärts von dieser Stelle in den Fluß mündete, der eine Seite der Stadt in einem weiten Bogen umschloß.

Unser Nachtwandler lehnte sich mit beiden Armen auf das Geländer und schaute gedankenvoll in das dunkle Wasser hinab. Man mußte das Auge zuerst an die Finsterniß da unten gewöhnen, [218] ehe man bemerken konnte, wie sich der Wasserstrom zwischen den engen Ufern dahin bewegte, oder man mußte abwarten, bis droben am Himmel die fliegenden Wolken zuweilen ein Stück des Mondes oder ein paar Sterne entschleierten, deren Licht alsdann auf das trübe Wasser fiel und es auf Augenblicke erhellte. Das Ohr vernahm schon deutlicher das feindselige Element drunten, denn wie dieses bei den Ufermauern vorbeifloß, schliff es in allerhand Tönen gegen die Steine derselben, rauschte in einer unfernen Ecke, und gluckste dort, Wirbel bildend, als lechze es nach irgend einer Beute.

Lange schaute Herr Beil so hinab auf den Kanal, und immer folgten seine Blicke dem Laufe des Wassers. Es war ihm gerade, als winke es ihm zu folgen, und nachdem er so eine Zeit lang träumend gestanden, hatte er alle Schauer vor einem kalten nassen Tode überwunden und fühlte eine wahre Sehnsucht, den flüsternden Wassern zu folgen. Anfangs rauschte das eintönig an seinem Ohr vorüber; nach und nach kam aber ein gewisser Takt und eine Melodie hinein, eine einfache, kindliche Melodie, welche die Fluthen mit leisem Tone immer und immer fort zu singen schienen. Er hatte sie schon oft gehört, diese Weise, und wie er nun die Hand vor die Stirne legte und darüber nachdachte, so fiel es ihm ein, es sei ja nichts Anderes, als das Wiegenlied, mit welchem ihn die früh verstorbene Mutter so oft in den Schlaf gesungen.

Richtig! das war es; es waren dieselben weichen, schläfrigen Töne, und als er wieder eine Zeit lang hinab gelauscht, da meinte er auch Worte zu vernehmen; nur waren sie anders, als die, welche damals zum Wiegenlied gesungen wurden. Die hier erzählten von einem hellen lichten Tage, dem sie aus der finsteren Nacht entgegen fließen, und von lachenden Gefilden, mit Blüthen und Früchten bedeckt, so unendlich verschieden von dem kalten, schmutzigen Lande, das jetzt ihre Ufer bildete. – Und Ruhe, Ruhe gibt's [219] da unten, flüsterten sie, – angenehme behagliche Ruhe; – komm und folge uns! –

Er beugte sich tief auf das Wasser hinab und dachte auf einmal klar und hell an seine Jugendzeit, wo er sich oftmals im Strome gebadet bei einer Stelle, die besonders reißend war, wo tückische Wirbel Alles in die Tiefe zogen, was er damals als rüstiger Schwimmer nicht beachtet. Aber eines Tags, als er auch wie der so keck hinein sprang, schien sich der Flußgott über diese Verwegenheit zu erzürnen und hielt ihn drunten beim Fuße fest, – das war in der That seine erste schreckliche Idee, als er sich unten gehalten fühlte: in Wahrheit aber war er mit dem Fuße in eine Faschine gerathen und konnte nicht wieder los kommen. Die Sekunden, welche er sich da unten bemüht hatte, den Fuß loszureißen, schienen ihm lange, lange Jahre zu sein; als er aber fühlte, daß es nicht ging, ergab er sich ruhig in sein Schicksal, öffnete weit die Augen und sah tief unten im grünen Wasser mit Verwunderung, wie so seltsam das Sonnenlicht auf der Oberfläche sich spiegelte und strahlte, wie der ganze Fluß einem hellgrünen Kristallgewölbe glich, auf dem sich tausendfache Strahlen brachen, – einem Feenpalast mit unsichtbarer, seltsam klingender Musik, denn auch hier summten und rauschten ihm die Wasser in den Ohren und tönten jenes bekannte Lied; nur ward es schwächer und immer schwächer, endlich wurde die Melodie zerrissen und unverständlich, obgleich die unsichtbaren Sänger immer näher zu kommen schienen, bis sie zuletzt dicht sein Haupt umringten und ihn betäubten mit wilden Tönen, mit Sausen, Rauschen und Klingen, in ganz leiser Weise und doch so eindringlich und verständlich. – Und darauf war er todt, gestorben ohne Schmerz und Klage, – so glaubte er wenigstens damals, in Wirklichkeit aber brachte den Ohnmächtigen ein tüchtiger Taucher an die Oberfläche und somit in's Leben zurück. –

[220] Daran dachte er jetzt, und wie der Wassertod so gar nichts Unbehagliches oder Schreckliches habe. Heute war es freilich dunkel; kein Sonnenstrahl erhellte das Wasser, aber das erschien ihm um so besser; er sah da nichts mehr, was ihn an das freundliche Leben draußen gemahnt hätte, er konnte die Augen getrost schließen, um abzuwarten, bis jener geheimnißvolle Gesang näher und immer näher komme.

Schlafen, schlafen – Ruhe! flüsterte es drunten; und eine andere Stimme sagte etwas dazwischen, was ihm schrecklich war, aber doch wieder Trost verlieh. Er hatte nämlich den Blick einen Moment gegen den Himmel erhoben und bemerkte da einen klaren glänzenden Stern, der strahlend im blauen Lichte die Wolkenmasse durchbrechen zu wollen schien. Dabei hatte er plötzlich an sie gedacht, wie ein Blitz hatte ihr Bild seine ganze Seele erfüllt und darauf grauste es ihm eine Sekunde lang vor dem finsteren Wasser, um ihn gleich darauf wieder mächtiger hinzutreiben. Der Stern verschwand, das Licht in seinem Herzen erlosch, und es war dort wieder nächtlich finster. Er beugte sich abermals über das Wasser herab und sogleich begannen die Wellen wieder ihre beruhigende, verständliche Melodie; schlafen, schlafen – Ruhe! sangen einige, und andere, die vielleicht wußten, daß er ein paar Augenblicke vorher an das Mädchen gedacht, rauschten dazwischen und murmelten: sie wird dir folgen, – sie wird dir gewiß nachfolgen, – o sie kommt auch noch zu dieser Stelle, und wenn sie vor uns zurückschaudert, so singen wir ihr alsdann gerade wie dir heute ein beruhigendes Wiegenlied, und wollen ihr getreulich erzählen, daß du voran gegangen und drüben auf sie warten werdest. – Gewiß, sie kommt, glaube uns, wir sind mitleidig und gut, und wir wollen ihre Seele rein waschen, daß sie es vermag, in herrlicher Klarheit vor dich hinzutreten. – –

Ach! jede Wasserfläche hat für ein tief betrübtes und zerbrochenes [221] Herz etwas so unendlich Beruhigendes und zugleich Verführerisches. Es ist gefährlich, an stillen Wassern vorüber zu gehen, wenn Einem die Seele mit Kummer und Schmerz beladen ist; anfänglich beugt man sich ohne Absicht auf die Fluthen nieder, tiefer und immer tiefer, und kann den Blick nicht mehr wegwenden von der geheimnißvollen Fläche. Ist doch da unten ein ewiges Vergessen zu finden für Alles, was uns hier im Leben geängstigt und bedrückt.

Er, der einsam hier an der Barriere stand, hatte dieselben Gedanken, und sein Auge erweiterte sich, als er nun mit sich im Reinen war und so tief sinnend auf das dunkle Wasser sah. Er vermochte es nicht, den Blick abzuwenden, während er hastig die letzte Scheidewand überkletterte, die zwischen ihm und dem Tode stand. Erst, als er tief athmend sich jenseits derselben befand, brachte er es über sich, noch einen Blick rückwärts zu werfen auf die Stadt, deren Häuser still und finster da lagen. – –

Doch wie er so um sich schaute, faßte er unwillkürlich wieder die Schranke hinter sich fester mit den Händen, denn mit einem unerklärlichen Entsetzen bemerkte er, nicht zwei Schritte von sich, in unbestimmten Umrissen eine Gestalt, die gerade so an der Barrière lehnte, wie er einen Augenblick vorher. Sie war in einen weiten dunkeln Mantel gewickelt und hatte entweder ein Ende desselben um den Kopf geschlungen oder ihn mit einer Kaputze verhüllt, denn man bemerkte weder Schultern noch Hals; das Ganze war nur eine unförmliche schwarze Masse, die aber ein Gesicht hatte, denn Herr Beil sah deutlich zwei Augen glänzen, die ihn forschend zu betrachten schienen.

Daß sich seine Nerven in diesem Augenblick in höchster Aufregung befanden, wird uns Jeder glauben, und ebenso, daß er mehr als überrascht war, hier in der stillen Nacht in tiefer Einsamkeit, wo er sich fern von jedem menschlichen Wesen glaubte, [222] so plötzlich und unverhofft beobachtet zu werden. Seine Seele war noch wenige Momente vorher trotz seines schrecklichen Vorhabens so ruhig gewesen, und jetzt fühlte er mit einem Male sein Herz heftiger schlagen; eine unerklärliche Furcht bemächtigte sich seiner, bannte ihn fest und zwang ihn sogar, fortwährend die beiden leuchtenden Augen zu betrachten, die ihn bewegungslos anstarrten.

Wußte die unheimliche Gestalt, was ihn hieher getrieben, hatte sie sein Inneres ergründet, – konnte es wohl ein menschliches Wesen sein, was so unbeweglich da lehnte, und, wie es schien, auf den Moment begierig war, wo er als Selbstmörder enden würde?

Er wich unwillkürlich einen Schritt auf die Seite, hielt aber das Geländer mit beiden Händen fest, und er vermochte es nicht, den Blick von dem Wesen neben ihm abzuwenden. Seine unerklärliche Angst vor dieser Gesellschaft vergrößerte sich immer mehr, und es ist unbegreiflich aber wahr: er, der einen Augenblick vorher den Tod gesucht, fürchtete sich jetzt, diesem Wesen den Rücken zu kehren, indem er dachte, es könnte vielleicht unvermuthet über ihn herfallen und ihn in den Kanal hinabstürzen.

Aber es blieb ruhig an seiner Stelle; nichts regte sich an ihm; nur blickten die gespenstigen Augen immer herüber.

Was sollte er thun? Er hatte sich mit dem Gedanken an den Tod vertraut gemacht, doch wollte er endigen in stiller, verschwiegener Nacht, aber nicht indem er einen so sonderbaren Zuschauer hinter seinem Rücken ließ, der Gott weiß was beginnen konnte, sobald er in den Kanal gesprungen.

Und das konnte ihm am Ende doch gleichgültig sein! – – Aber es war ihm nicht gleichgültig; er hätte nicht ruhig sterben können bei dem Gedanken, diese seltsamen Augen würden jetzt nach ihm schauen, während er untersinke, und das Wesen selbst eine laute Lache aufschlagen, sobald ihn die Fluthen verschlungen.

[223] Es trat eine peinliche Pause ein, während welcher die Augen immerfort herüber blickten und Herr Beil abermals einen halben Schritt auf die Seite wich.

Endlich machte die Gestalt eine kleine Bewegung, sie richtete sich etwas in die Höhe, man bemerkte, wie sie mit großer Ruhe unter dem Mantel die Arme über einander schlug. Dann sprach sie mit einer tiefen klangvollen Stimme ein einziges Wort, aber dies Wort, an sich unbedeutend, durchzuckte den Körper des Anderen auf eine sehr unangenehme Art.

Die Gestalt sagte nämlich wie Jemand, der lange vergeblich gewartet, mit fragendem Tone: »Nun –?«

»Nun,« wiederholte Herr Beil, indem er scheu auf die Seite blickte. – »Nun? – Was nun?«

»Ich meine, ob es bald vor sich geht,« erwiderte das seltsame Wesen; »ich habe jetzt schon lange genug darauf gewartet.«

»Und was soll vor sich gehen?« fragte schaudernd der Andere mit kleinlauter Stimme. »Ich glaube nicht, daß ich Jemand hieher gerufen, um zuzuschauen, was hier vielleicht geschehen könnte.«

»Gewiß nicht,« sagte die Gestalt, »ich bin nicht mit Worten gerufen worden, aber es zog mich auf eigenthümliche Weise daher, und da ich nun einmal da bin, möchte ich nicht lange mehr vergeblich warten; die Sache könnte wohl vor sich gehen, das Vorspiel war lange genug.«

»Und wer bist du?« fragte Herr Beil mit gesteigertem Entsetzen, »daß es dir ein teuflisches Vergnügen macht, zuzuschauen, wie ein unglücklicher Mensch, dem das Dasein zur Last wurde, seinem traurigen Leben ein Ende macht?«

»Wer ich bin, thut nichts zur Sache,« entgegnete die Gestalt, »vielleicht bin ich der Schutzengel der Selbstmörder und habe die Macht, ihnen ein sanftes Ende zu geben, vielleicht bin ich auch [224] sonst ein Wesen, das besonderen Geschmack an den Narrheiten der Menschen findet.«

»An den Narrheiten der Menschen!« wiederholte der Andere; »kann man wohl eine That Narrheit nennen, deren Beweggründe man nicht kennt und begreift?«

»Jeder Selbstmord ist Narrheit und Feigheit,« antwortete das Phantom, indem es sich abermals behaglich an die Brüstung lehnte. »Nur ein Narr und ein Feiger verläßt freiwillig diese Welt: der Erstere, weil er seine Verhältnisse Herr über sich werden ließ, der Andere, weil er nicht den Muth hat, ein vielleicht trauriges Leben bis an sein natürliches Ende zu tragen.«

»Ah! du fühlst es nicht, wie schwer es ist, von dem Licht der Sonne, von einem Dasein, selbst dem ärmlichsten, Abschied zu nehmen, sonst würdest du eine solche That nicht feige nennen.«

»Der Muth, der vor den Augen der gewöhnlichen Welt vielleicht dazu gehört, eine Pistole vor seiner eigenen Stirne abzubrennen, oder in's Wasser zu springen, ist kein wirklicher Muth; es ist das mehr ein Ausbruch der Verzweiflung, unterstützt von Nervenaufregungen, der so mit einem Schlage ein ganzes Leben hinter sich wirst, weil der Selbstmörder, wie schon gesagt, zu schwach war, um eine lange Reihe von traurigen Jahren zu durchleben.«

»Und du glaubst, es sei kein Fall denkbar, wo der Selbstmord zu entschuldigen sei?« meinte Herr Beil mit bitterem Lachen.

»Zu entschuldigen nie,« entgegnete die Gestalt, »zu verzeihen nur in einem einzigen.«

»Und dieser einzige Fall –?«

»Es ist nicht der deinige.«

»Aber nenne ihn mir.«

»Du wirst ihn vielleicht nicht einmal begreifen, ja du kannst ihn unmöglich verstehen.«

[225] »Wer weiß! Nach den harten Worten, die du vorhin zu mir gesprochen, möchte ich wohl wissen, unter welchen Bedingungen du den Selbstmord entschuldigen würdest.«

»Nun meinetwegen,« sagte die Gestalt, indem sie sich wieder etwas empor richtete; »man solle einem Sterbenden keine Bitte abschlagen, und da du ein solcher bist, so will ich dir meine Ansicht mittheilen. – Das Verbrechen, von dem wir eben sprachen, könnte ich, wie gesagt, nur in einem einzigen Falle entschuldigen, das wäre nämlich, wenn ein Selbstmörder wieder in's Leben zurückgerufen würde und er dann von neuem Hand an sich legte, um so dem Schlimmsten, was einen Menschen treffen kann, dem allgemeinen Hohne, der allgemeinen und verdienten Verachtung zu entgehen.«

»Dem Hohne und der Verachtung!« versetzte der Andere, und seine Zähne klapperten auf einander. – »Aber nein, nein!« rief er nach einer Pause leidenschaftlich, »ich weiß, wer du bist, du bist der Teufel! Du willst mich von meinem Glücke zurückhalten, um die Lust zu haben, mich noch Jahre lang quälen zu können.«

Nach diesen Worten lachte das Phantom laut auf, aber es war ein gellendes, unheimliches Gelächter. – »Nein, nein,« sagte es, »ich bin nicht der Teufel, – vielleicht mit ihm verwandt; die trüben Leidenschaften, die sich deines Gehirns bemeistert haben, lassen dich völlig unklar denken; wenn ich der Teufel nach euren Begriffen wäre, so müßte ich an deinem Schritt meine Freude haben, denn deine Seele wäre mir gewiß und ich bekäme sie bald. – Aber beruhige dich: für euch Selbstmörder gibt es weder Teufel noch Engel, weder Belohnung noch Strafe, und das ist gerade eure Strafe; mit dem Sprung in's Wasser laßt ihr all' eure Hoffnung hinter euch. Diesseits könnt ihr nicht mehr Buße thun, um ein ewiges Leben, an das wir ja Alle glauben wollen, zu erringen; denn ein ewiges Leben, wenn auch voll Noth und Qual, aber doch mit einem Schimmer von Hoffnung, ist [226] nicht für euch: ihr habt das Anrecht daran freiwillig weggeworfen.«

»Ah!« machte der Andere, »das ist eine seltsame Ansicht. Ich hoffe sehr auf eine bessere Zukunft.«

»Aber vergeblich; was du diesseits verachtungsvoll wegwirfst, wird man dir nicht jenseits entgegenbringen. – Aber nun laß uns den unnützen Wortstreit enden. Mache dein Geschäft ab; ich möchte gern nach Hause.«

»So geh' deiner Wege!« rief Herr Beil mit schmerzlichem Tone. »O, wärst du nie gekommen, um mich zu belauschen, Alles wäre nun vorüber, während so –«

»Dein Entschluß wankend geworden ist?« fragte die Gestalt.

»Deine Augen, die so starr auf mich geheftet sind, beunruhigen mich. Ich glaube, während ich in's Wasser spränge, würden sie schrecklich, entsetzlich immer näher auf mich eindringen.«

»Da hast du Recht; das wird auch der Fall sein, denn ich habe mir einmal fest vorgenommen, deinem Ende beizuwohnen, ich interessire mich dafür und werde nicht von der Stelle weichen.«

»Das will ich erwarten,« sprach Herr Beil zähneklappernd, indem er sich an das Geländer lehnte, und, wie es vorhin die Gestalt gemacht, ebenfalls seine Arme, die aber heftig zitterten, über einander schlug.

Es entstand eine längere Pause; endlich sagte der im Mantel mit einem Anflug von Heiterkeit in seiner Stimme: »Mir scheint, wir haben hier Beide vor, eine seltsame Soirée zu begehen. Du bist der Wirth, ich bin zur Komödie eingeladen oder meinetwegen auch unberufen erschienen. Nehmen wir also an, ich sei der Gast, so finde ich es doch nicht mehr als billig, daß du für meine Unterhaltung Sorge trägst. Und dazu will ich dir ein gutes Mittel vorschlagen: erzähle mir deine Geschichte so kurz oder so lang du magst, erzähle mir vor allen Dingen, was dich [227] hieher getrieben, und ich will dir nachher meine offenherzige Meinung sagen, wie groß deine Narrheit eigentlich ist.«

»Und wenn du meine Narrheit, wie du es nennst, alsdann nicht übermäßig groß findest,« entgegnete Herr Beil, »willst du dann ruhig deiner Wege gehen und mich meinem Schicksal überlassen?«

»Das ist eine Bedingung,« versetzte nun wirklich lachend das Gespenst, »und wenn ich sie eingehe, so kann ich das nur thun, indem ich dir ebenfalls eine stelle.«

»So laß hören!«

»Wenn ich zugebe, daß deine Narrheit klein ist, so will ich mir also das Vergnügen versagen, dich in den Kanal springen zu sehen; ist aber deine Narrheit groß, so schiebst du dein Vorhaben auf, bis – wir uns wieder gesehen.«

»Es gilt,« sprach Herr Beil nach längerem Ueberlegen.

Und darauf wandte er sich, obwohl zögernd, gegen die sonderbare Gestalt, die wieder unbeweglich wie vorher an dem Geländer lehnte, und erzählte mit geflügelten Worten seinen traurigen Lebenslauf, wie er schon als Kind mit seiner schwächlichen halbverwachsenen Gestalt der Spielball aller Launen seiner Kameraden gewesen, wie seine Eltern ihn nicht geliebt, sondern gegen die andern Geschwister zurückgesetzt, und wie bei all' den Kränkungen, die er erduldet, das Schlimmste gewesen sei, daß er ein weiches, fühlendes Herz erhalten, das alle Menschen mit inniger Liebe umfaßt, und das nun doppelt schmerzlich empfunden, wie man ihn überall zurückgestoßen. – Seine Leiden vermehrten sich mit den Jahren, man brachte ihn mit großer Mühe als Lehrling unter, und als er ausgelernt hatte, fand sich lange keine Stelle für ihn, er mußte Jahre lang in seinem Geschäfte die niedrigsten Arbeiten versehen, und als er endlich die Stelle erhielt, in der wir ihn kennen gelernt, mußte er sich mit einem Gehalt begnügen, der zu wenig zum Leben, zu viel [228] zum Sterben war; er mußte dabei alle Launen des Prinzipals ertragen und er that das wohlgemuth, bis jene beiden Kinder in das Haus kamen, bis ihm Marie erschien, bis sein Herz durch die Liebe zu ihr so namenlos unglücklich wurde.

Als er in seiner Erzählung an diese letzte Zeit seines Lebens kam, zitterte seine Stimme und die Thränen tropften ihm langsam aus den Augen. Er schilderte mit glühenden Farben seine Liebe zu dem Mädchen und die thörichten Hoffnungen, die er genährt, – Hoffnungen, die er aber gern unterdrückt hätte, wenn sie glücklich geworden wäre. Nun aber kamen jene Vorfälle, und davon sprach er dem Phantome gegenüber mit fieberhafter Hast; es drängte ihn, über diese schrecklichen Stunden hinüber zu kommen. Er erzählte von dem vergangenen Abend, von seiner Unterredung mit ihr, von seinem festen Entschlüsse, das Leben endigen zu wollen, von seinem Gange durch die dunklen Straßen, von seiner Ankunft hier am Kanale und sogar von der Melodie, die ihm das Wasser vorgesungen, von dem alten Wiegenliede – schlafen – schlafen – Ruhe! –

»Und nun bin ich fertig,« sagte er, als er geendet; »aber die Ruhe, mit der ich hierher ging, ist aus meinem Herzen verschwunden. Ich war nicht mehr unglücklich, jetzt bin ich es wieder, o namenlos, namenlos unglücklich! – Und nun sprecht nach Eurer Ueberzeugung, bin ich thöricht oder bin ich es nicht?«

Bei diesen letzten Worten schlug er die Hände vor's Gesicht und beugte den Kopf tief hinab auf das Geländer.

Einige Augenblicke hörte er nichts als das Rauschen des Wassers, dann vernahm er die Stimme des seltsamen Wesens neben ihm; und diese Stimme, bis jetzt hart und scharf, klang nun weich und milde. »Ich habe deine Geschichte angehört,« sagte es »und muß gestehen, daß allerdings viel Unglück darin vorkommt, aber nicht genug, daß ich dir, wie wir bedungen, mit [229] einem Worte die Erlaubniß geben dürfte, dein Leben zu endigen. Denk' daran, was du mir versprochen, lebe, bis wir uns wieder sehen, und glaube mir, wir sehen uns bald wieder. Sei auch versichert, daß du meinem Blicke nicht entgehst, und wenn du je dein gegebenes Wort brechen und doch zum Selbstmörder werden wolltest, so schaue vorher auf die Seite, du wirst meine Augen auf dich gerichtet finden, dich warnend und zurückziehend, wie ich es in dieser Stunde gethan. – Und nun lebe, und lebe so gut du kannst!« –

Damit schwieg die Stimme, und als sich der junge Mann ein paar Minuten nachher empor richtete, um einige Worte zu entgegnen, bemerkte er zu seinem größtem Entsetzen, daß die Gestalt neben ihm verschwunden und nirgends mehr zu sehen war. Und doch hatte er weder einen Tritt noch das Rauschen des Mantels vernommen. Er war wieder ganz allein in der Nacht, Alles um ihn her in tiefe Finsterniß gehüllt, nur der Himmel über ihm sah etwas lichter aus, und der glänzende Stern mit dem bläulichen Lichte strahlte in heller Pracht auf ihn hernieder.

Zu gleicher Zeit schlugen die Kirchenglocken klar und deutlich ein Uhr nach Mitternacht.

42. Kapitel
Zweiundvierzigstes Kapitel.
Spaziergänge des Herrn Sträuber.

Noch in der letzten Hälfte der Nacht, von der wir im vorigen Kapitel erzählten, änderte sich das Wetter; der Wind war nach Osten herumgesprungen, hatte die trüben Wolken vor sich hergejagt [230] und Alles frisch und blank gefegt für eine blitzende Wintersonne, die wenn auch in diesem Monat spät, doch klar und freundlich aufging. – Wie sah in ihrem Lichte Alles ganz anders aus, als gestern im Schatten der Nacht! Da war der Kanal, da die Barrièren, an welchen Herr Beil jene Gestalt gesehen, die ihn glücklicherweise von seinem traurigen Vorhaben abgebracht; aber heute Morgen hatte das Alles durchaus nichts Unheimliches, und wenn jetzt auch noch so viele Wesen in schwarzen Mänteln und mit noch blitzenderen Augen dort gelehnt hätten, es würde sich Niemand weiter um sie bekümmert haben.

Auf dem Wasser des Kanals lag ein heller, freundlicher Schein; seine Ufer hatten sich mit Reif bedeckt, auf welchem die Sonnenstrahlen zahllose Brillanten hervorzauberten. Die kahlen Aeste der Bäume waren auf einer Seite wie vergoldet, während die andere eine bläulich unbestimmte Farbe hatte. Auch die Barrière war hell angestrahlt und warf einen koketten Schatten auf den Weg, der an ihr vorüber führte. Die einzelnen Häuser, die in der gestrigen Nacht so sehr entfernt zu stehen schienen, – denn man sah durch Dunkelheit und Nebel kaum ihre Umrisse, – waren jetzt im hellen Lichte näher gekommen und standen frisch und wohlgemuth da mit ihren glänzenden Fensterscheiben, mit den hohen rothen Dächern, die wie eine Morgenmütze aussahen, und aus deren Spitze der hellblaue Rauch empor wirbelte, – eine lustig aufgesteckte Feder.

Auch an mannigfaltiger Staffage fehlte es nicht: kleine Buben sprangen sich scheu umsehend und eilfertig dem Wasser zu, um nachzuschauen, ob nicht bald für eine solide Eisdecke Hoffnung sei; Hunde aller Rassen machten ihren Morgenspaziergang und trieben sich namentlich in der Nähe der Barrière herum, an der sie jeden Pfuhl beschnüffelten und hierauf zarte Erinnerungszeichen zurückließen; Weiber mit großen Körben voll Wäsche auf dem Kopfe drängten sich an die Treppen, die zum Kanal hinab führten, und [231] hatten einander, ehe sie ihre Arbeit begannen, wichtige Begebenheiten mitzutheilen. Von draußen herein kamen Bäuerinnen und brachten Eier und Butter auf den Markt, sie hatten meistens schon einen weiten Weg zurückgelegt, sahen etwas übernächtig und verschlafen aus, und wenn sie zuweilen tiefaufathmend einen Augenblick stehen blieben, so kam der Hauch aus ihrem Munde wie eine blaue Wolke hervor. – Das ging aber Alles an einander vorüber und Keines bekümmerte sich viel um die Begegnenden; die Buben liefen in das Haus zurück oder auf ihre Spielplätze, die Hunde suchten den warmen Ofen wieder auf und die Wäscherinnen begannen, immerfort plaudernd, ihr Geschäft.

So mochte es vielleicht neun Uhr geworden sein, als von draußen herein gegen die Stadt zwei Leute kamen, die in eifrigem Gespräch neben einander gingen. Es war ein Mann und eine Frau, letztere in der Tracht der Bauernweiber, und daß wir es dem geneigten Leser nur gestehen, Beide gehören bereits zu unserer Bekanntschaft: sie war jene Bauersfrau, welche wir bei Madame Becker gesehen, wo sie der unglücklichen Nähterin den Tod ihres Kindes angezeigt; und wenn wir von dem Manne, der neben ihr ging, sagen, daß er trotz der Kälte des Morgens einen ziemlich dünnen, abgeschabten schwarzen Frack trug, hohe, etwas gelbe Hemdkragen hatte, dazu einen fuchsigen Hut, und daß er mit großem Anstande daher schritt, so wird Niemand mehr im Zweifel sein, daß es der sehr ehrenwerthe Herr Sträuber war, den wir in jener Nacht im Fuchsbau kennen zu lernen das Vergnügen hatten.

Herr Sträuber trug heute zur Vervollständigung seiner Toilette graue baumwollene Handschuhe, auch dampfte in seinem Munde eine Cigarre. Er ging mit großer Würde neben der Frau her, und wenn er so zuweilen im Gespräche steif und wichtig mit dem Kopfe nickte, so gab er sich das Ansehen eines vornehmen Herrn, der zufällig mit einer ganz geringen Person spazieren geht [232] und sich vorgenommen hat, dabei sehr herablassend zu thun. Zuweilen blieb er auch stehen, stemmte beide Arme in die Seite und hob seine Nase gewaltig hoch empor, und dann stellte sich die Frau vor ihn hin, sprach eifrig mit ihm, und je ärger sie mit den Händen gestikulirte, desto ruhiger und würdevoller sah er auf sie herab; dann erfolgte ein abermaliges ernstes Kopfnicken und sie zogen weiter.

Als sie so an die Barrière kamen, wo gestern Nacht der Herr Beil gestanden und wo jetzt die Wäscherinnen lachten und plätscherten, versuchte es Herr Sträuber, einen großen Bogen zu machen, um nicht zu nah bei diesen Damen vorbei zu müssen. Die Bauersfrau achtete aber nicht darauf, daß sie in diesem Augenblicke besonders lebhaft erzählte, sondern sie ging so hart an der Schranke vorbei, daß sie im Eifer ihres Vortrags zuweilen ihre Hand auf dieselbe legte und den darauf gefallenen Reisen herab wischte, der sprühend auf die Erde fiel.

»Bst! bst!« machte eines der Waschweiber, als die Beiden näher kamen, mit leiser Stimme zu den andern, »schaut euch den an, der da kommt, das ist ein Seelenverkäufer, ein Sklavenhändler.«

»Ei der Tausend!« meinte eine andere, die sehr stämmig aussah, »sollen wir ihn nicht ein wenig unter die schmutzige Wäsche tauchen und sauber waschen?«

»Das wäre vergebliche Mühe,« entgegnete die erste; »wenn man den hundert Jahre in den Kanal versenkte, so käm' er doch wieder schwarz wie eine Kohle an Leib und Seele heraus.«

Die Bauersfrau, die diese Worte gehört, ging absichtlich langsam und zuckte verächtlich mit den Achseln. Ihr Begleiter dagegen machte einige lange Schritte, eilte ihr voraus, und als sie ihn in kurzer Zeit darauf wieder eingeholt, spuckte er grimmig aus und sagte: »Diese Bestien!«

[233] »Es weiß aber auch der Teufel,« meinte die Bauersfrau, »woher es kommt, daß Ihr in ein so schlechtes Renommée gerathen seid, und daß Euch alle Welt kennt wie einen bunten Hund.«

»Ich weiß es wohl,« entgegnete er mit zorniger Stimme; »ich kann mich nun einmal mit dem Pack nicht gemein machen; es ist eine Leidenschaft von mir, auf mein Aeußeres was zu halten. Ginge ich in einer schmierigen Jacke einher wie die Anderen, so wäre es freilich besser; aber dazu kann ich mich nun eben nicht entschließen.«

»Ja, ja,« erwiderte die Bauersfrau, indem sie ihn lächelnd von der Seite ansah, »Euer Aeußeres ist schon von dem unsrigen verschieden; aber ich möchte aus Eitelkeit nicht so frieren wie Ihr.«

Herr Sträuber zuckte mit den Achseln, während er entgegnete: »Das versteht Ihr nicht. Leider Gottes! kann ich wohl sagen, bin ich auf einer anderen Stufe als Ihr geboren, und kann das nun einmal nicht verleugnen. Und dann glaubt mir auch, es ist für uns Alle besser, daß auch Jemand, wie ich bin, da ist, mit dem honette Leute ein vertrauliches Wort sprechen können.« – Damit strich er sanft seinen Hemdkragen, zupfte darauf an den Handschuhen und drückte den Hut etwas näher an's rechte Ohr, ehe er fortfuhr: »Deßhalb halte ich es auch für Pflicht, etwas auf meine Reputation zu sehen, und darum wäre besser, Frau Bilz, wenn wir uns hier, wo die Straßen anfangen, für kurze Zeit trennten; in einer kleinen halben Stunde komme ich zu Meister Schwemmer und da sehen wir uns wieder.«

»Mir ist das auch schon recht,« sprach die Frau lachend; »aber haltet Euch nicht zu lange bei Euren vornehmen Bekanntschaften auf und kommt pünktlich.«

Herr Sträuber nickte statt aller Antwort nur, steckte die rechte Hand unter den zugeknöpften Frack und lenkte mit erhobenem [234] Kopfe in eine der breiteren Straßen ein, die hier anfingen; die Frau dagegen verlor sich in eine Seitengasse.

Er schritt mit ruhiger Behaglichkeit weiter, schaute rechts und links an die Häuser, blieb hier vor einem Laden stehen, betrachtete dort einen Augenblick die Leute, welche in's Kaffeehaus gingen oder heraus kamen, und gewann darauf immer wieder die Mitte der Straße, namentlich wo andere Gassen seinen Weg kreuzten. Da blieb er auch wohl einen Augenblick stehen, sa sich forschend nach allen Seiten um und veränderte hierauf nicht selten seine Richtung.

So that er auch jetzt wieder und schoß mit großer Geschwindigkeit in eine Seitenstraße, wobei er den Blick nicht von einer Stelle auf dem Pflaster verwandte. Als er sie erreicht, schaute er um sich her, bückte sich und griff Etwas vom Boden auf, das er hierauf lächelnd in seine Tasche steckte. Es war ein kleines Portemonnaie, das Jemand da verloren haben mußte. Und so war es auch, denn kaum hatte Herr Sträuber einige Schritte weiter gethan, so stürzte aus einem Hause ein junges Mädchen heraus, das sich überall auf dem Boden umsah, und dann auch den im schwarzen Frack im Vorübergehen fragte, ob er nicht Etwas gefunden, worauf dieser begreiflicherweise die Achseln zuckte und bedauernd verneinte.

»Das ist kein schlechter Anfang,« sprach er zu sich selber, als er wieder in eine belebtere Straße eingebogen war, »und da uns der Zufall so günstig ist, so könnte auch am Ende mit leichter Handarbeit Etwas zu verdienen sein.«

So denkend, stellte sich Herr Sträuber wenige Augenblicke nachher vor einen großen Bilderladen, vor dem sich schon eine Menge Personen befanden, und schien sich angelegentlich die Kupferstiche und Lithographen zu betrachten, in Wahrheit aber erforschte er genau die Physiognomien seiner Nachbarschaft, und mochte endlich seinen Mann gefunden haben, denn er schob sich leise hinter [235] einen jungen Herrn, der eine Dame am Arme hatte und eifrig bemüht war, derselben die Schönheit irgend eines großen Blattes zu erklären. Die Dame trug einen mit Pelz besetzten Sammetmantel und einen grauen Muff, aus welchem ein zierlich gesticktes Sacktuch hervor sah.

Herr Sträuber, der voll Enthusiasmus für eine büßende Magdalena zu sein schien, die sich in Kupferstich ebenfalls an dem Fenster befand, drängte sich, dabei sehr um Entschuldigung bittend, zwischen die junge Dame und einen dicken Herrn, der auf der andern Seite stand, worauf denn auch geschah, was er sich gedacht: die Dame in ihrer Artigkeit, wahrscheinlich befürchtend, mit ihrem vorgehaltenen Muff zu viel Platz für sich wegzunehmen, zog die rechte Hand heraus und nahm ihn leicht in die linke, worauf sich Herr Sträuber augenblicklich tief herabbückte, um am Kupferstich der büßenden Magdalena den Namen des Künstlers, der das Blatt gestochen, lesen zu können, zu gleicher Zeit aber auch, um durch einen unbemerkbaren Ruck das reichgestickte Taschentuch an sich zu bringen, worauf er nichts Eiligeres zu thun hatte, als, sich zurückziehend, dem Gedränge zu entschlüpfen und mit möglichster Schnelligkeit in einen benachbarten Laden zu treten, wo er sich von dem gefundenen Gelde eine neue Cigarre kaufte.

Er zündete diese mit äußerster Langsamkeit an, dann fragte er nach dem Preise verschiedener Artikel, ließ sich auch einige Sorten feinen Tabak vorlegen, sprach über dies und das mit dem einfältig aussehenden Ladendiener, und als er fast eine Viertelstunde nachher den Laden verließ und wieder auf die Straße trat, er hatte natürlicherweise vorher auf's Sorgfältigste nach dem Bilderladen hinübergespäht, – fand er zu seinem größten Erstaunen, daß sich ein ganzes Paket Cigarren zufällig unter die Schöße seines Fracks verirrt hatte und nun freiwillig mitgegangen war. Er hielt aber die Sache [236] für zu geringfügig, um deßhalb nochmals in den Laden zurückzukehren.

Hierauf verließ Herr Sträuber die Hauptstraßen und wandte sich den stilleren und entlegeren Stadtvierteln zu. Er schritt gedankenvoll durch eine enge Gasse, die auf einen freien Platz müngete, wo sich eine Kirche befand. Es war dies ein altes Gebäude mit dicken Strebepfeilern, zwischen denen man kleine Kramladen eingebaut hatte. Die Kirche stieß mit dem Chor an ein altes Kloster, das den Platz absperrte, und in welchem sich nur ein langer und finsterer Thorweg befand, der die einzige Verbindung zwischen hier und den hinten liegenden Straßen war. Diesem Eingänge schlenderte Herr Sträuber zu, mit außerordentlich langsamen Schritten und zwar so langsam, daß er ein kleines Mädchen von acht bis zehn Jahren, welches mit einem Körbchen in der Hand vor ihm ging, nicht einmal überholte; doch blieb er dicht hinter ihr und betrat fast zu gleicher Zeit mit der Kleinen das einsame halbdunkle Gewölbe. Dann blickte er scharf ausspähend vorwärts und rückwärts, und als er kein menschliches Wesen weder auf dem Platze noch in der anderen Straße gewahrte, hatte er mit einem Schritt das Mädchen erreicht, faßte es mit raschem Griff fest an ihrem Hals und sagte: »Sobald du schreist, bring' ich dich um!« – Das arme Geschöpf war wie vom Schlage gerührt, und wenn sich auch ihr Mund krampfhaft öffnete, so brachte sie doch keinen Laut hervor, fing aber an leise zu weinen, als er sie nun bis in die Mitte des Thorwegs schleppte, ihr dort mit großer Geschicklichkeit die kleinen goldenen Ohrringe entriß, und dann, ihr nochmals mit der Faust drohend, in raschen Sprüngen entschwand. Hinter dem Gewölbe bog er rechts in eine kleine Gasse, dann links in eine andere, und beeilte sich soviel als möglich, in ein anderes Stadtviertel zu kommen, was ihm auch nach einer kleinen Viertelstunde ungefährdet gelang.

[237] Hier ging er langsamer, zog ruhig seinen Frack in die Taille herab, der ihm bei dem raschen Laufe etwas in die Höhe gerutscht war, richtete auch seine Vatermörder auf und schob den Hut wieder auf die Mitte des Kopfes. Als dies geschehen, betrachtete er die Straße, in der er sich befand, und schlug dann eine neue Richtung ein, die ihn bald in die Nähe des Fuchsbaues brachte. Doch ging er hier vorüber, durchschritt noch einige kleine Gäßchen und kam so in die Nähe der alten Stadtmauer, wo die Häuser lichter wurden und hie und da kleine Gärten zwischen ihnen zerstreut lagen. Auf einen der letzteren schritt er zu; dieser war mit einer ziemlich hohen Mauer umgeben und hatte ein kleines Thor, das nur angelehnt war. Er öffnete es und ging zwischen den kahlen Gartenbeeten einem kleinen und baufällig aussehenden Hause zu, welches eigentlich das Ansehen hatte, als sei es unbewohnt und werde nur von dem Gartenbesitzer als Scheune benutzt. Die Fundamente dieses Hauses mußten auf einer Seite gewichen sein, denn es stand vollständig schief und sah deßwegen sowie auch, weil sämmtliche Fensterladen verschlossen waren, recht trostlos aus. Wenn man es betrachtete, so drängte sich Einem unwillkürlich die Idee auf, es habe sich dort einmal ein Selbstmörder aufgeknüpft, und sei da lange, lange Jahre vergessen hängen geblieben.

Dies Haus wurde in seinen unteren Theilen auch nur zum Aufbewahren von Stroh und alten Geräthschaften benützt, oben schien nur noch ein einziges Zimmer praktikabel zu sein, und das war die Wohnung unseres Bekannten, des Theaterschneider-Gehilfen-Schellinger. Von der Treppe existirten nur noch einige halbmorsche Balken und Bretter, die in ihrer traurigen Gestalt nur sehr undeutlich anzeigten, wo es für einen Wagehals möglich sei, hinauf zu steigen.

Herr Sträuber öffnete dieses Haus, trat hinein und schloß die Thüre wieder sorgfältig hinter sich zu, dann schritt er durch [238] den öden Gang und zu einer hinterm Thüre wieder hinaus auf einen kleinen Hof, an dessen Ende sich ein anderes und besser erhaltenes Gebäude befand.

Augenscheinlich bildete das verlassene Haus vorn eine Art von Schutz und Schirm für das hintere, denn dieses, in einem Winkel der Stadtmauer gelegen, und vorne gedeckt, verbarg sich so vollkommen vor den Blicken aller Unberufenen.

43. Kapitel
Dreiundvierzigstes Kapitel.
Hehlerei.

Nachdem Herr Sträuber durch den Hof geschritten war, klopfte er leise an die Thüre des anderen Hauses; diese wurde augenblicklich geöffnet und er trat in einen Gang und von da in ein Zimmer, in welchem eine sehr unangenehme warme Atmosphäre herrschte. Der Ofen schien übermäßig geheizt zu sein, und es roch hier nach kleinen Kindern, mit deren Reinlichkeit man es nicht gerade sehr genau zu nehmen pflegt.

Frau Bilz saß am Fenster, sie hatte ihren Kopf in die Hand gestützt und sprach mit einem Manne, der neben dem Ofen in einem alten ledernen schmutzigen Lehnsessel ruhte. Dieser Mann war nicht über vierzig Jahre, sah aber aus wie ein kranker Sechziger; er war angethan mit einem dunkeln Schlafrock von nicht mehr zu erkennender Farbe, und seine Füße, die in dicken Filzschuhen [239] staken, lagen über einander auf einen kleinen Fußschemel; auf seinen Knieen hatte er ein rothkarrirtes Schnupftuch ausgebreitet, mit dem er sich häufig die Nase putzte und das er oft vor seinen Mund hielt, wenn er nämlich anfing zu husten, was alle Augenblicke geschah. Es war ein schlimmer Husten, der ihn sehr zu plagen schien; er brachte ihn ganz außer Athem und röthete dann auf Sekunden seine tief eingefallenen bleichen Wangen.

Auf diesen Mann ging Herr Sträuber zu, reichte ihm nachlässig seine Hand und begrüßte ihn, wobei er aber seinen Hut auf dem Kopfe behielt. Jener dagegen nickte ihm lächelnd zu und nahm dann eine Schnupftabaksdose, die neben ihm auf dem Tische stand, öffnete sie und bot dem eben Eingetretenen eine Prise. Herr Sträuber nahm einige Körner und that nur so, als schnupfe er, indem er seine Finger leicht hinauf an die Nase warf, in Wahrheit aber ließ er den Tabak auf den Boden fallen und schnüffelte dazu auf eine unangenehme Art.

»Aber es ist hier verdammt heiß,« sagte er hierauf, während er sich auf einen Sitz am Fenster niederließ, seinen Hut abnahm und mit dem bewußten feinen Spitzentuch, das er aus der Brusttasche gezogen, seine Stirne abtrocknete.

Die Frau neben ihm sah diese Bewegung, und da sie wohl wissen mochte, welcher Art Taschentücher sich der Herr Sträuber gewöhnlich zu bedienen pflegte, so lächelte sie verschmitzt und streckte die Hand nach dem kostbaren Spitzengewebe aus, indem sie sagte: »Was soll der Lappen kosten?«

»Ich habe Euch den Lappen noch gar nicht angeboten,« entgegnete der Andere, während er Miene machte, das Tuch wieder in seine Brusttasche zu stecken. »Ihr seid ein furchtbar rohes und habgieriges Weib, Frau Bilz; aber ich will Euch verzeihen, da Ihr nicht eine Spur von Bildung genossen habt, sonst müßte offenbar dies zudringliche Fragen nach Sachen, die Euch durchaus nichts angehen, mit einem stolzen Stillschweigen beantwortet werden. – [240] Im Uebrigen kostet das Tuch zwei Gulden, nicht einen Kreuzer weniger.«

»Zwei Gulden!« lachte die Frau mit geringschätzender Miene, erfaßte aber eifrig einen Zipfel des fraglichen Gegenstandes, um ihn näher zu betrachten.

»Halt da!« sprach Herr Sträuber mit großer Gelassenheit, »zwei Gulden und dann das Tuch.«

»Aber ich darf es doch vorher ansehen?«

»Nicht die Idee einer Tertie vorher; das Tuch hat zehnmal so viel wirklichen Werth. – Dann kommt es auch,« setzte er seufzend hinzu, »von einer schönen Herzogin, die –«

Der Mann am Ofen wollte laut hinaus lachen, brachte es aber nur zu einem gräßlichen Hustenanfall; worauf sich der Andere geringschätzend nach ihm umwandte und verächtlich die Achseln zuckte.

»Nun, ich will Euch was sagen,« meinte Frau Bilz, »für das Tuch gebe ich Euch einen Gulden, und lege noch dreißig Kreuzer darauf für das Andenken an die schöne Herzogin. – Hier ist klingendes Geld, nehmt es, denn ich weiß, daß Ihr sehr auf dem Trockenen seid.«

»Da irrt Ihr Euch,« entgegnete gelassen Herr Sträuber und zog das gefundene Portemonnai heraus. »Seht her, wie ich bei Kasse bin, – das Honorar eines Clienten, für den ich einen schwierigen Prozeß gewonnen; es handelte sich dabei um nichts Geringeres, als die ersten Advokaten des Gerichtshofes total hinter das Licht zu führen. – Ich that es.«

»O weh! er hat Geld,« rief die Frau; »da kostet mich das lumpige Tuch zwei Gulden.«

»Und vierundzwanzig Kreuzer,« sagte gravitätisch Herr Sträuber; »sein Werth steigt mit jedem Zaudern.«

»Nun denn, in's Teufels Namen, gebt her!« versetzte ärgerlich [241] das Weib, warf einen Fünffrankenthaler auf den Tisch und zog dann das Tuch hastig an sich. – »Das sind vier Kreuzer weniger, das hält uns an einander.«

Bei diesen Worten breitete sie das Tuch gegen das Licht aus, und als sie sah, daß es vollkommen unversehrt war, steckte sie es schmunzelnd ein.

»Braucht Ihr auch Ohrringe?« fragte Herr Sträuber nach einer kleinen Pause, während welcher er aus seiner Cigarre mächtige Züge gethan. – »Fast neue goldene Ohrringe.«

»Auch von einer Herzogin?«

»Nein, Herzoginnen tragen nur Brillanten. Doch wie solltet Ihr das wissen? Diese Ohrringe ließ ich für ein Pathchen von mir machen, sie waren aber etwas zu groß ausgefallen, und nun will der Spitzbub von Juwelier sie nur für den Goldwerth zurücknehmen. – Da sind sie.«

»Ei!« rief der Mann am Ofen, »Goldsachen! – Das ist mein Geschäft; laßt die Finger davon, Frau Bilz, und begnügt Euch mit Euren Lumpen. – Gebt mir die Ohrringe einmal her!«

»Hier sind sie,« sagte die Frau; worauf sie dem Meister Schwemmer die Ringe gab. »Aber Euer Pathchen,« wandte sie sich hierauf an Herrn Sträuber, »muß ein recht ungewaschenes Ding sein: von einmaligem Anprobiren sind die Ohrringe schon ganz angelaufen! – Da ist auch ein Blutflecken.«

»Laßt mich aus mit Euren Dummheiten!« schnaubte sie Herr Sträuber an. – – »Blut, Blut! Mit Eurem miserablen Gewäsch! Ihr wißt wohl, daß ich das nicht leiden kann.«

»Richtig,« sprach der Mann am Ofen, »er kann das nicht leiden, kann's auch weder sehen noch riechen, das hat er bei vielen Veranlassungen bewiesen. – Nun, ihr braucht Euch nicht zu ärgern, es ist einmal Eure Art so, Ihr habt Sympathien für schöne Herzoginnen, aber nicht für das Dreinschlagen.«

Meister Schwemmer hustete hierauf gewaltig, dann erhob er [242] seinen Knotenstock und klopfte damit auf ein Blech hinter dem Ofen, worauf eine Weiberstimme aus dem Nebenzimmer sogleich fragte: »Was gibt's denn?«

»Bring' mir den Probirstein und die Goldwage.«

Bei dem Schlag auf das Blech war der Herr Sträuber erschrocken zusammen gefahren. Wahrscheinlich hatte das Gespräch von Blut seine Nerven irritirt, denn er warf hastig seinen Kopf herum und murmelte alsdann etwas von rohem Volk, von Mangel an Erziehung und Bildung und vom Unglück eines honetten Menschen, der durch Ungunst der Verhältnisse gezwungen sei, unter solcher Canaille zu leben.

»Das Gold ist gut,« sagte Meister Schwemmer, »sechzehnkarätig; ich zahle Euch dafür einen Gulden und dreißig Kreuzer; und wahrhaftig nur so viel, weil der Blutflecken daran ist; seit ich meinen Bluthusten habe, macht es mir doppeltes Vergnügen, dergleichen auch von Anderen zu sehen. – Wollt Ihr einen Gulden und dreißig Kreuzer?«

»Meinetwegen! meinetwegen!« versetzte hastig Herr Sträuber, »obgleich ich den bittersten Schaden daran habe, denn mich kosten sie sechs Gulden.«

Beide Theile schienen indessen mit dem gemachten Handel wohl zufrieden zu sein. Herr Sträuber strich sein Geld ein und Meister Schwemmer polirte mit dem rothkarrirten Taschentuch eifrigst an den Ohrringen, bis sie wieder in hellem Glanze strahlten.

Es trat hier eine Pause ein, nur zuweilen unterbrochen von einem leisen Husten des Mannes am Ofen, oder von einem Geklapper im Nebenzimmer, wo das Weib, welches vorhin die Goldwage gebracht, mit allerlei Kesseln und Eisenwaaren herumhantirte; dazwischen hindurch vernahm man zuweilen, aber aus weiterer Entfernung, das halb unterdrückte Geschrei von kleinen Kindern, bald ein lautes Aufkreischen, bald leises Wimmern derselben.

»Ich bin auf neun Uhr herbestellt,« sagte endlich Herr Sträuber [243] »jetzt ist es wenigstens halb Zehn. Was soll ich eigentlich und warum muß ich unnütz warten? Ihr wißt, daß meine Zeit kostbar ist.«

»Wir wissen das,« entgegnete ruhig Meister Schwemmer, »und da Ihr nichts umsonst thut, so braucht Ihr auch nicht aufzubegehren.«

»Aber was soll ich denn?«

»Der Mathias wird gleich herkommen; es ist wieder ein artiger Transport bei einander, und den soll er in den nächsten Tagen fortführen. Ihr wißt, daß wir immer was Schriftliches mit einander machen, und da wir Eure geübte Feder kennen, so sollt Ihr das Nöthige aufsetzen und nebenbei wieder einige Briefe schreiben über die Gesundheit und das Wohlergehen der Kostkinder.«

»Das Erstere meinetwegen,« versetzte finster Herr Sträuber, »aber die Briefe zu schreiben ist mir unangenehm; ich lüge nicht gern. – Auch muß ich sagen, daß ich mit jedem Anderen gerner zu thun habe als mit dem Mathias; wir passen nicht zu einander.«

»Das ist wahr,« lachte Frau Bilz, »Ihr lebt immer wie Hunde und Katzen mit einander.«

»Sagen wir lieber, wie Katze und Maus,« meinte Meister Schwemmer hustend, »denn wenn Ihr den Mathias erblickt, so seht Ihr Euch gleich nach einem Schlupfwinkel um.«

Herr Sträuber wollte etwas Heftiges erwidern, doch hielt er sich im nächsten Augenblick die Ohren zu, zuckte zusammen und verzog das Gesicht auf eine höchst unangenehme Art. Seine zarten Nerven waren durch das erneuerte Kindergeschrei unangenehm berührt worden, das sich jetzt in den verschiedensten Tönen und wahrhaft ohrenzerreißend vernehmen ließ.

Meister Schwemmer klopfte wieder auf das Blech und rief hinüber: »Was ist denn das heute Morgen für ein niederträchtiges Geheul? Schaff' doch in's Teufels Namen einmal Ruhe! – Wo ist denn die Katharine, das schlampige Weibsbild?«

[244] »Ich habe sie ausgeschickt,« entgegnete die Stimme im Nebenzimmer. »Kann ich doch den Bestien da draußen nicht beständig eine eigene Magd hinstellen; ich möchte wissen, wo das herein kommen sollte!«

»Geh' Sie einen Augenblick hinaus, Frau Bilz,« sagte Meister Schwemmer, »bring' Sie die Rangen zur Ruhe!«

Die Frau am Fenster erhob sich und trat in das Nebenzimmer, wo sich Madame Schwemmer befand, ein altes, schmutzig aussehendes Weib; sie hatte einen abgeschossenen Rock an, eine gelb gewordene Schlafjacke, ihre bloßen Füße staken in niedergetretenen Schuhen, und auf dem Kopfe hatte sie eine alte Haube, unter der nach allen Richtungen das graue, zerzauste Haar hervorstand. Das Gesicht der Dame paßte vollkommen zur ganzen Erscheinung, das einzige Lebhafte in demselben waren ihre unheimlich glänzenden Augen, die aber in einigem Rapport zu der stark gerötheten Nase zu stehen schienen, – einer Röthe, die erklärbar war, wenn man die Schnapsflasche betrachtete, die vor der Frau stand, und wenn man die Düfte roch, die ihrem Munde entströmten, wenn sie sprach.

Madame Schwemmer stand in diesem Augenblicke vor einer Fallthüre, die sich im Boden befand und die in irgend einen Keller oder sonstiges Gelaß führte, und war beschäftigt, dort hinunter allerlei alte Geräthschaften, namentlich Eisen- und Kupferwaaren, zu werfen.

»Geh' Sie einen Augenblick in den Stall!« rief sie der eintretenden Frau Bilz entgegen, »nehm' Sie aber die Peitsche mit, dort hängt sie am Nagel; hau Sie drunter wie unter altes Eisen, da verdient Jedes seine Schläge; – kann das Volk nicht einmal eine halbe Stunde allein und ruhig sein!«

»Aber die kleinsten Kinder schreien auch,« entgegnete die Frau, »und da hilft das Prügeln nicht viel.«

»So schaut einmal dort auf dem Herde nach, da muß die [245] Katharine ihren Mohnblumenthee stehen haben. Gießt ihnen davon etwas in's Maul, damit sie wieder einduseln.«

»Aber wenn sie heute Morgen schon bekommen haben, so könnte es ihnen doch zu viel werden.«

»Ach! denen wird's nicht zu viel,« entgegnete Madame Schwemmer; »ich sage Euch, Frau, je weniger man sich aus dem Zeug macht, und je schlechter man es behandelt, um so besser gedeiht's. Nehmt nur die Peitsche und den Thee!«

»Na, was das Gedeihen anbelangt, da wollen wir lieber still schweigen.«

»Gedeihen?« erwiderte Madame Schwemmer verwundert. »Allerdings gedeiht's, das heißt, wie es für uns gedeihen muß, so langsam in den Himmel hinein. Man wird die Geschöpfe doch nicht aufziehen sollen bis sie groß sind? Da käme man weit mit seinem Geschäft; da muß eins dem andern Platz machen, das gibt neues Eintrittsgeld; und an den Begräbnißkosten ist auch was zu verdienen.«

Frau Bilz ging achselzuckend nach der Thüre, drehte sich aber unter derselben herum und sagte: »Und das Eine ist auch drüben? – das, welches ich vor acht Tagen hergeliefert?«

»Allerdings,« versetzte Madame Schwemmer, indem sie ihre Schnapsflasche hastig verbarg, die sie an den Mund führen wollte, sobald ihr Jene den Rücken gewendet. – »Das ist zäh wie Eisen, sieht auch nicht viel schlechter aus wie damals, als Ihr es hergebracht; Ihr hattet es offenbar zu gut gehalten. Ich weiß wohl, Ihr könnt nicht anders, deßhalb taugt Ihr auch zu dem Geschäft gar nicht.«

»Ich habe es auch gänzlich aufgegeben,« sagte Frau Bilz mit einem seltsamen Blick. Und damit ging sie zur Thüre hinaus, in der einen Hand die Peitsche, in der andern den gewissen Thee, der auf arme kleine Kinder betäubend wirkt und mit welchem gewissenlose Wärterinnen dieselben in einen unruhigen und nervenzerstörenden Schlaf versenken.

[246] Die Frau ging durch den halbdunkeln Gang, wobei sie die Hausthüre in ihrem Rücken ließ und am Ende desselben rechts an eine Thüre kam, an der von außen ein großer Riegel vorgeschoben war.

Dies war der Stall, wie sich Madame Schwemmer ausdrückte. Und gewiß, er verdiente diese Benennung.

Es war ein viereckiges, ziemlich niederes Gemach mit einst weiß gewesenen Kalkwänden, die aber nach und nach von all' dem Duft, der hier herrschte, eine gelblich graue Farbe angenommen hatten. Da nur ein einziges Fenster in diesem Zimmer war, dessen wenige Scheiben noch obendrein trüb angelaufen hie und da in gelbem und grünem Schimmer spielten, so war das Gemach verhältnißmäßig ziemlich dunkel, aber hell genug, um all' das Elend übersehen zu können, welches sich hier dem Blicke darbot.

Dritter Band

44. Kapitel
[7] Vierundvierzigstes Kapitel.
Eine Kleinkinderbewahranstalt.

In diesem Zimmer waren sechs Kinder, von denen drei kleine im Alter von nahe an einem Jahr auf elenden, zerrissenen und durchfeuchteten Strohsäckchen lagen, die sich im Hintergrunde auf einem Schragen befanden. Eine einzige geflickte Decke war über alle drei ausgebreitet und zu beiden Seiten mit Bindfaden festgebunden, was verhindern sollte, daß die Kinder, die sehr, sehr oft allein waren, ihre Bedeckung nicht von sich strampelten. Das war ihnen denn auf diese Art allerdings unmöglich, dafür aber hatten sich die zwei außenliegenden, vielleicht von Schmerzen geplagt und ohne Hilfe allein gelassen, nach allen Richtungen herum geworfen, und so war es denn gekommen, daß sie auf beiden Seiten so weit heruntergerutscht waren, daß ihre nackten, entsetzlich mageren Füße und Beine über den Strohsack herabhingen und der Kopf unter der Decke stak, wodurch die armen Geschöpfe Gefahr liefen, erstickt zu werden.

Das mittlere dieser unglücklichen Kinder lag aber um so ruhiger, und zwar so regungs- und bewegungslos, daß die eingetretene Frau, nachdem sie die beiden anderen etwas zurecht gelegt, [7] sich eifrig um dieses beschäftigte. Es durchzuckte sie seltsam, als sie ihre Hand auf die Stirne des Kindes legte und darauf unter das zerrissene Hemdchen fuhr, um nach dem Herzschlag zu forschen. Die Stirne war feucht und kalt, und das Herz schlug wohl noch, aber oftmals machte es lange Pausen, und dann öffnete das Kind die bläulichen Lippen und zog gurgelnd eine Idee von Athem in die kleine Brust.

»Da ist nichts mehr zu machen,« sprach die Frau zu sich selbst, indem sie die Hände übereinander schlug und das arme Wesen einige Sekunden lang betrachtete. »Du hast nächstens ausgelitten.«

Bei ihrem Eintritte in das Zimmer hörte das Geschrei der drei größeren Kinder plötzlich auf. – Es waren dies zwei Buben und ein Mädchen. Der älteste der Buben, vielleicht sechs Jahre alt, hatte im Verein mit dem anderen, der fünf zählen mochte, den vergeblichen Versuch gemacht, die beiden Kinder auf den Seiten aus ihrer erstickenden Lage zu befreien, und da dies nicht gelungen war, hatten sie beide ein großes Geschrei erhoben.

Das Mädchen war vielleicht etwas über zwei Jahre alt und gekleidet in ein blaues, verschossenes und zerrissenes Wollenkleidchen; es saß neben der Thüre am Boden, hatte den Kopf auf die fast unkenntlichen Ueberbleibsel eines hölzernen Pferdes gelegt, dessen Hals es mit seinen Aermchen umklammerte. Es zitterte, wahrscheinlich zugleich vor Angst und Kälte, und duckte sich tief herab, als es die Frau mit der Peitsche hereintreten sah. Im nächsten Augenblicke aber mußte das Kind wohl bemerkt haben, daß es nicht das rothe Gesicht der Madame Schwemmer war, welches sie anblickte, sondern ein ihr bekanntes, ja befreundetes. Es erkannte wohl die Frau Bilz, welche es bisher gepflegt, ehe es in diesen schrecklichen Aufenthaltsort gekommen, und nun zuckte in seinen matten Augen ein seltsamer Blitz empor; vielleicht war es die Erinnerung an bessere Tage, vielleicht war es die Hoffnung, es werde wieder von hier fort genommen werden, genug, – das Kind hob [8] seinen Kopf empor, öffnete die Augen so weit als möglich und fing dann an bitterlich zu weinen.

»Ja, ja, ich bin es,« sprach Frau Bilz, deren Herz eine augenblickliche Rührung durchzuckte, indem sie sich zu dem Kinde niederbeugte. »Sei ruhig, ich bin's ja, es soll dir auch nichts zu Leide geschehen.«

»Aber du hast doch die Peitsche mitgebracht,« sagte der ältere Knabe, während er sich trotzig vor die Frau hinstellte und sie keck ansah.

»Vielleicht für dich,« entgegnete diese, »denn du bist wohl nicht anders zu zwingen.«

»Hier nicht,« versetzte trotzig das Kind. »Früher that ich Alles, was man von mir haben wollte.«

»Aber du siehst, wie es dir alsdann geht,« fuhr Frau Bilz fort; »sie haben dir zur Strafe deine guten Kleider genommen, und jetzt mußt du in den Lumpen da einher gehen.«

»Das ist wahr,« entgegnete der Knabe, indem eine augenblickliche Bewegung seine Züge überflog, »meine Kleider haben sie mir gestohlen, geschlagen werde ich ebenfalls, auch friert's mich und ich habe Hunger, aber das wird Alles noch einmal aufhören, wenn ich groß bin, und dann wartet nur!«

»Und was geschieht dann?« fragte die Frau und erhob ein klein wenig ihre Peitsche, aber nur zum Drohen, nicht zum Schlagen.

»Was dann geschieht? – Das will ich dir sagen: dann gehe ich hinaus auf die Straße und suche meinen Vater und dann wehe euch Allen!«

»Ja, das würde ich auch thun,« entgegnete die Frau achselzuckend; »aber bis die Zeit kommt, rathe ich dir, dich ruhig zu verhalten, sonst wirst du noch viel mehr Schläge kriegen.«

»Dann wehre ich mich,« sagte trotzig der Knabe.

»Und womit?«

»Ich beiße,« erwiderte er. Und damit öffnete er den Mund [9] und zeigte seine kleinen weißen Zähne, die vor Zorn zusammen klapperten.

Der andere Knabe hatte sich scheu in eine Ecke gedrückt. Es war das eine wahre Jammergestalt mit dem Aussehen eines alten Zwerges. Spärliches Haar bedeckte seinen spitzen Schädel, seine Augen waren tief eingesunken, und die Unterlippe seines großen Mundes hing schlaff herab. Er blickte ängstlich auf die Peitsche und kroch, ohne ein Auge davon abzuwenden, langsam rückwärts, bis er unter dem Schragen verschwand, auf dem die kleinen Strohsäcke lagen.

Frau Bilz hatte sich zu dem Mädchen niedergekauert und zuerst das Kleidchen betrachtet, das noch vor kurzer Zeit gut und frisch gewesen war, dann hatte sie kopfschüttelnd weiter untersucht, seine Haare, sein Hälschen, in dem sich tiefe rothe und wunde Streifen zeigten, und dann seine Füße, die aufgeschwollen zu sein schienen.

»Zieht man dich Abends nicht aus?« fragte sie zögernd nach einer Pause.

Das Kind blickte sie überrascht an und schien ihre Frage nicht zu verstehen.

»Mich hat man nur ein einziges Mal ausgezogen,« sagte der Bube, indem er näher trat und die Hände und Arme heftig über einander schlug, um sich zu erwärmen, »nur ein einziges Mal, als man meine Kleider gestohlen. Die aber haben sie noch gar nicht ausgezogen; ich habe wohl versucht, ihr die Stiefel aufzuschnüren, aber es ging nicht, die Knoten an den Riemen sind mir zu fest. Die Frau da drinnen mit der rothen Nase hat's auch einmal probirt, aber sie ließ es ebenfalls bleiben, denn sie sagte: es ist nicht der Mühe werth, man bekommt doch nichts für das schlechte Schuhwerk.«

»Das hätte ich gesagt, du Galgenstrick?« rief in diesem Augenblick Madame Schwemmer, die leise eingetreten war. Darauf [10] stemmte sie ihre Arme in die Seiten und fuhr fort, indem sie sich an Frau Bilz wandte: »Habt Ihr je ein so böses kleines Thier gesehen? Ein völlig wildes Thier, – er beißt!«

»Ja, er beißt,« entgegnete der Knabe, »aber nur Euch.«

»Wart, ich will dir's vertreiben!« schrie das halb betrunkene Weib und ergriff die Peitsche, welche Frau Bilz neben sich gelegt hatte. Doch faßte sie unglücklicherweise den Riemen statt des Griffs, und da sie nun in blinder Wuth auf das Kind losschlug, so traf sie es mit dem ersten Streiche so heftig auf den Kopf, daß ihm das Blut augenblicklich über eine Seite des Gesichts herab lief.

Der Knabe stand einige Sekunden wie angedonnert, vielleicht auch von dem Hiebe etwas betäubt, dann aber zuckte er auf einmal zusammen, sprang in die Höhe und schoß wie eine wilde Katze auf das Weib los, ergriff plötzlich deren Hand, hielt sie fest und biß so stark hinein, daß sogleich das Blut heftig floß.

Jetzt erhob Madame Schwemmer ein mörderisches Geschrei und tobte in ihrer Wuth um so ärger, als sie sich mit Hilfe der Frau Bilz vergeblich bemühte, den wüthenden Knaben von sich abzuschütteln. Dieser ließ ihren Arm nicht los, sondern er hatte sich mit seinen Fingern und Nägeln fest daran geklammert und bleckte immerfort die Zähne, während er mit dem Kopfe bald hierhin bald dorthin fuhr. Dabei flammten seine Augen, sein Mund schäumte, und es war zu gleicher Zeit schrecklich anzusehen, wie das Blut aus seiner Kopfwunde langsam über sein zerrissenes graues Wamms herabrieselte.

Auf das Zetergeschrei der Weiber ließen sich bald im Gange, der zu der vordern Stube führte, schwere Tritte vernehmen, die eilig näher kamen, und im nächsten Augenblicke trat ein großer breitschultriger Mann unter die Thüre, der kaum gesehen, um was es sich handelte, als er mit einem lauten: »Hollah, Bursche, [11] was gibt's denn da?« den Knaben am Nacken faßte und in die Höhe hob.

Dieser, die mächtige Faust fühlend, ließ augenblicklich seine Hände los und schaute scheu auf die Seite, um seinen Angreifer zu erkennen.

»Nun,« fuhr dieser fort, »was ist denn hier wieder für eine Teufelswirthschaft? – Zwei erwachsene Weibsbilder, und können nicht einmal mit einem einzigen Knaben fertig werden! – Ah! der Kopf des Buben da sieht gut zugerichtet aus. – Was hat's wieder gegeben? – He, Hexe!« Damit wandte er sich an Madame Schwemmer, nachdem er vorher den Knaben ruhig auf den Boden niedergesetzt.

»Was wird's gegeben haben!« entgegnete die Hauswirthin und hielt ihre verwundete Hand empor. »Das Thier da hat mich gebissen.«

»Nachdem Ihr ihn vorher so über den Kopf gehauen?« sagte der Mann, indem er die Arme über einander schlug und das Weib mit einem finsteren Blick fest ansah. »Ihr bringt's doch noch so weit, daß es wahr wird, was die Leute von diesem verfluchten Hause sagen: es sei dies eine Mördergrube. – Pfui Teufel!« fuhr er mit leiser Stimme fort, während er dicht an sie hintrat, »Ihr miserables, betrunkenes Weibsbild!«

Die Finger der Madame Schwemmer krallten sich vor Wuth zusammen, und sie zuckte mit der Hand, als wollte sie dem Mann in das Gesicht fahren.

Doch hob dieser verächtlich die Achseln und sprach nach einer Pause: »Nun möchte ich aber doch wissen, was es denn eigentlich wieder gegeben hat? – Sprecht Ihr, Frau Bilz!«

»Na, was wird's gegeben haben!« versetzte diese in einiger Verlegenheit, »der Bube sagte allerlei garstige Dinge über die Frau.«

[12] »Und was hast du gesagt, Bube? – Ich rathe dir, sprich die Wahrheit!«

»Das thu' ich immer,« erwiderte trotzig der Knabe. »Und auch vorhin habe ich es gethan, als ich erzählte, man habe mir meine Kleider gestohlen und man würde dem kleinen Mädchen da am Boden auch seine Schuhe genommen haben, wenn es der Mühe werth gewesen wäre. Und das hat das Weib mit der rothen Nase selbst gesagt.«

Madame Schwemmer wollte bei dieser ungebührlichen Schilderung ihrer Person abermals mit der Peitsche auf das Kind losfahren.

Doch streckte der Mann seinen Arm dazwischen und sprach: »Seid jetzt ruhig,« worauf er sich wieder an den Knaben wandte: »das sind häßliche Reden; wenn du dergleichen aussagst, so wird man dich prügeln, bis du kein Glied mehr rühren kannst.«

»Und wenn man mich so arg schlägt, werde ich abermals beißen,« entgegnete der Knabe.

»Mich auch?« fragte der Mann, indem er einen Schritt näher auf ihn zutrat.

»Euch nicht, aber das Weib; denn das Weib mit der rothen Nase schlägt auch auf uns los, wenn wir Alle nichts gethan haben, und nicht blos auf mich, sondern auch auf die andern Kinder, die nie ein Wort sprechen. – Seht mich nur so an und hebt Eure Peitsche, es ist doch wahr und ich sag' es auch. – Wenn sie herein kommt und hat eine rothe Nase, so schlägt sie gleich auf uns los, und wenn wir ganz ruhig in einer Ecke bei einander sitzen und ganz stille sind. – Wir dürfen nicht sagen, daß wir Hunger haben, und auch nicht, daß uns friert.«

»Ja, ich glaub's,« murmelte der Mann zwischen den Zähnen.

»Und dann,« fuhr der Knabe fort, indem sich seine kleinen Finger vor Wuth öffneten und schlossen, und seine Stimme wie vor dem Ausbruch eines heftigen Weinens zitterte, »was habe ich gethan, [13] daß man mich hier einsperrt? Habe ich nicht in der Schule gelernt wie die andern Kinder auch, und bin ich unartiger gewesen als diese? – Nein! nein! nein! Der Lehrer hat mich belobt und hat gesagt, ich sei fleißig und könne meine Sache mit am besten machen. – Nun bin ich schon vier Wochen hier eingesperrt, habe keinen von meinen Kameraden gesehen und kein Lesebuch, keine Rechentafel und nichts. – Aber ich weiß schon, was ich hier soll: sie will mich todt machen, wie – wie –«

»Wie was?« schrie Madame Schwemmer, welche einen neuen vergeblichen Versuch machte, auf den Knaben loszustürzen. »Wie was? – du Thier!«

»Ja, todt machen will man mich,« sagte der Knabe ermuthigter, denn er sah, daß ihn der Mann schützte. »Todt machen will man mich, wie dort das kleine Kind.«

Das Weib warf einen schrecklichen Blick um sich, und Frau Bilz schlug die Augen zu Boden.

»Wie – was?« fragte der Mann im höchsten Erstaunen, indem er sich dem Holzschragen näherte, wo allerdings das Kind in der Mitte in den letzten Zügen zu liegen schien. – »Das sieht jammervoll aus,« sagte er zu Frau Bilz, die ihm gefolgt war. – »Teufel auch! Ihr hättet doch wohl ein besseres Gelaß finden können als dies Loch hier, es ist ja nicht einmal ein Ofen da. – Und dann der Geruch! Ich bin doch mein Lebtag schon in viel Spelunken gewesen, aber so was habe ich doch noch nicht erlebt. – Nehmt Euch in Acht! nehmt Euch in Acht! Erfährt er von der Geschichte einmal ein Wort, so ist es um Euch geschehen, darauf könnt Ihr Gift nehmen. – Hier muß freilich Alles zu Grunde gehen; und dazu Euer elendes Essen und Trinken, da braucht kein Mensch nachzuhelfen und den armen Würmern sonst etwas thun.«

»Aber sie thut's doch,« flüsterte der Knabe dem Manne zu, als er sah, daß ihn Madame Schwemmer nicht beachtete, sondern [14] das verscheidende Kind anblickte. »Gestern, wie es fortfuhr zu schreien und nicht stille sein wollte, hat sie es mit der Peitsche in die Seite gestoßen.«

»Bst!« machte ebenso leise der Mann, indem er mit der Hand herum fuhr und dem Knaben den Mund zuhielt. – – »Dort ist nichts mehr zu helfen,« sagte er achselzuckend mit lauter Stimme. »Aber laßt jetzt das Schlagen sein und gebt wenigstens für heute Ruhe.«

Er wandte sich nach der Thür, um fortzugehen.

»Und ich muß hier bleiben?« rief der Knabe mit einem herzzerreißenden Tone der Verzweiflung; »ich werde wieder eingeschlossen und soll nicht wieder nach Haus dürfen zu der alten Frau Fischer, die ich so lieb gehabt?«

»Wir wollen sehen, was sich machen läßt,« entgegnete der Mann. »Heute kann ich nichts für dich thun, aber sei ruhig und verständig, so will ich an dich denken, das verspreche ich dir.« – Damit winkte er der Frau Schwemmer, ihm zu folgen, und verließ das Gemach.

Draußen auf dem Gange blieb er stehen und sprach zur Hauswirthin, die gefolgt war: »Ich will Euch nur sagen, daß ich öfters hier Inspektion halten werde; das ist ja eine wahre Schande, wie Ihr Eure Sachen betreibt. Habt Ihr denn keine Furcht, daß Euch einmal der leibhaftige Teufel holt? – Weib! Weib! so was ist mir noch nie vorgekommen. Nehmt Euch in Acht! – Und jetzt laßt die Bilz da bei dem Kinde und sorgt ihr Beide für den armen Wurm, was zu sorgen ist; nehmt Euch aber in Acht, daß ich von dem Zimmer kein lautes Wort mehr vernehme, keinen Schrei oder dergleichen. Glaubt mir, ich habe feine Ohren und will sie offen halten.«

Damit ging er in die vordere Stube.

Das Weib blickte ihm einen Moment mit unsicherem Blicke nach, dann schwankte sie zurück in den Stall und sagte dort zu [15] der Frau Bilz, die sich über das Kind niedergebeugt hatte: »Ihr solltet eine Stunde da bleiben und nach ihm sehen. Wenn Ihr was braucht, so könnt Ihr's meinetwegen haben. Aber macht mir keine unnöthigen Kosten, da ist doch nichts mehr zu helfen, das müßt Ihr selbst einsehen.«

Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer wieder und taumelte in ihre Küche.

Die Frau Bilz, die zurück blieb, schüttelte den Kopf und sagte still für sich, indem sie das Kind betrachtete: »Nein, nein, da ist mit allen Schätzen der Welt nicht mehr zu helfen.« Doch sah sie umher, und als sie am Ende des Schragens ein altes wollenes Tuch erblickte, nahm sie es auf, faltete es zusammen und schob es dem Kinde unter das Köpfchen, das noch einmal seine Augen aufschlug und die Frau mit einem seltsamen Blicke anstarrte. Das kleine Kind hatte schöne blaue Augen, und als es so in die Höhe sah, waren sie von einem eigenthümlichen Ausdrucke beseelt; es war das letzte Aufflackern der Lebensgeister, welche noch einmal in den bis jetzt so matten Blicken glänzten und unendlich viel sagen zu wollen schienen. Es war wie eine schmerzliche Anklage über sein elendes, armes Leben, oder auch wie ein Dank für die Hilfe, welche ihm die Frau in diesem letzten Augenblicke geleistet. – Das dachte diese sich auch, als sie es betrachtete und diesen ersterbenden Blick bemerkte. Er drang in ihr Herz und preßte es krampfhaft zusammen. Sie seufzte tief und schmerzlich auf, als nun das Kind zum letzten Male den Athem von sich blies und darauf die Augen gläsern wurden und aussahen, als habe die Hand des Todes plötzlich einen weißen Staub darauf gestreut; da beugte sie sich tief herab auf die kalte Stirne, und nachdem sie lange so gelegen, glaubte sie, es erwärme sich wieder. Aber es waren nur ihre eigenen heißen Thränen, die über die kalten Wangen und blauen Lippen der kleinen Gestorbenen herab rannen. – – – –

Sie kannte dieses Kind wohl, aber bis zu dem jetzigen Moment [16] war ihr das kleine Geschöpf gänzlich bedeutungslos gewesen, wie so viele dieser armen Kinder, die schon durch ihre Hände gegangen waren. Nun aber trat vor ihr inneres Auge der Anfang und das Ende dieses kleinen armseligen Lebens. Und der Kontrast desselben war fürchterlich. – Ja, sie hatte dieses Kind gekannt, sie hatte es gesehen, hatte es in ihren Armen gewiegt, nachdem es erst wenige Tage alt war. – Es war das eine eigenthümliche Geschichte, die, obgleich sie nicht neu ist, doch Jedem, der sie hört, das Herz erbeben macht, – namentlich Anfang und Ende. Die Mutter dieses Kindes war ein reizendes, frisches, blühendes Mädchen, die Tochter bemittelter Eltern; der Vater war ein reicher und vornehmer junger Mann. Beide sahen sich zufällig, er zeichnete sie aus, er ritt auf prächtigen Pferden bei ihrem Fenster vorbei, und sie, ohne auf die Ermahnung ihrer Eltern zu hören, lächelte ihn an, blickte ihm nach und gewährte ihm endlich heimliche Zusammenkünfte, wie das in der Welt so der Brauch ist, und wie man es anfänglich als nichts Schlimmes betrachtet. – Da kam eines Tages der Fasching mit seiner tollen Lust und Freude, mit seinen Bällen, Maskeraden und sonstigen Vergnügungen, welche das Herz betäuben und die Sinne aufregen, und in einer Nacht besuchte das Mädchen im reizenden Maskenanzug einen jener Bälle, wohl unter der Aufsicht einer befreundeten Familie, aber sehr entschlossen, sich dieser Aufsicht so bald als möglich zu entziehen. – Und das that sie denn auch; er hatte für ein heimliches Winkelchen in der Nähe gesorgt, wo sie unbemerkt zusammen sitzen, wo sie über Liebe plaudern und feurige Küsse austauschen konnten. – Sie befanden sich in einem reichen Kabinete und saßen neben einander auf schwellenden Kissen von schwerem krachendem Seidenstoffe; des Mädchens Augen blitzten, ihre Wangen waren sanft geröthet von einem Trunke feurigen Weines, den sie aus seinem Glase nehmen mußte; Spiegel und Vergoldungen bedeckten die Wände, – es war [17] das ein Moment der Herrlichkeit und der höchsten Lust, während in dem nicht weit davon entfernten Tanzsaale die tolle, begeisternde Musik ertönte, während man das Lachen der Tanzenden vernahm und laute Rufe des wildesten Vergnügens. – – Da begann dieses arme kleine Leben, da begann es in Glanz und Pracht auf seidenen Kissen, um hier zu endigen unter Noth und Elend, um hier auszulöschen auf einem hölzernen Schragen, auf einem halb verfaulten und vermoderten Lager von Stroh. – Die unglückliche Mutter hatte das freilich nicht erlebt: sie war zur rechten Zeit gestorben, und er hatte die Stadt verlassen, achselzuckend, aber bald getröstet über das kleine Unglück, das er angerichtet; er hatte allerdings seinen Geschäftsmann beauftragt, für die gute Unterkunft des Kindes zu sorgen, ohne sich aber weiter um dieses zu bekümmern, – und nun war es, so vortrefflich untergebracht – elend gestorben. Gewiß aber dachte er noch zuweilen an jenen Maskenball und an das unglückliche, unschuldige Mädchen, das ihm Alles und sich selbst geopfert. Gewiß tönte noch zuweilen in seinen Ohren jene rauschende Musik, die ihm zur höchsten Lust aufgespielt. – Gewiß aber drang auch manchmal ein seltsamer, schrecklicher Ton durch diese Melodieen; gewiß sah er zuweilen, wenn er an jene Nacht dachte, einen kleinen Schatten langsam vor sich aufsteigen, ein kleines, bleiches, verkümmertes Wesen, das mit geschlossenen Augen bis dicht vor ihn hinschwebte und ihn dann plötzlich mit seinem starren, glänzenden Blicke gespensterhaft anschaute. – – – –

45. Kapitel
[18] Fünfundvierzigstes Kapitel.
Sklavenhandel.

Herr Sträuber hatte unterdessen im vorderen Zimmer einige Korrespondenzen besorgt, deren Inhalt ihm Meister Schwemmer oft nur mit wenigen Worten, manchmal aber sehr ausführlich vorgesagt. Der Letztere zog bei diesem Geschäfte häufig einige vergilbte Papiere zu Rath, die auf seinen Knieen und dem rothkarrirten Sacktuch ausgebreitet lagen. Diese Schreiben waren meistens an Angehörige und Bevollmächtigte, welche der Madame Schwemmer für Rechnung Anderer Kostkinder anvertraut hatten, gerichtet, und sehr verschiedener Art, der Zweck sämmtlicher aber, für den Unterhalt der armen Geschöpfe so viel Geld als nur immer möglich herauszupressen. Bald mußte eine neue nahrhafte Kost angewendet werden, bald sogar eine eigene Amme oder Wärterin; und da man genau wußte, was die Empfänger der Schreiben am liebsten hörten, so hieß es darnach auch: »Die Gesundheit des Kindes bessert sich mit jedem Tage,« oder: »Es siecht langsam dahin und scheint uns trotz der sorgfältigsten und kostbarsten Pflege rettungslos verloren.« – Es ist traurig, das sagen zu müssen: aber die meisten Schreiben waren in letzterem Sinne abgefaßt.

Während diese Korrespondenz geführt wurde, stand jener Mann, der vorhin im Kinderzimmer Ruhe gestiftet, mit gespreizten Beinen an einer Seite des Ofens und pfiff zuweilen eine Melodie leise vor sich hin, horchte auch wohl hie und da, wenn Herr Sträuber las, ohne aber bei dieser Veranlassung dem Leser selbst einen Blick zu schenken. Dies war Mathias, den man, wie sich der geneigte Leser erinnern wird, vorhin erwartet.

»Jetzt kommt das wichtigste Schreiben,« sagte Meister [19] Schwemmer, »und es ist am besten, wenn ich das Wort für Wort in die Feder diktire. Es betrifft das Mädchen, welches, wie mir heute Morgen meine Frau sagte, recht schlecht sein soll.«

»O, der ist in diesem Augenblick gewiß sehr wohl,« meinte Mathias.

»Wie so?«

»Weil sie wahrscheinlich jetzt ausgelitten hat. – Schade, da entgeht Euch ein gutes Kostgeld.«

Meister Schwemmer machte eine Bewegung der Ungeduld und schaute den Anderen von der Seite an, als wenn er sagen wollte: was bekümmerst du dich darum? Dann entgegnete er mit mürrischem Tone: glaubt das nur nicht, die kleine Kreatur ist seit einem halben Jahre so; alle Augenblicke glaubt man, sie werde sterben, und auf einmal ist sie wieder fidel wie ein Wiesel, hat sie doch schon einmal vierzehn Tage wie todt gelegen.

Mathias zuckte stillschweigend die Achseln und pfiff einige Takte des Jungfernkranzes.

»Die hat uns Alle zum Besten,« fuhr Meister Schwemmer fort, »das kann ich Euch versichern; gebt Acht, die reißt sich noch durch.«

»Oder Ihr sorgt dafür, daß Ihre Stelle bald besetzt wird.«

»Pfui, Mathias!« versetzte Meister Schwemmer, indem er lachte und dann in einen mächtigen Husten gerieth. – »Geschäfts-Geheimnisse! Wer wird darüber sprechen; über die schweigt man.«

»Nur Eins begreife ich nicht,« fuhr Mathias fort, ohne auf diese Bemerkung zu achten, »wie es Euch immer so gelingt, andere Kinder unterzuschieben. – Wie macht Ihr das eigentlich? – Na, geht mit der Sprache heraus!«

Meister Schwemmer rückte auf seinem Stuhle ungeduldig hin und her, dann sagte er: »Das ist Sache der Weiber; was geht das mich an!«

»Nun, mich geht's im Grunde auch nichts an,« erwiderte Mathias; »es war nur so eine Frage.«

[20] »So gebt denn Achtung, Sträuber,« unterbrach Meister Schwemmer hastig diese unanegnehmen Erörterungen. – »Schreibt also: verehrtester Herr Doktor! – Das Geld für den letzten Monat habe ich richtig empfangen und danke Ihnen noch besonders für die Zulage, – im Namen des armen Kindes –«

»Im Namen des armen Kindes,« wiederholte Herr Sträuber, indem er sein linkes Auge zukniff.

»Der Gesundheitszustand desselben,« fuhr Meister Schwemmer fort, »ist immer noch derselbe: das Kind ist ein kränkliches und sehr schwaches Wesen, dessen Dasein nur gefristet werden kann durch die sorgfältigste Pflege und Behandlung.«

»Durch die sorgfältigste Pflege und Behandlung,« sagte Herr Sträuber.

»Sie können sich gar nicht denken, welche Mühe und Sorgfalt meine brave Frau darauf verwendet. – Aber trotz allem Dem muß ich Ihnen mit schwerem Herzen gestehen, daß dem Kinde ein langes Leben unmöglich prophezeit werden kann; es sei zu schwächlich auf die Welt gekommen, behauptet unser Arzt, der mehrere Mal in der Woche kommt.«

»Der mehrere Mal in der Woche kommt, – Punkt,« sprach lachend Herr Sträuber.

»Ganz richtig: Punkt,« fuhr der Andere fort. »Wir wissen ja, hochverehrtester Herr Doktor, daß Ihnen Alles daran gelegen ist, dem Kinde eine gute Existenz zu verschaffen, und daß hiezu nach Ihren öfteren Schreiben keine Kosten gespart werden sollen. Deßhalb sah sich denn meine Frau veranlaßt, dem Kinde ein eigenes Zimmer zu geben –«

»Ein eigenes Zimmer.«

»Und eine Wärterin,« fuhr Meister Schwemmer ärgerlich fort, denn er bemerkte, wie sonderbar Mathias lächelte.

»Und eine Wärterin,« wiederholte Herr Sträuber.

Mathias lachte laut auf und wandte sich nach dem Mann [21] um, der neben ihm saß, wobei er demselben auf eine recht unverschämte Art in's Gesicht sah.

»Zu allem Dem nun,« diktirte Meister Schwemmer weiter, »reicht das gewöhnliche Kostgeld lange nicht hin, und müßten wir schon ganz gehorsamst bitten, uns die Zulage, die wir schon seit zwei Monaten erhalten, auch fernerhin zukommen zu lassen. Sich damit ganz ergebenst und gehorsamst zu empfehlen.«

»Ganz ergebenst und gehorsamst zu empfehlen,« sagte Herr Sträuber, indem er mit einem großen Schnörkel schloß und sich alsdann weit in seinen Stuhl zurücklehnte, um die Wirkung der ganzen Schrift aus der Entfernung beurtheilen zu können. Darauf reichte er den Brief ohne aufzustehen nach dem Ofen hinüber, und da ihn der Mann auf seinem Stuhle nicht gut erreichen konnte, so machte Mathias die Mittelsperson, indem er ihn dem Herrn Sträuber abnahm und dem Anderen einhändigte.

»Aber Eins erklärt mir doch,« sprach er kopfschüttelnd. »Es muß doch hie und da vorkommen, daß irgend Einer, dem Ihr solche Wische schreibt, nun auf einmal absichtlich herkommt, um zu sehen, wie so ein Kind gehalten ist. Wie redet Ihr Euch nun da heraus? – Schaut mich nur nicht so mißtrauisch an, Ihr kennt mich ja und ich Euch; wir verrathen uns nicht, wollen auch nichts von einander erpressen, und noch viel weniger wird es mir je in den Sinn kommen, selbst ein Kosthaus für kleine Kinder anzulegen. Ich habe an dem Transport meiner halbgewachsenen vollauf genug, obgleich das Volk bei mir immer lustig und guter Dinge ist, denn sie bekommen zu fressen, was in sie hinein geht. – Aber wie gesagt, laßt mich hören, wie bringt Ihr das hinaus?«

Meister Schwemmer kannte seinen Mann und wußte wohl, daß da keine Ausreden helfen und er mit der Sprache heraus müsse. Deßhalb sagte er: »Nun ja, was wird da zu machen sein! Solche Nachforschungen finden wohl zuweilen statt, aber meistens [22] gehen sie in die dritte und vierte Hand, und da hilft man sich so durch.« – Er machte die Bewegung des Geldzählens. – »Kommt aber irgend Jemand, der Einem geradezu auf den Leib geht, so hat man seine Leute in der Nachbarschaft, die für ein Billiges recht gern erlauben, ein anständiges Zimmer und ein gut aussehendes kleines Kind zu zeigen. – Ja, ich versichere Euch, die kommen oft mit Vorurtheilen zu uns, denn sie haben allerhand munkeln gehört von schlechter Behandlung unserer Kostkinder, und führt man sie dann in ein solides Haus, da sind sie gleich vor den Kopf geschlagen.«

»Diese Kniffe sind nicht schlecht,« entgegnete der Andere. – »Aber wenn zufälligerweise eine Mutter kommt, um sich nach ihrem Kinde umzusehen? Der werdet Ihr doch in aller Ewigkeit nicht ein fremdes Kind für ihr eigenes unterschieben wollen.«

»O mein lieber Mathias,« erwiderte der Mann am Ofen, nachdem er sich mit dem Sacktuch langsam den Mund abgewischt, »das kommt bei den Kindern selten oder nie vor, daß sich die Mutter nach ihnen erkundigt. Entweder ist die schon längst gestorben, ist in schlechten Verhältnissen, wo unsere Behandlungsweise vollkommen genug für das geringe Kostgeld ist, oder sie befindet sich in einem glänzenden Leben, und da ist sie froh, wenn sie von der Vergangenheit nichts zu hören und zu sehen bekommt.«

Mathias hatte nachdenkend die Hände auf den Rücken gelegt und wiegte seinen Oberkörper hin und her.

»Ei, sagt mir doch,« begann er nach einer längeren Pause, während welcher Herr Sträuber den Brief zusammen gefaltet und Meister Schwemmer die Adresse geschrieben hatte, da war ich vorhin hinten in Eurer – Kinderstube und sah da ein recht flottes Bürschlein – einen netten trotzigen Kerl; er hatte gerade Euer Weib in die Finger gebissen, weil sie ihn mit dem Peitschenstiel über den Kopf gehauen. Und das Blut schien ihn gar nicht zu geniren –

[23] »Es floß Blut?« unterbrach ihn erschrocken Herr Sträuber.

»Blut genug, mein Schatz,« entgegnete der Andere trocken. – »Aber trotz seines unbändigen Betragens gefiel mir das Kerlchen. – Hat's mit dem eine eigene Bewandtniß, oder ist er auch da wie die anderen, zum Fortschicken? – Das Letztere sollte mich freuen, und da käme es mir auf ein paar Thaler nicht an.«

Meister Schwemmer zuckte die Achseln und versetzte: »Den gäbe ich Euch gern umsonst, das ist ein unbändiges Geschöpf. Ich fürchte immer, er zündet uns noch einmal das Haus über dem Kopfe an. – Aber ich darf nicht, ich muß ihn behalten!«

»Wie so?« fragte Mathias. »Was hat's da für einen Haken?«

»Das läßt sich nicht gut sagen, und ist das eine ganz eigenthümliche Geschichte, über die ich selbst noch nicht recht im Klaren bin. Der Bube da hinten hat, so viel ich merke, eine sehr vornehme Mutter; Ihr könnt das auch wohl dem ganzen Gestell des Kindes ansehen; sein kleiner geschmeidiger Körper ist allerliebst gewachsen, sein Gesicht hat eine schöne Form und seine Hände und Füße sind zart und klein.«

»Das ist wahr,« sagte Mathias nachdenkend. »Und dabei hat die Kröte schon eine erstaunliche Kraft; ich habe das vorhin gemerkt.«

»Wißt Ihr, unsereins,« fuhr Meister Schwemmer fort, »dem so viel dergleichen Bälge durch die Hand gehen, merkt gleich am Ganzen, ob etwas dahinter ist oder nicht. Man sieht's an der Figur, am Gesicht, ja an der Art des Schreiens. Das Meiste nun, was zu uns kommt, ist Halbblut, wißt Ihr: vornehmer Vater oder vornehme Mutter. Der Bube aber ist Vollblut, darauf könnt Ihr schwören.«

»Wenn aber beide Eltern vornehm und reich wären, warum nehmen sie sich des Kindes nicht an und wollen es hier bei Euch elend verkümmern lassen? – Nehmt mir nicht übel, aber das ist doch das Ende von all' den armen Teufeln hier.«

[24] »Die Mutter dieses Kindes,« versetzte Meister Schwemmer, »war, wie Ihr Euch wohl denken könnt, noch ein Mädchen, als es auf die Welt kam. Der Vater konnte sie vielleicht nicht heirathen, – was weiß ich? – genug, sie beschlossen auch, den Buben sehr gut und anständig erziehen zu lassen, setzten ihm, glaube ich, ein kleines Vermögen aus, endlich aber heirathete die Mutter dieses Knaben einen anderen, aber sehr vornehmen Herrn.«

»Aha!« machte Mathias.

»Das sind aber schon einige Jahre her, und anfänglich ging Alles gut. Weiß aber der Teufel, zuletzt muß der Gemahl dieser Dame etwas über die Geschichte erfahren haben, legte sich auf Nachforschungen, ließ wahrscheinlich viel Geld springen und kam der Sache so ziemlich auf die Spur. Das erfuhr die Mutter, sie that ihrerseits ebenfalls Schritte, nahm den Buben aus dem Hause weg, wo er bisher verwahrt war, und da wurde er nun, um mich meines früheren Ausdrucks zu bedienen, durch die dritte und vierte Hand hieher zu uns gebracht.«

»Aber man zahlt doch ordentlich für ihn?«

»O ja, recht ordentlich; aber man knüpfte daran die Bedingung, ihn fest verwahrt zu halten und –« schloß Meister Schwemmer hustend und lachend – »das thun wir redlich, wie Ihr gesehen habt.«

»Hol' Euch der Teufel!« erwiderte der Andere, »das thut Ihr freilich. Aber wie schon gesagt: nehmt Euch mit dem Knaben in Acht! Der bricht Euch einmal aus, rennt in die Stadt und plaudert die ganze Wirthschaft aus.«

»Seid unbesorgt,« meinte der Hausherr, »wir wollen ihn schon mit Hunger und Schlägen mürb machen, und wenn es nicht anders geht, so lege ich ihn an die Kette wie einen tollen Hund. Oh! solchen Burschen sind wir noch gewachsen!«

Herr Sträuber hatte während dieser Unterredung anscheinend theilnahmlos zum Fenster hinaus geschaut, doch war ihm nicht ein [25] Wort entgangen. – »Eine reiche und vornehme Frau,« dachte er, »die den Buben zu verbergen trachtet, und ein ebenfalls vornehmer und reicher Mann, der ihn finden möchte, – das sind ein paar Kunden, die für eine thätige Hilfe gewiß tüchtig bezahlen werden. Da wäre nur noch zu überlegen, wer am meisten springen läßt; – und dann thäte man dabei ein gutes Werk,« tröstete er sich selber, »denn es ist doch unverantwortlich, ein Kind, das bisher gut erzogen wurde, bei solchem Schandvolke zu lassen. – Pfui Teufel!«

In diesem Augenblick öffnete sich die Thüre und die Frau Bilz trat herein. Sie sah blaß und niedergeschlagen aus, und ein aufmerksamer Beobachter hätte auf ihrem Gesichte Spuren von Thronen bemerken können und vielleicht darnach geforscht. Aber da hier Niemand war, der sich um solche Kleinigkeiten bekümmerte, so setzte sie sich stillschweigend auf ihren alten Platz an das Fenster hin, blickte gedankenvoll in die Stube und legte die Hände in den Schooß.

»Jetzt können wir auch an unser Geschäft gehen,« sprach Mathias. »Ich habe nur warten wollen, bis die Frau kam, denn sie muß mich dieses Mal eine Strecke Wegs begleiten.«

»Richtig! richtig!« versetzte Meister Schwemmer; »wir haben Mädchen bei dem Transport, so ein Stück vier. – Also laßt hören, Mathias, was braucht Ihr noch?«

»Der von C. schrieb mir vor einigen Tagen, es sei eine passende Gelegenheit da, eine größere Anzahl hinüber zu bringen, auch könnte er sehr gut im Ganzen ein Stück zwanzig plaziren, natürlicherweise über die Hälfte Buben; sechs, höchstens acht Mädchen dürfen darunter sein.«

»Doch nur Mädchen unter zehn Jahren,« sagte Herr Sträuber, der unterdessen ein Papier aus der Tasche gezogen hatte.

»Versteht sich,« entgegnete der Hausherr, »die über sechzehn [26] gehören in ein ganz anderes Register und können viel vortheilhafter in der Nähe untergebracht werden.«

»Davon nachher!« versetzte Mathias. – – »Um nun den Transport vollzählig zu machen, fehlen mir noch ungefähr zehn Buben, aber es müssen ansehnliche Kerle sein. – Was habt Ihr nun für mich im Auge, und welche Preise wollt Ihr machen? Seid aber billig, denn wir leiden doch alles Risiko: wenn wir abgefaßt werden, ist nicht nur alles Geld hin, sondern es könnte uns auch leicht an den Kragen gehen.«

Meister Schwemmer nahm ruhig eine Prise, dann nickte er mit dem Kopfe und sagte pfiffig lächelnd: »Ja, ja, die Gefahr ist groß, aber nicht so sehr für Euch, wie für mich. Ihr seid gedungen worden, mit den Kindern zu reisen, – was wißt Ihr mehr von der Sache? Ihr thatet nur, was man Euch befohlen, aber an Unsereinem bleibt's hängen. Ihr, Mathias, seid ein rüstiger Mann, ohne Anhang: Ihr schlagt Euch im Nothfalle durch ein halbes Dutzend Polizeidiener durch, gewinnt das Freie, haltet Euch ein halbes Jahr versteckt und seid ein Mann bei der Stadt wie vorher. – Aber seht mich an: ich bin ein armer kranker Kerl, der sich kaum vom Stuhle rühren kann, habe auch noch eine große Wirthschaft am Hals, eine Wirthschaft, bei der es mir sehr unangenehm wäre, wenn die da droben einmal ihre Spürnase hinein steckten.«

»Wozu das Gefasel!« erwiderte Mathias ärgerlich. »Sagt, was Ihr habt und Eure Preise, ich brauch' es ja nicht zu nehmen, wenn es mir nicht ansteht. Und daß Ihr mich schindet, wo Ihr könnt, weiß ich ohne Eure Vorrede. Also heraus mit der Sprache! Könnt Ihr mir ein Stück zehn Buben verschaffen?«

»Seid nur nicht immer so stürmisch!« sagte der Andere. Und dabei zog er unter seinem Sitze ein Papier hervor. »Man meint immer, wir wollen uns am Halse fassen, und scheiden doch meistens als die besten Freunde. – Hier ist eine artige Liste'« fuhr er nach[27] einer kleinen Pause fort, während welcher er in das Papier geblickt, »aber da nicht viele Kinder dabei sind, die keine Eltern mehr haben, so kommt die Sache etwas höher zu stehen.«

»Gebt her,« sprach rasch Mathias, indem er das Papier in die Hand nahm und durchflog. – »Die vier Ohren hier kosten nicht viel, aber für die andern sechs finde ich den Preis unverschämt gestellt. – Da Einer mit vierzig Thalern.«

»Dessen Stiefmutter ein tüchtiges Geschenk verlangt hat.«

»Da Einer sogar mit sechzig Thalern.«

»Ist schon zehn Jahre alt und hat eine Schwester, die an ihm den Narren gefressen hat. Kostet mich an zwanzig Thaler für Briefe und Zeugnisse, um zu beweisen, daß der Bube in eine gute Lehre kommt.«

»Wird sich wundern,« brummte Mathias, während er an den Fingern rechnete. Dann ließ er die Hand mit dem Papiere sinken und sagte: »Aber daß sie Alle gerade gewachsen sind, dafür steht Ihr mir natürlich ein.«

»Versteht sich von selbst,« erwiderte Meister Schwemmer. »Ihr zahlt überhaupt nicht eher, als bis der ganze Transport bei einander ist und Ihr Alles durchgemustert habt. – Na, macht kein so finsteres Gesicht; es ist und bleibt doch ein gutes Geschäftchen.«

Mathias hatte die Hände auf den Rücken gelegt und blickte gedankenvoll durch das Fenster in den kleinen Hof.

Frau Bilz, welche gerade vor ihm saß, schaute aufmerksam in seine düsteren Züge, und ihre Hände, die bis jetzt über einander lagen, falteten sich langsam zusammen.

»Ich muß überhaupt schon gestehen,« sagte Mathias nach einer Pause, »daß mir dieses Geschäft vollkommen entleidet ist; es ist doch das Niederträchtigste, was ich kenne, – ein förmlicher Sklavenhandel, und ein Sklavenhandel, weit schlimmer wie der, den sie drüben in Amerika betreiben. Dort wechselt so ein armer Teufel von Schwarzem oder so ein Kind nur seinen Herrn; der [28] eine ist ein bischen besser, der andere ein bischen schlimmer, aber ihr Leben bleibt sich im Allgemeinen gleich; sie müssen freilich arbeiten, sie bekommen auch wohl ihre Schläge, doch an Leib und Seele werden sie darum nicht schlechter, und wenn sie auch durch ein Dutzend der verschiedenartigsten Hände gegangen wären. Aber bei dem Sklavenhandel, den wir betreiben, ist es ganz, ganz anders.«

»Ja, ja,« sprach die Frau beistimmend.

»Was wird aus den Geschöpfen, die wir in ein fremdes Land hinüber führen? Bekommen sie vielleicht einen Herrn, der für sie sorgt, der sie zur Arbeit anhält, der sie lehrt und im Nothfalle auch nährt? – Nein! nein! gewiß nicht! Die Buben werden nach und nach Bettler von Profession, Halunken, Spitzbuben, Räuber und Mörder, und die Mädchen – na! Denen geht's noch viel schlimmer. – Das versichere ich Euch, Meister Schwemmer, alle Thaten unseres Lebens, die wir im Dunkeln verübt, alle die zusammen genommen werden einmal nicht so schwer wiegen, wie der Jammer eines einzigen dieser unglücklichen Geschöpfe, wenn es am Ende eines elenden, sündhaften Lebens verkommen und jammervoll hinter irgend einer Hecke zum Teufel fährt.«

Die Frau nickte stumm mit dem Kopfe, und Herr Sträuber, der, so lange Mathias in der Nähe war, außerordentlich wenig sprach, schien ihn trösten zu wollen, indem er sagte: »Man muß das nicht so genau nehmen bei dem Mathias; er hat seine schwachen Augenblicke, nachher hat er doch wieder Alles vergessen.«

Für diese Worte warf ihm Mathias einen nichts weniger als freundschaftlichen Blick zu, dann steckte er die Hand auf die Brust unter seinen Rock und erwiderte: »Leider ist es wahr, daß mir solche Gedanken nur auf Augenblicke kommen, aber auch das ist schon was werth, und ich bin mir gerade recht wie ich bin. Wenn ich auch zuweilen im Schmutz wate, tief bis an die Kniee, so ist es mir doch auch wieder einmal behaglich, trockenen Fußes über [29] einen hohen Berg zu marschiren und ein bischen schöne Aussicht nach vorwärts zu genießen. Das nennt Ihr freilich hie und da solche Gedanken haben, aber es ist doch, beim Teufel! besser, auch nur bisweilen solche Gedanken zu haben, als immer und ewig im feuchten Dreck daher zu schlampen, der Euch freilich nie recht beschmutzt, aber auch nie nur eine Sekunde lang reinlich erscheinen läßt. – Doch was werfe ich Perlen vor die Säue, wie es in dem Sprichwort heißt!« – Damit schlug er das Papier zusammen, griff nach seinem Hute und ging, ohne ein Wort weiter zu verlieren, zum Zimmer und zum Hause hinaus.

Herr Sträuber blickte ihm nach, bis er über den Hof verschwunden war, dann gewann er mit einem Male seine ganze Redseligkeit wieder. – »Es ist hart,« sagte er, während er seinen Hemdkragen hervor zog, »mit solchen Menschen umgehen zu müssen, für einen Mann von Erziehung, wie ich, mit einem Kerl wie dieser Mathias. Würde sich vielleicht kein Gewissen daraus machen, Jemand für ein paar Gulden niederzustechen, und nimmt sich da heraus, vor uns von besseren Gefühlen zu reden. – Das käme mir vielleicht zu, wenn ich an meine Jugend und früheren Tage denke.«

»Er spricht nicht nur zuweilen etwas Gutes,« sagte die Frau, »sondern er thut es auch.«

»Da wäre ich neugierig,« meinte Herr Sträuber.

»Draußen in der Vorstadt, wo wir wohnen, wurde vorgestern ein armer Weber mit sechs lebendigen Kindern und wenigem armseligem Hausrath bei dem scheußlichsten Wetter auf die Straße gesetzt. Ihr könnt Euch den Jammer gar nicht denken.«

»Ja, ich weiß es,« bemerkte lächelnd Meister Schwemmer.

»Das Weib,« fuhr Frau Bilz fort, »hatte ein kleines Kind an der Brust, und Beide waren blau vor Kälte. Da kam Mathias [30] und verschaffte ihnen in einem Hinterhause ein ganz ordentliches Unterkommen.«

»Aber er stellte Bedingungen dabei?« fragte besorgt der Hausherr.

»Nein,« entgegnete die Frau, »davon weiß ich nichts. – Im Gegentheil: er rieth dem Manne, Bedingungen, die ihm ein Anderer gestellt haben mußte, um keinen Preis einzugehen.«

»Soll ihn der Teufel holen!« rief Meister Schwemmer.

»Und was waren das für Bedingungen?« fragte Herr Sträuber.

»Wieder ein Menschenhandel,« sagte achselzuckend die Frau.

»Und also der Mathias rieth im wirklich davon ab?« fragte der Mann am Ofen, der sein Taschentuch zusammen knitterte und es dann schnell an seinen Mund drückte, um einem Hustenanfall zuvor zu kommen, den augenscheinlich der Zorn bei ihm erregt. – »Ja, – ja,« sagte er nach einer Weile, als er wieder etwas zu Athem kam, – »soll – ihn – lothweis – der Teufel – holen! – Verdirbt Einem – den saubersten – Handel.«

»Seht Ihr wohl,« sprach Herr Sträuber, »ist das kameradschaftlich? Das nenne ich unter Freunden Verrath. Und paßt nur einmal auf, wir können uns noch Alle vor dem Kerl in Acht nehmen; auf einmal wird man unsere Schliche kennen, wir sind gefaßt und er spaziert hohnlachend umher.«

»Davon ist kein Gedanke,« versetzte Meister Schwemmer, »Mathias ist treu und redlich wie Gold. – Sträuber, wie könnt Ihr so Etwas denken!«

»Nehmt Euch ja in Acht,« sagte ruhig die Frau, indem sie ihm einen verächtlichen Blick zuwarf, »daß Eure Gedanken nicht außer diesem Hause laut werden und ihm zufällig zu Ohren kommen. Das wäre eine scharfe Ecke für Euch; an der könntet Ihr Euch blutig stoßen.«

»Und Blut ist nicht seine Leidenschaft,« sprach achselzuckend Meister Schwemmer. – »Doch gehen wir an unser weiteres Geschäft. [31] – Was wir sprechen, bleibt ja unter uns,« fuhr er lächelnd fort, als er sah, daß sich das Gesicht des Herrn Sträuber bedeutend verlängerte. »Da habe ich zwei Aufträge von unserer Freundin, der Madame Becker.«

»Aha! die in der alten Kaserne!« sagte Frau Bilz.

»Dieselbe. – Das ist ein verfluchtes Weibsbild und verdient Geld wie Heu; sie hat, wie sie mir sagte, in D. und F., vier Stunden von hier, zwei junge Mädchen aufgespürt, zwischen sechzehn und achtzehn Jahren, frische, schöne, saftige Landpomeranzen, die gern einen Dienst in einer großen Stadt haben möchten. Hier ist es nun zu nah; deßhalb will ich sie an einen Geschäftsfreund nach B. senden, wo eine starke Nachfrage nach solch' unberührter Waare ist. Die Becker hat den beiden Mädchen vorgeschwindelt, sie kämen dort in ein ganz anständiges Haus, erhielten einen bedeutenden Lohn und brauchten sich nur mit seiner Arbeit zu beschäftigen. – Und das ist ja Alles wahr,« fuhr der alte Sünder kichernd fort, indem er sich die Hände rieb. – »Sie fürchtet aber nun, wenn die beiden Mädchen auf der Eisenbahn hieher fahren, so könnten sie am Ende zu Leuten zu sitzen kommen, die ihnen die ganze Geschichte verdächtigen und ihnen – es könnten ja sogar welche von B. sein – geradezu sagen würden, die Adressen seien falsch und die Häuser existiren dort gar nicht. – Versteht Ihr mich?«

»Vollkommen,« entgegnete Herr Sträuber.

Und die Frau nickte stillschweigend mit dem Kopfe.

»So, nun paßt auf!« fuhr der Hausherr fort. »In circa acht Tagen werden die beiden Mädchen von D. und F. abreisen. Man wird Euch Alles das noch genau mittheilen; dann fahrt Tags vorher Ihr, Frau Bilz, nach D. und der Sträuber nach F. Ihr, Frau, bekommt ein genaues Signalement des einen Mädchens, setzt Euch zu ihr hin und plaudert mit ihr; in F. nun kommt zugleich mit dem andern Mädchen dort Euer Bruder auf die Bahn.«

[32] »Welcher Bruder?« fragte mißtrauisch Herr Sträuber.

»Nun, Ihr stellt den Bruder vor. O ich weiß schon, was Ihr sagen wollt, Frau Bilz zieht sich ein bischen städtisch an, darauf könnt Ihr Euch verlassen. – Also Ihr steigt mit dem anderen Mädchen in F. ein, habt wo möglich schon im Warsaal ein paar Worte mit ihr gewechselt, findet Eure Schwester, und setzt Euch nun, wenn es geht, alle vier zusammen. – Verstanden?«

»Natürlicherweise,« entgegnete Herr Sträuber. »Wir lassen uns dann von den beiden Mädchen erzählen, wohin sie wollen.«

»Richtig, richtig! Ihr erfahrt, daß sie nach B. gehen, Ihr, Beide seid auch daher, und könnt Ihnen nun über die Häuser, wohin sie adressirt, die allerbeste Auskunft geben. – Sobald Ihr mit den Beiden hier ankommt, so seid Ihr ihnen augenblicklich behilflich, daß sie Plätze nach B. nehmen. Ihr, Sträuber, habt nun hier Geschäfte und bleibt da, die Frau aber begleitet die Mädchen und bringt sie in B. nach einem gewissen Hause, das man ihr bezeichnen wird. – So, das wäre im Reinen. Ihr habt doch keinen Zweifel mehr?«

Frau Bilz zuckte mit den Achseln und sagte: »Ich wußte schon um die Geschichte; ich war gestern bei der Becker, die mit mir davon sprach.«

»Nun, da werdet Ihr auch gehört haben, daß ich Euch sogleich vorschlug,« erwiderte der Hausherr, nachdem er eine starke Prise genommen. »Ja, Ihr seht, Frau Bilz, daß ich immer an Euch denke, wo es Etwas zu verdienen gibt.«

Die Frau gab hierauf keine Antwort, sondern ließ den Kopf auf die Brust sinken und spielte mit den Bändern ihrer Schürze.

Herr Sträuber erhob sich von seinem Stuhle, strich sein Haar zurück, setzte den Hut auf und zog seine baumwollenen Handschuhe an.

»Und werden wir Geld zu dieser Fahrt von Euch bekommen?« [33] fragte er, während er die Briefe, die er vorhin geschrieben, in die Tasche steckte.

»Allerdings,« antwortete vergnügt der Hausherr, der heute gute Geschäfte gemacht hatte, »kommt nur am Samstag, da sollt Ihr Alles haben: Geld, Adresse und die genaue Beschreibung von einem Paar sehr hübscher Mädchen.«

46. Kapitel
Sechsundvierzigstes Kapitel.
Weihnachtsfreuden.

So war denn auch wieder einmal Weihnachten gekommen, diese frohe und glückselige Zeit für Alt und Jung, – für erstere zum Geben, für letztere zum Empfangen; und wer dabei die größte Freude hat, ist noch unentschieden. Wie bemühen sich die Kleinen vor diesem festlichen Abend, alles Unangenehme, das sie den Eltern zugefügt, vergessen zu machen und sich nur darzustellen in ihren guten und schönen Eigenschaften. Ja, schon vier Wochen vor Weihnachten geht es in den Schulen und zu Haus ungleich stiller her als das ganze Jahr; man hört nicht das verdächtige Klopfen des Lineals, man vernimmt wenig Scheltworte, und wozu früher eine ganze lange Ermahnungspredigt nothwendig war, das thut jetzt ein einfaches Achselzucken und die hingeworfene Bemerkung: »Nun ja, es ist ja nächstens Weihnachten, da wird sich alles Das schon finden.«

Aber nicht blos die Kinder freuen sich unbeschreiblich auf diesen Abend, auch für Manchen der Erwachsenen ist das eine Zeit, wo man gegenseitig auf so ungenirte Art anonyme Geschenke empfangen [34] und machen kann, wo sich so plötzlich auf dem Teller dieser oder jener jungen Dame, oder mit einer zierlichen Aufschrift am Baume hängend, ein kleines elegantes Etui findet, und wenn man es öffnet, darin ein Ring, ein Armband oder dergleichen. – Freilich wird Mama selbst an diesem heiligen Abend die Augenbrauen etwas in die Höhe ziehen, und die jüngeren Schwestern, die noch keine Armbänder bekommen, oder auch die ältere, die keine mehr erhält, verächtlich die Naschen rümpfen und mit Absicht leicht darüber hinweg zu blicken versuchen. – Das thut Alles nichts; wie schon bemerkt, an dem Abend wird Manches verziehen oder Manches geglaubt.

»Ach! dies schöne Geschenk wird von Onkel Karl sein!« sagt die Betreffende, indem sie mit außerordentlicher Geschicklichkeit ein kleines Papierchen verschwinden läßt, das unter dem Armband gelegen. »Ach! Onkel Karl, das ist zu viel! Nein, das ist zu viel!«

Onkel Karl, ein alter geiziger Hagestolz, steht daneben mit einem höchst dummen und verblüfften Gesicht; und befindet er sich augenblicklich unter dem Einfluß von einiger Geistesgegenwart, die ihm aber gewöhnlich mangelt, so macht er grinsend ein breites Maul, lächelt ziemlich blödsinnig und ist unverschämt genug, die warmen Küsse seiner lieblichen Nichte für Rechnung eines Anderen in Empfang zu nehmen.

Du erinnerst dich gewiß, theurer und geneigter Leser, so lebhaft wie wir dieser herrlichen schönen Weihnachtszeit. Du kannst das nicht vergessen, nicht einmal in dem schlimmen Falle, wenn du selbst lange, lange Zeit hindurch Niemand etwas Gutes mehr bescheert hast, oder wenn dir ein böses Schicksal während vieler Jahre nur Fußtritte oder Ohrfeigen gab. Ja, auch dann wirst du dich, wenn auch wehmüthig, jener Zeit erinnern, wo du zum letzten Male etwas Angenehmes bescheertest oder wo dir etwas Angenehmes bescheert wurde. –

[35] Ach! es ist etwas so Köstliches um die Erinnerung, um eine angenehme Erinnerung, und wenn wirklich deine Seele schon lange mit dickem Staube bedeckt ist oder sich dein getäuschtes und verrathenes Herz mit einer festen Schale umzogen – an diesem Abend steigt jener auf, zerschmilzt diese, und du fühlst, wie dich ein süßer Schauer durchzieht – wenn du das nämlich fühlen willst – seltsame Töne, bunte, glänzende Bilder, und alles Das eingehüllt in den wohlbekannten Duft der Tannennadeln und des herabträufelnden Wachses.

Dann eile hinaus auf die Straße, um dich unter den Glücklicheren umzuschauen, selbst wenn es nebelt oder sogar einzelne Schneeflocken vom dunkeln Himmel herab dich in großen Kreisen umflattern und zuletzt auf deiner Nase oder deiner Wange zerschmelzen. Das gehört mit zum heiligen Christtag, und ist das wilde Wetter zuweilen liebend den Tausenden von Tannenbäumen nachgezogen, die man aus dem finstern Wald hieher versetzt.

Wer achtet aber dieses Wetters? – Niemand. Selten siehst du einen Regenschirm aufgespannt, und die Damen behelfen sich sogar, indem sie dichte Kaputzen über den Kopf ziehen und von unten mit soliden Ueberschuhen verwahrt sind. Man hat auch keine Zeit, nach dem Wetter zu sehen oder den Regenschirm zu balanciren; man muß nur dafür sorgen, daß man nicht an die Begegnenden anstoßt und daß man seine kostbaren Waaren unversehrt nach Hause bringt.

Die schönste Stunde an diesem Abend ist gleich nach der Dämmerung, wenn die Ladendiener eilfertig die Gaslampen angezündet haben, und wenn es nun wie ein Aufschrei höchster Lust durch die Glasschränke zieht, wenn Alles heller wird als am Tage; denn die Sonne vermag nicht in den dunkeln Winkel zu dringen, wo die Schaukelpferde stehen, oder dort hinten in die Ecke neben dem Ofen, wo sich die hölzernen Gewehre, die Säbel, Schwerter und Peitschen befinden.

[36] Jetzt aber strahlt Alles von Licht und Glanz.

Es glänzt das Gold auf den Helmen und Harnischen der Rittersmänner, man sieht die Mähnen der Rosse flattern, und hell strahlen die Fenster dieses Schlosses oder jener Burg.

Wie galoppiren die Pferde dort vor der reichen, bunten Karosse, wie anmuthig lächelt die Dame in derselben, und wie greulich verzieht der edle Nußknacker sein häßliches Gesicht! Sollte man doch glauben, er schiele ordentlich links hinüber nach jener großen schönen Puppe in weißem gesticktem Atlaskleide mit wirklichen Schuhen an den Füßen und ächtem Haar auf dem Kopfe. Dieses Gesicht ist aber auch der Mühe werth, betrachtet zu werden: die runden, schneeweißen Wangen, angetupft mit einem zarten Roth, der zusammengezogene Mund, so klein, daß er gar nicht in Betracht kommt, die unbedeutende Nase und hauptsächlich die großen blauen Augen von unaussprechlichem Glanze und einem Ausdruck, der über alle Beschreibung geht. Sie blickt verwundert vor sich in das Gewölbe und, wie in tiefe Gedanken versunken, schaut sie keine Menschenseele an, sondern starrt weit, weit hinaus in die unmeßbare Ferne. –

Jeder aber ist wie gesagt an diesem Abend eilig und hat für den besten Freund keine Zeit; Der hat dies, Jener das vergessen, und da heute Abend Mägde und Knechte alle Hände voll zu thun haben, so muß er selbst rennen und laufen, um das Versäumte herbei zu holen.

»Da wäre ich schön angekommen,« sagt ein dicker Herr im Laden zu einem sehr dürren, der Wachslichter aufsucht, »meine Frau hat sich ein Portemonnaie gewünscht, wie sie es vor acht Tagen bei der Staatsräthin gesehen. Wissen Sie, von dänischem Leder mit Stahlschloß; ich versichere Sie, bester Freund, es ist gut, daß es mir jetzt noch einfiel, ich hätte böse Feiertage gehabt.«

»So kann man Unglück haben!« ruft ein anderer Herr, der eilig in den Laden tritt. – »Bitte um neue Glaskugeln,« sagt er [37] zu dem Ladendiener, der mit offenem Munde herbeieilt. »Da sehen Sie die Bescheerung!« wendet er sich an den dicken Herrn, »gehe ich noch von hier aus zur Putzmacherin – sie hat die Sammetmantille für Madame noch nicht geschickt – und da ich warten soll, setze ich mich nieder auf einen Stuhl und auf die Glaskugeln. Es ist nur ein Wunder, daß mir kein Scherben irgendwo eingedrungen ist. – So. – Wie viel macht's?«

»Einen Gulden und zwölf Kreuzer.«

»Hier sind sie. – Gute Nacht, ihr Herren, vergnügte Weihnachten!«

Wer aber auch nicht im Stande ist, Glaskugeln, Sammetmantillen oder Portemonnaies zu kaufen, wie sie die Staatsräthin hat, ja wer es kaum zu einem verkrüppelten Tannenbaume und zu einigen vergoldeten Nüssen zu bringen vermag, freut sich des Lebens und ist mit den Seinigen heiter und guter Dinge. Das höl zerne Pferd, das der Vater geschenkt erhielt, wird auf's Künstlichste wieder hergerichtet, die Mutter macht einen neuen Zaum, der Vater einen superben Schweif von Baumwolle, der aus der Dintenflasche schwarz gefärbt wird. Am Baume hängen ein paar Brezeln oder einige Wecken an Schnüren, auf dem Tische liegen die neuen Höschen und das neue Wamms mit glänzenden Knöpfen besetzt, und mit weit aufgerissenen Augen wird alles Das betrachtet, bis auf die Ruthe, die am Baume schwebt, und die verstohlene, ehrerbietige Blicke auf sich zieht.

Selbst die Armen, denen zu Haus kein Weihnachtsbaum glänzt, denen Vater und Mutter nichts zu bescheeren im Stande sind, erfreuen sich am heutigen Abend der allgemeinen Pracht und Herrlichkeit und es muß schon ein besonderer Segen in der heutigen Nacht über alle Menschenkinder ausströmen, der Neid und Mißgunst nicht aufkommen läßt; denn die Kleinen da draußen vor dem Fenster, die soeben noch frierend durch die Straßen zogen, bleiben jetzt plötzlich stehen, wenn sie den herrlichen Lichterglanz erblicken, [38] klettern an das Fenster des Erdgeschosses empor und blicken mit leuchtenden Augen so lange in die hellbestrahlte Stube auf den Tannenbaum mit den vielen Lichtern, auf all' die seltsamen Spielsachen, bis der Hauch ihres eigenen Mundes die Scheibe trübt und Alles in einen dichten Nebel verschwimmt.

Wenn aber ein gutes Kind drinnen im Zimmer sieht, daß vor dem Fenster so arme kleine Geschöpfe stehen, denen der heilige Christ am heutigen Abend nichts bescheert als Hunger und Kälte, so erbittet es sich von den Eltern etwas Spielzeug und Backwerk, öffnet leise das Fenster und reicht es den armen Kindern hinaus. Die nehmen es, und geblendet von dem Lichterglanz glauben sie vielleicht, es sei am Ende das Christkind selbst gewesen, das ihnen bescheert, und eilen mit dieser frohen Botschaft nach Hause, indem sie das, was sie erhalten, freudestrahlend vorzeigen.

Dazu läuten die Glocken der Kirche, die tiefen Töne der Orgel dringen aus den geöffneten Thüren hervor, und die Menge strömt ab und zu, um die Krippe mit dem heiligen Christus zu sehen, die am Hochaltar enthüllt wird. Der Boden der Kirche ist feucht und die Fußtritte hallen wider auf dem Steinpflaster; die Regenschirme und nassen Mäntel verbreiten einen sonderbaren Geruch, und dazu duftet der Weihrauch so bekannt und angenehm. Man verrichtet sein Gebet, eilt wieder hinaus, und vor der Kirchenthüre blickt man aufwärts, ob der Himmel ein freundliches Gesicht mache und gute Feiertage verheiße. – Ah! es sind da viele schwarze Wolken: doch wird es über uns an einer kleinen Stelle heller und es erscheint ein schöner blauer, sanft strahlender Stern. Der ist vielleicht ein Prophet für gutes Wetter, oder es ist auch jener Stern, der sich immer über der Krippe des kleinen Christkindes zeigt und dem die heiligen drei Könige nachgegangen. – Ja, der muß es sein, – geschwind nach Hause, das muß man den Kindern erzählen! –

Wenn an einem solchen Christabende die Menge der Käufer [39] und Käuferinnen anfängt, in den Gewölben nachzulassen, – das geschieht nun nach sechs Uhr, – so werden die meisten der Läden geschlossen, damit auch die den ganzen Tag so beschäftigten Leute jetzt schon ihren Feiertag beginnen können; oder man läßt vielleicht noch zur Beaufsichtigung des Ganzen eine der Ladenjungfern zurück, die sich alsdann verdrießlich an den Tisch setzt, den Kopf auf die Hand stützt und wohl an ihre Heimath denkt, wo jetzt Alles heiter und vergnügt um den Christbaum steht, während sie hier noch ein paar Stunden allein sitzen muß. Das Geschäft darf noch nicht geschlossen werden: es könnte vielleicht noch ein verspäteter Kunde etwas brauchen.

Diese Vorsicht war denn auch in einem der größten Läden der Hauptstadt nicht unnöthig, und die junge Dame, welche hier saß, hatte sehr Unrecht, als sie soeben einen kleinen Monolog hielt, worin sie von hartem Dienste sprach und von überflüssigen Quälereien, die darin beständen, noch hier sitzen zu müssen, nachdem schon Alles längst auf seine Zimmer gegangen; – denn kaum hatte sie ihn beendigt, so fuhr ein Wagen dicht vor die Ladenthüre, und ein Herr, der darin saß, öffnete den Schlag selbst, sprang heraus und trat in das Gewölbe.

»Schon dachte ich, es wäre auch hier geschlossen,« sagte er laut und lustig, »und das wäre mir äußerst unangenehm gewesen, denn ich muß Sie noch bei spätem Abend bemühen und Sie um das Neueste bitten, was es in kleinen seidenen Halstüchern für Damen gibt.«

»Ah! Herr Doktor!« versetzte das Mädchen, das eifrig aufgesprungen war. »Wir werden nur heute Abend bei Licht die Farben nicht recht unterscheiden können, das nimmt sich Alles bei Tage anders aus.«

»Sie haben vollkommen Recht, mein Kind,« entgegnete der Herr; »aber meine Zeit am Tage ist außerordentlich kostbar, namentlich im Winter, wo es so viele Kranke gibt. – Und dann [40] verlasse ich mich auf Ihren Geschmack. – Bringen Sie auch sogleich einen Carton mit Damenhandschuhen, davon kann ich auch etwas brauchen,« rief er dem Mädchen nach, das nach dem Hintergrunde gegangen war, um das Verlangte zu holen. – »Gott! ich hätte beinahe den ganzen Weihnachtsabend vergessen!«

»Das würde der Frau Doktorin nicht lieb gewesen sein,« sprach lächelnd die Ladenjungfer, indem sie die beiden Schachteln auf den Tisch stellte. – »Aber das ist Ihr Scherz, und Sie haben gewiß schon seit mehreren Tagen prächtige Sachen für die lieben kleinen Kinder bereit liegen.«

»Ah! das will ich meinen!« erwiderte der Herr; »den Kindern eine Freude zu machen ist leicht; man findet da immer Geschichten, die ihnen gefallen. Aber bei den Erwachsenen – ist das oft unendlich schwer,« setzte er leise hinzu.

»Sehen Sie, Herr Doktor, diese kleinen Shawls sind das Neueste, was wir haben – und sehr elegant.«

»Ja, – nicht übel. Nehmen wir zwei: einen rothen und einen blauen, ich weiß nicht, welche Farbe meine Frau am liebsten hat. – Nun zu den Handschuhen!«

Während das Mädchen den Carton öffnete, der das Verlangte enthielt, und die zierlichen Pakete heraus legte, trat ein anderer Herr in den Laden, nahm unter der Thüre seinen Hut ab und schlenkerte ihn hin und her, um einige Schneeflocken zu entfernen, die darauf gefallen waren, da er keinen Regenschirm bei sich hatte. Dann bedeckte er sich wieder und trat an den Ladentisch.

Dieser Herr trug eine Brille, und da ihm die Gläser derselben plötzlich anliefen, als er in das erwärmte Gewölbe trat, so zog er sein Sacktuch heraus, nahm die Brille herunter und putzte sie sorgfältig rein, wobei er mit dem eigenthümlichen Blick, den die Kurzsichtigen gewöhnlich haben, vor sich hinstarrte.

Das Mädchen bot ihm freundlich einen guten Abend.

»Wählen Sie für mich,« sagte der Doktor, der über die [41] Handschuhpakete gebeugt stand, »nehmen wir meinetwegen zwei Dutzend, Numero sieben hat meine Frau; die Farbe will ich Ihnen überlassen.«

Der andere Herr hatte seine Brille schnell wieder aufgesetzt, blickte den, der eben sprach, von der Seite an, und dann klopfte er ihm leicht auf die Schulter.

Der Doktor richtete sich in die Höhe.

»Ah! du bist es, Alfons,« sagte er. »Was treibt denn dich so spät hier in den Laden?«

»Oh!« erwiderte dieser, »wahrscheinlich dasselbe, was dich hieher führt. Ich brauche ebenfalls noch ein paar Kleinigkeiten für heute Abend. – Ihr kommt doch auch zu uns?«

»Zur allgemeinen Bescheerung; das versteht sich von selbst. Ah! da haben wir noch nie gefehlt.«

»Diese Farben sind schön,« meinte das Ladenmädchen, indem sie die ausgesuchten Handschuhe vor den Doktor niederlegte, »es ist die gleiche Qualität, die Ihr Herr Schwager vorhin gekauft, nur habe ich andere Farben ausgesucht.«

»So, du hast auch Handschuhe für deine Frau gekauft?« versetzte der Doktor mit gleichgiltigem Tone. Da er aber hiebei den Blick auf die seinigen warf, so bemerkte er nicht, daß Alfons in diesem Augenblicke auf höchst unangenehme Art sein Gesicht verzog.

»Ja, ich habe auch Handschuhe gekauft,« erwiderte dieser nach einer Pause, »natürlich für Mariannen, aber – – nicht zum heutigen Abend; dafür habe ich schon andere Sachen. Ich werde ihr die Handschuhe gelegentlich nächster Tage geben. – Hast du denn schon zu Hause den Kindern bescheert?« fragte er darauf, um von etwas Anderem zu sprechen.

»Nein, nein,« antwortete der Doktor lustig, »das kommt noch und ich freue mich darauf, als wenn ich selbst ein Kind wäre. Wenn man so den ganzen Abend wie ich, in den verschiedensten Wohnungen herumkommt, und bald hier bald dort jubelnde Kinderstimmen [42] hört, oder den Lichterglanz sieht, wenn sich in irgend einem dunkeln Gange plötzlich eine Thür öffnet, und wenn man das Alles so aus der Ferne und eigentlich theilnahmlos mit ansehen muß, so ist man ordentlich begierig darauf, dies Fest auch bei den Seinigen zu feiern.«

»Aber der Herr Doktor haben doch heute Abend schon bescheert,« sagte lächelnd das Ladenmädchen; »als Sie Nachmittags vorbei fuhren, reichte man dem Kutscher von dem Hause gegenüber eine ganze Menge Sachen in den Wagen hinein.«

»Ei, ei! der Herr Doktor!« sprach Alfons, indem er unangenehm lächelnd seine Augenbrauen in die Höhe zog.

»Es war nur Kinderspielzeug,« fuhr das Ladenmädchen fort.

»Ei der Tausend! auch Kinderspielzeug?« meinte Alfons forschend. »Doch nicht für deine eigenen!«

»O nein,« entgegnete unbefangen der Doktor, während er den listig aussehenden Schwager mit seinem offenen, ehrlichen Gesichte ruhig anblickte. »Ich habe so arme Kinder in meiner Kundschaft, die von keinem Menschen etwas erhalten, und da habe ich's mir angewöhnt, dieselben am heiligen Christabend ein wenig zu bescheeren; es schmerzt mich ordentlich, wenn ich so arme Geschöpfe bei ihrem Brod und ihren Kartoffeln, oftmals im kalten Zimmer sitzen sehe und dabei an mein Haus denke, wo Oskar und Anna sich in der behaglichsten Umgebung befinden und wenn sie kaum einen vernünftigen Wunsch ausgesprochen haben, dieser auch schon erfüllt ist.«

»Aber, mein lieber Freund,« antwortete Alfons, »diese Ungleichheiten im menschlichen Leben kann man unmöglich ebnen und es muß so sein.«

»Es muß allerdings so sein,« sagte der Doktor, »doch ist es an uns, so viel wir im Stande sind, dem Armen seine Armuth leicht zu machen.«

»Amen!« setzte Alfons spöttisch hinzu. – Dann nahm er noch [43] ein kleines Halstuch, diesmal für seine Frau, wie er sagte, – er schien das vorhin bei dem Handschuhkauf ganz vergessen zu haben, dann wandte er sich an seinen Schwager und sprach: »Du kannst mich wohl an mein Haus führen, es ist für dich kein großer Umweg und draußen regnet und schneit es durcheinander.«

»Das versteht sich von selbst,« erwiderte dieser und bezahlte seine Rechnung. – »Steigen wir ein!«

Die beiden Schwäger verließen den Laden, bestiegen die Droschke des Arztes, und die müden Pferde, die den ganzen Tag auf dem Pflaster herum gelaufen waren, gingen in einem ziemlich kurzen Trabe davon.

Bei dem Hause des Kommerzienraths setzte der Doktor seinen Schwager ab und rief ihm dann zu: »Also bis nachher!«

Jetzt schimmerten erst recht in allen Häusern die Weihnachtsbäume, jetzt konnte man erst recht das Jubeln der Kinder vernehmen; jetzt war Freude an allen Ecken.

Der Arzt blickte gern aus seinem Wagen heraus und freute sich jedesmal, wenn er bei einem so hellerleuchteten Fenster vorüber kam, wenn so die vielen brennenden Kerzchen wie kleine Blitze in seine Augen fuhren, um gleich darauf wieder zu verschwinden. Er kam am Weihnachtsabend selten so spät wie diesmal nach Hause, doch hatten ihn einige wichtige Krankheitsfälle zurückgehalten; sonst war er es immer, der den Weihnachtsbaum arrangirte, anzündete und dann die Kinder herbei rief. Das Letztere mochte er sich auch heute nicht nehmen lassen, weßhalb er befohlen hatte, mit dem Anzünden zu warten, bis er käme; auch war es noch nicht so spät – erst sieben Uhr – und die Hoffnung auf bevorstehende Bescheerung ist schon im Stande, die kleinen Kinderaugen offen zu halten.

47. Kapitel
[44] Siebenundvierzigstes Kapitel.
Weihnachtsleiden.

Endlich hatte der Doktor seine Wohnung erreicht; er sprang aus dem Wagen in's Haus und eilte die Treppe hinauf. Heute war es ihm lieb, daß die Glasthüre, obgleich gegen seinen Befehl, offen stand: brauchte er doch nicht lange zu klingeln und konnte gleich auf den Korridor gehen, wo ihn dann die Kinder am Tritte erkannten, und ihm, wie namentlich bei solchen Veranlassungen gewöhnlich, entgegen stürzen würden.

Aber diesmal kam Niemand, – er hustete, er stieß mit seinem Stock auf die Steinplatten, – umsonst! Weder Oskar noch Anna ließen sich sehen.

Kopfschüttelnd öffnete er die Thüre zum Speisezimmer, wo in der Regel der Christbaum aufgestellt wurde; da war Alles finster, aber es drang ihm ein Geruch entgegen von verbranntem Wachslicht und Tannennadeln, aber viel schärfer, als er gewöhnlich vom Anzünden des Weihnachtsbaums entsteht.

Eilig wandte er sich hierauf nach dem Kinderzimmer, öffnete hastig die Thüre und wollte mit seinem gewöhnlichen Schritte eintreten, doch kam ihm das Stubenmädchen entgegen, legte den Finger auf den Mund und sagte: »Bitte, Herr Doktor, etwas leise, sie schlafen.«

»Wer schläft?« fragte er überrascht.

»Nun, die Kinder, wenigstens liegen sie ganz ruhig.«

»Und schon so frühe, ehe ich den Weihnachtsbaum anzündete und ihnen bescheerte?«

»Ja, – ja – Herr Doktor –« erwiderte das Mädchen[45] ziemlich verlegen, »es ist uns heute Abend ein kleines Unglück geschehen.«

»Wem ist ein Unglück geschehen?«

»Eigentlich nicht uns, sondern der Frau Doktorin.«

»So, ist meine Frau krank?« fragte der Doktor und wollte eilig das Zimmer verlassen.

»Nein, die Frau Doktorin sind ganz wohl, aber ich wollte nur sagen: ihr ist eigentlich das Unglück geschehen mit den Kindern.«

»Um Gotteswillen! was ist's mit den Kindern?« rief erschreckt der Vater. Und dabei drückte er das Mädchen auf die Seite und eilte wieder hinaus in's Zimmer. – »Wo ist Frau Bendel?«

Die Aufgerufene kam zwischen den Betten hervor, in welchen die Kinder lagen und ging ihrem Herrn mit einem mehr verdrießlichen als verlegenen Gesichte entgegen.

»Mach' Sie doch keinen solchen Lärmen!« sagte sie zum Stubenmädchen; »man sollte ja glauben, hier läge Alles in den letzten Zügen. – O, es ist nicht so schlimm,« wandte sie sich an den Doktor, »Oskar und Anna haben ein kleines Unglück gehabt, wie das bei Kindern häufig vorkommt. Wir wußten nicht, wo der Herr Doktor augenblicklich sei, sonst hätten wir Sie gleich rufen lassen; auch fuhr gerade der Herr Obermedizinalrath vorbei, als ich an der Hausthüre stand, um mich nach Ihnen umzusehen, und da rief ich diesen herauf.«

Jetzt schien die große Geduld des Arztes vollkommen erschöpft zu sein. Er schwenkte seinen Stock heftig in der Hand und sagte mit leiser, aber vor Zorn zitternder Stimme: »Wollen Sie nun endlich die Güte haben, Frau Bendel, mir gehörig der Reihe nach zu erzählen, was wieder in diesem Hause für Dummheiten und Unglücke vorgefallen sind?«

Bei diesen Worten warf das Stubenmädchen den Kopf in die Höhe und ging, heftig mit den Achseln zuckend, an den Tisch zurück, wo ihre Näherei lag.

[46] »Nun?« sprach der Hausherr ungeduldiger.

»So Fürchterliches ist gerade nicht geschehen,« antwortete finster Frau Bendel. »Und dann kann ich eigentlich nichts dafür, ich habe keine Dummheiten gemacht und man braucht nicht immer die Schuhe an mir abzuputzen. – Nun ja, der Christbaum stand im Eßzimmer fertig, alle Spielsachen darunter und sobald es dunkel wurde, wollte Madame die Bescheerung vor sich gehen lassen.«

»Ich hatte aber befohlen, damit zu warten, bis ich nach Hause käme!«

»Dafür kann ich nichts; Madame befahl mir, wie schon gesagt, sobald es dunkel würde, die Lichter anzuzünden.«

»Und Madame that das nicht selbst?« fragte verwundert der Hausherr.

»Nein, Madame wollten später kommen, wenn die Kinder ihre Sachen erhalten hätten und der erste Lärm vorbei sei.«

Gerechter Gott! dachte der Doktor, und schlug die Hände über einander, das nennt die Frau einen Lärmen und will nicht sehen, wie die Kinder mit den weit offenen, glänzenden Augen in das Zimmer treten, wie sie überhaupt auf der Schwelle stehen bleiben, dann entzückt auf den leuchtenden Baum zustürzen, und nun nach und nach mit immer größerem Jubelgeschrei ein Geschenk um das andere entdecken! – Es macht der Frau kein Vergnügen, zu sehen, wie sie nun bei jedem neuen Stücke den Eltern dankbar in die Arme fliegen, sie herzlich küssen und darauf mit an den Tisch hinziehen, um ihnen dieß oder das zu zeigen! – – »Also Madame ließ den Baum anzünden?« fuhr er nach einer Pause und zwar mit großer Ruhe fort, denn sein Herz durchzog ein eisiges Gefühl. »Nun, das Uebrige kann ich mir allenfalls denken. – Aber erzählen Sie, Frau Bendel, erzählen Sie es ganz genau!«

»Also wir zündeten den Baum an, und ich muß schon sagen, die Kinder hatten eine große Freude über Alles, namentlich Oskar sprang in Einem fort herum und war wie ausgelassen.«

[47] »Das kann ich mir denken.«

»Nun ging ich einen Augenblick hinaus,« fuhr Frau Bendel zögernd fort, »und dort die Nanette blieb bei den Kindern.«

»Nein, nein, Frau Bendel, das ist falsch,« entgegnete eifrig das Stubenmädchen, »mir hatte Madame schon vorher geklingelt, ich mußte ihr ja helfen anziehen.«

»Ich weiß ganz genau, daß Sie im Zimmer war,« sagte hartnäckig die Kindsfrau, »sonst wär' ich gewiß nicht hinausgegangen.«

»Bei Ihrem Diensteifer gewiß nicht,« versetzte der Doktor mit einer erstaunenswerthen Ruhe; doch zitterte seine Hand mit dem Stocke und die Krempe seines Hutes drückte er ganz zusammen. – »O ich kenne das ganz genau. Gebt euch deßhalb keine Mühe, die Schuld auf das Andere zu schieben, ich will nur einfach das Faktum wissen; – – die Thatsache, Frau Bendel, wie es auf deutsch heißt, oder, um mich noch deutlicher auszudrücken, was geschehen ist, nachdem die Kinder allein geblieben bei dem brennenden Baum. Denn daß sie allein geblieben, ist mir schon klar geworden.«

»Das ist freilich nicht zu leugnen; aber gewiß ohne meine Schuld.«

»Und ohne die meinige,« sagte schnippisch das Stubenmädchen.

»Was geschah?« rief nun der Doktor ziemlich laut, indem er nach den Armen der Kindsfrau griff, die er wahrscheinlich fest gefaßt hätte, wenn sie nicht zurückgewichen wäre.

»Wir waren also noch nicht lange zur Thüre hinaus,« erzählte diese weiter, und versuchte es, einen weinerlichen Ton anzunehmen, »da hörten wir ein großes Geschrei, und als wir nun augenblicklich in's Zimmer zurückstürzten, sahen wir, daß der Baum vom Tische herabgefallen war. Oskar hatte gewiß daran gezerrt –«

»Der brennende Baum war vom Tische gefallen?« rief erschrocken der Doktor. – »Und auf die Kinder?«

[48] »Nur mit der Spitze auf Oskar; aber, bei Gott im Himmel! Herr Doktor, nicht bedeutend, er hat nur das Haar etwas versengt und das rechte Ohr –«

»Er hätte verbrennen können!« warf entsetzt der Vater dazwischen. – »Und Anna?«

»Sie wollte auf die Seite springen, stolperte über einen Schemel und ritzte sich im Fallen die Haut über dem einen Auge blutig.«

»Jetzt wüßten wir die Thatsachen,« meinte wieder mit auffallend ruhigem und stillem Wesen der Doktor. – »Nun wollen wir nachsehen, wie viel ihr verschwiegen habt.«

Er legte Hut und Stock auf eine nahestehende Kommode und ging in das anstoßende Zimmer, wo sich die beiden Kinder in ihren Bettchen befanden.

Sie hatten sich Beide so sehr auf den heutigen Abend gefreut, sie hatten immer darauf gewartet, der Vater werde kommen, den Weihnachtsbaum anzünden und sie nun wie gewöhnlich in das Zimmer führen. – Und der Vater blieb so lange aus, weßhalb Beide dachten, er hätte sie am heutigen Abend vergessen, denn sie wußten nicht, daß er befohlen, man sollte warten, bis er heim käme. – Und darauf hätten sie so gerne gewartet! Doch Mama ließ ihnen den Baum anzünden, ohne selbst dabei zu sein, und sie freuten sich auch wohl recht, aber nicht so, wie sonst. – Da wollte Oskar einen Reiter herab nehmen, der an dem Baume hing, und da er ein wenig zu heftig zog, so bekam der Baum, schwer an Zuckerwerk, Nüssen und Lichtern, das Uebergewicht, und statt der Freude mußte Oskar sowie Anna zu Bette gehen und dort viele Schmerzen aushalten; beide schliefen nicht, sondern warteten auf den Vater. Endlich hörten sie seinen Wagen anfahren, hörten ihn die Treppen herauf springen, dann in's Zimmer kommen, und vernahmen, wie Frau Bendel die ganze Geschichte erzählte. – Nun fürchteten sie sich, [49] wagten nicht ein Wort zu sprechen, ja sie schlossen die Augen und so konnte man glauben, sie schliefen.

Als sich aber der Vater leise den Bettchen näherte, sich darüber hinbeugte und tief betrübt sagte: »Ihr armen, armen Kinder!« da fingen sie Beide an heftig zu weinen, streckten ihre Aermchen in die Höhe und riefen wie aus einem Munde: »Oh Papa, Papa, es ist gut, daß du endlich gekommen bist.«

»Wir haben so lange auf dich gewartet,« setzte Oskar hinzu.

»Und hätten gerne noch länger gewartet mit dem Anzünden des Baumes,« meinte das kleine Mädchen – –

»Bis du nach Hause gekommen wärest, lieber Papa,« unterbrach sie der Bruder. »Weißt du, wie gewöhnlich, wenn wir uns unter der Thüre beide Augen zuhalten mußten und du nun zähltest: eins – zwei – drei. Ah! das war immer so arg schön!«

»So wollen wir es auch wieder machen,« versetzte beruhigend der Vater. »Jetzt müßt ihr aber recht ruhig sein.«

»Wann wollen wir es wieder so machen, lieber Papa?« fragte Oskar.

»Vielleicht morgen Abend, mein Kind. Wenn du recht ruhig bist, bringt dir das Christkindlein wohl heute Nacht einen neuen Baum.«

»O, das wäre prächtig!« entgegnete Oskar, und ließ sich nun recht gern in seinem Bettchen aufsetzen, vom Vater den Verband abnehmen und nach seiner Verwundung sehen.

Die war nun wohl schmerzhaft gewesen, aber glücklicherweise nicht gefährlich. Der Obermedizinalrath hatte Umschläge von cullatischem Wasser befohlen, und die wurden fortgesetzt. Bei Anna, deren Schramme über dem Auge nicht tief war, legte man einfach kleine Kompreßchen auf, die mit kaltem Wasser angefeuchtet waren.

Der Doktor setzte sich zwischen die Betten seiner Kinder und ließ sich erzählen, welche Herrlichkeiten ihnen das Christkind bescheert. [50] Das Meiste aber hatten sie in dem Schrecken und der Verwirrung wieder vergessen und der Vater freute sich darauf, ihnen morgen mit einem anderen Baum, der wohl anzuschaffen sein würde, eine neue Bescheerung zu veranstalten. Und hiezu gab er eine kleine Hoffnung, was sie mit vieler Freude erfüllte. Sie reichten ihm dann zur guten Nacht ihren kleinen rothen Mund, den er herzlichst und innigst küßte, Anna schlang dabei ihr Aermchen um seinen Hals und drückte ihn fest an sich. – »Gute Nacht, lieber, guter Papa,« sagten sie; und hierauf ging dieser mit leisen Schritten in das Vorzimmer.

Frau Bendel und das Stubenmädchen saßen da tief gekränkt im Gefühle ihrer Unschuld; Beide hatten Recht, wie denn überhaupt die weiblichen Dienstboten bei jeder Veranlassung Recht zu haben pflegen, und Beide machten ihrem Herrn ein grimmiges, unverschämtes Gesicht, wie das so der Brauch ist in dieser verderbten Welt.

Der Doktor schien übrigens die unmuthig emporgezogene Nase des Stubenmädchens, sowie die verdrießlich herabhängende Unterlippe der Frau Bendel gar nicht zu bemerken, sondern nahm seinen Hut und Stock und sagte in bestimmtem Tone zu der Kindsfrau: »Feuchten Sie die Umschläge noch einmal an, ehe Oskar und Anna einschlafen, dann lassen Sie die Kinder ruhen.« Hierauf ging er der Thüre zu, blieb aber vor derselben stehen und fragte: »Wo ist meine Frau?«

Da er diese Frage an keine der Beiden schwer Beleidigten speziell richtete, so erhielt er auch keine Antwort, und mußte sie wiederholen; und zwar richtete er sie nun an das Stubenmädchen.

»Madame sind unten bei Oberjustizraths,« antwortete sie kurzweg, »werden aber gleich herauf kommen.«

»Zur Vorsorge, daß sie auch gewiß kommt, können Sie ihr sagen, ich sei da,« versetzte der Doktor, worauf er das Zimmer verließ und in den Salon hinüber ging.

[51] Die Köchin, die draußen vor der Thüre, scheinbar um zu leuchten, in Wahrheit aber, um »den Spektakel« nicht zu versäumen, gewartet hatte, folgte ihm.

Der Doktor befand sich immer noch in seinem Paletot, den er auf der Straße trug, er zog ihn aber, im Zimmer seiner Frau angekommen, sogleich aus; und als er ihn nun über die Stuhllehne hängte, bemerkte er in der Tasche die beiden Paketchen mit den Sachen, die er für seine Frau gekauft. Er warf sie auf den nebenan stehenden Tisch, dann legte er die Hände auf dem Rücken zusammen und spazierte nachdenkend im Zimmer auf und ab.

Sein Zorn war verraucht; es war nichts übrig geblieben als ein tiefer Schmerz, ein wehmüthiges Gefühl, daß ihm auch dieser Abend, die Freude, die er an demselben zu genießen gehofft, durch die Gleichgültigkeit seiner Frau verdorben worden. Würde er sie bei seinem Eintritt in das Kinderzimmer gesehen haben, so hätte es vornherein eine starke Scene gegeben, denn er war im ersten Augenblicke außer sich. So aber hatte er sich gefaßt, und er wurde kälter und kälter, je länger er in dem Salon auf und ab spazierte.

Madame ließ ihn ziemlich lange da spazieren, ehe sie erschien.

»Was hilft's mich,« dachte er in seiner übergroßen Herzensgüte, »wenn ich ihr jetzt harte oder ernste Worte sage, wenn ich sie frage, warum sie meinen Befehl nicht befolgt und mit dem Anzünden des Baumes nicht gewartet, bis ich nach Hause gekommen? – Wird sie ihr Unrecht einsehen? – Gewiß nicht! Am allerwenigsten, wenn ich es ihr ernstlich vorhalte. Und wenn sie es nicht einsieht, wird sie sich auch nicht bemühen, ihr Leben in so vielen Dingen zu ändern.«

»Nein, nein! sie wird es nicht ändern,« sprach er halblaut vor sich hin, indem er mit der Hand über die Stirne fuhr, »sie wird es nicht ändern, weil sie nie ihr Unrecht einsieht. – Auch ist es ja der heilige Christabend, und da ist es besser, ich lasse Fünfe gerade sein, als daß ich einen Streit mit ihr anfange. – Hoffentlich wird sie mich heute Abend wenigstens mit einem freundlichen [52] Gesicht empfangen, denn ihr Herz muß ihr doch sagen, daß sie schwer gefehlt, wenn sie das auch mir nicht eingestehen will. – Ach ja, sie wird zuvorkommend, vielleicht herzlich sein. – – Aber sie könnte jetzt ihren Besuch da drunten abbrechen,« fuhr er nach einer längeren Pause fort, »sie muß doch lange wissen, daß ich da bin.« –

Bald darauf hörte man Schritte auf der Treppe, die Glasthüre wurde geöffnet, dann die Salonthüre, und Madame trat herein. Ob sie ihren Gemahl mit einem Kopfnicken begrüßte, sind wir nicht im Stande, genau anzugeben; daß sie aber sein freundliches »Guten Abend« mit keiner Silbe erwiderte, darauf können wir schwören. Sie drückte die Thüre etwas stark hinter sich in's Schloß, ging langsam in die Mitte des Zimmers, wo der Tisch stand, stützte ihre Hand darauf und sagte ziemlich laut: »Da bin ich denn. – Was soll es schon wieder?«

Wir müssen gestehen, daß der Doktor durch den Anblick seiner Frau sehr unangenehm überrascht war; von dem freundlichen Gesicht, das er zu sehen gehofft, war keine Spur zu bemerken, sie stand da, den Kopf ziemlich erhoben, mit den Augen zwinkend, und nagte an der Unterlippe, was Alles bei ihr ein Zeichen schlechter Laune war.

»Das ist eine seltsame Frage von dir,« entgegnete er. – »Was du hier sollst, wenn dein Mann nach Hause kommt? – In der That seltsam für jeden Abend, aber doppelt seltsam für ein Fest wie das heutige. Da meine ich denn doch, es verstände sich von selbst, daß du, wenn du nicht auf deinem Zimmer bist und ich dich rufen lasse, freundlich kommen und mir einen guten Abend bieten könntest.«

Madame warf den Kopf auf die Seite und gab keine Antwort.

Der Doktor rieb sich die Stirne, denn er fühlte, wie ihm das Blut zu Kopfe stieg. – »Ich an deiner Stelle,« fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »hätte überhaupt am heutigen Abend meine Wohnung nicht verlassen, und das aus zweierlei Gründen: erstens, um [53] nach meinen Kindern zu sehen, die ja krank zu Bette liegen, und zweitens, um mir, deinem Manne, sogleich sagen zu können, auf welche Art die Kinder, die heute Mittag noch so frisch und munter waren, von dem Unfälle betroffen waren.«

»Und dabei wohl um Verzeihung bitten?« fragte sie mit einem bittern Lächeln.

»Wenn du etwas Unrechtes gethan hast, allerdings.« versetzte er. »Und wenn du irgendwie gegen meine Befehle gehandelt, so würde es durchaus für dich keine Schande sein, wenn du ein Wort der Entschuldigung hören ließest.«

»Es ist leicht gegen deine Befehle handeln,« antwortete die Frau, »denn du befiehlst den ganzen Tag, bald dies, bald das, bald rechts, bald links, bald so, bald so. Und diese Befehle kreuzen sich so hin und her, daß es sehr verzeihlich ist, wenn man täglich ein halbes Dutzend vergißt.«

»Gott sei Dank!« dachte der Doktor, »sie antwortet doch wenigstens. Also wird die Scene nicht so schlimm werden.«

»Deinen Befehl für den heutigen Abend, auf den du anspielst,« fuhr sie fort, »hatte ich übrigens keine Lust zu befolgen; ich sehe gar nicht ein, weßhalb ich immer warten soll, bis es dir einmal gefällt, nach Hause zu kommen.«

»Bis es mir einmal gefällt, nach Hause zu kommen?« entgegnete schmerzhaft berührt der Doktor. »Du hast sehr Unrecht, das zu sagen, da du wohl weißt, daß ich nicht Herr meiner Zeit bin.«

»Ich will mit dir nicht streiten!« sagte sie wegwerfend, »da komme ich doch zu kurz. Aber heute machte es mir nun einmal Spaß, sobald es dunkel wurde, den Kindern ihren Weihnachtsbaum anzünden zu lassen, weil es alle vernünftigen Leute gerade so machten. – Ist das denn ein fürchterliches Unrecht?«

»Ja,« sprach er fest und ruhig, aber ohne Zorn, während er sich gleichfalls dem Tische näherte und ihr gegenüber trat. »Und [54] gerade in dem Anzündenlassen liegt ein doppeltes Unrecht; hätten die armen Kinder dich gebeten, ihnen doch jetzt schon die Freude zu machen, hätte dein Mutterherz diesen zärtlichen Bitten nicht mehr widerstehen und du nicht mehr erwarten können, bis die Kinder dir jubelnd in die Arme sprangen mit herzlichem Danke, so wäre es dir zu verzeihen, daß du meinen Wunsch, meinen Befehl nicht beachtet. – Aber da es dir, – auf deinem Fauteuil,« fuhr er heftiger fort, »vollkommen gleichgültig sein konnte, ob die Kinder jetzt oder später ihren Weihnachtsbaum erhielten, – denn du sahst nicht ihr Entzücken, ihre kindliche Freude, – so hättest du das, was ich angeordnet, respektiren sollen und mir dadurch neuen Verdruß und den Kindern den Unglücksfall ersparen können.« –

»Ja, ja, es ist schon recht,« entgegnete sie und wandte dabei den Kopf ab; »es kann in diesem Hause kein Tag ohne Streitigkeiten vergehen, und wenn nichts mehr da liegt, so suchst du etwas von weiter herbei.«

»Ich suche was herbei!« sprach er im Tone des Vorwurfs.

»Was weiß ich, was dir am Tage Unangenehmes passirt ist; aber Alles, worüber du draußen deinen Zorn nicht auslassen kannst, das müssen wir hier entgelten, namentlich ich. – Ah, es ist am Ende sehr leicht, verdrießlich nach Hause zu kommen und alsdann ohne alle Ursache Scenen absichtlich herbeizuführen.«

»Scenen absichtlich herbeiführen!« versetzte er mit zornigem Lachen; »und das ohne alle Ursache! – Sage mir, Frau, woher nimmst du die Stirne, um mir nach Dem, was vorgefallen, solche Dinge in's Gesicht hinein sagen zu können. – Scenen absichtlich herbeiführen! Ich war ruhig wie ein Engel, als du in's Zimmer hereintratst, – ich hatte mir auch vorgenommen, es zu bleiben, nicht weil es auf dich einen Eindruck machen würde, sondern hauptsächlich, weil es der heilige Abend ist, – einer unserer höchsten Festtage. – Hahaha! ein schöner Festtag für mich! – Nun also, ich wollte ruhig bleiben, und ich wäre es, bei Gott im Himmel! auch [55] geblieben, wenn du – du, im Bewußtsein deines Fehlers gegen mich, es nur der Mühe werth gefunden hättest, ein Wort der Entschuldigung fallen zu lassen. – O nicht einmal das! – Ein Wort der Entschuldigung? – So viel verlangt man nicht von dir; nein, nein! nur ein freundliches Gesicht hättest du mich sollen sehen lassen, mir nur die Hand entgegen strecken und zu mir sagen: ah! da bist du ja; ich freue mich. – Dann hätte ich dir in meinem Herzen gedankt, und wenn du mir den Unfall von dahinten erzählt hättest,« – damit streckte er die Hand aus, – »so hätte ich dir liebreich gesagt: laß uns das eine Lehre sein, mein Kind, daß Eins des Andern Wünsche, wo es thunlich ist, erfüllt.«

»Also eine Lehre hätte es doch gegeben! – Nun, das habe ich mir gedacht.«

»Aber du willst keinen Frieden!« rief der Doktor laut, indem er vor Zorn zitterte, »du selbst willst nichts von Ruhe, und gönnst auch mir keine. – Nun wohlan denn, mir kann es recht sein; aber jetzt, da du mich auch wieder aus meinem stillen Frieden hinaus gejagt hast, so sollst du wenigstens hören, wie tief du mich verletzt. – Gott da oben weiß es, wie sehr ich mich den ganzen ermüdenden Tag über auf den heutigen Abend gefreut, auf meine Kinder und ihre Glückseligkeit, auf ein stilles Beisammensitzen mit euch. – Und nun ist Alles, Alles wieder dahin!«

»Im Gegentheil,« erwiderte Madame, indem sie ihrem Manne recht dreist in die Augen sah, »jetzt erst hast du erreicht, was du gewünscht: du darfst nach Herzenslust schimpfen und toben.«

»Ja, und das will ich!« schrie nun der arme Doktor im höchsten Zorne.

Und so leid es uns thut, können wir bei unserer Wahrheitsliebe dem geneigten Leser nichts verschweigen: er schlug dabei so heftig auf den Tisch, daß einige Flaschen und Gläser, die dort standen, in die Höhe fuhren.

Die Doktorin wich mit einem bösen Blick einen halben Schritt [56] zurück, warf sich aber drohend in Positur und öffnete ihre Augen so weit als möglich.

»So höre denn auch mein Toben,« fuhr er fort. »Wenn du eine Frau von Erziehung und Gefühl wärest, – o Gott! wenn du nur allein ein fühlendes Herz hättest, so würdest du begreifen, wie sich ein Vater das ganze Jahr darauf freuen kann, am Weihnachtsabend seinen lieben Kindern die Bescheerung selbst zu veranstalten; da würdest du fühlen, daß die ganze Seligkeit dieses Gebens in dem Momente liegt, wo die armen kleinen Kinder dastehen, überrascht und sprachlos vor Entzücken. – Den Moment hast du mir leichtsinnig ge – – nommen. – Und hast du vielleicht für dich selbst diesen Raub an meinem Herzen begangen? – O, das wäre verzeihlich! – Aber nein! – nein! – nein! Du stahlst mir diese kostbare Stunde, um sie in höchster Gleichgültigkeit fremden Leuten hinzuwerfen, die sie doch nicht zu würdigen verstehen.«

Madame nagte heftig an ihrer Unterlippe, zwinkerte auch etwas stärker als gewöhnlich mit den Augen, sonst aber ließ sich auf ihrem leidenschaftslosen Gesichte keine Spur irgend einer Aufregung ersehen, ja sie lächelte sogar, als sie sagte: »Dein Humor von heute Abend übertrifft sich. Du sprichst von Bildung und Gefühl, und wirfst deiner Frau vor, sie raube und stehle.«

Der Doktor zuckte heftig zusammen, denn das war eins ihrer gewöhnlichen Manöver, daß sie irgend ein Wort aus dem Zusammenhange oder dem Sinn des Ganzen heraus riß und ihm nun hartnäckig vorwarf.

»Also ich raube und stehle?« wiederholte sie. »Schön! das habe ich noch nicht gewußt.«

»Eine kostbare Stunde hast du mir heute Abend wieder geraubt, wie schon früher unzählige, habe ich gesagt und sage es wieder,« entgegnete der Doktor, indem er die geballte Faust auf den Tisch stützte und ihr, sich vorn überbeugend, fest in die Augen sah. – »Nur in der Beziehung, sprach ich dieses Wort; ich bitte – Frau [57] – daß du die Gnade haben mögest, mich zu verstehen, mir nicht den Sinn meiner Worte zu verdrehen und mich jetzt einmal ohne Einwendung anzuhören, bis ich zu Ende bin.«

»Wenn die Scene noch lange andauern soll,« erwiderte sie, »so wirst du mir vielleicht erlauben, daß ich mich einen Augenblick niedersetze, denn ich kann das sitzend ebenso gut wie stehend genießen.«

Damit wollte sie sich vom Tische entfernen, doch faßte der Doktor in höchster Wuth nach ihrem Handgelenke, nahm es fest zwischen seine Finger und hielt sie auf diese Art zurück.

»Nein,« sagte er und seine Augen sprühten Blitze, »du sollst mich stehend anhören, denn meine Rede soll deine Strafe sein, und Strafen empfängt man nicht im weichen Fauteuil – Madame! – Wenn überhaupt nicht das Sitzen deine Leidenschaft wäre, so stände es anders um mein Haus, um mich und die Kinder. Aber was kann man von den Dienstboten verlangen, wo Madame zu – faul ist, – ja, ich habe es gesagt, – um sich auch nur im Geringsten ihres Hauswesens anzunehmen! Der Beweis ist der heutige Abend. Ist es nicht Faulheit und Gleichgiltigkeit, – von mangelndem Gefühl will ich gar nicht mehr reden, – daß sich Madame am heutigen Abend den Teufel um ihre Kinder bekümmert, sie fremden Leuten überläßt? – Fremden Leuten, die so wenig überwacht sind, daß sie sich ihrerseits ebenfalls unterstehen, die armen Geschöpfe ohne Aufsicht zu lassen, so daß nur der Schutz des guten Gottes daran schuld ist, daß nicht Brandunglück und Tod in meinem Haus eingekehrt sind.«

Bei diesen letzten Worten ließ er ihre Hand los und faltete seine Arme auf der Brust, wobei er tief Athem schöpfte und die Frau mit einem festen Blicke ansah.

Madame war vorhin ein klein wenig erbleicht, doch faßte sie sich bald wieder, und als sich von ihrem Handgelenke die umklammernden Finger ihres Gatten gelöst, blickte sie die Röthe, die durch [58] diesen Druck entstanden, einen Augenblick mit verächtlich aufgeworfenem Munde an, dann sagte sie achselzuckend: »Natürlicherweise, so muß man mich behandeln! Ich verdiene das, denn was kann Jemand, der raubt und stiehlt, und der an Brandunglück und Tod im eigenen Hause schuld ist, anders verlangen? – Aber ich habe diese Scenen satt,« fuhr sie nach einer Pause fort, »vollkommen satt und ertrage sie nicht länger. – Ich sehe wohl, daß ich anfange hier überflüssig zu werden, und machen kann, was ich will, ohne daß ich im Stande bin, Streit, Zank – alles Mögliche zu verhüten. – Auch bin ich zu stolz, irgendwo geduldet zu sein; meine Rechte als Hausfrau scheint man hier nicht anerkennen zu wollen, indem man mich wie eine Magd behandelt. Das will ich ändern und deßhalb heute noch zu meiner Mutter hinaus, um mich mit ihr zu besprechen, wie diese Sache auf die schicklichste Art und zur Zufriedenheit beider Theile geändert werden kann.« – Sie warf den Kopf in die Höhe und stemmte die rechte Hand fest auf den Tisch. Dann schloß sie nach einer kleinen Pause: »Ich werde hoffentlich die Erlaubniß erhalten, über diesen Gegenstand mit meiner Mutter sprechen zu dürfen?« – Sie wartete einen kleinen Augenblick auf Antwort, dann wandte sie sich um und eilte zum Zimmer hinaus, wobei ihr Fuß hart auftrat und ihr Kleid aus schwerem Seidenstoffe heftig rauschte.

Draußen auf dem Gange stoben die drei dienstbaren Geister, die Köchin, die Kindsfrau und das Stubenmädchen, eilfertig auseinander und von der Thüre weg, als sie vernahmen, daß diese geöffnet wurde. Sie hatten es in ihrer Diensttreue für nothwendig gehalten, kein Wort von der kostbaren Scene im Salon zu verlieren, und die Dame der Küche ließ aus diesem wichtigen Grunde die Suppe verbrennen, Nanette vergaß ihre Stickerei, und Frau Bendel konnte es nicht sehen, daß Anna sich in ihrem Bettchen aufgerichtet hatte und sehnsüchtig nach der Wärterin rief, weil sie die Wunde am Kopfe wieder schmerzte.

[59] Es ist schade, daß wir in diese wahrhaftige Geschichte keine Spukgestalten hinein bringen können, denn sonst würden wir, gewiß zum großen Vergnügen des geneigten Lesers, hier einen Prügelgeist erfinden, der unsichtbar hinter den Zuhörern auf dem Gange stände, um im geeigneten Momente eine Legion unsichtbarer, aber sehr kräftiger Ohrfeigen loszulassen. – O, wenn es nur solche Prügelgeister gäbe!

Der Doktor war an dem Tische stehen geblieben und hatte seiner Frau nachgeblickt, bis sich die Thüre hinter ihr geschlossen, dann ließ er die Arme sinken, seufzte aus tiefem Herzensgrunde und sagte: »Sie mag thun, was sie verantworten kann, ich will sie nicht zurückhalten.«

Hierauf nahm er die Carcelllampe vom Tisch, doch während er sie in sein Arbeitszimmer hinüber trug, zitterte seine Hand so heftig, daß Kugeln und Glas beständig zusammen klirrten.

48. Kapitel
Achtundvierzigstes Kapitel.
Eine Mutter und ihr Kind.

Zwischen seinen Büchern und alten bekannten Möbeln und Geräthschaften ging der Doktor längere Zeit auf und ab und gedachte der eben vergangenen Scene. Der Anblick all' der bekannten und traulichen Gegenstände, die ihn schon seit langen, langen Jahren umgaben, – Manches stammte ja noch aus seiner Kinder-und Schulzeit her, – beruhigte allmälig seine Nerven und ließ sein Herz langsamer schlagen. – War er zu heftig gewesen? – Anfänglich [60] gewiß nicht, und am Ende hatte sie ja mit Gewalt seine Geduld zerrissen. – Nein, nein! Diesmal konnte er sich nicht selbst anklagen; er hatte ihrem Kommen mit den besten Gedanken entgegen gesehen; hätte sie ihm nur die Hand gereicht und gesagt: es ist mir leid, daß das Alles geschehen, laß es gut sein! – o, dann hätte er einen heiteren Abend erlebt, anstatt daß er sich jetzt so trostlos und unglücklich fühlte. – Hatte sie doch ruhig auf eine Scheidung angespielt, und den Gedanken konnte er nicht fassen und ertragen bei allen Fehlern, die sie hatte; auch war sie ja die Mutter seiner Kinder, und er hatte noch immer gehofft. – Wenn sie aber an dem ausgesprochenen unglücklichen Gedanken festhielt, so war Alles für ihn verloren, denn er liebte sie immer noch.

Von diesen finsteren Gedanken überwältigt, warf er sich in seinen Lehnstuhl und vergrub den Kopf in beide Hände. Er verfiel in jenen Zustand, wo man nicht mehr denkt, sondern wachend träumt, wo traurige und heitere Bilder mit einander kämpfen, wo jener wilde Schmerz, der unser Innerstes empört, ruhiger wird, wo nur tief im Herzen die eben überstandenen Leiden bei jedem Athemzuge nachzittern.

Draußen an der Glasthüre wurde jetzt die Klingel sanft gezogen; die Köchin öffnete, eine leise Stimme flüsterte etwas und darauf antwortete Jene: »Der Herr Doktor sind nur zu sprechen Mittags von Zwei bis Drei, sowie Mittwoch und Samstag Nachmittag zwischen sechs und sieben Uhr.«

Die fragende Person schien nichts darauf zu antworten, wenigstens vernahm man im Zimmer nichts.

»Auch werden Sie wohl wissen, daß heute der Weihnachtsabend und schon acht Uhr vorbei ist. – Nein, ich kann dem Herrn Doktor Niemand melden, Sie müssen schon morgen Früh wieder kommen.«

»Das kann ich auch,« hörte man die andere Stimme sagen, »das kann ich auch, und bitte ich sehr zu entschuldigen.«

[61] Der Doktor fuhr aus seinen Träumereien empor und zog die Klingel, die neben seinem Schreibtische hing.

Da draußen war eine Leidende, die man eben abweisen wollte; ihm erschien es aber in diesem Augenblicke als eine Beruhigung, das Unglück Anderer zu hören, es vielleicht lindern zu können. Auch zog ihn der Klang der Stimme draußen an: er war so leise und klagend.

Die Köchin trat in das Zimmer.

»Wer war draußen? – Wer hat geschellt?«

»Eine unbedeutende Person, – ein ärmlich aussehendes Frauenzimmer; ich habe sie auf morgen früh wieder bestellt.«

»Lassen Sie sie nur herein kommen.«

»Ja, sie wird schon fort sein.«

»So eilen Sie die Treppe hinab und holen sie herauf.«

Die Köchin ging hinaus, schloß die Glasthüre hinter sich, man hörte sie in den untern Stock hinunter laufen, und wenige Augenblicke darauf kam sie wieder zurück, öffnete die Thüre zum Arbeitszimmer ihres Herrn und ließ ein Frauenzimmer eintreten, das schüchtern auf der Schwelle stehen blieb.

»Sie haben mich noch heute Abend sprechen wollen?« fragte sanft der Doktor.

»Ja, und ich bitte sehr um Verzeihung,« entgegnete die Eingetretene; »ich weiß wohl, daß ich eine ziemlich unpassende Zeit gewählt habe.«

»Wenn man krank ist, so kann man das nicht so genau nehmen. – Womit kann ich Ihnen helfen? Sind Sie von Jemand anders zu mir geschickt oder selbst krank?«

Das Mädchen schwieg einen Augenblick still, dann aber näherte sie sich mit einigen schüchternen Schritten dem Arzt, faltete ihre Hände und sagte: »Beides ist nicht der Fall, Herr Doktor: ich bin von Niemanden geschickt und auch nicht selbst krank.«

»So wollen Sie auf andere Art meine Hilfe in Anspruch [62] nehmen?« entgegnete der Arzt, indem er die Hand an eine Schublade seines Schreibtisches legte, da er dachte: man will ein Almosen von mir haben.

Mochte nun das Mädchen die Bewegung des Doktors verstanden oder den Blick begriffen haben, den er zu gleicher Zeit über ihre ganze Gestalt hinlaufen ließ, genug, sie sagte eifrig: »Um Ihre Hilfe bitte ich wohl, Herr Doktor, das heißt, nur um Ihre Hilfe in Worten – um Ihren Rath.«

»Aha! – Also doch eine Art ärztlicher Konsultation? – So bitte ich, Platz zu nehmen.«

Dabei stand er auf, schob ihr einen Stuhl hin und hob alsdann den Schirm von der Lampe, so daß das volle Licht auf des Mädchens Gesicht fiel. Ein Blick auf diese Züge belehrte übrigens den Arzt, daß er doch eine Kranke vor sich habe, und zwar eine schwer Kranke, eine Unheilbare. – Es war Katharine, die Nähterin, die sich nun vor ihm auf den Stuhl nieder ließ, und deren Brust sich heftig hob und senkte, wobei sie den Mund leicht geöffnet hatte und die Nasenflügel zitternd jedem Athemzuge folgten. Die Wangen waren noch bleicher als vor einiger Zeit, und die Röthe auf den selben dunkler und brennender.

»Vor allen Dingen,« sprach das Mädchen, »muß ich Sie um Verzeihung bitten, daß ich es gewagt, Sie am heutigen heiligen Abend zu stören; vielleicht hatte ich Unrecht, aber ich dachte mir, der Christabend mit seinen Freuden, mit den angenehmen Stunden, wenn man den Kindern etwas bescheert hat, mache Sie noch freundlicher gesinnt als Sie sonst wohl sind, und geneigter, etwas für mich zu thun.«

»Wenn es in meiner Macht liegt, Ihnen zu helfen, so soll es geschehen,« entgegnete der Doktor. – »Sprechen Sie!«

Katharine that einen tiefen Athemzug, dann zog sie ihr Umschlagtuch mit den zitternden Fingern etwas von der Schulter herab und sagte, indem sie die glänzenden Augen niederschlug: »Es wird [63] mir recht schwer, anzufangen, Herr Doktor; aber dem Arzte kann man ja Alles sagen wie dem Pfarrer, und so will ich denn auch Ihnen beichten. – Ich hatte ein Kind, ein kleines, liebes Kind –«

Der Doktor wollte eine Frage thun, doch kam ihm Katharine zuvor, indem sie fortfuhr:

»Nein, nein, ich bin nicht verheirathet.«

»Nun denn, so erzählen Sie weiter,« sprach er mit gutmüthigem Tone.

»Dieses Kind hatte ich zu einer Frau gethan, die es recht ordentlich verpflegte; es gedieh auch, – so schien es mir wenigstens, – denn wenn ich Sonntags zu ihm ging, so konnte ich schon bemerken, daß seine Bäckchen dicker wurden, und auch die Aermchen und Hände. – Man sieht so was leicht.«

»Und das Kostgeld bezahlten Sie aus eigenen Mitteln?« fragte der Doktor. – Er hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt und betrachtete die Person vor sich mit aufmerksamen Blicken.

»Aus eigenen Mitteln,« wiederholte sie. »Ich brauche ja für meine Person nicht viel, und wenn man für sein Kind arbeitet, so ist es gar nicht mühsam, vom Morgen bis in die Nacht zu nähen, – gewiß nicht.«

»Aber der Vater dieses Kindes?« fragte der Doktor zögernd.

»O ich wollte nichts von ihm,« erwiderte Katharine, indem sie die Hand ausstreckte, »nicht einen Kreuzer mehr, nachdem er mich verlassen.«

»Ah so! – ich verstehe.«

»Ich war so glücklich mit meinem kleinen Kinde, so glücklich, daß ich es gar nicht sagen kann. Ich muß Ihnen das gestehen, Herr Doktor, damit Sie auch begreifen, wie sehr mich der fürchterliche Schlag traf, als man mir eines Tages sagte, das Kind sei plötzlich gestorben.«

»Und Sie wußten nichts von seiner Krankheit?«

»Nicht das Geringste.«

[64] »Und man rief Sie nicht, als das Kind im Sterben war?«

»Man rief mich nicht; man hatte es sogar schon begraben, als ich seinen Tod erfuhr und man mir diesen Todtenschein hier einhändigte.«

»Lassen Sie sehen.«

Katharine reichte dem Arzte das Papier, das er auseinander faltete und genau durchsah. »Nach diesem Schein,« sagte er, »ist freilich kein Zweifel, daß bei einer Frau – Bilz ein Kind, Mädchen, von zwei Jahren in der Nacht von dem auf den gestorben ist. – Alles ist hier in Ordnung, jede Formalität erfüllt und die Unterschrift richtig.«

»Aber das Kind ist darum doch nicht gestorben,« sprach das Mädchen mit einem seltsamen Lächeln.

»Wie meinen Sie das?« entgegnete aufmerksam der Doktor. – »Meinen Sie vielleicht, nicht von selbst gestorben? – Vielleicht gar getödtet worden? – O seien Sie unbesorgt, die Leichenschau nimmt es, namentlich in diesen Fällen, sehr genau.«

»O nein,« antwortete das Mädchen, »es ist da nichts Schlimmeres geschehen, als daß man mein Kind heimlich fortgenommen und ein anderes untergeschoben hat, über welches dieser Schein ausgestellt wurde.«

»Ich verstehe Sie nicht recht,« sagte der Doktor; »es mußte doch Jemand einen Zweck dabei gehabt haben, Ihr Kind verschwinden und Ihnen als todt erscheinen zu lassen.«

»O, an einem Zweck fehlt's nicht!« versetzte Katharine, nachdem sie leicht gehustet; »der Vater des Kindes, – er ist von sehr ordentlicher Familie,« sprach sie mit einigem Stolze, – »steht im Begriff, sich zu verheirathen. Seine Verwandtschaft nun, der mein armes Kind schon lange im Wege war, hat endlich die Mittel gefunden, es auf die angegebene Art auf die Seite zu schaffen.«

»Das ist ja ein Verbrechen!« rief der Arzt.

[65] »Gott sei Dank, daß sie kein schlimmeres begingen, daß sie wenigstens das Kind am Leben ließen! – Sie haben es also fortgeschafft und ein anderes krankes Kind dafür hingebracht, das nun gestorben ist und über dessen Tod jener Schein ausgestellt wurde.«

»Möglich! – möglich!«

»Nicht nur möglich,« entgegnete das Mädchen, während es sich mit seiner zitternden Hand über die Stirne fuhr, »es ist gewiß, wir haben Beweise dafür, die besten, vollgiltigsten Beweise; wir wissen, wo sich das Kind aufhält, können es aber nur mit großen Schwierigkeiten wieder erlangen.«

»Das kann ich mir wohl denken,« versetzte der Doktor. »Doch bitte, erzählen Sie mir das, wenn es Sie nicht zu sehr anstrengt.«

»O nein,« erwiderte das Mädchen mit strahlenden Augen. »Diese Erlaubniß macht mich glücklich; ich kam auch deßwegen hieher, und weiß nicht, wie sehr ich Ihnen danken soll, daß Sie so freundlich sind, die Leidensgeschichte eines armen unbedeutenden Geschöpfes, wie ich bin, anzuhören.«

»Das ist ja für uns nichts Neues,« sagte freundlich der Arzt, »wir sind auch eine Art von Beichtigern, und da wir den Ursprung der äußerlichen menschlichen Leiden im Verlaufe der Krankheiten meistens erkennen, so ist es uns leicht, aus einzelnen Ausrufen des Schmerzes und der Verzweiflung eine ganze Lebensgeschichte zu erfahren. Und da hat ein Wort des Trostes aus unserem Munde oft schon besser gethan als die kräftigste Arznei; darum sprechen Sie ohne Rückhalt.«

»Ich stehe ziemlich allein in der Welt,« sprach das Mädchen hierauf mit einem trüben Lächeln; »es kümmert sich wohl Niemand um mich, und ich mich, seit das Kind verschwunden ist, leider auch nicht mehr so recht innig um irgend eine Seele. Früher war das anders und ich hatte die Menschen viel lieber. – Also das Kind war verschwunden, es sollte todt sein; man gab mir ja den richtig ausgestellten Schein darüber. Ich muß gestehen, daß [66] ich damals so schwach war, in eine Ohnmacht zu fallen. Das war im Hause einer gewissen Madame Becker.«

Der Doktor blickte nachdenkend in die Höhe und zog die Augenbrauen zusammen.

»Meine Eltern hatten diese Madame Becker gekannt,« fuhr Katharine schüchtern fort, da sie die sonderbare Miene des Arztes bemerkte. »Ich weiß, man sagt dieser Frau nicht viel Gutes nach, aber ich kenne besonders ihre Nichte, die ich auch früher häufig besuchte –«

»Ah! die Tänzerin! –«

»Dieselbe; – gewiß in jeder Beziehung ein braves und rechtschaffenes Mädchen.«

»Ja, das soll sie sein,« sagte der Dokter mit einem eigenthümlichen Lächeln. »In der That eine Tugend, die schon manchen bösen Winken widerstanden. – Ich habe davon gehört,« setzte er mit dem Kopfe nickend nach einer kleinen Pause hinzu. – »Aber fahren Sie fort!«

»Ich verlor also die Besinnung,« erzählte Katharine weiter, »als jene Frau, der ich mein Kind anvertraut hatte, mir bei Madame Becker so unverhofft die Todesnachricht brachte.«

»Wie hieß diese Frau?«

»Frau Bilz.«

»A – a – a – h!«

»Meine Freundin, die Tänzerin, die mein Schicksal außerordentlich interessirte, hörte nun ein paar Worte, welche jene beiden Frauen im Nebenzimmer zusammen sprachen, und glaubte daraus zu entnehmen, daß mein Kind nicht gestorben, sondern, wie ich schon früher sagte, mit einem anderen vertauscht worden sei. – Ich wandte mich an einen Polizeidiener, den ich kannte, dieser versicherte mir aber, wie eben der Herr Doktor, der Todtenschein sei richtig, und wenn man die Sache anhängig machen könne und das Kind wieder ausgraben lasse, so werde es mir dagegen schwer, ja [67] unmöglich sein, Beweise dafür beizubringen, daß das verstorbene Kind nicht das meinige gewesen sei. Eine gleiche Antwort erhielt ich von einem Advokaten, an den ich mich wandte, welcher obendrein meinte, ich solle lieber die Sache auf sich beruhen lassen, möglich sei es ja doch, daß mein Kind wirklich gestorben, und ich sei dadurch bei meiner augenscheinlichen Armuth und Kränklichkeit einer großen Last überhoben. – Der Advokat aber hatte keine Kinder, Herr Doktor, und wußte nicht, wie lieb man ein solches kleines Wesen haben kann, welche Seligkeit es ist, sein Gesicht, seine Aermchen und seine Hände mit Küssen zu bedecken und zu sehen, wie es täglich größer wird und erstarkt, – oder wenn es elend und schwach bleibt, wie wohl es ihm thut, wenn man es an's Herz drückt, und wenn man es in den Armen einschläfert. – Aber da schwätze ich wieder,« unterbrach sie sich schmerzlich lächelnd, indem sie mit der Hand einige Schweißtropfen abwischte, die auf ihrer kalten Stirne standen. – »Verzeihen Sie mir, Herr Doktor, aber ich will jetzt ganz bei der Sache bleiben.«

Ihr Zuhörer hatte den Kopf in die Hand gestützt, und er hatte die Worte des armen Mädchens wohl begriffen. »Ah!« dachte er seufzend, »noch ungleicher als die Glücksgüter sind in diesem Leben die schönen und zarten Gefühle vertheilt. Warum denkt nicht jenes Weib wie dies arme Geschöpf!«

»Da uns also der gewöhnliche Rechtsbeistand nicht helfen wollte,« fuhr Katharine fort, »so besprachen wir unter uns mein Schicksal, die Tänzerin Marie, eine Andere vom Ballet, welche sie genau kennt, und die uns sagte, es gäbe in der Stadt mehrere Häuser, wo man kleine Kinder für ein Billiges in die Kost nimmt, und wo sie auch vielleicht mein armes Kind hingethan hätten. – Nicht wahr, Herr Doktor, es gibt solche Anstalten?«

»Leider, leider! Und wie sehr man sich auch bemüht, man ist nicht im Stande, sie aufzuheben, sie zu verbieten oder wenigstens unter Aufsicht zu stellen, denn ich kann am Ende meinem Nebenmenschen[68] nicht befehlen, für sein Kind nahrhafte Speisen zu kochen oder ihm sorgfältige Wartung angedeihen zu lassen, wenn ihm das Geld hiezu mangelt. Zuweilen hebt die Polizei wohl auf Verdacht hin so ein Nest aus, aber sie sind verflucht schlau und nehmen sich in Acht.«

»Und die Kinder haben es dort sehr schlecht?« fragte ängstlich das Mädchen.

»Meistens, ja,« entgegnete der Doktor nach einigem Ueberlegen; »von zehn sterben sieben bis acht.«

»Gerechter Gott! – Aber doch wohl nur von ganz kleinen Kindern müssen so viele sterben?«

»Ja, wenn sie älter sind, halten sie schon mehr aus. – Wie alt war das Ihrige?«

»Zwei Jahre vorbei.«

Der Arzt schüttelte mit dem Kopfe und zuckte die Achseln, als er bemerkte, wie das Mädchen mit höchster Aufmerksamkeit, den Athem an sich haltend, ihn mit ihren unheimlich glänzenden Augen anschaute. – »Aber beruhigen Sie sich, wenn Ihre Angaben richtig sind und das Kind noch lebt, so kommt ja Alles darauf an, wo es sich befindet. Es gibt auch unter den Leuten welche, die ordentlich sind und ihre Pflicht erfüllen.«

»Die Tänzerin Marie,« fuhr Katharine zu erzählen fort, »kennt einen Zimmermann des Theaters, und dieser erfuhr, nachdem er sich umgehört, daß ein anderer Angestellter der Bühne, der Garderobegehilfe Herr Schellinger, draußen in der Vorstadt in einem Hause wohne, wo solche kleine Kinder aufbewahrt werden.«

»Welche Vorstadt ist es und welches Haus?«

»Es ist, wenn man zum E'schen Thore hinaus geht, sich dann rechts wendet und zur Vorstadt des Flusses kommt; das Haus liegt zwischen Gärten an der alten Stadtmauer und ist so versteckt, daß die Nachbarschaft selten etwas von dem erfährt, was dort vorgeht.«

»Aha!« machte der Doktor.

[69] »Der Garderobegehilfe wohnt in einem kleinen, sehr baufälligen Vorderhause, und hinter demselben ist die Wohnung des Meister Schwemmer, dessen Frau die kleinen Kinder aufzieht.«

»Ah! der Meister Schwemmer!« rief der Doktor, indem er sich aufmerksam empor richtete. »Ei! ei! – Und nun glauben Sie, daß da Ihr Kind sei?«

»Und ist das eine von den schlimmsten Anstalten?« fragte das Mädchen, erschreckt von dem Gesichtsausdruck ihres Gegenübers.

Dieser zögerte einen Augenblick, Antwort zu geben, dann aber sagte er: »Ich will Ihnen nicht die Wahrheit verbergen: man spricht von diesem Meister Schwemmer nicht viel Gutes; natürlicherweise bin ich noch nie dorthin gekommen; unsereins läßt man nicht da eindringen. – Aber es soll ein gar böses Hauswesen sein.«

»Und wären die wohl im Stande, mein armes Kind umzubringen?«

»Mit offener Gewalt gewiß nicht, denn die Leichenschau nimmt es dort außerordentlich genau. Aber –« er zuckte die Achseln und schwieg.

»O, ich verstehe!« rief das Mädchen, dessen Augen flammten, während sie ihre Hände heftig auf die Brust drückte, als wollte sie es dadurch möglich machen, daß der pfeifende Athem leichter aus- und einzöge. – »O, ich verstehe Sie; nicht einen schnellen schmerzlosen Tod gönnen sie den armen Geschöpfen, sondern sie lassen sie langsam verkümmern durch elendes Leben, durch Frost und Hunger. Und da ist auch mein kleines unglückliches Mädchen!«

»Seien Sie ruhig! seien Sie ruhig!« bat der Doktor, während er ihre Hände, die wild umher fuhren, sanft unterdrückte; »das geht nicht so schnell, daß so ein zweijähriges Kind vor Hunger und Frost umkommt; und wenn Sie wirklich auf der Spur sind, so muß man schnelle Hilfe zu bringen suchen.«

»Ja, Sie haben Recht,« erwiderte Katharine, die nach einer Pause der Ermattung nun wieder ihre Kräfte zusammen nahm. [70] »Herr Schellinger, dem wir also unser Leid mittheilten, – es ist das ein alter, sehr braver Mann, – versprach, sich auf Kundschaft zu legen und hat das gethan. – Richtig, Herr Doktor, das Kind lebt und befindet sich dort in dem Hause; er hat es gesehen, obgleich er so recht nicht mit der Sprache heraus und mir sagen wollte, wie es sich befände. Es hatte noch sein blaues Wollenkleidchen an, das letzte, welches ich ihm gemacht, und es saß auf dem Boden und spielte.«

»Nun, sehen Sie,« sagte gutmüthig der Doktor, »es spielte. Da wird's denn doch nicht so schlimm mit ihm stehen.«

»Jetzt vielleicht noch nicht,« entgegnete das Mädchen; »aber es ist mein Kind und ich soll es nicht sehen und küssen dürfen, ich soll es vielleicht nie mehr wieder haben, denn auf gütlichem Wege geben sie mir es nicht heraus.«

»Das glaube ich auch,« meinte der Arzt; »denn sonst würden sie ja den Tausch eingestehen sowie den unterschobenen Todtenschein.«

»Aber was soll ich machen, wenn ich es nicht in Gutem heraus kriege? – Ich weiß dann nur ein Mittel, und das ist das gleiche, mit dem sie mir mein Kind entwendet, die Gewalt. Und so muß ich es auch wieder zu bekommen suchen.«

»Das wird aber ein schwieriges Unternehmen sein; denn bei den Leuten Gewalt anzuwenden und mit Gewalt etwas zu erlangen, ist wohl, kaum möglich.«

»Vor den Schwierigkeiten, die es hat, schrecken wir nicht zurück,« entgegnete Katharine, »aber vor etwas Anderem, und deßhalb bin ich auch eigentlich hieher gekommen, um darüber Ihren Rath zu hören. – Man hat mir also mein Kind gestohlen, und in der Absicht, es mir nicht zurückzugeben, hält man es verborgen und von mir entfernt. Glauben Sie nun, Herr Doktor, daß es von mir Unrecht oder, wenn Sie wollen, eine Sünde ist, wenn ich den Versuch mache, mein Kind wieder zu erhalten, sei es durch Güte, sei es durch Gewalt?«

[71] »Das ist eine eigenthümliche Frage, und zur Beantwortung derselben sollten Sie sich eher an einen Pfarrer als an mich wenden, der kann Ihnen diesen Fall klarer und besser auseinander setzen.«

»Ach mein Gott! das habe ich ja schon gethan,« erwiderte das Mädchen, indem es kummervoll seine Hände faltete; »heute that ich es und trug einem Geistlichen die ganze Geschichte so vor, wie ich sie Ihnen soeben erzählte.«

»Und der meinte –?«

»Ach! wenn ich Ihnen das sage, so sind Sie vielleicht auch derselben Ansicht.«

»O nein, gewiß nicht! Ich lasse mich nicht leicht durch anderer Leute Meinung bestimmen.«

»Er meinte also,« fuhr Katharine in einem dumpfen Tone fort, nachdem sie mit der Hand über die Augen gefahren, – »er meinte – fast dasselbe wie der Advokat, nur mit ganz anderen Worten. Ich soll auf das Heil meiner Seele denken, sagte er, und mich nicht so viel mehr mit dem Irdischen befassen. – Was das Kind anbelange, so fuhr er fort, der Herr habe es gegeben, der Herr habe es genommen, und wenn es sein weiser Rathschluß wäre, es nochmals meinen Händen anzuvertrauen, so würde das gewiß auch ohne mein Zuthun geschehen. – Aber Gewalt mit Gewalt zu vertreiben sei Unrecht, und sündhaft, unserem Nebenmenschen Unrecht zu thun, weil er uns welches gethan. – Und damit entließ er mich, indem er versicherte, in diesem speziellen Falle durchaus nichts für mich thun zu können; er möchte wohl den Versuch machen, das Herz jenes Meister Schwemmer zu rühren und ihm vielleicht ein Bekenntniß zu entlocken, aber es sei ihm das jetzt unmöglich, weil er gerade im Begriffe stehen, zum allgemeinen Kirchentag abzureisen. – Sehen Sie, Herr Doktor, das macht mich zweifelhaft; denn ich will Ihnen nur gestehen, vor langen Jahren im Leichtsinne der Jugend, wo ich noch glaubte, die ganze Welt stände mir [72] offen, hätte ich darauf nichts gegeben, jetzt aber, wo ich wohl fühle, daß meine Tage gezählt sind, hat mich diese Rede durchschauert und ich wußte nicht, was ich machen sollte. Wen konnte ich noch um Rath fragen? – Ich habe ja Niemand in der weiten Welt, der einen innigen Antheil an mir zu nehmen hätte. – – Da sah ich Sie heute, es war bei einer armen Familie in der unteren Stadt, wo ich öfters nähe, und wo auch Sie hinkamen am heutigen heiligen Abend, um nach der kranken Frau zu sehen und den Kindern dabei einige Weihnachtsgaben zu bringen. – Das hat mich so gerührt, daß ich Ihre Hand hätte küssen mögen und daß ich nachher noch lange geweint habe. – Und als die Frau Ihnen klagte, ihre Schwermuth nehme so überhand, sie könne sich wohl nimmermehr aus ihrer Krankheit und ihrem Elend emporraffen, und sie bitte nur Gott um ein sanftes Sterbestündlein, da sprachen Sie: diese Rede ist nicht recht, Frau; man muß freilich auf Gott vertrauen, aber dabei nicht die Hände in den Schoß legen, wer sich selbst verläßt, den verläßt auch er; Wunder geschehen nicht mehr heutzutage, und wenn man in eine schwierige Lage kommt, so muß man Hand und Fuß regen, um über dem Wasser zu bleiben. – Also Muth! Muth! – Dieses Muth! Muth! mit dem Sie das Zimmer verließen, Herr Doktor, klang auch in meinem Herzen wider und tönte dort immer fort. Ja, sagte ich zu mir, wer sich selbst verläßt, den verläßt auch der liebe Gott. Und nun stand auf einmal der Wunsch in mir fest, Sie um jeden Preis zu sprechen, Ihnen meine Sache vorzutragen und um Ihren Rath zu bitten. – Und das habe ich nun nach meinen besten Kräften gethan.«

Der Arzt hatte dieser längeren Rede aufmerksam zugehört, zuweilen mit dem Kopfe genickt und über den Unfall nachgedacht. – »Da wäre freilich zu überlegen, was zu machen ist,« sagte er nach einer größeren Pause. »Mit Hilfe der Gerichte, denke ich mir wohl, ist nichts auszurichten, denn darin bin ich auch einverstanden, daß Sie nicht zu beweisen im Stande sind, jenes Kind, das Sie [73] vielleicht finden, sei das Ihrige. Was nun aber List oder Gewalt anbelangt, so weiß ich nicht, welche Kräfte Sie zu Ihrer Verfügung haben und ob Sie wohl des Gelingens gewiß sind.«

»Der Zimmermann, von dem ich mit Ihnen vorhin sprach,« versetzte Katharine, »hat sich mit Mehreren vereinigt, und die wollen nun in einer Nacht mit Gewalt in das Haus des Meister Schwemmer dringen, nach dem Kinde sehen, und dieses, wenn sie es finden, mitnehmen.«

»Das wäre offenbar Einbruch oder wenigstens Störung des Hausfriedens, und dazu könnte ich Niemand rathen.«

»Aber sie wollen ja nichts stehlen,« entgegnete unbefangen das Mädchen, »sie wollen ja nur mein Kind wieder nehmen.«

Der Doktor schüttelte ernsthaft mit dem Kopfe.

»Oder,« fuhr Katharine fort, »können sie es auch noch auf andere Art, mit List, versuchen.«

»Das ginge eher. – Aber auf welche Art?«

»Der Garderobegehilfe, von dem ich Ihnen früher sprach, und der zuweilen den Meister Schwemmer besucht, will an einem gewissen Abend hingehen und ihnen von seinen Geschichten erzählen. Er thut das oft, und der Meister Schwemmer, sowie die übrigen Gesellen, die wohl da sind, machen sich alsdann über den alten Herrn Schellinger lustig, und es gibt bisweilen kleine Streitigkeiten, die aber, weil er als ein alter schwacher Mann natürlicherweise nachgeben muß, bald zu Ende gehen. An dem Abend aber will er einen ernstlichen Streit herbeiführen, will nicht nachgeben und sich so lange mit Ihnen herumzanken, bis ihn Einer von den Leuten anfaßt, – dann schreit er um Hilfe, und der Zimmermann und seine Freunde, die schon lange um das Haus herum versteckt warten, eilen nun herbei, befreien ihn und halten dann ein klein wenig Haussuchung.«

»Das ist schon eher etwas, was sich hören läßt,« sagte lächelnd der Doktor. »Es ist freilich von dem alten Herrn ein gefährliches [74] Unternehmen, in ein solches Wespennest hinein zu stechen; aber am Ende könnte die Sache auf diese Art doch gelingen.«

»Und Sie, Herr Doktor, halten es für kein Unrecht, für keine Sünde, wenn ich einen solchen Versuch mache, mein Kind wieder zu erhalten? – Sie werden mir nicht davon abrathen?«

»Zwischen abrathen und Ihnen zugeben, daß ich es für kein Unrecht oder keine Sünde halte, ist ein großer Unterschied. Was das Letztere betrifft, so sage ich aus voller Ueberzeugung, daß ich es am Ende sogar für verzeihlich halte, wenn Sie alle Schritte thun, Ihr Kind wieder zu bekommen. – Aber Ihnen rathen zu einer That, die, wenn auch mit List begonnen, doch sehr gewaltthätig enden kann, das mag ich nicht.«

»Das ist ja auch mein Hauptkummer,« entgegnete Katharine nach einer kleinen Pause, »daß Andere, die ich eigentlich gar nichts angehe, für mich handeln, ja vielleicht für mich leiden sollen, denn Sie haben Recht: es könnte da eine schlimme Geschichte entstehen. Aber wenn ich bedenke, daß mein Kind in Kummer und Noth zu Grunde gehen soll, und daß ich es vielleicht auf diese Art zu retten vermag, – o Herr Doktor, da kann ich nicht lang überlegen; ich nehme die mir dargebotene Hilfe an.«

»Wenn es gelingt,« versetzte er nachdenkend, »so könnte es zu einer hübschen Strafe für jenes Volk werden. – Und ich will Ihnen etwas sagen,« fuhr er lächelnd fort, »da Sie mich nun einmal um Rath gefragt und zum Vertrauten Ihres Geheimnisses gemacht, so will ich Ihnen dazu helfen, soweit meine Kräfte reichen und Ihren Plan etwas ändern, wenigstens, so denke ich, verbessern.«

»O wie danke ich Ihnen für Ihre freundlichen Worte!« rief das Mädchen und wollte seine Hand ergreisen, um sie zu küssen.

Doch zog er sie hastig zurück und sagte: »Thun Sie mir den Gefallen und lassen Sie mich es ein paar Tage vorher wissen, wenn die bewußte Sache vor sich gehen soll. Ich will dann irgend Jemand veranlassen, in der Nähe zu sein, damit, wenn Ihr tapferer [75] Schneider und seine Zimmerleute Hilfe gebrauchten, diese zur rechten Zeit nicht fehlt. Aber sprechen Sie jetzt mit Niemand mehr über diese Sache, gehen Sie ruhig nach Hause und wie gesagt, versäumen Sie es ja nicht, mich zur gehörigen Zeit zu benachrichtigen.«

Damit erhob sich der Doktor, Katharine stand zu gleicher Zeit auf, sprach noch einige innige Worte des Dankes und versicherte, sie werde gewiß nicht vergessen, den Tag und die Stunde genau anzugeben. Sie wandte sich hierauf zum Weggehen, und der Doktor begleitete sie freundlich bis an die Glasthüre, die er öffnete und hinter ihr wieder verschloß. Dann ging er zu seinen Kindern, sah ihren Verband nach und befühlte ihnen Stirne und Hände; doch schliefen sie ruhig, alle Aufregung hatte sich gelegt, und nur die weißen Binden um den Kopf stachen seltsam ab von den frischen blühenden Gesichtern.

Als der Doktor die beiden Kinder so ruhig vor sich schlafen sah und bemerkte, wie behaglich sie in ihren warmen Bettchen ausgestreckt lagen, da dachte er wieder an jene arme Person, die ihn eben verlassen, und er begriff besser, als es der Geistliche gethan, daß eine Mutter, die sich vorstellen muß, ihr Kind, von fremden Leuten festgehalten, werde jetzt mißhandelt und müsse leiden unter Frost und Hunger, leicht zum Aeußersten zu bringen sei und sich gern zu den gewaltsamsten Maßregeln verstehe.

Nach diesen Betrachtungen schritt er kopfschüttelnd in sein Arbeitszimmer zurück, zog seinen warmen Paletot wieder an, nahm Hut, Stock und Hausschlüssel und ging die Treppen hinab, nachdem er vorher die Köchin beauftragt, es Madame, die noch nicht zurückgekehrt war, zu berichten, daß er den Rest des Weihnachtsabends bei seinen Eltern zubringen werde.

49. Kapitel
[76] Neunundvierzigstes Kapitel.
Reiche und arme Leute.

In dem Hause des Kommerzienrathes war es seit langen Jahren der Brauch gewesen, daß sich die ganze Familie am Weihnachtsabend zur Bescheerung dort versammelte. Als dies eingeführt wurde, hatte man auch an zukünftige Kinder gedacht, und sollten diese von der ganzen Familie ebenfalls mitgebracht werden. Nun aber beschränkte sich die Nachkommenschaft auf die beiden Sprößlinge des Doktors, welche wohl in den ersten Jahren erschienen, dann aber wegbleiben mußten, weil es, wie Marianne versicherte, ihren Mann, den Herrn Alfons, nie so schmerzlich berühre, daß er selbst keine Nachkommen habe, wie an diesem Abend, wo er die Lust und das Vergnügen der anderen mit ansehen müsse. Der Doktorin war es schon recht, daß sie ihre Kinder nicht mehr mitzubringen brauchte, denn hiedurch hatte sie nun auch zuweilen einen Vorwand, um zu Hause bleiben zu können.

Daß durch diese Maßregel die Weihnachtsabende im Hause des Kommerzienraths an großer Heiterkeit gewonnen, wollen wir gerade nicht behaupten. – Im Gegentheil! Die lustigen Kinderstimmen hatten anfangs doch einige Abwechslung in die feierliche und manchmal frostige Unterhaltung gebracht.

Die alte Räthin, welche die ganze Bescheerung, wie überhaupt fast Alles im Hause, leitete, ließ für jedes ihrer Kinder – darunter war diesmal auch der Schwiegersohn verstanden – einen sehr hübschen Baum machen, vor welchem ein Tischchen stand, worauf die Geschenke ausgebreitet waren.

Diese Bescheerung wurde im Wohnzimmer der Räthin abgehalten, [77] und wenn Alles bereit war, so setzte sie sich in ihre Sophaecke, läutete nach einiger Zeit mit der Klingel, der Bediente öffnete die Thüre und die Kinder traten herein.

Der Kommerzienrath zählte sich an solchen Abenden auch mit darunter, und er war es in der That allein, der seine Freude noch mit einem gewissen Anflug von Kindlichkeit kundgab. Gewöhnlich blieb er wie geblendet unter der Thüre stehen, und rief fast jedesmal aus: »Ah! das übertrifft heute alle früheren Jahre! – unbedingt alle früheren Jahre! Mama, du hast wahrhaft verschwendet in vergoldeten Nüssen und Wachskerzen. – Kinder,« fuhr er dann lustig fort, nachdem er seiner Frau dem Herkommen gemäß zuerst die Hand geküßt, »bedankt euch bei Mama, denn die Tische scheinen mir sehr schön besetzt zu sein.«

Jedes wußte, wo sein Platz war, und nachdem alle dort die meistens sehr schönen Sachen flüchtig übersehen, folgten sie dem Beispiel von Papa und küßten der Kommerzienräthin ebenfalls die Hand.

Die Bescheerungen bestanden für die Damen aus schweren seidenen Stoffen zu Kleidern und Mänteln, oder aus kostbaren Schmucksachen, aus bisher noch fehlenden Stücken zum Silbergeschirr, aus einem Fußteppich, aus Bronzegegenständen aller Art oder aus Stickereien. Letzterer Artikel aber wurde von Jahr zu Jahr seltener.

Arthur, als der Jüngste, erschien natürlicherweise auch zuletzt, um Mama die Hand zu küssen, doch blickte die Räthin, als er heute vor sie hintrat, wie unabsichtlich in den leeren Raum hinaus, und mit ihrer Hand, statt sie dem Sohne darzureichen, faßte sie das Sacktuch und führte es an die Lippen, da sie gerade leicht hustete.

Der Maler ließ sich aber durch dieses Zeichen einer fortdauernden Ungnade nicht abschrecken, sondern wartete geduldig eine ziemliche Zeit, bis Hand und Sacktuch wieder auf dem Tische ankamen, dann ergriff er Beides zugleich und drückte seine Lippen auf die [78] Hand der Mutter. Die Räthin warf ihm dabei einen Blick zu, der nicht übermäßig freundlich war, aber auch nicht mehr so finster und zornig, wie er es in den letzten Tagen nach jener unglückseligen Probe der lebenden Bilder gewohnt war.

»So ist's recht, Mama,« flüsterte der Kommerzienrath seiner Frau über die Schultern zu, »laß den Groll fahren; man kann doch nicht immer so fort machen; und gewiß hat Arthur sein Unrecht eingesehen.«

Die Räthin hob ihren Kopf etwas empor, die spitze Nase und die grauen Augen wandten sich ziemlich drohend gegen den Gemahl, als sie erwiderte: »Das Letzte kann ich nicht glauben, denn wenn Jemanden seine Handlungsweise leid ist, so thut man Schritte, um sein Unrecht wieder gut zu machen. Und das hat Arthur nicht gethan.«

»Aber Mama ließen mich ja seit jenem Tage nie über diese Angelegenheit zu Worte kommen, so oft ich das auch versuchte,« versetzte der Maler. »Sie wünschen ja beständig, ich solle darüber schweigen.«

»Allerdings wünschte ich das,« antwortete die Räthin, »denn alle deine Reden, die du an mich hieltest, zielten darauf hin, gegen mich den Beweis zu führen, daß du doch nicht so Unrecht gehabt und daß ich die Sache zu ernst genommen. – In solchen Fällen aber,« fuhr sie strenger fort, »besonders wo es den Anstand des Hauses betrifft, den ich nie ungestraft verletzen lasse, verlange ich, wenn dies doch einmal geschehen, daß man rückhaltslos sein Unrecht einsehe.«

»Ja, ja, Arthur,« nahm der Kommerzienrath das Wort, »und daß man sich alsdann auf Gnade und Ungnade ergibt.«

Die Räthin trommelte leise auf den Tisch, und ihre Blicke schweiften mit außerordentlicher Majestät durch das Zimmer.

»Du aber hast kapituliren wollen und sogar Bedingungen vorgeschrieben,« bemerkte Herr Alfons lachend. »Mama war so gütig, [79] dich für den begangenenfaux pas nicht sogleich vor der ganzen Gesellschaft bloßzustellen, nun aber hättest du nach der Probe die Angelegenheit mit deiner schönen Doktorin bestens arrangiren sollen.«

»Das konnte ich nicht,« sagte Arthur bestimmt; »ich mag Niemanden, am allerwenigsten meine besten Freunde, vor den Kopf stoßen. Bin ich voreilig gewesen, so thut es mir leid; aber wenn Mama die lebenden Bilder zur Ausführung bringt, so kann das Decamerone von Winterhalter in der gleichen Besetzung wie bei der Probe nicht fehlen; wenigstens ich für meinen Theil kann nichts dazu thun.«

»Wenn man aber mit dem Doktor spräche?« meinte Alfons.

»Hast du vielleicht Lust dazu?« fragte Arthur.

»Es wäre das nicht meine Sache; aber wenn vielleicht Papa –«

»Nein; ich muß für solche Kommissionen danken,« entgegnete der Kommerzienrath. »Der Tausend auch! was ich nicht eingebrockt, das esse ich auch nicht aus.«

Die Räthin hatte ihren Mund fest zusammen gezogen und schien das Gespräch ohne alle Theilnahme anzuhören; doch wer den Blick ihrer Augen kannte, wußte, daß dieß nicht der Fall war.

»Die Frau hätte aber leicht merken können, wie unangenehm es Manchen der Mitwirkenden war, als du ihr so unverhofft diesen ausgezeichneten Platz anwiesest.«

»Bah!« sagte Arthur, »das freut Keine von einer Anderen, und ihr möchtet hinstellen, welchen Maler ihr wollt, er fände kein passenderes Gesicht für diese Königin, als gerade das der Doktorin F., umgeben von all' den schönen Mädchen, die wir zusammengelesen. – Ach, Mama,« wandte er sich schmeichelnd an die Räthin, »seien Sie diesmal nachsichtig, lassen Sie meinetwegen, um mit Papa zu reden, Gnade für Recht ergehen. – Denken Sie doch nach, wer hat sich eigentlich über diese Geschichte beleidigt gefühlt? – Die alte Frau v. W., die es Ihnen, Mama, nie verzeihen kann, [80] daß Sie so prächtige Soiréen zu arrangiren im Stande sind. Und dann vielleicht die Töchter des Oberregierungsraths D. mit ihrem schlackeligen Bruder, – eine hochmüthige Familie, die ja schon früher einmal mit uns im Unfrieden lebte, weil sie sich gegen uns so außerordentlich herausfordernd benommen.«

Arthur manövrirte ziemlich klug, und man sah, wie sich die Nase der Räthin bei der Erwähnung der Familie des Oberregierungsraths D. immer höher erhob. Die Anspielung auf eine Streitigkeit zwischen beiden Häusern war allerdings zutreffend und es konnte diesseits niemals vergessen werden, daß die Frau Oberregierungsräthin vor einigen Jahren in einer Soirée, als von Vorfahren die Rede war, die Frechheit gehabt hatte, zu behaupten, der Urgroßvater des Kommerzienraths sei wirklich ausübender Barbiergehilfe gewesen; wogegen derselbe in Wahrheit als wundärztlicher Gehilfe bei einem renommirten Arzte seiner Zeit fungirt haben sollte, wie die Ueberlieferungen des Hauses des Kommerzienrathes deutlich besagten.

»Also ich unterwerfe mich auf Gnade oder Ungnade,« fuhr Arthur lachend fort, »aber dann thun Sie mir für dieses Mal den Gefallen, Mama, belassen Sie die Sache, wie sie ist und bringen Sie mich nicht in den unangenehmen Fall, gegen den Doktor und seine Frau Schritte thun zu müssen, die von höchst ernsten Folgen sein könnten. – Gewiß, Mama, Ihre Soirée muß glänzend werden; man soll davon noch Jahre lang sprechen, und Sie können mir glauben, alle Bilder müssen superb gelingen, und das Decamerone wird sich nicht am schlechtesten ausnehmen.«

»Würde sich vielleicht nicht am schlechtesten ausnehmen, willst du sagen,« entgegnete streng die Räthin; »von wird kann nicht die Rede sein, da ich beschlossen habe, daß die ganze Soirée unterbleiben soll.«

»Ah! das ist etwas Anderes,« erwiderte Arthur mit kaltem [81] Tone, indem er sich von dem Tische zurückzog; »dann habe ich freilich nichts mehr zu bitten. Verzeihen Sie, Mama!«

Es entstand jetzt eine unangenehme Pause, und obgleich sich alle Anwesenden mit dem Beschauen ihrer Sachen zu beschäftigen schienen, so hörte man doch keine Ausrufe der Freude, kein lautes gegenseitiges Mittheilen: Jedes sah stumm auf seinen Platz nieder und man vernahm während mehrerer Minuten nichts als das Picken der Standuhr oder das Knistern der kleinen Wachskerzen an den Bäumen.

