Karl Gutzkow
Die Ritter vom Geiste

[5] Vorwort

Es wird eine lange, weite Wanderung werden, lieber Leser, zu der ich Dich auffodere! Rüste Dich mit Geduld, mit geschäftlosen Sonntagsvormittagen und einem guten aushaltenden Gedächtniß! Vergiß mir nicht morgen, was ich Dir heute erzählt habe! Werde nicht müde, wenn Du unabsehbare Ebenen erblickst, sich der Weg zwischen gefahrvolle, nicht endende Gebirgspässe zwängt oder die Landstraße plötzlich sich wie in die Wolken zu verlieren scheint!

Was Du Alles auf dieser Wanderung wirst zu sehen bekommen, die Landschaft und die Dir begegnenden Menschen, ihr Werth, ihr Charakter, ihre Wahrheit .... da sieh zu, wie Dein Geschmack mit ihnen fertig wird! Ich bitte um Schonung; aber wenn sie mir von Deiner Strenge verweigert wird, muß ich mir's schon gefallen lassen. Nur über die lange Dauer dieser Wanderung, über das weitentrückte, sozusagen atlantische Ziel, über den großen, großen Proviant von Zeit und Geduld, den ich beanspruche, muß ich Dich bitten, mir ein entschuldigendes Vorwort zu erlauben.

[5] Thu' mir nicht von vorn herein das Unrecht an und sage: Ich hätte in meinem über das übliche deutsche Maß hinausgehenden Werke die Franzosen nachahmen wollen! Der »ewige Jude«, die »Geheimnisse von Paris« sind deshalb geschrieben worden, weil in einer Zeit, wo Alles spricht, Menschen, die geneigt sind zuzuhören, eine Eroberung sind. Diese glücklichen Zeitungseroberer von Paris haben ihre Beute nicht wieder wollen fahren lassen und führten deshalb den Stil ein, den sie von den Taschenspielern auf Jahrmärkten borgten, die ihre Productionen von heute immer mit einer Ankündigung auf morgen schließen. Die Feuilleton-Romane, wie man sie drüben überm Rheine nennt, oder die Fortsetzung-folgt-Romane, wie man sie nennen sollte, sind nur für große Kinder geschrieben, zu denen man sagt: Heute war's gewiß schön, morgen wird's aber doch noch viel schöner werden!

Also Das nicht, lieber Leser! Ich wollte wol, unser strenges Publicum ahmte dem französischen an gutem Willen beim Hören und Hinnehmen nach, aber ich selbst bin nur deshalb so lang geworden, weil ich beim besten Willen nicht kurz sein konnte. Sollen wir zurückgezogenen einflußlosen Schriftsteller, die wir doch auch gewohnt sind, den Samen reeller Thatsachen von den Blüten der Erscheinung abzustreifen und in unserer Art auch Etwas für die Geschichte zu thun, die Gründlichkeit nur der Paulskirche und den Protokollen unserer Ständekammern, Interims- und Verwaltungsräthe überlassen? Schlimm genug, daß man so ernst, so nachdrücklich, so systematisch [6] mit unserer Zeit sprechen muß! Anekdoten thun's nicht mehr. Was ist Euch Boccaccio? Eine bunte Federflocke vom classischen Wind bewegt! Es finden sich ihrer allerdings genug, die der Zeit entrinnen wollen und lieber einer vom classischen Wind bewegten bunten Federflocke nachirren, als dem Jahrhundert, das sie hassen; allein mit diesen mag ich nicht reden. Ich will es mit Denen, die ihrer Zeit vertrauen, Hoffnungen auf sie setzen und die da sagen: Eine Nacht, um ein zweckloses Märchen zu hören, die hab' ich nicht, aber tausend und eine Nacht, die hätt' ich und schenke sie Dem, der sie im Scherze lehrend auszufüllen versteht!

Wohlan denn, Du wunderlicher Heiliger, ich halte Dich beim Wort! Ich sage Dir im Vertrauen, daß eine Nacht und ein Mährchen mich selbst, den Erzähler, nicht befriedigen würden. Und erzählt' ich Dir das sinnigste und Arabiens würdigste Mährchen, ich selbst würde in unsern sternenlosen Nächten dessen nicht froh, und wo dem Schöpfer nicht wohl wurde bei einem Werke, da kann's dem Beschauer ewig nur weh sein. Schönheit ist ja Ruhe; Ruhe des Gemüths quillt in den Betrachter vom befriedigten Schöpfer, und der Schöpfer, der hier dies vielleicht übervoll aufgeschossene Werk Dir vorlegt, diesen endlos scheinenden Park mit Seen und Brücken und Wasserfällen, gesteht aufrichtig, daß er jenen einzigen Wassertropfen, der jetzt die ganze Welt abspiegelte, nicht hat finden können. Er weiß wohl, es gibt Dichter, die mit einem Wassertropfen die Welt abspiegeln; und noch mehr solche, die [7] glauben, diesen Wassertropfen zu besitzen. Er ging auch hinaus vor's Thor und nahm von der Flur einen Thautropfen, der glänzte in der Sonne – grün – aber die Welt ist blau. Ein anderer glänzte blau – aber die Welt ist roth. Ein dritter glänzte gelb und grün, und die Welt schillert jetzt in allen Farben. Es ist nichts mehr mit dem Thautropfen, dachte er. Es muß mehr sein und etwas Anderes, wenn auch noch keine Douche und noch kein Regenbad.

Macht ihr Geschichte, dachte er, wir wollen Romane schreiben.

Er dachte an die Geschichtsmacher von heute, die aus dem Staube der Ruinen neue Tempel bauen wollen. Er dachte an die Flicker und Leimer, in deren Hände die Organisationen gerathen sind, und die uns nachgerade die Lust genommen haben, nur nothdürftig auf ihre Bauplätze zu blicken, mögen sie nun in Paris, Rom, Wien, Berlin oder in Gotha und Erfurt liegen. Baut ihr und flickt an den alten Welten, wir wollen neue bauen, wenigstens in der Idee. Jeder große Münster hat anfangs sein kleines Modell. Die alten Erbauer, wenn sie ein Denkmal bekamen, trugen diese kleinen Modelle in der Hand; diese mochten nicht schwerer wiegen als so ein Roman von mehr Bänden als üblich, ein Roman in dem neuen Stil, der in der That architektonisch ist, sehr mislich nachzuahmen, und auf den uns Professor Gervinus zu seinem Ärger doch noch ein literarhistorisches Patent geben soll.

Denn ich glaube wirklich, daß der Roman eine neue Phase erlebt. Er soll in der That mehr werden, als der [8] Roman von früher war. Der Roman von früher, ich spreche nicht verächtlich, sondern bewundernd, stellte das Nacheinander kunstvoll verschlungener Begebenheiten dar. Diese prächtigen Romane mit ihrer classischen Unglaubwürdigkeit! Diese herrlichen, farbenreichen Gebilde des Falschen, Unmöglichen, willkürlich Vorausgesetzten! Oder wer sagte Euch denn, ihr großen Meister des alten Romanes, daß die im Durchschnitt erstaunlich harmlose Menschenexistenz gerade auf einem Punkte soviel Effecte der Unterhaltung sammelt, daß ohne Lüge, ohne willkürliche Voraussetzung, sich alle Bedingungen zu Eurem einzigen behandelten kleinen Stoffe zuspitzen konnten? Die seltenen Fälle eines drastischen Nacheinanders greift das Drama auf. Sonst aber – lebenslange Strecken liegen zwischen einer That und ihren Folgen! Wieviel drängt sich nicht zwischen einem Schicksal hier und einem Schicksal dort! Und Ihr verbandet es doch? Und was dazwischen lag, Das warft Ihr sorglos bei Seite? Der alte Roman that Das. Er konnte nichts von Dem brauchen, was zwischen sei nen willkürlichen Motiven in der Mitte liegt. Und doch liegt das Leben dazwischen, die ganze Zeit, die ganze Wahrheit, die ganze Wirklichkeit, die Widerspiegelung, die Reflexion aller Lichtstrahlen des Lebens, kurz Das, was einen Roman, wenn er eine Wahrheit aufstellte, fast immer sogleich widerlegte und nur eine Thatsache gelten, siegen ließ, die alte Wahrheit von der – unwahren, erträumten Romanenwelt!

Der neue Roman ist der Roman des Nebeneinanders. [9] Da liegt die ganze Welt! Da ist die Zeit wie ein ausgespanntes Tuch! Da begegnen sich Könige und Bettler! Die Menschen, die zu der erzählten Geschichte gehören, und die, die ihr nur eine widerstrahlte Beleuchtung geben. Der Stumme redet nun auch, der Abwesende spielt nun auch mit. Das, was der Dichter sagen, schildern will, ist oft nur Das, was zwischen zweien seiner Schilderungen als ein Drittes, dem Hörer Fühlbares, in Gott Ruhendes, in der Mitte liegt. Nun fällt die Willkür der Erfindung fort. Kein Abschnitt des Lebens mehr, der ganze runde, volle Kreis liegt vor uns; der Dichter baut eine Welt und stellt seine Beleuchtung der der Wirklichkeit gegenüber. Er sieht aus der Perspective des in den Lüften schwebenden Adlers herab. Da ist ein endloser Teppich ausgebreitet, eine Weltanschauung, neu, eigenthümlich, leider polemisch. Thron und Hütte, Markt und Wald sind zusammengerückt. Resultat: Durch diese Behandlung kann die Menschheit aus der Poesie wieder den Glauben und das Vertrauen schöpfen, daß auch die moralisch umgestaltete Erde von einem und demselben Geiste doch noch könne göttlich regiert werden.

Ein solcher Versuch, die zerstreuten Lichtstrahlen des Lebens in einen Brennpunkt zu sammeln, ist die Geschichte, die ich Dir, lieber Leser, hier aufgerollt habe. Sie ist in den Thatsachen und dem sozusagen allegorischen Rahmen nicht neu, aber neu in der Verknüpfung. Kurz konnte sie ihrer Natur nach nicht werden, denn um [10] Millionen zu schildern, müssen sich wenigstens hundert Menschen vor Deinen Augen vorüberdrängen. Denke nur immer, daß der Zweck und die Aufgabe so lautet:

Die Missionaire der Freiheit und des Glaubens an die Zeit sind es ihren Gemeinden schuldig, ihnen zu zeigen, wie die ganze Fülle des Lebens von ihrem neuen Lichte beschienen sein kann und wie es sich noch mit den alten Lungen athmen lasse, überall, in jedem Winkel Gottes, den der neue Luftzug der Idee, der Pfingstzeit neues Windeswehen bestreicht. Die äußere Welt ist durch Künstlerhand allein nicht zu ändern. Laßt vorläufig unsere Minister und die Soldaten dafür sorgen! Aber die innere Welt, die, welche Jeder in seiner Brust trägt, die kann schon eine umfassende, in allen Höhen und Tiefen des Lebens aus einem Gesichtspunkte betrachtete und eine festbegründete sein. Diese Allseitigkeit war mein Ziel. Ich sage nicht, daß ich ein Panorama unserer Zeit geben wollte. Wer vermöchte Das? Die Aufgabe wäre nicht zu lösen, und anmaßend erklänge es, wollte sich ihrer Jemand anheischig machen. Aber ein gutes Stück von dieser unserer alten und neuen Welt sollte aufgerollt werden, eins, gerade groß genug, um ein Menschenleben zu ermuntern, daß es nicht verzage, sondern getrost in dem einen Geiste der Freiheit und Hoffnung fortwandle und sich die laufenden, tagesüblichen Bedrängnisse der innern Überzeugung nicht zu sehr verdrießen lasse.

Laß Dich denn also von mir, lieber Leser, in diesen Blättern einspinnen, wie der werdende Schmetterling sich in [11] den Cocon spinnt, wo er Blatt und Baum, auf dem er hülflos kroch, preisgibt und sich wie in dem Vortraum seines neuen Lichtlebens begräbt. Die Kunstrichter mögen richten; die voreilige Kritik mag Dir die Lust nehmen wollen, dem Erzähler zu folgen; achte ihrer nicht und bleibe treu dem Dich einhüllenden Gespinnst, bis dem weitern Verlaufe zu die Hülle bricht, und in anschauender Prüfung meiner Absicht auch Dein Geist mit bunten Hoffnungen und heitern Glaubensschwingen in jene Gemeinschaft der Getreuen und Vesten, der Ritter vom Geiste, aufsteigt, von deren Schicksalen diese Blätter erzählen.

Dresden, am Pfingsttage 1850.

Karl Gutzkow. [12]

Erstes Buch

1. Capitel. Das Kreuz und das Kleeblatt
Erstes Capitel
Das Kreuz und das Kleeblatt

An einem heißen Sommernachmittage saß ein junger Mann, von summenden Käfern umschwärmt, das Haupt auf eine über die Knie ausgebreitete Mappe beugend, vor einer einfachen ländlichen Dorfkirche, um sie zu zeichnen. Die Formen des bescheidenen und doch ehrwürdigen Gebäudes wiesen auf einen ziemlich alten Ursprung hin. Leicht und schlank sprang der spitze Thurm in die blaue Ätherhöhe. Die alten grüngerosteten Glocken hingen in Öffnungen, deren Ränder ein zierlich geschweiftes steinernes Blätterwerk schmückte, willkommener Schlupfwinkel für ein Heer von Spatzen, das den Thurm lärmend umschwirrte. Das Schiff wölbte sich mit hervorspringenden Fensternischen mehr rund als länglich um den Glockenthurm, dessen Portal ein großes, halb in das Mauerwerk eingebrochenes Kreuz zierte. Dieser einfache Bau, umgrenzt von grünen Haselnußhecken und gehütet gleichsam von zwei alten Lindenbäumen vor der Eingangspforte, schnitt sich an dem duftreinen Horizont so gefällig, so lieblich ab, daß man dem jungen, über seiner Arbeit träumenden Künstler nicht verargen konnte, sich [15] daraus für sein Skizzenbuch allein schon eine Erinnerung zu erhalten. Aber der alterthümliche Reiz dieser Scene wurde noch durch die Trümmer eines Gebäudes erhöht, das einst dicht an der Kirche mit ihr fast verbunden mußte gestanden haben. Noch waren einzelne verwitterte Mauern hier und da übrig geblieben und nun auf löbliche Weise zum Umbau des Friedhofs verwendet. Überall, wo eins der alten Trümmer aufhörte, begann in der Umzäunung des stillen Ruheplatzes immer ein einfacher, freilich etwas zerfallener Bretterzaun, bis diesen wieder ein morsches Stück alter Mauer mit noch halb erhaltenen Fenstern ablöste, deren Trümmer sich in das innere lauschige Gezweig von weißen, würzig duftenden Fliederbäumen, die sie überschatteten, verloren. Kirche und Friedhof lagen auf einer mäßigen, grasbewachsenen, mit weißen Sternblümchen wie bestreuten Anhöhe, die eine Fernsicht auf diejenige große und berühmte deutsche Hauptstadt erlaubte, welche der Schauplatz der nachfolgenden Mittheilungen sein wird.

Der junge Maler war nach einfachem Mittagsmahle auf dies bescheidene Dörfchen – es hieß Tempelheide – von der großen lärmenden Stadt hinausgewandert, hatte sich, rings den Hügel musternd, die günstigste Stelle für seinen Plan auserlesen, und zeichnete die Kirche und den Friedhof aus einem Interesse, das nicht blos ein künstlerisches genannt werden konnte. Er wußte nämlich, daß diese Trümmer Reste eines alten Tempelhofs waren. Das große Kreuz über der Kirche, in eigenthümlicher Form, bewies, [16] daß einst die Tempelritter, die hier gewohnt hatten, auch die Gründer und Erbauer dieser Kirche waren. In seinen Jugenderinnerungen selbst an ein altes Templerhaus, die Zierde seiner im Harz gelegenen Vaterstadt, vielfach gemüthlich verwiesen, nahm er um so lebendigeres Interesse an diesen ehrwürdigen historischen Resten, als ihm auch sein erstes Probestück beim Eintritt in die große Genossenschaft der sozusagen losgesprochenen Künstler, Jakob Molay's Feuertod, so brav gelungen war, daß er schon jetzt zu den sichersten Hoffnungen der neuern Malerkunst gerechnet werden konnte. Dankbarkeit auch gegen den glücklichen Gegenstand seines Bildes, den Märtyrertod der alten französischen Tempelherren, hatte ihn hierher nach dem Dörfchen Tempelheide geführt, wo auch einst Tempelherren gehaust, auch einst Tempelherren jene Kirche und das Profeßhaus gebaut hatten, von dem noch jene malerischen in den Friedhof verlorenen Trümmer hinterblieben waren.

Wie Siegbert Wildungen – so hieß unser junger Maler – auf einem Stein unter einer Brombeerhecke längst Platz genommen hatte und im nothdürftigen Schatten des stachlichten Gebüsches endlich einmal auch seinen breitrandigen Calabreser lüftete, um die blonden lockig fallenden Haare von der erhitzten Stirn zurückzustreichen, bemerkte er plötzlich, daß er nicht allein war. Aus dem gelben Kornfelde, das die Öffnung zwischen dem Hügel und dem Aufgang zu einem nahegelegenen herrschaftlichen Parke ausfüllte, erhob sich, gähnend und wie nach [17] gehaltener Mittagsruhe sich reckend, eine Gestalt, die weder oben dem herrschaftlichen Wohnhause, noch unten dem Dorfe anzugehören schien. Es war, so weit man sie im Liegen beurtheilen konnte, eine lange hagere Figur im leichten Sommerrock wie Siegbert, aber die Pantalons verwaschen, an den Knieen hervorstehend, das Hemd zerknittert, die Halsbinde weggeworfen und die Weste fast zu kurz und wie verschnitten. Die seltsame Gestalt, die sich aus dem Korn, in dem sie geschlafen hatte, herauswand, war jung und wie es schien verwöhnt bequem. Der Mittagsschläfer gähnte mit mehr Behaglichkeit, als er würde empfunden haben, wenn ihn der Bauer, dem das Kornfeld gehören mochte, in der Verwüstung seines Eigenthums betroffen hätte. Wie er den Maler entdeckte, stützte er, wieder lang sich hinwerfend, den Kopf auf den Arm und schickte sich an, in größter Ruhe seinen Nachbar keck zu beobachten. Die rechte Hand steckte er dabei behaglich in die Seitentasche seiner Pantalons; die linke kratzte sich die Ähren aus dem etwas röthlich kurzgeschorenen Haar. Statt den Maler anzureden, pfiff er sich eine Melodie, die nicht zu den gewöhnlichen gehörte und Bekanntschaft mit den Modeopern verrieth. Siegbert Wildungen war der neuesten Opern sicher unkundiger, als jener bequeme und in seinen Blicken fast zudringliche dreiste Gesell.

Während Siegbert in seiner Zeichnung fortfuhr und das Zifferblatt des Thurmes bald den vollen Schlag der fünften Stunde voraus anzeigte, hörte man einen Wagen in der [18] Nähe. Eine herrschaftliche Kutsche fuhr von der Allee, die zur Stadt führte, die Anhöhe herauf und hielt vor dem Eingangsportal des in Siegbert's Rücken liegenden herrschaftlichen Gartens. Er hatte des geschmacklosen kleinen Schlosses, das dem Besitzer von Tempelheide zu gehören schien, anfangs wenig Acht gehabt. Der Park, der es einschloß, schien ihm von vielem Nadelholze fast zu düster; nur ein sonderbares Etablissement am Rand desselben oberhalb des Kornfeldes hatte ihm ein Lächeln abgelockt. Es war ein großer hölzerner Regenschirm oder ein Riesenpilz, dessen Dach eine unter ihm gedeckte kleine Mittagstafel vor der Sonne schützte. Der Besitzer des Schlosses nennt unstreitig diesen Regenschirm oder Pilz seinen chinesischen Pavillon, hatte er sich gedacht und dabei eingestanden, daß ein Abendimbiß in dieser freien Luft, beim würzigen Hauche der düstern Tannen des Parkes, dem Dufte des weißen Flieders und der Linden von der Kirche her, bei alledem höchst erfreulich und ländlich-anmuthig sein konnte. Sein Nachbar schielte schon lange von Zeit zu Zeit nach dem Pavillon hinauf und dem weißen gedeckten Tische und den Gläsern und Tellern, dem Silberzeuge, den Messern und Gabeln, und sein Schweigen brechend, rief er, auf die dreißig Schritte, die er von der Brombeerhecke etwa entfernt war, in gutem geschultem Deutsch, die satirischen, auf die Kutsche bezüglichen Worte hinüber:

In der alten Carrête da haben sie gewiß schon Ziethen aus dem Busch begraben.

[19] Siegbert Wildungen verstand ganz gut, daß die »Carrête« die eben angefahrene Kutsche sein sollte, blickte aber nicht hin. An ihrem Gepolter schon hörte er, daß sie baufällig und altmodisch sein mußte. Sie aber auf den alten Ziethen »aus dem Busch« zurückzuführen, das war eine Landesanschauung, die ihm, obgleich er demselben Staate angehörte, nicht gleich ganz geläufig war. Er beantwortete die Bemerkung nicht.

Nach einer Pause lachte der junge Rothhaarige wieder hell auf und sagte:

O Je! O Je! Die alten Schindmähren hat schon Methusalem gefahren.

Siegbert Wildungen fühlte sich vom Ton des Sprechers und noch mehr von seiner Absicht, ein Gespräch anzuknüpfen, nicht eben angenehm berührt und antwortete wieder nur durch ein leichtes Aufblicken. Es schien ihm so unwürdig, sich gleichsam auf Geheiß eines solchen Menschen umwenden zu sollen und seine selbstgenügsamen Witze beifällig zu bestätigen. Dennoch regte ihn unwillkürlich die Vorstellung von Pferden, die schon Methusalem gefahren hätte, an, und es half nichts, er mußte nun über seine Mappe hin wenigstens zu dem Gesellen im Kornfelde einmal hinüberlugen. Als dieser mit spähendem Auge das erwachende Interesse des Malers bemerkte, fuhr er, wie dadurch ermuthigt, fort:

Fallen Sie nicht, Excellenz! Immer langsam voran, altes schweinsledernes Porcus Juris! So! Kommen Sie zum Handkuß bei Ew. Gnaden, Phylax und Sultan? Kätzchen [20] darf auch guten Tag sagen? Miau! Miau! Und der schwarze Spitzbub, der Rabe, hui! was der ihm wol ins Ohr geplauscht hat von Galgen und Rad! Ein Compliment von Kühnapfel und Tschech? Nicht wahr, Du alter Küster vom Rabenstein! Jetzt wird wol gefrühstückt? Laßt's Euch gut schmecken! Prosit die Mahlzeit!

Während dieser sonderbaren, mit scharfem maliziösen Ton vorgetragenen Worte schnarrte die alte Thurmuhr Fünf. Siegbert konnte jetzt nicht umhin, sich völlig umzuwenden und sich die Scene anzusehen, die ihm ebenso barock geschildert worden war.

Die mehrerwähnte Kutsche fuhr eben am Gartenstackete entlang, um in die entfernter liegende Hofthür einzulenken. Im Garten und vor dem Schlosse sah er Niemand mehr.

Schade, daß Sie zu spät kamen, sagte Siegbert's immer zutraulicher werdende Bekanntschaft.

Wer stieg denn aus? fragte Siegbert nach einer Weile mit einem ruhigen und sanften Tone.

Der, dem das Schloß da gehört, antwortete der Fremde, kennen Sie ihn nicht?

Gibt's vielleicht einen Herrn von Tempelheide? bemerkte Siegbert.

Tempelheide? Das nicht! Da wohnt der alte von Harder im Sommer.

Wer ist der alte von Harder? fragte Siegbert, ohne in seiner Arbeit aufzuhören.

Es gibt zwei Excellenzen von Harder. Eine junge und [21] eine alte. Also die Excellenzen von Harder kennen Sie nicht? Da sind Sie fremd. Die junge Excellenz verwaltet die königlichen Gärten, wie Erzengel Michael das Paradies, aber blos mit der Gießkanne und dem Rechen in der Hand. Der Alte aber trägt's Schwert und die bekannte Wiegeschale. Der ist bei uns Gottes wirklicher Stellvertreter auf Erden, wenigstens was die zeitliche Gerechtigkeit anbetrifft.

Also wol der Justizminister?

Beinahe, aber noch mehr! Es ist der Präsident des Obertribunals! Neunzig Jahr alt! Halbblind, wie's Madame Themis verlangt, wackelig wie ihr Wiegebalken. Die Der schon alle hat köpfen lassen, die würden drüben nicht auf den Kirchhof hin können! Ein Todesurteil bestätigen, ist ihm wie 'ne Prise Schnupftaback nehmen. Die Leute haben großen Respect vor ihm; mir kommt er aber kindisch vor. Man muß ihn nur sehen, wenn er mit Hunden und Katzen, besonders aber, wenn er mit einem gewissen Raben spricht.

Wer neunzig Jahr alt geworden ist unter den Schlechtigkeiten der Menschen, bemerkte Siegbert, doch angezogen von der abgerissenen Rede des Nachbars, Dem ist nicht zu verdenken, daß er uns vernünftige Zweibeine längst satt hat und sich mit den unvernünftigen Thieren unterhält. Thut er denn Das?

Der Nachmittagsschläfer pfiff sich statt der Antwort ein Lied, reinigte seinen Hut und band die Halsbinde um, dann sagte er, als hätte er die Frage erst überlegt:

[22] Schlechtigkeiten? Schlechtigkeiten ist manchmal so – so – bei der Handthiererei, dem Rechtsverdrehen.

Er sang dann weiter.

Nach einer kleinen Pause, die nun auf die letzten mit großer Bitterkeit gesprochenen Worte auch Siegbert machte, bemerkte dieser ruhig fortzeichnend:

Haben Sie wol einen Proceß verloren?

Einen? Mitunter ein Dutzend, antwortete der Fremde und setzte pfiffig hinzu:

Noch öfter aber welche gewonnen. Gerade wegen der gewonnenen Processe legt sich der Respect vor der Justiz. Aber's Obertribunal ist gut; es kommt nur darauf an, daß Einer soviel Lunge, d.h. Geldbeutel hat, um sich nicht außer Athem zu laufen, bis er bei der neunzigjährigen Unparteilichkeit da oben angekommen ist.

Siegbert antwortete nicht; auch der Fremde schwieg eine Weile, ordnete sein Hemd, zog an seinen Pantalons, an denen er die gelösten Sprungriemen wieder befestigte, zog eine Taschenbürste und strich sich sein röthliches Haar. Als diese Toilette, die er immer noch im Liegen machte, vorüber war, warf er, auf Siegbert's Arbeit deutend, leicht hin:

Sie zeichnen die Kirche? Ist denn die Kirche da hübsch?

Das müssen Sie doch selbst beurtheilen können, erwiderte Siegbert, ein wenig empfindlich über diese Bemerkung, die fast spöttisch klang.

Wie soll ich Das wissen! antwortete der Fremde. Hübsch? Der Münster in Strasburg soll hübsch sein. Er [23] ist groß, und der Dom in Köln soll noch größer werden. Auch unser Dom ist schön – Hm, hm – Die Kirche da! Ei ja! Die Linden machen sich ganz artig und bei Mondenschein läßt sich's vielleicht noch schöner an! Dann präsentirt man so was einer schönen Demoiselle, die legt's in ihr Album und schreibt darunter: Liebe mich, ich liebe dich – junger Maler – blondes Haar – Calabreser – gestern kennen gelernt, heute geliebt – morgen vergessen. Kennen Sie solche Albums?

Diese wieder mit großer Bitterkeit gesprochenen fast fein satirischen Worte aus dem Munde eines sich doch so roh geberdenden Menschen überraschten Siegbert. Waren ihm schon seine frühern Äußerungen befremdlich gewesen, so widersprach doch diese letzte so sehr der Vorstellung, die man von dem Bildungsgrade eines wie ein Vagabond sich ankündigenden Menschen haben konnte, daß er voll Erstaunen fragte:

Haben Sie sich in der großen Welt bewegt?

Wie so? lachte der Fremde höhnisch und stand jetzt auf.

Indem er seine Kleider abputzte, die Weste zuknöpfte, den zerknitterten Hut bürstete, erschien er, wenn auch kleiner, doch stattlicher als vorhin und zeigte sich als ein junger blasser Mann mit hellblauen scharf durchdringenden Augen, zartem Teint und fast weiblichen Gesichtsformen. Er war nicht so groß, als er im Korn liegend erschien. Alles an ihm war schmächtig, zart, unausgebildet. Er schien im Anfang der zwanziger Jahre zu sein, während um den Mund, um die bitter sich zuweilen aufwerfenden [24] Lippen viel ältere Erfahrungen zuckten. Das ganze Erscheinen war verstört, überwacht, wie an einem Menschen, der den Tag zur Nacht und die Nacht zum Tage macht.

Sie denken wol Wunder, was Einer sein muß, sagte er die Augen fast verletzt zusammenkneifend, um von Albums zu sprechen? Dazu braucht man nur ein Buchbinder oder ein Bedienter zu sein. Ein Lakai, der nicht ganz auf den Kopf gefallen ist, könnte bessere Geschichten erzählen, als die er seinem Fräulein aus der Bibliothek zum Lesen holen muß. Übrigens bin ich weder ein Buchbinder noch ein Lakai. Adieu!

Siegbert erschrak. Er war gutmüthig genug, dem Fremden, der wirklich ging, nachzurufen:

Wer hat Sie denn für etwas so Geringes gehalten! Bleiben Sie doch, Sie empfindlicher Mann!

Seine Worte verhallten aber. Der Fremde war schon den Hügel hinaufgestiegen, weniger, wie es schien, um sich ganz zu entfernen, als um dort oben sein zweckloses Schlendern fortzusetzen.

Siegbert machte sich nun Vorwürfe, ihn verletzt zu haben. Er gehörte zu den rücksichtsvollen Naturen, die Jeden gern in seiner Art gewähren lassen. Dazu kamen seine Begriffe über die sittliche Hebung der niedern Stände, die Ideale, die auch er, wie jetzt soviel edle und träumerische Menschen, sich über die mögliche Änderung der bisherigen Zusammensetzung unserer Gesellschaft gebildet hatte.

[25]

Betriffst du dich nicht immer, klagte er sich in Gedanken selber an, auf dem Widerspruch, daß du wol die Menschheit im Ganzen und Großen liebst und den Menschen selbst geringschätzest! Du fühlst mit dem Unterdrückten, hassest diese ungerechte Vertheilung der Erdengüter, bewunderst die wohlmeinenden Geister, die das Geld abschaffen wollen, um von dem Ersatz dafür Jedem soviel zu geben, als er für sein Dasein braucht, und jedes mal, wenn du wirklich mit dem Volke in Berührung kommst, wird es dir so schwer, über schlechte Kleider, entstellte Mienen, rohe und menschenscheue Manieren hinwegzukommen!

Siegbert war über sich selbst so misgestimmt, daß er aufstand und seine Arbeit für beendigt erklären wollte.

In diesem Augenblick sah er von der Seite des Schlosses her auf den Pavillon zuschreiten eine schwarz gekleidete nicht junge Dame, die einen uralten gebückten Greis am Arme führte. Ein gleichfalls alter Diener folgte in bescheidener Entfernung. Unstreitig war dies der Präsident des Obertribunals, der wol jetzt erst unter dem Dach des Pavillons sein Mittagsmahl nehmen wollte. Die sanftblickende Dame ging schweigend, in liebevoll herabgebeugter Haltung, neben dem Greise, der noch in würdiger schwarzer Amtstracht, an den heißen Sonnenstrahlen seine Freude zu haben schien. Langsam die Stufen zum Pavillon hinanschreitend, nahm er Platz vor einem der gedeckten Couverts, die sorgende Begleiterin an dem zweiten Couvert. Der kleine sauber gedeckte Tisch war [26] nur für zwei Personen, höchstens noch einen Gast berechnet. Ein solcher saß auch schon am Tisch, kein Mensch, sondern ein großer Rabe, der mit seinem Schnabel die Ordnung des Tisches nachzumustern schien und mit klugem Ernst sich umschaute, ehe er von einigen Körnern pickte, die auf dem Tische für ihn ausgeschüttet lagen. Ehe der alte Herr nicht den Löffel zur inzwischen von einem zweiten Bedienten aufgetragenen Suppe ergriffen hatte, rührte der verständige und höfliche Vogel selbst nichts an, wofür ihn die Dame mit freundlichen Worten, deren sanfter Ton bis zu Siegbert herüberdrang, ausnehmend lobte. Der junge Maler, von dem Stillleben dieser Scene wohlthuend angeregt, schob den Entschluß, sich mit der Copie der Kirche begnügen zu lassen, noch eine Weile auf und richtete seinen Standpunkt nun so ein, daß er die Kirche und zugleich den Pavillon beobachten konnte. Die hochgewachsene, edle, in jüngern Jahren gewiß sehr schön gewesene Frau schien den alten Herrn auf ihn aufmerksam zu machen. Ohne sich aber dabei umzuwenden oder ein Zeichen von Antheil an den gesprochenen Worten seiner Tischgenossin zu geben, aß der Greis ruhig die Speisen, die ihm von ihr vorgelegt und sogar geschnitten wurden. Statt aus einem Glase trank der Alte den Wein aus einem großen silbernen Becher; wie Siegbert bemerkte, wol deshalb, weil er mit beiden Händen ihn zum Munde führen mußte, so zitterten sie. Bis die Mündung eines Glases zum dürstenden Munde gekommen wäre, hätte sie lange gewährt; der Becher war [27] leichter zu treffen. Die beiden Diener verrichteten ihr Geschäft lautlos – Alles war still – nur der Rabe grammelte und krächzte zwischen den Reden der freundlichen Dame.

Sehen Sie, wie die Welt ist! sagte in diesem Augenblick wieder der Fremde, der hinter Siegbert stand.

Er mußte, während Siegbert die Blicke auf den Pavillon gerichtet hatte, von dem Hügel herabgekommen sein.

Sehen Sie, wie die Welt ist, sagte er mit schneidendem Spott. Gesetzt, der silberne Becher da, den der Alte da kaum an die Lippen bringen kann, käme plötzlich fort – Was geschähe nun? Man würde uns Beide für verdächtig halten. Sie würden nur Ihren Namen zu nennen brauchen, um gleich davon zu kommen; ich aber, weil ich ihnen ein herrenloser Bedienter zu sein scheine, würde sofort arretirt, säße sechs bis acht Wochen, bis ich nur inquirirt bin, dann würde ich in zwei Instanzen höchst wahrscheinlich mindestens zu sechs Monaten Zuchthaus verurtheilt, und erst in der letzten entdeckte der alte Methusalem da selber, daß sein Rabe es gewesen, der den Becher gestohlen hat. Und warum? Das kommt Alles daher, daß Einer von Albums spricht und selbst nicht in Goldschnitt gebunden ist.

Sie kränken mich, antwortete Siegbert, wenn Sie glauben, daß ich Jemanden seines Rockes wegen geringschätzen kann. Übrigens scheint Ihre Phantasie so mit Gerichtsscenen erfüllt, daß ich mich zu fürchten anfange und allerdings nicht zurückbleibe, falls die Herrschaften [28] da fortgehen und den silbernen Becher ohne Obhut zurücklassen.

Damit wollte Siegbert, überdrüssig der ihm nun lästigen Gesellschaft, rasch seine Mappe zusammenlegen und sich wirklich entfernen. Der Fremde streckte aber den dünnen knöchernen Finger auf sein Skizzenbuch und sagte:

Erlauben Sie erst noch, mein Herr, daß ich Ihnen zum Dank für Ihre Unterhaltung auf Ihrer Zeichnung einen Fehler sage!

Es sind deren viele, antwortete Siegbert kurz. Ich werde sie ein andermal verbessern.

Nein, nein, sagte der Fremde – den Fehler bemerken Sie doch nicht. Sie haben da am Kreuz etwas nicht richtig gemacht.

An welchem Kreuz?

Dem da über der Kirchthür. Sie haben – sehen Sie – die Enden der vier Kreuzes-Flügel bald mit einem dreiund bald mit einem vierblätterigen Kleeblatt bezeichnet. Sehen Sie aber hin; es sind immer nur vier Blätter. Nur die Tempelherren der alten deutschen Zunge hatten immer das dreiblätterige Kleeblatt.

Voll Erstaunen über diese Auskunft sah Siegbert nach der Kirche und fand die Bemerkung ebenso richtig, wie für ihn des fremden Menschen Kenntnisse in der christlichen Ornamentik überraschend waren.

Wo haben Sie diese architektonischen Feinheiten studirt? fragte er.

[29] Der Fremde sagte lachend:

Freimaurer sollte heut' Einer sein! Glauben Sie mir! – dann macht er sein Glück! Leider hab' ich's verpaßt, als ich's konnte, und jetzt nimmt mich keine Loge mehr auf. Oder bin ich zu jung? Doch was das Kreuz anlangt, so hab' ich Das von vielen Häusern her in der Stadt da unten! Diese Häuser gehörten früher dem Orden der Tempelherren an. Dann kamen sie an die Johanniter, von diesen an die Stadt. Die Stadt hat aber mit dem Staat seit Jahren einen großen Proceß darüber, bei dem Millionen auf dem Spiele stehen, viel alte Häuser und eine Menge anderer Liegenschaften aus alten Zeiten her, die aber an den Kreuzesenden Vierblätter hatten – warum weiß ich nicht – ist auch wenig daran gelegen – drei – oder vierblätterige Kleesaat – das Vieh frißt Alles durcheinander.

Damit ging er wieder, eine abscheulich gleichgültige Miene schneidend, auf die schon vorhin von ihm geknickten Kornähren zurück und warf sich, eine Arie trällernd, auf seine alte Lagerstatt, als wäre sie sein gewöhnlicher Aufenthalt.

Nun wieder zu sehr erregt und gebannt, um sich entfernen zu können, wollte Siegbert noch eine kurze Weile bleiben. Wie er so wieder zu zeichnen anfing und das Kreuz nach des Fremden Angabe verbessern wollte, kommt aus dem Garten der alte Diener zu ihm herüber und überreicht ihm im Auftrage seiner Herrschaft eine reiche Spende Weines in einem großen krystallenen [30] Wasserglase. Es ist heute heiß! war Alles, was der alte Mann als Veranlassung dieser Artigkeit dabei sagte. Siegbert, ganz betroffen, blickte zu dem Pavillon hinüber. Die holde, gute Dame grüßte gar artig, winkte lächelnd und drückte Das, was eben der Diener gesagt hatte, in freundlichen, aber ihm nicht hörbaren Worten und mit holden Blicken aus. Während sie sprach, krächzte der Rabe, als fühlte er etwas von Neid. Der greise Neunzigjährige aber zeigte auch jetzt nicht die geringste Theilnahme, und erhob sich nun von seinem kurzen Mahle, ohne von Siegbert's Gegenwart oder von dessen Dank für seine Aufmerksamkeit irgend Notiz zu nehmen. Die freundliche Dame folgte. Siegbert, befremdet über all dies Plötzliche, Unerwartete, trank. Die Hitze war aller dings sehr drückend, und fast hätte er ausgetrunken, wenn er nicht für den Fremden die theilnehmende Regung empfunden hätte, ihm Halbpart anzubieten. Er ging auf ihn zu und reichte ihm ins Kornfeld die beiweitem noch größere Hälfte des Pokals. Ein sonderbares Lächeln überlief des Fremden Züge, als er erst zögerte, dann aufstand und das dargebotene Glas mit einem Zuge leerte. In dem: Ich danke! das er vor sich erröthend hinsprach, als er Siegbert den Pokal zurückgab, lag ein Ausdruck von Gefühl, der dem jungen Maler, gewohnt, scharf zu beobachten, nicht entging. Wie sich Siegbert umwandte und mit dem leeren Becher, den Diener suchend, dastand, war der Fremde plötzlich wirklich verschwunden. Nun kam aber der Bediente heran und that sehr erschrocken.

[31] Gott sei Dank! sagte er, daß man Den da bei Zeiten entdeckte, und man läßt so sein Silberzeug unbewacht auf dem Tische liegen!

Wie so? Kennen Sie den jungen Mann? fragte Siegbert.

Ei wohl, sagte der Alte in unmodischer Livree; er hat den Präsidenten tausend mal um Arbeit ersucht und will heute gewiß wieder herein. Wir haben nichts für ihn. Es ist ein gewisser Hackert, früher Schreiber bei einem Notar. Ein verdächtiger Mensch! Sieh! Sieh! Das Silberzeug! Das Silberzeug!

Damit maß er nun auch Siegbert mit mistrauischem Blick und lehnte das Trinkgeld ab, das ihm dieser anbot. Er eilte, was er konnte, in den Garten zurück, um den mit Silberzeug bedeckten Tisch rasch abzuräumen. Siegbert schüttelte den Kopf.

Der hält mich auch für nicht geheuer! sagte er und wanderte, über die Civilisation der neuen Zeit nachdenkend, sein Portefeuille unterm Arm, den Hügel hinunter, dem Dorfe zu wo er die Allee einschlug, die ihn zur Stadt zurückführen sollte.

Noch einmal war es ihm, als säh' er durch das Kornfeld auftauchend des Fremden Hut. Doch ebenso rasch verschwand die Spur.

[32]
2. Capitel. Dankmar Wildungen
Zweites Capitel
Dankmar Wildungen

Die Pappeln der Allee säuselten von einem leichten Winde bewegt, der sich inzwischen lind erhoben hatte.

Links und rechts standen noch die Kornfelder in voller Reife oder waren von den Regenschauern in der verflossenen Woche nur in langen Schwaden niedergedrückt. Die Obstbäume, die im Felde standen, versprachen für den Herbst eine gute Ernte. Bald kam das mit einem zierlichen Gärtchen umfriedigte Häuschen des Chausseegeldeinnehmers, dann der Durchschnitt einer Eisenbahn, die sich quer über die Straße hinwegzog, und schon fingen einzelne Landhäuser die unmittelbare Nähe der Stadt zu bezeichnen an.