»Wo ist denn deine Frau?« fragte endlich Mama ihren Sohn. – »Heute Abend hätte ich sie sicher erwartet. Soll ihr Tisch dort wieder unberührt stehen bleiben?«

»Ich muß um Verzeihung bitten,« erwiderte der Doktor, während er an das Sopha trat, »daß ich Bertha nicht schon längst entschuldigte. Die Kinder hatten ein kleines Malheur, – ziemlich unbedeutend: der Tannenbaum gerieth in Brand und versengte etwas Weniges Oskars Haare. – Nun muß doch Jemand bei den Kindern bleiben, und Bertha –«

»Deine Frau als gute Mutter blieb zu Haus,« warf Alfons mit einem unangenehmen Lächeln dazwischen. »Ja, das kann ich mir denken; eine Mutter läßt ihre Kinder nicht gerne allein.«

Die Kommerzienräthin blickte ihrem Sohne forschend in die Augen und fragte darauf ziemlich theilnehmend: »Und weiter ist es nichts?«

Der Doktor schwankte einen Augenblick und war wohl versucht, die Scene, die er heute Abend mit seiner Frau erlebt, den Eltern zu schildern. Doch bemerkte er den lauernden Blick seines Schwagers und mochte nun um Alles in der Welt diesem nicht das Vergnügen bereiten, das er immer empfand, so oft er etwas Unangenehmes aus des Doktors Haushalt erfuhr.

»Es ist in der That nichts weiter,« versicherte aus diesem [82] Grunde Eduard. »Morgen springen die Kinder wieder herum und werden schon in aller Frühe kommen, um ihre Geschenke abzuholen.«

Nachdem die Bescheerung in dem Hause des Kommerzienrathes auf die eben beschriebene Art stattgefunden, war es der Brauch, daß die Familie gemeinschaftlich ein kleines Souper einnahm. Das geschah denn auch heute; doch kalt und frostig, wie der Weihnachtsabend begonnen, endete er auch für diese reichen und in ihren Kreisen vornehmen Leute.

Der Kommerzienrath war wohl der Einzige, der sich dies nicht besonders anfechten ließ; er fand das Souper vortrefflich, sprach über die kommenden Feiertage, und fürchtete Schnee und Regen, wobei er mehrmals das Sprichwort zitirte, daß grüne Weihnachten weiße Ostern brächten. Hie und da redete er auch Einiges über Politik, über das muthmaßliche Fallen und Steigen der Papiere oder über irgend eine großartige Spekulation, die hier oder dort gelungen oder mißlungen sei.

Alfons allein gab der Mutter zusammenhängende und richtige Antworten, die Uebrigen schienen alle mehr oder minder zerstreut zu sein.

Die Räthin saß aufrecht in ihrem Stuhle und nickte jedesmal dankend mit dem Kopfe, so oft der Bediente eine Schüssel präsentirte. Sie aß nur einige Löffel Kompott und trank etwas rothen Wein mit Wasser dazu, im Uebrigen aber hustete sie oftmals in ihr Sacktuch hinein, machte auch kleine Trommelversuche, die sie aber alsbald wieder einstellte, denn das Tischtuch dämpfte jeden schönen Klang.

Am einsilbigsten war Arthur; die Unterredung mit der Mutter hatte ihn verstimmt und betrübt, das Aufgeben der Soirée mußte nothwendiger Weise auf das feine und richtige Gefühl der Doktorin einen peinlichen Eindruck machen. Dabei schien sich der Maler heute Abend im Kreise der Familie auch noch aus andern Gründen sehr unbehaglich zu fühlen und sich sobald als möglich [83] hinweg zu sehnen. Er soupirte mit außerordentlicher Hast, ohne deßhalb den Gang des Ganzen auch nur im Geringsten beschleunigen zu können, und dabei blickte er häufiger als gerade nothwendig war, auf die Standuhr seinem Platz gegen über, die, so langsam ihr Zeiger auch fortschritt, doch schon halb Zehn anzeigte. – »Spät! spät!« murmelte er ungeduldig in sich hinein.

Selbst Marianne, die oftmals bei ähnlichen Veranlassungen die Kosten der Unterhaltung allein trug, und bald mit Diesem, bald mit Jenem plaudernd, einiges Leben hinein brachte, war nachdenkend, blickte häufig starr auf ihren Teller und fuhr wie erschreckt empor, wenn sie der Papa etwas fragte. Doch war es nicht die allgemeine Langeweile, die auch sie bedrückte, sie war ja an der Seite ihres einsilbigen und oft mürrischen Mannes, sowie auch, da sie im Hause wohnte, und sich viel in Gesellschaft der Mutter befand, dergleichen schon gewöhnt. Heute Abend war etwas besonders Eigenthümliches passirt. Vor ein paar Stunden ging sie absichtslos mit leisen Schritten bei dem Zimmer ihres Mannes vorbei und sah durch die ein wenig geöffnete Thüre, daß er ein Paket Damenhandschuhe – Frauen pflegen sich darin nicht zu irren – sauber in weißes Papier einschlug, mit einer rothen Schnur umgab, siegelte und überschrieb. Anfänglich dachte sie, es sei das eine Ueberraschung für den heutigen Abend. Aber wozu dann siegeln und überschreiben, wenn man im gleichen Hause wohnt? – Sie konnte das nicht vergessen, und als sie an den Tisch trat, wo ihre Sachen lagen, war ihr erster Blick nach den Handschuhen; aber unter all den Sachen war nichts, was jenem Paketchen ähnlich gesehen hätte. – Sie schüttelte den Kopf und konnte es nicht vergessen. –

Wenn uns der geneigte Leser freundlich folgen will, so verlassen wir das reiche Eßzimmer des Kommerzienraths, den kostbar servirten Tisch mit seinem Silbergeräthe, seinem feinen Kristall und Porzellan und seinen verdrießlichen Gesichtern, – wir verlassen[84] es, schauen uns aber unter der Thüre nach Arthur um, der, den Blick auf Mama geheftet, nicht erwarten kann, bis sie ihre Serviette hinlegen und so das Zeichen zum Aufbruch geben wird. – Wir verlassen das Haus und wandeln durch die stiller gewordenen Straßen nach der Balkengasse, wir treten in ein uns schon bekanntes Haus; doch ehe wir die Treppen hinauf steigen, wollen wir uns erlauben, einen Blick rückwärts zu thun, rückwärts in der Zeit nämlich, um zu sehen, wie unsere Freunde hier den heiligen Christabend zugebracht.

Da Herr Staiger, wie wir bereits wissen, nur zwei Zimmer bewohnte, die noch obendrein so gelegen waren, daß man durch das eine mußte, um in das andere zu gelangen, so würde es außerordentlich schwer gewesen sein, im Geheimen die Vorbereitungen zur Weihnachtsbescheerung zu treffen, wenn sich Clara nicht wie in allen Dingen, so auch hierin sehr gut zu helfen gewußt hätte. Im Vorzimmer nämlich traf sie alle ihre Anstalten; dort stand der kleine Tannenbaum, den sie für weniges Geld gekauft, und dort wurde er mit einigen Aepfeln, mit Flittergold und ein paar Kerzchen aufgeputzt und besteckt.

Damit nun diese Vorbereitungen von den Kindern nicht gesehen würden, hatte die ältere Schwester ihnen eingeschärft, stets die Augen zu schließen oder nach der rechten Seite zu sehen, wenn sie durch dieses Zimmer gingen. »Der liebe Christ,« sagte sie, »wird daran euren Gehorsam erkennen, und da er augenblicklich erfährt, wenn eines von euch hinter den Ofenschirm gesehen, so würdet ihr alsdann an Zuckerwerk und Spielsachen gar nichts finden, wohl aber eine große Ruthe, welche außerordentlich fähig ist, kleinen Kindern einen gewissen Theil des Körpers zu bearbeiten.«

Wir müssen aber auch gestehen, daß Clara für den heutigen Weihnachtsabend schon ein Uebriges gethan hatte, und sie hatte hierzu nicht einmal, wie sonst immer, ihrer eben erst erhaltenen [85] Monatsgage zuzusprechen gebraucht; denn der Vater war vor ein paar Tagen mit einem höchst zufriedenen Gesichte von seinem Verleger, dem Herrn Blaffer, zurückgekehrt, und hatte triumphirend eine Rolle mit fünfzig Gulden auf den Tisch gelegt. Nicht nur war ihm sein Honorar bedeutend erhöht worden, sondern der edelmüthige Verleger hatte ihm auch noch von früheren Arbeiten her eine Zulage Zusammengerechnet und baar eingehändigt.

Woher diese Gelder eigentlich kamen, wissen wir besser als der alte Herr und seine Tochter. – Genug, sie waren da und wurden auf's Beste verwendet, was beinahe den ersten kleinen Streit seit langen Jahren zwischen Vater und Tochter hervorgerufen hätte. Clara behauptete nämlich, ein neuer Winterrock sei für den Vater unbedingt nothwendig, er dagegen meinte, ein Mantel für Clara sei noch viel nothwendiger; doch siegte der Oberrock, indem Clara sagte, sie halte es für eine Sünde, für die paar Gänge, die sie zu Fuß zu machen habe, das viele Geld auszugeben. Daß der Winterrock einen Hauptbestandtheil der heutigen Bescheerung bilden sollte, verstand sich von selbst.

Obgleich Herr Staiger seine Tochter Clara ohne Einschränkung alle Kassengeschäfte besorgen ließ, so hatte er doch diesmal mit pfiffigem Lächeln einige Gulden aus der Rolle für sich behalten und nach langem Zögern und vielen Ausflüchten seiner Tochter anvertraut, es sei doch nicht mehr als schicklich, daß er auch seinem Freunde Arthur, der ja am Weihnachtsabend kommen werde, etwas Weniges unter den Christbaum lege. – Von den Pelzmanschetten, die er für Clara kaufen wollte, sagte der alte, lügenhafte Mann natürlicherweise nichts und freute sich wie ein Kind, daß ihm sein Betrug so gut gelungen; denn als er Arthur's Namen genannt, da hatte ihr Auge geglänzt und sie ihm zugestimmt und versichert, das sei ein ganz glücklicher Gedanke; wenn sie selbst auch – eine unbedeutende Cigarrentasche für den Bekannten ihres Vaters gestickt, so sei dieß doch nicht der Rede[86] werth und würde auf dem großen Teller allein gar zu mager, zu unbedeutend aussehen.

Als der heilige Abend herangekommen war, da wurden die Kinder zu einer Nachbarin geschickt und ihnen auf's Strengste eingeschärft, erst nach einer Stunde und zwar bei völlig eingebrochener Dunkelheit zu erscheinen. Wenn sie auch nicht zu früh kamen, so hörte man sie doch mit ungeheurer Pünktlichkeit zu der angegebenen Zeit die Treppen heraufsteigen und nach der Wohnung eilen. Clara trat ihnen aber im Vorzimmer entgegen und hielt sie auf.

»Aber wir kommen doch nicht zu früh?« versetzte das kleine Mädchen; »wir sind so lange ausgeblieben, als du es gesagt, liebe Clara.«

»Ja, und jetzt möchten wir auch sehen, was das Christkindchen für uns mitgebracht hat.«

»Das wird nicht zu viel sein,« sagte die ältere Schwester, indem sie ihrem Bruder die Mütze abnahm und diese auf eine Stuhllehne hängte. »Das Christkind hat sich bei uns erkundigt, und wenn wir euch auch nicht gerade sehr verklagten, so mußten wir ihm doch Einiges sagen, weil es darnach gefragt.«

»Und was hat es denn von mir wissen wollen?« fragte der kleine Bube mit ziemlich langem Gesicht.

»Allerlei Sachen,« entgegnete Clara, »ob du folgsam und in der Schule artig und aufmerksam seiest, ob du auch gleich nachher nach Hause kommest oder ob du dich mit anderen Buben auch wohl Stunden lang auf den Schleifen herumtreibest und Schneeballen machest, ob du beim Mittagessen Alles thuest, was man dir sagt, ob du deine Suppe essest und nichts davon verschüttest und ob du ruhig sitzen bleibest und nicht zu viel sprechest.«

»Und was hast du geantwortet?«

Clara zuckte mit ernsthafter Miene die Achseln. »Ja,« sagte sie, »so lieb ich dich auch habe, Alles konnte ich nicht leugnen; doch habe ich nicht vergessen, daß du mir gestern noch versprochen, [87] du wollest von jetzt an sehr artig, sehr lieb und folgsam sein. – Und das hat das Christkindchen gern gehört.«

»Und du meinst, es werde mir nicht böse sein, und doch etwas bringen?«

»O, ich glaube das bestimmt, namentlich wenn du jetzt recht artig bist und dich mit Marie hier noch eine Zeit lang aufhältst, bis ich euch rufe; denn ihr wißt, das Christkindchen schickt heute Abend die Sachen, und erst, wenn sie da sind, kann ich sie euch geben.«

»Aber wenn es sie heute Abend erst schickt, so kommen sie ja hier durch das Zimmer und dann sehe ich sie zuerst,« meinte Karl.

»Da irrst du dich sehr,« bemerkte die kleine Marie, »es kommt drüben an's Fenster geflogen und reicht da Alles herein.«

»Aber das möchte ich einmal sehen. Clara, kannst du mich nicht rufen, wenn es geflogen kommt?«

»Nein, nein,« entgegnete lachend die Tänzerin; »das wäre noch schöner! Da dürfen keine kleinen Kinder zusehen, sonst fliegt es vorbei und bringt gar nichts. – Also wollt ihr recht brav hier auf dem Bänkchen sitzen bleiben, bis ich euch rufe?«

»Ja gewiß,« sagte Marie. »Und ich will dem Karl was erzählen, dann wartet er gerne und schläft auch nicht ein.«

»O, ich werde nicht schlafen!« versetzte bestimmt das Bübchen.

Und dann gingen die beiden Kinder mit einander zu einem Fußschemel, und setzten sich darauf hin. Marie nahm die rechte Hand ihres Bruders, und dieser strampelte mit den Füßen und sagte: »Wenn das Christkind nur bald kommt!«

Clara war unterdessen mit leisen Schritten nach dem anderen Zimmer zurückgekehrt und half ihrem Vater noch ein paar bunte Papierstreifen, sowie auch ziemlich dünne Talglichtchen an dem kleinen Weihnachtsbaum befestigen. Dann holte sie all' die prächtigen Sachen hervor, mit denen die Kinder beschenkt werden sollten. Zuerst kam das Nützliche, und zwar für Marie eine neue Schürze [88] und ein kleines wollenes Halstuch, für das Bübchen aber eine Schiefertafel, da die alte im letzten Straßenkampf zu Grunde gegangen war, ein Federrohr und ein paar von ihm so genannte Herrenstiefel; das waren nämlich Stiefel mit Schäften, wonach er schon lange geschmachtet und die ihm sein Pathe Schuhmachermeister verehrt. Hierauf folgte das Angenehme: für das Mädchen eine Puppe, welcher die Tänzerin aus verschiedenen Lappen und Flittern, die sie in der Garderobe gesammelt, ein prachtvolles Ballkleid verfertigt hatte. Die Puppe hatte eigenes Haar und war à l'enfant frisirt; wie ihre Legion von Schwestern schaute sie ungeheuer verwundert in die Welt und hatte dazu die Arme und Füße etwas Weniges verdreht; letztere standen ungeheuer auswärts, und die Finger hielt sie nach Art der preußischen Infanterie: den kleinen Finger an der Hosennaht. – Für Karl hatte Clara längere Zeit zwischen einer Trommel und einem Schaukelpferd geschwankt, sich aber auf Zureden des Vaters für das Letztere entschieden. – »Denn,« meinte Herr Staiger, »er würde mit seiner Trommel ein schönes Gerappel machen, was meinem Onkel Tom und dem Herrn Blaffer nicht zu gut käme, und ich muß mich nun doppelt zusammen nehmen, um vortreffliche Arbeit zu machen, denn ich werde jetzt in der That so anständig honorirt, daß ich täglich mit Bequemlichkeit über zwei Gulden verdienen kann. – Ich hätte nie geglaubt, daß es mir noch so gut gehen würde.«

Clara arbeitete emsig an ihrem Baum, stellte die oben genannten Sachen so prächtig auf und so schön in's Licht, daß sie in der That einen großartigen Effekt machten.

»Weiß der Herr,« sagte freundlich Herr Staiger, der, die Hände auf dem Rücken, behaglich dieser Arbeit zusah; »es geht mir heute Abend wie jenen Savoyardenknaben bei ihrer Melonenschnitte: ich fühle mich auch glücklicher als ein König; es ist das wieder ein angenehmes, liebes Weihnachtsfest, wie sie mir aus meiner Jugend her in Erinnerung sind und wie wir sie einige [89] Male hatten, als deine selige Mutter noch lebte. – Siehst du, Clara,« fuhr er gerührt fort, »ich glaube, der liebe Gott hat mein Leben wunderbarlich geführt und gibt mir noch einen fröhlichen Abend des Lebens. Ich weiß nicht weßhalb, aber es kommt mir nun einmal so vor. – Meine Jugend war hell und glücklich beschienen, dann kamen schlimme Jahre und ich mußte lange im kalten Schatten dieses Lebens wandeln. Aber jetzt wenn ich so den kleinen Tannenbaum ansehe, wie seine Nadeln bei jeder Bewegung spielen, und wie das Gold durch die feinen Zweige glänzt, jetzt ist es mir gerade, als stände ich auf der Höhe meines Lebens, – das heißt auf der Höhe, auf welche bald die allgemeine Ruhe folgt, – sähe aber vorher noch hinab in ein freundliches, von der Abendsonne beschienenes Thal; ich sehe es hinter den Bäumen stehend, wenn ich aber noch einen kleinen Schritt, noch eine kleine Spanne Zeit vorwärts schreite, so stehe ich unter den sanft rauschenden Zweigen und den leise im Abendwind säuselnden Blättern, und der herrliche Glanz einer niedersinkenden Sonne strahlt prächtig auf meinen Pfad. – – Gewiß, Clara, das fühle ich; und wenn dem so wäre, so würde es mich glücklich machen um deinetwillen. – Ja, mein Kind, wenn nur ein frohes Geschick unser Leben freundlich wenden wollte, so würde ich Gott auf's Herzlichste danken und es als eine Belohnung ansehen für deine unendliche Liebe und Güte für mich alten Mann und deine kleinen Geschwister, denen du Alles bist.«

Während Herr Staiger so sprach, blickte er wie träumend und mit so glänzenden Augen, als schaue er wirklich all' das Schöne, in den Tannenbaum. Dabei aber zitterte seine Stimme und seine Blicke verdunkelten sich zuweilen seltsam, um gleich darauf ein doppeltes Licht auszustrahlen, – zwei Lichtpunkte, die sich langsam über seine Wangen hinab bewegten.

Clara hielt in ihrer Arbeit inne, als ihr Vater so sprach, und ihr Ohr lauschte gläubig seinen Worten. Auch ihr Blick erweiterte [90] sich, ihre Brust hob sich mühsam, von einem unnennbar süßen Gefühl geschwellt, einem Gefühl, das von der Phantasie des alten Mannes ausgehend, bei ihr eine andere und bestimmtere Form gewann. Sollte er vielleicht Recht haben, sollte sich der Abend seines Lebens nochmals verschönern und vielleicht einen noch hellern Glanz auch über sie ausgießen? – O nein! nein! das war ja unmöglich; sie mochte und konnte nicht weiter denken, denn ihr Herz zog sich krampfhaft zusammen; sie legte sanft ihre Arme um den Hals des Vaters, senkte den Kopf auf seine Brust, und während sie sich darauf bemühte, ihm die Thränen von den Wangen zu küssen, bemerkte sie nicht, daß auch die ihrigen flossen.

»Wir sind aber recht kindisch,« sagte der alte Mann nach einer Pause, indem er das Gesicht seiner Tochter mit beiden Händen umfaßte und es sanft in die Höhe hob, um ihr in die schönen, edeln und reinen Züge zu sehen. »Jetzt geht es uns wieder einmal etwas gut und wir weinen wie die Kinder.«

»Aber nicht aus Schmerz, Vater,« versetzte Clara sanft, »gewiß nicht aus Schmerz. Vielleicht geht dein schöner Traum in Erfüllung, und das war der Anfang von Freudenthränen.«

»Ah! Freudenthränen sind schön! – Doch jetzt wollen wir lustig sein; bring' deine Arbeit zu Ende, damit die Kinder draußen nicht zu lange zu warten brauchen. – Aber wahr ist es: unser Zimmer ist heute Abend so behaglich, so angenehm, und mir ist dabei so wohl, ich möchte jeder Ecke, jedem Stuhl und Tisch guten Abend sagen und die Wände mit der Hand pätscheln, – es ist hier so warm und wohnlich. – Und dann, was für ein kostbares Souper erwartet uns! – Ein delikater Kalbsbraten und vortreffliche Kartoffeln. Eigentlich eine Verschwendung; aber nehm' dich ja zusammen, Clara, daß dir Alles gut geräth und der Braten nicht anbrennt; wir müssen unserem Gast alle Ehre anthun, und das Wenige, was wir geben, muß gut sein.«

»Meinst du, er werde auch kommen?« fragte Clara schüchtern, [91] indem sie sich gegen den Tannenbaum wandte, um dort noch ein kleines Netz von Papier zu befestigen.

»O unbesorgt!« sprach Herr Staiger mit bestimmtem Tone, »er hat es mir versprochen, und was er mir verspricht, das hält er auch.«

»Ja, ja, Papa, wenn er es dir versprochen hat, so wird er auch sicher kommen,« erwiderte die Tänzerin, während um ihren kleinen Mund, den sie fest zusammen zog, ein ganz leichtes, leichtes, aber höchst liebenswürdiges Lächeln spielte.

»Da ist mir was eingefallen,« sagte Herr Staiger nach einer Pause; »wir hätten wohl mit der ganzen Bescheerung warten können, bis Herr Arthur gekommen wäre; ich glaube, es würde ihn freuen, das einmal bei uns mit anzusehen.«

»Glaubst du das in der That?« fragte eifrig das Mädchen, indem sie sich rasch herum wandte. – »Ach nein! das ist zu kleinlich für ihn; auch würden die Kinder nicht gerne so lange warten.«

»O, die Kinder warten schon, wenn wir ihnen sagen, Herr Arthur komme; sie haben ihn außerordentlich lieb.«

»Das ist wahr,« sagte nachdenkend die Tänzerin mit ganz leiser Stimme. – »Aber,« fuhr sie lauter fort, »Herr Arthur wird wahrscheinlich spät kommen. – Hat er das nicht gesagt?«

»Er meinte, es könnte bis acht Uhr reichen; sie haben natürlicherweise zu Haus auch eine Bescheerung.«

»Ah! was werden die vergnügt sein bei ihren vielen schönen Sachen!«

»Davon hängt's nicht ab, mein Kind,« entgegnete Herr Staiger. »Hoffen wir nicht auch vergnügt zu sein? Und doch sehe ich bei uns gerade nichts von Kostbarkeiten. – Also Herr Arthur versprach mir, um acht Uhr zu kommen; er meinte sich vom Nachtessen dort dispensiren zu können und freute sich sehr auf das unsrige.«

»That er das wirklich?« fragte Clara anscheinend unbefangen.

»Gewiß, gewiß,« antwortete der alte Mann; »das kannst du [92] auch wohl sehen, daß er gerne hier bei uns ist, denn wegen der Illustrationen braucht er nicht so oft zu kommen, wie er es thut.«

»So? – glaubst du wirklich?« versetzte die Tänzerin, wobei sie sich rasch abwandte, um nach dem Vorzimmer zu gehen. Doch blieb sie wieder stehen und sagte ohne zurückzuschauen: »Also meinst du wirklich, wir sollen mit der Bescheerung warten, bis er kommt? – Aber die Kinder werden schläfrig und ich kann sie nicht hier in's Zimmer herein nehmen, sonst würden sie ja alle meine Anstalten sehen.«

»Weißt du was,« meinte Herr Staiger, »so setzen wir uns zu ihnen in das Vorzimmer, es ist da warm genug; unser braver Ofen speit heute Abend eine außerordentliche Hitze aus.«

»Aber du mußt die Kinder vorher fragen, ob sie warten wollen; am Weihnachtsabend haben sie darüber zu bestimmen.«

»Versteht sich, aber du wirst sehen, wie bereitwillig sie sind.«

Dies war denn auch der Fall, und als die Kinder hörten, ihr lieber Herr Arthur werde kommen und an der Bescheerung theilnehmen, da waren sie sehr zufrieden und warteten gern noch länger.

»Wohl noch eine ganze Viertelstunde,« sagte das Bübchen.

Clara war in dem Zimmer zurückgeblieben und benutzte die augenblickliche Abwesenheit ihres Vaters, um auch für diesen die Geschenke aufzustellen. Sämmtliches für die Familie befand sich auf dem großen Tische; und über ein kleines Nähtischchen, das daneben stand, hatte die Tänzerin eine Serviette gebreitet, darauf lag das bewußte Cigarren-Etui neben einem kleinen, kaum fußhohen Christbaum, den Klara aus grünem Papier künstlich gearbeitet, und der mit Miniaturkerzen und Zuckerzeug auf's Freundlichste verziert war. Das Geschenk ihres Vaters für Arthur, ein kleines Feuerzeug, befand sich ebenfalls dort. Clara hatte es kopfschüttelnd betrachtet, indem sie zu sich selber sprach: »Und dafür will er über zwei Gulden ausgegeben haben? – Papa versteht aber durchaus nicht einzukaufen.«

[93] Draußen im Vorzimmer hatte sich unterdessen Herr Staiger zu den Kindern gesetzt; das Mädchen saß auf dem Schemel und lehnte ihren Kopf an die Kniee des Vaters, der Knabe saß auf dessen Schooß und war unersättlich im Anhören der furchtbarsten Geschichten. Herr Staiger mußte die Geschichte von der schrecklichen Wasserschlange, die das Schiff auf dem Weltmeer verfolgt und jeden Tag eine neue Beute fordert, zum Gott weiß wie vielsten Male erzählen, wobei es dem Bübchen besonders aber um den Schluß zu thun war; denn nachdem schon sehr viele Offiziere und Matrosen verzehrt sind, wirft man ihr die ganze Schiffsapotheke in den Rachen, worauf es der Schlange hundeübel wird und sie plötzlich stirbt.

Da nun aber dergleichen Geschichten am heutigen Abend noch sehr viele erzählt werden mußten, mit deren Wiederholung wir den geneigten Leser jedoch verschonen wollen, bitten wir ihn, während dieser Zeit mit uns auf einige Augenblicke in das Zimmer der Madame Wundel, der Staiger'schen Wohnung gegenüber, zu treten.

50. Kapitel
Fünfzigstes Kapitel.
Verschämte Hausarme.

Hier wurde der Weihnachtsabend nicht wie bei den übrigen Mitchristen gefeiert; Madame Wundel, die verschämte Hausarmen-Wittwe, fand es begreiflicherweise unpassend, am heutigen Abend mit irgend Etwas Gepränge zu machen. Ihre beiden Töchter waren erwachsen, weßhalb ihnen ein Christbaum auch weiter keine Freude gemacht hätte; sich gegenseitig zu beschenken, wäre ebenfalls unnöthig gewesen, daher sie denn das Fest still unter sich und unter[94] andächtigen Betrachtungen feierten. Das klingt für uns, die wir den Charakter von Mutter und Töchtern kennen, zwar unglaublich, aber es verhielt sich wirklich so. – Im Ofen brannte ein spärliches Feuer, so daß das Zimmer nur sehr mäßig erwärmt war; der Tisch war mit einem groben Tuche bedeckt und auf demselben befand sich eine Schüssel mit Kartoffeln in der Schale neben einem Salzfasse, einem Stücke schwarzen Brode und einer Flasche voll klaren Wassers.

Madame Wundel saß an diesem Tische, ihr gegenüber die älteste Tochter Emilie, und Beide hatten Gebetbücher vor sich, in welchen sie eifrig zu lesen schienen.

Wir sagen: zu lesen schienen; denn wenn man aufmerksamer hinsah, so bemerkte man wohl, daß die würdige Wittfrau die Nägel ihrer Finger besah, auch zuweilen an die Decke blickte, und daß Emilie den Kopf auf die Seite hielt, offenbar um auf den Gang und die Treppe zu lauschen, zu welchem Zweck auch die Stubenthüre halb geöffnet war.

»Jetzt kann er wohl drunten sein,« sprach die Mutter nach einer längeren Pause.

»Ja, mir scheint, er schleiche auf der untersten Treppe,« erwiderte die Tochter. – »Richtig! da höre ich ihn auch husten. – Wenn der nur bald ausgehustet hätte!«

»Ein langweiliger, miserabler Kerl!« meinte die Wittwe.

»Und schleicht wie ein Gespenst in den Häusern umher,« entgegnete Emilie. »Bin ich doch wirklich erschrocken, als er vorhin fast unhörbar in's Zimmer trat und sein: Gott sei mit euch, ihr Frauen! krächzte, – der alte Heuchler!«

»Ich bin gar nicht erschrocken,« lachte Madame Wundel: »ich wußte wohl aus alter Praxis, daß er diesmal am Weihnachtsabend kommen würde. Vergangenes Jahr kam er am Christfest selbst; er wechselt immer so ab. – Das kann euch wieder ein Beispiel sein,« fuhr sie nach einer Pause fort, während welcher sie die Hand [95] in die Tasche gesteckt und dort mit Geld geklappert hatte; »daß ihr eurer Mutter unbedingt folgen sollt. Du hattest wieder Lust, zu sieden und zu braten, und wenn ich deinem Kopfe gefolgt wäre, so hätte uns der Armenpfleger überrascht, und – eine milde Gabe gereicht für Holz und Brod,« – diese Worte sprach sie mit demselben nachäffenden Tone wie ihre Tochter, – »während ein schöner Kuchen auf dem Tische stand und vielleicht eine Flasche Wein daneben.«

»Leider ist es eine schlechte Welt,« erwiderte Emilie achselzuckend, »und für die paar miserablen Gulden, die sie uns an den Kopf werfen, leben wir doch in einer wahren Sklaverei. Gehe ich durch die Straßen, bei gewissen Häusern vorbei, da muß ich die Augen niederschlagen und darf höchstens nach einem kleinen Kinde sehen, das zufällig auf's Gesicht gefallen ist, um es aufzuheben und ihm aus christlichem Mitgefühl die rotzige Nase abzuwischen, – wenn das nämlich Jemand sieht. – Pfui Teufel! Ihr hättet eigentlich wohl ein anderes Geschäft ergreifen können, als das einer verschämten Hausarmen. Uns ist dadurch jede Carrière abgeschnitten; man kann sich nicht einmal mit einem anständigen Liebhaber einlassen, denn das wäre ja die größte Versündigung, wenn sie es erführen.«

»Aber man lebt gut,« sagte die Wittwe mit einem breiten, behaglichen Lächeln. »Sei nicht undankbar, Emilie; du weißt noch nicht, wie hart es ist, das Brod durch seine Händearbeit verdienen zu müssen.«

»Aber dann bin ich frei und kann thun was ich will.«

»Geht mir mit eurer Freiheit! Man ist da abhängig von den Launen seiner Herren oder Herrinnen und erst ein rechter Sklave.«

»Neulich ging ich in einen Laden,« fuhr Emilie ärgerlich fort, »und wollte mir zu meinem karrirtseidenen Kleide ein paar Ellen kaufen. Da sehe ich glücklicherweise noch früh genug den Armenpfleger, der mich lauernd betrachtete. Vor mir lag ein ganzer Stoß Seidenzeug, und da fragte er auf seine widerliche Manier: [96] – Sie kaufen doch gewiß nicht von diesen eitlen Geweben? – Was wollte ich machen? – Ich mußte meine Augen niederschlagen und mit einer halben Elle grauen Futternessel abziehen.«

»Was übrigens sehr klug von dir war,« erwiderte vergnügt Madame Wundel. »Glücklicherweise scheuen sich diese Spione, des Abend auszugehen; und an gewisse Orte, wo wir uns sehr gut amusiren, kommen sie nie hin.«

»Ja, wenn auch das nicht wäre, sollte es der Henker aushalten!« sagte Emilie. – »Nun, hat er auch was Rechtes gebracht?«

»Ich kann nicht darüber klagen,« schmunzelte vergnügt die Mutter. – »Am Weinachtsabend da kommt so allerlei zusammen, da wollen die verschiedenen Vereine zur heiligen Zeit noch einen rechten Stein in's Brett bekommen und deßhalb fließen da die Unterstützungen ordentlich. – Ach, daß doch so viel Heuchelei in der Welt ist! Die machen sich selbst was weiß und bilden sich ein, es sei ihnen ein Bedürfniß des Herzens, den Armen mitzutheilen, und bei den Meisten ist's nichts wie Eitelkeit: sie wollen Alle im Jahresberichte und im Wochenblättchen stehen. – Nun also, da habe ich sechs Gulden vom Vereine für verschämte Hausarme, vier Gulden aus der Unterstützungskasse für hilfsbedürftige Wittwen aus dem Honoratiorenstand. – Und dazu können wir uns ja rechnen, seit dein Vater gestorben ist, denn meine Familie stand ehedem stolz da in der Stadt; daß der Mann so traurige Geschichten gemacht hat, ist ein Unglück. Doch will ich seiner nicht im Bösen gedenken, denn hier ist ja auch ein Gulden und dreißig Kreuzer aus der Wittwenkasse für in öffentlichen Anstalten des Staats Verbliebene.« – Sie wollte nämlich nicht sagen: »für die im Zuchthaus Gestorbenen,« wie es dem seligen Herrn Wundel leider geschehen war, da er Pflegschaftsgelder auf eine für ihn zu vortheilhafte Weise angelegt hatte.

»Das sind ja elf Gulden dreißig Kreuzer,« sprach Emilie mit zufriedener Miene; »das reicht schon über die Feiertage.«

[97] »O ganz bequem,« entgegnete die Mutter. »Und dazu kommt noch der zweite Weihnachtstag, wo ich mich im schwarzen Anzug bei dem Prediger des neuen Bundes präsentire und darauf hin einige Anweisungen erhalte für christliche Häuser, wo man anständige Wittwen zu behandeln versteht.«

»O ja, das geht,« sprach die Tochter nach einigem Nachdenken. »Dann kommt Neujahr, und dabei werden wir wohl so viel herausschlagen, daß man sich am Carneval ein kleines Vergnügen machen kann.«

Die Mutter packte ihr Geld zusammen und steckte es sorgfältig wieder in die Tasche ihres Kleides, – sie hatte es dort hervor geholt, um ihre Tochter mit dem Glanz des Silbers zu erfreuen. – »Da ist noch eine ganz famose Kasse hier in der Stadt,« sagte sie nach einer Pause, »an der wir vielleicht auch nächstens einmal theilnehmen können. – Weißt du, man muß sich nicht geniren, und wenn du wolltest, so könnte ich dorthin bald einmal eine Eingabe versuchen.«

»Was ist das für eine Kasse?« fragte Emilie.

»Obendrein ist noch ein Freund von dir dort beschäftigt: der Herr Aktuar Schwarz ist der Sekretär.«

»Ah! Mutter,« versetzte Emilie etwas spitzig, »das muß ich mir alles Ernstes ausbitten!«

»Wie, daß der Herr Aktuar Schwarz dein Bekannter ist?« fragte Mama mit einer außerordentlichen Unbefangenheit.

»Nein, das nicht,« erwiderte entrüstet Emilie, »sondern daß du mir vorschlagen willst, ich soll mich an den Unterstützungsverein für alte Jungfern wenden.«

»Ist denn das so was Schlimmes?«

»Es ist schlimm genug, wenn man in Verhältnissen lebt, die es Einem erschweren, eine anständige Verbindung einzugehen.«

»Und wenn uns dieser Freund unterstützt,« erwiderte Madame Wundel, indem sie ihre Haube zurecht zog, »bist du deßhalb eine [98] alte Jungfer? – Sieh doch mich an, ich erhalte auch vom Verein für verschämte Hausarme; sind wir denn deßhalb verschämte Hausarme? – Ich wollte Niemand rathen, das uns in's Gesicht zu sagen. – Ah! da bitte ich recht schön! Ihr Mädchen habt eigene Begriffe, wenn man nur einmal ein Wort von einer alten Jungfer fallen läßt, so seid ihr beleidigt. Das ist aber an sich ein ganz respektabler Stand, und wenn die Zeit da ist, daß man eine werden soll, so wird man in Gottes Namen eine. Daran wirst du nichts ändern wollen. – Jetzt bist du Achtundzwanzig, und wenn dich auch gute Leute für ein paar Jahre jünger ansehen, so rückst du doch nach und nach in die Dreißig und mußt da hinein, so sehr du dich auch sperren wirst. Gegen den Strom kann man nicht schwimmen, und einen heißen Ofen nicht kalt blasen. – Larifari!«

»Aber ich thu's nun einmal nicht,« sagte die Tochter entschlossen. »Ich will mich zu allen Vereinen melden, mögen Sie einen Namen haben, welchen sie wollen; und ich habe das schon bewiesen, denn als der Verein für unglückliche, treu los Verlassene gegründet wurde, da –«

»Schweigen wir davon,« entgegnete die Mutter, indem sie die Augenbrauen zusammen zog, »das ärgert mich, wenn du davon sprichst. Damals hast du freilich keinen Anstand genommen, dich für eine treulos Verlassene auszugeben, obgleich du dazu gar kein Recht hattest, denn um verlassen zu werden, muß man doch Jemand haben, der Einen verläßt. Und das war bei dir nur so ein kleines Techtelmechtel, wornach kein Hahn gekräht hat.«

Emilie seufzte tief auf, wahrscheinlich in der Erinnerung an dieses Verhältniß.

»Ja, wärest du damals klug gewesen und hättest den jungen Menschen festgehalten; damit wäre was zu machen gewesen. Aber ihr seid nicht pfiffig genug, nicht gescheidt, nur hochmüthig. Das habe ich vorhin wieder so klar und deutlich gesehen. – Ja, ja, [99] für eine treulos Verlassene möchtest du alle Tage gelten, aber nicht für eine alte Jungfer. O Welt! o Welt!«

Madame Wundel hatte sich so in den Eifer hineingesprochen, daß sie unmöglich auf ihrem Stuhle ruhig sitzen bleiben konnte. Sie stand deßhalb auf, machte ein paar Gänge dutch's Zimmer und sagte dann, als ob sie froh wäre, etwas zu finden, woran sie ihren Unmuth auslassen könnte: »Werft mir die dummen Kartoffeln vom Tisch und das fade Wasser! Da hast du den Schlüssel, hol' den Kuchen heraus, der im Schranke steht, und ein paar Gläser.«

»Und keinen Wein dazu?« fragte mürrisch die Tochter, indem sie sich zum Abgehen anschickte.

»Nein, du brauchst keinen Wein zu bringen; aber schüre das Feuer, damit wir ein behagliches Zimmer bekommen. Ich habe jetzt dem unangenehmen Kerl zulieb genug gefroren. Dann kannst du auch Wasser zum Kochen aufsetzen; die Madame Becker wird nachher auf einen Augenblick kommen und Extrakt mitbringen, da wollen wir uns einen ordentlichen Punsch machen.«

»So – die kommt?« fragte Emilie mit einem eigenthümlichen Gesichtsausdruck. – »Und wollt ihr allein sein? – Ist man vielleicht im Wege oder kann man da bleiben?«

»Wie du so einfältig fragen kannst!« sagte die Mutter; »du kannst freilich dableiben, aber es wäre mir nicht lieb, wenn unterdessen Louise – damit meinte sie die jüngere Tochter – nach Hause käme.«

»Da kannst du unbesorgt sein, die kommt heute nicht vor elf Uhr nach Haus; die weiß doch noch irgendwo hinzugehen, wo sie sich amusiren kann.« – Damit schritt sie zur Thüre hinaus.

Man hörte sie mit ihren Schlüsseln draußen rasseln, auch Gläser klirren, dann schürte sie das Feuer im Ofen, der kurze Zeit darauf eine behagliche Wärme ausströmte.

Madame Wundel hatte unterdessen höchst eigenhändig die Kartoffeln in die Küche hinaus geworfen, das Wasser entfernt und statt [100] des groben Tischtuchs ein feineres ausgebreitet, kurz dem ganzen Zimmer in weniger Zeit ein behagliches Ansehen gegeben.

Als nun vollends Emilie wieder herein kam, einen großen mürben Kuchen auf den Tisch stellte, etwas getrocknete Früchte und einige Gläser, da sah das Ganze recht festlich aus, würdig des Besuchs, der erwartet wurde und den man auch bald nachher die Treppen herauf kommen hörte.

Madame Becker – sie war es – ging ziemlich langsam, denn das Treppensteigen wurde ihr bei vorgerücktem Alter und ankommender Körperfülle etwas sauer. Sie hustete schon auf dem zweiten Absatz der Treppe, auf dem dritten pustete sie gewaltig, und als sie endlich vor der Wohnung der Madame Wundel ankam, brachte sie nur mühsam einen guten Abend hervor und ließ sich sogleich auf einen Stuhl nieder, den man ihr hinstellte.

»Aber Ihr wohnt recht hoch, Wundel,« sprach sie nach tiefem Athemholen und nachdem sie sich eine Zeit lang umgeschaut. »Recht hoch, aber anständig – saubere Zimmer.«

»So, so,« entgegnete die Wittwe. »Man kann nicht Alles mit einander verbinden; will man in unsern Verhältnissen im zweiten oder dritten Stock wohnen, so muß man sich mit ein paar kleinen finstern Löchern ohne Aussicht und Luft begnügen, und da ist's mir hier oben lieber.«

»Das finde ich begreiflich,« erwiderte Madame Becker. »Ihr habt kein Geschäft, es laufen nicht viele Leute zu Euch; aber ich muß nun leider einmal im ersten Stock wohnen; wißt Ihr, man kann Manchem nicht zumuthen, daß er viele Treppen hinaufsteigt.«

»Ah! das ist natürlich,« sagte Madame Wundel mit wichtiger Miene; »bei Eurer ausgebreiteten Bekanntschaft. – Aber kommt, legt Euer Umschlagtuch ab; es muß Euch ja zu warm werden –«

»Ich habe nur einen Augenblick ausschnaufen wollen,« entgegnete Madame Becker, während sie eine dicke Nadel aus ihrem Halstuch [101] herauszog und dasselbe nun der Fräulein Emilie Wundel überließ, die es sorgfältig auf einen Stuhl legte. Nachdem diese Hülle gefallen war, erblickte man das freundliche Glänzen einer Bouteille, welche die Frau in einer Hand trug. Unter dem Arm hatte sie ein kleines Paketchen, das sie behielt, wogegen sie die Flasche der Wittwe mit einem angenehmen Lächeln überreichte. »Er ist gut,« sagte sie, »ächter Düsseldorfer; laßt uns nur nicht zu viel Wasser dazu nehmen; ich liebe einen starken Punsch.«

Mit diesen Worten hatte sie sich so breit und behaglich wie möglich an den Tisch gesetzt; sie stützte den Kopf auf die Hände und sah der Madame Wundel, die sich ihr gegenüber niederließ, freundlich lächelnd in die Augen. Ihr Paketchen hatte sie vor sich niedergelegt.

»Wir haben uns lange nicht mehr gesehen,« fuhr sie nach einer Pause fort, »und ich hatte mir schon oft vorgenommen, Euch einmal heimzusuchen, konnte aber nie dazu kommen, und so dachte ich denn heute: es ist dies ein ruhiger stiller Abend und recht geschickt, sich nach einer guten Freundin umzusehen.«

»Wofür ich Euch sehr dankbar bin,« erwiderte Madame Wundel. »So ein Weihnachtsabend ist recht langweilig und man weiß nicht, wie man ihn herum bringen soll.«

Emilie hatte das warme Wasser gebracht, goß es in die Gläser auf den Punsch-Extrakt, worauf sich ein angenehmer Geruch in dem Zimmer verbreitete, dann schnitt sie den Kuchen auf, reichte ihn herum und alle Drei aßen, tranken und waren fröhlich und guter Dinge.

Nach einiger Zeit lehnte sich Madame Becker behaglich in ihren Stuhl zurück und spielte, anscheinend absichtslos, mit dem Paketchen, das sie neben sich hingelegt hatte. Es war dies ländlich, mit weißem Papier umwickelt und mit einer rothen Schnur zusammen geknüpft. Auf demselben stand eine Adresse mit einer festen, regelmäßigen Handschrift.

[102] »Einkäufe?« fragte die Wittwe, deren Neugierde erregt war.

»O nein,« entgegnete die Andere, »es ist ein Geschenk für meine Nichte Marie, die Tänzerin. Die bekommen so was immer anonym zugeschickt. Auf der Straße brachte es mir ein Bedienter, und da er mich erkannte, nahm ich es ihm gleich ab.«

»Also die Marie hat's noch nicht gesehen?« meinte Emilie.

Madame Becker schüttelte gleichgiltig mit dem Kopfe. »Die sieht's morgen Früh noch bald genug,« sagte sie, »wenn sie es überhaupt zu sehen bekommt; und das hängt ganz von ihrer Aufführung ab.«

»Und was ist wohl darin?« fragte Madame Wundel.

Die Frau bog das Päckchen hin und her, und als sein Inhalt sich weich anfühlte und biegen ließ, antwortete sie: »Es werden Handschuhe sein. Doch können wir das ganz genau erfahren: wir machen es einfach auf und sehen nach.«

Damit löste sie die rothe Schnur, machte das Papier aus einander, und Emilie erblickte mit leuchtenden Augen wenigstens zwei Dutzend seine Pariser Handschuhe von den verschiedensten Farben.

»Ah! die sind schon!« sagte sie. »Die Marie ist doch ein glückliches Mädchen, daß sie solche Sachen bekommt. – Ja, so eine Tänzerin!«

»Sie sind wirklich hübsch,« meinte die Becker. »Gefallen sie Ihnen, Mamsell Emilie?«

»Wem sollen die nicht gefallen! – Und das ist gerade meine Größe; siehst du, Mutter, nicht ein Tüpfelchen länger und breiter könnte ich sie brauchen.«

»So will ich Ihnen was sagen, thun Sie mir den Gefallen und nehmen ein halbes Dutzend von diesen Handschuhen von mir zum Weihnachtsgeschenke an.«

»Ah! das wäre zu viel, Madame Becker!« rief Emilie. »Hast du gehört, Mutter, ich soll ein halbes Dutzend von diesen prächtigen Handschuhen haben. Wie mich das glücklich macht! – Aber [103] nein, ich kann's nicht annehmen, gewiß ich kann's nicht annehmen; ich müßte mich schämen.«

Madame Wundel, welche befürchtete, es könnte der noch nie da gewesene Fall wirklich eintreten, daß ihre Tochter Emilie sich einmal schämen würde, etwas anzunehmen, trat nun mit ihrer Autorität dazwischen und sprach mit Ruhe: »Wenn die gute Frau Becker dir ein halbes Dutzend Handschuhe zum Geschenk machen will, so wäre es von dir unschicklich, sie nicht dankbarlichst anzunehmen.«

»Aber das ist zu viel, Mutter, – ein ganzes halbes Dutzend!«

»Possen!« versetzte Madame Becker, die, wie der geneigte Leser wohl weiß, ihre guten Gründe hatte, sich die Familie verbindlich zu machen. – »Possen! nicht der Rede werth! – Hier sind sechs von allen Farben, und hier ist auch die Emballage und die Schnur. – Mädchen bleiben immer kleine Kinder; man muß sie zu Allem zwingen.« Damit wickelte sie lachend die sechs Handschuhe in das weiße Papier, band noch zum Ueberfluß die rothe Schnur darum und überreichte sie mit einer graziös sein sollenden Handbewegung, wobei sie sagte: »Der Fräulein Emilie zum Weihnachtsabend.«

»Prächtig! prächtig!« lachte Madame Wundel. »Wie das die Frau Becker alles zu machen versteht! – Ja, ja! man sieht gleich, daß Ihr vornehme Bekanntschaften habt und viel mit guter Gesellschaft umgeht.«

Die Andere schloß affektirt ihre Augen, zuckte gewaltig die Achseln und erwiderte mit einem tiefen Seufzer: »Ach ja, es ist wahr, ich sehe viel vornehme Herren und es thut Einem wohl, wenn man so von den respektablen reichen Leuten geachtet wird wie ich. Aber man hat viel mit ihnen durchzumachen, o erschrecklich viel!«

Emilie hatte sich entfernt, um ihre Handschuhe aufzuheben, und da sie vorderhand Punsch und Kuchen genug erhalten, so blieb sie im Nebenzimmer, vielleicht auch blos aus Taktgefühl, indem sie sich [104] wohl denken mochte, daß die beiden Frauen etwas zusammen zu sprechen haben könnten, wobei ihre Gegenwart überflüssig sei.

Madame Becker hatte auch diesen Augenblick benutzt, um die eben gehörten Klagen loszulassen. – »Ja schrecklich viel!« wiederholte sie jetzt.

»S–o–o?« fragte Madame Wundel. »Aber Ihr seid doch die Frau dazu, allen Anforderungen zu entsprechen.«

»O nicht immer, nicht immer. Ich stehe so allein in der Welt und habe Niemand, dem ich mich so recht anvertrauen kann, was ich zuweilen thun würde.«

»Seht Ihr, wie Unrecht es von Euch ist,« sagte die Wundel mit einem Anflug von Rührung, »daß Ihr so wenig zu mir kommt. Haben wir nicht immer vortrefflich zu einander gepaßt, und haben wir uns nicht manchen guten Rath gegenseitig gegeben?«

»Ja, das ist wahr, Wundel,« erwiderte die Andere, »und als ich heute so über Manches nachdachte, und zu mir selber sprach: mit wem könntest du wohl Dieses oder Jenes überlegen? da standet Ihr auf einmal vor mir, ja ich sah Euch leibhaftig und es rief ordentlich: du hast ja die Wundel, die alte treue Seele! – Die Wundel, die immer offen und brav gegen dich war und die du schon als Kind gekannt. – Wißt Ihr noch, wie wir damals zusammen getanzt? – Ach Gott! wenn ich an die Zeit denke, so wird es mir ganz traurig zu Muth. – Und darauf kamen wir so weit auseinander, Ihr heirathetet den seligen Wundel und ich meinen seligen Becker, und Ihr wißt wohl, daß die Beiden sich nie leiden konnten. – Du lieber Gott! ich will es euch nur gestehen, der Wundel machte mir einmal ein wenig die Cour und da wurde der gute Becker eifersüchtig. – Nun, so sind einmal die Mannsbilder! Aber es waren Beide ein paar brave Narren, und Gott weiß, wie es mich immer noch betrübt, daß sie dahin sind.«

Auch Madame Wundel schien dies nachträglich noch sehr zu betrüben, denn als sie sah, daß die Becker sich ihre Wangen wischte, [105] bemühte auch sie sich unter Beihilfe des starken Punsches ein paar Thränen ihren trockenen Augen zu entpressen.

»Also an Euch dachte ich,« fuhr die Andere fort, nachdem sich die Rührung gelegt, »und sagte zu mir: noch heute gehst du dahin und fragst bei der rechtschaffenen Wundel an, ob sie auch noch was von der früheren Freundschaft gegen dich im Busen fühlt.«

»Gewiß, Beckere,« entgegnete die Wundel mit einem unverkennbaren Schluchzen.

»Wirklich, Wundel, nun das freut mich.«

»Ich habe so oft an Euch gedacht.«

»Und ich erst!«

»In alter Freundschaft.«

Dabei erhoben die Weiber ihre frisch aufgefüllten Gläser, stießen auf ein gegenseitiges Wohl an und tranken darauf den warmen Punsch mit solcher Standhaftigkeit, daß ihre Köpfe ganz roth davon wurden.

»Ja, ja,« sagte die Becker nach einigem Stillschweigen, »es kommen mir oft Sachen vor, bei denen ich den Rath einer verständigen und gescheidten Frau brauchen könnte.«

»So laßt mich zum Beispiel hören,« sprach Madame Wundel mit vieler Bescheidenheit.

»Ich habe da gerade eine Sache im Kopfe, die Euch aber nicht interessiren kann, da Ihr die Personen nicht kennt; aber die Verhältnisse könnte ich Euch mittheilen.«

»So laßt hören.«

»Da ist ein gewisser Staiger, – ich glaube so eine Art von Literat. – Aber was macht Ihr für ein sonderbares Gesicht?«

»Ah! den kenne ich ja!«

»Den kennt Ihr?« rief Madame Becker mit einem erkünstelten, aber gut gemachten Erstaunen. – »Ihr kennt den Staiger? – Nun, dann hat die Sache doppeltes Interesse für Euch. – Na, seht, das freut mich!«

[106] »Er wohnt ja mir gerade gegenüber auf demselben Boden.«

»Das trifft sich prächtig! – Ist die Möglichkeit! – Da kennt Ihr auch wohl seine Tochter?«

»Die Tänzerin? – Puh!«

»Wie so puh?«

»Ein Fratz, ein hochmüthiger Aff!«

»Was der Tausend! – Das müßt Ihr mir später näher erzählen. – Hat sie Liebschaften?«

»Bis vor Kurzem gar nichts dergleichen.«

»Und jetzt –?« fragte die Becker besorgt.

»Seit einiger Zeit,« erwiderte Madame Wundel, »zeigt sich hie und da so was im Haus, ein junger Mensch, recht gut aussehend, – er hat freilich mit dem Alten Geschäfte, aber uns macht man nichts weiß; wir kennen das.«

»Ja, wir kennen das,« sagte die Andere nachdenkend. – »Und wer ist der junge Mensch?«

»Seinen Namen weiß ich nicht, aber auf alle Fälle was Reiches oder Vornehmes.«

»Wohl ein Offizier?«

»Das glaube ich nicht; nein, nein! auf alle Fälle Civilist. Oft fährt er in einer Droschke an.«

»Und das Mädel?«

»Ich weiß nicht, wie weit sie was mit ihm hat. Wißt Ihr, ich komme mit den Leuten selten in Berührung; die Clara kommt wohl zuweilen herüber –«

»So, sie kommt zuweilen?« fragte die Becker aufmerksam.

»Freilich; aber ich spreche natürlicherweise nie mit ihr etwas dergleichen, bekümmere mich auch um die ganze Wirthschaft nicht, meine Emilie aber – für die Mädchen ist so was interessant – hat ein paarmal scharf aufgepaßt und sie an der Treppe gesehen, wie sie Abschied nahmen.«

»Nun?«

[107] »Und dabei bemerkt, daß etwas im Spiele ist.«

»Und ging das Abschiednehmen recht innig vor sich?«

»Das nun gerade nicht; ein einziges Mal habe er sie auf die Stirne geküßt, und da habe sie sich losgerissen und sei hastig in's Zimmer zurückgeeilt. Gewöhnlich blieb es beim Küssen der Hände.«

»Ei, sie sind noch am Händeküssen,« sagte bedenklich Madame Becker. »Das ist mir nicht lieb, da hält sie ihn gewaltig in Respekt und hat tiefe Absichten.«

»Ja, die hat freilich Absichten. – Wie ich Euch schon sagte, ein hochmüthiger Fratz. Ich glaube, wenn der ein Prinz die Cour machte, so bildete sie sich ein, er würde sie heirathen.«

»Das thun die meisten,« versetzte lächelnd Madame Becker. »Ich versichere Euch, die Hoffnung, mit der so ein Mädchen erfüllt ist, und die Leichtgläubigkeit, mit der sie in ihrer Einbildung die unüberwindlichsten Hindernisse wegräumt, das ist ganz erstaunlich. – Aber Ihr wißt nicht, wer dieser junge Mensch ist?«

»Nein, ich kann's nicht sagen; Emilie meint, es sei ein Künstler, wißt Ihr, kein so armer Schlucker, sondern was Ordentliches.«

»Das Mädchen ist schön?«

»Das kann man nicht leugnen.«

»Und nachsagen kann man ihr eigentlich auch nichts?«

»Bis jetzt nicht das Geringste.«

»Schlimm! schlimm!« seufzte Madame Becker und versank in tiefes Nachdenken, während sie, unhörbar für die Andere, zu sich selber sprach: »Die Kommission soll der Teufel holen. – Aber ich habe es mir gleich gedacht, bin ja schon ein paarmal tüchtig bei dem Mädel angelaufen, und jetzt, wo sie eine kleine Liebschaft angefangen hat, eine Liebschaft, welche die schlaue Theaterprinzeß recht ausbeuten zu wollen scheint, da ist nichts zu machen. – Schlimm! schlimm! – Würde mir auch wahrhaftig kein graues Haar darüber wachsen lassen, wenn nicht das verfluchte Siegel auf [108] dem Brief gestanden wäre: vorihm muß ich mich in Acht nehmen. – Aber ich sehe da keine Möglichkeit.«

Während Madame Becker so gedankenvoll dasaß, hatte sich die Andere mit einem neuen Glase Punsch gestärkt und auch das ihres Gastes wieder angefüllt und diesem hingeschoben. – »Na, Beckere,« sagte sie dabei, »was hat Sie denn auf dem Herzen? – Warum so verschlossen? – bin denn ich nicht Eure gute Freundin? Wenn Euch was quält, sagt mir's doch; vielleicht weiß ich irgend eine Hilfe.«

Madame Becker schüttelte den Kopf und sprach, indem sie nach einem tiefen Seufzer das Punschglas ausschlürfte: »Sieht Sie, Wundel, das betrifft eine von meinen geheimnißvollen Geschichten, das ist was aus vornehmer Gesellschaft, eine der schwierigen Kommissionen, mit denen ich arme Frau immer geplagt bin. Und dazu gehört Verstand, sehr viel Verstand; und auch der hilft zuweilen nichts.«

»Ja, wenn der Verstand allein helfen würde,« sprach die Wittwe mit einer unterthänigen und ehrerbietigen Miene, »da würde es Euch niemals fehlen, davon bin ich überzeugt. Gewiß, ich bewundere Euch oft, wie Ihr alle die Geschichten so allein ausmachen könnt.«

»Uebung,« erwiderte Madame Becker, augenscheinlich von diesem Lobe geschmeichelt – »Uebung und ein wenig Umsicht. Aber hier habe ich eine Geschichte, bei der hilft alles das nicht.« – Sie seufzte abermals tief auf.

»Nun, so laßt mich's hören; eine unbedeutende Person, wie ich bin, weiß auch zuweilen Rath!« schmeichelte die Wundel, welche sehr neugierig auf die Geschichte war.

Da nun auch der Punsch die Zunge der anderen würdigen Frau sehr gelöst hatte, so erzählte sie denn, was der geneigte Leser bereits weiß, von einem Brief, den sie erhalten von Jemand, der die Bekanntschaft der Tänzerin machen wollte. Natürlicherweise [109] nannte sie keinen Namen. – »Man ist dergleichen thörichte Wünsche von den jungen Herren schon gewöhnt,« fuhr sie fort, »und wenn es nicht geht, so schüttelt man kein Ohr darnach. Aber hier ist ein besonderer Fall, ich habe meine dringenden Gründe, Allem aufzubieten, um jenem Herrn gefällig sein zu können. – Da habt Ihr die ganze Sache! Ihr kennt nun besser als ich die Jungfer Klara, und könnt selbst beurtheilen, daß da nichts zu machen ist, und ich wohl Ursache habe, verdrießlich zu sein. – Schade! schade! es wäre ein so schönes Geschäft geworden.«

»Wirklich ein schönes Geschäft?« fuhr Madame Wundel, indem sie sich so weit als möglich über den Tisch hinüber zu ihrer Freundin beugte. »Also wäre was Tüchtiges dabei zu verdienen gewesen?«

Madame Becker schnalzte statt aller Antwort mit der Zunge und blickte nachdenkend an die Zimmerdecke.

»Ja, ja,« fuhr nun Madame Wundel eifrig fort, »zu überreden ist die da drüben nicht; ich bin überzeugt, wenn man nur ein Wort von so was spräche, sie käme außer sich.«

»Das weiß ich.«

»Und jetzt, wo sie die dumme Liebschaft angefangen hat, ist gar nichts zu machen; wenn man die beiden nur auseinander bringen könnte! Sollte man ihn nicht vielleicht eifersüchtig machen?«

Die Andere zuckte mit den Achseln. »Das erfordert viel Zeit,« sagte sie, »und nutzt am Ende doch nichts. – Schade! schade! da wären für jeden Helfer ein paar Karolin herausgesprungen.«

»Für jeden Helfer?« fragte gierig Madame Wundel. »Aber könnte man mit List nichts anfangen?«

»Wie so mit List?«

»Nun, ich spekulirte zum Beispiel einmal aus, wenn drüben Alles fortgegangen und sie allein zu Hause ist, was zuweilen vorkommt.«

»Und dann?«

[110] »Dann benachrichtigt man ihn davon, und er soll sein Glück versuchen. Am Ende kann man doch mit so einem Mädel fertig werden.«

»Geht nicht!« erwiderte die Becker kopfschüttelnd. »Dazu ist jener Herr zu anständig, wißt Ihr, auch zu vornehm. – Und dann, wie könnte man hier so was riskiren. – Ja, wenn ich sie in meiner Kaserne hätte,« fuhr sie lächelnd fort, »rechts und links, oben und unten leere Zimmer, und wo man schon gewöhnt ist, auf ein bischen Geschrei nicht zu achten, da ginge so was. – Aber hier; wo denkt Ihr hin?«

»Und zu Euch läßt sich die nicht hinlocken?«

»Eher zum Teufel! – Nein, ich gebe die ganze Sache dran; man kann sich da auch garstig die Finger verbrennen.«

»Aber der Gewinn!« sagte seufzend Madame Wundel.

»Ich hätte gern was für Euch herausgeschlagen, und da wäre es, wie schon gesagt, auf ein paar Karolin nicht angekommen.«

Madame Wundel versank in tiefes Nachsinnen, während sich die Andere ein Stück Kuchen herunter schnitt und langsam verzehrte. Dabei sahen die Züge der Hauswirthin nachdenkend und finster aus, und sie fuhr sich zuweilen mit der Hand über die Stirne, woraus man wohl entnehmen konnte, daß sie ihren Kopf abmarterte, um einen Weg zu den verheißenen Goldstücken zu finden.

Nachdem die Weiber so einige Minuten lang stumm einander gegenüber gesessen hatten, schienen die tiefen Betrachtungen der Wundel von einem Erfolge gekrönt zu werden; ihre Augenbrauen hoben sich in die Höhe, ihr Mund zog sich in die Breite, endlich patschte sie mit der Hand schwer auf den Tisch, so daß ihr Gegenüber erschrocken auffuhr, und sagte mit triumphirendem Tone: »Beckere, ich hab's! Seht Ihr, es war doch klug, daß Ihr Euch an mich gewendet habt.«

»Nun, was habt Ihr denn?« fragte erstaunt die Andere.

»Ich unternehme die Geschichte.«

[111] »Wie so?«

»Ich unternehme sie ganz allein; ich liefere Euch das Mädel, wohin Ihr sie haben wollt.«

»Ah! geht mir weg, Wundel! Ich glaube, der Punsch war zu stark. – Macht doch keine Flausen.«

»Nichts von Flausen; wollt Ihr mir freie Hand lassen und – denn das versteht sich ganz von selbst, – etwas Ordentliches vom Profit versprechen?«

»Aber so sagt mir erst –«

»Sagen kann ich nichts,« entgegnete die Andere, indem sie sich die Hände rieb; »mir ist auf einmal ein Licht aufgegangen, und so kann es gehen. Wie gesagt, seid froh, daß Ihr zu mir gekommen. Mir ist der Weg, den wir einschlagen müssen, jetzt ganz klar. Wißt Ihr, wenn man so lange in einem Hause zusammen wohnt, wie ich und die Staiger's, da lernt man sich genau kennen; und wenn es Einem auch nicht gleich einfällt, mit ein bischen Nachdenken kommt man doch schon an einen Haken, wo man anbandeln kann. – Aber,« fügte sie mit emporgezogenen Augenbrauen hinzu, »etwas Geld brauche ich. Ihr sollt zu Eurem Zweck kommen, müßt aber nicht knickerig sein.«

»Wenn ich zu meinem Zweck komme,« entgegnete Madame Becker nicht ohne einen Anflug von Mißtrauen, »so kommt es mir auf ein paar Thaler mehr oder weniger nicht an. Aber Ihr solltet mir doch sagen, wie Ihr das anstellen wollt; ich bin auch in der Praxis ziemlich bewandert, aber im vorliegenden Fall geht mir der Faden aus.«

»Ihr traut mir nicht recht,« bemerkte lächelnd Madame Wundel, die den forschenden Blick ihrer Freundin wohl verstanden. – »Aber was habt Ihr dabei zu riskiren? Höchstens ein paar lumpige Thaler, die ich zur Einleitung des Geschäfts brauche; die Hauptsache zahlt Ihr mir, wenn Alles vorüber ist.«

»Das läßt sich allenfalls hören.«

[112] »Und wie viel bekomme ich alsdann später?«

»Nun, was meint Ihr zu zwei Karolin, wie ich vorhin sagte?«

»Und vorher ein paar Thaler, die ich nothwendig brauche.«

»Meinetwegen auch. – Und wie viel denn?«

»Nun, ich denke vier Thaler, die ich aber dann sogleich brauche, damit ich morgen an's Geschäft gehen kann.«

»Ihr seid ein merkwürdiges Weib,« sprach vergnügt lächelnd Madame Becker; »wenn Ihr haltet, was Ihr versprecht, so habe ich eine große Achtung vor Euch. – Aber seht Euch vor, daß Ihr in keine Ungelegenheit kommt; und etwas bitte ich mir aus: mein Name darf nicht genannt werden, denn wißt Ihr, wenn ich eine Sache nicht selbst in der Hand behalte, so kann ich auch nicht dafür einstehen.«

»Das versteht sich; seid unbesorgt. Unser Vertrag ist ganz einfach; ich bekomme heute die vier Thaler, ich lasse Euch in einigen Tagen sagen: Alles ist fertig, Ihr könnt um die und die Stunde den Wagen schicken, Ihr thut so, ich besorge sie hinein, und dann hat er nach Eurer Anweisung zu fahren, wohin er soll. Läuft Alles glücklich ab, so erhalte ich am andern Tag meine zwei Karolin. – Ist's so recht?«

»Dagegen kann ich nichts einwenden,« erwiderte Madame Becker. »Und damit Ihr seht, wie bereitwillig ich bin, den Kontrakt einzugehen, so habt ihr hier die vier Thaler.«

Sie zog bei diesen Worten eine kleine Börse aus der Tasche und legte das Geld in vier Stücken hin, welche Madame Wundel vorher genau auf beiden Seiten besah, ehe sie dieselben still lächelnd in ihre Tasche steckte.

Hiermit nahm die Unterredung ein plötzliches Ende, denn erstens war die Sache abgemacht, und zweitens kam Emilie, vor welcher Madame Becker überhaupt nicht gerne mit der Sprache heraus gegangen wäre, wieder aus dem Nebenzimmer zurück. Da es auch mittlerweile spät geworden war und sie ihren Zweck erreicht [113] zu haben glaubte, so affektirte sie etwas Müdigkeit und stand nach einigem vergeblichen Nöthigen der Hauswirthin, doch noch dableiben zu wollen, mit einem unterdrückten Gähnen auf und versicherte, es sei endlich Zeit, daß sie nach ihrem Hauswesen sehe. – »Marie wird von einer Bekannten, bei der sie den Abend zugebracht, schon lange nach Haus zurückgekehrt sein und nicht wissen, wo ich eigentlich bleibe.« – – Da sie nun auf keine Weise zu bestimmen war, noch länger in der, wie sie sagte, so angenehmen Gesellschaft ihrer guten Freundin zu verharren, so wickelte sie die noch übrigen Handschuhe in ein Stück Druckpapier ein, das auf dem Tische lag; Emilie Wundel zündete ein Licht an und begleitete den Gast bis auf die untere Treppe, wo beide von einander einen recht freundlichen Abschied nahmen.

Madame Wundel hatte die vier Geldstücke wieder aus ihrer Tasche heraus genommen, sie vor sich hingelegt und mit einem triumphirenden Lächeln angesehen. Sie wollte augenscheinlich ihre Tochter damit überraschen, denn sie war eine gute Mutter, die mit ihren Kindern so weit als möglich Alles gemeinschaftlich genoß und namentlich vor ihrer Aeltesten keine Geheimnisse hatte. Deßhalb zeigte sie auch, als Emilie wieder in's Zimmer trat, freundlich lachend auf die vier Thalerstücke, indem sie sagte: »Nun, was meinst du dazu? – Verstehe ich es, Jemand was auszupressen? – He!«

»Und das hast du von der Becker?« fragte verwundert die Tochter. »Was der heute überfahren ist, begreife ich nicht; geht da her und schenkt mir ein halbes Dutzend neue Handschuhe. Ist dir je so was vorgekommen?«

»Und mir vier Thaler!«

»Auch geschenkt?«

»Eigentlich nicht: ich will sie redlich verdienen.«

Emilie sah ihre Mutter fragend an.

»Schließ' die Thüre,« fuhr diese fort, »und setze dich daher; ich will dir was mittheilen, aber natürlicherweise halte mir reinen [114] Mund, das ist ein Geheimniß; sprich auch mit der Louise nicht darüber.«

»Mit der am allerwenigsten,« antwortete Emilie mit geringschätzender Miene. Damit schloß sie die Thüre und setzte sich zu ihrer Mutter hin, welche sich noch ein neues Glas Punsch gemacht hatte und als eine ökonomische Frau den, welchen Madame Becker hatte stehen lassen, in das Glas ihrer Tochter goß.

»Apropos!« sagte sie darauf, während sie ihre Hände behaglich über einander legte, »du kennst doch von den Mädchen der Putzmacherin an der Ecke der Kastellstraße die hübsche schlanke mit dem dunklen Haar? – Sie ist meistens im Laden. Weißt du?«

»Ach ja, ich erinnere mich.«

»Wenn du die siehst, fällt dir da nichts ein?«

»Was soll mir da einfallen?« erwiderte Emilie nachdenkend.

»Nun ich meine, erinnert sie dich mit ihrer Figur und ihrem Gesicht nicht an Jemand? – Besinne dich, es ist mir das von großer Wichtigkeit.«

»O, da brauche ich mich nicht lange zu besinnen,« sagte die Tochter, die einigermaßen verwundert war über die seltsamen Fragen ihrer Mutter; »die gleicht der Clara Staiger, und das auf merkwürdige Art.«

»Nicht wahr?« rief Madame Wundel. »Sind die beiden nicht zum Verwechseln?«

»Gewiß, für Jemand, der sie nicht ganz genau kennt,« erwiderte Emilie. – »Aber was willst du damit?«

»Nun, ich will die Beiden auch verwechseln,« entgegnete lachend die Mutter. Worauf sie ihrer Tochter mit kurzen Worten die Verlegenheit aus einander setzte, in welcher sich ihre würdige Freundin, die Madame Becker, befand. »Daß nun,« sagte sie schließlich, »mit dem hochmüthigen Fratz da drüben nichts zu machen ist, das weißt du so gut wie ich. – Aber zwei Karolin sind auch kein Spaß, und obendrein setze ich mich bei der Becker in großen Respekt und kann noch öfters ein Geschäft mit ihr machen.«

[115] »Vielleicht können wir noch öfters mit ihr Geschäfte machen,« versetzte nachdenkend die Tochter.

»Nun, siehst du also,« fuhr Madame Wundel fort, »die Putzmacherin kenne ich; die ist zu Allem bereit; ich theile ihr so viel mit, als sie zu wissen braucht, natürlicherweise nicht, daß sie für eine Andere gilt. Man läßt sie an dem bezeichneten Abend hieher kommen, und von unserer Hausthüre fährt sie weg. Wenn es möglich wäre, daß man unter irgend einem Vorwand von der Clara da drüben ihr Umschlagtuch für den Abend entlehnen könnte, so wäre es außerordentlich gut.«

»Das läßt sich wohl machen; wir müssen die Louise hinüber schicken, der thut sie schon was zu Gefallen.«

»Dann schärft man ihr ein, daß sie dicht verschleiert bleibt und ein ziemlich dunkles Zimmer verlangt, dann kann sie sich entschleiern, soll aber nicht viel sprechen.«

»Und du glaubst, daß das gelingen wird?«

»Gewiß! Er kennt sie wahrscheinlich nicht genau; und dann die Überraschung, die Freude, was weiß ich Alles? Ich glaube nicht, daß man was merkt. Und wenn er auch am andern Tage Verdacht schöpft und Nachforschungen hält, so helfen wir uns durch, so gut wir können und bleiben steif und fest dabei, es sei die Clara gewesen. Dann soll die Becker sehen, wie sie mit ihm zurecht kommt.«

»Und mich sollte es obendrein noch freuen,« sprach boshaft die Tochter, »wenn es der naseweise junge Mensch später erführe, und sie in ein recht schlechtes Licht bei ihm käme. Das geschähe ihr schon recht, dem hochmüthigen Affen, der aufgeblasenen Theaterprinzeß!« –

51. Kapitel
[116] Einundfünfzigstes Kapitel.
Eine Bescheerung.

Während solchergestalt in der Wohnung der Madame Wundel über Clara Staiger verhandelt wurde, ging diese zu gleicher Zeit in ihrem Wohnzimmer unruhig auf und ab. Bald eilte sie in die Nebenstube, wo ihr Vater seinen ganzen Reichthum an Geschichten den Kindern schon mehrere Male erzählt hatte, und wo nur die höchst merkwürdigen Schicksale des Däumlings, sowie die Liebe zu Herrn Arthur, auf welchen man immer noch wartete, im Stande waren, die schlaftrunkenen Augen des Bübchens offen zu halten. Auch Marie wischte sich häufig die Augen, legte ihr Köpfchen öfters an die Brust des Vaters und fuhr nicht selten aus einem leichten Schlummer in die Höhe, wenn dieser im Laufe seiner Erzählung stärker sprach und zum Beispiel sagte: »Seht ihr Kinder, so ist es dem Däumling ergangen.«

Die Tänzerin trat häufig an das Fenster, blickte auf die Straße hinaus und legte mehrmals ihre heiße Stirne an die kalten Scheiben.

Draußen jagten Schneeflocken und Regen, vom Winde gepeitscht, vorüber, und am Himmel schwammen dichte Wolken in wilden phantastischen und zerrissenen Formen. Man konnte sie nun sehen, da der Mond hinter ihnen aufgestiegen war und sie mit seinem vollen Lichte beschien. Dies Licht und die schwarzen Wolken kämpften auf diese Art miteinander; bald war der weiße Schein Sieger und überstrahlte für Augenblicke freundlich die nassen tropfenden Dächer und glänzte auf den Wetterfahnen, die jetzt ein paar Sekunden fast ruhig standen und nur leicht hin und her wankten, um gleich darauf wieder kreischend herum zu fahren, wenn neue [117] Windstöße daher fuhren und mächtigere, schwärzere Wolken vom Horizont herauf führten, die das weiße Mondlicht auszulöschen schienen und schwarze drohende Schatten auf die noch einen Augenblick vorher so klar beschienenen Straßen warfen.

Ringsum war Alles stille; nach der Lust des heutigen Abends hatten sich die meisten Nachbarn frühe zu Bette begeben; nur hie und da war noch ein Fenster beleuchtet, nur hie und da hörte man noch ein Geräusch, – vielleicht das entfernte Rollen eines Wagens, den Fußtritt eines einsamen Wanderers oder die schallenden Hammerschläge eines Schusters in der Mansarde gegenüber, der noch mit seinen Stiefeln für den morgenden Festtag im Rückstande war.

In Claras Herzen sah es finster und betrübt aus, wie draußen in der stürmischen Nacht, und wenn auch zuweilen, wie dort ein hervorbrechender Mondstrahl die dunkeln Häuser, ein freundlicher Gedanke ihr Inneres erhellte, wenn sie sich sagte: er kommt gewiß noch, es war ihm unmöglich, früher seine Gesellschaft zu verlassen, so zerfloß doch gleich darauf wieder dieser schwache Trost, indem sie dachte: nein, nein, erdenkt nicht an dich; er hätte lange da sein können, aber es gefällt ihm, wo er ist, und wenn er auch noch auf einen Augenblick kommt, so thut er es nur, um der armen Tänzerin noch einen unbedeutenden Brocken seiner Gunst hinzuwerfen, – die ja glückselig sein wird, daß er überhaupt nicht ganz ausbleibt.

Und das war ja die Wahrheit; sie konnte sich das nicht verhehlen, und wenn sie die Hände auch noch so fest auf das schmerzlich klopfende Herz drückte, so sprach doch hier der einzige Schlag von ihm und wagte es, ihrem weiblichen Stolze gegenüber zu flüstern: ja, wenn er auch nur noch für einen Augenblick kommt, und selbst dann erst, wenn er draußen vom Vergnügen gesättigt ist, so will ich glückselig sein und jubeln über die kleine Minute, die mir ihn zu sehen noch vergönnt ist. – So innig liebte ihn [118] das Mädchen, daß sie dergleichen dachte, obgleich es fast ihr Herz brach, daß sie nur in der Welt sein sollte, um für ihn am Ende aller anderen Dinge zu kommen. Und sie weinte im Stillen heiße Thränen, daß es ihr nicht einmal erlaubt war, ihn fragen zu dürfen: »Warum kommst du so spät, warum nicht frühe, wie du es versprochen?«

Der heilige festliche Weihnachtsabend, auf den sie sich so sehr gefreut, und zu dem sie zum ersten Mal seit Jahren so schöne glänzende Vorbereitungen getroffen, war dahin geschwunden, traurig und betrübt. Da standen die Weihnachtsbäume noch unangezündet, die Liebesgaben noch mit weißen Tüchern bedeckt, und während schon alle anderen Kinder nach gehabter Lust in ihren Bettchen lagen, während deren Wangen glühten von den süßen Träumen über den vergangenen festlichen Abend, sahen ihre armen kleinen Geschwister draußen im halbdunkeln Vorzimmer; sie warteten wohl noch auf die verheißene Freude, aber sie sehnten sich nicht mehr darnach, denn der Schlaf stumpfte ihre Gefühle ab, und dazu froren sie auch ein wenig. – Ja sie froren, denn Clara, deren Inneres glühte, die aufmerksam lauschte auf das Schlagen der Thurmuhren, und die jede neue Viertelstunde mit einem tiefen, schmerzlichen Seufzer begrüßte, Clara, die sonst so sorgsame Schwester, hatte seit der letzten halben Stunde nicht mehr nach dem Feuer gesehen; das Holz im Ofen war zusammengefallen, der weiße Aschenhaufen barg wohl noch in der Tiefe einige glühende Kohlen, aber oben an etlichen halb verbrannten Holzstücken eilten geschäftige Fünkchen hin und her, als wollten sie so bald als möglich eine Stelle verlassen, wo sie so schlecht gepflegt würden.

Daß unter solchen Umständen das vortreffliche Nachtessen kalt wurde, ist leicht begreiflich. Wie hatte sich der alte Mann so auf die Kartoffeln und den Kalbsbraten gefreut! Jetzt dampften jene schon lange nicht mehr, die Sauce zu letzterem war seit geraumer Zeit geronnen, und Herr Staiger, selbst fröstelnd, saß noch immer [119] im Nebenzimmer und erzählte ruhig und geduldig die Heldenthaten des Däumlings.

Clara hatte sich an das Fenster gesetzt, legte die Hände in den Schooß und blickte tief athmend auf das Licht vor ihr, das unterdessen herab brannte, wobei der Docht eine große schwarze Kohle bildete, um welche die rothe Flamme ängstlich und wie ersterbend flackerte.

Da erklangen draußen auf dem Pflaster eilfertige Schritte, die sich dem Hause näherten. – Clara horchte auf, – ja, das konnte er sein, jetzt mußte er die Hausthüre erreicht haben. – Richtig! sie vernahm jetzt die Schritte vom Hausgange her, und sie drangen nun statt von der Straße durch das Treppenhaus, aber etwas gedämpfter herauf.

Es war in der That Arthur, dem es, wie wir wissen, erst gegen zehn Uhr möglich geworden war, das elterliche Haus zu verlassen; einen Wagen hatte er nicht mehr auf der Straße gefunden, und so brauchte er noch geraume Zeit, bis er die Balkenstraße erreicht hatte. Man kann sich denken, daß er eilfertig in's Haus hinein sprang; doch hatte er hiebei fast das Unglück, eine Frau umzurennen, die ihm unten entgegen kam. Dies war beinahe unter der Hausthüre, und da sich an der anderen Seite der Straße eine Gaslaterne befand, deren voller Schein herüber fiel, so war es dem jungen Manne möglich, das Gesicht der ihm Begegnenden zu sehen, während das seinige im tiefen Schatten blieb.

Mit einem höflichen: »Verzeihen Sie!« drückte er sich an die Wand und ließ die Frau vorbei, worauf er etwas langsam die Treppen hinauf stieg. Das Gesicht der Frau, welche ihm so eben begegnet, hatte er schon irgendwo gesehen. – Aber wo? – Das Gedächtniß eines guten Malers ist scharf, und bald hatte er sich in dem Chaos von tausenderlei Zügen, die seiner Phantasie vorschwebten, zurecht gefunden. – »Richtig!« sprach er zu sich selber, »das war jene Frau in der Kaserne, welcher ich den Brief des Grafen [120] Fohrbach gebracht. – Wie hieß sie doch? – Nun, – ah! – Madame – Madame – ah! Madame Becker!«

Clara hatte droben noch einen Augenblick gelauscht, und sobald sie die Tritte des jungen Mannes erkannt, wischte sie die Thränen aus den Augen und ging eilig in's Vorzimmer, um zu verkündigen, Herr Arthur komme. Bei Marie brachte diese Nachricht schon eine gehörige Wirkung hervor, sie rieb sich einige Male die Augen, gähnte auch gelinde, dann aber schlug sie in die Hände und rief: »So kriegen wir doch jetzt endlich bescheert!« – Das Bübchen dagegen war nicht so leicht zum Bewußtsein zu bringen, und als es der Papa auf seine Füße stellte, wäre es umgeplumpst, wenn Clara es nicht noch zur rechten Zeit aufgegriffen hätte.

In diesem Augenblicke trat Arthur in das Zimmer und blieb überrascht an der Thüre stehen, als er die ganze Familie hier im halb dunkeln und fast ganz kalten Zimmer bei einander fand. Er hatte geglaubt, ja gehofft, Vater und Tochter würden behaglich in der warmen Stube um den Tisch sitzen, Clara mit freundlichem Lächeln ihm einen Stuhl näher rücken und er nun mit ihr noch eine kleine Stunde süß verplaudern können.

Das Bübchen hatte sich unterdessen ermuntert, und den Einflüsterungen seiner kleinen Schwester war es gelungen, es daran zu erinnern, daß es Weihnachtsabend sei, und daß jetzt die Bescheerung vor sich gehen könne, nachdem Herr Arthur gekommen.

»Aber du bist recht lange ausgeblieben,« sagte hierauf Karl; »wir haben gewiß fünfzig Stunden auf dich gewartet.«

»Sie haben auf mich gewartet?« fragte fast erschrocken der Maler. – »Wie? Herr Staiger, – auf mich mit der Weihnachtsbescheerung?«

»Ja, wir dachten, es sollte Ihnen Freude machen,« entgegnete gutmüthig der alte Mann.

»Aber es ist ja schon so spät.«

»Ja, es ist schon spät,« sagte Clara mit leiser Stimme.

[121] »Und wir dachten jeden Augenblick, du solltest kommen,« warf das Bübchen ein.

»Das schmerzt mich ordentlich!« rief Arthur. »Es ist jetzt zehn Uhr, und ihr habt Alle, auch die armen Kinder, auf mich gewartet?«

»In der That glaubten wir, es wäre Ihnen vielleicht möglich, früher zu kommen,« meinte der alte Mann.

»O, ich konnte nicht,« erwiderte Arthur. »Gewiß, ich konnte nicht; ich bin weggegangen, sobald es nur möglich war; ich sagte Ihnen ja auch, bester Herr Staiger, wenn ich um acht Uhr nicht da sei, so wäre ich gezwungen, bis nach dem Souper zu Hause zu bleiben.«

»Ja, ja, ich denke mir jetzt, Sie haben mir das gesagt: es ist so, gewiß, es ist so. Aber jetzt sind Sie da, und nun wollen wir nachträglich eine prachtvolle Bescheerung halten. Seht, Kinder, wie gut ihr es habt,« setzte er lächelnd hinzu, »alle anderen haben ihre Geschenke erhalten und liegen schon in ihren Bettchen; ihr aber habt das noch vor euch.«

Clara war in's Nebenzimmer gegangen, um die Lichtchen auf den Bäumen anzuzünden. Arthur, der alle Taschen voll Spielzeug hatte, ging ihr nach, nach dem er draußen gebeten, sich noch einen Augenblick zu gedulden, bis er auch mit dem Christkindchen gesprochen. Doch blieb er an der Thüre stehen und bat Clara, die sich am Tische beschäftigte, sanft um Erlaubniß, ihr etwas helfen zu dürfen.

Sie nickte schweigend mit dem Kopfe und wies ihm auf seine Bitte die verschiedenen Stellen auf dem Tische, wo sich die Sachen des alten Herrn und die der beiden kleinen Geschwister befanden. Dorthin legte er verschiedene Paketchen, wandte aber dabei jede Sekunde den Kopf nach Clara um, die mit gesenktem Haupte ihre Sachen ordnete. Er fühlte wohl, daß er dem Mädchen wehe gethan, und das schmerzte ihn tief. Mit welcher Liebe hatten all' [122] die guten Menschen hier an ihn gedacht und hatten ihr Bestes, ihre ganze Freude des heutigen Abends, für ihn aufgehoben, daß er sie mit ihnen genießen könne! Und nun war er so lange nicht gekommen; freilich konnte er sich nicht ganz allein die Schuld hievon beimessen, doch mußte er sich sagen, wenn er gewußt hätte, daß man ihn so früh hier erwartet, so würde er doch am Ende einen Ausweg gefunden haben, um sich zu Hause von dem Nachtessen wegzuschleichen. Es war das früher auch wohl schon geschehen.

»Es ist Ihnen am Ende nicht recht, daß ich noch gekommen bin, Clara,« sprach Arthur nach einer Pause, während welcher er sich vergeblich bemüht, einen Blick des geliebten Mädchens zu erhaschen.

»Das ist nicht Ihr Ernst,« entgegnete sie hierauf mit einem flüchtigen Blick; »Sie wissen, wie willkommen Sie uns zu jeder Zeit sind, Herr Arthur. Aber Sie sehen, daß ich jetzt dringend zu thun habe. – Nachher,« setzte sie mit einem tiefen Athemzuge hinzu, »plaudern wir hoffentlich noch – recht vergnügt mit einander.«

»Nicht wahr, liebe Clara, das thun wir?« sagte er mit herzlichem Tone, indem er eine ihrer Hände faßte und sie innig an seine Lippen drückte.

Sie zog ihre Hand nicht weg, aber sie zuckte so zusammen, daß er sie unwillkürlich losließ, um in ihre Augen zu blicken; doch wandte sie sich ab und sprach gleich darauf anscheinend heiter: »So, nun bin ich fertig, Herr Arthur. Jetzt müssen Sie aber an die Thüre gehen und sich nicht umsehen, bis ich die Tücher von dem Tische weggenommen.«

»Also ich erhalte auch etwas?« fragte er vergnügt.

»Gewiß, gewiß,« antwortete die Tänzerin.

Arthur ging an die Thüre, wie sie es ihn geheißen hatte, öffnete sie leise und sprach hinaus: »Jetzt Kinder, gebt Achtung! [123] Clara ist fertig, sie wird sogleich Eins, – Zwei – Drei zählen, und dann öffne ich die Thüre. – Nicht wahr, Clara, Sie zählen so?«

»Wenn Sie es wünschen, Herr Arthur, will ich es gewiß thun. – Also denn!«

»Jetzt aufgepaßt!« rief der Maler und faßte die Thürklinke.

»Eins – zwei – drei!« sagte Clara. Und nun öffnete Arthur die Thüre des Nebenzimmers weit, worauf die Kinder eilfertig herein stürzten. Doch blieben sie ganz erstaunt auf der Schwelle stehen, – ein wahres Lichtmeer, eine für sie unerhörte Pracht blendete ihre Augen. So einen Christbaum hatten sie noch nie gesehen. Was waren die bisherigen dagegen? – Wahrhaftig nicht der Rede werth; dieser hier reichte fast bis an die Decke des Zimmers, und den beiden kleinen Kindern war es so feierlich zu Muth, daß Vater Staiger sie ordentlich vorschieben mußte. Sie hatten die Augen weit geöffnet, die vielen Lichtchen strahlten darin wieder und erfüllten sie mit einem hellen Glanze. Das Bübchen hielt die Hände von sich abgestreckt und war völlig außer Stande, all' das Wunderbare zu begreifen. Endlich sagte es tief aufathmend: »Ein Schaukelpferd!« – »Und eine Puppe!« rief Marie. Worauf Beide vergnügt lächelnd an den Tisch traten und dann langsam um den Baum herum gingen. Es wagte anfänglich keines, etwas von den schönen Sachen zu berühren; sie wandelten wie in einem Traum und glaubten wahrhaftig, sobald sie eine dieser Herrlichkeiten anfaßten, würde all' der Glanz unfehlbar in Nichts zerrinnen.

Auch der alte Mann trat mit großer Freude an den Platz, wo seine Sachen lagen, und betrachtete den warmen Winterrock mit so großem Erstaunen, als habe er ihn heute zum ersten Male gesehen. Arthur hatte daneben ein Kistchen Cigarren gestellt und eine Spitze von Bernstein, wofür sich Herr Staiger mit gerührten Worten und einem herzlichen Händedruck bedankte.

Clara hatte unterdessen auch von dem anderen Tischchen, auf [124] welchem der kleine Weihnachtsbaum stand, das Tuch weggenommen, und Arthur, der allen ihren Bewegungen folgte, sah wohl an ihrem Blick, daß dies für ihn sei, weßhalb er eilig an ihre Seite trat. Auf dem Tischchen lag die Cigarrendose, welche sie für ihn gestickt, sowie das Feuerzeug des Herrn Staiger. Der junge Mann nahm das kleine zierliche Geschenk mit wahrer Freude in die Hand, denn als er die eingestickten Perlen und Goldfäden betrachtete, dachte er an die Zeit, wo sie das für ihn gearbeitet, und war überzeugt, daß sie während derselben unzählige Gedanken an ihn und so viel Herzliches und Liebes mit hinein verwebt habe. Er sah sie mit einem unaussprechlich süßen Blicke an, und Clara stützte sich mit der Hand auf den Tisch und schlug ihre Augen nieder. Sie wollte lächeln, als er sich nun freundlich bei ihr bedankte, doch zuckte ihr Mund schmerzlich, sie preßte die Lippen fest auf einander, und da sie sich dennoch bemeistern wollte, so öffnete sie ihre Augen, um ihn anzusehen, konnte aber nicht verhindern, daß ihr die hellen Thränen über das Gesicht herab flossen.

Arthur begriff wohl das schmerzliche Gefühl, welches ihr Herz erfüllte; er wußte ja, daß ihn das Mädchen liebe, innig und treu liebe, und deßhalb fühlte er auch, was ihr Inneres bewegte: sie schämte sich ihrer Liebe nicht, aber sie fürchtete sich davor; Clara sah deutlich die Kluft, welche sie von ihm schied, – eine Kluft, die er zuweilen zudeckte mit freundlichen Reden und süßen Worten, wenn er bei ihr saß, die sich aber wieder schwarz und trostlos vor ihrem Blicke aufthat, sobald er ferne war. Zuweilen hoffte sie, und wenn sie ganz allein war, baute ihre Phantasie eine glänzende Brücke über jenen Abgrund, eine Brücke, die sie dann an seiner Hand schauernd betrat, und die sie glücklich in ein wunderbar prächtiges Land führte. – Aber das waren lächerliche Träume, und sie zerscheuchte sie gewaltsam wieder, ohne jedoch in gänzliche Hoffnungslosigkeit zu verfallen. Nur an solchen Abenden wie der heutige, wo sie wußte, er sei bei seiner vornehmen und stolzen Familie, und [125] müsse den Augenblick, den er hierauf bei ihr zubringen wolle, vor den Augen seiner Verwandtschaft verheimlichen, ihnen förmlich abstehlen, wo sie fühlte, daß vielleicht alsdann in seiner Abwesenheit dort ihrer gedacht werden könne mit geringschätzendem Achselzucken, daß man von ihrem liebenden und treuen Herzen spräche, wie von einem Spielzeuge, das nächstens abgenützt und von ihm auf die Seite geworfen würde, in solchen Stunden fühlte sie sich namenlos elend. – Und so heute. –

Das las Arthur in dem seltsamen Blick ihres Auges, in den langsam herabträufelnden Thränen. Und sollte das arme Mädchen in seinen finsteren Träumen und Jene in ihren hochmüthigen Ideen Recht behalten, sollte er dies gute, liebende Geschöpf wegwerfen für eines jener kalten und stolzen Herzen, die sich wohl eine Ehre daraus machten, von ihm, dem reichen jungen Manne, gewählt zu werden, ohne ihm deßhalb mit zärtlicher Liebe anzuhängen! – Sollte er seine Clara verlassen, weil sie eine arme Tänzerin war, weil ihre Verwandtschaft nicht verzeichnet war im goldenen Buche der Stadt, weil ihr nicht offen standen die geheiligten Schranken irgend einer Rangklasse, weil ihre Tanten und Basen nicht Sitz und Stimme hatten in den Thee-, Kaffee- und Klatschgesellschaften! – Nein, nein! so will ich nicht handeln! dachte sein treues Herz, ich will sie an mich ziehen, fest in meinen Armen halten und mit liebender Sorgfalt über die Klippen dieses Lebens, über die Klippen unserer gesellschaftlichen Zustände führen. – Und werden uns viele solcher Klippen bedrohen? fragte er sich, und sein leichter Sinn antwortete: o gewiß nicht! Man kennt mich, meine Freunde und meine Bekannten schätzen und ehren meinen Namen, sie werden auch das Mädchen bei sich aufnehmen und lieb gewinnen, der ich diesen Namen zu geben für gut befunden, – meiner Frau. – Bei diesem letzten Worte mußte er unwillkürlich lächeln, denn es kam ihm so sonderbar vor. Er dachte mit einem Male an seine Junggesellenwirthschaft, an die Zimmer, vollgepfropft mit allerlei [126] Geräthschaften, an die alterthümlichen schweren Seidenstoffe, die er zu den Draperien seiner Gemälde brauchte, und die von der Lehne eines alten geschnitzten Stuhles herab hingen und weit in das Zimmer hinein reichten. – Und dazwischen sollte Clara stehen, verwundert all' das Seltsame anstaunend und behutsam auf den Zehenspitzen hin und her schreitend; – ach, und sie schritt so wunderbar auf den Zehenspitzen, das Röckchen leicht gehoben – damit sie glücklich zwischen all' dem Chaos durchkomme, ohne hier eine Vase zu berühren oder dort an ein frisches Gemälde zu streifen. – Ja, ja, meine Frau soll sie sein, und ich will sie hegen und pflegen mit liebender Sorgfalt, wie ein Kind, das anfängt, gehen zu lernen. Fort mit allen Rücksichten! Bin ich nicht ein Künstler und deßhalb ein freier Mensch? Ich will meinem Herzen folgen und meinem Gemüthe alle Ehre machen.

Während er das dachte, hatte er unverwandt die Stickerei betrachtet, aber so lange und anhaltend, daß ihm Clara befremdet zuschaute. Sie fürchtete schon, ihre Thränen haben ihn verletzt und ihm sehr wehe gethan, deßhalb bezwang sie sich gewaltsam, trocknete ihre Augen und blickte wieder hell und freundlich auf.

Arthur fuhr aus seinen Träumereien empor und mit einem so glücklichen Gefühl im Herzen, daß er es unmöglich vollkommen ausdrücken konnte. Etwas davon spiegelte sich freilich auf seinem Gesichte wieder, und dieser Ausdruck war schon so heiter und froh, daß er nun der Tänzerin ein wirkliches Lächeln ablockte.

»Ah! Sie haben mich zu schön beschenkt,« sagte er; »liebe Clara, wie soll ich Ihnen dankbar dafür sein! Freilich habe ich Ihnen auch Etwas mitgebracht, aber es ist so unbedeutend und klein, daß es Ihnen vielleicht gar nicht einmal gefällt.«

»Es gefällt mir gewiß,« entgegnete Clara, und ließ ihm ihre Hand, die er bei den letzten Worten ergriffen. Fast hätte sie sie aber wieder zurückgezogen, denn er genirte sich nicht im Geringsten, sondern küßte vor den Augen des Vaters ihre Finger, was [127] er früher nur beim Abschiednehmen auf der halbdunkeln Treppe gethan.

Sie erröthete stark, fürchtete sich aber, vor ihm zurückzutreten, denn seine Augen glänzten so selig, er blickte sie so überaus freundlich an, daß sie noch viel Aergerem entgegen sah, wenn sie sich das nicht geduldig gefallen ließ.

»Aber Sie müssen rathen, was ich habe!« rief er und hielt etwas in der rechten zusammen geballten Hand empor.

»Wie ist das möglich?« sagte Clara. »Nein, nein, ich will nicht rathen; ich habe Ihnen ja gleich offen und ehrlich gezeigt, was ich für Sie gemacht, und das Gleiche müssen Sie auch thun.«

»Sie hatten Ihr Geschenk zuerst mit einem Tuche bedeckt,« entgegnete er lustig, »und damit Sie auch das meinige nicht gleich sehen, so machen Sie die Augen zu, bis ich sage, Sie dürfen sie wieder öffnen. – Nicht wahr, lieber Herr Staiger, das kann Clara schon thun?«

»Ja, das meine ich auch,« erwiderte der alte Mann; »du kannst in dem Falle die Augen schon zumachen.«

»Um so mehr, da Ihr Vater sehen wird, was geschieht,« fuhr Arthur nicht ohne Bedeutung fort.

»Nun meinetwegen denn,« sprach das liebliche Mädchen, indem sie über ihre glänzenden Augen die Augenlider sanft herabfallen ließ. – Dabei sah sie sehr blaß aus, und jetzt noch mehr als wie einen Moment vorher; ihr Herz schlug gewaltsam und sie konnte sich eines eigenthümlichen Gefühls nicht erwehren. Ja, sie zuckte fast zusammen, als nun Arthur ihre Hand wieder ergriff, als er langsam ihre Finger öffnete, um einen kalten, glatten Ring daran zu stecken. Sie hob ihre Hand empor, wagte es aber erst ihre Augen zu öffnen, als sie der junge Mann bat, dies zu thun. – Da fielen ihre Blicke auf einen kleinen goldenen Reif, den sie am Finger hatte, einen Ring ohne Zierrath und Stein, einen Ring, dessen Form sie aber wohl kannte.

[128] Was sollte das Alles bedeuten? Der alte Mann sah fragend auf Arthur; Clara schlug ihren Blick nieder und zitterte so heftig, daß sie sich am Tische festhalten mußte.

Auch Arthur war in diesem Augenblicke erblaßt, und auch sein Athem wand sich mühsam aus der Brust. – »Was das heißen soll?« sprach er mit einem sonderbaren Lächeln, wobei seine Augen eigenthümlich blinzelten, »das soll heißen – daß ich die Clara unendlich liebe, und daß sie und keine Andere meine Frau werden soll!«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Der geneigte Leser wird uns verzeihen, daß wir hier dieses Kapitel schließen, aber ein Moment, wie der, welchen nun die drei glücklichen Menschen verlebten, läßt sich unmöglich der Wahrheit gemäß schildern. Wir wollen nur noch sagen, daß Herr Staiger, so glücklich er sich fühlte, doch den Kopf schüttelte und von einer Einwilligung seitens der Eltern Arthurs als von einer fast unmöglichen Sache sprach, und daß Clara, die anfangs wie betäubt gestanden, bald darauf so voll Glück und Freude war, wie selten eine menschliche Seele; sie küßte tausendmal den Ring an ihrem Finger, denn dieser Ring gab ihr ein Recht auf die Liebe Arthurs; sie brauchte jetzt nicht mehr sich selbst und ihm zu verheimlichen, wie unaussprechlich sie ihn liebe, sie war vollkommen glücklich, sie kannte weiter keine Wünsche und Hoffnungen. – Wenn sie in dem Augenblicke gestorben wäre, so wäre sie hingegangen im glücklichsten Moment ihres Lebens – ein reiner, unschuldsvoller Engel. –

52. Kapitel
[129] Zweiundfünfzigstes Kapitel.
Ein nächtlicher Gast.

Wenn man nach einem Abende, wie ihn Arthur im vergangenen Kapitel verlebt, nach Hause geht, das Herz voll Seligkeit, die Augen strahlend, wenn man zum ersten Male von dem Mädchen, welches man liebt, öffentlich einen zärtlichen Abschied genommen und sie fest an's Herz gedrückt, unbekümmert um Vater und Mutter, Tante und ältere Schwestern, die vielleicht in großer Verlegenheit, daß ihnen das selbst noch nicht begegnet, den Kopf auf die Seite wenden und bedeutsam husten, so betritt man die Straße mit einem sonderbaren Gefühle. Man lacht in sich hinein, man reibt sich die Hände, man betrachtet die Häuser, ob es in Wahrheit noch dieselben seien, die da standen, während man heute Abend schon einmal hier vorbei kam; man freut sich über den klaren Himmel und über den finsteren, über Mondschein, Schnee und Regen; man findet es, wenn der letztere herabrieselt, von ihm eine überflüssige Mühe, daß er den Versuch macht, uns verdrießlich zu stimmen. – Wir lachen über ihn, auch über den Wind, der unsern Regenschirm empor kehrt und unsern Hut zu entführen droht. Blase nur, blase! Wir wandeln dahin, im Herzen ein schönes, strahlendes Bild, das uns warm und trocken erhält, das uns leuchtet in finsterer Nacht, und das uns wärmt trotz Kälte und Wind. Alle unangenehmen Zufälligkeiten, die sonst wohl uns zu erzürnen im Stande sind, existiren für uns heute Abend gar nicht. Was kümmert es uns, ob das Wasser in den Rinnen dahin schießt, oder ob der Boden so glatt geworden ist, daß man nur fortkommen kann, indem man sich an den Mauern der Häuser hält. – Gleichviel [130] man springt hinüber, oder man glitscht zuweilen aus, fällt auch wohl hin, um dann lachend wieder aufzustehen.

Dieses Gefühl trug Arthur mit sich nach Hause, und wenn ihm auch von den eben erwähnten Unfällen keiner begegnete, so schien er dagegen auch nicht zu bemerken, daß ihm Schnee und Regen in's Gesicht schlugen, und daß er, um sich abzukühlen, den Hut in der Hand hatte. Er betrachtete sinnend den finsteren Himmel, der sich mehr und mehr überzogen, und blinzelte vergnügt nach den Straßenlaternen hin, als wollte er sagen: wüßtet ihr, was ich weiß. Zuweilen blieb er auch stehen, und schaute lange in die Nacht hinaus. – Alsdann theilten sich vor seinem innern Auge Finsterniß und Mauern, er sah hinein in ihr Stübchen und war entzückt, wie schön sie da ruhte. Den rechten Arm hatte sie unter den Kopf gelegt, so daß ihr Gesicht fast aufwärts zum Himmel sah; sie athmete bald leicht und bald schwer, ihre Wangen waren sanft geröthet, und ihre frischen, leicht geöffneten Lippen flüsterten leise: »Arthur, mein Arthur!«

Nachdem er das im Geiste gesehen, fuhr er sich mit der Hand über die Augen und verwischte gewaltsam dies reizende Bild wieder; auch wandte er sich um, setzte sogar seinen Hut auf und schritt eiliger nach Hause, nicht, um aus der kalten Nacht zu kommen – die that seinen brennenden Wangen wohl – sondern um in seiner Wohnung Papier und Bleistift zu ergreifen und ihre Züge in der Geschwindigkeit noch ein Halbdutzendmal hinzuzeichnen.

Es mochte fast Mitternacht sein, als er in der Nähe des elterlichen Hauses ankam. Er ging bei der Hausthüre vorbei, denn sein Weg führte ihn, wenn er Abends spät nach Hause kam, durch eine enge Gasse an den hinteren Theil des Gebäudes, wo er durch eine kleine Thüre eintreten konnte und sich dann gleich in der Nähe seiner Zimmer befand.

Vor dieser kleineren Thür war eine Gaslaterne, welche sie mit hellem Scheine beleuchtete. Als Arthur unweit des letzteren angekommen [131] war und schon die Hand in die Tasche gesteckt hatte, um seinen Schlüssel heraus zu ziehen, hielt er auf einmal mit dieser Bewegung inne, blieb stehen und schaute nach dem Gascandelaber, denn es war ihm, als sähe er eine menschliche Gestalt, die an demselben angelehnt stand.

»Das ist seltsam,« dachte der Maler und blickte schärfer hin. Richtig! da war ein Mensch, der auf etwas zu warten schien.

Arthur mußte, um seine Thüre zu erreichen, ziemlich dicht bei diesem Candelaber vorbei gehen; ehe er dies aber that, zog er seinen gewichtigen Hausschlüssel aus der Tasche, faßte seinen Stock fester und schritt langsam vorwärts.

Sobald er näher kam, löste sich die Gestalt von dem Candelaber ab und trat ihm einen Schritt entgegen. Sie waren sich jetzt Beide so nahe gekommen, daß an ein Ausweichen nicht mehr zu denken war; auch hatte sich der Unbekannte so aufgestellt, daß er fast vor der kleinen Hausthüre stand, weßhalb es der Maler für das Beste hielt, denselben anzurufen und ihn bestimmt aber höflich zu fragen, ob er vielleicht irgend eine Absicht verfolge, daß er ihm so auffallend in den Weg trete.

Bei dieser Frage griff die Gestalt an ihren Kopf und bückte sich leicht. Wir vermuthen fast, daß sie den Hut abnehmen wollte, was aber nicht wohl ausführbar war, da sie keinen auf dem Haupte trug. Dabei öffnete sie ihren Mund, und sie sprach mit einem leisen und schüchternen Tone: »Ach, Herr Erichsen, Sie werden mich wahrscheinlich nicht erkennen.«

»Da haben Sie Recht!« rief lachend der Maler. »Ich möchte wissen, wie es möglich ist, Jemand zu erkennen, der dicht unter einer Gaslaterne steht und den Kopf abwärts gesenkt hält wie Sie. – Aber was wollen Sie von mir? Wenn Sie etwas Gutes hierher führt, so zeigen Sie frei und offen Ihr Gesicht.«

»Das ist auch das Klügste,« erwiderte die Gestalt, »und ich hätte das gleich thun sollen.« Damit fuhr sie an die Stirne, strich [132] ihre langen, schwarzen Haare zurück und ließ das Licht der Laterne auf ihr Gesicht fallen, während sie aus dem Schatten heraustrat.

»Herr Beil!« rief Arthur überrascht. »Sind Sie es wirklich, und wie kommen Sie daher, bester Beil?«

»Es ist Beil,« sprach der Andere mit tiefer Stimme, »aber ein sehr trauriges Beil, fast ohne Schneide und Stiel, nur noch der Schatten des früheren.«

»Aber sagen Sie mir in aller Geschwindigkeit, was treibt Sie bei so später Nachtzeit hier in diese Gegend. Kommen Sie zufällig hier vorbei oder haben Sie mich hier erwartet?«

»Ich habe Sie hier erwartet,« erwiderte der ehemalige Commis des Herrn Blaffer. »Schon zwei Abende, und immer bin ich wieder davon geschlichen, sobald ich Ihre Schritte hörte; auch heute Abend hätte ich es beinahe so gemacht, doch kamen Sie mit so festem, ich möchte sagen vergnügtem Schritt daher, auch pfiffen Sie eine so heitere Melodie, daß ich mir ein Herz faßte und Sie erwartete.«

»O, lieber Beil, was machen Sie für Geschichten!« rief Arthur lachend. »Sie wollen mich also sprechen?«

Der Andere nickte mit dem Kopfe.

»Vielleicht kann ich Ihnen sogar einen Dienst erzeigen?«

Herr Beil zuckte die Achseln.

»Aber warum kommen Sie denn nicht frischweg am Tage, oder laufen des Nachts weg, wenn Sie mich kommen hören?« fragte der Maler.

»Das Erste wird Ihnen selbst klar werden,« entgegnete der Andere schüchtern, »wenn Sie nämlich die Güte haben wollen, mich in Ihr Zimmer eintreten zu lassen und dort bei Lichte zu besehen.«

»Was sogleich geschehen soll,« sprach Arthur lustig. »Kommen Sie geschwind, denn ich fühle jetzt auf einmal, daß es hier außen kalt und frostig ist.«

»Ja, sehr kalt und frostig!« seufzte Herr Beil.

[133] Hierauf öffnete Arthur die Thüre, und als Beide eingetreten waren, schloß er sie wieder hinter sich zu. Sie befanden sich in einem kleinen Vestibul, von welchem eine Wendeltreppe in den ersten Stock des Hintergebäudes führte. Auf den untersten Stufen dieser Treppe stand ein kleiner silberner Handleuchter mit einem Wachslichte, das schon tief herabgebrannt war.

Arthur leuchtete und Beide stiegen hinauf in seine Wohnung. Diese bestand aus vier Zimmern, war sehr elegant eingerichtet, doch herrschte, namentlich im Atelier, eine für einen Maler sehr verzeihliche Unordnung. Die Waffen, Stoffe, Statuetten, Vasen, von denen er vorhin bei Clara geträumt, lagen und standen hier in der That überall herum und waren in manchen Ecken so dicht zusammen gestellt, daß es wirklich Mühe kostete, sich dort frei zu bewegen.

Obgleich Arthur keine eigene Dienerschaft hatte, so wurde er doch von der sämmtlichen des elterlichen Hauses außerordentlich verwöhnt, und sein kleines Interieur so besorgt, daß er Niemand Eigenes brauchte. Auch heute Nacht, obgleich es schon ziemlich spät war, befanden sich in dem Kamine, den Arthur aus besonderer Vorliebe in seinem Wohnzimmer hatte einrichten lassen, noch glühende Kohlen genug, so daß es nur einer kleinen Anwendung des Blasbalges bedurfte, um einige Stücke Holz, die er auflegte, sogleich in helle Flammen zu versetzen. Dann zündete er ein paar Kerzen an, und als diese das Zimmer hell erleuchteten, blickte er sich nach seinem Gefährten um, der händereibend an dem lodernden Feuer stand.

»In der That,« rief Arthur nach einem kleinen peinlichen Stillschweigen, »in der That, lieber Herr Beil, nehmen Sie mir es nicht übel, aber ich begreife jetzt vollkommen, warum Sie mich nicht am Tage besucht haben.«

»Nicht wahr, das ist zu begreifen?« entgegnete dieser, indem er einen trostlosen Blick an sich hinunter laufen lief. »Wenn Sie [134] mich auch nie sehr geputzt und geschniegelt sahen, so habe ich mich bis jetzt auch nicht als Lump präsentirt – als vollständiger Lump, wie heute Abend.«

Und Herr Beil sprach die Wahrheit, denn sein Aeußeres sah wirklich im höchsten Grade verwahrlost aus. Haar und Bart hingen ihm zerzaust um den Kopf, und er schien alle Ursache zu haben, seine Wäsche sorgfältig zu verstecken, denn er hatte nicht blos den Rock bis unter das Kinn zugeknöpft, sondern auch noch den Kragen etwas in die Höhe geschlagen. Seine Beinkleider waren fast bis zu den Knieen beschmutzt, und seine Stiefel gaben einen seltsam seufzenden Ton von sich, wenn er auftrat, und ließen sehr verdächtige nasse Spuren zurück, wenn er seinen Standort wechselte.

Er wollte sprechen, doch fiel ihm Arthur in's Wort: »Lassen Sie für diesen Augenblick alle Explikationen; ich sehe schon, daß Ihnen was Außerordentliches passirt ist, was Sie mir wohl später mittheilen werden. Jetzt aber will ich vor allen Dingen uns Beide in ein trockenes Gehäuse bringen; denn auch mich hat der Regen von heute Nacht ziemlich scharf mitgenommen. Folgen Sie mir in's Schlafzimmer, und ich will schon etwas finden, was für Sie paßt.«

Herr Beil wollte einige bescheidene Einwendungen machen, doch legte ihm der Maler sanft die Hand auf seine Schulter, indem er fortfuhr: »Lassen Sie das gut sein; ich versichere Sie, es würde mir zu jeder Zeit ein großes Vergnügen gemacht haben, Ihnen aus irgend einer Verlegenheit zu helfen, umsomehr aber am heutigen Abend, wo mir selbst ein so großes Glück widerfahren ist, daß es mich drängt, den Kummer eines meiner Bekannten zu lindern. – Ich fühle mich als ein zweiter Polykrates: die Götter haben mich so mit Gnaden überhäuft, daß ich gern einen kostbaren Ring in's Meer schleudern würde, wenn im Augenblicke Ring und Meer bei der Hand wären. In Ermanglung des letzteren seien [135] Sie nun so freundlich, dasselbe vorzustellen, und erlauben mir, die bescheidenen Kleinigkeiten eines Anzuges, soweit er Ihnen passend ist, in Ihren Schoos zu werfen.«

Auf diese freundliche Anrede hin senkte der ehemalige Commis sein Haupt, ergriff, ohne ein Wort zu sprechen, die Hand Arthurs und drückte sie innig. Dann folgte er ihm in sein Schlafzimmer.

Eine förmliche Verwandlung war bald bewerkstelligt, und nach einer kleinen Viertelstunde ließen sich die Beiden vor dem Kamine nieder, nachdem Arthur aus dem Magazine seiner Junggesellenwirthschaft etwas kalte Küche und eine Flasche herbeigebracht, welchen von Herrn Beil eifrig zugesprochen wurde.

Der Maler sah lächelnd auf sein Gegenüber, denn dieser hatte sich wirklich vortheilhaft verändert. So viel es in der Geschwindigkeit thunlich gewesen, ward Haar und Bart geordnet und sein ganzer übriger Mensch damit in Einklang gebracht; er war mit allem Nothwendigsten versehen worden, wovon wir aber nicht weiter sprechen wollen; nur müssen wir erwähnen, daß er an den Füßen buntgestickte Pantoffeln trug, auf welche rothe Morgenhosen herabfielen, und daß der carrirte Schlafrock, in den er gehüllt war, etwas sehr lang auf dem Boden nachschleifte.

Nachdem er sich mit Speise und Trank restaurirt, reichte ihm Arthur eine Cigarre, die Friedenspfeife, wie er sagte, womit er ihn, den Heimathlosen, nun gänzlich unter seinen Schutz, unter Dach und Fach nehme.

Der ehemalige Commis des Herrn Blaffer zündete sich die feine Havanna an, und sog mit äußerstem Wohlbehagen den wohlriechenden Dampf in sich, um ihn dann langsam wieder von sich zu blasen. Er streckte sich im weichen Fauteuil lang und bequem vor dem Feuer aus, und es war dabei erklärlich, daß ihn ein Schauder überfuhr, wenn er an die vergangenen drei Tage dachte, namentlich an jenen schrecklichen Abend, wo ihm das Gespenst erschienen. – O wäre er doch lieber gleich zu Arthur gegangen, [136] nachdem er das Haus seines Prinzipals verlassen! Aber damals rannte er gerade aus, nicht rechts noch links blickend, seinem Verderben entgegen, das ihm aber als kein Verderben erschien, sondern als die Einlaßpforte in ein stilles, friedliches Thal, wo er sich in einem dunkeln, aber nicht unheimlichen Winkel ruhig zum Schlafen werde niederlegen können. –

»Das Leben ist doch schön! sagt der unsterbliche Schiller. – Und er hat Recht,« fuhr Herr Beil dann seufzend fort: »sie ist schwer von sich zu werfen die süße Gewohnheit des Daseins. Jetzt begreife ich nicht mehr, wie es einem Menschen einfallen kann, seinem Dasein freiwillig ein Ende machen zu wollen.«

Arthur hatte aus seiner Kaminecke zugeschaut, wie ein inniges wonniges Gefühl freundliche Strahlen auf dem Gesichte seines Gegenüber hervorzauberte. Als derselbe aber hierauf jene Worte ausrief, entgegnete er: »Sie sprechen ja wie ein halber Selbstmörder. Ich habe Sie überhaupt so verändert gefunden, daß Sie mir es nicht übel nehmen können, wenn mich eine kleine Neugierde beschleicht.«

»Die zu befriedigen mir eine Erleichterung sein wird,« sagte Herr Beil. Und dann erzählte er mit großer Gewissenhaftigkeit die Vorfälle der letzten Tage bis zu dem Augenblicke, wo ihm jene Gestalt erschienen und ihm das Versprechen abgenommen, den thörichten, verbrecherischen Schritt nicht zu thun.

»Das kann unmöglich der Teufel gewesen sein,« versetzte Arthur, der aufmerksam zugelauscht, und den, während der Andere sprach, zuweilen ein leichter Schauder überflog; denn Herr Beil erzählte das Alles so umständlich, schilderte so natürlich die Qualen seines Herzens und die Zerrissenheit seiner Gedanken. – »Nein, das war gewiß kein böser Geist, denn sonst hätte er Sie ruhig Ihr Vorhaben ausführen lassen.«

»Aber ich hörte ihn nicht verschwinden,« fuhr Herr Beil fort; »ich blickte auf, es schlug Ein Uhr und er war nicht mehr da.«

[137] »Das ist allerdings seltsam, – und Sie erfuhren nichts mehr von ihm?«

»Bis jetzt nicht das Geringste, obgleich ich immer geglaubt, ja gehofft, er werde mir wieder in den Weg treten, umsomehr, als ich seit jener Mitternacht wohl gesehen oder gefühlt, daß ich beständig von Jemand beobachtet werde.«

»Das ist eine Ausgeburt Ihrer Phantasie, die Nachwirkung jener Stunde,« meinte Arthur. »Wenn Sie Jemand beobachtet hätte, so müßten Sie es doch wissen, Sie müßten Jemand gesehen haben.«

»Das habe ich auch,« erwiderte der Andere mit leiser Stimme. »Schon als ich in jener Nacht vom Kanal zurückkehrte und die Straße wieder betrat, glaubte ich oftmals den Klang von Tritten hinter mir zu hören.«

»Das Echo der Ihrigen.«

»Das dachte ich anfangs auch, denn wenn ich zögerte, so zögerten die Schritte ebenfalls, wenn ich hielt, so hielten sie auch. Doch um genau zu untersuchen, ob es wirklich der Klang meiner Schritte sei, blieb ich ein paarmal ganz plötzlich und unerwartet stehen, und da hörte ich wohl, daß es kein Echo sei, sondern daß mir wirklich Jemand folge.«

»Nun, daß das wenigstens kein Geist war, darüber können Sie sich beruhigen, denn die Phantome gleiten, wie Sie wissen, geräuschlos dahin.«

»Ganz richtig, es war weder ein Gespenst, noch war es jene Gestalt, die ich am Kanäle gesehen. In der Nacht verlebte ich einige miserable Stunden: ich kauerte mich in einem Winkel zusammen, bis der Tag kam; ach! es war empfindlich kalt geworden und fror; ich habe schon angenehmere Sonnenaufgänge erlebt. Aber am Ende geht Alles vorüber, und so verschwanden auch jene Stunden der Morgendämmerung, wobei mir das Mark in den Knochen zu erfrieren drohte. – Ich sagte vorhin, der, welcher mir [138] gefolgt, sei nicht die Gestalt vom Kanale gewesen; das sah ich, sobald es Tag wurde, denn nun bemerkte ich in dem gegenüber liegenden Straßenwinkel eine Figur, die mich offenbar beobachtete, obgleich sie unruhig auf- und abschritt, und that, als erwarte sie sonst Etwas. – Das war mir unheimlich, und ich beschloß, zu untersuchen, ob ich mich nicht irre. Ich erhob mich und schlich an den Häusern dahin; der Andere folgte mir nicht, wenigstens nicht sogleich. Ich ging einige Straßen weiter, absichtlich ohne mich umzuschauen, und verlor mich endlich in ein Labyrinth von kleinen finsteren Gassen, wo einer meiner Landsleute wohnte, ein armer Teufel von Buchbinder, dem ich viele Gefälligkeiten erzeigt, und von welchem ich mit Recht voraussetzte, er werde mir gerne eine Unterkunft bewilligen, für ein paar Tage nur, bis ich etwas Anderes gefunden.«

»Und Ihr Verfolger?« fragte Arthur.

»Ganz richtig! – warten Sie nur. – Als ich, beim Hause des Buchbinders angekommen, mich plötzlich umwandte, bemerkte ich ihn am Ende der Straße, die er, anscheinend ohne sich weiter um mich zu bekümmern, überschritt.«

»Aber ich begreife immer noch nicht,« sagte der Maler, »daß Sie nicht noch in derselben Nacht auf den gesunden Einfall gekommen sind, mich aufzusuchen. Sie wissen, ich habe Sie immer sehr gern gehabt und mich für Sie interessirt, obgleich Sie meine angebotene Hilfe jedesmal hartnäckig zurückwiesen.«

»Ich hatte Unrecht,« entgegnete Herr Beil gerührt. »Aber wissen Sie, lieber Herr Erichsen, wir armen Teufel werden euch reichen Leuten gegenüber gar leicht mißtrauisch. Wenn ihr uns auch mit dem besten Herzen eure Hilfe anbietet, so zucken wir doch schmerzlich zusammen; – es ist ein Almosen, denn wir sind ja nicht im Stande, euch dafür etwas wiederzugeben. – Aber – beim Blaffer! – ich hatte Unrecht!«

»Ein seltsamer Schwur,« sagte Arthur lachend.

[139] »Ich habe mir ihn angewöhnt« denn man muß selbst dem Teufel kein Unrecht thun.

»Aber weiter in Ihrer Geschichte!« sprach Arthur. »Sie sind ja jetzt doch noch unter meine Hände gerathen. – Du wolltest fliehen, treuloser Römer! – du bist gezwungen, du bleibst bei mir. – Das Schicksal hat Sie mir zugeführt.«

»Ja, das Schicksal,« fuhr der Andere seufzend fort. »Aber ich lobe das Schicksal darum, denn ich fühle mich bei Ihnen hier so behaglich, Herr Erichsen, wie seit langen Jahren nicht. Auch ist mein armes dummes Herz ruhiger geworden; der Schmerz in demselben summt nur noch leise, wenn ich an jene Nacht und an das Mädchen denke. – Doch weiter! – Beim Buchbinder aber war es fürchterlich, und obgleich er mich mit der größten Bereitwilligkeit aufgenommen, konnte ich es doch nicht lange dort aushalten. Ich half ihm, so gut ich es vermochte; war mir doch sein Geschäft nicht unbekannt: es geht ja Hand in Hand mit dem unsrigen, und wenn ich bei Johann Christian Blaffer und Compagnie die ganzen Bücher verpackte und wegschickte, so faltete ich jetzt jeden einzelnen Bogen und half brochiren, was mir übrigens nicht schwer wurde. – Nun habe ich Ihnen aber schon vorher gesagt, daß ich sogleich an Sie gedacht, und während ein paar Abenden den Versuch machte, Sie an Ihrer Hausthüre abzufangen; leider ohne Erfolg: ich hatte ja nicht den Muth, mich Ihnen anzuvertrauen. Aber wenn ich so durch die Straßen schlich, und wenn ich oftmals unter der Gaslaterne da unten stand, so brauchte ich mich nur spähend umzuschauen, und ich bemerkte gewiß irgendwo jenen Mann, der mir damals gefolgt.«

»Und Sie irrten sich nicht?«

»Ich irrte mich gewiß nicht.«

»Wenn das der Fall ist,« meinte der Maler, »so haben Sie am Ende wohl gar Jemandens Interesse erregt, der sich Ihrer annehmen will, und der mit mächtiger Hand über Sie wacht. Geben [140] Sie Achtung, hier wendet sich Ihr Schicksal, und Sie sind vielleicht noch zu großen Dingen ausersehen.«

»Es hat sich heute Abend schon so gut gewendet,« versetzte Herr Beil; »denn kann es mir besser gehen als im jetzigen Augenblicke, wo Sie mit Ihrer liebenswürdigen Gastlichkeit mir Ihr Haus geöffnet, mich an Ihren Herd aufgenommen, mich gespeist und getränkt, auch Schlafrock und Pantoffeln gegeben! – Ah! der Contrast ist etwas stark,« fuhr er kopfschüttelnd fort. – »Sie hätten das Leben bei meinem armen Buchbinder kennen sollen; wie diese Leute sich durchschlagen müssen, davon haben Sie, davon hatte ich bis jetzt kaum eine Idee. – Zur Wohnung eine einzige Stube und eine finstere und feuchte Kammer, an Betten ein Ding von morschen Brettern, was die entfernteste Aehnlichkeit mit einem solchen hatte, und darin ein Strohsack und eine alte mürbe Wollmatratze, die an allen vier Seiten zu kurz war. Darin lagen die Eltern und zwei Kinder, vier andere behalfen sich in einer Ecke auf einem zerrissenen Stück Teppich –«

»Und Sie?« fragte Arthur.

»Ich legte mich zum ersten Mal in meinem Leben fest auf die Literatur, indem ich mir in der Werkstatt ein Lager von Makulatur machte: übercomplette Bogen einer Gedichtssammlung rollte ich mir zum Kopfkissen zusammen, und zur Decke nahm ich meinen Rock, unter welchem ich mich wie ein Igel zusammenkauerte. – In gewisser Hinsicht war ich eine Hilfe für die Familie, denn ich fand in meiner Westentasche noch einen Thalerschein, von dem wir die zwei Tage lang herrlich und in Freuden lebten. Vermittelst desselben konnte der Buchbinder ein Säckchen Kartoffeln erschwingen und sich die sechs Kinder wieder ein paarmal recht satt essen. Sie haben noch ziemlich viel davon,« setzte er gutmüthig lächelnd hinzu, »denn ich hätte mir ein Gewissen daraus gemacht, ihnen den ganzen Vorrath mit aufzehren zu helfen.«

[141] »Die Leute müssen Sie nächstens wieder besuchen, bester Herr Beil,« sagte Arthur, »und ihnen eine kleine Hilfe bringen.«

Der Andere nickte schweigend mit dem Kopfe, stützte diesen darauf in die rechte Hand und blickte lange und nachdenkend in das Kaminfeuer.

Die Standuhr zeigte auf Eins.

»Aber es ist schon spät geworden!« rief Arthur, indem er aufstand. »Jetzt wollen wir Ihnen ein Lager besorgen und morgen Früh sehen, was weiter zu thun ist.«

»Haben Sie kein Makulatur?« fragte mit komischem Ernste der ehemalige Commis.

»Nein,« erwiderte Arthur lachend; »aber wenn Sie es einmal mit der Malerei versuchen wollen, so können Sie es sich bei jenen Nymphen bequem machen.«

»Gott soll mich bewahren!« versetzte Herr Beil. »Das wäre mir eine gefährliche Nachbarschaft. Da unterwerfe ich mich lieber getrost Ihren sonstigen Anordnungen.«

Und daran that er sehr recht, denn der Maler hatte in kurzer Zeit auf seinem Sopha im Wohnzimmer ein vollkommen üppiges Lager hergerichtet, worauf er seinem Schützling eine gute Nacht wünschte und sich in sein Schlafzimmer zurückzog.

Herr Beil schlief den Schlaf des Gerechten, und obgleich ihm allerlei Seltsames träumte von dem finster dahin fließenden Kanal mit der bekannten Melodie, von den Augen jener Gestalt, die ihn so seltsam anstarrten, auch vom Buchbinder und dem Makulatur, so erwachte er doch erst am andern Morgen, als der Tag bereits das Zimmer erhellte. Er blickte verwundert um sich und schien im ersten Augenblicke nicht recht zu wissen, wo er sich befinde; er lag gegenüber dem Kamin, in welchem schon wieder die freundlichen Flammen spielten; es war, als seien diese heute Nacht gar nicht erloschen. Vor demselben befand sich eine ältliche Dienerin des kommerzienräthlichen Hauses, welche beschäftigt war, auf einem [142] kleinen Tisch allerlei Service von sehr freundlichem Aeußern aufzustellen, dazu auch Teller mit weißem Brod und Butter. Während sie aber dies Geschäft versah, blickte sie häufig nach dem Schläfer auf dem Sopha um, und schien jedesmal zu erschrecken, wenn sie dort zwischen den weißen Leintüchern die Unmasse von schwarzen Kopf- und Barthaaren erblickte. Diese in ihrem verwilderten Zustande hatten auch durchaus nichts Angenehmes für das Auge, und man hätte glauben können, es habe sich dort irgend ein Ungeheuer, ein Alp oder sonst dergleichen eingenistet. Aus Diskretion hatte Herr Beil die Decke bis unter das Kinn hinaufgezogen, wodurch sein Aussehen noch eigenthümlicher und komischer wurde.

Auch Arthur mußte laut auflachen, als er nun aus seinem Zimmer trat und den sonderbaren Kopf seines Schützlings sah. – »Bleiben Sie ruhig so liegen,« rief er ihm zu, »das muß ich zeichnen!«

Die alte Dienerin gab ihrem Herrn einen Wink, führte ihn behutsam in eine Ecke des Zimmers, richtete dann die Augen auffallend gegen den im Bette Liegenden und fragte mit schüchterner Stimme: »Was ist denn das, Herr Arthur?«

»Das ist ein Gespenst,« entgegnete dieser, »ich habe es heute Nacht auf der Straße gefunden und mitgenommen. – Wissen Sie wohl, Sophie,« setzte er mit Betonung hinzu, »das bleibt aber ganz unter uns; es braucht's Niemand im Hause zu erfahren; Mama, wie Sie wohl wissen, kann die Gespenster nicht leiden. Wenn Sie aber jetzt hinunter gehen, so seien Sie so gut und schicken nach dem Barbier und dem Friseur; sie sollen zu mir kommen.«

Die Dienerin verließ das Zimmer, nicht ohne noch einen besorgten Blick nach dem Sopha geworfen zu haben.

Worauf Herr Beil sein Lager verließ und sich alsdann schleunigst [143] in das Schlafzimmer von Arthur zurück zog, wo er seine Toilette machte.

Als die Beiden später das Frühstück verzehrt hatten, dem natürlicherweise die unentbehrliche Cigarre folgte, sagte der Maler: »Ich konnte gestern Abend nicht gut einschlafen; ein angenehmes Ereigniß, was mich betroffen, und Ihre Geschichte hielten mich wach. Ich dachte viel an Sie und überlegte, was jetzt wohl zu beginnen sei. – Wenn ich von jetzt spreche, so versteht sich von selbst, daß ich jene Zeit meine, wo Sie sich von Ihren Strapatzen wieder vollkommen erholt haben, überhaupt wenn es Ihnen gefällt, an die Zukunft zu denken. Im Augenblick sind Sie bei mir hier vortrefflich aufgehoben.«

»Gewiß, auch ich dachte daran,« entgegnete Herr Beil; »doch habe ich dort am Kanal einen ganz andern Menschen angezogen; mir graust vor dem Buchhandel.«

»Das begreife ich,« erwiderte Arthur. »Aber Sie führen eine gute Feder, wie ich mich erinnere, Sie sind in Ihren Arbeiten pünktlich und umsichtlich; das erkannte ja sogar Herr Blaffer, und umsomehr muß es wahr sein. Ich habe nun die Idee, gelegentlich mit Papa und meinem Schwager zu sprechen, vielleicht wäre es möglich, daß man Ihnen eine Stelle in unserem Hause geben könnte. – Ich habe Sie ja,« setzte er lachend hinzu, »nun einmal an Kindesstatt angenommen, und auf diese Art behalte ich Sie ganz unter meinen Augen.«

»Und würden mich unendlich glücklich machen,« sagte Herr Beil gerührt. »Ich sehe, daß Sie sich meiner ernstlich annehmen wollen, daß Sie es gut mit mir meinen, und das ist für Jemand, der wie ich so lange in der Welt herumgestoßen wurde, der bisher Jedem eine Last war, ein wahrhaft süßes Gefühl.« – Er kämpfte bei diesen Worten gewaltsam seine Bewegung nieder und setzte dann mit heiterem Tone hinzu: »Ich sehe mich im Geiste schon als angehender [144] Bankier oder als junger Kassier, wie ich den Leuten Zahlungen mache und Wechsel diskontire.«

»Denken Sie nur an das köstliche Gesicht des Herrn Blaffer, wenn er zu uns kommt, – was ja häufig geschieht, – und Sie ihm plötzlich entgegen treten. – Vorderhand aber denken wir noch nicht daran,« fuhr Arthur nach einer Pause fort; »wir lassen erst seit Ihrem Verschwinden aus dem Hause des Herrn Blaffer einige Zeit vergehen, damit Sie dort etwas in Vergessenheit kommen. Zuerst müssen wir daran gehen, – Sie werden meine Worte nicht übel deuten? – Ihren äußeren Menschen zu restauriren, und gleich heute Morgen, und zwar mit dem Kopfe anfangen. Ich kenne freilich Ihre Leidenschaft für Ihr starkes Haupt- und Barthaar, aber da muß ich Ihnen wahrhaftig etwas wegsprechen.«

Herr Beil fuhr bei diesen Worten mit einem komischen Schrecken durch seine schwarzen Haare, worauf er aber lachend sagte: »Seien Sie unbesorgt, ich gebe diesen Lieblingen gern den Abschied! Ich sprach Ihnen ja vorhin schon von einem andern Menschen, den ich angezogen, und zu ihm passen diese Zeichen einer früheren Zeit nicht mehr. Auch kann ich nie mehr die fatale Feuchtigkeit vergessen, die sich am Kanale hier hinein gesetzt, sowie die schauerlichen Eiszapfen, die an meinem Barte hingen, als ich Morgens in dem Winkel kauerte. – Ah! das sind schreckliche Erinnerungen! – Machen Sie deßhalb mit mir, was Sie wollen.«

»Ich werde es künstlerisch behandeln,« erwiderte der Maler, »und werde der Sitzung des Barbiers und des Friseurs mit voller Theilnahme anwohnen. – Schon höre ich draußen anklopfen; es wird einer der Herren sein, die ich für Sie bestellt.«

Und so war es auch; zuerst kam der Barbier und dann der Friseur. Herr Beil wurde nach den Anordnungen Arthurs von Beiden bedient, wobei sich die Scheere des Haarkünstlers mit einem wahren Appetit in dem dichten Lockenwald seines Opfers zu verbeißen schien. Man hatte gewiß dies Instrument lange Zeit nicht [145] so vergnügt klappern hören; rechts und links fielen die dichten schwarzen Büsche, und als das Werk vollendet war, machte es dem Künstler alle Ehre, und die Versicherung desselben, aus dem Kopfe sei etwas zu machen, stellte sich als völlige Wahrheit heraus.

Nun war das Haar gekürzt, frisirt, der Kinnbart glatt weggeschoren, der Schnurrbart gestutzt, und als sich Herr Beil hierauf im Spiegel erblickte, nickte er wohlgefällig mit dem Kopfe und versicherte, er sei vollkommen mit sich zufrieden. Er sah auch in dem schönen Schlafrock, wie er nun dasaß in dem kleinen Fauteuil, mehr als anständig, ja fast elegant aus.

Arthur hatte sich an seine Staffelei gesetzt und einen großen Rahmen mit weißer Leinwand vor sich aufgestellt. »Es ist heute ein Festtag,« sagte er, »und an solchen mache ich mir das Vergnügen, irgend ein Bild zu ebauchiren, lieber zwei, drei hinter einander, denn es ist eine wahre Wonne für mich, wenn ich meiner Phantasie die Zügel schießen lassen, und einen Entwurf um den andern auf die Leinwand hinwerfen kann. Heute aber bleibt es bei diesem einzigen, und ich will sehen, ob meine Erinnerung frisch und gut ist.«

»Gibt es ein Porträt?« fragte Herr Beil.

»Ja und nein,« entgegnete Arthur, indem er anfing mit schwarzer Kreide einen Frauenkopf zu skizziren; »es soll eine ideale Gestalt werden, doch für mich mit bekannten Zügen. – Aber wie es mir immer geht,« fuhr er nach einer Pause fort, während welcher er einige Striche gemacht hatte, »so werde ich immer im besten Arbeiten gestört. Wenn ich mich nicht irre, so rollt eben ein Wagen durch die enge Gasse neben dem Hause, und das wird wahrscheinlich mir gelten, denn hier herum ist eigentlich kein Weg für Equipagen. – Thun Sie mir den Gefallen, lieber Freund, treten Sie einen Augenblick an's Fenster und sehen Sie, ob wirklich ein Wagen da heraus kommt und wo er hingeht.«

53. Kapitel
[146] Dreiundfünfzigstes Kapitel.
Im Atelier.

Herr Beil sprang eilfertig an's Fenster, sah eine Weile durch die Scheiben, dann sagte er: »Es ist ein kleiner geschlossener Wagen; jetzt biegt er um die Ecke und will wahrscheinlich zu Ihnen. – Richtig; er fährt bei der Thüre vor.«

Wirklich hörte man ihn in diesem Augenblick an der Thüre halten.

»Ich will aber jetzt nicht gestört sein!« rief der Maler unmuthig. »Thun Sie mir den Gefallen, springen Sie in's Vorzimmer und schließen Sie die Thüre zu. Sie sollen mich in Frieden lassen.«

»Es sind zwei Herren,« rief Herr Beil hastig. Und dann sprang er davon, um den Wunsch seines Freundes zu erfüllen.

Doch kam er zu spät, denn die Beiden waren schon auf der Treppe und hätten das Umdrehen des Schlüssels hören müssen, weßhalb Herr Beil dies unterließ, indem er es für unschicklich hielt, Jemand die Thüre dicht vor der Nase zuzusperren. Er machte das dem Maler durch ein Zeichen mit der Hand begreiflich, der achselzuckend fortfuhr, auf die Leinwand zu zeichnen.

Die beiden Herren auf der Treppe waren in eifriger Unterhaltung begriffen; wenigstens sprach der Eine, ein kleiner und magerer Mann, sehr laut und lebhaft, während der Andere sich begnügte, zuweilen mit dem Kopfe zu nicken oder: ja! ja! zu sagen.

Der kleine Mann sprang lebhaft die Treppen hinauf, wandte sich aber fast auf jeder Stufe um, um sein Gespräch dem Andern in's Gesicht hinein mit mehr Erfolg fortsetzen zu können. – »Bester Baron!« rief er, »Sie mögen sagen, was Sie wollen, – und ich [147] weiß wohl, Sie nehmen Partei für die königlichen Stallmeister, aber das ist gleichviel, ich will meine Behauptung der ganzen Welt gegenüber durchführen; ich habe hier wahrhaftig nicht die Zeit, viele Stunden auf die Dressur meiner Reitpferde zu verwenden, während Jene den ganzen Tag im Sattel sitzen; aber das versichere ich Sie, und Sie können die kompetentesten Richter aufstellen, ich behaupte: es ist im ganzen Marstall nicht ein einziges Pferd so sein geritten, so sorgfältig dressirt, und dadurch – beachten Sie das wohl – nur dadurch von so angenehmen und gefälligen Bewegungen.«

Bei diesen letzten Worten war er oben auf der Treppe angekommen und schlug mit dem Knopfe seines Stockes taktmäßig in die rechte Handfläche, während er seine Stimme erhoben hatte und jede Silbe scharf betonte, sowie mit dem Ausdruck der größten Ueberzeugung sprach.

»Nicht ein einziges Pferd im ganzen Marstall. – Natürlicherweise nehme ich die aus, welche vor einigen Tagen zum Geschenk für die Frau Herzogin angekommen sind. Die kommen von uns, und da, bester Baron, versteht man zu reiten.«

»Hier sind wir am Ziel unserer Fahrt,« erwiderte der andere Herr, der die Rede des kleinen Mannes zu unterbrechen versuchte. »Herr Erichsen ist zu Hause?« fragte er den Herrn Beil, welcher die Thüre geöffnet hielt.

Der kleine Mann trat lebhaft in das Gemach, schaute Herrn Beil einen Augenblick forschend in's Gesicht, schien einen Moment nachzudenken, und sagte dann: »Wenn ich nicht ganz irre, so sahen wir uns neulich Abends bei meinem Freund, dem Grafen Fohrbach; Sie ersuchten mich, Ihr Atelier zu besuchen. Nun sehen Sie, ich bin da; ich habe eine Stunde für Sie gefunden und versichere Sie, bei meinen vielen zahlreichen Geschäften will das viel heißen. Aber der Baron Brand sagte mir, ich werde nicht umsonst kommen und einiges recht Gutes sehen.«

Herr Beil hatte diesen Redestrom geduldig über sich ergehen [148] lassen, es wäre aber auch vergebliche Mühe gewesen, den kleinen Mann zu unterbrechen, denn nach seiner Gewohnheit sprach er nur Worte, ohne sich viel darum zu bekümmern, ob sie Jemand anhöre. Auch blickte er dabei bald hierhin, bald dorthin, und im Zimmer umher, am allerwenigsten aber sah er auf die Person, zu der er eben redete. Er schien überhaupt einen festen menschlichen Blick nicht gut ertragen zu können.

Der andere Herr ließ ihn ebenfalls gewähren, und erst, als er geendigt hatte und nach Luft schnappte, sagte Jener: »Sie irren sich, bester Herr von Dankwart, dies ist nicht Herr Erichsen, – wahrscheinlich einer der Freunde desselben,« setzte er mit einem verbindlichen Lächeln hinzu, indem er sich verbeugte.

Herr Beil verbeugte sich ebenfalls und bat die beiden Herren, sich in das dritte Zimmer zu bemühen, wo der Maler immer noch vor seiner Staffelei saß.

Während Herr von Dankwart durch die Zimmer schwebte – man muß diese Bewegung schweben nennen, denn er tänzelte mit seinen kleinen Beinen nur so dahin, blickte dabei bald rechts, bald links, ging nie gerade aus, und zu gleicher Zeit machte sein für den zarten Körper etwas zu schwerer Kopf allerlei selbstständige Bewegungen – blieb er jetzt hier, jetzt dort vor einem Bild, irgend einem seltsamen Möbel, einer Waffe oder sonst etwas stehen, wobei er in Einem fort fragte, ohne aber, gleich vielen der Größen dieser Erde, eine Antwort abzuwarten, denn wenn er jetzt von einer Landschaft behauptete, sie sei etwas dunkel im Kolorit, oder der Rahmen zu breit und zu schwer für die Leinwand, und alsdann fragte: »Ist sie hier gemalt? – von wem ist sie? – ein Original oder eine Kopie?« so sprang er gleich darauf zu irgend einem interessanten Dolche über, um sich zu erkundigen, ob er ächt montirt oder ob die Klinge in Wahrheit ein Damascener oder vielleicht aus Khorassan sei.

Trotz allem dem hätte er sich wahrscheinlich nicht weiter in den [149] beiden vorderen Zimmern aufgehalten, um diese für ihn so nothwendigen Bemerkungen zu machen, wenn er nicht von ungefähr in die Nähe des Fensters gerathen wäre, von wo aus er einen Blick auf die unten stehenden Pferde und Wagen werfen konnte. Diese fesselten seine ganze Aufmerksamkeit, und er schien das Zimmer, wo er sich befand, den Künstler, dessen Werke er anschauen wollte, kurz alles Andere auf der ganzen weiten Welt für den Augenblick rein vergessen zu haben.

»Ein magnifikes Ensemble!« rief er dem Baron zu, der soeben mit Arthur einen freundlichen Händedruck gewechselt. »In der That vollendet! Bitte Sie, sehen Sie doch, wie außerordentlich schön die beiden Pferde stehen; dazu die einfachen Geschirre, schön in ihrer Anspruchslosigkeit. Ah! ich muß mir für diese Zusammenstellung selbst ein Kompliment machen. – Und Joseph auf dem Bocke hat das wahre Air eines Kutschers aus gutem Hause – aus sehr gutem Hause. – Baron, ich begreife in der That nicht, wie man es bei Hofe verantworten mag, daß die Kutscher beim Stillstehen die Peitschen nach links hinüber geneigt halten. Ich kann mir nun einmal nicht helfen; das gibt der ganzen Tournure eine Schattirung von Nachläßigkeit. – Bei uns wagt das kein Kutscher. Sehen Sie Joseph an; Joseph hat die Peitsche, wie es sich gehört, auf dem rechten Schenkel aufgestützt. – Nur so hält der Kutscher eines vornehmen Hauses. – Aber Sie müssen das betrachten, Baron.«

»O, ich habe es schon oft gesehen,« entgegnete dieser lächelnd. – »Aber bester Herr von Dankwart, wollen Sie nicht erlauben, daß ich Sie an den Zweck unseres Besuches erinnere und Sie mit Herrn Erichsen bekannt mache?«

»Gleich! gleich!« erwiderte der kleine Mann, indem er sich mit beiden Händen auf die Fensterbrüstung stützte und sich auf den Zehen erhob, denn die kurzen Beinchen erlaubten ihm sonst nicht, auf die Straße zu sehen. – »Gleich, bester Baron, ich verfolge [150] soeben eine außerordentlich schöne Idee: wenn ich mir so die elegante Figur des Handpferdes da unten betrachte, so kommt mir immer wieder der Gedanke, es sei doch eigentlich schade, daß man ein solches Pferd einspannt. – Glauben Sie mir, bester Baron, es würde unter dem Sattel Furore machen.« – Damit warf er noch einen letzten, halb schmerzlichen Blick auf die Straße hinab, worauf er sich nun endlich umwandte und in das Nebenzimmer zu den Anderen eilte.

An der Thür desselben geschah es ihm nun abermals, daß er in seiner Zerstreutheit den Herrn Beil für Arthur nahm, denn er klopfte dem Ersteren, der sich bescheiden am Eingange hielt, sanft auf die Schultern, während er mit einer Protektionsmiene sagte: »Da sind wir, in der That, da sind wir. Freue mich sehr, Ihre Sachen zu sehen. Man ist Allerhöchsten Orts auf Sie aufmerksam geworden; die Frau Herzogin lobt über alle Maßen ihre wunderbare Ansicht von Carrara.«

Herr Beil verbeugte sich verlegen, denn er wußte nicht, ob es an ihm sei, jetzt selbst eine Aufklärung über seine Person zu wagen, nachdem dies vorhin der Baron so erfolglos gethan.

Dieser lächelte sanft in sein Schnupftuch und Arthur zuckte die Achseln.

Herr von Dankwart hatte es sich unterdessen in einem Fauteuil bequem gemacht und blickte an den Wänden umher, wo einige Skizzen und Studien hingen. – »In der That,« sprach er nach einer kleinen Pause, »diese Ansicht von Carrara hat einiges Aufsehen gemacht; ich gratulire Ihnen. Die Frau Herzogin geruhten, das Gemälde schön zu nennen; ich glaube versprechen zu können, daß wenn Sie so fortfahren, Sie nächstens von uns einige Bestellungen erhalten werden.«

»Aber Sie irren sich, Herr von Dankwart,« sagte Arthur sehr ruhig und ohne daß er aufhörte, zu zeichnen, »die Ansicht von Carrara ist nicht von mir; ich male überhaupt keine Landschaften.«

[151] »Allerdings nicht von Ihnen,« entgegnete einigermaßen pikirt der kleine Mann, »aber sie ist von Herrn Erichsen dort. Freilich nicht von Ihnen.«

Bei diesen Worten deutete er mit einer leichten Biegung des Kopfes auf Herrn Beil.

»Bester Herr von Dankwart,« lachte nun der Baron laut hinaus, »Sie sind heute unsäglich zerstreut. Dort jener Herr an der Staffelei ist der Künstler, den wir besuchen wollten, Herr Erichsen. Er malt aber keine Landschaften, wie Sie sich erinnern wollen; die Ansicht von Carrara ist von Herrn Becker.«

Der kleine Mann schaute einen Augenblick befremdet um sich, dann legte er die Hand an die Stirne, schloß für ein paar Sekunden die Augen und sagte hierauf: »Ja sehen Sie, meine Herren, wie man mit den Gedanken abwesend sein kann! Das passirt mir leider sehr häufig. – Ich habe zu viel in meinem Kopfe,« setzte er seufzend hinzu; »es geht nicht auf die Länge der Zeit. Aber entschuldigen Sie mich, Herr Erichsen; es ist mir wirklich recht angenehm, Ihre Bekanntschaft zu erneuern – zu erneuern, denn wie Sie wissen, sahen wir uns bei meinem Freund, dem Grafen Fohrbach.« – Dabei neigte er sein Haupt sanft gegen den Künstler und machte mit der rechten Hand eine Bewegung, die einen freundlichen Gruß ausdrücken sollte.

Der Baron hatte sich unterdessen ebenfalls in einem Stuhl niedergelassen, und Arthur reichte ihm eine Cigarre. Auch bot er Herrn von Dankwart eine an, der sie aber refusirte, eine eigene hervorzog und anzündete.

»Mit Cigarren,« sagte der kleine Mann, »bin ich difficil; ich halte mir ein großes Lager und rauche nur sechsjährige.«

»Womit ich leider nicht dienen kann,« entgegnete Arthur. »Wissen Sie, wir Künstler leben so von einem Tag in den anderen, kaufen uns heute die Cigarren, die wir morgen rauchen, und legen uns keinen Vorrath an.«

[152] »Aber Sie könnten das, Herr Erichsen,« versetzte Herr von Dankwart. »Sie sind ein reicher Mann, wie man mir sagt, der sich keinen schönen Genuß des Lebens zu versagen braucht.« Dabei zog er den Mund zusammen wie ein Karpfen und blies den Dampf der Cigarre horizontal von sich. – »Wir sind doch hier in Ihrem elterlichen Hause?« fuhr er darauf fort. »Kenne den Papa wohl; mache zuweilen mit ihm Geschäfte. – Apropos! hat er noch immer den kleinen Schimmel? Im vergangenen Herbst wurde er noch von dem Kommerzienrathe geritten. – Baron,« wandte er sich an diesen, »Sie kennen das Pferd nicht? – ein kapitales Thier, aber alt. Nicht wahr, es ist alt, Herr Erichsen.«

»Ja, es ist sehr alt,« erwiderte dieser. »Deßhalb wird es auch von Papa nicht mehr geritten; es steht drunten im Stalle und soll da in Nutze seine letzten Tage verleben.«

»Schön! schön!« rief der kleine Mann. »Aber jetzt müssen Sie mir erlauben, daß ich einmal in meiner Brieftasche nachsehe, – ich habe eine Notiz für Sie gemacht, eine Notiz von Wichtigkeit, kann mich aber nicht mehr darauf besinnen. – Sie verzeihen schon einen Augenblick!«

Arthur nickte höflich mit dem Kopfe und dann legte er die Kohle, mit der er gezeichnet, auf die Staffelei, wischte sich die Hände ab und wandte sich gegen den Baron von Brand, der ein kleines Bildchen ergriffen hatte, welches in der Ecke lehnte, und es aufmerksam betrachtete.

Herr von Dankwart hatte sein Taschenbuch heraus gezogen und blätterte langsam darin.

Unterdessen war Herr Beil in's Nebenzimmer gegangen.

»Sie hatten mir auch versprochen, mich zu besuchen,« sagte der Baron zu Arthur. »Erinnern Sie sich, als wir neulich zusammen nach Hause fuhren.«

»Und das habe ich nicht vergessen,« antwortete der Maler. [153] »Wir Künstler sind aber ein eigenes Volk: oft haben wir Tage und Wochen lang nichts zu thun und schlendern umher, und dann verschließen wir uns wieder für längere Zeit in unser Atelier und kommen zu gar nichts.«

»Und in diesem Stadium befinden Sie sich gerade?«

»Beinahe,« entgegnete Arthur lächelnd. »Doch bin ich im jetzigen Augenblick weniger vor der Staffelei als sonstwo beschäftigt.«

»Ah! ich habe gehört. Man bereitet in Ihrem Hause ein hübsches Fest vor, ich glaube, Sie wollen lebende Bilder arrangiren. Das ist eine ganz köstliche Idee! Ich liebe dergleichen unendlich, das heißt, sehe gerne zu; denn sollten Sie es wohl glauben, mein lieber Herr Arthur, ich bin nicht im Stande, in irgend einem Bilde mitzustehen. Meine Nerven sind zu schwach dazu. – Sie schütteln ungläubig den Kopf, aber dem ist in Wahrheit so; ich habe es mehrere Male versucht, doch so bald der Vorhang auseinander geht und ich die Lichter sehe, da fängt Alles an, mir vor den Augen herum zu tanzen. – Sehen Sie, jetzt schon, wenn ich nur daran denke, wird es mir heiß und eng.«

Bei diesen Worten zog er sein duftendes Taschentuch hervor und fächelte sich kokett die Stirne damit.

Herr von Dankwart ließ die Hand mit dem Taschenbuche herabsinken und meinte: »Sie sprachen da eben von lebenden Bildern? – Man weiß das hier nicht zu arrangiren; Sie sollten das an unserem Hofe sehen! Ah! das macht einen wunderbaren Effekt. Ich versichere Sie, wenn man dort die Auswahl der Bilder betrachtet, die sorgfältig ausgesuchten Darsteller, die trefflich gewählten Kostüme, das unnachahmliche Arrangement des Lichtes, – das ist superb! Man glaubt in der That vor einem wirklichen Bilde zu sitzen.« – Hiemit erhob er sein Taschenbuch wieder und suchte abermals emsig darin, ohne sich weiter darum zu bekümmern, ob einer der Anwesenden seine Meinung bekämpfen werde oder nicht.

[154] Dies that übrigens auch Niemand; der Baron wischte mit dem feinen Battisttuche ruhig seinen Schnurrbart, worauf er die Cigarre wieder zwischen seine Lippen nahm. Arthur betrachtete die Leinwand auf der Staffelei und schien sich zu freuen, daß die Züge, die dort hervortraten, wenigstens für ihn schon kennbar waren.

»Wer ist der junge Mensch, der eben hier im Zimmer war?« fragte nachlässig Herr von Brand. »Ich sah ihn bisher noch nie in Ihrer Gesellschaft.«

Arthur, so plötzlich gefragt, wußte nicht gleich, was er antworten sollte. Er half sich aber, indem er, um Zeit zu gewinnen, entgegnete: »Sie meinen den, welcher eben in's Nebenzimmer gegangen ist? – im rothen Schlafrock?«

»Richtig, den im sehr langen rothen Schlafrock,« gab der Baron lächelnd zur Antwort. »Ein merkwürdig gescheidtes Gesicht, kluge Augen.« – Dabei schlug er sanft mit der rechten Hand auf die Lehne des Sessels, in welchem er saß. – »Ein Gesicht, welches Zutrauen erweckt,« fuhr er alsdann fort; »schade, daß dieser Kopf auf einem so unscheinbaren Körper steht.«

»Es ist allerdings schade,« erwiderte Arthur, »daß das Aeußere meines Freundes nicht sehr empfehlend; sein Inneres dagegen ist vortrefflich; Herr Beil ist ein Mensch voll Herz und Gemüth, dem ich mein ganzes unbedingtes Vertrauen schenken würde.«

»So, er heißt Beil?« antwortete der Baron. »Ja, ja, das Gesicht hat einen guten Ausdruck. – Was ist er eigentlich?«

»Er ist – er sucht,« sagte Arthur zögernd, »er wünscht – eine Stelle zu erhalten, ist augenblicklich außer Dienst.«

»Also Herr Beil ist Geschäftsmann?«

»Ein sehr solider und pünktlicher Mensch in allen seinen Arbeiten.«

»Führt er eine gewandte Feder? – Spricht er fremde Sprachen?« fragte der Andere.

»Ich glaube, daß ich hierauf mit Ja antworten kann, und [155] was namentlich das Letztere anbelangt, so weiß ich, daß er geläufig französisch spricht und englisch versteht.«

»Das wäre nicht so übel,« meinte Herr von Brand, indem er einen Augenblick nachdachte. »Würden Sie ihn empfehlen? – das heißt, für seine Rechtlichkeit und gute Aufführung garantiren?«

»Gewiß,« entgegnete Arthur und schaute den Andern einigermaßen erstaunt an. »Hätten Sie vielleicht eine Verwendung für ihn?«

»Ja,« versetzte Herr von Brand; »Sie wissen, bester Herr Arthur, ich arbeite nicht gern; es ist ein großer Fehler, ich weiß das wohl, aber man kann sich nicht anders machen, als wie man ist. Nun aber leiden darunter meine Papiere, meine Korrespondenzen. Fände ich nun Jemand, auf den ich mich bei diesen Geschäften verlassen könnte, so wäre ich sehr froh darüber.«

»Das trifft sich prächtig!« rief der Maler, der entzückt war, eine so glänzende Unterkunft für seinen Freund zu finden. »Ich garantire für ihn nach allen Richtungen, und obendrein thun Sie wirklich ein gutes Werk, wenn Sie sich seiner annehmen; er steht allein in der Welt.«

»Das wäre mir um so lieber,« entgegnete der Andere, »denn ich gestehe offenherzig, ich mag es gern leiden, wenn meine vertrauten Diener keinen großen Anhang haben, namentlich nicht in der Stadt, wo ich bin. – Sie wissen,« setzte er lächelnd hinzu, »wir jungen Leute treiben so allerlei; man empfängt bald dies, bald das Billet, man muß bald da, bald dorthin schicken, namentlich bei einem sehr bewegten Leben, wie ich es führe, und da ist denn die vollkommenste Diskretion eine Eigenschaft, die ich an meinen Dienern besonders schätze, und wenn ich sie einmal gefunden, immense bezahle.«

»Was das anbelangt,« versetzte Arthur, »so glaube ich, daß ich darin für meinen Freund einstehen kann wie für mich selbst. Es ist das eine kernige, ruhige Natur, voll Anhänglichkeit gegen Jemand, der ihr Gutes erzeigt, schweigsam, wo er nicht sprechen [156] soll, und voll Humor, wenn er sieht, daß man wünscht, unterhalten zu sein.«

»Bei all' den guten Eigenschaften,« erwiderte Herr von Brand, »und bei einer so vortrefflichen Garantie, wie Sie, bester Herr Arthur, für mich sind, zaudere ich nicht länger, den jungen Mann in meine Dienste zu nehmen. Ich werde ihn sehr anständig stellen; er sei mein Geschäftsmann, nach Befund mein Vertrauter, und ich hoffe, wir werden mit einander zufrieden sein. – Abgemacht! Sagen Sie ihm, er soll sich von heute in drei Tagen Abends um sieben Uhr bei mir einfinden, und sprechen wir jetzt nicht weiter darüber; ich hasse alle Nervenaufregungen, wozu ich namentlich rechne, wenn mir Jemand danken will.«

»Aber ich darf Ihnen doch so ganz im Stillen danken,« flüsterte Arthur, indem er seine Hand ergriff.

»Nun meinetwegen denn,« sagte gleichgiltig der Baron, indem er affektirt und matt seine Rechte erhob, die der junge Mann herzlich drückte. – »Jetzt aber hätten Sie lange genug gesucht, bester Herr von Dankwart,« fuhr er nach einer Pause laut gähnend fort und wandte seinen Kopf auf die Seite, um den also Angeredeten beschauen zu können. »Die Zeit vergeht, und die halbe Stunde, die ich für Sie übrig hatte, muß längst verflossen sein. – Sehen wir.« – Er zog seine Uhr heraus, betrachtete das Zifferblatt und rief dann mit großer Wichtigkeit: »Schon elf Uhr! – Coeur de rose! Herr von Dankwart, Sie bringen mich um meine beste Zeit. – Haben Sie denn noch nicht Ihre Notiz gefunden?«

»Schon längst,« entgegnete wichtig der kleine Mann; »aber während ich darnach sah, fand ich hier eine andere Bemerkung, welche mir interessant schien und Sie betrifft, die ich aber während des Vortrags bei Allerhöchst der Frau Herzogin so flüchtig hingeworfen, daß ich aus den paar Worten den Sinn nicht mehr enträthseln kann.«

[157] »So lassen Sie die paar Worte hören,« sagte offenbar gelangweilt der Baron.

»Frage an den Baron von Brand,« las der kleine Mann und zog die Augenbrauen hoch empor. »Und dahinter steht: Polizei.«

»Wa–as?« rief lachend der Andere. »Fragen Sie mich was und so viel Sie wollen, aber bleiben Sie mir mit der Polizei vom Leibe.«

»Ich kann das auch nicht zusammen reimen: Sie, bester Baron, und die Polizei. Jetzt zerbreche ich mir seit einer Viertelstunde den Kopf und ich muß doch am Ende heraus bringen, was es heißen soll, denn daneben habe ich noch ein: F.d.n.N. – heißt: für den nächsten Rapport. – Der Baron Brand und die Polizei!« sagte er mehrmals leise vor sich hin, wobei er mit seinem Bleistift vor die Stirne schlug.

»Soll Sie der Teufel holen mit Ihrer Polizei!« rief der Andere. »Ich werde mich wahrhaftig bei der Frau Herzogin bedanken, daß sie mich damit in Zusammenhang bringt.«

»In der besten Absicht, lieber Baron, in der allerbesten Absicht. Ich war es sogar, der das Gespräch auf Sie lenkte; ich thue das gern für meine Freunde. – Warten Sie, – unterbrechen Sie mich nicht! – ich komme darauf. Ich sagte nämlich, es wäre schade, wenn Ihr Aufenthalt hier nur ein vorübergehender wäre; man sollte Sie zu fesseln suchen.«

»Coeur de rose! – Auf der Polizei? – Ich danke Ihnen.«

»Ja, richtig auf der Polizei, so ist's. – Ich hab's! ich hab's! – Gott sei gedankt! Die Frau Herzogin sagte nämlich, es sei ihr ein kleines Gerücht zu Ohren gekommen, von einer Liaison, welche der Baron Brand auf der Polizeidirektion angeknüpft. – Jetzt erinnere ich mich ganz genau; wie kann man so vergeßlich sein! – Fräulein Auguste ist eine liebenswürdige junge Dame. – Darf man gratuliren?«

»Ach, bleiben Sie mir mit so etwas vom Leibe!« rief fast [158] entrüstet Herr von Brand. »Das ist mein ewiges Unglück, ja das jedes Junggesellen, sowie er ein Haus betritt, wo heirathsfähige Mädchen sind. – Ist's nicht wahr, Herr Arthur? Ihnen wird's auch so gehen? – Und von Ihnen gar nicht zu reden, bester Herr von Dankwart! Denken Sie nur an sich selber; wie oft sagt man Ihnen eine Brautschaft nach!«

»Ja, ja, das ist wahr,« entgegnete dieser einigermaßen geschmeichelt. – »Also diese Sache ist wieder leeres Geklatsch?«

»Vollkommen grundlos. – Ich bitte, das der Frau Herzogin in meinem Namen zu sagen.«

»Werde nicht ermangeln,« antwortete Herr von Dankwart; »es hat Allerhöchstdieselben wirklich interessirt. – Werde nicht ermangeln.« – Damit schloß er sein Taschenbuch, ohne sich weiter zu erinnern, daß er eigentlich etwas Anderes habe suchen wollen, ja, er erhob sich aus seinem Fauteuil, nachdem er einen Blick auf die Standuhr über dem Kamin geworfen, schaute einen Augenblick mit recht nichtssagender Miene an den Wänden umher, wobei er jetzt mit dem Kopfe nickte, dann denselben auf die Seite neigte, die Augen halb schloß, wieder öffnete, und sich darauf vernehmen ließ: »Ganz gut! – ganz gut! – superb! – In der That fast vortrefflich! Werde Ihren Namen bestens behalten und der Frau Herzogin melden, daß Sie es verdienen, wenn man etwas für Ihr Renommée thut.« – Damit streckte er seine beiden Hände aus, als wollte er sie Jemand darreichen, besann sich aber glücklicherweise noch, daß es nur ein Künstler sei, der vor ihm stehe, weßhalb er die linke wieder sinken ließ, mit der rechten dagegen den Hut ergriff und darauf mit einer steifen Kopfverneigung durch die Zimmer zur Thüre hinaus tänzelte.

»Vergessen Sie mir den Herrn Beil nicht,« sagte lächelnd der Baron zu Arthur. Er hatte den seltsamen Blick wohl verstanden, mit dem der Künstler dem Allerhöchsten Geschäftsmann achselzuckend nachgeblickt. – »Durch solche Herren,« setzte er flüsternd hinzu, [159] »wird die Kunst oft bei den Großen der Erde protegirt und gepflegt.« – Damit drückte er dem Maler herzlich die Hand und folgte dem vorangegangenen Gefährten, der auf den ersten Stufen der Treppe schon wieder ein Pferdegespräch begann und dieses fortsetzte, bis er an seinem Coupé angekommen war, worauf er zum Wagenbau überging und hierüber manch' Schönes und Lehrreiches zum Besten gab.

Sobald der Baron von Brand die Thüre hinter sich zugezogen, kam Herr Beil aus dem Nebenzimmer hervor, sah seinen Freund mit einem launigen Blicke an, worauf Beide in ein lautes Gelächter ausbrachen.

»Eigentlich ist das nicht zum Lachen,« sagte Arthur nach einer kleinen Pause, indem er abermals seine Kohle ergriff; »das kommt her, bringt uns um die besten Morgenstunden, sieht unsere Sachen gar nicht an, und geht dann später in seine vornehmen Cirkel, um über uns und unsere Leistungen ein Urtheil zu fällen. – Hole sie Alle mit einander der Teufel! – Es ist doch weiß Gott traurig, daß wir Künstler nicht einmal unsere Freiheit haben, daß wir mehr oder minder von ihnen abhängen – ihre Sklaven sind. – – Doch warum fährt der Wagen drunten nicht weg,« fuhr er fort, nachdem er einige Striche auf der Leinwand gethan. – »Höre ich nicht meinen Namen rufen! – Die doppelten Fenster dämpfen allen Schall; seien Sie doch so gut, lieber Beil, und schauen ein wenig nach. – Ja, ja, man ruft mich.«

Und es war in der That so. Kaum hatte Herr Beil den Kopf in's Freie hinausgestreckt, so zog er ihn hastig wieder zurück und sprach lachend: »Da unten beugt sich der Herr von Dankwart oder wie er heißt, zum Halsverdrehen aus seinem Coupé heraus und ruft nach Ihnen.«

»Er soll rufen!« entgegnete Arthur unmuthig. »Hat mich hier fast eine Stunde mit seinen nichtssagenden Reden aufgehalten, [160] und jetzt soll ich noch da hinunter und demüthig an ihn hintreten – was befehlen Euer Gnaden?«

»Aber er hat mich gesehen,« versetzte begütigend Herr Beil, der noch immer am geöffneten Fenster stand; »er hat sich an mich gewandt, als er zum letzten Mal Ihren Namen rief.«

»Aber was mag er wollen?«

»Vielleicht ist ihm jetzt endlich eingefallen, nach was er in seiner Schreibtafel gesucht, und das er, als er es gefunden, wieder vergessen.«

»Meinetwegen; er soll zum Teufel gehen! Ich steige nicht die Treppen hinunter.«

»Thun Sie es doch,« bat Herr Beil. »Bedenken Sie, daß Sie einmal Künstler sind, und wenn Sie auch nicht nöthig haben, für Geld zu arbeiten, so arbeiten Sie doch für Beifall. Und der kann Ihnen ja nicht zu Theil werden, wenn man Ihnen keine Bestellungen gibt. Auch hat er schon eine ziemliche Zeit gewartet und nach Ihnen gerufen.«

»Ja, Sie haben Recht,« entgegnete Arthur ärgerlich. »Ich sehe ein, ich muß mich wohl draußen im Regen an den Wagen hinstellen und freundlich meinen Kopf neigen. – Wer will gegen den Strom schwimmen, ohne am Ende unterzugehen? Ja, ich fühle meine Fesseln, ich fühle es, daß ich so gut wie jeder Andere ein Sklave der Verhältnisse bin.«

Nach diesen Worten schritt der Maler die Treppen hinab, ohne sich jedoch gerade sehr zu beeilen, und trat an den Wagen, aus welchem heraus Herr von Dankwart mit seinen kleinen Armen gegen ihn gestikulirte, während er ihm zurief: »Verzeihen Sie meine Vergeßlichkeit; aber, du lieber Gott! wenn man den Kopf so voll hat wie ich, so kann einem das schon arriviren. Dieser köstliche Baron mit seiner Brautschaft ist schuld daran, daß ich ganz und gar meinen Auftrag vergessen. Sehen Sie, hier steht es deutlich geschrieben.«

[161] Damit nahm er sein Taschenbuch vom Schooße, wo er es hingelegt, um es Arthur zu zeigen, der sich aber stumm und abwehrend verbeugte.

»Die Frau Herzogin haben nämlich erfahren,« fuhr der kleine Mann fort, »daß Sie ein paar vorzügliche Porträts gearbeitet; eins haben wir sogar gesehen: den jungen Grafen Fohrbach, – außerordentlich schön! – Man hätte das bei uns zu Hause nicht besser gemacht. Ich versichere Sie, es ist ein liebenswürdiges Bild.«

»Daran ist wohl nur die Persönlichkeit des Grafen schuld, gewiß nicht meine Kunst,« erwiderte Arthur mit sehr kühlem Tone.

»Sie sind zu bescheiden, mein lieber junger Freund,« sagte Herr von Dankwart, wobei er den Versuch machte, den Künstler auf die Schultern zu pätscheln. Da aber seine Aermchen zu kurz waren, auch Arthur etwas zurück wich, so blieb es einfach bei dem Versuche. – »Es handelt sich nämlich,« fuhr er dann fort, »um das Porträt Seiner Durchlaucht des Herzogs Alfred, des Sohnes der Frau Herzogin; – ein recht angenehmes Aeußere. Seine Durchlaucht wünscht sich nämlich von Ihnen gemalt zu sehen, und wenn Sie geneigt wären, das Porträt sehr bald anzufangen –«

Arthur verbeugte sich stumm.

»So würde der Herr Herzog auf unser Zureden wohl die Gnade haben, Sie in nächster Zeit zu den vorbereitenden Sitzungen befehlen zu lassen.«

»Ich hoffe nur, daß es mir möglich sein wird,« sagte Arthur, indem er sich aufrichtete, »meine Zeit mit den Befehlen Seiner Durchlaucht in Einklang zu bringen. Ich habe im Augenblicke sehr viel zu thun.«

»Aber wenn der Herr Herzog es wünscht, mein Lieber?« versetzte Herr von Dankwart mit einem einigermaßen verwunderten Tone, indem er den Zeigefinger leicht erhob und auf das »wünscht« einen starken Nachdruck legte.

»Ja, wenn Seine Durchlaucht es wünscht!« lachte Baron [162] Brand ironisch aus der anderen Wagenecke. – »Coeur de rose! Das will schon etwas heißen!«

»Ich erwarte also Ihre Befehle,« sprach Arthur mit ruhigem Tone und wollte in das Haus zurücktreten.

Doch hielt ihn der kleine Geschäftsmann mit einer hastigen Handbewegung zurück. – »Halt! halt!« rief er; »noch eins, mein lieber Herr Erichsen. Hätte ich doch bald wieder etwas vergessen! Die Frau Herzogin, so sehr sie überzeugt ist von Ihrer großen Kunst, was die Aehnlichkeit anbelangt, wünschen doch – aber nehmen Sie mir es nicht übel – noch ein bekanntes Gesicht von Ihnen gezeichnet zu sehen, ehe Sie das Porträt Seiner Durchlaucht anfangen. Wissen Sie, mein Lieber, nur gezeichnet, oder ein kleines Aquarell, durchaus kein Oelbild.«

»Ich verstehe,« erwiderte Arthur mit einer bewundernswerthen Ruhe; »Ihre Hoheit wollen nur sehen, ob es mir auch leicht gelingt, Jemanden zu treffen.«

»So ist's, so ist's, mein Freund! Die Frau Herzogin wünscht es sehr; und obgleich meine Zeit außerordentlich in Anspruch genommen ist, so biete ich mich doch zu dem Versuche an, und will für Sie zu Haus sein, wenn Sie es wünschen.«

»Sie wollen für mich zu Haus sein?« fragte lächelnd der Maler.

»Gewiß, wenn es meine Zeit erlaubt.«

»Um versuchsweise Ihr Porträt zu machen?«

»Ja, ja, mein Freund. – Halten Sie es für sehr schwierig?«

»Nein, gewiß nicht!« lachte Arthur mit einem sehr bitteren Tone. »Ich könnte das sogar machen, ohne daß Sie mir eine Sitzung bewilligten, denn von den beiden Malen, wo ich die Ehre hatte Sie zu sehen, hat sich Ihr Bild unauslöschlich in mein Inneres geprägt.«

»Coeur de rose! – Nehmen Sie sich in Acht, Herr von Dankwart; er macht eine Karrikatur von Ihnen.«

[163] »Das wäre unmöglich,« erwiderte ruhig der Maler.

Für welches Wort ihn der kleine Mann einigermaßen mißtrauisch anblickte, worauf er sich in die Wagenkissen zurückwarf und ziemlich vornehm sagte: »Also es bleibt dabei, mein lieber Herr! Zuerst eine kleine Skizze von mir und dann nach Befund das Porträt Seiner Durchlaucht. – Nach Hause, Josef!«

Die Pferde zogen an; doch ehe der Wagen davon fuhr, beugte sich Herr von Brand noch einmal so weit er konnte vor, und lächelte dem Maler auf eine eigenthümliche Art zu.

Der Abschied des Herrn von Dankwart bestand darin, daß er mit zwei Fingern zum Wagenschlag hinaus winkte.

Arthur blieb trotz des strömenden Regens noch einen Augenblick an der Thüre stehen und sah dem Wagen nach, bis er um die Ecke verschwunden war. Dann schlug er eine laute Lache auf und sprach zu sich selbst: »Nun, heute habe ich gezeigt, daß ich bereitwillig den linken Backen hinhalte, wenn man mich auf den rechten geschlagen. – Sogar Onkel Tom müßte mit mir zufrieden sein.«

Oben in seinem Atelier angekommen, zog er seinen leichten Morgenrock aus (es war dies ein kostbares Gewand, aus einem seinen Shawl gemacht), der jetzt von dem Regen draußen ganz durchnäßt war. Er warf ihn verächtlich in eine Ecke und nahm sich alsdann eine frische Cigarre, die er ruhig anzündete.

»Sie sind ärgerlich?« sagte freundlich Herr Beil; »haben auch alle Ursache dazu. Es ist das von diesen vornehmen Herren eine eigene Art, mit renommirten Künstlern umzugehen.«

Der Maler betrachtete, ohne augenblicklich eine Antwort zu geben, die holden Züge, die ihm von der Leinwand auf der Staffelei entgegen lachten. Nach einer längeren Pause sagte er erst: »Ah! da kann von vornehmen Herren eigentlich gar nicht die Rede sein! Der Herr von Brand hat allerdings eine anständige Tournure; mit wirklich vornehmen Herren ist es angenehm umzugehen. [164] – Aber der Andere! – Wissen Sie, lieber Herr Beil, solches Volk, das sich aus dem Staube und dem Dreck herauf geschmeichelt, das, wenn es auch jetzt einen seinen Frack und gute Handschuhe trägt, doch die freche Bedientenseele nie verleugnen kann, das es wagt, im ekelhaftesten Hochmuth auf uns herum zu tappen, weil es begnadigt ist, sich als moralischer Spucknapf seines Herrn gebrauchen zu lassen, – das sind ja oft leider die Geschöpfe, an die wir arme Künstler gewiesen sind, das sind die Zwischenträger zwischen der reinen heiligen Kunst und den Großen der Erde, denen persönlich zu nahen so Wenige von uns gewürdigt werden. – Was ich vorhin von der Sklaverei sagte, ist ganz richtig: all' diese armen Maler und Bildhauer, die mit Herrn von Dankwart und ähnlichem Gelichter zu thun haben, sind arme unglückliche Sklaven, welche die Arbeit ihrer Tage, die Träume ihrer Nächte für ein elendes Honorar verkaufen. Und da das Bild bezahlt ist, soll der Künstler zufrieden sein; jene hohen Herrschaften aber fühlen nicht, daß ihm, so nothwendig er auch die paar Thaler gebrauchen kann, doch ein freundliches anerkennendes Wort ein schönerer Lohn wäre und ihn anspornen müßte zu noch besseren Werken. – Nein, sie fühlen das nicht, sonst würden sie nicht solche Dankwarte schicken und uns die Schmach anthun, daß wir aus solchem Munde vernehmen müssen: Seine Hoheit sind mit Ihnen zufrieden, Seine Hoheit haben Ihr Bild für etwas Vortreffliches erklärt.« – Damit schwieg er und wischte auf der Leinwand herum.

»Doch, Gott sei Dank!« fuhr er nach einer Pause fort, »es hat mich ordentlich beruhigt, daß ich mich gegen Sie ein wenig aussprechen konnte. Ich versichere Sie, mich hatte da unten eine unbeschreibliche Wuth erfaßt: Herr von Dankwart schwang da eine artige Geißel gegen mich armen Künstlersklaven; er verlangte nämlich, ich solle zeigen, ob ich auch in der That etwas verstände, und als Probe soll ich sein Gesicht abconterfeien.«

»Brrr!« machte Herr Beil, der unterdessen den nassen Morgenrock [165] Arthurs aus der Ecke des Zimmers hervorgeholt. – »Und für alles das haben Sie Ihr allerliebstes Kleid hier total verdorben?«

»Das geht zum Uebrigen in den Kauf, wenn man eine vornehme Kundschaft hat,« entgegnete lachend der Maler. »Aber wissen Sie, was mich im Umgange mit solchen Menschen, wie der Herr von Dankwart ist, am meisten ärgert? – Das sind die Anreden, mit denen sie uns begnadigen: ›Mein lieber Herr!‹ ›Mein Freund!‹ und dergleichen. Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen, aber das kann mich zur Wuth bringen; es soll das herablassend sein, freundlich und gnädig. – Mein lieber Freund! – Es ist aber wie das Du, mit dem ich meinen Bedienten anrede. Und wehe diesem, wenn er sich unterstände, ebenso zu antworten! und wehe uns, wenn wir auf eine solche Anrede ebenfalls antworten würden: ›Mein lieber Freund!‹ – Diese Dankwarte müssen sich absolut etwas Apartes gegen uns heraus nehmen. Würden sie einfach unsern Namen nennen, so ständen wir ihnen ja gleich, indem wir auch den ihren aussprechen; aber nein! Da reichen sie ihre Hand tief hinab in den Staub und sagen, indem sie weit – weit über uns hinweg sehen: mein lieber Freund!«

54. Kapitel
Vierundfünfzigstes Kapitel.
Am Neujahrstage.

Wie immer, so lange wir nach unserem christlichen Kalender rechnen, war das alte Jahr acht Tage, nachdem die Weihnachtsbäume gebrannt, zu Ende gegangen. – Es ist das für die Menschen [166] eine angenehme Periode: viel Festtage, Geschenke, Lust und Freude aller Art, namentlich in der Sylvesternacht, wo Jeder so viel als möglich sich bemüht, vom alten Jahre fröhlich Abschied zu nehmen und das neue jubelnd zu empfangen.

Trotz den erneuerten Verordnungen einer hochpreislichen Polizei hatte es auch dieses Mal wieder an allen Ecken der Stadt geknallt, ja selbst in der Nähe der Polizeidirektion, wo sich einige Mordschläge mit unerhörtem Spektakel entladen, so daß der Präsident erschrocken aus seinem Bette aufgefahren war und sogleich nach seiner Nase gegriffen hatte, weniger, um sich zu überzeugen, ob sie ihm nicht weggeschossen worden, als vielmehr, um, während er diese treue Freundin sanft befühlte, mit sich zu Rathe zu gehen, wie dem heillosen Unfuge ein- für allemal gründlich zu steuern wäre.

Nach der geräuschvollen Sylvesternacht folgte nun ein heiterer Neujahrstag, heiter insofern, und auch freundlich und gefällig, als er in starkem Froste und blauem Himmel erschien, die nasse Erde trocknete und sich auf diese Art der vielen lackirten Stiefel und Stiefelchen, auch schwarzer Fräcke und weißer Strümpfe erbarmte, die namentlich am heutigen Vormittag in der Stadt umherschwärmten. Das lief und rannte, behend und eilfertig, durch einander mit vergnügten Gesichtern, bald hier einem Freunde zurufend, dort einem Bekannten winkend, jetzt plötzlich stehen bleibend, um mit herabgerissenem Hute einen Vorgesetzten zu grüßen, dann wieder davon springend, um in irgend ein ansehnliches Haus zu verschwinden, wo die schwarzen Fräcke und weißen Handschuhe in langer Reihe auf einander folgten.

Auch vielerlei ward von den Gratulanten in der Hand und unter dem Arme getragen, als: zierliche Paketchen von weißem Papier mit rothen und blauen Schnüren, Düten mit Zuckerwerk, Blumenbouquets; und alles das wurde sorgfältig gehütet, daß man es nicht in dem Menschengewühl zerdrückte oder zerstieß, und [167] damit es wohlbehalten an den Ort seiner Bestimmung gelange. Dort angekommen, blinzelte man an dem Hause in die Höhe, nöthigte die schüchternen Hemdkragen ein Weniges aus dem schwarzen Halstuche heraus, besah die Handschuhe und schlüpfte dann in den Hausflur.

Dazwischen rollten Wagen in großer Anzahl durch die Hauptstraßen der Stadt, die Pferde mit den besten Geschirren bedeckt, die Kutscher en grand tenue, die Lakaien hinten auf, ordentlich triefend von Wichtigkeit.

Wenn man zufällig in die Gegend kam, wo sich die Ministerien befanden, so war man ordentlich betäubt von all' dem Gerassel, von dem Rufen der Bedienten, von dem Zuschlagen der Wagenthüren. Am allergrößten war das Gedränge der Equipagen an den Einfahrten des königlichen Residenzschlosses, und obgleich die allerhöchsten und höchsten Herrschaften die förmliche Gratulationscour abgesagt hatten, so entleerte doch ein Wagen nach dem andern seinen Inhalt in reichgestickter Uniform mit Hut und Degen an der großen Freitreppe, die vermittelst des Marmorvestibuls zu einem Vorzimmer führte, wo ein großes Buch aufgeschlagen lag, in welchem alle ihre Namen und Titel einschrieben.

Der gewöhnliche Rapport war natürlicherweise heute ebenfalls in großer Uniform erschienen, wo Jeder, der das Glück hatte, vor Seine Majestät zu gelangen, durch ein unbeschreibliches Achselzucken, durch eine außergewöhnliche Neigung des Kopfes, ja durch ein paar sanft gelispelte Worte kund und zu wissen that, wie doppelt glücklich er sich schätze, am heutigen Tage, wo alle Gratulationen verboten seien, dieselben doch wenigstens pantomimisch anbringen zu können.

Die Rapporte dauerten übrigens am Neujahrstage nie lange, und sobald sie beendigt, beeilte sich Jeder aus dem Schlosse und aus der engen Uniform zu kommen, um zu Hause im Kreise der Seinigen frei und behaglich aufzuathmen.

[168] Das Gefolge frühstückte alsdann allein, natürlicherweise, weil es die höchsten Herrschaften ebenso machten, und weil man sich doch ein wenig vorbereiten mußte auf das große Hofdiner des heutigen Tages, bei dem ein paar kleine Toaste fielen, und wo man doch seinem Nachbar und seiner Nachbarin etwas Angenehmes sagen mußte.

Wie überhaupt an Sonn- und Feiertagen, so besonders am Neujahrstage, namentlich wenn das Wetter so schön wie heute war, lag das Schloß ziemlich öde und leer. Die Herrschaften waren alsdann spazieren gefahren, das große und kleine Gefolge befand sich zu Hause, von den Kammerdienern und Lakaien hatte sich hinweg gestohlen, wer dies nur mit seiner Dienstpflicht zu vereinbaren wußte, so daß sich oft im Vorzimmer, wo zu anderer Zeit drei, vier an den Wänden zusammen standen, oder in den Ecken mit einander flüsterten, sich jetzt höchstens eine einzelne Livrée zeigte, aus der ein melancholisches Gesicht verdrießlich auf den mit Menschen bedeckten Kastellplatz blickte. Ueber allen Gängen und Treppen lag eine tiefe Stille; nur zuweilen hörte man in der Ferne eine Thür öffnen, einen Lakaien niesen oder draußen eine Schildwache husten.

Wahrhaft traurig und schwermüthig war an solchen Tagen, wo auf Häusern und Straßen ein heller Sonnenschein glänzte, das Zimmer der Adjutanten. Es lag gegen die Nordseite und ging, wie wir bereits wissen, auf einen kleinen finsteren Hof hinaus, eigentlich auf einen von drei Gebäuden gebildeten Winkel, durch den man nicht reiten und nicht fahren durfte, durch den nur sehr wenige Menschen gingen, und den, namentlich an Wintertagen, beständig kalte und frostige Schatten ausfüllten. Die vorderen und Hauptgebäude ließen dorthin kein Licht, und das Einzige, was man von diesem sah, waren die hoch oben auf einer vergoldeten Windfahne recht wie zum Hohne glänzenden und blitzenden Sonnenstrahlen.

[169] Es wird den geneigten Leser einigermaßen befremden, daß, so oft wir ihn in dieses Adjutantenzimmer führen, jedesmal Graf Fohrbach den Dienst hatte; doch erstens traf dieser ihn sehr häufig, alle vier bis fünf Tage einmal, und zweitens ist es angenehmer, sich diesen wichtigen Räumen nur dann zu nahen, wenn man einen Bekannten dort zu finden weiß.

Der Graf hatte also, wie bemerkt, den Dienst, und saß in einer der tiefen Fensternischen auf einem kleinen Lehnstuhle, von dem schweren dunklen Vorhange nach außen zu fast verdeckt und ganz wie auf der Lauer. Er betrachtete nämlich angelegentlich aus seinem Verstecke hervor einige Fenster des zweiten Stocks, die in den vorhin erwähnten Hof hinaus gingen, und da diese Fenster sich fast in derselben Flucht mit denen des Adjutantenzimmers befanden, so hatte er trotz verschiedener Grade Kälte eine Fensterscheibe geöffnet und seinen Kopf hinausgestreckt, um besser nach dem bezeichneten Orte sehen zu können.

Da war aber vorderhand nichts zu bemerken: Alles war gleich öde und still, nirgends eine menschliche Seele zu sehen, und wenn man nicht an den Fenstern, die hier hinaus gingen, da irgend einen farbigen Vorhang, dort die grünen Blätter einiger Blumen bemerkt hätte, so wäre dieser Hof wahrhaft trostlos gewesen.

Auch dort, wohin der Graf Fohrbach blickte, ließen sich hinter einem Doppelfenster Blätter und Blüthen sehen. Zuweilen schien es dem Grafen auch, als komme aus dem Innern des Zimmers eine weiße Hand und mache sich dort irgend etwas zu schaffen. Sowie er aber in diesem Falle in größter Geschwindigkeit sein ungeheures Theaterglas ergriff und hinauf sah, so ließ er es doch seufzend wieder herab sinken, denn entweder hatte er sich geirrt oder war die Hand droben zurückgezogen worden.

Wenn er alsdann eine Zeit lang vergebens hinauf geschaut, so schloß er wohl auf Augenblicke die Fensterscheibe, nahm ziemlich [170] verdrießlich ein Buch, das vor ihm lag, und sah hinein, ohne jedoch auch nur eine einzige Zeile zu lesen.

Das war Alles heute Nachmittag entsetzlich langweilig, und die Uhr, die er zu Rathe zog, sagte ihm, es sei erst Zwei. – Also noch volle vier Stunden bis zur Tafel!

Graf Fohrbach hatte abermals die Glasscheibe neben sich geöffnet, das Theaterglas ergriffen und vergebens nach den bewußten Fenstern hinauf geblickt und wollte sich eben wieder zurückziehen, als er von dem Hofe herauf, und zwar dicht unter seinem Fenster, von einem lauten und kräftigen Lachen begrüßt wurde.

Aergerlich wandte er den Kopf abwärts; – wer konnte es wagen, ihn auf so auffallende Art hier in der Ausübung des königlichen Dienstes zu stören? – Doch hatte er nicht sogleich den, der vor dem Fenster stand, erkannt, als er, selbst lustig lachend, hinabrief: »He, Major, wo kommst du her? – Hast du am Ende die vortreffliche Idee, mir an diesem wunderbaren Feiertag-Nachmittag etwas Gesellschaft zu leisten, so vergelte es dir Gott, und ich will zu allen Gegendiensten bereit stehen.«

»Eigentlich war das nicht meine Absicht,« entgegnete der Andere; »ich wollte bei dem schönen kalten Wetter eine Promenade machen. Doch wenn es dich besonders freut, so halte ich gerne eine halbe Stunde bei dir an.«

Damit ging er dem Eingange zu, verschwand dort, stieg die paar Stufen bis in's Erdgeschoß hinauf und trat gleich darauf in das Zimmer.

Graf Fohrbach hatte unterdessen einen Fauteuil an die andere Seite des Fensters gerückt, auf welchem sich der Major niederließ, die Beine über einander schlug und seinen Freund lächelnd anschaute.

»Es scheint mir, du bist heute guter Laune, Major,« sagte der Graf; »und es ist gut; du kannst mich dann ein wenig aufheitern.«

»Also bist du verdrießlich?«

[171] »Gott verzeih' dir diese Frage! Man sieht, daß du schon lange am Sonntag keinen Dienst gethan hast und nicht mehr weißt, wie unbeschreiblich leer und öde es hier ist; kein Rappport, keine Audienz für den Herrn, selten ein Besuch für uns, und da draußen Alles bis zum Erschrecken verlassen. Diese Seite des Schlosses ist wie verwünscht: es zeigt sich nicht einmal ein miserabler Fußgänger.«

»Dafür aber hast du Muße, die gründlichsten Fensterbeobachtungen zu machen,« erwiderte pfiffig lächelnd der Major. »Und das thust du auch, wie ich sehe, vermittelst dieses unfehlbaren Glases und einer geöffneten Fensterscheibe, bei dieser Kälte den ungeheuersten Schnupfen riskirend.«

»O, was die offene Scheibe anbelangt,« versetzte der Adjutant, indem er sie jetzt erst wieder fest zuzog, »so bist du im Irrthum: ich blickte nur nach dir.«

»Nach mir?« fragte der Major. »Und ich mußte dich erst mit einem wahrhaft homerischen Gelächter aus deinen Träumereien aufwecken! – Nein, nein, lieber Freund! gib der Wahrheit die Ehre: du hast da oben hinauf geschmachtet? – Und ich halte das auch verzeihlich und begreiflich.«

»Und wenn dem wirklich so wäre,« entgegnete zerstreut der Graf und schraubte sein Glas langsam ein, »so hast du eigentlich Recht, mich darüber auszulachen, denn die Fenster da oben sind den ganzen Tag verschlossen, obendrein dicht mit Blumen besetzt; da dringt kein Blick hinein. Und wie das Zimmer so auch die Bewohnerin; das ist nach Goethe wie ein eherner Thurm, zu dem die Besatzung Flügel haben müßte.«

»Ja, ja,« erwiderte der Major, und recitirte darauf mit Pathos:


»Schön wie der Mond, der einsam wallt,
So schön bist du, doch auch so kalt,

wie ein anderer Dichter sagt, der übrigens noch kein Goethe geworden ist.«

[172] »Es ist eigentlich Unrecht,« fuhr der diensttuende Adjutant mit einem komischen Ernste fort, »mit einer so wunderbaren Figur, einem solch' schönen Kopfe und so viel Verstand an den Hof zu kommen, ohne ein Herz mitzubringen.«

»Laß das gut sein,« versetzte der Andere bedächtig, indem er seinen schwarzen Schnurrbart strich, »da ist ein Herz, und ich wette, ein sehr gutes und edles. Aber es hat sich mit einem festen Panzer umgeben. – Vielleicht,« setzte er in gefälligem Tone hinzu, »weil es geahnet, daß es sich in die Nähe solcher Eroberer, wie du bist, wagen müsse.«

Der Graf legte den Kopf in die Hand und entgegnete mit ernster Stimme: »Nein, nein, laß die Spöttereien! Ich versichere dich – dir im allergrößten Vertrauen zugegeben, was du aber wahrscheinlich schon entdeckt – es geht mir diesmal über den Spaß. Ich stehe an dem Wendepunkt, und du wirst wissen, wohin der eine Weg zielt, wenn ich dir sage, daß Eugenie von S. einen mächtigen, unvertilgbarm Eindruck auf mich gemacht.«

»Sagst du das dem Freunde oder dem Anverwandten dieses glücklichen Ehrenfräuleins?«

»Du kannst nun einmal die Scherze nicht lassen!« erwiderte Graf Fohrbach. »Aber man muß sich vor dir in Acht nehmen; nur zum Freunde sprach ich eben.«

»Daran thust du sehr Unrecht; du solltest dich dem Verwandten dieses liebenswürdigen Mädchens in die Arme werfen. Du weißt, da ließe sich was arrangiren: meine Frau wäre glückselig, eine solche Partie zu Stande bringen zu dürfen. Und nehme mir nicht übel, wenn ein Graf Fohrbach anklopft, so öffnet man bereitwillig die Thüre und setzt keinen Korb davor.«

»Das will ich aber eben nicht, du prosaischer Mensch. Hätte ich deßhalb mancher Dame den Hof gemacht, und mit einigem Erfolge, um zuletzt eine Ehe einzugehen unter dem Wappen meines Hauses? – Nein, wahrhaftig nicht! Wenn ich mich einmal glücklich [173] verheirathen werde, so müßte das Mädchen, das ich mir erwählt, ihr Alles daran setzen und im Nothfalle Alles zu verlassen im Stande sein, um mir zu folgen.«

»Du hast dich wahrhaftig sehr verändert,« bemerkte der Major, »denn es ist das erste Mal, daß ich dich eine Bibelstelle citiren höre. – Also der Herr Graf haben wirklich seine Herrin gefunden? – haben in der That sein erlauchtes Herz verloren?«

»Total!« seufzte dieser; »total! – und ich glaube, ich finde es niemals wieder.«

Der Major schaute einige Augenblicke nachdenkend zum Fenster hinaus, sah hierauf sein Gegenüber lange und forschend an, und dann sagte er: »Ja, ich habe so was gemerkt. Du bist nicht mehr der Alte, namentlich wenn sie in der Nähe ist. Meine Frau hat mich eigentlich darauf aufmerksam gemacht; du benimmst dich in Eugeniens Gegenwart, um wenig zu sagen, schüchtern. Du hast deine ganze Routine verloren und scheinst mir sogar oftmals um eine pikante Antwort verlegen, woran es dir doch sonst wahrhaftig nicht gefehlt hat.«

»Ich fühle das wohl,« entgegnete der Graf, »und ärgere mich genug darüber. Aber wenn ich in ihre Nähe komme, wenn sie mich mit ihren großen Augen so ruhig anblickt, wenn sie mit ihrer tiefen Stimme zu mir spricht, so schnürt sie mir das Herz zusammen, ich kann kaum athmen, und wenn mir auch etwas nicht gerade Ungescheidtes einfällt, so bin ich oft nicht im Stande, es gehörig in Worte zu fassen und ihr zu sagen.«

»Wir kennen das. Aber du mußt diese Aengstlichkeit zu überwinden trachten. Ein solches Mädchen wie Eugenie, verlangt von Jemand, den sie lieben soll, volle Gewandtheit des Geistes; da thut's alle Eleganz und alle Geschicklichkeit des Körpers nicht allein, und wenn du mit deinem Pferde noch halsbrechendere Sprünge auf dem glatten Pflaster machst als vorgestern, da du ihrem Wagen begegnetest.«

[174] »Sprach sie mit dir darüber?« fragte hastig der Graf.

»Gerade nicht zu mir,« erwiderte der Andere, »auch sie nicht selbst; sondern die Oberhofmeisterin, die mit ihr fuhr, erzählte es dem Herzog Alfred, der gerade dabei stand und meinte, du seiest beinahe hingestürzt.«

»Das ist nicht wahr!« rief der Adjutant entrüstet.

»Und der Herzog lachte auf seine sonderbare Weise, und meinte dann, nachdem er die dünnen Lippen zusammen gepreßt, es sei eigentlich eine Art Thierquälerei, so mit diesen edlen Pferden umzugehen.«

»Eine Thierquälerei, die er freilich nie versucht, weder auf dem Pflaster noch sonstwo.«

»Nun ja, da hast du schon Recht,« antwortete nachdenkend der Major, nachdem er sich mit der Hand über die Augen gefahren, den Bart gestrichen und dann ruhig in's Zimmer hinein gesehen. – »Mit seinem Reiten ist's nicht weit her – aber,« – setzte er mit Betonung hinzu, »er braucht das auch nicht, dafür ist er Herzog, und was ihm an Körpergewandtheit abgeht, das ersetzt vollkommen seine unglaubliche Zungenfertigkeit.«

Bei diesen Worten, die der Major sehr ruhig sprach, zuckte der Graf augenscheinlich zusammen, und dann schaute er seinen Freund fest und mit großen Augen an, welchen Blick der Major mit einem Lächeln zurückgab.

Graf Fohrbach sah forschend im Zimmer umher, dann beugte er sich zu seinem Freunde hinüber und sprach mit leiser Stimme: »Das hast du nicht ohne Absicht gesagt!«

»Und was denn?«

»Du weißt schon, was ich meine; es ist das ein Lied ohne Melodie, das ich in kurzer Zeit öfters gehört. – Ja, er hat eine scharfe und gewandte Zunge; aber sage mir, Eugen – sage mir die Wahrheit, wir sind ja unter uns – glaubst du, daß sie auch Geschmack an seinen Worten findet und sie gerne anhört?«

[175] »Lieber Freund,« erwiderte ruhig der Major, »das ist eine Frage, die nicht gut zu beantworten ist. Ich kann nur meine Worte von vorhin wiederholen: er ist Herzog und spricht schön und gewandt.«

»Da hast du Recht!« rief unmuthig Graf Fohrbach. Worauf er die Theaterlorgnette, mit der er bisher gespielt, etwas heftig auf den Tisch setzte und von seinem Stuhle aufstand. Dann machte er einige hastige Schritte durch das Zimmer, so daß sein Säbel, den er nicht fest eingehakt hatte, mit dem Ende der Scheide klirrend auf den Boden fiel, was in dem großen, stillen Gemache einen gewaltigen Widerhall gab, worauf der Adjutant seine Waffe fest in die Hand nahm, ohne aber seinen Spaziergang zu unterbrechen, dem der Major kopfschüttelnd zuschaute.

Nachdem er das Zimmer mehrere Male durchschritten, trat er endlich dicht neben seinen Freund hin, legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach mit sanfter Stimme: »Sei ehrlich gegen mich, Eugen; du sagst nie etwas ohne Absicht, und deine Worte von vorhin haben einen verborgenen Sinn. Ich weiß wohl, was sie bedeuten sollen; hier in meinem Herzen fühle ich es; aber ich möchte wissen, ob du dem großen Haufen nachsprichst, denn auch da hörte ich ähnliche Aeußerungen, die ich jedoch verachtete. – Aber nein, nein! du sagst nie eine fremde Ansicht, du sprichst nur nach Ueberzeugung, und ich bitte dich herzlich, theile mir diese mit, sage mir, was du weißt; das kann ja auf alle Fälle nur zu meinem Glücke sein.«

Der Major hatte den viel jüngeren Freund, der vor ihm stand und dessen ganzes Wesen bei den Worten, die er sprach, gewaltsam erzitterte, mit wahrer Theilnahme angeblickt. Ja er nahm sanft die Hand, welche er auf seine Schulter gelegt, und sagte: »Höre mich ruhig an. Du wirst hoffentlich überzeugt sein, daß ich Alles thue, was dir nützlich ist, was dir zu deinem Glücke, wie du sagst, verhelfen kann, und wenn ich über die Sache von [176] vorhin etwas Genaueres wüßte, hätte ich es dir schon lange mitgetheilt. Du behauptest, ich forme mir meine eigene Ansicht; das ist ganz richtig, und ich spreche nur dann, wie vorhin, die des großen Haufens aus, wenn sie mit meinen eigenen zusammen stimmt.«

»Und das thut sie in diesem Falle?« fragte der Graf erschrocken.

Der Major nickte mit dem Kopfe. – »Meine und auch die meiner Frau,« sagte er.

»O! das ist sehr schlimm!« rief schmerzlich der junge Mann. »Und ihr habt eure Beweise, daß er sich Eugenien nähert? – Vielleicht auch solche, daß sie seine Annäherung duldet, daß sie ihr sogar lieb ist?«

»Nein, nein, nein!« sprach bestimmt der Major. »Nur nicht gleich wieder fertig zum Durchgehen! Wenn ich auf deine Frage mit Ja antwortete, so müßte ich ja zugeben, die Beiden seien schon im vollkommensten Einverständniß.«

»Ja, das ist wahr,« erwiderte der Adjutant nach einer Pause wie aus tiefen Träumen erwachend. »Dann wären sie freilich im Einverständniß; und das sind sie wohl noch nicht! – Nicht wahr, Eugen?« fragte er dringend. – »Ah! wenn ich nur an ein solches Einverständniß denke, so steigt mir das Blut in den Kopf und ich sehe nichts mehr. – Ein Einverständniß! – Was könnte zwischen den Beiden für ein Einverständniß sein?«

»Sei nur nicht so exaltirt!« bat der Major. »Setz' dich ruhig dahin. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn einer der Kammerdiener seine wißbegierigen Ohren an die Thüre legte, um dich schreien zu hören.«

Der Graf Fohrbach drückte gewaltsam Schärpe und Säbelkuppel herunter; das schien ihn Beides im freien Athmen zu hindern. Dann warf er sich, dem Wunsche des Freundes gehorsam, [177] in seinen Stuhl, der wie wir wissen, so nahe am Fenster stand, daß es ihm leicht wurde, seine brennende Stirne gegen die kalten Scheiben zu drücken.

»Ich möchte etwas sagen,« begann er nach längerem Stillschweigen wieder; »aber nimm es mir nicht übel: es ist ein fürchterlicher Gedanke, der auch dich schmerzen muß; aber mir zerreißt er das Herz, und so vergib denn, wenn ich ihn ausspreche.«

»Nur zu,« erwiderte der Andere lächelnd; »ich kann mir fast denken, was da heraus kommen wird. Laß deinen Phantasieen vollen Lauf; – genire dich gar nicht.«

»O Eugen, das sind nicht blos Phantasieen; ich fürchte, es ist etwas Wahres dahinter. – Eugeniens Vater – es ist leider einmal ein Anverwandter von dir –«

»Sehr, sehr entfernt,« versetzte der Major.

»Ja, ja; aber dieser Herr von S. steht, wie du weißt, in keinem guten Renommée.«

»Er ist etwas Spieler und Aventurier; aber eigentlich Schlimmes kann man ihm nicht nachsagen.«

»Bis jetzt nicht, aber –«

Der Graf stockte, weil ihn ein eigenthümlicher Blick seines Freundes traf.

»Aber –« fuhr er nach einer Pause fort – »er ist derangirt; würde er sich etwas daraus machen, wenn ihm zum Beispiel der Herzog, der sehr reich ist, auf die eine oder die andere Art wieder emporhelfen wollte? – Doch verzeih' mir, daß ich das sage; ich weiß wohl, ich bin außer mir, vielleicht sinnlos. Mir scheint, ich spreche ohne allen Verstand.«

»Nein, du sprichst ganz verständig,« erwiderte der Major mit großer Ruhe, während er mit vieler Sorgfalt ein großes E auf die angehauchte Fensterscheibe zeichnete. »Deine Worte sind nicht sinnlos, und ganz im Vertrauen gesagt, halte ich den Herrn von S. zu allerlei fähig, Seine Durchlaucht den Herrn Herzog nicht [178] minder. – Denn haben wir junge Leute zu unserer Zeit Besseres getrieben?«

»Aha! doch dergleichen nicht!« rief Graf Fohrbach entrüstet. »Ich wenigstens habe um einer vergnügten Stunde willen nie das ganze Lebensglück eines Mädchens und desjenigen, der sie liebt, auf das Spiel gesetzt.«

»Du nicht?« fragte lachend der Major. »In deiner Gesellschaft hast du allerdings dergleichen nicht versucht; aber blicke tiefer hinab, da taucht dir doch vielleicht irgend eine Erinnerung auf, welche mit dieser Geschichte Aehnlichkeit hat.«

»Du könntest Recht haben,« antwortete Graf Fohrbach, nachdem er einige Augenblicke nachgedacht.

»Aber das gehört eigentlich nicht hieher,« fuhr der Andere fort. »Genug, ich gebe dir zu, der Vater wäre vielleicht im Stande, sich die Tochter abkaufen zu lassen. – Wie kannst du aber nun glauben, daß Eugenie, dies unschuldige Geschöpf, dies reine Herz, wie du sie selbst oft genannt, in dergleichen willigen könne! – Schon der Gedanke müßte ein solches Mädchen vor Abscheu wahnsinnig machen.«

»Du bist älter als ich und erfahrener,« erwiderte kopfschüttelnd der junge Mann, »und es scheint mir, ich muß dich belehren. Man wird es freilich nicht wagen, ihr einen solchen Antrag zu machen, aber man hilft dem anderen Theile, indem man ihm die Annäherung erleichtert; und die wird uns nicht schwer,« fügte er mit Betonung bei, »wenn man Herzog ist und eine gewandte Zunge hat.«

»Die dir auch nicht fehlt!« rief halb entrüstet der Major. – »Aber jetzt habe ich die Geschichte vollkommen satt. Weiß der Teufel, daß ich mich immer für Eugenie herum zanken muß! Kaum bin ich von Hause fort, wo mir meine Frau die Ohren voll geplaudert, so komme ich vom Regen in die Traufe, und hier an einen wüthenden Liebhaber.«

[179] »Siehst du, Verräther!« sagte der Graf mit halbem Ernste; »deine vortreffliche Frau denkt und fühlt gewiß wie ich. Oh! die Weiber haben darin einen unbeschreiblichen Takt! Auch sie wird es merken, daß hier nicht Alles in Richtigkeit ist. Nicht wahr? – Sprich! ich habe Recht.«

»Was wird sie merken!« erwiderte eifrig der Major mit komischem Zorne, da er sich in die Enge getrieben fühlte. »Nichts merkt sie; das ist wieder wie in so manchen Dingen, viel Lärmen um nichts; Alles, was die Leute sagen und was meine Frau schwätzt und was du fürchtest, läuft am Ende auf nichts mehr und nichts weniger hinaus, als auf eine vielleicht unschuldige Courmacherei.«

»Die du also doch am Ende zugibst!«

»Ja, die ich am Ende zugebe,« entgegnete der Major nach einem tiefen Athemzuge. – »Aber jetzt laß mich zufrieden. Da wäre mir ein Spaziergang in frischer Luft auf alle Fälle viel besser bekommen.«

»Nun, es ist nur gut, daß deine Frau wie ich denkt,« sprach der Adjutant nach einigem Nachsinnen. »Das ist ein vortreffliches Weib; ich werde mich an sie halten.«

»Um gemeinschaftlich über mich zu raisonniren?« lachte der Major, der sich von seinem Stuhle erhob. – »Nun, das kannst du noch heute Abend thun, freilich werde ich dabei sein und – Eugenie, aber ihr braucht euch gar nicht zu geniren: euch zuliebe will ich mich mit dem schönen Ehrenfräulein in irgend einer dunkeln Ecke festsetzen, und dann kannst du meiner Frau sagen, was du willst.«

»Ich verstehe dich nicht recht,« erwiderte aufmerksam der Graf, indem er sich ebenfalls erhob und seinem Freunde, welcher das Zimmer zu verlassen sich anschickte, folgte. »Was faselst du eigentlich von deiner Frau und Eugenie?«

»Nun ja, undankbarer Mensch!« sagte lachend der Major, [180] dafür, daß du meine Anverwandten verdächtigst, will ich feurige Kohlen auf dein Haupt sammeln; du darfst heute Abend zu uns kommen.

»Und Eugenie ist auch da?« fragte der Andere jubelnd.

»Eugenie ist auch da, und – verstehe mich wohl – sonst Niemand: du, sie, meine Frau und ich, – die vollständigste Partie quarré.«

»Major, du bist göttlich!« rief freudig der junge Mann; »es ist ein Unglück, daß Seine Majestät eine Aversion gegen alle Gnadenbezeugungen am Neujahrstage hat; ich würde für dich um den Oberstentitel bitten. – Also wir vier ganz allein?«

»Ganz allein; komm so um acht Uhr, da ist ja die Hoftafel und dein Dienst vorbei; wir trinken Thee, wir machen einen kleinen Whist, wir plaudern, und da es Neujahrstag ist, so soll es dir unbenommen sein, meiner Frau und also auch Eugenie ein kleines Cadeau mitzubringen. Du siehst, ich bin uneigennützig.«

»So uneigennützig, daß mir ordentlich vor dir graut. Du hast alle Anlage zu einem vortrefflichen Kuppler. Gott stehe dir bei, oder dem armen Men schen, gegen den du agirst.«

»Nun also bis acht Uhr!« sagte lachend der Andere; worauf er dem Freunde die Hand schüttelte und sich empfahl.

Graf Fohrbach begleitete ihn bis in den Vorsaal, wo die Wachen langweilig auf und ab schritten, und wo der einzige Lakai, der keinen Vorwand gefunden, sich zu entfernen, hinter dem Ofen saß und sanft den Schlaf des Gerechten schnarchte.

55. Kapitel
[181] Fünfundfünfzigstes Kapitel.
Einladungen zu Hofe.

In sein Zimmer wieder zurückgekehrt, ging der dienstthuende Adjutant mit leichten, gefälligen Schritten eine Zeit lang auf und ab, von einer Thüre zur andern, bei dem großen Spiegel vorbei, in welchen hie und da einen nicht ganz unzufriedenen Blick zu werfen er sich nicht enthalten konnte. Er träumte von dem Abend, der vor ihm lag, und sein Herz schlug sehr vergnügt; nur zuweilen blieb er an einem der Fenster stehen, schaute nachdenkend hinaus und zog die Augenbrauen düster zusammen. In solchen Momenten dachte er an die Nebenbuhlerschaft des Herzogs und an alle möglichen Folgen derselben; er wußte ganz genau, was bei vielen Frauenherzen die Durchlaucht vor einem Namen zu sagen hat. Und dann war auch der Herzog in anderer Richtung ein nicht zu verachtender Gegner. Hübsch war er allerdings nicht, weder am Körper noch am Gesichte, aber er tanzte gut und unermüdlich, und was seine Zunge anbelangte, so war sie glatt und behende wie ein Aal.

Wenn Graf Fohrbach das alles überlegte, namentlich aber die Leichtigkeit in Betracht zog, mit der der Herzog fast zu jeder Stunde des Tages die in den Gemächern seiner Mutter oder Ihrer Majestät befindlichen Damen sprechen konnte, so überlief es ihn fröstelnd, er faßte krampfhaft den Griff seines Säbels und bohrte die Scheide so heftig in das Parkett ein, daß ihn der Hofmarschall, wenn er es gesehen hätte, unfehlbar wegen freventlichen Verderbens des königlichen Eigenthums verklagt haben würde.

Im anderen Augenblicke dachte er dagegen an die Stunden, [182] die er schon mit Eugenien zugebracht, sei es bei den Hoffesten, sei es im Hause seines Freundes, und wenn er sich diese in's Gedächtniß zurückrief, so baute er sich aus Blicken, aus Worten, besonders aber aus einem leisen Drucke ihrer Hand auf seinen Arm, den er einstens zu fühlen geglaubt, die wunderbarsten Luftschlösser und richtete daran seine Hoffnungen wieder empor. – »Heute Abend,« sprach er zu sich selber, »ist in der That ein günstiger Moment, wir sind ganz allein, ich bin überzeugt, Eugen wird diskret sein, und dann will ich doch versuchen, ihr irgend ein Wort zuzuflüstern, was mich weiter bringen soll. – Auf jeden Fall weiter, vielleicht zu einer Entscheidung, sei es nun zu meinem Glücke oder zu meinem Unglücke.«

Damit nahm er seinen Säbel wieder in die Hand und begann seinen Spaziergang durch das Zimmer auf's Neue, hatte aber dasselbe noch nicht einmal durchschritten, als sich die Thüre des Vorsaals öffnete und der Hofmarschall herein trat, jetzt schon – es war noch nicht vier Uhr, also noch zwei Stunden bis zur Tafel – in großer Uniform, den Hut unter dem Arm, das Gesicht wie gewöhnlich mit äußerster Wichtigkeit hoch empor haltend.