Siegbert's träumerisches Gemüth hing noch eine Weile an der verlebten tempelheider Scene, bald aber verwischte sich der Eindruck, und sein Auge schweifte nur noch mit jener fast bewußtlosen Ruhe umher, die reinen Seelen eigen ist. Seine Gedanken konnten von einem Stein am Wege, von einem verdorrenden Baume innigst beschäftigt werden. Was er deutlicher ansah, entlockte ihm eine Betrachtung, und da er Künstler war, hatte er den [33] Vortheil, dem Vielen, was ihm in dieser Weise gerade kein Urtheil abgewann, doch immer, wenn auch mit flüchtiger Anschauung, eine eigenste Form abzugewinnen. Eine von dem niedergeworfenen Korn erdrückte Blume, ein dunkler Schmetterling auf einer noch stolzen, hohen Ähre sich wiegend, eine kleine Wolke wie ein durchsichtiger oder zerrissener Schleier durch den blauen Äther fließend, Alles das waren für ihn Ruhepunkte des Gefühls und des innern Auges, die nur dann mit wirklich nachdenkenden Reflexionen abwechselten, wenn er einem Handwerksburschen begegnete, der ihm zu stolz schien, um sich das Almosen zu betteln, dessen er vielleicht doch bedurfte, oder wenn er steineklopfenden Chausseearbeitern oder der langsamen Arbeit zusah, wie einige wenige Hände ein Wohnhaus aufrichteten. Er glich darin den alten Künstlern, daß er sich nicht ganz auf seine Kunst allein beschränkte, sondern, wie Michel Angelo, Tizian, Benvenuto Cellini, Rubens thaten, sich an den allgemein menschlichen Dingen gern betheiligte. Und wenn man ihm auch sagte, Rubens würde sicher in seiner Färbung voller und üppiger gewesen sein, wenn er statt mit Staatsactionen sich mit seinem, wenn auch genialen, doch in der Ausführung oft flüchtigen Pinsel allein beschäftigt hätte, so erwiderte er, daß Rubens, ohne den Verkehr mit der großen Welt, in einer der Geschmacklosigkeit schon zusinkenden Zeit sich doch nicht die Fülle productiver Anschauungen würde erhalten haben, die wir an diesem reichen Geiste bewundern.

[34] Siegbert war schon der Stadt ziemlich nahe, als er aus einem rasch auf der Chaussee herrollenden Wagen sehr freundlich gegrüßt wurde. Die Dame, die ihm nickte, gab dem Kutscher ein Zeichen zum Halten.

Siegbert sprang hinzu und erwartete einen Befehl; denn er wußte, Frau von Trompetta gehörte zu den immer bewegten und bewegenden Naturen.

Frau von Trompetta, eine kleine, dicke, kugelrunde Frau mit immer lebhaften Geberden, gesprächig wie ein Mühlrad, saß im ceriserothen leichten Sommershawl neben einer sehr einfach und bescheiden gekleideten gefälligen jugendlichen Blondine.

Bester Wildungen, rief Frau von Trompetta, man sieht Sie ja gar nicht mehr; man hört nichts von Ihnen! Nur Ihr schrecklicher Molay vertritt Ihre Anwesenheit in der Gesellschaft, und man weiß doch, daß Sie noch andere Flammen entzünden können, als diesen entsetzlichen Scheiterhaufen, in dem Sie sich leider auch als ein Tendenzmaler gezeigt haben.

Ich bin im Atelier des Professor Berg allerdings viel öfter zu finden als in der Gesellschaft, gnädige Frau, antwortete Siegbert.

Und wenn ich käme, wenn ich Ihre neuesten Arbeiten belauschte, würden Sie wol für uns arme Sterbliche, die nur bewundern können, ein Auge haben? Man weiß es ja. Ganz erfüllt Sie nur die Eine, die Einzige, Melanie, die Unvergleichliche, oder wie Sie sie in Ihren Briefen nun anreden mögen, seit sie verreist ist.

[35] Melanie? Sie sprechen von Melanie Schlurck? Allerdings ist sie verreist, antwortete Siegbert, und seine Wangen überflog ein leichtes Roth; aber von einem Briefwechsel ist keine Rede. Ich weiß nicht einmal den Ort, wo sie sich befindet.

O Sie Heuchler! Warten Sie! Warten Sie! Zur Strafe müssen Sie einsteigen! Öffne den Schlag, Christian! Ich muß mit Ihnen plaudern.

Gnädige Frau –

Fräulein Friederike Wilhelmine von Flottwitz, sagte Frau von Trompetta, auf die junge Blondine zeigend, die neben ihr stumm und ernst im Wagen saß.

Und ohne diese ihre Begleiterin weiter zu fragen, nahm sie keinen Anstand, Siegbert aufzufodern, einzusteigen.

Wir fahren nach Tempelheide, fuhr sie lebhaft fort, zu Anna von Harder, der Schwiegertochter des alten Präsidenten. Sie lernen dort die edelsten Wesen von der Welt kennen .....

Siegbert war unschlüssig, ob er der Auffoderung folgen sollte. Aber das Gefühl, das ihn schon den ganzen Tag beherrschte und in Spannung gehalten hatte, brach sich ihm in den Worten Bahn:

Vergebung, gnädige Frau, ich erwarte heute meinen Bruder Dankmar, ich muß nach der Stadt zurück .....

Ihr Bruder Dankmar! spottete Frau von Trompetta lächelnd; immer Kastor und Pollux, David und Jonathan! Freilich ist bekannt, daß sich die Gebrüder Wildungen [36] in einem Grade lieben, der eigentlich das weibliche Geschlecht eifersüchtig machen sollte, wüßte man nicht, daß es noch eine Melanie Schlurck gibt. Aber ich muß Sie doch sprechen, trotz Ihrer Eile, und so schlage ich vor, machen wir es umgekehrt; steigen wir aus und eine Viertelstunde begleiten Sie uns. Nicht wahr, Friederike Wilhelmine?

Das junge Mädchen nickte ernst, hob ihre langen herabhängenden blonden Locken, die wie Mähnen schwer sich senkten, in die Höhe, ergriff den Sonnenschirm und war im Begriff, der etwas schwerfälligen, aber doch höchst lebhaften ältern Freundin zu folgen.

Siegbert, überrascht von der ihm ganz unerwarteten Zuvorkommenheit dieser ihm nur entfernt bekannten Frauen, öffnete den Schlag und bot ihnen beim Aussteigen die Hand. Frau von Trompetta, eine Vierzigerin, hatte mit ihren runden, genährten Formen bei dieser Operation Vorsicht nöthig. Die Blondine, in weißer Kleidung und sonderbar genug mit schwarzem Gürtelbande, zeigte sich jetzt von schlanker Gestalt. Sie war nicht mehr in erster Jugendblüte, vielleicht schon in der Mitte der Zwanziger.

Sie wüßten also nicht, wo Melanie Schlurck ihre Sommervillegiatur hält? begann sogleich Frau von Trompetta im neckenden Tone. Sie scherzen! Ein so zärtliches Verhältniß! Ich wette, Sie waren in Tempelheide, weil Sie wissen, daß die auf diesem Wege zurückkehren muß.

So sind Sie unterrichteter als ich es bin, wiederholte [37] Siegbert. Da ich drei Tage lang nicht im Atelier war, höre ich erst von Ihnen, gnädige Frau, bestätigt, daß Melanie wirklich verreist ist.

Sie ist auf dem Schlosse Hohenberg, wohin sie den Vater auf Geschäften begleitete, antwortete Frau von Trompetta. Pinsel und Palette wurden bei Seite geworfen, Mandoline und Harfe an die Wand gestellt, rasch und zauberhaft schnell entschlossen, wie in Allem, was sie thut, war auch dieser Reiseplan gefaßt. Das ist der Weg nach dem Schlosse Hohenberg. Genug, Wildungen! Thun Sie uns den Gefallen! Sie müssen noch heute mit uns zu Harders kommen. Da ist ein Park, ein chinesischer Pavillon. Da gehen Sie morgen, täglich, wieder hin, bauen sich eine Laube von Tannenzweigen, ein Weidenhüttchen, wie ich einmal aus Shakspeare bei Tieck in der Vorlesung mich entsinne, ein Weidenhüttchen – Tieck sprach das Wort so zart – und werfen, wenn Melanie auf der Rückreise vorüberfährt, ihr Rosen und Vergißmeinnicht zu. Die gute Anna Harder hilft. O Das ist etwas für Anna! Romantik! Romantik! Ach, Sie sollten diese himmlische Seele nicht schon kennen?

Ohne sich auf die Scherze wegen Melanie Schlurck, einer Schülerin des berühmten Professor Berg, Scherze, die ihn mehr zu verwunden, als zu erheitern schienen, einzulassen, bemerkte Siegbert, daß er Anna von Harder seit heute schon zu kennen glaube, und erzählte Alles, was ihm vor einer Stunde vor der Kirche zu Tempelheide begegnet war.

[38] O Das ist ja herrlich! rief Frau von Trompetta. Das ist ja ganz Mittelalter! Anna als Burgfrau, der labende Becher, Sie der Troubadour! O so ist sie nun! Jeder Zug entspricht ihrem seelenvollen Herzen. Ich habe das Bild ganz vor mir. Sie zeichnen, Präsidents speisen. Anna's holder Sinn, gehoben von der Nähe des Friedhofs und der Kirche – nicht wahr, sie trug schwarz? – zart gedenkend des andächtigen Malers, fromm gedenkend der gastfreundlichen Sprüche aus der Bergpredigt des Heilands, und der alte Johann – gelb und blaue Livrée – etwas verschossen zwar – aber liebevoll – höchst liebevoll – ein Becher Weins! Da, nehmet hin! Erquicke dich, Wanderer! Thu' es zu meinem Gedächtniß! Allerliebst!

Um Gotteswillen, rief Siegbert lachend aus. Sie thun ja so feierlich, gnädige Frau, als wenn es sich um die Einsetzung des Abendmahls handelte.

Frau von Trompetta blickte auf diese Bemerkung plötzlich sehr ernst. Friederike Wilhelmine von Flottwitz schlug gleichfalls die Augen nieder, und es trat eine Pause ein, die Siegbert gern benutzt hätte, um von der Begleitung dieser ihm wenig zusagenden Damen loszukommen. Er besann sich jetzt erst, daß Frau von Trompetta, trotz ihres leichten Tones und ceriserothen Shawls, zu jener gesellschaftlichen Fraction gehörte, die man in frivolen Kreisen Schwanenjungfrauen oder Diakonissen außer Diensten nannte. Er besann sich, daß bei Gelegenheit der Erörterungen über »innere Mission« Niemand öfter genannt wurde als Anna von Harder auf Tempelheide, Frau [39] von Trompetta, Gräfin Mäuseburg und viele andere Damen, die Siegbert theilweise persönlich kannte, und schon hoffte er, da er dieser Richtung nur sehr bedingungsweise zugethan war, mit seinem das heilige Abendmahl »profanirenden« Vergleiche loszukommen.

Es war aber nur eine vorübergehende Wolke, die sich auf die Stirn der beiden Damen gelagert hatte. Sie nahmen gerade jetzt erst den jungen schlankgewachsenen Maler, dem sein lockiges Haar, der blonde Kinnbart, sein weißer Hut, das schwarze Sammtröckchen, die weißen weiten Pantalons, das lose um den Hals geschlungene rothe Tuch sehr anziehend standen, in die Mitte, und Frau von Trompetta zögerte nicht, den plötzlich zerrissenen Faden des Gesprächs wieder weltklug anzuknüpfen.

Sie sind ein Spötter, sagte sie. Man weiß, daß Sie leider nicht zu den Gläubigen gehören. Professor Berg's Schüler wachsen alle etwas wild auf. Wissen Sie wol, daß ihm Das sehr schadet?

Freilich schadet ihm Das, sagte Siegbert, der sich nicht verstellen konnte, mit einiger Bitterkeit. Mein braver alter vortrefflicher Berg! fuhr er begeistert fort, und in der Erinnerung an den genialen, mannichfach zurückgesetzten Lehrer funkelten ihm die Augen. Armer Berg, daß du den feierlichen Empfang des Prinzen Ottokar nicht zu malen bekommen hast! Welch ein Verlust für dich, diese Uniformen, diese Guirlanden, diese weißgekleideten Mädchen, die die neue Jubelhymne singen werden! Alles [40] das sollst du nicht malen! Armer Rubens, der von Don Philipp von Spanien eine Bestellung entzogen bekommt und nichts zum Troste übrig behält, als daß er Rubens ist, ein Genius und ein freier Niederländer!

Bester Freund, sagte Frau von Trompetta, plötzlich den Ton ändernd und mit großer Bestimmtheit, während es Siegbert schien, als wenn sich die Wangen des blonden Fräuleins mit Zornesglut färbten; bester Freund, Rubens würde weit weniger übermüthig, weit weniger ehrsüchtig gewesen sein, wenn er in einer Zeit gelebt hätte, wo man malen muß, nicht was man selber will, sondern was gefällt. Ihr seid in Euerm schönen Atelier recht wild, recht zügellos! Große bewundernswerthe Talente! Aber sehr ungebundene Gesinnung!

Wir suchen das Schöne, gnädige Frau.

Und spotten der Welt!

Und unser selbst.

Bei diesem Zugeständniß kehrte Frau von Trompetta, die etwas auf dem Herzen zu haben schien, wieder in ihren frühern leichten Ton zurück, hielt, da ihr das Gehen doch sauer wurde, einen Augenblick inne und sagte mit eigen-thümlichem Ausdruck:

Ein hübsches kleines Genrebild auf der Ausstellung bewies mir, daß Sie allerdings Ihrer selbst spotten! Ha, ha! Allerliebst! Professor Berg, der einem schönen Mädchen Unterricht im Malen gibt – und die Schüler, die diese Collegin, ohne daß sie es weiß, gleich als Modell benutzen – Melanie Schlurck natürlich – Siegbert Wildungen ..... [41] ha, ha, ha – vortreffliches Bildchen. Nicht wahr, Friederike Wilhelmine?

Siegbert biß sich auf die Lippen. Dieses Bild existirte und galt in der That ihm am meisten. Die Gruppe, die Frau von Trompetta andeutete, war vorhanden und gefiel sehr. Es war ein kleines Ölgemälde von einem talentvollen Freunde, Namens Leidenfrost, das ihn und das ganze Atelier persiflirte. Denn während die im Nebenzimmer unter Blumen malende Melanie Schlurck von den Schülern auf ihren Bildern bald als Gärtnerin, bald als Tänzerin oder von Einem sogar als lockende Lurleynixe wiedergegeben wurde, hatte der portraitähnliche Siegbert, liebeglühend und liebeverblendet, sie als Modell zu einer Madonna benutzt und sie in Andacht wie der Himmlischen Eine verklärt und im Heiligenschein gemalt. Das Bild wurde auf der Ausstellung viel bewundert von Allen und vielbelacht von Denen, die die Personen kannten.

Übrigens glauben Sie mir, fuhr Frau von Trompetta fort, das Bild des Professor Lüders: »Die Einholung des Prinzen Ottokar nach Unterdrückung der östlichen Unruhen«, wird dennoch seine Schönheiten haben; hier Fräulein Friederike Wilhelmine von Flottwitz hat ihm erst heute dazu gesessen.

Himmel, nun besann sich Siegbert. Schon mehre mal hatte er den stolzen sichern Gang des neben ihm gleichgültig wandelnden Mädchens bemerken müssen. Sie warf ihr schönes Profil verächtlich in die Höhe und hörte dem [42] Geplauder ihrer ältern Freundin nur mit halber Theilnahme zu.

Siegbert erinnerte sich. Diese junge, ihn wol tief verachtende Dame war ja jene patriotische Jungfrau, die sich in den letzten Parteikämpfen den Namen einer Jeanne d'Arc erworben hatte. Tochter des pensionirten Oberstlieutenants von Flottwitz, Schwester von sieben Brüdern, die in der Armee theils als Lieutenants ersten oder zweiten Grades oder noch als Cadetten vom Staate ehrenvoll versorgt wurden, hatte sie ein hübsches Talent des Reimens zu patriotischen Huldigungen an das angestammte Fürstenhaus benutzt, auch in öffentlichen Gesinnungskundgebungen war sie bereits so oft aus dem Kreise des Gewöhnlichen heldenmüthig herausgetreten, daß man ihr unstreitig einen Anflug höherer inspirirter Schwärmerei zuerkennen und den strengen Aufschlag ihrer großen blauen Augen unter solchen Verhältnissen bedeutend finden mußte. Siegbert betrachtete sie nun nicht ohne eine gewisse Ehrfurcht. Denn dies feierliche Mädchen war es ja, die neuerdings auch den sogenannten Reubund mit hatte stiften helfen. Eine Anzahl verwandter Seelen war ja aus eigenem freien Triebe vor kurzem zusammengetreten, um durch mancherlei Einwirkungen auf die öffentliche Meinung dem Fürstenhause zu erkennen zu geben, daß das Volk, für dessen wahre Vertreter sie sich erklärten, die Art und Weise, wie es bei den letzten Stürmen den Fürsten gewisse Concessionen abgetrotzt hatte, jetzt bereue. Keine Dame, die mit einem Offizier oder Beamten [43] verheirathet war, unterließ es, sich in diesen Reubund aufnehmen zu lassen, für dessen Seele und eigentliche höhere Schwinge Friederike Wilhelmine von Flottwitz gelten konnte. Wo nur irgend ein tapferes Regiment triumphirend zu empfangen, eine Kaserne mit zweckentsprechenden Blumen zu schmücken war, ordnete sie diese vom Reubunde unterstützten Manifestationen in eigener Person an. Manchen Kuß schon hatten ihre jungfräulichen Lippen auf die Hände eines tapfern alten Generals gedrückt; zu ihrer seligsten Befriedigung auch schon einen auf die silberne Schärpe des Prinzen Ottokar, als dieser von der Unterdrückung einer anarchischen Bewegung im Osten siegreich zurückkehrte.

Während sich Siegbert über diese unerwartete und jedenfalls höchst interessante Bekanntschaft in schweigende Bewunderung verlor, fuhr Frau von Trompetta mit immer festerer Bestimmtheit und ihres hohen Einflusses bewußt fort:

Ihr Bild, bester Freund, ist wunderschön, vortrefflich der Ausdruck des Molay und der Tempelherren, die mit ihm verbrannt werden, ich sage ganz hinreißend, aber -der Kunstverein ist schwierig. Wissen Sie's schon?

Ich weiß, was Sie sagen wollen, gnädige Frau, fiel Siegbert erröthend ein, Propst Gelbsattel haßt Alles, was an den Lessing'schen Huß und die Physiognomieen der Cardinäle erinnert, die ihn verbrennen ließen. Propst Gelbsattel bestimmt die Meinung des Kunstvereins; folglich wird man meinen Molay nicht ankaufen .....

[44] Es wäre nicht unmöglich, sagte Frau von Trompetta; allein, geben Sie mir den Arm – man hat Connexionen, Gelbsattel protegirt mich, und Fräulein Friederike Wilhelmine interessirt sicher auch den Reubund für den Ankauf Ihres Bildes. Aber dann muß ich mir bedingen, Wildungen, daß Sie mir auch in mein Gethsemane ein Blatt malen, hören Sie, daß ist die Bedingung! Wann darf ich Ihnen das Format schicken? Was wollen Sie malen? Und wann hab' ich Ihren Beitrag zu erwarten?

Siegbert war schon vollkommen unterrichtet, was das Gethsemane der Frau von Trompetta zu bedeuten hatte. Unter dem Titel jenes Gartens, in welchem der Heiland der Welt unter Thränen betete, ehe er den schweren Gang seiner Leiden antrat, beabsichtigte die rührige und in der systematischen Wohlthätigkeit unübertreffliche Frau ein Album anzulegen, in welches ihr die vorzüglichsten Künstler die einzelnen Blätter, wie sich von selbst versteht unentgeltlich, malen mußten. Durch diese Zumuthung war die gute Frau freilich eine rechte Plage der Kunstwelt geworden, der Schrecken aller Ateliers; allein die löblichen, von dem Hofe protegirten Zwecke dieser Dame machten eine Weigerung, ihren Ansinnen zu entsprechen, kaum möglich. Das Gethsemane sollte, wenn es vollendet war, entweder vom Hofe angekauft und im Landesmuseum niedergelegt oder auf dem Wege einer Lotterie für irgend einen glücklichen Treffer ausgespielt werden. Welchem barmherzigen Institut, welchem mildthätigen Zwecke der Ertrag dann zuzuwenden, behielt [45] sich Frau von Trompetta noch vor, und man kann sich denken, wie sehr ihr deshalb von vielen Seiten ebenso sehr gehuldigt, wie von den unglücklichen gepreßten Malern heimlich und wol auch offen geflucht wurde.

Um heute nur von ihr loszukommen und der durch diese Begegnung angeregten schmerzlichen Gefühle Herr zu werden, sagte Siegbert in Gottes Namen zu und gelobte, auch seinerseits in das Gethsemane irgend ein frommes buntes Blatt zu stiften. Als er ihr feierlich die Zusage gegeben hatte, binnen vier Wochen seinen Beitrag abzuliefern, winkte Frau von Trompetta dem Wagen, der ihnen langsam gefolgt war.

Fräulein Wilhelmine, die unterwegs jeden Krieger, der ihnen begegnete, liebevoll und fast vertraulich gegrüßt hatte (denn es war eine Hauptaufgabe des Reubundes, das durch jene erwähnten Concessionen untergrabene Selbstvertrauen des Kriegerstandes wieder mehr zu heben und zu kräftigen), wandte sich rasch dem geöffneten Wagenschlage zu, als belästige sie die Überzeugung, daß Siegbert's Gesinnung der ihrigen nicht verwandt war. Frau von Trompetta aber hatte alle strengen Falten ihres Antlitzes nun verscheucht und lobte den jungen Maler überdiemaßen, daß er sie begleitet, vortrefflich unterhalten und vor allen Dingen sich für ihr Gethsemane hatte gewinnen lassen. Beim endlichen Abfahren rief sie ihm noch zu:

Zur Belohnung, Wildungen, sage ich Ihnen, daß Ihr Bruder Dankmar angekommen ist. Ich sah ihn unter dem großen Thorweg der Lasally'schen Reitschule.

[46] Damit rollte der Wagen die Chaussee entlang, dem schon ganz nahen Tempelheide zu, dessen kleine Kirchenfenster in den goldener werdenden Strahlen der sich senkenden Sonne feurig herüberblitzten.

Mein Bruder schon da! rief es laut in Siegbert, während er sich eilends in Bewegung setzte, um die verlorene Strecke wieder einzuholen. Diese abscheuliche Frau! Sie erfuhr von mir, wie sehnsüchtig ich den Bruder erwartete, und statt mir seine Ankunft sogleich herzlich mitzutheilen, schleppt die Falsche, die Heuchlerin mich den Weg zurück nur um ihres Vortheils willen, um dieses zudringlich erbettelte Gethsemane! Welche Lüge! Welche Verstellung und wie viel erborgter Schein einer Religiosität, die eine solche Seele nimmermehr wahrhaft erfüllen kann!

Unser junger Freund war sonst zurückhaltender in seinem Urtheil über Andere. Eine Zeitlang tobte er so fort; dann tadelte er sich aber doch über den raschen Ausbruch seines Unmuthes und lachte, des Bruders gedenkend, bald freudig auf. Sein gerechter Sinn sagte ihm sogar, daß doch wol nur die große Verschiedenheit der Richtung und Gesinnung ihn bestimmte, Das als ganz lügnerisch zu verdächtigen, was er eigentlich nur bekämpfen konnte. Er fand sogar in Friederike Wilhelmine von Flottwitz einen gewissen Ausdruck der Seele, der ihn zwang, einen Augenblick langsamer zu gehen und über sie nachzudenken.

Dies Mädchen, sagte er sich mit einem leisen Anflug von [47] Ironie, ist wirklich eine mittelalterliche Schwärmerin, ja eine Roland, eine Corday! Für Das, was sie als besser und richtiger erkannt hat, glüht sie. Sie ist voll Dankbarkeit für die Wohlthaten, die ihre arme Familie vom alten Staate erhalten hat und erhält! Ohne die gestürzte Regierungsformen, die sie und in gleicher Lage der ganze Reubund wiederhergestellt wünschen, müßte sie vielleicht darben: ihrem alten Vater würde vielleicht etwas von den Subsistenzmitteln entzogen, auf die er nach den schrecklichen Mühseligkeiten des Friedensfußes von 1815 bis jetzt rechnen zu dürfen glaubte .....

Siegbert lachte für sich. Er hätte dem Professor Lüders, der den Empfang des Prinzen Ottokar malte, etwas von der Begeisterung seines Gegenstandes gewünscht; denn er wußte von diesem Künstler, daß nur die niedrigste Servilität ihn zum Parade- und Uniformmaler gestempelt hatte. Er wußte, daß er das Portrait des inspirirten Fräuleins wol treffen würde in dem Momente, wie sie dem Prinzen Ottokar die Säbelquaste und Leibschärpe küßte, aber von der innern Seele, von ihrer Jeannen d'Arc-haftigkeit dabei, wußte er, würde der oberflächliche Mann nichts wiedergeben.

Mehr aber als alle diese politisch-artistischen Empfindungen, beschäftigten Siegbert das vielfache Erwähnen und die Erinnerung an Melanie Schlurck. Er hatte sich so oft gelobt, dieses Bild von seinem innern Auge wegzubannen. Er hatte so geheimnißvoll selbst dem eigenen theuren, über Alles geliebten Bruder dies Gefühl verborgen [48] gehalten, das er still für sich in seinem Herzen hegte, und so oft, so oft vergebens mit Gewalt ausreißen wollte, und nun mußte er sich mit seinem Heiligsten von dieser Frau profanirt sehen. Diese Trompetta, die seit einem halben Jahre alle Ateliers der Maler beunruhigte, hatte ihm sein Interesse für eine Schülerin des Professor Berg abgelauscht. Einige indiscrete Kunstgenossen, besonders Heinrichson und Reichmeyer, hatten leichtsinnig den Commentar zu jenem Bilde des Max Leidenfrost ausgeplaudert, das ja möglicherweise ganz etwas Anderes bedeuten konnte und im Costüme weit eher für ein Atelier Tizian's als eines modernen akademischen Professors paßte. Und auch über dem Einzigen, was ihn für diese so heraufbeschworenen Empfindungen hätte trösten können, seinem schönen, von allen Kennern, wie vom großen Publikum theilnehmend umringten Bilde, dem Feuertode des standhaften und ehrwürdigen Comthurs des Tempelherrnordens Jakob von Molay mit dem edlen Ausdruck der Zeichnung und dem farbensatten Colorit der Ausführung, hingen die trüben Wolken einer Intrigue, wie er aus den Worten jener aller Verhältnisse kundigen Frau nur zu deutlich vernommen hatte.

Ach, es trieb ihn nun recht, sich bald an das Herz seines treuen starken Bruders Dankmar zu werfen! Sehnsucht beflügelte seine Schritte. Er eilte wie Einer, den die Nacht zu überfallen drohte, und doch schlich der milde, goldene Abend nur langsam über die gelben Felder, die des Sonnenlichts nicht satt zu werden schienen.

[49] Endlich bei den Gärten und den Wirthshäusern der Vorstadt schon angelangt, entdeckte Siegbert einen Reiter von der Stadt her traben. Er erinnerte ihn sogleich an Dankmar, und er war es auch, der theure, geliebte, seit einem Monat abwesende Bruder.

Er kannte sogar das Pferd in der Ferne. Es gehörte dem Stallmeister Lasally, einem fashionablen jungen Mann, der zu den Beaux der Residenz gehörte. Siegbert, um das schnelle Vorbeischießen des Bruders zu verhindern, sprang mitten auf das Straßenpflaster, das hier schon die Chaussée ablöste. Dankmar auf seinem Thiere stutzt, hält an, steigt vom Gaule und fliegt in die Arme seines Bruders, dem er entgegengeritten war.

Mensch, wo steckst du, begann sogleich Dankmar. Ich suche dich überall, bis ich höre, du bist in Tempelheide. Ich wollte dir entgegenreiten, ich habe dir Wunderdinge zu erzählen ....

Die nicht Zeit hatten bis zum Abend? fiel Siegbert lachend ein, und hielt dabei den Gaul fest, dessen Zügel Dankmar in der Freude der Begrüßung sich fast hatte entgleiten lassen. Und ohne darauf zu erwidern fiel Dankmar ein:

Was thun wir nun mit dem Gaul? Jetzt ist das Thier fast überflüssig.

Du setzst dich wieder auf, meinte Siegbert, und ich gehe ruhig neben dir her.

Ruhig? Nebenher? Jetzt, wo ich endlich mein Herz von all den Dingen, die ich in Angerode erlebte, ausschütten, [50] erleichtern will? Ich dachte, ich überrasche dich noch in Tempelheide, stelle den Gaul dort in den Silbernen Mond, gehe mit dir ins Feld oder wir setzen uns in einen Garten, wo ich dir ungestört meine Herrlichkeiten bescheren kann –

Das können wir ja noch, fiel Siegbert sich umschauend ein. Hier sind überall Gasthäuser und Ausspannungen. Da der Blaue Engel, hier das Goldene Roß. Pappeln und Linden und Kegelbahnen die Hülle und Fülle! Wo kein Garten ist, findet sich ein Wirthszimmer ....

Sieh! Da ist der Pelikan unten! Da muß ich ohnehin anfragen, ob Peters, der Fuhrmann von Angerode, angekommen ist. Wir wollen zum Pelikan.

Damit führte Dankmar den Gaul neben sich her und begann nun, seines wunderlichen Aufzuges gar nicht achtend, wie Jemand, der sich eine wichtige Mittheilung aufspart, von gleichgültigen Dingen zu reden, vom Wetter, von der Stunde der Ankunft, von ihrer gemeinschaftlichen Wohnung in der Neustraße, ihrer überraschten Wirthin Frau Schievelbein, vor allen Dingen aber von ihrer Mutter in Angerode, die ihrem ältesten Sohne Siegbert durch den jüngern Dankmar viel, viel tausend Grüße und Küsse sandte.

Dankmar zeigte sich bald als ein leichter, lebensfroher, munterer Kopf. Er war etwas kleiner als sein älterer Bruder, erschien aber bei seiner geraden Haltung fast größer als Siegbert, der sich nicht gut hielt und gern zur Erde niederbeugte. Dankmar hatte dunkleres, fast [51] lichtbraunes Haar, scharfe braune Augen, frische Lippen, blendende, gesunde Zähne, einen um das Kinn gehenden stattlichen Bart und einen so zierlichen, ebenmäßigen Wuchs, daß ihm seine gewählte Toilette wie angegossen saß. Der leichte Reitfrack war bis zum Halse zugeknöpft mit weißen metallenen Knöpfen. An einer Stelle, wo er offen stand, sah ein rothes Taschentuch hervor. Sporen, Reitgerte, der schwarze Castorhut, Alles verrieth den sich mit Gewandtheit in der Welt bewegenden jungen Dandy, der aber in seinem Äußern nichts suchte und nicht im mindesten von seiner anziehenden Erscheinung eingenommen war. Sein Blick war geistreich, sein Lächeln schalkhaft und gleich nach den ersten Worten, die er sprach, sah man, daß der um zwei Jahre jüngere Dankmar – er war Referendar eines Gerichtshofes – den träumerischen Siegbert an rascher Combination und energischer, ihres Zieles bewußter Thatkraft beiweitem überflügelte.

Er hatte auch auf seine Umgebungen nicht die mindeste Rücksicht. Da sein Pferd am Zügel zu führen und zu plaudern, während er sich an den Sattel drückte, bot ihm nicht den mindesten Zwang.

Siegbert aber, dem alles Auffallende ängstlich war, meinte gleich, zum Pelikan sei es doch noch zu weit, er solle sich wieder aufsetzen, denn schon hatten sich Neugierige genug um sie versammelt.

Dankmar that Das nicht, und der Straßenjugend rief er zu, ob sie Maulaffen feil hätten. Noch sinnend, wozu er [52] sich entschließen sollte, hörte er sich plötzlich angeredet. Um aller Verlegenheit ein Ende zu machen, trat Jemand, der hinter ihnen hergegangen war, hervor und fragte, ob er vielleicht den Gaul in die Stadt zurückreiten sollte?

Siegbert wandte sich um und erkannte seine Bekanntschaft von Tempelheide, den ihm als Schreiber Hackert bezeichneten unheimlichen jungen Mann.

Hackert's Anerbieten wurde von seinem staubbedeckten Äußern sehr wenig unterstützt, und Dankmar wollte schon aussprechen, daß er ganz so aussähe wie Einer, dem man einen Gaul anvertrauen könne, als der Andere sagte:

Ich kenne das Thier! Es steht bei Lasally im zweiten Stalle links. Wirklich, wenn Sie zu Fuß gehen wollen, machen Sie keine Umstände, ich nehme Ihnen die Sorge um das Thier ab und reite es in den Stall zurück.

Dankmar sah sich den verlegenen Bruder an, der ihn am Kleide zupfte, als wollte er ihn warnen, sich auf das Anerbieten einzulassen.

Es ist schon gut, erwiderte Dankmar kurz, wir danken!

Ja so, fiel Hackert mit Bitterkeit ein, Sie glauben, ich könnte Ihnen mit dem Fuchs durchgehen. Ich dachte, weil mich doch der andere Herr schon kennt ....

Siegbert bejahte diese Berufung, doch mit einigem Zögern, das Dankmar in seiner Hast nicht bemerkte.

Das ist etwas Anderes! sagte er. Du kennst den Herrn? Dann steigen Sie nur auf und bringen Sie mir den Gaul gefälligst zu Lasally zurück. Sagen Sie nur dem Levi – Sie wissen doch –

[53] Dem Bereiter Levi –

Ich würde ihm sein Sattelgeld das nächste mal zahlen –

Kann's ja auslegen –

Bemühen Sie sich nicht. Bin oft auf der Bahn. Das ist ja sehr gut! So! Steigen Sie auf! Schnallen Sie sich den Riemen länger. Alle Wetter, Sie haben verteufelt lange Beine!

Siegbert war jetzt eigentlich in Verzweiflung. Im Geiste sah er diesen verlorenen Gaul schon über alle Berge; er sah den Stallmeister Lasally mit einer Rechnung von 30 Louisdors bereits vor ihnen, bereits einen fälligen Wechsel, eine Verpfändung seines Bildes –

Um Gotteswillen, raunte er dem Bruder zu, siehst du denn nicht? Das ist ja ein Proletarier!

Betroffen wandte sich Dankmar und sagte:

Donnerwetter! Was machst du mir für Dinge! Ich denke du bist mit dem Kerl bekannt.

Dabei war aber Hackert schon im Sattel und schickte sich an, mit seinen abgelaufenen geflickten Stiefeln dem Thiere sogar noch übermüthigst die Weichen zu kitzeln.

Halt da! fiel ihm Dankmar in die Zügel. So haben wir nicht gewettet. Ich glaubte –

Was denn? richtete sich Hackert auf; doch nicht, daß man ein Spitzbube ist?

So etwas allerdings! Herunter! Steigbügel vom Fuß! Sind Sie des Teufels?

Hackert ließ sich nicht irremachen und blieb. Plötzlich griff er, glühend im Gesicht wie sein Haar, in die Rocktasche, [54] holte ein schmuziges ledernes Portefeuille hervor, öffnete es in lichterlohem Zorn blitzschnell, langte ein Päckchen heraus und warf es mitten auf die Landstraße, Dankmar fast an den Kopf, mit den Worten:

Galgen und Rad! Da haben Sie hundert Thaler zum Pfand! Und nun hol' Sie der Teufel!

Damit schlugen seine dünnen Beine an und fort sprengte er mit dem Miethgaul, den Thoren der Stadt zu, zum Gelächter der vielen Gaffer, die sich schon um die lebendige Scene versammelt hatten.

Siegbert hatte das Päckchen aufgehoben. Er glaubte sicher und fest, ein Paquet Lumpen in der Hand zu haben, und war todtenblaß vor Schrecken und Erwägung ihrer ohnehin bedrängten Finanzen. Wie erstaunte er aber, als er den Pack entfaltete! Es waren in der That Thalerscheine, dicht aufeinandergelegt und ohne Zweifel betrugen sie soviel, als auf einem Papierstreifen, der sie zusammenhielt, bezeichnet war: Hundert Thaler.

Wenn Der uns durchgeht, sagte Dankmar lachend, so hat er immer noch ein gutes Geschäft gemacht. Fünfzig Thaler werden wir noch drauflegen müssen.

Nein, nein, brach Siegbert voll Beschämung und in freudigster Erregung aus, dieser Mensch ist ehrlich. Ich schäme mich, ihn so verkannt zu haben. Himmel, warum soll denn Jeder, dem die Natur rothes Haar und eine unheimliche Gestalt gab, der Zufall abgetragene und bestäubte Kleider, auch den Charakter haben, den wir in unserer Furcht, in unserm jämmerlichen Dünkel ihm [55] aufdrücken? Dieser Mensch gibt sein Letztes hin, um zu beweisen, daß er ehrlich ist! Es ist der Stolz der Armuth, der ihn fortriß. Ich schäme mich. Er war groß und wir sind klein.

Das muß ich sagen, fiel Dankmar ein. Eine schöne Armuth, die hundert wohlgezählte Kassenscheine mir nichts dir nichts aufs Straßenpflaster wirft ....

Es ist vielleicht das einzige Besitzthum dieses Menschen, fuhr Siegbert in seiner Erregung fort, ohne sich von Dankmar's leichterer Auffassung stören zu lassen. Der Zorn, von uns für unehrlich gehalten zu sein, riß ihn hin, sein Alles zu opfern. Wer weiß, welche Sorge, welche Entbehrungen an diesem Gelde kleben! Dieser Mensch ist ein Schreiber, er heißt Hackert. Ich weiß, daß er sich vergebens um Arbeit bemüht hat. Ich erfuhr, daß er dem Präsidenten des Obertribunals seine Dienste anbot. Aber man stößt ihn von sich, weil seine Augen ein unheimliches zehrendes Feuer haben. Man weigert ihm die Aufnahme in die gebildete Gesellschaft. Hätten wir ihm das Pferd anvertraut ohne Unterpfand, wer weiß, ob wir einem verlorenen verzweifelnden Gemüth nicht den Glauben an die Menschen wiedergegeben hätten! Wie bitter war sein Lachen, als er davonsprengte und seine Ehrlichkeit bezahlen mußte! Ja bezahlen mußte! Und ich selbst, ich selbst, ich ein halber Socialist, war der Mistrauischste und Kleindenkendste! Pfui, pfui! Ich schäme mich über mich selbst.

Ja, Das wird dir übel bekommen, Bruder, fiel Dankmar [56] spottend und mit großer Geistesüberlegenheit ein, wenn du einmal wieder mit Max Leidenfrost einen Handwerkerverein besuchst und mitten in einem schönen Sermon über Philanthropie und Socialismus das rothhaarige Fragezeichen da dich interpellirt, ob du der Bürger Siegbert Wildungen wärst, der dem Bürger – Hackert hieß ja wol der Kerl? – ein Pferd auf der Landstraße nur gegen eine Caution von hundert Thalern anvertrauen wollte? Armer Bruder, das kann dir deine ganze Popularität kosten!

Und mit Recht! sagte Siegbert, der Reden Hackert's auf dem Kirchhofe gedenkend; mit Recht! Spotte nur! Ich weiß, was ich verdiene ....

Dabei steckte er behutsam die Summe, die in seiner Hand geblieben war, in die Brusttasche, vorsichtig untersuchend, ob auch nirgends eine Nath aufgegangen oder eine verdächtige Falte da wäre und das ihm auf so wunderbare Art anvertraute Pfand unversehens entgleiten könnte.

Die Brüder traten nun in den Thorweg des Pelikan, um unter dessen schützenden Fittichen ein Abendessen einzunehmen. Dankmar hatte keine Ruhe mehr, über den Bruder den langverhaltenen Strom seiner Neuigkeiten auszuschütten.

[57]
3. Capitel. Der Pelikan
Drittes Capitel
Der Pelikan

Von dem wunderbaren Vogel, der sich selbst die Brust aufschlitzen soll, um seine Jungen vor dem Verhungern zu schützen, war auf dem Wirthshause, das seinen Namen trug, ein hölzernes, ziemlich verwittertes Abbild über dem Thorwege zu sehen. Auch der rothe, blutähnliche Anstrich des zweistöckigen, mit mehr Holz als Steinen aufgebauten Hauses erinnerte an jene Sage, die die Naturforscher leider nicht bestätigen wollen. Ob im Übrigen der aufopfernde Geist eines Pelikans in dieser Fuhrmannsherberge waltete, mußte erst die Rechnung ausweisen, die die Brüder später zu bezahlen hatten. Vorläufig sahen sie sich vergebens nach einem würdigen Empfange um. Der Thorweg war leer. Keine dienende Pelikanschwinge flog ihnen entgegen und schon schickte sich Dankmar, ungeduldig das Pflaster des Thorwegs stampfend, an, einige allarmirende Donnerwetter in den stillen Sommerabend, in dessen Ruhe sich auch der Pelikan wiegte, und ein jetzt ertönendes Hundegebell zu schleudern, als plötzlich einem freudigen Aufschrei auf dem Hofe folgende, im Harzdialekte gesprochenen Worte sich anreihten:

[58]

Ei der Tausend! Sind Sie's denn wirklich? Musje Dankmar und Musje Siegbert! Kennen Sie mich denn nicht mehr? Die Kathrine Bollweiler aus Thaldüren, die bei Ihrem Herrn Vater selig gedient hat? Besinnen Sie sich nur! O Gott, o Gott, wie kommen Sie denn nur daher?