Die beiden Herren begrüßten sich, indem der Graf seine ganze Hand hinhielt, in welche Seine Excellenz, wie er es in der Regel zu machen pflegte, nur zwei Finger legte, die aber von dem Adjutanten freundlichst und kräftigst geschüttelt wurden.

»Euer Excellenz sind früh bei der Hand,« sagte er hierauf. »Wir haben ja noch zwei volle Stunden bis zur Tafel. Nein, das mache ich mir bequemer; höchstens eine halbe Stunde vorher wird sich angezogen, eine Viertelstunde darauf steige ich in den Wagen und komme an mit Glockenschlag.«

»Dafür sind Sie auch ein freier Mann, mein lieber Graf,« erwiderte seufzend die Excellenz, »haben hie und da, wie heute zum Beispiel, eine kleine Funktion, die aber nach einigen Stunden endet, und an die Sie nicht mehr zu denken brauchen, sobald Sie [183] den Säbel abgeschnallt und den Federhut weggelegt haben. – Aber ich! – Dienst! – Dienst! – Dienst! von Morgens früh, wenn ich meine Augen öffne, bis Nachts, wenn ich sie wieder schließe; und auch dann noch oft keine Ruhe, denn ich träume davon. – Eine wahre Sklaverei!«

»Aber Euer Excellenz nehmen alle Dinge zu schwer; ich glaube, ich würde es mir viel bequemer machen.«

»Das glaube ich selbst,« erwiderte der Hofmarschall mit einem wichtigen Lächeln, »aber nehmen Sie mir nicht übel, da würde auch Manches drunter und drüber gehen.«

»Das ist möglich: was nicht zu halten wäre, ließ ich eben fallen.«

»O ihr jungen Leute habt gut sprechen! Man muß den ganzen Tag mit Anstrengung aller seiner Kräfte die Zügel halten, denn wie man ein bischen nachläßt, so gibt's rechts und links Konfusionen.«

»Aber heute zum Beispiel könnte es sich Euer Excellenz doch bequemer machen. Da gibt's doch bis zur Tafel nichts mehr zu thun: die Einladungen sind gemacht, das Diner ist seiner Vollendung nahe und die Säle in der besten Ordnung.«

Der Hofmarschall war mit einer wehmüthigen Miene an's Fenster getreten und blickte jetzt achselzuckend nach dem Adjutanten um, der hinter ihm stand. – »Ich will Ihnen einen Beweis geben, wie kurzsichtig ihr jungen Leute seid, mein lieber Graf,« bemerkte er nach einer Pause. »Sie sagen, die Einladungen seien gemacht. Allerdings sind sie gemacht, auch angenommen; aber ist es meine Schuld, daß sich zwei, drei Personen heute Nachmittag unwohl fühlen und mir absagen lassen? – Zwei, drei Personen, sage ich Ihnen, und eine darunter, die Seine Majestät sogleich vermissen werden. – Was nun thun?«

»Nun,« entgegnete der Adjutant, »die Tafel um so viel kleiner machen.«

[184] »Eine Tafel von hundertundzwanzig Couverts nur so im Handumdrehen kleiner machen!« lachte krampfhaft der Hofmarschall. »O Graf Fohrbach! Sie sind ein vortrefflicher Reiteroffizier und Adjutant, aber – nun, man kann das nicht anders von Ihnen verlangen.«

»So machen Sie ein paar andere Einladungen!«

»Als wenn Hofeinladungen zu einem Neujahrsdiner nur so leicht gemacht wären! Die heutige Gesellschaft wurde gebeten auf den speziellen Befehl Seiner Majestät. Alles, was ich noch dazu thue, geschieht auf eigene Verantwortung, und für drei, die ich selbstständig einlade, bekomme ich dreißig Feinde über den Hals, die Alle glauben, an Ihnen wäre viel eher die Reihe gewesen. – Ah! ich habe ein hartes Brod.«

»Da würde ich es machen wie beim Militär, und mir immer eine Reserve halten.«

»Das habe ich auch,« erwiderte wichtig die Excellenz. »Aber wenn uns die Reserve ebenfalls im Stich läßt! Sehen Sie« – damit erhob er den Arm und zeigte auf eine Fensterreihe im großen Hofe – »da hinten wohnt, wie Sie wissen, der alte pensionirte General- Adjutant, der, wie sich von selbst versteht, ein- für allemal zur Hoftafel eingeladen ist, aber sich fast jedesmal hartnäckig entschuldigen läßt. Bei dem war ich nun vor einer halben Stunde in Person, um ihn zu bitten, diesmal doch zu kommen. – Keine Rede davon! Ich vernahm auch schon im Vorzimmer, daß ich vergeblich komme, denn er brüllte wieder einmal so laut, daß man es durch drei Zimmer hören konnte.«

»Hat er Schmerzen?« fragte anscheinend ganz unbefangen der Adjutant.

Der Hofmarschall wandte den Kopf rückwärts und sah ihn mit einem sonderbaren Blicke an. »Ah! was Schmerzen!« versetzte er, »Sie kennen den doch lange genug, um zu wissen, daß der keine Schmerzen hat.«

[185] »Also vielleicht wieder eine Familienscene?«

»Natürlich; das hört da niemals auf.«

»Die arme kleine Frau!«

»Na, na!« sagte die Excellenz, indem sie leicht mit der Hand an dem gestickten Uniformskragen herum griff, »das nimmt Alles freilich Partei für die hübsche Baronin, aber –«

»Euer Excellenz sagten: aber –« versetzte der Adjutant nach einer längeren Pause.

»Allerdings könnte man da auch ein Aber vermuthen,« fuhr der Hofmarschall fort. »Ich versichere Sie, lieber Graf, Unsereins, das so lange hier aus und ein geht, wirft zuweilen einen scharfen Blick hinter die Coulissen.«

»Dafür ist Euer Excellenz bekannt,« antwortete der Graf im Tone der größten Ueberzeugung. – »Aber die Baronin nimmt sich so in Acht, sie vermeidet völlig ein Gespräch mit jungen Leuten; sie tanzt auf den Bällen nur mit alten Generalen und obersten Hofchargen, die dem Gemahl doch unmöglich Argwohn einflößen können.«

»Wie? Weil sie nur mit obersten Hofchargen tanzt?« fragte Seine Excellenz leicht pikirt. Doch fuhr sie gleich darauf in anderem Tone fort: »Ja, das ist Alles wahr; man spricht auch nicht von der Gegenwart, sondern« – hier hustete der Hofmarschall wieder bedeutend, als habe er schon zu viel gesagt.

»Allerdings von der Vergangenheit,« nahm der Adjutant leichthin das Wort. – »Wissen Sie, Excellenz, die böse Welt macht sich kein Gewissen daraus, einer schönen Frau was Uebles nachzusagen. – Und am Ende, was spricht man von der Baronin?«

»Ich nichts; Gott soll mich bewahren!«

»Ja, ich auch nichts. Aber ihre Herkunft ist doch wohl sattsam bekannt.«

Der Hofmarschall schüttelte leicht mit dem Kopfe.

[186] »Nicht? – Ich habe wenigstens geglaubt, sie sei aus einer bekannten alten schottischen Familie.«

»On dit,« erwiderte der Hofmarschall, nachdem er einige Augenblicke vor sich niedergesehen.

»Nun, dem mag sein, wie ihm wolle!« fuhr lebhaft Graf Fohrbach fort. »Jetzt führt sie einmal einen guten Namen, und ich setze wirklich den Fall, es sei etwas in ihrem früheren Leben nicht ganz korrekt, so hat sie das jetzt in ihrer freudlosen Ehe tausendmal abgebüßt. Nehmen Sie mir nicht übel, es ist keine Kleinigkeit, mit dem alten General auszukommen. Er hält sie wie seine Sklavin, aber nicht wie seine Frau.«

Die letzten Worte hatte der junge Mann etwas lauter gesprochen, weßhalb sich der Hofmarschall sorgfältig im Zimmer umschaute, ob sie sonst Niemand gehört. Dann, als scheine ihm dies Gesprächsthema für den Ort, wo sie sich befanden, zu gefährlich, änderte er es offenbar absichtlich, indem er einen tiefen Seufzer ausstieß und hierauf sagte: »Ich hatte geglaubt, Seine Majestät sei schon zurück; so muß ich mir denn selbst zu helfen suchen.«

»Soll ich Ihnen ein paar Einladungen vorschlagen?« fragte der Adjutant lächelnd, nachdem er seiner Excellenz bis zur Thüre des Vorsaals gefolgt war.

»Natürlich einige von euch jungen Leuten,« entgegnete der Hofmarschall mit emporgezogenen Augenbrauen.

»Nun, wenigstens welche, von denen man weiß, daß sie kommen, die in der Nähe zu finden sind.«

»Zum Beispiel?«

»Da ist Eduard v. B., unser bisheriger Assessor, der gestern Regierungsrath geworden ist; er könnte bei dieser Gelegenheit seinen zierlichen Dank anbringen. – Ich weiß, wo er ist.«

»Das kann ich ohne Befehl nicht thun.«

»Oder den Baron von Brand. – Ich bin gewiß, Sie finden die Beiden auf dem Cavalier-Casino bei einer Partie Piquet.«

[187] »Den Baron von Brand?« sagte die Excellenz und machte dazu ein Gesicht, als habe sie plötzlich auf ein Sandkorn gebissen. »Nein, nein, nehmen Sie mir nicht übel, das ist nicht meine Leidenschaft; es thut mir jedesmal leid – aber im tiefsten Vertrauen gesagt – wenn ich den Herrn auf unserem Silber speisen sehe. Ich meine immer, es komme ihm das ungewohnt vor.«

»Ah! Excellenz haben einen zu scharfen Witz!« erwiderte lachend der Adjutant. »Und jetzt fällt mir ein, daß ich taktlos war. Richtig, Sie mögen den Baron Brand nicht leiden.«

»Das leugne ich auch gar nicht, und ich behaupte – natürlich Freunden gegenüber – er gehört nicht an den Hof, nicht einmal in die Gesellschaft.«

»Da thun Sie ihm wahrhaftig Unrecht; der Baron ist ein vollkommener Cavalier und benimmt sich gewiß als solcher.«

»Aeußerlich! äußerlich!« entgegnete der Andere mit einigermaßen gereiztem Tone. »Sie werden das auch noch erfahren.«

»Aber er geht mit den anständigsten Leuten um! Sie können zum Beispiel nicht leugnen, daß er mit dem Herrn Herzog sehr liirt ist.«

»Leider! leider! Ich wollte, dem wäre nicht so, denn was der Eine nicht weiß, das lernt er vom Andern. Unter uns gesagt, ist Seine Durchlaucht seit seiner genauen Bekanntschaft mit dem Herrn Baron nicht solider geworden, das können Sie mir glauben.«

»Meinen Sie wirklich?« fragte der Graf mit dem größten Interesse, das er aber zu verbergen suchte. – »Sind da Geschichten vorgefallen? – O Euer Excellenz weiß doch Alles!« Diese letzteren Worte rief er im Tone der größten Verwunderung.

»Saubere Geschichten,« erwiderte wichtig der Hofmarschall; »Sie erinnern sich doch noch des Refus, den der Herzog erhielt, als es ihm neulich plötzlich einfiel, zum Militär überzugehen und als Offizier in das Gardedragoner-Regiment einzutreten?«

»Gewiß – ganz genau; ich hatte damals zufällig den Dienst. [188] Doch glaube ich, fand man ihn höheren Orts nicht stark genug zum Kavalleriedienst.«

»Ah bah!« machte der Hofmarschall und sah den Anderen mit einem eigenthümlichen Blick von der Seite an. – »Geschichten, lieber Freund! – Geschichten, die einigen Eklat gemacht. – Was weiß ich, oder was will ich davon! Es war da begreiflicher Weise ein junges Weibchen im Spiel, aber von einer anständigen Bürger-Familie; die Sache muß einen sehr unangenehmen Haken gehabt haben, und man fürchtete wohl nicht mit Unrecht, irgend einer der alten Offiziere des Regiments, die überhaupt diesen Einschiebungen sehr unhold sind, möchte dadurch Veranlassung finden, diese fatale Angelegenheit zur Sprache zu bringen. Verstehen Sie mich?«

»Wie kann man denn überhaupt Euer Excellenz mißverstehen!« sagte Graf Fohrbach mit einer tiefen Verbeugung. »Ja, wenn die Geschichten nicht wären!«

»Meinetwegen mögen sie außerhalb des Schlosses treiben, was sie wollen,« sprach würdevoll der Hofmarschall; »aber so lange ich den Stab führe, soll mir der Burgfriede gehalten werden in jeder Richtung. Diese jungen Herren denken aber nicht anders, als Alles, was Schönes und Reizendes bei Hof erscheint, sei nur zu ihrem Vergnügen da. Aber das kann ich Sie versichern, Graf Fohrbach: ich bin auch da. Ordnung muß sein, sogar in diesen Dingen bei Hof, und es gibt eine Stelle, wo ich als Obersthofmeister Seiner Majestät ebenso kitzlich bin, wie der hochselige König von Spanien. – Es heißt doch kitzlich?«

»Sterblich bin,« verbesserte der Adjutant.

»Nun ja, sterblich bin. Und sehr sterblich bin; das kann ich all' diesen jungen Herren versichern. Man weiß es aber auch.«

»Ja, man weiß es!« rief der Adjutant, indem er eine tiefe Rührung affektirte. »Und es ist ein wahres Glück, daß mit solchen Grundsätzen, wie sie Euer Excellenz aussprechen, die Verwaltung des Hofes geleitet wird.«

[189] Er war innerlich hoch entzückt darüber, daß er an dem Hofmarschall gegen den Herzog einen so guten und wichtigen Bundesgenossen erhalten. Der Excellenz blieb selten etwas verborgen von dem, was im Schlosse vorging, und wenn er also gegen die angedeuteten Geschichten sei, so arbeite er nur für sein, des Grafen Interesse. In der Freude seines Herzens schüttelte er die beiden, ihm abermals dargereichten Finger des Anderen mit außerordentlicher Feierlichkeit, und konnte sich nicht enthalten, dem Hofmarschall bezüglich der Einladungen nachzurufen:

»Wissen Euer Excellenz wohl, womit Sie Seiner Majestät heute bei der Neujahrstafel ein ungemeines Vergnügen bereiten könnten? – Laden Sie doch den Herrn von Dankwart ein, der refusirt nicht, darauf können Sie sich verlassen.«

»Oh! oh!« machte der Hofmarschall, »das könnte allenfalls am jüngsten Hoftage geschehen, wenn es sich darum handelte, mir eine ewige allerhöchste Ungnade zuzuziehen.«

Der Adjutant wollte lachend in sein Zimmer zurücktreten, als er durch die geöffnete Thüre des Vorsaales bemerkte, daß auf dem Gange sein Jäger stehe und augenscheinlich nur auf das Weggehen des Hofmarschalls warte, um sich bei ihm melden zu lassen. Er winkte ihm hereinzukommen, und fragte ihn dann, ob zu Hause etwas vorgefallen sei.

Franz zog einen Brief aus der Tasche und überreichte ihn seinem Herrn, wobei er sagte, er sei vom Kammerdiener geschickt worden.

Nachdem Graf Fohrbach das Couvert abgerissen hatte, fand er einen Zettel, in welchem ein zweiter kleinerer Brief lag und auf diesem Zettel von der Hand seines Kammerdieners die Worte: »Soeben wurde inliegender Brief für den Herrn Grafen gebracht und als sehr eilig bezeichnet. Ich erlaube mir deßhalb, ihn hiermit durch den Jäger zu übergeben; Franz soll warten, bis ihn Euer Erlaucht gelesen und Ihre weiteren Befehle gegeben haben.«

[190] Graf Fohrbach trat an das Fenster und betrachtete sich das Aeußere des Schreibens, das er hin- und herwandte. Die Aufschrift, offenbar eine Frauenzimmerhand, war ihm gänzlich unbekannt, ebenso das Siegel des Briefs, zeugend von einem plumpen Petschaft, ein großes E und B in grobes Siegellack ausgedrückt. – »Was brauche ich da lange zu überlegen?« sprach er zu sich selber; »der Brief ist an mich; sehen wir nach, von wem er ist, und was er enthält.«

Er setzte sich in einen Stuhl, doch ehe er das Schreiben öffnete, warf er abermals einen Blick nach dem bewußten Fenster empor. Aber es ließ sich dort jetzt eben so wenig sehen wie früher. Er entfaltete seufzend den Brief und betrachtete die Unterschrift. – »Emilie Becker. – Was ist das? – Ah Teufel! ich erinnere mich.«

»Ew. Erlaucht!« lautete der Brief. »So große Mühe es mich auch gemacht hat, so ist das Geschäft, mit dem Sie die Gnade hatten, Ihre gehorsamste Dienerin zu beehren, um nach vieler Schwierigkeiten von Seite mir und außerordentliche Ausdauer glücklich zu Stande gebracht. Es hat mich übermäßig viele Zeit und Auslagen gekostet, doch davon sage ich nichts, nur von das Glück, das es mich gelungen, Ew. Erlaucht wahrscheinlich zufrieden gestellt habe sowie auch ihren hohen Freund.

Da am heute Abend das Ballet im Achte aus ist, dagegen das Theater bis Zehne spielen wird, so ist von Seitens der Eltern gar keine Besorgniß zu erfahren, wo sie denn so lange bleiben könnte, bitte auch Ew. Erlaucht deßhalb, an der Ecke von die Prinzenstraße einen Wagen hinbesorgen zu wollen, aber genau im Achte, bitte auch gnädigst selbst zu wollen oder eine vertrauliche Person zu schicken, damit sie sich nicht erschrickt.

Auch halte ich mir bestens empfohlen und bitte ihrem hohen Freund zu sagen, wie viel Mühe ich mir gegeben habe


als

ihre ganz ergebenste Dienerin

Emilie Becker.«


[191] Der Adjutant ließ den Brief auf den Tisch niederfallen und fuhr sich mit der Hand über die Augen, worauf er in tiefes Nachdenken versank.

»Wie schnell sich die Zeiten ändern!« sagte er mit einem Blicke auf das bewußte Fenster. »Ja, ich hatte einmal diese Grille und hätte viel daran gesetzt. – Aber jetzt – nie! nie! Gott soll mich bewahren!« – Gleichsam als wollte er seine guten Vorsätze bestärken, öffnete er die Scheibe neben sich, ließ den kalten Luftstrom über sein Gesicht wehen und schaute alsdann wieder aufwärts zu den Blumen. – »Wie man sich ändern kann!« – fuhr er nach einer Pause in sich hinein lächelnd fort. – »Wie uns das Bild eines wirklich geliebten Mädchens so ganz auszufüllen vermag! – O meine Eugenie! – Schon diese beiden Gedanken zu gleicher Zeit ist eine Entweihung; aber gewiß, ich fühle es, du bist vom Himmel dazu bestimmt, ganz mein zu sein, mir ein freudenvolles Leben zu bereiten. – Weg mit allen Anderen! – Es ist aber so wahr: man soll sich vom Teufel nicht bei einem Haar fassen lassen; jetzt habe ich diese Geschichte entrirt und kann sie doch unmöglich so mir nichts dir nichts fallen lassen. – So ein armes Mädchen! – Wenn auch – aber doch einiger Theilnahme werth, denn sie ist jung, schön und reizend. Hat ihr auch viele Mühe gemacht, wie die Person hier schreibt. – Nun, das kann auch eine Spekulation auf meine Kasse sein.« – Er überlas den Brief nochmals. – »Aber was soll denn das hier heißen,« fuhr er nach einer Pause in seinem Selbstgespräch fort, daß sie da von einem hohen Freunde spricht? – Habe keine Idee, was sie damit meint.

Währenddem stand der Jäger hoch aufgerichtet an der Thüre des Zimmers und schien unausgesetzt das lebensgroße Bild Seiner Majestät zu betrachten, welches ihm gegenüber hing. Doch wenn man ihn schärfer beobachtet hätte, so würde man wohl bemerkt haben, daß er die blitzenden Augen von Zeit zu Zeit auf seinen [192] Herrn richtete, und dann auf das abgerissene Couvert schaute, das unbeachtet auf dem Boden lag.

»Wann, sagst du, daß dieser Brief gekommen sei?« fragte nun der Graf den Jäger.

»Vor einer kleinen halben Stunde, Erlaucht. Der Kammerdiener nahm ihn selbst in Empfang, siegelte ihn ein und ich eilte augenblicklich damit hierher.«

Graf Fohrbach hatte das Billet leicht in die linke Hand genommen und schlug damit auf die rechte, während er nachdenkend bald an die Zimmerdecke schaute, bald vor sich auf den Fußboden. – »Wenn es eine ganz gewöhnliche Geschichte wäre,« dachte er, »so würde man einfach weder hingehen, noch Jemand hinschicken. Selbst hinzugehen ist mir auf alle Fälle unmöglich; wahrhaftig, es widerstrebt mir, mich in solche Geschichten zu mischen. – Und wen soll ich hinschicken? – Einen Bedienten; vielleicht meinen Jäger dort, der mir nicht auf den Kopf gefallen zu sein scheint. – Nein, nein, das wäre undelikat. – Einen Bekannten also? – Aber wen finde ich gleich? Alle Welt macht jetzt Vorbereitungen zum Diner. – Wenn ich es bei der Hoftafel Jemand sagte! Ich habe so Manchem ähnliche Gefälligkeiten erwiesen; ich würde schon Jemand finden, der vielleicht meine ganze Rolle übernimmt. – Ah! es ist doch bei Gott ein leichtfertiges Geschlecht, diese Mädchen! Die da« – er schlug in diesem Augenblick mit der Hand auf das Papier – »galt als ein Ausbund von Tugend; und was vermochte hier nicht eine Handvoll Goldstücke! – Aber man sagte mir später, sie unterstütze einen alten Vater und kleine Geschwister; das habe ich damals nicht bedacht, und es fällt mir jetzt schwer auf's Herz. Ah! um so besser, daß die Sache so gekommen ist, denn es wäre doch am Ende ein schändlicher Kauf gewesen, den ich da gemacht. – Aber die Summe soll sie haben, – voll, voll! – Ich danke dem Himmel, daß ich jetzt so denke.« [193] – Er warf noch einen Blick zum Fenster hinaus nach der uns bekannten Richtung, dann erhob er sich und schritt langsam durch das Zimmer auf seinen Diener zu. Halb Weges blieb er aber wieder stehen, indem er zu sich selber sagte: »Ja, ich werde doch Jemand finden, der für mich hingeht. – Wenn ich nur wüßte, wen sie mit dem hohen Freunde gemeint hat! – Halt! da fällt mir was ein! – Richtig! Arthur versprach mir, den Brief auf die Post zu werfen oder selbst zu besorgen er wird das Letztere gethan haben. Vornehm genug sieht er aus – ja, es muß so sein: die Alte hat eine neue saubere Kundschaft gewittert. – Aber warum auch nicht? – Ja wahrhaftig, das wäre der beste Mensch, der für mich dort hingehen könnte. Und er thut's, ich habe ihm auch schon Gefälligkeiten genug erzeigt, und am Ende sieht er das eher für eine Annehmlichkeit an, als für eine Arbeit.«

Damit drehte sich der Graf rasch wieder um, ging zu dem Tische zurück, wo Schreibmaterialien lagen, steckte den Brief, den er soeben erhalten, in ein kleines Couvert, siegelte es zu und überschrieb es an Arthur. – »Diesen Brief,« sagte er alsdann zu seinem Jäger, »wirst du augenblicklich besorgen. Du kennst die Adresse? – Geh' sogleich in das Haus dieses Herrn, wenn er nicht da ist, frage, wo er sein könne und suche ihn mir auf. Es ist mir viel daran gelegen, daß er diesen Brief erhält. – Verstehst du?« Franz nickte mit dem Kopfe.

»Im Falle du ihn also findest, und ihm den Brief selbst in die Hand gibst – was unbedingt geschehen muß, denn auf Zwischenträgereien darfst du dich gar nicht einlassen – so wirst du fragen, ob du mir Ja oder Nein sagen sollst. Heißt es Ja, so kannst du ruhig nach Hause gehen, und die Sache ist für dich abgemacht; heißt es aber Nein, so läßt du den Brief wieder einsiegeln, stellst dich damit an den großen Saal, wo heute die Tafel ist, und läßt mir durch einen Lakaien sagen, du seiest da. – Hast du mich wohl verstanden?«

[194] »Vollkommen, Erlaucht: mit Ja ist Alles besorgt, mit Nein komme ich, mir neue Anweisungen zu holen.«

»Sehr gut,« sagte lächelnd der Graf; »ich sehe, Franz, du bist zu gebrauchen.«

»Wenn Euer Erlaucht das wirklich glauben,« erwiderte der Jäger mit einem seltsam leuchtenden Blick, »so soll mich das in der That glücklich machen. Aber dann bitte ich Euer Erlaucht, mir die Freiheit zu entschuldigen, wenn ich Sie auf das abgerissene Briefcouvert am Boden aufmerksam mache, welches man vielleicht völlig zerreißen oder wegwerfen könnte.«

»Da hast du Recht,« versetzte Graf Fohrbach; »man braucht dergleichen hier nicht zu finden. Du bist umsichtig, Franz, das gefällt mir. Ich hoffe, wir werden zusammen auskommen.«

»Das ist mein sehnlichster Wunsch, Erlaucht,« erwiderte der Jäger mit einer tiefen, etwas unsicheren Stimme, und es zuckte seine Hand, als wolle er die seines Herrn ergreifen, um sie zu küssen.

Doch blieb es bei diesem Gedanken, denn der Adjutant machte eine halbe Wendung gegen das Kamin, wo die Uhr stand, legte die Hand leicht auf den Säbelgriff und sagte: »Halb Sechs – es ist Zeit. Johann wird wohl mit meinem Anzüge draußen sein.«

»Zu befehlen, Euer Erlaucht, er kam mit mir.«

»Nun gut, ich gehe, mich umzukleiden. Besorge du jetzt deinen Auftrag, und nimm dir einen Wagen, damit du keine Zeit verlierst.«

Der Graf schritt gegen die Thüre zu, welche der Jäger ehrerbietigst öffnete, und dann verschwanden Beide aus dem königlichen Vorzimmer.

56. Kapitel
[195] Sechsundfünfzigstes Kapitel.
Vor, während und nach dem Hofdiner.

Das große Hofdiner am heutigen Neujahrstage ging, wie alle dergleichen Festlichkeiten, feierlich und sehr langweilig vor sich. Es war in den Sälen eine außerordentliche Pracht zu sehen an reich gestickten Uniformen, an Sternen, Ordensbändern, an rauschenden Seide- und Sammetroben, an goldgestickten Stoffen aller Art, an Brillanten und sonstigem glänzendem Schmucke.

Ehe die Tafel anfing, stand Alles nach Rang und Stand neben einander an den Wänden aufgestellt, und Alles blickte auf die höchsten und allerhöchsten Herrschaften, die soeben zur gegenüber liegenden Thüre hereingetreten waren und mit freundlichem Kopfnicken die tiefen Knixe und feierlichen Verbeugungen entgegen genommen hatten.

Hierauf hielten die Majestäten ihre kleinen Cercle, was aus der Hofsprache für dich, geliebter Leser, in ganz gewöhnliches Deutsch übersetzt, so viel sagen will, als sie gingen bei den Umherstehenden vorbei, sprachen mit den Begünstigten einige gnädige Worte, nickten den minder Glücklichen huldreich zu, sahen Andere wenigstens mit einem freundlichen Blicke an und ließen die Unbedeutenden oder gerade nicht in der Gnade Stehenden so vollkommen links liegen, als ob diese gar nicht in der Welt existirten.

Es ist in solchen Augenblicken sehr amusant, anzuschauen, wie [196] sich die Physiognomien verändern, sobald eine der allerhöchsten Herrschaften langsam vorschreitet. Es ist das gerade, als wenn der Mond aufsteigt und so nach und nach mit seinem sanften Lichte hier eine frische Wiese, eine freundlich murmelnde Quelle, eine alte Ruine, dort eine finstere Schlucht, eine kahle Felspartie und viele steife, langweilige Tannenwälder bestrahlt und milde beleuchtet. Gerade wie diese Gegenstände klären sich auch hier die Gesichter auf; die Augen blicken starr nach dem aufsteigenden Gestirne, der Mund spitzt sich zierlich oder legt sich in wichtige Falten. Die frische Wiese kokettirt vielleicht mit ein paar hübschen Armen, indem sie zierlich den Fächer sinken läßt; die Quelle hört auf zu rauschen, sammelt ihre Wasser, um gleich darauf eine mächtige Redeschleuse aufziehen zu können. Die Ruine denkt vergangener Tage, wo auch sie in erster Linie stand und blickt sehnsüchtig nach dem Monde, der sich aber jetzt zufällig hinter einer Wolke verbirgt, ohne ihr einen süßen Blick geschenkt zu haben. Die finsteren Schluchten und kahlen Felspartieen – ach! und deren gibt es hier eine große Anzahl! – zucken die mageren Achseln, neigen spöttisch zusammen flüsternd ihre brillantenbedeckten Köpfe und versichern einander gegenseitig, daß es auf der Welt nichts Langweiligeres gäbe, als diese ewigen Cercles vor der Tafel. Ach! für sie sind diese wirklich langweilig; dort hinein dringt kein erleuchtender Strahl; diese düstern, erstorbenen Gegenden werden von keinem freundlichen Scheine mehr belebt. – Aber die Tannenwälder, sie stehen da in geschlossener Phalanx und trotzig, mit herausforderndem, wenn auch grämlichem Lächeln. Das sind starke Bäume mit spitzigen Nadeln, und wenn der Mond sie nicht besonders freundlich bescheint, so sagen sie, »er wird vergeßlich dieser gute Mond, wie wäre es ihm sonst möglich, uns zu übersehen, uns in unserer unergründlichen Langweiligkeit und Steifheit!« –

Hinter den höchsten Herrschaften, das heißt, sobald sie vorüber [197] gegangen sind, fällt Alles wieder in's frühere trostlose Dunkel zurück; man sieht da seltsame Blicke, verstecktes aber sehr bedeutungsvolles Achselzucken, und hört auch wohl ein spitziges Wort, und, geneigter Leser, die gewissen Husten – von denen dir zu erzählen wir schon die Ehre hatten – hier aber so mannigfaltig und bedeutungsvoll, daß man Bände darüber anfüllen könnte.

Aber wie gesagt: der lichte Glanz ist nun vorbei gezogen, verschwunden gerade wie beim Schattenspiele an der Wand der runde glänzende Kreis, nachdem die Gläser weggezogen und die Lampe ausgelöscht ist. Nur hie und da strahlt noch ein erhelltes Gesicht aus dem allgemeinen Grau hervor; das gehört vielleicht einem jungen Ehrenfräulein oder einem neugebackenen Kammerherrn, die zum ersten Mal bei der Hoftafel erscheinen und die zum ersten Mal mit einem freundlichen Worte beglückt worden.

Graf Fohrbach hatte sich mit jüngeren Offizieren und anderen Herren vom Hofe bescheiden in eine Ecke zurückgezogen; sie standen hinter der Person des Hofmarschalls, der, den Hut unter dem Arm, den Stab in der Hand, in größter Wichtigkeit verharrte, mit einem Auge die Kammerdiener an der Thüre des Speisesaales, mit dem anderen die Majestäten betrachtete.

»Lieber Doktor,« sagte der dienstthuende Adjutant zu dem Generalstabsarzte, der wie immer das ganze Getreibe mit einem eigenthümlichen Grinsen betrachtete, »treten Sie ein bischen vor, neben den Hofmarschall; ich sehe, die Frau Herzogin brennt vor Begierde, Ihnen ein freundliches Wort zu sagen.«

»Ja, ja,« entgegnete dieser, »ihr hättet jetzt wohl wieder einmal Lust zu sehen, wie eine arme Fliege gegen das Licht hinschnurrt und sich die Flügel verbrennt. Seit ich Seine Durchlaucht nicht für tauglich zum Gardedragoner erklärte, bin ich für einen Theil der höchsten Herrschaften gar nicht mehr in der Welt.«

»Das wird Sie ungeheuer kränken?«

[198] »Ich kann es Ihnen gar nicht sagen, wie es mich betrübt,« erwiderte der Arzt in komischem Tone. »Habe ich doch dadurch einen wichtigen Theil meiner Praxis verloren. Denken Sie sich, Graf, die Kammerfrauen lassen mich des Nachts nicht mehr holen, wenn sie Abends zu stark soupirt haben.«

»Bssst!« machte der Hofmarschall leise, ohne übrigens Stellung und Miene im Geringsten zu verändern; denn er hatte Alles wohl verstanden und fürchtete die freche Zunge des Doktors und dessen schrille Stimme.

»Uebrigens soll es mich gar nicht wundern,« fuhr dieser fort, »wenn mir nicht heute auf's Eklatanteste gezeigt wird, welch' niederträchtiger Sünder ich eigentlich bin.«

Und der Doktor hatte diesmal wahrhaftig Recht, denn ein paar Sekunden darauf machte der Hofmarschall vor der Front eine scharfe Wendung nach links, begleitet von einer außerordentlich tiefen Verbeugung, welche Ihrer Hoheit, der ebengenannten Frau Herzogin galt, die rauschend und majestätisch wie ein prächtiges Gewitter einherzog, gegen den Kreis der jungen Leute, dort anhielt, um mit einem Major von der Kavallerie einige sehr freundliche Worte zu sprechen. Dabei aber wandte sie sich so dicht vor dem unglücklichen Leibarzte um, daß dieser kaum Zeit hatte, sich durch einen großen Schritt in die Ecke zu retten, sonst würde er unfehlbar mit Ihrer Hoheit zusammen gestoßen sein. – Und dann, welcher Eklat! Da hätte man deutlich wieder einmal gesehen, wie diese Leute von bürgerlicher Herkunft doch so entsetzlich ungeschickt sind und sich so gar nicht in den Hofcirkeln zu benehmen wissen.

Ihre Hoheiten sprachen fast mit Jedem der ganzen Gruppe, den Doktor natürlicherweise ausgenommen, der für sie, wie er vorhin vollkommen richtig bemerkt hatte, gar nicht mehr in der Welt war.

Endlich schritt Seine Majestät auf die Thüre des Speisesaales [199] zu; die Flügelthüren wurden geöffnet, der Hofmarschall schaute auffordernd rings im Kreise umher, und hinter ihm drein rauschte nun Alles in den anstoßenden Saal, um sich dort an der Tafel und zum Speisen niederzulassen.

Dies ging nun vor sich fast wie bei einem anderen Diner, nur daß am heutigen Tage die steifen Uniformskrägen und die fest zusammen geschnürten Taillen der Eingeladenen nicht erlaubten, viel zu sich zu nehmen. Doch – »die Ehre macht satt«, meinte der Doktor am unteren Ende der Tafel. Er saß neben dem dienstthuenden Adjutanten und nicht weit vom Hofmarschall, der aber nur mit hoch empor gezogenen Augenbrauen und sehr ernstem Gesichte zu ihm sprach.

Glücklicherweise ging Alles schnell vorüber; nachher wurde freilich noch ein kleiner Cercle gehalten, aber ungezwungener, freier als vor der Tafel.

Der Adjutant, dessen Dienst nun bald zu Ende ging, erkundigte sich an der Thüre des Saales, ob sein Jäger nicht zurückgekommen sei, worauf er sich, als ihm diese Frage verneint wurde, über den gegebenen Auftrag beruhigt, an eine Fensternische zurückzog, theils um auf den Kastellplatz sehen zu können, theils aber auch, um, selbst ungesehen, einige der Anwesenden zu beobachten.

Wir wissen wohl, wohin seine Blicke gingen, und nicht blos er allein, sondern die meisten der jungen Leute schauten nach jener prachtvollen Gestalt, der sich aber, da sie sich unmittelbar bei der Person Ihrer Majestät halten mußte, Niemand ohne höhere Aufforderung so recht nahen durfte; der arme Graf Fohrbach in seiner dienstlichen Stellung am allerwenigsten.

Eugenie verdunkelte den ganzen Kreis, in dem sie stand, sowohl durch die Schönheit ihres Kopfes und ihrer Gestalt, als durch die Einfachheit ihres Aeußeren. Sie trug ein weißes, anliegendes Kleid von matter Seide, fast ohne Schmuck; nur an dem [200] seinen Handgelenk hatte sie ein schwermassives Armband – ein Erbtheil ihrer Mutter. Ihr schwarzes Haar war glatt gescheitelt, die überaus dicken Flechten hatte sie einfach um den Kopf geschlungen, und es war das, wie die Obersthofmeisterin gegen die Hofmarschallin bemerkte, eigentlich keine Frisur zu nennen – »und kann auch nur der Fräulein von S. gestattet werden, weil sie einmal die Fräulein von S. ist, ein so schönes und in der That sehr liebenswürdiges Mädchen.«

Dieses Wort der alten Dame hörte Graf Fohrbach hinter seinem Vorhang und ebenso wie die Hofmarschallin antwortete:

»Es ist in der That ein einziges Geschöpf; man muß sie lieben, denn sie hat wahrhaftig keinen Fehler.«

»Ja, man muß sie lieben!« seufzte er in sich hinein. »Ah! wenn das sogar diese beiden alten Excellenzen von Eugenie sagen, welche Worte soll dann ich gebrauchen?«

Der junge Herr Herzog hatte allein das Recht, sich seiner Mutter und also auch dem Ehrenfräulein zu nähern. Und er machte von diesem Rechte, wie immer, so auch heute, einen solch' umfassenden Gebrauch, daß sich der arme Graf in der Fensternische fast die Lippen blutig biß und den Griff seines Säbels faßte, als habe er nicht übel Lust, diesen gegen einen sehr gefährlichen Feind zu ziehen.

Bis jetzt hatte der Herzog dort hinten bei der Gruppe, wie es schien, nur allgemeine Redensarten an die Damen, die um ihn standen, gerichtet; jetzt aber – »der Teufel soll ihn holen!« dachte der Adjutant – wußte er sich so geschickt zu drehen, und so schön zwischen den ehrerbietigst ausweichenden Hoffräuleins zu manövriren, daß er Eugenie von den Uebrigen trennte, und nun auf einmal abseits mit ihr stand. – »Verdammt! was hat er da zu sagen?«

Der Herzog that eine Frage – Eugenie von S. schlug leicht die Augen nieder und gab ihm eine kurze, doch wie es schien, [201] nicht unfreundliche Antwort. Darauf zuckte er die Achseln und machte ein betrübtes Gesicht, schien aber gleich darauf über etwas nachzudenken, in Folge dessen sich sein Gesicht aufklärte. Er that noch einen halben Schritt näher zu dem schönen Mädchen hin und flüsterte ihr etwas auf sehr verbindliche Weise zu. Sie machte eine leichte Verbeugung, vermittelst welcher sie aber um einen ganzen Schritt zurückwich. Der Herzog entfernte sich und der Graf athmete tief auf.

»Und doch ist die Sache nicht ohne allen Grund,« sprach er nach einer Pause ergrimmt zu sich selber. »Wenigstens von seiner Seite nicht. Teufel! da gilt es, aufzupassen! Wenn man sich nur wenigstens der Gruppe auch nähern dürfte! Aber Ihre Majestät und die Frau Herzogin scheinen wahrhaftig gerade auf diese Stelle des Saales wie verpicht zu sein. – Ah! jetzt machen sie ihre Komplimente! – Die Damen verneigen sich; Gott sei Dank! – Aber auch Eugenie muß folgen. Weiß Gott im Himmel, ich habe heute kein Glück; war es mir doch nicht möglich, auch nur eine einzige Silbe vor oder nach der Tafel an sie zu richten. – Doch halt! – sie bleibt an der Thüre stehen. Ah! wenn sie sich umschaut! – Vielleicht nach dem Herzog; doch wenn sie es thut, so werde ich es augenblicklich sehen.«

Der Herzog stand auf der andern Seite des Saales, und also war es in der That nicht zu verkennen, wohin sich ihre Blicke richten würden. –

Jetzt trat sie unter die Thüre, in der langen, glänzenden Reihe die Letzte und Schönste. – Ah! sie blieb wirklich einen Augenblick unter der Thüre stehen, sie wandte wirklich den schönen Kopf rückwärts und blickte nach der Seite hin, wo der Herzog stand, aber dieser Blick war flüchtig wie ein Blitz, und sie wandte ihn alsbald wieder fort und ließ ihn unverkennbar durch den ganzen Saal gleiten. Suchte sie etwas mit ihren [202] Augen? O, wenn sie ihn suchte! – Wie schlug sein Herz! Er konnte unmöglich ruhig in seinem Verstecke hinter dem Vorhange stehen bleiben, er mußte aus demselben heraustreten, und als er das rasch that, glitt ihm der Säbel aus der Hand und stieß klirrend auf den Parketboden. – Gott im Himmel! flog nicht in diesem Augenblicke ein leichtes Lächeln über ihre Züge? – O Glück! o Seligkeit! Neigte sie nicht leicht das Haupt gegen ihn, ehe sie durch die Thüre verschwand? – Er hätte darauf schwören können, daß sie es gethan. Doch dies Glück wäre zu groß gewesen; er durfte nicht leichtsinniger Weise daran glauben. – Aber etwas Anderes war nicht wegzustreiten, was in diesem Augenblicke geschah: Eugenie ließ nämlich, auf jeden Fall ganz absichtslos, ihr Battistsacktuch auf der Thürschwelle fallen, wobei es in der That komisch anzusehen war, wie im gleichen Moment sämmtliche noch anwesende Offiziere und Herren vom Hofe sich mit einer wahren Wuth darauf stürzten.

Wir brauchen wohl dem geneigten Leser nicht zu versichern, daß Graf Fohrbach eher sein Leben als das Taschentuch in andern Händen gelassen hätte; er hob es im gleichen Augenblicke auf, als der Herzog neben ihm ankam.

Dieser streckte die Hand gegen den Adjutanten aus, als wünschte er das Taschentuch ausgeliefert zu erhalten.

»Es gehört wohl nicht Euer Durchlaucht?« fragte Graf Fohrbach. – »Ich werde mir schon erlauben dürfen, es dem Fräulein nachzubringen.«

»Versteht sich von selbst!« entgegnete höhnisch lachend der Herzog, indem er einen Schritt zurücktrat. »Dem Sieger gehört der Dank, und den will ich Ihnen nicht streitig machen.«

Wäre der arme Graf nur Hofmann gewesen, so würde er das Tuch respektvollst dem Herzog zugestellt und sich mit dessen Erkenntlichkeit begnügt haben. – So aber war er verliebt und – eifersüchtig,[203] weßhalb er denn auch nur eine flüchtige Verbeugung machte und eilig durch die Zimmerreihe davon schoß.

Das Ehrenfräulein hatte schon mehrere Thüren hinter sich, und war gerade im Begriff, das Vestibül zu betreten, wo die Treppe zu ihren Apartements mündete, als sie vernahm, daß Jemand mit klirrenden Schritten ihr eiligen Laufes folge. Sie wandte den Kopf zurück, und als sie sah, daß es Graf Fohrbach sei, der ein weißes Tuch in der Hand hielt, schien sie erst ihren Verlust zu bemerken und machte ein paar Schritte gegen den glücklichen Finder.

Dieser, so nahe am Ziele, wo er den für ihn so köstlichen Fund wieder abgeben mußte, konnte sich nicht enthalten, ehe er das that, das seine Tuch sanft an seine Lippen zu drücken, worauf er eine Verneigung machte, die mit einer halben Kniebeugung sehr viel Ähnlichkeit hatte.

»Ah! ich danke Ihnen, Herr Graf!« sagte das schöne Mädchen, während sie das Tuch in Empfang nahm. »Ich habe meinen Verlust jetzt erst bemerkt, und freue mich in der That, daß gerade Sie der Finder sind.«

»Gewiß, ein glücklicher Zufall für mich, Fräulein Eugenie,« erwiderte er; »denn er verschafft mir das bis jetzt schmerzlich entbehrte Glück, mich Ihnen einen Augenblick nähern, Ihnen zwei Worte sagen zu dürfen.«

»Richtig, Sie sind im Dienst,« sprach sie lächelnd.

»Weßhalb es mir um so weniger erlaubt ist, mich unaufgefordert dem hohen Kreise zu nähern, wo Sie als Königin glänzen.«

»Ei, ei! Herr Graf!« antwortete sie mit einem Lächeln, das gleich darauf wieder verschwand, als sie rings um sich schaute; »solche Unwahrheiten darf man hier nicht hören.«

»Leider! leider!« versetzte er hastig. »Sie haben Recht, Eugenie; man muß sich hier in diesen Mauern mit seinen Worten [204] sehr in Acht nehmen; man darf nur denken. Und das erlauben auch Sie mir, gestrengste aller Damen?«

»Da müßte ich vor allen Dingen erst wissen, was Sie denken.«

»O, ich denke nur« – an Sie! wollte er leidenschaftlich ausrufen, doch schloß er diesen Satz anders, indem er sagte: »Ich dachte, ob Sie vielleicht vorhin im Saale meine ehrerbietige Begrüßung bemerkten?«

»Als Sie so plötzlich aus der Fensternische hervortraten?« –

»Also Sie haben mich bemerkt, mein Fräulein?« sprach er entzückt, denn er dachte, wenn sie mich gesehen, so galt mir auch jener leichte Gruß, – o Gott! vielleicht sogar die kleine Verwirrung, die ich auf ihrem schönen Gesichte bemerkt.

»Diese Fensternische ist ein artiger Winkel zum Beobachten,« antwortete sie, seiner Frage ausweichend.

»O, ich habe auch dort beobachtet!«

»Das müssen Sie mir ein andermal erzählen,« sagte sie mit einem liebenswürdigen Lächeln. – »Recht bald, vielleicht heute Abend noch. – Sie kommen doch zu S.?«

»Gewiß werde ich kommen, Fräulein Eugenie, gewiß! O ich freue mich wie ein Kind darauf! – Und Sie?« – Er betrachtete sie mit flammendem Blick und erwartete angstvoll ihre Antwort.

»Auch ich gehe gerne zu S.,« erwiderte das schöne Mädchen und schlug absichtslos die Augen nieder. Gewiß ohne weitere Absicht, als um ihr Bracelett zu betrachten, daß sie an ihrem runden weißen Arm ein klein wenig drehte. »Namentlich heute Abend gehe ich gerne hin, weil wir, wie ich höre, ganz unter uns sind.«

In diesem Augenblick vernahm man Tritte im Nebensaal, weßhalb Eugenie dem Grafen einen flüchtigen Gruß sagte, in das Vestibül hinaus trat und dort zwischen den Säulen verschwand.

Es war gut, daß sie ging, denn der entzückte und glückliche [205] junge Mann war nahe daran, vollkommen den Kopf zu verlieren und dem Ehrenfräulein Ihrer Majestät hier bei offener Thüre eine Liebeserklärung zu machen, wozu er auch in der That den Zeitpunkt nicht hätte schlechter wählen können. Denn kaum war Eugenie verschwunden, so kam der Herzog, gefolgt von einigen Offizieren, lachend und plaudernd daher.

»Aha! unser Ritter!« sagte er. – »Haben Sie Ihre Dame noch erreicht? – Gewiß, Sie haben, denn ich sehe das Siegespfand nicht mehr in Ihrer Hand!«

Der Adjutant war zu glücklich, um diese sonderbare Anrede in deren höhnischem Ton das Verletzende lag, gebührend zu erwidern. Auch war es ja ein Prinz des Hauses, der sich einen gnädigen Scherz mit ihm erlaubte, weßhalb er sich begnügte, Seiner Durchlaucht mit einer höflichen Verbeugung zu antworten: »Ich hatte in der That das Vergnügen, Fräulein von S. das verlorene Tuch zu übergeben.«

»Diese Adjutanten Seiner Majestät sind doch in Wahrheit bevorzugte Leute,« mischte sich ein Dragoner-Offizier in das Gespräch, augenscheinlich in der Absicht, um dem Herrn Herzog Stoff zur Fortsetzung eines so pikanten Gesprächs zu geben.

Wogegen Graf Fohrbach trotz seiner guten Stimmung durchaus nicht geneigt schien, einem Anderen auch nur die leiseste Idee eines Scherzes über sich zu erlauben, denn er sagte ziemlich ernst und mit festem Blick: »Dürfte ich wohl um eine kleine Erläuterung Ihrer nicht ganz klaren Aeußerung bitten, Herr von Werthen?«

»Nun das liegt doch auf der Hand,« nahm der Herzog das Wort. »Werthen meint, es sei doch eine recht angenehme Beschäftigung für einen Adjutanten Seiner Majestät, den Ehrenfräuleins die Schnupftücher nachzutragen.«

»Meint Herr von Werthen das wirklich?« fragte der Graf mit einer seltsam klingenden Stimme.

»Nein, nein, nicht so ganz!« antwortete der Dragoner-Offizier [206] mit einem verlegenen Lachen. »Seine Durchlaucht haben den Sinn meiner Worte nicht vollkommen richtig ausgelegt.«

»Ja, sehen Sie, Herr von Werthen,« sagte der Adjutant nun ebenfalls lachend, wobei jedoch seine Mundwinkel leicht zuckten, »das kann Einem schon widerfahren, wenn man sich unberufen in anderer Leute Gespräch mischt. – Würden Sie dann jetzt wohl selbst die Freundlichkeit haben, mir den Sinn Ihrer Worte zu erklären?«

»Ah! lassen Sie es gut sein, Werthen!« rief der Herzog. »Das sieht ja aus wie eine kleine Neckerei. Auch dürfen wir die Zeit des Herrn Grafen nicht so sehr in Anspruch nehmen: der Herr Graf sind ja im Dienst. Sie sehen – Schärpe und Cartouche.«

»Euer Durchlaucht verzeihen,« erwiderte ruhig der Graf, während er sich hoch aufrichtete und jedem Einzelnen, den Herzog nicht ausgenommen, fest in die Augen blickte, »mein Dienst ist nach der Tafel zu Ende und ich habe die vollkommenste Zeit für jeden dieser Herren.« – Die letzten Worte sprach er mit scharfer Betonung. Dann fuhr er mit einer gefälligen Handbewegung fort: »Ich bitte also, Herr von Werthen!«

»Nun ja, bester Graf Fohrbach,« entgegnete dieser, indem er sich, einigermaßer in Verwirrung gebracht, hin und her wandte und drehte; »ich wollte in der That nur so viel sagen, als es sei doch recht angenehm, – und es sei wirklich ein bevorzugter Dienst, der Einem zugleich gestatte, einer so hochverehrten jungen Dame, wie Fräulein Eugenie von S. ist, das Schnupftuch aufheben zu dürfen.«

»Ah so!« erwiderte nach einem tiefen Athemzuge lächelnd der Adjutant, dem der höhnische Blick des Herzogs, mit welchem ihn dieser fortwährend beschaute, das Blut gewaltsam nach dem Kopfe trieb, ohne ihn jedoch glücklicher Weise vergessen zu lassen, wen er vor sich habe und wo er sich befinde. – »Ah [207] so! also Sie betrachten das Schnupftuchaufheben nur als eine angenehme Nebenzugabe? Das kann ich mir schon gefallen lassen. Und daß das mit dem Dienst eigentlich nichts zu thun hat; – sonst wäre es ja sehr leicht, Adjutant Seiner Majestät zu werden, denn Schnupftücher aufheben können Viele, Herr von Werthen. Aber in die Umgebung Seiner Majestät werden nur Wenige gezogen. – Nein, nein!« setzte er lachend hinzu, indem er die Hand des einigermaßen erstaunten Offiziers ergriff und sie freundlich schüttelte, »ich hatte Sie mißverstanden, Herr von Werthen. Stellen Sie sich aber in meine Lage, oder nehmen Sie an, man sagte zu Ihnen: ein Schnupftuch graziös aufheben zu können sei genug, um zum Beispiel in das Gardedragoner-Regiment eintreten zu können; das würden Sie ja auch übel nehmen, mein lieber Herr von Werthen, da Sie doch fest überzeugt sind, daß auch noch andere Sachen dazu gehören, um Adjutant Seiner Majestät oder um Offizier in einem Gardedragoner-Regiment zu werden.«

Wir wollen gerade nicht behaupten, daß diese Aeußerung des Grafen vor den Umstehenden, namentlich vor dem Herzoge, sehr klug gewesen sei, und sie war vielleicht nur insofern verzeihlich, als er in Letzterem einen, wenn auch nicht gefährlichen, doch zudringlichen und kecken Nebenbuhler sah.

Seine Durchlaucht biß sich denn auch heftig auf die Lippen und erblaßte etwas Weniges, faßte sich aber im nächsten Moment wieder, und versuchte ein Lächeln, welches man aber als sehr mißlungen betrachten konnte. Besser gelang ihm eine ziemlich hochmüthige Verbeugung, als er im Weggehen sagte: »Nun sind Sie also Wohl ebenso zufrieden gestellt, Werthen, wie der Herr Graf Fohrbach? – Wenn dem so ist, so können wir für heute diese Unterredung ab brechen; ein andermal vielleicht findet sich eine bessere Gelegenheit, dieselbe fortzusetzen.«

Damit eilte er hinweg und seine Begleitung folgte ihm.

Der Adjutant blickte ihnen eine Weile nach, dann nahm er [208] seinen Säbel unter den Arm und ging durch die noch immer glänzend erleuchteten Zimmer zurück nach dem Speisesaal, während er vor sich hin murmelte: »Es thut auf die Länge der Zeit nicht gut, daß man diesem hohen Herrn in einigermaßen abhängiger Stellung wie ich heute hier im Schlosse zu begegnen gezwungen ist. Wäre er mir so an drittem Orte gekommen, ich hätte ihm einige passende Worte weiter gesagt, und bin überzeugt, Seine Majestät hätte mir das gar nicht übel genommen. – Doch denken wir nicht mehr daran! Mein Wagen wird unten auf mich warten; für heute gute Nacht, Herrendienst! Wenn ich dann in der Ecke meines Coupé's sitze, so bin ich wieder, Gott sei Dank! ein freier Mann. – Und dann wird Eugenie heute Abend hoffentlich das Gespräch mit mir fortsetzen, um auf meine Fragen von vorhin zu antworten. – Die Majorin ist eine kluge Frau, wer weiß, im Laufe dieses Abends werde ich vielleicht noch unsäglich glücklich werden.«

So dachte der dienstthuende Adjutant Seiner Majestät und schritt mit wahrhaft seligen Gefühlen im Herzen durch den Speisesaal, wo die Lakaien eifrigst beschäftigt waren, das Tafelgeräthe hinweg zu räumen.

Die Lampen an den großen Lustres waren schon ausgelöscht, und nur auf einem Nebentische, der mit Kristall und Silber bedeckt war, brannten noch die Kerzen in einigen Armleuchtern; die Thüren standen offen und die flackernden Lichter strahlten auf dem glänzenden Metall, und dem feingeschliffenen Service in einer Menge buntfarbiger Blitze und feuriger Punkte wieder.

Als der Graf vorüber ging, hustete einer der Lakaien bedeutungsvoll und sagte zu dem Tafeldecker: »Dort kommt Seine Erlaucht.«

Worauf dieser sich umwandte, dem Adjutanten ehrerbietigst sich näherte und ihm leise zuflüsterte: »Seine Excellenz, der Herr Hofmarschall, [209] haben schon einige Mal nach Euer Erlaucht gefragt und werden im Augenblick wieder hieher zurückkommen.«

»Was gibt's denn?« fragte Graf Fohrbach ärgerlich. »Was will man von mir? Es ist doch heute Abend hier nichts mehr zu thun, denn Seine Majestät sind wahrscheinlich in's Theater.«

»So ist es,« entgegnete händereibend der Tafeldecker.

»Nun denn?«

»Ihre Majestät und die Frau Herzogin befahlen eine Whistpartie.«

»Dabei habe ich doch nichts zu thun?« fragte er so erschrocken, daß der gewandte Hofbediente unwillkürlich lächeln mußte, und entgegnete:

»Ich glaube nicht, Euer Erlaucht, denn Seine Excellenz, der Herr Hofmarschall, sowie der Herr Herzog werden von der Partie sein. – Doch da kommt seine Excellenz.«

Wirklich erschien auch der Hofmarschall in diesem Augenblicke unter der Thüre des Speisesaals, blickte mit vorgehaltener Hand in diesen hinein, und als er den Offizier entdeckte, rief er vergnügt aus: »Ah! da sind Sie ja! Ich habe Sie lange gesucht.« – Bei diesen Worten nahm er ihn unter den Arm und zog ihn mit sich fort in den Korridor.

Dem Grafen, der den Hof genau kannte, ahnte nichts Gutes, denn er wußte wohl, daß Seine Excellenz nicht so ohne weitere Ursache nach ihm fragen würde. – Vielleicht ein Auftrag Seiner Majestät, dachte er sich selbst beruhigend, denn eine andere Idee, die ihn durchfuhr, wäre doch gar zu schrecklich gewesen.

Die beiden Herren machten einige Schritte in dem halbdunklen Gange, ehe die Excellenz etwas sprach, und ehe der junge Mann den Muth hatte, eine Frage zu stellen.

»Es ist mir in der That lieb, daß ich Sie gefunden habe,« sagte endlich der Hofmarschall sehr wichtig. »Sie wissen, ich protegire [210] Sie, wo ich kann, und habe das auch heute Abend gethan. Sie sind im Glücke, Graf Fohrbach; ich versichere Sie, Sie sind im Glück.«

»Daß ich noch nicht wüßte, Excellenz!« entgegnete der Andere mit beklommener Stimme. »Und ich wäre wahrhaftig begierig, das zu erfahren.«

»Sogleich – sogleich! – Ihre Majestät haben eine Partie Whist befohlen –«

»Das weiß ich,« unterbrach ihn hastig der Adjutant. – »Die Frau Herzogin, Sie und der Herzog.«

»So war es bestimmt,« versetzte lächelnd die Excellenz. »Doch hat sich der Herzog bei seiner Mutter entschuldigt.«

»Großer Gott!« dachte der Graf.

»Nun hätte man allerdings den Obersthofmeister Ihrer Majestät zur Partie nehmen müssen, – aber sehen Sie, Graf Fohrbach, wie sehr ich Ihr Freund bin: ich habe Sie vorgeschlagen.«

»Mich?« rief der unglückliche junge Mann mit fast tonloser Stimme.

»Sie,« wiederholte die Excellenz, indem sie stehen blieb und den Adjutanten vertraulich mit dem Finger auf die Brust stieß. »Sie, junger Mann! Lernen Sie mich schätzen.«

»Als meinen größten Feind,« dachte der Andere, »als meinen Verderber! – Gerechter Himmel! womit habe ich diese schreckliche Gnade verdient?«

»Jetzt kommen Sie aber,« fuhr der Hofmarschall eilig fort. »Es ist das keine Kleinigkeit, mein lieber Freund, zum intimen Spiel Ihrer Majestät gezogen zu werden. Ich bitte, das morgen Früh dem Papa zu sagen. Wissen Sie: manus manum lavat, sagt der Lateiner, und mein leichtsinniger Sprößling macht gerade sein Offizier-Examen.«

»Daß er durchfiele!« sprach der Adjutant grimmig zu sich [211] selber, indem er die Zähne fest übereinanderbiß. »Daß er durchfiele, zehntausend Klaster tief in den Erdboden hinein, und die ganze Whistpartie ihm nach! – Gott verzeih mir diesen schrecklichen Gedanken, aber das ist zu fürchterlich!« – »Und wie lange wird die Partie dauern?« fragte er nach einer längeren Pause ängstlich den Hofmarschall.

Dieser nahm den Hut fest unter den Arm und erwiderte: »Was weiß ich? Vielleicht bis Zehn, halb Elf, und dann haben wir ein ganz kleines, kleines Souper; es wäre auch möglich, daß Seine Majestät noch auf einen Augenblick kommt. – Nun, freuen Sie sich doch!«

»O ich freue mich über alle Maßen!« rief der tiefbetrübte Adjutant, dem allerlei schreckliche Gedanken im Kopfe umher liefen. – »Und wo ist denn der Herzog?« fragte er ängstlich nach einer Pause.

»Wo wird der sein!« entgegnete die Excellenz, »wichtige Geschäfte, irgend eine verliebte Zusammenkunft oder so was. Der denkt ja an nichts Anderes; macht vielleicht irgendwo eine Partie quarré. – Nun, unter uns gesagt, wäre mir das an seiner Stelle auch lieber, als mit Mama und Tante eine Partie Whist zu spielen. – Verstehen Sie: für ihn; aber für uns ist das etwas ganz Anderes. Wissen Sie, Graf, morgen wird Sie der ganze Hof beneiden. – Aber hier ist das Adjutantenzimmer; legen Sie Ihre Schärpe und Geschichten hinein und kommen gleich hinauf. – Keinen Dank weiter: ich habe das gern für Sie gethan.«

»O ich danke Ihnen herzlich!« seufzte der junge Mann, indem er die Hand des Andern ergriff und sie krampfhaft schüttelte. »Sie verschaffen mir einen wunderbar genußreichen Abend.« – Hol' Sie der Teufel!

Das Letztere dachte er blos, oder wünschte vielmehr, daß dies schon vor einer halben Stunde geschehen wäre.

[212] In dem Adjutantenzimmer brannte ein einsames Licht, das in den Ecken des weitläufigen Gemachs tiefe Schatten liegen ließ. Der Graf schritt ingrimmig auf und ab, wie ein gefangener Löwe in seinem Käfig; und gerade so war es ihm auch zu Muthe. – »Freiheit! Freiheit!« seufzte er. »Bin ich nicht gerade so, als hätten sie mir eine Kette an den Fuß geschlossen oder ein Gitter vor mir herabgelassen, und zeigten mir prächtige, entzückende Gegenden, die ich nicht zu erreichen vermag, weil ich hier eingesperrt bin wie ein wildes Thier oder wie ein elender Sklave! – Ja, Sklaverei ist das rechte Wort; und wenn die Ketten auch von Gold oder Silber sind, Ketten sind und bleiben sie doch einmal. – Und Sklaverei und Ketten in der schlimmsten Art! Darf ich denn wohl daran rütteln? – Darf ich wohl den Versuch machen, sie zu brechen? – Darf ich auch nur eine betrübte Miene zeigen, daß ich diese Fesseln wirklich für Fesseln halte? – Nein! nein! nein! und zehntausendmal nein! Ich muß ja lächeln unter diesem Hieb, den mir das harte Schicksal versetzt. – Ja, das ist ein grimmiger Hieb, und in meiner Lage habe ich wohl das Recht, vom harten Schicksal zu sprechen: dort ein geliebtes Mädchen, die – o Gott! ich mag nicht daran denken! – mit ihren schönen Augen vielleicht oftmals nach der Thüre blickt, durch welche ich nicht herein treten werde, dabei ein angefangenes, so süßes Gespräch im Herzen, das ich heute nicht fortsetzen kann. – Und die Frage, ob sie wirklich nach mir gesehen, ob sie mich gegrüßt! Heute hätte ich um eine Antwort in sie dringen können. – Ach! und es ist so süß, von der Geliebten eine Antwort zu erstehen, ihr eine Bejahung zu erschmeicheln. – Wenn ich aber morgen oder in einigen Tagen davon wieder anfangen will, so kann ich mich lächerlich machen. – Das Alles steht für mich auf dem Spiel. – Ah! und noch viel mehr! – Vielleicht das ganze Glück meines Lebens, denn wer weiß, ob ich sobald wieder eine ähnliche günstige Gelegenheit[213] finde, mich gegen sie aussprechen zu können. – Verdammt! – Nein, sage noch Jemand, irgend ein Mensch auf dieser Erde habe seinen freien Willen! Das ist eine Lüge, kein Mensch ist frei! Der Wille von Niemanden reicht über die nächste Minute hinaus, Jeder hat die Kette am Fuß, er fühlt sie nur zuweilen weniger, wenn nämlich das Schicksal nicht gerade Lust hat, dieselbe schärfer anzuziehen.« –

Unter diesen anmuthigen Betrachtungen war der Graf an das uns bekannte Fenster getreten, stützte sich mit der Hand auf die Stuhllehne und starrte in den kleinen Hof hinaus. Dieser war jetzt bei Nacht wo möglich noch trostloser als bei Tage; ein paar einsame Gaslaternen in den Ecken warfen einen zitternden und ungewissen Schein in einem kleinen Kreise um sich her, einen Schein, der sich ordentlich vor der Dunkelheit zu fürchten schien, denn dort draußen, wo er mit ihr in Berührung kam, zuckte er jeden Augenblick zaghaft zusammen, und wenn er sich auch zuweilen etwas weiter ausdehnte, so flog er doch gleich darauf wieder erschrocken zurück und räumte der finsteren Nacht das Feld. – Und diese finstere Nacht hatte sich so behaglich in dem Hofe niedergelassen: die hohen Mauern der angrenzenden Gebäude lagen fast ganz finster da; nur hie und da sah man ein schwach beleuchtetes Fenster, oder es schimmerte ein Lichtstrahl durch die Ritze irgend eines Ladens.

»Und ihre Fenster!« dachte traurig der junge Mann, indem er die Scheibe neben dem Tisch, an welchem er stand, öffnete und sich hinaus lehnte, um sie zu betrachten. Man sah gar nichts von ihnen: Alles war eine einzige schwarzgraue Fläche; – Alles, Alles war verschwunden, was er heute Nachmittag so liebend angeblickt; verschwunden die Blumen dort oben, verschwunden auch die goldene Fahne auf dem Dach mit ihrem kleinen Sonnenstrahl, der ihm entgegen geglänzt wie eine süße Hoffnung. – »Und der Herzog!« dachte er plötzlich und richtete sich hoch auf; »was mag er vorhaben, [214] daß er sich bei dem Spiel seiner Mutter entschuldigt? – Auf jeden Fall etwas Wichtiges, sonst hätte er es nicht gethan. – Bah! wer weiß, wo er herumschwärmt! – Nein, nein,« sprach er ängstlich nach einer Pause zu sich selbst, »das ist nicht möglich; das wäre ja schrecklich! – Aber er sagte Eugenie einige leise Worte, er fragte sie etwas – sie antwortete ihm, und dann sah er wie verklärt aus. – Ah, Teufel! – wenn da etwas dahinter steckte! Wenn sie absichtlich mit mir so freundlich gewesen wäre, um allen Verdacht zu entfernen! – Wenn man ein abgekartetes Spiel mit mir getrieben! – Wenn der Herzog statt meiner hinginge! – Aber nein, nein! der Major wird und kann so etwas nicht dulden. – Dulden!« wiederholte er darauf grimmig lachend; »dulde ich nicht auch? – Und ist er nicht eben so gut Sklave seiner Verhältnisse wie ich? – Ich werde hier zum Spiel kommandirt, ihm wird dort befohlen, den Herzog freundlich zu empfangen. – Wenn ich alles das wirklich glauben könnte,« sagte er nach einer Weile mit ruhigerem Tone, »so stände ich wahrhaftig nicht für einige Unannehmlichkeiten, die mir heute Abend bei der allerhöchsten Whistpartei geschehen dürften. – Deßhalb nein, nein! – nein! – aller Welt zum Trotz!«

Da hörte er die Stimme eines Lakaien, der unten im Hofe laut und deutlich rief: »Der Wagen des Herrn Herzogs!« – Darauf rollte eine Equipage mit dumpfem Tone unter das gewölbte Thor, der Schlag wurde geöffnet, der Tritt fiel herab; es mußte Jemand eingestiegen sein, – jetzt dasselbe Geräusch beim Schließen des Wagens. Worauf die Stimme von vorhin abermals rief: »Nach dem Hause des Herrn Major v. S.« –

Im gleichen Augenblicke öffnete einer der Kammerdiener die Thüre zum Adjutantenzimmer und sagte mit leisem angenehmem Flüstern: »Euer Erlaucht werden verzeihen – es schlagt soeben [215] acht Uhr; die allerhöchsten Herrschaften begeben sich in's Spielzimmer.«

57. Kapitel
Siebenundfünfzigstes Kapitel.
Die Spielmarken des Herzogs.

Man spielte in den Apartements der Frau Herzogin. Das waren zierliche, elegant eingerichtete Gemächer, nicht von den übergroßen Dimensionen derer Ihrer Majestät, und deßhalb für eine kleine Gesellschaft angenehmer und behaglicher.

Die Frau Herzogin liebte den Komfort und eine freundliche Umgebung. Deßhalb hatte sie aus ihren Zimmern die unvermeidlichen steifen Sopha's mit den dazu gehörigen zwölf Sesseln, ein gewöhnliches Ameublement der Schlösser, das an einer furchtbaren Familienähnlichkeit leidet, sowie die zopfigen Vasen, die allzu derben Tabourets und die Tische von Holz, Messing und Marmor entfernen lassen und dagegen ihre Einrichtung mehr dem heutigen Geschmacke angepaßt.

Der junge Herzog hatte viel dazu beigetragen, denn er liebte die dicken Teppiche, welche den Schritt so unhörbar machen, sowie die weichen Fauteuils und die tiefen Fensternischen mit Blumenpartien, Sitzgelegenheiten mit den dies Alles verdeckenden Vorhängen.

Dieses Apartement der Frau Herzogin, worin sie ihre kleinen Gesellschaften empfing, bestand aus drei Gemächern, das Vorzimmer natürlicherweise nicht mit eingerechnet.

Im ersten, mit grauseidener Tapete sowie Fenstervorhängen [216] und Portièren von Rosa mit Weiß, wurde geplaudert; man konnte nicht leicht in der ganzen Welt heimlichere, lauschigere Winkel finden als hier. Da war Alles benutzt: die Ecken und Winkel des Zimmers, die Fensternischen, große Epheuwände, um es der Gesellschaft möglich zu machen, sich in kleinen Partien zu zersplittern und frei von allen lästigen Fesseln zu Drei oder auch zu Zwei ein animirtes Gespräch führen zu können. Ueber diesen Gruppen von leise Plaudernden hing ein Kronleuchter, dessen Lampen durch kunstreiche Porzellanschirme bedeckt und das Licht so gedämpft wurde, daß, wenn man von einem vollkommen hellen Gemach hier herein trat, einem die Beleuchtung nicht anders erschien, wie das sanfte Licht des Vollmondes. Die Frau Herzogin litt zuweilen an den Augen, und dann liebte sie es, sich hier in dieses Halbdunkel zurückziehen zu können.

Das zweite Zimmer, in welchem gespielt wurde, war dagegen glänzend und strahlend. Seine Wände, mit gelber Seide bedeckt, warfen jeden Lichtstrahl hell zurück, die Vorhänge waren blau, und das Ameublement sehr einfach; das heißt, es bestand aus zwei Spieltischen, an denen je vier Sessel standen, einige Fauteuils daneben für die Zuschauer, und zwei Eckdivans, vor welchen sich runde Tische befanden.

Das dritte Zimmer endlich, das letzte der ganzen Reihe, welches heute Abend geöffnet war, hatte grüne Wände, dunkelbraune Vorhänge, und hier befanden sich große, reich incrustirte Tische, auf welchen die prachtvollsten Albums lagen. An einer Wand war eine riesenhafte Etagère von geschnitztem Palissanderholz in der angenehmen dunklen Farbe, fast ganz gleich mit der der Sammetvorhänge, welche man davor hinziehen konnte. Auf dieser Etagère lagen in den kostbarsten Einbänden die seltensten illustrirten Werke fast aller Nationen – die Bibliothek der Frau Herzogin.

[217] So sah dieses kleine Apartement aus, und wenn es, wie heute Abend, durch den hellen Schein der Kerzen und Lampen freundlich beleuchtet war, so angenehm und sanft durchwärmt, so durchduftet von Blumen und anderen Wohlgerüchen, wenn der Fuß des Eingetretenen so weich auf die dicken Teppiche trat, ja fast hinein sank, so mußte dieser sich gestehen, es sei das eine höchst behagliche, ja entzückende Wohnung; namentlich aber, wenn er dann zufällig an ein Fenster trat und den Vorhang aufhob, um in die dunkle Nacht hinaus zu blicken, in die Straßen, durch welche ein eisiger Wind fegte.

Es hatte eben acht Uhr geschlagen, als Graf Fohrbach, nachdem er drunten auf die Ermahnung des Kammerdieners hastig seine Schärpe abgeworfen, die Treppe hinauf eilte und in das graue Vorzimmer trat. Es waren, wie der Hofmarschall gesagt hatte, nur wenige Personen da: der Obersthofmeister, die Obersthofmeisterin, ein paar ältere Kammerherren, zwei Damen vom Dienst und einige pensionirte Excellenzen, deren Leidenschaft es war, dem Spiel Ihrer Majestät zuzuschauen und leise dafür oder dagegen zu wetten.

Der dienstthuende Adjutant kam in der That schon etwas spät, denn Ihre Majestät war bereits eingetreten und die Frau Herzogin hatte bereits die Anwesenden begrüßt und sich darauf zu ihrer Schwester in's Spielzimmer zurückgezogen, wohin sich denn auch Graf Fohrbach auf einen bedeutungsvollen Blick des Hofmarschalls augenblicklich begab, um mit einer sehr tiefen Verbeugung gehorsamst einen guten Abend zu sagen und um Entschuldigung zu bitten, daß er so spät komme.

Die Frau Herzogin geruhten aber gnädigst zu bemerken, der Graf habe heute den Dienst gehabt, und es habe ihn nur dieser einige wenige Augenblicke zurückgehalten. – »Denn,« fügte sie lächelnd bei, »Sie sind ja sonst ein wahres Muster von Pünktlichkeit.«

[218] Ihre Majestät begaben sich hierauf an den Spieltisch und bezeichneten den Hofmarschall als ihren Partner.

Graf Fohrbach spielte also mit der Frau Herzogin.

In dem Augenblicke, wo er sich auf seinen Stuhl niederlassen wollte, glitt der Kammerdiener Ihrer Hoheit wie ein Aal an seine Seite, that, als rücke er etwas an dem silbernen Leuchter des Spieltisches zurecht, und flüsterte mit einer tiefen Verbeugung und ganz ergebenst die Frage: »Seine Durchlaucht, der Herr Herzog, werden nicht spielen?«

Die Herzogin hatte aber diese Frage ebenfalls vernommen und versetzte, indem sie die Karten in die Hand nahm: »Mein Sohn wird wahrscheinlich erst zum Souper kommen; ich vergaß, Ihnen das zu sagen.«

Der Kammerdiener antwortete mit einer tiefen Verbeugung, wodurch er sich zu bedanken schien, daß er aus dem Munde der hohen Gebieterin selbst eine Auskunft erhalten. Dann aber schnellte er förmlich in die Höhe, hob seine lange bleiche Nase einige Zoll über das ihr gebührende Niveau, nahm eine sehr wichtige Miene an und spitzte zierlich seinen Mund.

Graf Fohrbach hatte sich unterdessen niedergelassen und war eben beschäftigt, die Spielmarken an seiner Seite auf einander zu schichten, als er mit Verwunderung die dünne weiße Hand des Kammerdieners bemerkte, der sich mit einem süßen Lächeln bemühte, eben diese Marken an sich zu nehmen. Er sah ihn fragend an, worauf derselbe mit ganz leiser Stimme entgegnete: »Es sind die Marken Seiner Durchlaucht; ich legte sie dahin, weil ich geglaubt, der Herr Herzog würden selbst spielen.«

»So lassen Sie sie auch jetzt ruhig liegen,« sagte lachend die Herzogin. »Ich weiß wohl, mein Sohn gibt sie jedesmal nach dem Spiele in Ihre Hand, aber ich denke, sie werden hier ganz gut aufgehoben sein.«

[219] Die dünnen Finger zuckten zurück, die Gestalt des Kammerdieners krümmte sich und er schlich rückwärts auf dem Teppich zurück und in das Nebenzimmer. Seine blassen Wangen aber hatten sich sanft geröthet, und sein Auge, scharf und glänzend wie das eines Falken, blickte gierig nach den goldenen Marken.

»Ist etwas Besonderes an ihnen,« fragte Ihre Majestät, »daß der Herzog sie sorgfältig aufbewahren läßt?«

»Es ist wahrscheinlich ein Cadeau,« entgegnete achselzuckend die Herzogin; »sie sind allerdings von einer netten Arbeit; das Ganze aber ist wohl nichts mehr und nichts weniger als eine von Alfreds Eigenheiten.«

»Lassen Sie doch sehen.«

Der Graf erhob sich schnell und brachte die vier Marken an die Seite Ihrer Majestät, welche sie in die Hand nahm und betrachtete. »Sie scheinen hohl zu sein,« sagte sie; »wahrscheinlich kann man sie öffnen; ich kenne dergleichen Spielereien. – Erinnerst du dich, Hedwig, Papa's Obersthofmeister hatte ebenfalls dergleichen Marken, er schrieb dann kleine Zettelchen, die er hinein steckte und den Damen zuschob. – Ein alter, wunderlicher Herr. Ich sah das häufig, that aber nicht, als ob ich es bemerkte. Die Marken waren gerade gemacht wie diese, alle vier schraubten sich auf, aber nur eine hatte einen doppelten Boden. Wenn man aber oben auf die Emaille drückte, welche die Kartenfarbe darstellt, so sprang eine andere Cuivette auf und darunter verbarg er seine kleinen Angelegenheiten.«

»Das hier gehört vielleicht dem gleichen Zwecke an,« meinte die Herzogin. »Gott! wer kann sich um dergleichen bekümmern! – Ist dir's gefällig, das Spiel anzufangen?«

Ihre Majestät nickten mit dem Kopfe.

»Coeur ist à tout,« sagte ganz ergebenst der Hofmarschall.

Geneigter Leser, du wirst gewiß schon sehr häufig in deinem [220] Leben Whist gespielt haben. Es ist das an sich ein harmloses Spiel, außerordentlich leicht und angenehm, wenn man es mit sehr gutmüthigen Leuten spielt, die es gerade so machen, wie du, das heißt, ihre dreizehn Karten eine nach der andern auf den Tisch werfen, die froh sind, wenn sie einen Trique machen, denen es auch nicht darauf ankommt, daß du soeben ihren Piquekönig gestochen, während du doch den Zweier, Dreier und Vierer von dieser schönen Farbe in der Hand behieltest, die es am Ende auch nicht besonders übel nehmen, wenn zum Schluß vielleicht eine Karte übrig bleibt, oder wenn du quatre d'honneur ansagst, während sie doch selbst Aß, König und Dame besaßen.

Nicht so angenehm ist dagegen dieses Spiel, wenn du es mit Leuten zu thun hast, die sich einbilden, darin große Meister zu sein, und die nicht sehr duldsamer und liebenswürdiger Natur sind, die gerne aufbrausen und in allen Dingen Recht haben wollen. Du kannst es machen, wie du es willst: du hast beständig gefehlt; befolgst du die Regeln des Spiels und es gefällt deinem Partner nicht, so zuckt er heftig die Achseln, rückt unmuthig auf seinem Stuhle hin und her, wirft dir einen zornigen Blick zu. Ist es eine Dame, so ergelbt sie auch wohl ganz gelinde, und man sagt zu dir in gereiztem Tone: »Lieber Gott! Man muß doch zuweilen Ausnahmen zu machen verstehen!« – Machst du nun das nächste Mal eine Ausnahme, so hättest du diesmal um Alles in der Welt bei der Regel bleiben sollen. – Spielst du Coeur, so lacht man dir krampfhaft in das Gesicht, denn Pique war ja die angezeigte Farbe; Pique hätte ein Kind begreifen können; um hier bei dieser Veranlassung nicht Pique zu spielen, muß man doch offenbar der schlechteste Spieler sein, der je eine Karte in die Hand genommen. Spielst du nun das nächste Mal bei der ganz gleichen Veranlassung ein unschuldiges Piqueblättchen aus und hast zufällig die richtige Farbe getroffen, weßhalb du deinen Partner triumphirend anblickst, [221] so erwidert derselbe doch diesen Blick mit wahrhaftem Entsetzen. Er wiegt den Kopf hin und her, als wollte er sagen: Bei dieser Ungeschicklichkeit kann man nichts thun, als sich in Geduld fassen. Und fragst du endlich: »War denn Pique diesesmal wieder nicht recht?« so lächelt man vielleicht mitleidig und entgegnet dir: »Mein bester Herr, Pique an sich wäre schon nicht ganz unrecht gewesen, aber wie können Sie um Gotteswillen den Zehner ausspielen, wenn Sie den Buben in der Hand haben? Das heißt ja muthwillig Alles auf's Spiel setzen! Ah! Das ist doch ein bischen zu stark!«

Wahrhaft peinlich ist es aber nun, Whist mit hohen Herrschaften zu spielen, wo du auf alle Fälle Unrecht hast, wo du keine Gegenrede wagen darfst, wo du beim Unglück, durch schlechte Karten herbeigeführt, dasselbe verschuldet, wo dich dagegen beim Glücke dein Partner oder Partnerin durch ihr glänzendes Spiel mit durchgerissen. Hier erhältst du natürlich selten oder nie einen lauten Vorwurf, aber dafür trifft dich ein sonderbar fragender Blick; ein leichter Husten ist dir außerordentlich verständlich; ein kaum bemerkbares Achselzucken oder ein gelinder Seufzer schmettert dich gänzlich zu Boden. – So ergeht es dem vortrefflichen Spieler, der mit aller Anstrengung seiner Verstandeskräfte bei der Sache ist und sich durch nichts zerstreuen läßt.

Welche Qualen dagegen ein Unglücklicher, ein Liebender, ein Eifersüchtiger am Spieltische der höchsten Herrschaften ausstehen muß, davon, geneigter Leser, bist du vielleicht glücklicherweise nicht im Stande, dir einen Begriff zu machen.

Und der arme Graf Fohrbach befand sich in diesem Falle; doch machte er übermenschliche Anstrengungen, sich vor den strengen Augen der Frau Herzogin keine Blöße zu geben, und das Glück, das ihm heute Abend in der Liebe manquirte, war ihm denn auch, gemäß dem Sprichwort, im Spiele günstig, und er bekam, wie [222] der Hofmarschall bei jedem Ausgeben seufzend versicherte, immense Karten. Die Frau Herzogin lächelte holdselig und freundlich, denn Ihre Majestät und Seine Excellenz waren groß Schlemm geworden und hatten einen sehr starken Rubber eingebüßt.

Und nicht allein die verlorene kleine liebenswürdige Soirée bei dem Major v. S. beschäftigte die Phantasie des unglücklichen Grafen, nicht nur der Herzog, der statt seiner dorthin gefahren, nein, auch die Marken Seiner Durchlaucht, die vor ihm auf dem Tische lagen, fesselten Seine Aufmerksamkeit, und er mußte sie immer und immer wieder nachdenkend betrachten, als verbärgen sie ihm irgend ein wichtiges Geheimniß. – Warum wollte sie der Kammerdiener so schleunig fortnehmen? – Sie waren hohl, wie Ihre Majestät meinten, und Ihre Majestät hatten ferner einer Geschichte gedacht, wo irgend ein seliger Obersthofmeister in ähnlichen Marken den Damen Billete zuzustecken gewußt.

Wie gesagt, der Rubber war zu Ende und Ihre Majestät schienen nicht darauf zu dringen, augenblicklich einen neuen zu beginnen, sie lehnten sich vielmehr in ihren Stuhl zurück und sprachen leise mit der Frau Herzogin.

Auf den Marken befanden sich, wie Ihre Majestät vorhin bemerkt, in Emaille die vier Kartenfarben. Der Graf spielte mit Treff, nahm die Marke leicht in die Hand, ließ sie, wie ganz absichtslos, unter dem Tische verschwinden, und drehte daran. – Ihre Majestät hatte Recht: die Marke öffnete sich und bot ein kleines Gehäuse dar, welches aber leer war und auch nichts Weiteres zeigte, als er auf die Emaille drückte. Ganz geschickt wußte er Treff, nachdem er wieder zugeschraubt hatte, auf den Tisch zu bringen und nahm dafür Caro. – Auch Caro war und blieb leer, ebenso Pique; – aber Coeur. – Scheu blickte er umher, um zu sehen, ob Niemand auf ihn achte. Doch die Herrschaften sprachen noch [223] immer leise zusammen, und der Hofmarschall hatte die Rechnung über den verlorenen Rubber in der Hand und überlegte, wie viele Dukaten ihn das Spiel heute Abend kosten würde. – Richtig! – Coeur war nicht leer; bei einem Drucke auf die Emaille sprang die Cuivette auf, und unter derselben lag ein kleines, zusammen gefaltetes Papier. – War es Unrecht, dies an sich zu nehmen? – Es zu behalten – gewiß! – aber nicht, es nur zu lesen und dann wieder hinein zu legen. – Mit diesen Gedanken beschwichtigte der junge Mann sein Gewissen. – »Es das eine Kriegslist,« sprach er zu sich selber, »ich recognoscire nur feindliches Terrain; denn der Herzog ist in diesem Punkte mein Feind, und ich fürchte, wir werden einen erbitterten Krieg mit einander führen. – Nein, nein! – Da gilt keine Schonung. – Wer weiß, ob er selbst mich nicht statt seiner hierher gebracht hat!«

Unter diesen Gedanken hatte er auch schon die Marke geleert, sie wieder zugeschraubt und auf den Tisch gestellt.

Wie aber nun das Papier lesen? – Und das mußte schnell geschehen, denn sobald Ihre Majestät zufällig das Spiel aufhob, so hatte er nicht mehr Zeit, den Zettel in die Marke zu stecken, und der schlaue Kammerdiener mußte augenblicklich den Verlust desselben entdecken.

Glücklicherweise half ihm der Hofmarschall über diese Klippe hinweg, indem er ihm die Whistrechnung sowie den Bleistift darreichte und ihm sagte: »Sehen Sie doch 'mal nach, Graf Fohrbach, da muß irgendwo ein Fehler stecken, Plus und Minus stimmt mir nicht überein.«

»Lassen Sie sehen,« versetzte der Graf entzückt, während er das Papier ergriff, seinen Zettel, den er in der hohlen Hand verbarg, geschickt darauf legte und statt sich um die Zahlen zu bekümmern, die Worte las:

[224] »Bericht – wie gewöhnlich um elf Uhr. Vierte Thüre neben der blauen Gallerie,« – welche er sich fest in's Gedächtniß einprägte.

»Nicht wahr, es ist ein Fehler darin?« fragte die Excellenz. »Sehen Sie, hier plus zwanzig und dortminus fünfzehn.«

»Lassen Sie mich rechnen,« erwiderte der Adjutant, der jetzt erst das andere Papier betrachtete. – »Ach ja! hier steckt der Irrthum; die fünf Points minus gehören dorthin. Sehen Sie, so gleicht sich die Rechnung völlig aus.«

»Ja, Sie haben Recht,« sagte die Excellenz, »es macht freilich fünf Points mehr Verlust für mich, aber man muß auch in kleinen Dingen ehrlich sein.«

Es war ein Glück, daß es dem Grafen so schnell gelungen war, das Papier ohne Aufsehen zu lesen und ebenso in die Marke zurückzustecken, denn Ihre Majestät schienen jetzt schon alle Lust am Spiele verloren zu haben, ließen Ihre Schulden durch Ihren Kammerherrn berichtigen und erhoben sich darauf mit der Frau Herzogin vom Tische.

Der Hofmarschall und der Adjutant machten eine tiefe Verbeugung; Ersterer ging in das Bibliothekzimmer, der Andere schritt langsam nach dem grauen Kabinete, doch blieb er unter der Thüre desselben hinter dem Vorhange einen Augenblick stehen.

Kaum waren die Herrschaften vom Spieltische aufgestanden, so erschien alsbald der Kammerdiener und packte die vier Marken seines Herrn zusammen, warf einen schnellen Blick auf jede einzelne, dann einen andern durch das Zimmer, um sich zu überzeugen, ob Niemand die Hast bemerkt habe, mit welcher er die Marken in Sicherheit gebracht.

Doch hatte ihn der Graf wohl beobachtet, und nachdem dieser das Zimmer verlassen und nothgedrungen mit einigen Herren und [225] Damen, die ihm gerade in den Weg traten, ein paar gleichgiltige Worte gewechselt hatte, zog er sich hinter eine große Epheuwand zurück und ließ sich dort auf ein Sopha nieder.

»Vor allen Dingen muß ich mir klar machen,« dachte er, »für wen der Zettel bestimmt ist. – Ohne Zweifel für den Herzog. – Aber warum alsdann diese Heimlichkeiten mit den Marken? Hätte ihm der Kammerdiener nicht ebenso gut dieses Papier in die Hand geben können? – Halt! da gibt's was zu überlegen. Dieser Zettel kam vielleicht während der Tafel und wurde an den bewußten Ort gelegt, damit ihn Seine Durchlaucht ohne Aufsehen an sich nehmen könne. – Der Herzog will es wahrscheinlich vermeiden, daß man ihn geheimnißvolle Worte mit dem Kammerdiener seiner Mutter wechseln sieht. – Oder – nein, nein! – So muß es sein! – Der Kammerdiener selbst ist nicht eingeweiht, wie man diese Marken öffnet, er weiß nur, daß sie für den Herzog kostbar sind, deßhalb wollte er sie zu sich nehmen. – Ein Anderer aber, ja ein Anderer, der nicht in diesen Kreis kommt, kennt das Geheimniß der Marke und legte den Zettel hinein, um Seine Durchlaucht zu benachrichtigen. – – Bericht wie gewöhnlich,« murmelte er vor sich hin, »um elf Uhr. – Das ist sehr unbestimmt, wird aber um elf Uhr heute Abend heißen sollen, denn sonst hätte jener Andere ja Zeit gehabt, dem Herzog zu schreiben. – Die vierte Thüre neben der blauen Gallerie. – Das klingt schon begreiflicher: die blaue Gallerie kenne ich sehr genau, und die vierte Thüre wird nicht schwer zu finden sein. – Aber was an dieser vierten Thüre thun? – Soll der, welcher hinkommt, einen Bericht erhalten oder einen geben? – Das Letztere wäre für mich sehr unangenehm. – Bah! wie kann ich da zweifeln? Man kann einen Herzog nicht nur so zum Bericht auffordern. – Nein, nein! man will ihm irgend etwas Interessantes anvertrauen. – Und da das Ganze auf hundert Meilen nach einer Liebesgeschichte riecht, und da Seine Durchlaucht der Herr Herzog [226] die außerordentliche Gnade haben, Seine leichtfertige Cour einer jungen Dame zu machen, die ich unbeschreiblich und aufrichtig liebe, – da er ferner heute Abend meinen Platz eingenommen, so werde ich mir auch wahrhaftig kein Gewissen daraus machen, als Revanche ein wenig für ihn zu gelten. – Ja, ich werde hingehen, denn es ist mir gerade, als müßte dort etwas verhandelt werden, was für mich am Ende noch von größerem Interesse ist als für ihn.«

Damit war sein Enschluß gefaßt; er erhob sich beruhigt aus seiner Ecke und mischte sich wieder unter die Gesellschaft.

Die kleine Soirée nahm übrigens recht langweilig ihren Fortgang, wie es wohl meistens bei einer höchsten Spielpartie der Fall ist, wo nicht gespielt wird. Die Herrschaften hatten sich am Kamine niedergelassen und zogen nur hie und da eine der alten Excellenzen in den Bereich ihrer Unterhaltung, wobei übrigens Ihre Majestät häufig auf die Uhr blickte und sich entweder nach dem Fortgehen oder dem Souper zu sehnen schienen.

Das Letztere kam nun gegen halb Elf, und brachte wieder einiges Leben in die Gesellschaft. Die Damen und Herren in den Ecken des Zimmers hörten auf, verstohlener Weise gähnen, die Fächer wurden nicht mehr unaufhörlich auf- und zugeklappt, die Hüte nicht mehr in den weißen Handschuhen hin und her gedreht. Es war, als fliege ein allgemeines Ah! durch das Zimmer, und nicht blos die Bedienten rannten geschäftig hin und her, um die gedeckten Tische im Spielzimmer mit einer Menge Platten voll kalter Küche, mit Früchten und allerlei Weinen zu bedecken, auch die Herren bewiesen sich liebenswürdig gegen die Damen. Die Hüte wurden in einem Winkel plazirt, die Damen setzten sich nieder, und ließen sich mit dem, was gerade nach ihrem Geschmacke war, bedienen, worauf man dann bald nichts mehr hörte, als das Klappern der Teller, Messer und Gabeln, oder das leise Klingen eines Glases.

[227] Aber in der Art, wie die Leute ihr Souper einnahmen, lag eigentlich so gar nichts Behagliches. Die Herren verzehrten ihr Bischen meistens stehend, die Damen, indem sie abwechselnd einen Blick auf den Teller und dann wieder einen auf die allerhöchsten Herrschaften warfen. Es war keine Ruhe bei diesem Essen: man konnte sich doch nicht am Ende der Gefahr aussetzen, einen gnädigen Wink oder ein freundliches Lächeln zu übersehen; deßhalb die ewige Aufmerksamkeit auf den allerhöchsten Teller und den allerhöchsten Mund, und erst als man sicher war, daß Letzterer gerade selbst beschäftigt war, zwang man heftig und unnachsichtlich schluckend irgend einen tüchtigen Bissen hinab, um gleich darauf wieder kampfgerüstet zu sein.

Den Herren erging es zuweilen noch schlimmer, und eine unzeitige Frage Ihrer Majestät konnte im Stande sein, sie in die furchtbarste Verlegenheit zu setzen. – Antworte einmal Einer korrekt und deutlich, wenn er vom Viertel eines ziemlich großen Kapauns im Munde hat; das schluckt sich nicht nur so augenblicklich hinunter. – Aber auf eine Antwort warten lassen! – Lieber riskirt man im Verschlingen das Unmögliche.

Der geneigte Leser wird hieraus ersehen, daß das Essen und Trinken bei Hofe auch seine großen Unannehmlichkeiten hat und daß die Herren und Damen desselben darum gerade nicht zu beneiden sind. Man kann von ihnen in Wahrheit sagen, sie essen meistens ihr Brod im Schweiße ihres Angesichts; und es ist das oftmals ein hartes Brod, nicht gewürzt durch wahre Freude. Die Meisten von denen, welche der Spielpartie heute Abend anwohnen mußten – wir sagen nicht ohne Absicht mußten – gingen fast mit den gleichen Gefühlen hin, wie der arme Graf Fohrbach. Sie schleppten am Fuß ihre unsichtbare Kette und fühlten sich wohl unglücklicher, wenigstens gelangweilter, als Tausende von anderen Menschen, die im mäßig erwärmten Zimmer um eine Schüssel Kartoffeln sitzen, ein Stück Brod in der Hand und einen [228] freien Willen im Herzen. – Hier betritt man den glänzenden und reich erleuchteten Salon, nachdem man vor der Thüre sich vielleicht heftig auf die Lippen gebissen und einen letzten tiefen Seufzer gethan, da man an andere Freuden gedacht, die heute Abend zu genießen wären. Darauf legt sich das Gesicht in freundliche Falten, das Auge glänzt schalkhaft und liebenswürdig, und diese Maske muß den ganzen Abend festgehalten werden, obgleich manche dieser scheinbar so glücklichen Damen sich lieber mit gerungenen Händen in eine Ecke setzen würde, um heiße, bittere Thränen zu weinen. Ja, der Ausdruck der Freude und des Glückes muß beibehalten werden, bis Ihre Majestät zweimal leicht den Mund verzieht und dann bemerkt: »Es ist sogleich elf Uhr,« bis ihr eines der Ehrenfräuleins den weißen Burnus umhängt, bis sie die Frau Herzogin auf die Stirn geküßt hat und mit einem »adieu ma chère!« Abschied genommen. – Dann folgt noch ein tiefer Knix rings umher, ein zweiter, wenn sich endlich auch die Frau Herzogin zurückzieht; die Thüren zu den Vorzimmern werden geöffnet, die Bedienten reichen Mäntel und Shawls, die Herren sagen flüchtig eine gute Nacht, die Damen suchen ihre Wagen oder eilen durch die nun sehr öden und halb dunkeln Gänge des Schlosses nach ihren Zimmern, – und dann erst fällt die Maske, dann erst trübt sich der bis jetzt so heitere Blick, und Manche denkt an einen verlorenen Abend, Manche preßt die Hand auf das Herz und schaudert leicht zusammen, wenn sie an so viele dergleichen Abende denkt, die schon hinter ihr liegen, und an unzählige, die wahrscheinlicherweise noch auf sie warten. – Und so ist das auch eine Art Sklavenleben, geliebter und sehr geneigter Leser.

In der beschriebenen Art ging auch die heutige Soirée zu Ende, und wenige Augenblicke, nachdem sich die Herrschaften zurückgezogen, war das kleine schöne Apartement gänzlich verlassen.

Was nun den Herrn Herzog anbelangte, so hatte er sich auch nicht beim Souper sehen lassen, wodurch sich der Graf veranlaßt [229] sah, mehrere tiefe Seufzer zu unterdrücken, zuweilen die rechte Hand krampfhaft zu ballen und auf seinem einmal gefaßten Entschlüsse, den Bericht selbst anzuhören, fest zu beharren.

Nachdem er den Herren und Damen, die an ihm vorüber geeilt, eine gute Nacht gewünscht, ließ er sich von seinem Jäger, der im Vorzimmer auf ihn wartete, den Mantel umhängen.

»Du hast den Herrn Erichsen getroffen?« fragte er ihn.

Worauf Franz erwiderte: »Ich habe den Brief Euer Erlaucht in seine Hände gegeben.«

»Er las ihn durch?«

»Herr Erichsen las ihn durch, lächelte und sagte: ich will es bestens besorgen.«

»Schön; ich danke. Du kannst mit dem Wagen nach Hause zurückkehren, ich brauche ihn nicht und komme vielleicht in einer Stunde zu Fuß. – Gehe aber vorher drunten in's Adjutantenzimmer und nimm die Schärpe mit, die dort liegen geblieben.«

58. Kapitel
[230] Achtundfünfzigstes Kapitel.
Ein Bericht.

Es war unterdessen elf Uhr geworden; Graf Fohrbach zog seinen Mantel fester um sich und schritt über das Vestibül und die große Treppe hinab, die nur noch spärlich erleuchtet war. Die blaue Gallerie lag im anderen Theile des Schlosses, und um dorthin zu kommen, mußte er über einen langen Korridor, der beinahe gänzlich dunkel war, denn nur an beiden Enden desselben flackerten um diese Stunde noch ein paar trübe Lampen. Doch kannte er den Weg genau, und wenn er sehr behutsam dahin schlich, so geschah dies nur, damit seine Sporen auf dem Steinpflaster nicht klirren und irgend einen der sich unten aufhaltenden Bedienten oder die Wache beunruhigen möchten.

Es ist aber eigenthümlich, wie sich in der Stille der Nacht jeder Ton verdoppelt und hörbar ist, den man am Tage gar nicht beachtet. So vernahm auch Graf Fohrbach jetzt deutlich seinen leisen, fast geräuschlosen Schritt, und wenn sich zufällig sein Säbel bewegte, so klirrte es gerade so, als rassele Jemand mit einer Kette.

Der Adjutant erreichte bald das Ende des Korridors und stieg dort eine Wendeltreppe hinauf, die ihn auf einen Vorplatz führte, den er quer durchschreiten mußte, um zum Eingang der blauen Gallerie zu gelangen. Hier war es schon schwieriger, sich zurecht zu finden, denn nirgendwo brannte ein Licht, und die[231] Nacht war so finster, daß man kaum die hohen Fenster von der Wand unterscheiden konnte.

Hier war die blaue Gallerie; jetzt galt es, die vierte Thüre zu finden. Sehen konnte er nicht eine einzige, er mußte also an der Wand hintappen und sich seinem Gefühle überlassen.

»In dieser greifbaren Finsterniß,« dachte er, »geht mir auf einmal über etwas ein Licht auf; ich erkläre es mir jetzt vollkommen, zu welchem Zwecke sich neulich der Herzog drüben in dem Laden die kleine elegante Blendlaterne kaufte. So ein Ding könnte ich auch jetzt hier ganz gut gebrauchen. – Das war die zweite Thüre. – Nun kommt die dritte. – Da ist sie! – Aber nun halt! – Wahrscheinlich werde ich an der vierten und richtigen ein Zeichen brauchen, um eingelassen zu werden. Das wäre unangenehm, da ich bis hieher so ohne allen Anstand gekommen und weiter nichts weiß. – Vielleicht auch, daß ich meine Anwesenheit durch einen lauten Schritt anzeigen muß. Hier wohnt eigentlich Niemand, wie ich glaube, und wir können schon ein wenig hörbarer auftreten.«

So that er auch, und dies Mannöver brachte augenblicklich eine Wirkung hervor. Es erschien nämlich rechts neben ihm, wo die vierte Thüre sein mußte, ein kleiner leuchtender Punkt, wie wenn sich Jemand mit einem Lichte dieser Thüre näherte und der Schein desselben durch das Schlüsselloch fiele. – Mit zwei weiteren Schritten hatte er die Thüre erreicht und nun vernahm er zu seinem großen Vergnügen, daß dieselbe langsam geöffnet werde. Er ergriff mit der Hand die Klinke, drückte sie ganz auf, trat eilig über die Schwelle und befand sich in einem ziemlich kleinen Zimmer, einem jungen Mädchen gegenüber, das bei seinem Anblick so heftig zusammenfuhr, daß ihr die Wachskerze, welche sie in der Hand trug, fast entfallen wäre. Einen lauten Aufschrei, der wahrscheinlicherweise erfolgt wäre, verhinderte der Graf, indem er den Finger erhob und dem Mädchen leise aber eindringlich: [232] »stille!« zurief. – Darauf verschloß er die Thüre, schob einen Riegel, vor und ließ einen schweren Vorhang darüber fallen, bei dessen Anblick er begriff, weßhalb er früher keine Spur des Lichtstrahles gesehen.

Nachdem dies geschehen, machte er ein paar Schritte weiter in das Zimmer hinein gegen das Mädchen hin, die mit einem wahren Ausdruck des Entsetzens gegen das ebenfalls dicht verhängte Fenster zurückwich.

»Das ist ein sonderbares Abenteuer,« dachte er. »Sollte es sich hier um ein einfaches Rendezvous handeln? – Ich glaube nicht; und wenn dem so wäre, müßte ich mich eilig zurückziehen, denn das ginge alsdann über Indiskretion. – Doch nein, nein! die Kleine da hat mir ein ganz anderes Aussehen. – Suchen wir auf eine gescheidte Art zu unserem Berichte zu kommen.«

Das Mädchen hatte den Leuchter auf den Tisch gestellt, ohne ihn aus der Hand zu lassen, die noch immer heftig zitterte. Sie hatte eine schlanke, schmächtige Figur, ein schmales, bleiches Gesicht und blondes Haar, welches in zwei dicken, sehr zierlichen Flechten um ihren Kopf gewickelt lag. Ihr einfacher und sauberer Anzug war, wie ihn die Kammerjungfer einer anständigen Dame zu tragen pflegt. – Sie vermochte es nicht, ein Wort hervor zu bringen und starrte den Eingetretenen mit ihren großen blauen Augen an, wobei sich ihre feinen Lippen krampfhaft bewegten.

»Beruhigen Sie sich doch, mein Kind!« sagte der Graf so sanft als möglich, »ich werde Ihnen gewiß nichts zu Leide thun. Gewiß nicht! – auf mein Wort! Lassen Sie Ihren Leuchter ruhig auf dem Tische stehen und setzen Sie sich meinetwegen in jene Ecke, während ich hier sehr entfernt von Ihnen, auf dem Tabouret Platz nehmen will. – So thun Sie es doch! – Ich komme, bei Gott! in keiner schlechten Absicht.«

[233] Nach längerem Zögern that das Mädchen endlich, wie er ihr geheißen. Sie ließ die Hand von dem Tische herabgleiten, ging rückwärts zu dem bezeichneten Stuhl, blieb aber dort aufrecht stehen und schien sich an der Lehne festzuhalten.

»Sie haben mich nicht hier erwartet?« sagte der Graf, nachdem er sie eine Zeit lang betrachtet.

»Nein, nein, nein! gewiß nicht!« brachte das Mädchen mühsam hervor.

»Aber Jemand anders sollte kommen? Schütteln Sie nicht den Kopf: ich weiß Alles. – Jemand anders wurde von Ihnen hier um elf Uhr erwartet. Da hilft ja kein Leugnen. – Sie hatten ihm etwas mitzutheilen. Sehen Sie, Sie schlagen die Augen nieder. – Nun also, ich komme an seiner Stelle; lassen Sie mich hören, was Sie zu sagen haben.«

Das Mädchen schüttelte mit dem Kopfe, schlug die Hände zusammen und drückte sie alsdann heftig an ihre Augen.

»Sie trauen mir nicht,« fuhr der junge Mann nach einer Pause fort. »Nun, ich finde das begreiflich. – Sie erwarten Jemand, den Sie schon länger kennen, nun erscheint plötzlich ein Unbekannter, – das muß Sie natürlicherweise überraschen. Wenn ich Ihnen aber sage,« – diese letzten Worte sprach er in bestimmtem Tone und sehr langsam – »daß Seine Durchlaucht der Herzog Alfred hieher kommen sollte, daß er aber augenblicklich nicht im Schlosse ist und daß ich statt seiner hier bin, ist das alles nicht wahr?«

Das Mädchen ließ ihre Hände herab sinken, schaute ihn mit einem festen Blicke an und entgegnete alsdann: »Was hilft mein Leugnen, Sie haben mich ja in Ihrer Gewalt.«

»Ach was Gewalt!« entgegnete er unmuthig. »Davon kann gar keine Rede sein. Schenken Sie mir Ihr Vertrauen; Sie haben es mit keinem Undankbaren zu thun.«

Ein schmerzliches Lächeln flog bei diesen Worten über ihre [234] Züge, dann seufzte sie tief auf und flüsterte: »Es ist etwas Schönes um die Dankbarkeit; o, wenn auch ich dankbar sein dürfte!«

»Also Sie erwarteten den Herrn Herzog?«

»Ja,« sprach das Mädchen nach einer Pause mit festerer Stimme.

»Schön. – Nun bin ich aber da. – Sprechen Sie ohne Rückhalt. Was haben Sie mir zu sagen?«

»Ich brauche nicht zu sprechen,« erwiderte das Mädchen mit sanfter Stimme, »ich brauche nur auf Fragen, die an mich gestellt werden, zu antworten. Also fragen Sie in Gottes Namen.«

Auf diese Worte hustete der Graf gelinde und sah sein Gegenüber erstaunt an. »Das ist ein schönes Labyrinth,« dachte er. »Finde mir da Jemand einen Ausweg! Ich komme da her, um einen Bericht zu hören, und jetzt soll ich diesen Bericht mit Fragen heraus locken. – Was soll ich fragen, ohne mir eine Blöße zu geben? Denn ich weiß nicht einmal, wer das Mädchen ist, und also auch nicht, worüber sie mir Auskunft zu geben vermag. – Helfen wir uns, so gut wir können. Sie muß doch bei irgend einer Herrschaft sein, nach der wollen wir uns ein wenig erkundigen; vielleicht gibt sich das Andere von selbst.« – »Also,« begann der Graf nach einem längeren Stillschweigen und nachdem er sich mit der Hand über das Gesicht gefahren, auch seinen Schnurrbart gedreht und den Mantel etwas von der Schulter herab genommen, »also Sie erwarten meine Fragen?«

»Ja,« erwiderte das Mädchen.

»Nun denn! – Teufel!« dachte er, »wer ihre Herrschaft ist, darf ich nicht fragen, – aber wo sie sich im Augenblicke aufhält. Das geht!« – »Nun denn, ist Ihre Herrschaft zu Hause?«

[235] »Das gnädige Fräulein kamen vor einer halben Stunde.«

»Ah! ein Fräulein! – Das ist schon etwas!« sprach er für sich. – »Und – hm! – sie – sie blieb zu Hause?«

»Sie begab sich zu Bette.«

»Natürlich! – es ist schon spät. – Und wo war denn das gnädige Fräulein, wenn ich fragen darf?«

»Sie fragen nur für den Abend? – Oder meinen Sie den ganzen Tag?«

»Vorderhand ist es mir nur um den Abend zu thun,« erwiderte Graf Fohrbach, der wohl fühlte, daß er bald mit seinen Fragen am Ende sei. »Dann aber wünsche ich auch Einiges über den Tag zu erfahren.«

»Das gnädige Fräulein waren von Sechs bis halb Acht bei der Tafel und fuhren darauf in Gesellschaft.«

»Wohin?«

»Zu dem Herrn Major von S.«

»Was?« rief der Graf im höchsten Erstaunen, indem er heftig zusammenfuhr und dicht vor das Mädchen hintrat, »zu Major von S.? – Träume ich denn? – Zu Major von S.?«

»Um Gotteswillen! – ja. Ich sage gewiß die Wahrheit,« versetzte sie erschrocken.

»So ist Ihr Fräulein – Eugenie von S.?«

»Allerdings!« rief das Mädchen, nun ihres Theils überrascht. »Das wußten Sie nicht?«

»Nein, beim Teufel! ich wußte es nicht. – Ah! das ist ein bischen zu stark!«

»So hat Sie auch der Herzog nicht geschickt?« fuhr ängstlich das Mädchen fort.

»Nein, nein, er hat mich gewiß nicht geschickt; aber ich danke Gott, daß ich gekommen bin. – Sie also betrifft dieser Bericht? – Eugenie? – O das ist über alle Beschreibung! Sprich, Mädchen,« fuhr er ernster fort, indem er ihr Handgelenk faßte; »jetzt[236] werde ich wirklich Fragen stellen, bitte aber um richtige und pünktliche Antworten. – Sie haben also den Herrn Herzog hier erwartet?«

»Ja, ich sagte es schon.«

»Und er kam schon öfter hierher in dieses Zimmer?«

»Zuweilen hier, zuweilen anderswo, wie es mir befohlen war.«

»Wie es Ihnen befohlen war? – doch davon nachher! – Also Sie trafen hier oder anderswo mit dem Herrn Herzog zusammen, um ihm – Bericht über Ihre Herrin zu geben, über ihr Leben und Treiben, was sie thut und spricht, zu wem sie geht, wer zu ihr kommt? – Ah! Verrath ohne Gleichen! – Schändlichkeiten, wie noch keine da gewesen! Und das fühlen Sie nicht? Ein solches Verbrechen liegt nicht schwer auf Ihrer Seele? – Pfui der Schande!«

Anfänglich hatte das Mädchen den jungen Mann mit weit aufgerissenen Augen angestarrt, dann schlug sie die Hände vor das Gesicht und ein tiefer, schmerzlicher Seufzer wand sich aus ihrer Brust; zuletzt aber, als sein Auge flammte und er mit Entrüstung des schändlichen Verraths gegen ihre Herrin erwähnte, ließ sie langsam die Hände von ihrem Gesicht herab sinken, athmete tief auf und blickte in die Höhe, aber nicht mehr ängstlich oder niedergedrückt, sondern als wollte sie sagen: Gott sei gedankt! Eine Thräne, die in ihrem Auge zitterte, bekräftigte diesen Gedanken.

»So sind Sie der Herr Graf Fohrbach?« brachte sie darauf mühsam hervor.

»Der bin ich. – Woher kennen Sie meinen Namen?«

»O, er wird oft bei uns genannt,« entgegnete schüchtern das Mädchen.

Zu jeder andern Zeit hätte ihn dies Wort glücklich und vergnügt gemacht, aber in diesem Augenblicke, wo er einer so [237] ausgedachten Verrätherei auf die Spur gekommen war, einer Verrätherei gegen sie, gegen das Mädchen, das er so innig liebte, brachte es keine große Wirkung auf ihn hervor. – Und es war ja nicht nur eine Verrätherei gegen Eugenie; wer weiß, welchen Zweck man hatte, ihre Handlungen und Worte zu belauschen, ihre Schritte mit Schlingen und Fallen zu umgeben! – Wohl durchzuckte es ihn seltsam, als das Mädchen sagte, sein Name werde oft genannt, doch machte er eine ablehnende Handbewegung gegen sie.

»So oft genannt,« fuhr sie eifriger fort, »daß er mir leicht im Gedächtnisse blieb und daß ich immer auf die Stunde hoffte, wo es mir vielleicht vergönnt sein würde, Sie zu sprechen, zu Ihren Füßen zu fallen, Ihren Schutz anzuflehen.«

Bei diesen Worten that das Mädchen, wie es sagte: es sank neben dem Stuhle nieder, und als der Graf erstaunt einen Schritt zurücktreten wollte, faßte es nach seinem Mantel.

»Das ist eine sonderbare Kommödie,« sagte er. »Was Teufel brauche ich Sie zu schützen? – Sie scheinen mir selbstständig genug zu sein, stehen ja auch unter weit mächtigerem Schutze, als der meinige ist. Uebrigens bitte ich recht sehr, stehen Sie auf; ich mag Sie nicht da liegen sehen, selbst wenn dies am Ende eine Stellung ist, die Sie wohl verdienen nach dem, was Sie einer gewiß so guten und sanften Herrin gethan.«

»O mein Gott! ja, sie ist so gut und sanft,« versetzte jammernd das Mädchen. Dabei ließ sie den Mantel los, stützte sich mit der einen Hand auf den Boden und schien mit der anderen ihre herabstürzenden Thränen zurückhalten zu wollen.

»Die Ihnen gewiß nie Veranlassung zu diesem Schritte gab,« fuhr er entrüstet fort.

»Nie,« sagte das Mädchen. – »Nie! nie! Man fühlt bei [238] Fräulein Eugenie nicht, daß man Dienerin ist; man arbeitet zu seinem Vergnügen, indem man ihre freundlichen Bitten erfüllt; man wird belohnt durch Gutmüthigkeit und Vertrauen. – Nie kommt ein hartes Wort über ihre Lippen, nie hat man bei ihr eine Laune zu ertragen.«

»Und doch,« rief der junge Mann, mehr und mehr überrascht, während er einen Blick des Abscheu's auf die Knieende warf, »und doch die Verrätherei? – So also belohnen Sie die Liebe und Güte Ihrer Herrin?«

»Ich muß ja wohl!« klagte das Mädchen und rang wie verzweifelnd die Hände. »Bei Gott dem Allmächtigen! ich muß, man zwingt mich dazu!«

»Wer kann Sie zwingen? – Sind Sie nicht die Herrin Ihrer Handlungen, sind Sie nicht in dem Punkte vollkommen frei?«

»O nein! o nein! ich bin nicht frei; ich mußte diesen Befehlen Folge leisten.«

»Den Befehlen Ihrer Herrin?«

Sie schüttelte mit dem Kopfe.

»Hat denn sonst irgend Jemand eine Macht über Sie?«

»Ja.«

»Eine Macht, die Sie zwingen kann, gegen Ihre Herrin zu handeln wie Sie gethan?«

»Ja.«

»Also ein Wesen,« sprach er, mehr und mehr erstaunt, »das Sie zwingt, Ihre Herrin zu verrathen?«

»Ja, ja!«

»Das Ihnen befiehlt, Eugeniens Thun und Lassen genau zu beobachten und darüber Bericht zu machen?«

»O mein Gott, ja!«

»Berichte an den Herzog?«

»Ja, Herr Graf – Berichte an den Herzog, oder an wen man mir befiehlt.«

[239] Nach diesen Worten faltete sie, immer noch auf den Knieen liegend, die Hände und ließ den Kopf tief auf die Brust herab sinken.

»Und wer ist dieses Wesen, das eine solche Macht über Sie ausübt?«

»Ich weiß es nicht,« sagte sie nach einer Pause, indem sie ihren Kopf erhob und dem jungen Manne mit einem Blick voll Offenheit, ja mit einem Ausdruck vollkommener Ehrlichkeit in die Augen schaute. – »Ich weiß nicht, wer es ist, ich kenne seinen Namen nicht, ich erinnere mich nur noch jenes schrecklichen Orts, wo ich ihn sah, ihn, der mir den Befehl ertheilte, also zu thun wie ich gethan.«

»Und wo ist dieser Ort?«

»Er ist,« sprach das Mädchen – doch hielt sie plötzlich inne, öffnete starr die Augen und lauschte nach dem Gange hin, wobei sie wie beschwörend ihre Hände aufhob.

Auch der Graf wandte leicht den Kopf herum und vernahm, obgleich sehr gedämpft, feste männliche Schritte, die sich von der blauen Gallerie her zu nähern schienen.

»Der Herzog!« flüsterte das Mädchen mit fast lautloser Stimme.

»Ja, er wird es sein,« sagte der Graf ruhig, aber gleichfalls sehr leise. »Verhalten Sie sich ganz stille; nur stellen Sie das Licht zur doppelten Vorsicht noch in die Fensternische; durch die Vorhänge wird sein Schein nicht durchdringen.«

Sie erhob sich vorsichtig von ihren Knieen und that wie ihr geheißen; dann blickte sie angstvoll auf den Grafen, dem ein leichtes Lächeln um den Mund spielte.

Die Schritte kamen näher – ganz nahe; jetzt hielt Jemand vor der Thüre. Zuerst hustete es draußen leise, dann wurde sachte an die Thüre geklopft, und da auf alle diese Zeichen keine Antwort erfolgte, so vernahm man deutlich, daß eine Hand die Klinke [240] ergriff und die Thüre zu öffnen versuchte, was ihr aber natürlicherweise nicht gelang. Dasselbe Manöver wurde von draußen mehrere Male probirt, und als es immer gleich erfolglos blieb, vernahm man einige leicht gemurmelte Worte, worauf sich die Person wieder langsam entfernte. Einmal schien dieselbe umkehren zu wollen; man vernahm ein Anhalten, dann eine halbe Wendung auf dem Steinboden des Ganges, doch besann sie sich eines Bessern: gleich darauf klangen die Schritte wieder regelmäßig und fest und verloren sich in der tiefen Stille, die über dem ganzen Schlosse lag.

»Der gute Herzog sucht, obgleich spät, doch noch zu seinem Rendezvous zu kommen,« dachte der Graf. – Und dann wandte er sich wieder an das Mädchen, das, ein Bild der Angst, bleich und zitternd an dem Fenstervorhange stand.

»Beruhigen Sie sich,« sagte er, »diese Gefahr ist gänzlich vorüber, denn wie ich den Herzog kenne, wird er heute Nacht nicht mehr zurückkehren. – Sie können ihm dann vielleicht morgen Ihren Bericht machen.«

Diese letzten Worte sprach er in einem schneidenden Tone.

Das Mädchen seufzte tief auf und entgegnete: »Wie Gott will!«

»O nein,« erwiderte er heftig, »nicht wie Gott will, vielleicht wie der Teufel will! Denn nur der hat eine Macht über Menschen, wie die sind, von welchen Sie soeben gesprochen.«

»O, Sie glauben mir nicht, Herr Graf!« sagte sie tief bekümmert. – »Und es wäre doch für Alles gut, wenn Sie mir glauben wollten.«

»So bringen Sie was Glaubwürdiges vor und ich will mir Mühe geben, Ihren Worten zu vertrauen.«

Sie blickte sich scheu um, als fürchte sie, belauscht zu werden, namentlich nach dem Fenstervorhang hin, als sei es möglich, daß [241] plötzlich Jemand vortrete. – »Ich mußte einen fürchterlichen Schwur nachsprechen,« sagte sie zitternd.

»Einen Schwur, nichts von dem Orte zu verrathen, von dem Sie vorhin sprachen, und von dem, was man Ihnen dort gesagt?«

»Warten Sie einen Augenblick,« entgegnete sie nach einer Pause nachdenkend, indem sie die Hand an ihre Stirne legte. – »Nein, nein, das ließ er mich gerade nicht schwören, denn, daß das je geschehen könnte, mochte er sich wohl nicht denken, da er mir Gutes erzeigt. – Aber ich mußte schwören, meine neue Herrin zu beobachten, um, so oft es von mir verlangt würde, einen Bericht zu machen, wenn sie ausgeht, wohin sie geht, wer zu ihr kommt, was sie zu Hause macht, an wen sie schreibt, – ja, das mußte ich schwören bei dem allmächtigen Gott, der mich strafen sollte, wenn ich je meinen Schwur bräche.« – Nachdem sie das gesagt, schauerte sie leicht zusammen.

In allem dem, was das Mädchen sprach, war trotz des Räthselhaften so viel Glaubwürdiges, auch trugen ihre Worte so den Stempel des Wahren und Aufrichtigen, daß sie der junge Mann mehr und mehr mit Interesse betrachtete und sein Zorn vor ihrem sanften und klaren Blick zu verschwinden begann.

»Das ist äußerst seltsam,« sagte er, »und ich will Ihren Worten trauen. Wenn Sie aber wollen, daß ich Ihnen vollkommen glauben, mich Ihrer vielleicht annehmen soll, so lösen Sie mir die Räthsel, die in dieser Geschichte liegen, und erzählen mir die Wahrheit, meinetwegen, so weit es Ihnen der geleistete Schwur erlaubt.«

»Ja, das will ich!« versetzte sie eifrig. »Ihnen will ich alles das sagen, Herr Graf, – denn ich weiß ja,« fuhr sie mit niedergeschlagenen Augen fort, »wie sehr Sie meiner Herrin zugethan sind, und wie Sie gewiß Alles, was ich Ihnen anvertraue, [242] nur zu deren Besten anwenden werden. Ah! und ich wünsche ja meiner Herrin alles Gute, alles Glück und alles Heil.«

»Und das wären Sie vom Herrn Herzog nicht gerade überzeugt?« fragte er forschend.

»Nein, nein!« entgegnete sie eifrig; »er meint es schlimm und unredlich. O glauben Sie mir, Herr Graf, ich habe ihm gewiß nur Sachen berichtet, die meiner Herrin nicht schaden können; ich habe seinen sonderbaren Zumuthungen nie Gehör gegeben, ich war gewiß keine so schlimme Verrätherin, wie ich wohl scheine.«

»Ei, ei! er machte Ihnen Zumuthungen?« sagte aufmerksam Graf Fohrbach. – »In Betreff Ihrer Herrin?«

»Sehr häufig.«

»Und worin bestanden diese Zumuthungen?«

»Bald sollte ich ihm dies oder das von ihr verschaffen – ein Band, eine Haarlocke oder ein Blatt ihres Albums, in welches sie zuweilen kleine Gedichte schreibt. Auch verlangte er, ich sollte ihn Abends einmal, wenn Fräulein Eugenie ausgegangen, in deren Zimmer führen.«

»Was der Teufel! – Und Sie?«

»Bei Gott! ich wies alles das zurück. – Auch wünschte er, ich solle zuweilen beim Ankleiden auf eine unverfängliche Art die Rede auf ihn bringen, um zu hören, was das gnädige Fräulein sagen würde. – Aber gewiß, ich that es nie.«

»Sehr gut!«

»Was mir befohlen war und wozu mich mein Schwur zwang, habe ich gethan, aber gewiß nur auf die schonendste Art für Fräulein Eugenie. – Wenn Sie, Herr Graf,« fuhr sie nach einer kleinen Pause stockend fort, – »geneigt wären, den Worten eines armen Mädchens Glauben zu schenken, so würde ich Ihnen bei Allem, was mir heilig ist, die Versicherung[243] geben, daß der Herzog von meiner Dame nie ein anderes Wort erfuhr, als was die ganze Welt wissen kann.«

»Und mir würden Sie auch nicht mehr sagen?« fragte er lächelnd.

»Gewiß nicht, Herr Graf,« entgegnete sie mit einem festen, offenen Blick. »Sie würden das auch nicht verlangen, denn –« Hier schwieg sie plötzlich.

»Sprechen Sie weiter!« sagte er; »denn –«

»Denn,« fuhr sie mit einem kaum bemerkbaren Lächeln fort, »denn meine Herrin würde Ihnen vielleicht selbst mehr sagen, als ich dem Herzog zu berichten im Stande bin.«

»Ah! Sie glauben?« rief er erfreut. »Nun, da wir Beide hier einmal auf so eigenthümliche Art zum Austausche von Geheimnissen kommen, so kann ich Sie versichern, ein jedes Wort von Fräulein Eugenie zu mir gesprochen, ist mir unaussprechlich kostbar. – Doch wir kommen ganz von unserer Sache ab,« unterbrach er mit einem viel ernsteren Tone sich selbst und seine freundliche Rede von vorhin. – »Wollen Sie mir Ihr Vertrauen schenken? Wohlan! ich will Sie anhören, ich will Ihnen rathen, wo ich kann.«

»Das ist aber eine ziemlich lange und traurige Geschichte,« entgegnete das Mädchen, »und ich fürchte Sie damit zu ermüden, will mich aber so kurz zu fassen suchen, wie nur möglich.«

Darauf nun erzählte sie dem Grafen ganz ehrlich und aufrichtig die Geschichte, welche der geneigte Leser bereits weiß, genau so, wie sie solche im Fuchsbau dem Harfenmädchen anvertraut, wie man sie eines Diebstahls beschuldigt und fortgejagt, wie sie darauf mit der Harfenspielerin in jenes Wirthshaus gekommen und wie sie zu Bette gegangen seien. – »Dann wurden wir in der Nacht geweckt,« sprach sie weiter: »eine alte Frau hieß mich aufstehen, meinen Anzug zurecht [244] machen und brachte mich hinunter in ein Zimmer, wo ich eine Zeit lang warten mußte, – dann führten sie mich vor ihn

»Vor ihn? – Wer war denn das?«

»Das weiß ich in der That nicht; das schien auch Niemand im Hause zu wissen, es hieß nur immer: er ist gekommen, er ist da. Aber Jeder, der dies sagte, selbst die rohesten und verwegensten Leute, wie mir schien, sprachen von ihm mit großer Ehrfurcht, ja mit Angst und Zittern. Die Harfenspielerin sagte zu mir, als man mich aus dem Schlafzimmer abholte: ja, wenn er dich holen läßt, da hilft kein Widerstreben.«

»Das ist sehr seltsam,« erwiderte der Graf. – »Also Alle schienen ihm zu gehorchen?«

»Unbedingt.«

»Sie wurden also vor ihn gebracht. Thun Sie mir jetzt den Gefallen und nehmen Sie Ihr ganzes Gedächtniß zusammen. Wie sah er aus? Wie ein wilder, verwegener Kerl?«

»Nein, nein!« entgegnete sie eifrig, »so sah er nicht aus; im Gegentheil. Es war ein noch junger Mann von, ich möchte sagen, angenehmem Aeußeren, in Ihrer Größe, Herr Graf, schlank, von leichten Bewegungen; sein Gesicht hatte eine ziemlich dunkle Farbe, sein Haar war schwarz, seine Augen aber blau, und sein gleichfalls schwarzer Bart hing an beiden Seiten des Mundes herab. – Ich erinnere mich, bei uns Zigeuner gesehen zu haben,« fuhr sie nach einem kleinen Nachdenken fort, »gerade so sah er aus, nur daß seine Kleidung nicht zerlumpt war, sondern einfach, aber sehr anständig.«

»Und womit war er ungefähr bekleidet?« fragte der Graf mit großer Aufmerksamkeit.

»Das kann ich nicht sagen,« entgegnete das Mädchen; »ich war so bestürzt und überrascht, und in so großer Angst, daß ich nur auf das Gesicht blickte.«

[245] »Ja, das haben Sie behalten, wie mir scheint,« versetzte lächelnd der Graf. »Sie haben mir es wenigstens zum Malen beschrieben. Dunkle Gesichtsfarbe, schwarzes Haar und Bart und dazu blaue Augen – das Bild eines schönen Zigeuners.«

»Eines noch fällt mir ein,« sagte das Mädchen. »Ich war an dem Tage von Kummer, Elend und Müdigkeit so erschöpft, daß ich vor ihm ohnmächtig wurde. Er fing mich in seinen Armen auf, vorher aber glitt ich auf den Boden nieder, und da berührten meine Wangen etwas Kaltes und Glänzendes an ihm.«

»Vielleicht ein Säbel?«

»Nein, nein! Ich bemerkte nachher, daß es hohe Stiefel waren, die ihm bis an die Kniee reichten.«

»Hatte er überhaupt keine Waffen?« fragte der Graf. »Sahen Sie keine an ihm?«

»O doch; ich erinnere mich, etwas wie eine Art Dolch gesehen zu haben, mit weißem Griff, das er an seinem Gürtel trug; er hatte es mit der linken Hand erfaßt.«

»Das klingt ja ganz romantisch,« meinte Graf Fohrbach, nachdem er einen Augenblick sinnend vor sich niedergeschaut. »Wenn man mir das von Rom oder Neapel erzählte, so würde ich es unbedingt glauben und begreiflich finden.«

»O, glauben Sie mir, Herr Graf!« bat das Mädchen. »Glauben Sie meinen Worten: ich habe Ihnen die reinste Wahrheit gesagt.«

»Gewiß glaube ich Ihnen; aber Sie müssen mir noch einige Fragen ebenso wahr beantworten. – Als er Sie entließ, was geschah da weiter mit Ihnen?«

»Ich wurde in ein anständiges Zimmer gebracht, und am andern Tage gab man mir gute Kleider, einen Paß und eine Instruktion, die ich auswendig lernen mußte. Darin [246] stand, wie ich mich fortan zu nennen, sowie Vorschriften in Betreff der Berichte, die ich über meine Herrin zu erstatten habe.«

»Und wem mußten Sie anfänglich diese Berichte machen?«

»Das weiß ich nicht; an einer mir bezeichneten Straßenecke fand ich einen dicht verschlossenen Wagen, der mich in ein Haus brachte, wo man mich in eine dunkle Stube führte, und wo Jemand aus dem Nebenzimmer mit mir sprach.«

»Keine schlechten Vorsichtsmaßregeln! – Und dort erhielten Sie auch den Befehl, hier in diesem Zimmer den Herzog zu erwarten?«

»Ja, Herr Graf.«

»Aber ich vergaß das Wichtigste zu fragen. Wie wurden Sie in Ihren jetzigen Dienst eingeführt? – Der war doch, wenn ich mich recht erinnere, einer Anderen zugedacht. Ich selbst empfahl ja den Schützling eines Freundes.«

»Das geschah auf eine eigene Art,« entgegnete das Mädchen; »ich fand bei der Instruktion einen versiegelten Empfehlungsbrief an einen vornehmen Herrn, den ich persönlich abgeben mußte, worauf ich ein anderes Schreiben erhielt, das mich nachher zu Fräulein Eugenie von S. wies, die mich in ihren Dienst genommen.«

»Und wer war jener vornehme Herr?« fragte der Graf in großer Spannung. »Kennen Sie ihn vielleicht?«

»O ja, sehr gut; ich sehe ihn öfters. Er besucht auch zuweilen das gnädige Fräulein.«

»Sein Name?«

»Es ist der Herr Baron von Brand. In seinem Hause erhielt ich, wie gesagt, einen Empfehlungsbrief an meine Herrin.«

»Das ist seltsam!« rief einigermaßen bestürzt Graf Fohrbach. »Ganz richtig, der Baron bat mich, Ihnen eine Stelle zu verschaffen, und ich sprach für Sie, – auch er. – Das ist eine [247] ganz sonderbare Geschichte. – Und von wem der Brief war, den Sie dem Baron brachten, wissen Sie nicht?«

»Nein; aber soviel erinnere ich mich, daß er mit einem großen Wappen gesiegelt war.«

Der Graf dachte längere Zeit nach, wobei er, wie in großer Unruhe, im Zimmer auf und ab schritt. Endlich aber wandte er sich wieder zum Fenster hin und stellte sich abermals dicht vor das Mädchen. – »Die Sache ist sehr ernst und wichtig,« sagte er zu ihr; »thun Sie mir den einzigen Gefallen und nehmen Sie die ganze Kraft Ihres Gedächtnisses zusammen, gehen Sie in Gedanken nochmals jenen Abend durch, den Sie im sogenannten Fuchsbau verlebten, namentlich aber jene Augenblicke, wo Sie vor ihm im Zimmer standen. – Ueberlegen Sie sich genau, ob Sie nicht irgend einen kleinen Umstand vergessen, zum Beispiel irgend ein Wort, das er sagte, irgend eine Bewegung, die er machte. – Ueberhaupt haben Sie mir noch nicht erzählt, wie er zu sprechen pflegte, ob er laut oder leise, ob kräftig und energisch, oder was man bei uns geziert nennt. Es ist mir das sehr wichtig.«

»Nein, er sprach nicht geziert,« entgegnete sie, »sondern laut und deutlich, dabei kräftig wie Jemand, der gewohnt ist, zu befehlen.«

»Und sonst fällt Ihnen nichts mehr bei?«

»Warten Sie einmal,« erwiderte das Mädchen, indem sie die Augen mit der Hand bedeckte und dann hinauf an die Decke schaute. »Ich besinne mich da auf etwas, aber es ist zu unbedeutend.«

»Bei diesem Vorfall ist nichts unbedeutend.«

»Ich habe Ihnen schon gesagt, wie ich glaube, daß ich vor ihm ohnmächtig niedersank. Er hob mich in die Höhe, und als ich wieder zu mir selbst kam, umwehte mich ein eigenthümlicher Duft.«

[248] »Ein eigenthümlicher Duft!« rief der Graf in der höchsten Spannung. »Wie war es? – Sprechen Sie! – sprechen Sie!«

»Es war ein scharfer Duft,« sagte das Mädchen, das etwas erschreckt schien von der Heftigkeit des Grafen. »Es war ein Duft wie von lauter Rosen.«

»Ah!« schrie Graf Fohrbach, indem er in die Höhe fuhr, als habe er etwas ganz Erschreckliches gehört. – »Ah! – – Coeur de rose.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Nun wissen Sie Alles,« sprach ängstlich das Mädchen nach einer kleinen Pause. – »Was soll ich nun weiter thun? – Ich bin jetzt gänzlich in Ihre Hand gegeben, Herr Graf,« setzte sie schmerzlich hinzu. »Sie können mich nach beiden Seiten hin verderben: durch eine Anklage bei meiner Herrin, und dadurch, daß Sie von dieser räthselhaften Geschichte etwas laut werden lassen. Dort steht meine Ehre, meine Zukunft, hier mein Leben auf dem Spiel.«

Während sie so sprach, war der Graf abermals heftig im Zimmer auf und ab geschritten. Doch als sie geendet, wandte er sich rasch zu ihr hin und sagte feierlich: »Gott soll mich bewahren, daß eins von Beiden geschehe! Nein, nein! gewiß nicht! Ihr Geheimniß ist bei mir gut aufgehoben.«

»Aber was soll ich ferner thun?«

»Machen Sie Ihre Berichte nach wie vor, aber seien Sie klug und lassen Sie von Ihrer Herrin nichts erfahren, was derselben schaden könnte; ich will sehen, was ich für Sie thun kann. – Das schleicht sehr versteckt einher; man muß ihm ebenso begegnen, um es sicher zu treffen.«

»Aber wenn man mir neue Befehle zukommen ließe! Zum Beispiel dies oder das zu thun; – was weiß ich? – Etwas, das wir jetzt nicht vorhersehen können?«

[249] »Wenn es Ihnen unschuldig erscheint und – verzeihen Sie mir – Ihnen als kleine Plaudertzaftigkeit oder Nachlässigkeit angerechnet werden könnte, so thun Sie es in Gottes Namen, suchen mich aber von dem Vorgefallenen gleich in Kenntniß zu setzen. Man muß vorderhand allen Eklat vermeiden. – Sonst,« fuhr er lächelnd fort, »verlange ich keinen Bericht von Ihnen. – Aber, bei Gott! es ist spät! – Ich danke Ihnen, mein Kind. Bleiben Sie Ihrer Herrin getreu; gewiß, sie verdient es.«

»Ob sie es verdient!« entgegnete fast schwärmerisch das Mädchen.

»Wenn Ihnen diese Sache auch noch Ungelegenheiten machen kann, so hoffen Sie doch auf die Zukunft und auf mich. Ich werde mich Ihrer fortan erinnern.«

Damit reichte er ihr die Hand, worauf sie das Licht aus der Fensternische nahm, um ihm ein paar Schritte zu leuchten.

»Gehen Sie nicht zu weit mit mir,« sagte der Graf, »vielleicht nur bis an die Wendeltreppe; von da finde ich den Weg schon allein.«

So that sie dann auch, und während er behutsam und so geräuschlos als möglich hinab stieg, beugte sie sich oben über das Geländer und streckte den Leuchter von sich, um das dunkle Treppenhaus zu erhellen.

Es wäre übrigens besser gewesen, wenn sie das nicht gethan hätte, denn obgleich Mitternacht längst vorüber war und Alles im Schlosse fest zu schlafen schien, so war dies in Wirklichkeit doch nicht der Fall. Einer der Portiers, welcher seine Wohnung an eben dieser Wendeltreppe hatte, hörte mit seinem Ohr die Tritte und öffnete geräuschlos ein Fensterchen, welches auf dieselbe hinausging, und da sah er denn deutlich das Kammermädchen droben stehen, und einen Offizier, in einen Mantel gehüllt, sich sachte hinabschleichen. – Die meisten Schloßbedienten [250] sind auf dergleichen pikante Neuigkeiten begierig und setzen gerne ihren ganzen Scharfsinn daran, sie zu ergründen. Deßhalb bemühte sich denn auch der Portier, an einzelnen Kleinigkeiten des Offiziers zu entdecken, welche Uniform er wohl tragen könnte. Unglücklicherweise ließ Graf Fohrbach unten an der Treppe seinen Mantel etwas von der Schulter herab gleiten, so daß man Epaulettes und Fangschnüre sehen konnte.

»Aha!« dachte der Portier, »einer der Adjutanten. – Wer hatte den Dienst? – Graf Fohrbach. – Richtig! das ist seine Figur und sein Gang.« Damit verschloß er sein Fensterchen wieder und schlief nach einigen Augenblicken beruhigt weiter.

Der Graf kam indessen durch das Labyrinth von Gängen, Treppen und Vorplätzen glücklich in's Freie.

Es war eine finstere, kalte Nacht, weßhalb er seinen Mantel dicht zusammen zog, als er auf den Kastellplatz hinaus trat. Um von hier nach Hause zu gelangen, hatte er zwei Wege; der eine führte durch die höher gelegenen vornehmeren Stadttheile, durch breite Straßen und über bequeme Brücken, war aber bedeutend weiter als der andere, der mitten durch die alte Stadt ging. Doch hatte der Letztere den Nachtheil, daß er meistens durch enge Straßen führte, einigemal durch finstere Durchgänge, auch beim Kanal vorbei und über dessen enge und schlechte Brücken.

Doch war es hart gefroren, die Straßen auch reinlich und ohne Nässe, weßhalb der Graf den Weg durch die alte Stadt wählte. Er hatte auch nach allem dem, was er heute Abend gehört, eine leicht begreifliche Lust, sich die finstere Häusermasse, den Fuchsbau, obgleich er ihn recht wohl kannte, genau anzusehen.

Er schlenderte deßhalb langsam über den Kastellplatz und kam jenseits desselben in die engen und winkeligen Straßen, welche nach der unteren Stadt führten. Rings war Niemand zu sehen [251] noch zu hören; die Schildwachen hielten sich in ihren Häusern; von den Nachtwächtern bemerkte man nirgendwo eine Spur. Dazu war, wie wir wissen, der Mond nicht am Himmel, und die Nacht hüllte Alles in dichte Finsterniß.

Wie er so langsam dahin schritt, ließ er in seinem Geiste nochmals die Erlebnisse des heutigen Abends vorüber gehen und schüttelte nachdenkend den Kopf, als er wieder an die Erzählung des Mädchens kam. – »Sollte es denn möglich sein,« dachte er, »daß der Baron wirklich hier im Spiele ist, daß das anscheinend so harmlose, leichtfertige, ja beschränkte Wesen desselben nur eine Maske wäre, hinter welcher sich eine so räthselhafte, ja unheimliche Gestalt verbärge, wie mir das Mädchen geschildert! – Wenn dem so wäre, welche Zwecke verfolgt er? Aus welchem Grunde belauscht er die Schritte Eugeniens? – Ah! das ließe sich am Ende erklären; er ist mit dem Herzoge sehr liirt und macht vielleicht einen angenehmen Zwischenträger. – Aber nein! – Worauf gründet sich meine Vermuthung, daß der Baron hier im Zusammenhange? Auf jenen Odeur, von dem das Mädchen sprach, den scharfen Rosenduft? – Bah! das ist am Ende ein wenig zu weit gegangen. Die seinen Unterschiede Zwischen Coeur de rose und gewöhnlichem Rosenöl wäre ja wohl allein der Baron zu machen im Stande. – Und doch,« fuhr er in seinen Betrachtungen fort, indem er noch langsamer ging, »es gibt da so viele Menschen, die in dem Wesen des Barons etwas Räthselhaftes finden wollen. So heute noch der Hofmarschall. – Und dann erinnere ich mich auch noch einer Geschichte, die man mir einstens erzählen wollte. Ich weiß nicht, war es der Major oder der Assessor, – nein, nein! ich glaube Arthur war es, – richtig! der sprach mir von einem höchst sonderbaren Vorfalle, worin er den Herrn von Brand verflochten glaube. Aber ich war damals eilig und hatte keine Zeit, es mir erzählen zu lassen. Das wollen wir gleich morgen nachholen. – Ist aber dieses so natürlich scheinende Wesen des [252] Barons in der That nur eine vortrefflich durchgeführte Maske, so muß man sich mit ihm in Acht nehmen, und er wird schwer zu fassen sein.«

Unter diesen Gedanken war der junge Mann in die Nähe des uns bekannten Gebäudes gekommen, das wie eine dunkle Masse etwas von den übrigen Häusern abgesondert mit finsterer, geheimnißvoller Miene, ja wir möchten sagen, trotzig da lag. Von den spärlichen schmalen Fenstern, die nach außen gingen, war keines erhellt, und die riesenhaften Mauern schienen eine einzige breite Fläche zu bilden, vom Grunde hinauf bis in die Höhe der spitzen Dächer, die aber von den breiten und hohen Schornsteinen so deutlich überragt wurden. Nur ein einziger Lichtschein machte sich im Fuchsbau bemerklich, und der kam von der Gaslaterne in dem uns bekannten Durchgänge, wo die eiserne Thüre mündete, die zur Wirthschaft hinauf führte.

Diesem Durchgange gegenüber auf der anderen Seite der Straße blieb der Graf einen Augenblick stehen und betrachtete sinnend diese Passage. Dort war das Mädchen, wie sie erzählt, eingetreten und von da über eine steinerne Wendeltreppe in die Schenkstube gelangt. Was aber hinter derselben läge, sei ein solches Labyrinth von Treppen, Gängen, Zimmern und Höfen, daß sie nicht angeben konnte, nach welcher Richtung man sie ungefähr geführt, und wo jenes Zimmer gelegen, in dem sie ihn, den Namenlosen, gesehen. –

»Halt!« unterbrach Graf Fohrbach mit einem fast hörbaren Ausruf seine Gedanken, »es kommt Jemand. Drücken wir uns fester an die Mauer; wer weiß, in wiefern mir heute Abend das Glück günstig ist.«

Richtig! von seiner linken Seite her klangen Schritte, und die vernahm er so plötzlich auf dem Pflaster und in der Nähe, daß der, von dem sie herrührten, soeben aus einem der anliegenden Häuser herausgetreten sein mußte. – Vielleicht aus dem Fuchsbau selbst.

[253] Graf Fohrbach warf leicht den Mantelkragen über seine Feldmütze, damit das Silber derselben nicht durch die Dunkelheit glänze und blieb darauf regungslos stehen, in höchster Spannung, ja Aufregung.

Jetzt näherte sich ihm in der That von der linken Seite ein Mann, und er bemerkte anfänglich nur eine dunkle Gestalt, dann aber sah er, daß es Jemand sei, der in einen sogenannten Radmantel gehüllt war, dessen eines Ende er über die rechte Schulter geworfen hatte. Seine Figur war hoch und schlank; auf dem Kopfe trug er einen ganz gewöhnlichen Hut.

Dieser Mann trat fest und klingend auf. Ja, es waren Sporen, die auf dem Pflaster klirrten, und als der Graf seine Blicke herabsenkte – der Fremde war unterdessen zwischen ihm und dem Durchgange angekommen – so bemerkte er vielleicht eine Sekunde lang, wie sich der Strahl der Laterne auf etwas Blankem abspiegelte – glänzende Reitstiefel.

Der Unbekannte schien aber gar keine Ahnung zu haben, daß er belauscht werde, denn er ging ruhig mit gleichförmigen Schritten dahin, sogar ohne rechts oder links zu schauen. Bald war er im Dunkel der Nacht verschwunden.

»Was soll ich thun?« sprach der Graf zu sich selber, während er in die Straße hinaus trat. – »Ihm folgen, um zu sehen, wo er bleibt? Da mache ich mir eine undankbare Mühe, denn ist Jener dort wirklich eine verdächtige Person, so wird er Verstecke genug in der Nähe haben, wo er mir entwischt, und ich mache ihn auf mich aufmerksam, was alsdann viel schlimmer ist. – Soll ich ihm nacheilen, ihm gerade auf den Leib gehen und ihn dann zu Rede stellen? – Ich habe kein Recht dazu, und vielleicht ist er ein ebenso unschuldiger Spaziergänger wie ich selber. Und gesetzt auch, er wäre das nicht, so spiele ich eine verflucht ungleiche Partie; immer würde ich als Angreifer gelten und mich auf diese Art in Sachen mischen, die sich mit dem Rocke, den ich trage, [254] nicht vereinbaren lassen. Auch weiß ich ja vorderhand genug, und habe eine Spur, der mit Klugheit zu folgen man wohl im Stande sein wird.«

Er verließ den Fuchsbau und schritt die gleiche Straße hinauf, die der Unbekannte vor ihm gegangen. Ein paar Mal blieb er stehen, und dann glaubte er wohl hie und da noch die Schritte auf dem Pflaster zu vernehmen, was ihn eigentlich willenlos jedesmal zu stärkerem Gehen anspornte.

So erreichte er in Kurzem die obere Stadt und trat in eine der breiteren Straßen, wo er abermals anhielt, um zu lauschen. Tiefe Stille herrschte rings umher; auch nicht das kleinste Geräusch ließ sich vernehmen. Doch jetzt – ja, er irrte sich nicht – vernahm er aus ziemlich weiter Entfernung den leichten Trab eines Pferdes.

Vierter Band

59. Kapitel
[7] Neunundfünfzigstes Kapitel.
Vorbereitungen zum Gefecht.

Unter den vielen Häusern, vor welchen der Baron Brand am Neujahrstage seine Karte abgab, oder in welchen er durch allerlei Gegenreden und verfängliche Fragen, trotz der Versicherung des Bedienten, es sei Niemand zu Hause, einen schwachen Versuch machte, seinen Glückwunsch persönlich anzubringen, ließ er sich nun bei der Wohnung des Polizei-Präsidenten gar nicht abweisen und tänzelte lächelnd die Treppen hinauf, um, wie er sagte, wenigstens droben seine Karte abzugeben. Das that er denn auch mit auffallendem Geräusche, bat den Bedienten mit sehr lauter Stimme, doch ja der Herrschaft seine besten Empfehlungen zu melden, wie unendlich er es bedaure, nicht vorgelassen worden zu sein – und erreichte damit vollkommen seinen Zweck. Denn als er schon die Thüre in der Hand hatte, um sich wieder fort zu begeben, wurde ihm gegenüber der Salon geöffnet, und Fräulein Auguste erschien, aber wir können versichern, vollkommen absichtslos; denn als sie den Baron bemerkte, wollte sie sich mit einem kleinen Aufschrei sogleich wieder zurückziehen. Daß ihr aber dies nicht gelang, [7] daran war nur die Geschwindigkeit des Barons schuld, der sich augenblicklich näherte, leicht und gewandt ihre Hand ergriff und sie feierlich küßte, während ein tief gefühlter Glückwunsch, das neue Jahr betreffend, seinen Lippen entströmte. »Ah!« sagte er hierauf, »so grausam zu sein, Fräulein Auguste, und dem, den Sie Ihren Hausfreund nennen, die Thüre zu verschließen!«

»Ohne alle Gnade!« erwiderte lächelnd das Mädchen. »Hoher Befehl von Papa und Mama. – Und leider ohne Ausnahme,« setzte sie leise hinzu.

»Und Sie hatten vor, eine Ausnahme zu machen?« fragte entzückt der Baron.

»Ah! jetzt fangen Sie schon wieder an, mich zu examiniren. Man kann sich vor Ihnen nicht genug in Acht nehmen; aber wie gesagt, keine Ausnahme. – Mama meint,« fügte sie erröthend und mit niedergeschlagenen Augen bei, »es sei noch nicht an der Zeit – irgend Jemand Begünstigungen zu erweisen.«

»Aber bald, bald! Auguste,« versetzte er stürmisch, und wandte sich bei diesen Worten so geschickt auf der Thürschwelle, daß er dem Bedienten alle Aussicht versperrte und es wagen konnte, das leicht zurückweichende Mädchen auf die Stirne zu küssen. – »Und keine Hoffnung,« fuhr er nach einer Pause hastig fort, »Sie heute Morgen noch einen kleinen, lieben Moment zu sprechen? – Wird mich Papa nicht vorlassen?«

»Er hat dringende Geschäfte und läßt heute nur die Beamten vom Dienst vor sich.«

»Die Herren Kommissäre?«

»Ja, sie machen ihren Bericht.«

»Coeur de Rose!« rief der Baron, »da bin ich ja ganz in meinem Recht; erinnern Sie sich, Auguste, Papa war so gnädig, mir neulich die Erlaubniß zu ertheilen, so einem Berichte anwohnen zu dürfen. – Ich lasse mich bei ihm melden, es gilt nur den Versuch, – und einen Versuch,« setzte er zärtlich hinzu, »der,[8] wenn er gelingt, mir das hohe Glück verschafft, Sie – später sehen und sprechen zu dürfen; denn wenn der Herr Präsident mich einmal in's Zimmer läßt, so muß er mich auch nachher zu Ihnen hinüber führen.«

»Ja, ja, thun Sie so,« entgegnete sie eilig. »Aber jetzt fort! – ich höre Mama.« Damit sprang sie in's Zimmer und schloß die Thüre hinter sich zu.

Der Baron nahm eine wichtige Miene an und bat den Bedienten mit ernster Stimme, ihn dem Herrn Präsidenten in Geschäften zu melden.

Worauf er denn auch wenige Augenblicke nachher in das Kabinet des Polizei-Präsidenten geführt wurde.

Dieser war eben im Begriffe, seine Nase spazieren zu führen, denn er hatte sie mit der rechten Hand sanft erfaßt, während er, die Linke auf dem Rücken haltend, auf und ab schritt. Beim Anblick des Barons ließ er sie aber los, worauf sie augenblicklich ein paar Zoll höher schnellte, als er sie gewöhnlich zu tragen pflegte. – Der Präsident wollte hiedurch einigermaßen sein Erstaunen, ja Befremden ausdrücken, sich so in einer wichtigen Stunde gestört zu sehen.

Doch war Herr von Brand der Mann nicht, der sich so leicht einschüchtern ließ; er näherte sich dem Chef der Polizei mit einer tiefen Verbeugung, wobei er sagte: »Euer Excellenz wollen mir verzeihen, ich komme allerdings in Geschäften. Der Herr Präsident hatten neulich die außerordentliche Gewogenheit, mir zu erlauben, einem der Rapporte beizuwohnen, und da ich mich unterstehe, heute von dieser Erlaubniß Gebrauch zu machen, so wird mir zu gleicher Zeit das Glück zu Theil, Ihnen meinen tiefgefühlten und herzlichsten Glückwunsch zu Füßen legen zu dürfen.« Dabei hatte er die Hand des Präsidenten ergriffen, und drückte sie so herzlich und gerührt, daß der alte Herr augenblicklich anfing, seine Nase mit der einen noch freien Hand zu streicheln, [9] was als ein Zeichen einer guten Laune bei ihm angesehen werden konnte.

Und so war es denn auch; er vergaß, daß der Baron gegen seinen Willen eingedrungen, und erwiderte dessen Wunsch zum Beginn des neuen Jahres so verbindlich als möglich.

»Was aber den Rapport anbelangt,« sagte er, »so kommen Sie diesmal etwas spät und auch zu einem ganz interesselosen Zeitpunkt; ich habe nur noch einen Bericht zu empfangen, und wenn Sie den mit anhören wollen, so habe ich nichts dagegen. Später aber hoffe ich, sollen Sie Gelegenheit haben, einen besseren Blick in die von mir organisirte Maschine des Polizeiwesens werfen zu können.«

Bei diesen Worten fing er mit einem gewandten Griffe seine Nase wieder, die in der Luft umherschnüffelte, und indem er sie tief hinab zog, blickte er dem jungen Mann väterlich und wohlmeinend von unten herauf in die Augen.

Die Thüre öffnete sich und der erwartete Kommissär trat ein, nach einer tiefen Verbeugung brachte er dem hohen Chef seinen Glückwunsch dar, fing aber hierauf seinen Bericht nicht sogleich an, sondern blickte bald auf den Präsidenten, bald auf den Baron von Brand.

»Ich bin ja der geheime Sekretär Euer Excellenz,« flüsterte der Baron dem Chef der Polizei zu.

Worauf dieser seine Nase heftig zwinkte, ihr einen leichten Klapps gab, so daß sie sich zugleich mit dem ganzen Gesichte gegen den Beamten drehte. – »Sprechen Sie nur,« sagte er alsdann, »dieser Herr ist einer meiner Vertrautesten, vor welchem ich keine Geheimnisse habe.«

Nun war aber der Bericht des Polizei-Kommissärs für den Präsidenten in der That ziemlich unbedeutend, nicht so ganz aber für den Herrn von Brand. Er handelte nämlich von dem Hause eines gewissen Meister Schwemmer, welches, so sagte der Beamte, zuweilen der Aufenthaltsort allerlei Gesindels, das man gewöhnlich [10] in dem berüchtigten Fuchsbau anzutreffen pflege, sei. »Mir ist gemeldet worden,« berichtete er, »daß in den nächsten Tagen dort irgend eine Streitigkeit, ein Zank ausbrechen werde, weßhalb ich es für meine Pflicht halte, diesen ohnedies sehr abgelegenen Ort beobachten zu lassen.«

Dagegen wußte der Polizei-Präsident durchaus nichts zu erinnern, und da der Andere nichts weiter vorzubringen hatte, so wurde er in Gnaden entlassen und zog sich rückwärts zur Thüre hinaus, nicht ohne sich vorher die Gestalt des Barons – derselbe hatte sein Gesicht abgewandt – mit einem langen prüfenden Blick in's Gedächtniß zu prägen.

Der Präsident hatte für heute Morgen seine Arbeitsstunden beendigt, und der Baron mehrere seiner Zwecke erreicht. Wir sagen mehrere, denn es geschah, was er vorhin der jungen Dame vorausgesagt: der Papa nahm ihn, ohne mit dem Gang und dem Bedienten in Berührung zu kommen, durch eine Reihe der hintern Zimmer mit sich in den Salon, und dort verplauderte er mit den Damen des Hauses eine höchst angenehme Stunde.

Da aber bei dieser Unterredung nichts vorkam, was für unsere Geschichte von Interesse wäre, so überlassen wir ihn seinem Schicksale, das heißt, der scharfen redseligen Zunge der Präsidentin und den sehr gefährlichen Augen ihrer Tochter.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Einige Tage später in demselben Monat Januar, an einem frischen und klaren Nachmittage – es mochte an fünf Uhr sein – gingen zwei Männer neben einander nach der äußeren Stadt, wo die regelmäßigen Straßen aufhörten und wo nur hie und da einzelne Häuser zwischen Gärten lagen.

Der eine dieser Männer, eine große kräftige Gestalt, schritt aufrechten Hauptes einher und hatte im Gehen die Gewohnheit, daß er etwas mit dem Oberkörper hin- und herwankte.

Der Andere, ein kleines, mageres Männchen, hatte die Hände [11] auf den Rücken gelegt, und bei jedem Schritte, den er machte, folgte sein Kopf, wohl unwillkürlich, dieser Bewegung und war deßhalb in einem unaufhörlichen Nicken begriffen.

Ersterer war der junge Hammer, Sohn des ersten Theatermaschinisten, der Andere Herr Schellinger, der Theaterschneider.

Beide gingen eine Zeitlang stillschweigend ihres Weges dahin; nur zuweilen räusperte sich Herr Hammer, indem er einen Seitenblick auf seinen kleinen Gefährten warf, oder Herr Schellinger hob den Kopf in die Höhe, zog seine Nase empor, schnüffelte in der Luft und sagte mit seiner dünnen Stimme: »Heute wird's malitiös kalt.«

Bald ließen sie die letzten Häuser hinter sich und kamen in die Nähe der Stadtmauer, wo der Garten lag, durch welchen uns zu begleiten der geneigte Leser schon einmal so freundlich war, als wir uns nämlich in die Wohnung und in die Kleinkinderbewahranstalt des Meister Schwemmer begaben.

Herr Hammer und Herr Schellinger traten ebenfalls in diesen Garten, doch gingen sie nur bis zum kleinen baufälligen Hause, in welchem, wie wir bereits wissen, der Garderobegehilfe seine armselige Wohnung hatte.

Der junge Zimmermann blieb vor der Thüre stehen, stemmte die Arme in die Seite und sagte, während er an dem Hause hinauf blickte: »Nimm mir nicht übel, Schellinger, das ist in der That eine scheußliche Baracke. Wenn es Einer von unserem Handwerk sieht, so muß ihm völlig übel werden. Es ist mir immer, als sollte ich mit der Schulter auf die eine Seite drücken, daß dies Gestell wieder in's Blei käme. Aber ich fürchte, es könnte umfallen. Sind dir die schiefen Fußböden nicht selbst unangenehm?«

»Mir gewiß nicht,« entgegnete ruhig der Schneider, »ich bin das so gewohnt; es erweckt in mir auch eine höchst angenehme Erinnerung, denn von allen Tagen, die ich auf meinen weiten Reisen zubrachte, waren es die glücklichsten, wo ich in einem [12] Dorfe lebte, in welchem alle Häuser noch weit schiefer standen als dieses hier.«

»Und wo war denn das, Schellinger?«

»Das war da vornen,« versetzte der Garderobegehilfe, indem er mit dem Zeigefinger seiner linken Hand vor sich hinwies, »in der Wallachei, weißt du, wo alle Männer, die nicht heirathen, zu Wallachen gemacht werden.«

»Teufel auch!« sagte lachend der Zimmermann. »Wie bist denn du da glücklich durchgekommen?«

»Ah! das ist sehr einfach. Ich habe mich in jedem Orte, wohin ich kam, provisorisch verheirathet; das geht da vornen herum sehr leicht.«

»Ah so!«

»Ja wohl, lieber Richard – Aber siehst du, mit dem Dorfe war es so: das lag nämlich am Fuße eines starken Geberges, von welchem im Herbst, wenn der Schnee schmolz –«

»Schellinger, du meinst im Frühjahr.«

»Nein, auf Ehre! dort schmilzt er im Herbst. – Und dann kamen dir also die grausamsten Wasserbäche von den Felsen herabgestürzt, und Alles auf das Dach los, und da die Häuser sehr tief lagen, so schoß es zu den Fenstern herein; und deßhalb standen alle Gebäude schief. – Verstehst du, Richard – damit das Schneewasser drüben ablaufen konnte.«

»Ah! das muß ich mir merken; das ist eine schöne Einrichtung.«

»Ja, sehr schön,« sprach melancholisch der Garderobegehilfe, während er seinen Schlüssel aus der Tasche zog und anfing, die baufällige Treppe hinauf zu klettern. Auf der Mitte derselben angekommen, sah er sich aber nach seinem Gefährten um, der drunten stehen geblieben war und ihm lachend zurief:

»Geh nur voran, Schellinger! Mich soll der Teufel holen, wenn das Ding da uns Beide trägt. Wenn dein Hausherr nicht [13] so ein niederträchtiger Hund wäre, da käme ich aus reiner Menschenliebe her und nagelte es mit ein paar Brettern zusammen. Das wankt ja, daß Einem angst und bange wird.«

»Ich mache mir nichts daraus,« entgegnete der Schneider, indem er vollends hinaufstieg. »Wenn man zum Beispiel in Amerika reist, da wird man solche Stege, die immer auf- und abgehen, sehr leicht gewöhnt. Weißt du, Richard, in den Sümpfen; so ein Sumpf ist seine viertausend Schuh tief, und da muß man hinüber, hat aber weder Damm noch Brücke.«

»Da geht man wohl auf Stelzen,« bemerkte Herr Hammer, der nun ebenfalls vorsichtig die Treppe hinauf geklettert war.

»O nein,« sagte sehr ernst der Andere, »das müßten ja Stelzen von viertausend Fuß Länge sein, und wenn ich mich je unterstehen wollte, euch so etwas zu er zählen, da würde es gleich wieder heißen: wie der Schellinger lügt! – Nein, nein! aber die amerikanische Regierung hat unzählige Alligatore angestellt. – Weißt du, was ein Alligator ist?«

»Ja, ich glaube eine Art Krokodil.«

»An die achtzig Schuh lang und zehn Schuh breit. Aus ihrem Fette macht man die Stearinkerzen. – Verstehst du: die ächten; aber das kommt nicht hieher. – Nun also, die Krokodile werden auf Kosten der Regierung gefüttert und sind famos abgerichtet. Wenn nun ein Reisender kommt (er muß aber einen Schein gelöst haben für die Krokodilenpost), da ruft er nur: Giv Achtong! und da reihen sich die Bestien an einander, wobei eins das andere immer in den Schwanz beißt. – Und das ist eine vortreffliche Brücke; aber sie schwankt ein bischen.«

»Das kann ich mir denken, Schellinger.«

»Aber sonst ist sie vollkommen sicher; man muß sich nur in Acht nehmen, daß man so einem Krokodil nicht gerade auf die Nase tritt, denn sonst fängt es an zu niesen, und wenn es niest, da hilft dir aller Schutz der amerikanischen Regierung nicht mehr, [14] da fällst du in den Sumpf, wie es schon manch' Einem geschehen ist.«

Bei diesen Worten hatte Herr Schellinger seine Stubenthüre geöffnet, und Beide traten in das mehr als dürftig möblirte Zimmer. Da befand sich nur ein alter Tisch, eigentlich nur ein Brett, das an der Wand stand, von einem einzigen Fuße unterstützt, ferner zwei sehr wackelige Stühle, und in der Ecke ein Geräthe, welches die Frechheit hatte, sich für ein Bett auszugeben, in Wahrheit aber nichts war, als ein hölzerner Schragen mit einer alten Wollenmatratze, einem Kopfkissen, auf welchem als Decke ein Stück Teppich lag, sowie ein langgedienter Reitermantel. Leintücher hatte sich Herr Schellinger längst abgewöhnt; in Indien nämlich hatte er einen unüberwindlichen Abscheu dagegen gefaßt wegen der vielen Tausendfüße und Schlangen, die sich nach frischer Wäsche sehnen und deßhalb zu einem in's Bett kriechen. – Was einen Ofen anbelangt, so war davon nirgend eine Spur zu sehen, Herr Schellinger behauptete auch, Frieren und Schwitzen seien Fehler, die man sich abgewöhnen könne, und er habe es darin sehr weit gebracht. Er behandelte dies Kapitel auch heute wieder, als nämlich Richard sagte: »Puh! Schellinger, bei dir ist es kalt!« und dabei in seine Hände blies.

»Ich zehre immer noch an meinen Reise-Erinnerungen in Brasilien,« versetzte er gleichmüthig. »Wir haben da eine übermenschliche Hitze ausgestanden. Hier schwitzt man auch, aber das ist gar nicht der Rede werth. Ich habe einstmals in Rio bei einem Maler gearbeitet, das heißt, ich mußte ihm Modell sitzen, denn er behauptete, mein Kopf sähe dem des Kaisers Napoleon auf eine wahrhaft erschreckliche Weise ähnlich. Da saß ich nun auf meinem Stuhl und hatte die Beine um die Füße desselben herum geschlungen; es waren, glaube ich, an dem Tag hundertundvierzig Grad Hitze. – Nein, es waren hunderteinundvierzig, weil bei hundertundvierzig noch Schule gehalten wird, aber bei hunderteinundvierzig haben die [15] Kinder Hitzvakanz. – Da saß ich also, und lief der Schweiß so an mir herunter, daß von den beiden Stuhlfüßen, wo Alles zusammen kam, ein paar ordentliche Bäche bis nach der Stubenthüre hinliefen. – Auf Ehre! Richard, ich bekam für die Stunde Modellsitzen einen preußischen Thaler.«

»Ei Schellinger!« rief lachend der Zimmermann, »dabei hättest du die schiefen Häuser aus der Wallachei brauchen können. – Aber wenn es dir nun recht ist, so wollen wir ein bischen von unserer Angelegenheit reden.«

Dabei hatte er sich einen Stuhl genommen, ihn vorher sorgfältig geprüft und sich dann darauf niedergelassen. Herr Schellinger machte es seufzend und mit empor gezogenen Augenbrauen ebenso, nur schlug er die Hände über einander, die Jener fröstelnd in seine Hosentaschen gesteckt hatte.

»Du weißt also,« begann Richard, »worum es sich eigentlich handelt; wir wollen, wenn es möglich ist, der Katharine, der armen Weibsperson, wieder zu ihrem Kinde verhelfen, das, wie du selber meinst, da drüben in dem Hause ist.«

»Der Beschreibung nach vermuthe ich das wohl,« erwiderte der Schneider; »sie ließen mich freilich nur einen kleinen Blick in den Affenstall hinein werfen, aber da sah ich so ein Ding, wie man es mir beschrieben, auch hatte es ein blaues wollenes Kleid an.«

»Und es sah in dem Stalle so jämmerlich aus.«

»O,« erwiderte kopfschüttelnd Herr Schellinger, »über alle Maßen. Ich habe auch da hinten herum mancherlei Elend gesehen, namentlich bei den Frosch-Indianern; die wohnen nämlich in Sümpfen und quacken wie die Frösche. Beiläufig gesagt, behauptet man, von ihnen stammen die amerikanischen Quäcker her; ich habe aber hierüber nicht in's Klare kommen können. – Die Frosch-Indianer nun haben die sehr schlechte Gewohnheit, sich gegenseitig ihre Kinder aufzuessen, und da das doch die Regierung der Vereinigten Staaten, wo sie naturalisirt sind, nun einmal nicht leiden kann, so [16] hat sie große Kleinindianerkinderbewahranstalten errichten lassen, wo es aber, unter uns gesagt, arg genug hergeht.«

»Ich will dir das recht gern glauben,« sagte einigermaßen ungeduldig der Zimmermann. »Aber jetzt handelt es sich nicht von Frosch-Indianern, sondern von Meister Schwemmer und der Katharine ihrem Kind. – Du weißt also genau, was du bei der Geschichte zu thun hast?«

»Ja, ich weiß es,« antwortete der Garderobe-Gehilfe; worauf er in tiefem Nachsinnen seine Hände auf den Knieen faltete und den Kopf auf die Brust sinken ließ. »Ich weiß es ganz genau. – Aber da war dazumal bei den Frosch-Indianern – nein, nein! ich irre mich: es war bei den Vögelnegern! – ein ganz verfluchter Kerl, eigentlich ein Verbrecher. – Richard, hast du je Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre gelesen?«

»Ich glaube wohl; aber bleibe bei der Sache, Schellinger?«

»Gleich, gleich, lieber Richard,« erwiderte jener sanftmüthig. – »Also dieser Kerl – ich glaube ein Preuße – war also auch ein Verbrecher geworden, nicht aus verlorener Ehre, sondern weil es ihm unmöglich war, irgendwo eine Schraube festsitzen zu lassen.«

»Ach dummes Zeug!«

»Nein, auf meine Ehre! Richard. Schon als ganz kleines Kind fing er damit an, wo es sich nur thun ließ, eine Schraube heraus zu ziehen; ich sage dir, wenn er eine sah, so zitterte er ordentlich drauf hinein. Da halfen keine Schläge und gar nichts; und das ward immer ärger, je mehr er heran wuchs.«

»Nun, so laß ihn in's Teufels Namen heranwachsen, und gib mir einmal eine vernünftige Antwort, denn wenn du so hartnäckig zerstreut bist und immer zu auf Reisen, da kann ja kein Mensch ein vernünftiges Wort mit dir reden.«

»Ja, du hast Recht, lieber Richard,« sagte melancholisch der [17] Schneider, indem er sich mit der Hand über die Stirne fuhr und tief aufseufzte; »es ist das allerdings eine schlechte Angewohnheit und plagt mich sehr. Es ist ein Unglück, daß ich diese weiten Reisen gemacht habe und es nun einmal nicht lassen kann, die Menschen aus meiner Erinnerung zu belehren. – Was habe ich davon? – Nichts als Undank! Ich weiß ja wohl, was die Leute sagen, wenn ich weggegangen bin. – Wie der Schellinger gelogen hat! lachen sie. Und siehst du, Richard, die Reputation eines Lügners zu haben, ich, der nur die Wahrheit spricht, das bringt mich noch unter den Boden.«

»Das sagt ja auch kein Mensch,« entgegnete begütigend der Zimmermann; »ich am allerwenigsten. Nur meinte ich eben, du solltest deine Phantasie ein bischen bemeistern und auch hie und da einmal von anderen Dingen sprechen, als von deinen schönen Reisen.«

»Ach, die Phantasie!« versetzte traurig Herr Schellinger, »die ist stärker als unser Wille; ich habe davon die schrecklichsten Beispiele. Glaubst du wohl, Richard, daß ich neulich des Nachts mich so in meinen Phantasieen verlor, daß ich deutlich die Brücke in Hinterindien vor mir sah, wo ich auf meinem Zebra in den Fluß hinabsprang, als mich der Oberst der leichten Braminen-Kavallerie verfolgte. Es war eigentlich ein Halbtraum, aber so schrecklich und deutlich, daß ich, als ich aufwachte, nachdem ich geträumt, ich sei im Wasser gelegen, nun über und über naß war. – Glaubst du das, Richard?«

»Ja, ja, ich glaube es dir, Schellinger. Aber jetzt ruf' deine Phantasieen zurück und laß uns einmal ein anderes Gespräch anfangen. – Du wirst also beim Dunkelwerden hinübergehen?«

»In einer halben Stunde.«

»Bei Meister Schwemmer setzst du dich wie oft an den Ofen und erzählst deine Geschichten, mußt aber solche Dinge vortragen, das sie dir nicht glauben.«

[18] »Das wird schwer angehen,« meinte Herr Schellinger.

»Na, versuch' es nur. – Wenn sie dir also nicht glauben wollen, und das sagen, so ereiferst du dich und machst ihnen einige Grobheiten. – Das kannst du doch? – So gibt denn ein Wort das andere; am Ende bedrohen sie dich vielleicht, du läßt dir nichts gefallen, ihr kommt aneinander, und dann machst du von deiner Waffe Gebrauch. – Du hast doch deine Pistole bei dir?«

»Hier ist sie,« entgegnete der Schneider und zog ein rostiges Theater-Terzerol aus der Tasche. »Der Inspizient hat es mir geliehen und auch mit einem schwachen Schusse geladen.«

»Es ist aber doch kein Schrot darin?«

»Gott bewahre! nur ein leichter Pfropfen. Auch werde ich damit an die Decke hinauf halten.«

»So ist's recht. – Zu gleicher Zeit schreist du um Hilfe, und dann sind wir wie ein Donnerwetter bei der Hand.«

»Was meinst du, Richard,« sagte Herr Schellinger nach einer Pause, »wenn sie mir zu hart auf den Leib gehen, soll ich nicht vielleicht den Einen oder Anderen zu Boden schlagen?«

»Nein!« entgegnete der Zimmermann, indem er lächelnd die miserable Figur des Schneiders betrachtete. »Laß das nur bleiben.«

»Das ist eigentlich schade,« fuhr dieser fort; »ich könnte dabei so gut den Handgriff anbringen, den mich die Tscherkessen gelehrt. Man bewegt nur die Faust ein wenig, läßt sie ganz sanft niederfallen, und wenn man dabei die richtige Stelle trifft, so stürzt dir ein Ochs zusammen. – Aber wenn du meinst, so thue ich es nicht.«

»Ich meine wirklich, es werde besser sein, wenn du es bleiben läßt, Schellinger; du hast überhaupt in dem Augenblick viel zu beobachten. Wenn du um Hilfe schreist, so mußt du im gleichen Augenblicke das Fenster oder die Thüre aufreißen. – Jetzt aber noch Eins. Was du hier an Habseligkeiten hast, das packen wir gleich zusammen, denn dableiben kannst du begreiflicherweise nach [19] der Geschichte nicht mehr; wir wollen schon ein Quartier für dich besorgen. Vorderhand kannst du zu mir ziehen, wir haben eine Kammer und ein Bett, besser als dieses hier. Es wäre gut, wenn du mit dem Einpacken gleich anfingest; ich lege dann die Geschichten irgendwo hin, von wo wir sie nachher mitnehmen können.«

»Das Zusammenpacken ist schnell besorgt,« erwiderte trübe lächelnd der Garderobe-Gehilfe. »Wenn ich bedenke, wo all' die schönen Sachen hingekommen sind – ich kam damals aus Indien zurück mit vierundsechzig Kisten – wo sind sie geblieben? – Gott weiß es! Aber das machte mir keinen Kummer, ich habe mir vorgenommen, nächstens einmal wieder eine Tour zu machen, und da werde ich schon wieder was Besonderes finden. – Wenn es dir Spaß macht, Richard, so bringe ich dir einen wahnsinnigen Affen in Lebensgröße mit.«

»Und warum gerade einen wahnsinnigen, Schellinger?«

»Ja siehst du, Richard, die gewöhnlichen sind zu toll und unanständig und man kann nichts mit ihnen anfangen. Haben sie aber einmal ihren Affenverstand verloren, so werden sie gelehrig und vernünftig wie ein Mensch. Sie sind freilich sehr theuer, aber das kommt mir bei dir nicht darauf an.«

Während er das sprach, war er aufgestanden, hatte eine alte Kiste unter dem Bettschragen hervorgezogen, und fing nun an, sie auf den Boden auszuleeren, zu welchem Zwecke er ein nicht mehr ganz neues Hemd ausbreitete und darauf allerlei unbedeutende Gegenstände, als: Knochen, Glas, kleine Stücke Holz, vergilbte Papiere, Haarbüschel, auch abgerutschte Tressen, schmierige Rockaufschläge und Kragen und dergleichen mehr niederlegte.

»Ich hatte einmal solch einen wahnsinnigen Affen,« sagte er währenddem, »und er war mir lange Jahre ein treuer und redlicher Bedienter. Er war ohne alle Unarten; nur konnte er es nicht ertragen, wenn man ihm von seinem früheren Stande sprach. Da wurde er grob und sagte mir oft die bittersten Wahrheiten. – [20] Siehst du, Richard,« unterbrach er sich selbst, indem er ein kleines Papier hervorzog, es aufmachte und dem Zimmermann eine Wursthaut darreichte, »sieh, das kannst du mitnehmen, es ist ein Stück Brillenschlangenhaut, davon brauchst du dir nur ein klein wenig um die Finger zu wickeln, und alle Schlangen, die dir begegnen, ergreifen augenblicklich die Flucht. Es beißt dich alsdann keine; auf Ehre! du kannst es mir glauben. – Da nimm es und thu' mir nur den Gefallen, es gleich zu probiren. – Ich will ein Lügner sein und ein schlechter Mensch, wenn du mir morgen nach dem Theater sagen kannst, es habe dich eine einzige Klapperschlange oder dergleichen Zeug gebissen.«

»Hilft es auch gegen die Flöhe!« fragte lachend der Zimmermann, während er die vertrocknete Wursthaut in die Tasche steckte.

»Laß einmal sehen. – Gegen die Flöhe?« erwiderte Herr Schellinger, streichelte gedankenvoll sein spitzes Kinn und sah zum Fenster hinaus. »Laß doch einmal sehen,« wiederholte er alsdann. – »Nein, gegen die Flöhe hilft es nicht; aber hier habe ich was Anderes für diesen Zweck, was mir in Arabien gute Dienste geleistet.«

Bei diesen Worten griff er in den Kasten und händigte seinem Freunde etwas ein, was dieser laut lachend betrachtete.

»Das ist ja ein Stiefelzieher,« sagte er.

»Nein, nein, gewiß nicht! Man braucht das in Arabien, um den Flöhen die Zähne auszubrechen.«

»Da müssen sie ungeheuer groß sein, Schellinger.«

»O, es geht so an,« entgegnete der Schneider. »Die größten, die ich gesehen habe, waren wie hier zu Lande ein kleiner Pudel. Doch soll's hinter Palmyra, wie glaubwürdige Reisebeschreibungen versichern, noch viel größere geben. Ich kam aber nicht dahin, sie wollten mir in Damaskus meinen Paß nicht weiter visiren, indem [21] der dortige Oberamtmann behauptete, ich sei von meiner Regierung als militärpflichtig reklamirt worden.«

Unter diesen Erzählungen hatte der Schneider sein Bündel gepackt und übergab es Richard, der ebenfalls aufgestanden war und es unter den Arm nahm. –

Die Sonne war untergegangen, klar und rein, wie sie den ganzen Tag geschienen, und hinterließ noch lange nachher eine Röthe am Horizont im Westen, so tief und glühend, daß die Nebel, welche sich im nächsten Augenblick über die Stadt lagerten, sie nicht zu bewältigen vermochten, sondern von ihr dunkelroth gefärbt wurden.

Der Zimmermann trat an's Fenster und sagte, während er hinausblickte: »Das wird eine kalte Nacht werden; ich bin froh, daß ich mich warm angezogen habe; denn wir werden doch eine Zeit lang draußen auf dich warten müssen.«

»Ja, kalt wird es werden,« meinte auch der Schneider. »Schau, wie blutig der Nebel aussieht. Wenn man an Vorbedeutungen glauben wollte, so könnte man vielleicht denken, unser Unternehmen möchte nicht ganz gut ablaufen.«

»Denkst du etwas dergleichen?« fragte Richard. »Schellinger! Schellinger! du hast dich so bereitwillig zu deinem Posten angeboten; noch ist es Zeit, zurückzutreten, wenn du etwa Furcht haben solltest. – Aber das will ich nicht glauben, du hast dich immer als muthig bewährt.«

»Furcht?« sprach geringschätzend der Garderobe- Gehilfe. »Ich meine, ich hätte in meinem Leben Muth genug gezeigt; von meinen Reisen will ich diesmal nichts reden, denn sie sind weltbekannt. Aber du wirst dich wohl erinnern, daß ich ein ganzes Jahr lang Theaterdiener war, als der alte Stütz gestorben.«

»Das weiß ich freilich. – Aber zu dem Geschäft gehört doch kein besonderer Muth.«

»Muth und Entschlossenheit. Geh' du einmal zu einer ersten [22] Sängerin hinein, wenn sie ohnehin schlechter Laune ist, wenn sie sich einbildet, heiser zu sein, weil sie nicht singen mag. Tritt du vor sie hin und fordere ihr irgend eine Rolle ab. – Lieber Freund, ich habe mancher Löwin ihre Jungen weggenommen – das thaten wir in Indien zur Bewegung vor dem Frühstück – und habe nie dabei gezittert. – Aber hier! – Oder bring' einem ersten Künstler den Befehl der Intendanz, eine, wie er glaubt, untergeordnete Rolle zu spielen, oder auch die Verweigerung eines neuen Kostüms! – Da heißt es Courage haben und fest hinstehen. Aber da drüben der Schwemmer, das ist mir ein Kinderspiel.«

»Es ist aber nicht nur der Schwemmer allein,« erwiderte der Zimmermann, »sondern die Kneipe hinten im Hofe soll eine Auflage alles möglichen Gesindels sein.«

»Das ist schon wahr,« fuhr der Schneider nachdenkend fort. »Aber ich kenne sie Alle; wie schon gesagt, der Schwemmer kann kaum von seinem Stuhle aufstehen, sonst bringt ihn der Husten um. Da ist nun ferner ein Monsieur Sträuber, ein hochnasiger Schuft, der aber nicht für einen Pfennig Muth im Leibe hat. Der einzige tüchtige Kerl, der da sein könnte, ist ein gewisser Mathias. – Doch,« setzte er mit ungewohnter Aufrichtigkeit hinzu, »thut er einem armen Schneider, wie ich bin, nichts zu Leide.«

»Für alle Fälle,« versetzte Richard nach einer Pause, »haben wir auch gute Freunde, die uns unterstützen werden.« – Er lehnte sich bei diesen Worten abermals an das Fenster und blickte auf die langsam dunkler werdende Stadt, wo sich schon hie und da einzelne Lichter zeigten. »Die Katharina war neulich bei einem Doktor, dem hat sie ihre Sache anvertraut und erzählt, daß sie hauptsächlich durch deine Hilfe ihr Kind wieder zu erlangen hofft. Es soll das ein braver Herr sein, und er hat mit dem Polizei-Kommissär dieses Viertels gesprochen, damit irgend Jemand in der Nähe ist, wenn wir allenfalls Hilfe brauchten.«

»Ich habe mit der Polizei nicht gerne zu thun,« sagte Herr [23] Schellinger; »es ist das für anständige Leute immer eine unangenehme Geschichte. Das tappt nur so zu, namentlich im Dunkeln, und wenn sie selbst einmal den Unrechten beim Kragen nehmen, so lassen sie ihn so bald nicht wieder fahren.« – Er schlug die Arme über einander und blickte, wie es schien, mit allerlei Gedanken beschäftigt, in's Freie hinaus, an den Himmel empor, wo sich trotz des Nebels einige Sterne mit blassem Lichte zeigten. – »Und wo ist die Katharine?« fragte er nach einer Pause.

»Ganz in der Nähe,« entgegnete Richard; »in der Verwirrung, wo wir dir zu Hilfe springen, wird sie in das Haus eilen, nach dem Affenstall, wie du die Kinderstube nennst, und dort ihr Mädchen holen.«

»Schön, schön; das ist nicht schlecht arrangirt. So wollen wir denn jetzt an die Ausführung gehen.«

»Ist es nicht noch zu früh.«

»Nein, später lassen sie mich gar nicht mehr in's Haus.«

»Und wie lange glaubst du, daß es dauern wird, bis wir zu thun bekommen?«

»Ich denke, so eine halbe Stunde bis drei Viertel; wenn sie nicht gar zu sanftmüthig gelaunt sind, so ist es Zeit genug, um einen Streit mit ihnen anzufangen.«

»So geh' denn hinunter, Schellinger,« sagte der Zimmermann, während er ihm mit komischem Ernste beide Hände auf die Schultern legte. »Denk, du seiest in Hinterindien oder in Vorderasien und gehest zur Attaque auf irgend einen wilden Indianerstamm. Halte dich tapfer und schreie zur gehörigen Zeit und recht laut um Hilfe.«

»Daran soll's nicht fehlen,« erwiderte der Schneider, der noch einen Blick rings durch die Stube laufen ließ, während er sich anschickte, sie zu verlassen. Plötzlich blieb er stehen, schlug sich vor die Stirne und sagte: »Wie kann man auch so vergeßlich sein! Hätte ich doch bald etwas ganz Nothwendiges übersehen! – Richard, du mußt mir die Liebe thun, da ich selbst keine Zeit mehr dazu habe, [24] an meine Stubenthüre ein Papier zu kleben und darauf zu schreiben: Schellinger wohnt nicht mehr hier, ist aber zu erfragen auf einem hochpreislichen Hoftheater-Intendanz-Bureau. – Es ist das für mich von großer Wichtigkeit, denn von Tag zu Tag erwarte ich den Besuch eines meiner besten Freunde, eines russischen Fürsten, mit dem ich in Kairo beim Vizekönig zu Gast war. Er versprach mir, mich in Deutschland zu besuchen, und sagte noch beim Abschied mit Thränen in den Augen zu mir: Paschol Durak – Schellinger! was so viel heißen will, als: Schellinger, ich werde dich niemals vergessen. – Nicht wahr, Richard, das besorgst du mir? – Es war ein guter Kerl, dieser Russe, und er würde mir niemals vergeben, wenn er hier vor meine verschlossene Stubenthüre käme.«

Der Schneider reichte hierauf seinem Freunde die Hand, bezeichnete auf der Stubenthüre die Stelle, wo er das Plakat angebracht zu haben wünschte, und stieg hierauf vorsichtig die Treppe hinab. Als er aber unten angekommen war, blieb er stehen und rief einige Male Richards Namen.

»Was soll's?« antwortete dieser in das dunkle Haus hinab, wo er die Gestalt des Schneiders nicht mehr erkennen konnte.

»Nur noch eine Kleinigkeit,« versetzte der Garderobe-Gehilfe. »Du mußt auf das Plakat über die Notiz, wo ich zu finden bin, statt meines einfachen Namens schreiben: der berühmte Reisende von Schellinger, denn nur so kennt mich mein Freund, der russische Fürst. – Jetzt aber gehab' dich wohl und fall' mir nicht die Treppen hinunter.«

Richard hörte nun für den Augenblick nichts weiter, als die tappenden Schritte, mit welchen Herr Schellinger sich entfernte, sowie das Knarren der Thüre, als derselbe das Haus verließ.

60. Kapitel
[25] Sechzigstes Kapitel.
Er!

Meister Schwemmer saß, wie fast immer, so auch am heutigen Abend auf seinem gewöhnlichen Platz am Ofen, die angeschwollenen Füße in Filzschuhen, auf den Knieen das unvermeidliche rothkarrirte Tuch, dessen eigentliche Bestimmung es war, den vielen von den Fingern herabfallenden Schnupftabak wieder aufzufangen. Hierauf hielt die Frau, und sie vergaß nie, dieses Tuch mehrmals des Tags in ein Papier auszuschütteln.

Vor dem Hausherrn saß rittlings auf einem Stuhle Herr Sträuber; er hatte die Hände auf die Lehne desselben gelegt und rieb sein spitzes Kinn auf ihnen hin und her. Madame Schwemmer befand sich in einer Ecke des Zimmers und schälte Kartoffeln, ging aber häufig in die Küche hinaus, um, wie sie sagte, nach dem Kindsbrei zu sehen, der auf dem Herde schmorte, in Wahrheit aber, um regelmäßig eine kleine Herzstärkung zu sich zu nehmen.

Herr Sträuber mußte etwas erzählt haben, was den Anderen einigermaßen überrascht, denn dieser schüttelte mit dem Kopfe, machte große Augen und ein schiefes Maul und meinte alsdann: »So, so! – Ei, ei! – und spurlos verschwunden?«

»Spurlos!« entgegnete Herr Sträuber, indem er seinen Kragen in die Höhe zog; »das heißt, wohlverstanden, spurlos als Lebender. Freilich todt genug zog man ihn am andern Morgen aus dem Kanal hervor.«

»Ah! das ist doch was Anderes! da wußte man also doch, wo er geblieben war! – Und wer besorgt dergleichen Geschichten?«

»Bssst! Meister Schwemmer! darüber spricht man nicht gern; [26] es weiß es auch eigentlich Niemand genau, wer da den Scharfrichter spielt. Genug, es ist schon einige Male vorgekommen, so viel ich weiß.«

»Und da spricht er ganz einfach einen Urtheilsspruch?«

»Nachdem er drei, vier der Andern gehört hat, und sie seiner Meinung sind.«

»Na, da ist doch eigentlich eine Art von Gericht, und dagegen kann man nichts haben.«

»Ganz richtig: dabei wäre am Ende auch nichts zu erinnern. Aber er übt auch sonst – unter uns gesagt – eine zu wahnsinnige Tyrannei aus. Kann Einer von uns wohl thun, was er mag? – Hat irgend Einer einen freien Willen? – Nein! nein! beim Teufel! nein! Ich versichere Euch, Meister Schwemmer, ich gehe stark mit der Absicht um, wieder ehrlich zu werden und mein Brod auf anständige Weise zu verdienen. Ich absonderlich tauge nicht in diese Gesellschaft; man hat eine Erziehung genossen, man hat eine Vergangenheit, und dann – gibt es ein paar zu schöne Augen, die mich oftmals mit heißen Thränen bitten, aus dem Dunkel hervorzutreten, in das mich unsere Lebensweise hüllt. – Schöne Augen!«

»Nun, wenn die schönen Augen Geld haben, so heirathet sie in Gottes Namen und lebt Eurer Erziehung und Eurem Stande gemäß.«

»Findet Ihr das nicht auch, Meister: ich bin zu nobel, zu vornehm für dies Gewerbe?«

»Das wollte ich gerade nicht sagen,« meinte hustend der Hausherr. »Wißt Ihr, Sträuber, Euch fehlt der rechte Muth zu unserem Geschäft, Ihr habt Angst vor einem Handgemenge, Ihr seid zu weich.«

»Richtig, richtig, Meister Schwemmer!« erwiderte schwärmerisch der Andere, wobei er den Hut, den er auf dem Kopf hatte, fest in die Augen drückte. »Das sagt meine Gräfin mit den schönen [27] Augen auch. Was mich dieses Weib liebt, davon habt Ihr gar keine Vorstellung. – Es frißt mir das Herz ab, wenn ich sie so vornehm und stolz vorüber fahren sehe, und dabei bedenke, was ich für ein miserabler Sklave bin. – Und Sklaven sind wir, das ist nicht zu leugnen.«

Als Herr Sträuber von der schönen Gräfin sprach, nahm der Hausherr eine gewaltige Prise und kniff sein linkes Auge zu gegen das Weib hin, das darauf verächtlich lächelnd die Achseln zuckte.

»Glaubt Ihr nicht, daß wir Sklaven sind?« fuhr Herr Sträuber fort, da er diese Grimasse, welche seiner angeblich vornehmen Bekanntschaft galt, mißverstanden.

»O ja doch,« entgegnete Meister Schwemmer; »namentlich Ihr vom Fuchsbau. Mich hier läßt er so ziemlich im Frieden.«

»Wartet nur; ich sehe es auch noch kommen, daß er Euch irgend was am Zeuge flickt. Er soll neulich zu Mathias gesagt haben: was wißt Ihr von der Wirthschaft bei dem Schwemmer? Da sollen zuweilen saubere Geschichten vor sich gehen; sagt ihm mein Kompliment und er soll sich in Acht nehmen.«

»Hat er das wirklich gesagt?« fragte der Meister, der einen plötzlichen Schrecken mühsam hinter einem leichten Hüsteln zu verbergen suchte, wogegen das Weib Kartoffeln und Messer in den Schooß fallen ließ und mit weit offenem Munde drein schaute.

»Ja, das hat er gesagt?« fuhr Herr Sträuber fort, offenbar sehr befriedigt durch die Wirkung, welche diese Worte hervorgebracht. – »Von mir sprach er ebenfalls, und nicht gerade besonders schmeichelhaft; er nennt mein unschuldiges Vergnügen, den kleinen Kindern die Ohrringe wegzunehmen, ein gemeines Verbrechen, eine Schande; er wolle ein Wort mit mir reden, wenn er sich einmal von der Wahrheit überzeugt. – Nun, ist das keine Sklaverei? Müssen wir uns eine solche Herrschaft gefallen lassen?«

Der Andere winkte mit der Hand, als wollte er sagen: stille, [28] stille! Und dann fragte er mit leiser Stimme: »Woher erfährt er denn alle diese Geschichten?«

»Das weiß der Teufel!« sagte Herr Sträuber; »aber ihm bleibt nicht leicht etwas verborgen. – Ich habe immer schon gedacht, der Mathias mache zuweilen den Spion gegen uns.«

»Nein, gewiß nicht!« erwiderte Meister Schwemmer im Tone der Ueberzeugung. »Der Mathias ist ein rauher Kerl, aber verrathen thut der Niemand. – Es ist das überhaupt ein räthselhafter Herr,« fuhr er nach einer Pause fort.

»Wer? – der Mathias?«

»Ach nein! er! – Habt Ihr ihn kürzlich gesehen?«

»Gott sei Dank! nein; nur neulich zufällig erfahren, daß er im Hause sei, wie die Geschichte mit dem Lakaien spielte.«

»Aber Ihr spracht ihn früher schon?«

»Ein einziges Mal. Und ich muß gestehen, da machte er auf mich einen gewaltigen Eindruck. Er ist nicht übermäßig groß, aber seine Stimme geht Einem durch Mark und Bein, und wenn er eine Bewegung macht, auf und ab geht oder etwas thut, so meint man, seine Glieder seien von Stahl und Eisen.«

»Ja, ja, so ist es,« entgegnete der Hausherr, während er langsam den Kopf in die Hand sinken ließ. – »Aber glaubt Ihr wohl,« fuhr er nach einer Pause fort, »daß ihn Jemand von den Anderen genau kennt?«

Herr Sträuber schüttelte den Kopf und versetzte: »Sehr genau kennt ihn gewiß Niemand, am besten wohl der Mathias, und dann der Josef, dessen Ihr Euch wohl noch erinnern werdet.«

»Richtig, der Josef! – Wo ist der wohl geblieben?«

»Hm! hm!« machte der Andere. Dann hob er den Kopf in die Höhe und blickte seinem Gegenüber forschend in die Augen, so daß dieser fortfuhr:

»Vor mir braucht Ihr Euch nicht zu geniren, denn wir kennen uns lange und genau genug.«

[29] »Das ist schon wahr,« meinte Herr Sträuber und blinzelte mit den Augen. »Ich habe eigentlich auch schon lange mit Euch darüber sprechen wollen; jedoch –« er warf einen Blick auf das Weib in der Ecke, welchen der Hausherr vollkommen verstand, denn er sagte augenblicklich mit seiner heiseren Stimme:

»Geh' hinaus und schaue einmal nach den Kindern; ich meine, ich hör' da ein Geschrei.«

Worauf sie sich mit einer unmuthigen Bewegung erhob und das Zimmer verließ.

»Nun –?«

»Der Josef verschwand also plötzlich spurlos und blieb wenigstens ein ganzes Jahr weg. Eines Abends erschien er nun wieder einmal im Fuchsbau, ganz zerlumpt und abgerissen.«

»Er hatte wohl eine Kunstreise gemacht?«

»Wie ich Euch sage: er schaute zum Erbarmen aus. Es war gerade an jenem Abend, wo er auch im Fuchsbau war. Er muß auch den Josef gesprochen haben, denn der Mathias führte ihn auf ein Zeichen der Alten aus der Schenkstube hinweg, und Beide kamen nicht wieder. Mathias freilich nur für den Abend, der Josef aber auch am anderen und die folgenden Tage nicht.«

»Da wird er wieder auf Reisen gegangen sein?«

Herr Sträuber lehnte sich mit seinem Stuhle so weit als möglich vorn über, worauf er mit den Augen blinzelte und leise flüsternd sagte: »Unter uns, Meister Schwemmer, er blieb in der Stadt; ich möchte wenigstens hundert Gulden gegen einen faulen Apfel wetten, daß ich ihn kürzlich wieder gesehen.«

»Zerlumpt?« –

»Im Gegentheil: er stand auf einer herrschaftlichen Kutsche, auf's Schönste als Jäger angezogen.«

»Nun, das ist was Rechtes. Da wird er eine Stelle haben, wie der selige Lakai.«

»O nein; mit dem blieben wir beständig im Rapport, der [30] kannte uns genau und nickte uns auf der Straße, so oft er nur konnte, verstohlen zu. – Aber Herr Josef sind stolz und vornehm geworden, ein ganz Anderer, kennt uns nicht mehr und wenden den Kopf ab, wenn wir ihn ein bischen scharf anblicken.«

Meister Schwemmer schaute an die Decke empor, nahm eine starke Prise und hielt darauf seine Nase eine Zeit lang mit den Fingern fest, während er eifrig nachdachte. – »Das ist allerdings sonderbar,« sagte er alsdann. »Aber ich will Euch einen Rath geben, bester Sträuber; wenn sich die Sache so verhält, so thut Euch selbst den Gefallen, und blickt den Joseph nicht so scharf an, denn sonst könnte er Euch auf kuriose Art zwingen, die Augen niederzuschlagen.«

»Immer wieder er!« entgegnete der Andere und setzte mit prahlerischem Tone hinzu: »Was will er denn eigentlich? Ich werde doch, beim Blitz! auf der Straße die Menschen ansehen dürfen! – Ihr habt eine gewaltige Angst vor ihm.«

»O lieber Freund,« antwortete lächelnd der Hausherr, »wir wissen wohl, wer die meiste Angst hat, aber auch das größte Maul. Wollte Euch nur sehen, was Ihr für ein Gesicht machen würdet, wenn er jetzt zufällig zum Fenster herein schaute.«

Bei diesen Worten blickte der Sprecher, um den Anderen zu necken, etwas scharf auf die dunkeln Scheiben, worauf Herr Sträuber erschrocken herumfuhr, und dann, als Jener laut auflachte, verdrießlich sagte: »Ah! laßt doch die schlechten Witze! Damit treibt man keinen Spaß.«

»Na, setzt Euch nur ruhig wieder hin,« fuhr Meister Schwemmer nach einem heftigen Hustenanfall fort. »Daher kommt er nicht: wir stehen nicht in seiner Gnade; er bekümmert sich auch nicht um uns, was mir übrigens sehr angenehm ist. – Aber sagt mir über Eins Eure Meinung – ich weiß, Ihr denkt viel und habt in manchen Sachen einen außerordentlichen Scharfblick – wofür haltet Ihr ihn eigentlich?«

[31] Herr Sträuber zuckte bei diesen Worten hoch und lange die Achseln, dann schob er seine Unterlippe vor und entgegnete: »Das mag der Teufel wissen.«

»Na, gebt was los!« meinte der Hausherr, da Jener zu zaudern schien. »Ihr habt gewiß viel darüber nachgedacht und auch Manches in Erfahrung gebracht.«

»Erfahren habe ich eigentlich über ihn nie etwas,« erwiderte Herr Sträuber. »Aber meine Idee steht so ziemlich fest.«

»Nun denn?« –

»Daß er keiner unseres Gleichen ist, das liegt am Tage, ebenso, daß die Gestalt, unter der er bei uns erscheint, nicht seine wahre ist. – Ich halte ihn mit einem Wort für einen vornehmen und reichen Herrn, dem es nun einmal Spaß macht, eine solche Rolle zu spielen.«

»Ja, ja, das denke ich auch.«

»Der eine Freude daran findet, so eine unsichtbare und mächtige Hand über die Menschen auszustrecken, und hier und dort Einen zu schütteln und zu kneifen; dessen Laune es ist, manchmal Jemand, der sich vielleicht seinen Zorn zugezogen, gewaltig zu treffen. – Denn aus Eigennutz oder des Verdienstes halber hat er sich nicht mit uns eingelassen, das liegt am Tage.«

»Gewiß nicht; ich wüßte mich wenigstens nicht zu erinnern, daß er je auch nur Nadelknopfs werth von dem Erworbenen für sich in Anspruch genommen.«

»Ihr müßt aber da etwas unterscheiden,« fuhr Herr Sträuber mit einem pfiffigen Gesichte fort; »er verlangte freilich nie etwas, was für uns Werth hat, aber die Sachen, die er sich vorbehielt, und die wir hie und da mitnahmen, mußten doch wohl für ihn wichtig sein, denn er hat sie uns meistens reich bezahlt.«

»Und was waren das für Sachen?«

»Papiere, lieber Freund! – Dokumente; was weiß ich! Oftmals Briefschaften, ja nur ein einfaches Porträt, das er haben [32] wollte. Und wie genau wußte er immer, wo das zu finden sei. In solchen Fällen gab er das Zimmer an, den Tisch oder den Schrank, wo sich die und die Kassette befände; ja er wußte oft, wo der Schlüssel war, oder sagte, man müsse sie aufsprengen oder ganz mitnehmen.«

»Aber Papiere von Geldwerth nahm er nicht?«

»Davon habe ich niemals etwas gehört. – Als ich ihn damals sah – er gab uns in der Nacht über einen verwickelten Fall eine sehr genaue Instruktion – sprach er etwas, das ich nicht vergessen werde. – Einer ist auf dieser Erde der Sklave des Anderen, sagte er; mir macht es nun einmal Vergnügen, so eine recht scharfe Peitsche über Alle schwingen zu können, nachdem sie mich lange und schwer gegeißelt. – Zu derselben Zeit bekam der Mathias noch einen ganz sonderbaren Auftrag, den er auch mit einer unglaublichen Gewandtheit ausführte. – Was meint Ihr wohl, Meister? – Er mußte sich mit großer Gefahr in ein Haus schleichen, mehrere Thüren öffnen, und das alles nicht um etwas zu nehmen, sondern um etwas zu bringen.«

»Ah! Sträuber, Ihr bindet mir Eins auf.«

»Gewiß nicht; mich soll der Teufel holen! Er bekam von ihm ein Paketchen mit Briefen, und die mußte der Mathias dort in einem Schreibtisch in ein ihm genau bezeichnetes Fach legen.«

»Das begreife ein Mensch.«

»Ich hab's begriffen,« sprach Herr Sträuber schmunzelnd, indem er die linke Hand mit ausgespreizten Fingern von sich abstreckte; »das war eine Mine, die er in dem Hause legte, die artig aufplatzte und dort mehr Verwirrung anrichtete, als wenn wir hunderttausend Thaler gestohlen hätten.«

In diesem Augenblicke vernahm man ein leises Klopfen an der Hausthüre.

»Wer kann das sein?« fragte Meister Schwemmer.

»Vielleicht der Mathias.«

[33] »Nein; der klopft nicht so leise,« sagte der Hausherr. »Geh an die Thüre!« rief er seiner Frau, die eben wieder eintrat, zu, »und schau, wer da ist. Wir brauchen keinen Besuch.«

»Dem Klopfen nach,« meinte sie, »ist es der Schneider von drüben.«

»Ah! mein Freund Schellinger!« rief lustig Herr Sträuber. »Den müßt Ihr auf einen Augenblick herein lassen, das ist ein gar zu amüsanter Kerl; er soll uns von seinen Reisen erzählen. – Nicht, Meister?«

»Meinetwegen!« entgegnete der Hausherr. »Ich habe eigentlich nichts dagegen; eine halbe Stunde kann er schon da bleiben. Aber dann kommt der Mathias, und der ist, wie ihr wißt, kein Freund von solchen Schnurrpfeifereien.«

Die Frau öffnete die Thüre und Herr Schellinger trat ein. Er rieb sich fröstelnd die Hände, bewegte seine Schultern hin und her, und sagte dann: »Guten Abend bei einander; heute Nacht wird's kalt, ich wollte mir nur noch eine Handvoll Wärme mitnehmen, ehe ich in mein Bett gehe.«

»Ja, Ihr bringt einen wahren Frost mit herein,« versetzte Meister Schwemmer stark hustend. »Setzt Euch da auf die Bank und thaut ein bischen auf.«

Der Schneider that wie ihm geheißen und ließ sich auf einen Schemel an der Seite des Ofens nieder, wo sich die Stubenthüre befand.

»Habe lange nicht das Vergnügen gehabt, Freund Schellinger,« sprach Herr Sträuber. »Ihr besucht Eure Freunde so selten.«

»Wer zu oft kommt, der wird überlästig,« sagte Schellinger lächelnd. Dann wandte er sich an den Hausherrn und meinte: »So ein warmer Ofen thut doch gut; Ihr solltet mir nächstens auch einen in die Stube setzen lassen.«

»Das erträgt's Gebälk nicht,« warf lachend Herr Sträuber ein. »Ich fürchte immer, daß Ihr's einmal durchbrecht und daß ich Euch eines Tags im untern Stock von der Decke herabhängend finde.«

[34] Der Schneider legte seine Arme auf die Kniee, wie er gern zu thun pflegte, und ließ den Kopf tief sinken, den er nur zuweilen seitwärts erhob, um alsdann Dem, mit welchem er gerade sprach, mit einem eigenthümlichen Gesichtsausdrucke von unten herauf in die Augen zu blicken. – »Das wäre möglich,« sagte er, »daß ich mich noch einmal selbst da aufhänge; aber vorher warte ich noch auf etwas.«

»Und das wäre?« lachte Herr Sträuber.

»Daß Andere zuerst Euch aufhängen,« entgegnete ruhig der Garderobe-Gehilfe. »Ich möchte sehen, wie sich dabei ein Mann von Lebensart und guter Erziehung wie Ihr ausnimmt.«

»Pfui, Schellinger!« erwiderte der Andere. »Wer kann von so etwas nur reden!«

»Ja Ihr brachtet mich darauf,« lächelte der Schneider. »Nicht wahr, Meister, ich fing nicht an?«

»Nein, Ihr fingt nicht an,« antwortete der Hausherr, während er Herrn Schellinger seine Dose darbot.

»Danke schön. – Bin so frei. – Und wie geht's mit der Gesundheit?«

»Ich kann's gerade nicht rühmen,« entgegnete Meister Schwemmer. »Der Winter greift mich an; das ist für Unsereins eine garstige Jahreszeit?«

»Ja, das Frühjahr ist besser,« mischte sich Herr Sträuber in's Gespräch, und nickte dabei dem Schneider bedeutsam zu.

»Es ist etwas Seltsames,« sprach dieser kopfschüttelnd nach einer Pause und sah starr vor sich auf den Boden, »um so einen starken Schnupfen, wie Ihr habt. Das kommt in der Geschwindigkeit angeflogen und geht langsam wieder.«

»Aber bei mir ist es doch etwas mehr als Schnupfen,« meinte trübe lächelnd der Hausherr.

»Nichts als Schnupfen,« entgegnete Herr Schellinger in bestimmtem Tone. »Ich habe ihn einmal in Rußland vier Jahre gehabt, [35] unaufhörlich fort. Und da ich damals in sehr feine Gesellschaft ging, so brauchte ich täglich vierundzwanzig Schnupftücher, gerade zwei Dutzend; daran habe ich die Zahl behalten.«

»Aber meinen Husten – den hattet Ihr nicht. Seht, das ist oft so arg, ich könnte wahrhaftig vom Stuhle herunterfallen.«

»Der meine war dazumal noch schlimmer;« fuhr der Schneider unerschütterlich fort; »ich mußte mich oft durch sechs Kosaken halten lassen, nur um nicht hinzustürzen.«

»Und wie wurdet Ihr Euren Schnupfen los?« fragte Herr Sträuber.

»Allein durch Luftveränderung. In der Verzweiflung schloß ich mich an eine Gesellschaft an, die hinauf an den Nordpol reiste, um dort das große Loch zu untersuchen, welches die Erdaxe in's Eis gebohrt hat.«

»Aber um einen solchen Husten und Schnupfen los zu werden, meine ich, man ginge nach dem Süden, dahin, wo es recht warm ist,« sagte der Hausherr.

»Das hatte bei mir nicht geholfen,« erwiderte Herr Schellinger. »Die Aerzte zuckten bei meinem Anblick die Achseln und behaupteten, mir könne nur die Frierkur helfen.«

»Und wie ist die?«

»Man reist also ganz einfach nach dem Nordpol hinauf, dort ist die Anstalt, wo man die Frierkur durchmacht; man kann auch da Molken trinken, aber sie schmecken von dem vielen Schneewasser ein bischen salzig. – Nun also werde ich in dicke Pelze eingehüllt, Alles: Körper, Gesicht, Mund und Nase. Dann bohrte man mir unter der Letzteren zwei Löcher, da hinein steckte man Röhren, durch welche der Frost auf mich einwirken sollte. Und so wurde ich vier Tage lang gerade mitten auf die Erdaxe gesetzt, bis der Schnupfen in meinem Kopf erfroren war, dann nahm man ihn heraus, setzte ihn in Spiritus, und ich habe ihn lange bei mir verwahrt, verkaufte ihn aber zuletzt auf vieles Zureden [36] an die Universität nach Berlin für zwanzigtausend preußische Thaler.«

»Da wurdet Ihr ja auf einmal ein reicher Mann,« sprach laut lachend Herr Sträuber.

»Hätte es sein können,« entgegnete wehmüthig der Schneider. »Aber ich erhielt mein Geld in lauter Papierscheinen zu jener Zeit, als es dort so ungeheuer viel falsche gab. Das war ein großes Unglück, denn, als ich mir mit meinen zwanzigtausend Thalern in der Tasche ein Milchbrod kaufen wollte, so mußte ich noch sechs Pfennige darauf legen.«

»Das ist allerdings ein hartes Schicksal,« meinte der Hausherr. »Und das hat Euch gewiß ein- für allemal Preußen entleidet?«

»Ich will das nicht geradezu behaupten,« antwortete Herr Schellinger. »Allerdings schmerzte mich der Verlust dieses Geldes; doch Gold läßt sich nicht erwerben. Aber ich verließ dazumal Berlin, – es war im Monat August und es wimmelte auf den Straßen von tollen Hunden –«

»Und das machte Euch Angst?«

»Es war mir wenigstens nicht besonders angenehm; und da mir die Welt offen stand, so reiste ich direkt nach Persien. – Aber da fällt mir noch eine schauerliche Geschichte ein, die damals mit solch' einem wüthenden Hunde in Berlin passirte. Dieser Hund – ich glaube, er hieß Sultan – wurde, Gott weiß, aus welcher Ursache, rasend, er biß ein Pferd, das nach gehöriger Zeit ebenfalls wüthend wurde, und zwar gerade, als man im Begriff war, es einzuspannen. Dieser Gaul schlägt wie toll um sich und endlich beißt er zu wiederholten Malen in die Deichsel. – Das hat nun weiter nichts zu sagen, meint ihr; aber ich gebe euch mein Ehrenwort, daß die Sache einen fürchterlichen Verlauf nahm. Diese Deichsel nämlich, ja der ganze Wagen war am anderen Tage angesteckt, und rannte wie toll durch alle Straßen, und in einer Geschwindigkeit, [37] daß zwölf Mann Gensdarmerie zu Pferde kaum im Stande waren ihn einzuholen.«

»Aber er hat doch Niemand gebissen?« fragte pfiffig blinzelnd Herr Sträuber.

»Das gerade nicht; aber ich habe Leute gekannt, die bei diesem Anblick in Ohnmacht fielen, und die, als sie wieder zu sich kamen, ihr ganzes Leben hindurch behaupteten, sie hätten ein herumlaufendes Rad im Kopfe. – Und das ist keine Kleinigkeit.«

»Schellinger ist immer noch der Alte,« sagte der Hausherr, nachdem er zuerst gelacht, dann gehustet und sich darauf in einem wahren Erstickungsanfall die Seiten zusammengepreßt hatte.

»Ja, ja, wir bleiben die Alten,« entgegnete kopfnickend der Schneider, – »bis an unser seliges Ende.«

Herr Sträuber verzog bei diesen Worten auf unangenehme Art den Mund und schnalzte mit der Zunge, als koste er etwas sehr Scharfes und Bitteres. – »Sprechen wir nicht davon,« sagte er; »ich mag das nicht leiden; es kommt früh genug.«

»So solltet Ihr nicht sprechen,« erwiderte der Garderobe-Gehilfe und sah den Anderen fest an. »Unsereins hat bei seinem Tode nichts zu erwarten; wir gehen abwärts, sieben bis acht Schuh abwärts, und liegen da ruhig, bis uns die Graswurzeln in's Gesicht wachsen. Aber Ihr, Sträuber, Ihr geht bei Eurem seligen Ende ein paar Klafter aufwärts, darauf möchte ich schwören, und erhaltet da vornehme Gesellschaft, die Euch laut schwätzend umkreisen und sehr vielen Geschmack an Euch finden wird.«

Wir können nicht verschweigen, daß Herr Sträuber bei diesen Worten leicht zusammenschauerte und sich einigermaßen entfärbte.

Auch Meister Schwemmer bewegte sich unmuthig auf seinem Stuhle, während er sagte: »Laßt doch diese scheußlichen Reden; das greift mir wahrhaftig die Nerven an.«

»Man muß immer an sein Ende denken,« versetzte unerschütterlich der Schneider. »Und Ihr werdet doch keine Angst vor dem [38] Tode haben? das ist Euch ja ein alter lieber Gast, der oft genug hier im Hause einkehrt.«

Der Hausherr war bei diesen Worten erschreckt zusammen gefahren, dann aber raffte er sich empor und blickte den Schneider mit seinen weit aufgerissenen, unheimlich glänzenden Augen an, wobei er den Mund öffnete, so daß seine dünnen Backen tief einsanken. Doch versuchte er es gleich darauf wieder, zu lächeln, während er hüstelnd sagte: »Alter Spaßvogel, der Schellinger! – Gott sei es gedankt, mit uns ist der Tod bis jetzt recht säuberlich verfahren.«

Der Schneider that gar nicht, als habe er nur das Geringste von der Aufregung der Andern gesehen; er klopfte sich mit den Händen auf seine dünnen Schenkel und schaute an die Decke, als er sprach: »Wißt Ihr, Meister, die Leute sagen so; mir kann es ja im Grunde gleichgiltig sein.«

»Was sagen die Leute?«

»Nun, was werden sie sagen! Daß Ihr hinten in Eurem Hause einen Stall habet, wo die armen kleinen Kinder, die von Gott und den Menschen verlassen sind und deßhalb in Eure Hände fallen, zu Tode gefüttert werden.«

»Ah!«

»Ja, das sagen sie. Und sie halten das Ganze hier nur für eine Seelenverkäuferei; und deßhalb bin ich auch eigentlich gekommen, um mein Quartier bei Euch aufzukündigen, denn wenn ich noch ferner wohnen bliebe, so könnte meine Reputation darunter leiden.«

Herr Sträuber hatte sich bei diesen seltsamen Worten zoll- und ruckweise von seinem Stuhle erhoben und den Schneider mit einem wahrhaft gläsernen Blicke betrachtet. Seine rechte Hand tappte dabei hinter sich an die Stuhllehne, als glaube er dort irgend ein Instrument zum Dreinschlagen finden oder fassen zu können. Zu gleicher Zeit blickte er aber auch auf die Stubenthüre und schien [39] in Erwägung zu ziehen, ob es nicht besser wäre, dies Haus, von dem man so schreckliche Dinge sagte, zu verlassen.