So und ähnlich variirte noch der Gruß fort, mit dem die beiden Brüder beim Eintritt in den Hof des Pelikans empfangen wurden. Hier unter halbabgeladenen Fuhrmannswägen, unter Strohhaufen, pittoresken und nicht nach Alpenflora duftenden Düngerhügeln, nicht minder stark parfümirten Stalleimern wurden sie von einer kleinen Frau begrüßt, die eben aus der Küche trat mit einer Schüssel voll frischen Salats, an den dem Garten zu gelegenen Brunnen wollte, um ihn zu waschen, sie erst groß und starr anblickte und musterte und dann, die Schüssel geradezu auf den Mist stellend, in obige Worte ausbrach.

Grüß Gott! Grüß Gott! Sie ist die Kathrine aus Thaldüren! sagte Dankmar, die muntere Köchin erkennend. Das trifft sich ja gut und besser als gut! Wie kommt Sie denn funfzig Stunden weit vom Harze her in die Küche hier vom Pelikan?

Aber Kathrine konnte sich nicht sammeln. Ihre Freude hatte noch nicht kräftigen Ausdruck genug gefunden. Besonders hing ihr Auge an dem Siegbert, der ihr freundlich die Hand bot.

Musje Siegbert! rief sie einmal über das Andere. Ach, was für Herren sind das geworden! Gesehen hab' ich [59] Sie beide schon oft, wenn Sie hier vorbei gingen. Immer wollt' ich Ihnen nachlaufen und rufen: Pst! Pst! Aber ich hatt's Herz nicht und da dacht' ich: du sparst es dir einmal auf einen Sonntag Nachmittag auf, um sie lieber einmal ordentlich da zu besuchen, wo Sie wohnen; denn ich weiß, wo Sie wohnen, in der Neustraße. Nicht wahr?

Das weißt du? sagte Dankmar mit gutmüthigem Spott. Und Sonntags Nachmittags? Sieh! Sieh! Gerade das ist die Stunde, wo wir immer ganz sicher zu treffen sind! Das hätte sich ja nicht schöner machen können, Kathrine Bollweiler.

Siegbert, den es rührte, eine Magd seiner Ältern hier anzutreffen, und der Dankmar's Spott nicht leiden mochte, fiel ihm in die Rede:

Woher denn weißt du unsere Wohnung, Kathrine, und kommst nicht sogleich?

Das will ich Ihnen sagen! antwortete Kathrine und stellte die Schüssel mit Salat vom Miste weg auf einen Strohhaufen, während die Hühner gackernd herbeiliefen und der große Hofhund an der Kette, der anfangs ganz allein die Fremden mit seinem fürchterlichen Bellen begrüßt hatte, sich endlich beruhigte:

Mein Mann ist ja der Fuhrmann Peters aus Angerode, der alle Augenblicke einmal etwas bei Ihnen zu bestellen hat, und da hat er mir gleich, wie wir hierher zogen, gesagt, wo die Kinder meiner alten braven Herrschaft wohnen – aber man kommt so schwer ab.

[60] Abzugeben? Wohnen? fiel Dankmar hastig ein. Peters? Wo steckt er denn? Seinetwegen kommen wir ja hier in den Pelikan.

Ich pass' auf ihn jede Stunde! fiel Kathrine ein. Wir sollten ihn schon heute Morgen von Schönau her erwarten, was immer seine letzte Station ist, aber es muß ihm etwas passirt sein ....

Das will ich nicht hoffen! polterte Dankmar. Ich erwarte, daß er mir einen großen Schrein bringt, der mir wichtig ist ....

Weiß ich ja, sagte Kathrine pfiffig. Hat's mir ja geschrieben von Angerode. Aber das Wetter macht zu heiß. Da zieht sich's langsam im Sande. Die Gäule verschmachten und die Fliegen thun auch das Ihrige. Heute Abend kommt er aber noch ganz gewiß. Es schwant mir so.

Weißt du was, Kathrine? Wir warten hier die Erfüllung deines schwanenden Gemüthes ab. Kann man denn in diesem Pelikan ein Plätzchen finden, im Freien, ohne Stallgeruch, einen Trunk aus gutem Keller, einen Nachtimbiß aus deiner bewährten Küche? Mir brenzelt's und prasselt's im Gemüth, seit ich dich sehe, wie von Eierkuchen und andern holden Jugenderinnerungen ....

Hurtig! Hurtig! rief eine feine, sonderbar keuchende Stimme hinter ihnen. Sie wandten sich um und bemerkten eine dicke Figur, die sich inzwischen zu den Redenden gesellt hatte. Ohne Zweifel war dies der Wirth zum Pelikan. Der stattliche Herr war im leichtesten Sommernegligée. So fett, daß sein Schweiß, wie Falstaff sagt, [61] die Erde spicken konnte, beförderte er auch in seiner Kleidung diesen heilsamen Einfluß auf die Fruchtbarkeit des Bodens, Hals und Brust offen, die Hemdärmel aufgestreift. Er schien unter dem hohen Stand des Thermometers schrecklich zu leiden. Keuchend und mit dünner Stimme sagte er:

Hinter der Scheune ist ein Garten, meine Herren, und die Kegelbahn. Aber Wochentags kommt keine Gesellschaft. Wenn's Ihnen nicht zu still da ist und zu einsam ...

Grade recht, wenn's still ist, fiel Dankmar ein. Und nun, Herr Wirth, Zauberwinke! Herrscherbefehle! Bier, Wein, Cotelettes, Salat ....

Nein, Eierkuchen! fiel Kathrine lachend ein. Eierkuchen, wie man ihn in Thaldüren backt.

Eierkuchen, wie man ihn in Thaldüren backt! riefen die Brüder fast im einstimmigen Ton.

Der dicke Wirth lachte und wackelte voraus, ihnen das Gartenstacket zu zeigen. Kathrine hinterher voll seliger Freude. Sie war sauber und reinlich gekleidet; die Haube, ihren verheiratheten Stand anzeigend, bedeckte das Gesicht einer noch recht schmucken Dreißigerin. In ihrer Zerstreuung nahm sie die Schüssel voll Salat mit in den Garten.

Frau Peters, was soll denn der Salat wieder im Garten? fragte der Wirth und lachte.

Ach, ich bin ganz confus! sagte Kathrine Peters und schlug sich vor die Stirn, indem sie nun wieder nicht [62] wußte, sollte sie an den Brunnen oder in die Küche oder im Garten ihren jungen Pfarrerssöhnen aus Thaldüren einen Platz anweisen, der ihr der schönste schien.

Geh sie nur in die Küche, Frau Peters! Ich werde die Herren schon zurechtweisen!

Dies kräftige Wort des Wirths gab den Ausschlag.

Gut, Gevatter! sagte sie, nahm ihren Salat und kehrte in den Hof zurück. Eins, zwei, drei und Sie sollen prächtig bedient sein!

Durch einen kleinen Garten von Rasen, Gemüsebeeten und einigen Obstbäumen vom Pelikanwirthe geführt, fragte Siegbert:

Ei der tausend, Herr Wirth? Die Kathrine nennt Sie Herr Gevatter?

Das kann sie, antwortete der Dicke schnaufend, sie kann's, weil ich's bin. Die Peters ist sozusagen nicht blos meine Magd, sondern sie führt mir sozusagen die ganze Wirthschaft. Mein Weib ist todt, und den Spectakel mit den Mägden hatt' ich satt. Da sagt' ich zu meinem alten Freund Peters, der schon seit zwanzig Jahren bei mir einkehrt und mein Gevatter ist von Kindern, die todt sind: wüßt' ich eine brave Frau in gesetzten Jahren, die mir Ordnung im Hause hielte, ich heirathete wieder. Thue Das nicht, Alter! meinte Peters. Sieh! Ich mache dir den Vorschlag, ich ziehe von Angerode daher. Die Eisenbahnen machen unsere Fuhren immer leichter; es dauert eine Ewigkeit, bis so ein Wagen jetzt voll geladen ist und abgehen kann. Da lieg' ich denn auf der Bärenhaut und bin [63] mehr hier als in Angerode. So muß ich zwei Wirthschaften führen. Besser ich ziehe hierher und sorge nebenbei für deinen Stall, da du alter Kerl bald so dick wirst, daß du nicht mehr hinein kannst, wenn du dir keine breitere Thür baust. Nun, und Das bin ich eingegangen, und das Ende vom Lied ist, daß der Peters seine Wirthschaft hier herübergeführt hat und die kleine Gevatterin hier jetzt uns Alle im Sack hat. Mir ist's recht. Sie sehen, ich komme nicht dabei zurück.

Der behaglich schmunzelnde Wanst rückte den Brüdern am Ende der Kegelbahn dicht an einem Bach, der den Garten begrenzte, einen Tisch zurecht. Das Plätzchen lag gar angenehm im Grünen. Ein voller Apfelbaum beschattete den Tisch mit seinen zackigen Ästen. Die im Untergehen begriffene Sonne warf ihre letzten röthlichen Strahlen herüber. Käfer summten, Vögel zwitscherten von den Nachbargärten her. Sie konnten für die Mittheilungen, die dem ungeduldigen Dankmar auf der Zunge brannten, keinen stillern Ort finden. Schon kam auch Kathrine wieder zurück mit vollen Flaschen, einem Windlichte für die Cigarren und einem Teller voll groben und feinen Brotes zur beliebigen Auswahl.

So! sagte sie; da sitzen Sie ja schon traulich beisammen. So schön wie in Thaldüren ist's freilich nicht. Die Aussicht fehlt – aber so ein Plätzchen gab's doch auch im Garten hinterm Pfarrhause. Und der Herr Vater – Gott hab' ihn selig! – wie gern saß der so Abends im Freien, wenn die Sonne unterging, und sprach dann wie ein Buch, [64] trotzdem daß er's schwer auf der Brust hatte. Ich sagt's gleich, als es hieß, er ist Oberpfarrer in Angerode geworden. Ich war dazumal schon über sechs Jahre an den Peters verheirathet. Ich sagt's gleich, als er in das alte steinerne Pfarrhaus von Angerode zog, da hat's keine Luft für den braven Herrn und seine kranke Brust. Alles von Stein da und die hohen Zimmer und keine Wärme, wenn auch die Öfen groß genug waren und das Freiholz nicht gespart wurde. Wie lange hat er's drin gemacht? Zwei Jahre! Du lieber Heiland, der brave Mann! Wohnt denn die Mutter noch ihr Witwenjahr in dem Hause? Ich weiß, sie haben's ihr nehmen wollen. Feinde hatte Ihr Herr Vater immer; Das wußten Alle und Keiner begriff's warum? So ein engelguter Herr und doch sollt' er nicht in die Stadt kommen, bis es vor seinem Ende doch sein mußte und da war's sein Tod. In dem kalten Ritterhaus!

Frau Peters, der Eierkuchen! rief der Wirth zum Pelikan, der neugierig zugehört hatte, dann aber die träumerische Versunkenheit seiner Gevatterin nun im Interesse der Bedienung vom Vergangenen doch aufstören zu müssen glaubte.

Es ist auch wahr, fiel die ganz weinerlich gewordene Frau ein und lief hurtig wieder davon.

Nun lassen Sie's sich gefallen, sagte der Wirth zu den durch die Erinnerung an den Vater bewegten Brüdern; wie Sie's finden, ist's einmal, und wenn Sie Etwas wünschen, was wir haben, so rufen Sie nur!

[65] Damit setzte er seinen schwerfälligen Mechanismus in Bewegung, wieder dem Hofe zu, und ließ die Brüder endlich allein in behaglicher, stiller Ruhe.

Ein eigenes Zusammentreffen, begann Siegbert und fühlte an die Tasche, ob er sein anvertrautes Pfand, die hundert Thaler, auch noch bei sich hatte; diese Kathrine hier im Pelikan! Wir waren wol Jungen von etwa zwölf und vierzehn Jahren, als sie einen Fuhrknecht heirathete. Wir selbst kommen uns kahl und schaal, zwecklos und ziemlich unnütz in der Welt vor, und ihr gehen wir auf wie die Engel und Propheten! Der Mensch weiß nicht, was Einer dem Andern ist! Sie hat nach uns geforscht, und beobachtet, ein Wiederbegegnen mit uns für ein großes Lebensglück gehalten, das sie sich auf einen schönen Sonntag Nachmittag, vielleicht nach der Predigt, aufsparte, und ich wette, sie träumte im selben Augenblick glückselig von uns, während wir über irgend Etwas in Verzweiflung waren und keinem Menschen in der Welt von Wichtigkeit zu sein glaubten, als nur unserer Mutter und allenfalls unsern Gläubigern!

Daraus siehst du, theurer Communist, sagte Dankmar, indem er seine Cigarre an dem von Kathrine hingestellten Lichte anzündete, daß die Armen auch nicht so ganz elend sind, wie du dir denkst. Sie haben wirklich mehr Paradies als wir uns einbilden und selbst besitzen. Eine Landpartie Sonntags ist dem Handwerksmann eine so große Freude, wie dir vielleicht eine Einladung beim Prinzen Ottokar sein würde. Doch lassen wir jetzt unsere socialen Betrachtungen[66] und besprechen wir ernstere Dinge. Weißt du, bester Bruder –

Nichts weiter! unterbrach ihn Siegbert, ehe du nicht die Hauptsache berichtet hast: wie geht's der Mutter?

Sie ist wohl, sagte Dankmar und schenkte die Gläser voll. Wohlan! Das geht voran! Die Mutter lebe hoch!

Die Brüder stießen an. Die großen braunen Methgläser wollten nicht recht klingen. Der Wirth zum Pelikan schien keinen Wein zu führen. Doch war das Bier schmackhaft und ließ sich trinken.

Und nun, Bruder, fuhr Dankmar fort, höre mir zu! Es ist eine feierliche Stunde!

Ich bin begierig, welche Narrheit du auf dem Tapet hast, ergänzte Siegbert, während Dankmar sich räusperte und also begann:

Siegbert Wildungen, älterer Bruder des sehr ehrenwerthen Dankmar Wildungen, malendes Vorbild eines malerischen Referendars! Es kann dir nicht unbekannt sein, daß sich die Geschichte unsers Hauses in die ältesten Sagen der Vorzeit verliert. Ich will nicht untersuchen, ob sich schon unter den Rittern der Tafelrunde ein Wildungen durch seinen Durst – ich meine nach Abenteuern -auszeichnete; soviel ist gewiß, daß am Hofe Karl's des Großen ...

Theuerster Bruder, fiel Siegbert ein, sparen wir unsere Genealogie für lange Winterabende. Der Apfelbaum und die Johannisbeerhecken lachen uns aus, daß wir bei ihrem Duft in solchem alten Moder stöbern. [67] Johannisbeerhecken? fragte Dankmar und nahm dabei eine wichtige Miene an. Johannisbeerhecken?

Oder Stachelbeeren! Was scheidet uns da von den freundlichen Gärten der Nachbarschaft? Der Bach und die Hecken –?

Johannisbeerhecken! In der That! wiederholte Dankmar hinüberblickend. Seit ich in Angerode meine Entdeckungen gemacht habe, stutz' ich bei Allem, was an Johannes, gleichviel ob den Täufer oder den Apostel, erinnert.

Bist du Freimaurer geworden? fragte Siegbert staunend.

Gewissermaßen, ja! sagte Dankmar. Ich war so frei, in Angerode zu mauern, Wände zu durchbrechen und Johannisbeeren, ... sieh, sieh, in welchem Zusammenhange könnten wol diese Beeren mit einem der beiden Johannes stehen? Warum nennt man überhaupt diese Beeren Johannesbeeren?

Ohne Zweifel hat sie der Täufer Johannes in der Wüste gegessen, erklärte Siegbert.

Oder ... weil sie um Johannis reif sind – fiel Dankmar ein. Schade, daß meine Auslegung prosaischer ist!

Ich glaube, du bist närrisch, erwiderte Siegbert, ein wenig ärgerlich über den Humor des Bruders, der heute nicht ganz in seine Stimmung passen wollte.

Genug, lieber Bruder, Johannisbeeren oder Stachelbeeren, fuhr Dankmar fort, soviel ist richtig, daß du selbst sehr eitel auf den alten Ursprung unserer Familie bist; [68] denn auf deinem Molay hast du einen deutschen Tempelritter angebracht, der mit dem französischen Heermeister des Ordens stirbt, in deinen Flammen, die wunderschön gemalt, aber in dieser Weise historisch nicht motivirt sind.

Das that ich aus gutem Bedacht, antwortete Siegbert; denn ein Hugo von Wildungen war der Ahn unsers früher adeligen Hauses, und wenn nicht Templer, doch Johanniterherr der deutschen Zunge in einem ehemaligen thüringischen Tempelhause.

Und Gott segne diesen Hugo von Wildungen! fiel Dankmar mit Lebhaftigkeit ein. Er hat dir den anachronistischen Frevel, ihn zweihundert Jahre vor seinem in Rom erfolgten Tode schon in Paris verbrennen zu lassen, aus Anerkennung deiner dabei gehegten guten verwandtschaftlichen Absicht gnädiglich verziehen. Denn wenn ich in Halle und Berlin mein Öl nur einigermaßen nicht ganz verloren habe – oleum perdere, lieber Bruder, eine schöne lateinische Redensart für: seine Collegiengelder zum Fenster hinauswerfen –, so werden wir mit Hülfe dieses von dir verbrannten Hugo von Wildungen vielleicht Besitzer einer kleinen, runden, gemüthlichen Million.

Siegbert konnte über diese Bemerkung nicht lachen; denn Dankmar sprach sie mit einem solchen Ernste, das Blut schoß ihm dabei so in die Wangen, der Eifer trieb ihn so convulsivisch vom Tisch empor, daß er im ersten Augenblicke glaubte, sein sonst so nüchterner, nur im Praktischen lebender Dankmar wäre von einer fixen Idee befallen. [69] Du staunst? fuhr Dankmar fort. Aber ohne einen triftigen Grund habe ich keine so wahnsinnige Eile gehabt, dich zu sprechen. Ohne einen solchen Sporn hätt' ich keine Sporen angeschnallt und mich auf einen jetzt vielleicht mit dreißig oder funfzig Thalern Verlust gemietheten Lasally'schen Fuchs gesetzt. Da mußte etwas vorgefallen sein, Herz, was sich der Mühe verlohnte, den Hals zu brechen; denn ich hatte die Absicht, dich aufzusuchen, wo du nur zu finden wärst, und nur dieser rothhaarige Proletarier, diese Kathrine Peters und die Johannisbeeren des Pelikans haben mich verhindert, dir Das sogleich mit der gehörigen Feierlichkeit anzukündigen, was mir seit fünf Tagen wie glühendes Feuer im Munde flammt.

Siegbert, erstaunend über die Aufregung des Bruders, konnte nichts als, alle Gegenrede vermeidend, ihn bitten, deutlicher zu werden und in Ruhe zu erzählen, was er ihm anzuvertrauen hätte.

Wohlan! Du bist von Thaldüren und dem angeroder Lyceum zur Akademie gegangen, fuhr Dankmar, sich wieder setzend, fort, ich zur Universität: wir haben in Angerode, aber nicht im Pfarrhause gewohnt, wo der Vater uns allzu früh starb. Seine frommen Collegen gönnten ihm nicht, da zu wohnen, wo er sterben sollte: denn es war bekannt, daß er sich gern des alten Ursprungs unserer Familie rühmte und von der Pfarrwohnung in Angerode, dem ehemaligen Profeßhause der thüringischen Tempelherren, im Scherz wie von einem Stammsitz seiner Familie sprach. Bei dem kurzen Besuche, den du gerade beim Tode des Vaters in [70] Angerode machtest, wirst du dich des alten verfallenen Nebengebäudes an dem Tempelhause erinnern –

Das ganze Gebäude, ergänzte Siegbert, regte mich immer auf's lebendigste an. Das Tempelhaus zu Angerode ist einer der schönsten Reste des Mittelalters. Die herrliche Façade mit den symmetrisch geordneten Doppelfenstern, deren zwei immer ein Spitzbogen vereinigt, die beiden Giebel, ganz erinnernd an das alte, restaurirte Haus des Martin Behaim in Nürnberg, und selbst der Anbau, den man nicht zur Pfarrwohnung geschlagen hatte, obgleich verfallen und in gedrücktern Formen gehalten, doch gar lauschig und traulich. Dieser Anbau gehörte so unzweifelhaft zu dem Ensemble dieser ehrwürdigen alten Niederlassung, daß ich mich freute, zu hören, wie nun auch diese Räume bestimmt sind, mit der Wohnung des künftigen Oberpfarrers und dem Schulhause verbunden zu werden.

Und gerade in dem Augenblicke, ergänzte Dankmar, wo diese Übergabe erfolgte, kam ich nach Angerode. Man wollte der Mutter erst ihren einjährigen Witwensitz im Hause streitig machen, es wurde mir leicht, ihr Recht bei der Stadt durchzuführen. Schwieriger war es, ihr auch die Nutznießung des Anbaus zu sichern. Sie selbst verzichtete darauf. Du weißt, wie wenig sie bedarf. Aber ich wollte vom Rechte nichts vergeben sehen und bestand darauf, daß ihr auch diese jetzt freien Räume zur Verfügung gestellt wurden. Es war das Archiv und die Bibliothek des ehemaligen Tempelhauses, spätern Johanniterhofes. [71] Das war ein Hetzen mit den Gerbern und Seifensiedern der Stadt! Die Einen wollten in dem alten Gemäuer ihre Felle aufbewahren, die Andern ihre Lichtdochte. Auch die Regierung kam und reclamirte den Ort zum Besten der wollenen Socken und leinenen Kostbeutel des Militairs. Aber ich trat als Advocat auf. Ich sagte ihnen: Diese Stadt Angerode hatte einst die Ehre, der Sitz eines reichen und mächtigen geistlichen Ritterhofes zu sein. Der Orden hat die Wohlfahrt der Stadt begründet. Als er in Folge der Reformation sich auflöste, wurde bestimmt, daß seine sämmtlichen Besitzthümer in Angerode an die Pfarrei der St.-Johanniskirche übergingen. Mit dem Tempelhause selbst geschah Dies. Eure Pfarrer konnten in den kalten großen Räumen mit den steinernen Fußböden, die nur für Ritter bestimmt waren, alle eines frühen Todes an Gicht und Rheumatismus sterben, aber den Anbau nahmt ihr zu diesem und jenem profanen Zwecke. Aus dem alten Archiv und der Bibliothek machtet Ihr das Unwürdigste! Gott sei Dank! Jetzt ist der Fleisch- und Mehloctroi daraus vertrieben, denn Ihr Angeroder habt dem Staat den Mehl- und Schlachtzins durch directe Steuern abgekauft. Nun falle dieser Raum an Die, denen er gehört, an Eure Seelsorger oder deren Witwen! So sprach ich und ich hätt' es doch ohne Proceß nicht durchgebracht, wenn sich nicht politische Freunde gefunden hätten, die die Sache ordentlich nach einem Princip auffaßten. Wie Das möglich war, weiß ich noch bis zur Stunde nicht; aber die Anbaufrage wurde Tendenzfrage, [72] man machte einen Antrag bei den Stadtverordneten, und weil man Aufregung bei dem jüngern Theile der Bevölkerung und der mir rasch zugethanen arbeitenden Classe fürchtete, so hatten wir die Majorität, und die neuen Gelasse fielen nicht an die reichen Gerber und Seifensieder, nicht an die Regierung, sondern an die Geistlichkeit und deren Angehörige.

Eine seltene Ausnahme in diesen Tagen, bemerkte Siegbert, wo dieser Stand eher herauszugeben als zu gewinnen gewohnt ist.

Der Stand that da nichts, fuhr Dankmar fort, das Recht und meine Popularität entschied. Den alten angeroder Lyceisten kannten Alle, feierten Alle. Das Gefühl, mit dem die große eisenbeschlagene Eichenthür, die von unserm Schlafzimmer in den Anbau führt, von mir feierlich geöffnet wurde, entlockte der Mutter einen unwillkürlichen Seufzer, denn gerade da hatte das Sterbebett des Vaters gestanden. Da war er in deinen Armen gestorben, Siegbert, du kennst die Stelle. Die Thür krachte in ihren Angeln. Seit drei Jahrhunderten war sie nicht geöffnet worden. Der alte verrostete Schlüssel lag so lange auf dem Rathhause! Ein Schlosser hatte einen ganzen Tag daran zu putzen, ihn nur einigermaßen wieder brauchbar zu machen. Der Gewinn an Räumlichkeiten war nicht gering, aber da sie im verwildertsten Zustande sich fanden, konnte man sie jetzt schon zur Wohnung unmöglich herüberziehen. Da lagen die Acten der Mahl- und Schlachtsteuerschreiberei in Haufen aufgethürmt. Eine Auction [73] erst entfernte sie. Von der Verbindungsthür stieg man einige Stufen hernieder und befand sich dann auf einem Gange, der mit Bildern alter Heiligen geschmückt war. Ob Boisserée daraus etwas herausfinden würde, was abgewaschen und mit Lack frisch überzogen an einen König von Baiern als altdeutsche Schule sich verkaufen ließe, weiß ich nicht. Dünnbeinig genug sahen die Kriegsknechte und die heiligen drei Könige vom Morgenlande aus, die man da auf Holz geklext hatte –

Still! Still, Dankmar! Deine Frivolität wird bestraft, unterbrach Siegbert den Bruder, Kathrine hemmt deinen Redefluß und zwingt dir eine unwillkürliche Pause auf.

Dankmar sah sich um. Kathrine brachte den Salat und ihr schnittlauchduftendes Backwerk. Selbstzufrieden trug sie das gelbe Erzeugniß ihrer Kunst. Die süßesten Kindheitserinnerungen gingen den Brüdern auf. Siegbert hätte sie gern gleich ausgesprochen, aber Kathrine fiel ihm ins Wort und sagte plötzlich mit trauriger Stimme:

Eigentlich sollt' ich gar nicht vergnügt sein, Sie so bedienen zu können. Lieber Gott, es vergeht doch kein Tag, wo nicht was Schlimmes kommt! Auf eine Freude immer zehn mal ein Unglück.

Was ist denn, Kathrine? fragten die Brüder theilnehmend, schnitten aber schon tapfer ihr Gebäck in gleiche Theile.

Da fährt ja eben, sagte sie klagend, der Fuhrmann von Quedlinburg vorüber – er spannt im Engel aus – und erzählt mir ein Unglück mit meinem Peters.

[74] Das wäre! sprang Dankmar auf und seine Züge verfärbten sich.

Nein, nein, sagte Kathrine beruhigend, es ist weiter nichts, als die Achse hat er gebrochen –

Die Achse?

Und seine Ladung – Mein Schrein? rief Dankmar.

Ist Alles, wie es sein soll; beruhigte ihn Kathrine; aber so niedergeschlagen, sagt der Fuhrmann, ist mein Mann, so rabiat hätt' er ihn angetroffen, als wenn er seine ganze Fracht verloren hätte.

Das wäre mir schön! bemerkte Dankmar, sich nur mit Mühe sammelnd und auf dem Rasen hin und hergehend.

In Hohenberg ist's ihm passirt! berichtete Kathrine weiter. Wie? Das wird er wol erzählen. Er muß in einer Stunde eintreffen, so lange hat's gedauert, bis das Rad wieder hergestellt war. Aber woher kommt's? Von den schlechten Wegen. Seit die Eisenbahnen sind, geschieht nichts mehr für die Landstraßen, und doch muß man's segnen, daß es noch Gegenden gibt, wo der Gottseibeiuns selbst nicht mit Feuer und Dampf über die Wiese fährt. Schlimme Zeit! Aber jetzt lassen Sie's sich's schmecken und sowie er sich auf der Chaussee blicken läßt, meld' ich's an. Freude ist nicht viel an der Fahrt, wenn ein Fuhrmann auf eigene Rechnung fährt und ihm 's Rad bricht.

Damit ging sie. Aber Dankmar hatte eine unbeschreibliche Unruhe. Das Essen mundete ihm nicht.

Ich hätte den Schrein nicht von mir geben sollen! rief er einmal über das andere und rannte dabei auf und ab.

[75] Aber beruhige dich doch nur mit deinem Schrein, sagte Siegbert. Ist denn das die Bundeslade selbst? Du hörst ja, daß sie da ist –

Ehe ich sie nicht sehe, mit Händen greife, habe ich keine Ruhe mehr –

Siegbert mußte lachen und meinte:

In meinem Leben hab' ich nicht gesehen, Dankmar, daß dich etwas so ernst stimmen kann wie dieser Schrein. Was hat es denn mit diesem Heiligthume? Man möchte glauben, es enthielte das goldne Vließ und käme direct aus Kolchis.

Siegbert, sagte Dankmar, seit einer merkwürdigen Nacht, die ich in dem Anbau des Tempelhauses zubrachte, ist mir nichts mehr so wichtig wie dieser Schrank ...

Den du hoffentlich aus dem Eigenthum der Stadt Angerode nicht mitgenommen hast ...?

Allerdings hab' ich Das. Dieser Schrank enthält Schriften, die sich lediglich nur auf uns und unsere Familie beziehen –

Fingirte Memoiren des Johannesritters Hugo von Wildungen, sagte Siegbert lachend, deine ersten schriftstellerischen Versuche im Geschmack der Bernsteinhexe oder der schlesischen Sybille, die man so lange für echt bewunderte, bis sich entdeckte, daß irgend ein ruhmsüchtiger pommerscher Landpastor oder ein gelangweilter schlesischer Stadtschreiber diese Märchen erfunden hat!

Spotte nicht! sagte Dankmar, in drei Jahren werden wir anders sprechen.

[76] Sich setzend und ohne viel Appetit seinem Abendimbiß mäßig zusprechend, fuhr er nun in seinen Mittheilungen fort und erzählte dem erstaunenden Bruder die Entdeckung von Thatsachen, die in das Leben dieser beiden jungen Männer merkwürdig genug eingreifen und auch uns im Laufe dieser Erzählung mannichfach beschäftigen sollen, wenn wir auch gestehen, daß die Brüder selbst ohne Dankmar's Traum von einer Million beneidenswerth waren. Sie hatten Geist, Herz, Talent, jede Anwartschaft auf eine glückliche Zukunft. Ihren reichsten Schatz aber kannten sie nicht einmal. Es war dies die goldene poetische Jugend, die Jugend mit dem Zauberstabe, der Quellen aus Felsen schlägt, luftige Paläste in den Wolken bewohnbar macht und jeden schon am Gemüthe prickelnden Schmerz, jede kleine schon am Herzen nagende Täuschung mit dem Troste heilt: Du bist jung! Noch gehört dir das ganze Leben, noch gehört dir die ganze Welt!

[77]
4. Capitel. Der Schrein im Tempelhause
Viertes Capitel
Der Schrein im Tempelhause

Eines Abends, erzählte Dankmar, lockte mich der Ton der Orgel in der Johanniskirche, deren Sacristei mit dem Tempelhause durch jenen Anbau verbunden war, in den größern Saal, in welchem einst die jetzt verschwundene Bibliothek des Ordens stand, und die kleinern Nebengemächer, wo sich sein Archiv befunden haben soll. Es war eine gewisse Ordnung in das Häuschen gekommen. Die alten geistlosen Schreibereien über Rinder und Mehl waren entfernt, das Erdgeschoß war vom Schmuz, das obere Stockwerk vom Staube gereinigt. Unten sollte eine Waschküche angelegt werden, ein Trockenplatz für den Winter, oben der kleine Saal, einfach gewölbt, und die Nebenzimmer trocken und warm, standen unserer Benutzung anheimgegeben als Wohnzimmer. Es wäre in ihnen traulicher zu hausen gewesen als in den hohen Zimmern des großen Prunkgebäudes nebenan. Die Orgeltöne in der Johanniskirche kamen von einem jungen Schullehrer, der sich zum nächsten Sonntagsgottesdienste übte. Es war mir eine eigene Empfindung, wenn ich zurückdachte an die frühere Bestimmung dieses ganzen alten Tempelhofes. [78] Man hat noch viel zu wenig über den Zweck, die Bedeutung und die Schicksale dieser alten Ritterorden nachgedacht. Ihr Ursprung ist märchenhaft und dunkel, ihr Ende sicherlich nicht so, wie es erzählt wird und gleichsam zu Protokoll gegeben ist. Wer kennt die geheimen Fäden, die aus den Bauten der Indier herüberreichen in den Tempel Salomon's und das Grab des Erlösers, das die Tempelritter hüteten? Wer weist nach, welche noch geheimern Fäden sich von ihnen bis in die neuere Gesellschaft ziehen, während wir jetzt schon wissen, daß vielleicht die Freimaurer, trotz alles Leugnens der Forscher, das Geheimniß der Tempelweihe in sich aufnahmen! Diese geistlichen Ritterorden standen zwischen den Weltlichen und zwischen den Geistlichen in der Mitte, vom Papste und den Königen zugleich geehrt und zugleich verfolgt und immer ehrwürdig durch sich selbst, durch ihre Entsagung, durch ihre Tapferkeit. Sie retteten die Weltlichkeit vor allzu gedankenloser und unheiliger geistiger Richtung, sie retteten den geistlichen Stand vor allzu mönchischer Verdummung und thatenloser Beschaulichkeit. Das Schwert war ihre Inful, der Mantel mit dem Kreuze ihr Pallium. Laß mich's dir sagen, Bruder, heute zum ersten male in Worten, die meiner stillen Bewunderung ein lautes Zeugniß geben, daß dein herrliches Bild, der Feuertod Jakob's von Molay, auch mich tiefinnig ergriffen hat. Ich habe dir bisher nur in lauer Weise, scherzend fast, darüber gesprochen, weil du weißt, wie ich dich verehre, und wie Alles, was von deiner Künstlerhand [79] kommt, mir schon von selbst sich anpreist. Aber ich sehe ein, daß Diejenigen wenig verstehen, mit schaffenden Genien umzugehen, die nicht Alles und Jedes, was diesen entstammt, immer wieder neu begrüßen, neu anerkennen. Nichts kann im Künstler eine bloße Fortsetzung seiner einmal aufgezogenen Thätigkeit sein. Jeder Gedanke, den er verkörpert, entspringt aus einer neuen Offenbarung seines Geistes, die heute durch die Luft, morgen durch Feuer und Wasser zu ihm spricht. Vergib mir, daß ich dir erst heute so theilnehmend und hingegeben von deinem Werke rede!

Dankmar! sagte Siegbert tief gerührt und ergriffen. Eine Thräne stand ihm im Auge, er faßte zitternd des Bruders Hand, die dieser an sich zog und ans Herz drückte. Dankmar! Du bist gut! war Alles, was Siegbert sagen konnte.

Ja, fuhr Dankmar begeistert fort, die Prophezeiung, die man dir und dem so früh sich verrathenden Genius des Knaben stellte, erfüllt sich doch wunderbar. Erlebte Das der Vater, der so früh auf unsere Gaben lauschte, und in mir nur den kalten Verstand des Advocaten, in dir die Wärme und das Talent des Künstlers entdeckte! Hat er uns nicht gepflegt wie zarte Pflanzen, geschützt vor rauhem Sturme der Sorge; hat er nicht selbst gedarbt, um uns den Weg des Glücks zu bahnen?

Auch Dankmar's Augen zitterten. Auch ihm feuchteten sie sich. Seine Nerven schienen erregter als sonst. Es mußte mit dieser starken, metallenen Natur wirklich eine [80] gewaltige Erschütterung vorgefallen sein, daß sie einmal so ihre gewöhnliche Weise von sich warf. Doch war es nur ein Augenblick. Während Siegbert seinen Gefühlen der Erinnerung an einen sorgsamen, liebenden, zu früh dahingegangenen Vater freien Raum ließ, fuhr Dankmar, schon wieder gesammelt, fort:

Alles Das bewegte mich in dem Bibliothekzimmer der Tempelherren beim Klange der Orgel aus der St.-Johanniskirche. An die kahlen Wände zauberte ich mir dein Bild. In dem dunkeln, von den Flammen rembrandtisch erhellten Vorgrunde, das Antlitz König Philipp's des Schönen, der am Vorsprung eines Fensters es wagte, dem Tode der Opfer seiner Habgier beizuwohnen, neben ihm der Legat des Papstes, der seinem noch zögernden und vielleicht nicht ganz erstickten Ehrgefühl den Muth zuzusprechen scheint, diese Hinrichtung deshalb zu wagen, weil die Tempelherren falsche Götzen anbeteten und gotteslästerliche Ceremonien übten! Auf hundert Schritte von diesen beiden Köpfen, neben denen sich im Vorgrunde eine Reihe anderer mit dem gemischtesten Ausdrucke und in wunderherrlicher Flammenbeleuchtung hinzieht, der edle Ordensmeister auf dem Holzstoße, hinter und neben ihm einige andere dem Tode geweihte Ritter, alle von den Flammen umzüngelt und glücklicherweise im Rauche schon erstickend, ehe sie noch das grausame Feuer erreicht. Die weißen Ordensmäntel mit den eingestickten Kreuzen wehen schon angesengt und halb verbrannt im Winde. Hier und da sieht man unter ihnen noch einen [81] geschuppten Waffenrock und auf der Brust das Wappen der Ritter, wozu du bei einem, der dem Vater ähnlich sieht, unser altes Wappen nahmst und dir darunter Hugo von Wildungen dachtest. Über dem Ganzen aber im Wiederschein des Qualms und der Flammen gegen den reinen Äther schwebt eine wie zufällig aufflatternde Taube, die so majestätisch in dem feurigen Lichte schwebt, daß sie Jeder für das Symbol des siegreich aufsteigenden heiligen Geistes erkennen wird.

Ich entlehnte, fiel Siegbert lächelnd über des Bruders Beschreibung seines Bildes ein, ich entlehnte diesen Gedanken der Sage vom Feuertode des Johann Huß.

Gleichviel, fuhr Dankmar fort; auch von diesem Aschenhaufen des Jahres 1314 stieg die Taube der Unschuld, das Symbol der Liebe empor, wenn auch vielleicht noch nicht das der Gedankenfreiheit, in dem ich mir lieber einen Adler mit trotzig ausgebreiteten Schwingen denken möchte. Der in Frankreich, Italien und England aus Habsucht verfolgte Orden erhielt sich längere Zeit in Deutschland, wo ihn, wie manchen andern bessern Gedanken, gerade die Zerrissenheit des Staats zu retten schien. Ein Fürst gönnte des Ordens Besitzthümer dem Andern nicht und so wäre er vielleicht von allen verschont geblieben, wenn ihn eine Bulle des Papstes nicht gezwungen hätte, ein Nebenzweig des Johanniterordens zu werden. Auch im Harze hatte der Orden Tempelhöfe, und sandte von ihnen Ritter aus, die für das Grab des Erlösers in Syrien kämpften. Als die Tempelherren Johanniter wurden, kämpften [82] sie auf Rhodus und Malta. Andere standen im Dienste der Republiken Venedig und Genua, immer um gegen die Ungläubigen und für die Wiedereroberung des heiligen Grabes zu fechten. Sie gewannen dabei kostbare Schätze, die jedoch nicht ihnen, sondern dem Orden gehörten. So hatte Hugo von Wildungen dem in einen Johanniterhof verwandelten Tempelhause von Angerode die uneigennützigsten Dienste geleistet, als die Reformation sich im Harz ausbreitete, die Klöster entvölkerte und auch die Ritterorden auflösend ergriff. Noch wurde im Schooße des erschütterten Ordens die Partei, die am Papste festhielt, von dem katholischen Fanatiker Heinrich von Braunschweig geschützt. Noch fielen die Anhänger der Reformation am Fuße des Harzes auf dem Blutgerüst oder schmachteten in Heinrich's und Georg's von Sachsen tiefsten Kerkern. Aber der Geist der Zeit unterstützte alles Das nicht mehr, was nur noch durch die Schärfe des Schwertes behauptet werden konnte. Auch der Johanniterhof von Angerode rüstete sich zum protestantischen Glauben überzugehen, und wandte bereits den Ertrag seiner Reichthümer dem zum Orden gehörenden Adel als in seiner Familie erbliche Besitzthümer zu. Dagegen trat jedoch Hugo von Wildungen auf, er, der Einzige, der katholisch blieb, er, der es noch da zu bleiben wagte, als auf Heinrich und Georg Regenten folgten, die der Reformation huldigten. Nach der Schlacht von Mühlberg, als die deutschen Fürsten in Halle vor Karl dem Fünften knieeten und er ihnen zur Beruhigung zurief: »Nicht Kopf [83] abe!« bestätigte der Kaiser feierlich den St.-Johannesritter Hugo von Wildungen als Comthur und alleinigen Vertreter der Rechte des katholisch gebliebenen Johanniterhofes von Angerode. Mit dem Heere des Kaisers aber zog auch seine Macht ab. Die abtrünnigen Ritter ließen sich von einem Papier aus ihrem Raube nicht verdrängen und Hugo von Wildungen mußte weichen. Um ihm aber, den Alle achteten, einen Beweis der Verehrung zu geben, um ferner das Beispiel zu beschönigen, das sie selbst von eigenmächtiger Habsucht durch Aneignung der Güter des alten Tempelhofes gaben, setzten die übergetretenen Ritter ihrem katholischen Meister, der erst nach Baiern, dann nach Rom und Malta auswanderte, die letzten Häuser und Liegenschaften des Ordens aus, die sie noch in großen Städten, unter Anderm auch in der jetzigen Landeshauptstadt, besaßen. Die förmlich darüber aufgesetzte Urkunde schickte jedoch Hugo aus Venedig zurück, weil er erklärte, es einem Fluche gleichachten zu müssen, vom Gute des Ordens für sich zu stehlen, wie es die andern ketzerischen Ritter gethan hätten. Bis soweit reichte, wie du ja selber weißt, die Tradition unserer Familie .....