»Ich begreife übrigens gar nicht,« fuhr der Schneider mit großer Kaltblütigkeit fort, »wie Ihr mich so verwundert anstaunen mögt? Habt Ihr denn nicht gewußt, daß die Leute so was sagen?«

»Nein, nein!« stieß der Hausherr mühsam hervor. »Das sagt auch Niemand als Ihr allein.«

»Ich?« – »was geht's mich eigentlich an? Meint Ihr denn, daß Jemand, der Abends hinter der Stadtmauer spazieren geht, nicht zuweilen das Lachen und Singen Eurer Pflegekinder hört? – Lachen und Singen, daß einem ehrlichen Manne die Haut schaudern muß.«

»Nein, nein, man kann es nicht hören!« schrie Meister Schwemmer. Doch da er augenblicklich heiser war, so setzte er flüsternd und kaum hörbar hinzu: »Niemand als ein Spion kann das hören! und ein solcher Spion seid Ihr! – Ihr! Ihr!« Er warf sich bei diesen Worten gewaltsam vorn über, so daß sich seine spitzige Nase wenige Zoll von der Brust des Schneiders befand, und bei jedem »Ihr!« das er mühsam herausbrachte, stieß er damit vorwärts, als wollte er seinem Gegner jedesmal einen Dolchstoß versetzen.

Das Weib war unterdessen wieder in die Stube getreten und hatte sich mit wankenden Schritten genähert. Ihre Nase war stark geröthet, und aus den Augen flammte die Trunkenheit; sie hatte die Kartoffeln fallen lassen, das Küchenmesser dagegen in der Hand behalten.

Herr Schellinger besaß wirklichen Muth; denn Angesichts dieser drohenden Geberden, die ihn rings umgaben, zuckte er leicht die Achseln und sagte mit bewundernswürdiger Ruhe, indem er sich langsam erhob: »Ich habe das schon lange gewußt: wer die Wahrheit spricht, den beherbergt man nicht; und deßhalb halte ich es für das Beste, wenn ich nach Hause gehe.«

Bei diesen Worten war er ganz aufgestanden und hatte vorsichtiger [40] Weise den schweren hölzernen Schemel, auf dem er gesessen, wie einen Schild vor sich genommen, während er sich mit dem Rücken an die Wand lehnte. Er gebrauchte diese Vorsichtsmaßregeln nur wegen des betrunkenen Weibes, deren wilde Leidenschaft er wohl kannte, und da er ganz richtig überlegte: »Wenn ich auch wirklich um Hilfe schreie, so kann die mir ein paar Zoll ihres Messers in den Leib stoßen, ehe Jemand Amen sagt.«

»Nein – nein – er – soll – nicht – von – hier – fort, – jetzt!« – rief Meister Schwemmer. Und dabei machte er den Versuch, sich zu erheben; doch versagten ihm die kraftlosen Beine den Dienst, so daß er in seinen Stuhl zurück sank. – »Er soll – dableiben – bis – der Mathias – kommt. – – Und – der wird – gleich – hier sein. – Sträuber – stellt Euch – an die – Thüre – und laßt – ihn – nicht – – hinaus!«

Dieser that zögernd wie ihm geheißen; er war auffallend erblaßt, und obgleich wenigstens einen Kopf größer als Herr Schellinger, schien es doch, er würde diesem viel lieber die Thüre öffnen und ihn laufen lassen, als daß er genöthigt sei, ihn am Fortgehen zu verhindern.

Kaum aber hatte sich Herr Sträuber mit dem Rücken dagegen gelehnt, so fuhr er mit einem Ausruf des Schreckens und wie von einer Feder geschnellt wieder in das Zimmer hinein, denn hinter ihm wurde eben diese Thüre plötzlich geöffnet und der erwartete Mathias trat eilfertig herein.

»Da ist – er schon!« schrie Meister Schwemmer eifrig. – »Da ist er schon! – Habt Ihr – die Hausthüre geschlossen, Mathias? – So, jetzt – stellt – Euch wieder vor die Stubenthüre-Sträuber. – Warte – warte, Schneider!« – Er hätte wahrscheinlich noch mehr hinzugefügt, doch überfiel ihn ein so furchtbarer Husten, daß es ihn gewaltsam vorn über und dann wieder zurück an die Stuhllehne warf, und er längere Zeit brauchte, ehe selbst Jemand anders zu Wort kommen konnte.

[41] Herr Sträuber, als er sah, daß es nur eine neue kräftige Hilfe war, die ihn vorhin so in Schrecken gesetzt, zog hastig seinen schwarzen Frack etwas herab, drückte mit einem gelinden Klaps den Hut auf dem Kopfe fest und stellte sich hierauf an die Thüre, trotzig und augenscheinlich voll Kampflust.

Mathias war in die Mitte der Stube getreten und schaute Jeden der Anwesenden der Reihe nach ruhig an. – »Was geht denn hier vor?« fragte er dann nach einer Pause. »Sollte man doch wirklich meinen, der Teufel sei auch hier los.«

Der Hausherr, der noch immer nicht sprechen konnte, verzog heftig sein Gesicht und deutete auf den Schneider.

»Was ist's denn mit ihm?« fragte Mathias. Und da Meister Schwemmer nicht antwortete, so fuhr er zu Sträuber gewendet fort: »So schwätzt Ihr! Das Maul zu gebrauchen wird Euch doch wohl nicht schwer werden.«

»Der Schneider führte hier so eben ganz absonderliche Reden,« antwortete der an der Thüre. »Es ist das ein gefährlicher Kerl geworden –«

»Ein Spion!« rief nun der Hausherr mit einer verzweifelten Anstrengung. – »Man muß ihn festhalten, Mathias.«

»Teufel auch!« entgegnete dieser sehr ernst. »Ich gebe sonst nie viel auf Euer dummes Gerede, aber diesmal mögt Ihr wahrhaftig Recht haben; es ist draußen nicht richtig.«

»Wo?« fragte erschrocken Herr Sträuber.

»Als ich eben zum Garten herein will,« fuhr der Andere fort, »blickte ich, wie das meine Gewohnheit ist, scharf nach allen Seiten, und sehe da mehrere Kerle, die sich links von hier am Zaune aufhalten. Ich mochte natürlicherweise nicht thun, als ginge das mich etwas an, und schielte nur so herüber, bemerkte aber gleich, daß die Sache sehr verdächtig ist, denn ich sah deutlich etwas glänzen, wie Uniformsknöpfe, und vernahm auch das Klirren eines Säbels.«

[42] »Das Klirren eines Säbels?« sprach angstvoll Herr Sträuber.

»Fragen wir den da!« schrie Meister Schwemmer. »Der weiß darum.«

»Ich weiß von nichts,« entgegnete der Schneider, indem er zu gleicher Zeit mit der rechten Hand unter den Rock fuhr, wo er auf der Brust das Theaterpistol verwahrt hatte. »Laßt mich ruhig meiner Wege gehen, ich will nichts von Euch.«

»Aber wir wollen was von Euch,« sagte Mathias sehr ernst und trat einen Schritt näher. »Schellinger! Schellinger! Macht Euch keine Ungelegenheit! Mit mir ist nicht zu spassen.«

»Ich verlange auch nicht nach einem Spasse mit Euch,« versetzte der Schneider. »Drum laßt mich ruhig meiner Wege gehen. – Sonst,« setzte er unvorsichtigerweise hinzu, »schreie ich um Hilfe.«

»Ah!« rief Mathias, einen halben Schritt zurückfahrend, »er will um Hilfe schreien! – Also muß eine Hilfe in der Nähe sein. – So wollen wir dich lieber vorher zu Boden schlagen, und dann kannst du nach deinen Helfershelfern schreien, so lange du magst.« – Bei diesen Worten, und noch ehe er sie beendigt, ergriff er einen der schweren Stühle, die hinter ihm standen, schwang ihn mit Blitzesschnelle um seinen Kopf und ließ ihn auf den Garderobe-Gehilfen niederfallen.

Dieser aber zog im gleichen Augenblicke sein Pistol aus der Tasche und erhob ein lautes Geschrei. Der Schuß krachte los, und Herr Sträuber, der offenbar meinte, er sei tödtlich getroffen, riß die Stubenthüre auf und floh behende auf den Gang hinaus. Ihm folgte nicht minder behende und gänzlich unversehrt Herr Schellinger, denn der Schlag, den Mathias mit Riesenkraft nach ihm geführt, hatte glücklicherweise nicht ihn, sondern den Ofen getroffen, und die in ihren Fugen morschen Eisenplatten desselben so auseinander geschmettert, daß das brennende und rauchende Holz in der Stube herumfuhr und einen Qualm verursachte, in dem Meister Schwemmer zu ersticken drohte.

[43] Es war eine Scene unbeschreiblicher Verwirrung; die Lampe stürzte von dem Tische herunter, und Mathias, den seine rasche That gereute, stand lauschend inmitten der Dunkelheit und des Qualms, und hörte, wie draußen ein paar Stimmen riefen: »Wir kommen schon – wir kommen, Schellinger!« – Rasch eilte er an das Fenster, warf einen Blick auf den Hof und dann sprang er zurück und rief dem Hausherrn zu: »Ich kann Euch hier zu nichts helfen, und vielleicht nur Schaden bringen; ich finde schon meinen Weg in's Freie.« Damit eilte er durch die Küche und verschwand hinter dem Hause.

Schellinger, der einen Augenblick erwartungsvoll im Gange gestanden, hatte ebenfalls die Stimmen seiner Freunde vernommen und schob den Riegel der Hausthüre zurück.

Es war Richard, der eintrat, eine schwere Axt in der Hand; ihm folgten ein paar andere Zimmerleute, von denen Einer eine Laterne trug. Eine weibliche Gestalt huschte ebenfalls zum Hause herein, wurde aber, als sie rasch vordringen wollte, von Richard am Arme zurückgehalten, der ihr sagte: »Ruhig, Katharine; gemach, gemach! – Laß uns nur voran gehen; Schellinger kennt die Gelegenheit.«

Und Schellinger wußte in der That ganz genau, wo sich die Kinderstube befand. Er nahm seinem Kameraden die Laterne ab und eilte an das Ende des Ganges.

»Die Thüre ist offen!« rief er. »Es muß schon Jemand da hinein sein. – Jetzt aufgepaßt, Leute, und vorsichtig.«

»Wie viel Mann sind im Hause?« fragte entschlossen Richard.

»Nur ein einziger,« entgegnete der Schneider; »zwei andere, die noch da sind, zählen für gar nichts. Und auch dieser einzige, der mich, beiläufig gesagt, fast todtgeschlagen hätte, wird seine guten Gründe gehabt haben, das Haus zu verlassen; denn sonst hätte er euch, wie ich ihn kenne, den Eintritt ziemlich sauer gemacht.«

»Da ist mein Kind!« schrie nun Katharine mit lauter Stimme. [44] – Sie war den Männern voraus und, die Warnung Schellingers nicht beachtend, in das Zimmer gestürzt. – »Es lebt! es lebt! – Gott sei gedankt! es lebt!« – Damit sank sie zu dem kleinen Mädchen auf den Boden nieder, preßte es heftig in ihre Arme, und lachte und schluchzte abwechselnd, während sie ihm Kopf, Hände und die geschwollenen Füße küßte, wobei ihre Thränen reichlich floßen. – »Seht ihr, daß es nicht todt ist!« rief sie triumphirend; »ja, ja, seht nur her, es lebt! – Und der Schein war falsch; die gute Marie hat Recht gehabt. – O wie danke ich euch! Es sieht wohl ein wenig elend aus, auch ist sein blaues Kleidchen ganz zerdrückt, aber das thut nichts – du bekommst schon ein neues. – O gewiß, ein neues! – Und wieder ein blaues, denn du bist ja nicht todt. – Ha! ha! ha!« lachte sie krampfhaft hinaus, »ja, es lebt, es –«

Diese Aufregung, die Angst und alsdann die Freude war zu viel für ihren schwachen Körper. So auf den Knieen liegend und sprechend, knickte sie zusammen, ihr Kopf sank tief herab, und ohnmächtig, wie sie war, wäre sie auf den Boden niedergestürzt, wenn sie nicht einer der Zimmerleute gehalten hätte.

»Das ist gescheidt,« – sagte Richard, der sie mitleidig betrachtete und seltsam mit den Augen blinzelte. – »Bravo! Da fällt sie um und das in einem recht geschickten Augenblick. – Schellinger, du weißt mit den Frauenzimmern umzugehen, bück' dich ein bischen zu ihr herab und schau nach, was da zu machen ist.«

Der Schneider that wie ihm geheißen, richtete ihren Kopf auf und blickte um sich her, während er gerührt sprach: »Das arme Geschöpf! Man hätte sich das den ken können! – Wenn nur etwas Wasser da wäre!«

»Hier ist welches,« sagte eine frische Kinderstimme hinter Richard.

Und als dieser sich umwandte, sah er einen kleinen Knaben, der sich anfänglich hinter den Bettschragen verkrochen hatte, jetzt aber [45] ruhigen Muths zum Vorschein kam. Seine Kleidung sah ziemlich zerlumpt und abgerissen aus, und er hatte den Kopf mit einem blutigen Tuche verbunden. Doch waren seine Züge keck, ja fast heiter, und seine dunklen Augen blitzten mit sichtlichem Behagen.

»Hier ist Wasser,« wiederholte er und zeigte auf einen großen Krug, der in der Ecke stand.

Der Garderobe-Gehilfe tauchte ein Tuch hinein und bespritzte alsdann die Schläfe der Ohnmächtigen.

»Und wer bist denn du?« fragte Richard den Kleinen, der aber statt aller Antwort pfiffig lächelnd den Kopf schüttelte und mit dem Finger unter den Bettschragen wies.

»Was willst du? – Was ist denn da?« fragte der Zimmermann leise, indem er seine Axt etwas in die Höhe hob.

»Einer,« entgegnete das Kind, »Einer von Ihnen.«

Auf diese Nachricht bückte sich Richard alsbald nieder, um unter das Gerüst zu schauen, und entdeckte da in der Ecke einen Mann, der augenscheinlich dahin gekrochen war, um sich zu verbergen.

»He da, mein guter Freund!« rief er ihm zu. »Kommt einen Augenblick hervor; ich möchte doch gar gern Jemanden vom Hause zu Gesicht bekommen, dem ich mittheilen könnte, was wir hier in der Kinderstube zu thun haben. – Kommt nur hervor, es soll Euch kein Leid geschehen; wir wollen Euch auch ruhig hier lassen, wenn Ihr nicht vielleicht auch ein gestohlenes Kind seid. – Kommt nur, kommt, sonst muß ich ein bischen helfen.«

Eine kleine Weile schien sich der unter dem Schragen zu besinnen, dann aber seufzte er tief auf und schob sich rückwärts hervor. Zuerst kamen ein paar ziemlich lange Beine zum Vorschein, dann ein schwarzer Frack, der in die Höhe gerutscht war und so oberhalb der Hose sehr gelbe Wäsche sehen ließ. Dann richtete sich die Gestalt in die Höhe, und Herr Sträuber in ganzer Figur, den Hut in der Hand, mit einem aschfahlen und verstörten Gesicht, stellte sich der Gruppe dar.

[46] »Ein gutes Gewissen scheint der mir auch nicht zu haben,« sagte Richard zu den Anderen. – »Wer ist das, Schellinger? – Du kennst ja dieses Volk so ziemlich.«

Der Schneider, dem es unterdessen gelungen war, vermittelst des kalten Wassers Katharine wieder zu sich zu bringen, schaute in die Höhe und erwiderte: »Das ist Herr Sträuber, von dem ich dir heute Abend schon Einiges gesagt.«

»Ja, Sträuber ist es in eigener unglückseliger Person,« sagte der Schuft mit einer demüthigen Verbeugung. – »Erlauben vielleicht die Herren, daß ich mich entferne?« setzte er nach einer Pause mit einem falschen Blick hinzu.

»Nein, nein!« entgegnete eifrig der Schneider, »es ist besser, er bleibt da, bis wir uns entfernt haben; er könnte uns sonst noch allerlei Unheil bereiten; weißt du, uns aus einem dunkeln Winkel hervor etwas anhängen. Halte ihn an deiner Seite, bis wir in die obere Stadt kommen, und dann kannst du ihn springen lassen.«

Der Herr Sträuber dachte an die Polizei, und hoffte aus der Gesellschaft des Schneiders und der Zimmerleute unbemerkt entschlüpfen zu können, weßhalb er mit großer Freundlichkeit erwiderte: »Meine Herren, Ihr Vorschlag ist mir sehr angenehm, und ich mache mir eine Ehre daraus, Sie zu begleiten.« Darauf schlug er zierlich die Hände auf dem Rücken zusammen, setzte den rechten Fuß vor und schien es tiefgerührt mit anzusehen, wie die Mutter des armen kleinen Mädchens durch die Bemühungen des Herrn Schellinger allmählig wieder zu sich kam und sich dann mit Richards Hilfe aufrichtete, ohne jedoch ihr Kind aus den Armen zu lassen. –

– – Unterdessen hatte sich Meister Schwemmer vorn in der Wohnstube eher von seiner Ueberraschung und seinem Schrecken erholt, als von dem Erstickungsanfall, der ihn in Folge des Rauches überfallen. Er hatte sich mühsam erhoben und in die Küche geflüchtet, während seine Frau kaltes Wasser auf die brennenden Holzscheitchen goß. Nachdem so das Feuer gelöscht war, riß sie [47] das Fenster auf, um frische Luft einzulassen, dann kehrte sie zitternd vor Zorn und Schrecken zu ihrem Manne zurück, der lauschend an der Thür stand, die von der Küche auf den Gang und in das Kinderzimmer führte. Er winkte seiner Frau mit der Hand, näher zu kommen, und als sie neben ihm stand, flüsterte er ihr zu: »Das war eine abgekartete Geschichte; aber man will nicht an uns, wie es scheint, nur an die Kinder.«

»Wem mag es gelten?« fragte das Weib, das nun vollkommen nüchtern geworden war.

»Vielleicht dem Buben. Ich habe dir immer gesagt, der bringt uns noch in Ungelegenheiten.«

»Horch!« rief die Frau. »Das ist keines Mannes Stimme. – Auch habe ich ein Weib mit ihnen kommen sehen; gib du nur Achtung: von dem Buben will Niemand was; es wird die verrückte Nähterin sein, deren Kind die Bilz gebracht.«

»Und wofür wir den Todtenschein des andern gaben,« versetzte Meister Schwemmer, dessen Gesicht sich etwas verlängerte.

Die Frau nickte stumm mit dem Kopfe. »Hörst du,« sagte sie nach einer Pause, während welcher sie aufmerksam nach dem Nebenzimmer gehorcht, »das ist der Sträuber, der spricht.«

»Der feige Schuft! – Gott soll ihn verdammen! Er ist zuerst ausgerissen.«

»Nun, von dem wundert's mich doch nicht,« flüsterte giftig das Weib. – »Aber der Mathias! Von dem hätte ich nimmer gedacht, daß er sich fürchtete und seine Freunde im Stich lasse.«

»Der fürchtet sich auch nicht; der hat seine Ursachen gehabt. Sprach er nicht von der Polizei, die das Haus umstellt habe? – Was kann man da machen?«

»Und wir sollen sie also ruhig ziehen lassen?«

»Soll ich sie vielleicht aufhalten?« fragte Meister Schwemmer mit einem jammervollen Blick auf seine wankende Gestalt. – »Ja, vor zwanzig Jahren,« setzte er zähneknirschend hinzu, »mit einer [48] gesunden Faust und keinen trüben Erinnerungen, da hätte mir Einer so kommen sollen. – Aber jetzt! – Doch ruhig, Weib; komm' vor in die Wohnstube, da ist's dunkel und wir können unbeachtet zum Fenster hinaus schauen, um zu sehen, wer geht und was sie mitnehmen. – Merk' dir die Figuren so genau du kannst – das kann später von großem Nutzen sein. – Der verfluchte Husten!« –

Bei diesen Worten schlich er aus der Küche in die Wohnstube und näherte sich leise der Thüre, die in den Gang hinaus führte. Dabei machte er dem Weibe mit der Hand ein Zeichen, sie solle geräuschlos die Fenster schließen, denn die kalte Nachtluft sei ihm im Athmen beschwerlich.

Die draußen hatten nun das Kinderzimmer verlassen, Katharine drückte ihr Mädchen fest an die Brust, der Bube schlich hinter den Zimmerleuten drein, ohne von ihnen gesehen zu werden, und die zurückgebliebenen beiden kleinen Kinder auf dem Schragen schrieen jämmerlich, da man sie aus ihrem Schlafe geweckt.

Richard war voran und hatte fast die Hausthüre erreicht, als er plötzlich stehen blieb, denn er bemerkte, daß diese weit offen stand und von mehreren Gestalten besetzt war.

Eine löste sich rasch aus dem Haufen los, trat in den Gang und rief den Ankommenden ein »Halt!« entgegen. Diese Stimme klang nicht gerade übermäßig stark, aber der Ton, mit welchem sie ihr »Halt!« rief, brachte auf den Zimmermann, der seine Axt schon erhoben hatte, eine eigenthümliche Wirkung hervor. Es war ihm gerade, als gäbe ihm ein Vorgesetzter einen Befehl.

»Schließt die Thüre!« fuhr die Stimme fort. »Ich meine, man hätte von dem verfluchten Lärm draußen genug gehört.«

Herr Schellinger, der zuletzt kam, trug die Blendlaterne, welche einer der Zimmerleute mitgebracht hatte. Bei dieser unerwarteten Störung hob er sie hoch empor, um das Hinderniß, welches sich ihnen entgegengestellt, zu beleuchten, wodurch es Richard [49] möglich wurde, den Mann zu betrachten, der ihn so unerwartet und befehlend angesprochen.

Es war das eine ziemlich hohe Figur, in einen weiten Mantel gewickelt, dessen eines Ende so hoch um Hals und Schultern geschlungen war, daß es das Kinn bedeckte und man so von dem dunkeln Gesichte nichts sah als den langen schwarzen Bart und die glänzenden Augen, die unter einem gewöhnlichen runden Hute hervorblitzten.

»Ihr macht da ein sauberes Stück Arbeit,« fuhr die Gestalt mit großer Ruhe fort, »brecht in anderer Leute Häuser ein und geht auf den Kinderraub aus. – He!«

Richard, der genug persönlichen Muth besaß, versicherte später oftmals, es sei ihm in diesem Augenblick nicht möglich gewesen, ein unheimliches Gefühl zu unterdrücken. Die Ruhe und Kälte, mit der dieser einzelne Mann – denn die Hausthüre hatte man sogleich hinter ihm geschlossen – nun in dem engen Gange ihnen gegenüber getreten, habe ihm mächtig imponirt; weßhalb es denn auch erklärlich war, daß der Zimmermann Schritt vor Schritt zurückwich, während Jener langsam vorwärts schritt.

An der Stubenthüre blieb er stehen, öffnete sie und sprach: »Trete Einer von euch da hinein, auch das Weib mit dem Kinde; die Uebrigen mögen draußen bleiben.«

Diesem Befehle leistete Richard Folge, indem er Katharine am Arme nach sich zog.

Meister Schwemmer war zurückgetreten, als sich die Thüre geöffnet hatte, und zog sich langsam nach der Küche hin, um dort zu erwarten, wie sich dieser neue Vorfall entwickeln werde.

»He! ein Licht!« sagte die Stimme von vorhin.

»Soll ich eines bringen?« flüsterte das Weib ihrem Manne zu. – Und als dieser versetzte: »Gegen die Gewalt ist nichts zu machen,« ging sie an den Herd, zündete eine Lampe an und trug sie mit zögernden Schritten in die Stube.

[50] Dort stand der fremde Mann im Mantel und wandte langsam den Kopf herum, wodurch der volle Schein des Lichtes auf sein Gesicht fiel.

Wäre aber in diesem Augenblicke die ganze Polizei erschienen, ja das ganze Gerichtspersonal inklusive Kerkermeister, es hätte auf den Meister Schwemmer unmöglich einen schrecklicheren Eindruck hervorbringen können, als der Anblick des fremden Mannes, der so ruhig mitten in seiner Stube stand. Er fühlte, daß ihm die Kniee den Dienst versagen wollten und hielt sich deßhalb mit aller Kraft an einem Thürpfosten.

»Verzeihen Sie,« sagte er alsdann nach einem tiefen Athemzuge, »daß ich nicht vorkomme, um Sie bestens zu begrüßen; aber ich bin ein armer kranker Mann, den seine Füße nicht mehr recht zu tragen vermögen.«

»Der aber trotz seiner Schwachheit beständig die Hand zu Geschichten bietet, die doch am Ende nothwendigerweise Aufsehen erregen und ihm Strafe auf den Hals laden müssen. – Nicht wahr?«

»Wie so, Herr?« fragte Schwemmer erschrocken, während er scheu an dem Fremden hinaufblinzelte, sogleich aber die Augen wieder niederschlug, als er einem jener flammenden Blicke begegnete.

»Wenn Ihr Euch nur das Fragen abgewöhnen könntet!« entgegnete der im Mantel ungeduldig. »Gebt mir lieber gute Antworten auf die meinigen, das ist besser!«

Meister Schwemmer fuhr nun wieder zusammen und blieb mit ziemlich gekrümmtem Rücken stehen.

»Von wem habt Ihr dieses Kind?« fragte nun der Fremde nach einer Pause und zeigte auf das kleine Mädchen.

»Dies Kind ist uns von seiner Mutter anvertraut worden,« entgegnete der Gefragte mit ganz leiser Stimme.

»Nehmt Euch in Acht! – ich will die Wahrheit – die ich weiß – aus Eurem Munde hören. – Wer brachte Euch das Kind?«

»Nun denn – die Frau Bilz.«

[51] Der Mann im Mantel nickte mit dem Kopfe, dann warf er einen fragenden Blick auf das Mädchen, das freudig ausrief:

»Ja, ja, Frau Bilz – so hieß sie, der ich mein Kind anvertraute und die mir in Gegenwart der Madame Becker sagte, es sei gestorben, und mir auch den Todtenschein einhändigte.«

Der Fremde zuckte verächtlich mit den Achseln und warf auf den Hausherrn einen Blick, der diesen erbeben machte. Man sah deutlich, wie er zusammenschrak. Dann aber nickte der Andere mehrmals mit dem Kopfe und fuhr strenge fort: »Ja es wird schon so sein, ich kenne diese Geschichten. – Aber noch einmal dergleichen, Meister Schwemmer, und alle Schonung hört auf. – Ihr da,« wandte er sich an Richard, »geht ruhig Eurer Wege, das Mädchen kann ihr Kind mitnehmen. – Doch bitte ich mir eins dafür aus,« fügte er in ganz anderem, weit gefälligerem Tone hinzu, »sie soll diesem würdigen Mann da den Todtenschein gelegentlich zurückschicken und sich auch künftig besser vorsehen, ehe sie das arme Ding da einer Frau Bilz anvertraut.«

Hätte Richard seinen Hut noch auf dem Kopfe gehabt, er würde ihn unfehlbar ehrfurchtsvoll abgenommen haben; denn die Art, wie der fremde Mann sprach, und besonders, wie er mit jenem Gauner, dem Meister Schwemmer, umzuspringen wußte, hatte ihn mit dem allergrößten Respekterfüllt. – »Bedanke dich, Katharine,« sagte er leise zu dem Mädchen.

Doch winkte der fremde Mann leicht mit der Hand, als diese einige Worte stammeln wollte.

Dann zogen sie sich rückwärts aus der Stube und verließen das Haus, gefolgt von den Kameraden und Schellinger, der die Blendlaterne trug.

Auf dem kleinen Hofe standen mehrere Männer beisammen, die aber augenblicklich auseinander waren, als die Anderen aus dem Hause kamen.

Nur Einer von ihnen trat dicht an den Schneider heran, klopfte [52] ihm leicht auf die Achseln und sagte: »Hättest gleich sagen können, was du da in dem Hause wolltest; ich würde dir wahrhaftig geholfen haben, das Kind wegzuholen. Bist aber sehr unvorsichtig gewesen, denn wenn mein Stuhl einen halben Zoll mehr links gekommen wäre, dann machtest du keine Stiche mehr, – und auch keine Reisen, darauf kannst du dich verlassen. – Gute Nacht!«

»Gute Nacht!« erwiderte Herr Schellinger, indem er eilig den Anderen folgte, die schon in das baufällige Vorderhaus getreten waren.

Dort blieb Richard stehen, und als er bemerkte, daß ihm keiner seiner Getreuen fehle, stemmte er die Arme in die Seite, schaute sich rings um und sprach: »Nun, was denket ihr davon? – Ist euch so was in eurem ganzen Leben vorgekommen? Hat Einer von euch die Figur oder das Gesicht schon gesehen? – Ich gewiß nicht – soll mich der Teufel holen! – Ihr auch wohl nicht? – Und du, Schellinger?«

Der Schneider war offenbar sehr nachdenkend geworden; man bemerkte das an seiner ganzen Haltung. Er stand etwas vorn übergebeugt und hatte sein spitzes Kind mit der linken Hand erfaßt.

»Nun, Schellinger?«

»Habt ihr euch die Männer im Hofe genau betrachtet?« versetzte endlich der Garderobe-Gehilfe nach einer längeren Pause.

»Ja wohl, ziemlich genau.«

»Hatten sie keine weiten Hosen an und kurze Jacken, oder Pelzmützen auf dem Kopfe?«

»Beim Henker! nein,« lachte einer der Zimmerleute. »Dergleichen habe ich nicht gesehen, und auch du wohl nicht, Richard.«

Dieser, welcher sehr froh war, daß das ziemlich gefährliche Abenteuer so glänzend und gut abgelaufen, lachte lustig und meinte: »Wenn Schellinger Jacken und Pelzmützen gesehen hat, so wird er dafür seine Gründe haben. – Nun sprich: was denkst du denn?«

»Ja, ja, es kann nicht fehlen,« erwiderte der Garderobe-Gehilfe. »Und jetzt erinnere ich mich ganz genau des Gesichtes [53] wieder. – Siehst du, Richard, welchen Nutzen es hat, wenn man auf seinen Reisen gute Bekanntschaften macht, – denn,« setzte er flüsternd hinzu, »ich will ein Lump meines Namens sein, wenn der da drinnen nicht der russische Fürst war, von dem ich dir erzählt. Er hat uns mit seinen Kosaken aus dieser verwickelten Geschichte herausgeholfen.«

Damit schlug Herr Schellinger die Hände auf dem Rücken zusammen, zuckte ein paarmal mit den Achseln und ging ruhig davon, wobei sein unbedeutendes Köpfchen auf dem langen und dünnen Halse stärker als je vorn über wankte.

Die Anderen folgten ihm. –

Der Fremde in der Wohnstube des Meister Schwemmer hatte ruhig gewartet, bis Jene das Haus verlassen, dann nahm er das Mantelende von seiner rechten Schulter herunter, wodurch sein ganzer Kopf frei und auch die Arme sichtbar wurden, von denen er einen in die Seite stemmte, während er sich mit dem anderen auf den Tisch stützte.

»Ich will Euch nun zum Abschied einen guten Rath geben,« sagte er mit seiner so eigenthümlich klingenden Stimme. »Thut Euch selbst den Gefallen und laßt die Geschäfte von der Art, wie das, worüber wir soeben verhandelt. In welchem Ruf Ihr in der Stadt und bei den Behörden steht, wißt Ihr selbst am besten; die letzteren sind nun auf Euch besonders aufmerksam geworden, und die Polizei würde Euch heute Abend einen sehr unangenehmen Besuch geschenkt haben, wenn ich es nicht verhindert hätte. – Also nehmt Euch für die Zukunft in Acht; wenn ich das nächste Mal komme, geschieht es nicht, um Euch zu warnen.«

Bei diesen Worten wandte er sich nach der Thüre um und wollte das Zimmer verlassen; doch blieb er plötzlich stehen und fragte: »Wer ist denn das?«

Meister Schwemmer, der mit zerknirschter Miene die Worte des Fremden angehört, blickte in die Höhe und sah den Buben, [54] der sich hinter Richard unbemerkt in das Zimmer geschlichen hatte und bis jetzt ruhig an der Thüre stehen geblieben war. Er hielt seinen kleinen Körper gerade und aufrecht, schaute unbefangen in die Höhe und blickte den Mann im Mantel fest mit seinen blitzenden Augen an. Dabei hatte er ebenso wie dieser den linken Arm in die Seite gestemmt.

»Das ist ein auffallendes Gesicht,« murmelte der Fremde und fuhr sich mit der Hand über die Augen. – »Dieser Blick! Und die ganze Form des Kopfes. – Bei Gott! seltsam.« – Er wandte sich rasch nach dem Hausherrn um und fragte: »Wem gehört dieses Kind?«

Dieser bückte sich demüthig und zog furchtsam die Achseln in die Höhe, als er entgegnete: »Ich weiß es nicht, Herr; gewiß, ich weiß es nicht.«

»Keine Lüge, Meister Schwemmer!« –

»Auf meine Seele, nein! – Möge ich verderben, wenn ich nicht die Wahrheit sage. – Der Knabe wurde mir vor Kurzem durch eine Unterhändlerin gebracht, die ich nennen kann; doch war auch das schon die zweite Hand, durch welche der Bube gegangen.«

»Es ist möglich, daß Ihr diesmal nicht lügt,« erwiderte der Fremde mit einem sonderbaren Lächeln. »Ich will Euch was sagen, guter Meister Schwemmer: bis morgen Abend um sechs Uhr wünsche ich auf's Genaueste zu erfahren, wie die erste Hand heißt, die den Knaben in die zweite geliefert. – Habt Ihr mich verstanden?«

»Ja, Herr. – Soviel ich indessen weiß –«

»Für jetzt nichts Weiteres; ich mag keine Vermuthungen. – Also morgen Abend um sechs Uhr etwas, worauf ich mich verlassen kann! – Wer bist du?« wandte er sich an das Kind.

»Das weiß ich nicht,« entgegnete der Knabe mit heller Stimme. »Ich kann dir nur sagen, daß ich Karl heiße, bei der alten Frau Fischer wohne und von hier fort will.«

»So, du willst von hier fort? – Also gefällt es dir da nicht?«

[55] Das Kind blickte scheu um sich, und als es das Weib mit der rothen Nase nicht bemerkte, sagte es: »Ich mag nicht mehr bleiben; sie sind so böse, namentlich das Weib mit der rothen Nase. Wir bekommen fast nichts zu essen, sie schlagen uns viel, und dann ist es drüben so arg kalt.«

»Der legt ein gutes Zeugniß von Eurer Wirthschaft ab,« sprach der Fremde mit einem flammenden Blick. – »Aber es ist wirklich erstaunlich,« fuhr er ganz leise fort, »welche Aehnlichkeit ich da heraus finde, namentlich in den Augen; ja sogar, wenn er spricht, die gleichen Bewegungen des Kopfes. – Aber das ist möglich? – Bei Gott! es könnte sein. Nun, wenn Jemand der Sache auf die Spur kommen könnte, so wäre ich der Mann dazu. – Du sprachst vorhin von einer Frau Fischer; getraust du dir vielleicht das Haus, wo sie wohnt, aufzufinden?«

»Das ist gewiß nur ein falscher Name, den man dem Knaben gesagt, denn –« wagte Meister Schwemmer sich in das Gespräch zu mischen. Doch machte ihn ein Blick des Anderen plötzlich verstummen.

»Von hier werde ich das Haus schwerlich finden, aber wenn man mich auf den Platz bringt, wo das schöne Schloß steht – ich habe da viel gespielt und die Soldaten gesehen – da glaube ich wohl, ich würde das Haus finden, wo die gute Frau Fischer wohnt.« – Dies sagte der Knabe mit einer freudigen Erregung, wobei seine Augen strahlten.

»Nun gut,« erwiderte der Fremde, »den Versuch wollen wir morgen machen; und du siehst mir gerade so aus, als wenn du zu halten im Stande wärest, was du versprichst. – Willst du mit mir gehen?«

»Gern! gern!« rief das Kind, und eine tiefe Röthe flammte auf seinem Gesichte auf.

»Aber doch wohl noch lieber zu deiner Frau Fischer? – Oder bliebst du gern beständig bei mir?«

[56] Der Knabe besann sich einige Sekunden, dann warf er einen Blick auf den Meister Schwemmer und das Weib, das unter der Küchenthüre erschienen war, um sogleich wieder zu verschwinden. Hierauf antwortete er: »Zuerst möchte ich wohl die Frau Fischer wieder sehen, um ihr zu sagen, daß sie mich hier nicht todtgeschlagen, dann möchte ich aber zu dir kommen und bei dir bleiben. – Ich bin gewiß überzeugt, du hast auch Waffen zu Haus – Säbel oder Pistolen oder auch nur ein Messer.«

»Und wozu das?«

»Damit ich mich wehren kann, wenn sie mich wieder fortbringen wollten. – Ja, hätte ich nur an dem Abend mein kleines Gewehr gehabt, das hat ein ganz spitzes Bajonnet, oder hätte mir Einer ein Messer gegeben.« – Bei diesen Worten ballte er seine kleinen Hände und erhob sie drohend gegen das Nebenzimmer.

Der Fremde betrachtete ihn einen Augenblick lächelnd, und, wie es schien, mit großem Wohlgefallen. Dann legte er die Hand vor die Augen und sprach wie zu sich selber: »Bei dem Anblick dieses Knaben treten blutige Bilder aus meiner Jugend lebendig hervor. Ganz so stand ich da, nur mit dem Unterschiede, daß ich wirklich ein Messer in der Hand hielt. – Eigenthümlich!« Darauf ging er mit raschen Schritten an das Fenster, blickte hinaus und murmelte: »Richtig! Mathias ist nicht mehr da. Ich wußte es ja.« – Er wandte sich hierauf an den Meister Schwemmer und sagte: »Ist Jemand im Hause, der das Kind heute Nacht in den Fuchsbau bringen kann?«

»Der Sträuber wird noch da sein,« entgegnete der Hausherr; und dann rief er in's Nebenzimmer hinein: »Geh', such' den Sträuber, er muß sich noch im Haus befinden.«

Darauf vernahm man, wie das Weib die Küche verließ und wie sie kurze Zeit nachher mit Jemand im Gange flüsterte.

Der Fremde lehnte sich ruhig wartend an den Tisch, und Meister Schwemmer blickte mit der demüthigsten Miene [57] von der Welt nach der Stubenthüre, die sich jetzt langsam öffnete.

Herr Sträuber trat ein und blieb, den Hut in der Hand haltend, mit gesenktem Kopfe am Eingange stehen.

»Ah ja, Herr Sträuber! – Der Beste der Besten!« sagte der Fremde, unverkennbar mit tiefer Verachtung. – »Sie sind mir als Begleiter dieses jungen kleinen Herrn da nicht der Liebste; aber man nimmt, was man hat. – Hören Sie mich an!«

Der Andere war auf diese ziemlich laut gesprochenen Worte augenscheinlich zusammengefahren und wagte es nicht, den Kopf zu erheben; er drehte nur seine Augen in die Höhe und erwiderte mit leiser Stimme: »Ich höre.«

»Sie gehen also mit diesem Kinde auf dem geradesten Wege nach dem Fuchsbau; doch verstehen Sie mich wohl: auf dem geradesten Wege, halten auch nirgendwo an und sprechen mit Niemand, Sie schauen gerade vor sich hin und lassen mir das Herumgaffen bleiben; es könnte Aufsehen erregen, und ich kenne Sie. – Nehmen Sie sich aber ja in Acht, Herr Sträuber,« fuhr er in lauterem Tone fort, »daß Sie von dieser Instruktion nicht eine Idee abweichen; es könnte Ihnen schlecht bekommen. – Im Fuchsbau wird Mathias sein; ihm übergeben Sie den Knaben, er soll ihn für heute Nacht anständig unterbringen. Morgen erhält er meine Befehle.«

»Und mit dem soll ich gehen?« fragte das Kind.

»Nur eine kleine Strecke,« erwiderte bestimmt der Fremde. – »Also Gott befohlen! Morgen wirst du zu deiner Frau Fischer kommen oder vielleicht zu einem Herrn, der es gut mit dir meint.« – Damit reichte er ihm die Hand, und der Kleine folgte seinem Führer, der bereits in den Gang hinaus getreten war.

Der Fremde trat an die Thüre und schaute ihnen nach, wie sie durch die Hausflur dahin gingen. – »Ich empfehle Ihnen den geradesten Weg, Herr Sträuber,« wiederholte er nochmals und [58] setzte lächelnd hinzu: »Mit dem Kinde werden Sie keinen Versuchungen ausgesetzt sein, denn es ist ja ein Knabe und trägt keine Ohrringe.«

Sobald die Tritte der Beiden draußen im Hofe verhallt waren, schlug der Fremde sein Mantelende wieder über die rechte Schulter, nickte dem Meister Schwemmer leicht mit dem Kopfe zu und verließ ebenfalls das Haus.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Am gleichen Abend hielt Graf Fohrbach mit Arthur ein Rendezvous in dem Kaffeehause auf dem Kastellplatze. Beide Freunde hatten sich schon mehreremal in ihren Wohnungen verfehlt und sich schriftlich diese Zusammenkunft gegeben. Sie waren längere Zeit in einem hinteren Zimmer allein gewesen und hatten eifrig mit einander gesprochen.

Der Gegenstand dieser Unterredung, den der geneigte Leser wohl errathen wird, war für den Grafen so wichtig, daß er es sogar vergessen hatte, Arthur zu fragen, wie er am Neujahrsabend in jener uns ebenfalls bekannten Angelegenheit für ihn gehandelt und welches Resultat seine Unterredung mit der jungen Dame gehabt habe.

Die Beiden verließen nun das Kaffeehaus und schritten in fortgesetztem Gespräch über den Kastellplatz dahin.

»Also sein Gesicht konnten Sie damals nicht sehen?« fragte der Graf.

»Nein, das war unmöglich, wie ich Ihnen schon sagte,« erwiderte Arthur, »denn er hatte den Mantel dicht um den unteren Theil des Gesichts geschlungen.«

»Aber die Stimme glaubten Sie wirklich zu erkennen?«

»Ich glaube nicht, daß ich mich darin täusche: es war die des Barons. Nur sprach er die Worte anders aus, als es sonst seine Art ist; er redete kräftig, energisch, ja befehlend.«

»Es ist kein Zweifel,« entgegnete Graf Fohrbach nach einer längeren Pause; »es mußte dieselbe Person sein. – Aber haben [59] Sie je eine so furchtbare Geschichte erlebt? – Was kann und wird Alles daraus entstehen? Denken Sie sich den Skandal, wenn dieser Mann, der in der Gesellschaft nach allen Richtungen seine Verbindungen angeknüpft hat, plötzlich von der Hand des Gerichtes erfaßt wird! – Das muß in unseren Kreisen Verletzungen zurücklassen, die schwer zu heilen oder zu verwischen sind. Aber vor allen Dingen, lieber Arthur, denken Sie ja daran, was Sie mir vorhin versprochen – die tiefste Verschwiegenheit über Alles, was ich Ihnen mitgetheilt. Wenn wir je zu einem Ziele gelangen können, so ist das nur möglich, wenn wir mit der größten Behutsamkeit vorgehen. Man darf darüber nicht athmen.«

»Gewiß nicht, Graf Fohrbach; und Sie werden das von mir überzeugt sein.«

»Das wissen Sie ja, lieber Arthur; sonst hätte ich Ihnen nicht das Ganze so ohne allen Rückhalt anvertraut. – Sie gehen nach Hause?«

»Ja, ich muß. – Und Sie?«

»Ich werde noch einen Besuch machen. – Aber lassen Sie sich ja bald bei mir sehen.«

»Schon morgen. Wie Sie wissen, hatte Seine Excellenz der Herr Kriegsminister die Gnade, mich zu Spiel und Thee einladen zu lassen.«

»Richtig! da sehen wir uns ja. – Also, gute Nacht!«

»Gute Nacht!«

Damit trennten sich die beiden Freunde; Arthur ging links, der Graf nach rechts gegen die Polizeidirektion hin, in deren Nähe er seinen Wagen warten ließ.

Wie wir wissen, war es bereits vollkommen dunkel geworden, doch brannten überall die Gaslaternen; und namentlich hier, wo es viele Laden und Magazine gab, war die Straße fast taghell beleuchtet.

Graf Fohrbach ging gedankenvoll seines Weges und sah nur [60] zuweilen in die Höhe, um einen Blick in die hellerleuchteten Gewölbe zu werfen oder um hie und da Jemand auszuweichen. So kam er in die Nähe der Polizeidirektion, als zu seiner Rechten aus einer engen Gasse, die an der Seite dieses großen Hauses bei den Hintergebäuden und Gärten desselben vorbeilief und in eine andere Straße mündete, zwei Männer hervortraten, bei deren Anblick er plötzlich seinen raschen Schritt mäßigte, ja in der nächsten Sekunde wie angefesselt stehen blieb. – Der Eine dieser beiden Männer war der Baron Brand. Ja, er konnte sich nicht täuschen: es war sein Gang, seine Haltung, seine ganze Figur. – Und auch die Stimme; denn jetzt sprach er einige Worte zu dem Anderen, der neben ihm ging. Dieser war aber ein Polizei-Kommissär in voller Uniform.

Der Graf war so überzeugt, den Baron zu erkennen, daß er ihn zu jeder anderen Zeit angerufen hätte. Und jetzt – nein, da war keine Täuschung möglich – jetzt war er sicher, daß dies auch derselbe Mann sei, den er in jener Nacht aus dem Fuchsbau hatte heraus kommen sehen.

Die Beiden gingen unterdessen im gewöhnlichen Schritte dahin und hatten bald die Thüre der Polizeidirektion erreicht. Dort blieben sie stehen; der Mann im Mantel reichte dem Anderen die Hand, worauf der Kommissär eine tiefe Verbeugung machte und dann an der Treppe stehen blieb, jenem nachblickend, welcher in eine Seitenstraße einbog und verschwand.

»Heute wäre es eine günstige Gelegenheit, ihm zu folgen,« dachte Graf Fohrbach, indem er rasch vorwärts eilte. »Es ist noch eine ziemlich frühe Stunde; ich rufe seinen Namen, und da wollen wir sehen, ob er anhält und mir Rede steht.« – Doch kam ihm im nächsten Augenblicke ein anderer und, wie er glaubte, besserer Gedanke. Er hatte mit zwei Schritten die Treppe der Polizeidirektion erreicht, welche der Kommissär soeben langsam hinauf stieg.

Graf Fohrbach bot ihm laut einen guten Abend.

[61] Der Beamte wandte sich plötzlich um, und als er beim hellen Lichte der Gaslaterne den Adjutanten Seiner Majestät erkannte, machte er schon auf der obersten Stufe eine tiefe Verbeugung und stieg eilig und mit großer Höflichkeit die Treppen herab, da er wohl bemerkte, daß ihn der Graf erwartete.

»Euer Erlaucht haben irgend einen Befehl für mich?« fragte er verbindlich.

»Das nicht, Herr Kommissär,« erwiderte der Adjutant. »Würde mir das auch nicht erlauben; doch wenn Sie mir eine Frage beantworten könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar dafür.«

»Mit dem größten Vergnügen.«

»Wer war jener Herr, der eben mit Ihnen ging und Sie vor wenigen Augenblicken verließ?«

Der Polizei-Kommissär rieb sich die Hände und lächelte pfiffig, worauf er sagte: »Das ist eigentlich eine Art Dienstgeheimniß, welches aber Euer Erlaucht mitzutheilen ich mich nicht zu geniren brauche. Jener Herr, der im Mantel, – ich gebe Euer Erlaucht mein Ehrenwort, daß ich seinen Namen nicht einmal weiß, – aber unter uns gesagt,« – damit hielt er die rechte Hand an eine Seite des Mundes und flüsterte dem Grafen in's Ohr: »Er ist einer der Sekretäre Seiner Excellenz des Herrn Präsidenten, und gehört zur geheimen Polizei.«

»Zur geheimen Polizei?« sprach der Graf im Tone des höchsten Erstaunens.

»Es ist so, Euer Erlaucht. – Aber nicht wahr, das bleibt ganz unter uns?«

61. Kapitel
Einundsechzigstes Kapitel.
Die Soirée des Kriegsministers.

Wenn bei Seiner Excellenz dem Kriegsminister große Soiréen stattfanden, was im Laufe des Winters mehrmals vorkam, so wurden [62] hiezu die unteren Apartements des palastähnlichen Hauses, die sonst immer verschlossen waren, geöffnet. Sie bestanden aus einem großen Tanzsaal mit Nebenzimmern zu allen möglichen Zwecken; hier konnten die Tänzer ausruhen, dort konnten Mütter und andere Anverwandte sich einer angenehmen Konversation hingeben und doch mit einem einzigen Blick den Ballsaal und somit ihre Töchter und Schutzbefohlenen übersehen. Etwas entfernter von der rauschenden Musik waren Konversations- und Spielzimmer, sowie auch ein Gemach, dessen schwere eichene Tische mit Albums aller Art und illustrirten Werken überladen waren.

Wie wir bereits wissen, verband der kleine Wintergarten das Haupthaus mit dem Hintergebäude, wo der junge Graf Fohrbach wohnte. An solchen Abenden aber wie der heutige war nicht blos der Blumengarten geöffnet, beleuchtet und zum Eingang von Gästen eingerichtet, sondern das Apartement des jungen Grafen mit Ausnahme des Schlafzimmers in die ganze Reihe hinein gezogen, und es wurde hier gewöhnlich soupirt.

Wenn man nun vor Beginn der Soirée durch die ganze Zimmerreihe dahin schritt, wo die hohen Wachskerzen soeben angezündet waren und der Glanz ihrer Lichter noch durch keinen Staub getrübt wurde, wo die Blumen in den Ecken und auf den Tischen noch in ihrer ganzen Frische prangten, wo sich die Möbel der verschiedenen Zimmer und Salons noch in jener gut berechneten Unordnung befanden, die dem Auge so wohl thut, wenn die reine Atmosphäre noch versüßt war durch den Duft der Blumen und Gesträuche aus dem geöffneten Wintergarten, – so mußte man sich gestehen, daß dies Apartement, wenn auch wohl in der Größe und Ausdehnung manchem andern nachstehend, doch an zierlicher Eleganz, Geschmack und Lieblichkeit gewiß weit und breit seines Gleichen vergeblich suchte. Namentlich machte es dem jungen Grafen vieles Vergnügen, seinen ersten großen Salon, der an das Gewächshaus stieß, immer wieder auf neue Art zu dekoriren und einzurichten.

[63] Heute nun schien er eine Fortsetzung des Wintergartens zu sein, und wenn man hinein trat, so glaubte man in ein großes Gewächshaus zu kommen. Alle Ecken waren mit dichten Gebüschpartieen besetzt, von welchen sich nach verschiedenen Seiten hin Blumen und Sträucher in das Zimmer hinein zogen, so daß sie dasselbe in eine ganze Menge kleiner Pflanzenkabinete abtheilten. Diese nun waren auf das Mannigfaltigste möblirt; hier bot eins Platz für zehn und zwölf Personen, dort vielleicht für fünf und sechs, weiterhin aber sah man recht lauschige Plätzchen, wo nur ein einsamer Sopha oder zwei Fauteuils standen, wie geschaffen zu einem heimlichen Zwiegespräch. Einen Kronleuchter hatte der Salon nicht; er würde auch die ganze Wirkung dieses künstlichen Gartens zerstört haben. Zwischen den Blumenpartieen, namentlich aber am Ende derselben, standen kleine Postamente und auf diesen Lampen, welche über die Pflanzen emporragten oder zwischen ihnen durchschimmerten. Die Kugeln dieser Lampen waren mit künstlichen, gemachten und transparenten Blumen umgeben, die nun aus dem dunkeln Grün magisch hervorleuchteten, hier ein Bouquet riesenhafter, glühender Rosen darstellend, dort einen Strauß anderer sanft schimmernder Blüthen, oder weiterhin eine Partie weißer, glänzender Lilien.

Auch zu Anfang des Balles, wo sich Alles in den vorderen Zimmern befand, war hier ein recht heimlicher, anmuthiger Aufenthalt. Da hörte man aus weiter Entfernung das Murmeln der Stimmen, die Akkorde der Tanzmusik, oder, wenn diese einen Augenblick schwieg, das sanfte Plätschern der Springbrunnen in dem anstoßenden Wintergarten. Doch ließen sich wenige Gäste hier nieder; man spazierte nur hindurch, um die schönen Arrangements zu bewundern und zog sich hierauf wieder nach dem vorderen Theile des Apartements zurück, weil dort Tanz und Spiel zu finden war, und weil, wie Jedes wußte, der zierliche Salon des jungen Grafen für die allerhöchsten Herrschaften so zu sagen reservirt war, [64] wohin sich diese auch häufig mit einzelnen auserwählten Vertrauten zurückzogen.

Wenige Minuten nach acht Uhr hatte übrigens das ganze Apartement am heutigen Abend den Reiz der Einsamkeit und auch schon theilweise der Frische verloren und diente nur noch zu dem Aufenthalt eines wahrhaft fabelhaften Glanzes, der sich in seinen Räumen ausbreitete.

Vor dem Tanzsaale empfing der Kriegsminister die hohen Herrschaften, wobei der alte Herr mehrere tiefe Verbeugungen machte, die bald mit vertraulichem Gruß und einigen freundlichen Worten erwidert wurden, bald auch nur mit einem steifen und sehr vornehmen Nicken des Kopfes, je nachdem man damit eine größere oder kleinere Gnade andeuten wollte.

Nachdem so der allgemeine Empfang vorüber war, zu welchem sich Alles, was auf das Recht bemerkt zu werden Anspruch machen konnte, in den Vorzimmern und dem Eingang des Tanzsaales zusammengedrängt hatte, lösten sich die Anwesenden in einzelne Gruppen auf, die hohen Personen hielten in den verschiedenen Zimmern ihre kleinen oder großen Cercles, die jungen Herren und Damen folgten der rauschenden Tanzmusik, die alten Excellenzen und sonstigen Würdenträger zogen sich in die Spielzimmer zurück, und jene Eingeladenen, deren schwarze Fräcke schon mehreren Moden siegreich widerstanden, deren weiße Westen etwas zu kurz, die Handschuhe dagegen etwas zu lang waren, tapezierten die Wände, standen, in der Absicht, auffallend bescheiden und schüchtern zu sein, Jedermann im Wege, traten sich gegenseitig auf die Füße, machten vor jedem Stern einen tiefen Bückling, wobei sie nicht selten von hinten mit einer alten Dame sehr unangenehm karambolirten, und schwammen im Allgemeinen für sich und Andere sehr unerquicklich auf der Woge dieses glänzenden Lebens dahin, bis sie endlich von der gewaltigen Fluth in ein entferntes Nebenzimmer geschleudert wurden, um hier in irgend einer Ecke ruhig zu warten, bis sie [65] mit Anstand verschwinden konnten; oder um ein paar Stunden lang mit großer Geduld und Ausdauer verschiedene Albums zu durchblättern, wobei sie sehnsüchtige Blicke auf die Uhr warfen und schmerzliche auf ihre Füße, deren Hühneraugen unter den engen Schuhen von Glanzleder entsetzlich brannten und schmerzten.

Im Uebrigen war jetzt der Ball vollkommen en train; man tanzte, man lachte, man spielte, man unterhielt sich, und dabei rauschten Kleider und Bänder, glänzten Diamanten, Perlen und Sterne, glühten frische Wangen und funkelten schöne Augen.

Der geneigte Leser wird in dem Gewühle hier und in allen Theilen des Apartements viele seiner Bekannten wieder finden: in dem Spielzimmer die Excellenzen, denen er im königlichen Vorzimmer begegnete, hier aber ihrer würdevollen Mienen sowie der Uniform entkleidet, und dagegen angethan mit dem schwarzen Frack, der weißen Weste, über welcher das breite, farbige Ordensband glänzt; – sowie auch den Herrn von Dankwart, der sich bemüht in alle Karten zu schauen, über das Spiel im Allgemeinen zu sprechen, oder hie und da gute Rathschläge im Einzelnen zu ertheilen, die ihm aber höchstens einen erstaunten Blick eintragen.

Im Tanzsaale finden wir den Major von S., der, obgleich über die Jahre des Tanzens schon fast hinüber, sich doch neulich auf heute Abend zu einem Walzer verpflichtete, ein Leichtsinn, den er nun im Schweiße seines Angesichtes abbüßen muß; den nunmehrigen Regierungsrath Eduard von B., der es an der Zeit findet, sich gründlich unter den Töchtern des Landes umzuschauen; – sowie auch abermals den Herrn von Dankwart, der ohne selbst zu tanzen, über diese Kunst im Allgemeinen sehr gründlich abspricht und einzelnen jungen Damen Rathschläge ertheilt, die aber bei den Schönen und Gesuchten ein vornehmes Achselzucken, bei den Bescheidenern und minder Hervorragenden ein leichtes mitleidiges Lächeln hervorbringen.

In den entfernteren Zimmern, an den Tischen mit den Albums [66] sehen wir jene Herren mit den altmodischen Fräcken, Beamte des kriegsministeriellen Departements, junge, noch schüchterne Offiziere und Künstler; – sowie auch wieder den Herrn von Dankwart, der hier als Protektor und Kritiker auftritt, sich so hoch streckt, als es seine kleinen Beine erlauben, die Nase gewaltig erhebt und mit großer Bescheidenheit versichert, wenn auch seine Anwesenheit in hiesiger Stadt im Allgemeinen noch von keinen großen Folgen gewesen sei, so müsse er sich doch selbst zugestehen, daß sein Urtheil, sein Lob und Tadel auf dem Gebiete der Kunst schon außerordentliche Früchte getragen. – »Man fürchtet sich vor mir,« sagte er, »man weiß, wie ich nur das Gute schätze, aber dem Mittelmäßigen streng entgegen trete; man muß es anerkennen, daß ich die Aufmerksamkeit der Frau Herzogin auf manches bisher unbekannte Talent gelenkt, und daß ich so zu sagen Künstler erzogen habe, die es noch zu etwas Großem bringen werden, wenn sie wie bisher meinen Winken und Rathschlägen Folge leisten.«

Im Wintergarten finden wir einige Hofdamen, die plaudernd auf- und abgehen, bald vor dieser Blumengruppe, bald vor jener bewundernd stehen bleiben, während sie häufig ausrufen: »Charmant! – köstlich! – deliciös!« – die dabei ihre weißseidenen Roben sehr in Acht nehmen, damit sie nicht an irgend ein nasses Blatt streifen, und die Alle mit dem Fächer wedeln, sobald Eine die Bemerkung macht, in dem Saale sei es unerträglich heiß; – sowie auch den unvermeidlichen Herrn von Dankwart, der über Blumenzucht im Allgemeinen spricht, auch recht anerkennend über den Gärtner des Kriegsministers urtheilt, im Einzelnen aber die bündige Erklärung abgibt, daß, obgleich hier viel für Blumenzucht geschähe, die hiesigen Gewächshäuser doch keinen Vergleich aushalten könnten mit denen, die er zu Haus verlassen, und daß, ohne ungerecht zu sein, was Pflanzen und Blumen anbetreffe, hier sich gegen dort wie Sibirien zu Italien verhalte.

Im Salon des jungen Grafen ist dieser selbst und nimmt [67] freundlich und bescheiden die ausschweifenden Lobsprüche einiger alten Hofdamen in Empfang, die ihn versichern, so etwas Magnifikes und wirklich Graziöses noch nie gesehen zu haben; – sowie auch der Herr von Dankwart, der lächelnd hinzu tritt, und dem Grafen vertraulich auf die Schulter klopfen will. Es bleibt jedoch bei dem Versuche, denn Graf Fohrbach macht eine entschieden rückgängige Bewegung, von einem sonderbaren Blicke begleitet, was aber den Herrn von Dankwart durchaus nicht abzuschrecken scheint; denn er nähert sich abermals, reibt seine Hände, und sagt, indem er sich auf den Fußspitzen wiegt: »Bei Gott! dieser gute Graf hat etwas gelernt. Gestehen Sie, Ihnen hat der Salon der Fürstin X. bei uns vorgeschwebt und Sie haben den hiesigen darnach gebildet, aber wirklich mit vielem Geschmack und Eleganz. Wahrhaftig, Graf Fohrbach, Ihr Geist ist ein dankbares Feld für Bemerkungen, die man Ihnen gelegentlich macht; Sie haben da meine Idee mit den transparenten Blumen vortrefflich benützt, – in der That, vortrefflich benützt. Nur wissen Sie, was ich hie und da noch besser gemacht hätte? – Zwischen dem Grün hindurch ein Bouquet Wachskerzen. Ich versichere Sie, der Glanz der Lichter zwischen den Blättern macht eine fabelhafte Wirkung. So war es auch bei der Fürstin X., das allein haben Sie vergessen.«

So plauderte Herr von Dankwart unermüdlich fort und eilte dabei mit außerordentlicher Beweglichkeit, ohne auf seine Reden irgend eine Entgegnung abzuwarten, zu den verschiedenen Gruppen wo er Wachslichter angebracht zu haben wünschte, und als er sich endlich wieder zu der Gesellschaft umdrehte, bemerkte er, daß Alle das Zimmer verlassen hatten bis auf eine alte Gräfin, die ihm mit wahrer Bewunderung zuzulauschen schien, denn sie war von der Frau Herzogin sehr abhängig und erhielt durch die Hand des Herrn von Dankwart vertraulicher Weise manche Unterstützung.

Im Vorzimmer, um bis an das Ende des Apartements zu gehen, sah man die Dienerschaft des Hauses die Erfrischungen herrichten, [68] und die Limonaden sowie das Gefrorene vorher heimlicher Weise versuchen, ob es auch wohl würdig sei, den Gästen präsentirt zu werden; – sowie auch den Herrn von Dankwart, der eigentlich hieher gehörte, und der einem Kammerdiener anempfahl, es ihm ja augenblicklich zu melden, sobald der Wagen der Frau Herzogin vorgefahren sei.

Einen unserer Bekannten suchten wir bis jetzt überall vergebens, den Herrn von Brand nämlich, der aber eingeladen und auch erschienen war. Doch fanden wir ihn nicht, weil er, wie der Herr von Dankwart, bald hier bald dort war, übrigens eine ganz andere Rolle spielend; denn während dieser sich vordrängte, viel sprach und also leicht bemerkbar war, zog Jener sich zurück, knüpfte fast gar keine Unterhaltungen an und schien nur aus der Ferne dies und das zu beobachten.

Jetzt näherte er sich dem Spielzimmer, trat aber dort sogleich in eine Fensternische und ließ sich auf einem kleinen Fauteuil nieder, der ihn durch den da neben herabhängenden Vorhang fast ganz verbarg.

Es waren in diesem Zimmer drei Spieltische aufgestellt, und man arbeitete fast überall mit dem Strohmann; doch war der Stuhl desselben fast nirgendwo unbesetzt, und wenn sich ein Zuschauer von demselben erhob, so nahm gleich ein anderer darauf Platz.

An dem Tische, der dem Baron zunächst stand, saß Seine Excellenz der Oberststallmeister, der Hofmarschall, sowie ein kleiner alter, vertrockneter Herr, dessen Bekanntschaft wir noch nicht gemacht. Er hatte ein spitziges Gesicht von unangenehmem Ausdruck, tief liegende, trübe Augen, wenig Zähne und auf dem Kopfe eine Perücke, deren Farbe offenbar zu dunkel abstach gegen seine fahle, verlebte Gesichtsfarbe. Der alte Herr saß mit ziemlich gekrümmtem Rücken da und bückte sich bei jeder Karte, die ein Anderer ausspielte, noch tiefer hinab, wobei er die Augen blinzelnd zusammen kniff. Zuweilen bediente er sich auch einer Lorgnette, die neben [69] ihm lag, um einen etwas entfernten Stich betrachten zu können. Seine Finger waren unendlich mager und zitterten oftmals so heftig, daß er mit der rechten Hand nachhelfen mußte, um die in Unordnung gerathenen Karten wieder gehörig aufzurichten.

Wenn wir dem geneigten Leser sagen, daß er von seinen Mitspielenden mit »Excellenz« angeredet wurde, daß er über der weißen Atlasweste ein breites Band trug, sowie auf dem schwarzen modischen Frack einen blitzenden Stern, so wird derselbe versichert sein, daß wir ihn soeben mit einer sehr vornehmen Person bekannt gemacht haben.

Es war dies Seine Excellenz, der in dieser Geschichte schon einige Mal erwähnte pensionirte General-Adjutant Baron von W., in seiner Jugend ein gewaltiger Eroberer in mancherlei Beziehungen, jetzt nur noch eine alte, verdrießliche Ruine, die nur in solchen Augenblicken etwas freundlicher aussah, wenn sie von der Sonne allerhöchster Huld und Gnade beschienen wurde.

Neben ihm, auf dem Platze des Strohmanns, saß seine Frau, die Baronin W., und man konnte sich keinen größern Kontrast denken, als dieses Ehepaar darstellte. Sie war eine schöne Frau in den Zwanzigen, hatte volle, schwellende Formen, einen unbeschreiblich weißen, aber sehr blassen Teint und die schönsten hellblonden Haare, die man sehen konnte. Die Baronin war einfach in hellblaue Seide gekleidet; ihr Schmuck war unbedeutend und bestand nur in Perlen, die sie am Armband und in den Ohrringen trug. Sie war, wie gesagt, heute noch eine der reizendsten Erscheinungen, mußte aber vor Jahren wunderbar schön gewesen sein, als sich die Frische der Jugend noch in den Formen ihrer Gestalt ausdrückte und als ihr jetzt etwas umflortes Auge noch im vollen Glanze strahlte. Sie war etwas stark geworden und ihre Augenlider hatten eine eigenthümliche Färbung; dunkler als die Stirne lag über ihnen ein Schimmer von Rosa und Braun, welches aber das Gesicht durchaus nicht entstellte, ja es womöglich noch anziehender und interessanter [70] machte. Wie schon gesagt, saß sie an der Stelle des Strohmannes und hatte den vollen weißen Arm so auf die Ecke des Tisches gelegt, daß der Fächer, der am Handgelenke befestigt war, frei herab hing und hin- und herschwebte, welches Spiel sie angelegentlich zu betrachten schien. Zuweilen aber, wenn Seine Excellenz einen Ton des Mißfallens oder der Freude hören ließ, hob sie die müden Augenlider empor und schaute über die Karten hin, wobei ein leichtes Lächeln um ihren Mund spielte, wenn sie den Blicken des Gemahls begegnete.

Der Herr von Brand saß so in seiner Ecke, daß ihm Seine Excellenz der General-Adjutant den Rücken zudrehte, er dagegen der Baronin in's Gesicht sehen konnte.

Seine Excellenz bekam vortreffliche Karten und nahm häufig ihre Lorgnette, um die Stiche zu betrachten. Auch lachte sie zuweilen laut hinaus, was zwar durchaus nicht angenehm klang, aber die Freude ihres Herzens bekundete.

Die Baronin schien an dieser Freude offenbar Antheil zu nehmen, denn sie ließ ihr Fächerspiel bleiben, stützte den Kopf auf ihren Arm und begleitete das triumphirende: »enfin – petit Schlemm!« Seiner Excellenz mit einem freundlichen Kopfnicken.

Als sie in diesem Momente das Gesicht erhob, und, gewiß zufälliger Weise, ihre Blicke durch das Zimmer schweifen ließ, begegneten sie denen des Herrn von Brand, der sie aufmerksam und fest ansah. Es mußte für sie etwas Seltsames in diesem Anschauen liegen, denn ihre Gesichtszüge änderten sich vielleicht während einer Sekunde, was sie fühlte, denn sie blickte fast erschrocken auf ihren Gemahl, der aber in seine Karten sah und durchaus nichts bemerkt hatte.

Hierauf drehte sich die Baronin nach und nach an dem Tische so, daß sie nach der Fensternische schauen konnte, während die rechte Hand den Spielenden ihr Gesicht verdeckte. Wir müssen nun eingestehen, daß sie jetzt häufig ihre Blicke dem Baron zuwandte, daß [71] dieser ebenfalls scharf herüber sah, ja daß er kurze Zeit nachher ein für uns unverständliches Zeichen machte, welches die schöne Frau dadurch beantwortete, daß sie langsam ihre Augenlider senkte, was offenbar Ja bedeutete; denn nun erhob sich der Baron aus seiner Fensternische und schlich, von den Spielenden ungesehen, zum Zimmer hinaus.

Die Baronin blieb noch eine Zeit lang; dann legte sie ihre volle weiche Hand auf den schlotternden Aermel ihres Gemahls und sagte mit ihrer sanften Stimme: »Ich wünsche dir alles Glück wie bisher,« – worauf der Oberststallmeister galant erwiderte: »Das wird von ihm verschwinden, sobald Sie, gnädige Frau, ihn verlassen.«

»Was übrigens auch nicht mehr als recht und billig ist,« meinte einigermaßen verdrießlich der Hofmarschall. »Denn Seine Excellenz gehen in der That zu grausam mit uns um.«

»Mais où allez-vous?« fragte mürrisch der Gemahl, indem er der Baronin einen unfreundlichen Blick zuwarf. »Man sollte wahrhaftig glauben, es thue dir leid, mich einmal gewinnen zu sehen – contre la rêgle.«

»Contre la rêgle,« lachte laut der Hofmarschall. »Nein, gnädige Frau, geniren Sie sich durchaus nicht; verlassen Sie ihn nur, und wenn ihn damit sein Glück verläßt, so hat er es verdient.«

Diese Worte schienen ohne alle andere Deutung gesprochen worden zu sein, doch riefen sie auf dem Gesichte des Oberststallmeisters ein leichtes Lächeln hervor, und die andere Excellenz biß sich auf ihre dünnen Lippen, zuckte die mageren Achseln und sagte mit ihrer schnarrenden Stimme: »Ah! je ne pense pas de vous retenier. – Beim Spiel,« setzte er mit scharfer Betonung hinzu, »nennt ihr oft rasendes Glück, was eigentlich doch nur gutes Spiel ist. – Mais dites moi, où allez-vous?«

»Ich will einen Gang durch die Apartements machen,« erwiderte die Baronin mit leiser Stimme. »Graf Fohrbach wollte [72] mich schon vorhin durch den Wintergarten führen; ich muß doch diese Artigkeit vergelten, indem ich ihn aufsuche.«

»Eh bien donc!« sprach verdrießlich der General-Adjutant, »va – t'en, va – t'en. Du störst ohnehin meine Aufmerksamkeit. – Den Stich,« rief er dem Hofmarschall zu, »haben Sie allein dieser Unterredung zu danken. – Diable! quelle distraction.«

Die blasse Frau legte nochmals ihre Hand auf seinen Arm, was übrigens keinen weiteren Erfolg hatte, als ein unmuthiges Zucken. Dann schwebte sie leicht und anmuthig zum Zimmer hinaus.

Im Tanzsaal erblickte sie der Kriegsminister, der sich ihr augenblicklich näherte und artig seine Begleitung durch die Zimmer antrug. Doch sagte sie mit einem freundlichen Lächeln: »Ich sehe wohl, wie Euer Excellenz hier noch von aller Welt umringt sind; auch kommt dort soeben die Frau Herzogin, der Sie nicht aus dem Wege gehen dürfen. Ich will unterdessen schon voraus in den Wintergarten, und wenn Sie später einen Augenblick Zeit haben, so werde ich sehr dankbar für Ihren freundlichen Unterricht sein.«

»Sie haben wirklich Recht,« erwiderte der Kriegsminister, indem er sich umwandte. »Aber man kann mit Ihnen, schöne Frau, nicht zwei Worte reden, ohne daß man Ihnen zu Dank verpflichtet sein muß. Wahrhaftig, die Frau Herzogin würde in ihrer guten Laune gegen mich geglaubt haben, ich suche sie absichtlich zu vermeiden. – Doch folge ich Ihnen sogleich.«

Sie grüßte anmuthig und schritt durch den Tanzsaal und die übrigen Zimmer in den Wintergarten hinab, wo sich augenblicklich sehr wenige Gäste befanden. Entfernt von diesen und anscheinend eine prachtvolle Camelie betrachtend, stand der Baron von Brand in der Nähe des Einganges zu den Zimmern des jungen Grafen Fohrbach.

Die Baronin näherte sich, und als sie so dicht bei ihm war, [73] daß sie seine Worte verstehen konnte, sagte er: »In den hintern Zimmern ist Niemand; da es aber auffallen könnte, wenn man uns dort allein träfe, so will ich hier stehen bleiben, wo ich den ganzen Wintergarten und die Zimmer bis in den Tanzsaal übersehen kann. Tritt etwas näher zu mir und setze dich hier auf den kleinen Fauteuil, wo du unbefangen auf Jemand warten kannst, während es mir sehr leicht möglich ist, dort hinaus zu verschwinden.«

Die schöne Frau that, wie ihr der Baron gesagt, und als sie sich auf den kleinen Stuhl niedergelassen hatte, beugte er sich zu ihr hinab und sprach: »Ich habe dir viel zu sagen.«

»Ich dir ebenfalls,« entgegnete sie. »Ich habe heute einen fürchterlichen Tag verlebt.«

Er nickte mit dem Kopfe.

»Ah! wie Recht hattest du,« rief sie mit gefalteten Händen, »als du mir damals schon anbotest, die Angelegenheit des Kleinen in deine Hände zu nehmen.«

»Es wäre in der That besser gewesen.«

»Aber ich fürchtete mich. Du hättest das freilich Alles vorsichtiger behandelt; aber man muß sich doch irgend Jemand anvertrauen, und das Schlimmste, was für uns Beide geschehen könnte, würde doch wohl sein, wenn man auf einmal ein Einverständniß zwischen uns ahnete.«

»Natürlich wäre das jetzt unbegreiflich für die Welt und müßte zu den tollsten Vermuthungen Anlaß geben,« versetzte er mit trübem Blicke. »Und damals ging es nicht an; du wußtest ja nichts von mir, wußtest nicht, welche Stellung in der Gesellschaft ich einnehme, ob es mir wohl ergehe oder ob ich nicht vielleicht langsam in Jammer und Elend verkomme. Wir sind nicht schuld daran, meine arme Lucie: das Schicksal, welches uns so früh aus einander riß, hat es nicht anders gewollt. – Doch schweigen wir über die Vergangenheit, schweigen wir darüber, wie man dies oder das hätte anders machen können; die Zeit ist ja hinter uns gerollt, [74] und mit allen Schätzen der Welt, wenn wir sie hätten, würden wir doch nicht im Stande sein, eine Sekunde zurück zu erkaufen, geschweige denn einen Tag, einen Monat, ein Jahr. – Also zur Sache!«

»Ja, zur Sache!« wiederholte die schöne Frau und legte sich weit in den Fauteuil zurück, nachdem sie zuerst einen forschenden Blick durch den Pflanzengarten geworfen.

»Es kommt Niemand,« sagte er und bückte sich so tief hinter den Camelienbusch hinab, daß er das leiseste Flüstern ihres Mundes verstehen konnte.

»Du weißt,« sprach sie, »daß ich das Kind vor einem Jahre hieher kommen ließ.«

»Leider!«

»Ich konnte es nicht ertragen, daß es so weit entfernt von mir war: ich mußte es zuweilen an mein Herz drücken, zuweilen seine lieben Augen küssen. – Du kennst ja mein freudeloses Leben und wirst mir im Ernst nicht darüber zürnen, daß ich mir unter die vielen Dornen meiner Tage diese einzige Rose flocht. – Ah! es waren glückselige Stunden, wenn ich das Kind sah.«

»Arme Schwester! – Ich kann mir denken, daß dies Glück von kurzer Dauer war. – Aber weiter! – weiter!«

»Ich hatte Alles auf's Beste eingerichtet; der Kleine war bei einer sehr braven und verschwiegenen Frau, deren Wohnung in dem Hause einer Freundin lag, die ich ohne alles Aufsehen häufig besuchen konnte; und wie ich dir schon sagte, genoß ich auch die Seligkeit, mein Kind hie und da zu sehen, fast ein ganzes Jahr. – Eines Tages theilte mir aber die Wärterin mit, sie sei verschiedenen ihr unerklärlichen Nachforschungen ausgesetzt, bei Spaziergängen mit dem Kinde dränge sich oft ein Mann an sie, knüpfe eine Unterredung über gleichgiltige Dinge an, frage auch nach dem Knaben und dessen Eltern, kurz, benehme sich auffallend und ungeschickt.«

[75] »Und diese Wärterin ist eine alte Frau?«

»Versteht sich,« erwiderte die Baronin. – »Das Interesse, welches jener Mann an ihr zu nehmen schien, galt also nur dem Knaben. Schon mehrere Male wünschte er unter verschiedenen Vorwänden, sie nach Hause zu begleiten; sie verbat es sich begreiflicherweise, doch mußte er ihr neulich gefolgt sein, obgleich sie auf großen Umwegen und in einem Wagen heimkehrte. – Genug, er fand ihre Wohnung, erklärte ihr das selbst lachend und ging eines Tages so weit, daß er ihr geradezu sagte, hinter dem Knaben stecke ein Geheimniß, das er wohl ergründen möchte. Er bot ihr eine bedeutende Summe, wenn sie ihm einige Mittheilungen machen wollte.«

»Das war ein recht dummer Teufel!« sagte höhnisch der Baron.

»So standen die Sachen. Da bemerkte ich auf einmal mit dem größten Schrecken, daß das Benehmen meines Mannes zu Haus gegen mich härter und tyrannischer wurde als je. Zuweilen ließ er sich, anscheinend ohne alle Absicht, von mir etwas von meinem früheren Leben erzählen, und konnte dabei oft eine laute, häßliche Lache aufschlagen, oder er verließ mich scheinbar ruhig, aber mit zitternden Händen und funkelnden Augen.«

»Ja, ja, ich kann mir wohl denken, daß diese Nachforschungen von ihm ausgingen.«

»Ich weiß es gewiß; und da ich seinen heftigen, gewalt thätigen Charakter kenne und überzeugt war, er werde das Kind mit List oder durch Gewalt in seine Hände zu bekommen suchen, um gegen mich einen Anknüpfungspunkt zu erhalten, so war es nothwendig, daß ich es verschwinden ließ. – Hatte ich nicht Recht?«

»Doch; ich will das nicht leugnen. Aber in dem Moment hättest du dich an mich wenden sollen.«

»Nein,« entgegnete sie eifrig, »da gerade konnte ich das nicht thun; ich wußte genau, daß ich von Spähern umgeben war, daß er von allen meinen Schritten Kenntniß hatte, ja, daß die Briefe, [76] die ich schrieb, in seine Hände gelangten. Ich konnte nur noch mit jener alten Frau verkehren, die mir unbedingt ergeben ist.«

»Mit der Frau Fischer,« sagte er, wie in tiefen Gedanken.

»Du kennst sie?« fragte erstaunt die Baronin.

»Ich glaube, du sprachst mir einmal darüber,« versetzte er ruhig und gefaßt. »Ja, es muß so sein. – Aber erzähle weiter!«

»Die Frau also sagte mir von einer Bekannten, durch deren Vermittlung mein armes Kind für eine Zeitlang bei guten, braven Leuten untergebracht werden könne.«

»Hahaha!« lachte der Baron.

»Worüber lachst du? – Ich bitte dich, sei ernsthaft.«

»O das bin ich auch im höchsten Grade. Dies Lachen ist eine Art Krampf, der mich zuweilen befällt.«

»Ich willigte also ein, daß sie das Kind zu jenen Leuten brachte.«

»That sie das selbst?« forschte er emsig.

»Nein, das wäre zu gefährlich gewesen. Sie brachte es zu ihrer Bekannten, von der ich dir sprach, und diese übergab es einer dritten Hand, welche es zu jenen Leuten that. – O mein Gott, wer hätte ahnen können, daß er trotz dieser Vorsichtsmaßregeln auf des Kindes Spur komme!« – Die Baronin sprach das mit dem Tone des tiefsten Schmerzes und drückte ihre Hände einen Augenblick vor das Gesicht. Darauf faßte sie sich wieder mit gewaltiger Kraft, preßte eine Sekunde ihre Lippe fest auf einander und fuhr fort: »Ich erhielt häufig Nachrichten von dem Kinde, gute und befriedigende.«

»Immer durch die dritte Hand?«

Sie nickte mit dem Kopfe und entgegnete: »Vorgestern die letzte: denn heute morgen berichtete mir die alte Frau das Entsetzliche, mein Kind sei geraubt, mit Gewalt jenen guten Leuten entführt worden, bei denen es sich befand. – O Henry,« sprach sie nach einer Pause mit gefalteten Händen, während Thränen in ihren [77] Augen glänzten, »ist das möglich? – Kann so Etwas geschehen? – O mein Gott! ich martere meinen Kopf den ganzen Tag auf's Fürchterlichste ab, ich komme von einer Vermuthung auf die andere. – Hat mich nicht am Ende jene Frau verrathen? – Ist es denn wahrscheinlich, daß das Kind geraubt werden konnte?«

»O ja, das ist wahrscheinlich und möglich.«

»Jetzt bin ich am Ende,« fuhr sie mit leiser und klagender Stimme fort, indem ihre Hände auseinander zuckten und sich ihre Finger krampfhaft schlossen. »Jetzt kann ich weiter nichts thun als klagen und verzweifeln, und auch das ja nur, wenn ich allein bin. – O Henry! er beobachtet jede meiner Mienen. Wenn du wüßtest, welch' unaussprechliche Qualen ich leide, da ich heiter und zufrieden aussehen soll, während mein Herz zerrissen ist.«

Der Baron hatte bei diesen Worten, die sie heftig und leidenschaftlich herausgestoßen, sanft ihre Hand erfaßt und drückte sie leise. – »Beruhige dich,« sagte er, »Fassung! Fassung! Schwester. – Denke daran, wo wir uns befinden! Wie würden von Hunderten, wenn sie dich hier sehen würden, Thränenspuren in deinen Augen oder auf deinen Wangen gedeutet werden! – Ja, fasse dich und – lächle!«

»Ich lächeln?« erwiderte sie mit einem trostlosen Blick.

»Ah! bei eurem Leben solltest du daran gewöhnt sein,« sprach er in bitterem Tone. – »Aber,« setzte er mit weicher Stimme hinzu, »ich, dein Bruder, verlange nicht so Entsetzliches von dir: du sollst lächeln, weil ich dir eine angenehmere Fortsetzung deiner Geschichte erzählen will.«

»Du?« rief sie fast laut hinaus und erhob sich rasch von ihrem Stuhle. – »O Henry, spotte meiner nicht!«

»Ich spotte nie,« sagte er ruhig. »Aber fasse dich und lächle; dort sehe ich einige Personen kommen, unter Anderem Seine Excellenz den Kriegsminister, der dich wahrscheinlich aufsucht. – Lächle also!«

[78] »Ich kann das nicht ohne ein Wort des Trostes. O sage mir: was weißt du von der fürchterlichen Geschichte?«

»Daß dein Kind wieder gefunden ist,« versetzte er leise – »das Wie und Wo kann ich dir hier nicht erzählen – aber daß es nicht von ihm geraubt wurde, sondern daß es in meinen Händen ist.«

»Ah!« seufzte sie aus tiefer Brust und preßte ihre linke Hand auf das Herz. – »Ah, Gott, dir danke ich! Jetzt will ich lächeln, möchte aber lieber laut hinaus rufen und jubeln.«

Der Baron war verschwunden, und Seine Excellenz der Kriegsminister bot der schönen Frau, die er hier so ganz allein fand, seinen Arm und führte sie durch den Wintergarten, wobei er ihr all die vielen seltsamen Pflanzen und Blumen zeigte. Sie freute sich außerordentlich darüber, lachte in einem fort und schien über die Erklärungen Seiner Excellenz so glücklich und zufrieden, daß der alte Herr sie hocherfreut bis in das Spielzimmer zurückführte und dort dem General-Adjutanten sagte: »Bester Baron, es ist eine wahre Freude, Ihrer Frau Etwas zu zeigen; sie scheint eine große Liebe für die Blumen zu haben, und ich fand noch nie eine liebenswürdigere und gelehrigere Schülerin.« –

Der Pflanzengarten wurde übrigens an diesem Abend häufig zu den verschiedenartigsten Unterredungen benützt. Kaum hatte ihn der alte Graf Fohrbach mit der Baronin am Arm verlassen, als ihn der junge Graf betrat.

Dieser hatte sich längere Zeit spähend in einer Ecke des Tanzsaales aufgehalten, und obgleich dort viele Françaisen getanzt wurden, so schien er doch nur für die Tanzenden einer einzigen derselben Sinn zu haben. Das Finale war zu Ende, die Gruppen lösten sich auf, und mehrere Damen, vom Tanzen erhitzt, stiegen zu den Blumen hinab, um dort die frische, kühlere Luft einzuathmen. Auf diesen Moment hatte der Graf gewartet, denn er, der bis jetzt ganz unbeweglich in seiner Ecke gestanden, schoß plötzlich mit großer Lebhaftigkeit bei den Gruppen vorbei, die sich im [79] Saale gebildet hatten, und eilte ebenfalls in den Wintergarten. Vor ihm schritt Eugenie von S. am Arm einer Freundin, welche sie mit ihrer hohen Figur aber überragte, wie die stolze Lilie das bescheidene Veilchen; und diese beiden Damen lachten und plauderten mit einander, blieben hier vor einer prächtigen Blume, dort vor einem murmelnden Springbrunnen stehen.

»Bis jetzt war es mir unmöglich,« sagte die Kleinere, »das ganz allerliebste Apartement zu besehen; Ihre Majestät hatten jeden Augenblick irgend einen Befehl oder eine Frage. Wenn es Ihnen recht ist, Eugenie, so machen wir eine kleine Entdeckungsreise und den Versuch, wie weit wir dort drüben in dieses unbekannte Zauberland eindringen können. Der Salon, der an den Wintergarten stößt, soll charmant sein. Nachher beim Souper hat man doch keine rechte Zeit, sich alles Das zu betrachten.«

Diese Worte hatte Graf Fohrbach, der den Damen folgte, gehört und sagte so verbindlich als möglich: »Ich würde mich außerordentlich glücklich schätzen, wenn es mir erlaubt wäre, den Führer in diese bescheidene Wohnung machen zu dürfen, welche Sie für ein Zauberland zu erklären so freundlich waren.«

»Wir könnten uns keinen bessern wünschen,« entgegnete lachend die kleine Dame.

Und auch Eugenie, die ein wenig, wenn auch kaum merklich erröthete, nahm dies Anerbieten dankbar an.

Die Drei schritten mit einander durch den Wintergarten, und als sie drüben den Salon betraten, sagte der Graf: »Hier sind die Grenzen meines Reichs und ich heiße die Damen in meiner Behausung feierlichst willkommen.«

»So dürfen Sie uns diese Zimmer nicht vorstellen!« versetzte neckend die kleine Hofdame. »Gott steh' mir in Gnaden bei! wir sind durchaus nicht in Ihrer Behausung; wir befinden uns in einem der Salons Seiner Excellenz des Herrn Kriegsministers, und zwar in dem Salon, wo später die allerhöchsten Herrschaften soupiren [80] werden, weßhalb ich eigentlich hinzufügen darf: ich bin hier in meinem Dienste, denn als getreuester Hofdame Ihrer Majestät kommt es mir zu, dies Terrain zu rekognosziren. – Nicht wahr, Eugenie?«

»Allerdings,« entgegnete diese, indem sie wie aus einem Traume zu erwachen schien; denn während die Andere sprach, hatte es Graf Fohrbach nicht unterlassen können, Eugenien immerfort und aufmerksam in die schönen Augen zu sehen, – Blicke, die sie, wenn auch nicht erwidert, doch gern geduldet hatte.

»Aber hier ist es in Wahrheit deliciös,« sagte die Kleine, »das ist ja ein wahres Blumenparadies! – Sagen Sie mir die Wahrheit: sind diese Zimmer immer so wunderbar dekorirt?«

»O nein,« entgegnete lächelnd der Graf. »Für mich selbst wäre dieser Flor unpassend; aber für solche Gäste, wie ich sie heute verehre,« setzte er mit einer Verbeugung hinzu, »kann die Umgebung nicht reizend genug sein.«

Die kleine Hofdame, die überhaupt eine lebendige Person war, durchschritt rasch den Salon und freute sich wie ein Kind über jedes neue Etablissement, das sie entdeckte. – »Es ist da für Alles gesorgt!« rief sie lustig, »eine der vortrefflichsten Einrichtungen, die ich je gesehen. Man kann hier causiren, deux à deux, dos à dos, oder zu Drei, zu Vier, Fünf, Sechs, wie man gerade will. – Auch,« setzte sie gravitätisch hinzu, »sind vortreffliche Schmollwinkel hier oder heimliche Plätzchen, wo man einen Monolog halten kann. Ich will Beides versuchen; aber stört mich nicht in meiner Andacht.«

Damit tauchte sie hinter die Blumengruppen und ließ sich auf einem der Sitze nieder, die sich dort befanden.

Der Graf war mit Eugenien allein. Sie machte eine Bewegung, der Freundin zu folgen, doch hielt sie ein bittender Blick zurück.

»Fräulein Eugenie,« sagte er, »ich bin Ihnen noch eine Erklärung [81] schuldig über mein Ausbleiben neulich Abends bei dem Major von S. Ich kann es eigentlich keine Erklärung nennen, denn Sie werden es bereits erfahren haben, was mich zurückhielt.«

»Ich weiß es,« versetzte das schöne Mädchen mit einem offenen Blick; »Seine Durchlaucht, der Herr Herzog, welcher an Ihrer Stelle kam, erzählte es lachend dem Major.«

»Ah! er erzählte es lachend. Und der Major?«

»Er meinte, das sei eine außerordentliche Ehre und Sie würden nicht wenig darüber erfreut sein.«

»Aber das war doch nicht Ihre Meinung, Fräulein Eugenie? – Gewiß, das dachten Sie nicht.«

»Nein, ich dachte das nicht,« entgegnete sie offenherzig. »Sie hatten mir ja vorher im Schlosse gesagt, wie sehr Sie sich darauf freuten, mit mir – mit uns, wollt' ich sagen – den Abend bei Ihrem Freunde zuzubringen.«

»Sagen Sie, mit Ihnen, – gewiß nur mit Ihnen, Eugenie!« sagte Graf Fohrbach und erhob seine rechte Hand wie beschwörend gegen sie. – »Was kümmert mich die Gesellschaft, wenn Sie nicht da sind, ja die ganze Welt, wenn ich Sie nicht zu finden wüßte! – Aber,« fuhr er fort, als er sah, wie das Mädchen bei seinen heftigen Worten die Augen niederschlug, »ich war an jenem Abend recht unglücklich; die süßen Stunden in Ihrer Nähe, auf die ich gehofft, mußte ich mit jenem entsetzlich langweiligen Spiel vertauschen. Ich mußte den Stellvertreter des Herzogs machen, der nun statt meiner dorthin ging, wo Sie waren, Eugenie, – der Sie sehen, Sie sprechen durfte, während ich allein blieb mit meinen quälenden Gedanken. – Ja, gewiß, Eugenie, die Anwesenheit des Herzogs bei meinem Freunde war mir an jenem Abend sehr, sehr unangenehm.«

»Und warum das, Graf Fohrbach?« entgegnete sie mit einem reizenden Lächeln.

[82] »Weil – weil –« sagte er stockend, »weil ich weiß, Eugenie, daß Sie der Herzog mit Aufmerksamkeiten verfolgt.«

Sie nickte verschiedene Male mit dem Kopfe und betrachtete das Blumenbouquet, welches Sie in der Hand trug. – »Ja, ja,« sagte sie alsdann mit leiser Stimme, »es ist so; er erzeigt mir Aufmerksamkeiten, was mir sehr – sehr peinlich ist. Und er läßt nicht davon ab, obgleich ich dieselben gewiß nicht beachte. – – Gewiß nicht, Graf Fohrbach,« fuhr sie nach einer kleinen Pause fort, und schaute ihn dabei offen und ehrlich mit ihren hellen und glänzenden Augen an. – »Aber was kann ich thun? Wie will ich mich in der Stellung, in der ich mich befinde, ein- für allemal dieser Aufmerksamkeiten erwehren? – Die Frau Herzogin lächelt darüber, und würde es sehr ungnädig aufnehmen, wollte man ihrem geliebten Sohne diese unschuldige Freude nehmen.«

»O, es ist das nicht Ihr Ernst, was Sie da sagen, Eugenie!« rief entrüstet der junge Mann.

»Ich fühle, daß es bitterer Ernst ist,« erwiderte traurig das Mädchen. – »Doch,« setzte sie heiterer hinzu, »brechen wir dies Gespräch ab, das für mich und auch vielleicht für Sie peinlich ist.«

»Für mich wäre dies Gespräch nur in dem Fall peinlich, aber dann auch fürchterlich und schrecklich, wenn es unbeendigt bliebe!« rief Graf Fohrbach entschlossen. »Deßhalb erlauben Sie mir Eugenie, es noch einen Augenblick fortzusetzen. – Freilich könnte es auch wohl mit wenigen Worten beendet sein,« setzte er mit sanfter Stimme hinzu, und ergriff dabei leicht die Hand des jungen Mädchens, die er ehrfurchtsvoll an seine Lippen brachte; »und diese wenigen Worte würden mich zum Glücklichsten aller Sterblichen machen. Wollen Sie sie nicht gegen mich aussprechen, Eugenie?«

»Ich weiß sie nicht,« erwiderte sie erröthend.

»Aber Sie müssen sie ahnen, Eugenie,« fuhr er dringender fort. »Sie müssen sie in meinen Augen gelesen haben, müssen sie in dem Drucke meiner Hand fühlen, meiner Hand, die jetzt schon [83] schwach und machtlos ist, die bebt und zittert, da sie die Ihrige berührt. – Ja,« setzte er mit leuchtenden Augen hinzu, »Sie brauchen nicht einmal selbstständige Worte auszusprechen, Eugenie, Sie sollen mir nur eine Frage erlauben und mir auf diese Frage mit Ja oder Nein antworten. – Aber hören Sie mich an! die Beantwortung dieser Frage entscheidet über das ganze Glück meines Lebens, ja, sie ist so wichtig für meine Zukunft, daß ich Sie zuerst um Erlaubniß bitten muß, jene Frage stellen zu dürfen. – Darf ich, Eugenie?«

»So fragen Sie denn,« versetzte nach einer längeren Pause das Mädchen, nachdem es scheu und ängstlich um sich geschaut, »so fragen Sie denn in Gottes Namen!«

»Darf ich Sie lieben, Eugenie? – – – O, ich will ja nicht mehr als mit einem kleinen Ja hiezu die süße Erlaubniß,« setzte er hinzu, als er bemerkte, wie das Mädchen ängstlich zusammenschauerte. – »Durch die Gewährung meiner Bitte ist ja noch nicht bedingt, daß Sie mich wieder lieben sollen; freilich hoffe ich auch auf dieses übergroße Glück, aber ich bin nicht so unbescheiden, so viel Seligkeiten auf einmal zu verlangen.« – –

In diesem Augenblicke tauchte aus der Ecke des Zimmers die kleine Hofdame wieder hervor und rief lustig: »Jetzt habe ich geschmollt und monologisirt, gelebt, geliebt und genossen des irdischen Glückes so viel als möglich auf einer großen Soirée – Und Sie, Eugenie, haben Sie auch den Salon betrachtet? – Wenn dem so ist, so wollen wir wieder zur Gesellschaft zurückkehren.«

Eugenie wandte den Kopf herum, wie es schien, um eines der transparenten Rosenbouquete zu betrachten, neben welchen sie stand, in Wirklichkeit aber, um ihr glühendes Gesicht zu verbergen.

Von den Worten, die sie mit dem Grafen gewechselt, konnte die Andere nichts verstanden haben: sie waren zu leise gesprochen worden, und diese war zu weit entfernt gewesen. Darauf baute denn auch der junge Mann, und während sich die kleine Hofdame[84] näherte, wandte er sich nochmals an Eugenie und wiederholte dringend seine Frage.

Ehe diese antworten konnte, eilte die Andere aus ihrem Schmollwinkel herbei, sie hatte einen Blick in den Wintergarten geworfen, und rief mit komischer Angst: »Gerechter Gott! Eugenie, wir müssen verschwinden, dort kommt der allerhöchste Hof. Rückwärts können wir nicht hinaus, also rasch vorwärts, daß wir nicht von so vielen erstaunten Augen hier im innersten Heiligthum betroffen werden! – Kommen Sie!«

Damit sprang sie lebhaft die Treppen hinab, die in den Wintergarten führten, und Eugenie folgte ihr. Doch blieb diese oben auf der Treppe, gedeckt von dem uns schon bekannten Camelienstrauche, noch einen Augenblick stehen, wandte sich rasch um und bot dem jungen Manne, der hinter sie getreten war, ihre Hand, wobei sie mit leiser Stimme sagte: »Ja, Graf Fohrbach, ich sage Ja aus vollem Herzen.«

Er blieb oben stehen, sie aber schwebte die Treppen hinab, die schöne, schlanke, majestätische Gestalt, und als sie nun dem allerhöchsten Hofe, der wirklich durch den Wintergarten daher kam, begegnete, und sich graziös vor den Herrschaften verneigte, konnte man nichts Reizenderes und Anmuthigeres sehen.

»Ah! welches Glück!« sprach der Graf tief aufathmend, und drückte seine Hände fest auf die Brust. »Das ist ein seliger Augenblick, wie ihn ein Glücklicher nur einmal in diesem Leben genießt.«

62. Kapitel
Zweiundsechzigstes Kapitel.
Eine einfache Geschichte.

Die Soirée, von der wir im vorhergehenden Kapitel dem geneigten Leser Einiges mitgetheilt, machte nun alle Stadien durch, [85] wie überhaupt sämmtliche Feste dieser Art. Man tanzte, man spielte, man plauderte, man soupirte, die Lichter brannten herab, die Pflanzen bedeckten sich mit feinem Staube, die Carcelllampen auf den Kronleuchtern und in den Gruppen fingen an trübe zu brennen und zu glucksen, die Konversation wurde matter, Eins ertappte das Andere auf einem unterdrückten Gähnen, und endlich hörte man auf der Treppe Bedienten rufen, drunten Wagen rasseln; eine Menge Gäste drängte sich an den Ausgang des Tanzsaales und in die Vorzimmer, um, noch ehe sich der allerhöchste Hof fort begab, einen freundlichen Blick zu erhaschen. Man sah ganze Gruppen sich verneigen, ganze Reihen tief knixen; zum letzten Mal wurde noch mit möglichster Anstrengung gelacht, geflüstert, dann klirrte und rauschte es die Treppen hinab; die Wagen fuhren davon, von dunkelrothem Licht umgeben, – dem Schein der Fackeln in den Händen der Vorreiter und Lakaien, der an den Fenstern der Häuser vorbeizitterte und manchem erschreckten Schläfer, den das Wagengerassel erweckte, seltsam und unheimlich an den Augen vorbeistrich.

Jetzt nahm die Gesellschaft droben in den Sälen einen ganz anderen Charakter an; verschwunden schien alle Ruhe und Behaglichkeit, und das Ganze hatte das Aussehen eines Ameisenhaufens, den ein muthwilliger Knabe aufgestört. So rannte Alles durch einander, aus den hinteren Zimmern in die vorderen, aus dem Wintergarten in den Tanzsaal, hier einen Händedruck wechselnd, dort einem Bekannten noch einen freundlichen Gruß zurufend, rechts und links Abschied nehmend und sich darauf beeilend, dem Wirthe ein Kompliment zu machen, dann in die Mäntel und Shawls zu schlüpfen, um so schnell als möglich Treppen und Wagen zu erreichen.

Kurze Zeit nachher lag das ganze weite Apartement öde und leer. Seine Excellenz stiegen ziemlich fatiguirt die Treppen zu Ihrer Wohnung hinauf, worauf der Haushofmeister mit sämmtlichen [86] Bedienten erschien, um sorgfältig alle Lichter auslöschen und das Silberzeug wegräumen zu lassen, auch Fenster und Thüren zu schließen und darauf die Zimmer im halb verblichenen Glanz sich selbst und ihren Träumereien zu überlassen.

Doch hatten um diese Stunde noch nicht sämmtliche Gäste das Haus verlassen; der junge Graf sah es gern, wenn sich nach beendigter derartiger großer Soirée noch einige Bekannte en petit comité in seiner Wohnung versammelten, um sich von den gehabten Fatiguen bei einem Glase heißen Punsches und einer guten Cigarre zu restauriren.

Da der große Salon, wie wir schon wissen, mit zum Feste gedient hatte und jetzt ebenfalls ziemlich derangirt und trostlos aussah, so hatte der Graf sein kleineres Arbeits-Kabinet neben dem Schlafzimmer für seine Gäste öffnen lassen, und der Kammerdiener hatte es so behaglich als möglich eingerichtet.

Eine halbe Stunde nach Beendigung des Balles fand sich denn auch hier fast die gleiche Gesellschaft zusammen, die wir schon einmal in diesen Räumen und zwar zu Anfang unserer Geschichte hier beisammen gefunden. Das einzige fremdartige Element, welches man unmöglich ausschließen konnte, war der Herzog Alfred, der es sich nun einmal nicht nehmen ließ, ein Glas der Versöhnung, wie er es auf jenen Wortwechsel im Schlosse anspielend nannte, mit dem Grafen zu trinken, welcher sich für diese höchste Gnade außerordentlich dankbar zeigen mußte.

Wenn auch die Anwesenheit des Herzogs nicht das Wünschenswertheste war, was der Gesellschaft dieser jungen Männer begegnen konnte, so hatte sie doch ein Gutes, daß sie wenigstens vor dem Dableiben des Herrn von Dankwart schützte, der sich Seiner Durchlaucht zu wiederholten Malen so unterthänig und vertraulich als nur irgend möglich mit der Versicherung genähert hatte, er für seine Person kenne nichts Angenehmeres, als nach einer großen Soirée noch eine Stunde ruhig eine Cigarre beisammen rauchen [87] zu können. Er hoffte, der Herzog werde ihn zum Dableiben nöthigen; doch schien dieser etwas an Schwerhörigkeit zu leiden, denn er versicherte den Herrn von Dankwart, er fände es vollkommen begreiflich, daß er, ein kleiner, schwacher Mann, sich bei seiner Lebhaftigkeit von einer solchen Soirée höchst angegriffen fühle, und er nehme es ihm durchaus nicht übel, wenn er sich augenblicklich zurückziehe.

So mußte er denn das Zimmer verlassen und sich zu seinem Wagen begeben. Umsonst versuchte er es, mit dem Hausherrn ein interessantes Pferdegespräch anzuknüpfen: der Graf achtete nicht darauf; umsonst streckte er seine Hände rechts und links aus: es war Niemand da, der Lust hatte, sie zu drücken; und so schlich er sich denn hinaus, ließ sich den Mantel umgeben, wobei er dachte, es sei doch für einen feinfühlenden Mann sehr unangenehm, in eine Gesellschaft zu gerathen, die im Punkte der guten Lebensart so sehr weit zurück sei.

Im kleinen Arbeits-Kabinet etablirten sich unterdessen die Herren auf eine bequeme und angenehme Art. Um das lodernde Kaminfeuer hatte der Kammerdiener alle möglichen Fauteuils gestellt, auch kleine Divans, und darauf machte es sich Jeder so bequem, wie nur irgend möglich. Dem Herzog hatte man die rechte Ecke eingeräumt, und er lag lang ausgestreckt in einer Chaiselongue, mit großer Behaglichkeit ein Glas Punsch schlürfend und den Dampf aus seiner Cigarre ziehend. Hinter ihm lehnte aufrecht in der Ecke Baron von Brand, dessen Anzug noch so korrekt und untadelhaft war, als habe er soeben erst das Ankleidezimmer verlassen, was man von den übrigen Herren nicht sagen konnte; hier bemerkte man eine gelockerte Halsbinde, dort einen über der Weste schief zugeknöpften Frack; ja, der Herzog hatte sein großes Ordensband über die Schulter geworfen und es hing solchergestalt über die Lehne herab. Der Major von S. saß in der anderen Ecke ebenso bequem, wie Seine Durchlaucht in [88] dieser; der neue Rath, Eduard von B., hatte tausendmal um Entschuldigung gebeten, daß er eine Stellung annehmen müsse, die sich eigentlich nicht mit der Etikette vereinbaren lasse, aber es sei ihm unmöglich, den rechten Fuß mit einem etwas zu engen Stiefel auf den Boden niederhängen zu lassen. Arthur saß gerade vor dem Kamine auf einem niedrigen Sessel und betrachtete aufmerksam die Züge des Herzogs, die er vor ein paar Tagen auf die Leinwand zu skizziren angefangen.

So saß die Gesellschaft rauchend und trinkend und unterhielt sich von der vergangenen Soirée, wobei mancherlei sehr Pikantes vorkam; namentlich waren die Erzählungen des Herzogs mit den sonderbarsten Einfällen und Bemerkungen gewürzt.

»Ich habe mich übermäßig angestrengt,« sagte er unter Anderem, »und mit einer wahren Aufopferung getanzt. – Steh' mir Einer in Gnaden bei! – aber es ist wahrhaftig keine Kleinigkeit, all' Das aushalten zu müssen. – Sie, Baron Brand,« wandte er sich an diesen, »habe ich recht vermißt. – Wo zum Teufel staken Sie denn fast den ganzen Abend? – Schau mir Einer seine Toilette an und sage mir, ob der Mann nur einen einzigen Schritt getanzt haben kann?«

»Da sind Euer Durchlaucht sehr im Irrthum,« erwiderte der Angeredete und warf einen wohlgefälligen Blick in den Spiegel. »Im Gegentheil: ich habe sehr tüchtig getanzt; aber man hat seine Bewegungen in der Gewalt; man echauffirt sich nie; man behält immer noch etwas übrig und gibt sich nie ganz aus.«

»Das ist ein schönes Kompliment für uns!« lachte der Herzog. – »Also wir haben uns vollkommen ausgegeben, sind fertig – ganz hallale? – Aber Scherz bei Seite, Baron, ich habe mehrmals scharf nach Ihnen ausgeschaut und hätte gern von Ihnen profitiren mögen; ein paarmal wäre mir Ihr coeur de rose recht erwünscht gekommen. Aber wenn man Sie braucht, sind Sie nicht da.«

[89] »Er war anderweitig sehr beschäftigt,« sagte wichtig der Rath.

»Ja, Baron,« meinte der Major, »wenn man aus der Schule schwätzen wollte!« –

»Allons, meine Herren! keine Geheimnisse!« rief der Herzog. »Wir sind ja ganz unter uns. – Welchem Ehemann ist er gefährlich geworden?«

»Ich sah ihn mit der Baronin von W. eifrig conversiren,« versetzte der Rath.

»Und ich kann schwören, daß er der Obersthofmeisterin bedeutend die Cour machte.«

Der Baron lächelte wohlgefällig und drückte so kokett als möglich sein duftendes Battisttuch an die Lippen. »Nur zu, meine Herren,« sagte er, »nur zu, ich halte stille. Ah! ich sehe, dort unser Maler will auch über mich herfallen, und ich muß gestehen, der hat mich wenigstens nicht hinterlistig belauscht, sondern trat mir offen entgegen, als ich in einer sehr angenehmen und eifrigen Konversation begriffen war. – Aber – Stillschweigen,« setzte er mit einem sehr süßen Lächeln hinzu, indem er den Finger auf den Mund legte.

»Und an mich denken Sie nicht?« fragte Graf Fohrbach. »Nehmen Sie sich zusammen! Ich könnte Ihrer Sünden schlimmste aufdecken.«

»Sie? Da wär' ich begierig.«

Der Graf wandte den Kopf herum und blickte den Baron einige Sekunden fest an; dann nahm er die Cigarre, aus welcher er sehr bedächtig einen langen Zug gethan, leicht in die Hand und sagte: »Baron, denken Sie an die Polizei.« – Er hoffte bei diesen Worten irgend eine Aenderung auf dem offenen und freundlich lächelnden Gesichte des Herrn von Brand zu entdecken, hatte sich aber vollkommen geirrt, da zuckte keine Miene, da verrieth nicht der mindeste Schatten eine Ueberraschung oder Bewegung.

»An die Polizei soll ich denken? – Wie so?« fragte er ganz [90] ruhig. »Coeur de rose! was hat die mit schönen Mädchen zu thun?«

»O Sie Undankbarer!« erwiderte der Hausherr. »Soll ich wirklich Ihre Sünden offenbaren? Habe ich denn nicht gesehen, wie Sie der schönen Auguste im Wintergarten eifrig die Hand geküßt!«

»Hätte ich das wirklich gethan?« fragte Herr von Brand, sich affektirt besinnend. – »Ja es ist möglich. Gott! in dem Gewühl passirt Einem so Manches!«

»Er ist ein Don Juan,« sagte entschieden der Herzog. »Aber er mag sich stellen wie er will, mit der Tochter des Polizei-Präsidenten hat es noch einen anderen Haken; ich habe allerlei darüber munkeln gehört.«

»Die alte Geschichte!« entgegnete achselzuckend der Baron. »Weiß Gott im Himmel, ich werde noch ein Einsiedler werden müssen, um allem Gerede zu entgehen.«

In diesem Augenblicke erhob sich im Vorzimmer ein so lautes und anhaltendes Lachen, daß sämmtliche Herren erstaunt aufhorchten. Es war das ein so lustiges Gelächter, daß es unmöglich von einem der Bedienten herkommen konnte. – Es mußte ein Fremder und doch Bekannter sein.

Gleich darauf vernahm man auch die Stimme des Kammerdieners, der mit Entrüstung sagte: »Aber mein Herr, es ist keine Zeit, dem Herrn Grafen einen Besuch zu machen; überhaupt dringt man unangemeldet nicht da hinein.« – »Lassen Sie mich nur,« erwiderte die Stimme; »Sie werden sich einen Dank verdienen, wenn Sie mir helfen, den Grafen zu überraschen.«

Dabei wurde die Thür geöffnet und es trat leicht und gewandt ein junger Mann in das Zimmer, der aber in seinem sonderbaren Anzuge durchaus nicht zu den schwarzen Fräcken, den weißen Hals- und Ordensbändern hier paßte.

Es mochte das ein Mann von vielleicht dreißig Jahren sein, [91] hoch und schlank gewachsen, aber dabei breitschulterig und von energischem, kräftigen Wesen. Man sah das an der Art, wie er in das Zimmer schritt, wie er seinen Kopf trug und an der abweisenden und gebieterischen Handbewegung, die er gegen die Bedienten machte, welche ihm folgen zu wollen schienen. Er trug einen kurzen und dicken Reiserock, hatte um den Hals einen Shawl gewickelt und an den Füßen Pelzstiefel, die ihm bis zum Knie reichten; eine Mütze hielt er in der Hand, doch war diese Hand klein und zierlich und mit feinen lederfarbenen Glacéhandschuhen bedeckt.

Der junge Mann schritt lächelnd auf den erstaunten Kreis der Herren zu, die am Kamine saßen, und wußte dabei so zu manövriren, daß man sein Gesicht nicht eher deutlich sah, bis er sich mitten in der Gruppe befand, und es von dem Feuer und den Wachskerzen hell beschienen wurde.

Ein Ausruf der Ueberraschung und der Freude entfuhr nun aber dem Munde fast aller Anwesenden.

»Ist denn das ein Gespenst!« schrie der Herzog. – »Hol' Sie der Teufel! Wo kommen Sie her?«

»Bist du es wirklich, Hugo?« rief Graf Fohrbach, der aufgesprungen war und dem Angekommenen herzlich die Hand schüttelte. – »Wo kommst du her?«

»Daß ich kein Gespenst bin, gnädiger Herr,« entgegnete der im Reiseanzug lachend, »können Sie erfahren, wenn Sie die Gnade haben wollen, mir Ihre Hand zu reichen. – So! – Daß ich direkt von einer Reise komme, werdet ihr übrigens meinem Aeußern anmerken.«

»Er ist immer noch der Alte,« versetzte der Herzog, während er seine Finger rieb, die ihm Jener etwas heftig gedrückt hatte. – »Aber jetzt lassen Sie sich nie der, unsteter Mensch, und berichten Sie ordentlich, in welchem Welttheil Sie zuletzt waren!«

Ehe der Angekommene diesem Befehle Folge leistete, blickte er sich rings im Kreise um, reichte dem Rath freundlich die Hand und [92] machte eine stumme Verbeugung gegen Arthur und den Baron Brand, die er beide noch nicht kannte. Der Letztere stand ihm aufrecht gegenüber, und als sich diese beiden Männer nun plötzlich anblickten, wichen sie, obgleich kaum bemerkbar, vor einander zurück. – Der Baron faßte sich übrigens augenblicklich wieder und lächelte so unbefangen wie vorher. Der Andere fuhr mit der Hand über das Gesicht bis zum vollen blonden Barte hinab und verbeugte sich leicht, als Graf Fohrbach sagte: »Baron von Brand – Hugo von Steinfeld – Arthur Erichsen – Beide gute Bekannte und Freunde.«

»Ehe ich mich niedersetzen kann,« sprach Herr von Steinfeld, »muß ich Sie vorher um Erlaubniß bitten, gnädiger Herr, eine kleine Toilette machen zu dürfen. – Du gibst mir wohl einen leichten Rock,« wandte er sich an den Grafen, »und erlaubst, daß ich mir in deinem Schlafzimmer die schweren Stiefel ausziehen lasse. – Apropos! deine Dienerschaft hätte mich bald zur Thüre hinaus geworfen.«

»Sie hätten Ihren Namen sagen sollen!« lachte der Herzog. »Durch das viele Bartwerk in Ihrem Gesicht sind Sie sogar für Ihre besten Freunde unkenntlich geworden.«

»Dazu rechnen Euer Durchlaucht doch wohl nicht die Bedienten?«

»Du bleibst heute Nacht bei mir?« fragte Graf Fohrbach.

»Ja, heute Nacht, und wenn du erlaubst, noch ein paar Tage, bis ich mir eine passende Wohnung gesucht. – Aber nun komm' in dein Schlafzimmer; es ist mir in meinem Anzuge viel zu warm; ich muß ein bischen andere Toilette machen.«

Diese war bald beendigt, und wenige Minuten nachher saß der eben Angekommene mit in der Reihe am Kaminfeuer, während Graf Fohrbach seinem Kammerdiener einige Befehle ertheilte in Betreff eines Zimmers, das eingerichtet werden mußte, sowie auch des Reisewagens des Fremden, den man in einer der Remisen unterbrachte.

»Ich hätte schon vor zwei Stunden hier sein können,« sagte [93] Herr von Steinfeld, »doch erfuhr ich zufällig auf der letzten Station von einer großen Soirée. Da ich nun begreiflicherweise keine Lust hatte, mich heute Abend noch anzuziehen, so wartete ich und komme nun gerade rechtzeitig zur angenehmen Nachlese. – Darf ich mich jetzt wohl unterstehen,« wandte er sich gegen den Herzog, »Euer Durchlaucht die feierliche Versicherung zu geben, wie außerordentlich glücklich ich bin, Hochdieselben alsogleich begrüßen zu können? – Doch hatte ich nicht geglaubt, Sie im schwarzen Frack wiederzusehen.«

»O schweigen wir davon!« erwiderte der Herzog mit einer Handbewegung. »Man glaubt höheren Orts, ich könnte dem Staate besser mit Geist und Feder als mit Faust und Schwert dienen.«

»Woran man höheren Orts wohl nicht Unrecht hat,« meinte sich verbeugend der Andere, »denn Euer Durchlaucht großer Verstand wurde mir von allen schönen Frauen gerühmt, mit denen ich das Glück hatte über Sie sprechen zu dürfen.«

»Gehen Sie zum Henker mit Ihrem Verstand! Es ist traurig, wenn die schönen Frauen nichts Anderes an mir zu rühmen wußten. – Doch wo kommen Sie eigentlich her? Nur eine hübsche Erzählung Ihrer Fahrten und Abenteuer kann Sie wieder einigermaßen in meiner Gunst herstellen.«

»Ich stehe gleich zu Befehl. Aber Sie werden mir erlauben, gnädiger Herr, daß ich mich vorher nach dem Befinden meines lieben Freundes hier erkundige. – Von dir,« wandte er sich an den Grafen, »hatte ich die letzten Nachrichten, als du in die Reihe der Adjutanten aufgenommen wurdest. – Und du bist auch avancirt,« sagte er zum Major v. S. »Ich sehe das natürlicherweise an deinen Epauletten und gratulire bestens. – Wie steht's aber mit unserm theuren Assessor?«

»Vortragender Rath, wenn ich bitten darf!« erwiderte Eduard v. B. mit großer Wichtigkeit.

»Alle Teufel!« versetzte der Andere laut lachend. »Ihr könnt [94] euch nicht beklagen; ihr seid von der Sonne königlicher Gnade ausgebrütet worden, während ich zurückkomme als taubes Ei Gott weiß welchen Departements.«

»Und ganz nach Verdienst,« schaltete der Herzog ein. »Weiß der Himmel, lieber Steinfeld, daß Sie des Herumschwärmens niemals satt werden. Soll auch diesmal Ihr Aufenthalt wie gewöhnlich nur einige Wochen dauern, oder gedenken Sie uns auf längere Zeit zu beglücken?«

Der Andere zuckte die Achseln und entgegnete: »Das hängt von vielerlei Umständen ab; vorderhand habe ich hier Anker geworfen und will abwarten, ob ich liegen bleiben muß auf stürmischer Rhede oder ob ich hinein bugsirt werde in den sicheren Hafen.«

»Und jetzt kommen Sie von Rußland?«

»Ja, gnädigster Herr. – Oder auch nein; denn ich war zuletzt im Kaukasus.«

»Horreur!« rief der Herzog. »Doch nicht am Ende gar bei den Tscherkessen?«

»Eigentlich focht ich gegen sie,« erwiderte Herr von Steinfeld. »Doch unter uns gesagt, ließ ich mich eines schönen Tags gefangen nehmen und verbrachte darauf bei den wilden Söhnen des Gebirges ein angenehmes Jahr.«

»Davon mußt du erzählen,« sagte der Hausherr.

»Halt!« rief der Herzog. »Ich habe auf seine Mittheilungen ein näheres Recht; er ist mir in W. desertirt, und das in Folge einer räthselhaften Geschichte; – ja, meine Herren, in Folge einer Begebenheit, bei der, vielleicht zum ersten Male, sein Herz mächtig ergriffen war.«

»Ist das möglich?« sprach erstaunt der Major. »Du Umherschweifender, Wankelmüthiger, hättest dir wirklich Fesseln anlegen lassen? – Unglaublich! – Ja, wenn das erzählbar ist, so stimme ich auch dafür, denn das ist gewiß noch interessanter als deine Tscherkessen-Abenteuer.«

[95] »Laßt mich lieber von den letzteren erzählen,« bat Herr von Steinfeld mit viel ernsterer Stimme, nachdem er einen Augenblick träumend in das Kaminfeuer geschaut. »Der Herzog übertreibt: die Sache ist nicht so interessant; ihr Alle habt dergleichen schon erlebt.«

»Lieber Freund, dein Weigern ist uns verdächtig,« bemerkte Graf Fohrbach. »Jetzt trete ich auf Seite der Anderen und verlange die Geschichte aus W.«

»Eine Geschichte, meine Herren,« fuhr der Herzog fort, »über die ich Einiges habe munkeln hören, und in die auch ich halb verwickelt sein soll. Ich wollte sie damals schon erfahren, doch wich er mir anfänglich aus, und wenige Tage nachher war er verschwunden. – Das sind jetzt sechs Jahre; urtheilen Sie selbst, ob ich lange genug gewartet habe. Sehen Sie, lieber Steinfeld, hätten Sie damals mir allein gebeichtet, so wäre Ihnen das heute vor einer größeren Versammlung erspart geblieben.«

»Es hätte mich damals keine Macht der Erde bewegen können, eine Silbe über diese Geschichte zu sprechen,« entgegnete der Andere sehr ernst. – Doch jetzt ist ja Alles vorüber!« setzte er mit einem leisen Seufzer hinzu.

»Also die Begebenheit!« rief munter Graf Fohrbach. – »Wir sind ja unter lauter guten Freunden,« fuhr er fort und betrachtete die vor dem Kamine Sitzenden der Reihe nach. – Den Baron Brand hatte er in diesem Augenblicke vergessen, denn dieser entging seinen Blicken, da er sich wenige Sekunden vorher auf einen ganz niedrigen Sessel hinter den Herzog gesetzt hatte, und so durch Seine Durchlaucht vollkommen gedeckt wurde.

»Es mögen also jetzt sechs Jahre sein, da waren wir zusammen in W., Seine Durchlaucht der Herr Herzog in Begleitung anderer höchster Personen, und ich wiederum in Begleitung des Herrn Herzogs.«

»Aber ohne offiziellen Charakter,« sagte dieser lachend.

»Ganz richtig,« fuhr der Erzähler fort. »Ich hatte das unschätzbare [96] Glück, Seine Durchlaucht unterhalten zu dürfen, wenn Niemand Besseres da war, mit ihr dejeuniren und diniren zu müssen, Sie auf Spaziergängen, Fahrten und Ritten zu begleiten; wobei es mir aber nie erlaubt war, meine wunderbare Dragoner-Uniform anzuziehen.«

»Pfui, Steinfeld!« rief der Herzog. »Wie sind Sie bei den Tscherkssen verwildert!«

»Aber damals war ich es noch nicht, gnädiger Herr, das müssen Sie mir zugestehen; denn wenn Sie mir auch nicht gern etwas Erfreuliches nachsagen, so können Sie doch nicht leugnen, daß ich überall gut gelitten war.«

»Er war damals ein vollkommener Beau; aber sonst nichts.«

»Und deßhalb paßten wir trefflich zu einander: Euer Durchlaucht hatten den Verstand, das innere Departement, und ich beschäftigte mich stark mit dem äußeren. – Darf ich nun fortfahren?« –

»Eines Tages nun wurde auf den Wunsch hoher Personen,« erzählte Herr von Steinfeld weiter, »in einem der Theater ein längst vergessenes Lustspiel wieder aufgeführt, in welchem eins der Hauptmitglieder von jeher excellirt hatte. Seine Durchlaucht nahmen wie gewöhnlich eine Loge und ich hatte die Ehre, Sie begleiten zu dürfen. – Doch damit ich bei der Wahrheit bleibe, so muß ich sagen, daß der Herr Herzog an dem Tage bei Hof speiste und wir uns also in der Loge treffen sollten. Natürlicherweise war mein Diner bälder beendigt als das seinige, und obgleich ich sehr langsam zu Fuß dem Schauspielhause zuschlenderte – es war im heißen Sommer – so kam ich doch wohl eine halbe Stunde vor Beginn der Vorstellung hin, fand aber das Haus schon dicht besetzt; nur die Logen des halben ersten Ranges waren noch leer, denn außer der des Herrn Herzogs waren die anderen ebenfalls für hohe Personen reservirt worden.

»Ich stieg, durchaus an nichts Arges denkend, langsam die Treppen hinauf, trat in unsere Loge und ging an die Brüstung [97] vor, um mich im Hause umzuschauen. Hier aber – Gott weiß, für wen man mich gehalten – ward ich augenblicklich das Ziel der Aufmerksamkeit des sämmtlichen Publikums. Alle Augen richteten sich zu mir empor; ja ich kann wohl sagen, alle Theatergläser und Lorgnetten nahmen die Richtung nach meiner Loge; von unten im Parterre vernahm man – ich kann es nicht leugnen – ein höchst beifälliges Gemurmel, und wenn ich mich nicht schleunigst zurückgezogen hätte, so würde ich einem allgemeinen Vivat nicht entgangen sein.«

»Da ward es ihm bange in seiner Löwenhaut und er warf sie ab,« sagte einigermaßen hämisch der Herzog.

»Natürlicherweise,« fuhr ruhig der Erzähler fort, »denn ich wußte, daß Sie, gnädiger Herr, dieselbe später mit viel größerem Anstande tragen würden. – Im nächsten Augenblick füllten sich denn auch die Logen; die Akklamation des Publikums ward einem Würdigeren zu Theil; endlich kam auch der Herzog. Der Vorhang flog auf und das Stück begann.«

»Gleich da bemerkte ich schon, wie unaufhörlich und hartnäckig Sie in das Parterre hinab kokettirten, konnte aber nicht entdecken, wem es galt, denn für mich waren drunten lauter alltägliche Gesichter.«

»Ich leugne es nicht, daß ich häufig hinab sah, doch anfänglich nur aus einem reinen Gefühle der Dankbarkeit, denn von all' den tausend Gesichtern, die mich vorhin so neugierig angestarrt, blieb mir nur ein einziges insofern treu, als es mir hie und da noch einen Blick schenkte, während sich alle anderen den aufgegangenen glänzenderen Sonnen neben mir zuwandten. – Aber die beiden Augen, die mich zuweilen ansahen, wogen tausend andere auf; sie gehörten einem Mädchen, das drunten in einem Sperrsitz neben einer älteren Frau saß, einem Mädchen von so unbegreiflicher und wunderbarer Schönheit, daß ich mir mit Erstaunen gestand, lange, ja noch nie so etwas gesehen zu haben. Eine Beschreibung ist eigentlich überflüssig; ich kann nur sagen, daß es ein blasses, aber sehr edles [98] Gesicht war, von sanftem würdevollem Ausdruck, mit glänzenden blauen Augen und dem üppigsten blonden Haar, welches ich in meinem ganzen Leben gesehen. – Ich muß Euer Durchlaucht hiebei zum Zeugen aufrufen, denn Sie werden sich erinnern, daß Sie später diesem Mädchen einmal durch Zufall begegneten. – Habe ich übertrieben oder sprach ich die Wahrheit?«

»Ja, ja,« erwiderte der Herzog nachdenkend; »es war das eine auffallend reizende Erscheinung.«

»Ah himmlisch! unvergeßlich!« fuhr der Andere enthusiastisch fort. »Doch bleiben wir ruhig bei unserer Erzählung. – In meiner übergroßen Bescheidenheit dachte ich anfänglich, die Blicke, die sie zuweilen herauf sandte, können mir unmöglich gelten; ich wollte deßhalb eine Probe machen, verließ die Loge und stellte mich im Parterre so auf, daß jenes Mädchen, wenn sie nach rechts schaute, mich sehen konnte. Hier gerieth ich aber in eine Gruppe junger Leute meiner Bekanntschaft, Kavaliere der reichsten Häuser, Offiziere, die sich alle mit mir in der gleichen Absicht da versammelt hatten.« – »Daß Sie daher kommen,« rief mir Einer zu, »finde ich vollkommen begreiflich; Ihrem Blick entgeht dergleichen nicht.« – Sie meinen jene Dame mit dem schwarzen Haar in der Parterreloge? fragte ich. – »Ah! gehen Sie weg, Sie Heuchler!« lachte ein Anderer, »wer wird nach dem schwarzen Haar sehen, wenn man ein so wundervolles Blond vor sich hat?« – Kennen Sie das Mädchen? – »Ich nicht.« Und Sie? – »Keiner von uns Allen kennt sie; und das will viel sagen,« so sprach ein Dritter. »Sie kann noch nicht lange hier sein.« – »Und das ist wohl Ihre Mutter, die neben ihr sitzt?« – Es scheint so. – »Aber haben Sie je etwas Schöneres gesehen als das Mädchen?« – »Nein, nein,« sagten die Anderen. Und so ging es eine Weile fort.

»Hatte das Mädchen nun bemerkt, daß sie der Gegenstand dieser Aufmerksamkeit war, genug, sie blickte längere Zeit nur auf die Bühne oder sprach mit ihrer Nachbarin. Endlich aber erhob [99] sie ihre Augen wieder und sah nach unserer Loge hinauf. Ich muß gestehen, mir schlug das Herz, denn wahrhaftig, es kam mir vor, als suche sie dort Etwas. – Ich hatte mich in die vordere Reihe meiner Bekannten gedrängt und schaute mit der gespanntesten Aufmerksamkeit nach ihr hin. – Richtig! sie senkte jetzt langsam den Blick; ihre Augen fanden die meinigen, und daß sie gerade mich gesucht und gefunden, das sagte mir ein süßes Gefühl in meinem Herzen.«

»Glückseliger Hugo!« sprach zerstreut Graf Fohrbach.

»Daß ich an meinem Platze stehen blieb, könnt ihr euch denken.«

»Und mich ließ er allein in der Loge, der Undankbare! – Aber nur weiter; ich bin überzeugt, wir werden in dem Punkte noch schrecklichere Dinge zu hören bekommen.«

»Von dem Stücke sah ich begreiflicherweise gar nichts,« fuhr Herr von Steinfeld fort; »auch war es wahrhaftig zu rasch für mich zu Ende. Während des letzten Aktes aber ging ich hinaus und suchte unsern vortrefflichen Lohnbedienten. Der kannte sämmtliche gewisse junge Damen der ganzen Stadt; doch es wäre mir schrecklich gewesen, wenn er auch diese gekannt hätte. Aber ohne seine Hilfe konnte ich nichts unternehmen, konnte ich nicht erfahren, wer die Damen seien oder wo sie wohnten. Auch war ich überzeugt, daß sich meine sämmtlichen Bekannten in ihren Weg drängen und den Versuch machen würden, ein Wort anzubringen. Und das wollte ich für meine Person gerade vermeiden. Ich begab mich deßhalb mit Baptist an die Ausgangsthüre, um zu warten, bis sie heraus käme. Dabei geschah nun, was ich vorhin andeutete: alle die jungen Leute, die sie während der Vorstellung angestaunt, schwärmten um sie herum; ja die Kecksten wagten es, die ältere Dame oder sogar sie selbst anzusprechen. Doch hatten Beide ihre Schleier herabgelassen und würdigten keine Frage einer Antwort; sie schritten so rasch durch die Menge dahin, daß Baptist kaum Zeit hatte, sie in Augenschein zu nehmen; doch genügte ihm ein einziger [100] Blick, um mich versichern zu können, daß das Mädchen sowie die ältere Frau ihm gänzlich unbekannt seien. – Aber ich muß um jeden Preis erfahren, entgegnete ich ihm, wenigstens wo sie wohnen. Baptist, Ihre Belohnung für diese Nachricht soll glänzend sein.«

»Er nickte mit dem Kopfe und folgte den Damen so schnell, als es das Gewühl erlaubte. Diese hatten das Haus bereits verlassen und schritten über die Straße, einem Fiaker zu, der auf sie zu warten schien. Ohne sich aufzuhalten, stiegen sie in den Wagen, zogen den Schlag hinter sich zu, und der Kutscher fuhr davon – aber nicht ohne den vortrefflichen Baptist. Dieser hatte sich hinten aufgeschwungen, und während er sich auf dem Trittbrette als Lakai einrichtete und die Quasten des Wagens ergriff, nickte er mir zu, als wollte er sagen: seien Sie vollkommen ruhig; die Sache ist bestens eingefädelt.«

»Und so verlor ich für den Abend meinen Begleiter und meinen Lohnlakaien,« sagte der Herzog. »Ich mußte eine Viertelstunde warten, ehe es unserem vortrefflichen Freunde hier einfiel, nach mir und meinem Wagen zu sehen.«

»Bedenken Sie aber das Gedränge, gnädigster Herr,« entgegnete lachend der Erzähler, »diese Foule von Menschen und Wagen; Sie hätten ja doch nicht nach Hause gekonnt. – Wahrhaftig, auf mich brauchten Sie keine Sekunde zu warten.«

»Aber auf den Lohnbedienten wartete ich den ganzen Abend vergebens.«

»Das kann ich Eurer Durchlaucht nicht leugnen. Er ließ sich erst am andern Morgen wieder im Hotel sehen, um – mir Bericht zu erstatten.«

»Als Bedienter hinten auf dem Wagen war er vom Schauspielhause weg durch einige Straßen glücklich mitgefahren, dann aber mußten ihn die Damen entdeckt haben; genug, sie ließen den Wagen halten und die Alte rief dem Kutscher zu, er solle nachsehen, wer hinten aufstände, sie hätten keinen Bedienten und brauchten [101] auch keinen, und er solle sie augenblicklich verlassen. – Was war zu machen? Baptist kletterte hinab und mußte sich bequemen, hinter dem Wagen, der im scharfen Trabe fuhr, zu laufen. So ging es durch die ganze Stadt, zum entgegengesetzten Thore hinaus und nach einer der entlegensten Vorstädte. Baptist aber blieb ausdauernd bei dem Wagen, bis dieser endlich vor einem Hause hielt, und dort hatte er obendrein die Kühnheit, den Schlag zu öffnen, um den Damen beim Aussteigen behilflich zu sein. Doch stieß die jüngere verächtlich seine Hand zurück, und die ältere hielt ihm eine Strafpredigt und sagte, sie hätte wohl nicht übel Lust, die Polizei herbeirufen zu lassen, damit sie geschützt sei vor Unberufenen und Spionen. Baptist entschuldigte sich mit dem Befehl seines Herrn, der ihn beauftragt habe, um jeden Preis zu erfahren, wo die beiden Damen wohnen, worauf dieser Herr auch nicht ohne einige kräftige Bemerkungen davon kam. Dann gingen sie in's Haus, riegelten hinter sich zu und ließen Baptist einigermaßen verdutzt auf der Straße stehen. Doch merkte er sich genau die Hausnummer, und da es für Nachforschungen zu spät war, so stellte er sie den andern Morgen in aller Frühe an und erfuhr, die ältere Dame sei eine Wittwe, Frau von Z., das Mädchen ihre Tochter Elise, und Beide erst seit ungefähr einem halben Jahre in der Stadt. Woher sie gekommen, konnte man ihm nicht sagen.«

»Das war eigentlich eine kräftige Abweisung,« sagte der Rath. – »Ich hätte mich darnach um keinen Preis mehr in der Straße sehen lassen. – Und die Sache war aus?« fragte er.

»Nein, mein Lieber,« erwiderte Herr von Steinfeld; »sie fing hierauf erst recht an. Ich hatte nun begreiflicherweise nichts Eiligeres zu thun, als mich hinzusetzen und ungefähr folgenden Brief zu schreiben: Gnädige Frau! – Ich bin in Verzweiflung. – Durch die ungeschickte Zudringlichkeit meines Bedienten ist Ihnen gestern Abend, wie ich soeben zu meinem größten Schrecken erfuhr, ein unangenehmer Moment bereitet worden, was mir um so schmerzlicher [102] ist, da mein Bedienter, wie ich vernommen, einen Auftrag von mir vorschützte, der ihn veranlaßte, Sie auf so rücksichtslose Weise vom Theater bis in Ihre Wohnung zu verfolgen. – Leider muß ich bekennen, daß ich nicht ganz ohne Schuld bin; doch als ich, ich gestehe es, überrascht von dem Anblick Ihrer Fräulein Tochter, mich erkundigte, welcher Familie sie angehöre, geschah dies gewiß nicht in der Absicht, Ihnen durch Nachforschungen irgend welcher Art lästig zu fallen, wie in der That geschehen. Da ich es nun aber für eine dringende Pflicht halte, Sie, gnädige Frau, wegen der Ungeschicklichkeit meines Dieners um Verzeihung zu bitten, würde ich es als die größte Gunst ansehen, wenn Sie mir eine Stunde bestimmen wollten, in welcher es mir vergönnt wäre, Ihnen zu sagen, wie unendlich ich den gestrigen Vorfall bedaure etc.«

»Brrr!« machte der Major. »Damit zogst du eigentlich ärger an der Klingel als dein Bedienter.«

»Nein, nein!« lachte der Herzog. »Er sprach durch die Blume per Besenstiel.«

»Es war allerdings ein gewagter Schritt,« fuhr der Erzähler fort, »so mit der Thüre in's Haus zu fallen. Aber was konnte daraus erfolgen? – Gab sie mir keine Antwort, so mußte ich einen andern Weg einschlagen oder von der ganzen Geschichte abstehen. An das Mädchen hätte ich auf diese Weise nicht geschrieben, aber der pfiffige Baptist, der in der ganzen Stadt seine Verbindungen hatte, versicherte mich, Mutter und Tochter seien zwei ganz verschiedene Naturen. Mit der Alten sei es, wie man ihm gesagt, nicht ganz richtig, aber das Mädchen sei in jeder Hinsicht ein wahrer Engel. – Genug, ich schrieb; schickte aber den Brief durch meinen eigenen Bedienten, und erhielt am andern Tage die Antwort, Frau von Z. sei geneigt, meine Entschuldigung anzunehmen. – Daß ich mich zur bezeichneten Stunde hin begab, brauche ich wohl nicht zu erwähnen.«

»Aber ich muß beifügen, daß dies in meinem Wagen geschah,« [103] sagte der Herzog. »Gütiger Himmel! wozu habe ich damals nicht dienen müssen.«

»Ich gestehe, gnädiger Herr, daß ich allerdings Ihren Wagen nahm, muß aber dabei bemerken, daß er mir von der Mutter sogleich bei meiner Ankunft die Bemerkung eintrug, es sei durchaus nicht artig von mir, die erhaltene Erlaubniß zu mißbrauchen, indem ich in ihrer kleinen bescheidenen Straße mit der glänzenden Equipage ein solches Aufsehen hervorrufe. Ich nahm auch geduldig diese Zurechtweisung hin und bat demüthig für meine beiden Vergehen um Verzeihung. Madame empfing mich allein in ihrem Zimmer; es war das eine Wohnung, bescheiden aber anständig möblirt. Ich zog mich aus der Geschichte des gestrigen Abends so gut als es eben gehen wollte, indem ich versicherte, der Anblick ihrer Tochter habe auf mein Herz einen unauslöschlichen Eindruck gemacht.«

»Und das hörte sie geduldig an?« fragte der Major.

»Sie lächelte dazu,« fuhr Steinfeld fort, »und ich sah, daß Baptist in dem einen Theile seines Berichtes vollkommen Recht hatte. Doch wurde mir nicht blos dies Lächeln zu Theil, sondern sie verzog gleich darauf ihr Gesicht wieder in ernste Falten, als sie mich versicherte, sie müsse mir offenherzig gestehen, daß sie nur mein dringendes Schreiben veranlaßt habe, mir die Erlaubniß zu diesem Besuche zu ertheilen. Sie sei eine Wittwe mit wenigem Vermögen, fuhr sie fort, der Alles daran gelegen sein müsse, sich ohne Aufsehen, namentlich aber ohne irgend welche schlimme Nachreden durch die Welt zu schlagen, weil sie nur so im Stande sei, für das Glück ihrer einzigen geliebten Tochter dauernd sorgen zu können.«

»Und diese einzige und geliebte Tochter sahen Sie nicht alsogleich?« fragte der Herzog.

»Auf mein dringendes Bitten wurde mir später die Erlaubniß zu Theil, auch deren Verzeihung für meinen unüberlegten Schritt erbitten zu dürfen. – Und auch in Betreff dieses Mädchens hatte [104] Baptist vollkommen Recht,« fuhr der Erzähler mit einem Seufzer fort. »Wir wollen darüber nicht viele Worte machen, es würde das lächerlich vorkommen; aber sie war wirklich in jeder Beziehung ein Engel, ein vollkommenes Geschöpf: schön, unschuldig, rein. – Ja, unschuldig und rein,« wiederholte er, als er die spöttische Miene des Herzogs bemerkte. »Ich versichere Sie, gnädigster Herr, die Seele dieses Mädchens hatte noch kein Hauch irgend einer Leidenschaft, irgend eines Lasters getrübt; es war das ein fleckenloser, glänzender Spiegel, der ungetrübt alle äußeren Eindrücke heiter und lustig empfing und sie ebenso zurückstrahlte.«

»Das muß etwas Außerordentliches gewesen sein!« sagte spöttisch der Herzog. »Bedenken Sie doch, meine Herren, noch nach sechs Jahren diese feurige Schilderung!«

»Und die würde ich mit demselben Feuer ebenso noch nach sechzig machen, wenn das möglich wäre,« versetzte sehr ernst Herr von Steinfeld. »Doch wenn das Innere dieses Mädchens außerordentlich war, so war es ihr Aeußeres nicht minder; ich habe nie mehr eine so vollkommen schön gewachsene Gestalt gesehen, so kleine Hände und Füße, solche elastische und edle Bewegungen. Mir war übrigens die ganze Erscheinung von Anfang an ein Räthsel; wenn Frau von Z. ihre Mutter war, so mußte der Vater etwas Vorzügliches gewesen sein; denn von der Mutter konnte sie weder die Schönheit, weder die Frische des Geistes, noch diese Erziehung haben. Elise sprach Französisch mit sehr gutem Accent, und Englisch wie eine geborene Engländerin, überhaupt hatte sie in ihrem Gesichte viel von dem Typus dieser Nation, namentlich ihren klaren, durchsichtigen weißen Teint, das schöne blonde Haar und die frischen Zähne und Lippen.«

In diesem Augenblick wandte sich der Herzog heftig auf die Seite, blickte hinter seinen Stuhl und sagte: »Ah! Sie sind's, Baron Brand? Zum Teufel! ich hatte Sie ganz vergessen, und [105] als ich da auf einmal Ihren tiefen Seufzer hörte, so war mir das ganz unheimlich. – Fehlt Ihnen etwas?«

Der Baron Brand hatte wirklich vorhin aus tiefster Brust geseufzt; doch als er jetzt gefragt wurde, nahm er sich zusammen und entgegnete mit etwas erzwungenem Lächeln: »Euer Durchlaucht wissen, daß ich ein gefühlvolles Herz habe, und da Herr von Steinfeld so außerordentlich lebendig und schön erzählt, so hat mich seine Schilderung in der That etwas angegriffen.«

»Sie sehen wirklich blaß aus,« nahm Graf Fohrbach, der sich jetzt erst zu erinnern schien, daß Herr von Brand ebenfalls in der Gesellschaft sei, erstaunt das Wort. Er hätte gern seinem Freund ein Zeichen gegeben, die Erzählung zu unterbrechen, doch war dies, ohne Aufsehen zu erregen, nicht möglich.

»Schon die erste Unterredung, die ich an jenem Tage mit dem Mädchen hatte,« fuhr Herr von Steinfeld fort, »entschied über mich und ich fühlte, daß ich eine wirkliche Liebe für sie zu fassen im Begriffe sei. Es war das mehr denn eine vorübergehende Leidenschaft; und als ich sie nach einer höchst angenehmen Stunde verlassen und zu Hause angekommen war, ging ich lange mit mir zu Rath, ob es nicht besser sei, jenes Haus nie mehr zu betreten, ja Elisen weder dort noch anderswo in ihre schönen, gefährlichen Augen zu schauen. Mein Verstand pflichtete diesem Entschlusse bei, aber mein Herz überredete mich leicht, von der Erlaubniß der Frau von Z., zuweilen ihr Haus besuchen zu dürfen, den umfassendsten Gebrauch zu machen.

Ich ging also häufig hin, blieb so lange wie nur möglich, und Elise wurde mir mit jedem Tage theurer. Ohne mir zu schmeicheln, kann ich auch wohl sagen, daß sie mich gerne kommen sah, ja, daß ich ihr nicht gleichgiltig war. Wenn man wirklich liebt, so merkt man das ja so leicht an einem Worte, einem Blicke, einer scheinbar vollkommen bedeutungslosen Berührung der Hand und dergleichen. Es sind das nur Kleinigkeiten, aber mit ihnen durchlebt [106] man die süßesten Stunden. Ich genoß das Alles wie im Traume; oft sah ich sie in Gesellschaft ihrer Mutter, öfter allein. Frau von Z. schien uns vollkommene Freiheit lassen zu wollen. Und wir benutzten diese Freiheit auf's Beste, denn schon nach vierzehn Tagen wußte ich, daß mich Elise eben so innig liebe wie ich sie.«

»Und weiter – wie Oktavio in Don Juan sagt!« lachte der Herzog.

»Weiter nichts, gnädiger Herr,« sprach Herr von Steinfeld sehr, ernst. »Ich versichere Sie wiederholt: es war das ein so edles und reines Geschöpf, dabei so unschuldig und wohlerzogen, daß ich es für ein großes Glück ansah, wenn ich nur ihre Hand ergreifen und sie leise küssen durfte. – Aber,« fuhr er nach einer Pause fort, »solche Liebesgeschichten sind für Dritte höchst langweilig; ich mußte jedoch der Thatsache erwähnen. Doch gehen wir darüber hinweg, und bitte ich Sie nur noch, meinem Worte Glauben schenken zu wollen, wenn ich Ihnen sage, daß ich es mit einem vollkommen unverdorbenen Wesen zu thun hatte. –

In all' der Zeit hatte mich die Mutter nie mit irgend einer Frage belästigt, welche mein Herkommen, meinen Stand, mein Vermögen oder dergleichen betraf, Elise noch viel weniger; ja sie wich jedem Gespräch aus, das auf dieses Thema führen konnte, und pflegte mir oft, nicht ohne Anflug von Schmerz, zu sagen, wenn ich über Vergangenheit oder Zukunft sprechen wollte: lassen Sie das; mir ist das Alles wie ein schöner Traum, – träumen wir ihn fort bis zum Erwachen; Gott allein mag wissen, ob dies Erwachen für mich schön oder traurig sein wird.« –

»Nun, deine Reden über die Zukunft,« unterbrach ihn Graf Fohrbach, »werden doch für das arme Mädchen nicht gerade sehr angenehm gewesen sein, denn du dachtest doch gewiß nie an eine Heirath.«

»Offenherzig gestanden, es gab Momente, wo ich wohl daran dachte, bis mir alsdann wieder die immer etwas räthselhafte Mutter [107] vor Augen trat. Das kann ich euch versichern: hätte ich dieses Mädchen in irgend einer noch so bescheidenen, aber anständigen und geachteten Bürgerfamilie gefunden, ich würde Alles daran gesetzt haben, sie zu meiner Frau zu machen; und ich bin überzeugt, daß ich mit ihr vollkommen glücklich geworden wäre. – Aber die Verhältnisse hier waren anders.«

Bei diesen Worten fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und blickte ein paar Sekunden in das lodernde Kaminfeuer, zog seine Augenbrauen dichter zusammen und fuhr dann fort:

»Eines Tages ging ich wie gewöhnlich nach ihrem Hause und fand Frau von Z. allein; ihre Tochter sei ausgegangen, sagte sie. Das war nun schon öfter vorgekommen, befremdete mich auch deßwegen nicht, und ich setzte mich in eine Ecke des Sopha's, um sie zu erwarten. Auf meine Frage aber, ob Elise bald kommen werde, erwiderte sie: nein; ich habe sie zu einer Bekannten geschickt, um mit Ihnen einige Worte sprechen zu können. – Sie kommen jetzt, sagte Frau von Z., einige Wochen in mein Haus, Sie erweisen meiner Tochter alle möglichen Aufmerksamkeiten, ja Sie werden mir nicht leugnen können, daß Sie mit derselben bereits ein kleines Verhältniß angeknüpft haben. – Ich zuckte beistimmend die Achseln. – Alles Ding in dieser Welt aber, fuhr sie fort, muß doch am Ende ein Ziel haben, und ich möchte Sie nun fragen, welches Sie sich in dieser Angelegenheit eigentlich vorgesteckt haben. – Darauf war nun schwer zu antworten; ich gab ihr allerdings zu, daß mich Elise außerordentlich interessire, daß ich gern in ihrer Gesellschaft sei, ja, daß ich eine Neigung für sie habe. – Doch werden Sie unmöglich an eine Heirath denken können, entgegnete sie lächelnd. Ich kenne Ihre Verhältnisse ganz genau, obgleich wir, wie Sie selbst wissen, nie darüber sprachen. Sie sind der und der; Sie haben kein bedeutendes Vermögen, und begleiten in diesem Augenblicke Seine Durchlaucht, den Herrn Herzog Alfred von D., dessen Vertrauter und Freund Sie sind.«

[108] »Alle Teufel!« machte der Herzog. »Die Geschichte fängt an, mich zu interessiren.«

»Das Alles konnte ich nicht leugnen,« erzählte Herr von Steinfeld weiter. – »Seien Sie offenherzig«, fuhr Frau von Z. fort; »glauben Sie mir, ich kenne die Welt und also auch die jungen Kavaliere. – Sie machen meiner Tochter den Hof, Sie bringen ihr Blumen, Sie küssen ihr die Hand, aber dabei werden Sie nicht stehen bleiben wollen. – Ich muß gestehen, daß mich diese Worte auf's Höchste überraschten, denn sie sagte das ohne alle Erregung in einem unheimlich kalten Geschäftstone; und obgleich mich ihre Reden eigentlich empörten, so konnte ich es doch nicht unterlassen, ihr auf ihre wiederholte Frage ganz in der gleichen Art zu antworten. – Nun gut, sagte ich, da Sie also die Welt und die jungen Kavaliere so genau kennen, so will ich Ihnen recht gern eingestehen, daß ich wie diese denke und fühle, und in der That einem schönen jungen Mädchen nicht den Hof mache, um bei einem Handkuß stehen zu bleiben. – Schön, versetzte sie, Ihre Offenherzigkeit gefällt mir. Wir werden uns leicht vereinigen. – Ich nehme an, fuhr sie nach einer Pause fort, daß Sie eigentlich im Auftrage des Herrn Herzogs zu uns kommen. – Ihr könnt euch denken, daß ich bei diesen Worten entrüstet in die Höhe sprang, und schon im Begriffe war, ihr eine heftige Erwiderung zu geben; doch dachte ich: du hast sie falsch verstanden, und bat sie in einem strengen Tone um eine Erklärung ihrer Worte. Sie sah mich verwundert an und entgegnete mir mit der größten Ruhe: Sie müssen mich nicht mißverstehen; allerdings weiß ich, daß Sie Elisen, wenn ich mich so ausdrücken darf, für eigene Rechnung den Hof machen, aber ebenso weiß ich, daß sich der Herzog für meine Tochter interessirt, daß er Alles daran wenden wird, ihre Bekanntschaft zu machen. Und Beides, setzte sie mit einem leichten Lächeln hinzu, läßt sich ja ganz gut vereinigen.«

»Alle Wetter! Steinfeld,« rief der Herzog, »mir scheint, Sie [109] haben auf meinen Namen gesündigt. Das muß ich mir wahrhaftig ausbitten; habe ich doch das Mädchen nur ein einziges Mal und ganz zufällig gesehen.«

»Ich stand erstarrt da,« fuhr der Erzähler fort, ohne erst auf diese Einwendung des Herzogs etwas zu erwidern. »Was ich ihr für harte Worte sagte, bin ich nicht im Stande euch anzugeben; es ist auch ganz gleichgültig. Nur muß ich leider gestehen, daß nichts vermochte, die freche Stirne dieser Frau erröthen zu machen. Sie setzte mir mit klaren Worten auseinander, die sorgfältige Erziehung ihrer Tochter habe ihr kleines Vermögen verschlungen, sie befinde sich dem Nichts gegenüber, wenn es ihr nicht gelinge, einen derartigen glänzenden Sort für Elisen zu finden.«

»Steinfeld ist ein Verräther!« rief der Herzog halb im Ernste, halb im Scherze. »Gesteht, meine Herren, wenn er als Freund handeln wollte, so mußte er mir augenblicklich sagen: das habe ich erlebt, das bietet man Ihnen; was denken Sie davon?«

Der Erzähler warf einen eigenthümlichen Blick auf Seine Durchlaucht und entgegnete mit kaltem, ironischem Tone: »Abgesehen davon, gnädiger Herr, daß sich in diesem Falle Frau von Z. wirklich nicht in mir geirrt hätte, und ich in dieser – delikaten Angelegenheit fähig gewesen wäre, einen Unterhändler abzugeben, so wollte ich hauptsächlich Ihre Kasse schonen, welcher es gerade in dem Augenblicke sehr wehe gethan hätte, so zehntausend Gulden wegzuwerfen.«

»Zehntausend Gulden!« sagte nachdenkend der Major. »Das ist allerdings eine schöne Summe.«

»Welche mir die Mutter mit der größten Ruhe als Kaufpreis für ihre Tochter vorschlug.«

»Das ist ja völliger Sklavenhandel,« mischte sich der Rath kopfschüttelnd in das Gespräch.

»Aber ein sehr erlaubter,« entgegnete Herr von Steinfeld mit bitterem Tone. »Um solche Kleinigkeiten bekümmern sich unsere [110] Philantrophen nicht. – Doch bleiben wir bei unserer Geschichte. Ich nahm meinen Hut, verließ Zimmer und Haus auf eine etwas stürmische Art, und irrte stundenlang in den Straßen umher, ehe es mir gelang, meiner tiefen und schmerzlichen Bewegung Herr zu werden. Als ich nach Hause zurückkehrte, fand ich einen Brief der Frau von Z., den ich begreiflicherweise sogleich vernichtete. Den andern Tag kam ein zweiter, ein dritter, die ich alle nicht las, also auch nicht beantworten konnte, worauf denn am darauf folgenden Morgen sie selbst in mein Zimmer trat und mich beschwor, unsere Unterredung zu vergessen. Sie sei allerdings zu weit gegangen, sagte sie, und bedaure das unendlich, bitte mich aber dringend, heute noch ihre Tochter zu besuchen, da Elise – das versicherte sie mich mit einem feierlichen Schwure – nicht eine Silbe von allem Dem wisse und nicht begreifen könne, weßhalb ich mehrere Tage nicht gekommen sei. – Der Mensch ist schwach; ich ließ mich also erbitten und ging den andern Tag wieder hin. Das Mädchen war allein, machte mir zärtliche Vorwürfe über mein Ausbleiben, war aber sonst unbefangen und natürlich wie immer. War ich ja doch schon vorher vollkommen überzeugt, daß sie nicht das Geringste wußte von dem Verkauf, den ihre eigene Mutter mit ihr beabsichtigte! Mich aber hatte diese Geschichte einigermaßen erkältet, nicht sowohl gegen Elise selbst, als gegen ein Verhältniß, das auf so trauriger Unterlage zu ruhen schien. Wie gesagt, ich war überzeugt, daß sie keine Ahnung von dem Vorhaben ihrer Mutter hatte; aber ich war nicht mehr im Stande, ihr frei und offen wie früher in die Augen zu sehen. Mir schien der Duft von ihrem Leben hinweggewischt, und in meinen Träumereien sah ich immer eine fremde kalte Hand, die gewaltsam diese Blüthe entblättern, dies gute, reine Herz zerstören werde. –

Glücklicherweise hatte ich schon vor dieser Begebenheit von einer Reise gesprochen, die mich einige Zeit von W. fern halten werde. Ich sagte also in den nächsten Tagen, daß mich meine [111] Geschäfte hinweg riefen, und reiste ab. Elise warf sich mir, ehe ich sie verließ, laut weinend in die Arme und drang so lange in mich, bis ich ihr feierlich versprach, sobald als möglich zurückzukehren. Nun hoffte ich aber, die Zerstreuung auf dieser Reise würde mich das Mädchen so weit vergessen machen, um, wenn ich je wieder nach W. käme, im Stande zu sein, dies Verhältniß nach und nach aufzulösen. – Aber dem war leider nicht so: je mehr Tage und Meilen mich von ihr trennten, desto frischer und lebendiger trat ihr Bild im Wachen und Träumen vor mich; nichts war im Stande, es zu verwischen, nicht die fremden Städte und Länder, die ich sah, nicht die Zerstreuungen, in welche ich mich gewaltsam stürzte, und ich eilte in einer wirklich fieberhaften Hast immer weiter und weiter, um mir selbst die Möglichkeit abzuschneiden, früher als ich gewollt nach W. zurückzukehren.«

»Ah! das waren die dringenden Geschäfte in England, von denen ich damals so viel hören mußte,« bemerkte der Herzog. »Nun, lange genug blieben Sie aus.«

»Mußte aber doch endlich zurückkehren,« fuhr der Erzähler achselzuckend fort, »und fand bei meinem Bankier unter einer Menge anderer Schreiben wenigstens ein halbes Dutzend Briefe der Frau von Z., worin sie mich dringend, ja flehentlich bat, sie doch gleich nach meiner Ankunft zu besuchen. – Ich ließ aber einige Tage vergehen, ehe ich zu ihr ging; und als ich darauf in die bekannte Straße kam, schnürte mir ein unerklärlicher Schmerz das Herz zusammen, und meine Hand zitterte, als ich die Stubenthüre öffnete.

Frau von Z. war wie damals allein zu Hause und dankte mir, daß ich gekommen, obgleich sie sich über meine lange Abwesenheit beklagte, namentlich aber darüber, daß ich Elisen nicht ein einziges Mal geschrieben. Ich machte keinen Versuch, mich der Mutter gegenüber zu entschuldigen und fragte nach dem Mädchen. Sie sei ausgegangen, hieß es, werde aber in kurzer Zeit zurückkehren.«

[112] Hier that Herr von Steinfeld einen tiefen Athemzug, heftete den Blick auf den Boden und sagte mit seltsam bewegter Stimme: »Sie sprach darauf zu mir; und was sie mir mittheilte, das hatte ich während der Zeit meiner Abwesenheit in schlaflosen Nächten oder in wilden Träumen schon vorhergesehen.« – Es hatte sich ein Anderer gefunden, der sich bereit erklärt, die geforderte Summe zu bezahlen. Die Mutter hatte mit Elisen die fürchterlichsten Scenen gehabt, und erst nach langem verzweifeltem Kampf, und Gott weiß durch welche Mittel bezwungen, hatte das unglückliche Mädchen endlich eingewilligt, ihre Ehre zu verkaufen, um die Mutter vom Bettelstabe zu erretten. – Das Alles hörte ich wie im Traum, wie ein fernes Sausen, und ich weiß nur unbestimmt, daß ich mit den Zähnen knirschte und krampfhaft meine Hände zusammen ballte. So viel allein ist mir genau erinnerlich, daß ich mich zu einem Lächeln zwang, um Madame zu ihrem guten Geschäft zu gratuliren. – Wann ist diese schreckliche Geschichte vor sich gegangen? fragte ich endlich mit tonloser Stimme. Und erst als sie darauf erwiderte: Die Sache ist nur projektirt und Elise stellte die einzige Bedingung, zuerst Ihre Ankunft abzuwarten, – da erwachte ich aus meinem Hinbrüten, sprang in voller Wuth empor und schleuderte der Mutter Verwünschungen und Flüche entgegen.

Sie ließ mich ruhig austoben, indem sie die Hände in den Schooß legte, mich mit einer unbegreiflichen Ruhe ansah und nur zuweilen leicht die Achseln zuckte. Sie versuchte gar keine Widerrede, keine Entschuldigung; und erst, als ich wieder insoweit ruhig war, um mit zitternden Händen meinen Hut ergreifen zu können, faßte sie meinen Arm und sagte mit leicht bewegter Stimme: »Hören Sie mich noch einen Augenblick an, ehe Sie wieder davon eilen wie neulich. Was ich Ihnen jetzt sage, sage ich im Auftrag meiner Tochter Elise; es sind ihre Gedanken, aber die Worte konnte das Mädchen nicht selbst gegen Sie aussprechen; es ist eine Bedingung, [113] die sie mir gestellt, unter welcher allein sie sich meinem Wunsche fügen wird.« –

– »Und dann sagte sie mir, Elise sei freilich zu jenem Schritt entschlossen, aber vorher wolle sie mir, den sie unaussprechlich und innig liebe, angehören, – ganz angehören.« –

»Ah! die Alte war nicht ihre Mutter,« sagte kopfschüttelnd der Major. »Nicht wahr, Hugo, das war auch deine Meinung?«

Der Erzähler nickte mit dem Kopfe und entgegnete: »Ich bin davon überzeugt, obgleich ich nie darüber etwas Gewisses erfuhr. – Und hier ist eigentlich meine Geschichte zu Ende.«

»Aber Steinfeld!« bat der Herzog, »das wäre grausam und des guten Erzählers nicht würdig, wenn er so rücksichtslos im letzten Kapitel bei einem der interessantesten Momente abbrechen wollte.«

Herr von Steinfeld verbeugte sich leicht vor dem Herzog und sagte: »Wenn es Sie interessirt, gnädigster Herr, so kann ich Ihnen also noch die Versicherung geben, daß ich auf das Geständniß der sogenannten Frau von Z. ein paar fürchterliche Tage verlebte; ich wußte mir nicht zu rathen und nicht zu helfen. Wenn ich auch meine sämmtlichen für den Augenblick disponibeln Mittel zusammen nahm, so erreichten sie doch bei Weitem nicht die geforderte Summe. – Ja, ich war schon im Begriff, mich an Euer Durchlaucht zu wenden, aber –« hier unterbrach er seine Worte durch ein trübes Lächeln.

»Sie trauten mir nicht, Steinfeld.«

»Ich will das gerade nicht sagen; aber ich vergaß vorhin in meiner Erzählung, daß ich der Frau von Z. mein Ehrenwort geben mußte, über die Mittheilung, die sie mir zu machen hatte, vor Ablauf einiger Jahre nicht zu sprechen; also war ich gebunden und konnte selbst nicht einmal zu Ihnen sagen: verschaffen Sie mir zehntausend Gulden zu dem und dem Zweck. – Und dann auch,« fuhr er nach einer Pause achselzuckend fort, »was konnte mich und Elisen ein solches Opfer nützen? Wie ich den Charakter ihrer angeblichen [114] Mutter kannte, so war Elise doch nicht vor späterer Verfolgung geschützt. – Also –«

»Willigten Sie endlich in die Bedingung?« fragte der Herzog mit einem seltsamen Lächeln.

Und als hierauf Herr von Steinfeld einen Augenblick die Antwort schuldig blieb, bemerkte der Major: »Genire dich nicht, Hugo, und sage aus vollem Herzen Ja. Ich möchte von Einem unter uns wissen, der es anders gemacht hätte.«

– »Es war das eine schaurig süße Nacht,« sprach Herr von Steinfeld mit gesenktem Kopfe, wie in tiefem Traume. »Lest Göthe's Braut von Korinth und ihr habt zu meiner einfachen Geschichte einen hochpoetischen Vorgang. – So war es ihr und mir zu Muth. – Und auch gestorben war sie für mich am andern Morgen, denn ich mußte mit einem feierlichen Eide geloben, sie in Zukunft nicht mehr zu kennen, möge sie mir begegnen, wo sie wolle und unter welchen Verhältnissen es auch sei.«

»Und Sie sahen sie nie wieder?« fragte der Herzog.

»Schon die bejahende Beantwortung dieser Frage, gnädiger Herr, wäre eine Verletzung meines Gelöbnisses, eine Indiskretion. Doch darf ich Ihnen sagen, daß ich Elisen seit jener Stunde nie wieder gesehen.«

»Eine seltsame Geschichte!« meinte der Major.

»Der man eigentlich hätte genauer nachspüren sollen,« bemerkte der Rath. »Denn daß Frau von Z. nicht die Mutter jenes Mädchens war, liegt wohl am Tage. Es wäre das ein Feld für mich gewesen, wer weiß, wohin uns die Fäden geführt hätten! vielleicht zu einem Mädchenraube, vielleicht zum Schlüssel eines Geheimnisses, vornehme Häuser betreffend.«

»Das ist die Frage,« versetzte der Hausherr. »Dies Mädchen konnte auch eine arme, vater- und mutterlose Waise sein, bei der man gute Anlagen entdeckte und die man zu dem erzog, was sie später wurde.«

[115] »Dem mag sein, wie ihm will,« nahm der Rath wieder das Wort, »es bleibt immer ein abscheulicher Menschenhandel.«

»Was meint denn unser Baron dazu?« fragte der Herzog und wandte den Kopf rückwärts. – »Sie halten sich da so stille hinter mir, daß wir in der That nicht wissen, ob Sie noch existiren.«

»Ich habe alles Das gehört,« erwiderte Herr von Brand mit einer stark vibrirenden Stimme. »Was soll ich darüber sagen? Ich kann nur mit Mephisto sprechen: sie ist die Erste nicht.«

Bei diesen Worten hatte er sich hinter dem Fauteuil des Herzogs erhoben, und wenn er sich auch zu einem Lächeln zwang, so sah man es doch an seinen verstörten Zügen, an der auffallenden Blässe, die sein Gesicht bedeckte, und an seinen starren Augen, daß es ihm nicht aus dem Herzen komme.

»Baron, Sie sehen sehr angegriffen aus!« rief Graf Fohrbach, der ihn, wie auch die Uebrigen, erstaunt anschaute.

Herr von Brand fuhr sich mit seinem duftenden Taschentuche über das Gesicht und erwiderte: »Ich kann das nicht läugnen; ich fühlte mich schon zu Anfang des ganzen Abends nicht ganz wohl, mochte aber um keinen Preis eine Einladung zur Soirée Seiner Excellenz versäumen. – Doch ist es sehr spät,« fuhr er fort, nachdem er auf die Uhr gesehen, »und wenn die Herren noch bei ihrer Sitzung bleiben, so muß ich mich allein zurückziehen.«

»Nein, nein!« rief der Herzog, indem er von seinem Sessel aufsprang. »Alle Teufel! schon zwei Uhr! Ich gehe mit; mag bleiben, wer noch will.«

Doch erhoben sich auch die Anderen von ihren Sitzen, reichten dem Hausherrn die Hand und fuhren davon.

Nur der Baron Brand schickte seinen Wagen leer nach Hause.

63. Kapitel
[116] Dreiundsechzigstes Kapitel.
Sklavenloos.

Während des Restes der Nacht, mit der unser voriges Kapitel schließt, ging der Baron Brand einsam durch die Straßen der Residenz. Er schien sich durchaus keinen Weg vorgezeichnet zu haben, sondern schritt gerade aus, und wenn die Straße sich auf der Seite, wo er gerade wandelte, bog, so folgte er dieser Krümmung unbekümmert darum, daß er vielleicht eine halbe Stunde später wieder auf demselben Platze anlangte, von dem er ausgegangen war. Sein Anzug paßte nicht für die kalte Nacht; er trug nichts als seinen leichten schwarzen Frack, durch welchen der Wind unbarmherzig pfiff, während in dem tiefen Schnee seine feinen lackirten Stiefel beständig einsanken. Dazu hatte er den Kopf so tief auf die Brust gesenkt und ging so schwankend und ungewiß, daß die Schildwachen ihn für einen betrunkenen nächtlichen Schwärmer hielten und ihm lachend nachblickten. Nur zuweilen erhob er den Kopf und blickte verstört um sich, worauf er auch wohl mit der Hand über die Stirne fuhr, mit den Zähnen knirschte oder die Hände zusammen ballte.

Ganz ohne Absicht gelangte er so in die Nähe des Fuchsbau's; hier blieb er dann aber mit einem Male stehen, blickte in die Höhe und murmelte etwas vor sich hin. – »Es sind ihrer zu viele, die das gehört,« sprach er nach einer Pause mit lauterer Stimme; »ja, beim Teufel! wenn ich gewußt hätte, daß dieser Herr von Steinfeld so sorglos in seiner Postchaise heute durch den dunkeln Abend gefahren wäre, ich hätte wohl Mittel gewußt, dem Vorwitzigen ein Schloß vor den Mund zu legen, um ihn zu verhindern, seine leichtsinnigen Geschichten vor der ganzen Welt Preis zu geben. – Teufel! Teufel! ich kann da gar nichts machen, ich bin wehrlos wie ein Kind. Wenn er sie in den nächsten Tagen plötzlich [117] wieder sieht, so muß er sie erkennen, denn sie hat sich nicht viel verändert. – Und wenn er auch wirklich sein gegebenes Versprechen hält und sie nicht wieder erkennen will – oh! da ist ein Wort genug, ein Blick, um den Verdacht des alten eifersüchtigen Mannes zu erregen. – Die Aermste!« –

Während dieses Selbstgesprächs hatte er sich dem uns bekannten Durchgange genähert und trat hinein, um sich vor dem heftigen und kalten Winde zu schützen, der durch die Straßen fegte, denn jetzt, wo er aus dem dumpfen Hinbrüten erwacht war, und wieder anfing nachzudenken und zu überlegen, fühlte er wohl, wie frostig es sei.

»Da bekam ich auch, ehe ich zu dieser verfluchten Soirée fuhr, einen Zettel, den ich noch flüchtig lesen konnte. Laßt mich ihn doch noch einmal schauen!« Er griff in die Brusttasche seines Frackes und zog ein Papier hervor. Auf demselben stand: »Nach dem Kinde wurden Nachforschungen gehalten, die mir verdächtig erschienen; man wußte bestimmt, daß es dort gewesen sei, und man versprach eine große Belohnung, wenn man seinen jetzigen Aufenthalt erfahren könne, eine noch größere, wenn es möglich sei, den Buben nur ein einziges Mal und auch nur ein paar Augenblicke zu sehen.« –

»Schön, schön!« murmelte der Baron mit einem bittern Lächeln; »wir wollen Sorge tragen, daß das vorderhand nicht geschieht. – Armes Kind. – Ja, ja, ich will zu ihm, das wird meine Nerven beruhigen, und wenn ich seinen festen, ungestörten Schlaf sehe, seine regelmäßigen Athemzüge höre, so werden meine Gedanken stiller, geordneter und klarer werden. – Pfui! wie kann man sich überhaupt so leicht aus der Bahn werfen lassen.«

Er nahm seinen Hut ab, fuhr mit der Hand über die Stirne und durch das dichte Haar, trat, nachdem er sich wieder bedeckt, auf die Straße zurück und ging mit eiligen Schritten dem obern Theile der Stadt zu.

In einer der bessern Straßen hielt er vor einem kleinen, aber ziemlich ansehnlichen Hause und blickte in die Höhe, ob sich nicht [118] irgendwo Licht sehen lasse. Aber es war erst vier Uhr, ein Wintermorgen, wer sollte da schon aus dem Bette sein! Das dachte auch der Baron; er zog einen zierlichen kleinen Schlüssel aus der Tasche und öffnete mit demselben das große, aber, wie es schien, äußerst kunstreich gemachte Schloß. Geräuschlos drückte er die Thüre hinter sich zu und stieg mit leisen Schritten die Treppen hinauf.

Das Haus hatte nur zwei Stockwerke; auf dem ersten hielt er, öffnete eine hier befindliche Glasthüre, und zwar abermals vermittelst seines Schlüssels, ging hindurch und trat in ein Zimmer, wo er, ohne lange umherzutappen, einen Feuerzeug fand und ein Licht anzündete.

Bis hieher hätte man glauben können, das Haus sei unbewohnt; doch kaum erfüllte sich das Gemach mit dem hellen Schein des Lichtes und drang durch eine halbgeöffnete Thüre in das Nebenzimmer, als von dort einige Töne gehört wurden, wie von Jemanden ausgehend, der aus tiefem und festem Schlafe geweckt wird.

»Oho!« sagte eine kräftige Stimme; »beim Blasser! sind wir schon so spät daran? – Sind Sie es, Frau Fischer? – Nach meiner Idee könnte es höchstens Drei oder Vier sein; ich habe darin einen merkwürdigen Treff und irre mich selten. – A – a ah! – Nun, Frau?«

Der Baron nahm aber, ohne zu antworten, das Licht von dem Tische, schritt an das Nebenzimmer und leuchtete hinein.

»Alle Teufel!« rief nun plötzlich die Stimme; zu gleicher Zeit krachte das Bett und man hörte, wie Jemand eilfertig heraussprang. – »Sie sind es, gnädiger Herr? Das hätte ich mir nicht träumen lassen. Bitte nur um zwei Sekunden Zeit, damit ich im Stande bin, meinen äußeren Menschen mit meinen Gefühlen von Hochachtung und Ergebenheit in Einklang zu bringen.«

»Thun Sie das, lieber Beil!« erwiderte der Baron lachend, indem er das Licht auf den Tisch zurücktrug und sich in die Ecke des Sopha's setzte.

[119] »Unverhofft kommt oft,« sagte die Stimme im Nebenzimmer, »aber diesmal hat das Sprüchwort nicht recht, denn Sie kommen mir gar nicht unverhofft, gnädiger Herr.«

»Wie so?«

»Nun, ich träumte vorhin von Ihnen, aber – bei Blaffer und Compagnie! – es war ein garstiger Traum.«

»So, so, Herr Beil. Lassen Sie hören.«

»Ein böser Traum; ich kann ihn wahrhaftig nicht erzählen: es wäre wider den Respekt.«

»Wir sind ja unter uns. Nur heraus damit!«

»Nein, bei allen Blaffern der ganzen Welt! er ist unästhetisch.«

»Jetzt haben Sie meine Neugierde rege gemacht, und die müssen Sie nun auch befriedigen.«

»Aber es war ein zu garstiger Traum. Das heißt, wie man es nimmt; für mich war er unangenehm, weil ich ihn mit ansehen mußte. Da aber die Träume immer das Umgekehrte bedeuten, Steine: Geld, Thränen: Freude, so wird er auch Ihnen ein Glück prophezeien. Mir träumte nämlich, Sie wären aufgehenkt worden. Ist das nicht eine große Lächerlichkeit?«

»Allerdings,« meinte der Baron. Obgleich aber dabei der Ton seiner Stimme ein heiterer war, so zog er doch die Augenbrauen düster zusammen und sein Mund zuckte ein klein wenig. »Seien Sie ganz ruhig,« sagte er nach einer Pause, »der Traum bedeutet auf jeden Fall etwas Anderes, denn gehenkt werde ich niemals, darauf können Sie sich verlassen.«

In diesem Augenblicke erschien Herr Beil unter der Thüre des Nebenzimmers, sein Nachtlicht in der Hand. Ehe er aber heraustrat, sprach er mit komischem Ernste: »Ich befinde mich da zwischen zwei Feuern, wenn ich eine gewählte Toilette mache, wie es sich gehört, so muß ich Sie warten lassen, lasse ich Sie aber nicht warten, so muß ich erscheinen wie ich eben bin.«

»Vortrefflich!« entgegnete lachend der Baron. »Setzen Sie [120] sich dahin, wenn es Ihnen nämlich nicht zu kühl ist; sonst können Sie auch auf- und abspazieren.«

»Ich werde mich setzen,« erwiderte Herr Beil. Darauf zog er seinen Schlafrock vorn so züchtig als möglich über einander, und ließ sich mit einer ziemlich steifen Kopfneigung nieder, was in der That so komisch aussah, daß der Baron laut lachte.

»Ich war heute Abend recht verdrießlich,« sagte dieser darauf. »Sie müssen mir verzeihen, lieber Beil, wenn ich dachte, eine kleine Unterredung mit Ihnen würde mich freundlicher stimmen. Und ich bin überzeugt, daß ich Recht hatte, ich fühle mich schon viel leichter und angenehmer. Wenn Sie mir ferner eine gute Auskunft über den Kleinen geben, so werde ich Ihre Wohnung heiter verlassen.«

»Der Kleine befindet sich vollkommen wohl,« gab Herr Beil zur Antwort. »Das ist ein merkwürdiger und gescheidter Bube, etwas eigensinnig, etwas gewaltthätig, aber ich liebe das und hasse die Duckmäuser.«

»Er schläft?«

»Ob? Seine zehn Stunden, daß es kracht.«

»Und waren Sie gestern mit ihm aus?«

»Versteht sich; wie alle Tage, Ihrem Befehle gemäß.«

»Aber mit der gehörigen Vorsicht?«

»Wir fahren vor die Stadt, jeden Tag anderswohin, dort spazieren wir umher, bis es dunkelt. Es kommt Niemand Unberufenes in unsere Nähe; ich würde es aber auch Keinem rathen.«

»Das freut mich,« sagte der Baron. »Also Sie bemerkten bis jetzt Niemand, der sich Ihnen zudringlich genähert hätte?«

»Ein einziges Mal etwas der Art vor ein paar Tagen. Ein schäbig gekleideter Kerl, – er trug trotz des kalten Wetters einen dünnen schwarzen Frack, – begegnete uns, wie es schien, ganz zufällig.«

»Er war lang und mager?« fragte aufmerksam der Baron.

»Ganz recht, und grüßte uns, als er vorbei ging. Aber der [121] Kleine benahm sich musterhaft; obgleich er jenen Gruß sah, that er doch nicht dergleichen, und erst, als wir weit von einander entfernt waren, zupfte er mich am Arme und sprach: Den habe ich gekannt. Er war es, der mich aus dem garstigen Hause fort brachte zu dir und der lieben Frau Fischer.«

»Und jener Mensch – wo ging er hin?«

»Er schlenderte eine Zeit lang hinter uns drein, ich aber nahm auf dem nächsten Fiakerstand einen Wagen und ließ mich an's entgegengesetzte Ende der Stadt bringen, von wo ich mich vollends zu Fuß nach Hause begab.«

»Bravo, Herr Beil!« lächelte der Baron. »O, ich verstehe mich auf das menschliche Gesicht, ich wußte, daß ich in Ihnen den rechten Mann fand; wahrhaftig den rechten,« setzte er nach einer Pause wie zerstreut hinzu, und wiederholte mit halblauter Stimme: »ja, den rechten, – Jemand, der Vertrauen verdient, vollkommenes Vertrauen; und den zu finden war schon lange mein sehnlichster Wunsch.«

»Sie sind zu freundlich gegen mich,« erwiderte Herr Beil. »Aber was kann Ihnen meine unbedeutende Persönlichkeit sein, Ihnen mit Ihren großen und mächtigen Verbindungen. Ich bin ein Nichts, dessen Sie sich gnädigst annahmen, und um nur Ihre Wohlthaten noch mehr zu versüßen, wiederholen Sie mir beständig, sie seien mit meinen geringen Diensten zufrieden, Sie setzen Ihr Vertrauen in mich.«

Wir wissen nicht, ob der Baron diese schöne Rede seines Gegenübers gehört; er hatte den Kopf in die Hand gestützt, und als er jetzt nach einem tiefen Seufzer empor fuhr und aufstand, sagte er: »Ich will einen Augenblick den Kleinen sehen; wenn es Sie nicht friert, bleiben Sie hier, ich komme gleich wieder.« –

»Wenn es mich nicht friert,« dachte Herr Beil, als Jener das Zimmer verlassen; »allerdings ist es nicht überflüssig warm, aber dem Manne kann geholfen werden; die gute alte Frau wird den Ofen schon geladen haben, wie sie es immer des Abends zu machen[122] pflegt; ich will das Licht darunter halten, und da werden wir bald im Warmen sitzen.« Er that so, zündete das Feuer an, und bald krachte und prasselte es in dem Ofen; und als der Baron nach einer Viertelstunde zurück kam, entströmte demselben schon eine behagliche Wärme.

»Es ist doch besser so,« meinte lächelnd Herr Beil; »namentlich für Sie, gnädiger Herr,« setzte er forschend hinzu, »denn Ihr Anzug kann den kalten Morgen nicht so gut ertragen als ich. Warum haben Sie Ihren Paletot draußen gelassen? – Soll ich ihn holen?«

»Sie werden ihn nicht finden,« entgegnete der Baron; »ich brachte ihn nicht mit, sondern schickte ihn in meinem Wagen nach Hause.«

»A–a–h! – So!«

Baron Brand hatte sich in einen Lehnstuhl nahe beim Ofen niedergelassen, er legte seine Arme auf die Lehne desselben, so daß seine Hände schlaff herabfielen, ebenso der Kopf, der so tief niedersank bis sein Kinn die Brust berührte. So blieb er vielleicht zehn Minuten lang in tiefes Nachsinnen verloren, sein Gesicht war bleich, seine Augen geröthet, als habe er vor dem Lager des Kindes geweint. – Jetzt verbarg er seine rechte Hand auf der Brust, sein ganzer Körper schüttelte sich wie im Fieberfrost, er seufzte tief, worauf er seinen Kopf langsam erhob und Herrn Beil, der ihn forschend betrachtete, mit einem erzwungenen Lächeln ansah.

»Jetzt habe auch ich geträumt,« sagte er nach einer Pause, »fast ebenso finster wie Sie, wachend geträumt, und das ist viel schlimmer. Apropos! erinnern Sie sich auch noch zuweilen jener Nacht, von der Sie mir erzählt, wissen Sie, am Kanale, wo Ihnen das Gespenst erschienen?«

»Ich werde das nie vergessen,« sagte plötzlich sehr ernst werdend Herr Beil.

»Sie waren damals in einer traurigen, gedrückten Stimmung und erzählten dem Phantom ihre Lebensgeschichte.«

[123] »Ach ja, und ich muß sagen, für ein Gespenst war die Gestalt von damals teilnehmend genug und sprach recht vernünftig.«

»Und als Sie erzählt, fühlten Sie sich sehr erleichtert, und auch auf andere Gedanken gebracht? – – Nun wohlan, auch ich bin heute in einer solchen Stimmung wie Sie damals. Wollen Sie mein Gespenst vorstellen und mich eine halbe Stunde lang geduldig anhören, so hoffe ich, es soll auch mir eine Erleichterung sein.«

»Ich werde mich dadurch geehrt fühlen,« entgegnete Herr Beil, indem er die Hand auf's Herz legte.

»Aber Sie wissen, daß die Gespenster ein unverbrüchliches Stillschweigen bewahren über das, was man ihnen anvertraut, daß sie schweigsam sind wie das Grab.«

»Aus welchem sie kommen,« sagte schaudernd Herr Beil. »Ich höre und werde ebenso schweigsam sein, stumm wie das Grab, – ganz Gespenst.«

Der Baron lehnte sich in seinen Sessel zurück, blickte an die Decke empor und drückte die Fingerspitzen beider Hände fest gegen einander. »Sie haben noch nie Deutschland verlassen,« sagte er, »Sie gingen noch nie südlich, überstiegen noch nie die schneebedeckten Alpen, um von ihnen herabsteigend Italien zu erreichen.« Ah! das ist ein schönes, herrliches Land, ein angenehmer Himmel, prächtige Gegenden, schöne Menschen; glücklich, wer dort hindurch fliegen kann mit einem leichten, fröhlichen Herzen, sich bald hier aufhaltend, bald dort, wie es ihm gerade gefällt, bald in großen, lebhaften Städten, bald in der malerischen Einsamkeit des Landes; jetzt an des Meeres prächtigen Felsgestaden, bewundernd dem Tosen der Wellen zulauschend, jetzt in die Berge hineinfliehend, wo man nichts mehr vernimmt als das Rauschen der Lorbeer- und Orangenzweige und den Gesang eines Vogels. –

»Wenn man einmal dort war und man ist zurückgekehrt nach dem kalten Norden, so zieht es Einen beständig wieder dorthin, man vergißt, daß das schöne Land auch seine Plagen, seine Unannehmlichkeiten[124] hat; man denkt nur an den blauen Himmel und den blitzenden Sonnenschein, der das reichste Gold auf die Landschaft ausgießt, der hervorzaubert all' die göttlichen Tinten, die wir mit keinem Namen bezeichnen können. Man träumt nur von jenen wunderbar klaren, duftreichen Nächten, wo die Mondsichel in einer unbegreiflichen Klarheit am Himmel steht, wo Leuchtwürmer hin- und herschwärmen, wo aus dem dunkeln Laub der Orangen die weißen Blüthen sichtbar sind im geheimnißvollen und reizenden Schimmer. – Ah! eine solche Nacht ist herrlich; dazu das Leuchten des Meeres, wenn dein Boot nun vom Ruder zurückgehalten, an die Ballustrade des prächtigen Gartens rauscht, wo herüberhängende Lorbeerzweige eine sichere Bucht bilden, wo man auf die Gefahr hin, zu stranden, unaufhörlich nach den dunkeln Gebüschen blickt, unter denen ein flatterndes Gewand hervorleuchtet. – Ah! – Doch weiter! – Dem Süden zu, gleich den Zugvögeln! Vorbei an dem heitern Florenz, dem ernsten Rom, dem lustigen Neapel. Laßt hinter uns liegen den mächtigen Vesuv mit seiner ewigen Rauchwolke, die, einer riesigen Pinie gleich, in der klaren Luft fast unbeweglich über ihm steht; vorbei an dem tiefblauen Golfe, den die malerischen Gestade umgeben, aus dem die seltsam geformten Inseln hervortreten, der übersät ist mit weißen kleinen Segeln. – Vorbei an allem Dem, über das Meer hinüber, den Gestaden entlang, welche dir der Steuermann in der Dunkelheit zeigt und die sich fast grauenhaft bemerkbar machen in der Nacht auf dem finstern Wasser. Funken und Flammen steigen donnernd aus ihnen empor, und wie glühend übergossen, zeigt sich blitzartig der Krater, um gleich darauf wieder zu verschwinden – Stromboli. Noch einige Stunden und Palermo liegt vor dir.

O Palermo, reizende Stadt! mit deinem prächtigen Hafen, mit dem Monte Pellegrino, deinem Wahrzeichen und riesenhaften Leuchtthurme; denn glänzt er nicht weit in die See hinaus, namentlich [125] Abends und Morgens in immer wechselnden, brennenden Farben! Ja, bis zum späten Abend, wo die violetten Schatten seiner Schluchten immer größer und bedeutender werden, langsam die Gluth seiner Lichter auslöschen, und ihn endlich mit dem nächtlichen Schleier überziehen. O Monte Pellegrino, wie oft hing mein Auge an deinen seltsamen, zackigen Formen, wie oft verfolgte es den Weg, der dich in den eigensinnigsten Wendungen erklimmt; – und ruhig blickst du auf Palermo, die prächtige glänzende Stadt mit ihren gelben Kuppeln und strahlenden Zinnen, rings umgeben von den zahllosen Orangen- und Citronengärten, die mit ihrem tiefdunkeln Laube einen Kranz um dich bilden, so daß es aussieht, als läge sie ganz von Bergen eingefaßt – eine kostbare goldglänzende Frucht, mitten in einer ungeheuren Felsenschaale, sanft gebettet auf dem saftigen Grün. –

Laßt uns still die Stadt durchschreiten, ich will nicht sehen und gesehen sein, gehen wir hinaus zu einem der Landthore, dem Wege folgend, dessen hohe Ränder mit uralten Aloen bewachsen sind, theils im frischen Safte prangend, auch wohl mit verwelkten Blättern, denn sie trieben einen Blüthenstengel, der, dreißig Fuß hoch, nach allen Seiten seine zahlreichen Kronen hinaus streckt, und nun, als er seine Bestimmung erfüllt, vergehen mußte. – Ueber eine Brücke führt uns der Weg, unten rauscht über die glatten Kiesel ein klares Wasser still und behaglich dahin; es fließt im Schatten großer Oleanderbüsche, deren prächtige Blumen sich kokett in seinen Wellen spiegeln. An einfachen gelben Häusern kommen wir vorüber, meistens uralten Gebäuden von eigentümlicher malerischer Bauart; man glaubt hinter den vergitterten Fenstern müßte noch heute Turban und Kaftan erscheinen. Schmucklose aber kunstreiche Wasserleitungen lehnen sich an ihre Ecken oder laufen auch wohl auf schlanken Bögen von einem zum andern; Schlingpflanzen umranken sie, schauen aber neugierig in die offene Rinne und das rieselnde Wasser, und die tiefer hängenden Blätter schaukeln sich [126] auf der Fluth, aufwärts gekehrt und ihre Blüthen blicken zu den schlanken Palmen empor, welche die spitzigen Blätter wie schützend über das alte Gemäuer ausstrecken. – Alles hier ist Gluth und Glanz, strahlende Lichter und die tiefsten Schatten neben einander, keine nebelhaften, matten Uebergänge wie im kalten Norden. –

So immer weiter wandelnd sind wir langsam aus der Ebene emporgestiegen, und sehen, rückwärts blickend, die Stadt, die sie umgebenden Gärten, den wunderbaren Berg der heiligen Rosalie, zu seinen Füßen die ruhige, dunkle Bucht, und weiter hinaus das gewaltige Meer, tiefblau und nur an einem Streifen am Horizont bedeckt von Sonnenglanz und Flimmer.

Hier sind wir auch am Ziele. Wir stehen vor einem großen Thor, das halb von überhängenden Bäumen verdeckt ist, einem Thor mit Eisengittern und tadellosen Wappenschildern. Hinter dem Thore beginnt ein weitläufiger Park, in dem Parke liegt ein großes Schloß und in dessen prachtvollsten Zimmern ward ich seiner Zeit geboren.

»Ah!« machte Herr Beil, aber so leise, daß es nur wie ein Seufzer klang. Er war mit halb geschlossenen Augen träumend der lebendigen Schilderung gefolgt, er hatte Palermo mit gesehen, er war aus der heißen Sonne in den schattigen Park getreten und sah das Schloß, ja selbst das bezeichnete Zimmer.

Der Baron fuhr sich mit der Hand über die Augen und sagte lächelnd, wie aus einem Traume erwachend: »Ach ja, wir sind Beide noch hier. – War mir doch, als zeigte ich Ihnen die Herrlichkeiten meiner Heimath, knirschte doch ordentlich der Sand unter meinen Füßen; hörte ich doch den Wind durch die Zweige rauschen wie damals.«

»Mir war auch so,« meinte Herr Beil; »doch ist es das Holz im Ofen, das knirscht und stöhnt, und wenn es auch mit dem Sausen des Winds seine Richtigkeit hat, so streicht er doch leider [127] nicht durch blüthenreiche Zweige, sondern spielt mit den ächzenden Windfahnen und den wackeligen Schornsteinen.«

»Und mir ist diese wilde Scenerie lieber,« fuhr der Baron fort: »ich mag nicht weich gestimmt sein. – Daß ich also geboren wurde, wissen Sie, vorher aber folgten einige für mich nicht unwichtige Ereignisse. Meine Mutter war die Tochter einer der mächtigsten Familien Palermo's, mein Vater aber ein Engländer, der auf einer großen Vergnügungsreise eines Tages mit seiner Yacht in der Bucht ankerte, an's Land stieg, sich durch gute Empfehlungsbriefe in den besten Häusern einführte, meine Mutter sah, sich in sie verliebte und nicht eher ruhte, bis ihr Vater, der Marchese von B., zu einer Heirath mit dem Fremden willigte. Die Geburt meines Vaters stand übrigens der meiner Mutter nicht nach; er war der älteste Sohn des Lord K., einer reichen schottischen Familie, deren Einwilligung zu der Verbindung mit meiner Mutter zu erhalten er als sehr leicht darstellte. Der alte Marchese, dessen Gunst er sich zu erringen gewußt hatte, gab die Heirath zu und etablirte das junge Paar auf dem Schlosse, von dem ich Ihnen sprach.

Wenn auch mein Vater von seinem Vermögen noch nichts erhalten hatte, so besaß er doch Gelder genug, um bis zur erlangten Einwilligung seiner Eltern glänzend leben zu können. Diese Einwilligung aber blieb aus, ja, auf viele Briefe, welche sowohl der Marchese als mein Vater nach Schottland schrieben, erfolgte keine Antwort, und als man sich endlich eines Geschäftsmannes bediente, berichtete dieser, Lord K. habe sich in Folge dieser Heirath von seinem ältesten Sohne losgesagt, ihn enterbt und er existire für ihn gar nicht mehr in der Welt.

Das muß ein harter Schlag für meine Eltern gewesen sein; die Schwestern und Brüder meiner Mutter, in ihrem Stolze gekränkt, zogen sich von ihr zurück, der Marchese von B. starb bald darauf, und da nur ein geringer Theil seines Vermögens meiner Mutter zufiel, auch die Gelder meines Vaters ziemlich aufgezehrt [128] waren, so mußte man sich einschränken. Uebrigens schien das dem jungen Paar keinen Kummer zu verursachen, sie liebten sich herzlich; ihre Kinder – das war ich und eine Schwester – wuchsen zu ihrer Freude gesund und kräftig heran, kurz, es war immer noch eine glückliche Familie.

Ob und welche Schritte nun während dieser Zeit mein Vater in Schottland gethan, weiß ich nicht; genug aber, plötzlich kam die Nachricht, Lord K. wolle sich mit seinem Sohne aussöhnen, er sandte Gelder und Briefe, er schrieb, das Geschehene soll vergessen sein, nur stellte er die Bedingung, meine Eltern sollten Sicilien verlassen und nach der Heimath meines Vaters zurückkehren. So sehr meine Mutter auch ihre schöne Insel liebte, so hatte sie doch in der letzten Zeit so viele Kränkungen erfahren, daß sie ihre Vaterstadt, ihre Familie, nicht ungern verließ.

Wir schifften uns also ein; ich zählte damals zehn Jahre, meine Schwester vier. Unser Beider einziger Kummer war, daß wir die alte bekannte Dienerschaft unseres Hauses zurücklassen mußten; so hatte es Lord K. gewünscht. Die Abreise aus Sicilien schmerzte uns Kinder nicht besonders; uns freute das schöne Schiff, welches wir bestiegen, die bevorstehende Reise, – und als wir Neapel gesehen, Rom und die hohen schneebedeckten Berge der Schweiz, dachten wir nicht mehr an unsern Monte Pellegrino, nicht mehr an die schöne Bucht Palermo's und noch viel weniger an die thränenerfüllten Augen der alten Diener unseres Hauses.

Die Erinnerung an Sicilien trat auch nicht eher wieder lebendig vor uns, als bis wir uns der Küste Schottlands näherten. Es war ein frostiger und unheimlicher Herbstabend, das Meer bewegt, die grauen Wellen schwankten hin und her, und wo sie zusammen stießen, bildeten sich weiße Schaumkronen auf dem schmutzigen Wasser. Vor uns wurde das Land sichtbar, die hellen, zerklüfteten Felsen blickten unbestimmt und geisterhaft aus dichtem Nebel hervor. Schwer zerrissene Wolkenmassen hingen am Himmel, [129] und dort am Lande hatten sie sich tief herabgesenkt, daß die aufsteigenden Dünste sichtbar mit ihnen in Verbindung traten. Weiße Möven mit ängstlich gellendem Schrei umflatterten in Schaaren unser Schiff, flohen vor den Windstößen dem Lande zu oder schaukelten einige Augenblicke vor und neben uns auf den Wellen. Mein Vater war unten in der Kajüte beschäftigt, die Mutter und wir auf dem Verdeck. Ich vergesse diesen Augenblick nie, in meinem ganzen Leben nicht: wie schon gesagt, wir dachten so lebhaft an unsere heimathliche Bucht, die namentlich Abends bei untergehender Sonne so prächtig glüht und glänzt – unser neues Vaterland wollte uns gar nicht gefallen. Die Mutter war traurig und bewegt, wie ich sie nie gesehen, sie hielt uns Beide in ihren Armen, sie drückte unsere Köpfchen an sich, und wenn sie sich zu uns herab beugte, um uns zu küssen, so fühlte ich deutlich, wie ihre heißen Thränen auf meine kalten Wangen fielen. Ich werde das nie vergessen.

Bald wurden die Segel eingezogen, die Matrosen eilten auf's Verdeck, das Schiff legte bei und wir schwammen langsam in das Innere einer kleinen Bucht, die rings von drohenden Felsen umgeben war. Es war schon so dunkel, daß wir auch diese nur in schwarzen Umrissen an dem helleren Nachthimmel bemerken konnten. Am Ufer sahen wir ein paar Lichter, welche einsam durch die Nacht leuchteten. Die Brandung toste, der Wind sauste, es war ein recht unheimlicher Abend. Bald darauf kamen Boote heran; wir wurden mit Vater und Mutter hinein gebracht, und in kurzer Zeit erreichten wir das Ufer. Dort standen Wagen bereit; sie waren mit Reitern umgeben, die Fackeln trugen. Ein alter Mann – ich sehe sein widriges Gesicht heute noch vor mir – hielt eine solche, stand neben seinem Pferde und grüßte meinen Vater ehrerbietig.

Wir stiegen ein und fort ging's im vollen Galopp, einen Berg hinauf, lange, lange über eine öde Haide. – Du findest wohl Schottland nicht so schön wie Italien, sagte mein Vater zur Mutter, die hinaus in das Dunkel starrte und ihre Hand auf die seinige [130] gelegt hatte. – Ich weiß nicht, mein Herz friert, versetzte sie; es ist aber ein zu häßlicher Abend; auch die Kinder scheinen ängstlich. – Nur Geduld, entgegnete der Vater, morgen bei Sonnenlicht und an Ort und Stelle wird es euch schon gefallen. O Schottland ist berühmt wegen seiner prachtvollen Gegenden.

Wir fuhren vielleicht zwei Stunden beständig sehr schnell durch die Nacht dahin; endlich hielt der Wagen. Ein eisernes Thor knarrte und seufzte in seinen Riegeln; wir fuhren hindurch, die Räder rollten sanft auf einem Sandwege. Wir befanden uns in einem großen und, wie es schien, sehr schön angelegten Parke. Gebüsche standen am Wege, und hohe Bäume, deren Zweige vom Wind hin und her gejagt wurden, hingen über unserm Wagen. Zuweilen öffnete sich auch die Aussicht auf Wiesengründe, und auf denselben sah man glänzende Linien und Punkte: kleine Bäche, Teiche und Seen. –«

»Verzeihen Sie mir, bester Beil,« unterbrach hier der Baron lächelnd seine Erzählung, »daß ich etwas zu umständlich bin; ich könnte Ihnen das alles mit wenigen Worten berichten, aber es ist so wichtig für mich, daß ich meinen Zuhörer in eine passende Stimmung bringe.«

»Was Ihnen gelungen ist,« antwortete der Andere mit leiser Stimme; »ich fühle mich bewegt und erwartungsvoll.«

»Endlich hielt der Wagen,« fuhr der Baron ruhig fort, »wir standen vor einem großen Schlosse; der alte Mann, den ich schon drunten am Ufer bemerkt, näherte sich meinem Vater und überreichte ihm ein Schreiben. Dieser riß den Umschlag ab, durchflog den Inhalt und rief aus: Ah! das ist mir unangenehm. Darauf wandte er sich zu meiner Mutter und sagte: mein Vater, der uns hier empfangen wollte, wurde plötzlich unpäßlich und mußte in dem Städtchen C., einige Meilen von hier, die Nacht zubringen. Er wünscht mich aber sogleich zu sprechen, und du wirst einsehen, daß es meine Pflicht ist, zu ihm hinzueilen.«

[131] »Das sah meine Mutter allerdings ein, bat aber schüchtern, ihn begleiten zu dürfen. Es sei ihr ängstlich hier allein in dem fremden Schlosse, setzte sie mit leiser Stimme hinzu. – Wo denkst du hin? entgegnete der Vater. Es ist dunkel und nach C. ein schlechter Weg. Und dann, liebes Kind, was fabelst du von einem fremden Schlosse, es ist ja dein eigenes; hier werden wir künftig wohnen. Morgen mit dem Frühesten bin ich wieder bei dir.

Nach diesen Worten traten wir in das große Gebäude und wurden von zahlreicher Dienerschaft empfangen. Lakaien mit silbernen Leuchtern trugen mich und die Schwester die breiten Steintreppen hinauf, zwei Kammerfrauen küßten ehrerbietig den Saum des Mantels meiner Mutter und folgten ihr, welche, vom Vater geführt, vor uns ging.

Die Gemächer oben waren wohl prächtig und schön, aber groß und ernst. Wände und Decke waren dunkel, mit Schnitzwerk bedeckt, und die Vergoldung an denselben blickte uns im Glanz der Lichter wie verstohlener Weise mit glühenden Augen an. Wir speisten zu Nacht, der Vater zeigte uns unsere Zimmer, dann drückte er, Abschied nehmend, die Mutter herzlich an sich, küßte mich und die Schwester und entfernte sich.

Die Mutter sank auf einen Fauteuil nieder und nahm meine Schwester in ihre Arme. Ich schlich mich an das Fenster, schlüpfte hinter den schweren Vorhang, der es bedeckte, und blickte in die Nacht hinaus. Drunten im Hofe war es lebendig; ich sah den Qualm der Fackeln, und zuweilen, wenn ihn ein Windstoß auf die Seite jagte, flackerten die dunkelrothen Flammen hoch empor und erleuchteten das finstere Schloß mit seinen vielen Fenstern. Der Vater stieg zu Pferde und gleich darauf sah man ihn wegreiten; der alte Mann ihm zur Seite, die Reiter mit den Fackeln vor und hinter ihm. Ich weiß nicht, wie sie so dahin galoppirten durch die grünen Gebüsche über den geschlungenen Weg, jetzt verschwanden, so daß man nichts mehr sah als die überhängenden [132] Zweige von der rothen Gluth der Fackeln angestrahlt, jetzt wieder zum Vorschein kamen, da schnürte eine unerklärliche Angst mein Herz zusammen. Sie sahen so unheimlich aus, die finstern Gestalten auf den dahinjagenden Pferden; mir war gerade so, als entführten sie gewaltsam meinen Vater, als gehe er einem Unglück entgegen und wisse es selbst nicht. Ich wollte ihn zurückhalten, – er mußte gerade den Park verlassen haben; man sah nur noch einen unbestimmten Schein zwischen den Bäumen, der aber plötzlich erlosch. Ich klopfte an die Scheiben, ich wollte das schwere Fenster öffnen, indem ich ausrief: Vater! Vater! reite nicht hinweg, verlasse uns nicht, o du kommst nicht zu uns zurück!«

»Bei diesen letzten Worten war der Baron, von der Erinnerung überwältigt, empor gesprungen, streckte die Hände von sich ab und hatte die Augen starr und weit geöffnet. – ›Ah!‹ sagte er nach einer Pause, während welcher sich seine Züge wieder belebt hatten, ›ich kann es mir nun einmal nicht abgewöhnen, zu lebhaft zu denken. Ich bin ein schlechter Erzähler. Jetzt will ich mich aber zusammen nehmen.‹

Es war das für uns alle Drei ein trauriger Abend. Die Mutter saß in ihrem Lehnstuhle, hielt uns Beide in den Armen und starrte nachdenkend vor sich hin, fuhr aber bei dem geringsten Geräusch, das sich im Schlosse hören ließ, erschreckt in die Höhe und drückte uns ängstlich an sich, als wolle sie uns vor irgend einer Gefahr beschützen. Endlich gingen wir zur Ruhe, – wir schliefen in zwei Zimmern neben einander, ich und meine Schwester in dem einen, die Mutter in dem anstoßenden; die Thüre blieb natürlicherweise offen. Ich weiß nicht, um welche Stunde es war, als ich erwachte; ich glaubte Stimmen im Nebenzimmer zu vernehmen, und als ich mich in meinem Bette aufrichtete, hörte ich wohl, daß ich mich nicht getäuscht hatte.

Der Morgen dämmerte, aber da es spät im Herbst war, drang auch nur ein schwaches, trübes Licht durch die zugezogenen [133] Fenstervorhänge. Ich blickte nach meiner Schwester, die ebenfalls aufrecht in ihrem Bette saß. – Was ist das? fragte ich sie. – Ich weiß nicht, gab sie mir zur Antwort. Die Mutter weint und bittet. – Ich will zu ihr! rief ich aus; ich will ihr helfen. – O ich war damals ein energisches Kind; Furcht kannte ich nicht. – Die Thüren haben sie zugeschlossen, sagte meine Schwester. Und so war es in der That. Ich glitt von meinem Lager herab, um sie wieder zu öffnen; doch kaum hatte ich mich auf einige Schritte dem Nebenzimmer genähert, als eine starke Hand meinen Arm faßte. Ich zuckte zusammen, blickte empor und sah neben mir jenen alten Mann mit den finstern, unangenehmen Zügen, der uns am Ufer der See empfangen hatte und später mit meinem Vater fortgeritten war. –

Was willst du? fragte er mit strenger Stimme. – Ich will zu meiner Mutter, sagte ich ihm; hörst du nicht, daß sie weint? Wer hat es gewagt, ihr etwas zu Leide zu thun? – Gewagt! lachte er höhnisch; geh' in dein Bett, Knabe, und bekümmere dich nicht um Sachen, die dich nichts angehen. Damit ließ mich seine Hand los und stieß mich mit der Faust an die Schulter, daß ich ein paar Schritte in das Zimmer hinein taumelte und gefallen wäre, wenn ich mich nicht an meinem Bette gehalten hätte. – Ich war gestoßen worden, zum ersten Male in meinem Leben und von der Hand eines Dieners; ich ballte meine Fäuste, ich biß meine Lippen blutig; was sollte ich machen? Das da war ein starker, wohl bewaffneter Mann, ich ein kleiner, fast unbekleideter Knabe; ich zitterte vor Zorn und Kälte, setzte mich auf mein Bett und strengte Ohren und Augen an, um zu sehen und zu hören. – Ja, es war die Stimme meiner Mutter, die ich nun im Nebenzimmer wieder vernahm; sie bat, sie weinte, sie rief nach uns; – so gebt mir wenigstens meine Kinder! sprach sie; ich will ja weiter nichts, o Gott! o Gott! nur meine Kinder, meine armen kleinen Kinder! – Ich weinte mit ihr und rief so laut ich konnte: Mutter! Mutter! hier sind wir, laß uns nicht allein! – Der alte Mann, der an's [134] Fenster getreten war, er, der mich gestoßen, streckte mir drohend die Faust entgegen und sagte hohnlachend: schrei nur, kleine Schlange; man wird dich dafür züchtigen.

Im Nebenzimmer war es stille geworden; der Mann wandte sich gegen die Scheiben und öffnete einen Flügel des Fensters. Unten im Hofe rollten Räder auf dem Sande, Fußtritte erschallten auf der Freitreppe vor dem Hause, und ich glaubte die Seufzer meiner Mutter zu vernehmen. Mit weit aufgerissenen Augen blickte ich um mich her, ich suchte eine Waffe; ich wollte Mutter und Schwester, ich wollte mich vertheidigen. Ah! neben meinem Bette befand sich eine Trophäe von Dolchen und Messern aller Art; er hatte mich gestoßen, er hatte mich eine Schlange genannt, ich wollte es sein, – ich wollte ihn stechen. Ich kroch auf mein Lager zurück, ich faßte nach einer der Waffen – es war ein schuhlanges Messer, zweischneidig, oben breit, unten spitz, das mir am nächsten hing, es ging leicht aus der Scheide, ich hielt es in meiner Hand, und verbarg es hinter dem Rücken. – Ah! da vernahm ich abermals die Stimme meiner Mutter; in herzzerreißendem Tone rief sie vom Hofe zu den Fenstern hinauf: Meine Kinder! laßt mir meine Kinder!

Der alte Mann beugte sich hinaus und rief hinab: Nur fort! Nur fort! werft sie in den Wagen und macht, daß ihr von dannen kommt. – Darauf hörte ich noch einen einzigen Schrei drunten, aber einen Schrei, dessen gräßlichen Ton ich nie vergessen werde. Man hörte den Wagen schließen, Peitschen knallen, dann knirrschten die Räder auf dem Sande. –

Ich faßte das Messer fest in die Rechte, er am Fenster verschloß die Scheiben wieder und trat in das Zimmer zurück. Jetzt zu dir, Bürschlein, sagte er, und ging direkt auf mein Lager zu. In dem Augenblick war ich kein Kind mehr, ich fühlte nichts Menschliches in mir, ich war ein reißendes Thier, eine Schlange, eine wilde Katze. – Komm nur! rief ich ihm entgegen, ich bin keine wehrlose Frau; komm nur, ich will mich vertheidigen. Damit [135] sprang ich in die Höhe, so daß ich auf meinem Bette stand. Die rechte Hand mit dem Messer hielt ich hinter meinem Rücken verborgen; er ahnete davon nichts, sondern sprach lachend: die Peitsche wird dich geschmeidig machen. –

– Das waren auf dieser Welt seine letzten Worte; er war mir ganz nah, ich streckte plötzlich meine rechte Hand vor, und klug berechnend, daß mir zu einem Stoße die nöthige Kraft fehle, hielt ich den Arm steif und warf mich vom Bette herab ihm entgegen. Die Wucht meines kleinen aber doch schon schweren Körpers trieb ihm das zweischneidige Messer in die Brust, – ja in die Brust, und zwar tief hinein bis an's Heft.«

»Gott, im Himmel!« rief Herr Beil entsetzt, »das war ja ein Mord.«

Der Baron hatte das Letzte mit steigender Heftigkeit erzählt; sein Arm zuckte, seine Augen flammten, er warf sich mit dem Oberkörper vorwärts wie damals, als er jenen Stoß gethan; dann flogen seine Finger weit aus einander, als lasse er das Heft des zweischneidigen Messers fahren; doch versuchte er hierauf zu lächeln, strich sich mit der Hand über das Gesicht und sagte nach einem längeren Stillschweigen und nachdem er sich wieder vollkommen gesammelt: »Eigentlich war es kein Mord, es war eine Nothwehr; auch rächte ich meine Mutter. – Ich versichere Sie, bester Beil, eine höhere Macht hatte die Hand des Knaben gelenkt; jener alte Mann war der Vertraute und schlechte Rathgeber des Lord K., er hatte zu allem Dem beigetragen, was gegen die Mutter und uns unternommen wurde.« –

Hier schwieg der Erzähler, ein finsteres Lächeln flog über seine Züge, während er die Glieder seiner goldenen Uhrkette langsam durch die Finger gleiten ließ.

64. Kapitel
[136] Vierundsechzigstes Kapitel.
Ein wildes Leben.

»Ah!« fuhr nach einer Weile der Baron fort, »es ist ein eigenthümliches Gefühl, eines Menschen Blut zu vergießen. Das ist Ihnen wohl noch nie vorgekommen?«

»Gott soll mich in Gnaden bewahren!« erwiderte entsetzt der Andere.

»Und wollten sich doch das Leben nehmen! – Sehen Sie, wie vernünftig das Gespenst für Sie dachte.«

»Meines Nächsten Blut! Mich schaudert's, wenn ich daran denke.«

»Ja, ja,« erwiderte nachsinnend der Baron, »den Nächsten trifft es meistens, denn bis weithin reicht die Schneide eines Dolches nicht. – Aber keine Wortklaubereien; – in einem ähnlichen Falle wie dem eben erzählten kann man in späteren Jahren Alles vergessen, den Anblick dessen, der von unserer Hand fiel, sein Blut, das wir sahen; nur etwas nicht, das ist das schreckliche Gefühl des Eindringens der Waffe. Ah! das ist unvergeßlich!«

»Nun, es muß Sie trösten,« meinte gutmüthig Herr Beil, »daß Sie damals eigentlich noch unzurechnungsfähig waren – ein Kind.«

»O sagen Sie das nicht, ich durchlebte in dem Moment eine Reihe von Jahren, und war nachher so bedacht und entschlossen, daß man mir jetzt die Mutter nicht mehr geraubt hätte. – Doch das war vorbei. – Genug also, er fiel nieder, ich ließ natürlicher Weise den Griff der Waffe los und zog mich gegen mein Bett zurück. Die Thüren wurden hastig geöffnet, die Dienerschaft lief zusammen, ich hoffte immer, mein Vater werde auch erscheinen. Aber statt seiner erschien ein ältlicher Herr, mühsam am Stocke gehend, – mein Großvater; ich sah das an der Ähnlichkeit mit [137] meinem Vater, ich habe sein Bild nie vergessen. – Das da hat gute Geschichten gemacht, rief er zornig, nur fort damit! Seht, ob man Hilfe bringen kann. – Das Letztere war nun nicht möglich; man bemühte sich eifrig um den Todten – vergeblich. Dann stieß man mich aus dem Zimmer, mich und meine arme, arme Schwester. Daß sie furchtbar gelitten bei der eben beschriebenen Scene, können Sie sich wohl denken; sie fühlte, so klein sie war, daß ihr Bruder etwas Schreckliches begangen. – Man brachte uns fort, nachdem man uns vorher schlechte Kleider angezogen; wir fuhren mehrere Tage und Nächte; anfänglich wandte ich alle Kraft auf, um den Schlaf von meinen Augen zu verscheuchen, und ich bemühte mich, wo möglich einzelne Schlösser, Ortschaften, Flüsse und dergleichen meinem Gedächtnisse einzuprägen, um vielleicht später den Rückweg nach jenem Schlosse finden zu können. Unbegreiflich wird es Ihnen sein, wenn ich Ihnen sage, daß ich den Namen meines Großvaters und Vaters nicht wußte; in Palermo wurde der Letztere von der Mutter und der Dienerschaft nur Sir Robert genannt. – Wissen Sie wohl, was ich gar zu gern von dort mitgenommen hätte? Es war jenes zweischneidige Messer – eine schöne Waffe. Aber merkwürdig genug, viele Jahre nachher kam es zufällig in meinen Besitz. – Doch weiter!

Meine Natur unterlag also; obgleich kräftig mit dem Schlafe kämpfend, überwältigte er mich doch, ich vergaß Alles, und als ich endlich erwachte, war es durch das Anhalten des Wagens. Doch denken Sie sich meinen Schrecken, als ich aufwachte und meine Schwester nicht mehr sah. Wo und wie man uns getrennt hatte, war mir unerklärlich. Ich erinnerte mich deutlich, daß ich, ehe ich einschlief, meinen Arm um ihren Hals geschlungen hatte, und daß sie mich fest an sich drückte, wie es früher die Mutter gethan. O! dieser Verlust traf mich hart, hatten wir uns doch gegenseitig getröstet.

Ich wurde in ein Haus gebracht zu einem widerwärtig aussehenden Manne; – es war ein scheinheiliger Hallunke, der das [138] Gebetbuch nie vom Tische brachte, aber seinen Nebenmenschen betrog, wo er konnte. – Man zahlte für mich ein ärmliches Jahrgeld; er sollte sehen, ob etwas aus mir zu machen sei, er sollte mich jedes Geschäft, jedes Handwerk ergreifen lassen, wozu ich Lust in mir verspürte. So sagte er mir; ich aber, wie Sie begreifen werden, früh gereift, klug, umsichtig, merkte bald, daß dieser Mann den Befehl hatte, mich thun zu lassen, was mir gut däuchte, das heißt, nur in Lastern und Ausschweifungen. Darin ließ man mir allen Willen, darin konnte ich thun, was ich wollte. Ich trieb mich also den ganzen Tag herum, ich trank, wo ich etwas bekam, ich spielte, zuerst ehrlich, dann falsch, und da ich ein hübscher Bube war, mochten mich alle Nachbarn leiden; ich ritt ihre Pferde, ich suchte mit großem Geschick verloren gegangenes Vieh wieder auf, ich wurde kräftig und gewandt, kein Pferd war mir zu wild, kein Fenster, kein Baum zu hoch; ich stählte meinen Körper so, daß ich Alles ertragen konnte, mir war es gleich, ob ich in meinem Bette war, oder die Nacht im Freien zubrachte unter Sturm und Regen. Bei meinem Erzieher lernte ich aber das Wichtigste: Verstellung; zuweilen ignorirte er mein wildes Treiben, zuweilen peitschte er mich wüthend dafür aus, und das namentlich, so lange ich ihm offen und ehrlich meine Streiche bekannte; als ich aber anfing, Alles zu leugnen, die Augen niederzuschlagen und seufzend im Hause umherzuschleichen, da ging es besser, und das merkte ich mir bald. –

Sie können sich denken, daß ich meine Vergangenheit, Vater, Mutter und Schwester nicht vergaß und werden sich wundern, daß ich nicht einen Fluchtversuch unternahm, da man mir die Freiheit ließ, in der Nachbarschaft unseres Dorfes umherzustreichen; aber ich war klug genug, einzusehen, daß ich als Kind, ohne Mittel nichts zu unternehmen im Stande sei. Glauben Sie deßhalb nicht, daß ich jene schreckliche Scene vergessen, daß ich nicht ganze Nächte an die furchtbaren Räthsel gedacht, die mich beim Eintritt in dieses Land umgaben. O ich nährte meine Rache heimlich aber eifrig, [139] und je älter ich wurde, desto glorreicher erschien mir jene blutige That. Auch hoffte ich beständig, von meiner Mutter, meiner Schwester irgend ein Lebenszeichen zu erhalten, aber vergeblich. Ach! wie ich diese Letztere liebte, kann ich Ihnen nicht beschreiben; sie war seit ihrer frühesten Kindheit meine einzige Gespielin gewesen und ihr weiches Gemüth fand sich so leicht in meine wilden Launen, mein hastiges, heftiges Treiben. Auch sie liebte mich so innig – wir waren ein paar glückliche Kinder!

In der Nähe unseres Dorfes lagerten häufig Zigeuner, mit denen ich öfters Verkehr hatte; ich war bei ihnen wohl gelitten, ich begleitete sie bei ihren kleinen Streifereien, und eines Tags machte mir ihr Hauptmann den Vorschlag, sie auf einer längeren Tour zu begleiten. Sie hatten Pferde aus dem schottischen Gebirg nach England zu bringen: er versprach mir einen guten Antheil am Gewinn; ich willigte natürlicherweise ein und verließ ohne Bedauern, ohne Kummer das Haus, in dem ich bis jetzt gelebt. Mein Haar, blond wie das meines Vaters, ward schwarz gefärbt, und so zogen wir dahin, tagelang in kleinen Märschen durch das Land. Wie spähte ich umher, um vielleicht eines der Merkzeichen wieder zu finden, die ich mir damals eingeprägt – immer vergeblich, obgleich ich häufig glaubte, irgend etwas wieder zu erkennen. Oefters geschah es mir, daß ich meinte, dies oder das Parkthor sei es, durch welches ich ein- und ausgefahren; ja, und hinter ihnen sah ich oftmals Teiche und Bäche, jenen ähnlich, große Rasenplätze, alte Schlösser, ganz wie das, wo ich jene Nacht zugebracht. Doch fand ich bei näherer Besichtigung beständig irgend eine Verschiedenheit: bald fehlte die Steintreppe vor dem Portal, bald die Fenster auf den Hof hinaus, deren Form ich nicht vergessen. – Endlich aber, durch einen sonderbaren Zufall fand ich, was ich suchte; ich hatte lange einen Park mit hohen Mauern sehnsüchtig umkreist, der Pförtner wollte dem Zigeuner keinen Einlaß gestatten, da kam ich an eine Stelle, wo ich lustige Kinderstimmen [140] vernahm; die Federbälle flogen in die Höhe, endlich einer zu mir herüber. – O schade! er ist fort, rief es drinnen; ich aber eilte mit meinem Fund zu dem Pförtner, und übergab ihm denselben. Er wollte mich beschenken, doch bat ich ihn nur um die Vergünstigung, die Gärten sehen zu dürfen; sein Knabe begleitete mich.

Ja, dies war das hohe Steinthor von Bäumen überschattet, die geschlungenen Wege, die dichten Gebüsche, zwischen welchen ich in jener Nacht den Fackelschein gesehen, als mein Vater wegritt. Wie klopfte mir das Herz, ich wäre gern nach dem Schlosse geeilt, aber ich mußte meinem kleinen Führer folgen, der zuerst den Federball abgeben sollte. Wir kamen auf einen schönen Rasenplatz mit Blumen umgeben, dort spielten zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen von fünf bis sechs Jahren, die Eltern standen dabei; eine Dame in tiefer Trauer schaute den Spielen ihrer Kinder zu. Sie dankte mir, und während sie mit mir sprach, betrachtete ich die kleinen schönen Kinder. Ich weiß nicht, es war mir so eigen zu Muth, eine unaussprechliche Wehmuth überwältigte mich, ich hätte laut aufweinen, vor die Kinder hinknieen, ihre feinen Hände, ihre blonden Haare küssen mögen. Waren es doch die Bilder meiner Vergangenheit und der meiner Schwester – oh! dies mußte der Park meines Vaters sein. Wie hätte auch ich spielen können, froh und heiter, einer glücklichen Zukunft entgegen! und obendrein sah das kleine Mädchen meiner armen Schwester ähnlich. –

Jetzt rief die Dame die Kinder zu sich, wir schlichen uns fort, ich nicht, ohne vielmal rückwärts zu schauen. – Aber nun zum Schlosse hin! – Ja, es war dasselbe, die Steintreppen, die Fenster, ich erkannte es wieder an dem Schlagen meines Herzens. Was hätte ich darum gegeben, sein Inneres betreten zu dürfen! Aber dies wurde mir nicht gestattet; ich fragte den Kleinen aus, ob droben schöne Zimmer seien. – Ja, sagte er. – Mit dunkeln Holzdecken? fuhr ich fort, und eines, in welchem sich viele schöne Messer und Degen befinden? – Ja, ja, entgegnete er mir; der Vater hat es [141] mir schon oft gezeigt, wenn die Herrschaft abwesend war. – Und die Herrschaft? fragte ich zögernd, ist sie im jetzigen Augenblicke hier? – Ei, meinte er, wir haben die Lady ja drunten gesehen, und auch die Kinder, die Dame in Trauer, denn der Lord K., unser Herr – Sprich! sprich! rief ich. – Der Herr des Hauses also – er verunglückte vor einem Jahr auf der Jagd, er starb nach einem heftigen Sturz mit dem Pferde. – Das war mein Vater.

Ohne ein Wort weiter zu sprechen, ging ich durch den Park zurück, grüßte den Pförtner und trat in's Freie. Welch schreckliche Räthsel umgaben mein Leben! Ich hatte die Frau meines Vaters gesehen, die doch nicht meine Mutter war – seine Kinder – meine Geschwister und mir doch fremd. – Wir blieben die Nacht in einem benachbarten Dorfe, und da erfuhr ich die Geschichte des Schlosses und meine eigene. Vor acht Jahren, erzählte man mir, sei der junge Lord auf eine höchst liebreiche Einladung seines Vaters aus Italien zurückgekehrt, mit seiner jungen Frau und zwei Kindern. Gleich nach seiner Ankunft war indeß durch seines Vaters Einfluß seine Ehe für ungiltig erklärt und cassirt, die Mutter nach Hause geschickt und über die Kinder als uneheliche disponirt. Der Sohn schien sich, wider Erwarten, ohne viele Mühe den Ansichten seines Vaters gefügt zu haben, denn nicht lange darauf heirathete er eine reiche Erbin.

So war ich also ausgestoßen, ohne Namen, ohne Familie. Meine Mutter, hieß es, sei nach Italien zurückgegangen; wo aber war meine Schwester? Mir schien es am gerathensten, um eine Spur der Verlorenen zu finden, meine Schritte nach Sicilien zu wenden. Doch – lachen Sie über mich – ich konnte mich nicht so schnell entschließen, meine bisherigen Freunde zu verlassen; ich gestehe es Ihnen: ich hatte Geschmack an dem wilden Leben gefunden; auch fehlten mir die Mittel, um mich von ihnen trennen zu können. Daß mein Herz zerrissen war, brauche ich Ihnen nicht [142] zu sagen, auch nicht, daß ich den ganzen Leichtsinn meiner Jugend zusammen nehmen mußte, um mich zu betäuben; ich durfte nicht zu mir selbst kommen, ich durfte nicht ruhig überlegen, was ich hätte werden können, werden müssen, und was ich geworden war. – Ah!« rief er nach einer Pause mit schmerzlicher Stimme, »wenn diese Gedanken kamen, so riß ich in meinen Haaren, so rannte ich mit dem Kopfe gegen die Mauer, so zog ich mein Messer aus der Scheide. –

Richtig,« fuhr er gleich darauf mit dem ihm eigenen Lächeln fort, »von dem Messer muß ich Ihnen noch sagen, daß es dasselbe war; ich hatte es in jenem Dorfe, wohin es, wer weiß durch welchen Zufall, gekommen, an mich gebracht.«

Hier schwieg der Erzähler, zog sein duftendes Taschentuch hervor, wischte sich damit sorgfältig den blonden Schnurrbart und drückte es alsdann vor die Augen. Als er die Hand wieder niedersinken ließ, war der Ausdruck seines Blickes unaussprechlich weich, ja traurig. Er streckte seine Rechte dem Zuhörer entgegen, der sie mit beiden Händen umfaßte und innig drückte. – »Wenn Sie wüßten,« sagte er darauf mit weicher Stimme, »wie wohl es mir thut, wie es mein Herz erleichtert, endlich Jemand gefunden zu haben, zu dem ich ohne Rückhalt sprechen kann! Aber hören Sie mich, mein Freund, – wenn ich meine Vergangenheit in Ihr Herz niederlege,« dies sprach er mit festerem Tone, »so muß es sich darüber schließen, wie das Grab über dem Todten, wie die Woge des Meeres über dem Versunkenen. Geloben Sie mir dies und ich werde fortfahren. Aber ehe Sie es thun, glauben Sie meiner Versicherung, daß Sie das Aergste aus meinem Leben noch nicht gehört! – – Sind Sie stark genug,« sagte er nach einem augenblicklichen Stillschweigen mit gefälligerem Ausdruck der Stimme, »meine kleinen Geheimnisse bewahren zu können, so reichen Sie mir Ihre Hand, – Worte bedarf es weiter nicht.«

[143] Mit tiefer Bewegung ergriff Herr Beil abermals die dargebotene Rechte, drückte sie innig und der Baron fuhr fort:

»Von da an wurde ich der Tollste der ganzen Zigeunerbande; ich muß Ihnen sagen, daß man mich bis jetzt von gewissen Geschäften und Vorfällen beständig fern gehalten. Ich hatte meinen Unterhalt auf anständige und ehrliche Weise verdient, jetzt aber ließ ich den Hauptmann merken, daß ich nicht abgeneigt sei, auch an andern interessanten Unternehmungen Theil zu nehmen. Daß er bei dieser Erklärung vor Freuden außer sich war, schmeichelte meiner Eitelkeit; er hatte aber auch alle Ursache dazu, denn trotz meiner damals noch feineren und schlankeren Gestalt nahm ich es, was Kraft anbelangt, mit Vieren auf, und wo mich Gewandtheit und List unterstützen konnten, fürchtete ich mich nicht vor einem Dutzend. Natürlich mit kleineren Geschichten wollte ich mich nicht abgeben; ich sehnte mich nach etwas Großem, wo es Muth galt und Gefahr zu finden war.

Wir zogen weiter, und wenige Tage nachher nahm mich der Hauptmann bei Seite und sagte: Wenn du etwas wagen willst, so können wir über vierundzwanzig Stunden reiche Leute sein. Natürlich willigte ich mit Freuden in Alles. – Heute Nacht, sprach er, geht einer der reichsten Gutsbesitzer des Landes nach der Hauptstadt; er wird einige Bedienten bei sich haben, aber auch eine große Menge Geld; wollen wir von den Andern mitnehmen oder wollen wir Beide es allein wagen? – Wir Beide allein, entgegnete ich ihm. Er war damit einverstanden. Die Nacht kam, wir nahmen die besten Pferde und ritten gut bewaffnet aus; es ging über eine Haide hinweg, das Wetter war stürmisch, der Wind pfiff über die Ebene, wir konnten kaum unsere Hüte halten. In einer kleinen Niederung, die mit Gebüsch bewachsen war, hielten wir. Es mochte Mitternacht sein, als wir von fern her das Rollen eines Wagens vernahmen; er kam näher, vierspännig mit zwei Postillonen und zwei Bedienten auf dem Außensitz. Ich sprengte an die vordern [144] Pferde und riß den einen Postillon vom Sattel, der Hauptmann an den Schlag, indem er Halt! rief. Obgleich der Wagen augenblicklich hielt, knallten doch von allen Seiten Schüsse, die wir übrigens nicht beantworteten. Während der Hauptmann den Wagen bewachte, glitt ich zur Erde, zog auch den andern Postillon herab, ohne ihm ein Leides zu thun, und zwang die Beiden mit vorgehaltener Pistole, die unruhigen und schlagenden Thiere auszuspannen, die nun augenblicklich das Weite suchten. Daß ihnen ihre Reiter in größter Angst zu Fuß folgten, hinderte ich durchaus nicht, ja es erschien mir so komisch, daß ich ihnen ein lautes Gelächter nachsandte.

Der Hauptmann hatte unterdessen gute Arbeit gemacht; er zwang die beiden Bedienten ruhig auf ihrem Sitz zu bleiben, und ich trat nun an den Schlag des Wagens, hatte aber dabei die Vorsicht, im nächsten Augenblicke, nachdem ich mich gezeigt, auf die Seite zu springen, was sehr nothwendig war, denn der entschlossene Besitzer des Wagens schoß zweimal nach mir; die Kugeln pfiffen an meinem Kopfe vorüber. Natürlich bat ich ihn jetzt sehr ernst und dringend, dergleichen zu unterlassen, und zog ihn aus dem Wagen hervor. Es war ein alter Herr, und da er ein lahmes Bein hatte und sein Krückstock im Wagen geblieben war, so mußte ich ihn auf einen Stein an der Straße niederlassen, was ich auch behutsam that, denn ich hatte mein kaltes Blut durchaus nicht verloren, die Expedition kam mir sehr ungefährlich vor. – Denken Sie sich aber, wie mir zu Muthe ward, als ich nun die Wagenlaterne herunter nahm, als der Schein derselben auf das Gesicht des alten Mannes fiel und ich trotz der langen Jahre und des einmaligen Sehens jene harten, starren Züge wohl erkannte. – Das Geschäft des Wagendurchsuchens, das Herausnehmen der Cassetten und Brieftaschen überließ ich dem Andern; ich stand neben dem alten Manne und dachte an jene Nacht, wo wir uns zum ersten Male gesehen. Ja, wir konnten so nicht scheiden; er mußte mich wieder erkennen, er mußte erfahren, daß das Schicksal zuweilen strenge Gerechtigkeit [145] übt. Ich zog langsam ein breites Messer hervor, und als er das sah, zuckte er zusammen; doch hielt ich es ihm nur leicht vor die Augen und bat ihn, in seinem Gedächtnisse um acht Jahre zurück zu gehen. Erinnern Sie sich, sagte ich mit ruhiger Stimme, jener Nacht in dem Schlosse, das Sie vor nicht vielen Stunden verlassen, jener Nacht, wo Ihr Wille eine ganze Familie aus einander riß, wo Sie den Vater zu einem Verbrechen zwangen, die Mutter in's Elend verstießen, die Kinder, Ihre eigenen Enkel, des ehrlichen Namens, des Vermögens, des Fortkommens beraubten, in das Elend hinaus jagten, dem Laster in die Arme warfen. – Ja, dem Laster; denn ich, der jetzt an Ihrer Seite in dem Wagen fahren sollte, um Sie – setzte ich zähneknirschend hinzu – bei einem ähnlichen Vorfalle wie der heutige zu vertheidigen, ich, damals jener Knabe, den Sie dieses selbe Messer handhaben sahen, stehe jetzt vor Ihnen als Straßenräuber und könnte vielleicht Ihr Mörder sein, wenn mir das Schicksal Ihr Herz gegeben hätte.« –

»Schrecklich, schrecklich!«

»Das ist allerdings schrecklich,« fuhr der Erzähler ruhig fort, »Der Andere hatte unterdessen die Cassetten auf den Boden niedergestellt und leerte sie mit großer Behendigkeit in einen Sack, den er zu diesem Zwecke mitgenommen. Wir sehen uns wohl niemals wieder, sprach ich zu dem alten Herrn, es sei denn, daß es Ihnen einfallen sollte, die Gerichte dafür gegen mich aufzurufen, daß ich mir mein rechtmäßiges Erbtheil genommen; – in dem Falle freilich und wenn Sie versuchen sollten, mich noch tiefer zu stürzen, würde ich Ihnen wieder und dann auch meine Mutter rächend vor Augen treten. Er gab begreiflicherweise keine Antwort, doch ließ er den Kopf tief auf die Brust herab hängen. Dachte er vielleicht über das Unrecht nach, welches er mir zugefügt, oder zürnte er über seine eigene Ohnmacht, mich in diesem Augenblicke nicht vernichten zu können?

Die Pferde waren beladen, ich steckte mein Messer langsam [146] in die Scheide, wir schwangen uns auf, und obgleich mein Begleiter in vollem Galopp davon wollte, nöthigte ich ihn doch zu seiner Verwunderung, im Schritt zu reiten; und so zogen wir langsam querfeldein zum großen Erstaunen der Bedienten, denen gewiß noch nie dergleichen vorgekommen war. Wir ritten noch eine Stunde durch die Nacht bis zu den Ruinen einer alten Abtei, die dem Zigeuner wohl bekannt war. Dort saßen wir ab und untersuchten unsern Raub. Er war über alle Maßen beträchtlich; zu gleichen Hälften getheilt, bildete er für Jeden ein ansehnliches Vermögen. Wir nahmen diese Theilung rasch vor, und das Einzige, was ich für mich allein in Anspruch nahm, war, daß ich nur Papiere und Banknoten nahm und meinem Begleiter dafür den Goldwerth ließ. – Ich kann Sie versichern, der arme Kerl, der sich doch ein wenig vor dem Galgen fürchtete, war überglücklich, nachdem ich ihm mein Verhältniß zu jenem alten Herrn aus einander gesetzt und ihm dabei die Versicherung gegeben hatte, er könne das heute Nacht Eroberte ruhig genießen und sei nun für die Zukunft ein gemachter Mann; er war überglücklich, keinen Raub begangen zu haben, und Sophist genug, um sich zu überreden, daß wir nur meinen rechtmäßigen Erbantheil vom Vermögen meines Großvaters getheilt.

Natürlicherweise trennten wir uns darauf auf Nimmerwiedersehen; er ging zu den Seinigen zurück, mich aber trieb es aus England fort, und nachdem ich mein Vermögen geordnet, schiffte ich mich nach dem Continent über, um so schnell als möglich nach Sicilien zu gehen. In Paris aber hatte ich den klugen Einfall, nach Palermo schreiben zu lassen, und erhielt nach einiger Zeit sehr untröstliche Nachrichten von da. Von meiner armen Mutter und meiner unglücklichen Schwester hatte man keine Spur. Das Unglück, welches uns betroffen, war dort nicht einmal in seinem vollen Umfange bekannt; es hieß, mein Vater habe sich von der Mutter scheiden lassen, worauf sie mit einem großen Theil ihres Vermögens England verlassen und nach Deutschland gegangen sei. [147] Unsere Verwandten in Palermo, so schrieb mein Sachwalter, liebten es übrigens sehr, uns förmlich zu ignoriren, und wenn uns nicht dringende Veranlassungen dazu trieben, riethe er uns, nicht nach Palermo zurückzukehren.

So war mir also auch meine eigentliche Heimath verschlossen; ich hatte Niemand mehr, dem ich mich anvertrauen, dem ich mein Schicksal erzählen, von dem ich Trost und Hülfe erwarten konnte. O, ich fühlte mich einsam und elend; ich war auf dem Punkte, den gleichen Schritt zu thun, wie Sie; aber auch mich hielt ein Geist zurück, doch war es mein eigener, der mir, als ich mich über das Brückengeländer hinüber lehnte, wie höhnend zurief: also feige willst du die Welt, deine Feinde, die Menschen verlassen, willst keine Vergeltung üben für all das Unrecht, welches man dir gethan! – Trotze deinem Schicksal, trete ihm entgegen, setze ihnen die Ferse auf den Nacken, wie sie es dir gethan, lebe als freier und unabhängiger Mensch; denke an jene Zeit, wo du ein solcher warst, wo du auf flüchtigem Pferde über die Haide jagtest, wo deiner Hand jede Blüthe, jedes unschätzbare Gut, das eine Menschenseele vergeben kann, erreichbar war, denn du hattest den Muth, darnach zu greifen! – So sprach es in mir, so klang es fort und fort in meinem Herzen und ich folgte der verlockenden Stimme. Reich, wie ich war, warf ich mich in das Leben der großen Hauptstadt, lernte mich bewegen in den höchsten Kreisen und knüpfte dort Verbindungen an; aber ich griff auch tiefer hinab in die Schichten der Gesellschaft und erwarb mir auf den untersten Stufen derselben Bekannte, ja Freunde. – Sie sehen mich mit großen Augen an, aber ich sage Ihnen die reine Wahrheit; wenn ich Nachts, von einer glänzenden Soirée kommend, aus meinem Wagen stieg, meine reiche Toilette von mir warf, die Blouse anzog, mein Haar auf eigentümliche Art ordnete, so hätte mir jede der vornehmen Damen, mit denen ich vorhin getanzt, gerne ein Almosen geschenkt, ohne mich zu erkennen.«

[148] »Ah!« machte Herr Beil.

»Und glauben Sie ja nicht, daß ich mich ungern in diesen untern Kreisen bewegte! Da sieht man die Menschen in ihrer natürlichen Herzensgüte, wie auch in ihrer natürlichen Schlechtigkeit, ohne Schminke, ohne Verstellung; aber man muß ihren Kreis nicht als fremdes Element tangiren, man muß zu ihnen gehören, dann genügt ein Wort, ein Handschlag, und dem, welcher Aufopferung für sie zeigt, gehören sie mit Leib und Seele. – O, das war für mich ein entzückendes Leben, unsichtbar wie ein Geist durch alle Stufen der Gesellschaft zu schweben, aufwärts und abwärts; ich war allwissend und allmächtig, keine geheime Polizei erfuhr und konnte leisten, was ich vermochte. Ich sah die Fäden von tausend Intriguen vor mir spielen, ich knüpfte sie an, wo es mir gefiel, und zerriß sie, wenn es mir beliebte; die geheimsten Geschichten lagen offen vor mir da, ich beförderte ihren Lauf oder hemmte ihn, je nachdem es mir einfiel; ich war Herr und Gebieter über Tausende von Sklaven.«

– »Und das waren Sie oder sind es noch?« fragte der Andere mit gepreßter Stimme.

»Ich bin es noch,« entgegnete der Erzähler, indem er sich stolz aufrichtete und seinem Gegenüber fest in die Augen sah. »Ja, ich bin es noch und läugne es Ihnen, dem ich eine offene Beichte über mein ganzes Leben abgelegt, nicht.«

»Also doch! also doch! – Verzeihen Sie, gnädiger Herr, meine Ueberraschung, mein Erstaunen, ja meinen Schrecken, denn Sie erscheinen mir so plötzlich als ein räthselhaftes Wesen, das in finstern Schatten bei uns vorbeischwebte und jetzt auf einmal an's Licht tritt, – fast ein Gespenst. – Ja, ein Gespenst,« fuhr er entsetzt fort, indem er sich langsam empor richtete und starr in die glänzenden Augen sah, welche der Andere fest auf ihn gerichtet hielt. – »Gewiß ein Gespenst und dasselbe, welches mir damals am Kanal erschienen. – Aber ich bin kindisch,« fuhr er nach einer Pause mühsam lächelnd fort, wobei er sich über die feuchte Stirne [149] strich, »Sie sitzen ja körperhaft vor mir, und jenes Phantom – war ja auch kein Phantom, – Sie waren es.«

»Ja, ich war es, mein Freund,« entgegnete der Erzähler; »ich war es, der Ihr Leben rettete, der Ihren Leib und Seele erhielt; und wenn ich sage, daß ich Sie für mich erhielt, so geschah es ja nur, um einen Freund zu gewinnen, der fern von meinem wilden Treiben steht, dem ich mein Inneres eröffnen konnte, der mir in vorkommenden Fällen seinen guten Rath nicht vorenthalten wird. – O seien Sie ganz ruhig, ich werde Sie nie in den finsteren Kreis ziehen; dies Haus, dieses Zimmer sollen rein bleiben wie die Seele des Kindes, das dort drinnen so ruhig schläft.«

»Und dieses Kind – es ist das Ihrige?«

»O nein,« sagte der Baron mit trübem Lächeln, »so glücklich bin ich nicht. Hören Sie mich noch einen Augenblick an; bald bin ich mit meiner Geschichte zu Ende. – Anfänglich glaubte ich, ich könnte von dem seltsamen Leben, das ich angefangen, ebenso leicht wieder lassen, wie man ein Kleid wechselt, wie man einen Handschuh auszieht. Das wollte ich auch, ich verließ Paris und ging nach Deutschland. Aber obgleich ich mich in der ersten Zeit fern von Allem hielt, was mich früher so sehr belustigte, so dauerte das doch nicht lange; wie ich Ihnen schon gesagt, ich konnte es nun einmal nicht lassen, unsichtbar lohnend und strafend in die Geschicke der Menschen, die mich interessirten, einzugreifen. Das Erstere that ich übrigens häufiger und ich konnte es. Sie werden mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß ich von meinem Treiben und meinen Verbindungen nie den geringsten Vortheil zog, nie – nie, obgleich dem Unsichtbaren ungeheure Summen geboten wurden, obgleich große Vermögen zu meinen Füßen rollten. Ein Verschwender war ich nie; was ich besaß, mehrte sich auf rechtliche Weise, statt abzunehmen, obgleich ich dem Elend mit vollen Händen half, wo ich konnte. Da befand ich mich in W. und unter vielen scandalösen Geschichten, welche die reichen jungen Leute, mit denen ich verkehrte, [150] erzählten, interessirte mich eine ganz besonders: es war das ein förmlicher Sklavenhandel. Eine Mutter, so hieß es, hatte ihre eigene Tochter um eine beträchtliche Summe verkauft, das Mädchen aber habe eine andere Neigung und sei in Verzweiflung. Das war ein Fall, für den ich da war; meine erste Idee war, das arme Geschöpf entführen zu lassen, ihr eine Existenz zu gründen, sie, wenn möglich mit ihrem Geliebten zu vereinigen. – Unmöglich! Denn leider stand dieser Freund durch Rand und Stand so weit über ihr, daß an eine Verbindung nicht zu denken war. Ich beschloß, mich also bei ihr einzuführen, und das that ich auch.« – Bei diesen Worten athmete der Erzähler tief und schwer, und als er darauf mit der Hand über seinen Bart strich, zitterte diese leicht; auch hatte er die vorigen Worte nur mühsam hervorgebracht.

– »Ich ging also dorthin. Um einen Vorwand war ich bei dergleichen nie verlegen, ich betrat ohne lange zu fragen ihr Zimmer, ich fand das Mädchen allein, ein Schauer durchflog meinen Körper, meine Zähne schlugen in Fieberfrost zusammen, – ja, es konnte nicht anders sein, ich fand die Züge des Kindes in der Erwachsenen wieder – ich stand vor meiner Schwester, – gerechter Gott! vor meiner Schwester, die von ihrer, von meiner Mutter der Schande verkauft war. – Aber nein, nein! so fürchterlich sollte es nicht kommen, gehen wir mit wenigen Worten darüber hinweg. Ja, meine Schwester war es; aber meine arme Mutter war längst gestorben; sie hatte ihr Kind aufgesucht und es auch glücklich in Schottland gefunden; sie hatten ein kümmerliches Leben geführt, meine Mutter hatte mit ihren zarten Händen Tag und Nacht gearbeitet, um sich und ihr Kind auf ehrliche Art zu erhalten; aber alle die schrecklichen Verluste, die sie erlitten, das Andenken an meinen Vater, der sie so entsetzlich mißhandelt, – an mich, den sie todt geglaubt, hatten ihre Gesundheit zerstört. – Nach ihrem Tode stand meine Schwester rathlos da, irgend ein Zufall brachte sie zu jener Frau, die sich heute ihre Mutter nannte, die sie sorgfältig [151] erzog, aber damals schon berechnete, das schöne geistreiche Mädchen werde sich einstens selbst bezahlt machen.

Daß ich mit dieser Dame eine starke Unterredung hatte, können Sie sich denken; die für meine Schwester verlangte Summe gab ich ihr und nahm das arme Geschöpf mit mir, – ja, das arme Geschöpf, – denn es waren Sachen vorgefallen, die mich nöthigten, ein Jahr lang mit ihr in tiefster Verborgenheit zu leben. Sie wurde Mutter eines Kindes, eines Knaben – und was soll ich's verschweigen? – desselben, der jetzt unter Ihrer Aufsicht lebt und den Sie deßhalb nicht weniger lieben werden, weil seine Geburt keine legitime ist.«

Die Versicherung des Herrn Beil, daß er das Kind vielleicht noch mehr lieben werde, weil es ohne rechtmäßige Ansprüche an einen väterlichen Schutz so allein in der Welt stehe, schien der Baron gar nicht zu hören. Er hielt beide Hände vor das Gesicht und saß so eine Zeit lang in sich versunken da. Als er wieder empor schaute, seufzte er tief auf und sagte: »Glauben Sie mir, ich hätte lieber das Grab meiner Schwester gefunden, als sie selbst auf diese Art. Ich erzählte Ihnen schon, wie ich sie als ein kleines Mädchen geliebt. Und diese Liebe hat mit den Jahren zugenommen; in meinen Träumen sah ich sie vor mir, wachsend, größer und schöner werdend, liebenswürdig und verständig, wozu sie schon als Kind so schöne Hoffnungen gab. Ach! ihr Kind hat mich vor Vielem bewahrt, namentlich vor einem wilden Leben und vor manchen unüberlegten Handlungen. Ich will es Ihnen offenherzig gestehen: obgleich ich viele Abenteuer hatte, habe ich doch nie geliebt; denn so oft ich mein Herz einem weiblichen Wesen zuwenden wollte, trat mir das Bild meiner Schwester vor die Seele und daneben erblaßte alles Andere. Es war wohl mit das schreckliche Unglück unserer Jugend, was mich so fest an sie hinzog. Einmal,« fuhr er nach einer Pause lächelnd fort, »und es ist noch gar nicht lange her, da traf ich mit einem armen Geschöpfe zusammen, mit[152] einem Mädchen, das blonde Haare hatte, wie meine Schwester und auch einen Zug in ihrem Gesichte, der mich an diese erinnerte. Das durchzuckte mich wunderbar, und wenn ich dem Mädchen früher begegnet wäre – aber das sind nur Phantasieen! – gehen wir weiter!

Nachdem das vorüber, reiste ich mit meiner Schwester nach Sicilien und machte dort eine Klage gegen meinen Großvater in England anhängig; ich wußte wohl, daß dabei nichts zu gewinnen war, doch prozessirte ich nur in der Absicht, um einen Namen für meine Schwester zu erhalten. Dies gelang mir auch; man erklärte sie für berechtigt, den Familien-Namen unseres Vaters zu führen: ich für meinen Theil verzichtete darauf: der Enkel des Lord K. war todt und verschollen; auch meiner Schwester konnte ich nützlicher sein, wenn ich ihr, sie unsichtbar schützend, zur Seite stand. Wer wußte auch, wenn wir den gleichen Namen führten, ob sie nicht vielleicht dadurch in Sachen verwickelt werden konnte, die ihr fern zu halten meine heiligste Pflicht war. Daß ich mein Vermögen redlich mit ihr theilte, brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen. – Und nun bin ich zu Ende, aber gerne bereit, Ihnen irgend welche Fragen zu beantworten, die Sie an mich zu richten für gut finden. Fragen Sie mich ohne Scheu!«

»Wenn ich das thue,« sprach Herr Beil nach einigem Zögern, »so ist es nicht Neugierde, die mich treibt; doch möchte ich erfahren, ob die Mutter des Knaben seinen Aufenthalt weiß, ob es ihr erlaubt ist, ihn zu sehen.«

»Das Letztere kann ich Ihnen noch nicht sagen, – meine Schwester verheiratete sich, sie machte, was die Welt eine glänzende Partie nennt; doch lebt sie kinderlos bei dem alten Gatten und immer noch hängt ihr ganzes Herz an dem Knaben.«

»Und wie habe ich mich zu benehmen, wenn sie einen Versuch machen wollte, das Kind zu sehen? – Sie sagten mir selbst, man forsche demselben von an dern Seiten nach.«

[153] »Ganz recht, daß Sie daran denken; sollte Sie also eine Dame zu sprechen und das Kind zu sehen verlangen, so fragen Sie, ob sie schon länger in hiesiger Stadt sei; gibt man Ihnen zur Antwort, sie komme soeben von einer Reise nach England zurück, so können Sie ihr das Kind getrost in die Arme führen.«

»Doch nun ist es Zeit, daß ich mich entferne,« sagte der Baron nach einer Pause, indem er sich erhob – »meine Pferde schaudern, der Morgen dämmert auf, kann ich Ihnen mit Mephisto zurufen; ich habe Sie einen wilden Traum durchträumen lassen; ich führte Sie auch über öde Haiden und selbst ein wenig am Rabenstein vorüber. – Adieu, mein Freund, denken Sie, daß ich ganz der Ihrige bin. Gebieten Sie über mich: soll ich etwas für Sie erlangen in der niedrigsten Hütte oder am Throne des Königs, ich werde es thun. – Leben Sie wohl! Sobald es mir möglich ist, suche ich Sie wieder auf. Sollten Sie etwas dringendes für mich haben, so wissen Sie ja meine Wohnung.« – Hierauf drückte er dem Herrn Beil herzlich die Hand, verließ das Zimmer und gleich darauf das Haus.

Dieser trat an's Fenster und blickte dem Baron lange nach, wie er leicht und gewandt über die Straße dahin schritt und bald um die nächste Ecke verschwunden war. Ja, der Morgen dämmerte auf, ein trüber, kalter Wintermorgen; am Himmel jagte der Wind graue Wolken, welche, über die Stadt hinwegfliehend, zuweilen einzelne Schneeflocken hernieder flattern ließen. Die Windfahnen drehten sich kreischend, zwischen den entfernteren Häusern lag ein feiner frostiger Duft, und an einem Brunnen, der sich gerade dem Hause gegenüber befand, hatten sich seit einigen Stunden ziemliche Eiszapfen gebildet. Draußen war es unbehaglich, aber im Zimmer strömte der Ofen eine angenehme Wärme aus. Herr Beil löschte die Kerze aus, die Flamme derselben konnte dem hereindringenden Tageslicht nicht mehr widerstehen und brannte mit dunkelrother Gluth. Nachher fuhr er sich mit der Hand über das Gesicht und [154] es war ihm zu Muth, als habe er wirklich einen wilden Traum geträumt oder als habe er während der Nacht ein seltsames Buch gelesen, eine Räubergeschichte, wie sie eigentlich nur in Romanen vorkommt. Er versank in tiefes Nachsinnen und war ordentlich froh, als bald darauf eine helle Kinderstimme an sein Ohr schlug, die laut und lustig rief: »Onkel Beil, ich bin erwacht und möchte gern aufstehen!«

65. Kapitel
Fünfundsechzigstes Kapitel.
Ein gefährliches Papier.

Der Doktor Eduard Erichsen hatte in seinem sogenannten Studierzimmer einen alten ledernen Lehnstuhl, den er bei guter Laune seinen olympischen Dreifuß zu nennen pflegte. Es war ein ehrwürdiges Möbel, das er, von jeher ein geordneter Mann, sich schon auf der Universität angeschafft hatte, und von dem sich zu trennen ihm unmöglich war. Der Lehnstuhl war ziemlich altmodisch, mit einem Leder überzogen, dessen Farbe nicht mehr zu erkennen war, und glänzte an verschiedenen Stellen wie polirt. Ach! wie oft hatte er seinem Herrn freundlich die alten Arme geöffnet und ihn aufgenommen bei Lust und Schmerz; wie viele Gedanken hatten, hier ruhend, schon des Doktors Kopf durchzogen. Bei gewöhnlichen Veranlassungen brauchte er ihn selten, aber sowie es eines reiflichen Nachdenkens bedurfte, sei es über einen schwierigen Krankheitsfall, sei es über irgend eine Familienangelegenheit, so vergrub sich Herr Erichsen gern in die alten Kissen. Auch seinen Platz hatte der Stuhl schon oft wechseln müssen; als sein Besitzer einstens krank und wieder auf dem Wege der Besserung war, stand er so, daß die ersten Strahlen der Morgensonne über ihn und den Genesenden hinspielten; auch in dem Schlafzimmer war er früher häufig, der [155] Doctor hatte ihn gleich zu Anfang seiner Ehe neben das Bett seiner Frau gerollt, und das waren damals seine seligsten Augenblicke gewesen, wenn er aus Geschäften oder von Gesellschaften spät heimkehrend noch mit ihr eine angenehme Stunde verplaudern konnte. Ja, damals hatte der Stuhl eine große Rolle gespielt: auf ihm hatte der glückliche Vater zum ersten Mal seinen kleinen Oskar in den Armen gewiegt, auf ihm hatte die junge schöne Mutter zum ersten Mal nach jener verhängnißvollen Zeit ausgeruht, und zum ersten Mal ihr Kind recht innig an die Brust gedrückt. Aber auch die kleinen Leiden seines Besitzers, die nachher so groß, ja endlich unheilbar werden sollten, waren auf eben diesem Stuhle überdacht worden, und es war, als ob das alte Möbel in der That eine beruhigende Kraft auf seinen Herrn ausübte: denn wenn dieser sich auch in der größten Erregung darauf niedergelassen hatte, so beschlichen ihn bald sanftere Gedanken, er wurde nachgiebiger, auch trauriger, wie das gerade eben kam. –

An alles Das dachte der Doktor, als er wieder einmal und sehr tief vergraben in den Lederkissen ruhte. Er hatte den Kopf auf die Brust herabgesenkt, die Augenlider halb geschlossen, die Hände gefaltet, und man hätte glauben können, er schlafe, wenn nicht zu weilen ein tiefer Seufzer seine Brust geschwellt und seinen Kopf gewaltsam emporgehoben hätte.

Es mochte zehn Uhr Morgens sein, und im Haus des Doktors, in welchem sich sonst um diese Zeit ein reges Leben bewegte, wo die Köchin in ihrer Küche hantirte, wo Kindsfrau und Stubenmädchen plaudernd oder singend ihre Arbeit thaten, wie die Thüre auf und zu ging, war es heute still wie auf einem Kirchhofe. In der Kinderstube befanden sich allerdings beide eben erwähnten Dienstboten, doch saß die Eine an diesem, die Andere an jenem Fenster, Beide machten lange Gesichter, schauten zwar verstohlen gegen einander hin, sprachen aber kein Wort. Selbst die Köchin machte nicht den geringsten Lärmen; sie stand an ihrem Herde vor [156] einem Kessel, in welchem das Suppenfleisch kochte, statt es aber abzuschäumen, wie wohl ihre Schuldigkeit gewesen wäre, hatte sie gedankenvoll den Schaumlöffel auf den Herd gestützt, blickte vor sich nieder und ließ die dampfende Brühe überlaufen.

Auf dem Gange zwischen den Zimmern sah es ganz fremdartig aus; da standen große und schwere lederne Kisten, auch Koffer und Hutschachteln, es war gerade, als wolle sich die ganze Familie auf Reisen begeben.

Kehren wir nun in das Zimmer des Arztes zurück, so finden wir ihn wie früher unbeweglich im Lehnstuhle ruhend und selbst nicht einmal Achtung gebend auf das Spielen der Kinder, die bei ihm im Zimmer waren. Und das Spiel, welches sie trieben, war doch der Mühe werth, mit angesehen zu werden. Oskar und Anna saßen am Boden und hatten zwischen sich einen Fußschemel, auf dem sich ein drittes Kind befand, ein ziemlich kümmerlich aussehendes Mädchen, das die erstaunten Blicke beständig im ganzen Zimmer umherlaufen ließ. Seinen Anzug hätte man komisch nennen können; es hatte ein einfaches, etwas ärmliches Wollenkleid an, darüber einen kleinen Sammetmantel, den ihm Oskar umgehängt, und auf dem Kopf einen zierlichen Spitzenhut, von Anna ziemlich schief darauf befestigt. Letztere hatte in der Hand eine große Tasse mit Kaffee, in welche Brod eingebrockt war, das sie dem Kind löffelweis in den Mund gab. Zuweilen nahm dieses davon, zuweilen aber schloß es die Lippen und wandte den Kopf so heftig auf die Seite, daß der Kaffee über das Kleid herabfloß und auch wohl über den schönen Sammetmantel; und dann rief Oskar und Anna wie aus einem Munde: »Papa! das fremde Kind ißt wieder nicht!«

Das fremde Kind schien sich übrigens bei dieser Abfütterung und der ihm bewiesenen allzu großen Aufmerksamkeit gar nicht heimlich zu fühlen; es blickte öfters erschreckt auf den Sammetmantel, schielte besorgt nach dem Spitzenhute, zuckte unruhig mit [157] den Füßen, als wolle es durch einen verzweifelten Sprung den Versuch machen, seine Freiheit wieder zu gewinnen, kurz es benahm sich wie ein kleiner Affe, den man eben eingefangen und bei welchem die erste Dressur probirt wird.

Jetzt hörte man, daß draußen die Glasthüre geöffnet wurde; rasche Tritte näherten sich, ihr Klang hörte aber auf Augenblicke auf, als betrachte sich der Ankommende die Koffer und Kisten im Gange, dann wurden sie eiliger wieder fortgesetzt, und nun öffnete sich hastig die Thüre, ohne daß vorher angeklopft worden wäre.

Arthur erschien auf der Schwelle und blieb kopfschüttelnd stehen, als er in das Zimmer blickte. – »Schöne Geschichten das!« rief er nach einer Pause, während welcher er die Thüre hinter sich zugedrückt und sich dem Lehnstuhl genähert hatte. – »Aber um's Himmels willen, Eduard, ist denn die Geschichte wahr? und du sagtest mir gestern nichts davon! Muß ich das heute Morgen von Alfons erfahren, der es beim Frühstück auf seine gewohnte Art mit Mama besprach.«

Der Doktor richtete den Kopf in die Höhe, ohne aber sonst seine Stellung zu verändern. – »Ich wollte gerade zu dir hin, Arthur,« entgegnete er mit weicher Stimme, »mein Wagen steht unten schon eingespannt; aber ich gerieth hier an meinen alten Freund, und der hielt mich fest durch Träumereien und Erinnerungen.« –

»Aber sage,« fuhr der Andere dringender fort, »will sie wirklich nicht zurückkehren? Mama hatte ihr doch den Kopf zurecht gesetzt und sie schien ihr Unrecht einzusehen.«

»Sie schien,« erwiderte Eduard traurig lächelnd, »das heißt sie gab der Mutter nach ihrer gewöhnlichen Art keine Antworten, als sie aber euer Haus verlassen, schrieb sie mir, es sei für uns besser, wenn sie auf ihrem Entschluß beharre. Da lies dies merkwürdige Schreiben; ich weiß nicht, ob Herr Alfons auch davon Kenntniß hat.«

[158] Der Maler durchflog das ihm dargereichte Papier und warf während des Lesens mehrmals einen Blick auf die Kindergruppe. Dann faltete er das Schreiben zusammen, gab es seinem Bruder zurück und versetzte achselzuckend: »Was weiß der nicht? auch darüber sprach er spottend und höhnend. Aber wie hing denn die ganze Sache eigentlich zusammen? – Ist dieß das Kind?«

Der Doktor nickte mit dem Kopfe, wobei er sagte: »Auf die einfachste Weise von der Welt. Du weißt von unserer großen Scene am Weihnachtsabend; den andern Tag fuhr sie zu ihrer Mutter, und die würdige Dame, statt ihre Tochter zurückzuschicken, oder selbst zu kommen, sandte ihren Sachwalter, denn sie fand sich in ihrer Tochter höchlich beleidigt. Darauf nun schrieb ich ihr einen Brief, – ich sage dir, einen Brief, der einen Stein hätte erweichen müssen. Nun, die Folge war denn auch die Unterredung mit der Mutter.«

»Richtig! richtig! Wie ist aber die Geschichte mit jenem Kind? Denn, so viel ich erfahren, fiel die nun dazwischen und warf Alles wieder auseinander.«

»Die ist an sich sehr einfach; aber weißt du, Arthur, wenn man einen Vorwand zu Verdächtigungen und Streitigkeiten sucht, so ist er sehr leicht gefunden. Auf seltsame Art machte ich an demselben denkwürdigen Weihnachtsabend die Bekanntschaft einer unglücklichen Person, die im höchsten Grade schwindsüchtig war, der böse Menschen ihr Kind geraubt, das sie aber wieder erhielt, und die ich, da sie wie gesagt, kränklich und von aller Hilfe entblößt war, regelmäßig besuchte und sie unterstützte so gut ich konnte.«

»Das ist an und für sich nichts Schlimmes.«

»Sie wurde aber täglich kränker, das Kind verkam ordentlich und als die Mutter vor ein paar Tagen starb, sah ich denn nichts Arges darin, die Kleine mitzunehmen und sie so lange hier zu behalten, bis ich eine passende Unterkunft für dieselbe gefunden. – Ist daran etwas Unrechtes?«

[159] »Für uns und alle rechtlich denkende Menschen nicht,« erwiderte Arthur und legte seine Rechte sanft auf die Schulter des Bruders. »Aber daß du damit willkommenen Anlaß zu neuen Anklagen gabst, das hättest du dir doch, bei Gott! vorstellen können. – Nicht wahr, anonyme Briefe wurden deiner Frau gesandt?«

»Versteht sich von selbst; und welches gemeinen und boshaften Inhalts, das kannst du dir gar nicht denken. Das war ein Verhältniß, das ich schon lange Jahre unterhalten, das natürlicherweise der Welt bekannt war, das man aber bis jetzt aus Schonung verschwiegen.«

»O schändlich! schändlich!«

»Endlich konnte aber der redliche Freund, der sich leider nicht nennen durfte, es nicht mehr über sich gewinnen, stillschweigend zuzusehen, wie eine unglückliche Frau so unverantwortlich von ihrem Manne betrogen werde.«

»Und die unglückliche Frau glaubte wohl selbst diese Geschichte nicht?«

»O sie glaubt sie wohl nicht, aber sie thut, als ob sie sie glaube. Ich machte gestern einen Besuch bei Mama's liebenswürdiger Freundin, der Tutelarräthin Wasser; sie war natürlicherweise zurückhaltend, so zu sagen mit Anstand gepolstert, und wehmüthig zum Ueberlaufen. Sie hatte meine Frau gesprochen und aus deren eigenem Munde jenes infame Gerücht vernommen.«

»Deine Frau hat es ihr gesagt!« rief Arthur entrüstet.

»Als Gerücht; aber meine Schwiegermutter hatte hinzu gesetzt: das fehle noch zu der schlechten Behandlung, der Madame bei mir ausgesetzt gewesen sei.«

»O, dann ist alles verloren!«

»Ja, das fühle ich auch. Du ersiehst ja aus dem Briefe, daß meine Frau die einleitenden Schritte zu einer Scheidung bereits gethan hat. O mein guter Name, meine armen, armen Kinder!«

»Bah!« rief der Maler entrüstet, »über deinen Namen beruhige [160] dich; an dem bleibt kein Makel hängen. Man kann dir kein Unrecht geben.«

»Den Frauen gegenüber haben wir in solchen Fällen immer Unrecht; alle Weiber nehmen für sie Partei, und man wird mich verarbeiten und zerreißen, daß kein gutes Haar an mir bleibt.«

»Aber was soll mit dem Kinde geschehen?«

»Ich weiß es nicht; hier kann ich es nicht behalten. Denke dir, Arthur, daß meine sämmtliche Dienerschaft mir in sittlicher Entrüstung den Dienst aufgekündigt hat.«

»Die Canaillen!«

»Die Kindsfrau meinte, sie habe sich bei anständigen und ehrlichen Kindern verdingt, sei aber nicht dazu gemacht, uneheliche Bälge aufzuziehen.«

»Das sagte sie dir in's Gesicht?«

»O nein; Franz, der Kutscher, hat es mir erzählt.«

»Und der?«

»Er bat mich zu gleicher Zeit um Erlaubniß, die drei Weibsbilder zum Hause hinaus werfen zu dürfen.«

»Die hätte ich ihm ertheilt.«

»Um noch mehr Skandal zu haben! Du wirst schon sehen, was die drei Weiberzungen von mir aussagen werden.«

»Ja, ja.«

»Die haben mein Verhältniß zu jener unglücklichen Person schon lange gewußt, oh! ganz genau gekannt. Glaube mir, Arthur, die werden mir einen schönen Namen machen. Und dagegen vermag kein ehrlicher Mann, keine Macht dieser Welt etwas.«

»Onkel Arthur!« rief Anna, »schau dir unser Kind an. Papa hat es für uns zum Spielen mitgebracht; wenn es einmal schöne Kleider bekommt und brav ist, so wird es unser Schwesterchen; nicht wahr, Papa?«

»In deinem Hut und Mantel,« sagte Oskar mit Kennermiene, »sieht es gerade aus, wie du, Anna.«

[161] »Verlangen die Kinder zuweilen nach ihrer Mutter?« fragte Arthur leise.

»Selten, eigentlich nie,« erwiderte traurig der Bruder. »Es ist ihnen etwas ganz Gewöhnliches, daß sie sie nicht sehen.«

»Hast du draußen die Kisten gesehen und die Koffer, Onkel Arthur? Wir verreisen; ich weiß es ganz gewiß.«

»Ja, wir gehen,« setzte Anna hinzu, »weit, weit fort.«

»Und haben heute Morgen schon eine Reise gemacht,« sprach der Knabe. »Anna gehört die große Kiste, mir der Koffer; das sind zwei Kutschen, in denen wir schon weit weg gefahren sind. Ich war der Fuhrmann; wo hast du meine Peitsche gelassen?« wandte er sich an die Schwester.

»Das geht nun seit gestern so fort,« sagte leise und traurig der Vater; »die armen, armen Dinger! Schon als eingepackt wurde, brachten sie auch von ihren Kleidern und Wäsche herbei und wollten nicht begreifen, warum die Sachen von Mama allein in die Koffer gelegt würden.«

»Quäle dich doch nicht selbst mit diesen Gedanken,« entgegnete Arthur. »Du bist weicher als die Kinder. Vor allen Dingen laß uns ruhig überlegen, was zu thun ist. Mama hat dir neue Dienstboten besorgt, nicht wahr?«

»Ja, sie kommen schon heute.«

»Nun denn, was denkst du mit dem Kinde da anzufangen?«

Der Doktor zuckte mit den Achseln. »Ich werde es in irgend eine ordentliche Anstalt thun,« sagte er.

»Das ist nichts,« erwiderte Arthur. »Hättest du es von seiner gestorbenen Mutter weg gleich in eine solche bringen lassen, so wäre es ganz gut gewesen. Aber jetzt, wo nun einmal die fatalen Gerede über dich in der Stadt gehen, würde das nur zu neuen Klatschereien Stoff geben. – Das Kind muß verschwinden, man muß es zu stillen, verläßlichen Leuten thun, die es vertrauensvoll aufnehmen, die es gut behandeln und weiter nicht darüber sprechen.«

[162] »Solche Leute sind selten,« meinte trübe lächelnd der Doktor.

»Wüßtest du Jemand?«

»Allerdings sind sie selten,« entgegnete der Maler und blickte nachdenkend zum Fenster hinaus; »sehr selten, aber es gibt noch gute, edle Herzen, die nach Kräften Gutes thun, ohne darüber zu sprechen, – edle Menschen, die ihren Nächsten lieben, namentlich wenn er in Noth ist.«

»Die sind schwer zu finden und zu erkennen.«

»Zu erkennen leicht, wenn man sie gefunden,« sprach Arthur mit Wärme. »O, der Glanz ihres Auges sagt dir, daß das Herz gut und edel ist; ein offenes ehrliches Lächeln läßt dich auf den Grund ihrer Seele blicken, ein einziges Wort, mit dem süßen Klang ihrer Stimme gesprochen, läßt dich fühlen, daß es wahr und aufrichtig gemeint ist; an dem Hauch, der von einem solchen Wesen ausgeht, erkennst du, daß du es mit einem edlen reinen Geschöpfe zu thun hast.«

»Arthur! Arthur!« sagte erstaunt der Bruder. »Du redest dich ordentlich in's Feuer, du schwärmst. Kennst du vielleicht ein solches Wesen?« – Er stützte den Kopf in die Hand und blickte fragend in die Höhe. – »Ja,« fuhr er nach einer Pause lächelnd fort, »du hast soeben ein Porträt skizzirt, und wenn es dem Originale wirklich ähnlich sieht, so möchte ich es wohl kennen.«

»Du sollst es kennen,« entgegnete Arthur mit weicher Stimme. »Das Original, das ich dir mit voller Wahrheit nicht zu schildern vermag, ist ein Mädchen, das ich liebe, und wie liebe, Eduard! das mein werden muß, und sollte ich Alles daran setzen, viel, viel darüber verlieren. – O, das wäre ein Verlust, bei dem ich tausendfach gewinnen müßte.«

»Ja, verlierend zu gewinnen, sagte, glaube ich, ein gewisser Romeo bei einer ähnlichen Veranlassung,« meinte der Doktor und betrachtete aufmerksam seinen Bruder.

Dieser that einen tiefen Athemzug, legte seine Hände auf die [163] Schultern Eduard's und sprach: »Gott sei Dank, die Schale, die mein Herz umgibt, zerspringt, dein Unglück, mein guter Bruder, hat mir den Muth gegeben, mit dir darüber zu sprechen.«

»Ist es denn etwas so Schlimmes und Unbegreifliches?«

»Schlimm allerdings vor den Augen unserer Familie, und es wird der Welt auch sehr unbegreiflich erscheinen. Ich liebe ein Mädchen, jung, schön, reizend, wie man sich die Engel vorstellt, und dieses Mädchen will ich heirathen, obgleich sie keiner bekannten Familie angehört, obgleich ihr Vater ein armer Schriftsteller ist, sie selbst eine Tänzerin.«

»Also ist die Geschichte doch wahr?« erwiderte der Doktor kopfnickend; »ich warf sie weit hinweg, als man mir davon sagte. Alfons zielte schon mehrmals darauf hin.«

»Aber jetzt möchte ich dich fragen, lieber Eduard, ist denn das etwas so Schlimmes und Unbegreifliches?«

»Versteh' mich wohl, Arthur, ich werde ja mit tausend Freuden das Mädchen, das du dir auserwählt, als Schwägerin begrüßen; weiß ich doch leider am Besten, daß es keine Versicherung für häusliches Glück ist, eine Tochter aus sogenannter untadelhafter, unbescholtener Bürgerfamilie zu heirathen. Habe ich das doch traurig erlebt! – Wenn das Mädchen nur keine Tänzerin wäre!«

»Man wird sich allerdings vor Allem daran stoßen; aber mir ist es vollkommen gleichgiltig.«

»Du – das gibt fürchterliche Szenen mit Mama; wahrhaftig, Arthur, ich fürchte, das wird die alte Frau schwerlich überleben. Hast du dir auch die Sache gründlich überlegt?«

»Wenn ich ein ehrlicher Mensch bleiben will, kann ich nicht mehr zurück.«

»Denk an unsere Verwandtschaft, an unsere hochnasigen Bekannten in hiesiger Stadt; sie werden deiner Frau ihre Thüre nicht öffnen.«

»Die Hochmüthigen und Dummen allerdings nicht; aber was ist an denen gelegen? Man lernt auf solche Art seine Freunde [164] kennen; – ich versichere dich, Eduard, das wäre mir eben interessant. Ich weiß wohl, daß sich manche Thüre vor uns verschließen wird, aber das ist mir gerade recht. Leute von wirklich gutem Hause, an deren Namen nicht der geringste Makel klebt, – vorausgesetzt, daß sie gescheidt sind und nicht an dünkelhaftem Hochmuth leiden, – werden es mich nicht fühlen lassen, daß ich bei der Wahl meiner Gattin nach ihren Begriffen ein paar Stufen zu tief hinab stieg. Aber solches Volk von dunkler, zweifelhafter Herkunft, deren früheres Leben wie ein Sumpf ist, dessen schmutzige Fläche mächtige nachbarliche Schlingpflanzen mitleidig verdecken, – Menschen, die sich durch allerlei Kunstgriffe, durch rastlose Bemühungen selbst empor geschmeichelt, die kein gutes Gewissen haben und die es ungeheuer scheuen, von Herkunft und dergleichen zu reden, ja selbst daran erinnert zu werden, – die allerdings wer den mit einer heiligen Scheu vor uns zurückprallen, werden mich aber zum größten Dank verpflichten, indem sie mir ihr Haus verschließen, und werden mir das Vergnügen machen, nie ihren unsaubern Fuß über meine reine Schwelle zu setzen.«

»Brr!« machte der Doktor; »wenn das Mama's Busenfreundin, die Räthin Wasser, hörte. An die dachtest du doch?«

»Allerdings dachte ich an die kleine halbverwachsene, boshafte Person, aber solche Wasser gibt's noch viele; man könnte ein ganzes Meer daraus machen, einen Ocean der Dummheit und des Hochmuthes. – Aber Eduard, kann ich in der Angelegenheit auf dich rechnen?«

»Gern, wenn du mir nur sagst, auf welche Art ich dir dienen kann. Und jetzt mit Mama zu verhandeln, wäre für mich mißlich. Aber bei dem allgemeinen Sturme, der nothwendig erfolgen muß, will ich treu und fest an deiner Seite stehen.«

»Schön! nur ist es mir unmöglich, gegen die Mama das erste Wort auszusprechen, und darin kannst du mir auf Umwegen einen Gefallen thun. Erzähle Alfons die ganze Geschichte, als habest [165] du irgendwo gehört, ich hätte ein derartiges Verhältniß, ich hätte einer Tänzerin versprochen, sie zu heirathen, mache es so schlimm wie du willst, Alfons wird das Seinige noch dazu thun, und mir ist es dann leichter, die Sache in besserem Licht darzustellen als er.«

»Recht gern; das wird mich wenig Mühe kosten. Da aber das vorderhand im Reinen ist, so sage mir, ob du für das arme Kind da in der That ein Unterkommen bei guten Leuten weißt.«

»Versteht sich,« entgegnete Arthur, indem ein frohes Lächeln über seine Züge fuhr. »Clara wird sich ein Vergnügen daraus machen, die Kleine bei sich aufzunehmen.«

»Clara?«

»Ja, Clara, meine Braut. Und du könntest mir den Gefallen thun, mich und das Kind in deinem Wagen dahin zu begleiten, dann kannst du zu gleicher Zeit die Bekanntschaft des Mädchens machen.«

»Das will ich,« erwiderte der Doktor. Er erhob sich aus seinem Lehnstuhl, ordnete seine Haare vor dem Spiegel und griff nach seinem Paletot und Hute, welche neben dem Fenster auf einem Stuhle lagen. – »Da habe ich aber ganz vergessen,« sagte er verdrießlich, »daß ich eigentlich gar nicht von hier fort kann; oder glaubst du, ich könne meine beiden Kinder bei den rebellischen Weibsleuten hier im Hause allein lassen? Ich fürchte, sie gehen auf und davon oder bekümmern sich wenigstens nicht um die armen Kinder.«

»Du hast nicht ganz Unrecht,« meinte Arthur. »Doch will ich dir sagen: wir fahren nach unserem Hause und bitten Marianne, daß sie sogleich hieher gehe. Sie hatte sich ohnedies schon entschlossen, das Amt der Hausfrau zu übernehmen, bis deine neuen Leute da sind; vielleicht begegnen wir ihr unterwegs.«

»So gehen wir. Doch will ich meine gnädige Frau von Bendel bestens und höflichst ersuchen, auf die Kinder Achtung zu geben.«

»Ersuche sie bestens, aber nicht höflichst,« ermahnte Arthur.

Der Doktor ging hinaus und kehrte gleich darauf mit der Kindsfrau zurück. Diese würdige Dame hatte die Nase sehr hoch [166] erhoben und ein sehr moquanter Zug machte sich auf ihrem alten Gesichte bemerkbar; die Flügel und Spitzen ihrer Haube waren drohend emporgekehrt, und sie zog einher wie ein finsteres Gewitter, das jeden Augenblick bereit ist, sich mit Donner und Blitz zu entladen. Arthur sah sie fest an und lächelte so sanft als möglich, was sie einigermaßen aus der Fassung zu bringen schien.

»Sie werden auf meine Kinder Achtung geben, bis ich zurück komme,« sagte der Doktor, »und werden nicht dulden, daß Köchin oder Stubenmädchen das Haus verlassen.« Auch – hier hustete er gelinde, – »wollen Sie dem kleinen Kinde da seinen Hut aufsetzen und das Tuch umbinden; dort liegt es.«

Die Kindsfrau blickte angelegentlich zum Fenster hinaus, ohne dem gegebenen Befehl Folge zu leisten.

»Mir scheint,« sagte Arthur, in dessen Gesichte die Röthe des Zorns aufstieg, »Madame Bendel leidet an Schwerhörigkeit. – Haben Sie meinen Bruder verstanden oder nicht?« sprach er darauf mit heftiger Stimme und trat dicht vor die Frau hin, die bei dem Tone, den sie nicht gewohnt war zu hören, zusammen schrak. – »Mein Bruder hat Ihnen befohlen, dieses Kind dort anzuziehen,« fuhr der junge Mann fort, während er sie fest ansah. »Da wir nun Beide nicht Lust haben, lange zu warten, so leisten Sie diesem Befehle Folge, und das augenblicklich.« – Er zeigte mit der Hand gebieterisch auf Hut und Tuch, und die erschreckte Frau nahm Beides und beeilte sich, das Kind fertig zu machen. Darauf nahm es der Maler bei der Hand.

Der Doktor ermahnte seine eigenen Kinder, artig zu sein, küßte sie heftig auf den Mund und stieg mit seinem Bruder kopfschüttelnd und lächelnd die Treppen hinab. Als sie in dem Wagen saßen, sagte er mit seiner sanften Stimme: »Höre, Arthur, du kannst heirathen, du hast eine gute Art, mit den Weibern umzugehen; ich glaube, du ließest dir von keiner etwas gefallen.«

»Nicht einmal von meiner Frau,« entgegnete ernst der Bruder. [167] »Das ist das Kapitel, worüber wir schon oft zusammen sprachen, aber leider, leider! immer vergeblich; ohne Festigkeit geht's nun einmal nicht, namentlich bei dem herrschsüchtigen Charakter deiner Frau. Da du nicht im Stande warst, deinen Willen durchzusetzen, so hat sie dich zum Sklaven gemacht. – Aber jetzt bist du frei.«

»Ach Gott, ja! – leider!« seufzte der Andere.

Arthur ließ den Wagen durch die enge Gasse nach dem elterlichen Hause fahren, und ihn hinten an der Thüre seiner Wohnung halten. Alfons controlirte von seinem Comptoirpulte aus die vordere Hausthüre und alle Eintretenden, er wäre ihnen auch augenblicklich in seine Wohnung gefolgt; doch wollten beide Brüder ihre Schwester allein finden. Sie ließen das Kind im Wagen, stiegen auf der uns bekannten Wendeltreppe in den zweiten Stock hinauf und kamen dann über einen Corridor vor die Glasthüre an der Wohnung Mariannens.

Es war eben Besuch da gewesen; zwei Frauenzimmer stiegen die Haupttreppe hinab, und Arthur, der ihnen nachblickte, sah, daß sie freundlich zusammen sprachen und kicherten. Es war eine ältere Frau in sehr einfachem Anzuge, sie trug ein graues, wollenes Tuch und eine gewöhnliche Haube mit Lilabändern, etwas Halbtrauer; die andere war jünger und schien die Tochter zu sein; sie trug ein braunes Merinokleid und einen abgeschossenen Hut von schwarzer Seide; auch waren Beide, wie schon gesagt, heiteren Humors, und hatten keine Ahnung davon, daß sie beobachtet würden. Die Alte blieb auf der Ruhebank der Treppe stehen und sprach mit lustiger Stimme: »Das da oben ist eine brave, charmante Frau. Gott! wie dumm war ich, daß ich dies Haus nicht schon früher besucht; das müssen wir ausbeuten. Denk dir, Emilie, sie hat mir einen Dukaten gegeben, – einen ganzen Dukaten.«

»Aber dafür war auch die alte Commerzienräthin drunten desto knauseriger – einen halben Gulden! Pfui Teufel! die sollte sich schämen! Dreißig Kreuzer auf so schöne Empfehlungsbriefe von [168] zwei Pfarrern und dem brillanten Zeugnisse vom verschämten Hausarmen-Verein. – Da hast du die Papiere, steck sie wieder ein!«

»Gib her!« sagte die würdige Mutter; »wo ist denn das Papier, worein ich sie gewickelt hatte? – Ah! ich ließ es droben auf dem Tische liegen; es ist nichts daran gelegen.«

»Weißt du das auch genau?« fragte die vorsichtigere Tochter; »was war es für ein Papier?«

»Nun, es war das Papier, worin die Becker ihre Handschuhe gewickelt brachte, reines, weißes Papier.«

»Nichts darauf geschrieben?«

»Ich glaube nicht. Und wenn auch, höchstens eine unschuldige Adresse.«

Nach diesen Worten stiegen die Beiden die Treppen vollends hinab.

Arthur hatte das Gesicht der Jüngeren genau beobachten können; er mußte das schon irgendwo gesehen haben, und wenn ihm recht war, im Hause in der Balkengasse.

»So komm' doch!« rief jetzt der Doktor beinahe ungeduldig; er hatte schon die Glasthüre geöffnet; Arthur folgte ihm.

Sie traten in das Zimmer der Schwester und fanden Marianne am Fenster stehend; sie war vollständig angekleidet, in Hut und Shawl, zum Ausgehen fertig. Doch wandte sie den Kopf nicht herum, als die Brüder eintraten, ja nicht einmal, als Arthur sagte: »Wir sind es, Marianne.«

Der Doktor trat zu ihr an's Fenster, faßte ihre herabhängende linke Hand und fragte: »Was hast du Schwester? Beim Himmel! du weinst ja. Geht dir denn mein Unglück so zu Herzen?«

»Gewiß, gewiß, Eduard!« rief die junge Frau, indem sie sich rasch umwandte, und, auf die Gefahr hin, ihren feinen Sammethut zu zerdrücken, den Kopf heftig auf die Schultern des Bruders legte. »Gewiß, gewiß, wir sind recht unglücklich.«

Arthur trat kopfschüttelnd näher, ihm war das unbegreiflich; er war noch vor einer Stunde bei Marianne gewesen und da hatte [169] sie ganz ruhig und gefaßt über Eduard mit ihm gesprochen; ja, sie hatte sogar gemeint, es sei doch am Ende ein rechtes Glück, daß diese ewigen Quälereien einmal aufhörten. Woher denn jetzt auf einmal diese Thränen? – »Marianne,« sagte er nach einer längeren Pause, während welcher sie heftig weinte, »ich begreife dich in der That nicht. Sei offenherzig gegen uns; dir ist sonst etwas Unangenehmes begegnet. Gewiß, du bist ja ganz außer dir; sei ruhig, setze dich nieder und theile uns mit, was dich quält. Du lieber Gott, wir sind ja von der Natur angewiesen, uns gegenseitig zu vertrauen und zu trösten.«

»Ja, ja,« sprach seufzend der Doktor. Dann machte er die Hände der Schwester sanft von seinem Halse los und führte sie zu dem Sopha, wo sie sich niederließ und ihr Taschentuch vor das Gesicht drückte. Dabei entfiel ihrer Hand ein weißes Papier, welches auf den Boden niederflatterte. Arthur blickte darauf hin, und unwillkürlich kam ihm das Gespräch in den Sinn, welches die beiden Weiber auf der Treppe zusammen geführt. Er bückte sich, um das Papier aufzuheben, doch als er sah, daß Marianne ebenfalls die Hand darnach ausstreckte, zog er sich discret zurück.

»Nehm' es nur,« sagte hierauf die junge Frau; »ich will gewiß vor euch keine Geheimnisse haben. Sieh die Aufschrift und betrachte sie genau; auch du, Eduard. – Wer hat das geschrieben?«

Ueber Arthur's Züge flog ein eigenthümliches Lächeln, als er das Papier einen Augenblick betrachtet und die Adresse gelesen hatte; doch reichte er es still schweigend seinem Bruder, der augenblicklich ausrief: »Ah! das hat Alfons geschrieben; das ist die schöne, feste und sehr leserliche Schrift deines Mannes.«

»Sie ist es,« rief Marianne empört. »Lies laut, was er schreibt.«

»Fräulein Marie U. Adresse Frau Wittwe Becker, am Kanal Nro. 20 hier,« las Eduard mit großer Gewissenhaftigkeit laut und deutlich.

»Und wißt ihr auch, wer das ist: Fräulein Marie U.?«

[170] »Nein,« sagte der Doktor; wogegen Arthur stillschwieg.

»O, man soll mich nicht betrügen; hier ist das neue Adreßbuch; ich habe den Namen sogleich nachgeschlagen – seht ihr, da steht's. U. – Schreiner U. – Kaufmann U. – Metzger U. – Marie U., Ballettänzerin. – Eine Tänzerin! Schändlich! schändlich! eine Tänzerin!«

Der Doktor schielte aus seinen Augenwinkeln bedeutsam nach Arthur hin, zuckte alsdann mit den Achseln und dachte: so ein Adreßbuch ist doch eigentlich eine gefährliche Erfindung. Dann sagte er: »Nun ja, aber was soll das bedeuten?«

»Was das bedeuten soll?« rief heftig die junge Frau, – sie war aus dem Stadium der Wehmuth in das des Zornes übergegangen, und zerknitterte zitternd ihr Taschentuch in der Hand, – »ich will es euch sagen, ich, eine betrogene, vernachlässigte Frau, ich, die er beständig hofmeisterte, ich, die nichts von ihm hörte, als was der Anstand erheische, was die Schicklichkeit verlange, – ich, die in den lebenden Bildern nicht mitwirken sollte, weil das nicht passend sei, ich, die beständig gehütet wurde, wie ein kleines Kind, ich, die auf dem Balle mit einem Freund unseres Hauses nicht dreimal tanzen durfte, ich! – ich! – ich! von der man seinen Reden nach hätte glauben können, ich trachte darnach, ein freies Leben zu führen, ja, eine leichtsinnige Frau zu sein, – ich – ich« – hier holte sie nach dem gewaltigen Zorneserguß tief Athem und fuhr dann schluchzend fort: – »ja, ich will es euch sagen: am Weihnachtsabend kaufte er Handschuhe.« –

»Das ist wahr,« bemerkte der Doktor, »ich war dabei.«

»Du warst dabei?« fragte Marianne mißtrauisch.

»Nun ja, wir trafen uns zufällig im Laden; ich kaufte Einiges für meine Frau, und er, glaube ich, sprach von Handschuhen, die er gekauft für –«

»Für wen?« rief heftig die junge Frau.

[171] »Nun, für dich,« entgegnete ruhig der Doktor; »so sagte er wenigstens.«

»Ah! für mich!« lachte Marianne krampfhaft hinaus. »Der Verräther! – Er kam also an jenem Abend nach Haus, die Taschen voll; ich ließ ihn natürlicher Weise auf seinem Zimmer machen, was er wollte, als ich aber zufällig an der Thüre vorbei ging, siegelte er ein Packetchen, welches in dieses Papier gepackt war. – Handschuhe für die Tänzerin Fräulein Marie U. – Oh! das ist himmelschreiend! – Für eine Tänzerin!«

»Nun, ob es eine Tänzerin war oder sonst Jemand,« meinte begütigend der Doktor, »das ist am Ende gleichviel; das Faktum ist es, woran wir uns halten wollen.«

»Und ich werde mich daran halten!« rief Marianne empört. »Jetzt gleich gehe ich zur Mama und sage ihr die ganze saubere Geschichte.«

»Das wäre sehr unklug von dir,« sprach Arthur. »Ueberhaupt was willst du?«

»Einen Heuchler entlarven.«

»Zugestanden; aber das gelingt dir nicht durch Uebereilung; da mußt du der Sache genau auf den Grund gehen.«

»Aber wie kann ich das, eine arme, wehrlose Frau?«

»Du nicht, aber wir; ich werde mich deiner Sache annehmen und schon dahinter kommen.«

»Ah! so eine Tänzerin!«

»Ach! laß die armen Tänzerinnen aus dem Spiel,« entgegnete Arthur mit ernster Stimme; »wer weiß, ob das Mädchen den Herrn Alfons bis jetzt kennt und ob er überhaupt nicht vergebliche Versuche gemacht hat.«

»Vergebliche Versuche bei einer Tänzerin!«

»Nicht wahr, du wärest beruhigter, wenn er die Handschuhe irgend einem hübschen Mädchen deiner Bekanntschaft geschickt hätte.«

[172] »Beruhigter nicht, aber es wäre doch nicht so sehr gegen allen Anstand.«

»O weh!« seufzte der Doktor in sich hinein.

»Da könnte man freilich mit dem vornehmen Titel des Vaters die Geschichte zudecken,« meinte Arthur trocken. »Wir kennen das. O Welt! o Welt!«

»Sei ruhig, Schwester!« sagte der Doktor; »nur keinen weiteren Skandal! Wir haben vorderhand genug in unserer Familie; laß uns Beide die Sache überlegen und im Nothfalle für dich handeln. Aber ein Dienst ist des andern werth; nicht wahr, du thust mir die Liebe und gehst zu meinen armen Kindern? Sie sind so verlassen bei meinen frechen Dienstboten.«

»Mit tausend Freuden!« rief eifrig die junge Frau und zog ihren Shawl fest um die Schultern; »ich war auf dem Wege dahin, und jetzt könnte mir nichts Erwünschteres kommen; – ich bleibe vorderhand in deinem Hause,« setzte sie nach einer Pause im Tone großer Entschlossenheit hinzu, »bei dir und deinen Kindern. Du kannst mir ein Zimmer geben; ich richte mich dort häuslich ein.«

»Aber dein eigenes Hauswesen!« meinte der Doktor.

»Oh!« versetzte Marianne mit neu ausbrechenden Thränen: »Ich habe ja keine Kinder, die nach mir weinen.«

»Und Alfons?« sagte Arthur.

»Er wird das freilich im höchsten Grade unanständig finden,« rief Marianne heftig, »aber er soll mir kommen! ich will ihm schon sagen, was anständig und unanständig ist.«

Damit war die Unterredung beendigt und alle Drei verließen das Zimmer. – Marianne stieg die Haupttreppe hinab; sie hatte alle Thränenspuren von ihrem Gesichte vertilgt und ging aufrechten Hauptes wie nie vorher.

»Du,« sprach der Doktor zu seinem Bruder, als sie ihren Wagen wieder erreicht hatten, »da oben wird eschangements des decorations geben. Es beginnt da ein lustiges Trauerspiel.«

[173] »Vielleicht kann's auch ein trauriges Lustspiel werden,« meinte Arthur nachdenkend.

Und damit fuhren Beide nach der Valkengasse, um dort das Kind abzuliefern.

66. Kapitel
Sechsundsechzigstes Kapitel.
Unter dem Podium.

Wenn bei einer Theatervorstellung das Ballet nicht selbstständig wirkt, sondern nur durch Tänze und Gruppirungen eine große Oper ausschmücken hilft, so geht es in den Garderoben viel ruhiger her, auch hat in diesem Falle der Theaterwagen und Schwindelmann nicht so viel zu thun als sonst. Die meisten Tänzerinnen, die vielleicht erst im dritten oder vierten Akt kommen, gehen zu Fuß nach dem Theater und tragen gewöhnlich selbst ihr Päckchen Wäsche, das heute, wo sie keine idealen Figuren darzustellen, sondern im Schleppkleide eine Menuette zu tanzen haben, nicht besonders groß ist. Andere, die einen complicirteren Anzug haben, vielleicht am Schlusse, wenn es gerade eine Zauberoper ist, irgend etwas Feenhaftes hoch in den Wolken darstellen müssen, kommen freilich schon früher, aber da ihrer wenige sind, so bringen sie kein rechtes Leben in die weitläufigen Balletgarderobe-Zimmer.

Hier brennt denn auch nur spärliches Licht vor diesem oder jenem Tischchen; die Ankleiderinnen, die mit dem Wenigen bald fertig sind, fühlen sich gelangweilt und legen ihre Hände in den Schooß. Monsieur Fritz, der Friseur, lehnt gähnend an einem Spiegel und erzählt schreckliche Mord- oder Gespenstergeschichten, von denen er ein besonderer Freund ist.

Heute Abend wirkt das Ballet nur auf die eben angedeutete Art; es ist eine Feenoper, im ersten Akte erscheinen einige Elfen [174] und Geister, im dritten kommen einige Bauerntänze und am Ende des fünften ein Schlußtableau, wo die Fee Amorosa, die Beschützerin wahrer Liebe, in den Wolken erscheint, um das nach vielen Schwierigkeiten vereinigte Paar zu segnen.

In der Garderobe waren Mamsell Therese, Mamsell Clara, Mamsell Marie, noch drei Andere von der gleichen Altersklasse, sowie ein halbes Dutzend Ratten, welche Engel und dergleichen zu machen hatten. Die letzten, in sehr safrangelben Tricots, mit weißen Florkleidern, goldenen Gürteln und himmelblauen Flügeln, versuchten ziemlich ungeschickt ihre Gruppirungen, purzelten dabei oft über einander hin, und hatten in ihrer Ungelenkigkeit viel mehr das Ansehen kleiner Kobolde, als Angehöriger der himmlischen Heerschaaren.

Therese stand vor ihrem Spiegel, – eine junge Fee; das schöne Mädchen mit dem vollen Wuchs sah prächtig aus. Sie gefiel sich auch selbst, das sah man an der Art, wie sie ihre Hüften umspannte, den Kopf kokett zurückwarf und sich mit den blitzenden Augen fest ansah. Eine ihrer Colleginnen, ein blasses schmächtiges Wesen im Costüm einer Hofdame, saß vor ihr, fächelte sich mit ihrem Fächer und betrachtete hinter demselben hervor nicht ohne einen Anflug von Neid die schöne Tänzerin.

»Aber, Therese,« sagte sie nach einer Pause, »wenn man dich so sieht, reizend, strahlend, da kann man es schwer glauben, daß du dies glänzende Leben verlassen willst, um dich als Hausfrau in eine stille Wohnung zurückzuziehen.«

»Und doch ist es so, mein Schatz,« erwiderte Therese; »ich bin fest entschlossen, mich zurückzuziehen, ich bin um meinen Abschied eingekommen.«

»Bei der Intendanz?« fragte boshaft die Andere.

»Bei der Intendanz!« versetzte Therese, indem sie ihren Kopf noch stolzer in den Nacken warf. »Ich verstehe dich wohl, mein Kind,« fuhr sie mitleidig fort; »was das Andere anbelangt, da [175] gebe nur ich Abschiede, laß mich aber selbst nie verabschieden. So mußt du es auch machen, wenn du einen guten Rath von mir annehmen willst. Ich habe dies Leben satt, ich will mich verändern.«

»So ist es also wirklich wahr?« fragte lachend der Theaterfriseur, der heran geschlichen war. »Die schönen Tage von Aranjuez sind also wirklich vorüber? Ich hatte immer noch gehofft, Therese.«

»Auf was denn, Sie – Affe! Ich versichere Sie, Fritz, Sie allein können Einem das Leben hier unleidlich machen.«

»Ach, der glückliche Berger!« erwiderte Friz seufzend.

»Haben Sie vielleicht die Ehre von ihm gekannt zu sein?« fragte trotzig die Tänzerin.

»Ich kaufe meine Cigarren bei ihm, auch zuweilen Kaffee und Zucker.«

»So erhalten Sie uns auch ferner Ihre Kundschaft!« lachte die Tänzerin spöttisch; und damit rauschte sie trällernd in das Nebenzimmer.

Hier befanden sich Clara und Marie in ihrer Ecke, und die erstere sprach mit ihrer guten und lieben Stimme, wie es schien, Worte des Trostes zu ihrer Collegin. Wenn man aber das andere Mädchen sah, wie es heute da saß, ein Bild des Jammers und der Verzweiflung, so hätte das härteste Gemüth nicht umhin gekonnt, sich theilnehmend zu erkundigen, was ihr fehle. Ihr dunkles Haar hing aufgelöst über ihren Nacken und ihre Schultern bis auf ihren Schooß herab, so tief hatte sie den Kopf gesenkt. Dabei hielt sie die Hände gefaltet, und nur zuweilen zuckten diese zusammen, wenn nämlich von den heißen, schweren Thränentropfen, die unablässig ihren Augen entquollen, auf ihre Finger niederfielen. Diesem Zucken folgte ein schwerer Seufzer, ein Stöhnen, und dann sank sie noch tiefer in sich zusammen.

»Es ist Zeit, liebe Marie,« sagte Clara mit sanfter Stimme, »daß du dir dein Haar machen läßt. Richte den Kopf ein wenig auf, daß ich deinen Scheitel gerade herstelle. – O, hör' auf zu [176] weinen; das thut mir in der Seele weh. – Oder sprich wenigstens zu mir. – Setzest du denn gar kein Vertrauen mehr in mich?«

»O doch! – o doch!« brachte Marie mühsam hervor; »aber du würdest mich doch nicht verstehen. Gewiß, gute – gute Clara, du kannst mich nicht verstehen. Danke Gott, daß es dir unmöglich ist!«

»Ja, das begreife ich in der That nicht,« erwiderte die Andere, »denn wenn ich Kummer habe, so ist es mir eine Wohlthat, mein Herz gegen irgend Jemand ausschütten zu können.«

»Mir auch, mir auch,« hauchte Marie. »Du weißt, Clara, daß ich bis jetzt kein Geheimniß vor dir hatte. Aber das kann ich dir nicht sagen.«

»So sprich mit Therese,« erwiderte Clara zögernd; »da kommt sie eben. Du hast etwas auf dem Herzen, das du los werden mußt. Sie wird dir auch dein Haar gern machen; ich gehe in's andere Zimmer.«

Marie gab keine Antwort, doch nickte sie mit dem Kopfe, hob ihn dann rasch empor, und als sie Therese bemerkte, die in die Thüre trat, preßte sie, heftiger weinend, ihre Hände vor das Gesicht.

– »So – so – so sieht's hier aus?« sagte die Eingetretene, indem sie ihre rechte Hand in die Seite stemmte und mehrmals mit dem Kopfe nickte. »Ist endlich da was vorgefallen? Nun ja, es wundert mich nicht.«

Die Angeredete blickte scheu um sich, und als sie bemerkte, daß Clara fort gegangen war, sprang sie hastig in die Höhe, ergriff die Hand der andern Tänzerin und sagte: »Therese, ich bin verloren!«

»Nun, so schlimm wird's gerade noch nicht sein,« entgegnete diese. »Fasse dich nur um Gotteswillen, höre auf zu weinen! da drüben die Garderobière und der naseweise Fritz haben schon aus der Ecke herübergeschielt. Muß denn alle Welt wissen, daß dir ein Unglück passirt ist? Setz' dich ruhig hin und lasse dir dein Haar aufstecken; während dem kannst du mir erzählen, was du [177] auf dem Herzen hast. Aber ohne Vorreden, bitte ich; ich kann mir ja doch denken, um was es sich handelt.«

»Ja, du weißt es,« erwiderte Marie, nachdem sie sich auf ihren Stuhl wieder niedergelassen, »die gräßliche Geschichte, von der ich dir schon gesprochen.«

»Halte deinen Kopf still und dann laß mich hören.«

»Meine Tante sprach mir also mehrmal und immer dringender von ihm.«

»Von dem Heuchler auf der zweiten Gallerie?«

»Natürlicherweise wollte ich sie nicht verstehen, bis sie endlich zornig wurde und sich ganz deutlich erklärte. Ich sollte verkauft werden oder war es schon; wie flehte ich sie an, mich in Frieden zu lassen, wie stellte ich ihr das Unglück vor, das über mich hereinbrechen würde! – Sie lachte mich aus, als ich ihr von Richard und von meiner Liebe zu ihm sprach. Das wären Kindereien, sagte sie, und ich solle mir nicht einbilden, daß sie mich als hilfloses Kind aufgenommen, daß sie mich erzogen und gebildet habe, um am Ende die Frau eines Zimmermanns zu werden. Das sei schwarzer Undank, und wenn ich so dumm sei, mich zu meinem Glücke zwingen zu lassen, so wolle sie das gern thun; sie müsse ernten, wo sie gesät. Ein paar Mal kam er auch, versteht sich verstohlen in der Dämmerung, er brachte bald Dies, bald Das, er sagte mir alle möglichen Artigkeiten, und ich mußte ruhig sitzen und Das mit anhören. Meine Tante ging ab und zu, blieb auch eine Zeit lang absichtlich fort, doch merkte er alsdann so gut meinen Abscheu gegen ihn, daß er es nicht wagte, mir nahe zu kommen, ja, er empfahl sich meistens bald und ging fort. – Am Weihnachtsabend wollte er mir bescheeren, doch setzte ich es durch, daß er nicht kommen durfte; Handschuhe aber, die er geschickt, mußte ich annehmen.«

»Weiter! weiter!« sagte Therese. »Erzähle kürzer. Du lieber Himmel! Diese Einzelheiten kennen wir ja.«

[178] »Gestern Nachmittag,« fuhr Marie mit leiser Stimme fort, »ging meine Tante aus, wie sie es oft zu machen pflegt; ich war ganz allein in der Stube, fast allein in dem großen Gebäude, denn du weißt, daß da blos Leute wohnen, die bei Tage ihren Geschäften nachgehen und nur Abends nach Hause kommen. – Da kam er. – O mein Gott! Therese.« Von Neuem begrub sie ihr Gesicht in den Händen und weinte so heftig, daß die andere Tänzerin achselzuckend die schwere Flechte losließ, welche sie ihr eben um das Haupt schlingen wollte.

»Nun ja,« sagte diese hierauf, »er kam, er war zudringlich, du wehrtest dich?«

»Gewiß, gewiß, lange – lange.«

»Und –?«

»Und –? O ich hatte Kraft wie ein Mann, ich machte mich los, so oft er mich an sich riß. – Aber –«

»Riefst du um Hilfe?«

»Was konnte es mich nützen? Ich dachte, es könne mich Niemand hören. – – Endlich aber kam doch Hilfe, aber die Hilfe wird mich in's Verderben bringen.«

»Richard kam?« rief Therese erschrocken.

»Nein – Schwindelmann. Er wollte die Vorstellung für heute anfagen.«

»Und da warst du gerettet. – Nicht!«

»Ich weiß es nicht,« sagte das arme Mädchen, indem sie den Kopf abermals tief auf die Brust herabsinken ließ. – »Verloren bin ich so wie so. Freilich ließ er augenblicklich von mir, als Schwindelmann eintrat, und empfahl sich mit abgewandtem Gesicht; er wollte nicht erkannt sein.«

»Der Schuft!«

»Schwindelmann aber blieb ganz entsetzt an der Thüre stehen, stotterte seinen Auftrag her und sagte dann mit betrübter Stimme: O Mamsell Marie, das hätte ich nimmer geglaubt!«

[179] »Weiß er vielleicht um dein Verhältniß zu Richard?« fragte eifrig Therese.

»O nein, gewiß nicht; aber – verzeih mir, Therese, daß ich das sage, – du weißt, Schwindelmann hat mich immer ausgezeichnet, Clara und mich, weil – weil – aber du nimmst es nicht übel, Therese, weil wir Beide brav wären und keine Verhältnisse hätten. Uns müsse es gut gehen, meinte er.«

»Nun ja, da mußt du ihn über die Geschichte aufklären, und das bald.«

»Er sieht mich gar nicht mehr an,« erwiderte das weinende Mädchen; »er zuckt die Achseln und geht mir aus dem Wege. Denk dir, Therese, wie schrecklich! Das werden die Anderen merken; sie werden die Köpfe zusammenstecken und über mich lachen; Richard wird's erfahren – o du mein Gott! Und er hat mir tausendmal gesagt: weißt du, Marie, so lange du unbescholten dastehst und kein ehrlicher Mann dir was nachsagen kann, bist du mein und ich dein mit Leib und Seele; aber nimm du dich doppelt in Acht.«

»Du hättest ihm von der Geschichte sagen sollen,« meinte Therese; »das ist eigentlich schlimm.«

»Nicht wahr, o wie oft wollte ich es thun, aber ich fürchtete mich vor meiner Tante und vor Richard. Hilf mir, liebe Therese, rathe mir!«

»Das will ich gerne thun, doch vor allen Dingen muß ich mir den Schwindelmann vornehmen. Aber ich kenne ihn wohl: wenn er gegen Eine was Besonderes hat, so läßt er sich den ganzen Abend nicht sehen. Doch wenn wir fertig sind, entgeht er mir nicht; ich lasse mich zuletzt nach Haus fahren und da will ich ihm schon Vernunft predigen.«

Unterdessen war Clara wieder in das Zimmer getreten, sie wollte Marie ermahnen, daß es Zeit sei, sich anzuziehen, auch dachte sie wohl, die Unterredung könnte zu Ende sein. Therese hatte gerade die Frisur beendigt, befestigte rechts und links in dem [180] dunkeln Haar eine brennend rothe Granatblüthe und sagte: »So, nun zieh dein Kleid an, dann bist du fertig.«

»Das ist sehr schön geworden,« meinte Clara, die nun näher trat. – »Ich habe dich vorhin nur flüchtig gesehen,« wandte sie sich an Therese; »darf ich gratuliren? du wirst ja nächstens heirathen?«

»So ist es, mein Kind,« entgegnete das schöne Mädchen; »nur weiß ich nicht, ob das gerade eine Gratulation verdient. Vielleicht komme ich aus dem Regen in die Traufe.«

»Du machst aber eine gute Partie, was mich herzlich freut. Herr Berger ist wohlhabend und hat ein schönes Geschäft.«

Eine blasse Tänzerin, die auch hinzugetreten war, warf etwas spöttisch dazwischen: »Herr Berger gilt für einen bedeutenden Mann, er ist sogar Armenpfleger.«

Therese wandte sich bei diesen Worten rasch herum, betrachtete die Kollegin von oben bis unten und antwortete: »Ja, er ist auch Armenpfleger; das kann dir vielleicht später noch einmal zu gut kommen, mein Schatz.«

»Gewiß, ich gratulire herzlich,« wiederholte Clara begütigend; »das ist schnell gekommen.«

»Schnell und langsam, wie man will,« erwiderte Therese, indem sie ihre rechte Fußspitze weit ausstreckte und damit allerlei Figuren auf dem Boden beschrieb. »Er macht mir schon seit mehreren Jahren die Cour und ließ nicht von mir ab, obgleich ich ihm offenherzig erklärte, ich habe andere Verbindungen und keine Lust, diese sogleich fallen zu lassen; er wollte mich trotz allem Dem schon früher heirathen, aber ich mochte nicht.«

»So denken gewiß Wenige,« sagte Clara einigermaßen zerstreut.

»O gewiß, sehr, sehr Wenige,« meinte seufzend Marie.

»Ich habe ihm immer davon abgerathen, mich zu heirathen,« fuhr leichtsinnig die andere Tänzerin fort; »er ist um Vieles älter als ich, ich habe meine Launen und ich glaube nicht, daß er wohl daran thut, mich zur Frau zu nehmen.«

[181] »Aber warum hast du jetzt deinen Entschluß geändert?« fragte Clara.

»Das will ich dir sagen, mein Schatz. Ich habe mich lange genug und oft den Launen Anderer gefügt, und mich namentlich hier in diesem Hause kommandiren und hudeln lassen – ein wahres Sklavenleben geführt. Jetzt will ich 'mal befehlen und will sehen, wie es schmeckt, wenn man mir gehorchen muß; ich will das Regiment im Hause führen; wenn ich sage: Augen rechts, so soll er rechts sehen, wenn ich sage: Augen links, so soll er nach links schauen und nicht zucken, bis ich ihm wieder erlaube, geradeaus zu blicken; das muß recht angenehm sein, und darauf freue ich mich, das ist Alles, und deßhalb will ich mich denn gnädigst herablassen, den Herrn Berger zu meinem Leibsklaven zu ernennen.«

»Und die hält Wort,« flüsterte die Hofdame von vorhin hinter ihrem Fächer Clara zu.

Marie war unterdessen vollständig angezogen, und als die bewußte Klingel ertönte, schritt Therese stolz zur Garderobe hinaus, gefolgt von ihren bescheidenen Kolleginnen.

Die Ouverture sollte anfangen und die Tänzerin ging über die halb dunkle Bühne nach dem Hintergrunde, wo in der ersten Scene in der Oper ihr Platz war. Doch blickte sie scharf nach allen Seiten, um Schwindelmann zu sehen. Aber Schwindelmann ließ sich nicht erblicken; er stand wahrscheinlich am großen Portal-Vorhang.

Nachdem die Ouverture und die erste Scene glücklich vorüber war, wobei der Himmel in unbeschreiblicher Klarheit gestrahlt, wobei die Gruppe von den Tänzerinnen sehr schön ausgeführt worden war, wobei aber leider die himmelblaue Brillantbeleuchtung dem Teint der Seligen einigermaßen Schaden that und sie sämmtlich sehr bleichsüchtig aussehen ließ, wechselte unter majestätischem Donner, der übrigens etwas zu lange andauerte, die Dekoration. Da diese nun den ganzen Akt durch stehen blieb, so wurde es bald wieder hinter der achten Coulisse lebendig, und die Betheiligten [182] des Lever, welches Herr Hammer dort zu halten pflegte, schlichen von allen Seiten herbei.

Herr Hammer saß auf einem hölzernen Felsstück und drehte nachdenkend seine Schnupftabaksdose in der Hand herum; Herr Wander stand vor ihm, aber diesmal ohne Spritze, auch hatte er den Hut auf dem Kopfe und hielt beide Hände auf dem Rücken.

»Ja–a– ja–a,« sagte der erste Maschinist; »ich versichere Euch, Wander, Ihr habt Euch vorgestern nicht schlecht gemacht – Anstand; ich sage es immer: die alte Schule verläugnet sich nicht.«

Herr Wander lächelte geschmeichelt.

»Daß ich das versäumt habe,« mischte sich Schwindelmann in's Gespräch, »das kann ich mir in meinem ganzen Leben nicht verzeihen. Aber wie kam es denn eigentlich, daß Ihr hier auf der königlichen Bühne aufgetreten seid? Das hättet Ihr Euch niemals träumen lassen.«

»Nein!« lachte Wander mit ganz breitem Maul. »Nun, wie kam es? Fra Diavalo sollte im ersten Akte herauskommen, da fehlt auf einmal der Chorist, der ihm den Mantel nachtragen soll. Alle Teufel! die Verlegenheit! Der Herr Intendant stand zufällig dabei und sagten: wen nehmen wir gleich? Sein Blick fiel auf mich, – Wander, sagte er da, Sie sind ein alter, routinirter Schauspieler, setzen Sie einen dreieckigen Hut auf und tragen Sie dem Fra Diavalo seinen Mantel nach. Sie werden das ohne Probe können. – Und ob ich es ohne Probe konnte! Man hat unten im Hause gezischelt, o, ich vernahm es wohl, es war gerade, als hörte ich meinen Namen aussprechen. – Das ist Wander! – Wander tritt wieder auf. – Aber nein, ihr Herren da unten, das ist Täuschung: Wander tritt nicht mehr auf. Aber es freut mich doch, daß ich meine letzte Rolle auf dem königlichen Hoftheater spielen durfte. Wer könnte es mir verwehren, wenn ich zum Beispiel von mir sagen wollte: – nahm auf der königlichen Hofbühne zu Z. in Fra Diavalo von dem Publikum Abschied.«

[183] »Niemand!« lachte Richard, der hinzugetreten war, »Ihr kämt dann höchstens in den Verdacht, als habt Ihr den Fra Diavalo gesungen.«

»Wer war denn vorhin an der Donnermaschine?« fragte der Inspizient, der mit seinem Buch aus dem Hintergrunde hervortrat, in sehr ernstem Tone. »Habe ich denn nicht gestern die Geschichte bis zum Ekel einstudirt? Und der letzte schlug sogar vor dem Blitze ein; das ist doch unerhört. Wer war's?«

»Ich,« sagte Schwindelmann, »und begreife das nicht, ich donnere fast das ganze Jahr und nehme mich ungeheuer in Acht.«

»Ich pfeife Ihnen in Ihre Donner vom ganzen Jahr,« entgegnete würdevoll der Inspizient, »den heutigen hätten Sie mir gut machen sollen. Auf den Blitz hätten Sie mir Achtung geben sollen; wer hat denn je gesehen, daß es zuerst donnert und dann blitzt.«

»Das habe ich oft gesehen,« erscholl die sanfte Stimme Schellingers, der zusammengekauert hinter dem ersten Maschinisten saß. »Im Himmel, wo man nahe dabei ist, thut's gar nicht anders.«

»Und Sie waren wohl schon oft im Himmel,« fragte der Beamte in wegwerfendem Tone.

»Nicht oft,« entgegnete ruhig der Schneider, »aber einmal doch, als ich mit dem großen Luftballon aufstieg.«

»Ah was! dumme Possen!« meinte der Beamte, indem er hinweg ging.

»Das ist doch so klar wie Tinte,« fuhr der Garderobe-Gehilfe fort; »hier sind wir unter dem Gewitter, da leuchtet's und dann kracht's, wenn wir uns aber darüber befinden, hören wir es natürlicherweise umgekehrt, zuerst Donner und dann Blitz. Dazu braucht man nicht Inspizient zu sein, um das zu begreifen.«

»Und stiegst du damals hoch hinauf, Schellinger?« fragte Richard.

»Wir haben es nicht ganz genau messen können, denn die Schnur, die wir mit hinauf nahmen, reichte lange nicht aus.«

[184] »Aber wie hoch kamt Ihr denn eigentlich?«

»Ich glaube, wir kamen bis in den vierten Himmel,« sagte der Schneider. »Ihr wißt doch, daß es deren sieben gibt.«

»Ja, ja,« sprach Schwindelmann nachdenkend, »man sagt zuweilen, man sei bis in den siebenten Himmel verzückt.«

»Bis dahin kamen wir nicht,« fuhr Herr Schellinger fort.

»Und wie waren die Himmel beschaffen?« fragte Richard lachend.

»In dem untersten war es feucht und kalt, das ist der Regen- und Schneehimmel, im zweiten wurde es schwül, da hält sich der Donner und Blitz auf; im dritten dagegen ist es heiß, das ist der Sonnenhimmel; und im vierten fangen die Engel an.«

»Hast du welche gesehen, Schellinger?«

»Nicht deutlich, es schimmerte nur gelb, grün, blau und roth, auch waren wir nur in der untersten Kammer, wo die Regenbogen aufbewahrt liegen. – Aber pfeifen habe ich die Engel gehört.«

»O, das hörte ich auch schon,« meinte Richard lachend, »als ich noch beim Militär war und im Arrest saß.«

»Apropos, Schellinger,« sprach Herr Hammer nach einer Pause, »werden die Kostüme zum neuen Stück fertig? Ihr habt viel daran zu thun.«

»Ich sage Euch,« nahm Schwindelmann das Wort, »das gibt eine Pracht. Die Offiziers-Uniformen strotzen von goldenen und silbernen Tressen. Das ist doch überladen.«

»Nein, es ist nicht überladen,« sagte Schellinger in bestimmtem Tone. »Jetzt macht man freilich keinen Aufwand mehr mit so etwas; aber als ich noch Regimentsschneider in Berlin war unter dem alten Fritz, da hättet ihr andere Dinge sehen können. Ist doch eines Tages der Tambour-Major von den Grenadieren desertirt, der hatte für zwanzigtausend Thaler silberne Tressen an sich!«

»Schellinger! Schellinger!« sagte ernst Herr Hammer, »daß Ihr Euch das Lügen nicht abgewöhnen könnt. – Die Tambour-Majors sind allerdings sehr reich angezogen, aber sie zeichnen sich [185] hauptsächlich durch ihre Größe aus; da war keiner, welcher nicht seine acht Fuß maß.«

»O Herr Hammer!« erwiderte der Garderobe-Gehilfe; »so groß habe ich noch keinen gesehen!«

»Nicht einmal unter dem alten Fritz!« lachte Richard.

»Na, laß nur gut sein,« fuhr Herr Hammer fort, indem er eine Prise nahm, »wenn wir uns mit dem Schellinger abgeben, so werden wir in alle Ewigkeit nicht fertig. Und heute gilt's Aufpassen. Der erste Akt thut sich noch, aber in den andern kommt eine Verwandlung über die andere. Ist die Flugmaschine zum Schluß recht in Ordnung, Richard?«

»Das will ich meinen,« entgegnete dieser schmunzelnd. »Die habe ich heute Nachmittag ein paar Stunden lang probirt; das geht wie geschmiert.«

»Und wer nimmt das große Tau in die Hand, welches die oberste Geschichte hält? Daran ist viel gelegen; denn wenn man das einen Zoll fahren ließe, so schlägt uns die ganze Geschichte zusammen; und dann gute Nacht, wer darauf steht.«

»Seid unbesorgt,« erwiderte der junge Zimmermann, »das nehm' ich selbst in die Hand, und wenn ich es einmal gepackt habe, da könnt ihr meinetwegen das ganze Ballet darauf stellen.«

»Die armen Tänzerinnen müssen doch rechten Muth haben,« sagte Herr Wander; »es ist kein Spaß, an so ein paar elenden Drähten zu hängen oder an einem einzigen Tau, und da hinab zu sehen ein paar Stockwerke tief unter das Podium.«

»Die Gewohnheit thut's,« versetzte der erste Maschinist.

»Ja, die Gewohnheit thut viel,« meinte Herr Schellinger; »ich weiß das von der Zeit her, wo ich noch öfters auf die Gemsenjagd ging. Da sind wir Tage lang an Felsen herumgeklettert, die so scharfkantig waren, daß sie einem die Schuhsohlen durchschnitten, rechts ein Abgrund von tausend Fuß und links einer von zweitausend!«

[186] »Dann konntet Ihr ja gar nicht mehr gehen, Schellinger!«

»O doch! diese Schnitte waren gerade unser Glück, denn sie hielten uns an dem Felsen fest. Habt Ihr nie gehört, daß sich die Gemsjäger in die Füße schneiden, wenn sie nicht mehr vorwärts können, und daß das Blut dann am Felsen festklebt und sie hält? Das war auch unser Glück.«

»Ja–a, ja–a, Schellinger,« sprach Herr Hammer ruhig, indem er aufstand, »Ihr habt in Eurem Leben gewiß manchen Bock geschossen. – Aber geht an eure Plätze, sie sind draußen an der letzten Scene; wir werden gleich Aktus haben.«

Beim zweiten und dritten Akt war der Platz hinter der achten Coulisse von Niemand besucht; es war, wie der erste Maschinist vorhin gesagt, draußen eine Verwandlung um die andere, viel Donner und Blitz, Wasserfälle, die beständig gedreht werden mußten, und wogende Meere, wo Alles, was disponibel war, unter der großen, gleich Wasser gemalten Leinwand saß, und wie Frösche auf- und abhüpfte, um die wogende See schön und täuschend darzustellen.

Therese hatte oft nach Schwindelmann gesehen, aber sie wußte nicht, ging er ihr aus dem Wege oder war es Zufall, daß er, so oft sie ihn traf, bei den Zimmerleuten stand, oder so beschäftigt war, daß sie ihn nichts fragen konnte.

»Marie saß trotz dem Vorgefallenen in unerklärlicher Angst in der Garderobe und scheute sich, Richard unter die Augen zu treten, sie wußte selbst nicht, warum. Nur einmal am heutigen Abend hatte sie ihm gezwungen zugelächelt, und das war nach dem ersten Akt, als er ihr mit einem herzlichen Händedruck von der Flugmaschine herunter geholfen und dabei gesagt hatte: aber Marie, heute Abend hast du prächtig ausgesehen; wenn wir einmal verheirathet sind, so mußt du mir zu Liebe das Haar auch einmal so machen. Für die Granatblüthen will ich schon sorgen!«

Der letzte Akt kam; die ersten Scenen spielten in einer kurzen [187] Dekoration, um hinten Platz für das große Flugwerk zu gewinnen; die Ratten wurden dort eben aufgestellt und streckten krampfhaft ihre kleinen dünnen Beine heraus, um ihre Engelsfiguren recht graziös zu machen; die Tänzerinnen standen in den Coulissen; hier plauderten ein paar zusammen, dort wurde noch eine Schleife aufgesteckt, und im Hintergrunde probirte der dürre erste Tänzer mit einigen ein paar Battements.

Auch das Podium war geöffnet, um die große Flugmaschine hinauf zu lassen und wir ersuchen den geneigten Leser, einen Blick dort hinab zu werfen. Es ist dies ein spärlich erhellter Raum unter der Bühne, voller Schnüre, Seile, Leitern, Treppen, Coulissenfüßen, Verfenkungs-Apparaten und sonstigen Gegenständen. Hier ist für alle Schauerstücke und Feenopern ein wichtiger Platz, denn von hier aus erschallen die unterirdischen und Geisterstimmen, heulen die Winde aus den tiefen Schluchten hervor; von hier züngeln die Flammen aus dem Erdboden, wenn irgend ein finsteres Gespenst über die Oberfläche dahin schreitet, und von hier steigen Engel und Teufel auf.

Bei gewöhnlichen Vorstellungen ist es da sehr dunkel, nur ein paar trübe Laternen leuchten spärlich in dem weiten Raume; bei der heutigen Oper aber, wo alle Freuden des Himmels, alle Schrecknisse der Hölle losgelassen waren, brannte so viel Licht, um die Gegenstände rings herum nothdürftig erkennen zu können; auch war die größte Versenkung oben offen, und eine starke Helle fiel von da herein.

Richard stand drunten mit seinem Tau, und Schwindelmann, der gerade nichts zu thun hatte, saß neben ihm auf einer der Treppen. Das Theater verwandelte sich in die Schlußdekoration, und droben, von vier Mann getrieben, setzte sich die große Flugmaschine in Bewegung. Sie brachte den ganzen Himmel an's Tageslicht, aus dem nun am Ende Fee Amorosa, die Beschützerin der wahren Liebe, auf einer Wolke noch einige zwanzig Fuß höher stieg. Vorher[188] aber kamen noch ein paar lange Scenen, und als droben zur Einleitung in diese eine sanfte Sphären-Musik erklang, zog Schwindelmann drunten seine Schnupftabaksdose hervor, und bot auch Richard eine Prise an, der sie lachend nahm und sagte: »Jetzt kann ich noch meine Hand zu etwas gebrauchen, wenn ich aber nachher die Fee in ihrem Himmel droben festhalten muß, da brauche ich beide Hände und einen Theil meiner ganzen Kraft. – Hier aus dem dunklen Raume hinauf gesehen,« fuhr er nach einer Pause fort, »schauen die Mädchen wahrhaftig wunderschön aus. Sieh' dir die Therese an, wie sich die prächtig aus nimmt!«

»Gott! das haben wir ja schon tausendmal gesehen,« entgegnete Schwindelmann mürrisch. »Und dann steckt ja nichts dahinter; wer sie so wie ich von Hause abholen muß oder nachher in den Wagen hineinschieben, für den geht alle Täuschung verloren.«

»Na, Schwindelmann,« meinte Richard, »du bist ein alter, leichtsinniger Kerl; für dich ist das doch angenehm.«

»Weiß Gott im Himmel,« entgegnete ernst der Theaterdiener, »die meisten waren mir von jeher gleichgiltig und werden es immer mehr. Weißt du, wer sie so wie ich auch in ihrem Leben zu Haus genau kennt, dem thut es weh, wenn er so sehen muß, wie jetzt bald die, bald jene dumme Streiche macht. Anfänglich kommen sie mit den besten Vorsätzen hieher; sie sind brav und wollen es bleiben, sie wehren sich auch, so lange sie können, aber du lieber Himmel! die Verführung ist zu groß. Ich habe ja gewiß Mitleiden mit den armen Geschöpfen. Weißt du, Richard: hier in Sammet und Seide, Pracht und Glanz, – zu Haus Elend und Noth; hier stehen sie von den reichen Gastereien hungrig auf, um zu Haus auch nicht viel mehr zu finden, als Kartoffeln und trockenes Brod. Da kommen dann Anträge und Versprechungen für eine glänzende Zukunft, da wird dann endlich Leib und Seele verkauft – 's ist ein Jammer.«

Richard blickte nachdenkend in die Höhe, und der Glanz droben, [189] die Seide, das Gold, die falschen Brillanten, die rothen Wangen und blitzenden Augen erschienen ihm minder blendend.

»Ja, es ist ein Jammer,« fuhr Schwindelmann fort, indem er heftig auf den Deckel seiner Dose klopfte. »Und man kann es ihnen nicht einmal übel nehmen; wenn angesehene Bürgerstöchter, überhaupt wohlhabende Mädchen tugendhaft bleiben, das sollte sich am Ende von selbst verstehen. Darnach drehe ich keine Hand herum, aber die da oben – nun, Richard, wehe thut es mir doch, wenn ich es so erlebe, wie eine nach der andern abfällt.«

»Na, Schwindelmann, du übertreibst,« sagte Richard, »du könntest mir ganz Angst machen. Es sind doch Manche darunter, die sehr ordentlich sind.«

»Ja, es hat noch welche; sonst wäre es aber auch zu schlimm.«

»Denk nur an deine beiden Schätze,« fuhr Richard lachend fort, »die Clara und die Marie, – gelt, alter Kerl, für die Beiden gehst du durch's Feuer.«

Schwindelmann machte ein Gesicht, als habe er eine saure Pflaume gegessen.

»Richard!« rief Herr Hammer durch das Sprachrohr hinab, »die obere Flugmaschine wird gleich in Bewegung gesetzt. Fasse das Tau an; wenn ich dir zurufe, so wickelst du es um und hältst es fest! Die an der Winde verlassen sich auf dich. Laß mir keinen Achtelszoll fahren!«

»Kein Haar breit!« rief Richard lustig. »Jetzt paß' auf, Schwindelmann! Siehst du deinen Schatz, schau, wie die Marie schön aussieht!«

»Auch die mag ich gar nicht mehr ansehen,« erwiderte der Theaterdiener verdrießlich, indem er den Kopf wegwandte.

»Was hast du gesagt?« meinte Richard und fuhr erschreckt herum. – »Hast du von der Marie nicht gesagt, auch die möchtest du gar nicht mehr ansehen?«

»Ja, das habe ich gesagt,« versetzte Schwindelmann. »Aber [190] was kümmerst du dich darum? Dich interessirt's ja doch wohl nicht, was die Mädel zu Haus treiben.«

Der junge Hammer war in diesem Augenblicke schlau genug, diese Frage des Theaterdieners eifrig zu verneinen. Er dachte sich: da ist vielleicht etwas vorgefallen; sage ich aber, daß mich die Marie interessirt, so schweigt der vorsichtige Kerl, der Schwindelmann. »Eigentlich geht's mich nichts an,« versetzte er deßhalb, »und ich habe nur gefragt, weil man der Marie durchaus nichts Schlimmes nachsagen konnte, auch nicht das Geringste; das mußt du zugeben, Schwindelmann.«

»Ich habe das bis jetzt nicht nur immer zugegeben,« erwiderte der Theaterdiener, »sondern auch eifrig verfochten.«

Diese Worte: bis jetzt – drangen wie ein Dolchstich in die Brust des jungen Zimmermanns; er zitterte heftig, ja, es wurde ihm schwarz vor den Augen. Mühsam Athem holend sagte er: »Bis jetzt, Schwindelmann – was soll das heißen: bis jetzt?«

»Ich weiß nicht,« erwiderte dieser trotzig.

»Ist das auch recht,« meinte mühsam lachend Richard; »ein alter Freund wie du macht einen da neugierig und will dann 's Maul halten? – Pfui, Schwindelmann! Das thun nur die alten Weiber. – Also, was wolltest du sagen mit dem bis jetzt? Ich verstehe es nicht.«

»Nun denn, bis gestern, wenn dir das deutlicher ist,« sprach erbost Schwindelmann, und nachdem er einen Augenblick hinauf geschaut in die schönen Züge der Tänzerin, fuhr er fort: »Sieht das Mädel unschuldig aus!«

»Ah! – Bis gestern, Schwindelmann!«

»Nichts, nichts! Es ist unrecht von mir, daß ich hier ein solches Gewäsch halte. Was geht's mich, was geht's dich an?«

Dem Zimmermann war es kaum möglich, den Athem in seine Brust zu ziehen. Er fuhr mit der rechten Hand an die Stirne, und in seiner heftigen Art überlegte er, ob es nicht vielleicht besser [191] sei, seinen alten Freund Schwindelmann am Halse zu nehmen und ihn so lange zu schütteln, bis er ihm sage, was er wisse. – Wer weiß auch was geschehen wäre, wenn nicht in diesem Augenblicke die Stimme des ersten Maschinisten herabgerufen hätte: »Aufgepaßt da unten und angefaßt! Und so wie ich wieder rufe – das Seil fest umgeschlungen!«

Droben flammten zugleich die bengalischen Feuer in rother Gluth und warfen einen glänzenden Schein auch unter das Podium. Durch alle die Fugen und Dielen der Versenkungen strahlte es hindurch und es sah hier unten aus, als brenne oben das ganze Theater. Dabei erklangen Flöten und Harfen, und eine sanfte Musik begleitete das Aufschweben der Beschützerin der wahren Liebe. – »Ah!« machte das Publikum, und man hörte das wie ein entferntes Sausen und Rauschen.

»Aufgepaßt!« tönte es jetzt durch das Sprachrohr herab, und Richard schlang mit zitternden Händen das Tau um den eisernen Träger und hielt es fest. Doch war seine Seele nicht dabei, ja sie schwebte nicht einmal mit der Fee Amorosa in die Höhe, sondern all' sein Denken, all' seine Fassungskraft konzentrirte sich auf Schwindelmann, der ruhig eine Prise genommen hatte und nun erzählte, wie er gestern in die Wohnung der Mamsell Marie gegangen, um die heutige Vorstellung anzusagen, wie er schon vor dem Zimmer geglaubt, er höre flüstern, wie er dann aber wiederge meint, er habe sich geirrt, und darauf leise angeklopft habe. – Keine Antwort!

»Keine Antwort!« wiederholte Richard, dem der Schweiß von der Stirne herabfloß.

»Darauf öffnete ich die Thüre und – aber gib auf dein Tau Achtung, Richard,« unterbrach sich Schwindelmann, »der eiserne Haken ist glatt; es könnte abrutschen, wenn du dich so stark zu mir herumdrehst.«

»Du – öffnetest – also – die Thüre – und,« – sagte Richard.

»Nun ja, da sah ich die Bescheerung; die Marie war allein, [192] das heißt ohne ihre Tante, und ein Herr war bei ihr, sehr wohl gekleidet, der hielt sie fest in den Armen.«

»O nein, Schwindelmann, das that er nicht!« schrie entsetzt der junge Zimmermann.

»Er that's, Richard; würde ich es sonst sagen? – Aber natürlich nur einen Augenblick, denn als ich so unberufen in's Zimmer trat, sprangen Beide vom Sopha auf.«

»Vom Sopha auf!« schrie Richard wie wahnsinnig in höchster Aufregung. »Auf – vom Sopha, Schwindelmann? ah – verflucht!«

Bei diesen Worten hatte er seinen Oberkörper heftig nach dem Theaterdiener herum geworfen, um von dessen Lippen nochmals die Bestätigung zu hören. Doch war dieser wie von einer Feder in die Höhe geschnellt, streckte die Hände weit von sich und stieß einen gräßlichen Schrei aus.

Diesem folgte droben ein anderer, furchtbar und schmerzensvoll. Dumpf tönte dazwischen die Stimme des ersten Maschinisten durch das Sprachrohr hinab: »Richard! Richard!« Die Musik brach ab, das Geschrei auf der Bühne pflanzte sich im Publikum fort, dort kreischten hundert Stimmen laut auf. Oben auf der Bühne krachte es zusammen, als breche das Podium ein; eine schwere Masse polterte zu den Füßen des jungen Zimmermanns, eine Masse von Brettern und Balken, und dazwischen – der Körper eines armen, jungen Mädchens, das noch eine Sekunde früher droben in Schönheit und Jugend gestrahlt, jetzt regungslos wie todt hier unten lag.

»Marie! Marie!« schrie Schwindelmann. Dabei stürzte er sich auf die Tänzerin, riß die Taue und Balken um sie her fort, nahm sie sanft in seine Arme und indem er neben sie kniete, legte er ihren Kopf behutsam in seinen Schooß.

»Das hat der Himmel gethan, nicht ich,« murmelte Richard mit dumpfer Stimme. – Er schwankte auf seinen Füßen und mußte sich an dem eisernen Träger neben sich halten, um nicht hinzustürzen.

[193] Ueber alle Treppen und Leitern hinab stürzte jetzt das Theaterpersonal, die Beamten, kurz was sich auf der Bühne befand, herbei, um sich von der Größe des Unglücks zu überzeugen. Therese war übrigens die Erste, die herbei kam, sie schauderte einen Augenblick wie vor der Todtenblässe des eben noch so frischen Mädchens, dann faßte sie Richards Arm und sagte, während ihre Zähne hörbar zusammenklapperten: »Das hast du absichtlich gethan. Du bist ihr Mörder.« – Sie hatte Schwindelmann sogleich gesehen, sie hatte es sich gedacht, welche Unterredung hier stattgefunden.

»Nein, nein!« sagte Richard kaum hörbar, »da thun Sie mir Unrecht; ich weiß nicht, wie mir das Seil entschlüpft.«

»Und hat dir Schwindelmann nichts erzählt?«

»O ja, ich that es,« sprach der Theaterdiener mit bekümmerter Stimme.

»O gräßlich! gräßlich!« rief nun Therese laut weinend und warf sich auf die Kniee neben Marie hin. »Du armes, armes Geschöpf! – Aber es ist vielleicht besser so.« Sie wischte ihr leicht über die Stirne und trocknete ein paar Tropfen Blut ab, die zwischen den bleichen Lippen langsam hervorgequollen waren.

In wenigen Augenblicken umstand ein Kreis entsetzter Gesichter und rathloser Menschen die Unglückliche; viele Stimmen riefen nach einem Arzte, doch dauerte es lange, bis man einen gefunden. Der Theaterarzt war, wie das zuweilen zu geschehen pflegt, gerade nicht im Theater, aber einer von denen, die man in die Stadt gesandt hatte, traf nicht weit vom Theatergebäude zufälligerweise auf den Doktor Erichsen, der mit seinem Bruder im Begriffe war nach Hause zu gehen.

Der Kreis theilte sich, als der Arzt die Stufen hinabstieg, und Todtenstille herrschte rings umher, als er den Kopf des leblosen Mädchens langsam aufrichtete, Hände und Arme befühlte und ihr in das halbgebrochene Auge schaute. Kein Laut wurde ringsum hörbar, ja alle hielten den Athem an und jedes Auge blickte auf [194] den Arzt. – Als dieser nun leicht den Kopf schüttelte, die Achseln zuckte und mit ernster Miene dem Intendanten, der hinter ihm stand, einige Worte zuflüsterte, sahen wohl Alle, daß wenig oder gar keine Hoffnung sei. Die Tänzerinnen, die sich bis jetzt zurückgehalten, stürzten nun von allen Seiten laut weinend neben Marie nieder, küßten ihr die Hände, die aufgegangenen schwarzen Haarflechten, und ein paar steckten eifrig die Granatblüthen zu sich, die ihrem Haar entfallen waren.

»Aber wie ist denn das Unglück gekommen?« rief der Intendant, indem er bewegt seine Hände zusammen preßte. »Wer war unten bei dem Tau?«

Die ihn Umgebenden traten bei diesen Worten scheu vor dem jungen Zimmermann auf die Seite und Richard stand einen Augenblick allein, das Gesicht mit Todtesblässe bedeckt, die bläulichen Lippen halb geöffnet, die Augen starr aufgerissen.

»Ich bin es, der das gethan,« sagte er nach einer Pause mit tiefem Athemzuge. – Darauf wurde sein Blick plötzlich unsicher, gläsern, seine Hände griffen um sich, als wollten sie irgend etwas erfassen; seine Kniee knickten ein, und wenn nicht einige der Zimmerleute ihm beigesprungen wären und ihn gehalten hätten, so wäre er zu Boden gestürzt. So aber ließen ihn seine Kameraden langsam niedersinken, und legten ihm seinen Kopf auf eine der Treppenstufen.

Doktor Erichsen verordnete nun, man solle das unglückliche Mädchen aufheben, und dann in einem Tragkorb in ihre Wohnung bringen. Er schrieb sich Nummer und Straße derselben auf und entfernte sich mit Arthur. Daß Letzterer Gelegenheit fand, der erschreckten Clara ein freundlich tröstendes Wort zuzuflüstern, brauchen wir dem geneigten Leser eigentlich nicht zu sagen.

Man hob Marie auf, brachte sie sorgfältig auf die Bühne, und vier der Zimmerleute trugen den Körper des unglücklichen Mädchens in ihre Wohnung. Therese, entschlossen, wie sie immer war, hatte sich in der Eile nothdürftig angekleidet, einen warmen Mantel [195] über das leichte Nymphenkleid geworfen und begleitete die arme Marie. Unterwegs hatte sie ihre herabhängenden Hände gefaßt, und wenn sie dieselben küßte, was oft geschah, so fielen ihre Thränen auf die erkalteten Finger. Das sah aber Niemand, als die Tausende von Sternen, die an dem klaren Himmel glänzten.

Richard hatte sich langsam wieder erholt, Schwindelmann war bei ihm geblieben, hatte ihm seine Jacke aufgeknöpft und kaltes Wasser in das Gesicht gespritzt. – »Ist sie fort?« fragte er, als er die Augen aufschlug; »aber nicht wahr, Schwindelmann, sie lebt noch?«

Der Theaterdiener nickte mit dem Kopfe und dazu zuckten seine Augenlider. Seine alten Augen waren es seit lange nicht mehr gewohnt, von Thränen angefeuchtet zu werden. – »Ja,« antwortete er, »sie lebt noch; aber sage mir, Richard, –«

»Was denn?«

»Aber weißt du, Richard, du mußt dich nicht scheuen, es uns zu gestehen, – nicht wahr, die Marie war dein Schatz?«

»Sie war es,« sagte der junge Zimmermann mit bebenden Lippen, »und sollte sie sterben, dann bleibt sie es auch, dann lebt sie für mich fort; sollte sie aber wieder frisch und gesund werden und leben bleiben, dann ist sie für mich gestorben.« –

»Amen!« sagte der Theaterdiener mit unsicherer Stimme.

Darauf stiegen Beide langsam die Treppe hinauf, die zur Bühne führt, und nach all' dem, was vorgefallen, war es unheimlich still unter dem Podium.

67. Kapitel
Siebenundsechzigstes Kapitel.
Im Fuchsbau.

Im Fuchsbau war es in letzter Zeit ziemlich still und geräuschlos hergegangen; Fremde gab es gar keine, und die Stammgäste [196] waren auswärts so beschäftigt gewesen, daß sie nicht Zeit oder Lust hatten, sich hier häufig zusammen zu finden. Ueberhaupt war die Schenkstube nur belebt, wenn es nicht viel zu thun gab, mit andern Worten, wenn nicht viel Geld vorräthig war; dann wurde hier in Erwartung besserer Zeiten auf Kredit gelebt. Klimperte aber Silber und Gold in den Taschen, so zog man es vor, andere Kneipen aufzusuchen, nicht weil dort der Wein besser war, sondern weil man unbeobachtet sein konnte, was im Fuchsbau nicht so ganz der Fall war. Da hatten die Wände der Schenkstube Ohren und die alte Pförtnerin scharfe Augen; es schwebte selbst für diese harten Gemüther etwas Drückendes, durch die Räume, und wenn der Klang einer gewissen Klingel erscholl, so waren Wenige, die ihr Glas an die Lippen brachten, selbst wenn sie die Hand dazu schon erhoben hatten.

Auch heute Abend war die Klingel ertönt; da aber außer der Kellnerin sonst keine menschliche Seele im Zimmer war, so hatte sie nur auf diese ihre Wirkung ausgeübt. So hurtig es ihr die alten Beine erlaubten, war sie aufgesprungen, hatte nachgeschaut, ob die Drähte der Klingelzüge auch wirklich unverwirrt neben einander hingen, sie war auf einen Stuhl gestiegen und hatte ein kleines Kästchen betrachtet, welches ungefähr acht Schuh vom Boden an der Wand hing. In dieses Kästchen führte von oben eine kleine feine Kette, welche durch die Decke kam und irgendwo im Hause gezogen werden konnte. Auch diesen Zug untersuchte sie, ob er in Ordnung sei und nicht stocken werde; sie zog das kleine Kettchen vorsichtig in die Höhe, worauf eine Feder anschlug und hell und schrill der Klang einer Glocke ertönte. Zu gleicher Zeit öffnete sich der Boden des Kästchens nach unten. Die Alte nickte selbstzufrieden mit dem Kopfe, als sie sah, daß die ganze Maschinerie in Ordnung sei, und drückte den Boden wieder vorsichtig in die Höhe, dessen Schloß mit einem kleinen Geräusch wieder zusprang.

Dies Kästchen hatte eine sehr wichtige Bestimmung; denn wenn [197] die Glocke anschlug und sich der Boden öffnete, so hatte das alte Weib die Verpflichtung, augenblicklich den Haupthahnen der Gasbeleuchtungsröhren zuzudrehen und so das ganze Haus in tiefste Finsterniß zu versetzen. So lange nun die Alte als Pförtnerin sich hier befand, war das nur ein einziges Mal geschehen und zwar in einer fürchterlichen Nacht, an die sie nur mit Schrecken dachte.

So öde und leer wie das Schenkzimmer waren auch die Treppen und Korridore, obgleich hell beleuchtet; nur in einem Winkel der letzteren ging ein Mann ruhig auf und ab, nach Art einer Schildwache. Und diesen Dienst versah er auch. Von der Stelle aus, wo er sich befand, hatte er zwei lange Gänge, sowie die Haupttreppe im Auge, und wenn er ruhig stand und horchte, so war es ihm möglich, den leisesten Tritt, selbst vom entferntesten Theil des Gebäudes zu vernehmen. Die Thüre, neben welcher er stand, ist uns nicht unbekannt; sie führt in ein kleines Vorzimmer, und von da in das hohe Gemach mit der dunklen Holzbekleidung.

Wie an jenem Abend, dessen sich der geneigte Leser vielleicht noch erinnern wird, waren die dunkeln Vorhänge vor dem Fenster herabgelassen und im Kamine brannten große Stücke Holz. Auf dem alten Tische mit der grünen Decke standen zwei brennende Leuchter, und auf dem Stuhle mit der hohen Lehne, der neben dem Tische stand, saß er im gleichen Anzuge wie damals. Er hatte die Beine über einander geschlagen und die rechte Hand unter sein Kinn gestützt, während seine Linke nachlässig herabhing und den tscherkessischen Dolch, den er am Gürtel trug, zu wiegen schien. Vor ihm stand Mathias in ehrfurchtsvoller Haltung.

»Du meinst also,« sagte er, »daß sich die Polizei um den Vorfall da draußen bei dem Schwemmer weiter nicht bekümmert hat?«

»Ich weiß das sogar genau,« erwiderte Mathias; »es trieben sich allerdings einige von ihnen an dem Abend dort herum – aber,« setzte er lächelnd hinzu, »es muß da ein guter Freund von uns dabei gewesen sein, denn sie zogen sich leise zurück, als wir [198] das Haus verließen, und Einen hörte ich sagen: Ach was! wer wird sich da hineinmischen! Pack schlägt sich, Pack verträgt sich!«

»Und doch hätten sie damals einen guten Fang machen können; aber das Eisen zu deinen Banden, Mathias, liegt noch in tiefer Erde, wird vielleicht niemals gefunden.«

»Das hoffe ich,« entgegnete der Andere mit tiefer Stimme. »Ich möchte doch nicht – – so enden.«

»Gewiß nicht, Mathias; es wäre schade um dich. Was meinst du, wenn wir nach und nach daran dächten, das Geschäft abzuwickeln, wie die Kaufleute zu sagen pflegen.«

Ein leichter Blitz flammte in dem Auge des Mannes auf; doch sprach er gleich darauf: »Sie wissen, Herr, mir gilt nur Ihr Befehl, und wenn Sie verlangen, ich soll mich morgen selbst angeben, so thue ich es.«

»Gewiß, Mathias, ich weiß das. Aber lassen wir diese Reden! ich hoffe, du sollst noch einmal Zeit genug bekommen, ein ruhiges Leben zu führen, meinetwegen auch zu bereuen und wieder gut zu machen, was du verbrochen. – Also die Schwemmer'sche Wirthschaft hat aufgehört? Wann starb er?«

»Acht Tage nach jenem Vorfalle, Herr. Vielleicht hat er sich zu sehr alterirt; viel aushalten konnte er ohnedies nicht – vielleicht auch –«

»Nun was? – Warum stockst du?«

»Nun, ich meine, vielleicht half ihm auch Jemand über seine letzten Lebenstage schnell hinweg kommen.«

»Teufel! ich will nicht hoffen.«

»Ich weiß nichts genau, aber es wollte mir nicht gefallen, daß sich seit jenem Abend der Sträuber beständig dort aufhielt. Früher war dem in seinem lächerlichen Hochmuth das Haus dort viel zu schlecht; wie gesagt, von da an hielt er es mit der alten versoffenen Schwemmer, und wenige Tage nachher lud sie uns zum Begräbniß ihres Gemahls ein.«

[199] »Ich fürchte, der Sträuber wird nächstens ein klägliches Ende nehmen,« sagte er nach einigem Nachdenken, und seine Hand fuhr langsam von der Scheide des Dolches nach dem Hefte hinauf. »Wird er genau beobachtet?«

»Allerdings, so genau als es möglich ist; aber er ist schlau wie der Teufel, hat große Angst und nimmt sich sehr in Acht.«

»Besucht er Häuser, in denen er nachweislich nichts zu schaffen hat?«

»Das wohl, aber wenn man sich bei ihm erkundigt, so hat er immer die triftigsten Ausreden.«

»Zum Beispiel?«

»So treibt er sich gern in der Nähe des Schlosses herum. Ich habe ihn schon ein paar Mal aus dieser oder jener Thüre heraus kommen sehen.«

»Immer im schwarzen Frack?«

»Und baumwollenen Handschuhen – das versteht sich. Als er mir das erste Mal da aufstieß, folgte ich ihm durch mehrere Straßen, und an einer passenden einsamen Stelle, wo ich that, als träfe ich ihn jetzt erst zufällig, sagte ich zu ihm: ei, Sträuber, woher des Wegs? – Ich dachte, er sollte mir irgend eine Lüge aufbinden, und dann wollte ich ihn examiniren; – aber Gott bewahre! er erzählte mir ganz ruhig, er komme vom Schlosse, wo er seine kleinen Geschäfte habe.«

»Und welche? Gab er vielleicht vor, er handle mit alten Kleidern?«

»O nein, dazu ist er zu hochmüthig; er sei Agent geworden, sagte er, und dabei zog er seine schmutzigen Vatermörder stolz in die Höhe. – Agent oder Kommissionär für eine privilegirte Leichenkasse.«

»Was ist das, Mathias?«

»Das sind Anstalten, wo man irgend Jemand versichern läßt, um nach dessen Tod ein gewisses Geld zu bekommen; es paßt für [200] den Sträuber, und es ist viel scheues, heimliches Wesen dabei. Man versichert zum Beispiel so einen armen Teufel in einem Dutzend dergleichen Anstalten, dann stirbt er oder sie lassen ihn sterben und bekommen eine recht hübsche Summe. Ich weiß genau, daß der Sträuber und die Schwemmer ihren Mann auf diese Art versicherten, und als er bald darauf an vieler Freundschaft starb, wurde ihnen wacker ausbezahlt.«

»Aber was hat er im Schloß zu schaffen?«

»Da macht er mit den Bedienten, so sagt er, die oben erwähnten Geschäfte. Aber ich glaube ihm doch nicht; ich sah ihn zu oft in der Gegend herum flaniren, und Sie können sich denken, Herr, daß ich ihm eifrig nachspüre. Er geht meistens in den östlichen Seitenflügel: dort wohnt ein alter General, ich glaube Baron von W.«

»Ah! dahin geht er!« sprach der Andere, plötzlich sehr aufmerksam werdend, wobei er hastig seine Stellung veränderte und seinen Oberkörper aufrichtete. »Das interessirt mich auf's Höchste. Sei so gut, Mathias, und nehm' dich der Sache an; spare keine Mühe, keine Kosten, stelle einen oder zwei Vertraute zur Beobachtung auf; er soll keinen Schritt mehr thun, den wir nicht erfahren. Berichte mir täglich darüber und so umständlich als möglich.«

»Daran soll's nicht fehlen,« erwiderte Mathias lächelnd.

»Dann noch eins, Mathias,« fuhr der Andere mit ernster Stimme fort. »Ich habe da unter der Hand etwas von einem Kinderhandel, der schwunghaft betrieben werden soll, gehört. Pfui Teufel! Das ist 'ne Schande, und ich will das nicht leiden. Du weißt, lieber Mathias, ich spreche nicht gern zweimal von einer Sache, und wenn ich meine Hand ausstrecke, so zerdrücke ich die Schuldigen, mögen sie sein wer sie wollen.«

Mathias war bei diesen Worten ein wenig erbleicht und sogar zurückgewichen, als der Andere die Hand nun wirklich ausstreckte.

»Es ist das eine Schande,« fuhr dieser fort, »so ein armes Wesen in die Welt hinaus zu stoßen, es zu verkaufen zu den [201] gemeinsten Lastern und Verbrechen, es eltern- und heimathlos zu machen. – O, ich kenne das! und möchte um Alles in der Welt damit nichts zu thun haben. Laßt die armen, unschuldigen Geschöpfe! – Ist denn die Welt so arm geworden an guten Freunden, die keine Ehre aber viel Geld haben? Wendet euch dahin, aber laßt mir jenen niederträchtigen Handel; ich weiß wohl, der Schwemmer war die Haupttriebfeder. Nun, er ist dahin, also laßt's bleiben!«

»Es soll unterbleiben,« erwiderte Mathias mit fester Stimme, »verlassen Sie sich darauf, Herr.«

»Schön. – Wie ist mir doch,« fuhr er nach einer Pause in leichtem, gefälligem Tone fort, während er mit der Hand über die Stirne strich, »da habe ich einen guten Bekannten, dem könnte ein Besuch nichts schaden, er ist ein Buchhändler und ein sehr schlechter Kerl, er heißt Johann Christian Blaffer. – Hast du den Namen zufällig gehört?«

»Sie sprachen neulich mit mir darüber und gaben mir Befehl, mich nach den Verhältnissen des Hauses zu erkundigen.«

»Richtig! ich hatte das vergessen. – Wird da für euch was zu holen sein?«

»In einigen Tagen eine artige Summe; Herr Blaffer beabsichtigt sein Haus zu verkaufen und will baar bezahlt sein.«

»Ah! Meister Mathias, deßhalb hast du wahrscheinlich meinen Befehl so genau befolgt! – Nun, wer ist in dem Hause?«

»Zuerst der Prinzipal, Herr Blaffer, dann ein sehr dummer Lehrling –«

»An den ich dir eine Rekommandation verschaffen will,« warf der Andere leicht ein.

»Ferner eine alte Magd,« fuhr Mathias mit einer Verbeugung fort, »und ein recht schönes Mädchen.«

»Aha, Meister! du nennst das Mädchen zuletzt; das muß einen Haken haben.«

[202] »Und einen tüchtigen, Herr. Der alte Buchhändler wandte ihr seine Liebe zu, und dafür betrügt sie ihn so tüchtig als möglich.«

»Teufel! das mußt du mir erzählen,« sagte der Andere aufmerksam und setzte dann mit leiser Stimme hinzu: »Armer Beil! Das soll ihn vollends kuriren.«

»Es ist da ein junger, hübscher Kerl, – ich kenne ihn ziemlich –«

»Also ein leichter Patron, ein Taugenichts?«

»So etwas der Art, aber zum Sterben in das Mädchen verliebt. Er wohnt im Nebenhause, hat sie scharf angesehen, sie ihn auch, er spielt den großen Herrn und das hat ihr gefallen.«

»So, so, also ziemlich leichte Waare!«

»Wohl möglich, Herr; ich muß aber zu ihrer Entschuldigung sagen, daß sie gezwungen den ersten Schritt that und sich deßhalb zum zweiten und zu den folgenden leicht überreden ließ.«

»Der junge Mensch kommt in's Haus?«

»Ja, Herr; über das Dach des Nebenhauses; er klettert und schleicht wie 'ne Katze. Ich glaube nicht, daß ihn der Buchhändler so leicht erwischen wird.«

Der Andere machte nachdenkend ein paar rasche Gänge durch's Zimmer. – »Schön, schön,« sagte er alsdann; »sieh dir das Haus genau an, namentlich erforsche, wo der Buchhändler wohnt und wo das Mädchen wohnt. Melde mir, wenn die Gelder eingelaufen sind, und dann laß dich sehen und hole deine Instruktionen. Aber, Mathias, befolge sie auf's Wort!«

»Wenn aber Zwischenfälle eintreten, die man nicht vorher sehen kann?«

»So zieht ihr euch unverrichteter Sache zurück. Wenn an der Ausführung meines Planes ein Jota fehlt, so ist die ganze Geschichte nichts werth. – Hast du mich verstanden? – Weiter habe ich nichts. Josef wird draußen sein; er soll herein kommen.«

Mathias, der die erhaltenen Befehle nur mit einem Kopfnicken [203] beantwortet hatte, verließ das Zimmer, und gleich darauf trat Josef, der Jäger des Grafen Fohrbach, herein. Er trug einen grauen, unscheinbaren Jagdrock, doch war sein voller, schwarzer Bart sorgfältig geordnet.

»Ah! du bist da, Josef – Franz Karner? Du machst dich rar; in eurem Hause muß wenig Besonderes vorfallen, daß du keinen Stoff zu berichten findest. Wie ist's damit, Herr Josef – Franz Karner?«

Der Jäger erschien einigermaßen befangen, doch richtete er sein Auge fest auf den jungen Mann, der, während er sprach, ruhig sitzen blieb und mit den Fingerspitzen auf dem Tische trommelte. – »Gewiß, Herr,« sagte er darauf, »es gibt dort in der That wenig zu berichten, sonst wäre ich häufiger gekommen. Wenn Sie auch den Franz Karner noch nicht genau kennen, so wissen Sie doch, daß Ihnen Josef mit Leib und Seele ergeben ist und daß er hält, was er verspricht.«

»Selbst wenn ihm das Kummer machen sollte?« sprach der Andere mit Betonung.

»Selbst wenn ihm das Kummer machen sollte,« wiederholte der Jäger achselzuckend, aber mit unterwürfigem Tone.

»Davon nachher,« erwiderte der junge Mann leichthin. »Was hast du mir zu melden, Josef?«

»Wir hatten neulich eine große Soirée bei Seiner Excellenz dem Herrn Kriegsminister.«

»Ich weiß das, Josef, du nahmst dich in deiner neuen Uniform sehr gut aus. Nur hast du es verlernt, dich in der Gesellschaft zu bewegen.«

»Ah!« machte der Jäger fast sprachlos vor Erstaunen, »Sie haben mich gesehen, Herr?«

»Du läßt mich nicht ausreden; das ist ein Beweis für meine Behauptung. Der Wald hat dich etwas verwildert; man nimmt sich in Acht und reißt nicht nur so mit seinem [204] Wehrgehäng einen ganzen Orangenzweig voll Blüthen und Früchten herunter.«

»Bei Gott! das geschah mir,« sagte der Jäger, tief Athem holend.

»Aber weiter! – In dieser Soirée –«

»– Traf mein Herr, der Herr Graf, mit jener Dame zusammen und allein im Zimmer neben dem Glashause.«

»Und wo warst du?«

»Hinter dem Vorhange, der in's Neben-Kabinet führt.«

»Bravo, Franz Karner, du übertriffst den Josef.«

»Ich kann das Lob nicht annehmen,« sagte mit festem Tone der Jäger. »Bei Gott im Himmel! ich wollte meinen Herrn nicht belauschen; ich war ganz zufällig da.«

»Nun, das Resultat wird das Gleiche sein,« versetzte der Andere in nachlässigem Tone. »Die Beiden waren also allein, und –«

»Es erfolgte eine Liebeserklärung.«

»Und sie nahm sie an?«

»Gern, Herr,« sagte der Jäger mit froher Stimme. »Und ich begreife das.«

»Ei der Tausend!«

»Ja, Herr, es gibt wenig Kavaliere wie Seine Erlaucht der Graf Fohrbach, wenig Herren, denen Jedermann, der sie kennen lernt, so zugethan sein muß.«

»Wenige!« lachte der Andere laut hinaus. »Also steht der Graf doch nicht einzig da? Wen würdest du zum Beispiel neben ihn setzen? Sei aufrichtig, Josef.«

»Sie, Herr,« erwiderte der Jäger nach kurzer Ueberlegung, wobei er den jungen Mann mit seinem festen Blicke ansah. – »Sie, Herr,« wiederholte er, »wenn –«

»Nun! weiter! weiter! Gerade heraus, Josef, wie wir es immer gegen einander hielten.«

»Wenn – wenn – Manches anders wäre,« sagte der Jäger mit ganz leiser Stimme.

[205] Dies Wort mußte den Andern ziemlich schwer betroffen haben, denn obgleich er ein Lächeln versuchte, wurde es doch gleich darauf von einem wehmüthigen Zuge verdrängt. Er ließ den Kopf in die Hand sinken und verharrte so einige Sekunden. »Allons!« rief er alsdann nach einer Pause in seinem gewöhnlichen heiteren Tone, »du hast mir gewiß noch mehr zu sagen, Josef, denn wegen einer Bagatelle, wie diese, läßt du dich nicht bei mir sehen.«

»Sie haben Recht, Herr,« erwiderte der Jäger; »es trieb mich, aufrichtig gesagt, nach langem Kampfe, hieher – nicht aus Furcht vor Ihrem Zorn, Herr, obgleich ich wohl weiß, daß mich derselbe in einem Nu zermalmen könnte, obgleich ich weiß, daß es Sie nur einen Zug an jener Klingel kostet und ich sehe das Tageslicht nie wieder. Aber ich komme aus Dankbarkeit, für Alles, was Sie an mir gethan. Und dies Gefühl ist es auch, welches mich zwingt, Ihnen – diesen Brief zu übergeben. – Es ist ein Verrath an meinem Herrn, aber ich kann nicht anders.«

»Ei, ei, ein zierliches Briefchen!« lachte der Andere, indem er das Schreiben entgegen nahm. »Die Aufschrift kann ich mir denken. – Fräulein Eugenie von S. – Dergleichen wirst du viele zu überbringen haben, Josef?«

»Es ist der Erste, Herr,« versetzte der Jäger sehr ernst; »und deßhalb dachte ich mir, Sie werden einen Werth darauf legen.«

»Vielleicht,« sagte der Andere achselzuckend; »doch wird nicht viel Interessantes darin stehen – einige Liebesbetheuerungen, Versprechen ewiger Treue, so was dergleichen. Wann schrieb es der Graf?«

»Seine Erlaucht kamen vor einer Stunde mit dem Herrn von Steinfeld von einer Whistpartie, ich glaube bei dem Herrn Major von S. Der Herr Graf waren verdrießlich und erregt, und sprachen, während sie sich umkleideten, viel mit dem Herrn von Steinfeld.«

»So, so! Und was zum Beispiel?«

»Seine Erlaucht sagten: der Herzog wird wahrhaft unerträglich; [206] hast du je so etwas erlebt? Bietet mir da – freilich unter vier Augen – eine so unsinnige Wette an – eine Wette, die, wenn er vielleicht mein Verhältniß zu Eugenie ahnt, an's Unverschämte grenzt.«

»Brav, Josef! Du hast gut behalten. – Und die Wette?«

»Sie betraf Fräulein von S. Der Herr Herzog wollte es nämlich von heute bis über acht Tagen dahin bringen, daß bei dem großen Maskenballe, der am Hofe stattfindet, das Fräulein in ihrem Anzuge Bänder von den Farben des Herrn Herzogs tragen solle.«

»Ah! Seine Durchlaucht sind leichtsinnig im Wetten, aber geniren sich nicht um den Teufel; das muß biegen oder brechen. Er ist ein gefährlicher Mensch.« – Diese Worte murmelte er vor sich hin, so daß der Jäger nicht im Stande war, sie zu verstehen. – »Nun zu dem Briefe!« sagte er nach einigen Augenblicken mit lauter Stimme. – »Na, Josef,« fuhr er lächelnd fort, »du wirst nicht Alles verlernt haben. Oeffne den Brief geschickt und vorsichtig. Du weißt, dort im Wandschrank befindet sich das Nöthige dazu.«

Der Jäger zauderte.

Der Andere betrachtete das Siegel und schien dieses Zaudern nicht zu bemerken. »Er hat sich ein neues ganz gleiches machen lassen,« sprach er lächelnd vor sich hin. Dann fuhr er lauter fort: »Es ist fein, aber dick; der Abdruck ist schwierig; du kannst es hinweg schneiden. – Da.«

Der Jäger kämpfte einen schweren Kampf; sein Auge blitzte, seine Brust hob sich gewaltsam von tiefen Athemzügen. – »Verzeihen Sie mir, Herr,« sagte er nach einer längeren Pause, »das kann ich nicht.«

»Was kannst du nicht?«

»Der Brief ist von meinem Herrn,« fuhr er mit weicher, bittender Stimme fort, »von einem gütigen Herrn. O, es ist schon des Verraths genug – aber selbst öffnen – meine Hand zittert.«

[207] »Ah, mein Freund,« rief der Andere, und wie es schien gewissermaßen lustig, aus, »aber deine Hand zittert nicht, wenn sie auf eigene Rechnung die Büchse führt.«

Josef senkte sein Haupt und entgegnete: »Wenn ich Ihnen mit meinem Leben nützen kann, Herr, so werde ich nicht einen Augenblick zaudern, es hinzugeben, aber – es ist ja Ihre Schuld,« fuhr er mit einem trüben Lächeln fort, »warum brachten Sie mich zu einem solchen Herrn?«

»Nun meinetwegen, sei es darum; das soll uns nicht entzweien!« Er stand ruhig von seinem Stuhle auf, ehe er aber den Tisch verließ, blickte er den Jäger fest an, und als er das ein paar Sekunden gethan, wurden seine energischen Züge weicher; etwas Wehmüthiges erschien auf denselben. Dann ging er rasch zur Thüre, die sich, sowie er die Hand auf die Klinke legte, wie von selbst öffnete; er reichte den Brief hinaus und sagte: »Das Siegel behutsam ablösen!«

Unsichtbare Hände schienen ihn in Empfang zu nehmen, den Befehl augenblicklich zu vollziehen und ihm das geöffnete Schreiben zwischen den Vorhängen der Thüre wieder zu überreichen.

Er trat an den Tisch zurück und überflog den Brief. In demselben stand: »Verzeihe mir, Eugenie« – ah! das Sie wäre glücklich übersprungen, murmelte er, – »daß ich durch dieses Schreiben mit einer Bitte belästige. Heute Abend wird bei Ihrer Hoheit der Frau Herzogin die Zusammenkunft stattfinden, wo man über die Kostüme zu dem bevorstehenden Maskenball berathet. Wenn es dir möglich ist, die Farbe des deinigen so zu wünschen, daß du ein weißes Band darauf anbringen kannst, so wird mich das unendlich glücklich machen. Morgen will ich dir sagen, weßhalb ich diese sonderbare Bitte stelle.« – Teufel! dachte der Leser, er geht gerade darauf los. Da wird der Herzog einen schweren Stand haben. – Nun, ich wünsche es dem Grafen, wenn er baldigst die Braut heimführt; es ist das eine noble Seele, sie [208] nicht minder – es ist ein Paar, das Gott in der allerbesten Laune just für einander geschaffen zu haben scheint. – Er faltete den Brief zusammen; die unsichtbare Hand hinter dem Vorhang mußte ihn schließen, und dann gab er ihn dem Jäger zurück, wobei er sagte: »Ich danke dir, Josef, für deinen Eifer, obgleich der Brief nichts Wichtiges enthält. – Apropos! Du hast von deiner Frau nichts mehr gehört?«

Einen Augenblick blieb der Jäger die Antwort schuldig, dann sprach er: »Doch, Herr, sie ist mir gefolgt, sie hat mich gefunden.«

»Ah! das ist schlimm! Da werde ich helfen müssen; sie wird dich verrathen.«

»O nein, Herr!« rief der Andere eifrig. »Glauben Sie mir, sie ist überglücklich, mich wieder gefunden zu haben.«

»Und du?«

»Weiß Gott, ich nicht minder, Herr! Sie hat mir die ganze unglückselige Geschichte erzählt; sie ist unschuldig – der Andere aber nicht; er hat sein Schicksal verdient.«

»Und wo ist sie? Nehm' dich in Acht: Franz Karner ist nicht verheirathet.«

»Aber er wird es sein, sobald Sie wollen, Herr,« sagte Josef mit leiser Stimme, indem er seine Hände wie bittend zusammenfaltete. »Lassen Sie mir dieses Glück; ich liebe das arme Weib mehr als je.«

»Seltsame Menschen!« erwiderte der Andere; doch schaute er nicht ohne Theilnahme in die glänzenden Augen des Jägers. – »Nun ja, du sollst die Papiere haben, aber ein reger Eifer für mich sei mein Lohn. Du hast mich verstanden? Ich wünsche dich öfter zu sehen als bisher.«

»O tausend, tausend herzlichen Dank für Ihre Güte!« rief Josef freudig. »Und wenn das Andere sein muß, so will ich mich bestreben, pünktlich zu sein.« – Das sagte er mit einem Seufzer.

»Es wird dir schwer; du hast dich schon sehr in die Ehrlichkeit [209] hinein gelebt, Josef. Nun, ich habe heute meine gute Laune; wie wäre es, wenn ich dich von jetzt ab ganz frei ließe?«

»O mein Gott! Das würden Sie thun?«

»Natürlich würden wir uns in dem Falle niemals wieder sehen.«

»Niemals, Herr?«

»Oder nur dann, wenn es dir wieder 'mal schlecht ginge. In dem Falle würde ich dir erlauben, mich nochmals hier aufzusuchen.«

»Sie überhäufen mich mit Großmuth; und ich soll nicht im Stande sein, etwas – Anderes für Sie thun zu können, Herr?«

»Ich glaube nicht. – Doch halt! Vielleicht wäre es dir möglich, später einmal einem meiner Freunde einen Dienst zu erzeigen, ohne daß es dich im Geringsten kompromittirt. Das wirst du thun!«

»O gewiß, Herr!« rief der Jäger freudig aus und faßte mit seinen beiden Händen die Rechte des jungen Mannes, der sie ihm auch ruhig ließ und dabei sagte:

»Sollte also später Jemand irgend einen vielleicht auffallenden Dienst von dir verlangen und sagen zu dir, dem Franz Karner, ›es geschieht für mich,Josef‹, so wirst du thun, was er wünscht.«

»So wahr mir Gott helfe!« erwiderte der Jäger mit leuchtenden Augen; »und sollte es mich meinen Dienst, ja mein Leben kosten.« Er zog hastig die Hand des jungen Mannes an seine Lippen und küßte sie innig. Dieser entwand sie ihm aber sanft, und als er Josef darauf anblickte, schüttelte er traurig lächelnd das Haupt, da er Thränen in den Augen des Jägers bemerkte.

»So gehe denn,« sagte er mit weicher, fast zittern der Stimme; »drunten vor der Thüre schüttle den Staub von deinen Füßen und wenn du kannst, so vergiß es, daß du je diese Mauern betreten! Für deine Papiere werde ich sorgen, – sowie auch dafür,« setzte er leise hinzu, »daß es dir nicht zu schwer wird, dir und deiner Frau einen neuen Hausstand zu gründen. – Jetzt verlaß mich!«

Er streckte die Hand gebietend gegen die Thüre aus und der Jäger befolgte diesen Befehl mit zögernden Schritten. Doch ehe [210] er hinaus ging, wandte er sich nochmals um, stürzte dem jungen Manne zu Füßen und sprach, indem er seine beiden Hände ergriff: »O verzeihen Sie mir, Herr, so konnte ich nicht scheiden; wenn man sich Jahre lang gekannt, wie wir, so wird es Einem hart, unendlich hart, sich zu trennen. Gott möge Sie behüten und möge es gnädig fügen, daß wir uns einstens freudig wieder sehen!« – Damit sprang er auf und war verschwunden.

»Amen!« sagte der junge Mann nach einer Pause, während er sich langsam mit der Hand über das Gesicht fuhr. Darauf blieb er noch einen Augenblick nachdenkend an dem Tische stehen und verließ alsdann das Zimmer auf die früher dem geneigten Leser schon beschriebene Art.

68. Kapitel
Achtundsechzigstes Kapitel.
Achselbänder und Karrikaturen.

Am gleichen Abend, in dem unser voriges Kapitel schließt, vielleicht eine starke Stunde später, verließ der Baron von Brand seine Wohnung; er trug einen sehr eleganten Paletot von dunklem Tuch, den er fest zugeknöpft hatte; sein blonder Bart war wie immer sorgfältig zugespitzt und parfümirt; er schritt lustig trällernd die Treppe hinab, wobei er seine Handschuhe zuknöpfte, und als er hierauf vor die Hausthüre trat, warf er einen Blick an den Himmel hinauf, welcher ruhig und klar war und, wie oft im Winter, in glänzender Sternenpracht funkelte. Es lag kein Schnee auf dem Boden, auch war dieser hart gefroren, weßhalb Herr von Brand keinen Wagen befohlen hatte.

Kaum aber wollte er den Fuß auf das Pflaster setzen, so fuhr eine Equipage, die in vollem Trabe aus der Mitte der Straße abgelenkt war, dicht an das Haus hin, wo die Pferde augenblicklich [211] still standen. Der Baron zog seinen Fuß zurück, und that wohl daran, denn der Wagen war so nah bei der Thürschwelle vorgefahren, daß er den Heraustretenden beinahe in Gefahr gebracht hätte.

»Zum Teufel!« rief dieser dem Kutscher zu, »ist das auch eine Manier, harmlose Fußgänger jählings zu überfallen! Heh! mein Freund! Weiß Er wohl, daß er mich um ein Haar überfahren hätte?«

»Ah! Sie sind es selbst, bester Herr von Brand!« hörte er nun eine laut lachende Stimme aus dem Wagen. »Wenden Sie Ihren Zorn von dem Unschuldigen draußen auf mich. Es drängte mich, Sie zu sehen, und deßhalb befahl ich, so schnell zu fahren.«

»Coeur de rose!« entgegnete der Baron, indem er an den Schlag trat. »Aber, gnädiger Herr, ich versichere Sie, mein kostbares Leben schwebte in augenscheinlicher Gefahr, oder, was fast noch schlimmer ist, meine geraden Gliedmaßen. – Wollen Euer Durchlaucht vielleicht aussteigen?«

»Nein, nein,« versetzte lachend der Herzog; »Sie wollten eben ausgehen, und da kann ich mich nicht unterstehen, Ihre besetzte Zeit so sehr in Anspruch zu nehmen. Auch bin ich selbst eilig wie immer.«

»Wie Sie befehlen, gnädiger Herr. Aber da Sie zu mir wollten, so muß ich mir schon erlauben, Sie zu fragen, womit ich Ihnen dienen kann.«

»Ich habe zwei Worte mit Ihnen zu sprechen,« sagte der Herzog, indem er den Schlag von innen öffnete, »und wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie für wenige Augenblicke in meinen Brougham steigen wollten. – Aber Sie müssen mir im Voraus verzeihen, bester Baron, daß ich Sie zu so ungewohnter Stunde überfalle und meinen Besuch nur halb mache; doch wissen Sie, ich bin immer so ungeheuer beschäftigt, und wenn ich mir auch oft vornehme, nach Ihnen zu sehen –«

[212] »So kommen Euer Durchlaucht doch nur, wenn Sie Ihre wichtigen Gründe haben,« schloß der Baron von Brand mit dem ihm eigenen süßen Lächeln den Satz. Bei diesen Worten war er in den Wagen gestiegen und ließ sich neben dem Herzog auf die weichen Kissen nieder.

»Ich war heute wieder bei dem Major von S.,« sagte Seine Durchlaucht.

»Da wurde Whist gespielt,« warf der Baron leicht hin.

»Nachher rauchten wir unsere Cigarre, der Major zeigte Steinfeld einige Waffen, ich und Graf Fohrbach wir traten an's Fenster.«

»Da proponirten Sie ihm eine Wette.«

»Woher wissen Sie das?« fragte erstaunt der Herzog.

»Nun, ich weiß es eben, gnädiger Herr; ich erfahre so Manches.«

»Teufel auch! so habe Sie den Grafen Fohrbach gesehen!«

»Coeur de rose! – seit mehreren Tagen nicht.«

»Oder den Herrn von Steinfeld, oder den Major, denen Graf Fohrbach vielleicht getratscht.«

»Ebenso wenig.«

»Unbegreiflich!« sagte der Herzog; »nun wenn Sie allwissend sind, so brauche ich Ihnen auch nicht zu sagen, weßhalb wir gewettet.«

»Gewiß nicht, gnädiger Herr, denn ich weiß das ganz genau. Die Konversation betraf Fräulein von S., und Sie vermaßen sich – nehmen mir Euer Durchlaucht nicht übel – leichtsinniger Weise, das Fräulein zu bestimmen, Ihre Farben zu tragen. Ah! Durchlaucht, das ist stark!«

»Alle Teufel! Baron, woher wissen Sie das?« rief der Herzog in höchstem Erstaunen. »Es ist so, wie Sie sagen: ich sehe in ungeheurer Achtung zu Ihnen empor. Wahrhaftig, Baron, ich bin glücklich, daß ich Sie Freund nennen darf.«

»Weil Sie wahrscheinlich einen Wunsch auf der Seele haben, gnädigster Herr,« entgegnete Herr von Brand. Und wenn es in dem Wagen nicht so dunkel gewesen wäre, so hätte der Herzog [213] nothwendig sehen müssen, von welch' verächtlichem Lächeln diese Worte begleitet waren.

»Bei Gott! den habe ich auch, Sie Allwissender; und einen ziemlich großen Wunsch.«

»Den ich mir denken kann. Ich soll Ihnen helfen Ihre Wette gewinnen.«

»Ja und Nein,« sagte Seine Durchlaucht. »Die Wette ist nicht zu gewinnen, denn der Graf nahm sie gar nicht an: aber meinen Willen durchzusetzen, das wäre mein höchster Wunsch.«

»Daß das Fräulein bei dem Hofball Ihre Farben trägt?«

»Ja, das muß ich durchsetzen,« sprach der Herzog eifrig. Dann fuhr er auf vertrauliche Art und sehr leise fort: »Dabei müssen Sie mir helfen; ich versichere Sie, Baron, ich gewinne nicht einen halben Pas bei dem starrköpfigen Mädchen. Was nützt mich das Fürwort des Vaters? – was nützt es mich, daß wir sie von allen Seiten umgarnt haben? – was helfen mich Ihre sonst so vortrefflichen Berichte? Ueber Alles, was ich erfahre, muß ich mich ärgern! – Wo geht sie hin? – Zum Kriegsminister oder zum Major von S. – Wer ist da täglicher Gast? – Graf Fohrbach! – Baron, wir müssen einen Hauptcoup ausführen; ich muß mit einem Mal das verlorene Terrain wieder gewinnen. Sie muß auf dem Hofball meine Farben tragen und sich so kompromittiren.«

»Das Letztere kann nicht ausbleiben, wenn wir sie zu dem Ersteren vermögen. Das wird aber sehr, sehr schwer sein.«

»Schwer, haben Sie gesagt, bester Baron!« jubelte der Herzog, »also doch nicht unmöglich. O, meine Dankbarkeit wäre unbegrenzt. Sprechen Sie, ist was zu machen?«

»Das will sehr überlegt sein. Und wie lange haben wir Zeit?«

»Noch acht bis zehn Tage, dann ist der große Maskenball bei Hof. – Sprechen Sie, Baron, machen Sie mich zu Ihrem ewigen Schuldner!«

»Ich fürchte, gnädiger Herr,« erwiderte Herr von Brand [214] lachend, »Ihre Ewigkeiten sind sehr kurz und vergänglich. – Doch will ich's darauf hin wagen. Aber erschrecken Sie nicht, wenn auch ich nächstens anfange, meine Forderungen zu stellen.«

»Verlangen Sie!« erwiderte der Herzog bestimmt. »So lieb es mir ist, Ihr Schuldner zu sein, so sollen Sie mich doch jederzeit bereit finden, für Sie zu thun, was in meinen Kräften steht.«

»Das höre ich jetzt schon zum zweiten Male, und es wird nächstens die Zeit kommen, wo ich Euer Durchlaucht fest beim Worte nehme.«

»Ich hoffe es; aber meine Angelegenheit – sprechen Sie, bester Baron!«

»Soll – besorgt werden.«

»Bei meiner Ehre! Baron,« rief erfreut der Herzog, »versprechen Sie nicht zu viel?«

»Das thue ich nie,« erwiderte ruhig Herr von Brand. »Es ist das freilich keine leichte Kommission, aber ich thu' Alles, um Sie mir zu verpflichten. Doch bedarf ich ein klein wenig Ihrer Hilfe; – heute Abend ist bei der Frau Herzogin eine Zusammenkunft, der Sie wahrscheinlich anwohnen werden.«

»Ich habe von Mama die gnädige Erlaubniß erhalten,« lachte der Herzog; »ich als einziger Mann zwischen ein paar Dutzend Hofdamen und Ehrenfräuleins.«

»Sie Glücklicher! – Nun also, da werden Sie erfahren, welches Kostüm dem Fräulein von S. zugedacht ist. Sorgen Sie darnach für die bewußten Bänder in den Farben, die Sie wollen, sei es als Haar- oder Busenschleife, wenn sie irgend ein vollkommenes Damenkostüm wählt, sei es als Achselbänder, wenn man sie vielleicht zu einer der Ecuyèren Ihrer Majestät bestimmt. Und das bin ich überzeugt bei der prachtvollen Gestalt des jungen Mädchens!«

»Ach ja, bei ihrer prachtvollen Gestalt!« seufzte der Herzog.

»Aber die Schleifen und Achselbänder müssen mir in der von [215] Ihnen bestimmten Farbe vollkommen fertig, auf's Zierlichste gemacht, in drei Tagen, von heute ab, übergeben werden.«

»Das werde ich selbst besorgen, bester Baron, und zugleich meinen herzlichen Dank überbringen.«

»Mit Letzterem wollen wir warten bis nach dem Hofballe,« entgegnete Herr von Brand, »denn ich bin nicht allmächtig; auch mir kann etwas mißlingen.«

»Nein, nein,« rief triumphirend der Herzog, »Ihnen nicht. Glauben Sie mir, ich staune Sie an. Ich bin doch auch mit den Hofintriguen ziemlich bekannt, aber welche Wege Sie gehen, ist mir unerklärlich; über welch' immense Kräfte und Mittel müssen Sie zu verfügen haben!«

»Sie irren, gnädiger Herr,« erwiderte der Baron leicht, »die Kräfte, die ich anwende, sind klein und unbedeutend wie ich selbst; es trifft sich nur zufällig, daß ich Ihnen dienen kann.«

»Sie sind wahrhaftig zu bescheiden. Doch will ich jetzt Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen,« versetzte der Herzog; »ich würde Sie einladen, mit mir zu kommen, aber ich muß, wie Sie wissen, bei jener wichtigen Zusammenkunst erscheinen. – Sie waren zu Fuß, wie ich sehe, kann ich Sie irgendwo absetzen?«

»Ich gehe zu Ihrem Rivalen,« sagte lachend der Baron von Brand; »Sie sehen, wie ich offenherzig bin. Wenn Sie mich dahin bringen wollen, ist es mir angenehm.«

»Und genirt es Sie nicht, wenn Sie in meinem Wagen anfahren?«

»Ganz und gar nicht, gnädiger Herr,« versetzte der Baron in sehr harmlosem Tone. – »Coeur de rose! der Graf Fohrbach wird gar kein Gewicht darauf legen, ob ich von Euer Durchlaucht oder von Hause komme.«

»So fahren wir also!« sprach der Herzog. Er ließ die Scheibe des Schlages herab und rief seinem Kutscher zu: »Zum Adjutanten, Graf Fohrbach!«

[216] Dumpf rollte der Wagen dahin, durch erhellte und belebte Straßen, und bog bald rechts, bald links. Zuweilen fielen Lichtstrahlen aus einem der glänzenden Magazine in den Wagen hinein, und dann hätte man sehen können, wie der Herzog zuweilen aber kaum merklich forschend den Baron Brand anblickte, dieser dagegen zum Wagenschlage hinaussah und die erhellten Läden sowie die vorüberhuschenden Spaziergänger angelegentlich zu betrachten schien.

Jetzt hielten die Pferde; Herr von Brand sagte: »Ah! da sind wir schon!« und während er leicht und gewandt auf die Erde stieg, faßte er die dargereichte Hand des Herzogs, welche ihm dieser mit Empressement nachstreckte. Auf einen Zug an der uns bekannten Klingel öffnete sich die kleine Thüre, der Baron ging durch den Garten in das Haus, wurde von dem alten Diener mit einer steifen, feierlichen Verbeugung empfangen, und trat in den Salon, wo sich der Hausherr befand, auch der Major von S., Arthur Erichsen und Herr von Steinfeld.

Sämmtliche Herren blickten auf, als er eintrat, Arthur und Graf Fohrbach wechselten einen bedeutungsvollen Blick mit einander; doch als hätten sie sich wohl verstanden, winkte der Maler dem Eintretenden freundlich mit der Hand, und Graf Fohrbach, sich gewaltsam von einer kleinen Befangenheit losmachend, rief laut lachend: »Da kommt der Baron! das ist unser Mann, der kann uns au fait setzen.«

Der Baron grüßte verbindlich der Reihe nach, wobei er den Kopf senkte und mit den Augen nach aufwärts schielte. Er zog bedächtig sein Sacktuch heraus, wischte seinen Bart und wedelte sich hüstelnd einige Wohlgerüche zu. Man konnte ihm das nicht übel nehmen, denn der Dampf der Cigarren in dem Gemach war wahrhaft schrecklich; er konnte auch nichts Gescheidteres thun, als sich selbst eine anzuzünden, was auch sogleich geschah, und dann erst, nach einigen starken Zügen, versicherte er, in der Verfassung zu sein, Rede und Antwort stehen zu können.

[217] »Baron Brand ist mir schon recht,« meinte Arthur, »und ich unterwerfe mich seinem Urtheilsspruch.«

»Um was handelt es sich?« fragte jener geziert.

»Sie waren neulich bei mir,« fuhr der Maler fort, »oder Sie kamen vielmehr mit Herrn von Dankwart. Sie erinnern sich, daß dieser Protektor aller schönen Künste vorläufig ein Porträt des Herrn Herzogs bei mir bestellte.«

»Vorher aber sollten Sie an seinem eigenen Kopfe beweisen, ob Sie auch fähig seien, ein gutes Porträt zu liefern. – Ganz recht,« entgegnete der Baron.

»Und dies Porträt hat er gemacht!« jubelte der Hausherr. »Vortrefflich! Arthur, lassen Sie es sehen.«

»Sie bringen mich wahrhaftig in Verlegenheit, Graf Fohrbach,« sagte lachend der Maler; »ich habe Ihnen eine Zeichnung präsentirt, aber sie nicht als das Bildniß des Herrn von Dankwart ausgegeben. Gott soll mich bewahren! das ginge wider allen Respekt.«

»So lassen Sie sehen,« sprach gravitätisch der Baron, und zupfte seinen Halskragen sanft in die Höhe; »wir wollen unparteiisch entscheiden.«

»Meinetwegen!« entgegnete der Maler. »Aber ich ersuche die Herren, meine Verwahrung zu Protokoll zu nehmen.« Er erhob sich und nahm aus seiner Mappe, die in einer Ecke lehnte, ein Blatt, welches er dem Herrn von Brand übergab.

Dieser legte seine Cigarre auf das Kamin, wandte den Rücken gegen die Lampe, die auf dem Gesims stand, und als nun das volle Licht derselben auf jenes Bild fiel, fuhr ein höchst angenehmes Lächeln über seine Züge. Seine Oberlippe erhob sich kokett und zeigte die blendend weißen Zähne. – »In der That vortrefflich!« sagte er nach längerem Betrachten; »superb! – göttlich! Das ist das Bild eines Schimpanse, und hat zugleich große Aehnlichkeit mit Herrn von Dankwart.«

»Zeigen Sie auch die anderen!« rief Graf Fohrbach.

[218] Und der Maler brachte noch fünf andere Blätter zum Vorschein, worin der Schimpanse und Herr von Dankwart nach der bekannten Spielerei behandelt waren, mittelst welcher man in hundert Abbildungen mit ganz unmerklichen Aenderungen, wodurch zwei Blätter immer vollkommen ähnlich sind, dennoch den großen Sprung von einem ausgespannten Frosch bis zum Apoll von Belvedere zurücklegen kann. Hier aber genügten vollkommen sechs Blätter, um aus einem gerechten und untadelhaften Schimpanse zur vollständigen Figur des Herrn von Dankwart überzugehen.

»Die Blätter sind kostbar,« sagte Herr von Brand nach einer Pause; »ich gäbe was darum, wenn ich sie meinem Album einverleiben könnte. Lieber Herr Erichsen, könnte sie ein armer Mann, wie ich bin, bezahlen?«

»Wenn es eine präsentable Arbeit wäre,« erwiderte der Maler, indem er seine Blätter wieder zusammen packte, »so würde ich, mich aller Ihrer Gefälligkeiten erinnernd, mir ein Vergnügen daraus machen, sie in Ihr Album zu stiften. Aber verzeihen Sie mir, in diesem Falle wäre das vielleicht für uns Beide ein gefährliches Wagstück.«

»Was geht uns Herr von Dankwart an?« meinte der Baron.

»Aber seine Herrin desto mehr,« warf der Major dazwischen, »er steht in der allerhöchsten Gnade; Sie können morgen bei ihm vorfahren und ihm gratuliren; er hat wieder einen neuen Orden bekommen.«

»Das würde ich wahrhaftig thun,« sagte lachend der Baron, »wenn ich jene sechs kostbaren Blätter hätte, um sie nachher zur Abkühlung präsentiren zu können.«

»Das würden Sie nicht thun,« versetzte aufmerksam Graf Fohrbach. »Ich kenne und bewundere Ihren Muth in jeder Hinsicht, aber das würden Sie bleiben lassen.«

»Das käme auf eine Wette an,« entgegnete Herr von Brand in gefälliger Weise.

[219] »Die ich annehmen würde; Zehn gegen Eins!«

»Halt! halt! ihr Herren!« sprach der Major. »Das wär' eine Wette, die uns Alle, wie wir hier versammelt sind, theuer zu stehen kommen könnte.«

»Die auch nie stattfinden kann,« sagte Arthur, »denn ich würde die Blätter nie, namentlich aber nicht zu einem solchen Zwecke, hergeben.«

»Genug! genug!« mischte sich Herr von Steinfeld, der bisher in einem Buch geblättert hatte, in das Gespräch, »man muß nicht so in ein Wespennest schlagen wollen. Aber sage mir, vortrefflicher Hausherr, darf ich dich um eine Tasse Thee bitten?«

»Ich weiß nicht, wo er so lange bleibt,« erwiderte Graf Fohrbach. Doch hatte er kaum die Klingel gezogen, als auch schon der Kammerdiener, fast unhörbar, in das Zimmer glitt, den Thee in der uns bekannten Art aufstellte, und darauf mit den Bedienten wieder verschwand.

Jeder nahm sich eine Tasse, dann sagte Herr von Steinfeld mit Beziehung auf das Gespräch von vorhin: »Unsereins, der lang in der Fremde war und fast unbekannt geworden ist, könnte sich durch so etwas empfehlen. – Alle Wetter! Wer hat die Wette gemacht? würde es freilich heißen. – Graf Fohrbach, bei sich zu Hause in einer kleinen Gesellschaft. – Wer war da? – Nun, Erichsen, der die Blätter gezeichnet, Major von S., Herr von Steinfeld –«

»Ja, ja,« sagte der Major, »das könnte uns Allen ein paar verdrießliche Gesichter eintragen.«

Der Hausherr hatte achselzuckend zugehört und bedächtig seine Tasse ausgetrunken, dann sagte er: »Ja, wir werden alt, es ist kein Spaß mehr da und kein Humor. – Apropos!« fuhr er nach einer Pause fort, »du bist mit deinen Besuchen ziemlich fertig. Man hat dich doch überall gnädig aufgenommen?«

»Darüber kann ich nicht klagen. – Doch da fällt mir etwas ein, worüber ihr mich vielleicht aufklären könnt. – Als ich bei [220] deinem Papa war,« wandte er sich an den Hausherrn, – »Seine Excellenz empfingen mich sehr zuvorkommend – traf ich den alten General-Adjutanten Baron von W. mit seiner Frau.«

Herr von Brand zuckte, aber fast unmerklich, zusammen.

»Wenn ich sage traf, so meine ich damit, ich begegnete ihm an der Thüre des Salons; er ging, ich kam. Es war so auf der Schwelle, daß ich nicht präsentirt werden konnte. Der Bediente meldete mich, und da war es mir, als wenn sich die Baronin von W. bei Nennung meines Namens plötzlich und auffallend von mir abwende.«

»Wer weiß, wilder Mensch,« sagte der Major, »ob du sie nicht vielleicht früher einmal gekannt, ihr die Cour gemacht oder sie auffallend vernachlässigt hast?«

»Unmöglich!« erwiderte Herr von Steinfeld. »Als ich damals noch hier war, war der alte Baron auf weiten Reisen und heirathete in meiner Abwesenheit. Ich machte natürlich auch in seinem Hause meinen Besuch, er empfing mich; Madame, hieß es, sei unpäßlich.«

»Das ist so seine Art,« meinte gleichgiltig Graf Fohrbach, »er ist ein alter, eigensinniger Herr, der sein Haus Niemanden öffnet, und nur genaue Bekannte seiner Frau vorstellt.«

»Ihr könnt euch denken,« fuhr Herr von Steinfeld fort, »daß das meine Neugierde erregt, und daß ich Alles daran setzen werde, ihre Bekanntschaft zu machen. – Ist sie schön?« –

»O nicht übel, wie soll ich sie dir beschreiben?« sprach der Hausherr, und fuhr gleich darauf lachend fort: »Richtig! betrachte dir dort den Baron Brand.«

Dieser war in tiefe Gedanken versunken und starrte in die Theetasse, die er vor sich hin hielt. Als er nun so plötzlich seinen Namen nennen hörte, wäre ihm diese fast aus der Hand gefallen, so schrak er zusammen. Doch faßte er sich augenblicklich wieder, lächelte und sagte: »Was beliebt, Graf Fohrbach?«

[221] Herr von Steinfeld hatte übrigens, der an ihn ergangenen Aufforderung gemäß, seinen Blick auf den Baron geworfen und mußte in dessen Gesicht etwas gefunden haben, was ihn fesselte, denn er betrachtete ihn eine Zeit lang mit großer Aufmerksamkeit, dann aber starrte er vor sich hin, augenscheinlich in tiefe Gedanken versunken. – »Wirklich,« sagte er darauf, indem er mit der Hand über die Augen fuhr; »also Herr von Brand sähe der Frau von W. ähnlich?«

»Die alte Geschichte,« entgegnete dieser achselzuckend und süßlich lächelnd, wobei er sich aber nicht enthalten zu können schien, einen Blick in den Spiegel an seiner Seite zu werfen. – »Das ist die alte Geschichte dieses guten Grafen Fohrbach. Das belustigt ihn: man lasse ihm diese Grille.«

»Nein, nein, es ist was daran,« meinte auch der Major. »Wir haben schon früher darüber gesprochen; haben Sie noch nicht in Ihren Geschlechtsregistern nachgesehen?«

»Spässe! Nehmen Sie nur unsere beiderseitigen Namen.«

»Aus welcher Familie ist die Baronin?« fragte Herr von Steinfeld.

»Aus einem großen sicilianischen Hause, auf icci endigend; wer kann das behalten?«

»Aber das blonde Haar für eine Italienerin?«

»Der Vater war ein Engländer oder Schotte. Es liegt noch ein gewisses Düster über ihrer Herkunft.«

»Ich muß sie sehen,« sagte bestimmt Herr von Steinfeld.

»Lieber Baron Brand,« lachte der Hausherr, »ich lasse mir die Aehnlichkeit doch nicht abstreiten. Wer weiß, wie das zusammenhängt!«

»O, mir wäre ein solcher Zusammenhang gar nicht unlieb,« sagte der Baron. Dann trank er seine Tasse leer, und stellte sie, Müdigkeit affektirend, auf den Tisch.

Der Major hatte sich erhoben und machte Anstalten zum [222] Fortgehen. – »Ich habe Dienst,« bemerkte er lächelnd auf die Frage des Grafen, und setzte hinzu, als ihn dieser ungläubig ansah: »Ich versprach meiner Frau, sie im Schlosse abzuholen.«

»Ah! sie ist auch bei der großen Berathung! Du Glücklicher, da erfährst du heute Abend schon, welche Kostüme befohlen werden.«

»Was mich im Grunde gar wenig interessirt, denn ich liebe die Maskerade nicht,« erwiderte der Major und setzte, sich umschauend, hinzu: »Wer von den Herren geht mit?«

Der Baron von Brand und Herr von Steinfeld nahmen darauf hin ebenfalls von dem Hausherrn Abschied, Arthur wollte ihnen folgen, doch bat ihn Graf Fohrbach, zu bleiben und noch eine Stunde mit ihm zu verplaudern.

An der Thüre wandte sich Herr von Brand um und rief dem Maler mit einem etwas erzwungenen Lächeln zu: »Bester Herr Erichsen, bitte, überlegen Sie es sich ernstlich, ob und zu welchen Bedingungen ich die sechs Blätter bekommen kann.«

»Der Teufel auch,« sagte der Hausherr, nachdem er gehört, daß die Thüren draußen geschlossen worden; »was mag ihm so an dem Porträt des Herrn von Dankwart gelegen sein! Da wären Ihre Blätter in guten Händen. Nehmen Sie sich in Acht! – Ich glaube wohl,« setzte er nach kurzem Besinnen hinzu, »daß er einen guten Gebrauch davon machen würde, und ich möchte schon Dankwärtchen einen kleinen Aerger wünschen; aber Sie werden sich um's Himmelswillen nicht mit dem Baron einlassen.«

»Aber Sie proponirten ihm doch selbst eine Wette!«

»Weil ich gewiß war, daß Sie die Blätter nicht hergeben würden. – Apropos, Arthur, Sie erinnern sich der paar Worte, die wir neulich auf dem Balle zusammen sprachen; ich muß Ihnen wiederholen: nur durch die größte Behutsamkeit, dem Baron gegenüber, können wir im Stande sein, seine Aufmerksamkeit, ja sei nen Verdacht nicht zu erregen. Sie werden deßhalb auch in meinem Betragen gegen ihn durchaus keine Aenderung merken.«

[223] »Ich hoffe, daß Sie über diesen Punkt auch mit mir zufrieden sein werden,« meinte Arthur.

»Vollkommen. – Ich hielt Sie nicht ohne Absicht hier zurück; neulich machte ich einen Besuch bei unserem Polizeidirektor; ich gehe da zuweilen hin, es ist das ein sehr anständiges Haus, doch will ich Ihnen gestehen, daß ich diesmal meinen besonderen Zweck dabei hatte. Ich brachte das Gespräch auf die Zustände unserer Residenz, namentlich was das Departement des Polizeidirektors anbelangt, und erzählte dann leicht hingeworfen die Geschichte meines Petschafts, das neulich so räthselhaft verschwand. Der alte Herr riß nach seiner Gewohnheit heftig an der Nase und legte der Sache eine größere Wichtigkeit bei, als ich gedacht; ja, er erließ mir ein förmliches Verhör nicht und ich mußte ihm zu dem Ende auf sein Arbeitszimmer folgen, wohin er auch seinen ersten Sekretär beschied, – unter uns gesagt, ist dieser ein junger, sehr gescheidter Mann, der in seinem kleinen Finger mehr Verstand hat, als Seine Excellenz im ganzen Körper. – Nun gut! Ich muß das Petschaft beschreiben, wo es gelegen, wann ich es vermißt und noch mehr dergleichen für die Polizei so wichtige Kleinigkeiten. – Es sei sonderbar, sagte mir der Sekretär, daß ähnliche Diebstähle so häufig vorkämen, und oft Sachen beträfen, die an und für sich gar keinen Werth hätten, Briefe, ganze Korrespondenzen, Dokumente und dergleichen; auch würden sie mit einer Sicherheit begangen, die an's Fabelhafte streife. Ja, es sei vorgekommen, daß Diesem oder Jenem, namentlich in der höheren Gesellschaft, ein Blatt, ein Brief plötzlich gefehlt habe, irgend eines Inhaltes, aber geeignet, ihn vor einer anderen Person schwer zu kompromittiren, und es sei unglaublich, aber wahr, daß man kurze Zeit darauf eben jener andern Person das betreffende Papier in die Hände gespielt und so wie muthwillig die erbittertsten Feindschaften hervorgerufen habe.«

»Unerklärlich.«

»Dazwischen hindurch zögen sich, so erzählte der Polizeidirektor, [224] nun eine ganze Menge wirklicher und schwerer Diebstähle, mit einer Sicherheit und einem Muthe ausgeführt, wie sie nur durch die wohlorganisirteste Bande geschehen könnten, durch eine Bande, die mit ebenso viel Umsicht als Energie geleitet würde.«

»Also endlich glaubt man an die Existenz einer solchen?« sagte Arthur. »Es ist gut, daß ihnen droben einmal ein Licht aufgeht. Wir geringeren Leute drunten haben schon lange nicht mehr daran gezweifelt; mein Vater, der viel mit den Vätern der Stadt zu verkehren hat, machte oft darüber Andeutungen und sprach von dem Hause, das zwischen uns Beiden neulich auch genannt wurde, dem sogenannten Fuchsbaue, als dem Herde aller dieser Geschichten. – Aber mir scheint, die Thüre ihres Schlafzimmers wurde geöffnet,« unterbrach er sich; »die Vorhänge haben sich soeben bewegt.«

»O, es wird mein Jäger sein,« entgegnete der Graf und fuhr dann fort: »Dasselbe vermuthete man auch auf der Polizeidirektion; doch haben die schärfsten Hausaussuchungen noch nie etwas ergeben; das soll freilich eine solche Verwirrung, ein solcher Knäul von Treppen, Stuben und Gängen sein, daß sich ein Uneingeweihter dort selbst am hellen Tage nicht ausfinden könne. Der Sekretär des Polizeidirektors meinte, man könne da nur durch eine Radikalkur helfen, indem man von Staatswegen die ganzen Gebäulichkeiten ankaufe und niederreiße.«

»Das wäre schade für uns Maler,« versetzte Arthur lächelnd, »denn es hat dort wahrhaft prachtvolle Ansichten, finstere, melancholische Winkel, wie sie die kühnste Phantasie nicht ersinnen kann.«

»Richtig!« sagte ebenfalls lachend der Graf; »und diese Winkel und engen Gassen lieben Sie absonderlich. Warten Sie, man kommt hinter Ihre Schliche.«

»Wie so?« fragte der Maler.

»Wenn man sich nicht weit vom Fuchsbau am Kanale hin verliert, so kommt man in kleine Straßen, wo Sie, theuerster [225] Arthur, eigentlich nichts zu schaffen hätten, und wo man Sie doch häufig herumwandeln sieht.«

»Das leugne ich auch ganz und gar nicht.«

»Also in der That ein kleines Verhältniß?«

»Sagen Sie lieber ein großes Verhältniß, Graf Fohrbach. Ich gestehe Ihnen, dem Freunde, daß mich mehr als eine müßige Laune dorthin zieht. Ja, warum sollte ich es leugnen! Ich habe dort ein Mädchen gefunden, das ich unendlich liebe, – das ich Ihnen in vielleicht nicht zu langer Zeit als meine Frau vorzustellen habe.«

»Aus jenen engen Gäßchen?« sagte der Graf im höchsten Erstaunen. »Was wird Papa Erichsen dazu sagen, und vor Allem, Mama, die sehr strenge Kommerzienräthin?«

»Das ist freilich noch eine schroffe Klippe, die ich umschiffen muß und will. – Gewiß, Graf Fohrbach, ich scherze nicht, ich bin dazu fest entschlossen.«

»Und ihr liebt einander, wie es sein soll?« erwiderte der Graf mit wahrer Theilnahme. – »Und wenn das Mädchen gut und anständig ist, woran ich übrigens eben so wenig zweifle, als an ihrer Schönheit, denn Ihr guter Geschmack ist mir bekannt, so haben Sie Recht, sich über unsere kleinlichen Verhältnisse hinwegzusetzen. Sie sind ja ein freier Mann, ein Künstler, – Sie können am Ende handeln wie Sie wollen,« setzte er mit einem kleinen Seufzer hinzu.

»Ich wußte wohl,« erwiderte Arthur mit Wärme, »daß Sie meinen Entschluß billigen würden, und sollten Sie das Mädchen kennen lernen, so würden Sie mir noch unbedingter Recht geben.«

»Ach, lieber Arthur,« versetzte der Graf nach einer Pause, »diesmal kann meine Zustimmung für Sie eigentlich wenig Werth haben, denn ich befinde mich fast in gleicher Lage und fühle deßhalb parteiisch für Sie.«

»Sie – Graf Fohrbach?« fragte Arthur erstaunt.

[226] »Ja, bester Freund, auch ich liebe; eigentlich zum ersten Mal in meinem Leben, und auch mir treten die Verhältnisse hemmend entgegen. Doch auch ich bin fest entschlossen, dieselben niederzuwerfen, denn ich liebe, Arthur, und vor allen Dingen, werde ebenso wieder geliebt.«

»Dann wollen wir uns gegenseitig gratuliren,« sprach lachend der Maler, indem er seine beiden Hände ausstreckte, welche Graf Fohrbach herzlich schüttelte, und darauf erwiderte:

»Verlassen Sie sich auf mich, Sie werden jederzeit, unter allen Verhältnissen und Lagen einen treuen und ergebenen Freund an mir finden. Haben Sie mir doch beständig die besten Beweise Ihrer Zuneigung gegeben, sogar in Geschichten, an welche nur zu denken ich mich jetzt fast schäme, und wo ich am Ende Ihr Verführer geworden bin, wenn Ihre Liebe Sie nicht geschützt hat, wie mich die meinige.«

»O ja, sie schützte mich vollkommen,« entgegnete lächelnd der junge Mann. »Richtig! wir sprachen noch nicht darüber, und damit hängt doch auch etwas zusammen, was wieder auf unsern räthselhaften Baron zurückführt.«

»Ah! lassen Sie hören; darauf bin ich begierig.«

»Sie baten mich damals, Ihnen den Brief zu besorgen an eine gewisse Madame Becker, Kanalstraße, glaube ich. Das war an jenem Tage, wo Ihr Petschaft verschwand.«

»Richtig! richtig! und ich benützte das Siegel des Herrn von Brand.«

»Also habe ich doch Recht!« rief überrascht der Maler. »Ich bemerkte wohl arabische Schriftzüge auf demselben, doch fiel es mir erst später ein, daß Ihnen vielleicht der Baron damit aus der Verlegenheit geholfen.«

»Und was hat es mit diesem Siegel für ein Bewandtniß?«

»Die bewußte Madame Becker erschrak, als sie es bemerkte; und doch schien sie es wieder anzutreiben, Ihren Wunsch zu erfüllen. [227] Das beschäftigte mich, sobald ich das Haus in der Kanalstraße verslassen; Ihr Siegel – ich kannte es ja – ein einfaches F., sogar ohne Wappen und Krone, konnte unmöglich einen solchen Eindruck auf die Frau machen.«

»Sie haben wahrhaftig Recht,« sprach der Graf nach einigem Besinnen. »Als ich in jenem Brief von der Frau das Bewußte verlangte, dachte ich selbst nicht, daß es möglich sei, und war in der That überrascht, als sie mir einige Zeit nachher anzeigte, die Angelegenheit habe sich arrangirt. Dabei schrieb sie auch von einem hohen Freunde, dem ich sagen solle, wie viel Mühe sie sich gegeben. Damit war offenbar der Baron gemeint, dessen Siegel sie also erkannt; und wenn sie dies erkannt, so muß sie schon in häufige Berührung mit ihm gekommen sein.«

»Und nicht blos in Berührungen, wie die andern vornehmen Herren,« meinte Arthur lächelnd, »sondern ihr Schreck zeigte mir deutlich, daß sie ihn fürchte.«

»Wie ein für sie mächtiges Wesen,« sagte der Graf rasch einfallend. – »Bei Gott! Arthur, es ist so: ich scheue mich fast, es auszusprechen; aber wenn ich meine Begegnung mit ihm in der Nacht am Fuchsbaue, namentlich den Bericht jenes unglücklichen Geschöpfs im Schlosse und so all die verschiedenen Sachen zusammenstelle so drängt sich mir die feste Ueberzeugung auf, der sogenannte Baron von Brand stehe an der Spitze einer weit verbreiteten Bande von Fälschern, Dieben, vielleicht Mördern.«

»Entsetzlich!« rief Arthur ergriffen. »Und wenn dem so wäre, würden Sie zu seiner Entdeckung, zu seiner Bestrafung etwas beizutragen im Stande sein? Würden Sie es über sich vermögen, den Mann, der hier unzählige Mal in Ihrem Zimmer gewesen, der von Ihrem Thee getrunken, von Ihren Cigarren geraucht, den vielleicht verdienten Ketten und Banden zu übergeben?«

»Nein, nein, dazu wäre ich nicht im Stande, obgleich ich es gewiß nicht ungern sehen würde, wenn wir von diesem wirklich [228] gefährlichen Menschen befreit würden. Ja, ich würde vielleicht meinen kleinen Einfluß aufbieten, um ihm die freie Entfernung von hier zu erleichtern. Aber wie sich mit ihm darüber verständigen? Daß sich langsam ein Garn um seine Füße zieht, bin ich fest überzeugt, und darum thut es mir leid, wenn ich, wie heute Abend, sehen muß, daß er so unbewußt, sicher, aber unaufhaltsam der Gefahr entgegen geht.«

»Und letzteres ist doch noch die Frage,« entgegnete Arthur. »Ist Baron Brand wirklich der, für den wir ihn halten, so ist er ein außergewöhnlicher Mensch, dem ich meine Bewunderung nicht versagen kann, und der nicht so unklug sein wird, auf seinem gefährlichen Pfade blindlings dahin zu gehen. Glauben Sie mir, der hat die Augen offen so gut wie wir; und ich bin überzeugt, daß die erste Hand, die sich nach ihm ausstreckt, ihn spurlos verschwinden macht.«

»Gewiß, lieber Arthur; aber da wir einmal dieses Kapitel begonnen, so ist es vielleicht nicht indiskret, wenn ich Sie frage, wie jenes Rendezvous am Neujahrsabend eigentlich abgelaufen ist; ich muß darauf dringen, da Sie auch in dieser Angelegenheit Auslagen für mich gehabt haben.«

»Diese sind so unbedeutend, daß es gar nicht der Rede werth ist. Auch ist Ihr Verlangen durchaus nicht indiskret, denn ich kann Sie versichern, was ich mit dem Mädchen verhandelt, hätte die ganze Welt sehen können. Ich erhielt also Ihren Brief und ging um acht Uhr, wie derselbe von mir oder vielmehr von Ihnen verlangte, an die Ecke der Prinzenstraße; einen Wagen ließ ich mir folgen und im Schatten der Häuser halten. Ich brauchte auch nicht lange zu warten, so sah ich ein Frauenzimmer, obgleich mit ziemlich unsichern Schritten, auf mich zugehen. Sie war in einen langen, dunkeln Shawl gewickelt, so daß man von ihrer Figur so gut wie gar nichts entdecken konnte; um den Kopf trug sie eine schwarzseidene Kapuze mit sehr langen Spitzen, die so dicht auf [229] ihr Gesicht niederfielen, daß es unmöglich war, die Gesichtszüge des Mädchens zu erkennen.«

»Das glaube ich wohl, denn es war eine dunkle Nacht.«

»Ich hatte mich so aufgestellt, daß sie sehen konnte, wie ich an der Straßenecke auf Jemand zu warten schien.«

»Welchen Weg kam sie?«

»Sie schien vom Theater zu kommen.«

»Ah!«

»Als ich nahe bei ihr war und sie mir in's Gesicht sah, welches ich mir auch, im Gegensatz zu ihr, gar keine Mühe gab, zu verbergen, stutzte sie und schien sich abwenden zu wollen. Ich sagte ihr: Sie erwarten jemand Anderes als mich zu finden; Graf F. aber ist verhindert und bittet vielmal um Entschuldigung. – Man muß doch höflich sein. – Er wird vielleicht das Vergnügen haben, fuhr ich fort, Sie ein anderes Mal zu sehen; für heute war es ihm gewiß unmöglich.«

»Und sie gab keine Antwort?«

»Nicht eine Silbe; ja sie wandte mir fast den Rücken zu und nickte ein paar Mal mit dem Kopfe, namentlich als ich sie fragte ob sie sich des Wagens bedienen wolle, um nach Hause zu fahren.«

»Das nahm sie an? – Aber sagte Ihnen keine Adresse?«

»Das war unnöthig, wußte ich doch selbst die Wohnung der Madame Becker; ich fragte sie, ob sie in die Kanalstraße fahren wolle, da nickte sie abermals mit dem Kopfe. Ich hob sie alsdann in den Wagen, sagte dem Kutscher, wohin er fahren solle, und empfahl mich auf's Höflichste.«

»Arthur,« rief der Graf lachend, »ich glaube in der That, daß Ihre Liebe aufrichtig und wahr ist. Aber Sie können doch froh sein, daß eben dies Mädchen sich so dicht verschleiert und verhüllt hielt, und in kalter, dunkler Nacht vor Sie hintrat; denn, nehmen Sie mir es nicht übel, ich wollte doch für nichts stehen, [230] wenn es Ihnen mit aller seiner Schönheit im warmen Zimmer beim Schein der Lichter unter den angegebenen Verhältnissen erschienen wäre.«

»Also war es ein gutes Abenteuer?«

»Das will ich meinen! Es betraf ein Mädchen, nach der Tausende vergeblich gesehen, die bis jetzt unbescholten dastand.«

»Ah! eine Verführung!«

»Nur durch die Macht des Goldes; sonst würde ich mir noch größere Vorwürfe gemacht haben, als ich damals schon that, namentlich da sie einer armen Familie angehört und durch ihren Erwerb Vater und Geschwister unterstützen muß.«

»Ein sauberer Erwerb!« sagte kopfschüttelnd der Maler.

»Ich meine das nicht, wie Sie es nehmen,« entgegnete der Graf. »Ihr Erwerb ist sehr anständig, kann es wenigstens sein; sie ist sogar eine Kollegin von Ihnen, Arthur – eine Künstlerin.«

»Ah! wenn ich das gewußt hätte, so würde ich ein Gespräch mit ihr angeknüpft haben. – Aber ihre Kunst besteht wohl im Gebrauch der Nadel.«

»Gefehlt, Arthur! Höher hinauf, oder wenn Sie wollen, tiefer hinab, denn die Kunst dieser jungen Dame besteht im Gebrauch ihrer Füße; sie ist eine – Tänzerin.«

Arthur wußte nicht, warum ihn dieses Wort so schmerzlich berührte. War es die leichtfertige Betonung, mit der sein Freund dies Wort aussprach, war es, weil auch sie eine Tänzerin, und weil es also wieder eine ihrer Kolleginnen war, die hier so zweideutig aufgetreten. Ja, es preßte ihm das Herz zusammen, und er hätte viel darum gegeben, wenn Graf Fohrbach dies nicht gesagt hätte.

Dieser aber hatte keine Ahnung davon, wie wehe er Arthur damit gethan. »Ja,« fuhr er fort, »wie ich Ihnen schon vorhin bemerkte, hatte mich der Erfolg meiner Bemühungen selbst überrascht; ich glaubte nicht daran, und wunderte mich sehr, als jener [231] Brief der Madame Becker an mich kam. Wenige Tage nachher schickte sie mir ihre Rechnung, sie war ziemlich stark, aber ich sandte ihr noch mehr, als sie verlangte; es wird jenem armen Geschöpf auch zu gut kommen, und – wenn auch in allen Ehren, so interessire ich mich immer noch für die schöne Clara.«

»Für die schöne Clara?« sagte der Maler, und trotzdem er diese Worte ganz leise, fast unhörbar sprach, so schien er doch kaum genug Athem gehabt zu haben, um sie heraus zu stoßen.

Der Graf hatte bei den letzten Worten seine Cigarre weggeworfen und den Fauteuil gegen das Kamin gedreht, wo er sich damit beschäftigte, die glühenden Kohlen zusammen zu scharren und einen angebrannten Holzblock darauf zu legen. Er konnte deßhalb nicht sehen, wie Arthur plötzlich so bleich wurde, wie er seine Hand krampfhaft auf das Herz preßte, dann über die Augen fuhr und hierauf gezwungen lächelnd mit dem Kopfe schüttelte. – »O! nein! – nein!« dachte der Maler, »so eine Idee ist ja lächerlich. – Aber eine Tänzerin war es, hat er gesagt. – Die schöne Clara. – Wer trägt sonst noch diesen Namen? – Mein ganzes Vermögen, Alles, was ich habe und kann, für eine gute Auskunft!«

»Man darf so ein Kaminfeuer nie ausgehen lassen,« meinte Gras Fohrbach. »Finden Sie nicht, daß es hier schon kalt geworden ist?«

»Nein, gewiß nicht – gewiß nicht!« brachte Arthur mühsam hervor. »Mir ist es heiß, sehr heiß.«

Der Andere hatte den kleinen, zierlichen Blasbalg ergriffen, der am Kamine hing, und fachte damit die Gluth von Neuem an.

Arthur saß da mit den Gefühlen eines Unglücklichen, über den das Richtschwert gezückt wird. Der blanke Stahl flimmerte ihm schon vor den Augen, er brauchte nur eine Frage zu thun und dann fiel vielleicht der tödtliche Streich, sein Lebensglück für ewig zerstörend. – Sollte er diese Frage thun? sollte er die beiden Hände seines Freundes ergreifen, ihm flehend in die Augen blicken [232] und um Gottes und aller Liebe willen um den vollständigen Namen jenes Mädchens bitten? – Dann mußte er ihm auch sein ganzes Unglück offenbaren. – Oder sollte er ihn in gleichgiltigem Tone darum ersuchen? – Gewiß! er mußte das Letztere wählen. Und er that es unter den tiefsten Schmerzen, mit der fürchterlichsten Anstrengung. – Ja, er lachte dazu, aber sein Lachen klang heiser, fast wie ein Geheul, und wenn der Graf nicht so sehr mit seinem Feuer beschäftigt gewesen wäre, hätte er aufmerksam werden müssen.

»Die – schöne – Clara, sagten Sie,« sprach der unglückliche junge Mann. »Ah! – damit haben Sie mir Ihr Geheimniß verrathen.«

»Oh! es soll für Sie gar keines sein,« erwiderte der Graf. »Wir kennen uns zu genau, und ich bin fest überzeugt, daß Sie den Namen dieses armen Mädchens Niemanden sagen werden, der vielleicht Interesse an ihr nimmt.«

»Nein, das thue ich gewiß nicht.«

»Sie haben ihn ja auch schon errathen; und ist sie nicht in der That reizend, ja liebenswürdig, die schöne Clara? – Clara Staiger, eine unserer graziösesten Täuzerinnen.«

Da war es heraus, und Arthur sank momentan in sich zusammen, wobei er übrigens so viel Geistesgegenwart besaß, beide Hände vor die Augen zu drücken, damit der Andere seine hervorstürzenden Thränen nicht sehen möge. Doch hielt es ihn nicht länger in dem Zimmer; es schien sich mit ihm zu drehen, die Mauern schienen ihm zu wanken; es lag ihm centnerschwer auf der Brust, er mußte hinaus in's Freie, in die kalte Nachtluft, um wieder athmen zu können. Und doch durfte er nicht so davon stürzen, das war seine Qual. Obgleich wie im Fieber zitternd, mußte er sich langsam und förmlich erheben; obgleich sein Blut in den Adern raste, mußte er Ruhe und Müdigkeit affektiren, und mußte mit dem Grafen noch einige gleichgiltige Worte wechseln. [233] Glücklicherweise war es ziemlich spät geworden, weßhalb ihn dieser nicht lange zurückhielt. Und doch däuchte es dem Unglücklichen eine Ewigkeit, bis er seinen Hut ergriffen und die Thüre erreicht hatte. Ja, dort mußte er noch einen Augenblick warten, denn Graf Fohrbach machte ihn auf die Mappe aufmerksam, die er vergessen. – Endlich – endlich – öffnete sich ihm die Hausthüre, endlich trat er auf die Straße hinaus, und erst da schöpfte er tief Athem, als ihm die kalte Nachtluft seine brennende Stirne kühlte.

69. Kapitel
Neunundsechzigstes Kapitel.
Das Siegel des Herrn von Brand.

Wie lange Arthur in jener Nacht auf den Straßen umhergeirrt, bald mit den Zähnen knirschend und die Fäuste geballt, bald wieder leise weinend und ihren Namen ausrufend, zuerst mit weichem, liebendem Tone, dann immer heftiger und heftiger, bis ihn wieder die frühere Wuth erfaßte, das wäre er selbst nicht im Stande gewesen anzugeben. Ja, von dem Abend und der Nacht blieb ihm nur der Klang ihres Namens vollkommen gegenwärtig; es war, als wandelte eine Schaar Teufel mit ihm, die: »Clara Staiger – Clara Staiger!« hohnlachend in seine Ohren schrieen. Alles Andere erschien ihm wie ein wüster Traum, – ein wacher Traum, denn er hätte die Personen willkürlich hervorrufen können, mit denen er gesprochen, ja, er erinnerte sich, daß er leibhaftig an den Orten gewesen war, wo er jene Leute hätte finden können, – mit jenem Weib, jener schändlichen Kupplerin hatte er zuerst und lange zu thun gehabt; er wußte, daß er vor ihrem Hause am Kanal gewesen, er hatte ihre Fenster gesehen und einen schwachen, ihm unheimlich dünkenden Lichtschimmer: ja unheimlich, [234] denn er zuckte über ein bleiches Gesicht, welches gestern noch in Fülle der Gesundheit geprangt. Er hatte in Gedanken mit jenem Weibe gesprochen, er hatte sie um Auskunft gebeten, welcher Dämon ihr die Macht verliehen über das bisher so reine und unschuldige Geschöpf. Sie hatte gleichgiltig die Achseln gezuckt, und hatte ihm gesagt: ja, wenn Sie mir keinen Brief bringen mit dem bewußten Siegel, so brauche ich Ihnen keine Antwort zu geben. Darauf war er vor dem Hause des Baron von Brand gewesen und hatte lange an die dunklen Fenster hinauf geblickt, und darauf war es ihm, als habe er ihn um das Siegel bitten wollen, doch war Jener abwesend und er mußte ihn im Fuchsbau aufsuchen. Und das that er auch: hastig, eilig.

Da lagen vor ihm die finsteren Gebäudemassen, da war der Durchgang, wo das einsame Licht brannte, und die eiserne Gitterthüre, wo er damals jenen Mann im Mantel gesehen, der dem Baron von Brand so ähnlich sah. – Aber auch hier ward ihm kein Einlaß, und es trieb ihn immer wieder fort, wie in einem Rundlauf, an dem stillen Wasser des Kanals vorbei, vor das Haus jenes räthselhaften Mannes, abermals an den Fuchsbau, und erst als der Morgen anfing zu grauen, hie und da an den Häusern Lichter blitzten, sich Hausthüren öffneten und Menschen erschienen, und er also nicht mehr, gefolgt von seinen wilden Phantasieen, allein und ungesehen durch die Straßen schweifen konnte, da schwankte er seinem Hause zu, und als er es erreicht, lehnte er lange die immer noch heiße Stirn an den kalten Stein, ehe er aufschloß und in sein Zimmer hinauf ging. Ach! das schienen ihm gar nicht mehr die traulichen Gemächer zu sein, in denen er bis jetzt so gern verweilt; bei seiner Gemüthsstimmung und dem falben Lichte des Wintermorgens erschien ihm Alles hier unheimlich und gespensterhaft. Seine Waffen funkelten ihn so verstohlen an, die weißen Statuen schienen verlegen auf den Boden zu blicken, der schwere Seidenstoff, der nachlässig über seinem Divan hing, [235] schien ihm ein Grabtuch zu sein, und erst ihr Porträt, das auf der Staffelei stand, hatte gar keine lebendige Färbung mehr, sondern däuchte ihm wie das Bild einer Leiche, die nichts mehr hier oben auf der freundlichen Welt zu schaffen hat, die tief hinabgesenkt werden muß, damit man sie nie mehr sehe, und sich bei ihrem Anblick entsetze. – Ah! ihm schauderte vor ihren Zügen; sie waren so bleich und leblos. – »Und du konntest so an mir handeln!« sagte er, vom tiefsten Schmerz ergriffen, »du, an die ich mein Alles gesetzt!« –

Als er so dachte, kam es ihm vor, als flamme eine leichte Röthe, das Bewußtsein ihrer Schuld, über das schöne Gesicht. – Doch nein! er hatte sich nur geirrt; es war das letzte Aufflackern des tief herabgebrannten Lichtes, das die ganze Nacht vergeblich auf seine Rückkunft gewartet hatte. – Er nahm ruhig den Seidenstoff und deckte ihn über Bild und Staffelei. Dann versank er abermals in Träumereien, aber er schlief nicht, und hörte nur wie fernes Rauschen, als es so nach und nach auf der Straße und im Hause lebendig wurde. Erst als die Sonne einen freundlichen Strahl in's Zimmer sandte, erhob er sich und brachte ruhig seinen Anzug in Ordnung, ohne dabei vor der Blässe zu erschrecken, die auf seinen verstörten Zügen lag.

Was er während des Umherschweifens heute Nacht gedacht, beschloß er nun auszuführen; vor allen Dingen wollte er sich Gewißheit verschaffen, welche Mittel Clara vermocht, so entsetzlich tief zu fallen. »Oh!« sprach er zu sich selber, »das kann kein Anfang sein, das ist nur eine Fortsetzung.« Er zwang sich ruhig zu werden, er kühlte sein Gesicht mit kaltem Wasser, er ordnete sein Haar, und sobald es ihm die Stunde erlaubte, ging er nach der Wohnung des Baron von Brand. Vorher aber hatte er aus der Mappe die bewußten sechs Blätter genommen, sie zusammen gerollt und zu sich gesteckt.

Der Baron hatte sich, wie sein Kammerdiener sagte, eben [236] erhoben; doch ließ er den Maler augenblicklich in sein Zimmer und schien erfreut, ihn zu sehen. Er lag in einem kleinen Fauteuil, trug einen seidenen Schlafrock, und sein Kopf war über und über mit Papilloten bedeckt, ein Zustand seiner Toilette, wegen welchem er in der bekannten süßlichen Manier tausendmal um Verzeihung bat. Neben ihm befand sich ein sehr niedriger runder Tisch, auf welchem sein Frühstück stand; er nöthigte Arthur, eine Tasse Kaffee zu nehmen und bot ihm eine Cigarre an, welche dieser aber ablehnte.

»Sie werden sich wundern, Herr Baron,« sagte der Maler, »daß ich Sie schon früh belästige, aber ich komme nur, um Ihnen einen Beweis meiner Ergebenheit darzubringen. Gestern Abend schienen Sie großen Werth darauf zu legen, die sechs Blätter – eines gewissen Porträts zu besitzen; hier sind sie.«

»Wirklich?« erwiderte der Baron erstaunt; »das hätte ich mir nicht träumen lassen. Doch will ich Ihnen in der That unendlich dankbar dafür sein; ich freue mich, in den Besitz dieser Blätter zu kommen; aber alle Freundschaft bei Seite – die Zeichnungen sind kostbar und ich nehme sie nur an, wenn Sie mir Ihre Bedingungen nennen, die ich übrigens im Voraus acceptire.«

»Versprechen Sie nicht zu viel, Herr Baron,« sagte Arthur sehr ernst. »Die Blätter sind allerdings sehr kostbar, nicht wegen ihres künstlerischen Werthes, wohl aber wegen der Folgen, die eine solche Arbeit für mich haben kann. – Dagegen,« fuhr er mit einer Handbewegung fort, als er sah, daß der Baron etwas erwidern wollte, »sind auch meine Forderungen viel leicht sehr hoch – vielleicht aber auch sehr gering.«

»Ich verstehe Sie wahrhaftig nicht, bester Herr Erichsen: erklären Sie sich deutlicher, nennen Sie diese Forderungen!«

»Dazu muß ich Einiges vorausschicken,« sagte der Maler. – »Ich habe Geschäfte mit einer gewissen Frau Becker, die Sie vielleicht nicht kennen.«

»Nein,« sagte der Baron mit völlig unbeweglichem Gesicht.

[237] »Die aber Sie kennt,« fuhr Arthur fort.

»Coeur de rose!« lachte der Baron; »ob das für mich schmeichelhaft ist, weiß ich nicht. Aber gleichviel – gehen wir weiter!«

»Diese Frau muß mir über irgend etwas eine Auskunft geben, eine bestimmte und wahre Auskunft. Und dazu bedarf ich Ihres Fürwortes.«

»Meines Fürwortes, bester Herr Erichsen? Wie gesagt, ich kenne die Frau ja nicht.«

»Aber sie kennt Sie desto besser.«

»Bah! gehen Sie! Sie sprechen in Räthseln. Aber ich will Sie geduldig anhören: worin besteht denn dieses Fürwort?«

»Sie müßten mir auf ein Blatt Papier schreiben,« fuhr der junge Mann tief Athem holend fort, »ungefähr so: Der Ueberbringer ist mein Freund – wenn ich mir damit schmeicheln darf? – und ich wünsche, daß Sie ihn als solchen betrachten.«

»Das ist ja eine ganz räthselhafte Geschichte, eine komische Grille!« lachte überlaut der Herr von Brand. Und sein Lachen war so natürlich und ungezwungen, daß man darauf hätte schwören sollen, er sehe wirklich in der Forderung Arthur's nur eine komische Grille desselben.

»Die Sie erfüllen werden?« fragte ängstlich der Maler.

»Coeur de rose! das kommt darauf an. Und das Blatt muß ich unterschreiben?«

»Nicht einmal; aber – Ihr Siegel beifügen.«

»Mein Siegel! Das wird immer geheimnißvoller.«

»Und zwar das Siegel, welches dort neben dem Uhrenschlüssel an der Kette befestigt ist.«

»Mein Talisman, bester Herr Erichsen?« rief der Baron lustig. »Das wird wahrhaftig nicht angehen. Nehmen wir meinetwegen ein anderes Siegel.«

»Nein, es muß der Talisman sein,« bat Arthur. »Er soll es auch mir sein, um einen Mund zu öffnen, der wahrscheinlich sonst [238] für mich verschlossen bliebe. – Finden Sie meine Forderung gegenüber meiner Arbeit vielleicht zu hoch?«

»O nein, die ist mir unschätzbar; aber ich verstehe, beim Himmel! nicht, wie mein armer Talisman auf jene Madame – wie haben Sie doch gesagt?« –

»Madame Becker.«

»Richtig! – Madame Becker wirken soll. Erklären Sie mir doch den Zusammenhang!«

»Ich weiß ihn nicht,« entgegnete Arthur. Doch sah er den Baron scharf an, als er fortfuhr: »Vielleicht glaubt jene Frau, das Siegel gehöre Jemand, den sie fürchten muß; – den Herrn Baron von Brand kennt sie wahrscheinlich nicht.«

»Und woher vermuthen Sie das?«

»Erinnern Sie sich, Herr Baron, daß Graf Fohrbach mit demselben Talisman vor einiger Zeit siegelte; es war ein Brief an eben jene Frau, den ich aus Gefälligkeit dort abgab. Was der Graf verlangte – weiß ich nicht, – aber so viel weiß ich,« fuhr er mit zitternder Stimme fort, »daß die Frau nur durch den Anblick jenes Siegels bewogen wurde, seinen Wunsch zu erfüllen. – Ah! und sie erfüllte ihn meisterhaft.«

Auf dem Gesicht des Barons war nicht die geringste Bewegung zu lesen; sein Lächeln drückte Aufmerksamkeit, Neugierde aus, und als er sagte: »Das ist wirklich seltsam!« klang das, wie im Tone der unschuldigsten Ueberraschung gesprochen.