Siegbert bestätigte Dies und sagte:

Wie oft mögen unsere später auch zum Protestantismus übergegangenen, verarmten und durch sich selbst entadelten Ahnen beklagt haben, daß ihrer Familie ein so starrköpfiger Charakter angehörte, der diese wichtige Urkunde zurückschicken konnte! Und wenn sie sich auch fände, sie würde uns jetzt nichts mehr helfen.

[84] Diese schwerlich, sagte Dankmar. Die Erben des vierblätterigen Kreuzes würden immer sagen ...

Des vierblätterigen Kreuzes? fiel Siegbert befremdet ein.

Das Kreuz in seinen vier Enden, sagte Dankmar zum staunenden Bruder, mit dem dreiblätterigen Kleeblatt blieb das katholische Symbol. Die protestantischen Johanniter jener Gegend jedoch – abweichend vom gewöhnlichen Johanniterkreuze – behielten das Kreuz, setzten aber in seine Enden statt drei vier Rundungen, die das vierblätterige Kleeblatt bezeichneten. Dieser Zwiespalt währte bis zum Dreißigjährigen Krieg, wo die Ordensbekenner ausstarben und die noch vorhandenen, nicht vertheilten Güter des Ordens den aufgesparten und seinen Angehörigen vorbehaltenen Antheil Hugo's von Wildungen Dem ließen, der die Macht hatte, sie zu nehmen. Merkwürdig, daß die Häuser und Besitzungen, die die Urkunde von 1556 an Hugo von Wildungen abtrat, bis 1636 in seinem Namen und zu seinen Gunsten verwaltet wurden. Schon damals erhob sich ein Proceß, der in Wien geführt wurde. Der Papst hatte eine Bulle ausgestellt, der zufolge alle geistlichen Ritterhöfe protestantischer Lande ausnahmsweise nun wirklich Eigenthum, aber nur derjenigen Ritter werden sollten, die dem katholischen Glauben treugeblieben wären. Man hatte in Rom gehofft, auf diese Art durch das Privatrecht und dessen locale Gel-tendmachung sich einen festen Fuß in den ketzerischen Landen zu erhalten. Darauf hin hatte Hugo von Wildungen [85] später nicht nur seinen ihm an der großen Theilung freiwillig zugestandenen Antheil, sondern den ganzen Vollbesitz des Ritterhofes Angerode erb- und eigenthümlich für sich und seine Angehörigen verlangt. Der wahre Grund war der Rückhaltsgedanke, das Eigenthum bei dem Orden nur solange aufzuheben, bis ihm Gelegenheit geboten würde, sich in Zukunft wieder zu sammeln. Lieber hob man in Rom einstweilen ein kanonisches Gelübde auf, als daß man dem Protestantismus so reiche Mittel, sich zu kräftigen, freiwillig überlassen hätte. Wie viel Feindschaft auch zwischen der Priesterschaft und den geistlichen Ritterorden waltete, in den äußersten Fragen trat die Eine schützend für die Andern ein. Wie oft dacht' ich nun: Wenn jetzt eine Cession, eine Abtretung der Eigentumsrechte an seine Familie von der Hand des Ritters Hugo existirte, wenn man ein Testament finden könnte, das auswiese, der fanatische Ritter hätte nicht der Kirche, sondern den Seinigen überlassen, was er, wenn auch nur für seinen Theil, vom Vermögen des Tempelhofes beanspruchen durfte! Wären solche Urkunden da, so ließe sich darauf hin ein juristischer Feldzug eröffnen, der ...

Dankmar! unterbrach Siegbert den Bruder. Welche Träume! Welche Phantasieen! Soviel lernt' ich schon von dir, daß es in dem Rechtsleben Verjährungsfristen gibt, wo keine Klage über eine stehengebliebene Schuld mehr angenommen wird.

Wie aber, lieber Bruder, sagte Dankmar sicher und[86] bedeutsam lächelnd, wenn in dieser Angelegenheit, wie im Wallenstein'schen und andern noch schwebenden uralten Processen, merkwürdigerweise deshalb nichts verjährt ist, weil sie alle funfzig Jahre wieder aufgenommen wurde und sich in ewigen Protesten die Communen mit den Regierungen über jene Hinterlassenschaft gestritten haben? Wie, wenn sogar unser Staat, unser jetziges Ministerium mit dem Magistrat dieser Stadt hier einen Proceß wegen siebzehn alter Tempelhäuser begonnen hat, dessen Zulässigkeit in höchster Instanz längst entschieden ist? Endlich, Bruder, wie, wenn ich dir beweisen könnte, daß diese Häuser – Doch genug, höre, was ich erlebte.

Siegbert schob die Reste des Abendimbisses fort und lauschte voll gespannten aber doch zweifelnden Erstaunens.

Als ich nun an jenem Abend, begann Dankmar wieder in seine Erzählung einzulenken, in dem Anbau des Tempelhauses im Interesse der Mutter und ihrer Benutzung dieser Räume mich orientiren wollte, entdeckte ich an einigen Stellen der Wände des Archivs, daß durch die Reihe der Jahre hier und da Mörtel losgesprungen war. Mir fiel Dies auf, weil es mir vorkam, als wenn unter der obern Decke, die nur leicht überkalkt schien, sich noch eine andere befinden müßte, die man nur dürftig überzogen hatte. Ich ziehe mein Taschenmesser und fange zu bröckeln an. In der That! Es ist unter dem etwa einen Finger dicken Überwurf noch eine andere geglättete Wand, die mir immer deutlicher entgegentritt, jemehr [87] ich den spätern, jedoch sehr alten Überputz ablöse. Noch konnte diese Entdeckung auf keinen andern Gedanken führen als den, daß man vielleicht die früher schadhaften Mauern neu hatte herstellen wollen. Plötzlich aber fährt mein Messer in eine Ritze. Ich kratze sie weiter auf. Es ist ein förmlicher Spalt. Ich trenne noch mehr von der obern Wand hinweg; da wird die untere ein von Kalk bespritzter breterner Widerstand. Ich arbeite weiter. Bald entdeck' ich, daß diese Wand gefelgt ist. Ich klopfe. Es klingt hohl. Ich habe ohne Zweifel einen Schrein vor mir, einen in die Mauer gebauten Wandschrank. Jetzt hatt' ich keine Ruhe mehr. Ich mußte gründlicher untersuchen, koste was es wolle. Es war Nacht geworden. Ich kehrte über den Gang nach der alten Verbindungsthür mit dem Tempelhause zurück. Die Mutter schlief schon. In der Küche holt' ich mir ein Licht, ein Beil und einen kleinen Holztritt. So ausgerüstet, kehrte ich an meine Arbeit zurück. Bis zwei Uhr in der Nacht hatt' ich daran gearbeitet, den obern Putz des ganzen gewölbten Zimmers herunterzuschlagen; ich selbst und meine Lampe, wir erstickten fast im Kalkstaub, den ich nicht zum Fenster hinausleiten mochte, sondern wie einen Dampf durch die Thür auf den Gang und zum Kirchhofe hinausstreichen ließ. Für die erste Nacht begnügte ich mich mit der Entdeckung, daß die letzten, wahrscheinlich protestantischen Ritter, die das Tempelhaus noch bewohnten, ohne Zweifel vor den Schrecken des Dreißigjährigen Krieges dies Archiv hatten schützen wollen und über die in die Wände gemauerten Schränke,[88] um sie am sichersten zu verbergen, eine ganz neue Wand gezogen hatten. Am Tage darauf setzte ich meine einsame Arbeit fort. Niemand hinderte mich, auch der Mutter entdeckt' ich nichts. Ich kannte ihre Ängstlichkeit und die allgemeine Scheu, in solchen Dingen etwas zu thun, ohne gleich der Polizei Anzeige zu machen. Die Benutzung dieser Räume stand ihr ja frei. Die Wandschränke der Zimmer, die wir im Tempelhause hatten, standen ihr ja auch offen. Auch hier fanden sich nun Wandschränke. Was sollt' ich zögern, sie, so gut es ging, für unser Bedürfniß zu öffnen! Ohne einen Schlosser war Dies freilich nicht möglich. Ich fand glücklicherweise einen, der es ganz in der Ordnung fand, daß die Mutter diese Gelasse nach Bequemlichkeit benutzen wollte. Der entfernte Schutt konnte ihn auf keinen andern Gedanken bringen, als daß hier noch einige Repositorien zur Mahl-und Schlachtsteuerverwaltung übriggeblieben waren, zu denen denn, »wie gewöhnlich«, fügte er hinzu, die Actuare den Schlüssel verloren hätten. Als der Schrank geöffnet war und wieder neue Schubläden zeigte, die dem Schlosser aufzuziehen nicht einfallen konnte, war ich geborgen. Ich entdeckte das vollständige Archiv der Tempelherren und Johanniter von Angerode, seit dem Übergang der Templerei in den Bruderorden des St.-Johannes im Jahre 1320 bis zum Jahre 1636. Alles Das, was sich auf die Geschichte des johannitischen Tempelhofes seit seinem Übertritt zum Protestantismus bezog, war auffallenderweise in einem großen eichenen braungebeizten Schrein [89] vereinigt, der auf dem Deckel in erhabener Holzarbeit ein Kreuz zeigte, dessen Enden in vierblätterige Kleeblätter ausliefen. Diesen Schrein nun –

Um Gotteswillen, rief Siegbert, den hast du doch nicht aus dem Amtsgebäude entfernt?

Dankmar wollte antworten, aber in diesem Augenblick wurde das Gebell des Hofhundes, das schon seit einigen Minuten wieder begonnen hatte, unerträglich. Die Brüder, ganz vertieft in ihre Mittheilungen, sahen sich um. Die Nacht hatte sich leise mit einem durchsichtigen Sternenkleide herabgesenkt. Johanniswürmchen funkelten schon im Grase. Alles war still, traulich, nächtlich, nur der Hofhund machte einen Lärmen, der den gereizten Nerven der Brüder förmlich Schmerz verursachte.

Die Bestie! rief Dankmar und wollte schon hinaus, um das Thier zur Raison zu bringen, als Kathrine die Gartenthür aufstieß und herüber schrie:

Er kommt!

Gott sein Dank! rief Dankmar, nahm seinen Hut und eilte über alle Beete weg den kürzesten Weg zum Hofe des Pelikan. Siegbert folgte ihm langsamer und fühlte, als umgäbe ihn geisterhafter Spuk, nach seinen Taschen. Er erstaunte, wie Hackert über das Kreuz an der Kirche in Tempelheide ihn so richtig hatte aufklären können. Am Stil der Kirche, mußte er sich jetzt sagen, fand er, daß sie allerdings nur aus den Zeiten nach der Reformation herrühren konnte. Aber zu der Aufregung des Bruders wußte er nicht, ob er sich ihrer freuen oder betrüben [90] sollte. Sie schien ihm zu krankhaft, zu unnatürlich, an Dankmar ganz ungewohnt. Er kannte ihn nur von seiner klaren und immer helldenkenden Vernunftseite. Wenn ihn zum ersten male hier etwas täuschte, wenn er statt nach dem langsam zu erreichenden Ziele seiner gediegenen Kenntnisse und seiner freimüthigen Gesinnung nach einem Luftphantome griffe! Er folgte tief bekümmert dem Bruder, indem er die kleinen Wege einhielt, die in dem bescheidenen Gärtchen von den Beeten bezeichnet waren.

Es war fast Nacht geworden. Aber im Hofe des Pelikan wurde es lebendiger wie am Tage. Der Hofhund ließ sein Bellen nicht, ja einige kleine Kläffer hatten sich ihm noch zugesellt und führten ein ohrenzerreißendes Concert auf. Woher sie die Witterung hatten, daß der Fuhrmann Peters von Angerode, der Eheherr ihrer jetzigen Herrin Kathrine, ankam, ist schwer zu sagen. Nur das elektrisch bewegte Schalten und Walten Kathrinens, ihr plötzlicher Aufschrei: Er kommt! mußte ihnen das Zeichen gegeben haben, daß etwas im Werke und Werden war. Der dicke Pelikanwirth schlorrte, auch seinerseits insoweit erregt, als in diese Fleischmasse Leben und Bewegung kommen konnte, auf und ab. Der gute Mann mußte gewohnt sein, beherrscht zu werden, sonst würde er nach dem Tode der Pelikanwirthin sich nicht so ganz fremden, untergeordneten Menschen in die Arme geworfen haben. Kathrine zeigte sich jetzt in der Art, wie sie einen Stall- und Hausknecht zur Vorbereitung des Empfangs [91] zurechtwies und eine andere Magd schalt, die die Einfahrt des Thorwegs mit Kücheneimern und Besen verstellt hatte, als die eigentliche Herrin des Ganzen, die die Umstände dieses Gasthauses klug zu ihrem Vortheil benutzt hatte.

Doch war sie heute nicht ganz so froh, wie sonst, wenn Peters von Angerode anfuhr.

Ich weiß nicht, sagte sie, ist er so müde oder was hat er, daß er auch nicht einmal mit der Peitsche klatscht! Sonst hörte man ihn schon vom Chausséeeinnehmer her, soviel knallte er, daß es die ganze Vorstadt wußte: der Peters ist da. Und heute ... es muß wol das Rad sein. Wo soll's auch hinaus, wenn man in schlechten Zeiten auch noch die Achse bricht! Der Wagen geht ihm nahe, das ganze Geschäft! Er weiß, daß es nichts mehr taugt und in den Ofen geschoben werden muß, statt in die Remise.

Die Erwähnung der Remise brachte sie wieder darauf, daß der Hausknecht ihre Thorflügel nicht weit genug geöffnet hätte.

Muß man denn überall seine Augen haben! polterte sie sich in einen künstlichen Zorn hinein. Wird denn nichts geschafft, wenn man's nicht selber angreift und Jeden mit der Nase darauf stößt! Ja, ja, Musje Siegbert, da sehen Sie, daß es in Thaldüren nicht allein etwas zu schaffen gab! Hier fehlt uns aber so ein langer Matthes, wie auf dem Pfarrhofe, der den ganzen Tag wetterte und die Faulen anhetzte. Matthes fluchte den ganzen Tag, und wenn's der Herr Vater merkte und's ihm verwies, sagte der alte [92] Spitzbube: wo soviel gebetet wird, Herr Pfarrer, kann auch einmal ein bischen geflucht werden, sonst kommt Eins in den Himmel zu zeitig.

Siegbert freute sich der Erwähnung des alten Matthes aus ihrer Knabenzeit, Dankmar aber hörte nicht mehr darauf, so erfüllte ihn Peters' Ankunft. Er sah in dem von einigen Lämpchen erhellten Zwielicht der Landstraße den großen Wagen auf dem schlechten Pflaster langsam herantaumeln. Hohl dröhnten die krachenden großen Räder herauf. Er blieb wieder stehen, nachdem er dem Wagen einige Schritte entgegengegangen war. Kathrine, die bald in der Küche, bald im Stall, bald auf der Straße war, sagte jedesmal, wenn sie wieder ausschaute:

Ach! ach! wie 'ne Schnecke! Was wird er müde sein und wie ärgerlich! Und er klatscht nicht! Er klatscht nicht! Das ist schlimm ...

Endlich war denn der große, mit grauen Leinen überspannte Wagen dicht am Pelikan. Drei schellenbehangene Pferde zogen ihn. Peters in blauer Blouse schritt zur Linken. Er hinkte etwas. Wie der Fuhrmann beim Schein einer Laterne Dankmarn erkannte, sagte er mit sonderbarem heisern Tone:

Dacht' mir's! Dacht mir's! Guten Abend –!

Ihr habt Unglück gehabt, Peters? begrüßte ihn Dankmar. Doch Alles wohl verwahrt? Sonst keinen Schaden genommen?

Jesus! schrie auch in diesem Augenblicke seine Frau; du hinkst ja, Mensch? Du hast Schaden genommen ...

[93] Guten Abend! sagte Peters mit gedämpftem Ton und lenkte die müden Pferde in den Thorweg ein. Dem dicken Wirth galt ein zweiter Gruß. Doch hätt' er ihn bald an die Wand des engen Thorwegs anquetschen können, wenn er nicht rasch in die Wirthsstube retirirt wäre. Endlich standen Pferde und Wagen im Hof. Kathrine, Siegbert, Dankmar drängten sich an den Fuhrmann, der in dem Augenblicke, als er das Ziel seiner Fahrt erreicht hatte, einen Schmerzensschrei ausstößt und zusammensinkt.

Was ist? Gott im Himmel! Peters! so scholl es durcheinander. Kathrine wirft sich über ihren Mann. Der Wirth zum Pelikan ruft: Wasser! Siegbert tritt geängstigt näher. Dankmar faßt des in halber Ohnmacht daliegenden Mannes Hand. Was ist Euch, Peters? Seid Ihr krank? Erholt Euch!

Ich überleb's nicht, stöhnte der von innerer Qual gefolterte Mann, ich überleb's nicht.

Aber Peters, suchte ihn sein Weib zu beruhigen, erkennst du nicht die jungen Herren? Was hast du? Ist's dein Bein, was dich schmerzt? Der Wagen ist auf dich gefallen, als das Rad brach? Sollen wir Leinen in Wasser tauchen? Willst du nasse Leinen auflegen? Sprich nur was, um Gotteswillen!

Statt aller Antwort schüttelte Peters heftig mit dem Kopf und lehnte mit der Hand jede Hülfleistung ab.

Ich erkenne die Herren wohl, begann er endlich, als Alles gespannt lauschte, aber vergeben Sie's mir, Herr Dankmar, ... Gott ist mein Zeuge ...

[94] Peters! rief Dankmar von einer Ahnung ergriffen; der Schrein –

Ist fort! sagte Peters dumpf und seine Gesichtszüge verzogen sich wie das Lächeln eines Wahnsinnigen.

Grimmiger Zorn packte Dankmarn.

Mensch! schrie er und rannte an den Wagen, um das Leintuch abzureißen. Er sah Kisten, Fässer, Ballen genug. Der Schrein ist da! Verpackt unter den andern! Du irrst, Peters!

Fort! stöhnte Peters dumpf.

Kathrine brach in ein lautes Schluchzen aus. Die Hunde bellten nicht mehr. Der Pelikanwirth mußte sich erschöpft und ermüdet auf einen Futterkasten an dem Stalle setzen. Der Hausknecht löste still die Pferde von der Deichsel und nahm ihnen die Schellenhalfter ab. Müd und wie traurig und mit bösem Gewissen schlichen die armen Gäule in den Stall. Alles stumm im Hofe und fast gespenstisch ...

Siegbert, der seinen Bruder fürchterlich leiden sah, nicht minder wie den unglücklichen Fuhrmann, ergriff endlich das Wort und sagte:

Erinnert Ihr Euch auch, den Schrein wirklich aufgeladen zu haben?

Ha! ha! war die ganze Antwort.

Wo entsinnt Ihr Euch, daß Ihr ihn zuerst vermißtet, fuhr Siegbert fort.

Hinter Hohenberg und Plessen! antwortete der Fuhrmann.

Auf freiem Feld?

[95] Im Dorfe Plessen, an der Schmiede.

Wo Ihr das Rad herstellen ließet, das gebrochen war?

Dort.

Der Wagen mußte abgeladen werden?

Das mußt' er.

Ihr waret indeß in der Schmiede, wo das Rad her gerichtet wurde?

Ich lag halbtodt.

Armer Mann! Man muß Mitleid mit Euch haben. Aber der Schrein war meinem Bruder von Werth. Er enthielt Documente von seltener Wichtigkeit. Er würde ihn selbst mit sich geführt haben, wenn er nicht noch im Harz Geschäfte gehabt hätte. Er glaubte den Schrein Euch auf die Seele gebunden zu haben.

Er war's auch.

Aber Ihr wurdet von dem Sturz des Wagens ohnmächtig. Ihr wußtet vielleicht nicht, daß man, um das Rad herstellen zu können, die Last des Wagens erleichtern mußte. Man packte ihn ab, und als Ihr Euch erholt hattet, als das Rad fertig war und Ihr, unterstützt von den Leuten in Plessen, weiterfahren konntet, vermißtet Ihr erst das anvertraute Gut?