»Bewilligen Sie meine Bitte,« fuhr Arthur dringend fort. »Ein Blatt ohne Ihren Namen, was kann es Ihnen schaden? Und obendrein verspreche ich Ihnen feierlich, daß Sie es noch am heutigen Tage zurückerhalten sollen. Was dagegen meine Blätter anbelangt, so bleiben sie in Ihrer Hand und mit ihnen ein Theil meiner Zukunft, wenn ich diese je in hiesiger Stadt suchen sollte.«

Der Baron schlürfte kopfschüttelnd seinen Kaffee, stieß bedächtig die Asche von seiner Cigarre und sagte alsdann: »Sie sind [239] einer von den Menschen, lieber Erichsen, für welche ich Sympathieen fühle, und deßhalb will ich Ihren komischen Wunsch erfüllen. Wenn Sie mir das Blatt zurückbringen, ist mir's recht, ich bin aber auch zufrieden, wenn es nur in Ihrer Hand bleibt.« Hierauf erhob er sich langsam, und als er seinem Schreibtische zuging, warf er einen Blick in den Spiegel und sprach affektirt: »Wahrhaftig, Sie haben, wenn ich so sagen darf, einen großen Stein bei mir im Brette, denn Sie durften mich im tiefsten Negligé sehen – mit Papilloten in den Haaren. Coeur de rose! wenn Sie mich je verrathen würden! Wissen Sie wohl, daß alle Damen darauf schwören, mein Haar sei natürlich gelockt; ich gebe mich ganz in Ihre Hand.« Bei diesen Worten hatte er das Verlangte geschrieben, gesiegelt und überreichte es Arthur.

»Von Ihnen gilt der Ausspruch Napoleons nicht,« entgegnete der Maler lächelnd; »Sie bleiben ein großer Mann selbst im tiefsten Negligé, ja in jeder Verkleidung.« Er hatte das ohne Absicht gesagt, als er gerade sein Papier zusammen faltete, weßhalb er auch nicht sehen konnte, welch seltsamer Strahl aus den Augen des Barons auf ihn fiel. »Meinen herzlichen Dank,« sprach Arthur, »hier sind die Blätter; machen Sie einen mäßigen Gebrauch davon.« Er schüttelte dem Baron die Hand, welche ihm dieser mit dem bekannten matten Lächeln darreichte, und verließ eilig das Zimmer.

Kaum hatte sich die Thüre hinter ihm geschlossen, so schien Herr von Brand ein ganz Anderer zu sein. Sein Auge glänzte entschlossen und feurig, alle seine Muskeln schienen sich heftig anzuspannen, er schlug die Arme über einander und rief aus, indem er hart mit dem Fuße auftrat: »Teufel! was ist das? – Mein Talisman! Ah! ich ließ damals den Grafen ungern damit siegeln. – Und was wollte er mit seinen Verkleidungen sagen? – Zum Henker! Das will bedacht und überlegt sein.«

Arthur hatte unterdessen seine eiligen Schritte nach der Kanalstraße gelenkt. Bald hatte er die alte Kaserne erreicht, und sein [240] guter Ortssinn ließ ihn in Kurzem die richtige Treppe finden. Doch als er gerade im Begriffe war, hinauf zu steigen, hörte er droben eine Thüre öffnen, dann Tritte, und vernahm, daß es zwei Personen waren, die sich, ziemlich leise zusammen sprechend, der Treppe näherten. Es war dies eine Wendeltreppe mit festen, glatten Wänden, oben gewölbt, woher es denn auch kam, daß Arthur jedes Wort, das droben, obgleich ziemlich leise, gesprochen wurde, unten ziemlich deutlich vernahm. Es war sonst wahrhaftig nicht seine Art, zu lauschen, aber hier, wo er sich einem feindlichen Lager näherte, glaubte er sich das als eine Vorsichtsmaßregel schuldig zu sein, umsomehr, da er eine der Stimmen, die einer Frau, zu erkennen meinte. –

»Wenn es sich also leicht thun läßt,« sagte diese, »so sehe ich gar nicht ein, warum wir den Profit nicht mitnehmen wollen. Hat mir doch das ungerathene Geschöpf allen Verdienst, den ich durch sie zu machen dachte, mit in den Himmel genommen! Und ich sage Euch, Sträuber, glaubt mir, die ganze Geschichte schadet meinem Erwerb, denn das wird ruchbar und die Herren werden sich vor mir geniren.«

»Bah!« versetzte der Andere. »Ihr seht zu schwarz, Frau. Das macht die Trauergeschichte hier im Hause; das ist in acht Tagen vergessen, und dann habt Ihr Freunde – gute Freunde; schaut auf mich! – Also die Sache werde ich besorgen; keine Einrede; ich nehme Alles auf mich. Es ist doch wunderbar, daß mir vorgestern gerade wie etwas von einem Unglück in den Gliedern lag, und daß ich eine Person, die nicht genannt sein wollte, in sechs Leichenkassen versicherte. Das kostet freilich doppelte Prämien und ihr müßt im Nothfalle beschwören können, daß Eure Marie damit gemeint war. Das macht sechsmal fünfzig Gulden gleich Dreihundert. – Nun, bin ich ein Geschäftsmann?«

[241] »Gewiß,« sprach die Frau, »daran zweifelt Niemand; und wenn Ihr Euch ein wenig zurückzieht – Ihr versteht mich wohl – so kann es Euch nicht fehlen.«

»Und das werde ich thun, seid ruhig. Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, und die ganze Geschichte bald aus dem Leim. Denkt an mich: den Fuchsbau heben sie nächstens auf!«

»Gott im Himmel! Das gibt viel Unglück. – Under

»Er,« flüsterte der Andere; »was ist er? – Alles und gar nichts, leider ein Phantom, das nicht zu fassen ist. Gebt nur Achtung: wenn sie alle Andern zusammen erwischen, so fliegt er zum Schornstein hinaus oder verschwindet irgendwo durch die Mauer. – Wißt Ihr, ich habe mich schon halb und halb losgesagt.«

»Aber um Gotteswillen! seid klug. Es sollte mir leid um Euch thun; sie spaßen nicht da unten; es sind da schreckliche Sachen vorgefallen.«

»Nur keine so trüben Erinnerungen, Frau, keinemomenti moris! Ihr sprecht ja wie ein Todtenkopf.«

»Ach! und dazu hätte ich alle Ursache; ich versichere Euch, es ist mir ganz schwarz vor den Augen. Ihr könntet wohl heute Abend kommen und mir ein bischen Gesellschaft leisten.«

»Nein, das kann ich nicht versprechen,« sagte entschieden der Andere; »ich habe nun einmal eine Abneigung vor allen Häusern, wo Todte liegen; da gruselt es mir beständig, ich muß mich rechts und links umschauen, und dabei ist mir, als zupfe mich etwas Unsichtbares bald hier und bald dort am Rock.«

»Aber morgen!«

»Morgen – versteht sich von selbst! Ich werde wohl das Geld bringen. – Adieu, Frau!«

»Adieu denn!«

Bei den letzten Worten war Arthur dem Eingange wieder zugeschritten; er mochte nicht von dem Manne, der nun herunter kam, in Hörweite angetroffen werden.

[242] An der Thüre begegneten sich denn auch Beide, und Arthur blickte dem Andern überrascht nach; es war das eine dürre Gestalt in schwarzem, abgeschabtem Frack, mit gelblichem, zerknittertem Hemdkragen und schmierigen, baumwollenen Handschuhen; dazu hatte er den Hut keck auf das rechte Ohr gesetzt, schwang einen abgebrochenen Spazierstock, trug die Nase hoch und hatte das Maul gespitzt, als pfeife er sich selbst etwas vor.

Sobald der Maler droben kein Geräusch mehr vernahm, stieg er die Treppen hinauf.

Das alte Haus war unheimlich und finster wie immer; nur hatte sich die Atmosphäre, sonst moderig und feucht, etwas geändert; es roch dazwischen wie nach halb verwelkten Blumen und Weihrauch oder Wachskerzen; es war ein Odeur, der unwillkürlich trübe stimmt. Dazu war es in dem Hause todtenstill, und als Arthur leise an die Thüre klopfte, warf das Echo in dem langen Gange drei dumpfe Schläge zurück. – »Herein!« klang es von innen, und auch hier war derselbe unangenehme Geruch, nur starker Blumenduft vorherrschend.

Madame Becker saß wie damals an dem Tische, doch hatte sich ihr Aeußeres und ihre Haltung sehr verändert; sie war ganz schwarz gekleidet und ließ den Kopf hängen; ihre Augen waren matt und glanzlos, und da ihre Unterlippe ziemlich schlaff herab hing, so hatten ihre Gesichtszüge etwas Verlebtes, Ausdrucksloses. Sie belebten sich ein klein wenig, als sie des jungen, eleganten Mannes ansichtig wurde, auch stand sie eilig auf und nickte ihm zu, schritt aber alsdann gegen das Nebenzimmer, dessen halb offen stehende Thüre sie langsam in's Schloß zog.

Arthurs Kehle war wie zugeschnürt, er konnte kaum ein Wort hervorbringen, und er ließ sich schweigend auf den Stuhl nieder, den ihm die Frau an den Tisch gerückt hatte. – »Sie erinnern sich meiner?« sagte er nach einer Pause.

»Kaum, kaum,« entgegnete die Frau und fuhr mit der Hand [243] über die Augen. – »Es war was dabei von einem Brief und einer Bestellung.«

»Ganz richtig: ein Brief des Grafen Fohrbach.«

»Richtig! jetzt habe ich die Sache wieder,« sprach lebhafter die Frau, wobei sie sich vornüber beugte und so dem jungen Manne näherte. »Jetzt kenne ich den Herrn, aber ich meine, Sie hatten damals einen größeren Bart; heute sehen Sie etwas anders aus, etwas kahler.«

»Vielleicht blässer.«

»Auch möglich. – Richtig! vom Herrn Grafen Fohrbach – ein vornehmer und sehr braver Herr. Er war zufrieden?«

»Außerordentlich.«

Jetzt legte die Frau die Finger auf den Mund, wobei sie sich einen Augenblick nach dem Nebenzimmer umsah. Dann sagte sie flüsternd: »War er nicht überrascht?«

»O er war sehr überrascht,« brachte Arthur mühsam hervor.

»Das will ich wohl glauben,« erwiderte Frau Becker. »Und ich kann Sie versichern, Herr – Baron, daß keine Andere als ich das zu Stande gebracht hätte. – Keine Andere,« wiederholte sie und berührte mit ihren Fingern den Arm des jungen Mannes.

Arthur zuckte zusammen, doch faßte er sich gewaltsam.

»Also doch!« dachte er. – »Sei ruhig, Herz; wenigstens hat es ihr Mühe gekostet.« – Er zwang sich sogar zu einem Lächeln, doch brauchte er dazu einige Sekunden, dann fuhr er fort: »Ich komme nochmals in derselben Angelegenheit.«

»Wollen Sie sie auch kennen lernen?«

»Nein, nein, nein!« rief er hastig. »Ich habe nur eine Bitte an Sie, einige Fragen, die Sie vielleicht so freundlich sind, mir wahr zu beantworten. – Aber wahr, Frau Becker! Es soll mir auf eine gute Belohnung nicht ankommen.«

Die Frau sah ihn einigermaßen mißtrauisch an. Dann sagte [244] sie: »Vor allen Dingen bitte ich den Herrn Baron, leise zu sprechen. – Was wollen Sie denn eigentlich wissen?«

»Sie kannten die Clara – – Staiger schon länger?«

»O ja, ich kannte sie, so – so!«

»Und sie war Ihnen bis dahin als ein braves und tugendhaftes Mädchen bekannt? – Ja, ja, das mußte doch wohl sein,« fuhr Arthur fort, als die Frau keine Antwort gab, »denn sonst hätte es Ihnen ja keine Mühe gemacht, sie zu ver-kuppeln.«

Wer konnte es dem jungen Manne übel nehmen, daß ihm in seinem tiefen Schmerze dies Wort entfuhr. Unbedachtsam aber war es auf jeden Fall, denn die Frau fuhr davor zurück, als sei sie von einer Schlange gestochen worden; auch mochte sie in den seltsam glänzenden Augen Arthurs etwas entdecken, was ihr nicht gefiel. Vor allem aber war sie eine kluge Frau, die verdächtige Blicke und Worte schnell ihren Verhältnissen anzupassen wußte. – »Halt,« dachte sie, »wer weiß, wen ich vor mir habe, und was geschehen könnte, wenn ich dumm genug wäre, ihm zu gestehen, daß wir eine Unschuld geliefert!« Dies überlegend, machte sie eine steife Verbeugung und sagte: »Verzeihen Sie, Herr Baron, ich bin heute nicht in der Verfassung, Geschäfte abzumachen; ich bin in Trauer, wie Sie wohl sehen, und muß ein anderes Mal um die Ehre bitten.« – Sie dachte: Zeit bringt Rath.

Arthur brachte mühsam ein Lächeln zu Stande. »Ah! Sie trauen mir nicht,« sagte er. »Eigentlich haben Sie Recht, ich stellte da indiskrete Fragen, ohne mich bei Ihnen gehörig legitimirt zu haben. Doch soll das sogleich geschehen.« – Er zog das bewußte Papier hervor und reichte es der Frau, die es hastig durchlas, das Siegel betrachtete, und dann schweigend in Ihren Stuhl zurücksank. Ihre Hand und das Papier zitterten ein wenig.

»Sind Sie damit zufrieden?« fragte der junge Mann.

»Bei allen Heiligen, ja!« rief die Frau, nachdem sie heftig geschluckt. »Aber, Herr Baron, sagen Sie einer armen Wittwe [245] die Wahrheit: soll noch mehr Unglück über mich herein brechen? Will er mir ein Leides thun?«

Arthur war zu sehr mit seiner eigenen Sache beschäftigt, um augenblicklich an ihn, an den Baron zu denken, um sich bewußt zu werden, daß zwischen dem Siegel und jenem räthselhaften Er ein Zusammenhang stattfände. – »Ihnen soll gewiß nichts zu Leid geschehen,« entgegnete er der Frau auf ihre Frage, »wenn Sie mir die Wahrheit sagen; aber die volle Wahrheit.«

»Das will ich ja; gewiß, ich will es.«

»Nun gut. – Hatten Sie früher über das bewußte Mädchen, über deren Aufführung etwas Nachtheiliges vernommen? – Scheuen Sie sich gar nicht, die Wahrheit zu sagen.«

»Nein, das hatte ich nie,« erwiderte eifrig die Frau; »im Gegentheil, mir hat man sie immer als die Tugend selbst geschildert, und so kannte ich sie auch. Das müssen der Herr Baron mir selbst bezeugen!«

»Ich?« fragte Arthur erstaunt.

»Ja, Sie. – Erinnern Sie sich, was ich Ihnen damals sagte, als Sie den Brief brachten, worin der Herr Graf das verlangte? – Das wird schwer angehen, sagte ich, das ist fast unmöglich, sagte ich, das kann ich nicht unternehmen, sagte ich. Nun sehen Sie, es war auch in der That schwer.«

»Und doch gelang es!« seufzte Arthur.

Frau Becker hatte während dieser Zeit immer scheu nach dem Nebenzimmer geblickt, auch flüsterte sie ihre Worte ganz leise. Ja, wenn der junge Mann etwas lauter sprach, so hob sie ihre Hand auf und machte: s – s – st! Dabei wandte sie sich hin und her, drehte ihren Kopf vielmals um, zupfte an ihren Haubenbändern, schluckte häufig und sagte dazwischen: »Ja, sehen Sie, das ging so – Gott soll mich bewahren, der Clara etwas Schlimmes nachzusagen – nein, sie war vollkommen brav.« – Während dieser Redensarten hatte sie sich einen Feldzugsplan entworfen, und dabei ihrer [246] Freundin Wundel gedacht. – »Richtig,« sprach sie zu sich selber, »die soll es ausbaden; was brauche ich die Wundel zu schonen. Und wenn er ihr auf den Leib geht, da soll sie sehen, wie sie sich herauslügt. – Ich wußte gleich,« wandte sie sich an Arthur, »daß das eine delikate Sache sei, glauben Sie mir, Herr Baron,« – dabei faltete sie ihre Hände und blickte gen Himmel – »Unsereins hat auch Gewissen; und ich hatte immer das Vergnügen, die Familie Staiger als eine anständige Familie zu kennen. – Gott! die Clara, der arme Aff, wie mußte sich abplagen, damit ihre Geschwister nur etwas zu beißen hatten.«

»Weiter!« sprach Arthur finster.

»Sie kam oft daher.«

»Zu Ihnen?«

»Eigentlich zu der unglücklichen Marie. Ach Gott! Herr Baron, Sie kennen ja wohl das Unglück, das uns betroffen, heute roth – morgen todt! – Da liegt sie im Nebenzimmer und sie erweisen ihr die letzte Ehre.« – Hier holte sie ihr Schnupftuch hervor und fing auffallend heftig an zu weinen. – »O du lieber Gott im Himmel!« schluchzte sie, »daß ich das erleben mußte! Meine arme Marie! mein Stolz, meine Stütze! – Aber mich soll der Himmel bewahren, Herr Baron, daß ich Sie mit meinen Klagen aufhalten will. Gewiß nicht; ich bezwinge meinen Schmerz.« Dies schien auch der Frau Becker leicht zu werden, denn ein paar Sekunden nach diesem Erguß waren ihre Augen wieder vollkommen trocken, ihr Gesicht gänzlich beruhigt. – »Also ich hatte zu viel Gewissen,« fuhr sie fort, »die Sache mit dem Mädchen auf eigene Hand zu unternehmen.«

»Und wer half Ihnen?« fragte Arthur dringend.

»Von Helfen ist eigentlich nicht die Rede,« erwiderte listig das schlaue Weib; »sondern ich übergab die ganze Sache einer Bekannten.«

»Und darf ich Sie um den Namen dieser Bekannten ersuchen?«

[247] »O gewiß! warum nicht! Nur bitte ich, Herr Baron, daß ihr nichts geschieht.«

»Nein, nein – wer ist's?«

»Es ist die Frau Wundel; sie wohnt in der Balkenstraße Numero vierzig.«

»Ah! im gleichen Hause.«

»Ganz richtig, wo auch Clara wohnt.«

»Und die hat das Geschäft geleitet?«

»Sie konnte es am besten, da sie sich auf gleichem Boden mit der Familie Staiger befindet.«

»Richtig! o du mein Gott! Das war gut überlegt. Da konnte man Stunde um Stunde arbeiten. Wenn ich es auch nicht begreife, so fange ich doch an, die Fäden dieses Gewebes zu verstehen.«

»S – s – st!« machte Frau Becker; »man kommt.«

Die Thüre des Nebenzimmers öffnete sich langsam und – Clara trat herein.

70. Kapitel
Siebenzigstes Kapitel.
Marie und Clara.

Ob das Erschrecken Arthurs bei ihrem Anblick oder das Erstaunen des jungen Mädchens größer gewesen, als Beide sich nun so auf einmal hier Auge gegen Auge gegenüber standen, ist wohl schwer anzugeben. Aus Beider Herzen stiegen seltsame Gedanken, aus dem seinen bittere, traurige, und auch ihre Ueberraschung war keine frohe zu nennen. – »Was macht er hier,« dachte sie, »in dem Hause, das ich nur scheu und zitternd betreten, einzig und allein in der edlen Absicht, der dahin geschiedenen Freundin den letzten Liebesdienst zu erzeigen?« Er biß heftig auf seine Lippen, [248] indem er zu sich sagte: »Ah! es ist Alles so, wie ich erfahren; sie geht hier ein und aus.«

Obgleich Madame Becker aus dem vorhergehenden Gespräch wohl entnommen, daß er ein Interesse an dem Mädchen nahm, so hatte sie doch keine Ahnung davon, wie genau Beide mit einander bekannt seien, und hielt es auf alle Fälle für schicklich, »den Herrn Baron – einen ihrer Bekannten« der Tänzerin vorzustellen.

Zuerst wollte Arthur gegen den Titel eines Bekannten protestiren und hätte es vor ein paar Tagen noch lachend und eifrig gethan, jetzt aber, von der Untreue und Schlechtigkeit Clara's überzeugt, dachte er: »Ei, das wird mich in ihren Augen nicht heruntersetzen, und es soll mir ganz gleichgiltig sein, ob ich auf diese Art vor ihr kompromittirt werde.«

Die Vorstellung der Madame Becker und der plötzliche Anblick Arthurs hier in diesem Hause hatten aber auf das junge Mädchen erschreckend gewirkt; sie war, jedoch unmerklich, zusammen gezuckt, ein tiefes, unerklärliches Weh durchzog ihr Herz, und ihr Gesicht, ohnedies heute nicht frisch und rosig wie sonst, sah bleich und erschreckt aus.

Ihm waren das Beweise ihrer Schuld, und wenn sich auch seine Hand unter dem Tische krampfhaft zusammenballte, so bezwang er sich doch, stand lächelnd auf und sagte, indem er eine leichte Verbeugung machte, es freue ihn sehr, die schöne Tänzerin, Fräulein Clara Staiger – hier so unverhofft zu sehen.

Dem Mädchen war dieser Ton und der kalte Blick, womit er begleitet war, freilich räthselhaft; daß er unter diesem Besuche hier im Hause etwas Anderes vermuthen könnte, fiel ihr gar nicht ein; sie begriff nicht, daß Arthur im Stande wäre, ihr reines Herz, das sie ihm so offen hingelegt, zu verkennen. Und da sie sich rein wußte, frei von jeder Schuld, so bezog sie ihrerseits wieder sein verändertes Benehmen auf seine Verlegenheit, daß sie ihn hier bei der Madame Becker gesehen; denn er hatte ihr ja nie [249] gesagt, daß er diese Frau kenne. Viel weiter dachte dieses reine, arglose Herz natürlich nicht.

Uebrigens war es für alle Drei ein peinlicher Moment; sogar Madame Becker hatte ihre gewohnte Sicherheit verloren und meinte ziemlich linkisch, der Herr Baron möchten doch nur Platz behalten und sich vor der Fräulein Clara gar nicht geniren. – »Ach!« seufzte sie und machte dazu einen neuen, aber gänzlich vergeblichen Versuch, ihren trockenen Augen einige Thränen zu entpressen, »sie war mit meiner armen Marie wie ein Leib und eine Seele.«

Arthur, der es nicht über sich vermochte, wie er es im ersten Augenblicke gewollt, das Zimmer schnell und stürmisch zu verlassen, wollte auch etwas sagen und erkundigte sich nach dem schrecklichen Vorfalle im Theater, von dem er ja selbst Zeuge gewesen und über welchen er von seinem Bruder die beste Auskunft erhalten hatte. Es war ihm auch ganz recht, als ihm Madame Becker ein Langes und Breites darüber erzählte, und wenn er dabei, scheinbar mit gespannter Aufmerksamkeit, an ihren Lippen hing, so zeigte doch sein mühsames, ungestümes Athemholen, sowie das Umherirren seiner Augen, daß sein Geist mit ganz anderen Sachen beschäftigt sei.

Clara fühlte das wohl und sie folgte angstvoll seinen wilden Blicken, und wenn hie und da einer derselben sie traf, so zuckte sie wiederholt zusammen und schlug ihre Augen nieder.

»Ja, Herr Baron,« sagte die Becker schluchzend, »so traf mich dieses entsetzliche Unglück. Hier aus dieser Stube ging das arme Mädchen heiter und wohl, in voller Gesundheit, und ein paar Stunden nachher brachten sie sie sterbend zurück. Du Gott im Himmel! womit habe ich das verdient!«

Arthur zuckte die Achseln und bat die Frau in der höflichsten Art, ihre Thränen gefälligst trocknen zu wollen und ihren Schmerz zu mäßigen. Er brachte auch allerlei Gemeinplätze vor, als: das Schicksal nehme nun einmal seinen traurigen Lauf, was beschlossen, sei nicht zu ändern, Alles in der Welt, selbst das Entsetzlichste, sei [250] am Ende doch zu etwas gut – und bei diesen letzten Worten blickte er nach Clara, die ihre Hände gefaltet hielt und leicht mit dem Kopfe schüttelte; denn so kalt hatte sie ihn nie sprechen gehört.

»Haben Sie die Marie gekannt?« fragte Madame Becker nach einer Pause, während welcher sie ihre Thränen getrocknet hatte.

»O ja, ich erinnere mich ihrer, ich sah sie häufig; es war ein schönes, blühendes Mädchen.«

»Das war sie,« sagte eifrig die Frau, »und jetzt, da sie todt daliegt, ach! ganz todt, ganz todt, sollte man das nicht glauben; man meint, sie schlafe nur. Wenn es Ihnen keinen Schauder macht, Herr Baron, etwas Todtes zu sehen, so sollten Sie wirklich hinein gehen und sich das arme Kind betrachten.«

»Warum sollte mir der Anblick von unser aller Ende unangenehm sein!« erwiderte der junge Mann mit leiser Stimme. »Wenn es Ihren Schmerz nicht zu sehr wieder aufregt, so würde ich Sie bitten, mich hinein zu führen.«

»Ach ja, es wird meinen Schmerz sehr aufregen,« versetzte die Frau mit affektirter Bewegung. »Ach! der Anblick des armen bleichen Gesichtes bringt mich noch unter den Boden!«

»Wenn es dem Herrn – – gleichgiltig wäre,« meinte schüchtern die Tänzerin, »so würde ich ihn zu Marie hinein führen.«

»Ah! das wollten Sie?« sagte Arthur mit einem schrecklichen, fast lustigen Tone. »Gewiß, ich nehme Ihre Begleitung an. Der Himmel soll mich bewahren, den Schmerz dieser unglücklichen Frau zu vergrößern!«

Clara neigte still ihr Haupt und schritt ohne ein Wort zu sprechen in das Nebenzimmer.

Arthur folgte ihr.

Es war dasselbe, aus dessen Fenstern in der gestrigen Nacht der schwache Lichtschimmer auf die Straße hinaus gezittert hatte; der Docht in der kleinen Lampe, welche ihn erzeugt, brannte auch heute noch; man hatte vielleicht vergessen, das Licht auszulöschen oder [251] man hatte sein mattes Aufflackern und ersterbendes Zusammensinken hier im Zimmer der Todten für passend erachtet. Auf einer Erhöhung am Boden lag die Leiche des jungen Mädchens, weiß gekleidet, die wachsbleichen Hände gefaltet; um den Kopf hatte sie einen Kranz von weißen Blüthen und rings um sie her lagen Blumen, bald einzeln, bald in Bouquets zusammen gebunden. Man hatte die arme Marie noch nicht in ihr letztes trauriges Haus gelegt, und wenn man sie so betrachtete, wie sie auf den weißen Kissen dalag, so hätte man auch der Frau draußen wirklich Recht geben können, als sie sagte, man glaube, das Mädchen schlafe nur. Obgleich ihr bleiches Gesicht schon jenen eigenthümlichen aschfarbenen Ton angenommen hatte, so war doch von der Röthe ihrer Wangen etwas übrig geblieben, ungefähr wie der leichte Schimmer inmitten einer weißen verwelkten Rosenknospe. Auch die Lippen sahen noch frisch und roth aus, und die Augenlider hatten nichts Eingefallenes und Starres; sie schienen leicht herabgesunken und zeichneten sich nur scharf ab durch die langen schwarzen, seidenartigen Haare der Wimpern.

Wenn auch Arthur durchaus von keinem Gefühl des Schauders ergriffen war, so zog sich doch sein Herz wie krampfhaft zusammen, als er neben der Mädchenleiche stand; ja, als er sah, wie sich Clara über sie niederbeugte und ihre kalte Stirn küßte, athmete er kürzer und immer kürzer, ein leichtes Frösteln überflog seinen Körper und demselben folgten wohlthätige heiße Thränen. Ja, heute waren sie für ihn wohlthätig und beruhigend, es waren ja nicht mehr die Thränen des Hasses und der Wuth, die er gestern Nacht geweint, auflösende Wehmuth und Trauer hatten sich seines Herzens bemächtigt, und wenn er auch ebenso tief fühlte, was er verloren, so dachte er weniger an seinen eigenen Verlust, als an das Verderben jener armen Seele.

Clara blickte zu ihm empor und sagte nach längerem Stillschweigen: »Ach! sie war sehr unglücklich geworden, die arme [252] Marie! er liebte sie so innig und sie sollte ihm nicht angehören dürfen.«

»Das ist allerdings sehr, sehr traurig,« versetzte Arthur kaum hörbar. »Aber warum durfte sie ihm nicht angehören.«

»Ich weiß das nicht so genau; aber ich glaube, ihre Tante wollte sie zwingen, gegen einen Andern freundlich zu sein.«

»Und sie ließ sich zwingen?«

»Ach! die Ueberredung.«

»Ja – richtig, die Ueberredung! – Und er hat es erfahren, daß sie ihm treulos geworden?«

»Ja, er hat es erfahren. Schwindelmann sagte es ihm; und der that sehr Unrecht, denn Marie dachte nicht daran, treulos zu werden. Wissen Sie aber wohl, Herr Erichsen, aller Schein war gegen sie und das ist sehr schlimm!«

»Herr Erichsen hat sie mich lange nicht mehr genannt,« dachte Arthur. – »Sehr schlimm,« versetzte er darauf.

»Es ist für ihn ein noch größeres Unglück, als für sie,« fuhr das Mädchen mit gefalteten Händen fort, indem sie einen Blick auf die Leiche warf; »sie ist ja todt und es kann sie Niemand mehr kränken oder foltern. Aber ihm geht das nach wie ein Gespenst; sie sagen auch, der Richard sei ganz tiefsinnig geworden, denn was man beim Theater munkelt, er habe das Tau absichtlich ausgleiten lassen, ist ihm zu Ohren gekommen.«

»Und was glauben Sie? Hat er es absichtlich gethan?«

»O gewiß nicht, Herr Erichsen; er war nur erschreckt, als ihm der Schwindelmann von ihrer Untreue erzählte. Ich glaube wohl, daß er da nicht mehr wußte, was er that, denn das muß ja schrecklich sein.«

»Meinen Sie das wirklich, Fräulein Clara?« fragte Arthur tief aufathmend.

»Warum nennt er mich Fräulein Clara?« dachte das junge Mädchen.

[253] »Sehen Sie,« fuhr er mit zitternder Stimme, aber deutlich betonend fort, »so etwas kommt im Leben häufig genug vor. – O um Gottes Barmherzigkeit willen, Clara, schauen Sie mich nicht so zweifelhaft an!« unterbrach er sich heftig – »häufig genug,« sprach er ruhiger; »Untreue bald von der, bald von der Seite. Aber nicht immer nimmt es ein so klägliches Ende wie hier. – Hören Sie mich deutlich an, Clara, denn ich spreche jetzt von Ihnen und nicht von der Todten; ich habe Ihnen absonderliche Dinge zu sagen.«

»Das habe ich Ihnen angesehen,« versetzte erschrocken das Mädchen.

»Ich kann mir denken, daß Sie es erwartet; aber es ist besser, wenn ich es Ihnen hier sage. Der Anblick des unglücklichen Geschöpfes da zwischen uns stimmt mich wehmüthiger und ruhiger; – sonst,« sprach er mit heftigem Tone, »müßte ich das, was ich Ihnen zu sagen habe, hinaus schreien mit lauter Stimme; wenn es in Ihres Vaters Hause geschähe, Clara – und geschehen muß es doch einmal – so müßte ich Ihren Vater bei der Hand fassen und ihn vielleicht mit verantwortlich machen, daß Sie mich – betrogen.«

»Herr Gott im Himmel!« schrie entsetzt die Tänzerin.

»Hier aber,« fuhr er mit weit aufgerissenen Augen fort, während seine Hände, die er gegen die Leiche ausstreckte, heftig erzitterten, »hier vor dieser da, muß ich mich bezwingen und darf nur flüstern. Aber Sie werden auch dieses Flüstern verstehen, Clara. – Ja,« sagte er nach einem tiefen Athemzuge, wobei er schmerzlich nach ihr hinblickte, »ja, Clara, du hast mich betrogen, entsetzlich betrogen. Weßhalb du es gethan – ich weiß es nicht. War es, weil dein Herz falsch ist, weil du mich nicht geliebt, war es eine Laune – Gott weiß es! Mir soll es, hoff' ich, ewig ein Geheimniß bleiben!«

Clara war neben der todten Marie auf die Kniee gesunken, blickte einen Augenblick entsetzt in die Höhe und verbarg ihr Gesicht in beide Hände.

[254] »Es ist,« fuhr er sanfter fort, »fast die gleiche Geschichte, wie mit dem armen Mädchen da, nur daß sie unschuldig ist. Aber als er von ihrer Untreue hörte, er, der sie gewiß nicht inniger liebte, als ich dich, er, der ihr kein besseres und glänzenderes Schicksal bereiten wollte, als ich dir – ließ er sie niederstürzen, wirklich niederstürzen, und sie zerschmetterte vor seinen Füßen. – Ich aber,« sagte er mit leiser, jedoch schrecklicher Stimme, »ich kann und will das Gleiche nicht thun, ich will dich nicht leiblich zu meinen Füßen niederstürzen sehen, kein Haar soll dir gekrümmt werden, nicht dein schönes Gesicht verunstaltet, kein Glied deines prächtigen Körpers beschädigt werden, obgleich du auch an mir hingst, von mir abhingst. – Aber auch ich zerreiße dies Band, auch ich lasse dich, wenn gleich im Geiste, zu meinen Füßen niederstürzen, und wenn ich mich von dir lossage, was hier feierlich vor dieser Todten geschieht« – dabei streckte er beide Hände weit von sich ab – »so wirst du vielleicht deinen Gott anflehen, er möge dir ein gleiches Schicksal zu Theil werden lassen, wie dieser da.«

Clara war unter der furchtbaren Last dieser Vorwürfe und entsetzlichen Reden mit dem Kopf auf die Leiche niedergesunken, und da es ihr unmöglich war, etwas zu antworten, so hatte sie nur flehend und wie schützend die Hände über ihr Haupt erhoben, als wolle sie dadurch den Fluch abwehren, den er auf dasselbe herabschleuderte. Als sie sich endlich wieder faßte, als sie rief: »Arthur! um Gotteswillen, Arthur!« und aufsprang, da war er verschwunden. Sie blickte zweifelnd in dem Zimmer umher, fuhr mit der Hand über die Augen und wollte sich einreden, sie habe hier bei der todten Marie einen schrecklichen Traum gehabt, und er sei in Wahrheit gar nicht da gewesen. – Oh! wenn dem so gewesen wäre!

Aber dem war nicht so. Madame Becker, die heftig erregt herein trat, sagte: »Hat sich die Leiche nicht bewegt, als Jener im Zimmer war? Das sollte so sein, wenn Gerechtigkeit wäre, sie hätte drohend die Hand gegen ihn aufheben sollen. O daß ich [255] ihn nicht früher gekannt, daß ich seinen Namen nicht gewußt! ich erfuhr ihn erst vorhin, als er wie toll zur Thüre hinaus stürzen wollte. – Clara, Clara!« wandte sie sich an diese, »nimm dich in Acht vor der Familie! Einer von ihnen ist schuld an dem Tode meiner Marie.«

»Und der Andere – wird schuld an dem meinigen sein!« seufzte das unglückliche Mädchen und legte ihr Gesicht auf die Hand der Todten, als suche sie hier Schutz und Trost.

71. Kapitel
Einundsiebenzigstes Kapitel.
Alles verloren.

In dem Hause des Herrn Staiger hatte sich, seitdem Herr Blaffer das Honorar so bedeutend erhöht, allerlei auf's Vortheilhafteste verändert. Um das einzige Fenster prangte nun ein Vorhang von buntem Kattun, unter dem Schreibtisch lag ein altes Rehfell; freilich schien dasselbe in der Mauser zu sein, und die einstmalige blaue Tucheinfassung war nicht mehr zu erkennen. Aber es that seine Dienste, indem es die Füße des alten Herrn wärmte. Auch dem Ofen war etwas vom besseren Verdienste zu gute gekommen, man gab ihm reichlicheres und härteres Holz, und er, dafür dankbar, verbreitete um sich her eine angenehme Wärme. Und dabei sott und prasselte es in ihm ganz behaglich; es war beinahe Mittagszeit, und Clara, die wegen eines halben Feiertags heute die Tanzstunde nicht zu besuchen gebraucht, hatte Kartoffeln zum Mittagessen eingestellt, und war unterdessen in das Haus der Madame Becker gegangen, wie wir bereits wissen. Die Sorge für Kartoffeln und Suppe war unterdessen dem Papa Staiger übertragen worden, der sich hiezu, als seines Adjutanten, des Bübchens [256] bediente, das er vor den Ofen gestellt und beauftragt hatte, Lärm zu schlagen, sobald Suppe oder Kartoffeln irgend eine außergewöhnliche Bewegung zu machen anfingen. Zuerst hatte Karl einige Einwendungen gemacht, denn er war an dem heutigen Morgen außerordentlich beschäftigt; die Familie Staiger hatte nämlich, wie wir bereits wissen, einen Zuwachs erhalten und wir brauchen dabei wohl nicht zu bemerken, daß das kleine Mädchen, welches Arthur gebracht, mit herzlicher Liebe aufgenommen worden war. Natürlicherweise hatte der Maler die Bedingung dabei gestellt, daß die Bedürfnisse des armen Wesens ausschließlich ihm zur Last fallen müßten, und in Folge dessen hatte sich der Anzug der Kleinen wesentlich gebessert; auch erschien sie nicht mehr so scheu und ängstlich, denn ihr Herz schlug freudiger, sobald es die Wärme gespürt hatte, mit der sie von diesen guten Menschen behandelt wurde. Karl hatte sie unter seinen besonderen Schutz genommen, lehrte sie all' die sinnreichen Spiele, die er zu treiben pflegte, wobei sie ihm bald als Pferd, bald als Armee dienen mußte. Heute war sie sogar seine Prinzessin; er hatte das Fußbänkchen Clara's umgekehrt, das Mädchen hinein gesetzt, die Trümmer eines Pferdes davor gespannt und kutschirte seine Pflegbefohlene nun in Gedanken durch die halbe Welt. Doch mußte dem Befehl des Vaters Folge geleistet werden, weßhalb das Bübchen den Fußschemel wieder umkehrte, das fremde Kind darauf setzte, ihm ein Bilderbuch in die Hand gab, und sich darauf, als er das Pferd ausgespannt hatte, an den Ofen begab.

Das Geschäft, welches ihm der Vater übertragen, besorgte übrigens nun der Kleine mit einer so übergroßen Pünktlichkeit, daß er dadurch die Arbeit des Vaters weit öfter unterbrach, als nothwendig gewesen wäre. Jeden Augenblick glaubte er, der große Moment sei gekommen, wo die Suppe Neigung zeige, überzukochen, und dann prallte er mit einem lauten Aufschrei zurück, wobei es bereits zweimal vorgekommen war, daß er über sein [257] kleines kopfloses Pferd stolperte, welches er an einem Bindfaden hinter sich drein schleifte. Das gab dann begreiflicherweise eine große Verwirrung und es kostete den Herrn Staiger mehrere werthvolle Minuten, bis Bübchen, Pferd und Bindfaden wieder aus einander gewickelt waren, bis der alte Herr nach seiner Suppe gesehen und darauf der Lauerposten wieder aufgestellt worden war.

Dem Bübchen war übrigens auch etwas von dem Glanze der Familie zu gute gekommen; er hatte ein neues und warmes Röckchen an, seine kleinen Schuhe waren untadelhaft, und Clara hatte aus einem ihrer alten Kattunkleider eigenhändig eine Bettdecke genäht, welche der Stolz der beiden Kinder war.

Es war seltsam, aber nicht zu leugnen, daß auf den Herrn Staiger allein sein größerer Verdienst eine an dere Wirkung ausübte, als man sich wohl hätte denken sollen. Er, der sonst Alles hergab, was er einnahm, er, der seine Tochter Clara früher zur Verschwendung angetrieben, wie sie oftmals lachend sagte, war geizig geworden, ja recht geizig, und Clara mußte es zu ihrem großen Erstaunen erleben, daß er anfing, seine Kasse selbst zu verwalten, indem er ihr nur das nöthige Geld für die Haushaltung abgab und alles Uebrige in seinem Schreibtisch verschloß. Daß er nicht die Absicht hatte, von diesem Gelde etwas für sich zu verwenden, lag klar am Tage, denn sogar das abgenutzte Rehfell hatte ihm Clara oktroyiren müssen, und als sie auf einen neuen Anzug zum Ausgehen für ihn drang, hatte er sich bestimmt dagegen erklärt, indem er vorgab, er fühle doch, es sei seiner Gesundheit viel zuträglicher, wenn er während der Winterszeit wenig ausgehe; im Sommer werde man dann schon sehen.

Und Herr Staiger verdiente recht viel Geld: Onkel Tom war so gut wie beendigt, aber Herr Blaffer hatte mit ihm neue weitläufige Arbeiten besprochen und sein Honorar wunderbarer Weise abermals erhöht.

[258] Seit ihn das Bübchen zum letzten Mal gestört, hatte er die Feder nicht wieder aufgenommen, sich vielmehr in seinen Sessel zurückgelehnt und schaute, die Arme über einander geschlagen, an die Zimmerdecke empor. Es mußten keine unangenehmen Gedan ken sein, die ihn beschäftigten, denn er machte ein freundliches Gesicht, spitzte behaglich den Mund und zog nur zuweilen, wie in wichtiger Betrachtung, die Augenbrauen hoch empor. – »Das Ganze ist mir immer noch zu schön und traumartig,« sprach er zu sich selber, »die Abendröthe, die am Ende meines Leben leuchtet, kann dem neuen jungen Tage wohl schönes Wetter bringen, aber ebenso leicht Sturm und Regen. Nun auf alle Fälle thu' ich das Meinige; was der Himmel über uns verhängt, das wollen wir jederzeit geduldig und gern hinnehmen, – obgleich,« meinte er schmunzelnd, »das Bessere immer angenehmer ist; und ich muß schon gestehen, wenn man seine Kinder liebt wie ich, so kann es einen hoch entzücken, wenn man Aussichten hat, daß es ihnen gut gehen soll. – An meinem Leben würde ich freilich nichts ändern, ich würde fleißig arbeiten, so lange es geht, und nur Sonntags mir ein kleines Vergnügen machen und wohlgekämmt nach meinen Kindern sehen, nach meinem Schwiegersohn – Herrn Arthur Erichsen. – Gott! wie man in seinem Alter noch so kindisch sein kann!« unterbrach der alte Mann seine Betrachtungen, die er aber doch nicht unterlassen konnte, still denkend fortzusetzen. Ja, der alte eitle Mann sah sich schon im saubern Anzuge, er hatte sogar Handschuhe an und trat in das Haus seiner Tochter, wo man ihn an einem gewissen Sonntag zum Mittagessen erwartete. Clara machte die Honneurs wie eine Prinzessin; mit ihrem stillen, ruhigen und liebevollen Wesen entzückte sie ihren Mann, leitete die Dienstboten und hielt ihre kleinen Kinder in Ordnung, – ja, wir können es nicht leugnen, Herr Staiger hatte sogar die Verwegenheit, an Enkel zu denken. Diese Ideenverbindung leitete sich übrigens wohl aus dem Anblick seines eigenen Bübchens her, welches, um sich die [259] Zeit zu vertreiben, bis zu dem großen Moment, wo es der Suppe gefällig wäre, überzukochen, allerlei sonderbare Zählübungen anstellte. Clara hatte ihm in den Abendstunden das Zählen von Eins bis Zehn beigebracht, auch, daß Eins und Eins – Zwei, Zwei und Eins – Drei sei, und das mischte er nun Alles auf die abenteuerlichste Weise durch einander.

»Eins und Eins ist Vier, Fünf, Sechs und Eins ist Zehn,« sagte er und rief alsdann mit lauter Stimme: »aber jetzt, Papa, kocht sie über. Geschwind, geschwind, sonst zankt Clara!«

Damit sprang er abermals rückwärts, erinnerte sich aber glücklicherweise des hinter ihm stehenden Gaules, weßhalb sich der Zusammenstoß zwischen Beiden so gestaltete, daß das Pferd ein paar Schritte rückwärts flog zwischen die Füße des Herrn Staiger, der eilig näher kam und nun fast das Schicksal seines Sprößlings erlitten hätte.

»Aber potz Tausend, Karl!« sagte der alte Herr, »man muß auch hinter sich sehen können. Jetzt wirfst du mir dein Pferd auf die Füße und ich bin überzeugt, du machst wieder viel Lärmen um gar nichts.«

»Aber es läuft schon aus dem Topfe heraus in den Ofen hinein,« erwiderte das Bübchen, »und das stinkt und Clara wird es riechen, wenn sie nach Haus kommt, und da werden wir Beide gezankt.«

»Ja, da hast du Recht,« versetzte lachend der Vater, »und es thut weh, wenn Clara Jemand zankt. Nicht wahr, davor fürchtest du dich mehr, als wenn ich dich zanke.«

»Ja wohl,« sagte der Kleine bestimmt. »Denn wenn Clara zankt, so habe ich etwas gethan.«

»Und wenn ich zanke?«

»Oh!« erwiderte das Bübchen, indem es die Hände auf dem Rücken zusammen legte, »das geschieht ja niemals; du kannst gar nicht zanken.«

[260] »Sieh Einer den kleinen Bösewicht!« sprach lachend Herr Staiger; und dabei zog er die Suppenschüssel etwas nach vorn, damit der Inhalt, von der Gluth des Feuers entfernt, nicht mehr so heftig sprudle. – »So, so, du meinst, ich könnte nicht zanken!«

»Nein, denn du sagst ja immer: wartet nur, Clara wird euch recht zanken.«

»Nun, da werde ich es nächstens selbst lernen müssen,« meinte gutmüthig der alte Mann. »Denn wenn Clara einmal fort geht –«

»Ah! sie geht ja immer fort.«

»Ganz richtig, Karl,« sagte der Vater; »aber nächstens geht sie ganz fort und kommt gar nicht wieder.«

»Wie, Papa?« fragte erschrocken das Kind. »Clara käme nächstens einmal nicht wieder? – aber doch zum Essen?«

»Nein, mein Sohn.«

»Aber doch zum Schlafen?«

»Auch das nicht.«

Dies gab dem Bübchen zu denken; er schaute vor sich auf den Boden nieder, doch mußten seine Gedanken sehr unerfreulicher Art sein, und ohne weiter viel Worte zu verlieren und nachdem es ein paar Mal wehmüthig um seinen Mund gezuckt, brach er plötzlich in ein so lautes und anhaltendes Weinen aus, daß Herr Staiger alle Mühe hatte, ihn zu trösten, und ihm zuletzt gutmüthig, wie er war, versprechen mußte, daß, wenn er recht brav sei, Clara dableiben würde; im andern Falle aber stehe er für gar nichts.

Es war ein Glück, daß in diesem Augenblicke die kleine Schwester, aus der Schule kommend, hereintrat, um den Vater im Geschäft des Tröstens abzulösen; denn Herr Staiger hatte eigentlich gar kein Talent darin und er pflegte in solchen Augenblicken gern allerlei zu versprechen, was ihm später, bei dem guten Gedächtniß des Bübchens für dergleichen Dinge, viel zu schaffen machte.

Die kleine Marie war recht gut und sauber angezogen, ihre langen Zöpfe untadelhaft geflochten, und für Tafel und Bücher [261] hatte sie von Clara eine Tasche erhalten, in welcher diese früher Schuhe und Weißzeug mit in die Tanzschule zu nehmen pflegte. Dieser neue und bessere Anzug hatte recht erhebend auf das Gemüth des kleinen Mädchens eingewirkt, sie trug ihr Köpfchen so hoch als möglich, sprach gern altklug und nahm sich mit einer gewissen Ostentation der Haushaltungsgeschäfte an. So auch heute sah sie bei ihrem Eintritte, nachdem sie ihren Büchersack abgelegt, sogleich nach, ob im Zimmer nicht etwas zu finden sei, was nicht in Ordnung wäre. Da nun das fremde Mädchen statt zu lesen, was sie auch nicht gekonnt hätte, aufmerksam bald Herrn Staiger, bald den Ofen betrachtete und dazu an dem Bilderbuche kaute, so verwies ihr das Marie, nahm ihr die Lektüre, wischte ihr die Nase und brachte ihr eine Puppe, mit welchem Tausch übrigens das Kind sehr zufrieden zu sein schien. Darauf ging sie nach dem Ofen, betrachtete die Kocherei, wobei die Versuche des Herrn Staiger in dieser Richtung von ihr ziemlich geringschätzend angesehen wurden.

»Du hättest die Suppe nicht vom Kochen wegziehen sollen, Papa,« sagte sie, »sondern lieber mit dem großen Löffel den Schaum herunter nehmen, wie es Clara macht.«

»Nun, wenn du es besser weißt, kleiner Hofmeister, so thu' also,« bemerkte geduldig Herr Staiger, ohne von seiner Arbeit, die er wieder begonnen, aufzusehen.

Um das Gesicht des Bübchens wetterleuchtete immer noch unverkennbar etwas Wehmüthiges, das sich steigerte, sobald die kleine Schwester an den Ofen trat; denn er liebte es in dergleichen Fällen, gefragt zu werden, warum er weine. Dies geschah denn auch bald und Marie sagte: »Du hast wieder einmal geheult.«

»Das habe ich auch,« entgegnete er.

»Und warum denn?«

»Weil Papa gesagt hat, die Clara gehe fort und komme nicht mehr nach Haus zum Essen und auch nicht zum Schlafen.«

»Und deßhalb weinst du so arg?« fragte das Mädchen mit [262] sehr ernstem Tone. »Wenn Clara wirklich fort geht, so ist es gut für sie und für uns Alle. Und darüber sollen wir nicht weinen.«

»Aber dann habe ich ja Niemand mehr!« heulte das Bübchen, worauf Marie mit sehr wichtigem Tone entgegnete: »So bin ich immer noch da, und auch ich kann bald kochen und dich zu Bett legen.«

Von dem Bübchen aber wurde dieses Versprechen durchaus nicht als Trost aufgenommen, vielmehr schluchzte es stärker und sagte mit sehr kläglichem Tone: »Aber die Clara soll nicht fort – und dann hätten wir Niemand mehr – denn du bist gar nichts.«

Herr Staiger sah sich abermals veranlaßt, mit Tröstungen und Versprechungen den Wortwechsel, der sich zwischen den beiden Geschwistern zu entspinnen schien, zu Ende zu bringen, und wollte dabei versuchen, dem Bübchen begreiflich zu machen, wie man auf dieser Welt nicht immer beisammen bleiben könne, wie er vielleicht nächstens nach dem Himmel abgehe, das Bübchen selbst in die Schule und Clara auch irgendwo hin, wo sie es gut hätte. Doch war er mit seiner Rede noch nicht weit gekommen, als sich die Thüre öffnete und Clara eintrat. Der alte Mann, zufrieden, nun nicht weiter sprechen zu müssen, sagte: »Es ist wie immer ein wahrer Segen, daß du kommst; jetzt kannst du dich selbst mit ihnen abgeben.« Er wandte sich dann eilig seiner Schreiberei wieder zu und bemerkte deßhalb nicht sogleich das verstörte, bleiche Gesicht seiner ältern Tochter.

Clara ging schwankend wie im Schlafe; sie hatte die Augen auf den Boden geheftet, und erst, als sie in das Zimmer getreten war, erhob sie sie wieder und blickte die alten bekannten Gegenstände ringsum an, dann zuckte ein trübes Lächeln um ihren blassen Mund, sie schaute alsdann lange gen Himmel, und da sie zu gleicher Zeit die Hände faltete, so konnte sie ihren Thränen nicht verwehren, langsam über ihre Wangen hinab zu rollen.

»Clara, meine gute Clara!« rief das Bübchen, wobei es auf [263] sie zusprang und ihre Kniee umfaßte; »ich habe auch soeben geweint und um dich arg, arg geweint – so arg. Aber ich bin nicht unartig gewesen, gewiß nicht.«

Clara zuckte zusammen, als sei sie aus einem tiefen Traume erwacht, und beugte sich auf das Kind nieder, hob sein liebes, unschuldvolles Gesichtchen zu sich empor und küßte es heftig und wiederholt.

»Ja, er hat geweint,« sagte der alte Mann, wobei er aber fortfuhr zu schreiben; »doch war sein Kummer wie gewöhnlich nicht weit her; auch vermagst du ihn gleich zu lindern, meine gute Clara, wie du denn überhaupt nicht blos die Segenbringende der Familie, sondern auch unser Aller Trösterin – ein kostbarer Schatz bist, den wir gewiß Alle ungern verlieren werden. Aber, wie Gott will!«

»Amen!« entgegnete die Tänzerin in einem Tone des tiefsten Wehes, und darauf blickte sie abermals gen Himmel.

– »Und ich koche, liebe Schwester Clara,« sprach das kleine Mädchen wichtig thuend, »Papa hat die Suppe verschleimen lassen und der kleine Bub' hat gar nichts gesagt.«

»O ja, ich habe geschrieen,« erwiderte dieser trotzig.

»Das kann ich bezeugen,« meinte Herr Staiger lächelnd. »Er hat geschrieen und ist dabei in vollem Eifer über sein Pferd gepurzelt. – Aber warum bleibst du an der Thüre stehen, liebe Clara, und legst deinen Hut nicht ab?«

»Ja – ja – so!« versetzte die Tänzerin tief athmend.

»Du bist bekümmert, mein Kind,« sagte der Vater, der seine Brille fester an die Augen drückte und nun seine Tochter erst recht betrachtete. »Du siehst blaß aus und hast geweint. – Nun ja, ich begreife das; du kommst von einer armen, gestorbenen Freundin, und der Anblick hat dein gutes Herz so aufgeregt. Nun was macht denn die Madame – die Frau Tante? – Gott verzeihe mir, aber das ist ein schlimmes Weib. Die arme Marie, da die Sache nun einmal geschehen, ist wahrhaftig besser daran, als hier [264] auf der Welt. Aber beruhige dich, mein Kind. Komm', setz dich zu mir her. So alterirt warst du ja nie. Hast du vielleicht bis jetzt noch keinen Todten gesehen? – Doch! doch! was red' ich für Unsinn, und denke nicht mehr an unsere eigene arme, kleine Leiche! Siehst du, so leicht ist man vergessen.«

»Ja, man ist leicht vergessen,« erwiderte Clara mit leiser Stimme. Und als sie sich dem Tische näherte, an dem ihr Vater saß, legte sie Hut und Tuch ab, welches ihr die kleine Schwester dienstfertig abnahm und wobei das Bübchen nicht unterlassen konnte, einen Zipfel des Tuches mit der einen Hand anzufassen und tragen zu helfen, während er mit der andern sein hölzernes Pferd hinter sich drein schleifte.

Clara stellte sich hinter ihren Vater, legte ihre beiden Arme auf seine Schultern und ihr Gesicht auf seinen Kopf – eine Stellung, die sie häufig annahm, wenn er mit ihr sprach und dazu Bewegungen mit den Händen machte, was er gern zu thun pflegte. Heute aber nahm sie ihren Platz absichtlich so, denn sie konnte ihre Thränen nicht zurückhalten, die jetzt, wo die allgemeine Liebe ihrer Familie ihr Herz erweichte und erwärmte, unaufhaltsam floßen.

»Was sagte ich doch eben?« fuhr Herr Staiger fort, indem er mit seinem Papiermesser hin und her fuhr. – »Richtig! ich meinte, es sei am Ende für die arme Marie ein Glück, so unschuldig in den Himmel zu kommen. Gott verzeihe es ihrer Tante, aber durch deren schauerliches Leben hat doch der Ruf der armen Marie einen kleinen Schaden erlitten. Ach! die Menschen sind so schlecht und bösartig; glaube mir, Clara, ein Wort, eine Anspielung, ein seltsamer Blick, von Einem mit Beziehung gesagt oder gethan, wird von den Andern begierig aufgegriffen und vergrößert weiter erzählt. Und das unschuldigste Gemüth, einmal vom Gifte der Verleumdung angespritzt, erhält gewöhnlich Verwundungen, die ein ganzes langes Leben hindurch nicht mehr heilbar sind.«

[265] »O gewiß, o gewiß – gewiß,« sagte Clara.

»Deßhalb aber auch hasse ich alle Verleumder, ärger als den Teufel, ärger als die Sünde. Und aus der Verleumdung entsteht oftmals die letztere, und eine reine Seele, die von schändlichen Klatschereien mit scheußlichem Gift und Geifer bespritzt wurde, fiel schon oftmals eben dadurch der Sünde anheim. Der Glaube an ihre Reinheit war verloren, die Liebe zu den Nebenmenschen erschüttert und die Stützen gebrochen, welche sie aufrecht erhielten, und da sank so ein unglückliches Geschöpf immer tiefer und tiefer. – Fluch über solche, die mit dem guten Namen ihres Nebenmenschen spielen und so oft ein ganzes Lebensglück zerstören!«

»Ja, ja, ein Lebensglück zerstören,« hauchte Clara.

»Aber warum weinst du so heftig, liebe Clara?« sprach der alte Mann, indem er sich halb umwandte. »Ich fühle deine heißen Thränen auf meinen Kopf fallen, dich haben doch meine Worte nicht betrübt? – Wie wäre das möglich? Dein Lebensglück fängt erst an aufzublühen; gewiß, mein Kind, du stehst rein da, dein Ruf ist unbefleckt. Wer sollte sich an ihn wagen?«

»Vater! Vater!« entgegnete die Tänzerin mit leiser Stimme »und sie haben das doch gethan.«

»Was? – Gott im Himmel!« erwiderte erschrocken der alte Mann. »Dir hätte man Uebles nachgesagt – dir, Clara? – O nein, das ist unmöglich!«

»Es ist so, Vater; ich komme soeben von der Marie, ich habe zum letzten Mal ihr Haar gemacht und den Kranz darin befestigt, den sie nie mehr ablegen wird. – O Gott! o Gott!« rief sie in lautes Weinen ausbrechend; »warum bin ich nicht an ihrer Stelle, Warum hat sie mir nicht diesen Liebesdienst erzeigt?«

»Stille! stille!« sagte Herr Staiger; »stille, Clara! Die kleinen Kinder dort geben Achtung und wissen nicht, was das bedeuten soll.« Er faßte ihre beiden Hände und zog seine Tochter sanft hinter seinem Stuhle vor, damit er ihr in's Auge sehen konnte. [266] »Du hast gelitten, arme Clara,« sprach er nach einer Pause kopfschüttelnd, »sehr, sehr gelitten. Das ist nicht mehr dein gutes, unbefangenes Gesicht; sage deinem Vater, was es gegeben hat, ich kann dir rathen und vielleicht auch helfen.«

»Helfen gewiß nicht,« erwiderte sie mit traurigem Lächeln; »es ist Alles, Alles aus. O Vater! es war aber auch zu schön; es konnte nicht so kommen, wie ich es mir in entzückenden Träumen ausgedacht.«

Herr Staiger nickte mit dem Kopfe, als wollte er sagen: ich verstehe. Dann fragte er: »Du hast Arthur gesehen?«

»Ja, Vater.«

»Doch nicht bei jener Frau Becker?«

»Doch, Vater, er war da, und die Frau sagte, er sei ein Bekannter von ihr.«

»Hm! hm! Das will mir nicht besonders gefallen. – Und dann?«

Clara schlug in Erinnerung des Schrecklichen, was sie gehört und das sie nun wiederholen sollte, ihre Hände vor das Gesicht und brachte alsdann mühsam nach einer kleinen Weile hervor: »Arthur sagte mir, zwischen uns sei Alles zu Ende, er lasse mich fallen, tief, tief hinab fallen. Ach! und er hat Recht: bei seinen Worten stürzte ich so tief darnieder, daß Alles um mich her schwarz und traurig ist, – so tief hinab, daß ich nicht einmal mehr weiß, ob es noch einen Himmel gibt.«

»Kind! Kind!« erwiderte der alte Mann, »das sind ja schreckliche Reden! – Aber was sagte er dir eigentlich?«

»Er sprach viele, viele Worte, aber ich hörte nur immer und immer fort, daß es mit uns Beiden aus sei, und sah, wie er die Hände gegen mich ausstreckte, als wollte er mich weit von sich stoßen. – Ah!« seufzte sie und ein Schauder durchflog ihren Körper.

Das Bübchen hatte sich unterdessen näher geschlichen, hatte Clara's Knie umfaßt und schon einige Zeit, ohne daß es Jemand [267] bemerkt, ebenfalls heftig geweint. Jetzt schluchzte es aber so laut, daß der alte Mann aufmerksam werden mußte und das Kind sanft von seiner Schwester wegzog. »Du mußt nicht so weinen, Karl,« sagte er; »was hast du denn?«

»Die Clara weint ja auch,« entgegnete das Bübchen, »und es ist doch wahr, was du vorhin gesagt; sie weint, weil sie fortgehen soll. Nicht wahr, Clara, du willst fortgehen?«

»Nein, mein Kind!« rief das Mädchen, wobei sie ihre Arme um den Hals des kleinen Bruders schlang; »ich gehe nicht fort, gewiß nicht, ich bleibe bei euch; will auch nicht mehr weinen, denn ich kann vielleicht doch wieder froh werden. Ihr liebt mich ja Alle, unveränderlich und treu, und wißt es, daß ich eure gute, gute Clara bin.«

Während dem war an die Thüre geklopft worden, ohne daß es die Gruppe am Tische des Vaters gehört hatte. Nur das kleine Mädchen, das in großer Wichtigkeit mit ihrem Kochlöffel am Suppentopfe stand, hatte es vernommen und keck »herein!« gerufen.

Die Thüre öffnete sich und Mademoiselle Therese trat in das Zimmer. Sie war wie immer sehr elegant gekleidet; doch lag in der Art, wie sie heute ihren langen Shawl um sich herum gezogen, ja man hätte sogar glauben können, in der Weise, wie sie ihren Hut aufgesetzt hatte, noch etwas Herausfordernderes als gewöhnlich. Sie trug ihren Kopf so hoch als möglich, blieb aber überrascht auf der Schwelle stehen, als sie Clara und ihren Bruder weinen und den alten Herrn sehr ernst vor sich niederblicken sah.

Sobald Clara die Eingetretene bemerkte, versuchte sie ihre Augen zu trocknen, ja sie lächelte, als sie der schönen Tänzerin entgegen trat und als sie sagte, sie freue sich über ihren Besuch.

Therese machte dem Herrn Staiger eine freundliche Verbeugung, nickte den Kindern zu und zog dann, ohne weitere Umstände zu machen, Clara mit sich in die Fensternische, wo sie zu ihr mit gedämpfter Stimme sprach: »Du weißt, mein Kind, ich bekümmere[268] mich sonst nur um anderer Leute Sachen, wenn man mich dazu auffordert. Diesmal aber gehe ich von dieser Regel ab und du wirst mir eine Frage erlauben. – Du warst vorhin bei der Becker?«

»Ja,« sagte Clara.

»Da sahst du Herrn Arthur Erichsen? – Er hat dich schlecht behandelt, wie die Becker sagte, denn er stürzte wie ein Wahnsinniger fort und du bliebst in Thränen zurück. Ja, in Thränen,« sprach sie heftiger, als Clara das verleugnen zu wollen schien; »sie fließen noch, gestehe es mir, er hat dich schlecht behandelt. – Herr Gott im Himmel! soll denn diesen Leuten Alles ungestraft hingehen?« Damit schlug sie ihre feinen Handschuhe heftig zusammen. »Armes Mädchen! Was kann man von dir Uebles denken? – Du, die Beste von uns Allen! – Nun,« fuhr sie sonderbar lachend fort, »das wäre gerade nicht zu viel gesagt, aber du, so gut und brav, daß sich sämmtliche Mädchen der Residenz ein Muster daran nehmen könnten! – Sage mir um's Himmels Willen, Kind, was ist denn vorgefallen? Gib mir Erlaubniß und ich setze ihm seinen Kopf zurecht. Ich will mit ihm reden.«

»O nein, nein! um Gotteswillen nicht!« bat Clara. »Was es gab, das kann für jetzt nur in meinem Herzen verschlossen bleiben; später will ich es dir vielleicht sagen.«

»Später, wenn wohl Alles verloren ist,« entgegnete Therese wegwerfend. »Clara, du bist zu gut und zu eigensinnig; es wäre mir eine Freude gewesen, einmal mit den Herren anzubinden, – denn,« fuhr sie mit entschlossenem Tone fort, »mit einem Andern aus der Familie habe ich ein sehr ernstes Wort zu reden.«

»Ich bitte dich, liebe Therese,« versetzte Clara, »laß das gut sein. Glaube mir, ich danke dir für deine Theilnahme. Aber – über das, was er mit mir sprach, läßt sich kein Wort weiter verlieren.«

Die Andere zuckte heftig mit den Achseln, warf den Kopf empor und sagte: »Du hast meinen guten Willen gesehen, und ich nehme dir auch gar nicht übel, daß du mich abweisest. Das magst [269] daraus entnehmen, wenn ich dich versichere, daß ich zu jeder Zeit bereit sein werde, für dich einzutreten, – denn,« setzte sie mit sanfter, fast weicher Stimme hinzu, »ich habe dich sehr lieb, meine gute Clara. Wenn ich dich so ansehe, so denke ich mir immer: so hätte ich auch werden mögen. – Bah! 's hat anders kommen sollen, und ich halte mich noch immer viel zu gut für diese miserable Welt.«

Damit legte sie ihre beiden Hände auf Clara's Haar, drückte einen langen Kuß auf deren kalte Stirne und war gleich darauf ebenso plötzlich verschwunden, wie sie gekommen war.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Marie hatte unterdessen den Tisch gedeckt, den Bruder und das fremde Kind daran gesetzt, Beiden einen weißen Lappen umgebunden, damit sie sich beim Essen nicht schmutzig machen möchten, und sagte nun mit sehr wichtigem Tone: »Jetzt ist die Suppe fertig! Auch braucht Niemand mehr Salz dazu zu thun, denn ich habe zwei große Löffel voll hinein geworfen.«

[270]

Fünfter Band

72. Kapitel
[7] Zweiundsiebenzigstes Kapitel.
Mademoiselle Therese.

Sobald es im Hause des Kommerzienraths Erichsen auf der großen Schwarzwälder Uhr Zwei schlug, erschien der alte Bediente mit dem Kaffee, und es war der Mann darin so pünktlich, daß ihn Arthur einmal antraf, Kaffeebrett und Tasse in der Hand, mit den Augen geduldig dem Lauf des Zeigers folgend, der noch circa eine halbe Minute bis zu der angegebenen Stunde zu laufen hatte. – Es hatte also heute zwei Uhr geschlagen, zu gleicher Zeit waren auch Bedienter und Kaffee erschienen, doch war es bereits halb Drei und Niemand von der Familie, selbst nicht einmal der Kommerzienrath, der sonst diesem Augenblicke sehnsüchtig entgegen sah, hatte daran gedacht, das Aufgestellte zu berühren.

Die Kommerzienräthin saß in ihrer Sophaecke wie gewöhnlich, aber noch aufrechter und unbeweglicher als sonst. Mit den grauen und harten Zügen ihres Gesichts, aus denen die lange, spitze Nase drohender als je hervortrat, mit ihrem einfachen Kleide von einer Farbe, die ebenfalls in's Gräuliche spielte, hatte sie sehr viel Aehnlichkeit mit einer Versteinerung. Ja sogar ihre Augen hafteten fest [7] auf einem Fleck in der andern Ecke des Zimmers, und ihre knöcherne Hand, die auf dem Tische lag, obgleich offenbar bereit zum Trommeln, hielt sich doch noch ruhig und hatte nur die Finger weit ausgespreizt. Marianne saß neben ihr in der anderen Ecke; die Arme über die Lehne gelegt und die Hände gefaltet, den Kopf tief gesenkt, schien sie in ernste Betrachtungen versunken und sich gar nicht um die Anwesenden zu bekümmern.

In einem Fauteuil am Fenster lag der Kommerzienrath, aber sein Aeußeres zeigte nicht wie sonst um diese Stunde Ruhe und Behaglichkeit. Sein Gesicht war etwas aufgedunsen und mehr als gewöhnlich geröthet, seine Unterlippe hing schlaff herab, und zu gleicher Zeit hatte er die Augenbrauen hoch empor gezogen, was seinem gutmüthigen Gesichte einen ganz eigenthümlichen Ausdruck gab. Hinter ihm stand der Doktor, die Arme fest verschlungen und blickte so finster, als es sein offenes und freundliches Gesicht nur erlaubte, auf seinen Schwager Alfons, der, beide Hände auf den Rücken gelegt, in dem weiten Zimmer auf- und abspazierte, und sich dabei offenbar in weit behaglicherer Gemüthsstimmung befand als alle Uebrigen. Er sprach, während er so einher schritt, wobei er die Augen auf den Boden heftete und nur erhob, so oft er sich umwandte, um alsdann Eines der Anwesenden eine Sekunde lang anzuschauen.

»Eine Scheidung,« sagte er, »hat immer etwas Unangenehmes für die Familie, in welcher dergleichen vorkommt; und ich würde schon aus dem Grunde Alles anwenden, um die Geschichte zu verhindern. – Ich weiß wohl,« wandte er sich an Eduard, »daß bei Madame bis jetzt alle Mühe vergeblich war; aber man muß ihr begreiflich machen und deutlich sagen, daß bei einer Scheidung vor den Augen der Welt immer einiger Makel auf beiden Theilen haften bleibt.«

»Deine Reden wären recht schön,« erwiderte der Doktor, »wenn du es nur einmal lassen könntest, sie mit den ewigen Gehässigkeiten [8] zu untermischen; daß die Scheidung für mich und meine armen Kinder allerdings ein Unglück ist, weiß ich wohl, aber was dadurch für ein Makel auf meinen Namen fallen soll, begreife ich nicht.«

»Aber ich begreife es,« sprach streng die Kommerzienräthin, und ihre Finger zuckten leise; »von dem Mann wird man sagen: er war ein unordentlicher Mann, vielleicht ein unsolider Mann; und über die ganze Familie zuckt man die Achseln und spricht: es ist doch nichts Rechtes dahinter.«

»O Mama,« entgegnete der Doktor, »Sie sehen zu finster; in der Welt kommt so Manches vor, wovon man heute vielleicht spricht, morgen aber denkt Niemand mehr daran.«

Die Räthin hustete leise, dann versetzte sie: »Das ist darnach, wem so etwas passirt. Bei einer Familie, die Schimpf und Schande gewohnt ist, da thut freilich ein bischen mehr auch nicht viel. Aber bei einer Familie, wie die unsrige« – dabei erhob sie ihre Stimme und ihre Hand bewegte sich – »einer Familie, die in ihrem Thun und Lassen klar wie der Tag dastand, die noch nie Gelegenheit gab, gehässig über sich sprechen zu machen, da schimpfirt so etwas, wie wenn man die Augen verliert oder die Nase aus dem Gesicht.«

»Nun, eine kleine Schmarre haben wir schon auf die Backen bekommen,« sagte hämisch Herr Alfons.

Die Räthin wandte mit einer steifen Bewegung den Kopf nach ihm herum; ihre scharfen, grauen Augen schienen ihn durchbohren zu wollen und die erhobene Nase drückte deutlich aus: sprich weiter!

Das that denn auch der Schwiegersohn und bemerkte: »Nun, ich dachte nur an den Skandal bei der Probe lebender Bilder. Das war nur eine kleine Ouverture, der vielleicht noch Manches nachfolgt.«

»O ja,« meinte der Doktor, »der vielleicht noch Manches nachfolgt.«

Marianne erhob ihren Kopf und wechselte einen Blick mit ihrem [9] Bruder. Darauf seufzte das arme Weib tief auf und versank wieder in ihre Betrachtungen.

»Und du kannst dich wahrhaftig nicht arrangiren, Eduard?« fragte der Kommerzienrath mit verdrießlichem Ton und matter Stimme. »Ich versichere dich, das Fragen und Schwätzen über diese leidige Angelegenheit ist nicht zu ertragen. Sogar auf der Börse muß ich davon hören.«

»Sogar auf der Börse!« wiederholte würdevoll die Räthin. »Das kann dem Kredit des Hauses schaden.« Sie trommelte leicht auf dem Tische, aber nur wenige Takte; dann saß sie wieder so steif und unbeweglich da wie vorhin.

Alfons spazierte einige Male im Zimmer auf und ab, wobei ihn übrigens nichts besonders Unangenehmes zu beschäftigen schien, seine Mundwinkel zuckten und seine Hände rieben sich behaglich an einander. – »Was nun die andere Sache anbelangt,« meinte er nach einer Pause, »so befahlen Mama, sie ebenfalls zur Sprache zu bringen.«

Die Räthin nickte mit dem Kopfe, und der Doktor schaute so plötzlich und fragend auf Alfons, daß dieser genöthigt war, ihm sagen: »Es betrifft Arthur's höchst kuriose Geschichte. Er macht ja kein Geheimniß mehr daraus, und wie ich aus seinen Reden zu entnehmen glaubte, ist es ihm sogar nicht unangenehm, wenn man darüber verhandelt.«

»Ihn soll der Teufel holen!« seufzte der Kommerzienrath mit ziemlich erzwungenem Zorn, wofür ihm aber ein strenger Blick seiner Gemahlin zu Theil wurde. – »Es ist aber auch nicht zu sagen,« fuhr der geplagte Bankier fort, »was man nicht Alles erleben muß. Ich hab' das satt und will meinem Herrn Sohn zeigen, wo er her ist. Alle Wetter! das ging mir ab. Eine – eine – Tänzerin! – Wie heißt die Person doch?«

Die Räthin wandte ihm majestätisch das Gesicht zu und sprach: »Ich hoffe, du bist weit genug gegangen in deinen Reden; du wärest [10] freilich im Stande, sogar den Namen jener Mademoiselle vor uns zu nennen. Pfui!«

»Daß Einem die Galle überläuft ist kein Wunder,« fuhr der alte Herr Erichsen fort; »kommt nicht einmal mehr zu Tisch, der saubere Herr! Also da keine Ruhe, weil man sich ärgern muß, und nachher wieder keine,« dabei schielte er mit schmerzlichem Gesichtsausdrucke nach dem unberührten Kaffee. »Ja, es ist eine Schande,« fügte er nach einer Pause bei, als Niemand sprach, »für einen jungen Menschen von Talent, der etwas Rechtes gelernt hat.«

»Da liegt eben der Fehler,« entgegnete etwas lebhafter die Kommerzienräthin: »Hättest du ihn was Rechtes lernen lassen, so hätte er kein Künstler zu werden gebraucht, und wäre vielleicht mit – dergleichen Volk nie in Berührung gekommen.«

»Aber was will er denn eigentlich?« fragte Marianne, die sich für ihren Bruder lebhaft interessirte.

»Nun, er will sie hei –« erwiderte der Kommerzienrath; doch ließ ihn ein wahrhaft furchtbarer Blick seiner Gemahlin dies Wort nicht beendigen. Sie hustete heftig und bedeutsam und sagte:

»Dergleichen soll vor meinen Ohren nicht genannt werden. So etwas will ich nicht hören; wenn man über diese – Geschichte sprechen will, so soll man sich passender Ausdrücke bedienen.«

»Aber, Mama, Sie sind in der That komisch,« bemerkte Alfons. »Er denkt sehr stark an eine Heirath, wie ich gehört.«

»Ich bin nie komisch, Herr Schwiegersohn,« entgegnete die Räthin, »am allerwenigsten in einem Falle wie der vorliegende. Und von einem Zusammenlaufen meines Sohnes mit jener Person kann durchaus keine Rede sein.«

»Sie scheinen Arthur nicht zu kennen, denn was er sich einmal vorgesetzt hat, das thut er,« meinte Alfons.

»Was in dem Falle Herr Arthur zu thun gesonnen ist, kann mir gleichgiltig sein; von meinem Sohne ist alsdann nicht mehr die Rede.« Dies sprach die Räthin und machte dazu eine [11] entschiedene horizontale Bewegung mit der Hand, worauf sie ihre Finger wieder auf den Tisch niederfallen ließ und einen wahren Siegesmarsch trommelte, als wollte sie damit anzeigen, daß die Regeln des Anstandes über jedes andere Gefühl den Sieg davon getragen haben.

Der Kommerzienrath wagte es, leicht mit dem Kopfe zu schütteln, ja sogar einen mißbilligenden Blick seiner Ehehälfte zuzusenden.

Doch bemerkte diese es nicht, denn sie schaute gerade vor sich hin und sagte unter einzelnen bedeutsamen Schlägen auf den Tisch: »Die Scheidung, von der wir vorhin sprachen, wird, ich sehe das wohl ein, nicht wohl zu hindern sein. Mein Herr Schwiegersohn hat Recht, wenn er meint, es könne das einen Makel auf die Familie werfen, und daher kommt mir eben die andere Geschichte, ich möchte fast sagen, erwünscht. Man muß der Welt zeigen, welche – Opfer man bringt, um den Namen des Hauses fleckenlos zu erhalten; man muß ihr zeigen, daß man ungerathene Glieder der Familie wegwirft; man muß der Welt deutlich zu verstehen geben: ich habe so gewollt und gethan. Dann werden die Menschen vielleicht so gerecht sein und, jene Scheidung betreffend, sagen: eine Frau, die den einen ihrer ungerathenen Söhne verstieß, würde auch den andern nicht geschont haben, wenn sie in seinem Thun und Lassen etwas Unrechtes entdeckt hätte. – Und so wird es auch geschehen; lieber will ich allein und verlassen, aber mit Ehren, sterben, als von Kindern umgeben, deren guter Name befleckt ist.«

Nach diesen Worten zog sie ihr Taschentuch her vor, hielt es vor den Mund und hustete leise hinein. Auch schaute sie ihre beiden Kinder an und als sie den traurigen Blick Eduards bemerkte, sowie daß die Augen ihrer Tochter voll Thränen standen, zuckte es ein klein wenig in ihrem harten, finstern Gesicht, wie ein leuchtender Blitz, der bei Nacht durch eine Ruine fährt.

In diesem Augenblicke hörte man Tritte auf dem Gange, die Thüre öffnete sich und Arthur trat herein. Wenn er in gewöhnlicher [12] Gemüthsverfassung gewesen wäre, so hätte er wohl gemerkt, daß man soeben von ihm gesprochen, und würde sich, unbefangen und freimüthig wie er war, darnach erkundigt haben. So aber schien er das plötzliche und auffallende Verstummen des Gesprächs, sowie die seltsamen Blicke, welche der Vater, seine Geschwister und sein Schwager zusammen wechselten, nicht zu verstehen. Er ging gegen seine sonstige Gewohnheit gebückt und schwankend, seine Züge waren bleich und zerstört, und überhaupt war sein Benehmen vollkommen räthselhaft; er grüßte kaum die Anwesenden, er entschuldigte sich nicht einmal, daß er nicht zu Tische gekommen, er setzte sich ohne Aufforderung neben seine Mutter hin, die mit einem strengen, fragenden Blick etwas von ihm wegrückte; ja, er nahm, was selten vorkam, fast mit Gewalt die eine Hand seiner Mutter und drückte sie an seine Lippen.

Die Räthin schien das Alles für Bitten anzusehen, und es schauerte sie leicht. Sie hob ihren Kopf noch höher, sie war im Begriff, ihre Hand kräftig zurückzuziehen, als der Ausdruck ihres Gesichts mit einem Mal an seiner Härte verlor, ja ihre Züge augenscheinlich milder wurden, worauf sie ihr Haupt ein wenig zu ihrem Sohne neigte und ihn mit einem fast mütterlichen Tone fragte: »Was hast du, mein Kind?«

Wir wollen dem geneigten Leser nicht vorenthalten, daß die Räthin auf ihrer kalten Hand, als Arthur dieselbe geküßt, heiße Tropfen fühlte, Thränen aus den Augen ihres Sohnes, von welchem dies so ungewohnt und seltsam war, und etwas so Trauriges, das damit in Verbindung stehen mußte, anzeigte, daß sich sogar das so fest umpanzerte Mutterherz der Kommerzienräthin davon ergriffen fühlte.

»Gott sei Dank!« dachte Herr Erichsen, der besorgt einem Sturme entgegengesehen, »das Wetter scheint sich aufzuklären; vielleicht kommen wir noch Alle zu einer guten Versöhnung, und ich, wenn gleich zu einem halbkalten Kaffee.« Bei Veranlassungen [13] wie die gegenwärtige, bei Erörterungen ernster Art nahm es nämlich die Räthin gewaltig übel, wenn man dazwischen gleichgiltige Dinge trieb, wie zum Beispiel Kaffeetrinken oder auch Essen, hauptsächlich wenn eine brennende Tagesfrage zufällig beim Diner verhandelt wurde.

»Nun, was hast du, Arthur?« wiederholte die Räthin.

»Nichts Besonderes,« entgegnete der junge Mann, ohne aufzublicken, doch mit so lauter Stimme, daß es alle im Zimmer deutlich vernahmen. »Ich kam nur, Ihnen zu sagen, daß ich fühle, wie sehr Sie Recht hatten, wenn Sie bemüht waren, die Schranke aufrecht zu erhalten, die einen Stand der Gesellschaft vom andern trennt. Ich wollte Ihnen nur zugestehen, Mama, daß Sie vollkommen die Welt kennen, und daß, wie Sie so oft sagten, sich Niemand ungestraft über die Meinungen seiner Mitmenschen wegzusetzen vermag.«

Die Kommerzienräthin sah einigermaßen triumphirend rings im Kreise umher. Der Doktor zuckte die Achseln, selbst Alfons war überrascht, und Marianne betrachtete mit einem traurigen Lächeln auf den Lippen ihren jüngeren Bruder. Sie wußte um Arthur's Liebe, sie wußte, welch' schöne Hoffnungen er sich gemacht, und sie mit ihrem weichen Frauenherzen fühlte wohl, daß ihm etwas Entsetzliches begegnet sein mußte, denn nur etwas der Art war im Stande, seine bisher so freien und widerstrebenden Ideen den schroffen Ansichten der Mutter zu unterwerfen.

Wahrscheinlich wäre es auch hierüber noch zu Erörterungen gekommen, wenn nicht in diesem Augenblicke der alte Diener eingetreten wäre und der Kommerzienräthin eine Dame gemeldet hätte, welche sie in einer dringenden Angelegenheit zu sprechen wünsche.

Es war dies nicht die Zeit, in welcher Besuche zu der Kommerzienräthin kamen, weßhalb sie auch ziemlich befremdet fragte: »Wer ist die Dame? Hat sie meinen Namen deutlich genannt? – Will sie mich allein sprechen?«

[14] »Den Namen der Frau Räthin hat sie deutlich ausgesprochen,« entgegnete der Diener; »doch glaube ich nicht, daß sie darauf bestehen wird, Sie allein zu sprechen.«

»So soll sie ihren Namen nennen,« meinte die Räthin nach einigem Besinnen.

»Sie wünschte das nicht zu thun.«

»So bin ich begreiflicher Weise für sie nicht zu Hause,« sprach die Räthin mit großer Würde. »Sagen Sie ihr das!«

»Den Fall hat die Dame vorgesehen,« erwiderte achselzuckend der Diener, »denn sie sagte mir, sie wünsche überhaupt nur Jemand von der Familie zu sprechen, sei es nun die Frau Räthin oder der Herr Rath, oder auch Madame Marianne.«

»Räthselhaft!« meinte der Kommerzienrath; »ich denke, man läßt sie herein kommen, das wird nicht gegen den Anstand verstoßen.«

»Ich glaube, man ist's der Dame jetzt schuldig,« bemerkte Alfons lachend, »denn Friedrich blieb so lange aus, daß die draußen wohl merken kann, es sei Jemand zu Hause, und man berathschlage, ob sie anzunehmen sei oder nicht.«

»Das wäre für mich kein Grund, Herr Schwiegersohn,« antwortete hochmüthig die Räthin. »Aber meinetwegen kann sie sich sehen lassen.« – Sie nickte dem Bedienten zu, der augenblicklich hinaus ging, und gleich darauf die Thüre von außen langsam öffnete.

Jedes Auge richtete sich dorthin, und für fast Alle – für fast Alle, sagen wir, nur nicht für Arthur – war es eine völlige fremde Person, die auf sehr anständige, ja elegante Weise herein trat, den beiden Damen eine zierliche Verbeugung machte, gegen die Herren den Kopf neigte und dann leicht und gewandt gegen das Sopha vorschritt, auf welchem die Räthin saß. – »Was kann das bedeuten? – Mademoiselle Therese!« dachte Arthur fast erschrocken.

Der Kommerzienrath, der sich damit schmeichelte, eine wirklich vornehme Frau stets an ihrer Tournure zu erkennen, und der nicht [15] daran zweifelte, eine Dame aus höhern Ständen vor sich zu haben, erhob sich, indem er den Gruß derselben tief erwiderte, und rollte einen kleinen Fauteuil in die Nähe des Sopha's, auf welchem sich Mademoiselle Therese – denn sie war es in der That – höchst unbefangen niederließ.

Obgleich die Räthin im Aeußern und im Benehmen der Fremden durchaus nichts Verdächtiges witterte, war sie doch behutsamer als ihr Gemahl; sie erwiderte den Gruß derselben förmlich und kalt, hustete leicht und saß dann wieder so steif und aufrecht da, als habe sie eine beträchtliche Anzahl Bleistifte verschluckt. Marianne hatte mit einem Blicke die Toilette der Fremden gemustert, fand aber weder an dem weißen Atlashute, von welchem eine einzige Feder herabhing, noch an der Art, wie sie ihren Shawl trug, noch an der Farbe der Handschuhe und der Façon der kleinen eleganten Stiefel das Geringste auszusetzen.

Mademoiselle Therese schien eine Frage zu erwarten und recognoscirte unterdessen mit einem schnellen Blick das Terrain. – »Ah!« dachte sie, »das ist der alte Herr Erichsen, das sein Sohn, der Arzt, dies die arme kleine Frau, und der Herr dort mit der Brille mein Freund.« Ein kaum bemerkbares schalkhaftes Lächeln spielte um ihren Mund, verlor sich aber sogleich wieder, als sie Arthur erkannte, der sehr erstaunt neben seiner Mutter saß.

»Sie haben mich zu sprechen gewünscht,« sagte endlich die Räthin. – »Mit wem habe ich das Vergnügen.«

»Das thut eigentlich nichts zur Sache, gnädige Frau,« erwiderte Therese.

»Doch – ich muß bitten.«

Die Brust der schönen Tänzerin hob sich etwas stärker, denn sie wußte ganz genau, daß die Nennung ihres Namens ein Allarmschuß wäre, mit dem sie einen heftigen, aber sehr ungleichen Kampf beginnen würde. Doch war sie genugsam mit sicher treffender Munition versehen und scheute sich gar nicht, das Gefecht zu eröffnen.

[16] »Obgleich mein Name gewiß nichts zur Sache thut, gnädige Frau,« wiederholte sie, »und er Ihnen wahrscheinlich völlig unbekannt ist, so mache ich mir doch ein Vergnügen daraus, ihn zu nennen. Ich heiße Therese Selbing und bin Tänzerin bei der königlichen Hofbühne.«

Die Wirkung, welche die letzten Worte in dem stillen Familienkreise hervorbrachten, war komisch und doch schrecklich. Das Gesicht der Räthin verlängerte sich zusehends, doch schien sie ein Lächeln zu unterdrücken und wischte sich über die Augen, wie man es nur nach einem schweren Traume zu thun pflegt, um den häßlichen Kobold, der einem erschienen, zu verscheuchen. Aber der hübsche, der hier in den Kreis getreten, war durch keine solche Pantomime zu verjagen, und betrachtete sich sogar sehr anmuthig die höchst überraschten Gesichter rings umher.

Marianne schrak am auffallendsten zusammen; vielleicht ahnete ihr mit Recht, was daraus erfolgen könne, und obgleich noch vor Kurzem entschlossen, einen Familien-Skandal nicht zu scheuen, bebte sie doch jetzt davor zurück. Sie warf einen schnellen Blick auf ihren Mann, der hinter seinen Brillengläsern mit den Augen zwinkerte, und, obgleich er sich das Ansehen gab, den Auftritt einigermaßen komisch zu finden, nicht ganz unbefangen erschien.

Der Kommerzienrath, der sich anfänglich ärgerte, den Fauteuil so bereit willig an den Tisch gerollt zu haben, betrachtete sich einige Sekunden nachher das elegante und schöne Mädchen etwas genauer und war so frei, bei sich zu denken: »Nun, anständig genug sieht sie aus, und Manche könnte sich wünschen, eine solche Tournure zu besitzen.«

Unterdessen hatte die Räthin bei sich überlegt, was zu thun sei. Am liebsten hätte sie sich erhoben, und wäre mit steifem Nacken aus dem Gemach gerauscht. Doch wäre das unklug gewesen, denn es leuchtete ihr wohl ein, daß die »Mademoiselle« eine triftige Ursache haben müsse, um mit solcher Frechheit in ein anständiges [17] Bürgerhaus einzudringen. Sie warf einen Blick auf ihren Sohn Arthur, der indessen ganz ruhig und unbefangen dasaß, worauf sie mit einem leichten Kopfnicken sprach: »Mademoiselle, so bitte ich, mir zu sagen, was Sie hergeführt; der Name Selbing ist mir gänzlich unbekannt.«

Therese betrachtete lächelnd die Spitzen ihrer Füße, dann hob sie den Kopf empor und erwiderte: »Ich glaube wohl, gnädige Frau, daß Ihnen der Name gänzlich unbekannt ist. Und doch wurde er – es sind einige Jahre her – vor Ihnen genannt, oder vielmehr vor Ihrer Frau Tochter dort. Ich habe eine Schwester, ein armes Mädchen, aber ehrlich und anständig, obgleich nur eine Nähterin. Sie suchte um eine Stelle nach, die damals in Ihrem Hause offen war; sie war nicht schlecht empfohlen, ihr Aeußeres gefiel auch Ihrer Frau Tochter.«

»Ach ja, ich erinnere mich,« sagte Marianne.

»Dann werden auch Madame nicht vergessen haben,« fuhr die Tänzerin fort, »daß Ihr Herr Gemahl, ich glaube jener Herr mit der Brille dort, meiner armen Schwester die Stelle abschlug, nicht, weil man ihr irgend etwas Uebles nachsagen konnte, ebensowenig, weil sie ihre Arbeiten nicht verstanden hätte, sondern aus dem einfachen Grunde, weil sie eine Schwester habe, die Tänzerin sei, mit der man ja vielleicht zufällig später einmal in Berührung kommen könnte, was für ein so achtbares Haus, wie das Ihrige, doch keine große Ehre sei. Jene Schwester aber, von der die Rede war, bin ich. Ich war indeß damals zu jung und unerfahren, um die Beleidigung, die man mir und meinen armen Eltern angethan, zu verstehen.«

»Mademoiselle!« sagte streng die Räthin.

»Als ich sie endlich verstehen lernte, trug sie wahrhaftig nicht dazu bei, mich auf dem Wege der Tugend zu erhalten, denn ich dachte bei mir: man sieht dich deines Standes halber über die Achseln an, man rümpft die Nase über dich, weil du arm und schön[18] bist und dich gut kleidest; du bist ein verlorenes Wesen, weil deine Mutter und gute Freunde nicht im Stande sind, bei so und so viel vornehmen Bekannten mit deiner Tugend und vortrefflichen Aufführung zu prahlen. – Sei es darum, dachte ich, und ließ Alles den Weg gehen, den es gerade gehen wollte!«

»Aber ich verstehe nicht, Mademoiselle,« sagte nun der Kommerzienrath, »wie diese Einleitung auf ein Thema führen kann, das uns zu interessiren im Stande wäre.«

»Sie werden mich nicht für so thöricht halten,« versetzte Therese mit einiger Röthe auf den Wangen, denn die Worte, welche sie eben gesprochen, hatten ihr Blut erregt, »daß ich über Sachen zu sprechen anfange, die mit Ihnen in keinem Zusammenhange stehen.«

»Doch möchte ich in der That wissen,« meinte Herr Alfons spitzig, »auf welche Weise wir die Ehre gehabt hätten, mit Ihrer Person und der Ihrer Schwester in Berührung gekommen zu sein.«

»Es handelt sich vorderhand nicht um Personen, sondern um Meinungen,« entgegnete die Tänzerin mit einem kalten Lächeln. »Und namentlich um eine seither sehr geänderte Meinung.« Mit diesen Worten wandte sie sich direkt an Herrn Alfons und zwar mit so festem und sicherem Blicke, daß dieser achselzuckend seine Augen zu Boden schlug.

Die Kommerzienräthin saß da, trommelnd und hustend, und röthlich angestrahlt von einem aufsteigenden Zorne. So etwas war ihr in ihrem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Diese – fremde Person war in ihr Haus gedrungen und wagte es, mit einem ihrer Angehörigen über veränderte Meinungen zu sprechen, und zwar mit ihrem Schwiegersohn, dessen Meinungen, er mochte sonst sein wie er wollte, doch beständig fest und gleich geblieben waren in Anstand und guten Sitten.

»Mademoiselle,« sagte sie in sehr strengem Tone, »ich glaube, wir haben das Vergnügen, zu wenig mit einander bekannt zu sein, um uns gegenseitig über unsere Meinungen aufzuklären. Ich muß [19] also bitten, zum wahren Zweck Ihres Besuches überzugehen, oder mir zu erlauben« – damit erhob sie sich einige Zoll vom Sopha, so ihre Rede pantomimisch beschließend.

Der Doktor hatte mit Arthur einige Blicke gewechselt, und Marianne war bei den letzten Worten der Tänzerin über und über roth geworden. – »Ich dächte Mama,« meinte Eduard nach einer augenblicklichen Pause, »statt Demoiselle Selbing von dem uns interessanten Thema wegzudrängen, sollten Sie ihr erlauben, sich näher auszudrücken, was sie unter diesen veränderten Meinungen versteht. Ich glaube, Alfons muß darauf dringen.«

»Ja, ja,« stotterte dieser. »Aber vor allen Dingen begreife ich diese Keckheit nicht.«

»S – s – s – t!« machte der Kommerzienrath, indem er langsam seine Hand erhob.

»Für diese Aufforderung bin ich Ihnen sehr dankbar, Herr Doktor Erichsen,« wandte sich Therese an diesen. »Allerdings haben Sie das Recht, Aufklärungen über meine etwas kühnen Worte zu verlangen. Ich wollte damit nur so viel sagen,« fuhr sie mit sehr langsamem Tone fort, wobei sie ihren Fauteuil so weit drehte, daß sie Herrn Alfons im Auge behielt, »Ihr Herr Schwiegersohn, der damals der Meinung war, es passe sich für eine Dienerin seines Hauses nicht, eine Schwester zu haben, die Tänzerin sei, habe seine Meinung so weit verändert, daß er – nicht jenen Schritt wieder gut machte, sondern noch viel weiter ging und der – Freund einer Tänzerin selbst werden wollte; ein Versuch, der jedoch für die arme Betreffende sehr unglücklich ausfiel.«

»Ah!« machte Arthur erschrocken, denn er fing an, einen schauerlichen Zusammenhang zwischen seinem Schwager und jenem unglücklichen Mädchen zu ahnen, dessen Leiche er heute Morgen gesehen.

Man hätte in diesem Augenblicke glauben können, die Räthin habe ein Gespenst gesehen oder sonst etwas Entsetzliches. Sie saß [20] da, die Augen weit aufgerissen, den Mund geöffnet, das Gesicht mit einer Todtenblässe überzogen, während ihre Hand zitternd auf dem Tische lag. Ihre Augen hatten starr an den Lippen des Mädchens gehangen, jetzt erhob sie dieselben und schaute ihren Schwiegersohn an, der mit einem Male seine Fassung gänzlich verloren hatte. Seine Augen irrten hin und her, er wurde bald bleich, bald roth; er zuckte mit den Achseln, versuchte zu lächeln und machte jetzt ein paar Schritte gegen den Doktor, und darauf ein paar gegen seine Frau, welche weinend mit dem Kopfe in die Kissen des Sopha's gesunken war.

Bei all' ihren Fehlern war die Kommerzienräthin eine sehr verständige Frau, welche namentlich die Gewalt über sich selbst höchst selten und dann nur auf Momente verlor. Auch jetzt, nachdem sie das Terrain überschaut, schien sie bald im Reinen zu sein und faßte sich augenblicklich wieder. Sie saß straffer da als vorhin, ihr Husten klang wie ein ferner Donner, und ihre, obgleich zuckenden Finger trommelten mit aller Energie einen Sturmmarsch. – »Fahren Sie fort – Mademoiselle,« sprach sie gelassen zu Therese.

Alfons wischte sich den Schweiß von der Stirne und näherte sich, wenn gleich mit wankenden Schritten, dem Tische. Er stützte die rechte Hand darauf und sagte, nachdem er heftig geschluckt: »Frau Schwiegermama – Sie geben jener Person die Erlaubniß, in den ehrenrührigsten Reden gegen mich fortzufahren. Gestatten Sie mir aber dann – daß ich mich entferne.«

»Nein, du bleibst!« schrie Marianne plötzlich laut auf und sprang von ihrem Sitze in die Höhe. »Nein, du bleibst – Heuchler! und läßt dir von fremden Leuten sagen, was deine arme Frau leider nicht den Muth hatte, gegen dich auszusprechen.«

»Marianne!« sagte die Kommerzienräthin, ohne aber eine Miene zu verziehen.

Wie wir vorhin schon angedeutet, war die Periode ihrer Emotion [21] vorüber und jetzt hätte noch Schlimmeres über sie hereinbrechen können, nichts wäre im Stande gewesen, eine Miene ihres unbeweglichen Gesichts zu verändern.

»Aber um Christi willen!« sprach jammernd der alte Herr, indem er die Hände zusammen schlug; »was sind das für furchtbare Geschichten? Wache ich denn oder träume ich?« Er erhob sich etwas schwerfällig und ging dann so eilig als möglich an die Thüre, um zu sehen, ob sie auch fest verschlossen sei.

Marianne war in diesem Augenblicke nicht mehr zu kennen. Dies sanfte, furchtsame Weib, welches sich durch einen gebietenden Blick ihres Mannes in jeden beliebigen Winkel scheuchen ließ, trat ihm nun fest entgegen, stützte die Hand ebenfalls auf den Tisch und sagte mit flammenden Augen: »Diese Dame spricht die Wahrheit. Du, dessen zweites Wort ›Sitte‹ und ›Anstand‹ war, du, der du die unschuldigste Sache so lange zu drehen wußtest, bis du ihr eine gehässige Seite abgewinnen konntest, du, der du jeden Blick auf's Schlimmste deutetest, du, der hochmüthig über die verderbte Welt und die Laster der Menschen absprach, du – bist selbst einer jener Sünder, und um so schlimmer, da du ein heuchlerischer Sünder bist. – Mademoiselle hat Recht, und wie schon Mama Sie bat, so bitte auch ich Sie, in Ihrer Rede fortzufahren. – Für mich ist das ja gleichviel,« setzte sie laut weinend hinzu, »denn ich weiß Alles.«

Alfons machte einen letzten Versuch, die total verlorene Schlacht wieder zu gewinnen; er fuhr das schwere Geschütz der Unverschämtheit und Frechheit auf, er verbarg seine Hand auf der Brust, hob seine Nase hoch empor und sagte in dem entschiedenen Tone, durch welchen er schon öfters Recht behalten: »Madame, über Ihre Taktlosigkeit, dergleichen gehässigen Dinge über Ihren eigenen Mann – vor einer fremden – zudringlichen – und lügenhaften Person auszusprechen, werde ich Sie später zur Rechenschaft ziehen. Was die Sache aber an sich anbelangt, so erkläre ich sie für eine infame Verleumdung, und bin bereit, gegen Jeden [22] aufzutreten, der es wagen sollte, nur durch eine Miene seinen Glauben daran zu verrathen.«

Dabei schaute er herausfordernd im Kreise umher, und wollte einen vernichtenden Blick auf Therese fallen lassen; doch erhob sich diese langsam aus ihrem Fauteuil, trat ihm fest entgegen und wollte ihm gerade eine gehörige Antwort geben, als Madame abermals emporsprang, sich zwischen Beide drängte und vor die Augen ihres Mannes ein Papier hielt, bei dessen Anblick seine angespannten Gesichtszüge schlaffer wurden und er unwillkürlich einen Schritt zurück trat.

»Kennen Sie,« wandte sich die arme Frau an Therese, »kennen Sie eine Tänzerin Marie U.?«

»Ich kannte sie. – Sie ist todt.«

Ohne eigentlich zu wissen warum, durchzuckte dies Wort widrig die Kommerzienräthin; sie seufzte tief auf und hustete darauf lange und anhaltend in ihr Taschentuch.

»Todt?« fragte Marianne zurückfahrend.

»Todt!« sagte auch Alfons mit allen Zeichen des Schreckens auf seinem Gesicht.

»Sprechen Sie!« rief der Doktor, der eilig näher trat; »ist es das arme Mädchen, das den fürchterlichen Fall im Theater gethan?«

Therese nickte mit dem Kopfe.

»Ah! sie ist gefallen!« murmelte Alfons aufathmend. »Was geht das mich an?«

»Sie kennen also dies Papier und den Namen der Tänzerin?« fragte die Räthin mit einem Tone, der eines Inquisitors würdig gewesen wäre.

»O, er kennt ihn!« rief Marianne. »Er wagt es nicht, seine Handschrift zu verleugnen.«

»Und wenn ich diese Schrift anerkenne, was folgt daraus?«

»Daß du dich um jenes arme Mädchen bemüht,« entgegnete [23] Marianne, »daß du sie durch Geschenke bestechen wolltest, du, der von dergleichen Personen nur achselzuckend und mit wegwerfendem Tone sprach. Es beweist, daß du ein schlechter Heuchler bist.«

»Marianne –!« rief abermals die Räthin.

»Ach ja, Mama,« erwiderte die kleine Frau, indem sie die Hand an ihre Stirne drückte und tief aufathmete; »ich vergaß mich.«

»So ersuche ich um Ruhe,« fuhr die Räthin in einem majestätischen Tone fort. »Mademoiselle,« wandte sie sich an die Tänzerin, »reden Sie.«

»Es ist ja nicht viel mehr zu reden,« erwiderte Therese, die auch nicht einen Augenblick ihre Fassung verloren hatte, sondern ruhig dastand, in bester Haltung, ihren Shawl fest um sich gezogen, den Kopf erhoben. – »Sie starb, das Nähere darüber kann Ihnen der Herr Doktor Erichsen mittheilen, der in's Theater gerufen wurde. Sie starb in Folge jenes schrecklichen Falles, und die Sache ist um so trauriger, da dies Unglück von einem jungen Manne verschuldet wurde, der die arme Marie auf's Innigste liebte, sie in der nächsten Zeit heirathen wollte, und der in jenem Augenblicke erfuhr, sie sei ihm untreu geworden.«

Marianne zuckte schmerzlich zusammen.

»Ich war bei ihr und verließ sie keinen Augenblick bis zu ihrem Tode. Mir theilte sie die ganze traurige Geschichte mit, mir nahm sie das feierliche Versprechen ab, jenen Mann, der sie verfolgt, der sie unglücklich gemacht, der sie – ja, ich sage es frei – gemordet, von den schrecklichen Umständen ihres Todes in Kenntniß zu setzen, ihm hoffentlich zur ewigen Strafe. – Und ich nahm den Auftrag gerne an,« fügte sie mit blitzenden Augen nach einer kurzen Pause bei, »ich nahm ihn gerne an, beschloß aber ihn nicht unter vier Augen zu erfüllen, sondern offen und frei, vor so vielen ihm unangenehmen Zeugen als nur möglich. – Und so that ich.« Damit machte sie eine Handbewegung gegen Alfons, welcher noch einen Augenblick am Tische wie erstarrt [24] stehen blieb, dann fast in sich zusammenbrach, sich aber aufraffte, mit der rechten Hand durch sein Haar fuhr, und dann plötzlich zur Thüre hinausstürzte.

»Ich bin fertig,« wandte sich die Tänzerin gegen die alte Dame »und wenn ich Sie verletzt, so will ich Sie um Entschuldigung bitten.« Sie machte darauf sämmtlichen Anwesenden eine tiefe Verbeugung und wandte sich zum Weggehen.

Die Kommerzienräthin hatte einen Augenblick überlegt, worauf sie sagte: »Ich danke Ihnen, Mademoiselle; Sie haben Ihre Schuldigkeit gethan.« Bei diesen Worten erhob sie sich und begleitete die Tänzerin bis zur Zimmerthüre in ruhiger, würdevoller Haltung. Sobald sich übrigens die Thüre hinter der Fremden geschlossen, blieb die alte Frau einen Augenblick wie betäubt stehen und preßte die Hand vor die Stirne. Dann aber sprach sie: »Komm Marianne, ich habe mit dir zu reden.« Und beide Damen verließen das Zimmer. Die Herren machten es gleich darauf ebenso, nicht ohne viele oh! und ach! von Seiten des Kommerzienrathes, der über alle Maßen verdrießlich war, denn er sah nun eine lange Reihe unangenehmer Auftritte vor sich, von denen er ein großer Feind war, und überlegte auch, daß die Geschichte noch einmal schlimm endigen könne. Doch müssen wir leider gestehen, daß er dabei weniger an seine arme Tochter dachte, als an sein Bankiergeschäft, welchem Herr Alfons eine Hauptstütze war.

73. Kapitel
Dreiundsiebenzigstes Kapitel.
Johann Christian Blaffer und Compagnie.

Seit dem Abgange des Herrn Beil hatte sich der Chef der Firma Johann Christian Blaffer und Compagnie keinen neuen [25] Commis mehr angeschafft. August, der Lehrling, wurde an dessen Stelle befördert, ohne durch diese Beförderung das Geringste zu profitiren, im Gegentheil hatte er mehr zu arbeiten; denn seine bisherigen Geschäfte, das Einpacken und auch wohl das Austragen der Pakete sollte er nach wie vor noch nebenbei besorgen, und eine Folge davon war, daß jetzt gar nichts mehr geschah, wie es hätte geschehen sollen.

Herr Blaffer schien sich überhaupt mit den beiden Geschwistern etwas verrechnet zu haben; so auch, was August's Schwester anbelangt. Hier hatte er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden wollen, und dem Mädchen eines Tags auf die süßeste Art vorgeschlagen, sie möge einen Versuch machen, ihm in den Geschäften des Comptoirs zu helfen. »Das wäre für mich doch wohl angenehm,« hatte er gesagt, »denn du würdest an dem Tische im Nebenzimmer arbeiten, ich käme zuweilen herein, sähe nach dir und erfreute mich an deinem Fleiß und deinem lieben Gesichte.« – Der Prinzipal hatte dabei gehofft, das kluge Mädchen würde alsdann bald die Geschäfte erlernen und ihm dadurch für beständig ein Commis entbehrlich werden. Er hatte sich aber, wie gesagt, auch hierin wie in vielem Anderen gewaltig verrechnet.

Den Tag nach jener denkwürdigen Nacht, in welcher Herr Beil das Haus verlassen, war Marie auf ihrem Zimmer geblieben und hatte lange Stunden in tiefe Gedanken versunken auf einem Stuhle gesessen. Es mußten mitunter schreckliche Gedanken gewesen sein, die sie beschäftigt, denn zuweilen griff sie in ihr dichtes Haar oder ließ den Kopf in beide Hände sinken, um ein Zeitlang bitterlich zu weinen. Ja, ein paar Mal nahm sie hastig ihr Tuch und ihren Hut, um das Haus zu verlassen. Vielleicht wollte sie dem dunklen Wege folgen, den ihr Herr Beil vorgezeichnet; aber dann blieb sie schaudernd stehen und sagte: »Nein, nein, ich kann nicht; mir fehlt der Muth, und das Leben ist doch so schön!« Mit dem letzteren Gedanken schien sie sich dann auch schon im Laufe des[26] Tages und Abends mehr zu befreunden; sie erhob sich langsam aus ihrem Nachdenken, sie athmete tief auf, fuhr dann mit der Hand über die Augen und lächelte schmerzlich. Aber sie lächelte doch. Ja, noch ehe es Abend wurde, vermochte sie es über sich, einen flüchtigen Blick in den Spiegel zu werfen, und darauf fing sie an, ihr Haar zu ordnen und eine einfache, aber hübsche Toilette zu machen.

Herr Blaffer hatte es wohl im Laufe des Tags einige Mal gewagt, an ihre Thüre zu klopfen, auch dieselbe sogar zu öffnen, doch hatte sie sich alsdann mit einem solchen Ausdruck des Hasses oder vielmehr des Zornes erhoben, daß er, der Tyrann, schüchtern zurückgetreten war und erst Abends es wieder wagte, sich ihr zu nähern: das heißt, der alte Buchhändler ließ sich so weit herab, August hinaufzuschicken und bei der Schwester anfragen zu lassen, ob sie zum Nachtessen herabkommen wolle, oder ob sie wünsche, daß man bei ihr droben erscheine. August hatte kopfschüttelnd diese Botschaft und einigermaßen zaghaft die Antwort des Mädchens hinterbracht, welche dahin lautete, Herr Blaffer möge machen, was er wolle, nur solle er sie in Ruhe und auf ihrem Zimmer lassen. Und er, der hierauf einen Zornausbruch des Prinzipals gefürchtet, sah zu seinem Erstaunen, daß er sich getäuscht hatte. Freilich war über die Stirne des Herrn Blaffer eine Wolke gefahren und er hatte mit den Achseln gezuckt; doch war darauf das Unerhörte geschehen, daß er seinem Lehrling einen Gulden schenkte, ihm die Erlaubniß gab, damit in's Wirthshaus zu gehen und, was noch nie geschehen war, sogar die Freiheit ertheilte, nach zehn Uhr vermittelst Hausschlüssels nach Hause kommen zu dürfen. Der Lehrling hatte hievon einen umfassenden Gebrauch gemacht und seine Dachkammer aufgesucht, nachdem von dem Gulden nichts mehr übrig war und der Nachtwächter die zwölfte Stunde abgerufen.

Am andern Morgen war er etwas zaghaft beim Frühstück erschienen, weil er fürchtete, für seine nächtlichen Ausschweifungen [27] derb ausgescholten zu werden. Auch hatte ihn Herr Blaffer mit finsterem Stirnrunzeln empfangen und schon angefangen, ein ernstes Wort zu sprechen, als sich Marie, die wieder erschienen war, dergleichen auf's Bestimmteste verbat, indem sie sagte, ihr Bruder sei kein Kind mehr und einem jungen Menschen in seinem Alter könne man es nicht übel nehmen, wenn er zuweilen etwas lange ausbleibe. Darauf hatte Herr Blaffer geschwiegen, zum grenzenlosen Erstaunen Augusts; ja, der Prinzipal hatte sogar gelächelt, als das Mädchen hinzusetzte, bei den alten Leuten sei ja keine Tugend zu finden, was man denn eigentlich von den jungen erwarten wolle.

Daß sich in dem Getriebe des Hauses überhaupt Vieles von Tag zu Tag veränderte, sah der Lehrling wohl, doch hatte er glücklicherweise nicht Verstand genug, um die Kraft zu entdecken, welche hier im Geheimen wirkte. Er dachte auch weiter nicht darüber nach, da das Resultat für ihn so angenehm war. Herr Blaffer behandelte ihn besser, ja, er setzte ihm sogar, obgleich mit sichtlichem Widerstreben, ein kleines Taschengeld aus; Marie sorgte für seine Garderobe und als der Herr Blaffer bei einer vorgelegten Rechnung die Hände über dem Kopfe zusammenschlug, schlug das Mädchen dem würdigen Prinzipal die Thüre vor der Nase zu und meinte, wegen solcher Kleinigkeiten habe sie keine Lust, dessen verdrießliche Gesichter anzusehen.

Da nun August sah, daß er unter dem mächtigen Schutze seiner Schwester stehe, so überarbeitete er sich auch durchaus nicht, sondern vertrödelte seine Zeit, so gut es eben gehen mochte. Und wenn die Geschäfte des Hauses Johann Christian Blaffer und Compagnie nicht total vernachlässigt werden sollten, so mußte sich der Prinzipal entschließen, Abends noch eine Stunde zuzugeben, was er denn auch seufzend that.

Das Alles war freilich nicht das Resultat eines Tages oder einer Woche, aber ein paar Monate hatten hingereicht, aus dem [28] Alleinherrscher Blaffer, aus dem Sklavenhändler, wie ihn Herr Beil genannt, der unerbittlich seine Peitsche schwang, selbst einen demüthigen Sklaven zu machen, der schwieg und sich duckte, sobald das trotzige, energische, schöne Mädchen fest gegen ihn auftrat.

Hätte der ehemalige Commis nur hie und da eine Stunde unsichtbar auf dem Comptoir zubringen können, er würde sich vollkommen gerächt gefühlt haben. Marie und ihr Bruder, der Lehrling mit dem blödsinnigen Lächeln, wie er ihn bezeichnet, die beiden herrschten in dem Hause und Herr Blaffer duldete und schwieg.

Doch schien er sich anfänglich in dieser Sklaverei glücklich zu fühlen, und wenn das junge Mädchen einen kostspieligen Wunsch aussprach, so sträubte er sich mit verhaltenem Lächeln dagegen, und es schien ihm Spaß zu machen, wenn sie nun den Kopf in die Höhe warf, mit dem Fuße auftrat und zornig das Zimmer verließ; dann eilte er ihr nach, billigte gern, was sie verlangt, und begab sich händereibend an seine Arbeit. Auf einmal aber schien dieses stille Vergnügen des Herrn Blaffer gänzlich verschwunden zu sein; er wurde nachdenklich, bald starrte er stundenlang auf seine Arbeit, ohne die Feder zu bewegen, in tiefes Nachsinnen versunken, bald wieder hatte er keinen Augenblick Ruhe und verließ häufig sein Pult, um durch das Haus zu gehen, zu irgend einem Fenster hinaus zu schauen und heimlich an Marien's Thüre zu lauschen und durch das Schlüsselloch in's Innere zu sehen. Es mußte ihn etwas außerordentlich Unangenehmes in Bewegung setzen, die früheren finstern Gedanken traten wieder hervor, und er versuchte abermals, sich in allerlei Gehässigkeiten gegen den Lehrling und selbst gegen Marie Luft zu machen; es mußte Etwas vorgefallen sein, das ihn seine eigene Schwäche verwünschen ließ; er versuchte es, den Prinzipal von ehedem wieder zu spielen. Aber die Zügel waren seiner Hand entschlüpft und er sah mit Schrecken ein, daß er alles Terrain verloren. August gab ihm trotzige Antworten oder lachte ihn aus und das Mädchen zuckte verächtlich die Achsel. Suchte Herr [29] Blaffer nun den Streit mit ihr weiter fortzusetzen, so nahm sie ruhig ihren Hut und Shawl und verließ das Haus, um erst spät Abends zurückzukehren, worauf dann Herr Blaffer wie ein Besessener durch alle Zimmer rannte, auch wohl schrie und tobte, um sie bei ihrer Zurückkunft dann freundlicher als je zu empfangen.

Daß er bei diesen Gemüthszuständen körperlich nicht gedeihen konnte, war wohl natürlich; magerer als er war, konnte er füglich nicht wohl werden, doch fiel sein Gesicht mehr und mehr ein, seine Augen verloren allen Glanz, seine Gestalt knickte förmlich zusammen, sein Gang wurde noch schwankender und schlürfender, kurz, er war nur noch der Schatten des ehemaligen Blaffer.

Vielleicht brauchen wir dem geneigten Leser nicht zu sagen, daß es die Eifersucht war, welche den Buchhändler auf so traurige Art verändert hatte, ja, die glühendste wildeste Eifersucht, und eine Eifersucht, die gewiß nicht ohne Grund war, aber deren Gegenstand zu ergründen ihm nicht gelingen wollte. Er fühlte es wohl, daß sie ihn betrogen, daß sie ihn nicht liebte und ihn nie geliebt. Hatte sie sich doch stets sichtbar bezwingen müssen, ihren Abscheu vor ihm zu verbergen, hatte ihn doch immer die Kälte ihres Herzens zurückgeschreckt. Ach! und worum er fast zu ihren Füßen gebettelt, wofür er so viel geopfert, das gab sie vielleicht einem Anderen aus vollem warmem Herzen, freiwillig mit überströmendem Gefühl. Wie glühend mußte dies Mädchen lieben können! Wie selig mußte der sein, dem sie bereitwillig ihre Arme öffnete, den sie heiß an die Brust drückte! – Und es lebte Jemand, dem ein weicher, duftiger Nachtwind die Früchte neckend zuwarf, nach denen er sich mühsam emporstreckte. Ja, das fühlte er, und dabei drückte er krampfhaft seine Hände zusammen, knirschte mit den Zähnen und war unsäglich unglücklich. Am Tage ließ es ihm bei seinen Arbeiten keine Ruhe, Nachts schreckte es ihn aus seinen Träumen auf; ihm ahnte wohl, daß in seinem Hause irgend Jemand ungehindert aus- und einging, aber es war wie ein Gespenst, unsichtbar, nicht [30] zu fassen. Zuweilen glaubte er eine Thüre knarren zu hören, ja ein leises Gelächter zu vernehmen, aber wenn er angstvoll emporlauschte, so war alles wieder still, und einzig und allein machte sich der Wind bemerkbar, der durch den Schornstein heulte. Vergebens hatte er dem Bruder geschmeichelt; entweder wußte dieser nichts von dem Treiben der Schwester, oder war er schlau genug, nichts zu verrathen. Wenigstens halfen weder Geschenke noch Versprechungen bei ihm.

Herr Blaffer hätte das Mädchen fortschicken können, aber dazu fehlte ihm die Kraft: er konnte nicht ohne sie leben. Endlich, nach langem Nachsinnen entschloß er sich, seine Buchhandlung um eine runde Summe zu verkaufen, mit Marie die Stadt zu verlassen und irgendwo an einem stillen Orte mit ihr zu leben. Er hätte sie alsdann geheirathet, wenn sie gewollt; doch hatte sie schon einige Mal seine Hand ausgeschlagen, und das war es, was ihm den ersten Argwohn gegen sie eingeflößt hatte. Herr Blaffer aber hoffte von der Zukunft, und da ihm mit einem Male in Betreff seiner Buchhandlung gute Anträge gemacht wurden, so nahm er sie an, bedingte baare Zahlung und verlangte von dem neuen Eigenthümer, er solle für sehr geringen Gehalt einen Gehilfen annehmen, den ihm Herr Blaffer empfehlen werde. Auf solche Weise hoffte er sich Augusts zu entledigen.

Um die Unterhandlungen zu beschleunigen und den Verkauf abzuschließen, hatte der Prinzipal das Haus verlassen und August befand sich allein auf dem Comptoir. Er saß an seinem Pulte und machte sich das unschuldige Vergnügen, einzelne Buchstaben einer Buchhändler-Zeitung, welche vor ihm lag, gehörig mit Speichel zu durchnässen und dann nach einem starken Druck mit dem Daumen wegzunehmen. Diese klebte er alsdann an einer andern unpassenden Stelle wieder auf und brachte so die sonderbarsten Worte zu Tage – ein Spiel, welches ihm Herr Blaffer oft verwiesen, denn der Prinzipal stutzte jedesmal und ärgerte sich, wenn er eine so [31] präparate Zeitung in die Hand bekam und nun selbst gezwungen war, alle möglichen Confusionen abzulesen. August hatte eben den Satz, der Buchhandel sei ungewöhnlich flau, in einem Aufsatz aus der Feder des Herrn Blaffer dahin abgeändert, daß der Buchhandel ungewöhnlich faul sei, als es an der Thüre klopfte. Er rief sehr laut und deutlich: Herein! – Die Schüchternheit, mit der er das früher gethan, hatte er sich schon lange abgewöhnt.

Es trat ein Mann in das Zimmer, den der Lehrling noch nie gesehen – eine große, stämmige Gestalt mit einem breiten, etwas aufgeschwollenen Gesichte, welches durch freundliches Lächeln gutmüthig aussehen sollte, eigentlich aber schlau und energisch erschien; dichtes röthliches, empor gestrichenes Haar bedeckte seinen Kopf. Der Eingetretene war einfach aber anständig gekleidet; er hatte einen dunkeln Ueberrock an, einen runden Hut auf dem Kopfe und einen gewichtigen Stock in der Hand. – »Verzeihen Sie,« sagte er, »wenn ich Sie in Ihren Arbeiten störe, aber ich möchte gern mit dem Gehilfen des Herrn Blaffer einige Worte im Geheimen sprechen.«

August schwang sich von dem Comptoirstuhle herab und stellte sich als erster Gehilfe der Handlung vor.

»Das ist wohl möglich und Sie sehen allerdings so aus,« meinte der Fremde, »aber da mein Auftrag an eben diesen Gehilfen von besonderer Wichtigkeit ist, so verzeihen Sie mir, daß ich mich vorher überzeuge, ob Sie auch der rechte sind.«

»Wenn das beliebt,« entgegnete August einigermaßen gekränkt, »so müssen Sie warten, bis Herr Blaffer nach Hause kommt, damit er Bürgschaft für mich stellt. – Im Uebrigen,« setzte er etwas hochmüthig hinzu, »habe ich Sie ja gar nicht gerufen und ich bin auch nicht zu Ihnen gekommen, sondern Sie zu mir.«

»Na, na,« machte lächelnd der Fremde, »wir können uns leicht verständigen. Bitte, seien Sie so gütig und nennen Sie mir den Namen des besten Freundes, den Sie je gehabt.«

[32] Der Lehrling schaute den Andern verwundert an, doch erinnerte er sich augenblicklich seines ehemaligen Vorgesetzten und rief mit Lebhaftigkeit: »Ach! mein einziger und bester Freund ist Herr Beil. Bringen Sie mir Nachricht von ihm?«

»Herr Beil; – ganz recht!« erwiderte der Fremde. »Direkte Nachrichten bringe ich gerade nicht.«

»Und wo ist Herr Beil? Ist er in der Stadt? – Gewiß nicht, denn sonst hätte er mich aufgesucht.«

»Daran zweifle ich auch nicht,« sagte der Andere, »und deßhalb ist Ihre Vermuthung die richtige; Herr Beil ist nicht in der Stadt, aber er läßt Sie durch mich freundlich grüßen.«

»Wie mich das freut!« rief August. »In der That, recht sehr freut es mich. Ach! mein lieber Herr Beil! Es geht ihm hoffentlich gut?«

»Vortrefflich; und er wünscht das Gleiche von Ihnen zu erfahren.«

»Ich habe seine Stelle angetreten,« entgegnete der Lehrling, indem er sich in die Brust warf, »ja, ich führe eigentlich das ganze Geschäft, da der Herr Blaffer häufig abwesend ist.«

»Das kann ich mir denken,« sprach der fremde Mann mit einem lächelnden Gesichtsausdruck. »Herr Beil hat auch nie daran gezweifelt, und wenn ich ihm das bestätige, so wird's ihn freuen. – Aber wenn Sie erlauben, sage ich Ihnen nun den Auftrag, den ich an Sie habe. Darf ich vielleicht bitten, mit mir in's Nebenzimmer zu treten? Mein Auftrag ist ziemlich geheimnißvoll und ich möchte nicht, daß man mich vom Gange aus hörte.«

»O unbesorgt,« entgegnete August, der sehr geschmeichelt war, einen geheimen Auftrag zu vernehmen; »es wird uns Niemand hier belauschen. Aber wenn es Ihnen gefällig ist, so gehen wir in's Nebenzimmer!«

»Ich bitte darum.«

Damit traten die Beiden in das Arbeitszimmer des Herrn [33] Blaffer, der fremde Mann betrachtete es, indem er sich auf seinen Stock stützte und sagte: »Sie haben hier eine vortreffliche Comptoirgelegenheit. Dies ist wohl das Arbeitszimmer des Herrn Prinzipals? – Sehr geschickt, sehr geschickt. Ja, diese Herren verstehen sich ihr Leben einzurichten. – Die Thüre dort« – er zeigte auf eine andere, als durch welche sie eingetreten waren – »führt wohl in die Wohnzimmer? – Sehr geschickt, sehr geschickt!«

»Nein,« erwiderte August, »diese führt auf die Treppe und zu einer Hinterthüre, durch welche man in den Hof geht.«

»Ah!« machte der Fremde und streichelte sein Kinn mit der Hand. »Aber jetzt meinen Auftrag! Herr Beil wohnte mit Ihnen längere Zeit zusammen in diesem Hause, oben unter dem Dach; Herr Beil verließ dies Haus in einer stürmischen Nacht mit etwas verwirrtem Kopfe.«

»Ach ja, das ist wahr.«

»Sehen Sie, wie genau ich unterrichtet bin! Er verließ also das Haus eilig und vergaß, etwas mitzunehmen.«

»Davon hat er mir nichts gesagt.«

»Natürlicherweise; da er es vergaß, konnte er Ihnen nichts davon sagen. Aber jetzt werden Sie es von mir hören. Herr Beil ließ nämlich unter dem Dache in einem Winkel, den er mir genau bezeichnet, eine Börse mit Geld liegen.«

»Eine Börse mit Geld? – Das hätte ich nimmermehr vermuthet!«

»Ganz gewiß, es waren langjährige Ersparnisse. Mich hat er nun ersucht, diese Börse für ihn zu holen. Er wäre selbst gekommen, aber erstens ist er nicht in der Stadt und zweitens, wie Sie am besten wissen, würden ihm die unangenehmen Verhältnisse zu seinem bisherigen Prinzipal einen solchen Besuch etwas peinlich machen. – Sie haben mich doch vollkommen verstanden?«

Nach dem verblüfften Gesichtsausdruck des Lehrlings zu schließen, schien dies nicht der Fall zu sein. Er schaute den Fremden [34] mit aufgesperrtem Munde an und sein Kopf schien sich mit dem Gedanken, Herr Beil habe hier Geld zurückgelassen, nicht recht befreunden zu können. Aber der Fremde behauptete es, wollte ihm das Faktum beweisen und so mußte er am Ende wohl glauben.

»Haben Sie einen Augenblick Zeit, mit mir in die Dachkammer zu steigen?« sagte dieser nach einer Pause. »Das heißt, wenn es im jetzigen Augenblick angeht. Ich möchte aber nicht gerne dem Herrn Blaffer begegnen: Sie verstehen mich wohl. Er stand mit seinem Commis nicht gut und da könnte auch ich schief angesehen werden.«

»Unbesorgt!« erwiderte August. »Herr Blaffer hat Geschäfte; er kommt schwerlich vor Mittag nach Hause.« Der Lehrling war sicher, daß dem so sei, denn auch Marie hatte unter einem Vorwand das Haus verlassen und er wußte bestimmt, daß der würdige Prinzipal in solchen Fällen nicht früher heimkehrte. Das Mädchen aber kam, einmal ausgegangen, selten vor Essenszeit zurück.

»Wenn es Ihnen also gefällig ist,« meinte der fremde Mann mit einer vornehm sein sollenden Verbeugung, die August imponiren sollte und auch ihren Zweck nicht verfehlte, »so wollen wir hinauf gehen!«

»Gehen wir!«

»Apropos, junger Herr,« sagte der Andere unter der Thüre mit einem väterlichen Tone, »nehmen Sie es mir nicht übel, doch Sie sind ein wenig unvorsichtig; Sie lassen da die Kasse offen stehen. O, in jetziger Zeit muß man vorsichtig sein.« Er drückte sanft die Augen zu, schmatzte dabei leicht mit den Lippen und zeigte auf einen eisernen Kasten in der Ecke, der früher freilich zum Kassenbehälter gedient hatte, jetzt aber zum Papierkorb heruntergekommen war.

»Darin können sich Diebe amüsiren,« antwortete der Lehrling lachend, indem er die Thüre des Comptoirs hinter sich zuzog. »O, Herr Blaffer ist viel zu ängstlich, als daß er seine Gelder hier [35] unten im Hause, wo Niemand schläft, aufbewahrt. Die Kasse hat er im Schlafzimmer hinter seinem Bette stehen.«

Der Fremde blieb bei diesen Worten stehen, legte die Hände auf seinen Stock und sagte mit Salbung: »Herr Blaffer ist ein kluger Mann, – ein würdiger Mann, das kann ich Sie versichern. Aber steigen wir hinauf, meine Zeit ist etwas gemessen.«

Beide betraten nun die Treppen und der Fremde schien sich in das Haus des Herrn Blaffer gänzlich verliebt zu haben. »Das ist ein schönes Gebäude, eine behagliche Wohnung,« sprach er einmal um's andere Mal. »Alles ist so zweckmäßig eingerichtet – vortrefflich. – Da ist die Küche, natürlich da geht es auf die Straße, hier Comptoir und Nebenzimmer, rechts wahrscheinlich Büchermagazine – habe ich's errathen, junger Herr?«

»So ist's; es sind das zwei große Zimmer – das Lager der Handlung.«

»Freut mich, daß ich das errathen. Doch jetzt will ich Ihnen einmal einen Begriff davon geben, wie ich die Neigungen Ihres würdigen Prinzipals verstehe. Er liebt die Ruhe – namentlich bei Nacht – das Büchermagazin geht wahrscheinlich auf den Hof hinaus, und über demselben, um durch nichts im Schlafe oder in seinen Betrachtungen gestört zu werden, befindet sich das Schlafzimmer des Herrn Blaffer. – He?«

»Darin haben Sie Recht,« versetzte August halb und halb verwundert. Und da sie nun auf dem ersten Stock angekommen waren, so zeigte er auf eine Thüre und sagte: »Dort ist das Schlafzimmer. Wollen Sie einen Blick hinein werfen?«

»O ich bin nicht so unbescheiden. Gehen wir lieber hinauf in die bewußte Dachkammer. Ich versichere Sie, werthgeschätzter junger Herr, meine Zeit ist mir heute kostbar.«

Hierauf gingen sie weiter und erreichten die Wohnung des Herrn Beil.

»Ja, das ist das Zimmer!« rief der Fremde aus, »wie er es [36] mir beschrieben. Ach, mein guter Herr Beil! Also hier wohnte er? Das könnte mich ganz traurig machen, wenn ich nicht die Hoffnung hätte, ihn in ein paar Tagen wieder zu sehen.«

»Ach, das möchte ich auch,« sagte August. »Nicht wahr, Sie werden mir seine Adresse geben?«

»Mit dem größten Vergnügen würde ich es thun, aber das hat er mir ausdrücklich verboten. Gewisse Umstände nöthigen ihn dazu, doch wird er Ihnen nächstens schreiben. – Sie können sich fest darauf verlassen! Doch jetzt bleiben Sie an der Thüre stehen und geben genau Achtung; Sie werden sehen, wie schnell ich das Versteckte finde.«

Darauf war nun August sehr begierig, denn er setzte einigen Zweifel in das zurückgelassene Vermögen seines Freundes; er war daher nicht wenig erstaunt, als sich der Fremde, nachdem er kurze Zeit hinter einer Vertäfelung der Dachfenster herum gegriffen, nun plötzlich herumwandte und triumphirend einen kleinen Beutel in die Höhe hielt. Er schüttelte den Inhalt in die Hand, und vor des Lehrlings erstaunten Augen funkelte ein kleiner Haufen Dukaten.

»Ich hätte nimmer geglaubt,« sagte dieser, »daß Herr Beil solche Schätze besitze. Er sprach mir immer von seiner Armuth und wie er ohne alle Hilfe in die Welt hinaus gehe.«

»Unerklärlich,« murmelte der Fremde; »aber da das Gold einmal da ist, so läßt es sich nicht wegleugnen. Mein Auftrag ist erfüllt, und wenn ich Ihnen herzlich für Ihre Gefälligkeit danke, so wage ich ganz schüchtern, einen Wunsch des Herrn Beil auszusprechen. Die Verhältnisse desselben haben sich gebessert, auf das Ueberraschendste gestaltet, und er bittet Sie durch mich, die Hälfte dieser Summe als einen Beweis seiner Freundschaft annehmen zu wollen.«

»O nein, nein!« rief August, während er begierig auf das Gold schaute, »das ist ja eine große Summe, wie kann ich so etwas annehmen! Und durch Sie, mein Herr, einen Fremden, den ich [37] gar nicht kenne! Wenn er selbst da wäre, so wäre es etwas ganz Anderes.«

»Herr Beil kennt Ihr Zartgefühl und hatte diesen Fall vorgesehen, doch sagte er: Herr Brander – ich heiße Brander – bitten Sie meinen lieben August dringend darum, er möge mir die Freundschaft erzeigen, und diese Kleinigkeit – Kleinigkeit in meinen jetzigen Verhältnissen – mit mir theilen. Will er mir danken, so werde ich ihm Gelegenheit geben, dies in den nächsten Tagen persönlich gegen mich thun zu können.«

»So kommt er hieher?« rief höchlich erfreut der Lehrling.

»Er kommt,« sprach gerührt Herr Brander.

»Bald?«

»Sehr bald; – jetzt, da ich Ihre aufrichtige Freude sehe, Ihr Entzücken, den vermißten Freund wieder zu umarmen, darf ich es Ihnen anvertrauen. Herr Beil ist in der Stadt und wartet nur auf einen günstigen Augenblick, um Sie an sein Herz zu drücken.«

»Sprechen Sie! sprechen Sie!« rief August. »Herr Beil ist in der Stadt?«

Der Fremde fuhr sich gerührt mit der Hand über die Augen, dann blickte er den jungen Mann einen Augenblick mit großer Wärme an und entgegnete: »Ja, Herr Beil ist in der Stadt, und vielleicht morgen schon wird es Ihnen vergönnt sein, ihn zu sehen.«

»So käme ich zu ihm?«

»Das verbieten ihm seine Verhältnisse. Aber er kommt zu Ihnen – hieher. Nur möchte er um Alles in der Welt dem Herrn Blaffer nicht begegnen. Aber da es ihn sehr drängt, Sie wieder zu sehen und auch seine ehemalige Behausung, so erbittet er sich einen Rath, wie das anzufangen sei.«

»Nichts einfacher als das!« rief August erfreut; »ich öffne ihm Abends die Hausthüre, die Herr Blaffer sorgfältig verriegelt. [38] Er kennt ja den Weg hier herauf ganz genau, er wird ihn im Dunkeln finden.«

Herr Brander schien sich einige Thränen der Rührung aus den Augen zu wischen; ja sein Gefühl überwältigte ihn und er drückte den Lehrling sanft an sein Herz. »Bei Gott!« sprach er, »mein Freund, Herr Beil, hat sich nicht getäuscht. Sie sind ihm zugethan, wie ehedem. Aber er wußte das und zweifelte nicht daran. Sagte er mir doch: alle meine Ersparnisse hier in diesem Beutel waren für August bestimmt – für August, den ich schätze und liebe. Geben Sie ihm, bat er mich dringend, nicht die Hälfte, nein, das Ganze, wenn er sich seines ehemaligen Gefährten warm und aufrichtig erinnert. Keine Worte weiter, keine falsche Scham! Nehmen Sie, junger edler Mann, ich schwöre Ihnen, daß ich dieses Gold nie mehr anrühren werde.«

Bei diesen Worten drückte er dem Lehrling die kleine Börse mit solcher Energie in die Hand und schritt dabei so hastig der Treppe zu, daß August einsah, es sei überflüssige Mühe, hier noch länger zu wiederstreben. Er folgte also dem Herrn Brander, der mit seinem Gefühl nun absichtlich das Gespräch auf einen anderen Gegenstand brachte, und abermals die zweckmäßige Bauart des Hauses bewunderte.

»Vortrefflich!« sagte er; »und sämmtliche Zimmer hier im ersten Stock gehen wohl durcheinander?«

»Verzeihen Sie,« entgegnete August; »die zwei Zimmer, welche Herr Blaffer bewohnt, haben ihren eigenen Ausgang, ebenso die meiner Schwester.«

»Also Herr Blaffer wohnt nach der Straße,« versetzte der Fremde in einem leicht begreiflichen Irrthum, den aber August alsbald berichtigte, indem er die Thüre zum Schlafzimmer des Prinzipals öffnete, um zu zeigen, wie er früher schon gesagt, daß die Fenster auf den Hof gingen; worauf Herr Brander einen einzigen Blick in das Schlafzimmer warf und dann in's untere Stockwerk hinabstieg.

[39] An der Hausthüre angekommen, schüttelte er dem jungen Manne herzlich die Hand und ging auf die Straße. Doch kehrte er gleich darauf wieder zurück und sagte: »Apropos! fast hätten wir vergessen, ein Zeichen abzureden, wenn Sie Herrn Beil erwarten dürfen. Wie machen wir das gleich? – Richtig, sehen Sie hier neben dem Hause die Gaslaterne; ihr Licht brennt doch jeden Abend?«

»Jeden Abend, sobald es dunkel wird, zündet man sie an.«

»Schön, schön! Betrachten Sie sich also die Laterne. Brennt in ihr das Licht wie gewöhnlich, so ist nichts zu erwarten, bemerken Sie aber, daß es ausgelöscht ist, so kommt Herr Beil. – Haben Sie mich verstanden?«

»Vollkommen! Dann öffne ich langsam die Hausthüre.«

»Und ziehen sich in Ihr Zimmer zurück. Sie werden mich verstehen: die Freude des Wiedersehens auf der Treppe könnte einigen Spektakel verursachen und den Herrn Blaffer beunruhigen.«

»Verlassen Sie sich ganz auf mich.«

»Das werde ich, vortrefflicher junger Mann,« sagte Herr Brander, worauf er das Haus eilig verließ und dicht an den Häusern vorbei die Straße hinab schritt.

August kehrte in das Comptoir zurück und überzählte dort seinen Schatz – die Ersparnisse des guten Herrn Beil.

74. Kapitel
Vierundsiebenzigstes Kapitel.
Johann Christian Blaffer allein.

Am Tage nach dem im vorigen Kapitel beschriebenen, an sich gewiß sehr unbedeutenden Vorfalle, befand sich Herr Blaffer allein [40] in seinem Comptoir und saß gedankenvoll an seinem Pulte. Er hatte die Füße auf die höchsten Sprossen des Stuhles gesetzt, weßhalb seine spitzigen Kniee so hoch empor ragten, daß er die Ellbogen darauf stützen konnte, auf welchen, oder vielmehr seinen Händen, nun der Kopf ruhte, was seiner ganzen Figur ein höchst sonderbares, nicht gerade angenehmes Aussehen gab. Dazu hatte sein Gesicht einen finstern, unheimlichen Ausdruck, den ein höhnisches Lächeln zuweilen überflog, ohne seine Züge zu verschönern. Vielmehr lag in dem Lächeln etwas so Tückisches, daß vielleicht selbst Herr Beil davor erschrocken wäre, wenn er sich seinem würdigen Prinzipal noch gegenüber befunden hätte. Herr Blaffer war offenbar in sehr trüber Gemüthsstimmung und hatte in den letzten Tagen um eben so viele Jahre gealtert. Er hatte auch traurige Erfahrungen gemacht: er hatte beim Verkauf seines Geschäftes gefunden, daß dasselbe in den Augen der Welt ziemlich herunter gekommen erschien, denn er hatte um mehrere tausend Gulden wohlfeiler verkaufen müssen, als er noch vor Kurzem geglaubt. Mit seinem Hause, das er ebenfalls zu Geld gemacht, war es ihm nicht besser gegangen; man hatte demselben alle möglichen Fehler nachgewiesen, und da Herr Blaffer obendrein auf baarer Bezahlung bestand, mußte er sich auch hier wieder zu einem ziemlichen Opfer entschließen. Auch Schulden hafteten noch darauf; doch, nachdem Alles abbezahlt war, blieb dem Verkäufer für Geschäft und Haus immer noch die schöne runde Summe von zwanzigtausend Gulden übrig, die er in Werthpapieren und Gold droben in seiner Kasse eingeschlossen hatte.

Aber auch Erfahrungen anderer Art hatte Herr Blaffer gemacht, und wenn er daran dachte, so überflog kein, wenn auch noch so finsteres Lächeln seine Züge; wenn ihm das einfiel, so knirschte er mit den Zähnen, so biß er auf die dünnen, blassen Lippen, so fuhr er sich durch den spärlichen Haarwuchs, und dann warf er einen scheuen Seitenblick in den Spiegel, und grinste sich selbst an, [41] indem er ausrief: »Ja, das hat so kommen müssen, aber – hier – hier –« fuhr er auf sein Herz schlagend grimmig fort, »hier thut das weh, o über alle Beschreibung weh!«

Eine Folge dieser momentanen Aufregung war es nun, daß er darauf wieder in sein trübes Nachsinnen verfiel, daß sein Gesicht dabei wohl finster und gehässig blieb, aber daß einige Zeit darnach das höhnische Lächeln wieder wie grelle Blitze darüber hinflog. In dem Augenblicke dachte er an die zwanzigtausend Gulden in seiner Kasse, daß er damit in den nächsten Tagen die Stadt verlassen, Marie mitnehmen, sich mit ihr in irgend einem kleinen Winkel verbergen und sie dort auf den Händen tragen wolle, wenn es ihm gelänge, ihre Liebe zu erwerben; daß er sie im andern Fall aber quälen wolle, wie nie eine Menschenseele gequält worden sei. – »Ah! und ich werde sie quälen müssen,« sagte er mit bebender Stimme und fuhr dabei mit der Hand an die Stirne, »denn es wird nur zu wahr sein, was ich in der Stadt gehört, was mir die Magd unseres Hauses endlich eingestanden hat. Sie liebt, sie wird wieder geliebt, es schwelgt Jemand in meinem Eigenthume – und ich bin betrogen.«

Dabei sank er wieder tiefer in sich zusammen und ruhte längere Zeit so. Ein Unbefangener hätte glauben mögen, er schlafe. Doch ging hierzu sein Athem zu unregelmäßig; bald stieß er ihn leis, aber schnell wie im Fieber, heraus, bald zog er ihn aus tiefer Brust an sich, und dann waren es schwere, schmerzliche Seufzer.

Nur der Anblick eines Papieres, welches vor ihm lag, riß ihn zeitweise aus seinen Träumereien etwas empor. Es war der Verkaufs-Contrakt der Buchhandlung; er hatte sich darin, wie wir wissen, die Anstellung eines Commis vorbehalten, ohne August vorderhand zu nennen, hatte diesem Commis ein sehr kärgliches Einkommen auswerfen lassen und allerlei für denselben bestimmt, was den Zweck hatte, ihm das Leben ziemlich sauer zu machen. So hatte er für den Bruder des Mädchens gesorgt, das er liebte, [42] und er lächelte abermals, indem er an die unangenehme Ueberraschung seines ehemaligen Lehrlings dachte, wenn dieser seine neue Anstellung erführe.

In diese Gedanken versunken mochte Herr Blaffer schon mehrere Stunden gesessen haben, und er war so menschenfreundlich gesinnt, daß er schon zu wiederholten Malen auf öfteres Klopfen an die Comptoirthüre keine Antwort gab. Die bescheidenen Besucher waren dann meistens wieder fortgegangen, zu furchtsam oder zu diskret, um heftig an die Thüre zu pochen oder dieselbe gar zu öffnen. Endlich aber mußte Jemand davor stehen, der nicht so dachte, denn einem einmaligen Klopfen folgte ein stärkeres und dann drei so kräftige Schläge, daß der Buchhändler empor fuhr und mit wilder Stimme: »Herein denn in's Teufels Namen!« rief. Dabei machte er ein Gesicht wie ein reißendes Thier, das auf seine Beute losspringen will. Auch seine zusammengekauerte Stellung schien dies Vorhaben unterstützen zu wollen, weßhalb denn auch wohl der junge Mann, der nun in die Thüre trat, überrascht auf der Schwelle stehen blieb.

»Bei allen Göttern!« sagte der Eintretende mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, »Sie blicken mich an, Herr Blaffer, als sei es Ihnen sehr unangenehm, mich hier zu sehen.«

»Verzeihen Sie, verzeihen Sie,« entgegnete dieser nach einem tiefen Athemzuge; »bitte sehr zu entschuldigen, Herr Erichsen; ich hatte da meine tiefen Gedanken.«

»So störe ich Sie; das thut mir leid!« versetzte der Maler.

»O, Ihr Besuch stört nie; er erfreut nur!« gab der Buchhändler zur Antwort; wobei er von seinem Comptoirstuhl herunter kletternd seine langen Gliedmaßen wahrhaft spinnenartig aus einander streckte. »Bitte, Platz zu nehmen. Sie machen sich selten, Herr Erichsen, sehr selten.«

»Es ist wahr,« erwiderte Arthur, indem er sich niederließ, »ich [43] war lange nicht auf dem Comptoir; wir verkehrten brieflich. Aber unsere Arbeiten wurden deßhalb nicht vernachlässigt.«

»Gewiß nicht; Ihre Illustrationen kamen immer zur Zeit. Da gab's nie eine Stockung.«

»Aber jetzt könnte es eine geben, Herr Blaffer,« erwiderte Arthur, und sah dabei auf den Boden nieder und zeichnete mit seinem Spazierstocke allerlei Linien in den Staub, »eine Stockung, die mich betrifft, nicht Ihr Geschäft.«

»Wie verstehe ich das, bester Herr Erichsen?«

»Ich habe eine große Reise vor,« antwortete der Maler gedankenvoll, »in die Schweiz, vielleicht nach Italien, weßhalb ich nicht mehr im Stande bin, die mir übergebenen Illustrationen auszuführen. Doch wie schon gesagt: Das Geschäft soll nicht darunter leiden, ich habe einen Stellvertreter gefunden, einen talentvollen jungen Mann, der es mindestens ebenso schön macht wie ich.«

»Na, na, Herr Erichsen,« sagte der Buchhändler höflichst, »das ist unmöglich. Aber ich begreife vollkommen, daß Sie sich wegen solcher Bagatelle nicht binden werden.« – Ihm war es ja vollkommen gleichgiltig, wer künftig die Illustrationen für das verkaufte Geschäft mache, ja es war ihm lieb, wenn sein Nachfolger einen guten Arbeiter verlor. Herr Blaffer nahm sein Lineal zwischen die Zähne, nickte mit dem Kopfe und sprach gedankenvoll: »So, so, Sie reisen? – Sie glücklicher Mensch! Das entschließt sich von heute auf morgen, packt ein, läßt sich Kreditbriefe geben und bricht alle Verbindungen leicht ab.«

Arthur seufzte ein wenig und entgegnete: »Wenn man reist, bricht man freilich seine Verbindungen für einige Zeit ab, aber es ist noch die Frage, ob einem das leicht wird.«

»Ah! Ich verstehe!« rief Herr Blaffer mit einem pfiffig sein sollenden Lächeln, das aber nur ein Grinsen war. »Verzeihen Sie meine Indiscretion, aber in der Balkengasse wird der Abschied sehr schwer fallen.«

[44] Der Maler zuckte mit den Achseln und erwiderte, ohne Herrn Blaffer anzusehen: »Da sind Sie im Irrthum. – In – der – Balkengasse – ich weiß wohl, worauf Sie anspielen – ist nichts, was meinen Abschied erschweren könnte.«

»Nichts?« fragte lauernd der Buchhändler.

»Nichts,« wiederholte Arthur.

»Aber doch etwas Vorübergehendes?«

»Sehr vorübergehend,« meinte Arthur gedankenvoll.

Der Buchhändler klopfte mit dem Lineal auf seinen magern Schenkel und sagte: »Schaut, wie ihr jungen Leute eigentlich seid. Da faßt ihr eine Grille auf, da seht ihr ein schönes Gesicht, und da muß nun alle Welt helfen, damit sich so ein Geschöpfchen leichter verführen läßt.«

»Bitte recht sehr, Herr Blaffer,« sprach ernst der Maler.

»Nun, Sie werden mir das nicht übel nehmen,« fuhr der Andere lächelnd fort. »Ich meine es ja nicht böse; und so ganz Unrecht habe ich auch nicht; ich will Ihnen das beweisen. Mußte da nicht die arme Handlung Johann Christian Blaffer und Compagnie mehr als zu viel thun an Honorar für den armen Staiger! Ich versichere Sie: Viel mehr als zu viel, denn das ursprüngliche Honorar war für seine Leistungen genügend.«

»Möglich,« versetzte Arthur träumerisch.

»Ich habe es auch nur Ihretwillen gethan. Nun, das hat er auch wohl gemerkt, und die Tochter wird nicht undankbar gewesen sein.« – Er sprach das mit einem sehr widrigen Lächeln, welches aber der junge Mann nicht sah, da er zu Boden blickte, denn sonst würde der Ton, mit welchem er antwortete: »Ich bitte darüber nicht mehr zu reden,« gewiß ein noch viel schärferer gewesen sein. Doch setzte Arthur gleich darauf hinzu: »Ich kann Sie versichern, der alte Mann hat keine Ahnung davon, daß er mir die Erhöhung seines Honorars zu verdanken hat.«

»Das kann ich nicht glauben,« erwiderte Herr Blaffer mit [45] künstlichem Erstaunen. »So wird er sich nicht überschätzen. Sechs Gulden für den kleinen Bogen!« sagte er mit fast heulendem Tone. »Wenn er da nicht einsieht, daß ihm eine starke Hand geholfen, so ist es mehr als undankbar. Ueberhaupt –«

»Was überhaupt? Fahren Sie nur fort, Herr Blaffer.«

»Nehmen Sie guten Rath an, mein lieber Herr Erichsen; ich kenne die Welt. Man muß sich mit solchen Leuten nicht so tief einlassen; das benutzt einen, so lange als möglich, kommt dann ein Anderer, vornehmer, reicher – oder jünger,« setzte er leise und zähneknirschend hinzu – »so wird der gut Denkende auf die Seite geschoben – verlassen.«

»Ja verlassen,« sagte kaum hörbar der Maler.

Doch verstand ihn Herr Blaffer vollkommen; ja nicht allein das Wort, sondern auch die zerstreute und traurige Miene, mit der es Arthur sprach.

Dieser fuhr nach einer kleinen Pause trübe lächelnd fort: »Wir wollen darüber nicht weiter reden; es war ein Geschäft und ist abgemacht. Apropos! Haben Sie nichts mehr von Herrn Beil gehört?«

»Der Schuft!« entgegnete Herr Blaffer und stieß das Lineal heftig auf den Stuhl. »Nein, nein! Gott sei Dank! Ich weiß nicht, wo er crepirt ist. Ich sage Ihnen, Herr Erichsen, das war eine niederträchtige Seele.«

»Sie standen nie gut mit ihm; aber für schlecht hätte ich ihn nicht gehalten: für etwas unüberlegt – ja zu lustigen Streichen stets bereit.«

»Boshaft, Herr Erichsen, boshaft wie ein Affe. Und wie konnte sich der Kerl verstellen! Zum Beispiel, haben Sie je ein Talent zum Zeichnen an ihm bemerkt?«

»Nichts Auffallendes der Art.«

»Ich früher auch nicht. Aber denken Sie, als er fort war, visitire ich seinen Pult und finde da ein Paketchen zugebunden, [46] gesiegelt und mit der Ueberschrift: Meinem lieben Prinzipal, Herrn Blaffer. Hätte ich nur meiner ersten Idee nachgegeben und es in's Feuer geworfen! Aber so plagt mich der Teufel der Neugierde und ich finde eine ganze Menge der scheußlichsten Karrikaturen.«

»Ah!« machte fast lächelnd der Maler, denn ihm kam plötzlich die Idee, Herr Blaffer spreche von den Zeichnungen, die er, Arthur selbst, auf dem Pulte des Herrn Beil hie und da verfertigt.

»Karrikaturen der schändlichsten Art, und mit Beziehung auf unsern Roman: Onkel Tom's Hütte. Und mich hat er immer zur Hauptfigur genommen, mich, seinen Prinzipal und Wohlthäter.«

»Das ist unerhört!« entgegnete Arthur, indem er mühsam ein ernstes Gesicht, machte. »Das hätte ich hinter Herrn Beil nicht gesucht.« – Doch schien er das Gespräch und überhaupt seinen Besuch abbrechen zu wollen, denn er stand auf, reichte dem Buchhändler die Hand und sagte: »So halten Sie mich im besten Andenken, Herr Blaffer, und wenn ich von meiner Reise mit vollen Mappen zurückkehre, so können wir vielleicht eine Art Reisebeschreibung daraus machen.«

Herr Blaffer war hierauf schon im Begriff, über den Verkauf des Geschäftes zu sprechen, doch dachte er: »Es ist besser, ich schweige darüber.« Er schüttelte deßhalb die dargebotene Hand, affektirte einige Rührung und begleitete den Maler bis an die Hausthüre, worauf dieser sich entfernte.

Der Buchhändler trat in sein Comptoir zurück und ging mit großen Schritten auf und ab, wobei er das Lineal auf dem Rücken hielt und sich zuweilen damit auf die Schulterblätter klopfte. – »Auch der hat bittere Erfahrungen,« sagte er nach einiger Zeit in einem höhnischen Tone, »und ist doch hübsch und jung. Ja, trau' Einer dem verfluchten Weibergeschlecht! Wenn mich nur die dumme Grille dieses Herrn Erichsen nicht ein paar hundert Gulden gekostet hätte, die ich an das Bettelpack weggeworfen. Aber ich will mich noch dafür revanchiren! Ein recht artiger Brief an den Herrn [47] Staiger soll mein letztes Geschäft als Chef der Handlung Johann Christian Blaffer und Compagnie sein.« Damit trat er an den Pult und schrieb mit sichtlichem Wohlbehagen:


»P.P.


Die schlechten Zeiten, unter denen gegenwärtig der Buchhandel seufzt, veranlassen uns, Sie zu ersuchen, Ihre Arbeiten für unsere Handlung einstellen zu wollen. Onkel Tom ist beendigt, und wir sind außer Stande, das neue Unternehmen, für welches ja ohnedies noch kein Kontrakt zwischen uns abgeschlossen ist, in's Leben treten zu lassen.

Genehmigen Sie indessen die Versicherung der ausgezeichneten Hochachtung, mit der wir sind


Johann Christian Blaffer und Comp.«


Wohlgefällig betrachtete der Buchhändler den säubern Schnörkel unter seinem Namen, setzte vorsichtig das Datum von gestern bei und siegelte den Brief. Dann rieb er sich die Hände, als habe er ein gutes Werk gethan, verschloß das Comptoir und ging in sein Schlafzimmer hinauf.

Als es einige Stunden darauf dunkel wurde, saß August an dem Fenster seiner Kammer, den Blick auf die Straße gerichtet, wo man nach und nach alle Gaslampen angezündet hatte; auch die bewußte vor dem Hause brannte hell und lustig, und so sehr der Lehrling auch umher spähte, nirgendwo ließ sich Jemand sehen, der Lust zu haben schien, diese einzige Flamme wieder auszulöschen und so den sehnlichst erwarteten Besuch des Herrn Beil anzuzeigen.

Endlich wurde August zum Nachtessen gerufen, und das ging trübselig vorüber, wie die meisten in der letzten Zeit. Herr Blaffer sprach nichts und warf nur zuweilen finstere Blicke über den Tisch hinüber nach Marie, welche in tiefe Gedanken versunken zu sein schien, und wohl aus diesem Grunde häufig etwas Unpassendes sagte oder da lachte, wo es gerade nicht nothwendig war – ein Benehmen, welches die gute Laune des Buchhändlers durchaus nicht [48] erhöhte, ja ihm einige beißende Bemerkungen ablockte, welche von dem jungen Mädchen nicht gerade auf die ehrerbietigste Art beantwortet wurden. Dann wurde der Prinzipal heftig, grob und kränkend, was zur Folge hatte, daß sie ihm einen verächtlichen Blick zuwarf, den Teller hastig zurückstieß, sich vom Tische erhob und auf ihr Zimmer ging.

Glücklicherweise ließ sich August durch diese Scene gar nicht anfechten, sondern speiste mit großer Gemüthsruhe, wornach auch er seine Dachkammer aufsuchte. Trotzdem es ihm aber in der letzten Zeit besser in dem Hause gegangen, so erschien ihm doch Manches dafür so unheimlich und widerwärtig, daß er sich nach der früheren Zeit zurücksehnte, und namentlich nach Herrn Beil, mit dem er so manche Stunde angenehm verplaudert, und der es so vortrefflich verstanden, seine guten Lehren humoristisch in artige Gleichnisse einzukleiden, und der selbst Püffe und Katzenköpfe auf ungezwungene und fast angenehme Art zu geben wußte, so daß man ihm gar nicht einmal darüber böse sein konnte. Ach! sogar dieser Püffe erinnerte sich August sehnsüchtig, und er hätte gern dergleichen wieder ausgehalten, dann wäre ja der gute Herr Beil wieder bei ihm gewesen. – Aber er hatte seinen Besuch noch nicht angezeigt, denn drunten die Gasflamme brannte hell wie immer, bestrahlte den eisernen Kandelaber und warf einen weiten Lichtkreis vor sich auf den Boden. – Doch halt! was war das? Plötzlich war das Licht verlöscht, und August hatte doch Niemand gesehen, der sich demselben genähert. Wie schlug ihm sein Herz! Er eilte an die Kammerthüre und horchte in's Haus hinab. Drunten war Alles stille; der Buchhändler hatte sich zur Ruhe begeben, und als August aufmerksamer lauschte, hörte er ihn aus seinem Schlafzimmer leise husten. Er wartete noch eine lange, lange halbe Stunde, dann ließ er sich an dem Treppengeländer hinab gleiten. Er hatte dieses Manöver oft ausgeführt, wenn er sich verschlafen hatte und von dem Prinzipal nicht gehört sein wollte. Unten angekommen, schlich er leise [49] zur Hausthüre, drehte den Schlüssel zweimal, schob die schweren Riegel zurück und kehrte nun, gehorsam dem erhaltenen Befehl, mit verhaltenem Athem in seine Dachkammer zurück.

Jede Minute, die er hier oben zubringen mußte, däuchte ihm eine Ewigkeit. Er hielt das Ohr an die Thüre und lauschte angestrengt in's Haus hinunter. – Alles ruhig und still, sogar Herr Blaffer hüstelte nicht mehr; wahrscheinlich war derselbe eingeschlafen. Doch jetzt vernahm August ein Geräusch – aber nein, es kam nicht unten vom Hause herauf, es kam vom Dache her. Was konnte das sein? Ja, in der Nebenkammer, wo ehedem die Schwester geschlafen, vernahm er es jetzt. Dort schlich etwas auf dem Boden, dort tappte es an der Wand fort und suchte die Thüre zu finden. Das konnte doch nicht Herr Beil sein, der sollte ja, was natürlich war, unten zur Hausthüre herein kommen. Und doch – es war keine Täuschung möglich – ihm gegenüber an der anderen Kammerthüre bewegte sich etwas. Vorsichtig wurde auf die Klinke gedrückt, und sie hob sich ganz geräuschlos. Doch ehe die Thüre geöffnet wurde, hatte August die Geistesgegenwart, sein Licht auszulöschen. Darauf lugte er wieder auf den Gang hinaus, während sein Herz so heftig klopfte, daß er fürchtete, die Schläge müssen seine Gegenwart verrathen; dabei hatte er ein eigenes Gefühl in den Haarwurzeln; es war ihm, als drehe sich jedes einzelne Haar langsam herum. Er dachte an Räuber, Mörder und Gespenster. An die letzteren zumeist; denn das, was ihm gegenüber jetzt die Thüre geöffnet hatte und über den Gang dahin schwebte, konnte unmöglich ein menschliches Wesen sein. Er hörte keinen Tritt, er sah nur einen Schatten gegen die Treppe schweben und dann auf dem tieferen Dunkel derselben verschwinden. – Was war das? Hätte er nicht den Herrn Beil erwartet und sich also gefürchtet, Lärmen zu machen, so würde er unfehlbar durch sein Geschrei das Haus erweckt haben. So aber eilte er an das Fenster zurück, betrachtete sich nochmals die finstere Gaslaterne und sah dann auf die Straße, [50] ob sich nicht eine Spur von dem erwarteten Freunde entdecken ließe. Wer aber beschreibt seine Ueberraschung, als er sich wieder umwandte und unter der Thüre der Kammer ein helles Licht gewahrte, welches ihm so blendend in die Augen fiel, daß er nicht im Stande war, den Träger desselben zu erkennen. Sollte das vielleicht Herr Beil sein? – Aber warum dann so still und stumm in das Zimmer treten? Die Nerven des armen Lehrlings waren so aufgeregt, daß er, anstatt eine Frage zu thun, die Hände vor das Gesicht preßte und auf einen Stuhl niedersank.

Die Laterne an der Thüre oder vielmehr der Träger derselben bewegte sich in's Zimmer herein und eine Stimme, die nicht wie die des Herrn Beil klang, aber auch keine ganz fremde für den Lehrling war, sagte ihm: »Sie haben Ihr Wort gehalten; ich danke Ihnen dafür.«

»Gott sei Dank!« dachte August, indem er die Hände langsam herabsinken ließ, »das spricht doch jetzt und schleicht nicht mehr so gespensterhaft im Hause umher.« Er wagte es auch aufzublicken, und da nun der Eingetretene die kleine Blendlaterne, welche er in der Hand trug, von sich abhielt, so erkannte August mit Erstaunen die Züge des Herrn Brander, welcher ihm den Besuch des Freundes angezeigt hatte.

»Sie wundern sich, mich hier zu sehen,« sagte dieser. »Das kann ich mir denken. Aber es anders zu machen war unmöglich. Herr Beil ist verhindert und ich komme, Ihnen das zu sagen.«

»Dafür bin ich Ihnen sehr verbunden,« erwiderte kleinlaut der Lehrling. »Doch erlauben Sie mir eine Frage. Warum kamen Sie nicht zur Hausthüre herein und die Treppen herauf und zogen es lieber vor, über das Dach in's Haus zu klettern?«

»Hörten Sie Jemand über das Dach in's Haus klettern?« fragte aufmerksam der Andere.

»So leise Sie auch gingen, so hörte ich Sie doch und sah auch, wie Sie die Treppe hinabschwebten.«

[51] »Ah! er ist schon da,« murmelte Herr Brander. »Nun, er hat den Weg oft genug gemacht und die Liebe treibt ihn. – Sie irren,« wandte er sich laut an den Lehrling, »ich stieg die Treppen herauf.«

»Und der Andere?« fragte angstvoll der Lehrling, dem es anfing bei der Sache unheimlich zu werden.

»Der Andere ist ein guter Freund von mir und Herrn Beil, der hier einige kleine Geschäfte zu besorgen hat.«

»Zu dieser Stunde?« versetzte August, der endlich, obgleich spät genug ahnte, er habe einen dummen Streich gemacht, fremden Leuten bei Nacht die Thüre zu öffnen.

»Ja, zu dieser Stunde, mein lieber junger Mann,« entgegnete freundlich Herr Brander. »Er besorgt seine kleinen Geschäfte, hat aber dabei immer noch Zeit, aus irgend einem Winkel hervor seine Augen auf Sie zu richten.«

»Wo?« fragte angstvoll der junge Mensch, indem er sich erschreckt umschaute.

»Das ist gleichgiltig; auch habe ich nicht lange Zeit zu Erklärungen. Hören Sie mich aber gefälligst einen Augenblick aufmerksam an! Sie erwarten Herrn Beil, Herr Beil aber ist verhindert zu kommen, heute, morgen, die übrigen Tage. Aber er wünscht sehnlich Sie zu sehen und wird nicht verfehlen, Ihnen in den nächsten Tagen einen Weg zu diesem Zwecke anzeigen zu lassen. Doch verlange ich Eins von Ihnen: Sie bleiben ruhig auf Ihrem Zimmer, schließen Ihre Thüre ab und bekümmern sich nicht um das, was Sie allenfalls von drunten im Hause hören sollten.«

»O mein Gott!« rief August in kläglichem Tone. »Sie haben Schlimmes vor. Aber ich will mich nicht daran betheiligen, ich werde nach Hilfe schreien und den Prinzipal wecken.«

»Versuchen Sie das,« sagte der Andere mit drohender Stimme. »Rufen Sie um Hilfe, rufen Sie meinetwegen die Polizei! Ich werde mich ruhig hieher setzen und mich mit Ihnen fangen lassen, [52] denn der Hehler ist wie der Stehler; ich bezahlte Sie reichlich dafür, daß Sie mir die Hausthüre öffneten und will das vor aller Welt beschwören. – Seien Sie kein Kind,« fuhr er nach einer Pause fort, als er sah, daß der Lehrling seinen Kopf abermals in die Hände vergrub und darauf mit einer Jammermiene empor blickte. »Glauben Sie mir, es soll Niemand ein Leides geschehen. Sollten Sie aber, sobald ich diese Kammer verlasse, dennoch Geräusch machen, um Hilfe rufen oder dergleichen Tollheiten treiben, so vergessen Sie ja nicht, daß Jener, der vorhin über den Gang schlich, in Ihrer Nähe ist und daß Sie beim ersten Laut ein Kind des Todes sind.«

August konnte vor Entsetzen kein Wort hervorbringen; er blickte scheu um sich, denn plötzlich war das Licht der Blendlaterne nicht mehr sichtbar, doch fühlte er die Hand des fremden Mannes, welcher ihn an der Schulter rüttelte und ihm in's Ohr raunte: »Haben Sie Ihr Leben lieb und machen Sie keinen Lärm!« –

Bevor sich an diesem Abend Herr Blaffer zur Ruhe begeben hatte, war er noch längere Zeit in tiefem Nachdenken im Zimmer auf- und abspaziert. Seine Sachen waren geordnet, die Papiere über den Kauf ausgewechselt, das Geld lag im Kasten, er war im Begriff, in ein ganz neues Verhältniß einzutreten, weßhalb es denn auch leicht begreiflich war, daß er den vergangenen Tagen einen kleinen Rückblick schenkte. Herr Blaffer hatte von seiner frühesten Jugend an tüchtig gearbeitet, seine Zeit, sein Geld zu Rath gehalten, was ihm übrigens leicht war, da er nicht von den gewöhnlichen Leidenschaften der Menschen berührt wurde. Er trank nicht, er spielte nicht, er war gegen das schöne Geschlecht vollkommen gleichgiltig. So mußte es denn auch kommen, daß er etwas vor sich gebracht: ja, Herr Blaffer war auf dem Punkte, ein recht wohlhabender Mann zu werden, als ihm einige Unternehmungen fehlschlugen und ihn eine bedeutende Summe kosteten. Das entmuthigte ihn und von dem Augenblicke an [53] trachtete er mehr darnach, sein Vermögen zu erhalten, als zu vermehren.

Da kam jenes Mädchen in sein Haus, und die Flamme, die sein Herz plötzlich ergriff, brannte um so gefräßiger, als dieses Herz alt, dürr und trocken war. Vergebens hatte er eine Zeit lang gegen diese Leidenschaft angekämpft: sie war stärker als sein Wille, er unterlag, und jedes Opfer, welches er gezwungen war, derselben zu bringen, däuchte ihm leicht zu sein. Deßhalb hatte es ihm auch wenig Kummer gemacht, daß die Firma, die er gegründet, in fremde Hände überging, daß das Haus, in welchem er geboren, jetzt von Andern bewohnt werden sollte. Alles Das beschäftigte seinen Geist wenig, aber eine andere Frage lag auf seiner Seele und verursachte ihm ein Gefühl, als tropfe von Sekunde auf Sekunde flüssiges Metall auf sein Herz, die Frage: ist sie dir wirklich untreu geworden? – eine Frage, die tausend Teufel in seiner Brust mit jubelndem Ja beantworteten. Dann ballte er krampfhaft die Hände, fuhr in sein spärliches Haar und stöhnte: »O nur Gewißheit dar über, nur Gewißheit, daß ich ein Recht hätte, sie zu fassen und langsam zu verderben.«

Endlich begab er sich zur Ruhe, und nachdem er sich lange umhergeworfen, kam der Schlaf auf seine Augen, ohne ihn zu beglücken. Denn die wilden Gedanken, die ihn wachend beschäftigt, hatten sich schon in schlimmere Träume verwandelt, die ihm alles, Das, was er fürchtete, in den schrecklichsten, üppigsten Bildern vormalten. Ihm träumte wieder, es schleiche Jemand durch das Haus und komme an ihre Zimmerthüre. Diese wurde langsam geöffnet und von Licht und Glanz überflossen empfing sie den Geliebten, den wirklich und einzig Geliebten. Das sah man an dem innigen Blick ihres feuchten Auges, an dem Lächeln um ihren leicht geöffneten Mund, an dem Zittern ihrer Hand, die sie ihm entgegen streckte und mit der sie ihn alsdann hastig zu sich in's Zimmer zog. – Ah! –

[54] Es gibt einen leichten, unruhigen Schlaf, aus dem man sich emporreißen kann, erwachen durch die Kraft des Willens: so auch der Schläfer hier, als ihm dies geträumt. Er that einen tiefen Athemzug, er öffnete gewaltsam die Augen, er erwachte, er horchte, wie er oft in der Nacht that. Spielten denn seine Träume in die Wirklichkeit über, wie sich vorher seine Gedanken in Träume verwandelt? Konnte er sich diesmal täuschen? – Schlich nicht Jemand draußen auf dem Gange?

Im Nu war Herr Blaffer aus dem Bette und stand mit verhaltenem Athem an der Stubenthüre. Oh! der Buchhändler war nicht so leicht zu überlisten! Schon lange schloß er seine Thüre nicht mehr fest, damit das Geräusch des Schlosses ihn nicht verrathe, wenn er auf den Gang blicken wollte. Allabendlich löschte er sein Licht aus und dann zog er den Thürflügel so viel zurück, daß er durch die entstandene Spalte hinaus schauen konnte.

So war es auch heute Abend geschehen, und als er zitternd vor Erwartung davor stand, sah er genau dasselbe, was ihm wenige Augenblicke vorher geträumt. Sie stand an ihrer Stubenthüre und von Licht und Glanz übergossen empfing sie den Geliebten – den wirklich und einzig Geliebten. Das sah man an dem innigen Blick ihres Auges, an dem Lächeln um ihren leicht geöffneten Mund, an dem Zittern ihrer Hand, die sie ihm entgegen streckte und mit der sie ihn alsdann hastig zu sich in's Zimmer zog. Darauf schloß sich die Thüre wieder – und der Riegel wurde vorgeschoben. – Nein, er auf dem dunkeln Gange träumte nicht mehr, wie er wohl gehofft, wie er glaubte, denn er schlug sich so lange vor die Stirn, bis sie ihn schmerzte, er preßte die Hand krampfhaft auf die Brust und fühlte sein Herz schlagen. Er wollte vorwärts stürzen und die Thüre mit einem Fußstoß ein treten. Aber er besann sich eines Bessern; der da drinnen war vielleicht stärker als er, und da er Rache nehmen wollte, blutige Rache, so mußte er sich eine Waffe suchen. Wo war etwas der [55] Art im Hause? Er dachte eine Sekunde nach, dann trat er in's Zimmer zurück, warf sich mit fiebrischer Hast in die Kleider und schlich auf den bloßen Füßen die Treppen hinab nach dem Magazine, dessen Thüre er geräuschlos öffnete. Dort in einer Ecke neben der Wage lag das große Packmesser. Als er das kalte Heft desselben ergriff, durchschauerte es ihn unheimlich; er fuhr mit der andern Hand an die glühende Stirn und wischte sich die Schweißtropfen davon ab. Auch bedeckte er einen Moment lang seine Augen, denn trotz der tiefen Finsterniß, die ihn umgab, gaukelten allerlei formlose Gestalten um ihn her. Das war sein empörtes Blut, welches ihn auch Funken und Blitze sehen ließ, die seinen Augen zu entspringen schienen. Dabei hatte er das Gefühl, als wanke der Boden unter ihm, und als er nun doch vorwärts strebte, dem Ausgang und der Treppe zu, schwankte er hin und her, und mußte sich an den Wänden halten und zuweilen einen Augenblick ausruhen, um nicht niederzustürzen. Von seinen verwirrten Sinnen blieb nur ein einziger klar und thätig – das Gehör. In seinen wildesten Gedanken, mitten in den qualvollsten Anstrengungen des kraftvollen Vorwärtsstrebens lauschte er angestrengt – und jetzt – hörte er abermals schleichende Tritte. Ja, das war er, dem das Mädchen die Thüre geöffnet; er mußte es sein. – Und doch! Er sammelte einen Augenblick seine zerstörten Gedanken, um sich zu erinnern, wo er sich befinde, und als ihm klar wurde, daß er im Magazine sei, wußte er auch sogleich, daß die Tritte, die er hörte, aus seinem eigenen Schlafzimmer herunter tönten und nicht aus dem ihrigen. Er horchte angestrengter. Er vernahm ein leises Klirren; – ja, er irrte sich nicht: droben wurde ein schweres Schloß geöffnet. – Herr des Himmels! das seiner Kasse. Er zuckte aus seiner horchenden Stellung empor, er strebte die Thüre zu erreichen, und als er gerade auf den Gang hinaus wollte, vernahm er, daß droben ein Fenster geöffnet wurde. Unwillkürlich wandte er den Kopf und blickte auf die untern Fenster, [56] die von dem Magazin auf den Hof gingen und mit denen seines Schlafzimmers correspondirten. Da sah er, wie sich von oben ein Körper langsam herab bewegte: es war ein Mann, der sich an einem Stricke herunter ließ. – »Räuber! Räuber!« schrie Herr Blaffer, so laut er konnte. Dabei stürzte er gegen das Fenster, riß es auf und da in diesem Augenblicke der Körper eines Menschen, eines Diebes, gerade vor demselben schwebte, so stieß er demselben mit aller Kraft das große Packmesser in den Leib, so daß er augenblicklich den Strick losließ und dröhnend zu Boden fiel.

Leider ließ sich Herr Blaffer darauf verleiten, dem Fallenden nachzublicken, aber nur eine Sekunde lang streckte er seinen Kopf zum Fenster hinaus. Dann taumelte er von einem furchtbaren Schlage auf denselben getroffen in das Zimmer zurück, wo er regungslos liegen blieb. –

Der Lehrling hatte droben zitternd in einem Winkel seiner Dachkammer gesessen. Mehrmals war er aufgesprungen und im Begriff, herunter zu eilen, doch jedesmal hielt ihn eine große Angst zurück. Er war sicher, sobald er auf den Gang hinaus träte, augenblicklich zu Boden geschlagen zu werden. Wohl hatte er vernommen, das Jemand das Schlafzimmer des Prinzipals verlasse, – wahrscheinlich Herr Blaffer selbst, der sich in das Magazin hinunter begab. Später hörte er andere Tritte, die sich in dem Schlafzimmer verloren; vielleicht war der Buchhändler wieder herauf gekommen. Ein Fenster wurde geöffnet und kurze Zeit darauf war es die Stimme des Prinzipals, welche »Räuber! Räuber!« rief.

Jetzt eilte August auf den Gang hinaus und wollte die Treppen hinab, als er unten im Hause flüsternde Stimmen vernahm: die seiner Schwester und die eines Mannes. Was war das? Von all' diesem Räthselhaften überrascht, blieb er oben an dem Geländer stehen und horchte. Zwei Personen schlichen die Treppen hinab, durch den Gang nach der Hausthüre, und darauf [57] vernahm er deutlich, wie diese letztere zugezogen wurde. Er hörte das Schloß zuschnappen, dann war Alles todtenstill im Hause. – Langsam, auf jeder Stufe stehen bleibend, stieg nun der Lehrling die Treppe hinab. Die Stille in dem Hause war ihm fürchterlich. Endlich gelangte er in die Küche, neben welcher die alte Magd in einem Verschlage schlief. Sie hatte von dem Lärmen nichts gehört und war schwer zu erwecken. August hatte die Thüre vorsichtig hinter sich geschlossen, und erst als er Licht angezündet und die Magd bereit war, ihm zu folgen, wagte er sich wieder in den Gang hinaus.

Die Thüre des Magazins stand offen und in demselben lag Herr Blaffer am Boden, schwer athmend, doch ohne äußere Verletzung. Der Schlag auf den Kopf hatte ihn betäubt, doch kam er bald wieder zu sich; und als er sich des Geschehenen erinnerte, als ihm all' das Schreckliche einfiel, welches geschehen, preßte er beide Hände gegen seine Schläfe und eilte zähneknirschend in das Haus hinauf, um über die Größe des angerichteten Unglücks in's Klare zu kommen.

Dies konnte nun nicht größer sein und war für ihn niederschmetternd. Die Thüre zu Mariens Schlafzimmer stand offen, sie selbst war verschwunden. Mit wankenden Schritten kehrte er in sein Zimmer zurück und wagte es kaum, seine geöffnete Kasse mit scheuem Blick zu betrachten: sie war leer – er war ein ruinirter Mann, und man hatte ihm Alles, Alles gestohlen.

Als am andern Morgen die Polizei, von dem Vorfall in Kenntniß gesetzt, sich an Ort und Stelle begab, hatte es der Chef derselben für wichtig genug gefunden, sich selbst dorthin zu verfügen, um in seinem Besein die Lokal-Inspektion vornehmen zu lassen. Herr Blaffer, den die schrecklichen Vorfälle auf das Bett geworfen hatten, sagte ohne Rückhalt, was er wußte. August dagegen hatte sich vorgenommen, Einiges, wie zum Beispiel den Besuch des Herrn Brander, die Geschichte mit den Dukaten, sowie [58] das Oeffnen der Hausthüre, als unwichtig zu übergehen. Doch waren der Polizeidirektor, namentlich aber sein erster Sekretär, nicht die Leute, denen eine Persönlichkeit, wie der blonde Lehrling, im Stande gewesen wäre, etwas zu verschweigen. August wurde in die Enge getrieben, und als ihm der Präsident mit angefaßter Nase, die er zornig bald rechts bald links zog und alsdann drohend in die Höhe schnellen ließ, auseinandersetzte, daß es ein wahres Verbrechen sei, der Polizei etwas zu verheimlichen, berichtete er die ganze Geschichte, ja er wurde gezwungen, am Schlusse weinend den Namen des Herrn Beil anzugeben, als des Freundes, den er erwartet.

Man kann sich denken, daß Herr Blaffer über sei nen ehemaligen Commis das Schlimmste aussagte, was namentlich den Polizeipräsidenten veranlaßte, ein genaues Signalement des Herrn Beil aufzunehmen, eine Sache, die bei der auffallenden Körperbeschaffenheit desselben nicht schwer war.

Daß bei dieser Lokalinspektion die Fenster, durch welche sich der Dieb herabgelassen, sowie der Hof auf's Genaueste untersucht wurden, brauchen wir wohl nicht zu sagen. Auf dem weichen Boden des letztern fand man übrigens genaue Spuren von dem, was hier vorgefallen. Man sah, daß hier ein menschlicher Körper niedergestürzt war, man bemerkte Blutspuren und rings herum Fußtritte, welche deutlich anzeigten, daß mehrere Personen da gewesen, den Gefallenen aufgehoben und über die niedrige Mauer auf die Straße geschafft hatten. Der ganze Boden war mit schweren Stiefelabsätzen zertreten, und als sich einer der Polizeibeamten in seinem Geschäftseifer das Vergnügen machte, mehrere dieser Fußspuren der Länge und Breite nach zu messen, entdeckte er zufällig ein Papier, welches fast ganz in die feuchte Erde hinein getreten war. Da bei dergleichen Geschichten Alles von Wichtigkeit ist, so zog er es säuberlich hervor und händigte es dem Sekretär Seiner Excellenz ein. Dieser entfaltete es behutsam, warf einen Blick [59] hinein und sein trockenes Amtsgesicht strahlte darauf vor Freude und Ueberraschung. »Euer Excellenz,« sagte er, als er das Papier dem Präsidenten überreichte, »hier ist der deutliche Beweis für meine Behauptung, die ich schon lange Zeit aufzustellen wagte, daß nämlich in hiesiger Stadt eine wohlorganisirte Bande besteht, welche von mächtiger Hand und, man kann es nicht leugnen, bis jetzt mit großer Umsicht geführt wurde. Dieses Papier enthält eine Instruktion über den hier verübten Einbruch, in der Alles auf das Genaueste vorgesehen ist. Wenn es nicht eine so schlechte Sache beträfe, so würde ich es außerordentlich nennen.«

Die Nase Seiner Excellenz hatte sich gerade nach dem oberen Fenster gerichtet, doch fing er sie mit einem gewandten Griffe ein und zog sie auf das zerknitterte und beschmutzte Papier herab. Auf diesem stand mit sehr undeutlichen und verwischten Schriftzügen Folgendes: »Zwei, Sechs, Acht und Zehn sollen sich dabei betheiligen, sie umstellen das Haus, während Eins durch die geöffnete Thüre eintritt. Der Bewußte ist bereit, das Mädchen zu entführen; er erhielt Gelder und Papiere und wird nicht eingeholt werden. Geräusch an ihrer Zimmerthüre muß den Andern hervorlocken. Forcirt er die Thüre, so muß ihn der junge Mensch auf sich nehmen, bis das Geschäft drüben beendigt ist. Es soll keine Gewalt angewandt, vielmehr wenn sich Hindernisse finden, die ganze Sache verschoben werden!«

»Da ist kein Zweifel mehr,« sagte der Präsident mit großer Wichtigkeit, als er gelesen, und fügte hinzu, nachdem er sich rings umgeschaut: »Vor allen Dingen gilt es nun, über die ganze Geschichte ein unverbrüchliches Stillschweigen zu beobachten. Unsere Leute sind durch ihren Eid gebunden; der Buchhändler wird ohnedies nicht darüber sprechen, und was den jungen, angehenden Taugenichts anbelangt, so wollen wir den ein wenig in Gewahrsam nehmen. Das ist eine Sache,« wandte er sich mit leiser Stimme an seinen Sekretär, »die reiflich überlegt sein will und klug eingefädelt. [60] Hauptsächlich muß uns Alles daran gelegen sein, den Aufenthalt des gewissen Beil zu erfahren, damit wir den fassen können.« Der Präsident unterstützte bei diesen Worten seine Rede pantomimisch dadurch, daß er mit seinen fünf Fingern die eigene Nase umspielte und sie dann plötzlich und unversehens ergriff. Der Sekretär aber spitzte wohlgefällig seinen Mund, schloß dabei die Augen und sein angenehmes Lächeln schien sagen zu wollen: o der ist uns sicher!

75. Kapitel
Fünfundsiebenzigstes Kapitel.
General und Präsident.

Vielleicht hat der geneigte Leser noch nicht vergessen, daß man von dem königlichen Adjutantenzimmer gerade vor sich einen Flügel des Schloßbaues sah, denselben, nach dessen Fenstern Graf Fohrbach, sowie seine jungen Kameraden zuweilen ihre Beobachtungen anzustellen pflegten. Der erste Stock dieses Baues war, wie wir ebenfalls wissen, von seiner Excellenz, dem General-Adjutanten Baron von W., bewohnt, einem alten Herrn, dessen Bekanntschaft wir auf der Soirée des Kriegsministers Excellenz gemacht.

Der Baron hatte seine großen Eigenthümlichkeiten, und eine für die königlichen Adjutanten gerade nicht angenehme bestand darin, daß er stundenlang an einem Fenster seiner Wohnung saß und mit einer Lorgnette die Umgebung des Schlosses, die An- und Abfahrenden, Fußgänger und Reiter beobachtete. Es war gerade, als führte der alte Herr darüber ein Journal, denn wenn er zufällig etwas entdeckte, was nicht jeden Tag vorkam, so vergaß er das niemals und wußte es später bei einer Hoftafel, einem [61] Ball oder dergleichen immer so anzubringen, daß irgend Je mand darüber in Verlegenheit kam, oder doch in den Fall sich entschuldigen zu müssen. Viele suchten die Ursache dieser bösartigen Schwatzhaftigkeit Seiner Excellenz in dem Alter desselben oder in der Einsamkeit, in der er seine meisten Stunden verbrachte, denn Kinder hatte er keine, und mit der Baronin, seiner Frau, so munkelte die böse Welt, lebte er auf gar keinem vertraulichen und mittheilsamen Fuße. Die älteren Herren bei Hofe aber, die ihn noch von der Zeit her kannten, wo er als Adjutant des hochseligen Königs fungirte, nannten ihn, wenn sie allein waren, einen boshaften Affen, dessen einziges Vergnügen es von jeher gewesen sei, die Leute unter einander zu verhetzen, überall Zwietracht zu säen und sich dann händereibend an den unangenehmen Scenen zu erfreuen, die er angestiftet.

Wenn man übrigens die alte Excellenz sah, wie sie so mit gekrümmtem Rücken dahin schlich, die Hände hinter sich haltend, in der Rechten eine goldene Tabatière, die sie mit zitternden Fingern beständig drehte, leise und vorsichtig dahin gleitend, um kein Aufsehen zu erregen, von einem Salon in den andern, und dazu das spitze, gelbe vertrocknete Gesicht, die lebhaften, listigen Augen und die schwarze Perücke, so mußte man, nach dem Aeußern urtheilend, unbedingt der Ansicht Derer sein, welche den General für einen Schleicher hielten und ihm nichts Gutes zutrauten.

Bei den jüngern Adjutanten und Ordonnanz-Offizieren galt er überdies für einen Hofwetter-Propheten, und alle behaupteten steif und fest, wer von ihnen den Baron drüben des Morgens vor dem Rapporte in seiner weißen Nachtmütze am Fenster erscheinen sehe, der habe unbedingt im Laufe des Tages irgend eine Unannehmlichkeit zu erwarten. Und diese böse Vorbedeutung konnte nur paralisirt werden, wenn sich zufälligerweise auch die Baronin sehen ließ. Denn daß die arme Frau der gute Geist des Hauses sei, die Schönheit, Liebenswürdigkeit und Grazie in Person, darüber waren [62] nicht blos die jüngeren und älteren Herren, sondern, was viel sagen will, selbst die alten Hofdamen einig.

Die arme Frau führte aber bei ihrem Tyrannen ein beklagenswerthes Leben. Fast täglich berichteten die Adjutanten einander über Scenen, die es drüben gegeben, und wenn man gerade nichts sah, so hörte man öfters die schrille Stimme des Barons, oder entnahm einen vorübergegangenen Sturm aus allerhand kleinen Anzeichen. Man bemerkte dann die schöne Frau mit verweinten Augen, man sah sie in ihrem Coupé ausfahren, in welchem auf seinen Befehl die grünen Vorhänge fest herabgezogen waren.

Der General wußte übrigens ganz genau, daß man ihn vom Schlosse aus beobachte, und deßhalb hatte er schon öfters wochenlang seine Fensterläden fest verschlossen gehalten. Doch konnte er sich nicht entschließen, die andere Seite seiner Wohnung zu beziehen, denn es war ihm, wie schon früher bemerkt, ein Bedürfniß geworden, die Ein- und Ausgänge des Schlosses vor Augen zu haben.

Es war kurz vor der Carnevalszeit und der Major von S. hatte den Dienst in dem königlichen Vorzimmer. Er stand vor dem schon oft erwähnten Fenster, neben ihm Graf Fohrbach, und das Gespräch war unter Anderem auf die Bewohner des Schloßbaues gekommen, und beide Herren ergingen sich in ähnlichen Betrachtungen, wie wir sie eingangs dieses Kapitels unseren Lesern mitgetheilt haben.

»Es muß da drüben in der letzten Seit etwas vorgefallen sein,« meinte der Major. »Du hast wohl auch davon gehört?«

»O ja. Aber im Hause selbst ist nichts passirt; du meinst die Geschichte auf dem neulichen Hofkonzerte.«

»Ja, aber ich weiß sie nicht genau. Ich hatte an dem Tag den Dienst und war sehr dankbar dafür, daß es uns freigestellt wurde, zu bleiben oder zu gehen. Ich zog begreiflicherweise das Letztere vor.«

[63] »Ich dagegen war glücklich, daß man mich eingeladen,« lachte der Graf.

»Das glaube ich. Du durftest schmachtend die Augen niederschlagen und sie wieder öffnen; du durftest dir mit vielsagendem Blick durch das Haar fahren und deinen Schnurrbart kräuseln, du durftest hüsteln durch alle Nuancen.«

»Allerdings. Aber trotzdem sah ich, was bei Hofe vorging und bin geneigt, dir darüber zu rapportiren. Du weißt, ich fuhr mit Steinfeld hieher. Der arme Kerl, viele Jahre abwesend, war aus allen Bekanntschaften heraus und mußte sich vorstellen lassen wie ein neuer, eben erst bei Hof erscheinender Kammerherr. Nun, ich sorgte für ihn und machte ihm die Honneurs bei Hofe.«

»Da fingst du bei dem jüngsten Ehrenfräulein an; ich kann mir das denken.«

»Im Gegentheil. Ich sparte Eugenie fast bis zuletzt auf, aber du hättest seine großen Augen sehen sollen, als wir nun zurücktraten und ich ihm zuraunte: Das ist die künftige Gräfin Fohrbach.«

»Hm!« machte der Major. »Aber die Geschichte.«

Der Graf sah ihn einen Augenblick fragend an, doch kannte er ihn zu genau, um sich die vergebliche Mühe zu machen, ihn wegen des »hm!« zu befragen. »Endlich also,« fuhr er fort, »suchte ich Hugo auch der Baronin v. W. zu präsentiren. Ich hatte sie zu Anfang des Konzerts gesehen, dann aber war sie mir aus den Augen verschwunden. Nun, ich präsentirte Steinfeld ihrem Manne, dem alten General, und bat ihn um die Erlaubniß, meinen Freund der Baronin vorstellen zu dürfen. – ,Meine Frau,' sagte er, ,klagt über Kopfweh und zog sich in die hinteren Zimmer zurück.' Wir suchten sie also auf.«

»Das hättest du nicht thun sollen. Eine so kluge Frau wie die hat immer ihre guten Gründe, wenn sie sich aus dem Cercle zurückzieht. Sie wollte vielleicht von Jemanden nicht gesehen sein.«

[64] »Du könntest Recht haben; aber ich bin noch nicht alt genug, um alle Nuancen des Hoflebens zu verstehen. Nun also, wir fanden sie, ich stellte Hugo vor –«

»Und die Baronin erschrak vielleicht?«

»Nein, die Baronin erbleichte nur, wenn man das bei ihrem ohnedies bleichen Teint sagen kann. Aber Steinfeld erschrak, fuhr zusammen, drückte krampfhaft meinen Arm und kam so aus aller Contenance, daß ich mich mit meiner bekannten Geistesgegenwart – die auch du kennst,« setzte er lächelnd hinzu – »in das Gefecht werfen mußte, um mit meinem Vorgestellten nicht eine totale Niederlage zu erleben.«

»Und sein Erschrecken war auffallend?«

»Ungeheuer. Die kleine U., die daneben stand, machte ein langes, überraschtes Gesicht.«

»Und der alte General war in der Nähe?«

»Der Teufel führte ihn gerade daher, oder vielmehr der Herr Herzog, denn dieser brachte ihn gerade in dem ungeschickten Moment in die hinteren Zimmer.«

»Das ist eine räthselhafte Geschichte,« meinte der Major, indem er den rechten Arm gegen das Fenster lehnte und den Kopf darauf stützte. »Und hast du auch gehört, wie man behaupten will, daß der General harte Worte zu seiner Frau sagte?«

»Etwas davon vernahm ich schon; begreiflicherweise zogen wir uns aber zurück, deßhalb konnte ich an der Thüre nur verstehen, daß der General zu seiner Frau sagte: Madame, wir fahren nach Hause!«

»Vielleicht hat er überhaupt weiter nichts gesagt, denn du Weißt, wie in der Welt jedes Wort auseinander gezerrt wird. Die kleine U. war bei meiner Frau und wollte allerlei gehört haben, von Einverständnissen, die die ganze Welt merken müsse und die er, der General, schon entdecken wolle.«

»Unter uns gesagt, Steinfeld erschien mir höchst merkwürdig. [65] Er war wie verwandelt, wollte Niemand mehr sehen, sprach nicht mehr, und kurze Zeit nachher war er verschwunden. – Aber jetzt habe ich dir diese interessante Geschichte erzählt, dafür bezeige dich dankbar und sage mir, warum hast du vorhin hm! gemacht, als ich von der zukünftigen Gräfin Fohrbach sprach?«

Der Major lachte laut auf. »Man kann sich bei dir nicht genug in Acht nehmen,« sprach er; »ich glaube, du controlirst sogar meine Mienen.«

»Weil die immer etwas zu bedeuten haben, und weil du obendrein hm! machtest, und hinter deinen Hms steckt immer etwas.«

»Es steckt eigentlich nichts dahinter,« entgegnete der Andere mit ernsterem Tone. »Aber wenn man so seine Brautschaften Freunden proklamirt, da muß auch Alles in Ordnung sein, glatt und eben und der Altar in Sicht.«

»Nun, bei Gott!« erwiderte einigermaßen verdrießlich der Graf, »ich sehe auch keine großen Steine mehr im Wege. Eugenie und ich –«

»Ihr seid einig, das wissen wir,« sagte der Major mit einer Handbewegung gegen seinen Freund. »Mama werden auch über den mangelnden Reichthum der Braut hinweg sehen, auch sind der Herr Kriegsminister ein guter Vater; aber vergiß nicht, daß deine Heirath in hohen Kreisen etwas mißliebig angesehen wird, und wenn Seine Excellenz einen tüchtigen Wink erhält, so könnte es kommen, daß man dich avancirte, zum Major machte und als Anhängsel zu irgend einer Gesandtschaft schickte.«

»Zum Henker! Du siehst immer schwarz!« rief der Graf. »Ich weiß wohl, du meinst, der Herzog machinire gegen mich. Nun, ich glaube wohl, daß er trotz allen fehlgeschlagenen Versuchen noch nicht den Muth verloren hat.«

»Ich sehe nicht schwarz, lieber Freund,« erwiderte der Major. »Aber ich kenne mein Terrain, und leugnen wirst du mir nicht, daß der Herzog auf Tod und Leben in das schöne Mädchen verliebt [66] ist. Sie ist arm, aber von sehr gutem Hause; ihn selbst verheirathet sehen, ist der sehnlichste Wunsch der Herzogin. Meinst du, es sei am Ende nicht möglich, daß sich der Herzog seiner Mutter declarirte und Eugenie zu seiner Frau machte, da sie ihm nichts Anderes sein will?«

Graf Fohrbach blickte mit dem Ausdruck eines großen Schreckens auf das Gesicht seines Freundes, ob dort nicht ein lächelnder Zug den Scherz verrathe. Aber die Züge des Letzteren blieben vollkommen gleich und ernst.

»Ich habe keine bestimmte Idee,« sagte er, »daß dies so kommen könnte, aber wie die Verhältnisse nun einmal liegen, sollst du als Verliebter die Sache nicht so leicht nehmen, sondern alle Schrauben anziehen, um baldigst zu einem Ziele zu gelangen. – Mich hat,« fuhr der Major nach einer Pause fort, während der Graf Fohrbach nachdenkend zum Fenster hinausgeblickt, »die Wette, welche dir der Herzog neulich proponirt, verletzt, ja erschreckt. Mach' mir keine Einreden in Betreff Eugeniens. Ich kenne die große und auch feste Seele dieses Mädchens; aber sie steht auf glattem Boden. Ja, ich sage es offen, nur ein Narr proponirt dergleichen Wetten ohne irgend welche Aussicht auf Erfolg. Und ein Narr ist der Herzog gerade nicht.«

»Nun, diese Aussichten sind gering,« versetzte nach einem tiefen Athemzuge lächelnd der Graf. »Da lies dies Billet; ich erhielt es gestern von Eugenien.«

Der Major nahm das dargereichte zierliche Briefchen, entfaltete es und las: »Wie leid thut es mir, daß ich deinen Wunsch so ohne alle Schwierigkeiten erfüllen kann! Ich bin für den Maskenball zu einer der Ecuyèren Ihrer Majestät ernannt, und da ich mit den beiden andern Damen Achselbänder in einer der Farben des angenommenen Wappens tragen soll, weiß, grün und Gold, so ward es mir leicht, die erste Farbe für mich zu wählen. O, wie sie mir lieb ist, da ich weiß, daß du sie gerne siehst!« – »Ja, [67] das ist recht schön und es freut mich,« sprach der Major, nachdem er gelesen.

»Und das ist noch nicht Alles,« entgegnete der Graf, indem er sich dem Freunde näherte und die Stimme dämpfte, als fürchte er unsichtbare Ohren in dem leeren Zimmer. »Eugenie will mit der Frau Herzogin sprechen, und, im Falle diese uns gnädig gesinnt ist, ebenfalls an ihrem Hute eine weiße Schleife tragen.«

»Nun, Gott gebe seinen Segen dazu,« sagte der Major. Dann zog er seine Uhr hervor und fuhr fort: »Nimm mir nicht übel, Eugen, ich habe einen Fremden anzumelden. Wenn du noch ein bischen verziehen willst, so setz' dich nieder und nimm ein Buch, es dauert nicht lange.«

Der Graf hatte sein Billet sorgfältig wieder eingesteckt und erwiderte lachend: »Ich danke dir herzlich; nur die Lust, mit dir ein paar Worte zu sprechen, hielt mich hier zurück. Ohnedies habe ich ja morgen wieder die Ehre, ein Sklave dieser Räume zu sein. Deßhalb will ich mich heute meiner Freiheit freuen. Leb' wohl!«

»Heute Abend sehen wir dich?« fragte der Major.

»Natürlich, deine Frage veranlaßt mich, das Schloß schleunigst, zu verlassen. Gott der Gerechte! Man könnte mich am Ende wieder zu einer Whistpartie da behalten wollen!«

Mit diesen Worten ging er fort, der Major blieb allein zurück, nahm eine sehr wichtige Miene an, rückte Schärpe und Säbelkuppel zurecht, und erwartete auf-und abschreitend die lispelnde Meldung des Kammerdieners.

Als der Graf das Schloß verlassen hatte und über den Hof dahin schritt, ging er sehr langsam und schaute lange rückwärts zu einem Fenster hinauf, an welchem sich Blumen befanden. Dort war leider heute nichts sichtbar als eben nur diese, und das hartnäckige Hinaufschauen hätte den Grafen beinahe in Schaden gebracht, denn da er nicht auf seinen Weg blickte, gerieth er fast zwischen die Pferde [68] einer Equipage, die ziemlich rasch um die Ecke des Schlosses herumkam. Erst auf das Hoje! des Kutschers prallte er auf die Seite, und erblickte das Coupé des Polizeipräsidenten, der ihm lächelnd mit dem Finger drohte und zurief: »Welches Unglück, Graf Fohrbach, wenn ich Sie überfahren hätte!«

»Ein Unglück für uns Beide,« erwiderte lustig der Graf, »denn wie hätten das Euer Excellenz, verantwortlich für die Sicherheit der Einwohner, rechtfertigen können!«

Damit ging er seiner Wege, und der kleine Wagen des Andern beschrieb einen Bogen auf dem weichen Sande des hintern Schloßhofes und hielt vor der Thüre des General-Adjutanten Baron v. W.

Da nun wir, geneigter Leser, Flaneurs vergleichbar sind, die sich nur da aufhalten und beobachten, wo sie etwas Interessantes zu entdecken glauben, und es so unsere Art ist, Diesen zu verlassen und Jenem nachzugehen, so wollen wir den Grafen Fohrbach ruhig seiner Wohnung zuschreiten lassen und der Equipage Seiner Excellenz folgen.

Der Polizeipräsident schien in dem Hause, in welches er eintrat, erwartet worden zu sein. Ein alter Bedienter in einer maulbeerfarbenen Livrée öffnete nach einer tiefen Verbeugung den Schlag, und zog dann eine Glocke, die im ersten Stock klingelte, sobald der Präsident die Treppen hinanstieg. Oben öffnete ihm ein schwarzgekleideter Kammerdiener die Glasthüre und führte ihn durch mehrere Zimmer in das Kabinet des Generals, rollte einen Fauteuil vor das lodernde Kaminfeuer und bat ihn, einige Sekunden zu verziehen, indem Seine Excellenz gleich erscheinen würde. Der Präsident ließ sich nieder, rieb sich die Hände vor dem Feuer, befühlte darauf tastend seine Nase und blickte schmunzelnd in die lodernden Flammen.

Alle Kammern seines Gehirns waren mit Räubern und Mördern angefüllt, und sein Geist beschäftigte sich seit mehreren Tagen nur noch mit dem uns bekannten Einbruch, den er hin und her beleuchtete, um Fäden zu finden, durch deren Hilfe er in allerlei[69] schauerliche Schlupfwinkel dringen könne und mit denen er die gefürchtete Räuberbande, die also doch wirklich existirte, zu umgarnen hoffte.

Während dieser Betrachtungen blickte Seine Excellenz zuweilen an der linken Seite seines Frackes herunter, wo sich noch eine leere Fläche befand, wogegen das Knopfloch mit mehreren buntfarbigen Bändchen besetzt war. »Man wird so große Dienste zu belohnen wissen,« dachte er bei sich, »und ich werde nach dieser glorreichen Geschichte nicht länger des Sterns zu entbehren haben, der mir schon lange gehört.«

In diesem Augenblicke erschien der alte General, und beeilte sich so viel als möglich, den Polizei-Präsidenten auf seinem Fauteuil festzuhalten, denn dieser schickte sich an, mit einem Anfluge von Respektsgefühl in die Höhe zu fahren. – »Aber, alter Freund, welche Geschichten!« rief kopfschüttelnd die militärische Excellenz. »Sitzenbleiben. –Parbleu! Gerade thun, als wenn man zu Hause wäre. Alle Hagel! Wenn man sich auch nicht so viel sieht, so bleiben doch die freundschaftlichen Gefühle zwischen uns dieselben, he!«

Was nun die Bemerkung des Generals, daß sie sich selten sehen, anbelangte, so hatte der letztere vollkommen Recht, war aber selbst die Ursache, daß er sich mit seinem früher sehr intimen Freunde, damaligen geheimen Rathe, jetzt Polizei-Präsidenten, etwas brouillirt hatte. Er hatte ihm auch einstens eine seiner kleinen Bosheiten zugefügt, sich eine giftige, aber sehr komische Bemerkung bei Hofe über ihn erlaubt, freilich dadurch die Lacher auf seine Seite gebracht, aber den Freund von sich zurückgestoßen. Das war nun allerdings nach und nach wieder so weit verglichen worden, daß sich Beide in Gesellschaften freundlich begegneten, auch wohl einen Rubber zusammen spielten, aber eine eigentliche Vertraulichkeit hatte nie mehr stattgefunden. Deßhalb wunderte sich denn auch der Polizei-Präsident, als er am heutigen Morgen ein höchst amicables Billet des Generals erhielt, mit: »Mein lieber Freund!« [70] anfangend und mit: »stets Ihr Getreuester!« schließend, worin derselbe um den Besuch des Polizei-Präsidenten bat, weil ihn leider ein Unwohlsein verhindere, selbst auszugehen.

Nach dem Aussehen des Generals war Letzteres sehr glaubwürdig; seine Wangen waren, wenn möglich, noch eingefallener als sonst, sein Gang gebückter, und nachdem er dem Präsidenten beide Hände geschüttelt, ließ er sich wie erschöpft auf einem gegenüberstehenden Fauteuil nieder. »Ma foi!« sagte er, »man wird alt; doch Sie scheinen nichts davon zu spüren, sehen in der That vortrefflich aus, wie vor zwanzig Jahren, als ich ebenfalls noch im Dienste war. Vraiment, Präsident, die Ruhe ist ein Unglück. Sie bleiben geschmeidig wie polirt, während ich einroste. Enfin, was will man machen? Das ist der Lauf der Welt.«

»Euer Excellenz sollten nicht so sprechen,« erwiderte der Andere seufzend. »Ich will über meine Gesundheit nicht klagen, aber das kann ich Sie versichern: Mein gutes Aussehen ist eigentlich nur Echauffement, Erregtheit. Glauben Sie mir, dieses beständige Arbeiten, die Last, die auf mir liegt, drückt mich langsam zu Boden. Ich kann kaum aufathmen. Jetzt ruft man rechts, jetzt ruft man links. Nein, nein, Sie führen ein glücklicheres Leben, beschäftigen sich nur mit angenehmen Erinnerungen, promeniren, reiten, kurz Sie thun, was Ihnen beliebt.«

»Was an Ihrer Behauptung Wahres ist, mon cher, das wollen wir sehen. Ich habe mir nämlich vorgenommen, Ihnen einige Konfidenzen zu machen.«

»Dem alten Freunde!« erwiderte der Präsident halb gerührt, wobei er seine Nase tief herab zog und aufwärts blinzelte.

»Dem alten Freunde – ja!« sagte der General, und fuhr dann mit sehr scharfem Tone fort: »Eigentlich mehr noch dem Polizei-Präsidenten.«

Der Andere ließ erstaunt seine Nase los, welche sich frei fühlend, augenblicklich in die Höhe schnellte. Seine Augen [71] drückten großes Erstaunen aus, weßhalb der General hinzusetzte:

»Comprenez, mon enfant, dem Polizei-Präsidenten – par ce qu'il est mon ami.« Hierauf hüstelte er in sich hinein, polirte dann den Deckel seiner goldenen Schnupftabaksdose und bot seinem Gegenüber ein Prise an.

Doch bedankte sich der Präsident, denn er hatte einen wahren Abscheu vor dem Schnupfen, ja, seine Nasenflügel zitterten scheinbar entrüstet ob dieser Zumuthung.

Dagegen aber schnupfte der General für Zwei, und nachdem er sich den Tabak aus dem dünnen Schnurrbart gewischt, Cravatte und Morgenrock gesäubert, sagte er: »Eh bien, ich bin ein alter Soldat und gehe gerade darauf los. Nur bitte ich, mon cher, daß Sie mir einige Aufmerksamkeit schenken mögen. – Sie wissen, es gibt in jeder Familie einen Haken, den man nicht gern anschaut, an dem man sich stoßt, den man nicht wegbringen kann, und der unsern guten lieben Nebenmenschen Veranlassung gibt, alles Böse daran aufzuhängen.«

Der Präsident nickte schweigend mit dem Kopfe.

»Meistens,« fuhr die alte Excellenz fort, »sind es Anverwandte, die einem Kummer bereiten, oder gottlose Kinder, falsche Freunde, Ungnaden von ober herunter, aber alles das habe ich nicht. Ueberhaupt kann ich in meiner Carrière von Unglück nicht sprechen,j'ai fait rapidement mon chemin, mein Vermögen ließ mich alles mitmachen, ich lebte glücklich und zufrieden, bis mich der Teufel plagte und ich eine Frau nahm.«

»Oh!« machte der Präsident. »Sie spassen, General.«

»Soll mich – wenn ich spasse! D'honneur! Es ist das mein blutiger Ernst. Sehen Sie, Präsident, damals hätten wir Beide nicht so weit von einander stehen sollen. Ich weiß, daß Sie es immer gut mit mir meinten; Sie wären aufrichtig gewesen und hätten mir gesagt: Mon vieux, crois-mois, laß das Heirathen [72] bleiben. Nun, man hat mir wohl dergleichen unter die Nase gerieben, aber Mademoiselle war sehr schön, ich ein verblendeter alter Narr – enfin! Darüber läßt sich nichts mehr sagen, ich habe meinen Willen durchgesetzt, voilà tout.«

Der Präsident wußte nicht, was er bei dieser Erklärung für eine Miene machen sollte. Er fühlte wohl, daß der General in manchen Dingen Recht habe, aber wenn Jemand sich selbst Grobheiten sagt, so kann man ihm doch unmöglich darin beistehen. Der Chef der Polizei fühlte ein Jucken oben an seiner Nase, und um diesen Kitzel zu befriedigen, senkte er sie tief herab, – das Beste, was er thun konnte, denn dies gab ihm ein Aussehen von Nachdenken, von gerührter Theilnahme, weßhalb ihm denn auch der General die Hand auf den Arm legte und fortfuhr:

»Lassen Sie sich das gar nicht anfechten, theuerster Freund. Wie gesagt: Wir sind darüber hinaus. Nichts von Leidenschaften, nichts von Klagen, nur eine ruhige Besprechung.«

»So sei es,« entgegnete der Präsident, und dabei streckte er dem General mit einer ziemlich wehmüthigen Geberde seine Hand entgegen. »Also eine Besprechung.«

»Zum Freunde, aber auch zum Chef der Polizei.«

»Beide hören.«

»Sie kennen meine Frau, – eine schöne Frau, vraiment, die Welt sagt auch, eine geistreiche, liebenswürdige, charmante Frau, kurz, die Welt, die sonst gern Böses spricht, macht mit meiner Gemahlin eine seltene Ausnahme.«

»Und diesmal, glaube ich, hat die Welt Recht,« wagte der Präsident zu sagen.

Ein bitteres Lächeln flog über die Züge des Generals; nichtsdestoweniger aber fuhr er ruhig fort: »Da aber von eben dieser bösen Welt eine Familie, ein Haus nie ungerupft davon kommt, so ist auch in dem meinigen ein böses Prinzip, ein finsterer Geist, Schatten neben Licht – und dieser Schatten bin ich.«

[73] »Wie kann man nur so etwas denken!« sprach scheinbar entrüstet der Präsident, und knipste dann seine Nase, so daß sich dieselbe wie erschrocken abwandte. »Nur nicht dergleichen Grillen, lieber Freund! Die Welt kennt Sie, achtet und liebt Sie.«

»Amen!« sagte hämisch der General. »Das ist mir auch von der Welt sehr gleichgiltig. Doch gehen wir weiter. Meine Frau also, dieser Engel der Sanftmuth, Aufrichtigkeit, Ehrbarkeit und was man Alles will, hat mir von jeher Veranlassung zu – nun, wie soll ich sagen? – zu Mißtrauen gegeben. Anfänglich kämpfte ich es nieder: Ich schämte mich vor mir selber. Was mir Alles verdächtig erschien, kann ich nicht sagen – ein Blick, ein Wort, ein Brief, eine seltsame Bekanntschaft, Vieles war vielleicht folie et pure imagination de ma part, mais – mir ward immer klarer, in dem Leben meiner Frau sei etwas Ungehöriges, sie sei sich einer Schuld gegen mich bewußt, sie habe mir etwas zu verbergen.«

»Aber lieber Freund,« entgegnete der Polizei-Präsi dent mit sanfter Stimme, »nehmen Sie mir nicht übel: Da ist freilich viel Phantasie im Spiel. Das Leben der Baronin hier in diesem Hause liegt so klar und offen da, ihr ganzes Betragen ist durchsichtig wie Kristall. Alle Wetter!« fuhr er mit einem scheinbaren Anfluge von Humor fort, »wir von der Polizei wissen mehr, als man glaubt. Wir sehen in viele Intriguen hinein. Uns sollte ein Ehemann fragen, wenn er seiner Frau mißtraut.«

»In diesem Fall,« erwiderte spöttisch der General, »würde er viel erfahren! Wir sind ja unter uns, mon cher. Gehen Sie mir mit der Allwissenheit Ihrer Polizei. Ihr seht nur das, was auf der Oberfläche schwimmt; tief hinein wagt ihr eure Nase nicht zu stecken. – Au nom de Dieu, je vous prie, was Sie vom jetzigen Leben meiner Frau sagen, mag sehr wahr sein, aber ich denke ja an die Vergangenheit! Von da her zieht sich durch ihr Wesen ein finsterer Ton, ein schwarzer Faden, den sie nicht abbrechen kann, den sie beständig [74] mit Geist und Liebenswürdigkeit zuzudecken sucht, dem ich aber auf die Spur gekommen bin.«

»Sie erschrecken mich.«

»Ich habe meine Frau eigentlich nie daran gehindert, auszugehen, auszufahren, kurz, zu thun, was ihr beliebt. Wohl ist es wahr, daß ich ein auffallendes Umhertreiben nie leiden konnte, und mich deßhalb zuweilen veranlaßt sah, der beständigen Lust meiner Frau, Besuche zu machen, einen Zügel anzulegen. Ich gestehe es, ich bestand zuweilen, namentlich nach kleinen Scenen unter uns, darauf, daß sie das Haus nicht verlasse, und daß sie gerade dann oft ausfuhr, machte mich aufmerksam. Je l'épiais.«

»Das war sehr gefährlich, bester General.«

»So besuchte sie eines Tags eins unserer großen Magazine, ließ ihren Wagen draußen halten, ging zur vorderen Thüre hinein, zur hinteren aber wieder hinaus, so daß meine Leute glauben mußten, sie sei stundenlang mit ihren Einkäufen beschäftigt.«

»Und das war sie nicht?«

»Que Diable! Sie hören ja, daß sie den Laden verließ. Sie bediente sich eines Fiakers und fuhr in eine kleine Straße. Sie stieg an einem unscheinbaren Hause ab, ging in den ersten Stock und sah dort –«

»O General!«

»Sah dort – einen Knaben von circa sechs Jahren, mit dem sie sich auf's Zärtlichste unterhielt.«

»Einen Knaben!« –

»Einen Knaben, den sie in ihre Arme preßte, dessen Gesicht sie mit Küssen und Thränen bedeckte, den sie mit der Liebe einer Mutter an sich drückte.«

»Mit der Liebe einer Mutter?«

»So ist es Präsident.«

»Teufel! Teufel! Aber, General, Sie erzählen mir da eine [75] Geschichte, die mich ganz confus macht. – Ein Knabe; – was soll es mit dem Knaben? Wer ist der Knabe?«

»Es ist der schwarze Faden im Leben meiner Frau, von dem ich vorhin sprach, voilà l'affaire! Woher der Knabe mit seiner Wärterin so plötzlich erschienen, je l'ignore complètement, sowie Sie, lieber Freund, der Chef der Polizei. Damals aber schon war ich im Begriff, mich an Sie zu wenden, ich wollte mich mit Ihrer Hilfe des Knaben bemächtigen.«

»Das war auch der richtigste Weg, um etwas zu erfahren,« entgegnete der Präsident, der in diesem Augenblicke ganz Polizeimann war.

»Aber die Andern dachten Aehnliches,« fuhr der General mit einem trockenen Lachen fort, »und plötzlich war Kind und Wärterin verschwunden.«

»Sehen Sie, General, sehen Sie,« sprach ernst der Andere, indem er den Zeigefinger drohend erhob und ihn dann an die linke Seite seiner Nase drückte. »Hätten Sie Ihrer ersten Eingebung gefolgt und uns von der Sache benachrichtigt, so wäre uns Wärterin und Kind nicht entwischt. Ah! wir hätten ein Wort mit ihr gesprochen; man hält sich nicht so unbefugter Weise und ohne Erlaubniß in hiesiger Residenz auf; ich muß mir das ausbitten, ich, der Chef der Polizei.«

Ein leichtes Lächeln überflog bei diesen Worten das vertrocknete Gesicht des alten Generals. »Die Sache läßt sich wieder gut machen,« meinte er nach einer kleinen Pause. »Wir haben die Spur des Knaben wieder gefunden.«

»Das ist mir sehr lieb,« sagte aufathmend der Präsident. »Es ist ja für mich komplett unheimlich, von dergleichen Geschichten zu hören, die unbemerkt von der Polizei getrieben werden. – Nun also?«

»Offen gestanden, sie hatte den Knaben so gut versteckt, daß wir ihn nimmer gefunden hätten, wenn sich nicht glücklicherweise [76] bei mir Jemand gemeldet hätte, der sich anheischig machte, mich für eine ziemliche Summe auf die Spur zu leiten.«

»Und –«

»Dieser Jemand, natürlicherweise ein mauvais sujet, ist im Hause. Ich habe ihn auf heute bestellt, er kam und steht zu Ihrer Verfügung. Sie sehen, bester Präsident, daß Ihr Gang zu mir sich vielleicht belohnen könnte. Man könnte dabei noch allerlei Anderem auf die Spur kommen.!«

»Und weiß dies Subjekt, daß es vor mir, dem Polizei-Präsidenten, zu erscheinen hat?«

»Man hat ihm begreiflicherweise nichts davon gesagt. Dieu nous en garde!«

»Schön,« sprach der Andere mit großer Wichtigkeit, wobei er seine Nase fest zwischen die Finger einklemmte. »Lassen Sie ihn erscheinen, bester General, ich werde auf den ersten Blick sehen, wen wir vor uns haben. – Apropos! hat die Baronin von diesen Schritten Kenntniß? Das heißt, verstehen Sie mich wohl, kann sie eine Ahnung davon haben, daß der Aufenthalt ihres – des Knaben,« verbesserte er sich, »abermals entdeckt ist?«

»Une belle affaire, ma foi!« meinte der General, »da würden wir abermals das Nachsehen haben. Davon ahnt sie nichts. Vor kurzer Zeit noch aufgeregt, fast fieberhaft, ist sie jetzt ruhig und sicher geworden. Sie sieht sich ungestört im Besitz des geliebten Knaben.« Bei diesen letzten Worten preßte der General die Lippen aufeinander, dann öffnete er die Thüre des Nebenzimmers, und sagte dem Kammerdiener, welcher unter derselben erschien, einige Worte.

Der Polizei-Präsident war aufgestanden, machte ein paar Gänge durch's Zimmer und dann stellte er sich so in die Vertiefung des Fensters, daß der dunkle Vorhang sein Gesicht beschattete.

Jetzt öffnete sich die Thüre des Nebenzimmers wieder, und ein Mann trat herein, der, den Hut in der Hand, schüchtern und befangen [77] auf der Schwelle stehen blieb. Es war eine schmächtige Gestalt, und wenn wir dem geneigten Leser zum Ueberflusse sagen, daß er einen schwarzen Frack trug, scheu und ängstlich um sich blickte, und eine Fassung dadurch erheuchelte, daß er seinen gelben Hemdkragen in die Höhe zog, so wird Niemand mehr im Zweifel sein, daß es Herr Sträuber ist, den wir vor uns haben.

»Treten Sie näher,« sagte der General. »Ich ließ Sie zu mir bitten, um Ihnen zu sagen, daß ich die verlangte Summe bewilligen will, Sie aber dabei auffordere, mir Ihre Aussagen im Beisein eines meiner Freunde zu machen. – Wollen Sie?«

Herr Sträuber warf einen schnellen Blick auf das Fenster, an welchem der Präsident stand, doch deckte jetzt der Vorhang auch vollkommen die Gestalt desselben.

»Warum nicht!« sagte der Schuft nach einer kleinen Pause. »Doch was mir Eure Erlaucht, der Herr Graf, versprach: meinen Namen geheim zu halten, diese Bedingung wird der andere Herr wohl auch eingehen?«

»Natürlich,« versetzte der General. »So sprechen Sie. Sie wissen also, wo das bewußte Kind ist?«

»Ich weiß es.«

»Begreiflicherweise verlangen Sie zuerst Ihr Geld und werden mir dann erst den Aufenthalt nennen. Ich finde das in Ihrer Stellung nicht mehr als billig, und habe darauf gerechnet. Hier zählen Sie diese Papiere durch.«

Herr Sträuber wollte einige höfliche Einwendungen machen, doch warf der General verächtlich seinen Kopf empor und sagte in bestimmtem Tone: »Sie werden das Geld zählen und dann sprechen.«

»Halt!« mischte sich der Präsident aus seinem Versteck heraus in's Gespräch, »die Partie ist zu ungleich. Wenn Sie diesen – Herrn auch im Voraus bezahlen wollen, so wäre doch zu verlangen, daß er sich über die Glaubwürdigkeit seiner Angaben einigermaßen [78] legitimirt. Den Teufel auch! er könnte Ihnen da für ächtes Geld eine falsche Adresse geben.«

Für Leute, wie Herr Sträuber, die mit einem schlechten Gewissen behaftet, begreiflicherweise in einer fortwährenden Angst leben, ist es immer unheimlich, eine Stimme zu hören, wenn man das dazu gehörige Gesicht nicht sehen kann. Umsonst versuchte er es, hinter den Vorhang zu schielen, er mußte sich endlich zu einer Antwort bequemen, da nun auch der General der Ansicht des Andern beitrat.

»Und wie soll ich mich vor den Herren legitimiren?« fragte zaghaft Herr Sträuber.

»Auf die einfachste Art von der Welt. Wenn Sie wirklich dem Aufenthalt des Kindes nachgespürt haben, so beschäftigen Sie sich schon längere Zeit damit und werden also ersucht, uns zu sagen, wo das Kind in hiesiger Stadt sich früher befand, und wie es an seinen jetzigen Aufenthaltsort kam.«

Herr Sträuber schluckte einige Mal und blickte verlegen zu Boden. Er drehte seinen abgerissenen Hut zwischen den Fingern, und wenn ihm auch die angebotene Summe recht hübsch vorkam, und bereits sehr erreichbar schien, so war ihm doch die auferlegte Verbindlichkeit nicht angenehm. Den jetzigen Aufenthalt des Knaben anzugeben, darin hätte er nichts Arges gesehen, namentlich keine Verrätherei, vor der er sich über alle Maßen scheute, aber wenn er von den früheren Vorfällen, jenen Knaben betreffend, sprach, so mußte er auch die Wohnung des seligen Schwemmer nennen, ja er mußte eine gewisse Person auftreten lassen, eine Person, bei der ihn ein tiefer Schauder überflog, wenn er nur an sie dachte. Herr Sträuber beschloß, klug zu Werk zu gehen, deßhalb erhob er seine Augen, blickte den General so treuherzig an, als ihm nur möglich war, und sagte: »Verzeihen mir Euer Erlaucht, Herr Graf, so war eigentlich die Bedingung nicht, unter welcher ich mich verpflichtete, aber da es dem andern Herrn wünschenswert erscheint, [79] so stehe ich gern zu Befehl. Der Knabe, um den es sich handelt, wohnte in der E.'schen Straße, im Haus Numero zehn bei einer gewissen Frau Fischer, die seine Wärterin war.«

»Ist das nicht vielleicht seine Mutter?« fragte scheinbar unbefangen der General.

Herr Sträuber lächelte eigenthümlich, als er antwortete: »Darüber habe ich keine Gewißheit; so viel ich erfuhr, war Frau Fischer die Wärterin.«

»Weiter!«

»Die Angehörigen des Knaben, die ich übrigens nicht kenne,« fuhr Herr Sträuber fort, »fanden es nun mit einem Male angemessen, denselben verschwinden zu lassen.«

»Aus welchem Grunde?« fragte der General.

»Euer Erlaucht, ich weiß das nicht. Die Wärterin blieb in dem Hause Numero zehn wohnen, der Knabe kam durch die Vermittlung einiger Personen, die ich nicht kenne, in eine Privat-Erziehungsanstalt hiesiger Stadt, wo er es, wie ich vermuthe, sehr gut hatte.«

»Richtig, c'est cela même,« sagte nachdenkend der General. »Und aus dieser Privaterziehungsanstalt verschwand clandestinement das Kind eines Tags auf geheimnißvolle Weise, wie Sie mir selbst sagten.«

»Wo war diese Privaterziehungsanstalt?« fragte der Polizei-Präsident.

Herr Sträuber hustete verlegen, zupfte an seinen Vatermördern und entgegnete nach einem kleinen Stillschweigen: »Die gnädigen Herren werden mir vielleicht den Namen dieser Anstalt erlassen; dieselbe war auf gegenseitige Verschwiegenheit gegründet, auch kann der Name hier nichts zur Sache thun, da der Eigenthümer dieser an sich vortrefflichen Anstalt vor kurzer Zeit starb, tief betrauert von seinen Pfleglingen.«

Bei diesen Worten trat der Polizei-Präsident rasch aus der [80] Fensternische hervor, und als er sich dem Herrn Sträuber genähert, ihm fest in das Gesicht gesehen, schien diesen alle Geistesgegenwart zu verlassen, seine Kniee knickten zusammen, und seine ohnedies ungesunde Gesichtsfarbe wurde fahl und bleich. Er hatte augenblicklich den Chef der Polizei erkannt, und ihn überschlich plötzlich die Idee, er selbst stehe hier an einem sonderbaren Lebensabschnitte.

Der Präsident wechselte einen Blick mit dem General, dann, wandte er sich an den so auffallend Erschreckten und sagte mit ruhiger, aber sehr ernster Stimme: »Der würdige, vor kurzer Zeit verstorbene Vorsteher jener Privaterziehungsanstalt hieß Schwemmer und war« – das Folgende sprach er zum General – »einer der abgefeimtesten Spitzbuben, die je in hiesiger Stadt gelebt. Dabei schlau wie der Teufel, wußte er beständig durchzuschlüpfen, und gewährte nie eine Handhabe, woran man ihn fassen konnte. Er hilt allerdings eine Kleinkinderbewahranstalt, doch war dies Geschäft nur der Deckmantel für andere, und wir sind fest überzeugt, daß in jenem Hause die gleichen Zusammenkünfte gehalten wurden, wie in dem bekannten Fuchsbau –«

Herr Sträuber zuckte.

»– Und daß eben dieser Schwemmer und sein Weib Hehlerei, Betrug, Kuppelei im Großen betrieben. Ah! wahrhaftig, wir sind auf der richtigen Fährte, alle Fäden in meiner Hand!« Dabei faßte der Präsident sanft seine Nase und zog sie abwärts, so daß seine Augen bequem die Stelle auf dem Frack erblicken konnten, wo noch immer der gewisse Stern fehlte.

Herr Sträuber hatte sich ziemlich rasch wieder von seinem Schrecken erholt. Er heuchelte ein großes Erstaunen, preßte beide Hände unter seinem Hute zusammen, und sagte mit großer Schlauheit, während er die Achseln zuckte: »Das hätte ich nimmer gedacht. Mir wurde das Haus als ganz respektabel geschildert, sonst hätte ich meinen Fuß nie hinein gesetzt. Beim Himmel! in welche Verlegenheiten kann man unschuldigerweise kommen! Ich ging nur [81] dorthin, um mich nach dem Knaben zu erkundigen. Wenn ich bedenke, mein ehrlicher Name hätte Schaden leiden können!«

Der Präsident hustete bedeutungsvoll und zwinkerte dem General aus den Augenwinkeln so schnell zu, daß der Andere, der gerade zerknirscht zu Boden schaute, es nicht sah. »Von dem, was Sie sagen, sind wir vollkommen überzeugt,« sprach der Chef der Polizei. »Wer sieht den Leuten in's Herz! Beruhigen sie sich, was wir verhandeln, bleibt streng unter uns; fahren Sie aber in Ihrem Berichte fort, ich habe wahrhaftig nicht mehr viel Zeit zu verlieren.«

Einen Augenblick zauderte der Angeredete, doch hielt der General wie absichtslos das Papier mit den Banknoten in die Höhe, und es war das wie eine Angel mit trefflichem Köder, auf welche Herr Sträuber zuschnappte und sich daran verbiß. – »Der Knabe also war bei diesem verruchten Schwemmer, und ich erfuhr, daß es dem Kinde dort nicht gerade besonders gefalle, daß es gewaltsam zurückgehalten werde, konnte aber nichts Böses dabei ahnen, denn ich hielt den Knaben für ein unartiges Bürschlein, Herrn Schwemmer aber für einen Biedermann. So kann man sich irren, meine gnädige Herren. – Ja, sogar als ich erfuhr, daß dem Knaben nachgeforscht würde, vermuthete ich noch nichts Böses, und ich gestehe offenherzig, nur die Hoffnung auf einen großen Gewinn bewog mich, mit den Leuten, die jenem Kinde nachforschten, in Unterhandlung zu treten. Und so kam ich vor seine Erlaucht den Herrn Grafen.«

»Fast ist es so, doch eine andere Lesart. Wodurch dieser Herr erfuhr, ich lasse die Spur jenes Kindes suchen, vraiment, ich weiß es nicht – genug, er bot sich mir an, und ich trug kein Bedenken, seine Hilfe anzunehmen.«

»Das ist an sich auch gleichgiltig,« sagte der Präsident, »Jetzt haben sie nichts weiter zu thun, als mit wenigen Worten Ihr Geld zu verdienen.«

[82] »Und dann läßt man mich ruhig meiner Wege ziehen?« fragte Sträuber vorsichtig.

»Wer wird Sie halten?« versetzte der General trotz des bedeutsamen Hustens seines Freundes. »Sie geben die Adresse, hier ist das Geld und Sie verlassen ungekränkt das Haus. Je vous en donne ma parole.«

Der Präsident zuckte mit den Achseln und riß ungeduldig an seiner Nase.

»Euer Erlaucht,« sprach Herr Sträuber offenbar befriedigt, »wissen Sie die Schilderstraße? Am Ende derselben, fast wo sie in die Wallstraße mündet, befindet sich ein großer Brunnen mit Einem Rohr. Dies Rohr zeigt gerade auf ein kleines Haus Numero sechsunddreißig. Dort ist der Knabe.«

»Und wem gehört das Haus?«

»Das kann ich nicht sagen. Ich weiß nur so viel, daß er dort bei seiner ehemaligen Wärterin, der Frau Fischer, wohnt und sich unter der Aufsicht eines Mannes befindet, der ihn unterrichtet, und eine Art Hofmeister ist.«

»Ich muß gestehen,« sagte ingrimmig der General, »man sorgt für den Buben wie für einen kleinen Prinzen. Er muß par Dieu eine vornehme Herkunft und reiche Beschützer haben. Und etwas Näheres über den Mann, seinen Hofmeister wissen Sie nicht?«

»Ich sah ihn einmal mit dem Knaben spazieren gehen: es ist das eine sonderbare Persönlichkeit, sehr klein mit vollkommen ausgewachsenem Oberkörper und Kopf, aber mit ziemlich verwahrlosten Beinen.«

Der Polizei-Präsident stand da wie vom Schlage getroffen. Genau so hatte Herr Blaffer das Signalement seines ehemaligen Commis angegeben. Sollte ihm vielleicht von dieser unbekannten Seite auf die Spur desselben geholfen werden? – »Fassung! Fassung!« sprach er zu sich selber, wobei er sich, um sein überraschtes Gesicht zu verbergen, wieder angelegentlich mit seiner Nase beschäftigte, [83] die er auf allen Seiten streichelte. »Das muß ja ein Zwerg sein,« brachte er endlich ziemlich unbefangen hervor.

»Fast so,« entgegnete Herr Sträuber. »Auf jeden Fall komisch genug, wenn man den martialischen Gesichtsausdruck des kleinen Mannes betrachtet.«

»Was kümmert uns der!« sprach ungeduldig der General. »Hier ist Ihr Geld.« Er reichte ihm das Packetchen, doch als Herr Sträuber gierig darnach langte, zog es der General einen Zoll zurück, wobei er sagte:

»Wenn es Ihnen genehm wäre, könnten Sie noch eine kleine Zulage von circa fünfzig Gulden verdienen, oui, certes, cinquante florins. Ich bin nämlich überzeugt, seit Sie jenes Haus, den Aufenthalt des Knaben entdeckt, haben Sie dasselbe öfters umschlichen und wissen genau, ob und wer sonst noch da aus- und eingeht. – Fünfzig Gulden, Herr, für eine freundliche Mittheilung – pour un mot, Monsieur.«

Der Chef der Polizei stand da wie auf Kohlen, es prickelte ihn in allen Gliedern. Vielleicht wußte dieser Mensch auch den Namen des sogenannten Hofmeisters!

Herr Sträuber schien eine Weile unschlüssig, doch wollen wir dem geneigten Leser gestehen, daß er bedeutende Reiseprojekte hegte und bei sich dachte: »Fünfzig Gulden bringen mich schon einige Meilen weiter. Und im Uebrigen, was habe ich für Verpflichtungen gegen Leute, die ich gar nicht kenne? – Allerdings,« sprach er laut, sich gegen den General wendend, »umschlich ich das Haus häufig, um mir Gewißheit zu verschaffen.«

»Und es kamen Besuche?«

»Zuweilen ein junger Mann, eine ziemlich hohe Figur, schlank, in einen weiten Mantel gewickelt.«

»Que Diable! Was geht mich ein Mann an!« rief ungeduldig der General. – »Und vielleicht doch! Wer kam sonst noch?«

»Auch eine Dame kam zuweilen in einem Wagen.«

[84] »Ah!«

»Eine schöne junge Dame mit blondem Haar und einer weichen, angenehmen Stimme. Ich vernahm das, wie sie dem Kutscher sagte, er solle in einer Stunde wieder kommen.«

Die Augen des Generals glühten wie die einer wilden Katze. Der Präsident biß sich auf die Lippen und zuckte bedeutsam die Achseln.

»Also die Dame hätten wir,« sprach der General mit zitternder Stimme. »Jetzt interessirt mich auch der Mann.«

»Nicht wahr?« rief eifrig der Präsident – »der kleine zwergartige Hofmeister?«

»Zum Teufel mit Ihrem Hofmeister! Ich meine den Andern, den im Mantel. Er war hoch und schlank? – dunkles Haar?«

»Erlaucht werden mir verzeihen, es war gewiß blond.«

»Meinetwegen auch blond. Und um welche Zeit ging er gewöhnlich hin? – je vous prie.«

»Sehr unbestimmt – meistens spät in der Nacht.«

»Aber dann war sie nicht da!«

»Nur einmal, da kamen sie mit einander in einem kleinen eleganten Wagen. Da war sie sehr reich gekleidet, ich glaube in weißer Seide mit Spitzen und Brillanten; ich werde das nicht vergessen, denn da der Wagen nicht dicht an's Haus fahren konnte, und es ziemlich schmutzig war, so trug sie der Mann in die Hausthüre.«

Die Züge des Generals überflog bei diesen Worten eine tiefe Röthe, die aber sein graues Gesicht gelblich färbte. Seine Augen starrten vor sich hin, und mit den Händen suchte er in den Taschen seines Rockes umher, wobei er eine Handvoll zusammen geknitterter Papiere hervorbrachte, welche er dem Berichterstatter einhändigte.

Besorgt trat ihm der Chef der Polizei näher, legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: »Ruhig, mein Freund! Lassen Sie das gut sein, wir wollen unsere Schritte schon thun. Erlauben [85] Sie mir nur einen Augenblick, diesen Mann noch über den Hofmeister auszufragen. Das ist eine Sache, die mich von meinem Standpunkte aus höchlich interessirt.«

Der General seufzte tief auf, fuhr sich mit der Hand über die Augen, und als er mit dem Kopfe genickt, ließ er sich auf einen Fauteuil niedergleiten, wo er in tiefem Nachsinnen zusammensank.

Eilfertig hatte Herr Sträuber sein Geld eingeschoben und wandte sich mit einer tiefen Verbeugung nach der Thüre. »Noch einen Augenblick!« rief ihm der Polizei-Präsident nach. Was Sie von dem Hofmeister sagen, interessirt mich. Wissen Sie vielleicht den Namen desselben?

»O ja,« entgegnete Herr Sträuber. »Es ist ein sonderbarer Name; ich hörte ihn, aber ich habe ihn wohl vergessen. Warten Euer Gnaden einen Augenblick – Herr Axt – nein! – Herr Messer – auch nicht – aber es ist etwas Schneidiges dabei.«

»Herr Beil?« sprach erwartungsvoll der Präsident.

»Richtig – Beil, so heißt er. Ja wohl, Herr Beil, darauf können Sie sich fest verlassen.«

Bei diesen Worten drückte sich Herr Sträuber rückwärts zur Thüre hinaus und eilte, so schnell er konnte, die Treppen hinab. Erst als er auf der Straße angekommen war, athmete er tief auf, drückte mit der Hand an das Geldpaket, das er auf der Brust verwahrt hatte, und wandte seine hastigen Schritte gegen den Eisenbahnhof. Er dachte an eine angenehme Fahrt, an frische Winterluft, vorüberfliegende Bäume und Häuser und ein gutes Nachtquartier, wo er in der warmen Stube bei einem gewählten Nachtessen sitzen wolle, der Stadt, dem Fuchsbau, der Polizei, sogar ihm ein Schnippchen schlagen, und bei einem guten Glase Wein überlegen, was weiter zu thun sei.

So dachte Herr Sträuber, und ihm ahnte nicht, daß derweilen ein finsteres Verhängniß hinter ihm drein schreite, die ewige Gerechtigkeit, [86] – diesmal in blauer Uniform mit einem dreieckigen Hut, unter welchem eine rothe spitze Nase drohend hervorsah.

Der Polizei-Präsident war an den Fauteuil seines Freundes getreten und hatte mit wirklichem Mitgefühl gesagt: »Bester General, das ist in der That eine verwickelte Geschichte. Sie wollten mich vorhin nicht zu Worte kommen lassen, als ich mich nach jenem Hofmeister erkundigte. Wie Sie hörten, that ich dies aber doch, und die Auskunft, die ich erhielt, macht mich schaudern. So wehe es mir thut, kann ich es Ihnen doch nicht verschweigen: Jener Hofmeister – Beil heißt er – ist der Theilnahme an einem kürzlich verübten Einbruch dringend verdächtig, und ist derselbe jedenfalls Mitglied einer weit verzweigten Diebesbande, die in hiesiger Stadt ihr Unwesen trieb, der wir aber, Gott sei Dank! auf der Spur sind, und die wir überraschen und schonungslos aufgreifen müssen. Schonungslos sage ich, und wir müssen, so leid es mir thut, mit dem Hofmeister jenes Knaben anfangen.«

Hier schwieg der Präsident einen Augenblick, und erst als der General achselzuckend mit dumpfer Stimme entgegnete: »Thun Sie so, Sie haben Recht,« fuhr er fort:

»Dabei aber, bester Freund, könnte vielleicht der Fall eintreten, daß man auch jenen jungen Mann, der dort zuweilen hingehen soll, in dem Hause anträfe.«

»Sie wollen sagen: jene Frau,« entgegnete zähneknirschend der General.

»Auch das wäre möglich, und es sollte mir wahrhaftig leid thun,« setzte der Präsident wie sich entschuldigend hinzu. »Doch könnte man dafür sorgen, daß jene Dame nicht dort getroffen würde.«

»Im Gegentheil!« rief der General mit funkelnden Augen, wobei er von seinem Stuhl in die Höhe sprang. »Man soll sie finden, au nom de Dieu! Man soll sie finden, et je m'en charge, président. Bereiten Sie Alles vor, das Haus zu durchsuchen, aber warten Sie, bis Sie von mir zwei Zeilen erhalten. Das wird[87] gewiß heute noch geschehen. Dann aber greift, was ihr findet, ohne Schonung, und haltet fest, was da ist. In demselben Augenblicke werde ich mir allerhöchsten Ortes eine Audienz ausbitten – point de menagéments, je vous prie!«

Er reichte dem Polizei-Präsidenten schweigend die Hand, und dieser, die Gemüthsstimmung des Generals verstehend, entfernte sich schweigend.

76. Kapitel
Sechsundsiebenzigstes Kapitel.
Achselbänder.

Gewöhnlich wurden jedes Jahr bei Hof zwei große Maskenbälle gegeben. Es war das so herkömmlich, und wenn sich vielleicht auch Niemand besonders dabei amusirte, so sah man diesen Festen doch mit einigem Interesse und Neugierde entgegen; es war eine Unterbrechung in dem beständigen Einerlei der Diners und Frühstücke, der Hofkonzerte und gewöhnlichen kleineren und größeren Bälle. Es fiel da meistens allerlei vor, worüber man ein paar Wochen lang sprechen konnte, es gab da Kostüme zu bewundern und zu bekriteln. Selbst das Hofmarschallamt, das bei diesen Festen Arbeit und Sorge genug hatte, liebte dergleichen ein paar Mal im Jahr; es war das, wie wenn das Militär in neuen Anzügen, Waffen und Fahnen paradirt – so glänzte dann der Hofmarschall mit den besten Livréen, den schönsten Sälen, prächtiger Beleuchtung und dem großen Silberzeug. Deßhalb glich auch schon mehrere Tage vor diesen großen Bällen ein Theil des Schlosses, namentlich der, wo sich die Küchen befanden, einem Bienenschwarme, und wie in einem solchen summte es auch hier aus und ein. Die Küchenjungen glühten vor Eifer und Maulschellen, die Schloßknechte liefen in einem beständigen Hundetrab hin und her, die gesetzteren [88] Lakaien nahmen in den Gängen und Zimmern des Schlosses noch verstohlener als sonst ihre Prise, und erinnerten sich an Carnevalbälle aus diesem oder jenem Jahrgang, wo dies und jenes geschehen war, meistens an und für sich etwas sehr Unbedeutendes, aber unvergeßlich für das Gemüth eines Hofbedienten, als zum Beispiel eine abgetretene Schleppe, eine verschüttete Sauce, eine allerhöchste Nase dem Hofmarschallamt gespendet, oder dergleichen mehr. Gefährlich war es übrigens an diesen Tagen in den Küchen selbst und zwar an den Plätzen, wo der regierende Koch Hochselbst zu komponiren und zu arbeiten pflegte. Diesen Ort umschlichen die Küchenjungen mit wahrem Grausen und schätzten sich glücklich, wenn sie eine Kasserole überbracht, ohne dafür einen Fußtritt oder eine Kopfnuß eingehandelt zu haben.

In den Sälen wurden die Kronleuchter nachgesehen, in den Nebenzimmern Buffets und Tische aufgeschlagen, die Treppen mit Teppichen bedeckt, und das alles von den höheren Hofbediensteten auf's Sorgfältigste überwacht. Sogar der Hofmarschall war an diesen Tagen ernster als gewöhnlich, seufzte zuweilen, zog die Augenbrauen in die Höhe und dachte gern an jenen Moment, wo Alles glücklich vorüber sein werde und wo sich die höchsten Herrschaften nach genug ertragener Langeweile müde, aber zufrieden in ihre Gemächer zurückziehen würden.

Wenn auch in den übrigen Theilen des Schlosses, die mit den festlichen Räumen in gar keiner Verbindung standen, äußerlich an diesen Tagen keine Veränderung wahrzunehmen war, so beschäftigte man sich doch auch hier mehr oder minder mit dem bevorstehenden Feste. Selbst im Adjutantenzimmer wurde die Dominofrage verhandelt: ob Seine Majestät dieses Jahr Höchstselbst vermummt erscheinen werde und welche Farben man zu Ihrem Anzuge bestimmen würde? Solche Gespräche hörte der Leibkammerdiener mit einem unaussprechlichen Lächeln an, denn er allein wäre im Stande gewesen, die Herren über die Sache au fait zu setzen.

[89] Daß die eingeladene jüngere Generation sich auf's Eifrigste mit ihren Kostümen beschäftigte, brauchen wir wohl nicht erst zu bemerken. Und da man an diesem Tage große Geheimnisse vor einander hatte und sich gerne Ueberraschungen bereitete, so waren die Garderoben der Herren und Damen, wo Schneider, Nähterin und Kammerjungfer arbeiteten, für Uneingeweihte fast hermetisch verschlossen.

Am Tage des Balles selbst klärte sich nun das wilde Getreibe in den unteren Räumen des Schlosses so ziemlich ab und es begann dort Stille und Ruhe zu herrschen – die drückende Stille vor einem Sturm. Selbst die Küchentyrannen waren umgänglicher geworden: man mußte nun eben Alles gehen lassen, wie es ging. An der fertigen Arbeit war nichts mehr zu ändern, selbst die gewaltigste Hand konnte nicht mehr die Speichen des Rades regieren, das unaufhaltsam den Berg hinab rollte. Nur in den oberen Räumen des Schlosses wurde fast noch emsiger gearbeitet, als an den vorhergehenden Tagen, namentlich in den Garderoben der Hofdamen und Ehrenfräuleins der Frau Herzogin. Dieselbe hatte sich, wie sie gern zu thun pflegte, eine kleine Ueberraschung ausgesonnen. Dem Fest-Programme nach sollte sie mit ihren Damen erst auf dem Balle zum Gefolge Ihrer Majestät stoßen. Daran änderte sie nun freilich nichts, doch wollte sie vorher maskirt erscheinen und sich selbst mit den höchsten Herrschaften einige unschuldige Spässe erlauben. Sie hatte sich das Kostüm einer Zauberin gewählt und ihre Damen sollten sie als phantastisch gekleidete Gehilfinnen oder vielmehr dienende Geister umgeben. Den Damen war dieses Projekt erst zwei Tage vor dem Ball und zwar mit dem allerhöchsten Wunsche der strengsten Geheimhaltung anvertraut und ihnen dabei befohlen worden, nach mitgetheilter Figurine schleunigst für ihre Kostüme zu sorgen.

Daran wurde nun auf's Emsigste gearbeitet, und da es ein trüber nebeliger Tag war, so hatte man in der Garderobe der [90] Fräulein Eugenie von S. schon in früher Nachmittagsstunde die Fenstervorhänge herabgelassen und Lichter angezündet. Tische und Stühle waren mit seidenen und durchsichtigen Stoffen bedeckt; geöffnete Kartons standen auf dem Fußboden und zeigten ihren bunten Inhalt: künstliche Blumen, Bänder, Federn. An einem Arbeitstische in der Ecke des Zimmers saßen zwei Mädchen, die einen langen Schleier von grauer Seidengaze vor sich ausgebreitet hatten und beschäftigt waren, denselben mit kleinen silbernen Sternen zu bedecken. Eins dieser Mädchen war schlank und schmächtig, und sein schmales, seines, etwas blasses Gesicht wurde von starkem blondem Haar beschattet. Die Andere, die um mehrere Jahre älter erschien, war eine kräftige, derbe Person, ihr Gesicht hatte eine gesunde Farbe und dunkle, lebhafte Augen, sowie etwas stark aufgeworfene Lippen gaben ihm einen lustigen, ja beinahe kecken Ausdruck.

Die Blonde nähte eifrig darauf los, während sich die Andere in den Stuhl zurücklehnte, den einen Fuß auf einen Schemel setzte und sich die Arbeit wohlgefällig betrachtete. Sie hielt eine eingefädelte Nadel in der einen Hand, sowie einen der silbernen Sterne in der andern, und meinte lachend, sie möchte auch wohl eine vornehme Dame sein und sich einmal in solch prachtvollem Anzuge in einem glänzend erleuchteten Saale bewegen. »Eigentlich wäre ein solch' langer Schleier bei einem Balle doch nichts für mich,« fuhr sie nach einer Pause fort, »denn weißt du, Henriette, ich tanze gern und daran hindert einen doch die Schleppe des Schleiers.«

»So ist der Geschmack verschieden; ich mache mir aus dem Tanze gar nichts. Aber das kann ich schon sagen, einmal so einen glänzenden Ball zu sehen, schön vermummt, würde mir auch vielen Spaß machen.«

Die Andere begann ihren Stern aufzuheften und sagte zwischen der Arbeit, wobei sie einen Augenblick mit pfiffigem Gesichtausdruck aufwärts schielte: »Weißt du wohl, daß es gar nicht so [91] schwer wäre, so einen Ball anzusehen? Wir brauchten uns nur ein paar Dominos zu verschaffen, was hier im Schlosse nicht schwer wäre und keck zur Thüre hinein zu gehen. Es würde uns Niemand kennen.«

»Du bist in der That unverbesserlich, Nanett,« erwiderte die Blonde mit leichtem Kopfschütteln. »Ich glaube, du wärest im Stande, so etwas auszuführen!«

»Und warum denn nicht? Man muß das Leben genießen, so lange man kann. Aber du bist auch zu gar nichts zu gebrauchen.«

»Ich thue meine Pflicht nach meinen Kräften.«

»Das muß dir der Neid lassen. Und dein Fräulein könnte sich keine bessere Kammerjungfer wünschen, als du bist; immer zu Hause, immer am Arbeiten und verschlossen wie das Grab. Du bist wirklich ein Muster.«

»Wenn du das einsiehst, Nanett,« erwiderte die Blonde nach einer Pause, »und es dein Ernst ist, was du eben sagtest, so hättest du dich wohl ein wenig nach mir richten und dich auch in mancher Beziehung ändern können.«

»Ich mich noch mehr ändern!« rief Nanette mit erkünsteltem Erstaunen, wobei sie aber lustig die Hände zusammenschlug. »Bin ich nicht ganz und gar anders geworden, seit wir uns zum ersten Mal gesehen? Weißt du noch, an jenem Abend in dem finstern Hause, dem Fuchsbau!«

»O davon schweige mir! Wenn ich den Namen höre, so fröstelt es mich.«

»Ja, es war allerdings zu der Zeit unangenehm, aber es hatte auch wieder seine schönen Seiten. Ich komme mir jetzt wahrhaftig oft wie ein gefangener Vogel vor. Und wenn ich so zuweilen in das Land hinaus schaue und dabei zufällig auf der Straße eine Orgel höre, so erfaßt mich oftmals eine solche Sehnsucht und Wehmuth, daß ich laut hinaus weinen könnte. Wahrhaftig, Henriette, ich weiß nicht, was ich an dir für einen Narren gefressen habe [92] und weßhalb ich Alles thun muß, was du von mir verlangst. Aber wenn du nicht da wärest, hätte ich schon lange meine Harfe wieder genommen und wäre hinausgezogen in die freie Natur.«

»Das verstehe ich nicht,« entgegnete die Blonde mit einem traurigen Lächeln. »Hast du hier nicht Alles, was du wünschest? Die Damen, bei denen du arbeitest, mögen dich leiden, ja, sie lachen über deine lustige Laune, und wenn du oft singst, statt zu nähen, so beschenken sie dich noch obendrein. Dabei hast du ein gutes Einkommen und kannst etwas zurücklegen für deine Heirath, von der du zuweilen sprichst.«

Nanette strich sich die Haare aus dem Gesicht, dehnte sich ein wenig auf ihrem Stuhle und erwiderte dann: »Das alles hat der gefangene Vogel auch; er wohnt in einem hübschen Hause, er bekommt gutes Essen und Trinken und darf singen. Aber nur so lange es seiner Herrin gefällt! Denn wenn er einmal recht anfängt zu schmettern und zu jubiliren, so hängt man ein Tuch über seinen Käfig, damit er aufhört. Was nun meine Heirath anbelangt, so ist das eine kuriose Geschichte. Du weißt, Schatz – ich sagte es dir ja damals – daß ich bei den Andern eine Verbindung hatte, natürlicherweise ließ ich die fahren, als ich ein neues Leben anfing. Doch that es mir recht leid und ich kann's immer noch nicht vergessen. Der Leiblakai will mich allerdings heirathen, aber er ist so furchtbar zahm und geschniegelt; er kämmt sein bischen Haar so glatt auf den Kopf und hat beständig ein so wichtiges Gesicht. – So!« – Bei diesen Worten machte sie eine so komische Grimasse, daß die Andere eben laut auflachen mußte. »Gewiß, Henriette,« fuhr das ehemalige Harfenmädchen fort, »glaub mir, du bist es allein, die mich zurückhält, und wenn du dich je einmal verändern würdest, so könnte ich mich allein damit trösten, daß ich alsdann wieder in das Land hinaus zöge und laut in Feld und Wald sänge:


[93]
Im Dörfchen, nicht weit ist's von hier,
Da lag ich einmal im Quartier.
Tralalalala – a! –
Da lag ich einmal im Quartier.«

»Um Gotteswillen!« bat die Andere besorgt, »gleich wird das gnädige Fräulein kommen und sich nach dem Lärmen erkundigen. Mach' fort, mach' fort, wir haben noch viele Sterne aufzuheften.«

»Bah! du drohst mir wie den kleinen Kindern. Das gnädige Fräulein ist gar nicht da, du weißt so gut wie ich, daß sie ausgefahren ist. Ich weiß auch wohin,« fuhr sie schelmisch lachend fort.

»Und wohin denn?«

»Zu der Frau Majorin von S. Es ist dir bekannt, daß ich häufig da arbeite, und fast jedes Mal, wenn ich da bin, kommt auch dein gnädiges Fräulein. Und gleich darauf, wie das Amen nach der Predigt –«

»Nun, was denn? Sprich nur weiter!«

»Gleicht darauf fährt ein kleiner Wagen vor und der Herr Graf Fohrbach erscheinen. Oder wenn er nicht herauf kommt, so reitet er wenigstens am Hause vorbei. Aber das kennst du gerade so gut wie ich. Nicht wahr? – Sage mir doch,« fuhr sie nach einigem Stillschweigen fort, als die Andere keine Antwort gab, »weißt du, ob bald die Hochzeit sein wird?«

»Ich weiß von gar nichts,« erwiderte Henriette bestimmt.

»Nun, so will ich dir's sagen. Sie werden sich heirathen mit dem frühesten Frühjahr und eine große Reise machen. Siehst du, glückselige Kreatur, da darfst du auch mit! Und ich – ich sollte hier bleiben in der finstern Stadt? Nein, liebe Henriette, das wirst du nicht von mir verlangen. Glaube mir,« – dies sprach sie mit auffallend ernstem Tone – »so wehe es mir in dem Falle thut, dich zu verlieren, so freue ich mich doch auf den Zeitpunkt, wo ich meine Freiheit wieder erhalte.«

[94] »Hat es soeben nicht geklopft?« sagte Henriette aufblickend.

»Ich habe nichts gehört.«

»Doch, doch! es klopft wieder.«

»Richtig! wer kann da kommen? – Herein!«

»Du bist recht unvorsichtig,« flüsterte die Kammerjungfer. »Du weißt ja, wir dürfen für Niemand zu Haus sein. Glücklicherweise habe ich den Riegel vorgeschoben. Sieh, man bemüht sich vergeblich, die Thüre aufzumachen.«

Wirklich wurde von außen mehrmals an der Klinke gedreht, und als sich das Schloß nicht öffnete, von Neuem geklopft.

»Was machen wir?« fragte Nanette. »Man hat uns jedenfalls draußen sprechen hören.«

»Glaubst du? Das wäre unangenehm.«

»Allerdings; deßhalb muß man wenigstens nachsehen, wer da ist.«

»Aber es könnte Jemand sein, der dem gnädigen Fräulein unangenehm wäre.«

»Wenn ich mich unter die Thüre stelle,« entgegnete Nanette mit großer Bestimmtheit, »so kommt nur herein, wen ich gerade herein lasse. Ich wollte sehen, wer gegen meinen Willen eindringt.« Damit erhob sie sich, warf den Kopf trotzig in die Höhe und sprach mit lautem Tone, als sich das Klopfen immer wiederholte: »Nur Ruhe da draußen; man kommt schon.« Sie hatte die Thüre erreicht, schob den Riegel zurück und öffnete sie ein klein wenig, um hinaus zu sehen. Doch wurde von außen so stark daran gedrückt, daß Nanette ihre ganze Kraft brauchte, um nicht weggedrängt zu werden. »Was soll denn das?« rief sie zornig. »Wer untersteht sich –«

Doch kam sie nicht zur Beendigung dieses Satzes. Mit dem Ausdruck des größten Schreckens, als habe sie auf dem Gange ein Gespenst gesehen, fuhr das sonst so muthvolle Mädchen zurück. »Jesus Maria!« rief sie, indem sie die Hände auf das Gesicht [95] preßte, dann schwankte sie erschrocken zurück bis zu ihrem Stuhle hin, auf den sie lautlos niedersank.

Die Thüre war offen stehen geblieben, und die Kammerjungfer, welche bei dem sonderbaren Benehmen ihrer Gefährtin ebenfalls erschrocken aufgesprungen war, sah auf dem halbdunklen Gange draußen eine Gestalt, die in einen großen Mantel gehüllt war. Nur der Kopf derselben war frei, und als sie in die leuchtenden Augen schaute, stürmte eine schreckliche Erinnerung auch auf sie so heftig ein, daß sie sich am Tische halten mußte. – Großer Gott! ja, sie erkannte den Blick, die ganze Gestalt war ihr unvergeßlich, denn sie hatte sie oft in wilden Träumen vor sich gesehen. Das waren die Augen, die sie ernst aber nicht unfreundlich angeschaut, das war der Arm, der sie aufrecht erhalten, das waren die hohen glänzenden Stiefel, welche ihre heiße Wange berührt hatten und deren Kälte und Glätte sie wieder zum Bewußtsein erweckt.

Die Gestalt trat langsam in das Zimmer und wie sie das that, erhob sich das ehemalige Harfenmädchen mit dem Ausdruck des tiefsten Schreckens von ihrem Stuhle und ohne einen Blick von dem Eintretenden wegzuwenden, zog sie sich langsam zum Fenster zu rück.

Der im Mantel trat mit leichten Schritten bis in die Mitte des Zimmers vor und sagte in gefälligem Tone zu der Kammerjungfer: »Bitte, die Zimmerthüre wieder zu schließen; ich wünschte ein paar Augenblicke mit dir zu reden.«

Bei diesen Worten huschte Nanette eilfertig an der Wand des Zimmers hin gegen die Thüre zu, vielleicht um diesem Befehl Folge zu leisten, vielleicht aber auch, um aus der für sie so entsetzlichen Nähe zu entwischen. Etwas der Art mochte sich übrigens der Fremde auch denken, denn er wandte sich langsam um, folgte den Bewegungen des Mädchens mit den Augen, und als sie an der Thüre angekommen war, sagte er mit ruhiger Stimme: »Nur schließen und den Riegel vorschieben – so–« Darauf machte er [96] eine Handbewegung, welche Nanette unwillkürlich zwang, ihren Platz am Fenster wieder einzunehmen. Als sie wieder da angekommen war und der Schein des Lichts auf ihr Gesicht fiel, sprach der Fremde lächelnd zu der Kammerjungfer: »So, so, du protegirst und hast die Gefährtin von damals nachgezogen? Dagegen kann man nichts einwenden, es gefällt mir sogar, nur hätte ich geglaubt, du würdest mir eine kleine Anzeige davon machen. Doch bist du überhaupt keine Freundin von Berichten und dieselben werden von Tag zu Tag mangelhafter.«

Das Mädchen zuckte bei diesen Worten zusammen und blickte auf den Boden.

»Es ist auch Zeit, daß ich mich in deinem Gedächtniß wieder einmal auffrische; ich glaube, du hättest mich sonst ganz vergessen.«

»Nie! nie!« hauchte das erschrockene Mädchen.

»Oder deine Verpflichtungen,« fuhr der Andere lächelnd fort. »Ah!« sagte er nach einer Pause, während welcher er sich rings im Zimmer umgesehen, »du zeigst wenig Eifer für uns und man hat die doch in eine Position gebracht, die angenehm zu nennen ist. Es ist das aber so der Welt Lauf, daß man Wohlthaten gern vergißt; aber Eines ersuche ich dich nicht zu vergessen, daß nämlich meine Hand über dir schwebt, daß ich dich halten kann oder dich tief hinab stürzen, zermalmen, in Nichts zurücksinken lassen, wie es mir gerade einfällt.« Damit hatte er seine Rechte langsam ausgestreckt, sie geöffnet, und als er sie nun wieder zusammenzog, schauerte es den beiden Mädchen und es war ihnen gerade, als öffne sich zu ihren Füßen ein finsterer Abgrund, mit glattem schlüpfrigen Rande, wo hinein zu stürzen es für sie nicht mehr als eines Lufthauch bedürfe.

»Doch genug,« sprach der Fremde in gefälligerem Tone, »ich bin eigentlich nicht gekommen, dir Vorwürfe zu machen oder dir Mißtrauen zu bezeigen. Im Gegentheil, ich will dir mein Vertrauen [97] beweisen und dich sogar um eine kleine Gefälligkeit bitten, die du mir nicht abschlagen wirst.«

»Ich stehe in Ihrer Hand,« erwiderte Henriette, ohne aufzublicken. »Das weiß ich wohl und muß Ihren Befehlen Folge leisten. Sie können mich zwingen.«

»Ich möchte aber diesmal, daß du es freiwillig thätest. Auch verlangt man nichts Schlimmes von dir.«

»O wenn es mich beträfe, so würde ich mit tausend Freuden Ja sagen.«

Der Mann im Mantel warf fast verächtlich die Lippen auf und versetzte achselzuckend: »Deine Person betrifft es nicht, nur deinen Dienst.«

Das arme Mädchen fuhr zusammen und warf einen schüchternen Blick auf ihre Gefährtin.

Der Fremde hatte diesen Blick wohl bemerkt, er ließ langsam das eine Ende des Mantels von der Schulter herabgleiten, legte die linke Hand leicht auf den Griff seiner Waffe, die er heute wie damals trug, und sagte, während er das ehemalige Harfenmädchen scharf anschaute: »Nur unbesorgt: wir sind ganz unter uns. – Höre mich an.«

»Ich höre,« entgegnete Henriette mit gesenktem Kopfe.

»Heute Abend ist ein Maskenball hier im Schlosse. Der Hof wird gegen zehn Uhr da sein, um welche Zeit ein kleines Maskenspiel beginnt, welches von den hohen Herrschaften arrangirt wurde. Vorher aber wird sich die Frau Herzogin mit ihren Damen noch einen kleinen Spaß machen und vermummt erscheinen. Natürlicherweise ist auch deine Herrin dabei. Dort liegt ein Theil ihres Kostüms.« Er zeigte auf den Schleier mit den silbernen Sternen. »Bei dem Maskenfeste aber ist Fräulein Eugenie von S., eine der Ecuyèren Ihrer Majestät. Ich sehe dort ihren Anzug, das dunkelblaue Oberkleid mit den weißen Achselbändern. – Ist's nicht so?«

»So ist es,« brachte Henriette mühsam hervor.

[98] »Nun wohl – höre mich an: So viel ich weiß, wirst du dich gegen zehn Uhr zum Umkleiden deiner Herrin in eine der Garderoben neben dem großen Saal begeben. Gut, daran wird nichts geändert. Ehe du aber den dunkelblauen Anzug dorthin bringst, wirst du die weißen Achselbänder von demselben lostrennen und dafür diese hier aufnähen.« Bei den Worten zog er ein kleines Paketchen unter dem Mantel hervor, riß die Papiere ab und reichte dem auf's Höchste überraschten Mädchen zierlich gemachte Achselbänder, in Blau, Grün mit Silber. – »Das Ganze ist eine Ueberraschung für Fräulein von S.« fuhr er nach einer Pause lächelnd fort, »du mußt nicht denken, daß hinter meinen Befehlen immer etwas Gefährliches stecke. Wie gesagt, nur ein Scherz, eine Ueberraschung. Du wirst also wohl begreifen, daß deine Herrin davon nichts ahnen darf und hast es denn auch so einzurichten, daß sie die neuen Achselbänder erst dann sieht, wenn sie vollkommen angezogen ist.«

»Aber wie ist das möglich?« fragte das Mädchen, während es die Hände zusammenfaltete. Trotz der Versicherung des Unbekannten glaubte sie doch nicht, daß die Verwechslung der Farben so gar wenig zu bedeuten habe, und zitterte wenn sie daran dachte, daß aus diesem Tausch Schlimmes für ihre Herrin entstehen könnte.

»Wie es zu machen ist, daß Fräulein von S. die Farben nicht früher entdeckt?« meinte der im Mantel lächelnd. »Auf die einfachste Art von der Welt. Um die Achselbänder zu schonen, umnähst du sie mit seinem Papier, welches du nur loszureißen hast, sobald Fräulein von S. vollständig angezogen ist. Hast du mich verstanden?«

»Ja,« sagte das schmerzlich bewegte Mädchen.

»So höre noch Eins: Wenn du diese Sache gut besorgst, so wird es mich freuen und ich will dein Schuldner sein. Hüte dich aber, Jemanden, es sei, wer es wolle, davon zu sprechen, auf welche Art der Tausch der Achselbänder vor sich gegangen.«

»Aber man wird mich darüber befragen, auf das Genaueste befragen.«

[99] »Daran zweifle ich nicht. Und du wirst antworten: diese Achselbänder seien heute Abend geschickt wor den mit dem Befehl deiner eigenen Herrin, sie statt der weißen an das Kostüm zu heften.«

Die Kammerjungfer schüttelte betrübt den Kopf. »Wenn dem so wäre,« sprach sie, »so müßte ich doch mit dem gnädigen Fräulein darüber sprechen, wenn sie nach Hause käme und müßte ihr die neuen Achselbänder zeigen.«

»Allerdings,« versetzte der Fremde, »das müßtest du als vorsichtige Dienerin thun. Aber du wirst heute Abend einmal unvorsichtig sein, vergeßlich. Erst wenn Fräulein von S. kostümirt ist, fällt es dir ein, daß du andere Achselbänder aufgeheftet. Hast du mich verstanden?«

»O ich verstehe Alles.«

»Nun, so verstehe mich auch vollkommen und merke dir: es ist mein Wille, mein Befehl, daß es so geschieht, wie ich gesagt. Glaube nicht, daß dich diese Mauern schützen, wenn du meinem Befehl ungehorsam wärest. – Doch,« setzte er mit weicher Stimme hinzu, »ich will dir keine Furcht einflößen, ich will mich an deine Dankbarkeit wenden, und von diesem Gefühle in deinem Herzen bin ich überzeugt, daß es dir helfen wird, meinen Wunsch zu erfüllen.« Er faßte bei diesen Worten ihre Hand, mit welcher sie sich fast gewaltsam am Tische festhielt, und als sie bei dieser Berührung zusammenfuhr, sprach er mit einem angenehmen Lächeln: »Der kleine Dienst, den du mir leisten wirst, soll dein letzter für mich sein. Damals sagte ich dir, es sei unwahrscheinlich, aber doch möglich, daß ich dich nochmals wiedersähe, heute dagegen versichere ich dich auf's Bestimmteste, daß wir uns nie mehr begegnen werden, wenn du meinen Wunsch pünktlich erfüllst. – Etwas Anderes wäre es freilich,« fuhr er mit gänzlich verändertem Tone fort, »wenn du an mir zur Verrätherin werden wolltest. In dem Momente blicke um dich und schaudernd wirst du mich wiedersehen.«

»Ah!« machte das geängstigte Mädchen und preßte schmerzlich [100] bewegt ihre beiden Hände vor das Gesicht. Als sie dieselben langsam wieder sinken ließ, war er verschwunden und sie sah an dem erschrockenen Blick ihrer Freundin, welchen diese auf die nun wieder offene Thüre geheftet hielt, daß er das Zimmer verlassen. Henriette sank auf ihren Stuhl nieder, reichliche Thränen floßen über ihr Gesicht herab, wobei sie ausrief: »O ich wußte es wohl, daß dies glückliche, friedliche Leben von nicht langer Dauer sei! Sie wird mich von sich stoßen, ich bin verloren!«

Draußen auf dem Korridor warf er den Mantel über die Schultern, so daß sein Gesicht fast von demselben verdeckt wurde, und dann verließ er, die hellerleuchteten Gänge und Treppen vermeidend, aus einer hinteren Thüre das Schloß. Auf der Straße angekommen, schien er einen Augenblick unschlüssig, wohin er sich wenden solle. Er machte ein paar Schritte gegen den Kastellplatz zu, wandte aber gleich darauf wieder um, trat in eine der kleinen dunklen Straßen, von denen mehrere in der Nähe des Schlosses mündeten und ging auf dieser fort, der oberen Stadt zu.

Bald erreichte er eine Straße, an deren Ende sich ein Springbrunnen befand, dorthin wandte er seine Schritte, und bei dem Brunnen angekommen, stellte er sich mit dem Rücken gegen denselben und blickte das gegenüber liegende Haus an; entweder war in keinem der Zimmer ein Licht oder man hatte dichte Vorhänge herabgelassen. »Ich weiß nicht, wie mir ist,« sprach er zu sich selber und zog seine Uhr hervor, »jetzt treibt es mich diesen Abend schon zum dritten Male vor dies Haus – unerklärlich! Gerne ginge ich einen Augenblick hinauf, doch ist mir mein Anzug hinderlich. Beil würde mich nicht geniren, aber die alte Frau und das Kind; und dann könnte auch sie wohl da sein.« Er hielt das Zifferblatt der Uhr gegen die Gaslaterne. »Erst Sieben; ich könnte mich rasch umkleiden und dann einen Augenblick hinaufgehen. – Ah bah! Man muß sich von seinen Nerven nicht zwingen lassen. – Und doch war ich lange nicht so weich gestimmt, wie am heutigen Abend; ich glaube fast,[101] meine Hand zittert. Ja, ich fühle mich aufgeregt; hätte das Mädchen im Schlosse mich mit Bitten bestürmt, ich hätte die Achselbänder des Herzogs zu allen Teufeln fahren lassen.«

Der im Mantel hatte Recht, als er so vor sich sprach, denn wer ihn früher hätte nächtlich durch die Straßen dahin gehen oder beobachtend vor dem Hause stehen sehen, würde wohl heute einen großen Unterschied haben wahrnehmen können. Er spähte nicht eifrig umher, wie er sonst wohl zu thun pflegte, er hemmte nicht den Schritt und wandte den Kopf bei dem leisesten Geräusch, sondern er ging ganz gegen seine Gewohnheit wie träumend einher, den Blick auf den Boden gesenkt, unachtsam, stolpernd. Sein Geist war offenbar beschäftigt und zerstreut, woher es denn auch wohl kommen mochte, daß er nicht gewahr wurde, wie sich während der Zeit, die er am Brunnen zubrachte, die Gestalt eines Menschen, welche im tiefsten Schatten des gegenüberliegenden Hauses versteckt stand, zuweilen gegen ihn vorbog und ihn während der ganzen Zeit, die er dort zubrachte, unablässig und aufmerksam anschaute. Ja, als er sich hinweg begab, folgte ihm die Gestalt, wobei dieselbe immerfort die Schatten der Häuser benützte, um nicht von ihm gesehen zu werden. Doch, wie schon bemerkt, sie hätte sich diese Vorsicht sparen können, denn er ging die Straße hinab den Kopf gesenkt, nicht auf- noch rückwärts blickend.

Er wandte seine Schritte dem Fuchsbau zu und die Gestalt hinter ihm ließ ihn nicht aus den Augen. Sie war ihm gefolgt, den Kopf vorgestreckt, die Augen weit geöffnet. Auf einmal aber stutzte sie und blieb stehen; sie wandte den Kopf jetzt halb rechts, jetzt halb links und stürzte darauf mit ein paar raschen Schritten vorwärts, um hierauf abermals stehen zu bleiben. Als sie so zum zweiten Male stehen blieb, war das dicht vor der hohen Mauer eines Hauses, welches mit dem Fuchsbau zusammenhing. An dieser Mauer war der vor ihr Wandelnde verschwunden; der Teufel mochte wissen, wo er hingekommen war. Da befand sich weder [102] Thüre noch Fenster, ja nicht einmal eine Spalte, wo eine Maus hätte durchkriechen können, der Verfolgte aber war verschwunden und der Verfolger stand kopfschüttelnd vor der hohen Mauer, ging erst zwanzig Schritte rechts, dann ebensoviele links, um vielleicht hier einen Eingang zu erspähen, umkreiste nach dieser vergeblichen Bemühung den ganzen Häuserkomplex und eilte dann mit ziemlich raschen Schritten nach der obern Stadt zurück.

77. Kapitel
Siebenundsiebenzigstes Kapitel.
Im Fuchsbau.

Der Andere war indessen durch den fast nur ihm allein bekannten sehr kunstreich versteckten Eingang in das Innere des Fuchsbaues gelangt, immer noch ohne Ahnung, daß ihn Jemand bis an die Mauern desselben verfolgt. Ein schmaler Gang nahm ihn auf, der spärlich erhellt war von einer einzigen Lampe, die in einer Nische brannte. Neben sie legte er seinen Mantel hin, stieg langsam eine Treppe hinauf, und trat wenige Augenblicke nachher in das uns bekannte Zimmer. Hier befand sich Niemand, überhaupt herrschte im ganzen Hause, wenigstens in diesem Theile desselben, die gewöhnliche tiefe Stille. Auf dem Tische brannten zwei Lichter, im Kamin loderte ein helles Feuer. Der Eingetretene legte seinen Hut auf den Tisch, fuhr sich mit der Hand über die Stirne, schränkte darauf die Arme über der Brust, und ging mit großen Schritten im Zimmer auf und ab.

Ihn beschäftigte das Haus bei dem Brunnen in der oberen Stadt, er wußte selbst nicht warum. Er hätte so gerne Herrn Beil [103] besucht und das Kind, und daß er es unterlassen, verursachte ihm jetzt ein unbehagliches Gefühl. Doch konnte er sich von diesem Gefühl keine Rechenschaft geben. Wie oft war er schon Nachts bei diesem Hause vorübergegangen, ohne es zu betreten; er hatte die dunkeln Fenster gesehen wie heute, er hatte gedacht: sie schlafen schon oder befinden sich in den hinteren Zimmern; er war beruhigt fortgegangen, ja oftmals vor sich hin lächelnd, wenn er sich den guten Beil vorgestellt, wie er jetzt mit der wichtigen Miene eines Hofmeisters die Kapitel aus Geographie und Geschichte seinem Zögling wiederholte, die er selbst am Morgen erst mühsam erlernt. Heute hatte er sich den Herrn Beil nicht in so behaglichem Zustande denken können. – »Bei Gott!« sprach er zu sich selber, »ein solches Gefühl hat mich noch selten getäuscht, es ist da etwas vorgefallen. Ich muß mir Gewißheit verschaffen.« Er riß heftig an dem neben ihm befindlichen Glockenzug, und ein heller Klang ertönte augenblicklich darauf in dem Wirthszimmer.

Eine Weile darauf hörte man die eiligen Schritte eines Mannes, die Thüre wurde hastig geöffnet, und Herr Scharffer trat herein, ehrerbietig auf der Schwelle stehen bleibend. Er war etwas schnell gelaufen, sah echauffirt aus, und blies hastig den Athem von sich, so daß sein weit abstehender, schwarzer und struppiger Backenbart eine seltsame Bewegung machte.

Der Andere trat ihm rasch entgegen und sagte: »Mathias soll herkommen.«

»Mathias?« fragte der Wirth erstaunt. »Der wird sobald nicht kommen können.«

»Ah Teufel, wie konnte ich das vergessen, Meister Scharffer! Gewiß, ich habe heute Abend meine Gedanken nicht beisammen. Und doch beschäftigte ich mich fast den ganzen Tag mit Mathias. Wie geht es ihm?«

Der Wirth zuckte die Achseln, verzog seinen breiten Mund und entgegnete: »Die Wahrheit zu sagen, Herr – schlecht. Gott [104] möge den verdammen, der den Stoß geführt; er ist tief, sehr tief gegangen. Er drang in die Seite ein und verletzte, wie der Chirurge sagte, die Lunge so schwer, daß – ja, ich kann's nicht verschweigen, sein Aufkommen sehr ungewiß ist.«

Erschreckt trat der Andere einen halben Schritt zurück, faßte den Griff seines Dolches und biß sich heftig auf die Lippen.

»Er hat auch viel Blut verloren, ehe sie ihn herbrachten,« fuhr Herr Scharffer fort. »Viel Blut; und das geht ihm beständig nach, denn er fällt von einer Ohnmacht in die andere, oder man könnte eher sagen, er kommt selten mehr zum Bewußtsein, denn er liegt die meiste Zeit schwer athmend da und mit geschlossenen Augen.«

»So muß ich nach ihm sehen. Er ist doch gut verpflegt?«

»Wie können Sie zweifeln, Herr?« versetzte der Wirth im Tone eines leichten Vorwurfs. »Mathias, der uns Allen in's Herz gewachsen ist! Ich versichere Sie, Alle im Fuchsbau sind voll Jammer und Betrübniß.«

»Führt mich hinauf. Ich muß ihn sehen.«

»Sogleich Herr. Aber ich vergaß zu melden, daß Josef draußen ist; er suchte Sie schon seit mehreren Tagen und kam nun vor wenig Augenblicken, sah aber sehr bleich und erschreckt aus und wollte gleich zu Ihnen herein. Ich bemerkte ihm, es sei noch kein Zeichen mit der Glocke gegeben worden und Sie auch demnach noch nicht im Hause. Darauf biß er sich heftig auf die Nägel und lief, allerlei murmelnd in der Stube auf und ab. Sagen Sie mir doch, Herr,« fuhr er mit einem lauernden Gesichtsausdruck fort, »trauen Sie dem Josef völlig?«

»Wie mir selbst. – Aber wozu die Frage?«

»Nun, er ist zuweilen in der Nähe der Polizeidirektion gesehen worden, und Sie wissen wohl selbst, Herr, daß wir mit den Lakaien im Allgemeinen Unglück haben.«

»Seid unbesorgt, mit dem da nicht. Er soll sogleich herein [105] kommen. Ihr könnt in der Nähe bleiben; ich habe vielleicht Aufträge für Euch.«

Der Wirth zog sich mit einer tiefen Verbeugung des Kopfes hinaus; gleich darauf trat Josef herein. Herr Scharffer hatte übrigens recht, wenn er behauptete, der Jäger sähe unruhig und zerstört aus. Dem war wirklich so; sein Gesicht war noch blässer als gewöhnlich, und seine Augen hatten einen seltsamen Ausdruck.

Der junge Mann stand mitten im Zimmer, er hatte die eine Hand in die Hüfte gestemmt, mit der andern winkte er dem Eintretenden lächelnd zu, wobei er sagte: »Ei, Josef, ich hätte nicht geglaubt, dich so bald wieder hier zu sehen. Du mußt mir Außergewöhnliches zu melden haben.«

»So ist es auch,« erwiderte Josef nach einem tiefen Athemzuge. »Ich erlaubte mir, Sie schon mehrmals aufzusuchen, Herr, aber Sie waren seit mehreren Tagen nicht mehr hier im Fuchsbau; und auch Mathias ließ sich niemals sehen.«

»Ach ja, der arme Mathias!« sagte der Andere.

»So ist es also wahr, Herr, was ich mir gedacht, als ich von jenem Einbruche und der Verwundung eines der Beteiligten sprechen gehört? Und Mathias ist – todt?«

»Nein, aber leider schwer verwundet. Doch sprich, was hast du mir zu sagen? Dein Aussehen gefällt mir nicht, Josef; du hast Schlimmes zu berichten.«

»Sehr Schlimmes, Herr.«

»Nur zu, nur zu, man muß auf Alles gefaßt sein. Erzähle ohne Vorrede; du weißt, ich liebe kurze Mittheilungen.«

Josef verbeugte sich und holte mühsam Athem, als er sprach: »Neulich war mein Herr mit einem Bekannten spät Abends allein in seinem Kabinet.«

»Wann war das?«

»Vergangenen Freitag.«

»Ah! – und welcher seiner Bekannten blieb bei ihm?«

[106] »Der Herr Maler Erichsen.«

»Richtig, richtig!« murmelte der junge Mann. Er blickte auf den Boden und dachte: das war an jenem Abend, wo Erichsen seine Porträts des Herrn Dankwart vorzeigte. Den andern Morgen war er bei mir und verlangte die bewußte Schrift mit einem Abdruck meines Talisman. Hören wir, was dazwischen vorfiel. – Während er so nachdachte und zu Boden schaute, hatte das dunkle Auge des Jägers aufmerksamer als je zuvor abwechselnd auf seinen Zügen, namentlich aber auf seiner Gestalt geruht. Es schien, als stellte er Vergleichungen an, und je länger er das that, um so mehr verlängerten sich eine Züge, um so mehr nahmen sie den Ausdruck des Schreckens an. Er fuhr ordentlich zusammen, als nun der Andere sagte: »Und was geschah an dem Abend, Josef?«

»Die beiden Herren,« fuhr der Jäger mit bebender Stimme fort, »sprachen über – eine räthselhafte Person, die in der Gesellschaft umhergehe, die meisten vornehmen Häuser besuche, die sich das Ansehen eines unabhängigen, hochstehenden Mannes gäbe, die aber im Verborgenen – allerlei seltsame und sonderbare Geschichten treibe.«

Wäre der junge Mann nicht so vollkommen Meister seiner selbst gewesen, so hätte man auf seinem Gesicht eine Bewegung wahrnehmen müssen. Denn obgleich ihn die Worte des Jägers gänzlich unvorbereitet überfielen, wußte er doch sofort, wen dieser meinte, und deßhalb waren die Worte desselben tief einschneidend wie die Schärfe einer Axt, die, mit sicherer Hand geführt, den Baum trifft. Doch verzog sich keine Miene; nur eine Sekunde lang zuckten seine Augenlider. Ja, etwas wie Verwunderung flog über sein Gesicht, als er entgegnete: »Und wer ist diese räthselhafte Person?«

»Sie nannten den Herrn Baron von Brand.«

»Ah! den Baron von Brand! Unser guter Bekannter, durch dessen Vermittlung du deine Stelle erhieltst.«

»Derselbe, Herr.«

[107] »Er kommt öfter zum Grafen Fohrbach?«

»O – sehr – oft.«

»Natürlich sahst du ihn zuweilen?«

»Ja – Herr, häufig. Aber ich ging ihm aus dem Wege, ich wußte nicht, ob es ihm angenehm sei, mir zu begegnen.«

»Daran thast du sehr klug. Teufel! man muß das dem Baron mittheilen.«

»Ich that es ja schon, Herr,« rief der Jäger in gewaltiger Bewegung. »Ja, Herr, verzeihen Sie mir; ich kann nicht anders, ich muß Sie warnen, denn es ginge mir an's Leben, wenn Ihnen ein Unglück zustieße!« Bei diesen Worten war der Jäger vor dem Andern auf die Kniee gestürzt, ein Paar Thränen liefen über seine bleichen Wangen herab, und obgleich der junge Mann einen Schritt zurückgetreten war, hatte Josef seine Hände ergriffen und hielt sie mit den seinigen krampfhaft zitternd fest.

»He, Josef!« entgegnete der junge Mann, indem er seine Hände loszumachen versuchte, »du spielst eine eigene Komödie. Laß die Narrheiten, steh' auf.« Er wollte in seinen Ton eine Härte legen, was ihm aber nicht vollkommen gelang. Ja er brachte diese Worte nur mühsam, gepreßt hervor.

»Stoßen Sie mich nicht zurück, Herr,« fuhr der Jäger leidenschaftlicher fort. »Sie sagten schon mehrmals, Sie schenken mir Ihr unbedingtes Vertrauen. O thun Sie es in Wahrheit; glauben Sie meinen Worten und treffen Sie schleunigst Ihr Maßregeln!«

»Gewiß, Josef, sei nicht kindisch, – steh auf! Was geht mich dein Baron von Brand an? Was er angerichtet hat, soll er verantworten. Und so will ich es gerade machen. – Aber steh' auf. Für deinen Eifer danke ich dir herzlich, danke ich dir wie ein Freund dem andern dankt.« Bei diesen Worten zitterte seine Stimme, und als er den Jäger empor hob, fühlte dieser einen festen Händedruck. – »Doch du bist mit deinen Unglücksbotschaften noch nicht zu Ende. Sprich weiter, ich bin auf Alles vorbereitet.«

[108] »O wenn es so wäre!« seufzte Josef. »Soeben kam mein Herr aus dem Schlosse; er hatte den Dienst; Sie wissen, Herr, daß man dort im Vorzimmer zuweilen Manches erfährt, was eigentlich verschwiegen bleiben sollte.«

»Ja, ich weiß das,« sagte der Andere aufmerksam.

»Der Polizei-Direktor war vor der Tafel bei Seiner Majestät.«

»Nachmittags gegen fünf Uhr? – Eine außergewöhnliche Stunde.«

»So kam es dem Herrn Grafen auch vor; und ich glaube, es war Seiner Erlaucht auffallend genug, um darüber Erkundigungen einzuziehen.«

»Bei dem Kammerdiener oder bei dem Polizei-Präsidenten selbst? O wenn die Stillschweigen gelernt hätten! – Nun, es wird 'was Unbedeutendes gewesen sein.«

»Nein, Herr, es war etwas sehr Bedeutendes. – Sie kennen ein kleines Haus in der Schilderstraße; gegenüber steht ein Brunnen.«

»Ich kenne es nicht,« entgegnete der Andere scheinbar unbefangen.

»Sie gingen oft dahin, Herr.«

»Ich? – Niemals!«

»Ah! verzeihen Sie, ich meinte den Herrn Baron von Brand.«

»Das ist etwas Anderes. – Aber weiter! weiter!« Obgleich die Stimme des jungen Mannes wieder vollkommen ruhig geworden war, so athmete er doch fast hörbar, seine Augen glänzten und seine Finger irrten auf dem Griffe des Dolches hin und her.

»In dem Hause,« fuhr Josef mit festem Blicke fort, »hat die Polizei heute Nachforschungen gehalten.«

»Die Polizei! – und weßhalb? – Wer gab ihr das Recht dazu? – Was fand sie?«

Achselzuckend fuhr der Jäger fort: »Ich weiß Ihnen nur die letzte Frage zu beantworten, Herr. Sie fanden in dem Hause eine alte Frau, einen kleinen Knaben, einen jungen Mann – und eine Dame.«

[109] Bei jedem Worte, welches der Jäger aussprach, war der Andere sichtlich zusammengefahren, doch hatte er sich gewaltsam bezwungen, wobei er sich die Lippen fast blutig biß. Als aber Josef sagte: eine Dame, da behielt er seine mühsame Fassung nicht länger, er erbleichte auf eine furchtbare Art, seine Augen starrten weit aufgerissen, er faßte die Hand des Jägers mit zitternden Fingern und sprach fast lautlos: »Du hast gesagt: auch eine Dame –?«

»Eine Dame, Herr – die Frau Baronin von W., Gemahlin des früheren General-Adjutanten.«

Bei diesen Worten war es, als wollte der Andere in die Kniee sinken; sein Körper schien sich unter dem Eindruck dieser Mittheilung förmlich zu beugen, er preßte die Hände vor das Gesicht und rief in herzzerreißendem Tone: »Meine Schwester! – o meine arme Schwester!«

Dieses Wort hatte Josef doch nicht erwartet. Ihn faßte ein jäher Schreck bei dem Ausrufe des Andern, es war ihm, als hebten sich rings herum schwarze Schleier, als stiegen wilde unheimliche Geister aus den Ecken des Zimmers. Der Luftzug, der durch den Kamin herabdrang, machte ihn schaudern. Er fühlte sich wie von Furchtbarem umgeben; es schien ihm, als bewegten sich die Fenstervorhänge und es dringe hie und da eine Faust durch die Scheiben und suchte tappend die schweren Riegel zu erfassen, um die Flügel zu öffnen, und einer unheilvollen Macht Eingang zu gestatten. Dann aber erfaßte ihn wieder eine tiefe Wehmuth, als er die kräftige Gestalt des jungen Mannes vor sich erblickte, die durch seine Mittheilungen vollständig gebrochen schien; als er bedachte, welch' gewaltiger Geist, welch' edles Herz und tiefes Gefühl in diesem kräftigen Körper wohnte, welchen Weg dieser Mann hätte gehen können, und wie er nun vor ihm stand, vielleicht schon von allen Seiten umgarnt, im nächsten Augenblicke vor der unerbittlichen Gerechtigkeit – die leider, leider diesmal nur gerecht zu nennen war! – Josef war kein gewöhnlicher Mensch, sein Eintritt in diese [110] Welt hatte ihm Hoffnungen eröffnet, die leider nie in Erfüllung gingen. Und an alles dies denkend, hatte er seine Hände gefaltet und langsam tropfte eine Thräne um die andere aus seinen Augen und verlor sich in dem dichten, schwarzen Barte.

Der Andere hatte sich unterdessen wieder gefaßt, doch als er die Hände langsam von seinem Gesicht entfernte, fielen seine Arme wie gelähmt herab. – Aber er lächelte. Doch dieses zuerst traurige und dann erschreckliche Lächeln schnitt dem Getreuen, der vor ihm stand, noch tiefer in die Seele, als vorhin der Ausbruch des wilden Schmerzes.

»Laß es gut sein, Josef,« fuhr der junge Mann fort. »Jeder Mensch hat seine Schwächen, hat eine Stelle, an der er verwundbar ist. Du hast sie mit deinen Worten getroffen und tief verletzt. – Aber das ist jetzt vorüber,« setzte er schwer Athem holend hinzu. »Was hast du mir weiter zu sagen?«

»Herr Major von S. war bei meinem Herrn und Beide sprachen darüber, daß die Baronin von W. in dem erwähnten Hause festgehalten würde. Der Gemahl derselben, der sie lange beargwohnt, habe seine Zustimmung gegeben, und über alles dies drückten sich beide Herren ziemlich empört aus.«

»Ah! sie nahmen die Polizei nicht in Schutz?«

»Der Polizei-Präsident soll von Seiner Majestät eine Bemerkung haben hinnehmen müssen, die sehr einer Nase ähnlich gesehen habe; er sei ziemlich zerknirscht in das Vorzimmer gekommen und habe über undankbaren Dienst und drückende Verhältnisse gesprochen.«

»Das gibt mir einige Hoffnung,« sagte der Andere mit leiser Stimme. »Du kannst mir einen Dienst erweisen, Josef. Suche in das Haus in der Schilderstraße zu dringen, erkundige dich, was man dort macht, und bringe mir eine Antwort hieher. Willst du?«

»Mit tausend Freuden,« antwortete Josef. »Aber ich würde [111] einen vergeblichen Gang thun, Herr. Ich war schon droben bei dem Hause; ich versuchte es, hinein zu kommen, ich habe da einen Bekannten, aber man examinirte mich und schickte mich fort. Als ich eben weggegangen war, sah ich Sie, Herr. Sie stellten sich an den Brunnen und schauten an dem Hause hinauf.«

»Das ist wahr. Aber ich habe dich nicht bemerkt.«

»O Herr, verzeihen Sie mir,« sprach Josef kopfschüttelnd, »Sie sahen überhaupt nicht so um sich her, wie gewöhnlich auf der Straße. Sonst hätten Sie an den gegenüberliegenden Häusern einen Menschen bemerken müssen, der sie beobachtete.«

»Der mich beobachtete?«

»Auf das Genauste. Er hinderte mich, Sie anzureden, und ich konnte Ihnen nur von weitem folgen, denn der Andere schlich vor mir ziemlich dicht hinter Ihnen.«

Der junge Mann fuhr sich mit der Hand über die Stirn und entgegnete: »Ja, ich war in Gedanken. Aber was wollte Jener von mir? Folgte er mir bis hieher an den Fuchsbau?«

»Bis an die Mauer, wo Sie verschwanden. Das schien ihn höchlich zu wundern, denn er betrachtete die Steine aufmerksam, suchte auch rechts und links nach einer Thür, und als er nichts fand, umschritt er das ganze Gebäude. Jetzt folgte ich ihm und hätte gern ein ernstes Wort mit ihm gesprochen, aber ich war ohne Waffen, und er, der Polizeisoldat, hatte seinen Säbel bei sich.«

»So, er war von der Polizei? Das ist gerade nicht angenehm. Was denkst du, Josef?«

»Wenn ich meine Gedanken frei aussprechen darf, so sage ich, daß Ihnen Jener nicht ohne Absicht gefolgt ist, daß er davon ging um einen Bericht zu machen, und daß vielleicht in diesem Augenblicke schon der Fuchsbau umstellt ist.«

»Du könntest vielleicht Recht haben, Josef,« erwiderte der junge Mann ruhig, indem er die linke Hand auf den Tisch setzte, [112] »und das wäre schlimm für dich, den man hier nicht finden darf. – Sieh mich nicht so sonderbar an, ich weiß wohl, daß es dir nicht an Muth fehlt, und kenne auch deine Treue. Aber du kannst hier, bei Gott! Niemanden helfen, nur dich selbst zu Grunde richten. Also geh', ich will es.« Er winkte mit der Hand, und als der Jäger dieselbe ergriff und fest drückte, erwiderte er diesen Druck und sagte dabei: »Gott sei mit dir, Josef!«

Sobald dieser das Zimmer verlassen hatte, trat der Wirth ungerufen herein. Er war aufgeregt, erhitzt und stolperte in seinem Eifer fast über die Schwelle in das Gemach, so daß ihm der junge Mann entgegenrief: »Hoho! Meister Scharffer, Ihr stürzt ja daher, als wenn Ihr gejagt würdet.«

»Das wird auch also kommen,« erwiderte der Wirth in seiner plumpen Manier. »Wissen Sie, Herr, daß drunten der Teufel los ist?«

»Ah! Ihr seid der Mann, ihn zu bändigen,« erwiderte der Andere lachend.

»Ja, da hat sich was zu bändigen!« Es sind da eben sechs Kerle in die Schenkstube gedrungen, und als wir uns weigerten, ihnen Wein zu geben, meinten sie, das wollten sie doch einmal sehen, das sei hier ein, Wirthshaus, so gut wie ein anderes.

»Da hatten sie vollkommen Recht, Meister. Und statt daß Ihr davon stürztet und Aufsehen erregt, hättet Ihr bei Euren Gästen bleiben und sie angenehm unterhalten sollen.«

»Da unterhalte sich Einer, wenn ihm das Herz vor Schrecken still steht. Drei von den Sechsen kenn' ich. Wenn die nicht bei der Polizei sind, so will ich auf meinem Rasirmesser reiten. Einer von ihnen machte sich mit der alten Margareth zu schaffen und erkundigte sich freundlich, was das für Klingelschnüre seien, die neben ihrem Sitze herabhängen.«

»Das ist allerdings verdächtig.«

Der dicke Wirth hatte so hastig gesprochen, daß er ganz außer Athem gekommen war. Während er sich den Schweiß von der Stirn [113] wischte, that er einen tiefen Athemzug und fuhr dann fort: »Auch kommt soeben der Johann nach Haus und meint, er habe drunten auf der Straße in der Nähe des Fuchsbaues Gesichter gesehen, die ihm gar nicht gefallen. Aber das ist noch nicht das Schlimmste, er brachte auch die Nachricht heim, daß der Sträuber eingesteckt Worden sei.«

»Der Sträuber?« fragte der Andere, offenbar unangenehm überrascht, und zog dabei seine Augenbrauen finster zusammen. »Der Sträuber? – das ist fatal.«

»Auf dem Bahnhof,« fuhr Meister Scharffer fort, »er hatte sich gerade ein Billet gelöst.«

»Wohin?«

»Nach St.«

»Beim Teufel! Das ist schlimm. Also wollte er über die Grenze. Da hat der Schuft etwas angestellt, was ihn zwingt, Stadt und Land zu verlassen.« Bei diesen Worten ging der junge Mann nachdenkend mit raschen Schritten auf und ab und der Wirth schaute ihm mit einem höchst überraschten Gesichte zu, wobei er sich in dem schwarzen, buschigen Backenbarte kratzte. Er mochte Wohl denken: jetzt ist es keine Zeit zum Promeniren, jetzt sollte der da handeln. Doch tröstete er sich gleich darauf: er wird schon wissen, was zu thun ist. Der Andere trat wieder an den Tisch zurück und sagte achselzuckend: »Wohl möglich, daß sie wieder eine Hausaussuchung halten.«

»Wie schon oft.«

»Aber heut' ist das schlimmer.«

»Warum? Wir haben nichts Verdächtiges im Hause.«

»Vergeht Ihr den Mathias?« sagte der junge Mann mit sehr ernster Stimme.

»Alle Heiligen! das ist wahr!« rief erbleichend der Wirth. »Wenn sie den finden mit seiner Wunde in der Seite, so sind wir verloren. O, wenn er nur schon todt wäre.«

[114] »Hol' Euch der Teufel, Meister! – Und warum das?«

»Sie wissen wohl, wir hätten dann ein gutes Versteck für ihn. Aber einen Lebenden kann man nicht da hinein postiren.«

»Ehe ich das Haus verlasse, muß ich nach ihm sehen. Leuchtet mir hinauf.«

»Lassen Sie das um Gotteswillen bleiben, Herr,« bat der Wirth. »Nehmen Sie mir ein Wort nicht übel – wer weiß, ob man es nicht auf Sie selbst abgesehen hat? Verlassen Sie das Haus, so lange es noch Zeit ist, schonen Sie sich für uns. – Horch! was war das?«

Von unten herauf ließ sich ein dumpfes Krachen vernehmen. Beide lauschten und der junge Mann sagte: »Man bricht eine Thüre auf. Wahrhaftig, das scheint ernstlich zu sein. Haben sie Lichter bei sich?«

»Nein, darnach habe auch ich gleich gesehen.«

»Wer ist von uns im Hause?«

»Der Johann, der Schnapper und zwei fremde Gesellen, die heute mit guter Rekommandation ankamen. Als ich die sechs Andern eintreten sah, hieß ich sie auf ihr Zimmer gehen.«

»Wo sind sie?«

»Auf Numero vier, über uns.«

»Und Mathias?«

»Auf Numero zwei. Ah! ich vergaß, Fritz ist bei dem als Krankenwärter.«

Der junge Mann stand da hoch aufgerichtet, sein blitzendes Auge blickte starr in eine Ecke des Zimmers, er zog seinen schwarzen Schnurrbart zu beiden Seiten des Mundes herunter und dachte nach. – »Das ist ganz einfach,« sagte er nach einer Pause, »die Hauptsache ist: Mathias muß weggeschafft werden, und das müssen Johann und Fritz besorgen. Beide sind stark, sie können ihn tragen. Freilich kann es ihn das Leben kosten,« fuhr er fort, nachdem er die Augen einen Moment mit der Hand bedeckt [115] hatte. »Aber was ist da zu machen? Lieber todt, es wäre gräßlich, wenn er ihnen lebend in die Hände fiele. Und Mathias hat eine starke Natur, er wird's vielleicht ertragen.«

»Aber wohin mit ihm?« fragte zweifelnd der Wirth. »O, glauben Sie, Herr, die auf der Polizei sind auch klüger geworden. Sie werden ringsum das Haus besetzt haben.«

»Natürlich,« erwiderte der Andere mit einem verächtlichen Lächeln. »Aber wir lassen uns doch nicht überlisten, und wenn Ihr genau meine Befehle befolgt, so kommt der arme Mathias glücklich durch.«

»Und Sie, Herr?«

»O, ich verschwinde wie gewöhnlich. – Ihr laßt den Mathias auf Numero Eins bringen; dort, wißt Ihr, hängen an der Wand alte Landkarten. Nehmt sie ab und schlagt durch die ganz dünne Wand, die sich dort befindet, ein Loch, nicht größer, als daß Johann und Fritz mit ihrer Last durchkommen.«

»Aber in dem Hause nebenan haben wir keine Verbindungen, Herr. Das ist ein Pietist, ein scheinheiliger Satan, der gleich Lärm machen wird.«

Ohne auf diese Worte zu achten, hatte der Andere seinen Rock aufgeknöpft, und die Uhr hervorgezogen, von der er ein Petschaft löste. Dann fuhr er ruhig fort: »Auf das Geräusch des Wanddurchschlagens wird der Eigenthümer augenblicklich erscheinen. Johann soll ihm dies übergeben und er wird für den Mathias sorgen. Vergeßt mir aber nicht, daß die große Landkarte wieder an ihren Platz gehängt wird.«

Meister Scharffer empfing das Petschaft mit einem Blicke der Ehrfurcht, den er auf den jungen Mann warf. Er hatte den Nachbar immer gefürchtet, ja er hatte ihn gekannt als Jemand, der im Rufe der größten Rechtlichkeit stehe, der das Getreibe im Fuchsbau tief verabscheue und der bei allen Genossen im Verdacht stand, als habe er die Polizei schon mehrmals zu Haussuchungen veranlaßt. [116] Und nun hatte sein Meister dort ebenfalls Verbindungen angeknüpft!

»Nur fort,« sprach jetzt der junge Mann ungeduldig. »Sagt dem Johann und Fritz, was sie zu thun haben, und dann begebt Euch an die Haupttreppe und schimpft als guter Wirth dort hinab über die Vagabunden, die Eure Thüren erbrechen. Hört nur, sie machen immer weiter. Aber jetzt hinauf, Meister Scharffer, befolgt auf's Pünktlichste meine Befehle. Ich werde Euch hier erwarten.«

Der dicke Wirth schien Lust zu haben, sich ein wenig in seinem Haar zu raufen, und er hob schon die Hände an den Kopf empor, als er aus dem Zimmer eilte; doch ließ er sie wieder sinken, schüttelte vielmehr sein Haupt, als er sich auf der Schwelle nochmals umschaute und nun bemerkte, wie der junge Mann einen Stuhl an den Tisch zog und sich ruhig darauf setzte, als ob gar nichts vorgefallen wäre.

Während Meister Scharffer die Treppen hinauf sprang, bekreuzte er sich und dachte: »Um Ende wäre es doch besser, wenn man sich der Polizei selbst überlieferte. Der da drunten im Zimmer ist offenbar der leibhaftige Teufel.«

Die außerordentliche Ruhe aber, mit welcher der junge Mann handelte, war theilweise erzwungen, um auch dem Andern Muth einzuflößen, denn als dieser verschwunden war, sprang er auf und trat unruhig an die Thüre, um in das Haus hinabzulauschen. Obgleich nun das Zimmer, in welchem er sich befand, von der Schenkstube sehr weit entfernt war, so vernahm er doch einen wüsten Lärm von dorther und mitunter Töne, als ob man Möbel wegrückte, Kasten niederstellte, Thüren gewaltsam öffnete. – »Sonderbar!« sprach der Horcher zu sich selber, »sie treiben ihre Sache auf wunderbare Art. Statt sich rasch über das ganze Haus zu verbreiten, halten sie sich in einem Theile desselben auf, wo sie noch nie 'was gefunden haben. Ich glaube, wir haben die ganze Geschichte dem Herrn Blaffer zu verdanken. Wenn nur Mathias schon fort [117] wäre! – Ah! sie gehen dran, ihn wegzuschaffen.« Er lauschte wieder aufmerksam und vernahm von droben das Gehen von Männern, deren schwerem Auftreten man es wohl anmerkte, daß sie eine gewichtige Last trugen. Zu gleicher Zeit hörte er, aber sehr gedämpft, ein Geräusch, wie wenn man Steine losbräche, und dann das leichte Krachen von Holzwerk. »Gott sei Dank!« sagte der junge Mann, »er wird bald drüben sein. Wenn er's nur aushält! Das Loch in der Wand kostet mich viel. Ich hatte diesen Ausweg für mich selbst aufgehoben. Aber was gilt ein Freund nicht! Und ein solcher war mir Mathias hier im Hause. Ich hätte ihm vielleicht folgen sollen, wer weiß, ob das nur eine Hausaussuchung ist und ob sie nicht vielleicht das Haus so umstellt haben, daß es mir auf meinem gewöhnlichen Wege schwer wird, zu entkommen. – Bah! man muß nicht das Schlimmste denken. – Doch – jetzt ist Mathias drüben.« In diesem Augenblicke vernahm er nämlich die scheltende Stimme des Wirthes, der auf der Treppe stand, die in das untere Stockwerk führte und laut hinabschrie: »Was für ein Lärmen wird in der Schenkstube getrieben? Glaubt ihr denn, man könne in dem Hause treiben, was man wolle? He, Marie, ruf' den Hausknecht!« Nachdem er dies gesagt, kehrte er in das Zimmer zurück, wo der Andere unterdessen die beiden Lichter auf dem Tische ausgelöscht hatte, so daß es vollkommen finster gewesen wäre, wenn nicht eine Gaslampe auf dem Gange einige Helle in das Zimmer geworfen hätte.

»Mathias ist fort, aber jetzt bitte ich Sie um Gottes willen, Herr, suchen Sie sich einen Ausweg. Als ich droben vom Fenster auf die Straße hinabschaute, habe ich verdächtige Gestalten bemerkt.«

»Auf welcher Seite?«

»Auf der, wo sie gewöhnlich das Haus verlassen.«

»Das ist ungeschickt. So muß ich den Weg durch den Keller nehmen.«

»Ich glaube auch, daß der sicherer ist,« sagte angstvoll der Wirth. [118] »Nur müssen Sie dabei über die Haupttreppe hinab, bei der Schenkstube vorbei.«

»Ich weiß wohl, doch hat das nichts zu sagen. Margarethe wird auf ihrem Posten sein.«

»Gewiß; die läßt sich eher in Stücke reißen.«

»So will ich ihr ein Zeichen geben und dann vorwärts, Meister. Ihr steigt scheltend die Treppe hinab und ich folge Euch.« Sowie er dies sagte, zog er an einer Klingelschnur, die neben der Thüre hing, und wenige Sekunden darauf verlöschte die Gaslampe draußen auf dem Gange. Von unten herauf aber erscholl ein lauter Aufschrei, die klägliche Stimme der alten Kellnerin und darauf polterte Meister Scharffer die Treppen hinab, fluchend und scheltend mit aller Kraft seiner Lunge.

Der Andere ging hinter ihm drein, er setzte die Füße so leicht auf, daß man von Beiden jedesmal nur einen einzigen Tritt hörte; sein Auge versuchte es, die Finsterniß, die auf dem ganzen Hause lag, zu durch dringen. Dabei blieb er dicht hinter dem dicken Wirthe, der, auf dem untern Treppenabsatz angekommen, gleich von kräftigen Armen gefaßt wurde. Doch ermangelte er nicht, dies durch lautes Geschrei seinem Hintermanne kund zu thun, der einen Augenblick unbeweglich stehen blieb, dann das Treppengeländer erfaßte, und sich nun mit solcher Gewalt die Treppe vollends hinab schwang, daß er zwei Männer, die dort Posto gefaßt hatten, so vollkommen unvermuthet überfiel, daß diese ihr Gleichgewicht verloren und schwerfällig die Treppe hinab kollerten, ihm nach, der schon mit leichtem Fuß die unterste Stufe erreicht hatte. Hier war der Fliehende nicht einen Augenblick zweifelhaft, welchen Weg er einzuschlagen habe. Eine Thüre, die er suchte, fand er unverzüglich, trat durch dieselbe in ein Gewölbe, glitt hier abermals einige Stufen hinab und erreichte nun einen weiten Keller, in dem er fortschritt.

Dieser hatte nach der Straße einige halbkreisförmige Oeffnungen, die man übrigens kaum bemerken konnte, da die Nacht [119] sehr finster war. An einer dieser Oeffnungen hatte man in der Mauer mehrere Steine weggebrochen und so eine förmliche Leiter gebildet, auf der ein gewandter Mann ohne große Mühe emporsteigen konnte. Ehe er sich aber vollständig dort hinaufschwang, horchte er aufmerksam, und erst, als sich in der engen Gasse, in welche diese Fenster mündeten, nicht das geringste Geräusch vernehmen ließ, stieg er vorsichtig aus dem Keller empor.

Glücklicherweise warfen die nahestehenden Häuser, sowie ein Mauervorsprung neben dem Fenster einen so tiefen Schatten auf die Stelle, wo er emporgestiegen war, daß ihn selbst ein Späher hier nicht hätte entdecken können. Auch brauchte er die Vorsicht, eine Zeitlang unbeweglich stehen zu bleiben, worauf er endlich mit zwei großen Schritten die andere Seite der Gasse erreichte. Hier blieb er abermals stehen und schaute nach dem Hause zurück, doch faßte er im nächsten Augenblicke unwillkürlich den Griff seines Dolches, denn mit seinem scharfen Auge bemerkte er an zwei Stellen der dunklen Mauer des Hauses, von dem er eben herkam eine Bewegung, gerade als seien dort ein Paar Personen, die sich etwas von der Mauer entfernten. Sobald er aber regungslos stehen blieb, sah er auch drüben nichts mehr. – Und doch! er hatte sich nicht getäuscht. Kaum hatte er einen Schritt gemacht, so bewegten sich auch dort die beiden dunkeln Flecken wieder – zwei Gestalten mit ihm im gleichen Maße fortschreitend. Das sind Aufpasser und Verfolger, dachte er sich. Was ist zu thun? Bei einem Ueberfall, den sie aber wahrscheinlich in der Nähe des Hauses nicht wagen, mich ihrer mit meinem Dolche entledigen; wenn sie mich aber verfolgen, sie, wenn es möglich ist, irre führen!

Das Letztere aber war ein schweres Unternehmen, denn wenn auch die beiden Gestalten nicht Willens schienen, die Entfernung zwischen sich und dem Andern zu kürzen, so ließen sie sie auch nicht vergrößern. Denn machte er längere und raschere Schritte, so thaten sie das Gleiche, blieb er stehen, so machten sie es ebenso. Letzteres [120] that er mehrmals und überlegte sich dabei, ob es nicht besser wäre, umzuwenden und seinen Verfolgern direkt auf den Leib zu gehen. Dies zu thun war er schon im Begriff, doch hatte er mittlerweile die enge Gasse verlassen und eine breite, lange Straße erreicht, die von mehreren Gaslampen hell beschienen war, und sah bei deren Licht dort zwei ähnliche verdächtige Gestalten, die ihm auf ein Zeichen seiner ersten Begleiter ebenfalls folgten. – Vier würden ein zu großes Aufsehen geben, dachte er bei sich. Also nichts von Gewalt; hier muß List entscheiden und Schnelligkeit. Behutsam warf er einen Blick um sich; die letzten seiner Verfolger waren wohl zwanzig Schritte entfernt, die ersten schlichen auf der andern Seite der Straße. Er beschleunigte seinen Gang und als er eine enge Seitengasse erreicht hatte, schoß er dort mit einem gewaltigen Satze hinein. Doch mußten die vordern seiner Verfolger diese Absicht errathen haben, denn Einer stürzte ihm so rasch nach, daß er ihn in der nächsten Sekunde dicht an seiner Seite laufen hörte. Die Andern blieben nicht weniger zurück und er hörte deutlich ihre lauten Schritte auf dem Pflaster der sonst menschenleeren Straßen im schnellsten Tempo.

Vor allen Dingen galt es jetzt sich seines nächsten Verfolgers zu entledigen, und als er ein Mittel hiezu gefunden, mußte er selbst darüber lächeln. Er wandte seinen Lauf etwas nach der Mitte der Straße, gegen einen Gaskandelaber, so zwar, daß sich dieser jetzt zwischen ihm und seinem Verfolger befand. In diesem Augenblicke faßte er die eiserne Stange desselben mit der Hand, schwang sich um sie herum und traf den Andern dabei mit der ganzen Wucht seines Körpers, daß dieser laut dröhnend zu Boden stürzte. Hierauf änderte er die Direktion seines Weges abermals und flog nun in raschen Sätzen über die dunklen Straßen dahin, einem Stadttheile zu, wo wenig Verkehr war und spärliche Gasflammen brannten und wo an große herrschaftliche Häuser viele Gärten stießen. Seine Verfolger blieben übrigens dicht hinter ihm und so stark und ausdauernd [121] er auch war, so fühlte er doch nach und nach, wie ihm das Athmen schwerer wurde und wie es ihm große Mühe zu verursachen anfing, den beschleunigten Lauf fortzusetzen. Wohin sollte er sich wenden? Er hatte gehofft, seine Verfolger zu ermüden und ihnen auf diese Weise zu entgehen. – Vergebens. Wenn er auch zuweilen mehrere Schritte Vorsprung hatte, so strengten sich die Andern desto mehr an, in seine Nähe zu kommen, und sie hatten dies leichter, da sie sich theilen, ihm zuweilen den Weg abschneiden und so denselben für sich abkürzen konnten. Glücklicherweise hatte Keiner von ihnen Schießwaffen bei sich, sie hätten es aber auch vielleicht nicht gewagt, davon Gebrauch zu machen, denn der da vorn, den sie verfolgten, mußte doch am Ende lebend in ihre Hände fallen. Nachlassen wollte Keiner und jetzt am allerwenigsten, wo die Häscher deutlich sahen, daß der Flüchtling da vorn seinen Lauf nicht mehr so rasch fortsetzte wie bisher. Ja, er schien ungewiß zu sein, welchen Weg er nehmen sollte. Er schaute um sich, gewiß in der Absicht, den Ort zu erkennen, wo er sich befände. – Stand er dort nicht stille? Ja, er hatte sich an die Mauer gelehnt, gewiß konnte er nicht weiter und wollte sich ergeben. Mit erneuerter Kraft, das Ende ihres Laufes vor sich sehend, stürzten die Polizeibeamten vorwärts. Jetzt hatten sie die Stelle erreicht, wo sich Jener befand. Schon streckte der Vorderste den Arm nach ihm aus, als er sah, daß der Flüchtling verschwunden war, an einer Mauer verschwunden war, viel zu hoch, um darüber hinwegspringen zu können, aber in der Nähe eines Gartenpavillons, den sie jedoch bei näherer Untersuchung fest verschlossen fanden, und welcher obendrein zu dem Garten des Polizeipräsidenten gehörte.

78. Kapitel
[122] Achtundsiebenzigstes Kapitel.
Auf der Polizeidirektion.

Während die vier Polizei-Beamten ganz ermattet und sehr verblüfft vor dem Gartenpavillon standen, befand sich der Flüchtling in demselben in Sicherheit. Er blieb dicht an der Thüre stehen, und hütete sich vor dem geringsten Geräusch, ja er bezwang so viel als möglich seine keuchende Brust, damit das Athemholen drüben nicht gehört würde. Ringsum war es stille, und er von seinen Verfolgern nur durch eine dünne Bretterwand geschieden; er fühlte sich jetzt wie der Schiffer auf stürmischem Meer. Näher als vorhin und auch jetzt noch war er dem Verderben nie gewesen. Die Nervenaufregung, das Bewußtsein, handeln zu müssen, hatten ihn bis jetzt nicht dazu kommen lassen, seine Lage zu übersehen – seine Lage, und vor Allem die seiner unglücklichen Schwester. Jetzt aber, wo sein Körper ermattet war, wo die Gefahr hinter ihm zu liegen schien, wo er trotzdem immer noch wie angefesselt stehen mußte, jagten seine Gedanken in tollen und wilden Bildern durch sein Gehirn. Und was sie ihm Schreckliches zeigten, das waren leider keine Gebilde der Phantasie, das war Alles wahr, nur zu wahr! Sein mächtiger Geist breitete in rascher Aufeinanderfolge Alles Gehörte und Gesehene vor sich aus, er überlegte, verglich, verwarf und kam zu dem entsetzlichen Resultat, daß der Boden, auf dem er bisher gelebt, anfange unter seinen Füßen zu wanken, daß er auf schlüpfrigem Bergrande stehe, schon hinabgleitend, ohne daß sich seinem suchenden Auge ein sicherer Anhaltspunkt, eine rettende Stütze gezeigt hätte. – Als er mit seinen Gedanken so weit gekommen war, daß er seine Lage klar erkannte, preßte ein wilder Schmerz sein Herz zusammen und er mußte gewaltsam einen Schrei der Verzweiflung unterdrücken, der sich nun momentan in ein schreckliches Gefühl verwandelte, und jede Muskel seines kräftigen Körpers erzittern machte. [123] Das war der Augenblick, wo er, um Allem mit einem Male ein rasches Ende zu machen, an die Thüre zu klopfen versucht war, um sich seinen Verfolgern zu übergeben. Doch warf er in der nächsten Sekunde trotzig den Kopf in die Höhe und sprach zu sich selber: »Verdammt, daß ich mich auf dieser Feigheit ertappe, ein, wenn gleich verlorenes Spiel wegzuwerfen, da man nicht den Muth hat, es zu Ende zu führen. – Ah! wie konnte mir eine solche Idee kommen! Nein, ich werde meine Zügel fest in der Hand behalten, ich werde die Räder meines Lebenswagens vor dem Sturz in diesen Abgrund zu bewahren wissen, wenn mir auch drüben ein anderer nicht minder gefährlicher winkt. War es doch von jeher mein Grundsatz, das Angefangene zu beendigen. Also auch diese Partie bis zum letzten Stiche, bis zu meinem großen Schlemm! Dann die Karten fein und säuberlich geordnet und zusammengelegt, das Conto bezahlt und – gute Nacht!«

Die Vier draußen hatten sich hinter ihren langen Ohren gekratzt, und Einer meinte, es sei doch wahr, was man vom Fuchsbau sage, daß dort der Teufel los sei. »Alles in Allem genommen, so mag der Henker wissen, was wir verfolgt, vielleicht eine Art Geist oder einen Schatten.« Dagegen nun protestirte ein Anderer heftig und sagte zu seinen Kameraden: daß das kein Schatten gewesen sei, habe er bei dem Gaskandelaber drunten wohl gespürt; so sei er in seinem ganzen Leben noch nicht umgerannt worden. Brummend meinte er, dafür wären sie eigentlich nicht bezahlt, und wenn das noch einmal vorkäme, so könne Polizeidiener sein, wer Lust habe. Ein Dritter sprach, er glaube, da helfe Alles nichts mehr; möge es nun Schatten oder Mensch gewesen sein, er sei nun einmal unter sehr verdächtigen Umständen verschwunden am Gartenpavillon des Polizei-Präsidenten, und er halte dafür, die ganze Sache dem Kommissär zu melden und dessen Urtheil zu hören. Der Vierte aber war der Klügste von Allen; er rieth, so lange über die Geschichte reinen Mund zu halten, bis sie den Garten untersucht hätten. Und [124] zu dem Zweck sollten zwei hier bleiben, und zwei vorn zum Hause hinein gehen, um, wohlverstanden, in aller Heimlichkeit nach dem Entflohenen zu fahnden. Fände man nichts, so bliebe die Sache auf sich beruhen und werde nicht weiter gemeldet. Dieser Vorschlag wurde angenommen und Zwei machten sich alsbald auf den ziemlich langen Weg nach der Polizeidirektion, zu welchem Zweck sie ein paar Stadttheile umwandern mußten.

Dies Gespräch hatte die Gedanken des Verfolgten unterbrochen und zwang ihn, alsbald auf seine Rettung zu denken. Was sollte er thun? Das einzige Mittel, zu entkommen, schien ihm, durch den langen Garten in das Haus des Polizei-Präsidenten zu gehen, denn abgesehen von der hohen Mauer, die zu beiden Seiten hinlief, war es ihm heute Abend zu gefährlich, sich der Nachbarschaft anzuvertrauen. Aber wie sollte er aus dem Hause des Polizei-Präsidenten auf die Straße gelangen? Er mußte da an der Wachtstube vorbei, die sich im Erdgeschoß befand, und wäre dort einem unangenehmen, gefährlichen Verhöre nicht entgangen. Der Himmel war wolkenlos, ein heller Streifen, der sich im Osten langsam ausbreitete, zeigte den Aufgang des Mondes an; die Luft war kalt, ein scharfer Wind sauste durch die dürren Zweige der Bäume, der Boden war hart gefroren. Glücklicherweise sprachen die beiden Polizeidiener draußen so laut, daß es dem Flüchtling möglich war, sich während ihrer Unterredung langsam aus dem Pavillon zu entfernen. Einmal aus ihrer Hörweite, beschleunigte er seinen Schritt und erreichte den gepflasterten Hof, welcher an die hintere Seite des Hauses stieß. Die Wagenremise war geöffnet, beim Schein einer Laterne spannte der Kutscher seine Pferde ein und unterhielt sich mit einem der Soldaten, welche zur Wache des Hauses gehörten. »Und so eine Geschichte dauert lang?« fragte der Soldat. – »Heute Abend wenigstens bis zwei Uhr,« versetzte der Kutscher. »Ich sage dir, so ein Maskenball bei Hof, der läßt nicht mit sich spassen.«

[125] Er, der in diesem Augenblicke mit geräuschlosen Schritten über den Hof ging, hatte bei all' dem Schrecklichen, was er erlebt, die täglichen Angelegenheiten vollkommen vergessen. Als der Kutscher von dem Maskenballe bei Hof sprach, erinnerte er sich des heutigen Abends, und eine kecke, wenn gleich gefahrvolle Idee zu seiner Rettung blitzte in seinem Kopfe auf. Es war das ein Gedanke, den er seiner Seltsamkeit wegen augenblicklich festhielt und auszuführen beschloß. Er zog seine Uhr, und nachdem er einen Blick darauf geworfen, murmelte er: »Erst Acht; die Zeit könnte nicht besser sein.« Jetzt hatte er das Haus erreicht, jetzt die breite Treppe, die in den ersten Stock führte, zur Wohnung des Polizei-Präsidenten. Auf derselben war Alles hell erleuchtet, und beim Schein des glänzenden Gaslichtes untersuchte er mit prüfendem Auge den Zustand seiner Toilette. Dank dem festgefrornen Boden war an den glänzenden Reitstiefeln kein Stäubchen zu sehen, ebenso untadelhaft war sein enganliegendes Beinkleid; nur die Blouse von dunkelblauem Wollenstoffe hatte sich bei dem scharfen Laufen etwas verschoben. Doch war dem leicht abzuhelfen. Er zog den ledernen Gürtel, den er um den Leib trug, fester an, das Oberkleid herab, brachte seine Halsbinde, so gut sich das ohne Spiegel thun ließ, in Ordnung, und somit war sein Anzug bis auf das Haar wieder hergestellt. Das mußte schon sorgfältiger behandelt werden, doch gab es auch hiefür ein leichtes Auskunftsmittel. Der junge Mann wußte in dem Hause genau Bescheid, er stieg festen Fußes die Treppe hinauf und trat oben, statt nach dem Empfangszimmer zu gehen, in einen kleinen Korridor, öffnete dort eine Thüre und wollte eintreten.

Hier befand sich ein junges Mädchen, das bei dem Anblick der fremden Gestalt, die so plötzlich auf der Schwelle erschien, laut aufschrie und flüchten wollte. »Bleiben Sie ruhig, Louise,« sagte der Eintretende lachend. »Ah! bei Gott! meine Maske ist gut, da sogar Sie mich nicht erkennen.«

[126] Das Wort »Maske« schien die Kammerjungfer, welche in den letzten Tagen viel von dergleichen gehört, einigermaßen zu beruhigen. Doch hielt sie immer noch die Klinke zur Thüre des Nebenzimmers in der Hand, als sie entgegnete: »Ja, die Maske ist so gut, daß ich den Träger derselben nicht zu erkennen vermag. Und wenn er sich nicht augenblicklich nennt, so werde ich Lärm machen.«

»Coeur de rose!« lachte der junge Mann. »Wie sind Sie heute Abend so wild! So will ich mich denn also nennen, und mich zu gleicher Zeit noch besser in Ihrem Gedächtnisse auffrischen.« Bei diesen Worten hatte er die Hand unter die Blouse gesteckt, sie wieder hervorgezogen, und als er darauf dem erstaunten Mädchen ein paar Dukaten in die Hand gleiten ließ, sagte er flüsternd: »Baron Brand wünscht die Frau Präsidentin zu überraschen, vorher aber einen Augenblick Ihre schöne Gebieterin zu sehen.«

Die Kammerjungfer war wie umgewandelt. »Sie sind aber in der That ein gefährlicher Herr,« sprach sie lachend. »Habe ich doch in meinem ganzen Leben nicht gesehen, daß Jemand eine andere Figur so täuschend darstellen könnte! Fräulein Auguste ist fertig; ich werde Sie melden.«

Damit verschwand das Mädchen, um gleich darauf zurückzukehren und dem Wartenden zu sagen, daß sein Besuch willkommen sei. Ehe der Baron übrigens das Zimmer verließ, brachte er vor dem kleinen Spiegel desselben seine Haare sowie seinen Bart in Ordnung, und als er darauf den uns bekannten Salon betrat, erschien die Tochter des Präsidenten zu gleicher Zeit von der andern Seite, doch blieb sie beim Anblick der fremdartigen, seltsamen Gestalt zögernd auf der Schwelle stehen, und erst, als sich ihr der Baron in seiner eleganten und liebenswürdigen Weise näherte, ihre Hand ergriff, sie feurig küßte und dazu wie mit einem Anflug von Empfindlichkeit sagte: »Ah! auch Sie erkennen mich nicht einmal! Auch Ihnen, schöne Auguste, ist mein Bild so wenig [127] gegenwärtig,« lachte das reizende Mädchen laut auf und rief einmal über das andere Mal: »Prächtig! suberb! magnifique! – Baron, ich kann Ihnen nicht verschweigen, Sie haben sich da einen gefährlichen Nebenbuhler erschaffen.«

»Diese Aeußerung könnte mich unglücklich machen, Auguste,« sagte zärtlich der Baron. »Und darauf können Sie sich verlassen, schöne Unbeständige, daß der Nebenbuhler nach dem heutigen Abend verschwinden und nie mehr zum Vorschein kommen soll.«

»Also eifersüchtig auf sich selbst!« lachte das schöne Mädchen.

»Ja, auf mich selbst,« entgegnete er feurig. »Auf Jeden, der es wagt, Sie anzusehen, auf das Licht, das in Ihrem schönen Auge glänzt, auf die Luft, die Sie einathmen, auf diesen goldenen Reif, der das Glück hat, Ihren reizenden Arm zu umschließen.« Dabei küßte er ihn vielmal, das heißt den Arm, nicht den Reif. »Und eifersüchtig bin ich,« fuhr er mit einem leisen Seufzer fort, »auf die Blume in Ihrem Haar, ach! und auf die Spitzen, jene feinen, neidischen Gewebe, welche beseligt sind, Ihnen so nahe sein zu dürfen.«

»Welche Wortverschwendung!« versetzte Auguste heiter und fröhlich. »Aber jetzt seien Sie vernünftig, Baron. Ja, wenn Sie sich einen Augenblick zu mir hersetzen und verständig sein wollen, so will ich Ihnen dagegen gestehen, daß es mich recht – nein, das will ich gerade nicht sagen – aber daß es mich freut, Sie noch vor dem Balle zu sehen. Aber setzen Sie sich!«

Der Baron that wie ihm befohlen, und obgleich die beiden Fauteuils ziemlich weit von einander standen, so wußte er doch durch eine kühne Schwenkung seinen dem ihrigen näher zu bringen. »Daß ich ehrlich bin, müssen Sie mir zugestehen, Auguste. So mein Kostüm preisgeben! Wie hätte ich Sie intriguiren können!« Er beugte sich zu ihr hinüber, und während er seinen Arm so auf die Lehne des Fauteuils stützte, daß er mit seinen Fingerspitzen bald den kühlen, glatten Goldreif, bald ihren warmen, vollen Arm [128] berühren konnte, blickte er ihr von unten herauf so forschend in die Augen, daß sie die ihrigen niederschlug.

Nach einer Weile sagte sie: »Ich hätte Sie doch erkannt, Baron. Freilich, Ihr Kostüm ist schön, Ihr Gesicht gänzlich fremd, aber Ihr Wesen, Ihre Art zu sprechen, können Sie nicht verleugnen.«

»Coeur de rose,« erwiderte er lachend, »da irren Sie sich.«

»Gewiß nicht,« versetzte das schöne Mädchen. »Sie haben etwas Weiches – etwas Gutes, wenn Sie wollen, in Ihrer Sprache, in Ihrem Auftreten, in Ihrer Art zu sein, und das ist im Widerspruch mit Ihrem wilden Kostüm, ja mit dem Blitz, der jetzt aus Ihren Augen flammt.«

Bei diesen Worten erhob sich der junge Mann langsam aus seinem Stuhl, und als er aufrecht da stand, schien er gegen früher um ein paar Zoll gewachsen zu sein. Seine Haltung war eine ganz andere; er legte die linke Hand leicht und graziös auf den Griff seines Dolches und sagte mit jener ernsten, klingenden Stimme, die uns bekannt ist, mit jenem Tone, der die wildesten Gesellen erzittern machte: »So hören Sie mich denn, Auguste. Ich bin in der Verkleidung nicht ohne Absicht zu Ihnen gekommen – zu dir, deren Herz mir gehört. Verhältnisse, die ich dir unmöglich jetzt auseinandersetzen kann, erlauben mir nicht, dich auf dem gewöhnlichen und schicklichen Wege die Meine nennen zu können. – Auguste,« fuhr er mit wildem und doch zärtlichem Ausdrucke fort, »meine Auguste, du mußt Vater und Mutter verlassen und mußt mit mir fliehen, noch heute Nacht fliehen; ich habe alle Vorbereitungen getroffen, am Schlosse halten Wagen und Pferde, im Gewühl des Balles wird es uns leicht, zu verschwinden. Willst du, meine Auguste? Willst du? Ein kurzes Wort, Ja oder Nein!«

Das auf's Höchste überraschte Mädchen hatte die nun auch in ihrem Wesen so ganz fremde und verwandelte Gestalt staunend angeschaut und hatte zitternd seine Worte gehört; aber sie zitterte nicht, weil sie dachte, es sei jetzt der Augenblick der Vereinigung[129] gekommen mit dem Manne, dem sie gestanden, daß sie ihn liebe, dem sie feurige Küsse erlaubt, dem sie einen Schlüssel anvertraut, von dem er einen großen Mißbrauch hätte machen können, sondern sie bebte, weil sie seinen Worten völlig glaubte, und aus denselben eine Absicht hervortreten sah, die mit der ihrigen durchaus nicht harmonirte, an die sie nimmermehr gedacht, zu der sie nie ihre Zustimmung geben würde. Dem Baron Brand hatte sie erlaubt, daß er sie liebe, aber vor aller Welt liebe; sie wußte, daß er reich war, daß er schöne Equipagen hatte, in allen Gesellschaften gern gesehen war; sie wäre hier in der Residenz gerne vor den Altar getreten; wie hätte man sie beneidet, wie hätte man der Baronin Brand gehuldigt! Dies schöne, glänzende Gewebe hatte er mit seinen Worten gänzlich zerstört, sie sah die goldenen Fäden davon flattern, und hatte leider nicht Verstand genug, sie zu erhaschen und ihn selbst mit kluger Hand damit zu umgarnen.

Er lauschte gespannt aus ihre Antwort, und als er bemerkte, daß, nachdem er geendet, ihre Züge kalt, ernst und förmlich wurden, flog fast unmerklich ein triumphirendes Lächeln über sein Gesicht.

»Herr Baron,« sagte sie, »wenn es auch möglich wäre, daß Sie vorhin im Scherze sprachen, so sind das doch Worte, die ich nicht hören darf, und Sie werden mir erlauben, daß ich Mama rufe.« Bei diesen Worten wandte sie sich gegen die Mitte des Salons, doch sprang ihr der Baron mit einem zierlichen Schritte nach, indem er lachend ausrief: »Coeur de rose! schönste Auguste, sehen Sie wohl, daß es mir gelungen, mein ganzes Wesen zu ändern? Ah! Sie haben meinen Worten geglaubt. Sehen Sie, wie ich Sie gefangen!«

Welcher von Beiden ist nun er selbst? dachte sie, mehr und mehr überrascht. Gewiß, ich that ihm Unrecht, und ich habe mich in der That fangen lassen.

»Wie ist es so süß,« sagte schwärmerisch der Baron, »den [130] Zorn eines geliebten Gegenstandes zu erregen! Hat man doch alsdann das Recht, Verzeihung zu erbitten, was ich hiemit kniefällig thue.« Damit warf er sich ihr zu Füßen, faßte ihre Hände, doch blieb es nicht allein bei dem Küssen derselben.


»Halb zog er sie, halb sank sie hin,«


sagt bei einem nicht ganz unähnlichen Falle der Dichter. Doch können wir nicht hinzusetzen: »Und ward nicht mehr gesehen,« müssen vielmehr der Wahrheit gemäß sagen, daß in diesem Augenblick die Präsidentin die Thür öffnete und überrascht auf der Schwelle stehen blieb, als sie den fremden, wild aussehenden Mann auf so seltsame Art bei ihrer Tochter traf. Als kluge Frau, die sie immer war, hustete sie bedeutsam, bei welchem Ton Auguste zusammenschrak, aber, von den Armen des jungen Mannes festgehalten, sich nicht sogleich befreien konnte.

Doch wandte sie ihren Kopf, der wieder frei geworden war, der Mutter zu und rief: »Herr Baron von Brand, für den heutigen Abend als Räuber maskirt, ist in der That so abscheulich, Mama, daß ich bei Ihnen Schutz suchen muß.« Während sie das aber sagte, fühlte er einen leichten Druck ihrer Hand, die eben gesprochenen Worte Lüge strafend.

»Aber das sind schreckliche Geschichten,« versetzte nun überrascht die Präsidentin, die ebenfalls nicht im Stande war, die so bekannten Züge des Barons zu entdecken.

»Coeur de rose!« lachte dieser, »ich bin verrathen, gnädige Frau. Ich kann nicht mehr zurück.«

Auguste schien zu erröthen, und die Präsidentin hustete während eines sanften Lächelns.

Es entstand eine kleine Pause, dann sprach das junge Mädchen mit lispelnder Stimme: »Ach, Mama, er ist wirklich zu abscheulich, der Baron; er hat mich auf eine so hinterlistige Art auf die Probe gestellt.«

»Die Sie aber siegreich wie Wenige bestanden,« erwiderte der [131] Baron nicht ohne einen Anflug von Ironie. – »Aber finden Sie meine Maskerade nicht vortrefflich?« fuhr er fort, sich an die Präsidentin wendend. »Nicht wahr, ich bin vollkommen unkenntlich? Doch verzeihen Sie, Gnädigste, vor allen Dingen muß ich mich entschuldigen, daß ich es gewagt, Sie zu überraschen; meine Gedanken sind eigentlich zu häufig in Ihrem Hause und schleppen mich zuweilen willenlos mit.«

»Nicht wahr,« sagte Auguste etwas schüchtern, »es ist eigentlich lieb von dem Baron, daß er sich uns vorher zu erkennen gab? Er hätte uns schön in Verlegenheit bringen können.«

»Doch jetzt wollen wir Andere intriguiren!« lachte er lustig. »Sie müssen mir schon erlauben, daß ich mich heute Abend zuweilen an Ihrer Seite sehen lasse. Ja, ich hätte noch einen kühneren Wunsch, aber ich wage es nicht, ihn auszusprechen.«

»Immer zu, Baron,« entgegnete gnädig die Mutter. »Sie sind heute Abend ein gefährlicher Mensch, dem man nichts abschlagen darf.«

»Auch nicht einen Platz in Ihrem Wagen?«

»Ah, Baron, das ist viel. Was wird die Welt sagen? Wie soll ich mich da heraus reden? Sie wissen ohnedies,« setzte sie mit leiser Stimme gegen ihn hinzu, »daß man Sie gerne mit dem Departement der Polizei in Berührung bringen möchte.«

»O ja, ich weiß das,« sprach er seufzend.

»Und ich muß doch den Leuten eine Aufklärung geben können, warum ich in Begleitung eines so furchtbaren Räubers erscheine.«

»Begreiflicherweise. Aber, wenn es die schöne Auguste erlaubt, so stellen Sie den furchtbaren Räuber als – den Bräutigam Ihrer Tochter vor.«

»Ah, Baron, Sie erschrecken mich!« rief das Mädchen aus und schlug die Augen nieder, doch blitzten dieselben vor Freude und Genugthuung.

[132] »Und welchen Namen trägt der Räuber?« fragte lächelnd die Mutter.

»Nun, ich dächte, meinen Namen kennten Sie vollkommen. Doch da kommt soeben der Herr Präsident; bitte, gnädige Frau, fangen Sie Ihre Vorstellungen an.«

Wirklich erschien der Präsident in diesem Augenblicke im Salon, blieb aber ebenfalls auf's Höchste überrascht an der Thüre stehen, als er den fremden Mann bei seinen Damen stehen sah. Seine Nase wollte sich unmuthig erheben, doch dachte er noch zur rechten Zeit an den Karneval und fing sie deßhalb sanft wieder ein. Seine Ueberraschung verminderte sich übrigens nicht, als nun die Präsidentin den jungen Fremden als Bräutigam der Tochter vorstellte. Glücklicherweise aber sprach Auguste den Namen aus, worauf ein momentanes Lächeln die etwas bekümmerten Züge des Präsidenten überflog; er war aber klug genug, die Sache vorderhand als Scherz zu behandeln, mit dem aufrichtigen Wunsche im Hintergrunde, daß sie sich recht bald in Ernst verkehren möge, denn er wünschte sich einen vornehmen und reichen Schwiegersohn. Aufmerksam betrachtete er den Baron, dann sagte er: »Sie haben da ein eigenthümliches Kostüm; liegt demselben eine Idee zu Grunde?«

»Eine besondere nicht,« entgegnete scheinbar sehr lustig der junge Mann. »Es ist eine Phantasie, eine Grille.«

»Ein eleganter Räuber,« bemerkte stolz die Präsidentin.

»So etwas schwebte mir auch vor,« erwiderte der Baron laut lachend. »Und ich dachte dadurch unserem verehrten Herrn Präsidenten eine kleine Aufmerksamkeit zu erzeigen. Wie man in der Stadt hört, sind Sie ja mitten in Räubergeschichten darin und soll man merkwürdigen Sachen auf die Spur gekommen sein.«

Der Präsident klopfte an seine Nase und versetzte mit großer Wichtigkeit: »Allerdings; aber wir müssen klug vorgehen, denn wir haben es mit der Quintessenz von Schelmen und Schlauheit zu thun. Ich leite selbst die ganze Geschichte.«

[133] »Die armen Räuber!« sagte der Baron sehr schmeichelhaft für den Chef der Polizei.

»Aber, Kinder, es ist Zeit,« sprach der Präsident. »Gleich neun Uhr; der Wagen ist vorgefahren – Baron, wo haben Sie den Ihrigen?«

»Ah! Herr Präsident,« entgegnete dieser lachend, »ich wollte Ihre Damen überraschen und zu solchem Zwecke fährt man nicht im Wagen.«

»Der Baron hat einen Platz bei uns acceptirt,« sagte bestimmt die Mutter. Sie hätte um keinen Preis den Räuber, künftigen Schwiegersohn und Baron aus der Hand gelassen.

Er selbst hatte keinen andern Ausweg und mußte unter mehreren Uebeln das Kleinste wählen. Seine vier Verfolger trieben sich sicherlich in der Nähe der Polizeidirektion herum, wahrscheinlich war das ganze Stadtviertel von ihnen besetzt. Also die einzige Möglichkeit, zu entrinnen, war, wenn er unter dem mächtigen Schutze des Präsidenten selbst das Haus verließ und so an's andere Ende der Stadt, in's Schloß, kam. Hier wurde es ihm leicht, im Gedränge zu verschwinden, den Wagen eines Bekannten zu finden und nach Hause zu fahren, um sich umzukleiden.

Der Bediente meldete, daß vorgefahren sei, die Damen hüllten sich in ihre Mäntel, und der Baron rief mit sehr gut gespielter Ueberraschung: »Ah! jetzt beginnt schon die Strafe für meinen Leichtsinn. Ich vergaß, mir einen Paletot bringen zu lassen; sehen Sie, gnädige Frau, so muß ich Sie dennoch verlassen und zuerst nach Hause eilen.« Mit leiser Stimme setzte er, gegen das Mädchen gewendet hinzu: »Ich fühlte keine Kälte, als ich hieher eilte, meine geliebte Auguste.«

»Das ist kein Grund, Baron,« entgegnete die Mutter. »Ich darf Ihnen einen Mantel meines Mannes anbieten.«

»Ja, Baron, wenn Sie mit einem Dienstmantel vorlieb nehmen [134] wollen,« sagte lächelnd der Präsident. »Wir alten Herren sind nicht so mit Ueberflüssigem versehen, wie ihr jungen Leute.«

Natürlicherweise bat der Baron noch einige Mal, sich nicht zu derangiren, ließ sich aber doch endlich zu dem Dienstmantel herbei, der ihm denn auch eilig von dem Bedienten umgehängt wurde. Es war ein langgedientes Kleidungsstück von braunem Tuch mit hellblauem Kragen – ganz Ordonnanz.

So stieg man die Treppen hinab, bei der Wachtstube vorbei, an deren Thüre einige Polizeisoldaten standen, welche ziemlich betrübte und verdrießliche Gesichter machten. Nachdem der Schlag des Wagens geschlossen war, sagte der Bediente zu dem Kutscher: »Nach dem Schlosse!« und als die Pferde anzogen, that der Baron von Brand einen tiefen Athemzug.

79. Kapitel
Neunundsiebenzigstes Kapitel.
Maskenball bei Hof.

An einem Abend wie der heutige glänzte das königliche Schloß innen und außen von Lichtern. Da brannten alle Gaskandelaber rings umher und umgaben die gewaltigen Gebäudemassen mit einem hellen, weißen, blitzenden Kranz; der große Platz vor dem Schloß, ja die angrenzenden Straßen waren mit Pechpfannen besetzt, deren dunkelrothe Gluth wild und trotzig gegen die zierlichen Gasflammen erschien. Die lodernden Flammen warfen einen hellen Schein auf den weiten Platz, wo eine unzählige Menge von Irrlichtern ihr Wesen zu treiben schienen. Das waren die Laternen der vielen Wagen, die von allen Richtungen her kamen, sich kreuzten, hier geradeaus fuhren, dort einen Bogen beschrieben. Eine große Menschenmenge umlagerte den Haupteingang des Schlosses, um[135] von den anfahrenden Masken so viel zu sehen, als die neidischen Verhüllungen, Mäntel, Shawls, Paletots erlaubten. Neugierig drängten sich diese Zuschauer vor und wagten sich oftmals so dicht heran, daß die aufgestellten Posten, Kürassiere hoch zu Roß, kaum im Stande waren, die Eingänge frei zu halten, denn wenn auch Alles vor dem stampfenden Pferde oder sobald man nur den strahlenden Küraß und die glänzende Pallaschklinge erblickte, augenblicklich zurückwich, so drängten doch die Hinteren immer wieder vor, und es war hier eine fortwährende lebendige Ebbe und Fluth.

Dies hinderte übrigens die Wagen nicht, wenn gleich im langsamsten Tempo, anzufahren und sich ihres Inhalts zu entledigen. Freilich war die Reihe sehr lang; wer daher spät vom Hause weggefahren, sich an's Ende derselben anschließen mußte – im Falle er nämlich nicht zu den Bevorzugten gehörte – konnte lange warten, bis er die Treppen erreichte. Zu diesen Bevorzugten gehörte der Wagen des Polizeipräsidenten, der, von einem der Kürassiere begleitet, sogleich an den Eingang gelangte. Beide Damen und Herren stiegen aus, und als sie das Vestibul erreicht hatten, wo sich in der Nähe des Tanzsaals die großen Garderoben befanden, drangen ihnen schon die rauschenden Klänge einer Polonaise entgegen.

»Geschwind, geschwind!« rief die Präsidentin, »die Polonaise beginnt, man darf das nicht versäumen, wenn man einen Ueberblick über das Ganze erhalten will.«

Der Baron, welcher gehofft hatte, sogleich beim Eintritt in den Saal verschwinden zu können, sah sich genöthigt, der Tochter seinen Arm zu geben, während die Mutter von einem schon lange auf diesen wichtigen Moment harrenden jüngern Polizeirath gekapert und in die Reihe weggeführt wurde. Der Präsident faßte ängstlich seine Nase und war schon im nächsten Augenblicke in den Strudel der Masken hineingerissen.

Ein gewöhnlicher Maskenball ist von einem solchen bei Hofe wenig verschieden. Hier sind nur die Räume prächtiger, die Beleuchtung [136] glänzender, der Eingeladenen mehr und dabei in den einzelnen Sälen, wo sich Alles zusammendrängt, eine unerträgliche Hitze, ein fabelhafter Staub und ein Gemisch von Parfums der verschiedensten Art. Im Uebrigen gleicht ein Maskenball dem andern auf's Haar. Hier wie dort sieht man prächtige Kostüme, geschmackvolle Anzüge, neben andern, die recht übel gewählt, ja mitunter sehr fade erscheinen. Auch die Konversation bleibt sich im Ganzen ziemlich gleich. Geistreiche Bemerkungen wechseln ab mit den dummsten Phrasen, und das bekannte: »Maske, ich kenne dich!« ist ebenso hier wie dort, nur hier gewöhnlich in's Französische übersetzt, zu Hause.

Einen Vorzug haben übrigens die gewöhnlichen Bälle, daß sich nämlich sämmtliche Anwesende gleichförmig über das ganze Lokal vertheilen, wogegen hier die Säle und Zimmer, in denen sich gerade die allerhöchsten Herrschaften aufhalten, förmlich belagert sind, von einer Menschenmasse besetzt, die Kopf an Kopf steht, in der Jeder sich vordrängt, um gleich darauf wieder sanft zurückgedrückt zu werden, wo Jeder den Hals so lang als möglich emporstreckt und das süßeste Lächeln auf seinem Gesichte hervorruft, um gleich gerüstet zu sein, sobald ein gnädiger Blick herüberdringt.

Die Polonaise bewegte sich durch das ganze Apartement in einer fast endlosen Linie und hatte zuletzt den kleinen Thronsaal zu passiren, wo sich der allerhöchste Hof befand und auf diese Art alle anwesenden Masken Revue passiren ließ. Die Musik spielte ein so langsames Tempo, daß man nur so dahin zu schlendern brauchte, wodurch es auch den Herrschaften möglich war, sich jeden Einzelnen genau zu betrachten, und Diesen oder Jenen mit einem gnädigen Worte zu beglücken.

Vergeblich hatte der Baron Brand den Versuch gemacht, die junge Dame, welche er führte, zu überreden, mit ihm in eins der leereren Zimmer zu treten, um, wie er sagte, die langweilige Polonaise mit süßem Geplauder zu vertauschen; – es war ihm [137] unangenehm, ja ihm bangte ordentlich davor, durch den Thronsaal zu gehen. Auguste dagegen hätte um Vieles ihren Platz nicht verlassen. Sie hörte gern das Flüstern um sich her und vernahm es mit Stolz, wenn man sich über ihren seltsam, aber elegant kostümirten Begleiter in allerlei Muthmaßungen erging. Der Baron mußte vorwärts und da es nun einmal nicht zu ändern war, so hob er den Kopf leicht empor und schritt dahin, als sei ihm Alles daran gelegen, die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu ziehen.

Der ganze Hof war versammelt; Ihre Majestät im geschmackvollen Kostüme einer reichen Burgfrau saß da, von Ihrem ritterlichen Gefolge umgeben. Aus diesem hervor machten sich besonders vier schöne Stallmeisterinnen bemerkbar, welche sie zunächst umstanden. Eine derselben war Eugenie v. S., und sobald der Baron den Saal betrat, konnte er es begreiflicherweise nicht unterlassen, mit seinem scharfen Auge sogleich dieses reizende Mädchen aufzusuchen. Da stand sie, die prächtige, schlanke Gestalt, zunächst am Sessel Ihrer Majestät, auf dessen Lehne sie eine Hand aufgestützt hatte. Sie trug das eng anliegende dunkelblaue Reitkleid, welches ihre schönen Körperformen wunderbar hervorhob. – Weßhalb es ihn schmerzlich berührte, wußte der Baron selbst nicht, aber als er von ihrer Schulter die bekannten Achselbänder in Blau, Grün mit Silber herabflattern sah, verursachte ihm das ein widriges Gefühl. Dazu war das Gesicht des schönen Mädchens von einer erschrecklichen Blässe und ihre Augen waren geröthet, als habe sie geweint; ja zuweilen zuckten ihre bleichen Lippen und es war, als müsse sie sich alle Gewalt anthun, um ihre Thränen zurückzuhalten. – Wo aber war der Herzog? – Richtig, dort stand er hinter ihr und hatte dieselben Farben, welche Eugenie trug, an seinem Anzuge nicht gespart. Zuweilen beugte er sich angelegentlich und auffallend zu ihr hinüber und flüsterte ihr lächelnd einige Worte zu, welche sie ja nicht unfreundlich erwidern durfte. Doch sah das Lächeln, [138] welches alsdann über ihr Gesicht flog, so eisig, ja unheimlich aus, daß es dem Baron ordentlich davor graute. Er verwünschte den Dienst, den er dem Herzog geleistet, und hätte sich vielleicht noch größere Vorwürfe darüber gemacht, wenn seine Gedanken heute Abend nicht mit Wichtigerem beschäftigt gewesen wären. – Warum hatte er dem Herzog dergleichen Dienste geleistet? Um ihn seinerseits ebenfalls gebrauchen zu können und eine innige Verbindung mit ihm anzuknüpfen, die ihm später vielleicht von Nutzen sein konnte. Und dieses später – o es kam vielleicht nie, denn der Baron fühlte schmerzlich, daß der Zeiger seiner Lebensuhr eine Stunde anzeigte, so spät, daß mit dem Schlage derselben die Uhr gänzlich abgelaufen sein mochte! Und doch – wenn es irgend möglich war, sollte dem Herzog nichts geschenkt sein. Unter diesen Gedanken durchschritt er den Saal, stolz, mit hoch erhobenem Kopfe, die erstaunten Blicke zurückgebend, die sich gegen ihn richteten. Es mußte etwas Eigenthümliches in seiner Erscheinung liegen, denn wo er vorbei kam, bewegten sich flüsternd die Lippen gegen den Nachbar, und selbst Eugenie erhob ihren Blick und heftete die dunkeln, schwermüthigen Augen eine Sekunde lang fest auf ihn. Vor Etwas bangte übrigens dem Baron: vor dem Anblick des jungen Grafen Fohrbach, den er lieb gewonnen und der auch ihm stets mit gleicher Freundlichkeit entgegen gekommen war. Wahrhaftig, ihn reute die Geschichte mit den Achselbändern und er hätte Gott weiß was darum gegeben, wenn er sie hätte ungeschehen machen können. – Ach, wie so Vieles! – Dort stand der Graf in einem sehr geschmackvollen Anzuge von violettem Sammet mit Silberstickerei; dort stand er, und als er jetzt den Baron erblickte, schien etwas Furchtbares in seinem Herzen vorzugehen. Seine Hände ballten sich zusammen, sein Auge flammte einen Moment, dann aber spiegelte sich etwas wie Bestürzung und Schrecken in demselben. Daß diese Aufregung des jungen Mannes ihm gelte, fühlte der Baron wohl, doch war sie ihm unerklärlich, denn erstens erkannte [139] er ihn gewiß nicht und dann konnte er ja auch keine Ahnung davon haben, daß er, der Baron Brand, bei jener Geschichte mit Eugenie und dem Herzog die Hand im Spiele habe. Daß aber Graf Fohrbach bei seinem Anblick auf's Höchste erschreckt geschienen, ja, daß sein Auge zornig gefunkelt, war nicht zu leugnen; hatte er doch deutlich dessen Bewegung gesehen, als wenn er vorstürzen wolle, und hatte bemerkt, daß ihn der alte Leibarzt ironisch lachend bei dem Arm ergriff und zurückzog. Auch folgte er ihm mit den Blicken, und als der Baron schon das Ende des Thronsaales erreicht hatte und nochmals rückwärts schaute, sah er, wie ihm der Graf noch immer mit vorgestrecktem Halse und starren Augen nachblickte.

Die Polonaise ging bald darauf zu Ende, der Baron brachte seine Tänzerin nach mühsamem Umhersuchen endlich glücklich zu ihrer Mutter und wollte sich nun so schnell als möglich zurückziehen. Doch ließ ihn die Präsidentin nicht so wohlfeilen Kaufes davon; er mußte sich den Polizeirath vorstellen lassen und die kluge Frau benützte hiezu den Augenblick, als er gerade Arm in Arm mit der Tochter vor sie hintrat. Es war diese Vorstellung gewissermaßen eine Lehre für den Polizeirath, denn vor einem Jahre hatte man ihm zu verstehen gegeben, daß eine Verbindung mit dem Hause des Präsidenten, für ihn, der von sehr guter Familie war, vielleicht nicht unerreichbar sei. Er hatte aber bereits eine thörichte Liebe in seinem Herzen und zu wenig Weltklugheit, um einer künftigen Carrière selbst ein so kleines Opfer zu bringen.

Der Baron hatte übrigens nachgerade an der Komödie genug, in die er sich so leichtsinnig hinein gewagt, und blickte rings auf das Gewühl, um eine Direktion zu finden, bei welcher er sich am leichtesten zurückziehen könne. Doch sagte ihm die Präsidentin: »Sehen Sie, wie ich alterirt bin, Baron. Haben Sie denn schon von der unglückseligen Geschichte mit der Baronin v. W. gehört? Gerechter Gott! man hat es mir schon von mehreren Seiten gesagt und denkt, ich, als Frau des Präsidenten, müsse darum wissen; [140] hatte aber keine Ahnung davon. Mein Mann spricht niemals über so etwas. Haben Sie es denn gewußt?«

Baron Brand zuckte mit den Achseln und entgegnete: »Ich erfuhr es ebenfalls vorhin. Das ist freilich eine traurige Geschichte. Und man weiß nichts Näheres?«

»Man sagt dies und das; Gott, wenn nur der Präsident käme! Wer weiß, wo der Mann wieder am Spieltische sitzt! Ich sollte doch eigentlich den Leuten gegenüber etwas Genaueres wissen.«

Der Polizeirath, der sich vorhin zurückgezogen, näherte sich jetzt eilig wieder und sagte: »Der Herr Herzog sucht den Herrn Polizeipräsidenten. Dort kommen Seine Durchlaucht.«

Nach diesen Worten trat er mit einem tiefen Bückling zurück, um dem Herzoge Platz zu machen, der nun zu der Gruppe trat, sich vor Mutter und Tochter etwas verneigte und den ihm Fremden, der neben der Tochter stand, von der Seite anblickte. Der Baron, der an der Präsentation von vorhin genug hatte, wandte sich an den Herzog und sagte ihm lächelnd: »Gnädigster Herr, ich erlaube mir, Ihnen einen guten Abend zu wünschen.«

»Ah! die Stimme sollte ich kennen,« erwiderte der Herzog, wobei er den Andern forschend betrachtete. »Wären Sie es wirklich, Baron Brand?«

»In eigener Person; Coeur de rose! ich muß mir wahrhaftig auf meine Vermummung etwas einbilden.«

»Ich mache Ihnen mein Kompliment,« entgegnete Seine Durchlaucht; »suchte Sie auch schon eine gute Weile, Sie und den Herrn Polizeipräsidenten. Wissen Sie, ich kann Sie nun einmal von dem Departement nicht trennen. – Gnädige Frau,« wandte er sich an die Präsidentin, »Sie müssen diesem gefährlichen Menschen den Zutritt in Ihr Haus nicht so sehr erleichtern.«

Die Mutter lächelte sanft und erwiderte: »Es gibt Verhältnisse, Euer Durchlaucht, unter deren Schutz man viel gestatten kann.«

»Ah! es gibt Verhältnisse!« rief lachend der Herzog. »Was [141] Teufel! Baron, hat man Sie endlich erwischt, – Sie Heuchler und Verräther! – Fräulein Auguste, darf ich Ihnen meine Gratulation machen?«

Das Mädchen knixte und blickte sehr schüchtern zu Boden. Mama erhob ihren Kopf sehr würdevoll, wobei sie den Fächer spielen ließ, und Herr von Brand stand wie auf Nadeln.

Glücklicherweise erinnerte sich der Herzog, weßhalb er eigentlich gekommen, und sprach zur Präsidentin: »Haben Sie keine Idee, wo ich Ihren Herrn Gemahl treffen kann? Ich muß ihn dringend sprechen.«

Abermals trat der Polizeirath, und diesmal noch schüchterner, zu der Gruppe und meldete gehorsamst, sein hoher Chef sei im runden gelben Salon und eben im Begriff, eine Whistpartie zu finden.

Zum Glück flüsterte in diesem Augenblicke Auguste ihrer Mutter etwas zu, weßhalb es dem Baron möglich wurde, dem Herzog zuzuraunen: »Nehmen Sie mich mit.«

»Dank Ihnen,« wandte sich dieser an den Rath und sagte dann zu den Damen: »Sie werden entschuldigen, daß ich Ihnen den Baron auf einige Minuten entführe. – Kommen Sie, ich habe mit Ihnen zu sprechen.«

Beide entfernten sich und es gelang ihnen ohne Mühe, durch das Gedränge zu kommen, denn überall wurde dem Herzog auf das Ehrerbietigste Platz gemacht. Dieser schob seinen Arm unter den des Herrn von Brand, und als sie in eine Gallerie kamen, wo sich nur wenige Gäste ergingen, sagte er: »Baron, ich bin ungeheuer in Ihrer Schuld. Sie haben die Sache mit den Achselbändern vortrefflich arrangirt. Wenn ich nur eine Ahnung davon hätte, wie Sie das angefangen? Ich zweifelte daran und war nicht weniger überrascht als Graf Fohrbach, dessen Gesicht Sie hätten sehen sollen. Ah! das war komisch; haben Sie ihn nicht zufällig erblickt?«

[142] »Nein,« erwiderte der Andere mit großer Ruhe. »Aber ich bemerkte, daß Fräulein Eugenie sehr blaß und angegriffen aussah.«

»Das ist mir recht,« bemerkte der Herzog eifrig. »Glauben Sie mir, dieser Farbenwechsel kann gute Früchte tragen.«

»Meinen Sie?«

»Oho! es war das auffallend genug. Der ganze Hof erkannte augenblicklich meine Farben; ich sah viele lächelnde Gesichter. Das hat sie ungeheuer compromittirt.«

»Das thäte mir wahrhaftig leid.«

»Teufel auch! – Bei solchem Kriege gelten alle Mittel,« sprach der Herzog, und fuhr seufzend fort: »ich bin in das Mädchen rasend verliebt, und es ist nicht blos façon de parler, wenn ich wiederholt versichere, daß ich Ihnen mit meinem ganzen Einfluß zu Gebote stehe.«

»Davon hoffe ich baldigst Gebrauch zu machen,« erwiderte der Baron. »Sie suchen den Polizeipräsidenten?«

»Soll ich vielleicht bei dem für Sie sprechen?« fragte lachend Seine Durchlaucht. »Apropos, ist denn wirklich wahr, was Madame uns vorhin gesagt?«

Der Baron zuckte die Achseln und warf leicht hin: »Man kann sich nie genug in Acht nehmen. – Aber wenn ich mir eine Frage erlauben dürfte: was suchen Sie bei der Polizei, gnädigster Herr?«

»Haben Sie denn noch nicht von der skandalösen Geschichte gehört?«

»Von welcher?« fragte so unbefangen wie möglich der Baron.

»Nun, mit der Baronin W. Der ganze Hof, die Gesellschaft sind empört darüber. Ich suche den Präsidenten im Namen Ihrer Majestät.«

»Sie sehen mich ganz erstaunt; ich weiß von nichts.«

»Sie wissen so gut wie ich, daß der alte General beständige Differenzen mit seiner Frau hatte. Der Währwolf! Eine so schöne, liebenswürdige Frau! Weiß der Teufel, was sie für eine Geschichte [143] gehabt hat, denn unter uns gesagt: in dem Punkt ist es nicht ganz richtig. Genug, da ist ein Haus in der Schilderstraße, das hat sie zuweilen incognito besucht. Nun hat aber auch – weßhalb weiß ich noch nicht – die Polizei auf eben dies Haus ein Auge. Denken Sie, Baron, man besetzt das Haus mit dem Befehl, Alles was sich dort befände, festzuhalten und arretirt zu gleicher Zeit die unglückliche Frau, die sich zufälligerweise in einem Zimmer des ersten Stocks befindet –«

»Man arretirt sie?« rief der Andere erschreckt.

»Das heißt, man verbietet ihr bis auf Weiteres, das Haus zu verlassen. Nun mag der Teufel wissen, weßhalb zu gleicher Zeit die alte Excellenz von der Geschichte gehört hat. Genug, der General schlägt einen unerhörten Skandal auf und bringt die Sache direkt vor Seine Majestät.«

»Das ist ja eine furchtbare Geschichte! – Und was soll der Polizeipräsident thun?«

»Einfach der armen Frau gestatten, daß sie das Haus verläßt.«

»Und wem gehört das Haus?«

»Das wissen die Götter. Es soll sehr elegant möblirt sein. Entre nous, die Sache hat schon ihren Haken. Aber Sie, der hinter Alles kommt, sollten das auch ergründen. Nicht wahr?«

»Wenn man mir den Auftrag dazu gäbe,« entgegnete ruhig der Baron.

»Nun, den gibt man Ihnen mit tausend Freuden,« sagte eifrig Seine Durchlaucht.

»Aber wer, gnädigster Herr?«

»Nun, meinetwegen Ihre Majestät; ich will das verantworten.«

»Meinen tiefsten Respekt vor Ihrer Majestät,« meinte lächelnd der Baron, »aber um jetzt da 'was vorzunehmen, müßte man einen Befehl des Präsidenten haben, mit der Gefangenen verkehren zu dürfen.«

[144] »Den würde Ihnen der künftige Schwiegerpapa gewiß nicht abschlagen.«

»Scherz bei Seite, gnädiger Herr! Da kann ich nichts machen. Aber wenn Sie im Auftrage Ihrer Majestät dem Präsidenten scharf zu Leibe gehen, so wird es Ihnen leicht, ihm einen Befehl auszupressen, der mir erlaubt, das Haus in der Schilderstraße zu besuchen.«

»Und darf ich Sie ihm nennen.«

»Versteht sich von selbst; machen Sie von meinem Namen jeden beliebigen Gebrauch.«

Diese Unterredung hatten beide Herren im Durchschreiten der langen Gallerie gehalten, waren aber dabei jeden Augenblick stehen geblieben und hatten jetzt das Ende derselben erreicht. In dem Moment, als sie dieselbe verlassen wollten, fast unter der Ausgangsthüre, stießen sie auf den Grafen Fohrbach, der am Arme des Herrn von Steinfeld eilig eintrat. Beim Anblick des Herzogs und des Barons trat der Graf mit einem seltsamen Ausdruck im Gesichte auf die Seite und schien einige Sekunden unschlüssig, ob er näher treten oder sich entfernen solle. Augenscheinlich hatte der Graf den Herrn von Brand aufgesucht, hielt es aber bei der Anwesenheit Seiner Durchlaucht nicht für geeignet ihn anzureden. Letzterer lächelte auf eine eigenthümliche Art – es war das ein Lächeln, welches eine tiefe Röthe auf dem Gesichte des Adjutanten hervorrief, was übrigens der Baron, der sich hastig von dem Arme des Herzogs losgemacht hatte, nicht zu bemerken schien. Wie von einer plötzlichen, sehr wichtigen Idee getrieben, trat er auf den Herrn von Steinfeld zu, der aber befremdet einen halben Schritt zurücktrat.

Es war diese Begegnung übrigens für alle vier ein peinlicher Moment, welchem der Herzog dadurch entging, daß er eine leichte Verbeugung machte und seinem Begleiter sagte: »Erwarten Sie mich in der Nähe, Baron, ich hoffe Ihnen das bewußte Papier sogleich zu überbringen.«

[145] Graf Fohrbach blickte dem Herzog nach, bis derselbe im Nebenzimmer verschwunden war. Dann wandte er sich an den Baron, der wohl vorhersehend, was jetzt kommen würde, ruhig stehen geblieben war.

»Wir haben Sie aufgesucht, Herr von Brand,« sagte der Adjutant nach einer Pause in einem Tone, dem man deutlich anhörte, daß sich der Sprecher zwang, ihn so ruhig als möglich zu halten.

»Beide Herren haben mich aufgesucht?« erwiderte der Baron auf die verbindlichste Art von der Welt. »Also führt Sie eine gemeinsame Angelegenheit zu mir? Und es trifft sich das für mich sehr angenehm, denn ich war ebenfalls im Begriff, beide Herren aufzusuchen. – Gewiß, Graf Fohrbach; beide Herren.« Die Haltung, welche der Baron bei den letzten Worten angenommen hatte, sowie die Art, wie er seine Worte betonte, waren so gänzlich verschieden von seiner sonstigen Weise, daß sie unmöglich ihren Eindruck auf die Andern verfehlen konnten.

»Es ist hier eigentlich nicht der Ort zu Erklärungen,« sagte Herr von Steinfeld, »und müssen wir Sie bitten, uns in eins der leeren Nebenzimmer zu folgen.«

»Auch zu dem, was ich mitzutheilen habe,« erwiderte der Baron beipflichtend, »sind die Säle eigentlich nicht passend und würde ich den beiden Herren folgen, wohin es ihnen beliebte, doch vernahmen Sie selbst den Befehl Seiner Durchlaucht, welcher mich hier an diesen Platz fesselt.«

»Und die Befehle des Herrn Herzogs werden pünktlich befolgt,« erwiderte Graf Fohrbach ironisch.

Doch schien der Baron das nicht verstehen zu wollen, denn er fuhr ruhig fort: »Sollten Sie es aber vorziehen, in einer spätern Stunde über mich zu verfügen, so füge ich mich, Wo es immer sei, Ihren Wünschen.«

»Ich würde es als eine Gefälligkeit ansehen, wenn Sie jetzt einen Augenblick für uns hätten,« sagte der Graf. »Du bist [146] ebenfalls frei,« wandte er sich an den Herrn von Steinfeld, »wer weiß, wozu man später commandirt wird! Es ist hier nebenan ein kleines Kabinet, wo wir von Lauschern sicher sind.«

Der Baron Brand verbeugte sich und einer Handbewegung des Adjutanten folgend, die ihn nöthigte, voran zu gehen, verließ er die Gallerie und betrat das bezeichnete Kabinet. Die Andern folgten ihm.

In diesem Kabinete war man freilich von den Lauschern sicher. Es bildete eine Ecke des Schlosses und hatte auf diese Art keine Seitenzimmer. Die Wände desselben waren mit dunkelrothen Seidentapeten bedeckt, wodurch es, nur von zwei Wachskerzen erhellt, ziemlich dunkel erschien. In dem Kamine von polirtem Stahl brannte ein mächtiger Holzstoß und in kleinen Fauteuils vor demselben ließen sich der Graf, sowie Herr von Steinfeld nieder. Der Baron dagegen zog es vor, stehen zu bleiben und lehnte sich mit dem Rücken so gegen das Kamingesims, daß weder der Schein des Feuers in demselben, noch der der Wachskerzen auf sein Gesicht fiel. Rings umher war alles so still, daß es der von ferne sehr gedämpft herüber dringenden Töne der Musik bedurfte, um sich zu erinnern, daß man in der unmittelbaren Nähe eines Ballfestes sei.

Es dauerte übrigens längere Zeit, ehe Einer von den Dreien das Wort ergriff. So sehr es den Grafen gedrängt, den Baron aufzufinden, den er mit Recht im Verdacht hatte, bei der Geschichte der Achselbänder mitgewirkt zu haben – denn er erinnerte sich wohl jenes Berichtes, den er damals im Schlosse angehört – so versank er doch jetzt, vor den spielenden Flammen sitzend, momentan in tiefe Gedanken, aus denen ihn Herr von Steinfeld nicht weckte, da er mehr Zeuge als Selbsthandelnder war, ebensowenig der Baron, der die Arme über einander geschlagen hatte und angelegentlich die Tapete betrachtete, die jetzt fast schwarz erschien, und gleich darauf, wenn die Flamme aus dem Holzstoße stärker emporloderte, [147] wie glühend roth angestrahlt wurde. Dieser hatte so seine eigenen Gedanken, – wilde schreckliche Gedanken, wie vor ein paar Stunden in dem Garten der Polizeidirektion; nur war jetzt mehr Klarheit hineingekommen, er wußte, was er wollte, und nachdem er noch eine Weile schwer mit sich gekämpft, sah er es deutlich vor sich, das Ende seines vielbewegten, seltsamen Lebens. Er fuhr aus seinen Träumereien empor und wandte sich mit den Worten an die beiden Herren: »Sie wollten mir Mittheilungen machen? -Erlauben Sie mir, daß ich das Wort ergreife, und wenn ich zu Ende bin, werden Sie wohl eingestehen, daß ich vielleicht die meisten Ihrer Fragen ohne sie zu kennen beantwortet.« – –

80. Kapitel
Achtzigstes Kapitel.
Gnade und Ungnade.

Der Chef des Polizeidepartements – er war wie die meisten alten Herren im schwarzen Frack, über dessen Rücken etwas wie eine schwarzseidene Schürze flatterte, einen Domino vorstellend – bedauerte unendlich, daß die berühmte Geschichte mit der Diebsbande nicht schon vor ein paar Monaten eclatrirt war, wegen der sehr leeren linken Seite seines Frackes im traurigen Gegensatz zu den andern Departementschefs, die bei den großen Gelegenheiten wie ein wandelndes Stück Firmament aussahen. Er war sich aber seiner Wichtigkeit, namentlich im gegenwärtigen Augenblicke, vollkommen bewußt, und seine Nase, nachdem er sie gehätschelt und sanft geklopft, erhielt die Freiheit, hoch über »Veränderlich« auf »Schön Wetter« zu steigen, um als getreuer Barometer dem Publikum anzuzeigen, daß ihr Herr außerordentlich mit sich zufrieden sei.

So war er durch die Zimmer stolzirt, und wenn es auch sonst nicht gerade zu seinen Gewohnheiten gehörte, sich vorzudrängen, [148] so that er doch heute Abend etwas dergleichen und wandelte zu dem Zweck den innern Appartements zu, wo der allerhöchste Hof sei nen kleinen Cercle hielt, wo man unter einander plauderte oder mit Vertrauten sprach. Man mochte hier im Allgemeinen den Präsidenten wohl leiden. Die Herren schätzten ihn, weil selbst der geordnetste Mann wohl einmal in den Fall kommen konnte, von seiner mächtigen Hilfe Gebrauch machen zu müssen, und die Damen, weil er ein kleines Original war, pikante Geschichten zu erzählen wußte und während des Winters ein paar recht hübsche Bälle gab.

Der Hof war gruppirt, wie es sich von selbst versteht: die glänzenden Sonnen waren von den leuchtenden Planeten umgeben, diese wieder umtanzt von den Monden, denen sie ihr Licht verliehen, und umringt von dem zahllosen Heer des gemeinen Gestirnes. Zuweilen schoß auch ein Komet durch den strahlenden Kranz in Gestalt eines bescheidenen Assessors oder unternehmenden Lieutenants, ein schüchterner Komet, der nun aus Alteration, sich in den höchsten Cirkel verirrt zu haben, ohne sich aufzuhalten, bis an's Ende sämmtlicher Säle sauste und sich erst da, wo ihn Niemand mehr bemerkte, erschreckt umwandte.

Der Präsident betrat diesen Salon, gewiß nicht in der Absicht, dort zu bleiben, sondern nur um hier durch in den gelben Saal zu einer Partie Whist zu gelangen. Er hätte freilich auch noch einen andern Weg dorthin nehmen können, aber die kleinen Strahlen höchster Gunst, die bei solchen Gelegenheiten selten verfehlten, ihn zu beglücken, thaten seinem alten Herzen so wohl. Die Frau Herzogin besonders war ihm ziemlich gewogen und ermangelte nie einen huldreichen Spaß mit ihm zu machen; ja, Ihre Majestät hatten, am Whisttische sitzend, schon die außerordentliche Gnade gehabt, ihm einen Blick in Höchstihre Karten zu gestatten, und selbst Seine Majestät bemerkten ihren Chef der Polizei nicht ungern und hatten immer etwas Angenehmes für ihn in Bereitschaft, war es nur ein spaßhaftes Wort oder eine huldreiche Handbewegung. Der [149] Präsident verließ den allerhöchsten Kreis nie, ohne solchergestalt reichlich bedacht worden zu sein.

So empfänglich für alles Gute, betrat er auch heute diesen Saal und zufällig durch eine Thüre, welche ihnvis à vis Ihrer Majestät brachte, die ihn einen Augenblick fixirten, die Augen zusammen zogen, und sich dann, ohne die tiefe Verbeugung des Chefs der Polizei zu bemerken, nach der andern Seite wandten, wobei Ihre Majestät zu der Frau Herzogin sagten, daß sich die neue blaue Seidentapete doch vortrefflich ausnähme. Der Präsident, etwas erstaunt, tänzelte zierlich bei den Herrschaften vorbei, und als er in den Gesichtskreis der Frau Herzogin trat, brachte er auch hier pflichtmäßig seine Verbeugung gegen Hochdieselbe an. Diese wandte sich nun gerade nicht herum, doch dankte sie mit einer Neigung des Kopfes so kalt, so steif und förmlich, daß der Präsident unwillkürlich hinter sich schielte, ob sich dort nicht zufällig ein neu erschaffener Kammerherr zeige oder die Frau eines alten Beamten von sehr jungem Adel, denen dieser Gruß gegolten. Aber hinter ihm war nichts als ein großer Spiegel, der seine eigene Gestalt und sein bestürztes Gesicht wie neckend zurückwarf.

Daß der Präsident nicht falsch gesehen, bemerkte er als Mann, der den Hof kannte, an den Gesichtern der Cavaliere, durch welche er hindurch schritt, und von denen die meisten sonst für ihn voll Aufmerksamkeit waren. Heute erging es ihm wie dem Herrn von Dankwart, denn wenn er rechts und links seine Hände ausgestreckt hätte, wäre Niemand da gewesen, um sie zu ergreifen und zu schütteln. Wo er selbst ein freundliches Wort sprach, da wich man augenscheinlich zurück und hatte nur ein verlegenes Grinsen statt aller Antwort. Die Nase des Präsidenten sank auf »Veränderlich« herab; er spürte schlechtes Wetter, und an dem Benehmen der Excellenzen in dem gelben Salon, die ihn sonst gerne zu ihrer Spielpartie zogen, fand er seine Vermuthungen bestätigt. Alle Tische waren bereits besetzt, und wo sich allenfalls noch ein Platz zeigte, [150] da wurde fast angesichts des Präsidenten ein Nebenstehender gepreßt, um den leeren Platz einzunehmen.

Es ist wundersam, wie in der Welt oft des Einen Schaden dem Andern zum Nutzen wird. So ging es bei der eben erwähnten Veranlassung – dem Pressen eines Mitspielers nämlich – dem Herrn von Dankwart. Vergeblich hatte dieser längere Zeit in dem Dunstkreis der höchsten Herrschaften herumgeschwänzelt, – es wollte keines, selbst nicht einmal eines der Gestirne dritten Ranges, eine Anziehungskraft auf ihn ausüben. Seine gefälligsten und geistreichsten Bemerkungen waren nur für den leeren Raum gesprochen, und als ihm endlich eine etwas kecke Annäherung an die Frau Herzogin ein pikantes Wort eingetragen hatte, sah er sich veranlaßt, den Kreis der Sonnen und Planeten zu verlassen und als unglückliche Sternschuppe in's Nebenzimmer abzublitzen. Zum Glück für ihn fiel er hier an den Tisch Seiner Excellenz des Oberststallmeisters, der mit dem Hoftheater-Intendanten auf den dritten Mann wartete, und nun beim Anblick des Präsidenten in der Noth zum Herrn von Dankwart griff, als kluger Mann denkend, daß man immer unter zwei Uebeln das kleinste wählen müsse.

Der Präsident wußte nicht, was er von allem dem zu halten habe; er schien seine Nase befragen zu wollen, indem er sie faßte und tief herabzog, aber dieselbe blieb stumm und antwortete nur durch ein stilles Seufzen. Er wandelte nach und nach bei sämmtlichen Spieltischen vorbei, bald hier bald dort eine Bemerkung in das Gespräch werfend, doch waren die Antworten, die er erhielt, ebenfalls kalt und förmlich, ja mancher schaute sich um, ob wohl Jemand bemerke, daß der arme Präsident neben ihm stehe. So kam er auch an die andre Thüre des gelben Salons, wo er mit Herzog Alfred, der ihm hastig entgegen kam, zusammentraf. – »Ah!« rief dieser mit lauter Stimme, »Sie habe ich lange gesucht.«

Dem Chef der Polizei war es bei diesen Worten zu Muth, als ginge ihm in finsterer Nacht ein Stern auf. »Gott sei Dank!« [151] seufzte er in sich hinein, »endlich doch einmal ein Wesen, das menschlich denkt. Unter Larven die einzig fühlende Brust.« Das Aussehen des Herzogs war leutselig und freundlich wie immer, und dazu sprach er mit so hörbarer Stimme, daß fast sämmtliche Spielende ihre Köpfe herumdrehten.

»Haben Sie einen Augenblick für mich übrig,« fuhr Seine Durchlaucht fort, »so wäre es mir angenehm, wenn Eure Excellenz einen Gang mit mir durch die Zimmer machten.«

Auf's Höchste geschmeichelt, verbeugte sich der Präsident, und Beide traten in das anstoßende Gemach.

»Aber, Präsident,« sagte der Herzog, als sie allein waren, »was machen Sie um Gotteswillen für Geschichten!«

»Daß man mich im Verdacht hat, als mache ich seltsame Geschichten, habe ich schon bemerkt,« entgegnete der Chef der Polizei in kläglichem Tone. »Aber ich kann Euer Durchlaucht versichern, daß ich so wenig weiß, wessen man mich beschuldigt, als wenn ich ein neugeborenes Kind wäre.«

»Der Teufel auch! Da haben Sie ein schlechtes Gedächtniß oder sind wirklich wie ein unschuldiges Kind. Meinen Sie, es könnte Ihrer Majestät und der Frau Herzogin gleichgiltig sein, wenn Sie so mir nichts dir nichts einer Dame Hausarrest geben, die mit den Herrschaften so häufig en petit comité war?«

»Ah!« machte verblüfft der Präsident, denn ihm flammte ein kolossales Licht auf. Doch sagte er schüchtern: »Ich kann Euer Durchlaucht versichern, daß ich vorher Rücksprache mit dem Gemahl dieser Dame genommen.«

»In dessen Falle Sie gegangen sind!« sprach ungeduldig der Herzog. »Kennen Sie den alten Fuchs so wenig? Er hat einen Skandal herbeigesucht, um sich mit Anstand von seiner Frau trennen zu können; er gab Ihnen freilich seine Zustimmung, aber eine Viertelstunde nachher verklagte er Sie bei Seiner Majestät als – roh und gewaltthätig.«

[152] »Welche Immoralität! – Und bei Seiner Majestät sagen Sie?«

»Bei Seiner Majestät, und Dieselben sollen sich geäußert haben, das sei ein Akt der Rücksichtslosigkeit, wie ihm selten etwas Aehnliches vorgekommen.«

»Ich bin verloren,« sprach der Präsident mit schmerzlicher Stimme und schielte unter seiner Nase hinweg, die betrübt herabgesunken war auf den so leeren Fleck an der linken Seite seines Frackes.

»Aber was dachten Sie eigentlich bei der Geschichte? Es heißt, Sie seien einer Spitzbubenbande auf der Spur; aber ich bitte, wie können Sie dergleichen mit jener armen Frau zusammen bringen! Ah! Präsident, ich kenne Sie gar nicht mehr.«

»Gott soll mich bewahren, daß ich die Baronin verdächtigen wollte! Aber das Haus ist verdächtig, und da man sie da fand, war man quasi genöthigt, sie festzuhalten.«

»Ich habe Sie nie als einen so furchtbaren Wütherich gekannt.«

»Und dann kann ich auch Euer Durchlaucht versichern, daß der alte General die Verhaftung nicht nur gut geheißen, sondern auch seine Frau im höchsten Grade mir verdächtigt hat.«

»Hol' ihn der Teufel! Aber wie gesagt, Präsident, wir müssen einlenken. Wissen Sie, man wird von Oben herab nie befehlend in Ihre Geschäfte eingreifen, aber man erwartet dagegen, daß Sie etwas thun, um allerhöchste Wünsche, deren Ueberbringer ich bin, zu erfüllen.«

Der Präsident überlegte zaudernd.

»Ich möchte um Alles in der Welt nicht melden, daß sich Euer Excellenz lange bedacht,« sprach ernst der Herzog. »Und thun Sie gleich, was Sie thun wollen: ich möchte gern so bald wie möglich anzeigen, daß Alles in Ordnung sei.«

»Daß ich den Arrest aufgehoben, der auf den Bewohnern jenes Hauses liegt?«

»Natürlich vor allen Dingen, daß Sie die Baronin freigegeben. Mit dem andern Volke können Sie machen, was Sie wollen.«

[153] Der Präsident schüttelte leicht den Kopf und erwiderte: »So wie Euer Durchlaucht meinen, geht das nicht. Vielleicht kennen Sie das große Wort: Gleichheit vor dem Gesetze. Ich muß entweder Alle behalten oder Alle freigeben, und in letzterem Falle erklären, die Polizei habe sich geirrt. – Das wäre schrecklich.«

»So thun Sie einmal das Schreckliche; für die unglückliche Frau wird es auch besser sein, wenn man sagen kann, es sei ein Irrthum vorgefallen. – Ah! dies schöne Weib!« setzte er leise mit einem Seufzer hinzu, »wie wurde sie zu solch' unvorsichtigen Geschichten getrieben! Ich wollte nur, ich hätte mich ihrer angenommen.«

Der Präsident hatte mit sich selbst gekämpft, endlich aber rief er aus: »In Gottes Namen! Wenn ich nur einen meiner Räthe im Gewühl finde, den ich hinschicken kann!«

»Das bedarf's gar nicht,« sagte freudig der Herzog. »Geben Sie mir zwei Zeilen, der Baron Brand hat sich angeboten, die Sache heute Abend noch zu arrangiren. Kommen Sie, da ist Papier und Feder.«

Mit einem unterdrückten Seufzer setzte der Präsident einige Zeilen auf, unterschrieb und hielt sie dem Herzog hin. Ehe er sich aber das Papier aus seiner Hand nehmen ließ, sagte er: »Bevor der Baron Brand, der mir, natürlich in einem andern Kostüm, als Unterhändler ganz recht ist, die Geschichte besorgt, möchte ich demselben noch ein paar Instruktionen geben.«

»Aber, Präsident, keine Contre-Ordre!« meinte der Herzog lachend.

»Wo denken Sie hin?« erwiderte der Präsident, und fuhr nach einer kleinen Pause, während welcher er das Papier in der Hand auf- und abbewegte, fort: »Ein Dienst ist des andern werth, Euer Durchlaucht. Hier haben Sie den Befehl, aber dafür führen Sie mich durch das gelbe Spielzimmer und den Salon, wo die Herrschaften sind, in freundlichem Gespräch.«

»Arm in Arm mit dir!« sagte laut lachend der Herzog, indem [154] er das Papier nahm, »so fordre ich mein Jahrhundert in die Schranken.«

Und dann gingen die Beiden dahin, wirklich Arm in Arm, bei den erstaunten Spielern vorbei, in den kleinen Salon, wo die Frau Herzogin, ihrem Sohne freundlich zunickend, meinte: es freue sie recht besonders, endlich auch den Polzeipräsidenten zu sehen. Ihre Majestät saß am Spieltische und ließen in diesem Augenblick eine Karte fallen, welche der Chef der Polizei aufzuheben das Glück hatte, um sich dann berauscht in den gelben Saal zurückzuziehen, wo ihm alsbald mehrere Stroh- oder todte Männer angeboten wurden.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

In dem rothen Kabinet hatte unterdessen der Baron von Brand, unbeweglich an dem Kamingesims lehnend, seinen beiden Zuhörern eine furchtbare Geschichte erzählt – die Geschichte seines Lebens. Er hatte dabei nichts verschwiegen, nichts beschönigt, er hatte sich selbst gezeichnet mit seinen schönen und herrlichen Eigenschaften, mit seinen Fehlern und Lastern. Herr von Steinfeld, der vor dem Feuer saß, hatte seine Arme auf die Kniee gestützt und ließ das Gesicht in beiden Händen ruhen.

»Jetzt wissen Sie Alles,« schloß Herr von Brand. Und nach einem tiefen Seufzer, der seiner Brust entstieg, fuhr er sich mit der Rechten über das Gesicht.

Graf Fohrbach hatte sich während dessen langsam erhoben, war dem Erzähler näher getreten, hatte in tiefer Bewegung seine beiden Hände erfaßt und schüttelte sie herzlich.

»Es ist mir um Vieles leichter,« fuhr dieser fort, »da es mir vergönnt war, die Geschichte meines Lebens in die Herzen zweier Ehrenmänner niederzulegen, die nun gewiß Manches klarer sehen und Manches gelinder beurtheilen werden. Jetzt habe ich nur noch die Bitte, meine Lage in's Auge zu fassen, sie ernstlich und prüfend von allen Seiten zu beschauen und mir ihre Meinung zu sagen.«

[155] »Schrecklich! schrecklich!« murmelte Herr von Steinfeld.

»Daß meines Bleibens hier nicht sein kann, versteht sich von selbst. Mich hält ja auch nichts zurück, als das Schicksal meiner armen unglücklichen Schwester, das, wie ich hoffe, in gute Hände gelegt sein wird.«

Hugo von Steinfeld schaute einen Augenblick in die Höhe, nickte stumm mit dem Kopfe und versank dann wieder in seine Träumereien.

»Was meine andern Verbindungen anbelangt, so sind dieselben theilweise schon gelöst. Für einige von Denen, die mir anhänglich waren, habe ich bereits gesorgt; für die Uebrigen werde ich es noch thun. Dann bin ich fertig mit der Welt.«

»Ah! Sie wollen doch nicht –?« rief der Graf erschreckt aus.

»Dem natürlichen Lauf der Dinge vorgreifen?« versetzte lächelnd der Baron. »O gewiß nicht; das würde ja einen Schatten auf meinen Namen werfen und den theuren Freunden, die ich hier zurücklasse, unangenehm sein. – O nein, denken Sie das nicht; ich will nur ein wenig der Lenker meines eigenen Schicksals sein, und wenn mich dasselbe zwingt, diese Welt zu verlassen, so wird es auf die alleranständigste und unbefangenste Weise geschehen.«

»Baron, Sie sprechen in Räthseln.«

»Die Ihnen baldigst klar werden sollen, das verspreche ich Ihnen. Doch keine vorzeitige Trauer, Herr von Steinfeld, nicht dies erschreckte Auge, Graf Fohrbach! Denken Sie, es habe Ihnen Jemand ein vielleicht nicht uninteressantes Kapitel eines Romanes vorgelesen. Grübeln Sie nicht weiter darüber nach, schlagen Sie für heute das Buch zu; Sie sollen in einiger Zeit den Schluß des Romanes erfahren und er wird Sie nicht unbefriedigt lassen. – Aber, coeur de rose!« fuhr er nach einer Pause, nachdem er auf die Uhr gesehen, in dem uns bekannten leichten und gezierten Tone fort, »wir haben hier fast eine Stunde verplaudert und ich glaube, es ist unsere Pflicht, uns jetzt wieder dem Balle zu widmen.« [156] Damit trat er von dem Kamine weg, dehnte sich ein wenig und wollte in den Saal zurück.

»Noch Eins!« bat Graf Fohrbach, ihn zurückhaltend. »Wäre es von mir indiskret, zu fragen, ob Sie bei der Geschichte mit den Achselbändern die Hand im Spiele gehabt? O, wenn es Ihnen möglich ist, so sagen Sie es mir; mein ganzes Lebensglück hängt daran.«

»Seien Sie unbesorgt,« erwidert lächelnd der Baron, »noch eine Stunde vor dem Balle waren die Achselbänder weiß, und ich möchte Zehn gegen Eins wetten, daß sie wieder so erscheinen, ehe der Ball zu Ende geht.«

»Darnach will ich schauen!« rief entzückt der junge Mann, drückte dem Andern die Hand und eilte davon.

In diesem Augenblicke trat der Herzog von der entgegengesetzten Seite in die Gallerie und als er den Bekannten erschaute, zeigte er ihm schon von Weitem ein Papier. Näher kommend sagte er: »Das hat einige Mühe gekostet, aber es ist ganz so, wie wir es gewollt. Sie können heute noch davon Gebrauch machen. – Aber was geschieht nachher mit der armen Frau? Sie wird nicht in das Haus ihres Gemahls zurückkehren wollen. Was meinen Sie: soll ich sie unter meinen Schutz nehmen?«

»Mir wäre der von der Frau Herzogin schon lieber,« versetzte lächelnd der Baron. »Wollen sich Euer Durchlaucht erinnern, daß es mir gelang, Ihnen einige kleine Dienste zu leisten und daß Sie versprachen, mir Gleiches mit Gleichem vergelten zu wollen.«

»Allerdings und ich nehme mein Wort nicht zurück.«

»Nun wohlan, Sie haben jetzt die beste Gelegenheit dazu. Wenden Sie Ihren Einfluß dazu an, der Baronin v. W. ein anständiges Asyl zu verschaffen – bei der Frau Herzogin, am liebsten aber bei Ihrer Majestät selbst.«

»Das wird schwer angehen, bester Baron.«

»Aber es wird doch gehen, Durchlaucht,« erwiderte der Andere bestimmt. »Sehen Sie, ich gebe Ihnen Ihre Antworten von früher [157] zurück, und wenn Sie so sprachen, so that ich mein Uebermögliches und die Sache ging.«

»Ja, das wissen wir,« versetzte lachend der Herzog. »Und ich will denn gerade so thun, auf die Gefahr hin, meinen guten Ruf zu verlieren.«

»Ihr herzogliches Wort darauf, Durchlaucht?«

»Mein Wort. – Und gleich will ich die Sache in's Werk zu setzen versuchen; man muß das Eisen schmieden, so lange es warm ist.« Damit eilte er nach dem Tanzsaale zurück.

Der Andere trat wieder in das rothe Kabinet, wo Hugo von Steinfeld noch immer zusammengekauert vor dem Kaminfeuer saß. Der Baron berührte leise seine Schulter und als er in die Höhe fuhr, zeigte ihm derselbe das erhaltene Papier und sagte mit sanfter Stimme: »Dies hier gibt mir das Recht, der Frau von W. noch heute Abend ihre Freiheit anzukündigen.«

»Und dann?« fragte der Andere, wobei ein lebhafter Blitz seinen Augen entfuhr.

»Dann wird Ihre Majestät der Unglücklichen ein Asyl bei sich vergönnen, bis –«

»Ah! Baron, ich zittere!« rief Herr von Steinfeld. – »Bis –«

»Bis ihre Scheidung ausgesprochen ist, was nicht lange dauern kann, da beide Parteien vollkommen einverstanden sind und ihre Wünsche von Oben herab gewiß protegirt werden. Und dann –« setzte der Baron mit einem eigenthümlichen Blick hinzu.

»Dann können wir Alle, Alle vielleicht noch glücklich werden!« rief stürmisch der junge Mann. »O meine Elise, o mein armes, kleines Kind!«

Die Augen des Barons funkelten auf eine sonderbare Art, als der Andere so sprach; er drückte ihm die Hand und sagte: »Wenn es Ihnen recht ist, so begleiten Sie mich nachher.«

»Ah, wie danke ich Ihnen, Baron! – Gehen wir sogleich!«

»In einer Viertelstunde,« erwiderte der Baron mit ruhigem [158] Tone. »Kommen Sie, ich muß vorher noch einen nothwendigen Gang durch die Apartements machen.«

Im großen Saal ward unterdessen beharrlich getanzt, im kleinen Salon anhaltend geplaudert, und im gelben Zimmer ziemlich stark gespielt worden. Herr von Dankwart, der, wie wir wissen, so glücklich gewesen war, zum Spiel der beiden Excellenzen gezogen zu werden, hatte sich dort behauptet und würde diesen Platz, so nahe bei den fürstlichen Personen, um Alles in der Welt nicht verlassen haben. Doch spielte er dabei ziemlich zerstreut, was ihm schon hie und da eine kleine Rüge eingetragen hatte.

»Das ist zu stark!« rief jetzt der Hofmarschall mit einem zornigen Blick auf den kleinen Mann; »Sie sind wirklich über alle Maßen zerstreut, da haben Sie wahrhaftig meinen Buben gestochen.«

»Allerdings,« fügte lächelnd der Oberststallmeister, der mit dem Blinden spielte, bei. »Herr von Dankwart ist in der That mit seinen Gedanken anderswo. Was beschäftigt denn so Ihren Geist?«

»Er wird in Gedanken bei den vortrefflichen Abbildungen sein, die ein berühmter Künstler von ihm gemacht,« sagte plötzlich eine klangvolle Stimme hinter den Schultern des kleinen Herrn.

Worauf dieser rasch herumfuhr und mit zornigem Blicke einen Mann hinter sich stehen sah, der ein einfaches, aber auffallendes Kostüm trug, und obgleich nicht maskirt, ihm doch unbekannt war.

Der Fremde lächelte, als er diese Worte gesprochen hatte, dann stützte er die Rechte an die Seite und die Linke auf den weißen Griff eines Tscherkessendolches, den er am Gürtel trug.

»Hm! hm!« machte der Hofmarschall ein klein wenig verlegen, und Seine Excellenz der Oberststallmeister biß sich mit einem halb unterdrückten Lächeln auf die Lippen.

»Ein Maskenscherz,« sagte nun Herr von Dankwart mit einem sehr erkünstelten Lachen.

»Durchaus kein Maskenscherz,« fuhr der Fremde fort. »Es sind [159] in Wahrheit sechs Portraits, jedes so sprechend ähnlich, wie ich nie etwas gesehen.«

»Also Sie haben sie gesehen?« fragte lauernd der kleine Mann.

»Es kann sie Jedermann sehen, der den Eigenthümer besucht.«

»Und wer ist dieser Eigenthümer?« rief Herr von Dankwart mehr und mehr aufgeregt.

»Ich habe keine Ursache, das zu verschweigen,« entgegnete der Andere ruhig. »Baron von Brand macht kein Geheimniß daraus, diese sechs werthvollen Abbildungen zu besitzen.«

»Aber was ist denn das mit den sechs Abbildungen?« fragte boshafter Weise der Hofmarschall.

»Eine Schändlichkeit, eine Niederträchtigkeit!« brauste endlich Herr von Dankwart auf, »die man höheren Orts nicht ungeahndet lassen wird. Wissen Sie, meine Herren, ein elender Maler, ein Sudler, den ich mit mehreren schlechten Bildern abzuweisen für nothwendig hielt, hat sich nun dafür gerächt, indem er niederträchtige Karrikaturen auf mich gemacht. Nun, ich theile dies Loos mit den bedeutendsten Männern aller Zeitalter, bin auch nicht kleindenkend genug, jenen unbedeutenden Pfuscher dafür zu fassen. Aber mit dem Herrn von Brand, der sich, wie ich schon seit einigen Tagen gehört, ein boshaftes Vergnügen daraus macht, die schlechten Blätter bald Diesem, bald Jenem zu zeigen, werde ich ein ernstes Wort reden.«

»Darauf ist Herr von Brand gefaßt und sehr begierig, dies ernste Wort zu vernehmen.«

Der kleine Mann maß den ihm zur Seite Stehenden, der übrigens in sehr ruhigem Tone sprach, von Oben bis Unten, und sagte dann nach einer Weile: »Und wer sind Sie, der sich hier unberufen eindringt?«

»Nicht unberufener als mancher Andere,« erwiderte der Fremde. »Uebrigens bin ich einer Ihrer Verehrer, Herr von Dankwart. Ich staune Sie an, denn Sie haben Großes geleistet.«

[160] Der Angeredete beantwortete dieses zweifelhafte Kompliment mit verächtlicher Miene und einem Achselzucken.

»Ja, Sie haben Großes gethan; Sie haben es in der kurzen Zeit Ihres Hierseins verstanden, sich durch Ihr anmaßendes Betragen, durch Ihren unergründlichen Hochmuth, durch Ihre beispiellose Grobheit bei Hoch und Niedrig verhaßt zu machen. Und das ist keine Kleinigkeit bei der allgemeinen Liebe und Achtung, welche Ihre Herrin genießt, von deren Glanze, wenn auch unverdienter Weise, etwas auf Sie überging.«

Obgleich diese Worte mit großem Ausdruck gesprochen wurden, so hatte der Fremde seine Stimme doch dabei gedämpft, so daß sie nur von den Mitspielenden verstanden wurde. Doch sprang Herr von Dankwart bleich vor Zorn von seinem Stuhle auf und sagte mit zitternder Stimme: »Ihren Namen, Herr, ich muß Ihren Namen wissen! Danken Sie es diesem Orte, daß ich nicht anders mit Ihnen verfahre. Aber wenn Ihre Unverschämtheit nicht von Feigheit begleitet ist, so werden Sie mir Ihren Namen sagen.«

»Coeur de rose!« lachte nun plötzlich der Fremde mit ganz anderer Stimme, »Sie und ich haben meinen Namen vorhin schon ausgesprochen, und der Baron von Brand wird Ihnen gern den Gefallen thun, ihn nochmals vor diesen beiden Herren zu nennen.«

Die Excellenzen hoben erstaunt die Augen empor, und wenn sie auch die Stimme des Barons erkannten, und deßhalb wußten, daß er es sei, war es ihnen doch nicht möglich, auch nur einen Zug des ihnen wohlbekannten Gesichtes zu entdecken.

»Eine vortreffliche Maske!« rief der Oberststallmeister.

Und der Hofmarschall setzte argwöhnisch hinzu: »Ja, recht vortrefflich; Herr von Brand versteht das meisterhaft, zweierlei Gesichter zu zeigen.«

Herr von Dankwart that einen tiefen Athemzug, dann sagte er: »Ah! also Herr Baron von Brand! – Nun gut, – das Uebrige [161] wird sich finden.« Darauf setzte er sich wieder zur Spielpartie nieder, doch zitterten die Karten auffallend in seiner Hand.

Der Baron zog sich lächelnd zurück, als er aber das Zimmer verlassen hatte, wurden seine Züge furchtbar ernst und er murmelte: »Das wäre in Ordnung! Eine gräßlichere Strafe kann sich Niemand selbst vorschreiben.« –

Graf Fohrbach hatte unterdessen nach den bewußten Achselschnüren gespäht, und – o Wonne! – wie der Baron vorhergesagt, flatterten jetzt weiße von den Schultern des schönen Mädchens herab. Eugenie hatte den ersten freien Augenblick benützt, um die verhaßten Farben von sich zu werfen. Wie glänzten die Blicke des jungen Mannes, und wie verschwand bei diesen Blicken die Blässe von ihren Wangen! Und da er als geschickter Offizier natürlicherweise gut zu manövriren wußte, so gelang es ihm, die junge Stallmeisterin von dem übrigen Gefolge abzuschneiden und sie in einem halbdunkeln Durchgange zu treffen, wo er es wagen durfte, ihr feierlich die Hand zu küssen. Eugenie aber flüsterte ihm mit einem leichten Erröthen zu: »Meine Schleifen haben das größte Recht, weiß zu sein; denn ich hoffe, daß unser Leben nun klar vor uns liegt. Mit der Frau Herzogin sprach ich vor dem Balle, sie hat nichts gegen unsere Verbindung einzuwenden.«

»Also bist du mein!« jauchzte der überglückliche Adjutant. Und wenn nicht in diesem Augenblicke ein dicker Hoffourier, gefolgt von mehreren Lakaien, an dem Durchgange erschienen wäre, so hätte er das erschreckte Mädchen in seine Arme gedrückt.

Ehe der Baron von Brand den Saal verließ, zeigte er sich nochmals bei der Präsidentin und ihrer Tochter, und nahm die zärtlichen Vorwürfe, die er hier erhielt, ruhig in Empfang; doch besänftigte er die Damen dadurch, daß er sich noch ein paarmal rechts und links präsentiren ließ. Obgleich er aber jede Gratulation nur mit einer Verbeugung erwiderte, so war für Alle sein Verhältniß zur Tochter des Präsidenten doch eine ausgemachte [162] Sache, und der Baron von Brand wurde förmlich als Bräutigam betrachtet.

81. Kapitel
Einundachtzigstes Kapitel.
Gesellschaftliches.

Wieder einmal war es Nachmittags zwei Uhr längst vorüber, und wieder einmal stand das Kaffeegeschirr auf dem Tisch, an dem die Kommerzienräthin saß, gänzlich unberührt. Wenn dies vorkam, so konnte man es als ein untrügliches Zeichen ansehen, daß irgend eine Störung vorgefallen war. Aus den leblosen Gegenständen des Hauses ließ sich auf diese Art eher etwas errathen, als aus der lebenden Hauptperson – der Kommerzienräthin selbst. Denn diese saß in ihrer Sophaecke starr und aufrecht wie immer, mit unbeweglichen Gesichtszügen und für jeden Uneingeweihten war durchaus keine Aufregung, von welcher Art auch immer, an ihr zu merken. Wer sie aber genauer kannte, der sah wohl, daß sie die Augen häufig schloß und öffnete, auch abwechselnd mit ihrem gewöhnlichen Husten zuweilen heftig schluckte. Mit der rechten Hand hielt sie, wie sie immer zu thun pflegte, ihr Schnupftuch, die Linke bedeckte einige Papiere, die vor ihr auf dem Tisch lagen.

Marianne stand am Fenster, den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet und ihre Blicke waren auf den Boden geheftet. Der Kommerzienrath zeigte im Gegensatz zu den Damen mehr Leben. Er hatte die Hände unter seine Frackschöße gesteckt und brachte die rechte gelegentlich vor, um mit derselben in der Luft umher zu fahren, seine Reden bekräftigend und begleitend. Ueberhaupt sprach er heute energischer als sonst, hütete sich aber wohlweislich, dabei seine Frau anzusehen, denn er wußte wohl, daß einer jener scharfen Blicke aus den grauen Augen ihn leicht aus der Fassung zu bringen [163] im Stande war; er wandte sich daher auch nur an Marianne, selbst wenn er etwas sagte, was nur an die Kommerzienräthin gerichtet sein konnte.

»Summa Summarum denn,« sprach er mit großer Entschiedenheit, »versteht ihr die Sachen nicht und könnt euch nicht denken, wie lähmend es für alle Geschäfte ist, eine Hand entbehren zu müssen und einen Kopf, der schon seit Jahren Alles überwachte, und, wenn auch allerdings unter meiner Leitung, fast das Ganze besorgte. Glaubt mir nur, ein solcher Teilnehmer eines Geschäfts, wie Alfons, war wie ein Generalhauptbuch, man brauchte nur irgendwo anzuklopfen und man hatte augenblicklich die Antwort. Das fehlt mir,« fuhr er achselzuckend fort; »ich werde auch alt, kann mich an so Manches nicht mehr erinnern, weßhalb Vieles nur so so besorgt wird; mit Einem Wort, darunter leidet der Kredit des Hauses.«

Die Räthin warf ihrem Mann einen bedeutsam fragenden Blick zu, da er ihn aber nicht sah, so hustete sie auffallend, was er verstand und deßhalb augenblicklich hinzusetzte:

»Natürlicherweise meine ich blos den Kredit, den die Geschäftsführung bedingt, das pünktliche und augenblickliche Besorgen aller Aufträge, welches sonst bei uns Mode war und worein wir unsern Stolz setzten. – Mögt ihr es nehmen, wie ihr es wollt: ich habe schon zweimal an Alfons geschrieben und ihn ersucht, zurück zu kommen. – Ah! man vernachlässigt eine immense Firma wie die unsrige nicht wegen solcher Bagatellen.«

Die Räthin trommelte leise auf dem Papiere unter ihrer Hand und Marianne fragte schmerzlich: »Bagatellen, Papa? Das sind aber doch eigentlich keine Bagatellen.«

»Nun, nun, ich meine in geschäftlicher Beziehung,« verbesserte sich der alte Herr, »habe ich da Unrecht? Was Teufel genirt es die großen Banken, ob mein Schwiegersohn einmal einen dummen Streich der Art gemacht hat! Nicht so viel!« Dabei hatte er [164] den Muth, über seine Handfläche zu blasen. »Und meine Wechsel sind gesucht wie keine andern.«

Jetzt endlich sprach die Räthin; zuvor aber hustete sie leicht, dann sagte sie: »Was dein geschäftliches Leben anbelangt, so magst du vielleicht Recht haben, in unser gesellschaftliches dagegen hat diese Geschichte einen schweren Riß gethan. Und das kommt daher, weil unser Haus von jeher voranleuchtend war, was Sitte und Anstand anbelangt, eine glatte, glänzende, polirte Fläche, und deßhalb sieht man auf ihr jedes Stäubchen.«

»Und dieser Riß in gesellschaftlicher Beziehung,« lachte krampfhaft der alte Herr, »macht dich so bodenlos unglücklich? Es könnte zum Lachen sein, wenn es nicht zum Weinen wäre, – einer Gesellschaft, die, um mich deines Bildes zu bedienen, auf der glatten, polirten Fläche das geringste Stäubchen entdeckt und nun sich Mühe gibt, dieselbe mit dem Essig der bösen Reden und dem Scheidewasser der Verleumdung total mit Rost zu überziehen. Und hat man das nicht gethan?« fuhr er hitziger fort. »Ist man bei dem stehen geblieben, was man, leider Gottes! von den unseligen Geschichten unseres Hauses erfahren? Hat man nicht versucht, uns Allen etwas aufzubringen? Mit Arthur anzufangen, der freilich nur ein Maler ist und bei dem es schon leicht wurde, einen Haken zu finden; aber auch über deine arme Tochter Marianne hat man die Achseln gezuckt; in den Kaffeeklatschgefellschaften ist dies arme sanfte Weib als eine Xantippe hingestellt worden, die ihrem Manne das Leben verleidet und ihn so zu dem Skandal getrieben. O diese Gesellschaft!« rief er abermals und fuchtelte mit der rechten Hand in der Luft umher. »Hat sie viel leicht meinen Dokter geschont, diesen braven Kerl, der nie ein Wasser getrübt? Haben sie ihm nicht nachgesagt, er sei eine liederliche Pflanze? – Ja, ja,« fuhr er fort, als er bemerkte, wie ihn Marianne erstaunt anblickte, »Eduard hat ein paar arme Familien zu seinen Kunden, deren Kinder er zu Weihnachten mit Spielwaren beschenkt; das hat man [165] sich achselzuckend und hohnlachend in der gehässigsten Weise mitgetheilt. Aber weiter! O ich sehe so ein gallsichtiges Gesicht vor mir, so eine Person, wie sie die Achseln zuckt und sagt: wissen Sie, Frau Hofräthin, natürlich so ein Arzt, der hat alle Gelegenheit; aber zu bunt soll er es doch getrieben haben, der Herr Doktor Erichsen. – Hol sie Alle der –! Und haben sie dich,« wandte er sich im vollsprudelnden Strom seiner Rede an die Räthin, »haben sie dich im Frieden gelassen, mein Schatz? Gott bewahre! Du warst die Mutter dieser sauberen Familie und es ist dir lange gelungen, alle diese Unanständigkeiten zuzudecken.« Hier schöpfte er tief Athem, setzte seine beiden Arme in die Seite und fuhr dann nach einer Pause fort: »Aber Eins hat mich amusirt, daß sie nämlich über mich gesagt, ich sei nicht so schlimm, sei von jeher ein lustiger, alter Herr gewesen und wenigstens kein Heuchler.«

»Aber um Gotteswillen! Papa, woher weißt du alle diese schrecklichen Geschichten? Das kann dir doch Niemand in's Gesicht gesagt haben.«

»Freilich hat man mir's in's Gesicht gesagt, aber weißt du, darin hat man eine eigene Manier; es kommt so eine schleichende Canaille, nicht um dir zu sagen: Herr Kommerzienrath, Der und Der hat das über Sie gesagt; fassen Sie ihn! O nein! sondern er spricht mit niedergeschlagenen Augen von der verderbten Welt, von der Sucht, Jeden zu verleumden, sieht dich dabei achselzuckend an, seufzt, kurz, geberdet sich so auffallend, daß du deutlich siehst, er habe was auf dem Herzen. Du fragst ihn; er läßt dich lange bitten. Endlich mißt er dir das Gift tropfenweise zu, indem er spricht: man sagt so allerlei, man will das und das wissen, man glaubt dies, man glaubt das, und schlägt dir so eine Ohrfeige nach der andern hin mit lauter ›Man's‹, die ungreifbar sind. – Gott soll mich bewahren, sagt er auf dein Drängen, daß ich Personen nenne, ich will in keine Geschichten hinein kommen; aber daß man allgemein spricht, was ich Ihnen vorhin erzählt, das können [166] Sie mir auf mein Wort glauben. So geht er fort, nachdem er dir einen Dolch in's Herz gestoßen; und an der Ecke schaut er sich um, ob du noch nicht wankest oder hinfallest. – Und wegen solchem Volke sollen wir uns grämen?« fragte er schließlich mit einem Tone so entschieden, wie man ihn eigentlich nicht an dem alten Herrn gewöhnt war. »Ich nicht!«

Die Kommerzienräthin hatte aufmerksam zugehört, obgleich sie sich ihrem Gesichte nach ebenso gut mit etwas ganz Anderem hätte beschäftigen können. Sie hustete leicht und erwiderte: »Es ist das wahr, was du eben gesprochen.«

»Nun, Gott sei gelobt, daß du es endlich einsiehst!«

»Hat mir doch die Wasser,« fuhr die Räthin fort, ohne auf die Worte ihres Gemahls zu achten, »gerade in Betreff Eduards einen wahrhaft impertinenten Brief geschrieben.«

»Du hast da überhaupt schöne Korrespondenzen,« schaltete der alte Herr händereibend ein.

Und Marianne setzte mit leiser Stimme hinzu: »Madame Wasser ist ganz auf die Seite meiner Schwägerin Bertha getreten.«

»Um sie auszuhorchen und viel Böses über uns zu hören, denn –!« rief der alte Herr. Doch machte ihn ein Blick seiner Frau verstummen.

Diese hatte ihren Kopf drohend erhoben, als sie sich so unterbrochen sah, und sagte dann, nachdem sie leise auf die Briefe getrommelt: »Die Wasser schreibt mir, es sei doch ein bischen stark von Eduard gewesen, das bewußte Kind der Person in sein eigenes Haus zu bringen. Was man über dieses Kind denke, habe er schon daraus entnehmen können, daß sämmtliche Dienstboten des Hauses – vortreffliche Dienstboten, wie die Wasser sagt – darauf hin augenblicklich gekündigt hätten.«

Der Kommerzienrath lachte krampfhaft hinaus, er hatte dazu den Moment benützt, als die Räthin schwieg und einen der vor ihr liegenden Briefe entfaltete.

[167] – »Ich habe es von jeher für meine Pflicht gehalten,« las die Räthin aus diesem Brief, »Ihnen nur die Wahrheit zu sagen; deßhalb erlaube ich mir auch, Ihnen ein paar Worte zu bemerken, was die Einladung anbelangt, welche Sie für die nächste Woche an die Meinigen ergehen ließen. Nehmen Sie mir nicht übel, hochverehrteste Frau Räthin, ich kann Sie für dieses Mal nicht acceptiren, denn es ist mir zu schmerzlich, dort Leute zu sehen, die hinter Ihrem Rücken die Nase rümpfen, die Ihnen freundlich in's Gesicht sind und unter sich die gehässigsten Dinge über Ihr Haus aussagen; ja recht gehässige Dinge. – Und was das Schlimmste ist, beste Frau Räthin, man kann ihnen noch nicht einmal in Allem widersprechen. Sie wissen, wie schätzenswerth es mir stets war, in Ihrem Hause so gut und freundlich aufgenommen worden zu sein. Aber – doch erlassen Sie mir das Uebrige; o könnten Sie sehen, wie sehr es mich angegriffen hat, Ihnen die vorliegenden Zeilen zu schreiben! Im Uebrigen bin ich wie immer mit alter Freundschaft


Ihre
Albertine Wasser,
verwittwete Tutelarräthin.«

»Ein vortrefflicher Brief das,« meinte der Kommerzienrath. »Aber da du einmal bei der Korrespondenz bist, so laß uns auch hören, was deine theure Freundin Louise schreibt.«

Die Bitte des Gemahls wäre eigentlich überflüssig gewesen, denn Madame Erichsen hatte schon unaufgefordert das andere Billet eröffnet und las:

»Liebe Lotte! Du hast uns auf nächste Woche zu einer Soirée eingeladen und, wie ich höre, sollen viele Leute kommen. Nimm mir nicht übel, aber ich würde das an deiner Stelle nicht thun. Die traurigen Geschichten deines Hauses sind noch zu neu und die Leute sagen, das entwickle sich noch immer mehr. Wie ich denke, [168] liebe Lotte, weißt du, aber wir Beide können nun einmal die Welt nicht anders machen. Ich schreibe dir eilig, damit du deine Einladungen noch nicht machst. Wenn die Menschen nur nicht so böse wären! Aber glaube mir, Viele haben die Probe der lebenden Bilder und die Geschichte mit der Doktorin F. noch lange nicht vergessen. Daß ich am allerwenigsten auf Stadtgeklatsch etwas gebe, brauche ich dir wohl nicht zu sagen; auch wundert mich gar nichts mehr, denn die Menschen sind zu bösartig, und wenn ich auch gewiß nicht dazu beigetragen habe und beitragen werde, dergleichen Klatschereien zu verbreiten, so kann ich dir doch nicht verschweigen, daß in der That das Gerede geht, du beabsichtigest, um der ganzen Gesellschaft zu zeigen, daß du dich um ihre Meinung gar nicht kümmerst, uns deine neue Schwiegertochter zu präsentiren, die sogenannte Braut des Herrn Arthur. Soll ich dir nochmals wiederholen, daß dergleichen Verleumdungen auf mich nicht den geringsten Eindruck machen? Ich halte das für überflüssig; denn du weißt, wie sehr ich bin und bleibe


deine treue Freundin
Louise

Die Hand der alten Dame zitterte leicht, während sie die Briefe zusammenfaltete und vor sich hinlegte.

»Und das schreiben deine bewährtesten Freundinnen, Mama?« fragte schmerzlich Marianne.

»Es ist doch ein wahres Sprichwort,« bemerkte zornig der alte Herr, »Gott bewahre mich vor meinen Freunden, mit meinen Feinden will ich schon fertig werden. Und die sogenannten Feinde unseres Hauses, eigentlich nur die Feinde von Mama,« setzte er mit Nachdruck hinzu, »wie haben sie sich benommen, seit diese traurigen Geschichten ruchbar wurden! Ich will nur an den Doktor und namentlich an die Doktorin F. erinnern. – Gesteh' es mir, Charlotte,« wandte er sich an seine Frau, »die neuliche Unterredung mit der Letzteren, die liebevollen Worte, die sie zu dir sprach, haben selbst dich ergriffen und gerührt.«

[169] »Warum selbst mich?« fragte strenge die Räthin, ohne dabei einen Zug ihres Gesichts zu verändern.

»Ah! selbst dich, – das kann man in dem Falle doch wohl sagen,« meinte behutsam der alte Herr. »Du hattest doch ein Vorurtheil gegen die Doktorin.«

»Ja, ich hatte es,« erwiderte nach einer Pause die Räthin. Und als sie nach diesen Worten in ihr Sacktuch hinein hustete, klang dieser Husten viel weicher, auflösender als sonst.

»Nun, wenn ich recht verstanden habe,« entgegnete etwas heiterer Herr Erichsen, »so war das ein gutes Wort, das Mama eben aussprach.«

»Und Mama hat so Recht darin,« sagte liebevoll Marianne, indem sie sich dem Sopha näherte. »Glauben Sie mir, die Doktorin F. ist eine herrliche, vortreffliche Frau.«

Die Räthin schaute ihre Tochter mit einem einigermaßen argwöhnischen Blicke an.

»Und höheren Orts sehr gelitten,« fügte wichtig der Kommerzienrath bei. »Ich weiß bestimmt, daß sie zuweilen in die kleinen Cirkel der Frau Herzogin kommt.«

Die Räthin schaute ihren Mann an.

»Und mir ist das sehr angenehm,« fuhr Marianne fort, »denn ich bin überzeugt, die Doktorin wird denen die Geschichten unseres Hauses auf wahre und gute Art auseinandersetzen.«

Der Blick der Räthin, den sie jetzt auf ihre Tochter warf, war nicht mehr argwöhnisch, ja man hätte glauben können, sie nicke mit dem Kopfe, doch war dies, wenn es wirklich geschehen, so undeutlich, daß man es nicht recht behaupten konnte.

»Was übrigens die höhere Gesellschaft anbelangt,« sagte der Kommerzienrath, indem er sich in die Brust warf, »so kennt man dort das Haus Erichsen, und wenn wir gewollt hätten, würde es uns ein Kleines gewesen sein, uns dort hinein zu lanciren, zum furchtbaren Aerger deiner Freundin Wasser und deiner treuen Louise. [170] – Wie steht Arthur mit all den Leuten?« fuhr er nach einer Pause eifriger fort. »Vortrefflich! und selbst wenn er jenen sonderbaren Streich ausgeführt hätte –«

Die Räthin schaute ernst auf ihren Mann.

»Nun ja, ich sage, wenn er ihn ausgeführt hätte, so hätte ihm das bei den vernünftigen Leuten da oben nicht den geringsten Schaden gethan.«

Der Blick der Räthin wurde fragender.

»Weißt du, Charlotte, man kann über Alles sprechen. Die Sache ist, wie ich höre, vorüber. Nun gut, Arthur erzählte mir neulich, daß ihm einer seiner Bekannten, Graf Fohrbach, Adjutant Seiner Majestät und Sohn Seiner Excellenz des Herrn Kriegsministers, der im Begriff steht, eine der Hofdamen Ihrer Majestät zu heirathen, das schöne Fräulein von S. – eine alte Familie – gesagt, Arthur soll sich nur auf ihn, den Grafen verlassen – er wolle – im Falle – daß Arthur –« Hier stockte der Kommerzienrath, denn der Blick seiner Frau war außerordentlich scharf geworden.

»Und was denn?« fragte sie ungeduldig.

»Nun, sich verheirathen mit –«

»Nun denn, mit –?«

»Du weißt ja schon, Charlotte, mit jener Tänzerin. Man setzt ja nur den möglichen Fall, und in dem Falle würde sich die Gräfin Fohrbach ein Vergnügen daraus machen, die Madame Erichsen bei sich zu sehen.«

Die Räthin schüttelte den Kopf und sagte in bestimmtem Tone: »Unmöglich!«

»Natürlich, für deine treuen Freundinnen wäre so etwas unmöglich, namentlich für solche, die selbst mit einem verdächtigen Herkommen zu kämpfen haben und die von jeher des weitesten Mantels der christlichen Liebe bedurft, um ihre Blößen zu bedecken. Aber man spricht ja vergeblich darüber; die Sache ist vorbei.«

[171] »Der arme Arthur!« seufzte Marianne.

»Arthur ist eine noble Seele,« fuhr der alte Herr mit einem Anflug von Rührung fort, »Arthur ist selbstständig. Er konnte sagen: das ist einmal mein Glück und ich will glücklich sein.«

»Und ungehorsam gegen seine Eltern,« versetzte streng die Räthin.

»Allerdings, aber ich bin fest überzeugt, jenes arme Mädchen – sie hätte nichts gegen unsern Willen gethan.«

Hier lächelte die Räthin zum ersten Mal während der Unterredung, aber es war ein unangenehmes Lächeln, ein spöttisches Lächeln.

»Gewiß, Mama,« sagte Marianne in festem Tone, »sie würde das nicht gethan haben. Das Mädchen hat einen festen, herrlichen Charakter.«

»Und wer hat euch das gesagt?« fragte mißtrauisch die Räthin.

Vater und Tochter wechselten schnell einen Blick, woraus Letztere fortfuhr: »Eduard sprach mit uns darüber; er kam zufällig als Arzt in das Haus.«

»Wie so – zufällig?« fragte noch immer argwöhnisch die Räthin.

»Ganz zufällig!« nahm Herr Erichsen das Wort. »Du erinnerst dich doch der Geschichte mit dem Kinde, welches Eduard zu sich in's Haus nahm und das zu so schlimmem Gerede Veranlassung gab. Nun, man kann den armen Wurm doch nicht auf die Straße werfen und da erbot sich denn Arthur, es in jene Familie zu thun.«

Die Räthin trommelte leise auf den Tisch und sagte dann: »Das sind saubere Geschichten. Nun, sie werden Herrn Arthur schön empfangen haben!«

»Sehr schön,« erwiderte ernst Marianne; »liebevoll nahmen sie das verwaiste Kind auf, obgleich sie selbst nicht viel haben, und Mamsell Clara behandelte es ganz wie ihre eigenen Geschwister. [172] – So sagte nämlich Eduard,« setzte sie hastig hinzu, als sie bemerkte, daß ihr die Mutter einer sonderbaren Blick zuwarf.

»Und Eduard sieht öfters nach dem Kind,« fuhr der Kommerzienrath fort, »aber in letzter Zeit auch nach ihr selber – nach der Tänzerin nämlich. Und er meint, das Mädchen leide furchtbar, und er hat mir neulich unwillig gesagt – ja, ich kann es dir nicht verschweigen, Charlotte, wenn gleich – auch dein Unmuth –« Hier schien sich der Fluß seiner Rede vor dem strengen Angesicht seiner Gattin abermals im Sand verlaufen zu wollen. Doch munterte ihn ein Blick Mariannens auf und er fuhr muthig fort: »Eduard sagt also, es sei – eine Schande, daß man ein so liebliches und gutes Geschöpf so unglücklich und langsam dahin welken sehen müsse.«

Die grauen Augen der Räthin schauten bald den alten Herrn, bald Marianne an; doch war der Blick derselben nicht mehr ganz so scharf und kalt wie bisher. Auch wurde der Husten immer auflösender, und – wenn man sich so ausdrücken darf – trommelten ihre Finger nicht mehr in Dur, sondern in Moll. Nach einer Pause sprach sie jedoch: »Ihr schmiedet da ein artiges Komplott gegen mich; Arthur wird euch sehr dankbar dafür sein.«

»Ich habe gedacht,« erwiderte Marianne, »daß Sie so sprechen würden, Mama. Aber bei Allem, was mir und Ihnen heilig ist, schwöre ich Ihnen zu, daß Arthur mit uns nie über diesen Gegenstand geredet, Ja er vermeidet es, die Sache zu berühren, und gab mir schon einige Mal zur Antwort: Laß das ruhen, es ist vorüber.«

»Das ist brav von Arthur,« meinte die Räthin mit sanfterer Stimme, »daß er so den Willen seiner Mutter respektirt. – Aber was will denn Eduard, daß er sich der Sache so annimmt?«

»Der handelt auch nicht ganz aus eigenem Antriebe und noch weniger im Auftrage Arthur's. Du weißt, welche große Stücke der Leibarzt des Königs auf deinen Sohn hält; nun, der hat ihn neulich wegen der Geschichte vorgenommen.«

[173] »Ei sieh doch!« sagte erstaunt die Räthin. »Wenn der mit seinem ewigen Spott sich jener Demoiselle ernstlich annimmt, da möchte freilich etwas Absonderliches dahinter sein.«

»Das habe ich mir auch gedacht,« fuhr der alte Herr trocken fort, »aber ich kann dir sagen, Charlotte, daß der alte Leibarzt jenes Mädchen schätzt und liebt. Er hat sie am Todtenbette eines kleinen Schwesterchens von ihr kennen gelernt und sprach darüber wahrhaft enthusiastisch. Das sei ein reiches und edles Herz, meint er, ein Gefühl, warm und rein, wie er selten welches gefunden, kurz ein Geschöpf, über das man die Hände wehklagend zum Himmel erheben möchte, daß die Verhältnisse es hinderten, glücklich zu sein und glücklich zu machen.«

»Nun,« versetzte die Räthin mit etwas schärferem Tone, »dazu könnte ja bei dem Leibarzte Rath werden; er hat ja selbst zwei Söhne; vielleicht ließe sich da 'was arrangiren.«

Marianne warf ihrem Vater einen wahrhaft trostlosen Blick zu und auch dieser zuckte die Achseln, Beide, wie sie glaubten, ungesehen von der Mama. Doch hatten deren graue Augen blitzschnell nach rechts und links geguckt, starrten aber jetzt wieder gerade vor sich hin, als sie sagte: »Es ist bedauerlich, daß meine Angehörigen, die mich umgeben, so leicht durch den äußern Schein zu bestimmen sind. Bei dieser Sache ist es wahrhaftig ein Glück, daß Arthur so respektabel ist und sich meinen Wünschen, meinen vernünftigen Gründen ohne Weiteres fügt.«

»Was mir eigentlich unbegreiflich ist,« fuhr dem alten Herrn heraus, »denn wer das Mädchen einmal gesehen, versteht nicht, wie man es selbst dem Willen der Eltern zulieb so leicht aufgeben kann. Mir ist das, namentlich bei dem Charakter Arthurs, gänzlich unverständlich.«

Die Räthin sah lächelnd vor sich nieder.

»Aber Arthur leidet ebenfalls sehr,« meinte Marianne; »das sieht man ihm deutlich an. Er hat sich in letzter Zeit sehr verändert; [174] glauben Sie mir, Mama, wenn er auch Ihren Befehlen folgt, so wird ihm sein Gehorsam Zeitlebens nachgehen, und wer weiß, ob er nicht später einmal bedauert, gehorsam gewesen zu sein!«

Die Räthin hatte leise auf ihre Briefe getrommelt, sich dann mit dem Schnupftuche die Stirne abgewischt und entgegnete nun nach einem ziemlich langen Stillschweigen: »Ja, Arthur ist recht gehorsam gewesen, und es ist das, wie schon gesagt, sehr respektabel von ihm. Er vertraut seiner Mutter, von der er weiß, daß sie fest an ihren Grundsätzen hängt, der Leidenschaft nicht leicht Gehör gibt und vor allen Dingen selbst prüft, ehe sie einen einmal gefaßten Beschluß zu ändern pflegt.«

Die letzteren Worte waren mit einem ganz andern Ausdruck gesprochen worden, fast warm und gefühlvoll, so zwar, daß der Kommerzienrath seine Tochter erstaunt anblickte, worauf diese einen tiefen Athemzug that, sich niederbückte und, während sie sanft die Hand auf den Arm ihrer Mutter legte, diese auf die Stirn küßte. Die Kommerzienräthin raffte ihre Briefschaften zusammen, erhob sich von dem Sopha, wobei sie lächelnd sagte: »Die Sitzung ist aufgehoben, aber ich will euch nicht verschweigen, daß es mir leichter um's Herz ist, als vor einer Stunde, wo ich mit diesen beiden Briefen in's Zimmer trat. Da war ringsum für mich Alles schwarz bezogen, jetzt hat sich's etwas aufgeklärt und es ist als schimmerte ein kleiner Lichtstrahl in mein Herz. – Komm, Marianne.«

Damit gingen die beiden Damen fort, der Kommerzienrath blieb allein zurück und verhalf sich nachträglich noch zu einer Tasse wenn gleich schon ziemlich kalten Kaffees. Dabei aber schien er plötzlich guten Humors geworden zu sein und es war rührend und komisch zugleich, wie er nach genossenem Kaffee zum Zimmer hinaus tänzelte.

82. Kapitel
[175] Zweiundachtzigstes Kapitel.
Die Familie Wundel.

Der Brief, den Herr Blaffer an jenem denkwürdigen Abend dem Herrn Staiger geschrieben hatte, war der Post übergeben worden und glücklich an seine Adresse gelangt. Der alte Mann hatte bedenklich den Kopf geschüttelt, nachdem er ihn gelesen, aus tiefster Brust dazu geseufzt und bei sich überlegt, ob er seine Tochter Clara davon in Kenntniß setzen solle oder nicht. Doch sah er wohl ein, daß sich ein solch trauriger Umschwung in ihren Verhältnissen vor der Tochter nicht lange würde verheimlichen lassen, denn leider kannte er für den Augenblick keine anderen Quellen, welche im Stande gewesen wären, ihm die verkümmerte Einnahme zu ersetzen. Er lächelte, wenn er an all' die schönen Träume dachte, denen er sich in den letzten Wochen so leichtsinniger Weise hingegeben.

Clara las den Brief des Buchhändlers, ohne eine große Bewegung zu verrathen, doch zitterte ihre Hand, als sie ihn wieder zusammenfaltete und dem Vater zurückgab. »Und was meinst du?« fragte sie mit tonloser Stimme. »Sollte das wohl von ihm kommen?«

Herr Staiger hätte hierauf um Alles in der Welt kein Ja geantwortet; er fühlte wohl, daß das ein neuer Dolchstoß für das unglückliche Mädchen gewesen wäre. Er entgegnete also: »O nein, meine gute Clara; wer weiß, wie das zusammen hängt! Mich hat Herr Blaffer nie leiden können, und wenn Herr Arthur mit uns nicht zerfallen wäre, so hätte mir der Andere meine Arbeit vielleicht doch genommen.« – So sagte er, dachte aber anders; er ahnte vielmehr einen Zusammenhang, ohne sich klar zu werden, worin dieser eigentlich bestehe. Ja, es gab Augenblicke, wo er Arthur für schuldiger hielt, als dieser in der That war.

Leider machte sich die entzogene Arbeit und das hiedurch verminderte [176] Einkommen nur zu bald in der Haushaltung der armen Leute fühlbar. Obendrein hatten sich die Ausgaben des Herrn Staiger wegen des kleinen Mädchens noch vermehrt, und dabei wollte er sich nicht dazu verstehen, für die Unterhaltung desselben das Geringste anzunehmen, obgleich Doktor Erichsen, der, wie wir wissen, zuweilen in das Haus gekommen, ihm das dringend angeboten hatte. »Das war früher nicht ausgemacht,« hatte ihm der alte Mann geanwortet; »ich nahm das Kind gerne auf, weil es arm und hilflos in der Welt dastand; auch sind die Kosten für dasselbe ja nicht der Rede werth. Und dann,« hatte er mit sehr gezwungenem Lächeln hinzugesetzt, »sind wir nicht so arm, als der Herr Doktor wohl glauben, und es ist uns wahrhaftig ein Vergnügen, auch etwas Gutes zu thun.«

Eigenthümlich war es, daß Clara das fremde Kind außerordentlich lieb gewonnen hatte. Ihr war es wie ein Geschenk Arthurs, und wenn sie so neben ihm saß, ihm sein Kleidchen geordnet oder seine Haare geglättet, so versank sie oft in Träumereien und dachte: »Ich erziehe mir hiemit einen lebendigen Zeugen meiner Unschuld. Das Kind wird größer und älter werden, es wird fühlen und begreifen, wie ich Arthur geliebt und noch liebe, denn ich habe ja keine Ursache, das hier vor den Meinigen zu verschweigen; es wird auch schon noch sehen, was hier bei uns geschieht, wie hier so gar nichts Heimliches und Unrechtes vorfällt, wird erkennen, daß ich ja nie im Stande gewesen bin, treulos zu werden und wird dann – vielleicht wohl erst nach langen, langen Jahren,« fügte sie mit trübem Lächeln bei, »im Stande sein, ihm das alles zu sagen und ihm so die Augen zu öffnen – über das Unrecht, das er an mir begangen.« –

Wohl hätte ihm Clara das alles selbst sagen können, denn wenn Arthur seit jenem Vorfall auch nicht mehr in das Haus kam, so fühlte sie wohl, daß er ihren Weg zum Oefteren durchkreuzte. Wenn sie in den Theaterwagen stieg oder denselben an der Thüre ihres [177] Hauses verließ, so begann ihr Herz heftiger zu schlagen, der Athem stockte ihr zuweilen plötzlich und sie vermied es alsdann, rechts oder links zu schauen. Sie wußte auch ganz genau, daß es nur des geringsten Zeichens von ihrer Seite bedürfe, nur ein Stehenbleiben, einen Blick um sich her, um ihn augenblicklich heran zu ziehen. Doch das wollte sie gerade vermeiden. Sie war zu stolz, sie fühlte sich zu sehr verletzt, um nach dem, was er ihr Alles gesagt, eine Erörterung herbeizurufen, wenn sie eine solche auch zuweilen herbeiwünschte. Aber diesen Wunsch hatte sie nur, wenn sie allein war, wenn sie trotz des dunkeln Zimmers ihr Gesicht noch hinter ihren Händen verbarg, damit Niemand sehen möge, wie ihre Lippen schmerzlich zuckten, wie die Thränen unaufhaltsam aus ihren Augen herabfloßen.

Die kleine Schwester Clara's war schon verständig genug, um weder diese noch den Vater zu befragen, warum sie ihr Leben so plötzlich geändert habe. Sie dachte sich, es müsse eine Ursache haben, daß namentlich die Küche des Hauses noch unendlich einfacher, als dies früher geschehen, besorgt wurde. Das Bübchen dagegen konnte dies gar nicht begreifen und verlangte fast jeden Tag Aufklärungen, warum denn beinahe gar kein Fleisch mehr käme, und immer Kartoffeln mit Suppe abwechselten. »Ihr seid alle sehr dumm,« sagte es, »daß ihr es nicht besser haben wollt, und morgen verlange ich einen Kalbsbraten, übermorgen Kuchen und dann so fort.«

Vater Staiger konnte seine Klagen in diesen Fällen nur beschwichtigen, wenn er ihm irgend ein Märchen erzählte. Er hatte jetzt leider auch recht viele Zeit zum Märchenerzählen, denn wenn er auch durch die Rekommandation eines alten Bekannten eine kleine Arbeit erhalten hatte, so war diese doch nicht der Art, daß sie seinen Geist in Anspruch nahm. Es waren nämlich ein paar Abschriften, die er zu befolgen hatte, und bei deren Anfertigung ihm volle Muße blieb, seinem kleinen Sohn auf alle möglichen Fragen zu antworten.

[178] Da die Jahreszeit schon vorgerückt und es nicht mehr so kalt war, so hatte Herr Staiger seinen Tisch näher an's Fenster gebracht und so konnte er auch Abends länger schreiben, ohne ein Licht anzünden zu müssen. Ihm gegenüber saß Clara mit einer Stickerei beschäftigt, eine Stickerei, die sie in besseren Tagen angefangen, und die sie nicht lassen konnte, langsam zu vollenden. Marie hatte sich des kleinen Kindes angenommen und zeigte ihm Bilder in einem großen, halb zerrissenen Buche – ein Amusement, welches das Bübchen durchaus nicht mehr befriedigte. »Das ist Alles dummes Zeug,« sagte er mit großer Bestimmtheit, »und das brauche ich nicht mehr anzusehen, denn ich weiß es genau. Auch ist Alles nicht wahr, was in dem Buche steht, und es gibt keine Riesen, die kleine Buben auffressen. Ich habe noch nie einen lebendigen gesehen.«

»Das glaube ich wohl,« entgegnete lächelnd Herr Staiger, »diese Riesen lassen sich auch nur sehen, wenn die Kinder über alle Beschreibung unartig sind. Und ich hoffe, so arg schlimm bist du doch nicht.«

»O er ist schon schlimm genug,« bemerkte die kleine Schwester, »denn er hat gestern meiner Puppe das linke Bein ausgerissen und hat ihr auch den Kopf abgeschlagen.«

»Das ist aber sehr häßlich von dir, Karl,« sprach Clara, »Jetzt hast du alle deine eigenen Sachen entzwei gemacht, und nun verdirbst du auch die von Marie!«

»Die Puppe war nicht mehr schön,« erwiderte der Knabe, und wollte auch nicht Seiltanzen.«

»Kannst denn du Seiltanzen?« fragte der Vater.

»O ja, wenn ich will, – aber ich will nicht. Und es ist auch nicht wahr, wenn Clara sagt, ich mache meine Spielsachen entzwei; das Schönste habe ich doch noch.« Bei diesen Worten griff er in die Tasche seiner Höschen und zog den Rest einer Mundharmonika hervor, auf welcher er auch sogleich zu blasen anfing und die kläglichsten Töne hervorbrachte. Glücklicherweise liebte [179] er sehr das Piano, und wenn er einen Ton so lange anhielt, bis fast gar nichts mehr zu hören war, so blickte er zu gleicher Zeit wie in tiefe Gedanken versunken nachsinnend vor sich hin, als wolle er den Ton verfolgen, der sich scheinbar in weite, weite Fernen verlor. Plötzlich aber verstärkte er ihn, brach dann schrillend ab und sagte: »Clara, ich habe Hunger.«

»Das ist man bei dir gewohnt,« antwortete die ältere Schwester trübe lächelnd. »Du bist ein kleiner Fresser, der an nichts Anderes denkt. Jetzt sind es kaum ein paar Stunden, daß wir zu Mittag gegessen haben; wie kannst du schon wieder Hunger haben?«

»Weil ich keinen Kaffee mehr bekomme wie früher,« erwiderte finster das Bübchen; »da hat man doch auch den Nachmittag was zu thun gehabt.«

»Ich denke mir,« meinte der Vater, »du hättest gern alle Stunden mit Essen und Trinken abgewechselt.«

»Das hätte ich auch,« entgegnete Karl, »und immer was Besseres.«

»Und wenn du nun das Allerbeste gehabt hättest, was es gibt, dann –?«

»Dann –« wiederholte der Knabe, ohne zu verstehen, was der Vater eigentlich sagen wollte, denn von einem Kulminationspunkt hatte er noch keine Idee.

»Dann wäre es dir ergangen wie den beiden Fischersleuten, die im Wassertopfe wohnten.«

»Und den kostbaren Zauberfisch fingen,« rief Marie.

»Ganz richtig,« versetzte Herr Staiger, indem er seine Feder niederlegte und gedankenvoll an die Decke blickte. »Die wollten auch immer etwas Besseres, zuerst Geld, dann ein Haus, dann Fürst werden, dann König, und zuletzt Pabst. Das erhielten sie und wurden auch Alles nach und nach, als aber die Frau des Fischers endlich der liebe Gott selbst werden wollte – pumps dich! da hatten sie nichts mehr und mußten wieder in ihrem Wassertopfe [180] wohnen und trockenes Brod essen. – Das ist ein verständiges Märchen,« fuhr der alte Mann träumerisch fort, »und wir Alle haben etwas von den Fischersleuten in uns. Heute begnügen wir uns mit einer einfachen Mahlzeit, morgen ist uns die bessere nicht mehr gut genug, denn wir wünschen alsdann dazu auch ein stattliches Zimmer, endlich ein Haus und obendrein noch gar einen Titel.«

»Ich glaube nicht, daß ich so wäre,« sagte Clara. »O, ich hätte eine Grenze gewußt, bei der angekommen ich vollkommen glücklich und zufrieden gewesen wäre!«

Der alte Mann blickte seine Tochter bewegt an, dann entgegnete er: »Ich verstehe dich wohl, mein armes Kind, aber wenn auch damit für jetzt der Horizont deiner Wünsche abgeschlossen wäre, so glaube mir zu deinem Troste, daß, wenn du alles das erreicht hättest, doch die Zeit gekommen wäre, wo neue Wünsche dein Herz bewegt hätten.«

Clara wollte etwas erwidern, doch wandte sie ihren Kopf plötzlich gegen die Kammer vor dem Wohnzimmer, wo man deutlich vernahm, daß dort die Thüre geöffnet wurde und sich Schritte näherten. Darauf klopfte es ziemlich laut und vernehmlich, so daß sich die kleine Marie beeilte, »Herein!« zu rufen.

Die Thüre öffnete sich und es erschienen zwei Personen auf der Schwelle, eine Dame und ein Herr, von denen sich die Erstere lachend der Tänzerin näherte, und ehe diese aufstehen konnte, freundlich ihre Hände ergriff. Es war Mademoiselle Therese, die lustig und strahlend hereintrat und sich augenblicklich auf den Stuhl niederließ, den ihr Herr Staiger hinstellte, ohne sich dabei viel um ihren Begleiter zu bekümmern, der, den Hut in der Hand, ziemlich schüchtern an der Thüre stehen geblieben war. Es war das ein Mann, vielleicht in den Vierzigen, ziemlich dürr, mit einem ernsten, eingefallenen Gesichte, hoch emporgezogenen Augenbrauen und etwas herabhängender Unterlippe. Sein Haar war einfach zurückgekämmt, und da er hiebei den Kopf etwas geneigt trug, so gab ihm das ein [181] demüthiges Aussehen, welches noch unterstützt wurde durch die etwas gebeugte Haltung des Körpers und die verlegene Art, mit welcher er seinen Hut in beiden Händen so hielt, daß sich seine Blicke in denselben hinein, man möchte fast sagen: verkriechen konnten. Auf Momente erhob er die Augen und dann fuhr aus ihnen ein eigenthümlicher Blitz über die Tänzerin. Dieser Herr trug einen braunen Ueberrock bis an den Hals zugeknöpft, so daß man nichts sah als eine weiße Halsbinde, wodurch übrigens die fahle Gesichtsfarbe ein wenig aufgefrischt wurde.

Therese hatte sich nach Clara's und ihres Vaters, sowie auch nach dem Befinden der Kinder erkundigt, auch gesagt, sie habe schrecklich viel zu thun und wisse nicht, wo ihr der Kopf stehe, während welcher Zeit ihr Begleiter in der Nähe der Thüre verharrte. Erst als sich Clara erhob, um denselben zu begrüßen und ihn mit einem Blick auf Therese zu bitten, gefälligst näher treten zu wollen, wandte diese den Kopf herum und sprach leichthin: »Du brauchst dich hier gar nicht zu geniren, Berger, das ist Herr Staiger und meine gute Freundin Clara; wir sind hier ganz unter uns. Dort ist ein Stuhl, den kannst du dir mitbringen. – Mein Bräutigam,« wandte sie sich mit einer Handbewegung an Herrn Staiger, dann warf sie den Kopf etwas in die Höhe und fuhr ernster fort: »Ich brauche dir wohl nicht zu sagen, liebe Clara, daß ich meine Brautvisiten mache. – Gott! es ist das schrecklich langweilig,« setzte sie leiser hinzu.

»Ah! da gratulire ich,« versetzte herzlich Herr Staiger, indem er dem Bräutigam die Hand schüttelte und demselben dabei mit einem kleinen Rucke zum Sitzen verhalf, denn Herr Berger schwebte einige Sekunden lang über dem Stuhle, und schien es für passend zu halten, auf diese Art die Gratulation in Empfang zu nehmen.

»Da hast du viel zu thun,« sagte Clara nach einer Pause, während welcher sie den Bräutigam und ihre schöne Freundin einen Augenblick forschend betrachtet.

»Es geht so,« erwiderte Therese in nachlässigem Tone; »ich [182] habe anfänglich gar keine Besuche machen wollen, aber Berger meint, es sei nothwendig, und ich meines Theils habe mir auch die neue Verwandtschaft ein bischen ansehen wollen. – Und das war in der That der Mühe werth,« platzte sie nach einigen Sekunden lachend heraus. »Du hättest die Gesichter sehen sollen! Berger hat eine große und auch, was man so nennt, eine vornehme Verwandtschaft: wohlhabende Kaufleute, ja Regierungs- und Kanzleiräthe. Ich sage dir, Clara, ein Paar von diesen Damen schnitten mir Gesichter, als müßten sie Rhabarber verschlucken; aber wie du mich kennst, hat mich das ungeheuer amüsirt. Nicht wahr, Berger, ich habe mich gar nicht blöde benommen?«

»O nein,« erwiderte der Bräutigam, wobei er seinen Hut herumdrehte und nun angelegentlich die obere Fläche betrachtete. – »Du hast ihnen recht gut gefallen.«

»Das will ich meinen,« fuhr Therese lachend fort. »Auch ich bin so ziemlich mit ihnen zufrieden; ich habe sie meiner ganzen Gnade versichert, und wenn sich deine Verwandtschaft gut aufführt, so soll sie mit mir zufrieden sein.«

»Und Sie werden bald heirathen?« fragte Herr Staiger, der den Bräutigam schon eine Zeitlang theilnehmend betrachtet hatte.

Dieser schielte zu dem alten Herrn hinüber und erwiderte: »O ja, recht bald – wenn Therese will.«

»Das versteht sich von selbst. Man muß doch mit der Geschichte einmal ein Ende machen. Ich hoffe, liebe Clara, du erhältst mich in deiner Freundschaft. Hast du einen Augenblick für mich übrig?« setzte sie leise hinzu; »ich hätte dir etwas zu sagen, was nur uns allein angeht.«

»Du weißt,« entgegnete Clara erröthend, »daß wir außer der Kammer draußen nur dieses Zimmer haben. Wenn du mit mir dorthin gehen willst –«

»O das ist gar nicht nöthig,« versetzte die Andere, indem sie sich erhob, »komm, treten wir an den Ofen.« Das hatte sie Alles [183] in gedämpftem Tone gesprochen, und setzte nun mit lauter Stimme hinzu: »Berger, du wirst dich einen Augenblick mit Herrn Staiger unterhalten; ich habe mit Clara etwas abzumachen.« Damit nahm sie diese unter dem Arm und trat mit ihr an den Ofen. Herr Berger begann, dem erhaltenen Winke gemäß, augenblicklich über das Wetter zu sprechen, und meinte, es sei noch immer recht kalt, doch da jetzt der Winter vorbei sei, habe man Hoffnung, daß, dem gewöhnlichen Laufe der Dinge nach, nun doch am Ende das Frühjahr erscheine.

Therese stützte die rechte Hand auf die kleine Kinderbettlade, die hinter dem Ofen stand, und sah ihrer Freundin so fest und forschend in die Augen, daß sie dieselben niederschlug. »Nun wie steht's mit deiner Sache?« fragte sie darauf.

Clara erhob den Blick, schüttelte leicht mit dem Kopfe und entgegnete mit sanftem Tone: »Ich weiß von nichts, will auch von nichts wissen.«

»Und er hat gar nicht einmal den Versuch gemacht, dich zu sprechen?« versetzte die Andere, wobei sie den Kopf ärgerlich in die Höhe warf. »Nicht einmal den Versuch gemacht?«

»O doch,« sagte Clara nach einem kleinen Stillschweigen, wobei ihre Blicke abermals den Boden suchten. »Wie es mir scheint, machte er zuweilen den Versuch, mich zu sehen; aber ich weiche ihm aus und vermeide ihn.«

»Daran thust du nicht ganz unrecht, aber du mußt es nicht zu weit treiben.«

»Was ist denn da noch weit zu treiben?« sprach Clara schmerzlich. »Wer weiß, warum er mir in den Weg tritt! Vielleicht, um seine Vorwürfe zu erneuern, wenn ich dieselben anhören wollte.«

»Vielleicht auch thut ihm sein Betragen leid und er möchte dich um Verzeihung bitten.«

Clara schüttelte den Kopf mit einem trüben Lächeln. »O nein,« sagte sie, »er kam ja öfters hieher in unsere Wohnung und [184] weiß gewiß, daß ich ihm hier für ein offenes, ehrliches Wort gerne Rede stehen würde.«

»Er wird sich scheuen; er weiß nicht, wie du ihn empfangen würdest. Du mußt schon ein bischen nachgiebiger sein, mein Kind. Weißt du,« fuhr Therese fort, indem sie ihren Shawl ordnete und denselben fest um ihre schlanke Taille zog, »es ist leider einmal so in der Welt, und wenn man noch so sehr in seinem Rechte ist, so muß man sich doch zuweilen beugen und schmiegen, und immer das Ziel im Auge behalten, das man am Ende erreichen will.«

Clara preßte die Hand auf ihr Herz und erwiderte: »Ach! Therese, glaube mir, ich habe kein anderes Ziel mehr vor Augen als das, welches uns allen gemeinschaftlich ist. O er hat mein Herz gebrochen; ich fühle das; und nur die größte Wonne, die reinsten Freuden wären vielleicht im Stande, es zu heilen. Aber dergleichen habe ich ja nicht mehr zu erwarten; hätte er mit mir über irgend etwas einen kleinen Streit angefangen, hätte er mich heftig wegen Fehler oder Unarten gezankt, ich wäre ihm dankbar dafür gewesen, aber er hat mir in kaltem Tone vorgeworfen, ich sei ein treuloses Geschöpf, und dabei hat er mir Worte gesagt, so fürchterlich, daß ich sie nicht vergessen kann. Es ist mir, als ob sie irgend ein böser Geist beständig neben mir ausspräche, und Nachts werden sie zu Träumen und quälen mich entsetzlich. – O das ist unerträglich!« fuhr sie nach einer Pause fort, während welcher sie ihr Gesicht mit beiden Händen bedeckt hatte. »Ich sehe ihn immer und immer vor mir stehen, wie er, mich verwünschend, die Hände gegen mich ausstreckte und wie er sagte: ich zerreiße dieses Band; hier vor der todten Marie sage ich mich feierlich von dir los. – Ah! entsetzlich!«

Therese hatte ihre Hand ergriffen, das arme Mädchen sanft an sich gezogen und drückte nun den Kopf derselben auf ihre Schulter nieder. Dabei küßte sie ihr innig das schwarze Haar und [185] ließ sie eine Weile so ruhen, ehe sie ihr leicht den Kopf wieder erhob, und sie alsdann auch herzlich auf die thränenden Augen küßte.

»O du bist wirklich gut,« sagte Clara, »du hast ein braves, fühlendes Herz.«

»Ich bin vielleicht nicht so schlimm, als man glaubt,« entgegnete die schöne Tänzerin, und dabei zuckte ein wehmüthiger Zug um ihren Mund. »Aber,« setzte sie entschlossener bei, »keine Klagen, keinen Schmerz, liebe Clara! Für jetzt bin ich noch nicht da, um mit dir zu weinen; das kann später geschehen. Jetzt wollen wir einen Moment deine Angelegenheit ruhig in's Auge fassen, um zu ergründen, was da vorgefallen sein könnte. – Daß er die Sache nicht vom Zaune gebrochen hat, ist klar; weißt du, liebes Kind, wenn man sich mit einer Geliebten entzweien will, ohne Ursachen zu haben, blos weil sie einem nicht mehr gefällt, so besorgt man das auf andere Art. Nein hier ist etwas vorgefallen.«

»Aber ich habe nichts gethan,« sprach Clara erschrocken.

Auf das hin faßte Therese lächelnd ihre beiden Hände, sah ihr in die Augen und erwiderte: »Das brauchst du mir nicht zu sagen, mein gutes Geschöpf. Herr Arthur ist sehr unerfahren, oder sehr dumm, daß er dich, mein Engel, mit deinem offenen Gesicht, und deinen klaren, ehrlichen Augen irgend etwas Schlimmen beschuldigen konnte. Es ist das rein unbegreiflich. Aber weiter Antworte mir ein bischen genau auf meine Fragen: Hast du vielleicht in der letzten Zeit oder auch früher Jemand bemerkt, der sich für dich lebhaft interessirte, der dir nachgegangen wäre, der es versuchte, dich zu sprechen, dir Briefe oder auch vielleicht Blumen geschickt? Aber thue mir den Gefallen, liebes Kind, und genire dich nicht vor mir; ich muß Alles wissen.«

Clara lächelte einen Augenblick unter ihren Thränen hervor und entgegnete: »Ach, es ist mir hart, über so etwas zu sprechen, aber ich weiß wohl, daß du es gut mit mir meinst. – Ja, es hat [186] sich wohl Jemand, wie du es nennst, für mich interessirt, mir auch Blumen geschickt, sogar einmal ein Billet, doch habe ich es nicht angenommen.«

»Das ist gleichviel. Und wer war das?« »Graf Fohrbach.«

»Ah! der Adjutant Seiner Majestät,« sagte Therese mit einem komischen Ausdrucke. »Nicht so übel! sieh! sich! Das ist ein Faden, an dem wir uns halten können. Und Arthur kennt den Grafen?«

»O ja, sehr genau. Sollte der vielleicht über mich gesprochen haben?«

»Nichts Schlimmes, wenn du, wie du sagst, nichts mit ihm zu thun hattest. O du brauchst es nicht zu betheuern, ich kenne dich. Graf Fohrbach ist einer der anständigsten jungen Leute der Stadt. Und die Scene, die du mit Arthur hattest, ging bei der Becker vor sich? Was machte Herr Erichsen da?«

»Ich weiß es nicht,« versetzte Clara. »Darüber habe ich dich schon fragen wollen. Was hat er wohl da zu thun gehabt?«

Therese zuckte die Achseln und erwiderte: »Die Becker ist ein schlimmes Weib und treibt ein für junge Mädchen sehr gefährliches Handwerk. Doch das verstehst du nicht ganz. Daß sie auch für den Herrn Grafen Fohrbach kleine Unterhandlungen zu führen hatte, weiß ich ganz genau. – Es wäre möglich,« sagte sie nachdenkend, »daß sich der Graf wegen dir – du brauchst nicht zu erschrecken – an die Becker gewendet. Ja, bei Gott! das wäre möglich, daß die ihm etwas vorgeschwindelt und Arthur das erfahren. Das ist ein kleines Licht. – Und die Becker ist dir nie in den Weg getreten?« fragte sie nach einer Pause.

»O nein, bei uns war sie nie. Aber, halt einmal! Hier im Hause ist sie doch einmal gewesen.« »Und das ist schon lange?«

[187] »Um Weihnachten, glaube ich. Da war sie hier nebenan bei der Frau Wundel, die dort mit ihren beiden Töchtern wohnt.«

Therese blickte einen Augenblick in die Höhe, dann fragte sie: »Frau Wundel – wer ist das?«

»Es ist eine sonderbare Familie,« erwiderte Clara achselzuckend. »Was sie eigentlich treiben, weiß ich nicht, sie ist eine Wittwe, arm, und lebt wie ich glaube von Unterstützungen.«

»Ah! da muß mein Bräutigam sie kennen,« versetzte Therese eifrig und rief alsdann laut: »Berger, kennst du eine Familie Wundel?«

Der Gefragte wandte den Kopf herum, nickte und entgegnete: »O ja, ich kenne sie – sehr, sie muß hier in diesem Hause wohnen.«

»Was sind das für Leute?« forschte die Tänzerin weiter.

Herr Berger zuckte mit den Achseln, machte ein saures Gesicht und sagte: »Sogenannte verschämte Hausarme, aber unter uns bemerkt, nicht viel daran, haben jedoch Konnexionen, denen sie Unterstützungen aller Art zu erpressen wissen.«

Therese warf ihrer Freundin einen bedeutsamen Blick zu, dann fuhr sie fort: »Werden wir dieser Familie einen Besuch machen?«

»Es lag das durchaus nicht in meiner Absicht,« gab der Bräutigam in bestimmtem Tone zur Antwort. »In dienstlicher Eigenschaft muß ich zuweilen hingehen, aber es ist mir das unangenehm genug.«

»So gehe einmal in dienstlicher Eigenschaft hin,« sagte das schöne Mädchen. Und als sie Herr Berger einigermaßen erstaunt und fragend anblickte, fügte sie mit erhobenem Kopfe bei: »Ich wünsche das, mein Lieber. Nimm dir ein paar Gulden in die Hand und thue so, als habest du ihnen irgend eine Unterstützung zu bringen.«

»Und du?« fragte Herr Berger mißtrauisch.

»Nun, ich begleite dich,« meinte Therese lachend. »Habe ich doch auch meine Freude am Wohlthun.«

[188] Nach diesen Worten erhob sich der Bräutigam förmlich und steif, doch schien er ziemlich an Gehorsam gewöhnt zu sein, denn er versuchte keine weitere Widerrede. Er schüttelte dem Herrn Staiger freundlich die Hand, machte Clara eine tiefe Verbeugung und schritt zur Thüre hinaus, gefolgt von Therese, die ihre Freundin nochmals auf die Stirne küßte, wobei sie ihr sagte: »Noch ist vielleicht nicht Alles verloren, gute Clara, ich will deine Angelegenheit in die Hand nehmen.«

– – Hätte die Familie Wundel eine Ahnung davon gehabt, mit welch' ungewöhnlichem Besuch sie die Aussicht hatte erfreut zu werden, so würde sie ihr Zimmer in andere Verfassung gebracht haben oder hätte ihre Thüre fest verschlossen gehalten, und das würdigste Mitglied derselben, Madame Wundel, hätte nicht auf so bereitwillige Art »Herein!« gerufen, als von draußen sehr bescheiden angeklopft wurde. Leider geschah dies zu der unglückseligen Stunde, als die brave Wittwe im Gefühl ihrer Dankbarkeit gegen Madame Becker diese zu einer guten Chokolade eingeladen hatte. Auf dem Tische dampfte eine angenehme Kanne dieses vortrefflichen Getränks rings umher Wohlgeruch verbreitend, daneben stand ein Teller mit prächtigem Backwerk, sanft gebräunter Gugelhopfen, welcher von oben durch den darauf gestreuten Zucker wie ein Schneegebirge aussah, auch freundlich glänzender Zwieback, sowie etwas Kräftigeres: Butterbrod mit einigem Fleischwerk. Der Ofen verbreitete eine behagliche Wärme, und ein Kesselchen mit warmem Wasser, welches auf der Kohlengluth stand, und neben demselben am Boden eine Flasche Punschessenz, zeigten deutlich an, daß Madame Becker ihr Lieblingsgetränk der sanften Chokolade vorzog. Sie mochte auch schon mehrere Gläser davon zu sich genommen haben, denn ihre Wange war sanft geröthet, sie schluckte häufig ohne Ursache und ihr Lachen war mehr ein Grinsen zu nennen, auch blickte sie still in das Punschglas hinein und summte die Melodie eines bekannten Liedes. Dabei befand sich die Frau [189] in Trauer, doch gab ihr lachendes Gesicht einen starken Gegensatz zu der schwarzen Farbe ihrer Kleider. Neben ihr saß Madame Wundel bestens aufgeputzt und strahlte vor Wohlbehagen; sie schien soeben eine Tasse Chokolade geleert zu haben und schmatzte noch vergnügt mit den Lippen. Emilie war beschäftigt, den Gugelhopfen zu zerschneiden und nur die jüngere Tochter Louise schien am wenigsten Antheil an der Gesellschaft zu nehmen, denn sie saß auf einem Stuhle an der unteren Seite des Tisches und hatte ihren Arm nachlässig und solchergestalt über die Lehne gelegt, daß sie den Anderen zur Hälfte den Rücken zudrehte.

Es klopfte also, Madame Wundel rief: »Herein!« und die Thüre öffnete sich. –

Wären aber in diesem Augenblicke der selige Becker und der selige Wundel erschienen, mit himmlischen Feierkleidern angethan und bereit, ihre theuren Hälften in's bessere Jenseits abzuholen, das Entsetzen hätte nicht größer sein können, als beim Anblick des Armenpflegers, der seinerseits nicht weniger erstaunt war, seine Unterlippe noch tiefer herabhängen ließ und die Augenbrauen bis an die Grenzen der Möglichkeit hinauf zog.

Madame Wundel, gänzlich außer sich, ohne alle Geistesgegenwart und so überrascht jeder Verstellung unfähig, ließ beide Hände auf den Tisch sinken und starrte mit einem trostlosen Blicke den Eintretenden an. Emilie behielt mehr ihre Fassung und machte den vergeblichen Versuch, den Gugelhopfen vom Tisch verschwinden zu lassen, doch war ihre Bewegung zu heftig und rechts und links fielen die aufgeschnittenen Stücke über Tassen und Tischtuch dahin. Louise allein beharrte in ihrer Stellung, ja sie zuckte mit den Achseln und lächelte höhnisch.

Madame Becker, die den Armenpfleger wohl kannte und deßhalb vollkommen das Entsetzen ihrer Freundin begriff, faßte, auch wohl von dem starken Getränk ermuthigt, sich am schnellsten wieder, schüttelte ihre Nachbarin am Arme und sagte mit ihrem[190] breiten, gemeinen Tone und etwas sehr schwerer Zunge: »Ach, Wundel, erschreck' Sie nur nicht so, der Herr Armenpfleger wird es wahrhaftig nicht übel nehmen, wenn arme Kreaturen, wie wir sind, sich einmal einen vergnügten Tag machen. – Was könnt Ihr auch dafür,« setzte sie mit einem pfiffigen Blinzeln hinzu, »daß es mir nun einmal in den Kopf gekommen ist, Euch mit Chokolade und was Gutem zu traktiren!«

»Ja, was kann ich dafür!« sprach die Wundel nach einem tiefen Athemzuge, indem sie begierig diesen Rettungsanker ergriff. »Die Becker ist eine so gute Seele, eine so brave Frau und denkt gern an uns arme Leute. Ach Gott?« fuhr sie fort und schlug ihre Augen scheinheilig auf, »wie käme auch sonst was so Gutes an uns!«

»Das mißgönnt uns der Herr Armenpfleger gewiß nicht,« sagte auch Emilie etwas gefaßter.

Die erstaunten Blicke des Herrn Berger fuhren indessen, auf's Höchste überrascht, auf dem ganzen Tisch umher; ihm war es unfaßlich, daß verschämte Hausarme ein solch' angenehmes Leben zu führen im Stande seien, und wenn es ihm unbegreiflich war, woher Madame Wundel das Geld zu diesen Ausgaben nahm, so glaubte er doch nicht den Worten der Becker, namentlich nicht, als er in das Gesicht seiner Begleiterin blickte, die mit einem unnachahmlichen, höchst ergötzlichen Lächeln die Gesellschaft am Tische betrachtete.

»Einen Stuhl! – Zwei Stühle! –« schrie nun plötzlich Madame Wundel, indem sie hastig aufsprang. »Der Herr Armenpfleger thun uns die Ehre an, sich einen Augenblick an unsern schlechten Tisch zu setzen.«

Auch Emilie schnellte auf die Seite und Madame Becker erhob sich schwerfällig. »Ist es nicht wie ein Fingerzeig von Oben,« sagte diese lallend, »daß Ihr heute Euer Zimmer in so guter Verfassung habt, wo Ihr so schönen Besuch bekommt? Ach! und auch Fräulein Therese,« fuhr sie knixend fort; »jetzt weiß ich, weßhalb [191] Euch der Herr Berger die Ehre anthut, – es ist eine Brautvisite, ja wahrhaftig, eine Brautvisite.«

Madame Wundel, die noch immer nicht recht ihre Sprache gefunden hatte, knixte zu wiederholten Malen und Emilie wiederholte mit einem bitterbösen Lächeln und einem Seufzer das Wort: »Brautvisite.« Louise war unterdessen ebenfalls aufgestanden und hatte zwei Stühle an den Tisch gestellt.

Herr Berger ließ sich auf einen derselben zögernd nieder, auch ließ er sich erst nieder, als er sah, daß Therese es sich auf ungenirte Art bequem machte, mit vornehmem Kopfnicken den dargebotenen Platz annahm und darauf die Damen der Reihe nach musterte.

»Nein, die Ehre und das Vergnügen!« sagte jetzt auch Madame Wundel, indem sie die Hände zusammenschlug. »Hätte ich mir das doch nicht träumen lassen! Und wollen Fräulein Therese die Gnade haben, meinen ganz ergebenen Glückwunsch anzunehmen, ebenfalls der Herr Armenpfleger nicht weniger, und wollen versichert sein, daß es mir das größte Vergnügen macht, Sie auf Ihrer Brautvisite zu sehen. – Ein schönes Paar,« sagte sie scheinbar leise zur Becker, doch so laut, daß man es allenfalls im Nebenzimmer gehört hätte.

Therese that aber natürlich nicht dergleichen, vielmehr blickte sie die Wundel so unbefangen wie möglich an und versetzte: »Ja, wir machen unsere Brautvisiten und da wir zufällig im Hause waren, ja auf demselben Stockwerke, so fand es mein Bräutigam für angemessen, auch Ihnen, Madame Wundel, die Sie ihm als eine stille christliche Frau bekannt sind, ebenfalls einen Besuch zu machen.«

Der Armenpfleger spitzte seinen Mund wie eine Karpfe, ließ die Augen einen Moment über den Tisch und das darauf befindliche Backwerck hingleiten und senkte sie dann auf seinen Hut hinab, wo er emsig die Firma des Fabrikanten studirte.

Madame Wundel hustete leicht und sprach: »Ah! Fräulein Therese waren also schon im Hause, schon auf demselben Stocke?«

[192] »Allerdings,« entgegnete diese, »und zwar bei meiner besten Freundin, Clara Staiger – die Sie ja wahrscheinlich kennen,« fuhr sie nach einer Pause lächelnd fort.

»O ja, wir kennen sie vom Aus- und Eingehen,« meinte die würdige Wittwe, indem sie auf dem Tisch ihre Hände über einander legte. »Wie man sich so kennt, als Nachbarn, oberflächlich.«

»So, nur oberflächlich?« erwiderte die Tänzerin, aber obgleich sie das Wort nur einmal aussprach, so schien es doch an alle Anwesenden gerichtet zu sein und sie blickte jede derselben der Reihe nach scharf an. »Sie ist ein sehr braves und geordnetes Mädchen, meine Freundin,« sagte sie darauf wie fragend.

»Das ist sie,« bekräftigte die Wundel, »das ist sie, bei Gott, der Neid muß es ihr nachsagen.«

»Solid, sehr solid,« meinte die Becker; doch lächelte sie dazu auf eigenthümliche Art. Und Emilie setzte etwas boshaft hinzu: »Ein wahres Muster; man könnte sie allen jungen Mädchen zum Exempel vorstellen.«

In diesem Augenblicke wechselte die Wittwe mit Madame Becker einen Blick, der, so schnell das auch vor sich ging, von Therese nicht unbemerkt geblieben war.

»O ich weiß, wie gut und lieb sie ist,« fuhr die Tänzerin fort. »Aber,« setzte sie sehr langsam und mit scharfer Betonung hinzu, »um so auffallender ist es, daß trotz allem dem Unangenehmes über ihren Lebenswandel verbreitet wurde – ja, absichtlich verbreitet wurde.«

»Ah!« machte die Wittwe mit gut gespieltem Erstaunen, »ist das die Möglichkeit! Habt Ihr was davon gehört, Becker? Oder du, Emilie? Ja, die Menschen sind schlimm.«

Natürlicherweise wollte Niemand etwas davon vernommen haben, und um diesen unangenehmen Gesprächsgegenstand zu unterbrechen, legte Madame Wundel ihren Mund in recht süße Falten und fragte, ob sie nicht die Ehre haben könne, dem Herrn Armenpfleger [193] oder Fräulein Therese mit einer Tasse Chokolade aufzuwarten?

Herr Berger verneinte das eifrigst, Therese aber nahm es an. Und sie hatte ihre guten Gründe dafür. Hatte sie dann doch ein paar Augenblicke, in denen sie nicht zu sprechen, nur zu hören brauchte; und sie bedurfte einige Zeit zum Nachdenken.

Louise hatte eine Tasse geholt, sie vor Therese hingestellt und dabei nicht ermangelt, ihr eigens zu gratuliren, was sie vorhin im allgemeinen Chorus unterlassen. Dazu sagte sie: »Es wird Clara gewiß gefreut haben, Sie so bei sich zu sehen, denn Clara ist gut und nimmt den innigsten Antheil daran, wenn es ihren Bekannten wohl geht.« Madame Wundel unterließ nicht, ihrer Tochter einen mißbilligenden Blick dafür zuzusenden, daß sie ihre Nachbarin wieder erwähnte, doch kehrte sich diese nicht im Geringsten daran, vielmehr fuhr sie fort: »Es ist wahr, Fräulein Clara hat in den letzten Tagen Unangenehmes gehabt; ich weiß nicht, ob sie Ihnen davon sagte.«

»O ja, sie sprach mir davon,« entgegnete Therese. »Ich glaube, es betraf einen Vorfall im Hause der Madame Becker dort, an dem Tage, wo Marie begraben wurde. Wie war doch die Geschichte?«

»Wie wird das gewesen sein!« erwiderte nach einigem Zögern die Becker, wobei sie verlegen die Achseln zuckte. »Ich weiß es selbst nicht mehr genau, es betraf einen jungen Herrn.«

»Herrn Arthur Erichsen,« versetzte Therese. »Er hat, so viel ich weiß, ein kleines Verhältniß mit Clara und beschuldigte nun das arme Mädchen – gerade in Ihrem Hause – einer Untreue, glaube ich, die sie gegen ihn begangen.«

Madame Becker hatte ihren Arm auf den Tisch gestützt, vorher aber einen starken Zug aus dem Punschglase gethan, dann blinzelte sie mit ihren etwas röthlich unterlaufenen Augen und meinte: »Nun ja, es muß etwas derart gewesen sein; wild genug [194] hat er sich angestellt, und wenn er mit mir so hart gesprochen hätte, würde ich ihm anders die Wege gezeigt haben – so einem Naseweis.«

»Uebermüthig ist er schon,« versetzte die schlaue Tänzerin. »Was wird's gewesen sein! Eine Eifersüchtelei! Hat sich vielleicht die Clara sonstwo ein wenig den Hof machen lassen?«

»Versteht sich!« rief die Becker erzürnt und klopfte auf den Tisch. »Da kommt so ein junger Mensch her, spricht was von guten Absichten und meint nun, dann dürfe ein anderer rechtschaffener Cavalier so ein Mädchen gar nicht mehr ansehen.«

»Aber Fräulein Clara läßt sich auch von sonst Niemand ansehen,« sagte ängstlich Madame Wundel, mit einem bedeutungsvollen Seitenblick auf ihre Tochter Emilie, welche die Zähne auf einander biß und die Becker giftig ansah.

Diese trank ihr Glas vollends leer, schnalzte mit der Zunge und sprach: »Hat sich was zum Ansehen! Daran stirbt man nicht und das schadet auch Niemand. Die Clara wäre eine rechte Gans, wenn sie sich von dem Maler da hofmeistern ließe.«

»Aber sie thut es doch,« bemerkte erzürnt die Wundel. »Clara ist die Tugend selbst, und einer von den jungen vornehmen Herren würde schön ankommen, wenn er sich in ihre Nähe wagen wollte.« Bei diesen Worten stieß sie ihre Nachbarin heftig unter dem Tische mit dem Fuße an, doch hatte sich diese schon zu tief mit dem Punsche eingelassen, um diese Berührung für mehr als eine zufällige zu nehmen.

»Und ich sage, die Clara hatte Recht, den Maler zu verabschieden,« rief sie mit schwerer Zunge. »Da ist der Herr Graf doch ein anderer Mann, und mich freut es, daß sie ihn erhört.«

So schwer diese Worte auch die Tänzerin trafen, so verzog sich doch keine Miene ihres Gesichtes, ja sie trank lächelnd ihre Chokolade, nicht ohne einen Blick auf Emilie zu werfen, die ihre Hände zusammenballte und in höchster Wuth die alte Schwätzerin gegenüber mit weit aufgerissenen Augen anstarrte.

[195] »Aber was faselt Ihr für dummes Zeug!« sagte Madame Wundel, die mühsam an sich hielt. »Wie könnt Ihr über meine Nachbarin, über Mamsell Clara, über die genaue Freundin unserer zukünftigen Frau Armenpflegerin so etwas aussagen! Von was schwätzt Ihr denn eigentlich?«

Therese hatte ihre Tasse ruhig hingesetzt und warf dann leicht ein: »Wir wissen wohl, wovon Madame Becker spricht, von dem Verhältniß Clara's mit dem Grafen Fohrbach.«

»Das ist's,« sprach die Becker mit lallender Zunge. »Und das ist ein schönes Verhältniß, ein dauerndes Verhältniß. O Wundel, Ihr solltet euch Eurer Arbeit nicht schämen; Ihr habt doch große Mühe damit gehabt und die Sache geschickt angefangen. Ehre dem Ehre gebührt!«

»Daß Euch der –« sprach die würdige Wittwe und wollte hinzusetzen: Ihr betrunkenes Weibsbild! – »Wie könnt Ihr so garstiges Zeug plappern? Ich bin eine ruhige Wittfrau; was hätte ich mit Euren Geschichten für Arbeit gehabt! Was gehen uns Eure schmutzigen Verhältnisse an! Nicht wahr, Emilie? Was hätten wir für Euch geschafft!«

»Oho!« rief die Becker und ihr Auge funkelte zornig, »seh' mir Einer die würdige Wittfrau! Jetzt nennt sie das ›schmutzige Verhältnisse‹, womit sie ein so schweres Sündengeld verdient.«

Der Armenpfleger hatte seine Augen langsam aus dem Hute erhoben, blickte achselzuckend gen Himmel und sagte alsdann zu seiner Braut mit leiser Stimme: »Ich glaube, es wäre besser, wir verließen diese Wohnung.« Dabei begann er sich von dem Stuhle zu erheben.

Therese aber zog ihn eifrig wieder nieder, that als wolle sie ihr Sacktuch aufheben, das ihr entfallen und flüsterte ihm zu:

»Es ist ein gutes Werk, Berger, wenn du noch einige Augenblicke bleibst. Hier gilt es, schlechte Menschen zu entlarven und einem unglücklichen Mädchen zu helfen.«

[196] Unterdessen hatten sich Madame Wundel sowie Emilie über den Tisch hinübergebeugt und blickten Madame Becker an, ganz mit dem zärtlichen Ausdruck eines Paares wilder Katzen, die begierig sind, einer Freundin die Augen auszukratzen. Louise hielt sich fern, sie hatte sich an's Fenster gestellt und blickte hämisch lachend auf die Gruppe am Tische.

»Pfui!« rief Emilie nach einer Pause, »schämt Euch, Becker, über Euer ungewaschenes Maul!«

»Larifari,« entgegnete diese laut lachend; »ich brauche mich nicht zu schämen, ich wohne am Kanal in der Kaserne, stehe für mein Geschäft ein und heiße Becker. Ich leugne nicht, was ich treibe; schämt ihr euch selbst, ihr – verschämte Hausarme,« setzte sie, plötzlich sehr ernst werdend, hinzu; und dann kreischte sie: »Seh' mir Einer die Wundel an! Hat bei meinem Geschäft schweres Geld verdient und will sich nun meiner schämen! O du Weibsstück!«

Die Wundel war mit ihrer Tochter Emilie in die Höhe gesprungen und es schien einen Augenblick, als wollten sich diese Bekenntnisse edler Seelen in einen erbitterten Kampf verwandeln. Doch erblickte die Wittwe vor sich das ernste, mißbilligende Gesicht des Armenpflegers, deßhalb faßte sie sich mit übermenschlicher Anstrengung, schluckte einige Mal heftig, stützte beide Fäuste auf den Tisch und sagte alsdann: »Herr Armenpfleger! – Gott soll mich bewahren, daß ich Reden, wie das Weib da eben verführt, vor Ihren Ohren auf mir sitzen ließe. O nein!« rief sie mit einem Anflug erkünstelter Wehmuth, »was habe ich arme Wittfrau sonst als Ihre Meinung, Herr Armenpfleger! Stehe ich ohne Sie nicht ganz verlassen da in dieser Welt mit meinen beiden armen Würmern, ohne Hilfe, ohne Verdienst –«

»Ohne Verdienst!« hohnlachte die Becker. »Hat Sie von mir nicht schweres Geld für das Geschäft bekommen! Aber bei Ihr bleibt nichts – Sie ist wie ein Sieb – Sie –« Hier stockte das Weib plötzlich in ihrer Rede, und wir glauben nicht, aus plötzlich eingetretenem [197] Zartgefühl, vielmehr veranlaßt durch die Faust der Mademoiselle Emilie, welche drohend hinter dem Stuhl der Sprechenden stand. Auch duckte sich diese scheu zusammen und schien, obgleich zu spät, zu fühlen, daß sie sich hier zu Eins gegen Drei befand.

»Hören Sie also,« fuhr Madame Wundel im Tone gekränkter Unschuld fort. »Ja, es ist wahr, dieses Weib da forderte mich auf, ihr in einer ihrer unsaubern Geschichten zu helfen.«

»Sie sollten vermitteln zwischen Clara und dem Grafen Fohrbach?« fragte die Tänzerin.

»Ja,« schrie die Becker, indem sie, sich dann nach Emilien umsehend, mit der Faust kräftig auf den Tisch schlug. »Und sie that es, sie lieferte mir das Mädchen.«

Die würdige Wittfrau warf einen Blick an die Decke des Zimmers, dann sagte sie achselzuckend und mit große Milde: »Herr Armenpfleger, man muß es der Frau verzeihen, sie geht zu viel mit gemeinem Volke um, sie hat keine Idee davon, daß es noch rechtliche Menschen gibt, die so viel als möglich Unheil zu verhüten suchen.«

»Und Sie verhüteten also das Unheil?« forschte die Tänzerin.

»Ach ja, Fräulein Therese,« fuhr Madame Wundel fort. »Und ich glaube, es ist keine meiner schlechtesten Thaten. Das Weib wandte sich freilich an uns, wir aber kannten Fräulein Clara, wie Sie sie selbst kennen, und nur in der Absicht – gewiß nur in der Absicht, um die Becker von ihrer Spur abzuleiten, unternahmen wir die unangenehme Kommission –«

»Ein Rendezvous zu vermitteln,« sagte Emilie, indem sie sich vordrängte.

»Und kam zu Stande?« fragte Therese.

»Ja, es kam zu Stande!« rief triumphirend die Becker. »Glauben Sie mir, wenn dies Weib seine Krallen einmal einschlägt, da hält sie fest.«

»Es kam allerdings zu Stande,« bemerkte Madame Wundel [198] nach einem abermaligen Blick an die Zimmerdecke, »aber ich brauche Ihnen nicht zu sagen, daß Clara gänzlich aus dem Spiele blieb.«

»Ah, ich verstehe!« sprach Therese freudig. »Ich danke Ihnen für diese Aufklärung.«

Madame Becker ihrestheils schien das nicht sogleich zu verstehen. Endlich aber begriff auch sie, daß die Wundel sie geprellt und eine Andere zu dem bewußten Rendezvous geschickt worden war. Wie sie langsam zu dieser Erkenntniß kam, verwandelten sich alle ihre Gesichtszüge. Anfänglich war sie hohnlachend dagesessen, jetzt aber fiel ihre Unterlippe schlaff herab, ihre Augen stierten ein paar Momente starr vor sich hin; dann aber blitzte das Feuer des Zorns in ihnen auf, ihre Lippen schloßen und öffneten sich krampfhaft, und schäumend sagte sie: »Also so wollt Ihr meine noble Kundschaft verderben! – Ihr Pack!« Dabei hatte sie sich langsam erhoben, hatte ihr Gesicht mit einem unbeschreiblich frechen Ausdruck auf Zollweite dem der Wittwe genähert, welche, wie das Vögelein vor dem Blicke der Schlange leider nicht im Stande war, zurückzuweichen. Leider sagen wir, denn in der nächsten Sekunde brannte eine so ungeheure Maulschelle auf der Wange der Madame Wundel, daß diese laut aufkreischend in ihren Stuhl zurückfiel. Es war eigentlich komisch anzusehen, wie im gleichen Augenblicke der Armenpfleger von seinem Sitz emporschnellte, Therese am Arme ergriff, mit zwei Schritten die Stubenthür erreicht hatte und das Zimmer verließ. Erst hinter der geschlossenen Thüre blieb er tief athmend stehen und setzte bedächtig seinen Hut auf.

»Gott sei Dank!« jubelte Therese, »daß das so gekommen ist. Glaube mir, Berger, um keinen Preis der Welt wollte ich das eben nicht gehört haben. War dir die Scene unangenehm?«

»Sie hat auch für mich ihr Gutes,« erwiderte bedächtig der Armenpfleger, indem er seine Schreibtafel herauszog, darin blätterte und durch den Namen der Wittwe Wundel einen sehr dicken Strich machte.

[199] Daß übrigens Madame Becker dem rächenden Geschick ebenfalls nicht entging, brauchen wir dem geneigten Leser nicht zu versichern. Wenn sich auch Louise Wundel von dem Kampf, der nun erfolgte, fern hielt, so waren doch die Wittwe und Emilie kräftig genug, um der Madame Becker einen gehörigen Denkzettel zu geben.

Die Tänzerin blieb zaudernd auf der Treppe stehen. »Gern möchte ich Clara sprechen,« sagte sie, »doch ist es besser, ich versuche es, den Herrn Erichsen zu finden. – Komm, Berger.«

Beide stiegen nun vollends die Stufen hinunter, setzten sich in den Wagen, der drunten auf sie wartete, und fuhren davon.

83. Kapitel
Dreiundachtzigstes Kapitel.
Clara.

Vielleicht war es zufällig, daß Arthur sich an diesem Nachmittage in der Nähe der Balkenstraße befand, genug, Therese, die aufmerksam umherspähte, erblickte ihn wenige Straßen von dem Hause Clara's entfernt; sie klopfte dem Kutscher an die Fensterscheiben und ließ halten.

Arthur, welcher sich bei seinem Namen gerufen hörte, näherte sich dem zweisitzigen Wagen und war nicht wenig erstaunt, die schöne Tänzerin in demselben zu sehen. Sie theilte ihm auch gleich lachend den Zweck ihres Umherfahrens mit, stellte ihm den Herrn Berger vor, nannte auch diesem den Namen des Malers und fragte dann, ob er nicht Zeit habe, sie einen Augenblick zu begleiten. Sowohl Arthur als Herr Berger sahen bei dieser Aufforderung das schmale Coupé an und Ersterer sagte zu Therese, so angenehm es ihm auch wäre, sie zu begleiten, so fürchte er doch sehr, sie in ihrem Platz zu derangiren.

[200] »Aber ich muß Sie sprechen und zwar auf der Stelle sprechen,« erwiderte hartnäckig die Tänzerin; »ich habe Ihnen Wichtiges mitzutheilen. Und was den Platz anbelangt, da kann man schon Rath schaffen, Berger ist wohl so gut und setzt sich für ein paar Minuten draußen zum Kutscher. Du kannst deinen Regenschirm aufspannen, dann erkennt dich Niemand, man hält dich höchstens für einen Lohnbedienten.«

»Aber,« meinte Arthur leise, »Sie verlangen zu viel.«

»Und was soll der Kutscher denken, mein Kind!« versetzte Herr Berger. Doch hatte er den Schlag schon halb geöffnet, um hinaus zu steigen.

»Machen Sie nur keine Umstände,« rief die Tänzerin dem Maler zu. »Kommen Sie geschwind herein. – Und was den Kutscher anbelangt,« wandte sie sich an den Andern, der schon draußen auf dem Tritte schwebte, »so kannst du ihm meinetwegen sagen, es sei dir hier im Wagen zu warm gewesen und du wollest draußen ein wenig frische Luft schöpfen. Weißt du, Berger,« fuhr sie leise fort, indem sie sich zum Wagen hinausbeugte, »ich mag dem Kutscher nicht laut zurufen, daß er nach der Balkenstraße, dem Hause Clara's, zurückfahren soll, das kannst du besorgen.«

»Das hätte ich thun können und doch wieder in den Wagen hineinsteigen,« entgegnete der Armenpfleger in kläglichem Tone.

»Aber es ist besser so,« sagte Therese und zog den Schlag hinter ihm zu.

Arthur war lächelnd in den Wagen gestiegen. Herr Berger hatte den Bock erklettert, seinen Regenschirm aufgespannt und bot neben dem Kutscher nichts Auffallendes. Er sah in der That aus wie ein Lohnbedienter und schielte auch wie ein solcher, dessen Geschäft es ist, die Fremden auf alle Merkwürdigkeiten rechts und links aufmerksam zu machen, zuweilen hinter sich in den Wagen.

»Ich komme soeben von Clara,« begann Therese in demselben. »O Herr Erichsen, wenden Sie sich nicht unmuthig weg! Glauben [201] Sie mir, Sie haben dieses gute und edle Mädchen unverantwortlich behandelt. Sagen Sie mir um Gotteswillen, Sie sind doch auch schon mit vielen Leuten umgegangen, Sie haben doch auch Menschenkenntniß. Schauen Sie ihr doch in das klare und unschuldige Auge, kann der Blick trügen? Glauben Sie wirklich, Clara sei fähig gewesen, Sie zu hintergehen? – Die gute Clara, mit dem Gemüth eines Kindes, die nicht einmal weiß, was Betrug ist! O ich möchte fast sagen: Sie verdienen dies Herz nicht, das Sie so leichtsinnig weggeworfen.« Und nun erzählte sie ihm in aller Eile, ohne ihn zu Worte kommen zu lassen, was soeben in der Wohnung der Wittwe Wundel vorgefallen, und beschwor ihn, jetzt sogleich hinauf zu gehen, er werde die ganze saubere Gesellschaft noch beisammen finden und es werde ihm nicht schwer werden, von denselben das Geständniß wiederholt zu erhalten.

Damit hielt der Wagen vor dem bekannten Hause und als Arthur, der mit klopfendem Herzen den Worten Theresens gelauscht, nun die dunkle Thüre mit den ausgetretenen Stufen vor sich sah, über die er so oft voll Freude und Glück auf- und abgestiegen war, die er darauf tief betrübt so lange vermieden, für ihn eine Ewigkeit, obgleich er das Haus selbst vermittelst der umliegenden Straßen unaufhörlich umkreist, sowohl bei Tag als bei Nacht, als er nun wieder davor stand, glaubend an die Worte der Tänzerin, da schwand aller Groll, aller Argwohn aus seinem Herzen, eine unendliche Liebe für Clara erfüllte es mehr als vordem, und nach herzlichem Dank und Gruß gegen Therese sprang er in den dunklen Hausflur hinein.

Die schöne Tänzerin blickte ihm ein paar Sekunden nach, dann fuhr sie mit der Hand über die Augen und sprach zu sich selber: »Das ist mein schönstes Hochzeitsgeschenk. Ach! die Versöhnung da oben muß entzückend sein. Wie glücklich werden sich diese Beiden fühlen, zu einander hingezogen, innig verbunden durch gleiche herzliche Liebe.« Hierauf legte sie sich seufzend und nachsinnend [202] in die Ecke des Wagens, doch hatte sie vorher an die Scheiben geklopft und dem Herrn Berger gesagt: »So, nun kannst du wieder herein kommen.«

Arthur gelangte übrigens nicht so schnell in den oberen Stock; je höher er stieg, desto mehr Gedanken häuften sich auf sein Herz und hingen sich schwer an seine Schritte. Er gedachte jenes Abends, wo er an des Grafen Stelle das junge Mädchen empfangen, er bemühte sich, die Figur derselben auf's Genauste in seiner Phantasie festzustellen, und nachdem er das zum ersten Mal seit jenem Vorfalle ruhig gethan, begriff er selbst nicht mehr, daß er Jene mit Clara habe verwechseln können. Dann dachte er auch eifrig darüber nach, wo er sie nach jenem Abende wieder gesehen und ob er da wohl eine Spur von Befangenheit, irgend etwas Verlegenes in ihrem Betragen gegen ihn bemerkt. Ach! er erinnerte sich jetzt genau, daß sie ihm den andern Tag mit offener Stirn und ehrlichem Blick wie immer entgegen gesprungen war, daß sie ihm freudig beide Hände dargereicht und daß sie darauf schüchtern wie immer und halb erröthend seinen etwas stürmischen Kuß geduldet. – Ach! und diese süßen Küße, er hatte sie so lange entbehren müssen, er hatte so lange nicht mehr in ihr gutes, liebes Auge geblickt! Jetzt kam ihm sein ganzer Argwohn wie ein Wahnsinn vor, jetzt konnte er es nicht begreifen, warum er nicht gleich offen und ehrlich mit Clara gesprochen, ihr seine Unterredung mit dem Grafen Fohrbach mitgetheilt und ihr gesagt: wie kann das zusammenhängen? Noch viel weniger aber begriff er, daß er nicht gleich nach jenem schrecklichen Tage, wo er sie zum letzten Mal an der Leiche der unglücklichen Marie gesehen, zu der Wundel geeilt war, die ihm von Madame Becker als Unterhändlerin genannt worden war. Kopfschüttelnd und unzufrieden mit sich selbst stieg er die Stufen hinauf.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Clara hatte sich wieder an ihre Arbeit niedergesetzt, sobald Therese vorhin das Zimmer verlassen. Doch wollte ihr dieselbe [203] nicht mehr so von der Hand gehen wie vor der Unterredung. Sie war in den letzten Tagen ruhiger geworden, sie hatte die Erinnerung an jene schreckliche Stunde gewaltsam zurückgedrängt, und diese trat nun zugleich mit dem stärkeren Klopfen ihres Herzens allmählig wieder lebendiger und schrecklicher vor sie hin. Warum hatte sie sich von jenem Augenblick überwältigen lassen, warum hatte sie, statt seinen Vorwürfen gegenüber zu schweigen, nicht ruhig eine Erklärung verlangt über das, was er ihre Treulosigkeit genannt? – Sie wußte es selbst nicht. Es war vielleicht eine richtige Eingebung des Moments gewesen, es war ihr weiblicher Stolz, der sich im Gefühle gekränkter Unschuld dagegen empört hatte. Ach! und wie hatte sie gelitten nach jener Unterredung; wie war ihr die ganze Zukunft finster erschienen, wie alles Glück von ihr gewichen – und nirgends, nirgends ein Hoffnungsstrahl! Jetzt – sie wußte selbst nicht warum – regte sich in ihrem Herzen ein Gefühl, als sei vielleicht noch nicht Alles verloren, als würde die Nacht in ihrem Gemüthe nicht ewig währen, als könne auch für sie noch ein neuer Tag anbrechen, nochmals die Sonne hell und glänzend aufsteigen.

Herr Staiger, der vor sich seine Tochter in tiefen Träumereien sah, hatte die Feder wieder ergriffen und schrieb langsam fort, nicht ohne zuweilen einen Blick auf Clara zu werfen.

Die Kinder hatten während des Besuchs diesen aufmerksam betrachtet und Marie hatte zum großen Ergötzen des Bübchens den Gang und die Haltung der zukünftigen Madame Berger nachgeahmt, worauf sich Karl veranlaßt sah, die Rolle des Armenpflegers zu übernehmen. Er knöpfte sein Jäckchen bis unter das Kinn zu, holte sich des Vaters Hut aus der Ecke und schaute unverwandt in denselben hinein, wobei er so steif als möglich auf und ab ging. Dann nahm er einen kleinen Fußschemel, trug ihn zwischen Vater und Clara an den Tisch und setzte sich selbst darauf, wobei er die Haltung des Herrn Berger auf so komische Art karrikirte, [204] daß der Vater, der zufällig aufblickte, laut und herzlich zu lachen anfing. Auch Clara, die hierdurch aus ihren Träumen aufgeschreckt wurde, mußte lächeln, als sie die kleine Figur vor sich sitzen sah, die, den Kopf steif in die Höhe haltend, sie unverwandten Blicks betrachtete.

»Es ist eigentlich nicht schön von dir, Karl,« sagte der alte Mann, »daß du Leute nachmachst, die uns besuchen. Man nennt das: Jemand verspotten; und aller Spott thut weh.«

»Aber ich will Niemand verspotten,« sagte das Bübchen, »ich habe nur Clara zum Lachen bringen wollen, denn sie schaut immer so betrübt vor sich hin und bekümmert sich gar nicht mehr um mich.«

»Das kannst du gewiß nicht sagen,« erwiderte Clara, indem sie die Arme in den Schooß sinken ließ, »ich bekümmere mich um dich gerade so viel wie sonst.«

Der Kleine schüttelte mit dem Kopfe.

»Nicht?« fragte Clara, »und warum glaubst du das?«

»Du spielst nicht mehr mit mir,« sagte Karl. »Du hast mir schon lange nicht mehr aus dem Bilderbuche vorgelesen, auch keinen Schlitten mehr gemacht und die Bilder, die mir Herr Arthur geschenkt, willst du gar nicht mehr ansehen.«

Als Clara hierauf schwieg, sprach Herr Staiger: »Das wird Alles wieder kommen; Clara wird dir wieder Schlitten machen und auch wieder die Bilder ansahen.«

»Aber Herr Arthur hat lange keine Bilder mehr gebracht,« meinte Marie, die hinzugetreten war. »Warum läßt er sich nicht mehr sehen?«

»O ich hab' ihn gestern gesehen,« sprach eifrig das Bübchen.

»Du wirst dich irren,« versetzte Clara, indem sie erröthend mit dem Kopfe schüttelte.

»Nein, ich irre mich nicht! Er stand gestern am Ende unserer Straße; ich konnte ihn von der Hausthüre aus gut sehen.«

»Und warum riefst du ihm nicht?« fragte Marie.

[205] »Als ich das thun wollte, ging er gerade fort,« versetzte Karl. »Er muß mich nicht gesehen haben.«

»Gewiß, so ist es,« meinte Clara traurig, »er hat dich nicht gesehen. Er weiß nicht mehr, daß wir hier wohnen.« So ruhig sie dies anscheinend sagte, so stockte doch ihr Athem, als sie die Worte aussprach, ihre Augen füllten sich mit Thränen, und sie war nicht im Stande, den bunten Faden, den sie in der Hand hielt, einzufädeln. Dienstfertig drängte sich die kleinere Schwester näher, und als sie ihr Faden und Nadel aus der Hand genommen hatte, was Clara ruhig geschehen ließ, faßte diese mit ihren beiden Händen den Kopf des jungen Mädchens und drückte ein paar innige Küsse auf das blonde Haar desselben.

Diesen Moment mochte Karl nicht so vorbei gehen lassen; er sprang von der andern Seite an den Stuhl der Schwester, faßte sie mit dem Arm sanft um den Leib und sagte, er wolle auch eine Nadel einfädeln, um einen Kuß zu bekommen.

Clara hatte sich gerade in herzlicher Liebe zu ihm niedergebeugt, hatte ihn wiederholt auf die kleinen frischen Lippen geküßt und ihn nothgedrungen zu sich emporgehoben, da er sich an sie hing und seine Arme um ihren Hals geschlungen hatte, wobei er lauter jubilirte und lachte als gerade nothwendig war, als die junge Tänzerin sah, daß ihr Vater sich mit einer Verbeugung eilig vom Tische erhob und der Thüre zuschritt, welche langsam geöffnet wurde. Auch vernahm sie eine Stimme, welche sagte: »Bitte um Entschuldigung, aber ich klopfte mehrmals, was man wahrscheinlich nicht gehört hat.«

Es war eine ältliche Dame, von der diese Worte ausgingen, in einfacher Kleidung, der man aber ansah, daß sie den höheren Ständen angehörte. Sie hatte ein ernstes, würdevolles Gesicht, eine etwas spitze Nase und lebhafte graue Augen, mit denen sie aufmerksam das Zimmer und namentlich die Gruppe am Tisch zu betrachten schien.

[206] Der armen Clara war es zu Muthe, als träte das Verhängniß in Person, Vergangenheit und Zukunft, drohend vor sie hin. Sie hielt das Bübchen fest in ihren Armen, ja sie drückte es an sich und zwar so, als wollte sie Schutz bei demselben suchen vor etwas Erschrecklichem, was in der nächsten Sekunde über sie hereinbrechen müsse. Sie kannte die alte Dame wohl, obgleich sie nie ein Wort mit ihr gewechselt. Aber mit welchem Interesse hatte sie dieselbe betrachtet in der Kirche, auf der Straße, im Theater, wenn die Tänzerin an der uns bekannten Oeffnung im Vorhange stand und nicht davon wegzubringen war, wenn die Dame droben in ihrer Loge saß! Da war sie wie festgebannt und mußte unverwandten Blickes hinaufsehen. O sie waren so kalt und theilnahmlos, diese Züge, nicht eine Miene bewegte sich in dem Gesicht, kaum merklich nickte sie rechts oder links, wenn sie auf einen ganz ergebenen Gruß dankte. Ja, wenn sie gesprochen, so wischte sie sich mit ihrem Sacktuch die Lippen ab, und wenn sie längere Zeit stillschwieg, was meistens vorkam, so hielt sie die spitzen Finger der linken Hand unbeweglich auf die Logenbrüstung. Wie oft hatte sie ihn – Arthur – über diese Frau gefragt, ob sie zu Haus auch so einsilbig und verdrießlich sei, ob sie denn nie freundlich spreche oder gar lache, und es hatte sie ein kleiner Schauder überflogen, ja ein Schauder, trotzdem es sie auch glücklich gemacht hatte, wenn er zu ihr sagte: »Du wirst sie ja noch kennen lernen, Clara. Ihr Herz ist gut, auch theilnehmend, und sie hat dieses allzuernste und gemessene Wesen nur so angenommen; gewiß, sie kann auch freundlich sein und sogar lachen.« Wie oft hatte das junge Mädchen von dieser Dame geträumt! Und dann war sie ihr immer als böser Engel erschienen, hatte die magere Hand zwischen sie und Arthur gestreckt, hatte mit dem Kopfe geschüttelt, und darauf war Alles, Alles aus gewesen. Wenn alsdann Clara in diesen Träumen auch flehend ihre Hände nach Arthur ausstreckte, und, verzweiflungsvoll seinen Namen rufend, vorwärts strebte, ihn wieder zu erreichen, so [207] war es doch, als treibe eine gewaltige Luftströmung die beiden Liebenden aus einander, immer weiter und weiter, bis sein Bild undeutlich wurde, ein Schatten, und dann ganz erblaßte, obgleich das Bild der alten Dame gleich lebendig, gleich starr, drohend und ernst in der Mitte stehen blieb. – Ah! und ihr Blick war dann gerade so wie jetzt, als sie nun in Wirklichkeit in's Zimmer trat.

Herr Staiger war ihr entgegen gegangen, hatte der für ihn Unbekannten eine respektvolle Verbeugung gemacht, und war, als diese mit einem einfachen Kopfnicken erwidert wurde, händereibend und etwas verlegen an die Seite getreten, eine Anrede erwartend. Die Dame blickte aber eben so unverwandt auf Clara, auf das Bübchen und auf Marie, die sich ebenfalls an die ältere Schwester geschmiegt, als erstere sie unaufhörlich ansah. Mochte sie nun den entsetzten Blick der Tänzerin bemerken, und ihr die weit aufgerissenen Augen der kleinen Kinder etwas komisch vorkommen, genug, sie wandte sich mit einem etwas freundlicheren Gesichtsausdruck zu Herrn Staiger, indem sie ihm sagte: »Ich habe mir erlaubt, Sie in einer gewissen Angelegenheit zu besuchen, wenn Sie nämlich ein paar Augenblicke für mich übrig haben.«

Der alte Mann verbeugte sich abermals, rieb sich wiederholt und noch verlegener die Hände, denn ihm kam die Idee, als setze die Dame voraus, sie müsse nothwendig von ihm gekannt sein, was denn aber durchaus nicht der Fall war. Dabei murmelte er etwas von großer Ehre, vielem Vergnügen, und als die Dame hierauf langsam in das Zimmer hinein dem Tische zuschritt, leerte er rasch einen Stuhl, indem er Bücher und Papiere mit dem Arm auf den Boden niederstrich.

In demselben Verhältniß, in dem sich die Dame dem Tische näherte, ließ Clara das Bübchen auf den Boden gleiten und erhob sich langsam von ihrem Stuhle. Dabei sah sie sehr bleich aus und ihre Hand, die sie auf dem Tische aufgestützt hatte, zitterte heftig, auch holte sie mühsam Athem, und als sie nun der Näherkommenden eine tiefe [208] Verbeugung machte, schoß ihr das Blut in's Gesicht, und eine plötzliche Röthe überflog ihre vor einer Sekunde noch so blassen Züge.

Die Dame ließ sich ruhig auf dem angebotenen Stuhle nieder, und als Herr Staiger, der ehrerbietig neben ihr stehen geblieben war, sich nun ein Herz faßte und sie unverkennbar fragend ansah, sagte sie: »Sie scheinen mich nicht zu kennen; ich bin die Frau des Kommerzienraths Erichsen.«

Sobald der alte Herr diesen Namen gehört, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück, blickte die Dame mit einem wahren Erschrecken an und brachte mühsam die Worte hervor: »Oh! – das ist zu viel Ehre!«

Die Kommerzienräthin schien übrigens gar keine Antwort zu erwarten und auch seine Worte nicht zu hören, denn sie sah unverwandt auf Clara, welche vor diesem ernsten Blick zuerst ihre Augen niederschlug, sie aber dann im Gefühl ihres redlichen und unschuldsvollen Herzens langsam wieder erhob und die Räthin ehrfurchtsvoll, aber fest anschaute.

»Das ist Ihre Familie?« sprach diese nach einer Pause, während welcher sie alle Anwesenden der Reihe nach betrachtete.

»Das ist meine Familie, ja wohl, Frau Kommerzienräthin,« entgegnete Herr Staiger, der nicht im Stande war, sich so rasch von seinem Erstaunen zu erholen, und der häufig nach Clara hinüber blickte, um vielleicht auf dem Gesichte derselben lesen zu können, was das wohl zu bedeuten habe. »Es ist meine Familie,« wiederholte er. »Das ist meine Tochter Clara, das die kleine Marie, und das ist Karl.«

»Und dort die Kleine?« fragte die Räthin.

»Ist eine arme Waise,« versetzte Herr Staiger, »ein verlassenes Kind, das auch hier so bei uns ist.«

»Für dessen Unterhaltung Sie sorgen?« fragte Madame Erichsen.

[209] »O ja,« sagte lächelnd der alte Mann. »Aber es ist nicht der Rede werth; das kleine Ding macht uns weder Kosten noch Mühe.«

»Und Ihre Frau?« forschte die Räthin weiter.

»Ist schon vor einigen Jahren gestorben; es war das hart für mich, doch ließ mir der liebe Gott da meine Clara heranwachsen, und sie vertrat Mutterstelle bei den kleinen Geschwistern – ja wohl!«

»Sie sind aber nicht viel zu Hause, Mademoiselle?« wandte sich Madame Erichsen an die Tänzerin. »Wie ich mir sagen ließ, haben Sie den ganzen Vormittag Ihre Geschäfte außerhalb demselben, und Abends ist auch Ihre Zeit meistens beschränkt.«

Clara zuckte unmerklich zusammen, als die Räthin nun zum ersten Male ihre Worte direkt an sie richtete; doch waren diese Worte ziemlich weich, ja freundlich gesprochen, weßhalb sie es auch vermochte, nach einem tiefen Athemzuge zu antworten. »Unsere Verhältnisse sind klein,« sagte sie, »und da ist auch die Arbeit gering. Wir haben zwei Zimmer, wenig Bedürfnisse, und dafür finde ich Zeit genug.«

»Und haben wohl noch Muße, daneben andere Sachen zu arbeiten?« bemerkte Madame Erichsen. »Lassen Sie doch sehen. Sie machen da eine superbe Stickerei.« Bei diesen Worten streckte sie ihre Hand aus, und Clara reichte ihr die angefangene Arbeit. Doch flammte eine tiefe Röthe auf ihrem Gesichte auf, als die Räthin nun gleichmüthig ein paar Nadeln herauszog, welche die halbfertige Stickerei zusammen hielten, diese auseinander rollte und ein Sophakissen zeigte von wirklich herrlicher Arbeit, auf's Sauberste ausgeführt. Es war ein Blumenkranz auf blauem Grunde, in der Mitte prangte deutlich und verrätherisch ein großes A.

»In der That eine schöne Arbeit,« sprach die Räthin; »das ist wohl der Anfangsbuchstabe des Namens Ihres Vaters?« sagte sie nach näherem Betrachten, ohne aufzublicken.

[210] Die Tänzerin kämpfte gewaltig mit sich selbst, sie unterdrückte einen tiefen Seufzer und erwiderte mit leiser Stimme: »Ja, gnädige Frau.«

Jetzt schaute diese in die Höhe; sie schien eine andere Antwort erwartet zu haben, und blickte deßhalb forschend auf das Mädchen. Als aber Clara schweigend die Augen niederschlug, schüttelte sie lächelnd den Kopf und wandte sich an die kleine Marie, welche ihre ältere Schwester offenbar verwundert ansah. Dabei deutete die Räthin mit ihrem langen Zeigefinger auf das verhängnißvolle A. und sagte: »Du, Kleine, was soll der Buchstabe heißen?«

Einen Augenblick blieb sie die Antwort schuldig und schaute, wie Rath erholend, bald Clara, bald ihren Vater an. Doch zuckte dieser leicht mit den Achseln, jene aber schien es zu vermeiden, dem Blicke des Kindes zu begegnen.

»Nun?« fragte die Räthin abermals, »was heißt das?«

»Es heißt Herr Arthur,« entgegnete das kleine Mädchen.

»Und wer ist Herr Arthur?« forschte die Dame weiter. »Weißt du das nicht?«

»Aber ich weiß es,« sprach mit einem Male das Bübchen, indem es seinen Kopf hinter dem Arme Clara's hervorstreckte. »Herr Arthur ist mein Freund, der Herr Erichsen, der mir sehr schöne Drachen macht und Bilderbücher mitbringt. Er ist aber lange nicht da gewesen; warum, das weiß ich nicht.«

»So, er ist lange nicht da gewesen?« versetzte die Räthin mit weicherer Stimme und blickte abermals angelegentlich auf die Stickerei.

Clara schrak ordentlich zusammen, als das Bübchen jenen Namen genannt; Herr Staiger rieb sich stärker die Hände, hustete verschiedene Male und sagte: »Allerdings besuchte uns Herr Erichsen zuweilen, doch in der letzten Zeit gar nicht mehr; vordem hatten wir eine gemeinschaftliche Arbeit, wenn ich mich so ausdrücken darf; [211] ich übersetzte Onkel Tom's Hütte und Herr Arthur machte die Illustrationen dazu für die Buchhandlung Johann Christian Blaffer und Compagnie.«

Die Kommerzienräthin hatte langsam ihr Tuch vor den Mund genommen und während sie hinein hustete, blickte sie lange und forschend auf Clara.

Diese hatte sich gefaßt; obgleich ihre Hand noch leicht zitterte und ihre Gesichtszüge bleicher waren, als vorhin, so hielt sie doch ihre Blicke nicht mehr niedergeschlagen, sondern schaute die alte Dame offen und ehrlich an. Sie fühlte ihr Unrecht, daß sie Arthur anfänglich verleugnet, sie wollte das nicht mehr thun, mochte auch daraus erfolgen, was da wolle, und wenn auch ihre Lippe schwieg, so sprach desto beredter ihr Auge. Dabei wollen wir gestehen, daß die Räthin diese Sprache verstand, ja sie erkannte in dem glänzenden Blicke die klare und reine Seele des Mädchens, sie las in der Gluth, welche aus diesen schönen Augen aufblitzte, ihre grenzenlose Liebe zu Arthur, und die Thränen, welche dieselben einen Moment nachher verschleierten, diese Thränen des Schmerzes waren ebenfalls für sie keine Räthsel mehr. Hatte doch das Bübchen gesagt, Herr Arthur sei in der letzten Zeit gar nicht mehr gekommen.

Es war das ein eigenthümlicher Moment, und wir nehmen an, daß die Räthin, ihrer Gewohnheit gemäß, gern auf den Tisch getrommelt hätte, doch saß sie etwas zu weit von demselben entfernt. Herr Staiger räusperte sich gelinde, und Marie, sowie das Bübchen, zogen sich scheu zurück und blickten mit Furcht und Grauen in das strenge Gesicht der Dame. Doch wurden diese Züge auch allmählig weicher und weicher, und wir glauben annehmen zu dürfen, daß Clara die Gunst der Räthin gewonnen. War dieselbe doch mit der Absicht hieher gekommen, versöhnend aufzutreten, hatte sie ihrem Sohne doch schon die Leidenschaft für die Tänzerin verziehen, wegen seines Gehorsams, seiner kindlichen Liebe zu ihr, [212] wie sie meinte, der er seine Liebe geopfert! Sie hatte wohl bemerkt, wie schmerzlich es seinem Herzen gewesen, dem Mädchen zu entsagen, und sie hatte das nicht recht begreifen wollen. Jetzt aber, wo sie Clara vor sich sah, wo deren gewinnendes Aeußere seinen Zauber auch auf ihr Herz ausgeübt, verstand sie es vollkommen, wie Arthur schmerzlich gekämpft, welches Opfer er ihr gebracht. Daß auch noch andere Schatten zwischen diese beiden reinen Seelen getreten waren, wußte sie freilich nicht; sie schrieb Alles Arthurs kindlicher Liebe für sie zu, und da es ihrem Stolze schmeichelte, daß der Sohn ihr dieses große Opfer gebracht, so hatte sie beschlossen, eben diesen Stolz aus ihrem Herzen zu verbannen und Arthur glücklich zu machen. Auch wollen wir nicht verschweigen, daß zugleich mit diesen edlen Gefühlen auch die Bitterkeit gegen die Kreise, in denen sie sich bisher bewegt, mitgeholfen hatte, den Entschluß zu fassen. Daneben hatte auch Eduard und Marianne, ja selbst der Kommerzienrath mitgewirkt, nicht zu übersehen der Kommerzienräthin vertrauteste Freundin, die Tutelarräthin Wasser, welche in allen ihren Kreisen verbreitet hatte, mit dem Hause Erichsen gehe es stark abwärts, denn sie wisse aus bester Quelle, Arthur werde eine Tänzerin heirathen, – Arthur, auf den sich so manche Tochter der verschiedenen Rangklassen Hoffnung gemacht, Arthur, für den die Tutelarräthin selbst eines ihrer Wässerchen bestimmt!

Die Pause, die wir hier in unserer Erzählung gemacht, fand auch in Wirklichkeit in der, obgleich ohnedies vorher schon spärlichen Unterhaltung der Anwesenden in der Staiger'schen Wohnung statt. Daß ein Augenblick der Erklärung heranrücke, fühlten Vater und Tochter wohl. Es war eine Pause der peinlichsten Ungewißheit, es sollte jetzt ein Moment kommen, entscheidend für das Glück oder Unglück zweier Leben.

Die Kommerzienräthin hatte die Stickerei wieder zusammengerollt, und selbst die Nadeln wieder sorgsam eingesteckt, dann sagte sie mit ruhiger Stimme: »Beendigen Sie Ihre Arbeit so [213] bald als möglich – Clara,« – bei diesem Worte blickte sie in die Höhe – »und wenn Sie dieselbe beendigt haben, so bringen Sie sie mir.«

Das waren an sich unbedeutende Worte, welche die Dame gesprochen, doch war es Clara gerade, als habe sich der Himmel geöffnet und als habe ein Engel ihr tausend Worte des Trostes und der Hoffnung zugerufen. Sie preßte ihre Hände auf das wildschlagende Herz, sie blickte innig und dankend in die Höhe, als wolle sie dort etwas Sichtbares erspähen, die mächtige Hand, welche Segen auf sie herabgestreut. – Ach! und doch waren diese Worte nur ein vorübergehender Sonnenblick, und gleich darauf verhüllten wieder schwarze, drohende Wolken ihren schönen heiteren Himmel. Sie gedachte jener Stunde am Sarge der unglücklichen Marie, sie hörte seine vernichtenden Worte – es war ja Alles für sie verloren! Und im Uebermaß des tiefen Schmerzes drückte sie ihre Hände vor die Augen und weinte laut hinaus. Freude und Schmerz hatten gleich heftig ihre Seele erfaßt, und da nun der Letztere die Oberhand behielt, so fühlte sie sich um so tiefer von der Höhe herabgestürzt, auf welche sie die tröstlichen Worte der Mutter Arthurs erhoben.

Da fühlte sie mit einem Male, daß zwei Hände die ihrigen erfaßten und sanft von ihrem Gesichte wegzuziehen versuchten, und als sie das fühlte, zitterte sie heftig, denn aus diesen Händen strömte eine Wärme auf die ihrigen über, eine Wärme, die sich ihrem Gesichte mittheilte und dieses plötzlich tief erglühen ließ. Fest und innig hatte Jemand ihre Finger erfaßt und zog sie ihr langsam vom Gesichte herab. Aber es durchschauerte sie so dabei, daß sie unwillkürlich die Augen schließen mußte, doch nur auf einen Moment, eine Sekunde, denn darauf vernahm sie eine bekannte Stimme, die ihr leise und schmeichelnd sagte: »Meine gute, gute Clara – mein innig geliebtes Mädchen!«

Es war ganz sonderbar, als sie nun die Augen öffnete, daß [214] sie Niemand vor sich sah, ja, sie mußte die Blicke herabsenken, um Jemanden wahrzunehmen, der zu ihren Füßen lag, der abwechselnd ihre Hände küßte, dann wieder flehend zu ihr aufblickte und dazwischen sprach: »O meine gute, gute Clara, verzeihe mir – verzeihe mir, mein unschuldiges Mädchen; ich habe Alles erfahren.«

Wie sich Arthur in das Zimmer geschlichen, war Allen unbegreiflich; aber es unterlag keinem Zweifel, daß er da war, und daß er voller Freuden da war, glücklich und selig. Jetzt sprang er hastig in die Höhe, ohne Clara's Hand loszulassen, vielmehr zog er sie hastig zu seiner Mutter hin, die in Ermanglung eines Tisches sanft auf die zusammengewickelte Stickerei trommelte. »Das ist meine Clara!« rief er jubilirend, »nicht wahr, eine liebe und schöne Clara, und nicht wahr, Mama, Sie haben nichts mehr gegen uns Beide?«

Hierauf hustete die Kommerzienräthin laut und geräuschvoll, aber sie that es in diesem Augenblicke nur, um ihre heftige und unschickliche Rührung zu verbergen. Herr Staiger genirte sich weniger, denn obgleich sein Mund lächelte, floßen ihm doch die Thränen über die Wangen herab, so daß die kleine Marie ganz bestürzt darüber war und alle Anwesenden der Reihe nach erstaunt ansah. Das Bübchen allein schien von der Wiederkunft Arthurs nur die praktische Seite zu bedenken; es schaute äußerst vergnügt auf seinen Freund und sah im Geiste eine Menge ungeheurer Bilderbücher, sowie Drachen mit den allerlängsten Schwänzen.

Wir, die wir dies niederschreiben, und der geneigte Leser, der es liest, befinden uns in dem Falle, als ständen wir gerade vor der geöffneten Thüre der Staiger'schen Wohnung und als sähen wir, selbst unbemerkt, all' diese Glückseligkeit, all' diese leuchtenden Augen, all' diese Thränen der Freude. Wenn uns auch Niemand übel nehmen wird, daß wir mitfühlend einen Augenblick stehen blieben, die schöne Gruppe betrachtend, Mancher hoffend auf ein ähnliches Glück, so halten wir es doch für passend, gleich [215] darauf still vorüberzugehen, nachdem wir leise die Thüre vor jedem ferneren neugierigen Blicke verschlossen, und somit auch dieses Kapitel beendigt haben.

84. Kapitel
Vierundachtzigstes Kapitel.
Whist mit dem todten Mann.

Vor dem Hause, welches der Baron Brand in dieser Eigenschaft bewohnte, hielt ein schwerer Reisewagen vollständig bepackt und bespannt; die Laternen waren angezündet, die beiden Postillone standen neben ihren Pferden, und ein Diener in einfacher Reiselivrée hatte den Schlag geöffnet und irgend etwas herausgenommen, welches er einer Kammerfrau einhändigte, die auf dem hohen Hintersitze des Wagens dicht in einen Mantel mit Kaputze eingewickelt saß. Darauf schloß der Bediente den Schlag, zog die Ledermütze in's Gesicht und sagte zu dem einen Postillon: »Jetzt wird's bald losgehen, es kann keine Viertelstunde mehr dauern.« Nach diesen Worten nahm er zwei Mäntel, die er über den Schlag gelegt hatte, einen großen und einen kleinen, auf den Arm, und stieg die Treppen hinauf.

Der Baron befand sich in seinem kleinen Salon, er stand hier neben einem hohen Fauteuil, in welchem die Baronin von W. saß. Obgleich es in dem Zimmer sehr warm war, so saß diese doch zusammengekauert da, als friere sie, und dabei hielt sie den Kopf tief auf die Brust herabgesenkt. Neben ihr stand ein uns wohl bekannter kleiner Knabe, der seine Hände um einen ihrer Arme geschlungen hatte, den Kopf fest an ihre Schulter drückte und zugleich aufwärts schaute in das Gesicht des Herrn von Brand, der zuweilen mit den Fingern durch das dichte, krause Haar des [216] Kindes fuhr, wobei sich ein trauriges Lächeln auf seinen Zügen bemerklich machte.

»So wären wir also fertig,« sagte der Baron nach einer Pause. »Du gehst nach Dornhofen, dessen Kauf ich gestern in Richtigkeit brachte. Beil wird mit den nothwendigen Papieren und allem Uebrigen wahrscheinlich schon morgen folgen. Wie ich heute vom Grafen Fohrbach vernahm, von dem Kriegsminister nämlich, ist deine Scheidung von dem General schon so gut wie ausgesprochen; in ein paar Wochen, meine liebe Schwester, bist du frei.«

Bei diesen Worten faßte die schöne Frau nach ihrem Kinde, drückte ihre Lippen auf seine Stirn, dann sprach sie mit leiser Stimme: »Aber, Henry, du bist mir immer noch eine Antwort schuldig. Warum schickst du mich von hier fort? Oder, wenn du es für besser hältst, daß ich jetzt nicht in der Residenz bleibe, warum gehst du selbst nicht mit? Steinfeld weiß ja um die traurige Geschichte unseres Hauses, und daß du mein Bruder bist. Ich weiß nicht, Henry, wie mir ist, aber ich meine, ich sollte dich nicht aus den Augen lassen, ja ich spreche es aus, da ich überzeugt bin, daß du nicht abergläubisch bist – es ist mir immer, als drohe dir ein Unglück. Du hast Feinde.«

»Aber er hat auch Waffen,« sagte der Knabe, der seinen Kopf aus den Händen der Mutter losgemacht hatte und muthig in die Höhe schaute. »Du hast recht scharfe Waffen, nicht wahr? Und wenn man die hat, braucht man sich vor keinen Feinden zu fürchten.«

»Waffen habe ich allerdings,« erwiderte der Baron dem Kinde, da er es vermeiden zu wollen schien, die Fragen seiner Schwester direkt zu beantworten. »Doch gibt es Feinde,« setzte er hinzu, indem er den Kopf mit einem trüben Lächeln schüttelte, »gegen die man keine Waffen gebrauchen kann.«

»Warum nicht?« fragte der Knabe. Und die Baronin seufzte tief.

»Man ist deßhalb doch nicht wehrlos,« fuhr der Baron fort, [217] während er sich hoch aufrichtete. »Weißt du, mein Sohn, wenn die Feinde mit den Waffen in der Hand kommen, so geht man ihnen gerade so entgegen; fassen sie uns aber mit List, Falschheit und Heuchelei, so stellen wir ihnen das Gleiche entgegen; und da fragt es sich dann immer noch, wer der Klügste ist?«

»O, du bist der Klügste,« sprach entschieden das Kind und öffnete seine großen Augen weit. »Herr Beil hat es immer gesagt.«

Der Baron nickte mit dem Kopfe, doch antwortete er erst nach einem kleinen Stillschweigen, wobei er gedankenvoll vor sich hinblickte: »O ja, ich war zuweilen recht klug, aber dafür auch wieder so unklug, daß oft eine Stunde zerstörte, was ich in langen Tagen vorher mühsam aufgebaut. – Doch da führen wir ein Gespräch, welches meine Behauptung rechtfertigt; so etwas ist unklug für eine Abschiedsstunde.«

»Ja, für eine Abschiedsstunde,« sagte Frau von W. mit leisem Ton. Dann hob sie plötzlich den Kopf in die Höhe, faßte mit ihren beiden Händen die Rechte des Barons und sprach mit einer Stimme, welche das tiefe Weh ihres Herzens verrieth: »Aber ich sehe dich bald wieder, Henry, nicht? – in den nächsten Tagen, das versprichst du mir?«

»Ich glaube, daß ich dir das versprechen kann,« erwiderte ruhig der Baron, »wenn mich nämlich alle meine Entwürfe und Pläne nicht im Stiche lassen und meine Voraussetzungen nicht trügen.«

»Aber bald, Henry.«

»Ich denke wohl, meine gute, gute Lucie. Doch es ist acht Uhr,« sagte er beinahe unruhig. »Wenn du noch länger zögerst, wirst du sehr spät ankommen.«

»Warum treibst du mich so von dir?« fragte sie mit weicher Stimme. »O, ich hätte dir noch so viel zu sagen, was mir im Augenblicke gar nicht in den Kopf kommen will; aber wenn du mir bis morgen Zeit läßt, so wird mir Alles wieder einfallen.«

[218] »Zeit bis Morgen!« versetzte er lächelnd. »Ich kenne das, nein Lucie, für heute muß es geschieden sein. – Für heute, und für morgen,« setzte er mit plötzlich veränderter Stimme hinzu. »O mein Gott!« Bei diesen Worten beugte er seinen Kopf tief herab und drückte seine Lippen fest und innig auf die weiße Stirne seiner Schwester. – »Ja, meine geliebte Lucie,« sagte er nach einer längeren Pause, »gehe jetzt, denn sonst ist des Abschiednehmens kein Ende. Und doch, da du gehst, ist es mir, als sänke meine Lebenssonne unter und ließe mich in schwarzer Nacht allein.«

Frau von W. war rasch aus dem Fauteuil aufgestanden und hatte beide Arme um den Hals ihres Bruders geschlungen. »Henry!« flehte sie, »laß mich nicht abreisen, laß mich bei dir bleiben! Warum willst du nicht vor der Welt erklären, daß du mein Bruder bist? O laß uns zusammen ein friedlich stilles Leben führen!«

»Das ist zu spät!« entgegnete er nach einer Pause. Doch war der Ton, mit dem er das sagte, so eisig kalt, so schrecklich, und dabei der Blick seiner Augen so wild und starr, daß die arme Frau ihn erschreckt betrachtete.

»Nicht dieses Wort, Henry,« bat sie, »nicht diesen Blick! Du versinkst wieder in deine seltsamen Träumereien. Starre nicht so vor dich hin. Es ist ja Niemand da, der dich und mich bedroht.«

»Sagt' ich nicht, es sei zu spät?« fuhr er nach einem längeren Stillschweigen empor, und setzte darauf in leichterem Tone hinzu, als er in die bleichen, schreckensvollen Züge seiner Schwester blickte: »Zu spät, sagt' ich? Ich wollte sagen: spät genug. Und das ist es auch, meine gute Lucie. – Der Zeiger der Uhr steht auf Acht; so lebe denn wohl, mein Kind, so lebe wohl, meine Schwester, so lebe wohl, mein Alles, was ich auf dieser Welt habe!«

Nach diesen Worten, die er leidenschaftlich herausgestoßen, machte er sanft ihre Hände von seinem Nacken los, drückte dieselben schweigend an seine Lippen, schaute einen Augenblick mit zusammengebissenen Lippen in die Höhe, und dann beugte er sich [219] schnell zu dem Knaben herab, den er in seine Arme nahm und unzählige Mal auf die frischen Lippen und die leuchtenden Augen küßte.

»Adieu, Lucie! adieu, ihr Lieben!« – Und als traue er seiner eigenen Stärke nicht, klingelte er heftig mit einer Glocke, die auf einem der Tische stand, und als der Kammerdiener erschien, sagte er: »Den Mantel für die Frau Baronin.« – Der alte Diener verbeugte sich, ging hinaus und ließ die Thüre offen, unter welcher nun der Bediente erschien, den wir vorhin unten am Wagen gesehen.

Noch einmal wandte sich die Baronin ihrem Bruder zu und reichte ihm beide Hände, die er an seine Lippen drückte. Noch einmal küßte er den Knaben innig auf die Stirn, dann schritt er der Thüre zu, begleitete die Baronin an die Treppe und kehrte in sein Zimmer zurück. – Da aber wurde sein Schritt so wankend, daß er sich mit der einen Hand fest am Tische halten mußte, während er sich mit der andern über die Augen fuhr. Es überfiel ihn ein Schwindel, doch dauerte er nur ein paar Sekunden, worauf es dem Baron möglich war, an das Fenster zu treten. Er drückte seine brennende Stirn an die kalten Scheiben und blickte auf den Wagen nieder, der soeben von dem Bedienten geschlossen wurde. Die Postillone schwangen sich in die Sättel – er sah noch einmal das Gesicht der Schwester, die aufwärts schaute, ihn suchte, fand und darauf auch das Kind an das Fenster des Wagens hob. Dann zogen die Pferde an und der Wagen rollte davon. – »O haltet! haltet!« sagte er droben, der einsam zurückgeblieben. »Ich Thor, sie nicht noch eine halbe Stunde länger gehalten zu haben! – – Und doch, es ist besser so. Leb wohl – leb wohl auf ewig!« – – –

»Der Augenblick hätte mir eigentlich erspart werden können,« sprach er nach einer Pause halblaut zu sich selber, »wie noch mancher andere, der auch nicht angenehm sein wird, durch eine sicher treffende, mitleidige Kugel, deren so viele an meinem Kopf vorübersausten. [220] Aber wer kann seiner Bestimmung entgehen? Nun, das Schwerste wäre überstanden; was jetzt noch kommt, ist Kinderspiel und nicht der Rede werth.« Er machte einen raschen Gang durch das Zimmer und als er sich nach einigen Sekunden im Spiegel beschaute, schien er mit seinem Aussehen zufrieden zu sein. Seine Züge waren wieder gänzlich beruhigt und nachdem er den Bart etwas emporgekräuselt, bemerkte man nichts mehr von dem Sturme, der wenige Minuten vorher noch sein Herz erschüttert.

»Herr von Steinfeld!« sagte der Kammerdiener, der geräuschlos in das Zimmer getreten war. Worauf der Angemeldete eintrat und von dem Baron freundlichst empfangen wurde.

»Sie kommen absichtlich ein paar Minuten zu spät,« sagte er, »ich verstehe Sie vollkommen. Aber Sie sahen sie doch noch?«

»O gewiß,« erwiderte der Andere; »sie reichte mir die Hand zum Schlage heraus.«

»Es ist ein gutes Weib,« meinte träumerisch der Baron, »und ich hoffe, sie wird glücklich sein.«

»Glücklich sein und glücklich machen,« entgegnete Herr von Steinfeld. »O, ich versichere Sie, es ist gut, daß Alles so kommen mußte, das wird das Glück meines Lebens begründen. – Aber Sie, Henry, wie ist's mit Ihnen? Wenn ich Ihnen sage, daß ich nicht im Stande bin, weder an Lucie noch an das Kind zu denken, daß ich mich nur immer mit Ihrem Schicksal beschäftige, so rede ich die Wahrheit. Seien Sie nicht so verschlossen gegen mich, gewähren Sie mir nur den geringsten Lichtschein in dieser Finsterniß!«

»Das ist nicht gut möglich,« antwortete lächelnd der Baron. »Sie wissen, daß mir das Dunkel zuweilen behagt. Verlangen Sie für den Augenblick nichts Anderes; ich besorge in demselben meine kleinen Geschäfte, und glauben Sie mir, die Zeit liegt nicht fern, wo Ihnen Alles, Alles klar werden wird.«

Der Andere wandte unmuthig den Kopf.

»Haben Sie Vertrauen zu mir,« fuhr der Baron fort, »ich [221] kann Ihnen jetzt kein Licht geben, es würde ihre Blicke nur verwirren und mich hindern; ich kann Sie nicht in die Karten meines Spiels sehen lassen. Glauben Sie mir aber, ich überschaue es, und wenn ich auch den letzten Stich verliere, so gewinne ich doch die Partie.«

»Ihre Zuversicht und Heiterkeit könnten mich beruhigen, wenn nicht –«

»Lassen Sie mir die Wenn's,« sagte lachend der Baron; »ich habe für jedes derselben mein Aber. Beantworten Sie mir lieber eine Frage, die mir wichtig ist! Spricht man in der Stadt von einem Duell, das nächstens zwischen Herrn von Dankwart und mir stattfinden soll?«

»Im Gegentheil,« erwiderte erstaunt der Andere, »Herr von Dankwart selbst widerspricht diesem Gerücht auf's Eifrigste.«

»Ah!« machte der Baron und zog eine verdrießliche Miene, worauf er aber wieder heiter lächelnd sagte: »Natürlich, er will die Sache verheimlichen. Unter uns gesagt, er hat mich fordern lassen.«

»Durch wen?«

»Das ist mein Geheimniß.«

»Und mir unbegreiflich,« erwiderte Herr von Steinfeld kopfschüttelnd. »Herr von Dankwart hat öffentlich erklärt, Sie, Baron, seien ein guter Kerl und hätten niemals die Absicht gehabt, ihn zu beleidigen. Die Aeußerungen auf dem Hofballe lasse er der Maskenfreiheit gelten, und was die bewußten Zeichnungen anbelange, so werde er sich deßhalb an den Maler halten, dem dafür auch höheren Orts ein sehr ehrenvoller Auftrag, der ihm bereits ertheilt gewesen, wieder entzogen worden.«

»Und das glauben Sie?« sagte der Baron mit sehr ernstem Blick.

»Ich hörte es mit meinen eigenen Ohren.«

»Das ist sehr ehrenhaft von Herrn von Dankwart; er will von dem vorhabenden Duell kein Gerede machen. – Auch,« fuhr [222] er nach einigem Nachsinnen fort, »hat sich seit heute Morgen der Stand der Angelegenheiten verändert; es wurde mir eine Aeußerung des Herrn von Dankwart hinterbracht, die er vielleicht nicht gethan, genug, ich sah mich darauf veranlaßt, ihm einen etwas heftigen Brief zu schreiben. Ich war aufgeregt, mißstimmt, enfin! man ist nicht immer Herr seiner selbst.«

Herr von Steinfeld hatte ruhig zugehört, dann warf er auf den Baron, der sich damit beschäftigte, die Nadel seines Halstuches fester zu stecken, einen vielsagenden Blick und bemerkte darauf mit entschiedenem Tone: »Baron, Sie suchen ein Duell.«

»Ich vermeide wenigstens keins,« erwiderte dieser achselzuckend. »Und wenn Sie mir einen Dienst erzeigen wollen, Hugo, einen wahren Freundschaftsdienst,« sprach er mit Wärme, »so verbreiten Sie in der Stadt, natürlicherweise unter der Hand, indem Sie hie und da bei Bekannten ein Wort fallen lassen, ich hätte morgen ein ernstliches Rencontre.«

»Mit Herrn von Dankwart?«

»Sie brauchen meinetwegen keinen Namen zu nennen. Das Faktum ist genügend. Haben Sie mich verstanden, Hugo?«

Dieser schaute, ohne eine Antwort zu geben, den Baron lange und mit einem festen Blicke an, dann sagte er mit leiser Stimme, während er seine Hand ergriff und drückte: »Ja, ich glaube, Henry, daß ich Sie verstanden habe.«

»Nun denn – und was weiter?« entgegnete fast lustig der Baron. »Auch Sie haben sich nicht vor einer Kugel gescheut und vor jedem Duell gedacht: es kann ausfallen wie es will!«

»Das habe ich nie gedacht,« versetzte kopfschüttelnd der Andere. »Ich hoffte, das gestehe ich Ihnen, und Sie hoffen nicht mehr.«

»Ich hoffe auch, denn ich zweifle nicht –«

»An dem Ausgang dieses sogenannten Duells. – Sie kennen das blutige Ende desselben.«

»Vielleicht. Und wenn dem so wäre?« fuhr Herr von Brand [223] nach einer Pause in schrecklich ruhigem Tone fort. »Wenn mir nur noch vierundzwanzig Stunden gegeben wären – eine kurze Frist, in der ich mich zu entscheiden habe, ob ich, was wir so nennen, mit Ehren von diesem Schauplatz abtreten soll, oder in Schande und Schmach fortleben? – Keine Einrede, Hugo, hören Sie mich: Ich habe eine Schwester,« sprach er mit bewegter Stimme; »die Welt weiß das freilich noch nicht, aber lassen Sie den Baron Brand – Veranlassung geben, daß man sich eifrigst, aber unerbittlich um sein früheres Leben bekümmert, o so wird man Fäden finden, glauben Sie mir, die bis zu jener Zeit zurückreichen, wo ich Hand in Hand mit meiner Schwester ging. Die Welt wird erfahren, daß es der Bruder ist, den man des sorgfältigen Aufhebens für werth erachtet, das wird ihre Zukunft vergiften, die ihres Kindes. Und soll ich Ihnen noch weiter sagen, Hugo, wen es unglücklich machen muß, wenn ich die letzten mir bewilligten vierundzwanzig Stunden nicht auf's Sorgfältigste anwende? O, Sie müssen das einsehen. Jener Pistolenschuß – den im Duell meine ich – zerreißt alle Fäden, und mag dann mein Schwiegervater in spe,« setzte er schrecklich lachend hinzu, »seine Nase noch so bedächtig herabziehen, er wird auf einen stillen Grund stoßen und auf einen stillen Mann, dem es unmöglich ist, ihm Rede und Antwort zu stehen.«

»Schrecklich!« sprach Herr von Steinfeld tief ergriffen. »Entsetzlich, Henry, so enden zu müssen!«

»Enden? das ist eben die Frage,« entgegnete der Baron in leichtem, gefälligem Tone; »ich habe mich heute stark mit dem göttlichen Hamlet beschäftigt und mir, wie der Dänenprinz selbst gesagt:


›– Sterben – schlafen –
Schlafen! Vielleicht auch träumen! – Ja, da liegt's;
Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen,
Wenn wir den Drang des Ird'schen abgeschüttelt,
Das zwingt uns still zu steh'n. – – – –‹

[224] Wissen Sie, Hugo, wenn man seine Papiere ordnet, kommen einem seltsame Gedanken, und es ist mir oft wie ein Trost, wenn ich denke, daß doch vielleicht jenseits Fesseln brechen und andere angelegt werden, daß sich vielleicht das Sklavenleben, dem wir hier entgehen, drüben in großartigem Maßstabe fortsetzt, denn mag es sein, wie es will, eine Fortdauer ist doch schön, und was uns allein vor dem Tode zurückbeben macht, ist der Gedanke gänzlicher Vernichtung, der ja auch unserer Eitelkeit so ganz unfaßlich erscheint. – Aber jetzt genug der Plaudereien und verzeihen Sie mir, Hugo, wenn ich Sie bitte, mich allein zu lassen. Bis morgen also!«

»Gewiß, Henry, bis morgen! Versprechen Sie mir das?«

»Auf alle Fälle,« entgegnete der Baron mit sehr freundlichem Tone. »Morgen sollen Sie mich wiedersehen.«

Noch einmal drückte ihm der Andere herzlich beide Hände, dann verließ er schweigend das Zimmer.

Der Baron schaute ihm einige Augenblicke in tiefe Gedanken versunken nach, dann sprach er zu sich selber: »Es durchschauert mich ein winterliches Gefühl; es ist mir, als stünde ich auf hohem Berge, ein stolzer Baum, als flatterte ein Blatt um das andere von meinen Zweigen herab und als hörte ich entfernt das Sausen des Sturms, dem ich nicht ferner widerstehen kann. – Doch weg mit diesen finstern Bildern!« Damit ging er an den Tisch, läutete abermals mit der Glocke, und als der Kammerdiener eintrat, sagte er: »Herr Beil soll kommen.«

Es dauerte nicht lange, so trat der Gerufene ein; es war mit kleinen Veränderungen noch immer der alte Beil von früher. Diese Veränderungen bestanden in einem sehr geordneten Anzuge und einem gewissen Ernst, der sich auf seine Züge gelagert hatte; er schritt ziemlich würdevoll einher, trug verschiedene Papiere in der Hand und hatte ganz das Ansehen eines dienstthuenden Sekretärs. Als solcher fungirte er auch in der That. Der Baron wünschte ihm freundlich einen guten Abend, ließ sich dann in seinen Fauteuil [225] nieder, worauf ihm der Andere einige der mitgebrachten Papiere vorlegte. Herr von Brand sah dieselben bald flüchtig bald aufmerksam durch, blickte jetzt nachsinnend an die Decke empor und nickte dann mit dem Kopfe.

»Sie haben das jetzt so ziemlich studirt,« sagte er hierauf, »und wissen so gut wie ich, was ich auf der Welt mein nenne. Geben Sie meinem Verwaltungstalent die Ehre und gestehen mir zu, daß ich mich sehr der Ordnung befleißigt.«

»Musterhaft,« entgegnete Herr Beil. »Obgleich mir die Berechnungen, die hier zu Grunde liegen, bis jetzt ziemlich unbekannt waren, so ist doch Alles so klar auseinandergesetzt, daß ich mich leicht hinein fand.«

»Und nach den gegebenen Schemas,« meinte der Baron, wobei er sich nachlässig in seinen Sessel zurücklehnte, »wären Sie demnach wohl im Stande, die Verwaltung eine Zeitlang selbstständig zu führen, wenn ich zum Beispiel, was leicht geschehen könnte, eine längere Reise machen und Sie zurücklassen müßte?«

»Es sollte vielleicht gehen,« sprach Herr Beil. »Doch haben Sie wohl nicht die Absicht, uns in der nächsten Zeit zu verlassen?«

»Wenn Sie morgen die nächste Zeit nennen, so muß ich Ihnen mit Ja antworten. Allerdings habe ich morgen einen kleinen Ausflug vor, denke aber jedenfalls morgen Abend um diese Zeit wieder zurück zu sein. Darnach projektire ich freilich eine weitere Reise,« warf er leicht hin. – »Apropos,« fuhr er nach einer Pause fort, indem er den Ton der Stimme und das Gespräch plötzlich änderte, »Sie haben meinen Auftrag bei Seiner Durchlaucht, dem Herrn Herzog, ausgerichtet; ich bin begierig, etwas darüber zu vernehmen.«

»Ich gab Ihren Brief in der Garderobe ab und nach ungefähr fünf Minuten ließ mich Seine Durchlaucht herein kommen.«

»Natürlich. Und Sie trugen ihm meinen Wunsch vor?«

»Fast mit den gleichen Worten, mit denen Sie mir ihn aufgetragen. [226] Und darauf lachte seine Durchlaucht laut auf und meinte, es solle an ihm durchaus nicht fehlen; er freue sich darauf und werde pünktlich sein.«

»Das wollen wir sehen,« entgegnete der Baron lächelnd, wobei er auf die Standuhr blickte, die auf dem Kamin stand. »Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit, aber auch noch Einiges zu besprechen, lieber Beil, deßhalb wollen wir keine Minute verlieren. Meine Schwester ist abgereist,« sagte er mit einem leichten Seufzer.

»Ich hatte noch das Glück, die Frau Baronin zu sehen,« entgegnete Herr Beil, »sowie auch meinen lieben, kleinen Pflegebefohlenen. Es that mir wahrhaftig weh, als ich ihn davonfahren sah. Man gewöhnt sich leicht an so eine kräftige und gute Natur.«

»Was ich gerne aus Ihrem Munde höre,« antwortete der Andere. »Ich bin in der That glücklich, daß auch das Kind an Sie so anhänglich ist; und ich hoffe, Sie sollen lange, lange Jahre bei ihm bleiben, und wenn auch nicht sein Lehrer, doch sein Erzieher sein.«

»Zum ersten Posten,« erwiderte Herr Beil lachend, »fühle ich mich leider nicht gewachsen, es müßte denn sein, daß er den Buchhandel studiren sollte. Darin könnte ich schon was leisten.«

»Dazu ist wohl keine Aussicht vorhanden,« versetzte der Baron, »aber Sie bringen mich da auf etwas Anderes, was ich gerne erfahren möchte. Welche Nachricht haben Sie von unserem Prinzipal, von Johann Christian Blaffer und Compagnie? In der Zeit, wo Sie für ihn litten, vergaß ich ganz darnach zu fragen.«

Herr Beil schüttelte sein Haupt und sein Blick war scharf und forschend, als er sagte: »Von einer gewissen Geschichte haben Sie vielleicht zufällig gehört?«

»Ganz zufällig, aber doch weiß ich den Hergang ziemlich genau. Nur was nachher geschah, erfuhr ich nicht.«

»Herr Blaffer hatte seine Handlung verkauft,« sprach der [227] Andere mit ernster Stimme, »Firma, Büchervorräthe, Verlagsrechte und Haus.«

»Weiter! weiter!«

»Er beging die Unklugheit, die ihm ausgezahlte Kaufsumme in baarem Gelde bei sich zu verwahren. Sie wurde ihm geraubt, er war ein ruinirter Mann.«

»Worin man einige Gerechtigkeit entdecken könnte,« meinte der Baron.

»Die ich aber nicht verantworten möchte,« sagte ruhig Herr Beil. »Anfänglich war er natürlich in Verzweiflung und wie ich vernahm, so soll er sogar in einer gewissen Nacht am Kanal gesehen worden sein, kehrte aber lebend zurück.«

»Ohne daß ihn ein Gespenst gewarnt,« bemerkte der Baron in sehr ernstem Tone. »Nun ja, es war das nicht der Mühe werth, sich das Leben zu nehmen; ich halte Herrn Blaffer für einen spekulativen Kopf, er wird sich wieder emporarbeiten.«

»Nie mehr,« entgegnete Herr Beil, wobei er zu Boden blickte. »Sein Muth ist gebrochen, seine Lebenskraft vernichtet; er verlor in jener Nacht Alles.«

»Ein Verlust, der auch Sie betraf, mein armer Beil,« sprach der Baron. »Doch Sie werden sich zu trösten wissen.«

»Ich ließ alles das am Kanal zurück, oder vielmehr schon in dem Hause selbst; ich hatte ja gar keine Aussichten, ich wußte, daß sie für mich verloren war. Doch hören Sie weiter! In dem Verkaufs-Vertrage bedingte sich Herr Blaffer eine kleine Stelle; es war das eine Stellung mit miserablen Bedingungen, zu wenig zum Leben, zu viel zum Sterben. Er hatte sie für unsern bisherigen Lehrling, für den Bruder jenes Mädchens bestimmt. Als er sich aber nach jenem Vorfalle so gänzlich hilflos fand, sah er sich gezwungen, sie selber anzunehmen, und Johann Christian Blaffer ist nun jüngster Kommis der Handlung von Johann Christian Blaffer und Compagnie.«

[228] »Ah!« machte der Baron erstaunt. »Da wäre ihm vielleicht doch besser gewesen, wenn ihm jenes Gespenst, aber nicht abrathend, erschienen wäre. So sein Leben zu beschließen, ist schrecklich.«

»Ja, das ist schrecklich,« sagte auch Herr Beil, indem er seinen Kopf tiefer auf die Brust sinken ließ. »Für meinen ehemaligen Kollegen, den Lehrling des Hauses, ihren Bruder, habe ich nach meinen geringen Kräften gesorgt, aber weiter zu thun war mir unmöglich.«

Der Andere schaute einen Augenblick stumm vor sich nieder, es schienen ihn ernste, finstere Gedanken zu bewegen, er preßte die Lippen auf einander, dann seufzte er und zuckte mit den Achseln. »Wer weiß,« murmelte er darauf nach einer Pause vor sich hin, »ob es am Ende nicht doch noch besser wäre, Johann Christian Blaffer zu sein! – Aber über diesen Phantasieen vergesse ich unsere Geschäfte. Noch Eins: Sie werden bei meinen Papieren finden, daß ich eine kleine Summe zur Unterstützung anwies, zur Unterstützung für arme, zweideutige Gesellen wird sie die redliche Welt nennen, die sich vielleicht nach längerer oder kürzerer Zeit bei Ihnen melden werden. Verstehen Sie mich?«

Herr Beil nickte mit dem Kopfe.

»Es ist für den Fall, daß ich länger abwesend sein sollte.«

In diesem Augenblicke öffnete der Kammerdiener leise die Thüre, der Baron wandte den Kopf nach ihm um und bemerkte wohl, daß der alte Mann was Außerordentliches zu melden habe, denn sein sonst so ruhiges Gesicht trug den Ausdruck großer Bestürzung, auch hatte er die Thüre ganz gegen seine Gewohnheit ziemlich hastig aufgerissen. »Gnädigster Herr!« stotterte er, »ich weiß nicht, was das bedeuten soll; als ich eben zufällig zum Fenster hinausblickte, bemerkte ich zwei Männer vor der Hausthüre, welche dieselbe angelegentlich zu betrachten schienen. Beim Schein der Gaslaternen sah ich auch ein verdächtiges Funkeln an ihrer Kleidung, entweder Waffen oder messigne Knöpfe, welche ja nur das Militär zu tragen pflegt oder Polizeibeamte. Um mich zu [229] überzeugen, ob ich recht gesehen, ging ich die Treppen hinab und trat an die Hausthüre. Ja, gnädiger Herr, ich hatte mich nicht geirrt, es sind wirklich Polizeibeamte, welche mir, Ihrem Kammerdiener, den Austritt aus Ihrem eigenen Hause verwehren wollten.«

»Schon jetzt?« sagte ruhig Herr von Brand, indem er einen Blick auf die Uhr warf. »Doch ja, es ist drei Viertel auf Neun. Teufel auch, lieber Beil,« wandte er sich hastig an diesen, »wir haben zu lange geplaudert. Sehen Sie, wie es einem gehen kann; ich hatte mir vorgenommen, einen recht schnellen Abschied von Ihnen zu nehmen, und nun hielt ich Sie hin, weil ich Sie lieb habe, weil es mir am heutigen Abend schwer fiel, Sie, einen meiner besten Freunde, mit einem flüchtigen Händedruck zu verabschieden.«

»Und warum umstellt man das Haus?« fragte Herr Beil auf's Höchste überrascht. »Wußten Sie darum, gnädiger Herr?«

»So genau,« entgegnete lächelnd Herr von Brand, »und so mit allen Nebenumständen, daß ich Ihnen voraussagen kann: punkt neun Uhr wird Seine Excellenz der Polizeidirektor in höchsteigener Person erscheinen, um mich zu verhaften.«

»Herr Gott im Himmel! Und das sagen Sie so ruhig?« rief erschreckt Herr Beil aus, während der Kammerdiener stumm die Hände rang.

»Allerdings sage ich Ihnen das sehr ruhig,« entgegnete der Baron. »Wissen Sie, zwischen Verhaftenwollen und wirklich Verhaften ist immer noch ein kleiner Unterschied. Und dann bedenken Sie mein gutes Gewissen!« Mit diesen Worten öffnete der Baron ein kleines Kästchen auf dem Tische, nahm sich eine Cigarre heraus und bot auch dem Herrn Beil eine an, welcher sie aber kopfschüttelnd und erstaunt einen Schritt zurückweichend ablehnte. Nachdem sich der Baron die seinige angezündet, gab er seinem Kammerdiener einen Wink, worauf sich dieser anschickte, das Zimmer zu verlassen. Ehe derselbe aber zur Thüre hinaus ging, rief er ihm noch nach: [230] »Melde mir jeden Besuch recht frühzeitig.« Darauf machte er ein paar Gänge durch's Zimmer und stellte sich alsdann vor Herrn Beil hin, indem er ihm sagte: »Obgleich ich alles das kommen sah, obgleich ich wohl wußte, daß mein Wagen stark den Abhang hinabrollt, so gestehe ich Ihnen offenherzig, daß mir allerdings jener Umstand unerwartet kam, der mir, um das eben angedeutete Bild fortzusetzen, die Zügel aus der Hand schnellte und die Pferde durchgehen machte. Doch glauben Sie mir, ich habe sie jetzt wieder in meiner Hand, bin aber nicht mehr im Stande, ihren rasenden Lauf dem Abgrunde zu aufzuhalten; nur liegt es noch in meiner Macht, mir die Stelle auszusuchen, wo mein Fahrzeug zerschellen soll und ich untergehen. Und das habe ich bereits gethan – ich sehe sie vor mir. – Um weniger in Bildern zu reden,« fuhr er nach einer Pause lächelnd fort, »so war es vielleicht noch gestern möglich, der mir drohenden Verhaftung zu entgehen; aber einmal das Feld heimlich verlassen, gebe ich allen Verleumdungen, allen Gerüchten das vollkommenste Recht, über mich herzufallen. Mein Name ist auf ewige Zeiten gebrandmarkt – und das,« setzte er mit gefälligem Tone hinzu, »möchte ich gar zu gern vermeiden.«

»Aber der Polizei-Präsident wird gegen Sie keine Schonung kennen. Hat er nicht die gegründetste Ursache, Sie zu hassen?«

»Sie meinen schon wegen seiner Tochter, der armen Auguste?« entgegnete Herr von Brand mit einem Seufzer. »Da haben Sie allerdings Recht. Aber glauben Sie nicht, daß ich eine Schonung von ihm verlange; ich habe mich selten in meinen Berechnungen getäuscht und es sollte mich Alles trügen, wenn mir nicht in ein paar Stunden erlaubt wäre, eine kleine Lustfahrt zu machen, und wenn ich nicht morgen um diese Zeit,« setzte er mit einem düstern Blicke hinzu, »eine der freiesten Seelen wäre, die sich je zwischen Himmel und Erde befunden.« Hier schwieg er ein paar Sekunden, dann sagte er in gewöhnlichem Tone: »Aber ich danke Ihnen, lieber Beil, Sie haben mich an etwas erinnert, das ich fast vergessen [231] hätte.« Damit ging er auf seinen Schreibtisch zu, öffnete eine Schublade und zog ein kleines versiegeltes Paketchen heraus. »Dies,« sagte er, »behalten Sie ein paar Tage bei sich und bringen es alsdann in meinem Namen an seine Adresse. Lesen Sie!«

»Fräulein Auguste!« Herr Beil blickte erstaunt in die Höhe.

»Es ist so, für die Tochter des Polizei-Präsidenten. Aber,« sagte er, plötzlich den Kopf herumwendend, »ich höre einen Wagen, es wird Seine Durchlaucht sein. Thun Sie mir den Gefallen, lieber Beil, treten Sie an die Thüre und nehmen, sobald der Polizei-Präsident erscheint – er wird nicht lange auf sich warten lassen – eine ziemlich respektvolle Stellung an. So ungefähr,« sprach er lustig, »wie vielleicht an jenem Tage, als Sie sich dem Herrn Blaffer vorstellten. Ruhig!«

»Seine Durchlaucht, der Herr Herzog!« meldete der Kammerdiener mit einem sehr bleichen Gesicht, dann setzte er leiser hinzu: »Seine Excellenz, der Herr Polizeidirektor traten auch soeben in das Haus.«

»Sind mir sehr willkommen,« erwiderte Herr von Brand ruhig. »Aber noch Eins, Friedrich,« – mit diesen Worten hielt er den Kammerdiener zurück – »leg' in's Vorzimmer auf einen Stuhl neben der Thüre mei nen Mantel und Hut und unter denselben die neuen Pistolen, welche man mir heute Morgen gebracht.«

»Pistolen?« fragte erschreckt Herr Beil.

»Duell-Pistolen,« versetzte Herr von Brand, indem er die ersten Silben mit starker Betonung aussprach. »Ich habe morgen ein kleines Rencontre. Vergiß mir die Pistolen nicht, dann laß an allen Thüren die Portièren herab. An Ihren Platz, Herr Sekretär!«

In diesem Augenblick trat der Herzog ein, ziemlich geräuschvoll wie immer und laut lachend. »Nehmen Sie mir es nicht übel, lieber Baron,« rief er schon im Vorzimmer, »da unten an Ihrem Hause sehe ich verteufelte Anstalten. Was haben Sie denn in's Kukuks Namen mit der heiligen Hermandad zu schaffen?«

[232] »Coeur de rose! ist das nicht unangenehm!« lachte der Baron. »Aber Euer Durchlaucht sollen die Ursache gleich erfahren. Nicht wegen einer Kleinigkeit erlaubte ich mir, Sie hieher zu bitten. Sie hatten mehrmals die Gnade, mich Ihrer Erkenntlichkeit zu versichern und vorkommenden Falls Ihre Hilfe zu geloben. Ich muß dieselbe für heute Abend in Anspruch nehmen.«

»Thun Sie das, bester Baron; Sie werden sehen, ob Sie einen Undankbaren an mir finden. Ich werde Ihre großen Dienste nie vergessen, obgleich unser letzter Coup, der mit den Achselbändern, gegen uns selbst explodirt hat. Sie wissen doch bereits, daß die Verlobung zwischen Eugenie und Graf Fohrbach bestimmt ist und morgen beim Diner des Kriegsministers deklarirt werden soll, auch daß die Hochzeit in ganz kurzer Zeit stattfinden wird? O, die Undankbare!«

»Ja, sie hat ihren Vortheil nicht verstanden,« entgegnete Herr von Brand mit einem ironischen Lächeln.

»Aber schnell, bester Baron!« rief der Herzog, »womit kann ich Ihnen dienen? Sie wissen, daß ich immer pressirt bin, namentlich heute Abend. Unter uns gesagt, man stellt im kleinen Cercle ein neues Ehrenfräulein vor. Die Stelle der stolzen Eugenie muß doch besetzt werden und dabei –«

»Dürfen Sie Glücklicher zugegen sein. Also keine Zeit verloren, schnell zu unserem Geschäft! Sie haben die Polizei gesehen?«

»Pfui Teufel! ja.«

»Haben Euer Durchlaucht gestern oder heute keine Gerüchte über mich in der Stadt gehört?«

Der Herzog sann einen Augenblick nach. »Ja, versteht sich!« rief er alsdann, »Duell mit Herrn von Dankwart. Er widerspricht freilich, aber die Stadt ist voll davon. – Ah, Teufel! jetzt versteh' ich. Das will man verhindern.«

»So scheint es.«

»Sie haben Hausarrest!«

[233] »Ich vermuthe fast.«

»Ah! Das leiden wir nicht. Und wollen Sie nicht mehr als meine Hilfe, um dieser Polizei unten eine Nase zu drehen?«

»Nicht blos der Polizei da drunten allein,« versetzte laut lachend der Baron, »sondern auch Seiner Excellenz, dem Präsidenten, der jeden Augenblick erscheinen kann, natürlicherweise, um sich wegen der genommenen Maßregeln« – setzte er in leichtem Tone hinzu – »gegen mich zu entschuldigen.«

»Vortrefflich. Deuten Sie mir aber nur gefälligst das Wie ein wenig an.«

»Vor allen Dingen,« erwiderte der Baron, indem er auf Beil wies, »steht dort der Sekretär Euer Durchlaucht, – ein junger, talentvoller Arzt,« sagte er flüsternd, »den ich vielleicht morgen nothwendig brauche.«

»Schön, schön,« bemerkte lachend der Herzog, »also mein Sekretär, den ich natürlicherweise nach Hause schicke, sobald der Präsident da ist. Aber nun die weitere Instruktion.«

»Seine Excellenz, der Herr Polizeipräsident!« meldete der Kammerdiener mit zitternder Stimme.

»Aeußerst angenehm!« rief der Baron sehr laut, dann sagte er eilig und flüsternd zum Herzog: »Sie sind indignirt, gnädiger Herr, Polizei auf der Treppe des Hauses zu finden, das Sie mit Ihrem Besuch beehren, und entfernen sich so bald als möglich.« Nach diesen Worten wandte er sich rasch herum und eilte dem Präsidenten mit dem Ausruf entgegen: »Ah! wie glücklich macht es mich, Euer Excellenz so spät bei mir zu sehen! Doch nicht unerwartet,« setzte er etwas pikirt scheinend hinzu – »Euer Excellenz haben sich, wie mir mein Kammerdiener sagte, schon vor mehr als einer Stunde drunten anmelden lassen.«

Daß der Polizeipräsident die Wohnung des Barons, gestern noch sein zukünftiger Schwiegersohn, heute – o, es war schrecklich, nur daran zu denken! – mit einem beklemmenden Gefühl betrat, [234] war gewiß sehr zu entschuldigen. Doch obgleich sein Herz heftig schlug, obgleich seine Augen etwas zwinkerten und seine untere Kinnlade ein wenig bebte, ging er doch aufrechten Hauptes, mit hoch emporgehobener Nase diesem großen Momente entgegen. Er wußte, wem er im nächsten Augenblick entgegen treten würde; die vier Polizeibeamten hatten ihre Schande nicht verschweigen können und wehklagend berichtet von dem Flüchtlinge, den sie in jener Nacht verfolgt, hatten sein Aeußeres beschrieben und daß er bei dem Garten des Polizeipräsidenten verschwunden sei. Entsetzlich genug für Seine Excellenz! Denn Jener hatte darauf seine Wohnung betreten und hatte des Präsidenten eigene Tochter auf den Hofball geführt! Aufgestachelt durch all das, hatte der Präsident den Wirth des Fuchsbaues einsetzen lassen, der übrigens Alles hartnäckig leugnete; ebenso Herrn Sträuber, der sich nicht lange bitten ließ, so vollständig zu beichten, als man nur wünschen konnte. Auch hatte Letzterer Zerknirschung und Reue geheuchelt, hatte jammernd versichert, wie glücklich er sich fühle, daß jenes elende Leben aufhöre, und daß ihm nun endlich Gelegenheit gegeben würde, in der stillen Zelle eines Gefängnisses über seine Vergangenheit nachdenken zu dürfen. Herr Sträuber war ein Mann von Umsicht und Phantasie, ihm war es nicht unbekannt, daß man bei einem unumwundenen Geständnisse den Inkulpaten der Gnade zu empfehlen pflege, er wußte ferner, daß es ihm mit einiger Heuchelei gelingen könne, selbst im Zuchthause nach und nach zu einer würdigen Stellung zu gelangen, vielleicht Aufseher irgend einer Werkstätte zu werden. Dann dachte er auch: die Gefangenschaft wird nicht ewig dauern, und wenn ich heraus komme, werden die kleinen Kapitälchen, bei den Damen Becker und Schwemmer angelegt, unterdessen auch ihre Zinsen getragen haben. Dies machte ihn biegsam und nachgiebig, und diese Nachgiebigkeit hatte ihm sogar die Gunst des Präsidenten verschafft.

Dieser, der wohl wußte, daß es bei der Gewandtheit des Barons [235] gefährlich sei, und auch für ihn als Vater unangenehm, sich mit demselben in Erörterungen einzulassen, hatte sich vorgenommen, ihm mit einem kurzen: »Im Namen des Königs!« entgegenzutreten. Deßhalb stierten seine Augen gerade aus, deßhalb war seine Nase so drohend gerichtet, und schon wollte er den Mund öffnen, als er zu seiner großen Bestürzung den Herzog erblickte, der sich in einen Fauteuil geworfen hatte, lachend ein Bein über das andere schlug und Seiner Excellenz auf's Allerfreundlichste einen guten Abend bot. Der Präsident in seinem Amtseifer befand sich im Zustande eines Rennpferdes, dem plötzlich die Bahn versperrt ist und das nun mit den Zügeln gewaltsam zurückgerissen werden muß. Sein Zügel aber war die Nase, die er beim Anblick des Herzogs hastig ergriff, ziemlich unsanft herabdrückte, also parirte und zu gleicher Zeit vor dem Angehörigen des königlichen Hauses eine Verbeugung zu Stande brachte.

Ja, in der That, der Präsident war unangenehm überrascht, den Herrn Herzog hier zu finden, auch klang das Lachen Hochdesselben etwas herausfordernd, ebenso der Ton, mit dem er ihm seinen guten Abend bot. Auf die Bemerkung des Barons von vorhin eingehend, sagte er alsdann: »In der That, Euer Excellenz waren vortrefflich angemeldet. Alle Wetter! so viel Lärmen um Nichts! – Bitt' tausendmal um Verzeihung!« korrigirte er sich, »ich will damit sagen, es sei eigentlich Luxus, eine so große Macht aufzubieten wegen so geringfügiger Ursache. Denn wir kennen genau den Zweck Ihres Besuchs; nicht wahr, Baron?«

»Vollkommen,« entgegnete dieser, wobei er seine Cigarre dem Herzog hinhielt, der die seinige damit anzündete. »Excellenz rauchen nicht?« wandte er sich hierauf verbindlich an den Chef der Polizei.

Dieser war mehr und mehr überrascht; er hatte geglaubt, ja sich damit geschmeichelt, sein Erscheinen mit bewaffneter Macht werde eine unsägliche Bestürzung bei dem Baron hervorbringen, und jetzt that derselbe, als sähe er durchaus nichts Außergewöhnliches darin, [236] ja, er und der Herzog nannte diese Ursache eine ganz geringfügige! Der Präsident befühlte seine Nase, er klapste leicht mit dem Finger daran, hob sie aber alsdann hoch empor, als ihm der Baron einen Fauteuil hinrollte, in den er sich, obgleich sehr würdevoll, niederließ.

Jetzt erinnerte sich Seine Durchlaucht Höchstihres Sekretärs und sagte dem Herrn Beil, indem er sich lange in dem Fauteuil ausstreckte: »Sie können jetzt gehen, ich habe nichts mehr für Sie.«

Dieser hatte sich so aufgestellt, daß ihn der Präsident nicht sehen konnte, und bei dem Befehl des Herzogs zog er sich augenblicklich hinter die Portièren in's Vorzimmer. Doch hatte er das Gemach noch nicht lange verlassen, als der Kammerdiener des Barons hereintretend meldete: »Die auf der Treppe aufgestellten Polizeibeamten weigerten sich, den Sekretär seiner Durchlaucht passiren zu lassen.«

»Wie ist das, Excellenz?« fragte der Herzog scheinbar erzürnt den Chef der Polizei. »Man will meinen Sekretär nicht passiren lassen? Haben Excellenz,« fügte er mit schneidendem Tone bei, »vielleicht den Befehl dazu gegeben oder ist die Sache Mißverständniß? Ich denke wohl das Letztere, Herr Präsident, und bitte, daß dasselbe so bald als möglich aufgeklärt werde.«

Der Chef der Polizei war einigermaßen betreten, beeilte sich aber, dem Herzog mit einer tiefen Verbeugung zu erklären, daß hier selbstredend ein Mißverständniß obwalte, doch werde er augenblicklich den Befehl geben, dem Sekretär seiner Durchlaucht den Weg frei zu lassen.

»Bravo! vortrefflich!« flüsterte leise der Baron.

»Ueberhaupt muß ich mir erlauben,« fuhr der Herzog fort, »Euer Excellenz zu bemerken, daß ich es, mildestens gesagt, für etwas stark halte, mit Polizei die Treppe eines Hauses zu besetzen, wo ich mich gerade befinde. Wenn Sie das nicht fühlen, Herr Präsident, so erlaube ich mir, es Ihnen zu sagen.«

[237] »Euer Durchlaucht werden zu Gnaden halten,« entgegnete Seine Excellenz, »aber ich versichere Sie, ich hatte keine Ahnung davon, den Herrn Herzog hier zu finden. Gewiß, keine Ahnung,« setzte er mit einem Seitenblick auf den Baron hinzu; »es hat mich wahr haftig überrascht. Doch werde ich mich beeilen zu thun, was ich in der That Euer Durchlaucht schuldig zu sein glaube.« Nach einer tiefen Verbeugung ging er alsdann in das Vorzimmer, und man hörte ihn mit lauter Stimme befehlen: »Der Sekretär Seiner Durchlaucht passirt, auch sollen sich die Leute von der Treppe vor das Haus zurückziehen.« Daß er dagegen einem der Polizeikommissäre zuflüsterte, in das Vorzimmer zu treten und sich in die Fensternische zu stellen, hörte man nicht.

»Nun schnell meine Instruktion!« – flüsterte drinnen der Herzog.

»Ist fast unnöthig, bei der mir bekannten hohen Intelligenz Euer Durchlaucht: Verzeihen Sie mir, aber Entfernung so bald wie möglich!« Bei diesen Worten rauschten die Thürvorhänge, und als der Präsident hierauf eintrat, sagte der Herzog gähnend und wie gelangweilt: »Es ist heute Abend verdrießlich bei Ihnen, Baron, ich ziehe mich zurück. Sieht man Sie morgen?«

»O ja. ich hoffe, Sie werden mich sehen, gnädigster Herr,« versetzte der Baron und fügte lächelnd bei: »wenn bis dahin mein Hausarrest vorüber ist.«

»Das versteht sich doch wohl von selbst,« sprach der Herzog. »Nicht wahr, Herr Präsident? Und auf alle Fälle, wenn man Sie nicht losläßt, so engagire ich den Major, hieher zu kommen. Vielleicht auch wird uns Seine Excellenz selbst das Vergnügen machen, einer Partie Whist à trois zu assistiren.«

Der Baron lächelte so sonderbar, als er darauf entgegnete: »Eine charmante Idee, Whist à trois – mit dem todten Manne.« Hierauf fuhr er sich mit der Hand über die Stirn und fuhr in gefälligem Tone fort: »Ehe Euer Durchlaucht gehen, erlaube ich mir [238] noch eine Bitte auszusprechen: Darf ich zwei Zeilen schreiben und Sie damit belästigen? Die Adresse ist Ihnen sehr bekannt.«

»Mit Vergnügen,« erwiderte der Herzog. »Ihr Kammediener soll unterdessen meinen Wagen vorfahren lassen.«

Während der Herzog in's Vorzimmer ging, schrieb der Baron einige Zeilen, doch streckte Seine Durchlaucht gleich darauf den Kopf durch die Portièren herein und rief lachend: »Ich bedarf eines Befehls Euer Excellenz, um fortfahren zu können. Teufel, Baron! Sie sind gut bewacht.«

»Ich selbst fange an das zu glauben,« entgegnete dieser, indem er sein Billet faltete und es dem Herzog übergab. »Gleich nachher er sein Billet faltete und es dem Herzog übergab. »Gleich nachher zu übergeben,« sprach er mit scharfer Betonung.

Der Präsident hätte gar zu gern die Adresse gesehen, da er vermuthete, der Brief sei an eine allerhöchste Person gerichtet.

»Ich lasse Sie also allein,« sagte der Herzog, »allein mit unserem größten Tyrannen. Allein seien Sie menschlich, Herr Präsident; vergessen sie das Sprichwort nicht: eine Hand wäscht die andere, das heißt, wenn ich kann, so helfe ich dem Baron aus der Patsche, denn weßwegen er heute Ihre Aufmerksamkeit erregt, dafür kann ich Ihnen morgen ebenfalls empfohlen werden.«

»Das wäre erschrecklich,« meinte Seine Excellenz. »Aber es ist,« sprach bestimmt der Herzog. »Zum Henker! man muß uns jungen Leuten nicht alle Freiheit nehmen wollen. « Der Präsident machte eine tiefe Verbeugung, und als der Baron dies ebenfalls that, ohne von der Stelle zu gehen, sagte der Herzog: »Ich hoffe, Sie werden mich doch bis an die Grenzen Ihres Reichs begleiten, wenigstens bis zur Treppe. Ich habe das anzusprechen.«

Herr von Brand warf achselzuckend und lächelnd einen Blick auf den Präsidenten, der selbst im Zweifel zu sein schien, was er thun solle. Doch faßte er sich schnell und bemerkte mit einem freundlichen Grinsen: »Euer Durchlaucht haben die Gnade, uns an unsere[239] Schuldigkeit zu erinnern. Auch ich werde die Ehre haben, Sie bis an die Treppe zu begleiten; muß ich doch auch den Befehl geben, daß man Sie passiren läßt,« setzte er lächelnd hinzu. Damit faßte er triumphirend seine Nase und ging hinter dem Herzog und vor dem Baron in das Vorzimmer, nicht aber ohne einen Blick hinter sich zu werfen, ob ihm dieser auch folge.

»Dabei bitte ich aber,« sprach lustig der Herzog, »daß Sie meinen Namen nicht hinab rufen. Der Teufel auch, die Leute draußen, die Ihre Polizei sehen, könnten ja glauben, der Baron und ich seien in Ausübung Gott weiß welchen Verbrechens hier abgefaßt worden!«

In dem Vorzimmer angekommen, blieb seine Durchlaucht stehen, hustete einigermaßen verlegen, denn ihm fehlte alle Instruktion zur weiteren Hilfe. Doch faßte er plötzlich einen sehr glücklichen Gedanken, und als der Präsident, der zur Treppe gegangen war und hinabgerufen hatte: »Man läßt den Herrn, der jetzt kommt, passiren!« reichte er dem Baron zum Abschied die Hand und dann traten alle Drei auf den Vorplatz auf die Treppe. In diesem Augenblick hatte auch der Kommissär seinen Platz am Fenster verlassen und sich der Thüre genähert, welche sich nur einen Schritt von dieser Treppe befand; der Baron dagegen hatte im Herausgehen einen bedeutungsvollen Blick mit seinem Kammerdiener gewechselt, der auch vollkommen zu verstehen schien, um was es sich hier handle und, anscheinend ganz absichtslos, die offenstehende Thür des Vorzimmers gegen die Treppe hin mit der Hand faßte.

Der Herzog, der seine Rechte auf das Treppengeländer legte, hob seinen Fuß, um hinuntersteigend auf die erste Stufe zu treten. Doch zog er ihn wieder zurück, schlug sich an die Stirn und sagte: »Wie kann man auch so vergeßlich sein? Habe ich doch für Euer Excellenz eine Nachricht von ziemlicher Wichtigkeit!« Damit faßte er den Rockknopf des alten Herrn und machte einen Schritt gegen das Vorzimmer zurück. »Heute Abend,« bemerkte er hierauf, indem [240] er jedes Wort sehr langsam aussprach, »war Familiendiner, – Familiendiner, acht Couverts.« Der Herzog ließ den Rockknopf nicht los und stand jetzt wieder auf der Schwelle des Vorzimmers. Der Präsident, der diese wichtige Nachricht nicht verlieren mochte, folgte ihm, ließ aber zu gleicher Zeit den Baron nicht aus dem Auge, der ganz ruhig an dem Treppengeländer lehnte und, wie aus Diskretion, zurückblieb. – »Acht Couverts,« fuhr der Herzog fort, »und Seine Majestät waren äußerst gnädig. – Bei dem Dessert sprachen Allerhöchstdieselben von dem bewußten Vorfalle – Sie erinnern sich doch des Vorfalls, Herr Präsident?« –

»Ich weiß in der That nicht, was Euer Durchlaucht meinen,« versetzte Jener unaufmerksam, indem er dem Polizeikommissär einen Wink gab und mit den Augen auf die Treppe deutete.

»Wie Sie vergeßlich sind, bester Präsident!« sagte der Herzog, der nur einen Schritt von der Thüre entfernt stand. »Nun, ich meine den Vorfall mit der Baronin von W.« Bei diesen Worten hatte er so vortrefflich manövrirt, daß der Polizeikommissär, der sich unverholen näherte, die Thüre nicht erreichen konnte, er hätte denn den Herzog auf die Seite drücken müssen.

Der Baron lehnte noch immer ruhig an dem Treppengeländer, und diese Unbeweglichkeit war wohl schuld daran, daß der Polizeikommissär keinen gewaltsamen Versuch machte, auf den Vorplatz zu gelangen.

Der Kammerdiener hielt mit zitternder Hand die Thüre, und seine Blicke bohrten sich in die Augen des Herzogs. Er fühlte es, daß er in diesem wichtigen Momente von demselben einen Wink erwarten mußte.

»Man ist mit Ihrem Benehmen sehr zufrieden,« flüsterte der Herzog, »sehr zufrieden.« Damit erhob er seine Augen, maß den Raum zwischen sich und der Thüre, blickte den Kammerdiener eine Sekunde fest an, und dessen Absicht durchschauend, nickte er leicht mit dem Kopfe.

[241] Die Thüre flog zu, der Präsident schrie laut auf, der Polizeikommissär rannte an das Fenster, und während der Herzog, wie ein Besessener lachte und jubilirte, hörte man drunten vor dem Hause das Rollen eines Wagens und den scharfen Trab zweier ungeduldigen Pferde, die des langen Wartens müde, nun mit voller Kraft über das Pflaster dahingingen. Man konnte nicht drei Sekunden zählen, so wurde das Rollen schwächer und verlor sich in der Ferne. In diesen drei Sekunden aber war die Beschäftigung der Anwesenden im Vorzimmer des Barons sehr bemerkenswerth und bezeichnend.

Kaum hatte der Kammerdiener die Thüre zugeschlagen, so warf er sich mit seinem Körper gegen dieselbe und mit einem Blicke, als wollte er sagen: nur über meine Leiche geht der Weg über diese Schwelle, einem Blicke, vor dem der Präsident, der hinaus wollte, zurückschrak und darauf in seiner Gemüthsbewegung mit beiden Händen an seiner Nase riß, wie es andere Menschen wohl mit ihren Haaren zu machen pflegen. Der Polizeikommissär hatte versucht, ein Fenster zu öffnen, doch war dasselbe von Innen mit festschließenden Läden versehen, und ehe er die Riegel derselben losbrachte, deutete ihm schon das Rollen des Wagens an, daß alle seine Bemühungen vergebens seien.

Der Herzog hatte sich in einen Stuhl geworfen, und je größer augenblicklich die Verwirrung im Zimmer war, desto toller lachte er.

»Wir haben ja einen reitenden Gensdarmen in der Nähe,« sprudelte endlich der Präsident, zugleich heftig nach Athem schnappend, hervor. »Lassen wir augenblicklich dem Wagen nachsetzen.«

»Der Gensdarme müßte ein vortreffliches Pferd haben,« jubelte der Herzog, »wenn er meine Ungarn einholen wollte. – Ah! der Spaß wäre für eine Million nicht zu theuer.«

Jetzt erst fielen die umherirrenden Blicke des Präsidenten auf Seine Durchlaucht, und seine Hände, die sich krampfhaft öffneten und schloßen, schlugen nun heftig zusammen, indem er verzweiflungsvoll ausrief: »Und Sie können über diese entsetzliche Geschichte[242] lachen, wie – wie – o Gott! nein, wissen denn Euer Durchlaucht auch –«

»O ich weiß Alles,« sagte der Herzog, vor Lachen fast erstickend.

»Daß der Baron – verhaftet werden sollte –«

»Von einer halben Kompagnie Polizeisoldaten, geführt von mehreren Kommissären und befehligt von dem Chef der Polizei in Person. Das ist ja gerade der Hauptspaß. Nehmen Sie mir nicht übel, Excellenz, das ist eine Geschichte für das morgige Frühstück, die nicht zu bezahlen ist.«

»Gerechter Gott! bin ich denn ein Narr oder –« hier schien der Präsident sich wegen dieser wichtigen Frage bei seiner Nase Raths erholen zu wollen. Er hielt sie ein paar Sekunden fest, dann aber sagte er mit vor Bewegung zitternder Stimme: »Also Euer Durchlaucht wissen Alles?«

»Alles, Excellenz.«

»Daß der Baron verhaftet werden sollte?«

»Alles – um ein Duell mit dem Herrn von Dankwart zu verhindern.«

Bei diesen Worten fuhr der Präsident einen Schritt zurück, um darauf wieder zwei vorwärts zu schnellen, bis dicht vor Seine Durchlaucht, welche ob dieser heftigen Bewegung mit seinem Lachen plötzlich inne hielt und erstaunt aufblickte. Dabei hob der Präsident die Hände gen Himmel und schrie: »Nein! nein! nein! O über die Thorheit von euch jungen Leuten! – Der Baron – Gott verdamm' ihn! – O was, Baron! – wegen eines Duells, glauben Sie, hätte ich ihn verhaften wollen? – Wissen Euer Durchlaucht, wem Sie fortgeholfen haben? – dem Chef einer Räuberbande, dem gefährlichsten Menschen im ganzen Königreiche. – O heilige Vorsehung! Ich hatte ihn so gut in meiner Hand – und jetzt!« – Damit schien ihn alle Kraft verlassen zu haben, er warf noch einen wehmüthigen Blick auf die linke, leere Seite seines Fracks und knickte darauf zusammen wie ein Taschenmesser. Ja, er wäre [243] unfehlbar auf den Boden niedergesunken, wenn ihn nicht der Kommissär mit starkem Arme aufgefangen hätte. An dessen blauem Busen – er trug nämlich eine Uniform von dieser Farbe – erholte er sich langsam wieder, faltete dann trauernd seine Hände und wandte seinen Kopf herum, indem er sprach: »Braun, wer uns das vor einer Stunde prophezeit hätte!«

Der Herzog war übrigens bei den Worten, welche ihm die Excellenz vorhin zugerufen, wie ein Bild der höchsten Ueberraschung dagesessen. Jedes Lächeln war von seinem Gesichte verschwunden, und da er an dem Jammer, in dem sich der Präsident befand, wohl sah, daß sich dieser würdige Staatsbeamte keinen Scherz mit ihm erlaubte, so biß er sich heftig auf die Lippen und sagte, indem er die Augenbrauen finster zusammenzog: »Alle Teufel! Herr Präsident, das hätten Sie mir auch schon vorhin sagen können!«

»Ließen Sie mich denn zu Worte kommen?« jammerte der Andere. »Zuerst mußte ich die fabelhafte Geschichte von dem Diner hören, an der – ich bitte um Verzeihung – gewiß kein wahres Wort ist; und dann lachten Sie wie – wie ich in meinem Leben nichts Aehnliches gehört. Euer Durchlaucht,« fuhr er sich ermannend fort, »das ist ein schlimmer Handel. Ich hätte natürlicherweise keine Rücksichten sollen gelten lassen. Aber wie mir Euer Durchlaucht mitgespielt, das kann ich unmöglich Seiner Majestät verschweigen.«

Der Herzog zuckte die Achseln, als wolle er sagen: daran ist nichts zu ändern. Dann aber rief er auf einmal: »Warten Euer Excellenz einen Augenblick. Da habe ich ein Schreiben des Barons an Sie. Alle Wetter! das hätte ich beinahe vergessen. Lesen wir, lesen wir, und dann wollen wir Kriegsrath halten.«

Begierig nahm der Präsident das Billet aus den Händen des Herzogs und entfaltete es. Der Polizeikommissär hielt das Licht und der Herzog schaute dem Präsidenten über die Schulter, während er las:


[244] »Euer Excellenz


werden es einem alten und genauen Bekannten nicht zu ungnädig nehmen, daß er sich heute Abend der Ehre Ihrer Gesellschaft entzieht. – Sehr dringende Geschäfte veranlassen mich, heute Nacht und morgen von Hause abwesend zu sein.

Da ich aber zu gleicher Zeit überzeugt bin, daß Euer Excellenz nicht ohne die triftigsten Gründe mit so großem Gefolge in meiner Wohnung erschienen sind, so werde ich nicht ermangeln, mich morgen um diese Stunde hier einzufinden.

Indem ich mir erlaube, den Scherz Seiner Durchlaucht des Herrn Herzogs mir zu eigen zu machen, bin ich so frei, Euer Excellenz demgemäß auf morgen Abend zu einer Partie Whist einzuladen, und zwar à trois mit einem todten Mann.«

So las der Präsident, und Alle schauten sich verwundert an; der Kommissär schüttelte den Kopf und Seine Excellenz meinten: »Glaub' das der Henker!«

Der Herzog allein nahm die Partei des Verschwundenen, indem er bemerkte: »Das ist jedenfalls ein Ausweg; ich bitte, ich beschwöre Sie, Herr Präsident, warten Sie bis morgen Abend. Wie ich den Baron kenne, bin ich überzeugt, er stellt sich. Deßhalb machen Sie um Gotteswillen heute Abend und morgen keinen Lärm; lassen Sie ihren Leuten drunten sagen, Sie hätten dem Baron wegen eines Duells einen Hausarrest ankündigen wollen, er sei aber verschwunden. Kehrt er morgen Abend zurück, so machen Sie, was Sie wollen, kehrt er nicht zurück, so haben Sie immer noch Zeit, die Sache bekannt werden zu lassen.«

»Was meinen Sie, Braun?« fragte der Präsident, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte. »Der Karren ist so wie so verfahren, und wenn er wirklich wiederkäme, so hätten wir in der That die ganze blamable Geschichte nicht zu erzählen.«

Der Polizeikommissär zuckte die Achseln und pflichtete ebenfalls nach einiger Ueberlegung Seiner Durchlaucht Meinung bei.

[245] »So sei es denn also,« sprach bestimmt der Präsident, indem er das Billet wieder zusammenfaltete. »Aber wir, die wir hier beisammen sind, geloben uns bis morgen Abend ein feierliches Stillschweigen. Was diesen alten Herrn da anbelangt,« fuhr er mit einem Wink auf den Kammerdiener fort, »so ist es meine Ansicht, denselben scharf unter Aufsicht zu halten. Braun, lassen Sie deßhalb ein paar vertraute Leute im Hause. Und nun,« sprach er achselzuckend und mit einem tiefen Seufzer, »sind wir fertig, und wenn Euer Durchlaucht also befehlen –«

»Mir thut die verdrießliche Geschichte wahrhaftig leid,« entgegnete dieser, während er seinen Hut nahm. »Aber seien Excellenz versichert, daß ich Ihnen mit meinem ganzen Einfluß zur Seite stehen werde. Thun Sie mir dagegen die Liebe, bester Präsident, und erzählen mir beim Nachhausefahren, was es denn eigentlich mit dem Baron für ein Bewandtniß hat. – Horreur! der Chef einer Räuberbande, haben Sie gesagt?«

Während Seine Excellenz trübselig mit dem Kopf nickte, gingen die Beiden der Treppe zu, doch ehe sie hinabstiegen, meinte der Präsident: »Was er nur mit seiner Einladung hat sagen wollen? Zu einem Whist à trois mit einem todten Manne. Ich verstehe das nicht.« –

»Aber ich verstehe es,« sprach tief aufseufzend der alte Kammerdiener drinnen im Zimmer; dann sank er auf einen Stuhl nieder und verbarg sein Gesicht in beide Hände.

85. Kapitel
Fünfundachtzigstes Kapitel.
Des Jägers Bericht.

Während geschah, was wir in den letzten Kapiteln erzählten, war der Winter ziemlich vorüber gegangen, und das beginnende Frühjahr zeigte sich schon in einzelnen schönen, heiteren Tagen – [246] Tagen, an welchen das Land von der Sonne erwärmt, einen erdigen, aber angenehmen Duft ausströmen läßt, wo die Grashalme sich zu strecken scheinen, und die Zweige den innigsten Trieb zeigen, sich baldigst mit Knospen zu bedecken. Um diese Zeit werden die Glashäuser und Frühbeete nach und nach von ihrer Umhüllung befreit, man lockert die Rosen auf, die während des Winters mit Erde bedeckt, ruhig schlummerten, man gibt auch den in ihren gläsernen Käfigen eingesperrten Pflanzen Luft, indem man schon auf längere Zeit die Fenster offen läßt und Sonnenlicht und frische, erquickende Luft über ihre sehnsüchtig zitternden Blätter dahinströmen läßt.

So war man auch in dem kleinen Garten beschäftigt, welcher den Pavillon umgab, in dem Graf Fohrbach wohnte. Obgleich es drei Uhr Nachmittags war, standen doch die Fenster seines Salons offen, und die hereinströmende, jetzt schon wieder etwas kühle Luft vermischte sich wehend mit der warmen, die das lodernde Feuer des Kamins umspielte.

Der Graf war nicht in seinem Salon, sondern befand sich im Ankleidezimmer, dessen Thüre aber ebenfalls geöffnet war; er lag in einem Fauteuil, hatte diesen so gedreht, daß die kühlere Luft von draußen, geschwängert mit den oben erwähnten Frühlingsdüften, über sein Gesicht hinstrich. Neben ihm in der Sophaecke saß der Major von S. Beide rauchten vortreffliche Cigarren, doch verscheuchte der Graf den Dampf, den er von sich blies, augenblicklich wieder mit der Hand, um alsdann wieder einen tiefen Zug Luft zu sich zu nehmen.

»An einem solchen Tage,« sagte er, »wenn man so recht merkt, daß der Winter hinter uns liegt, fühlt man sich doch wie dem Gefängniß entsprungen. Hinter uns finstere, schwarze Mauern, die bisher fest verschlossenen Thore weit geöffnet, und vor uns Freiheit, sowie herrliche, göttliche Luft.«

»Das wirst du diesmal ganz besonders finden,« meinte der Major lächelnd, »bricht doch für dich nächstens ein Frühling an, [247] so süß und berauschend, wie man ihn in diesem Leben nur ein einziges Mal genießen kann. Habe ich das doch auch erlebt!«

»Wenn ich daran denke,« entgegnete der Andere, indem er einen Moment seine Augen mit der Hand bedeckte, »so hört mein Herz auf zu schlagen, und ich kann nur mühsam Athem holen. Ist es dir auch so ergangen?«

»Gerade so,« erwiderte der Major lachend. »Und ich will nur hoffen, daß sich deine Erinnerungen an diese Zeit nie trüben mögen. Doch davon bin ich überzeugt, denn Eugenie ist ein so vortreffliches Wesen, ein so reiches und liebes Herz, daß du mit ihr glücklich werden mußt.«

»Und mir wirst du hoffentlich ebenfalls einige Vortrefflichkeit und Liebe nicht absprechen?«

»Ja, du hast gute Eigenschaften, und bei sorgfältiger Erziehung kann mit der Zeit noch was Rechtes aus dir werden.«

Der Graf blickte lächelnd vor sich auf den Boden, stieß die Asche von der Cigarre und dachte über seine künftige Erziehung nach.

»Wie ist es denn mit dem heutigen Diner?« fragte der Major nach einer Pause, »es ist wohl sehr groß und wird eine starke Feierlichkeit absetzen? – Ah! wenn das schon vorüber wäre! Ich werde wohl einen Toast halten müssen, und das kommt mich immer entsetzlich sauer an. Sind wir in der That sehr zahlreich?«

»An die vierzig Couverts, glaub' ich. Papa hat's nun einmal nicht anders gethan.«

»Doch alle unsere genauen Bekannten?«

»Versteht sich. Nur Steinfeld wird fehlen; er ist plötzlich abgereist. Ah! ich verstehe das – der arme Kerl!«

»Warum arm?« meinte der Major. »Er liebt die Baronin noch so leidenschaftlich wie damals, als er sie zum ersten Male gesehen. Erinnerst du dich noch des Abends draußen in deinem Salon nach dem Balle drüben, als er uns jene Geschichte erzählte? Damals[248] waren sechs Jahre vorüber. Und mit welchem Feuer, welcher Leidenschaft sprach er von der Begebenheit!«

»Er wird die Baronin heirathen?« fragte der Graf.

»Versteht sich von selbst. Die Scheidung wird in den nächsten Tagen ausgesprochen. Ich bin überzeugt, die Beiden werden sehr glücklich mit einander sein. Natürlich wird er vorderhand nicht hieher kommen können und wollen.«

»Das begreift sich. Aber der General hat sich so verhaßt gemacht, daß Alles Partei für die arme Frau nimmt.«

»Und er?« fragte der Major nach längerem Stillschweigen.

Der Graf zuckte die Achseln, während ein düsterer Schatten über seine vorhin so freundlichen Züge flog. »Das ist ein räthselhafter Mensch,« sagte er nach einer Pause.

»Für dich und Steinfeld wohl nicht so sehr als für uns Andere,« meinte lächelnd der Major. »Aber ich achte euer Geheimniß. Ich mag den Baron wohl leiden. Coeur de rose ist nicht so übel.«

Bei diesen Worten trat der Kammerdiener leise in den Salon, blieb dort stehen, bis die Blicke des Grafen auf ihn fielen, dann sagte er mit leiser Stimme: »Soeben ist der Jäger zurückgekommen und wünscht Euer Erlaucht sprechen zu dürfen.«

»Darauf bin ich begierig!« rief der Graf, indem er aufsprang. »Er soll augenblicklich hereinkommen. Bleibe nur,« wandte er sich an den Major, der sich ebenfalls erheben wollte. »Ich will in dieser Sache keine Geheimnisse vor dir haben. Was mir der Jäger zu sagen hat, ist für uns Alle sehr ernst und wichtig und betrifft den, von welchem wir eben sprachen.«

»Den Baron von Brand?«

Der Graf nickte mit dem Kopfe und fuhr fort: »Er hat mich gestern um meinen Jäger gebeten; ich weiß nicht, weßhalb er zu dem Rencontre von seinen eigenen Leuten Niemand nehmen wollte.«

»Zu welchem Rencontre?« fragte überrascht der Major.

[249] »Mit Herrn von Dankwart. Es scheint, sie haben sich heute geschossen.«

»Das ist seltsam,« meinte der Major kopfschüttelnd; »ich habe Herrn von Dankwart gestern Abend noch gesprochen; von der betreffenden Angelegenheit versicherte er mich gerade das Gegentheil.«

»Aus Diskretion.«

»Und sagte, der Baron habe ihm einen versöhnenden Brief geschrieben, den er im Nothfall überall zeigen könne.«

»So hören wir den Jäger! Ich bin fest überzeugt, die Sache ist anders.«

Hier trat Franz in den Salon, und sein Herr, der schnell nach ihm hinblickte, fuhr betroffen zurück. »Ah!« sagte er zu dem Major, »die Sache ist ernsthaft. So verstört sah ich das Gesicht meines Jägers, dieses sonst so ruhigen Menschen, nie.«

Und so war es auch in der That. Franz Karner, der auf einen Wink des Grafen langsam näher schritt, ging gegen seine Gewohnheit ziemlich gebeugt. Sein Gesicht war bleich, seine Augen roth unterlaufen, seine Lippen zuckten, und da er das wohl fühlen und doch nicht sehen lassen mochte, biß er sie fest über einander.

Der Major war ebenfalls aufgestanden und blickte bestürzt bald den Jäger, bald seinen Freund an.

»Ah! du bist zurück!« rief dieser. »Nun sprich, was ist geschehen? Ein Unglück – gewiß ein Unglück!«

Der Jäger wagte es nicht, zu sprechen, und nickte stumm mit dem Kopfe.

»Dem Baron ist ein Unglück geschehen?« fuhr Graf Fohrbach hastig fort. »Sammle dich, Franz, und erzähle uns die Geschichte ruhig dem Verlaufe nach. – Ah, Teufel! sei ein Mann!« fuhr er nach einer Pause fort, als er bemerkte, daß der Blick des Andern seltsam flimmernd wurde. »So laß doch hören!«

[250] Der Jäger öffnete langsam die Lippen, nachdem er mit der Hand über die Augen gefahren war, dann sagte er mit tiefer, fast tonloser Stimme: »Ehe ich Euer Erlaucht berichte, was gestern und heute geschehen, will ich zur Rechtfertigung meines auffallenden Betragens nicht verschweigen, daß ich den Herrn Baron von Brand früher gekannt und genau gekannt, ehe ich in den Dienst Euer Erlaucht trat.«

»Ich weiß das, er hat dich mir ja empfohlen.«

»Daß er öfters mein Wohlthäter wurde, daß ich ihn achtete und liebte. – O, sehr liebte, denn er war ein guter Herr. Euer Erlaucht werden mir verzeihen, aber ich muß die Wahrheit sagen, sollte auch für mich daraus erfolgen, was da wolle! Ich kannte alle seine Verhältnisse.«

»Das habe ich mir gedacht,« erwiderte der Graf nach einer Pause. »Aber gleichviel, Franz. Für mich ist der Baron von Brand nur der Baron von Brand, und was dich betrifft, so gehen mich deine früheren Verhältnisse nichts an.«

»Das lohne Ihnen Gott,« versetzte der Jäger; »und er wird Sie dafür belohnen.« Er murmelte diese Worte nur, doch verstand sie der Graf vollkommen. Dann streckte sich der Jäger lang in die Höhe, unterdrückte einen tiefen Seufzer und fuhr fort: »Auf die Bitte des Herrn Baron von Brand erlaubten mir Euer Erlaucht, denselben begleiten zu dürfen. Zu diesem Zweck erwartete ich gestern Abend den Herrn Baron um neun Uhr vor dem E'schen Thor mit dem Wagen. So hatte er es mir befohlen.«

»War es ein Reisewagen?« fragte der Graf.

»Nein, ein leichtes Coupé, aber mit vier Pferden bespannt. – Es mochte fast halb zehn Uhr sein, da hörte ich, daß sich ein Wagen dem Thor näherte, und zwar so schnell, als zwei tüchtige Pferde nur zu laufen im Stande sind. Es war das die Equipage Seiner Durchlaucht des Herrn Herzogs Alfred. Trotzdem es sehr dunkel war, erkannte ich den Kutscher, der seine Pferde neben dem [251] Coupé parirte. Der Herr Baron von Brand sprang heraus, und der Wagen, mit dem er gekommen, kehrte augenblicklich in die Stadt zurück. Der Herr Baron begrüßte mich freundlich, befahl, auf der Chaussee nach der ersten Station zu fahren, und stieg eilig in den Wagen.«

»Wie war er gekleidet?« fragte aufmerksam der Graf.

»Ueber dem gewöhnlichen Anzug trug er einen weiten Radmantel und auf dem Kopfe hatte er einen runden Hut.«

»Und war bewaffnet?«

»Ja, Euer Erlaucht, mit zwei Pistolen.«

Der Graf warf seinem Freunde einen bezeichnenden Blick zu und sagte hierauf: »Und sonst war Niemand dabei?«

»Niemand. – Ich stieg auf den Bock und wir fuhren davon. Die Postillone, denen ein gutes Trinkgeld versprochen war, ließen tüchtig laufen, so daß wir bald die Station erreichten. Dort wurde umgespannt und wir fuhren weiter.«

»Aha! nach Königshofen,« sagte kopfschüttelnd der Major. »Es ist das der gewöhnliche Ort.«

»In Königshofen,« erzählte der Jäger weiter, »begab sich der Herr Baron in das dortige Wirthshaus, ließ sich ein Zimmer geben, befahl mir darauf zu Bette zu gehen, ihn aber heute Morgen vor Tagesanbruch zu wecken. Ich verabschiedete die Postillone, mochte aber nicht schlafen gehen, vielmehr schritt ich Stunden lang um das Haus herum, und bemerkte wohl, daß in dem Zimmer des Herrn Baron immerfort ein helles Licht brannte. Er war ebenfalls nicht zu Bette gegangen, denn als ich, dem Befehle gemäß, vor Tagesanbruch seine Thüre öffnete, saß er an seinem Tische und siegelte Briefschaften zu. Ah! du bist schon da! rief er mir entgegen; die Zeit ist schnell verstrichen. – Ich habe mich bemüht, Erlaucht, seine Worte in meinem Gedächtnisse festzuhalten; es schien mir das wichtig,« sagte der Jäger in bestimmtem Tone. – »Der Tag fing an zu grauen,« fuhr Franz darauf in [252] gewöhnlichem Tone fort, »und der Herr Baron wollten seine Toilette machen, doch hatte er Alles mitzunehmen vergessen. Ich sorgte so gut als möglich dafür, und nachdem ich ihm das Haar einigermaßen arrangirt, zog er sein Schnupftuch hervor und roch daran. Ich wollte, sprach er alsdann, daß ich nicht vergessen hätte, gestern Abend noch ein paar Tropfen aufzuträufeln. Ich liebe den Geruch und er hätte mir so manche Erinnerung noch einmal frisch vor die Seele geführt.«

»Coeur de rose,« sagte nachdenkend der Graf. »Wer hätte das gedacht, als wir uns hier vor einigen Monaten über sein Odeur lustig machten! Doch weiter!«

»Er gab mir einige Briefe, um sie auf die Post zu werfen. Die Pistolen nahm er selbst unter den Mantel, dann verließen wir das Haus, gingen durch Königshofen durch und stiegen hinter dem Dorfe die Anhöhe hinaus.«

»Der Weg führt nach einer einsamen Waldlichtung, ich kenne ihn wohl,« sprach nachdenkend der Major.

»Und was dachtest du von allem dem?« fragte der Graf seinen Jäger.

»Fast das Gleiche fragte mich der Herr Baron, als wir den Wald hinauf gingen. Ich antwortete ihm, er könne wohl ein Duell vorhaben, doch sehe ich weder Gegner noch Sekundanten. – Die kommen Alle von der andern Seite, entgegnete er mir. Und du bist wohl klug genug, einzusehen, daß hier eine Sache vor sich geht, die mit großer Heimlichkeit betrieben werden muß.«

Der Major wechselte mit seinem Freunde einen bedeutsamen Blick, welch' Letzterer die Achseln zuckte und sehr ernst nach Oben sah.

»Ja, ich habe ein Duell vor, so fuhr der Baron fort, und einen gefährlichen Gegner. Ich weiß wohl, wie der schießt, sagte er sonderbar lächelnd, fehlt auf fünfundzwanzig Schritte nie ein Aß und kann auch wohl die Kugeln auf einer starken Messerklinge [253] theilen. – Da müßte er ja fast so gut schießen wie Sie, gnädiger Herr, erlaubte ich mir zu bemerken, worauf er entgegnete: ganz genau wie ich, deßhalb ist die Sache sehr zweifelhaft, da er den ersten Schuß hat, und befolge daher genau, was ich dir auftrage: Hier müssen wir scheiden, zieh deine Uhr hervor und richte sie nach der meinigen. – Es war sechs Uhr. – In einer halben Stunde wird wohl Alles vorüber sein. Dann folgst du dem schmalen Weg, den ich jetzt hinaufsteige, und findest oben eine Waldlichtung. Da wirst du schon selbst sehen, was zu thun ist. – Ich bat ihn, mich mitzunehmen, doch er wiederholte seinen Befehl ernst und strenge. Und er konnte sehr ernst sein, der Herr Baron,« sagte der Jäger gedankenvoll. – »Er nahm also Abschied von mir, indem er mir noch vorher seine Brieftasche übergab, um die Rückfahrt für die Postillone zu bezahlen, sagte er. Dann stieg er zwischen den Bäumen aufwärts und meine Blicke folgten ihm. Euer Erlaucht werden mir verzeihen, wenn ich Ihnen gestehe, daß es mir fast das Herz zerbrach, als ich ihn so leicht und gewandt da hinaufsteigen sah, ein Herr in den besten Jahren, ja in voller Kraft der Jugend.«

»Und warum folgtest du ihm nicht?« fragte fast athemlos und tief bewegt der Graf.

»Sein Befehl war gemessen, Erlaucht. Und dann kannte ich auch meinen ehemaligen Herrn. Er hätte mich niedergeschossen, wenn ich ihm gefolgt wäre, ohne daß mein Tod,« setzte er trübe lächelnd hinzu, »sein Duell verhindert hätte. – Mehrmals blieb er stehen und wandte sich rückwärts gegen das Thal. Man sieht von dort oben weit in der Ferne die Residenz vor sich ausgebreitet liegen. Dahin schien er mehrmals zu schauen, aber auch auf mich fiel sein Blick, und als er mich so ruhig da unten warten sah, winkte er mir noch einmal freundlich mit der Hand zu. – O sehr freundlich! – Und gleich darauf war er zwischen den Bäumen verschwunden.« – –

[254] Diese letzten Worte hatte der Jäger mit kaum verständlicher Stimme gesprochen. Dann aber sagte er: »Verzeihen mir Euer Erlaucht, aber ich kann nicht anders!« – worauf er seine Hände vor die Augen preßte und einige Sekunden so verblieb.

Der Graf hatte seine Cigarre weggeworfen, und er sowie der Major blickten in der größten Spannung auf den Jäger, der nun die Hände langsam niedersinken ließ, tief aufseufzte und fortfuhr: »Darauf befand ich mich allein in dem Walde. O es waren das schreckliche Augenblicke! Und ich horchte wohl athemlos auf jedes Geräusch, wenn weit von mir entfernt irgend ein Wild durch das dürre Laub raschelte, wenn ein welkes Blatt neben mir zu Boden fiel, so schrak ich zusammen, indem ich befürchtete, irgend etwas Anderes überhört zu haben. O Herr Graf, wenn man im dichten Walde auf etwas lauscht, wobei das Herz mit im Spiele ist, so ist die Stille, die uns umgibt, feierlicher und ernster als die Ruhe eines Kirchhofes! Ich kenne das,« setzte er mit leiserer Stimme bei. – »Auf einmal knallte ein Schuß. – Gnädiger Herr, ich habe Schüsse knallen hören unter schauerlichen Verhältnissen – aber so wie dieser heute Morgen hat mich nie etwas erschüttert! Gleich darauf fiel ein zweiter. Ich riß meine Uhr heraus und als ich sah, daß es halb Sieben war, stürzte ich den Waldweg hinan. So eilig ich auch war, so blieb ich doch zuweilen zitternd stehen und lauschte. Was konnte es mich auch nützen, daß ich schnell an Ort und Stelle kam, mir ahnete ja doch, was ich finden würde? Dann spiegelte ich mir auch wohl eine falsche Hoffnung vor und blieb in der Absicht stehen, um vielleicht die Schritte der andern Partei zu vernehmen. Aber,« setzte er trübe lächelnd hinzu, »ich hörte nichts dergleichen. Der Wald war entsetzlich stille, nur das Laub rauschte unter meinen Füßen, hie und da flatterte ein Vogel und von weit her sang der Kukuk sein melancholisches, einförmiges Lied.«

[255] »Endlich fandest du ihn!« rief gespannt der Graf, als der Jäger vor sich hinstarrend schwieg.

»In der Waldlichtung – Herr, wie er mir vorausgesagt.«

»Allein?«

»Ganz allein.«

»Und –«

»– – Todt,« sagte der Jäger nach einem tiefen Athemzuge. »Die Kugel war ihm durch's Herz gegangen.«

»Ah! das ist entsetzlich!« rief der Major. »Du sahst Niemand? Du vernahmst also wirklich keine Schritte, die sich entfernten?«

»Ich sah nichts als die Sonne, die ihren Strahl über seine bleichen Züge warf, und ich hörte nichts als die eigenen Worte des Jammers, mit welchen ich mich neben ihn hinwarf. Denn, Herr Graf, ich hatte ihn sehr geliebt, meinen ehemaligen Herrn, den Baron von Brand.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

»Und was denkst du über die ganze Geschichte?« fragte der Graf nach einer langen, langen Pause.

»Ich denke nur, was er mir sagte,« erwiderte der Jäger mit feierlicher Stimme. »Ich will mein Leben dafür lassen, daß er im Duell gefallen. Denn so hat er ja gewollt, daß man glaube.«

»Ja, er hat so gewollt,« sprach Graf Fohrbach nachdenkend, »sein Lauf war zu Ende, wie er mir auf jenem denkwürdigen Maskenballe sagte, und er soll einen ehrenvollen Tod gestorben sein.«

»Von der Hand des –« fragte der Major mit bedeutsamem Blick.

Worauf der Andere entgegnete: »Herr von Dankwart ist bei allen seinen kleinen Schwächen ein Ehrenmann, das ist nicht zu bestreiten.«

»Allerdings nicht,« meinte der Major. »Aber er wird die ganze Geschichte hartnäckig leugnen.«

»Nehmen wir an, aus Diskretion, wie ich vorhin sagte,« erwiderte Graf Fohrbach, »die Welt wird doch an das Duell glauben, [256] und so hat es der Unglückliche gewollt. Er ruhe sanft. – Doch laß uns das Ende deiner Geschichte hören,« wandte sich der Graf nach einigem Stillschweigen an seinen Jäger.

»Ich holte Leute aus dem Dorfe,« fuhr dieser fort, »und brachte ihn nach Königshofen zurück. Ich ließ Aerzte kommen, obgleich ich wußte, daß das unnütz war. Darauf brachte ich ihn in seinen Wagen und kehrte langsam nach der Residenz zurück.«

»Und wo ist er jetzt?«

»In seinem Hause. Ich habe ihn dem alten Kammerdiener übergeben, der darauf vorbereitet zu sein schien. Denn obgleich er trostlos und verzweifelt that, sagte er doch unter Thränen, er habe das wohl vorher gewußt.«

»Und die Briefschaften, die dir der Baron gab?«

»Warf ich auf die Post bis auf einen Brief, den er mich beauftragte, Punkt neun Uhr Seiner Excellenz dem Herrn Polizeipräsidenten eigenhändig zu übergeben, wozu vielleicht Euer Erlaucht so gnädig sind, mir später Urlaub zu ertheilen.«

Der Graf Fohrbach wechselte mit dem Major einen Blick, dann erwiderte er dem Jäger: »Allerdings, du sollst überhaupt den heutigen Nachmittag und Abend für dich haben, und erst morgen früh,« setzte er mit Betonung hinzu, »den Dienst bei mir wieder in deiner gewohnten Pünktlichkeit und – Treue antreten.«

»Wie danke ich Ihnen für dies Wort!« sprach der Jäger, tief erschüttert. Dann verließ er auf einen Wink seines Herrn Kabinet und Salon.

»Es ist ein trauriges und doch gutes Ende für den Baron,« sagte Graf Fohrbach nach einer Pause. »Wir müssen übrigens seinen letzten Willen erfüllen und das Gerücht verbreiten helfen, er sei im Duell gefallen. Herr von Dankwart wird das heftig leugnen, aber nachher, wenn er sieht, daß man ihm doch nicht glaubt, wird er am Ende gezwungen, das Rencontre achselzuckend zuzugeben.«

[257] »Verlaß dich auf mich,« entgegnete der Major, »es soll auf ihm hängen bleiben. Aber sage mir, Eugen, wie verstehe ich das? Hat der Baron wirklich etwas mit der Polizeidirektion zu schaffen gehabt? Auf dem letzten Hofball sprach man von einer Brautschaft zwischen ihm und der Tochter des Präsidenten.«

»Ich hörte auch davon, glaubte aber nicht daran.«

»Muß man,« meinte der Major, »heute noch den Tod des Barons geheim halten oder kann man nach Tisch darüber sprechen?«

»Natürlich wollen wir darüber sprechen, um so mehr, da Herr von Dankwart da ist. Wir werden überhaupt nicht die Einzigen sein, die die Sache erfahren haben.«

»Schön,« versetzte der Andere, indem er sich zum Weggehen anschickte; »ich verlasse dich jetzt. Es ist vier Uhr und du hast doch etwas Sammlung nothwendig.«

»Und Toilette!« lachte der Graf, während er seinem Freunde die Hand reichte.

»Adieu denn bis nachher!«

»Adieu, Major!«

Mit kurzen Worten wollen wir dem Leser noch sagen, daß das heutige Diner bei Seiner Excellenz dem Kriegsminister äußerst glänzend war, daß bei demselben die Verlobung zwischen Eugenie und dem jungen Grafen proklamirt wurde, und daß der Major einen hierauf bezüglichen gar schönen Toast ausbrachte. Das unglückliche Ende des Barons war übrigens schon bekannt geworden und man schrieb dasselbe allgemein einem Duell mit Herrn von Dankwart zu. Es half auch nichts, daß dieser auf's Feierlichste das Gegentheil versicherte, ja daß er sich anheischig machte, ein Alibi beweisen zu wollen. Man zuckte die Achseln, man verbeugte sich lächelnd, sobald aber Herr von Dankwart den Rücken gewendet und anderswohin getänzelt war, so sagte man: »Das ist erstaunlich; wer hätte das gedacht!«

[258] »Und der Baron war ein immenser Pistolenschütze,« meinte ein Anderer, und ein Dritter setzte hinzu: »Was mich bei Herrn von Dankwart nur wundert, ist einzig und allein, wie man nach einer so furchtbaren Katastrophe – am gleichen Tage mit der Ruhe sein Diner einnehmen kann.«

»Erstaunlich!«

»Erstaunlich!« wiederholten Alle, und Herr von Dankwart wurde von da an mit weit größerer Ehrfurcht betrachtet, als dies bisher geschehen.

Auch der Präsident war bei dem Diner gewesen, war aber sehr still und nachdenkend und verkehrte fast nur mit dem Herzog Alfred, mit dem er sich längere Zeit in einer Ecke des Salons eifrig unterhielt. Gegen acht Uhr verließ er die Gesellschaft und fuhr nach Hause. Dort hatte er mit seiner Gemahlin eine heftige Scene, bei welcher endlich auch Fräulein Auguste, aber sehr niedergeschlagen und mit rothgeweinten Augen erschien. Wer der Gegenstand der Unterhaltung in der Familie war, werden wir dem Leser nicht zu sagen brauchen, dagegen wollen wir nicht verschweigen, daß Seine Excellenz, die Nase mit der Hand festhaltend, lange im Salon auf- und abschritt und einer längeren Rede der Präsidentin lauschte, welche eifrig zu ihm sprach. »Und wenn Alles so wäre, wie du mir sagtest,« fuhr sie fort, »so können sämmtliche Gerichte des Landes ihn doch nicht wieder lebendig machen und zur Verantwortung ziehen. Welchen Nutzen brächte es dir also, die Sache an die große Glocke zu hängen, sie stadt- und landkundig zu machen? – Nutzen, du lieber Gott!« rief sie weinend. »Nur Schande, o welche Schande! Wird nicht die ganze Stadt mit Fingern auf uns deuten? O der Skandal!«

»Und meine Ehre als Chef der Polizei?« sprach stehen bleibend der Präsident, wobei seine losgelassene Nase hoch empor fuhr.

»Und meine Ehre?« sagte Auguste weinend. »Bin ich nicht unglücklich genug durch diese schreckliche Geschichte geworden!«

[259] Der Präsident setzte abermals schweigend seinen Spaziergang fort und mit einem tiefen Seufzer blickte er auf die linke, immer noch leere Seite seines Frackes. »Eine allerhöchste Belohnung,« redete er schwermüthig, »hätte mir diesmal nicht entgehen können. O ich war so nah daran!« – Damit meinte er den Stern, nach dem er so lange geschmachtet. – »Wer weiß, wenn es wieder einem Hauptverbrecher gefällt, sich von mir einfangen zu lassen!«

In diesem Augenblicke meldete der Bediente einen herrschaftlichen Jäger, welcher Seine Excellenz zu sprechen wünsche. Auf ein Kopfnicken des Letzteren trat Franz ein und übergab einen Brief, indem er sagte: »Von dem Herrn Baron von Brand.«

Man kann sich denken, wie der Präsident bei dieser Meldung zurückfuhr und daß er mit zitternden Fingern das Couvert abriß. Auch schien ihn die Einlage desselben nicht zu beruhigen; es war ein einfaches Blatt, auf welchem die Worte standen: »Der Baron von Brand gibt sich die Ehre, Seine Excellenz den Herrn Polizeipräsidenten daran zu erinnern, daß er heute Abend erwartet wird und zwar zu einem Whistà trois mit dem todten Mann.«

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Im Hause des Kommerzienrathes Erichsen hatte man in diesen Tagen ebenfalls eine Verlobung gefeiert, nicht so geräuschvoll wie bei Seiner Excellenz dem Kriegsminister, aber darum nicht minder herzlich. Zwar saß die Räthin auch bei dieser Veranlassung steif wie immer in ihrer Sophaecke, doch lag über ihren Zügen eine angenehme Weichheit, ihre Augen blickten freundlich und sie wandte den Kopf häufig nach der rechten Seite, wo Herr Staiger saß, an dem die alte Dame ihr besonderes Wohlgefallen zu finden schien. Der Mann hatte so ein gutes warmes Herz und ein ehrliches Gemüth, das sich bei jedem seiner Worte kund gab; dabei konnte er so angenehm erzählen, und bei dem, was er am heutigen Tage vorbrachte, kam es denn heraus, daß seine Eltern mit denen der Kommerzienräthin vor langen Jahren in einem sehr freundschaftlichen [260] Verhältniß gestanden, was zu vernehmen der Madame Erichsen nicht gerade unlieb war.

Marianne hatte sich der Verlobten ihres Bruders herzlich und innig angenommen und liebte sie schon nach den ersten Tagen ihrer Bekanntschaft wie eine Schwester. Ja, sie hatte der Kommerzienräthin erklärt, da sie selbst keine Kinder habe, so wolle sie sich des guten armen Mädchens annehmen und mache sich ein wahres Vergnügen daraus, derselben eine glänzende Aussteuer zu geben.

Der Kommerzienrath hatte sich wie immer Diner und Champagner wohl schmecken lassen und war glückselig, daß die verdrießlichen Geschichten in seinem Hause sich wieder anfingen aufzuklären und daß er Hoffnung hatte, nächstens wieder ein stilles und harmloses Leben führen zu können. Wenn auch leider alle Bemühungen gescheitert waren, um seine Schwiegertochter Bertha wieder in das Haus ihres Mannes zurück zu bringen, obgleich bis jetzt noch keine Scheidung erfolgt war, so hatte er dagegen einen Brief von seinem Schwiegersohn Herrn Alfons in der Tasche, worin sich dieser an seine Frau wandte, sein Unrecht vollkommen einsah und versprach, bei seiner Rückkunft – er hatte nämlich zu seiner Zerstreuung eine kleine Reise unternommen – so viel in seinen Kräften stände, Alles wieder gut machen zu wollen.

Auch bei diesem Diner fielen Toaste, und als das Dessert aufgesetzt wurde, ergriff sogar die Kommerzienräthin ihr Glas, nachdem sie vorher, diesmal mit beiden Händen, auf den Tisch getrommelt, und brachte die letzten Tropfen ihres Champagnerkelches allen denen zu, welche ihre Nebenmenschen ohne Neid und Mißgunst liebten, die statt gehässig die Fehler Anderer aufzudecken, lieber deren gute Seiten hervorheben, die dabei Freunde der Wahrheit und Feinde jeglicher Verleumdung seien.

Ein Trinkspruch, zu welchem aus vollem Herzen Amen zu sagen auch wir uns gedrängt fühlen und mit uns gewiß der größte Theil unserer verehrlichen Leser.

86. Kapitel
[261] Sechsundachtzigstes Kapitel.
Schluß.

Es ist sehr schwer, von dem Schluß einer Geschichte wie die vorliegende zu sprechen. Eine solche Geschichte schließt sich eigentlich nie ab. Die Wenigen ausgenommen, über deren Lebensende berichten zu müssen wir so unglücklich waren, befinden sich alle Uebrigen in Fülle der Gesundheit, und wenn es unsere Zeit und die Geduld des Lesers erlaubten, so könnten wir aus dem ferneren Leben und Treiben der aufgetretenen Personen noch eine Menge der allerschönsten, zur Mittheilung geeigneten Sklavengeschichten auffinden. Ein Erzähler darf aber nicht gegen die Nachsicht seines Publikums sündigen, und es ist seine Schuldigkeit, so bald er glaubt, er habe sein Mögliches gethan, eine hübsche Gelegenheit zu ergreifen, um sich dem Leser zu empfehlen und sein Buch zu beschließen. Wir glauben dies in keinem passenderen Zeitpunkt thun zu können, als jetzt und wollen nur mit wenigen Worten hinzufügen, was in der nächsten Zukunft sich mit einigen der Personen zugetragen, die in unserer sehr wahrhaftigen Geschichte aufgetreten. Wir können dies um so weniger unterlassen, da hierbei noch ein paar kleine Sklavengeschichten zu Tag kommen, deren Details sich der Leser, wenn er gleiche Verhältnisse bei sich oder Andern sieht, am besten selbst auszumalen im Stande sein wird.

Gewöhnlich folgt auf eine Verlobung die Hochzeit. So war es auch bei dem Grafen Fohrbach und Arthur Erichsen der Fall. Obgleich die Freundschaft dieser Beiden in gleicher Stärke fortdauerte, so hatten sie sich doch in letzter Zeit nicht so häufig gesehen wie früher. Zufällig aber war die Hochzeit beider Paare an demselben Tage, und fast zur gleichen Stunde verließen sie die Stadt, um eine längere Reise anzutreten. Graf Fohrbach zog [262] gen Norden, wo seine Familie weitläufige Güter besaß, Arthur aber nach Italien, nach dem herrlichen Lande, das er schon lange zu sehen gewünscht. Der Abschied Clara's von ihrem Vater war ziemlich schmerzlich gewesen, denn Herr Staiger meinte, bei seinem Alter könne die Trennung von einem halben Jahre wohl zu einer ewigen werden. Doch bestätigte sich diesmal die Vermuthung des alten Herrn nicht, Clara fand ihn vielmehr als sie nach der angegebenen Zeit zurückkehrte, frisch und gesund wieder, obgleich nicht mehr in der Balkengasse, wo sie ihn verlassen. Die Kommerzienräthin hatte nämlich ihren Schützling dem Gemahl dringend empfohlen, und die Folge davon war, daß Herr Staiger auf dem Kassenamt des großen Bankierhauses angestellt wurde, wo er vermöge seiner Ordnungsliebe und Rechtlichkeit die vortrefflichsten Dienste leistete.

Was man so Brautvisiten nennt, hatten Clara und Arthur vor ihrer Abreise nicht gemacht; als sie aber zurückkamen und ihr Haus einrichteten zeigten sie dies ihren Freunden und Bekannten, sowie auch auf den Wunsch der Kommerzienräthin denen des Erichsen'schen Hauses pflichtschuldigst an. Wenn sich aber manche stille Familie mit unversorgten Töchtern, die früher den Herrn Arthur Erichsen sehr hoch gehalten, sowie manche andere, die voll Neid und Mißgunst es der armen Clara nicht verzeihen konnten, daß sie nicht unter dem Schutze irgend einer Rangklasse geboren, von dem jungen Paare zurückzogen, so verursachte ihnen das doch durchaus keinen Kummer. Sie lebten in einem freundlichen und ausgewählten Kreise, und Arthur war Philosoph genug, um über schiefe Blicke und vornehm gerümpfte Nasen herzlich zu lachen.

Um noch einen Augenblick beim Hause des Kommerzienraths zu verweilen, so kehrte Herr Alfons wenige Tage nach der Verheirathung Arthurs von seiner Reise zurück. Doch hatte sich das Verhältniß zu seiner Frau gänzlich verwandelt; das Scepter, [263] welches ihm an jenem Tage entfallen, hatte die kluge Frau ergriffen, und vom unumschränkten Herrn, auf dessen Winke und Stirnerunzeln sie sonst ängstlich Achtung gegeben, war er zum Sklaven herabgesunken, welcher sich den, obgleich nicht unbilligen Wünschen seiner Frau in aller Demuth fügte. Machte er je einmal einen Versuch, seine Ketten zu brechen, so trat die Kommerzienräthin in's Mittel, und wenn sie ihre spitze Nase erhob, ihn mit den grauen Augen scharf anblickte und dazu auf dem Tische zu trommeln begann, so räumte er achselzuckend das Zimmer und begab sich in sein Comptoir, wo ihn dann oftmals der Kommerzienrath zu trösten suchte, indem er sprach: »Glauben Sie mir, es ist weit angenehmer für uns, wenn man die Weiber machen läßt; meine Frau hat mich und die Kinder nun schon an die dreißig Jahre regiert und ich habe mich recht wohl dabei befunden. Uebrigens sind die Metalliques und die Fünfprozentigen gestiegen, was eigentlich doch die Hauptsache ist.«

Die Scheidung des Doktor Erichsen von seiner Frau war unerwartet auf ein Hinderniß gestoßen. Dieses Hinderniß bestand in der Weigerung der Madame Bertha selbst. Wir wissen, daß sie sich zu ihrer Mutter begeben, um sich, wie sie sagte, von ihrem Manne nicht länger wie eine Sklavin behandeln lassen zu müssen. Sie hatte sich ihr elterliches Haus und sich selbst noch ganz so wie früher gedacht, fand aber in Beiden gewaltig viel verändert. Sie konnte es nicht vergessen, daß sie ein Hauswesen gehabt und zwei liebe Kinder, und es noch viel weniger ertragen, daß sie, welche bei sich unbedingt die Erste gewesen, nun bei ihrer Frau Mama die Dritte sein sollte. Wir sagen die Dritte, denn Mama, alt und grämlich geworden, hatte sich bei der Verheirathung ihrer Tochter eine Haushälterin zugelegt, ein großes, sehr dürres Frauenzimmer mit unbeschreiblich scharfer Zunge, welche das Hauswesen und ihre Gebieterin nicht nur beherrschte, sondern sogar tyrannisirte. Madame Bertha war noch nicht vier Wochen da, als sie sich schon [264] unsäglich elend fühlte, denn die Launen der Mutter waren unerträglich, und die dürre Haushälterin schien es sich zur Aufgabe gemacht zu haben, beständig von den Freuden des Ehestandes zu phantasiren, wobei sie versicherte, eine geschiedene Frau sei ein Unding und man wisse gar nicht, zu welcher Klasse der menschlichen Gesellschaft man sie eigentlich zählen solle. Hierauf fing Madame Bertha an, sich ihrem Hause wieder zu nähern, indem sie ihre Kinder häufig aber heimlich sah. Das ließ der Doktor, der es erfuhr, wohl geschehen; auch hätte er sich mit seinem weichen Herzen gern seiner Frau wieder genähert, doch als Arthur abreiste, hatte dieser ihm das Versprechen abgenommen, bis zu dessen Zurückkunft keinen Schritt zu thun, der von der Doktorin als annähernd betrachtet werden könnte, indem er gesagt: »Wenn du zu bald nachgibst, so hast du in einem halben Jahre wieder dieselbe Geschichte.« –

Herr Beil hatte von seinem Freunde Arthur den herzlichsten Abschied genommen, bevor er die Residenz verließ, um dem Auftrag des Herrn von Brand gemäß nach dem Gute der Baronin von W. zu fahren, deren Vermögen er in Zukunft zu verwalten hatte. Vorher überbrachte er aber noch das bewußte Paketchen der Tochter des Präsidenten, die dasselbe im Beisein ihrer Mutter erwartungsvoll öffnete. Es enthielt ein reiches Armband in Brillanten mit der Bitte des Barons, dieses Andenken von einem Freunde zu nehmen, dem leider traurige Verhältnisse nicht erlaubt, der schönen Auguste mehr als dies sein zu können. Fräulein Auguste hatte sich übrigens von dem harten Schlage, der sie betroffen, noch nicht gänzlich wieder erholt. Bei dem gewissen Hofball war die Mutter leider zu besorgt gewesen, die Brautschaft ihrer Tochter allzuvielen Menschen zu verkündigen, und da nun der Präsident, dem Rathe seiner Gemahlin folgend, des Baron Brand nur als solchen gedachte, so sah sich Auguste genöthigt, Kondolationen entgegen zu nehmen, die sich übrigens nicht lange [265] nachher in Gratulationen verwandelten, als sie eine neue Brautschaft antrat, die diesmal ein glücklicheres Ende nahm.

Unmöglich können wir dem geneigten Leser verschweigen, daß es ferner den Bemühungen des Herrn Beil in seinen jetzigen besseren Verhältnissen gelungen war, seinem Freunde, dem ehemaligen Lehrling August, eine erträgliche Stelle zu verschaffen. Obgleich August ein gutes Gemüth hatte und nicht rachgierig war, so gehörte es doch zu seinen besonderen Vergnügungen und er rechnete es fast zu seinen Feiertagen, wenn er einen Bestellzettel oder dergleichen der Firma Johann Christian Blaffer und Compagnie zu überbringen hatte. Dies Geschäft war von zwei jungen Leuten angekauft worden, welche der eingegangenen Bedingung gemäß den ehemaligen Chef der Handlung als letzten Commis beibehalten mußten. Die Gefühle, mit welchen Herr Blaffer an seinem Pulte saß, brauchen wir nicht zu schildern; beinahe wahnsinnig preßte er seine mageren Hände vor die Stirne, wenn August in das Comptoir trat, und er sich nun um so lebhafter der früheren Zeiten erinnerte, seines Lehrlings und des verschwundenen Mädchens, von welchem man übrigens nichts mehr gehört.

Als Graf Fohrbach am Tage seiner Hochzeit die Stadt verließ, geschah dies in einem großen, schweren Reisewagen, auf dessen hinterem Bock der Jäger Franz Karner saß, sowie Henriette, die Kammerjungfer der jungen Gräfin. Da Diener und Dienerin sich erst kürzlich kennen gelernt hatten, so fand zwischen ihnen keine lebhafte Unterhaltung statt. Sie blickte rechts und er links, zuerst auf die Häuser, an denen sie vorbeifuhren, dann auf die Pappeln der Allee und was ihnen sonst noch begegnete. Auf der zweiten Station – der Ort hieß Königshofen – sprang Graf Fohrbach aus dem Wagen und fragte seinen Jäger, der ihm den Schlag öffnete: »Nicht wahr, da hinaus ginget ihr?« Dabei zeigte er auf den Wald, der sich hinter dem Dorfe erhob. – »So ist's, Euer [266] Erlaucht,« erwiderte der Jäger und als er wieder auf seinen hohen Sitz geklettert war, blieb er aufrecht stehen, und starrte lange, lange nach dem Wald hinüber – er hätte gar zu gern die Lichtung noch einmal gesehen. Der Wagen rollte aber unaufhaltsam dahin, und bald legten sich andere Berge und Wälder zwischen ihn und jenen verhängnißvollen Platz. Derselbe ward aber doch Veranlassung, daß Franz mit der Kammerjungfer ein Gespräch anknüpfte. Sein Herz war zu voll, es war ihm ein Bedürfniß, von jenem unglücklichen Morgen sowie von einem gewissen Baron Brand, der hier geendet, mit dem Mädchen zu sprechen. Wie erstaunte er aber, daß diese die Geschichte fast so genau wußte wie er selbst, ja daß sie den Baron Brand zu kennen und die innigste, herzlichste Theilnahme an seinem Schicksal zu nehmen schien! Ein Wort gab das andere, und da Leute, welche auf einem engen Wagensitze so den ganzen Tag mit einander fahren, leicht zu Mittheilungen geneigt sind, so erzählten sie sich Beide noch im Laufe des Nachmittags ihre Schicksale, daß er sowohl Kammerjungfer als Jäger an ein und demselben Morgen dem Grafen Fohrbach empfohlen.

So fuhren sie dahin und es war spät am Nachmittage, als der Wagen vor einem Wirthshause umgespannt wurde, in dem sich ziemlich viele Gäste befanden, welche durch ein Harfenmädchen unterhalten wurden, die mit lauter Stimme allerlei lustige Lieder sang. Als die Künstlerin den Wagen heranrollen hörte, kam sie vor das Haus, fuhr aber plötzlich wieder zurück, als sie das Gesicht der Dame im Wagen gesehen hatte. Doch bemerkte man, wie sie ihre Harfe in das Zimmer hinstellte, und dann dieses sowie das Haus durch eine Hinterthüre verließ. Gleich darauf fühlte Henriette, daß sie Jemand an ihrem Mantel zupfe. Sie wandte sich um und schaute in das lustige Gesicht ihrer ehemaligen Gefährtin, welche ihr lachend die Hand reichte. »Siehst du,« sagte dieselbe, »uns Beiden ist es nach Wunsch gegangen. Du fühlst dich glücklich in den Fesseln deines Dienstes, und ich mich nicht minder mit meiner Harfe in der prächtigen Freiheit.«

[267] Der Jäger war nicht wenig überrascht, Nanette, die er wohl kannte, hier wieder zu sehen, und auch das Mädchen schien sich herzlich über die Begegnung zu freuen. »Es ist auch sonst noch ein Bekannter von uns hier,« flüsterte sie ihm zu, »Mathias, aber er liegt noch immer krank an seiner Wunde darnieder. Freilich geht's ihm besser, doch hat ihn die Nachricht, daß man den Wirth zum Fuchsbau eingesteckt und daß er, den er so sehr geliebt, elend umgekommen sei, wieder auf's Neue sehr darniedergeworfen.«

»Sag' ihm meinen Gruß,« antwortete Franz, »und zu gleicher Zeit, daß die Nachricht von ihm falsch sei. Er ist wohl verschwunden, aber nicht elend umgekommen.«

»Das wird ihn erheitern,« versetzte das Harfenmädchen. »Jetzt aber lebt wohl, eure Pferde sind angespannt.«

»Leb wohl!« sagten Henriette und der Jäger, und Beide drückten der Andern herzlich die Hand. Letzterer ließ seine Geldbörse darin zurück, indem er sagte: »Es ist für Mathias, er soll sich pflegen, und wenn er das Vergangene vergessen kann, so wird es mir vielleicht möglich sein, später mehr für ihn zu thun.«

Dahin flog der Wagen, Jäger und Kammerjungfer sprachen lange nichts mit einander, aber in dem Wirthshaus ertönte gleich darauf wieder lustig wie früher Harfe und Gesang. –

Was nun den Fuchsbau anbelangt, nach dessen finsteren Räumen uns der geneigte Leser schon öfters freundlich begleitet, so wurde er vom Staate angekauft und zu einem Arbeitshause für weibliche Mitglieder der menschlichen Gesellschaft eingerichtet, welche durch bösen Lebenswandel der wachenden Gerechtigkeit Veranlassung gaben, sich um ihr Privatleben zu bekümmern. Leider können wir aber nicht verschweigen, daß sich noch vor Ablauf eines Jahrs, von dem Zeitpunkt an gerechnet, an welchem unsere wahrhaftige Geschichte schließt, einige unserer Bekannten dort ein Rendezvous gaben, und zwar Madame Becker, Madame Wundel und deren Tochter Emilie, leider jedoch nicht zu Kaffee und Punsch, wohl aber zu Wasser und Brod und sehr [268] dünner Erbsensuppe. Das uns wohl bekannte Gemach mit der braunen Decke und den gleichen Holzwänden gehörte zur Wohnung des Aufsehers, doch liebte dieser das Gemach nicht besonders. Er behauptete, es sei unheimlich da, und wenn er bei fest verschlossenen Fenstern und Thüren zuweilen am Kamin sitze, so spüre er hinter sich einen Zugwind, von dem er durchaus nicht ermitteln könne, woher er komme. Deßhalb vermied er endlich die Zimmer, verschloß es am Ende gänzlich und sprach nur achselzuckend davon.

Der Wirth zum Fuchsbau war allerdings eingesteckt worden, auch hatte man ihm für einige Zeit ein wohl verwahrtes Quartier verschafft, ihm aber weiter nichts anhaben können. Herr Scharffer leugnete hartnäckig, beweisen konnte man ihm nur, daß er zweideutige Gesellen beherbergte, auch der Diebshehlerei nicht fremd gewesen, und so kam er mit einem halbjährigen Gefängniß davon. Er verließ dasselbe mit noch stärkerem Backenbart, im Uebrigen aber sehr abgemagert.

Nicht so gut erging es dem Herrn Sträuber. Nach und nach kamen die meisten seiner kleinen Liebhabereien und Phantasien an den Tag. Seine Taschendiebereien und Gelüste nach den Ohrringen wehrloser Kinder hätten ihn aber wohl nur auf ein paar Jahre in's Zuchthaus gebracht; doch wie auf dieser Welt Eins dem Andern folgt, so erschien nach und nach die Korrespondenz, welche er im Auftrag des Meister Schwemmer für den schwunghaft betriebenen Kinder-und Menschenhandel geführt. Darauf wurde das Verhältniß dieser beiden würdigen Herren selbst näher beleuchtet, und Herr Sträuber vermochte es im Laufe der Untersuchung nicht, sich von der Anschuldigung frei zu machen, als habe er in Gemeinschaft mit der Dame Schwemmer, dem natürlichen Laufe vorgreifend, den Ehegemahl der Letzteren früher zu den Freuden und Leiden des Jenseits verholfen. Es war eine Strafanstalt für schwere Verbrecher, welche eine ihrer stillen Zellen dem Herrn Sträuber öffnete. Er mußte den schwarzen Frack und [269] die baumwollenen Handschuhe für immer ablegen, sein vornehmer Anstand und seine feine Bildung verschwanden gänzlich unter dem groben Sträflingsgewand, und da sein hochfliegender Geist sich lange nicht herablassen wollte, die Handgriffe des Wollspinnens zu erfassen, so war die verdrießliche Folge hievon, daß er Dunkelarrest, Hunger und Prügel kennen lernte – sehr unangenehme Zuthaten zum Gefängnißleben.

Mademoiselle Therese hatte bei jener Theatervorstellung, die so traurig für die unglückliche Marie geendet, zum letzten Mal getanzt. Sie war um ihren Abschied eingekommen, hatte ihn auch erhalten und reichte nun dem Herrn Berger ihre Hand. Daß sie den Entschluß, mit ihrem Gemahl ein kleines Stück Sklavenleben aufzuführen, im weitesten Umfange verwirklichte, kann uns der geneigte Leser auf's Wort glauben. Doch schien sich Herr Berger nicht übel dabei zu befinden, wenigstens nahm er körperlich zu und wurde aus einem dürren, grämlichen Manne, ein wohlbeleibter, freundlicher Herr. Therese dagegen blieb sich gleich und behielt ihre schöne Taille.

Die Hochzeit des Paares war wenige Tage, nachdem Arthur abgereist, mit außerordentlichem Glanze gefeiert worden. Die Tänzerin hatte befohlen, daß eine Deputation ihrer ehemaligen Kolleginnen dabei sein müsse, vor allen Dingen aber Schwindelmann, Herr Hammer, Richard und Schellinger. Fritz, der Theaterfriseur, war nicht so glücklich gewesen, eine Einladung zu bekommen, hatte es aber doch nicht unterlassen, das Haar der schönen Braut, wohl zum letzten Mal, wie er seufzend gesagt, an ihrem Hochzeitstage zu ordnen. Daß Therese in ihrem weißen Atlaskleide den Spitzenschleier im grünen Myrthenkranz, wie eine Fürstin aussah, versteht sich von selbst. Herr Berger hörte auch mit Wohlgefallen, wie man ihre prächtige Gestalt bewunderte und ihn glücklich pries. Auch der Hochzeitsschmaus ging sehr lustig vorüber, und unter allen Anwesenden sah man nur zwei Gesichter mit trüben Mienen. [270] Das waren Richard und Schwindelmann; Letzterer versicherte fast weinend, man könne es gar nicht glauben, wie ihm jetzt sein Geschäft verleidet werde. »Die Clara fort, die arme Marie nicht mehr da, und jetzt auch noch Mademoiselle Therese, die uns verläßt! Es ist Alles aus,« seufzte er, »nichts mehr bei dem Ballet; solche, wie diese drei kommen nicht wieder!« Dabei sprach er die Absicht aus, sich nächstens zur Stelle des Anführers der Statisten zu melden, indem er meinte: »Die wechseln ohnedies jeden Tag und da hängt man doch sein Herz an gar nichts.« Was Richard anbelangte, so konnte man ihn eigentlich nicht zu den Hochzeitsgästen rechnen, denn er kam nur auf wenige Augenblicke, um der Braut zu gratuliren und sich dann, wohl für immer, von ihr und den andern Freunden zu verabschieden. Er hatte seine Stelle beim Theater aufgegeben und war im Begriff, nach Amerika auszuwandern. »Hier thut sich's nicht mehr,« sagte er zu Therese, »und wenn ich das Theater nur von außen ansehe, so drückt es mir die Brust zusammen und zerbricht mir fast das Herz.« Es war mit dem schönen und kräftigen Mann seit jener Zeit eine große Veränderung vorgegangen. Seine glänzenden Augen waren eingefallen, seine sonst so blühenden Wangen blaß geworden, und er, der sonst so rührig war wie Keiner, konnte nun stundenlang in irgend eine Ecke starren, an seiner Unterlippe nagend. Er drückte der schönen Braut herzlich die Hand, sprach einige Worte mit dem alten Herrn Hammer und winkte alsdann Schwindelmann und Schellinger, die sich für eine kleine halbe Stunde entschuldigten und dann mit ihm fortgingen.

Es war in später Nachmittagsstunde, und die Drei schritten neben einander durch die Straßen dahin, Richard aufrecht in der Mitte, zu seiner Rechten Schwindelmann, der besonders wehmüthig gestimmt war und von Zeit zu Zeit heftig schluckte, zu seiner Linken der Garderobe-Gehilfe, welcher den Oberkörper vornüber hielt und seiner Gewohnheit gemäß die Hände auf dem Rücken [271] hatte. Schweigend gingen sie so mit einander fort, durch eine Straße um die andere, endlich durch das Thor, bis sie einige hundert Schritte vor demselben an ein eisernes Gitter kamen, durch welches man allerlei Kreuze und Steine blinken sah. »Folgt mir nur,« sagte Richard mit leiser Stimme, »ich weiß schon, wo sie liegt.« Damit schritten sie über die Gräber dahin und kamen endlich an einen kleinen Hügel, auf welchem ein einfaches Kreuz stand, über das ein frischer Immergrünkranz hing. Hier blieben alle Drei mit gefalteten Händen stehen, der alte Schellinger zog die Augenbrauen in die Höhe und bemühte sich, seine Wehmuth zu verbergen, während dem weicheren Schwindelmann die Thränen über die Wangen herabtropften. Der Himmel war den ganzen Tag mit finstern Wolken bedeckt gewesen, die sich jetzt eben am Horizont ein wenig erhoben und der glühenden Abendsonne erlaubten, einen letzten glänzenden Blick auf das einsame Grab zu werfen. Dabei erhob sich ein leichter Wind, der Kranz von Immergrün rauschte. – – »Amen!« sprach Richard. Dann bückte er sich nieder, brach ein paar Zweige Immergrün ab und nahm eine Hand voll Erde von dem Grabe. »Das soll man mir später einmal in das letzte Kopfkissen nähen,« sagte er dann.

Schwindelmann wischte sich die Augen, und als sich die Drei zum Weggehen anschickten, zeigte er auf ein eingesunkenes Grab, nicht weit von dem anderen und sagte: »Dort liegt die arme Nähterin, wißt ihr, dieselbe, der ihr damals geholfen, ihr Kind wieder zu verschaffen.«

»Wo?« fragte der Zimmermann.

»Hier, Richard.«

Da war kein Kreuz zu sehen, nur ein kaum bemerklicher Erdhügel ohne Blumen, selbst ohne Gras.

»Wo ist denn das Kind geblieben?« fragte Richard nach einer Pause.

»O es ist gut versorgt worden,« entgegnete Schwindelmann. [272] »Herr Arthur Erichsen hat sich seiner angenommen und es geht ihm ganz vortrefflich.«

Bei diesen Worten zuckte ein gewaltiger Schmerz auf dem Gesichte Richards, und er sprach mit dumpfer Stimme: »Die Marie hat mir einmal erzählt, daß jene Nähterin ihr gesagt: Wenn du einmal glücklich verheirathet bist und du siehst mein armes Kind an einer Ecke stehen, so schenke ihm ein Almosen. – O Gott! und nun liegen Beide hier!«

Schweigend, wie sie gekommen, schritten die Drei wieder nach der Stadt zurück, durch die dunkeln Straßen bis an den Gasthof, wo die Hochzeit gehalten wurde. Hier war es glänzend erleuchtet, und lustige Tanzmusik schallte in die Nacht hinaus.

»Ich mag nicht mehr hinauf gehen,« meinte Richard; »sagt meinem Vater, daß ich ihn zu Haus erwarte. Euch seh' ich auch wohl noch. Um elf Uhr fährt der Wagen ab, und bis dahin wird die Geschichte oben fertig sein.« Er reichte Beiden eine Hand, und schritt alsdann, ohne sich umzusehen, nach Hause.


* *


[273] *

Die freundlichen Leser einer längeren Geschichte wie die vorliegende sind den Theilnehmern an einer Landpartie zu vergleichen. Beim ersten Grauen des Morgens, sobald man die Thore der Stadt hinter sich hat, hier beim Anfang des ersten Kapitels, ist die Schaar der Lustwandelnden dicht geschlossen; wohlgeordnet und emsig geht es fort über Berg und Thal, Sonnenschein oder Regen entgegen, und wie dort das lachende, muntere Völkchen über die heiße Chaussee dahinzieht oder durch den Schatten des Waldes, so laufen hier emsig die blitzenden Augen über die Blätter des Buchs, durch die Linien frisch und wohlgemuth. Bei manchem der da draußen Wandelnden ebenso wie bei den Lesern ist indessen der Reiz der Neuheit bald vorbei; sie blicken seufzend auf den Weg, den sie noch zurückzulegen haben, und die bunten Bilder, die sich vor ihnen aufrollen, sind ihnen schon entleidet. Diesem ist die Fläche, die er durchwandern muß, zu einförmig, Jenem zu abwechselnd; dem Einen scheint die Sonne zu hell, der Andere ärgert sich über die finsteren Wolken, die am Horizont emporsteigen, auch gefallen ihm nicht die Gesichter, die ihm begegnen, oder die Kleidung der Leute, denen sie angehören; bald scheinen sie ihm zu geputzt, zu geziert, bald gar zu sehr bedeckt mit dem Schmutze dieses Lebens. Unmuthig seufzt der Spaziergänger auf der staubigen Straße und der Leser mit dem Buche in der Hand. Er findet Kameraden, die wie er denken und die sich stillschweigend verbinden, langsam zurückzubleiben. Manche werden schon nach den ersten Kapiteln zu Marodeurs, Andere bei der ersten Rast, hier am Schluß des ersten Bandes. Die Zurückbleibenden folgen nicht mehr dem Winke des Voranmarschirenden, sie lagern hier und dort an der Straße, und da böses Beispiel ansteckend ist, so werden der Marodeurs immer mehrere, je mehr man sich dem Ziel der Reise nähert. Viele gehen nicht weiter als bis zum Schluß des zweiten Bandes, Andere schauen noch in den dritten hinein; da aber der Anfang desselben nicht ganz ihren Erwartungen entspricht, [274] so schlagen sie ihn ungeduldig zu und wenden sich mißmuthig ab. Wenige halten aus bis zum Schluß; diese Wenigen aber sind die Freunde des Führers, und wenn er sich am Ziele angekommen nun ebenfalls ausruhend niederläßt und zurückblickt auf den Weg, den er durchlaufen, so belobt er die freundlich, die fest bei ihm ausgehalten, und entschuldigt den langen Marsch, den er ihnen zugemuthet, indem er ihnen sagt: wenn derselbe auch vielleicht nicht so ganz nach ihren Wünschen ausgefallen sei, so habe doch gewiß Jeder etwas gefunden, was sein Herz erfreut, sei es nun ein glänzender Stein, eine bunte Blume, ein Blick in den düstern Wald oder auf ein offenes, von der Sonne beschienenes Thal. Dabei bedankt er sich für gütige Theilnahme und versichert, wenn er nächstens wieder einen Spaziergang vorschlage, so wolle er sich nach besten Kräften bemühen, eine schönere Gegend zu finden, einen angenehmeren Pfad mit noch mehr Abwechslungen, durch Wärme, Kälte, Sonne, Regen, Staub, Nässe, Licht und Schatten – eine wahre Musterkarte, auf der jeder sich aussuchen könne, was ihm gerade am meisten behage oder was am besten für ihn passe. Und das sind auch für diesmal meine letzten Worte an Dich, freundlicher und wohlgeneigter Leser!

[275]

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TextGrid Repository (2012). Hackländer, Friedrich Wilhelm von. Roman. Europäisches Sklavenleben. Europäisches Sklavenleben. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-270D-2