O nein, sagte Peters und richtete sich mühsam auf. Als ich mich erholte, schalt ich, daß man in der Schmiede so schlechte Hebebäume hatte, um nicht einmal einen so leichten Wagen unabgepackt zu lassen. Ich fluchte, wie man mir meine Fracht abladen konnte. Ich raffte, es war in der Dämmerung des Morgens – denn ich fuhr der Hitze [96] wegen in der Nacht – ich raffte gleich Alles zusammen, was um die Achse zerstreut herumlag. Ich wußte, wo der Schrein stand, ich hatte ihn immer im Auge, ihn, der mir so heilig anvertraut war. Ich faßte wol alle Stunden an die Leinwand, ob ich auch noch das Kreuz auf dem Deckel fühlte. Nach dem faßt' ich zuerst. Ich find' es nicht, das Kreuz auf dem Holze ist nicht da. In meiner Ohnmacht hatte man abgeladen, Alles auf dem Wege liegen lassen und war mit dem Rad an die Schmiede gegangen, von der mir funfzig Schritte weit das Unglück passirte. O Gott! Wie war mir, als ich den Schrein nicht fand! Noch vor einer halben Stunde hatte ich das Kreuz gefühlt .... Um zwei Uhr Nachts fuhr ich aus. Um halb Drei brach das Rad; der Wagen stürzte so, daß mein Bein gequetscht wurde. Ich schrie auf und rief und jammerte. Man kam zur Hülfe. Eine halbe Stunde mocht' ich betäubt gelegen haben. Nachdem hink' ich und sehe mich allein unter meinen abgeladenen Gütern. Der Mond stand noch am Himmel. Alles still. Kein Mensch um mich. Nur im Schlosse Hohenberg oben entdeckt' ich helle Fenster .... Musik, wie von einem Tanz her, den sie dort bis an den Morgen hielten, und von der Schmiede hört' ich die Hammerschläge. Der Morgen graute. Ich übersehe meine Güter. Die kalten Umschläge, die man dem Bein gegeben, hatten ihm gut gethan. Ich konnte leidlich gehen. Da! Mein erster Blick sucht den Schrein, ich find' ihn nicht. Jesus! Es war mir in meiner Betäubung, als hätt' ich einen Mann gesehen, der ihn forttrug; einen Mann in einem [97] Mantel .... Ich hörte den Schrein an einem Steine poltern; denn er war schwer zu tragen, genau gewogen, sechsundvierzig Pfund und ein halbes. Ich sag' es noch – es war kein Traum – geraubt ist der Schrein. Gestohlen ist er, das schwör' ich zu Gott. Ich schlug Lärm, rief den Schmied, seinen Gesellen. Ich will den Schrein sehen! Die Leute waren halb verschlafen, hatten kaum gewußt, was sie abluden. Sie hatten nur auf mein Jammern und das Winseln meines Hundes gehört ...

Wo ist Bello? rief Kathrine, jetzt erst fühlend, was ihr gefehlt hatte.

Bello ... Bello hat bei dem Sturz ein Bein gebrochen, sagte der Fuhrmann ächzend.

Bello ist todt! jammerte sein Weib.

Wenn ihn der Schmied nicht heilt, vielleicht! sagte Peters und fuhr mühsam fort:

Das Schreien und Winseln des Thieres weckte den Schmied, ich lag in Ohnmacht. Bello blieb beim Wagen und winselte. Ich hörte ihn in meinem Zustand, als man mir die Umschläge machte. Ich frug ihn, den Bello, ja den Hund, als ich erwachte, nach dem Schrein. Das Thier verstand mich und heulte und winselte und hörte nicht auf zu bellen. Aber es hatte den Dieb nicht festhalten, mich nicht wecken können. Da lag ich elend, da lag mein treues Thier, zerstreut meine Fracht und ein Räuber umschlich uns, der, ich schwör's – uns bestohlen hat!

Sich aussprechen und sein Unglück erzählen können, schien den Fuhrmann etwas zu erleichtern. Nach einer [98] Weile fuhr er, während Dankmar starr brütend zuhörte, fort:

Das Dorf Plessen liegt am Fuße des Schlosses Hohenberg. Mit meinem hinkenden Beine schleppte ich mich an alle Thüren und rief den ganzen Ort wach. Es war vier Uhr. Oben auf dem Schlosse erloschen allmälig die Lichter. Einzelne Wagen fuhren herunter. Man hatte ein Fest gefeiert, das nun zu Ende war. Jeden Wagen hielt ich an und fragte nach meinem verlorenen Gute. Die geputzten Gäste lachten mich aus und antworteten, ich sollte sie schlafen lassen. Den Ortsvorstand holt' ich aus dem Bett. Ich verlangte, daß der Schmied und sein Gesell festgenommen würden, und doch kannt' ich Beide als ehrliche Leute seit Jahren, und ich schämte mich, sie für Diebe zu halten. Auch ließ ich sie frei und bei meinem Rade. Der Schmied ist blind, sein Sohn taub. Die sind ehrlich. Aber das ganze Dorf bot ich auf und gesucht wurde überall, hinter jedem Strauch, in jedem Graben; aber der Schrein blieb verloren. Gott weiß es, in welches Teufels Hand er gekommen! Was sollt' ich thun? Das Rad war hergestellt, der Wagen fertig, mein Hund blieb beim Schmied, der ihn heilen will. O Gott! Was sollt' ich thun? Der Ortsvorstand versprach mir auf Ehr' und Seligkeit, Alles anzustellen, um den Gaunerstreich zu entdecken. Meine Lieferungszeit für die Güter ist auf Tag und Stunde berechnet. Ich mußte fort. Die Thiere zogen den Wagen und mich. Gehen könnt' ich wenig, ich hinkte. Da bin ich nun, Herr! Machen Sie mit mir, was Sie wollen. Der Schrein ist gestohlen.

[99] Nach einigem Bedenken sah Dankmar nach seiner Taschenuhr. Es war halb Zehn.

Wie weit ist's bis Hohenberg und Plessen? fragte er rasch.

Wir rechnen vierzehn Meilen. Es sind dreizehn ein halb, sagte Peters.

Bin ich mit einem Einspänner morgen Mittag da? fragte Dankmar weiter.

Bis morgen Abend, wenn's ein guter Gaul ist und Sie ihm dann und wann einige Ruhe gönnen.

Herr Wirth, sagte Dankmar, ich sah in Ihrer Remise einen Einspänner stehen. Pferde haben Sie im Stall. Wollen Sie für mich einspannen lassen? In zwei, drei Tagen bin ich wieder da.

Bruder, fiel Siegbert erschrocken ein, ist dir der Verlust denn wirklich soviel werth, daß es dir an einem Aufruf in den Zeitungen und einer Anzeige an die dortige Behörde nicht genügt?

Ich bitte dich! erwiderte Dankmar mit großer Bestimmtheit. Mache gegen ein Unternehmen keine Einwendung, das mit meinen künftig wichtigsten Lebensplanen in zu naher Verbindung steht. Es ist ja nicht um diesen Schrein; es ist nicht um diesen zeitlichen Gewinn; es ist um etwas Höheres, das in mein und dein ganzes Leben eingreifen soll ...

Damit trat er näher und flüsterte dem Bruder halblaut zu:

Siegbert, hast du Geld bei dir, so gib! Oder meinst du, [100] daß der Wirth uns zwanzig Thaler vorschießt? Du schickst sie ihm morgen wieder.

Siegbert schien der Säckelmeister der Brüder zu sein. Er verwaltete das höchst schwierige Amt, zwei jungen Männern, die noch keine sichere Lebensstellung hatten, soviel Hülfsmittel durch weise Ökonomie beisammen zu halten, daß sie immer mit leidlichem Anstand in der Welt bestehen konnten.

Er murmelte einige sonderbare Worte, die wie ein keineswegs günstiger Kassenüberschlag klangen.

Die Reise nach Angerode hat Geld gekostet, sagte Dankmar ungeduldig ...

Und mein Bild ist noch nicht verkauft, fiel Siegbert in jenem murmelnden bedenklichen Tone ein, der auf eine augenblickliche finanzielle Ebbe zu deuten schien.

Aber was machen wir uns denn für Sorge! fuhr Dankmar plötzlich auf. Du hast ja hundert Thaler bei dir.

Ich – hundert Thaler? Was fällt dir ein?

Wozu die Bedenklichkeiten! Der Rothkopf ist ein Capitalist, der mit unsern Zinsen zufrieden ist. Sahst du denn nicht, daß er uns ein Zwangsdarlehen aufdrängte? Gieb nur her! Zwanzig Thaler genügen. Für das Übrige wird unser Schutzgeist sorgen.

Siegbert, fast voll Entrüstung, zögerte ... Es ist Unrecht von dir, mich in solche Versuchungen zu führen! sagte er; dein abenteuerlicher, mir jetzt noch lächerlicher Schrein! Ich verstehe dein archivalisches Unglück gar nicht, kann deine finanzielle Ungeduld gar nicht [101] schätzen .... Was weiß ich denn, was hier so Wichtiges auf dem Spiele steht! Ich will nicht sagen, daß ich – er lenkte dabei freundlicher ein – zu Hause aus unserm Staatsschatze diese zwanzig Thaler nicht wieder ergänzen könnte ...

Das kannst du? rief Dankmar. So günstig steht die Bilanz der Gebrüder Wildungen? Und da quälst du mich mit einer Miene, die aussieht wie ein österreichischer Bankbericht? Her das Packet! Zwanzig von hundert bleiben achtzig! Wir sollten geizen, wir, die wir Pferde an Landstreicher verschenken, classische Bilder malen, ohne sie zu verkaufen, wir, die wir eine Anstellung im Staate so lange verachten, bis sich der Staat gebessert hat und würdig zeigt, einem Mann von Grundsätzen jährlich achtzehnhundert Thaler Gehalt zu geben, wir, die wir die arrangirtesten jungen Weltverbesserer sind, die nur jemals das Wort Credit und das Geld überhaupt verachtet haben!

Solchem Humor konnte Siegbert nicht widerstehen. Er trat hinter den großen Packwagen, griff in die Tasche, löste das Packet und zählte dem Bruder soviel Scheine ab, als er gewünscht hatte. Währenddem wurde schon die kleine Kalesche aus der Remise gezogen, die Stalllaterne leuchtete einem Pferde voraus, das langsam mit gebücktem Halse über den Hof schlich, in die Gabel des Wägelchens vom Hausknecht eingeschoben und angeschirrt wurde. Kathrine und Peters waren inzwischen verschwunden.

[102] Und nun ... wer fährt Sie jetzt? fragte der Pelikanwirth, der mit Gutmüthigkeit an Dankmar's Verlust den innigsten Antheil nahm.

Ich selbst! Ich selbst! Nur die Peitsche her!

O, Das nicht, Herr! Das macht Sie müd und mat. Kaspar, da mein Knecht, geht mit. Die Peitsche geholt, Kaspar! Die Decke auf den Bock! Sapperlot, schläft der Kerl schon um die zehnte Stunde im Gehen! Hört und sieht nicht, was um ihn vorgeht! Kaspar!

Schon wollte sich Kaspar, aufgerüttelt von seinem Herrn, der in fremder Ermüdung nur seine eigene vertuschen wollte, anschicken, dem Befehle zu folgen, als aus der Dunkelheit eine Stimme ertönte und die Worte vernehmbar wurden:

Wecken Sie doch den Kaspar nicht aus seinen süßen Träumen, Herr Wirth. Er sehnt sich, sehen Sie nur, nach einem tiefen Chausseegraben, in den er den Herrn hineinfahren wird. Wenn Sie erlauben, meine Herren, mach' ich mir das Vergnügen und ...

Der Sprecher brach ab und trat vor. Es war Hackert. Die Stalllaterne beleuchtete seine magere Gestalt und gab ihr im Zwielicht ein unheimliches, verwittertes Aussehen. Er hatte die Hände in den Beinkleidertaschen, als fröstle ihn. Das Halstuch hing über dem zugeknöpften Frack herab in langen, losen Zipfeln.

Sind Sie schon wieder da? fragte Dankmar erstaunt, während Siegbert in eine unbeschreibliche, fast komische Angst gerieth. Er gedachte, wie es nun werden sollte, [103] wenn der sonderbare Fremde jetzt sein veruntreutes Pfand wieder verlangte.

Ich habe den Levi auf Ihren nächsten Händedruck vertröstet, sagte Hackert. Jude bleibt doch Jude und wenn er auch Sporen an den Stiefeln trägt. Der alte Schimmel, der unter Roßtäuschern groß geworden ist und mehr Hengste gewallacht hat als mancher Beschnittene Dukaten wallacht, ist mein Freund nicht. Er meinte, es hat gute Wege –

Und war doch froh, daß er sein Pferd wieder bekam? entgegnete Dankmar forschend und wiederum zu Siegbert hinüberlugend, der vor Schreck über diese rasche Wiederkehr Hackert's fast sprachlos geworden war.

Die Mähre läßt sich's schmecken, als wenn sie ein Wettrennen mitgemacht hätte. Sie sehen übrigens, daß ich mit Pferden umzugehen verstehe. Wenn's Ihnen recht ist, fahr' ich Sie nach Hohenberg und helf' Ihnen die Kiste mit dem Kreuz suchen. Sehen Sie, Herr Maler da hinten, ich bin curios, ob das ein drei-oder ein vierblätteriges Kreuz sein wird! Gleichviel, wenn wir das Ding nur wiederfinden!

Dankmar horchte hoch auf. Siegbert erzählte dem Bruder in wenig Worten, daß er die Bemerkung über ein ähnliches Kreuz an der Kirche zu Tempelheide diesem gefälligen Herrn Hackert verdanke.

Hackert! Ganz Recht! Das ist mein Name! sagte dieser, und ich denke, ich fahre Sie nach Hohenberg. Wir treffen dort Gesellschaft. Lasally und seine Jokeys sind dort – sonst freilich ...

[104] Sonst? wiederholte Dankmar, als Hackert stockte.

Sonst – sagte Hackert und griff nach der Peitsche, die Kaspar geholt hatte. Mit einer Bewegung der Arme holte er aus und knallte. Er schien die Antwort vermeiden zu wollen.

Kaspar und der Pelikanwirth schienen wenig Vertrauen zu dem aufdringlichen Mann zu haben und brummten vor sich her. Siegbert kämpfte wieder mit dem Gefühl, daß Hackert doch wol ein zweideutiger, ihres Vertrauens unwürdiger Mensch wäre, und bangte vor dem Gedanken, den geliebten Bruder mit einem im Feld herumschleichenden Tagediebe, einem abgesetzten Schreiber, allein zu lassen. Allein Dankmar, der vom Bruder besorgen mußte, daß er, um nur den Antrag Hackert's ablehnen zu können, die ihm eben zugezählte Summe von zwanzig Thalern zurückfodern würde, schnitt alle weitern Verhandlungen mit den Worten ab:

Steigen Sie auf, wenn's Ihr Ernst ist! Machen wir nun vorwärts.

Gut denn! Es ist mein völliger Ernst. Aber wenn ich nun bitten dürfte ...

Dabei hatte ihn Dankmar schon auf den Bock gehoben. Der Wirth warf die Decke und einen alten Mantel nach.

Erlauben Sie aber noch, sagte Hackert, sich zu Siegbert umwendend, erlauben Sie nur noch – zur Reise braucht man Geld – darf ich um mein Pfand bitten –

Ihr Pfand behält mein Bruder, sagte Dankmar rasch [105] entschlossen. Wer verbürgt mir, daß Sie den Gaul richtig abgeliefert haben?

Henker! Was? rief Hackert und richtete sich auf dem Bocke hoch auf. Sie wollten ...

Aber in demselben Augenblicke schlug Dankmar mit der Peitsche schon auf das Thier ein, rief: Allez! und ohne weitern Abschied zu nehmen, jagte er aus dem Thorweg hinaus, schwenkte rechts um und hielt Hackerten, der immer schrie: Halt! halt! Lassen Sie mich! auf dem Bocke fest, wie Einen, den man mit Gewalt entführt. So flogen sie von dannen ......

Siegbert wußte nicht, wie ihm dabei geschah. Es schien ihm bald, als wenn Hackert, wie er das Pferd entwendet hätte, so vielleicht auch Absichten auf das Fuhrwerk hegte. Bald schlug er sich wieder an die Stirn über die Gefahr, in die er seinen Bruder sich stürzen sah. Zuletzt mußte er lachen, wenn er bedachte, mit welcher Geistesgegenwart Dankmar plötzlich alle Verlegenheiten über die Rückgabe der hundert Thaler abgebrochen hatte. Ein Eingeständniß an Hackert, daß man von ihm das im Augenblicke so nöthige Reisegeld hätte borgen müssen, wär' ihm zu peinlich gewesen. Ihm schwindelte, wenn er bedachte, wie fast gewaltsam der Zufall heute diesen Fremden in sein Leben gedrängt hatte – und nun war er mit dem Bruder unterwegs! Der Wagen rasselte noch eine Weile. Dann keine Spur mehr.

Wer ist der Mensch? fragte der Pelikanwirth. Als Siegbert schwieg, bestätigte Kaspar, daß er während Peters' [106] Erzählung in den Hof hineingetreten wäre und zugehört hätte. Siegbert besann sich, daß er dem Bruder die zwanzig Thaler glücklicherweise hinter dem großen Frachtwagen, also von Hackert ungesehen, zugezählt hatte. Erst wieder von da hervortretend, wurden sie von ihm angeredet.

Zu dem Allem kam noch Kathrine weinend über das Elend ihres Mannes. Er hatte ihr die sämmtlichen Declarationen seiner Fracht eingehändigt und sich wie ein Sterbender ins Bett geworfen mit den Worten: Mach du nun Alles ab: ich werde wol recht lange krank liegen! Von da an hätt' er nichts mehr hören und sehen, auch nichts mehr genießen mögen. Siegbert versagte der weinenden Frau nichts von seiner Theilnahme, bezahlte seine Schuld und versprach ihr und dem Pelikanwirth aus der Stadt sogleich einen Arzt zu schicken.

Er ging und zuerst zu dem nächsten Arzte, den ihm der Pelikanwirth bezeichnet hatte. Dann aber trieb es ihn in die Lasally'sche Reitbahn, um zu hören, ob Hackert wirklich das Pferd abgeliefert.

Im Gewühl der Stadt angekommen, hörte und sah er nichts von den Menschen, die an ihm spät Abends noch vorüberstreiften, so erfüllt war er von Angst und Schrecken über die fernern Begegnisse seines Bruders, der ihm einem Phantome nachzujagen schien, für das ihm jede reelle Anknüpfung fehlte! Nur der eine Gedanke wurde ihm in diesem Tumulte zuletzt licht und klar, der ihm heimlich und geisterhaft zuflüsterte:

[107] Man tanzt in Hohenberg bis tief in die Nacht! Dankmar wird Melanie sehen! Melanie unter geputzten Gästen! Melanie, die Schönste der Sylphiden, die im Mondenschein schlüpfen! Melanie in Hohenberg, umschwärmt von Lasally und den jungen Stutzern der Residenz, die ihr zudringlich genug aufs Land gefolgt sind! Melanie, der bezaubernde Mittelpunkt einer in ihrem Anschauen schwelgenden Gesellschaft .... Die Geigen tönen – die Säle sind erleuchtet – die Blumendüfte einer schönen, reizenden Natur dringen durch die geöffneten Fenster – die Sterne funkeln – der Mond flimmert – Melanie und mein Bruder in Hohenberg ...

Da bemerkte Siegbert, daß er schon auf der Ottokarstraße war, in welcher die geschmackvoll angelegte Reitschule des jungen stadtbekannten Lasally lag. Es schlug zehn Uhr, als er heftig die Glocke des großen Thorwegs zog.

[108]
5. Capitel. Der Heidekrug
Fünftes Capitel
Der Heidekrug

Dämmerung umhüllte die kleinen tempelheider Anhöhen. An einem linden Hauch aus Westen erfrischten die Bäume am Wege ihr bestäubtes Laub. Leichte Wölkchen, die sich am Rande des tiefblauen Horizonts vor die blitzenden Sterne legten, verhießen vielleicht für den Morgen einen erquickenden Regen, dessen die Natur so bedürftig war. Von der großen Stadt her, die fern im Thale abwärts noch wie ein Lichtmeer wogte, schlugen die Thurmuhren die zehnte Stunde. Deutlich trug der Westwind Schlag auf Schlag herüber zu dem einsamen Fuhrwerk, das der aus dem Schlaf geweckte Gaul des Pelikanwirthes noch ziemlich langsam zog; denn auch der Weg ging jetzt steil aufwärts.

Den beiden Passagieren, die wohl fühlten, daß ihnen vor allen Dingen Verständigung noththat, kam dieser mäßige Schritt zustatten. Dankmar drückte sich in die Rückwand des kleinen Wagens, Hackert führte auf dem Vordersitze die Peitsche. Beide schienen ernstlich zu überlegen, wie sie so plötzlich in diese nahe Verbindung gekommen waren. Dankmar, der außer der nächsten [109] Unbequemlichkeit einer zweideutigen, an ihn geketteten Bekanntschaft noch die viel größere Last des Verlustes seiner werthvollen Papiere zu tragen hatte, entschloß sich, um Raum zur Erwägung seines plötzlichen Reisezwecks zu gewinnen und ungestört über die Wege nachdenken zu können, die er zur Wiedererlangung seines Schatzes würde einschlagen müssen, lieber vorerst das nächste Unbehagen abzuschütteln und sich, soweit es bei der zweifelhaften Ehrlichkeit seines Vordermannes möglich war, über diese wunderliche, aufdringliche Begegnung zu verständigen. So begann er denn kurz vor Tempelheide, als sie langsamer die Höhe hinauffuhren:

Jene Kirche da hat Sie mit meinem Bruder bekanntgemacht?

Hackert antwortete nicht.

Sie haben ihm Aufschlüsse über eine gewisse Gattung protestantischer Johanniterkreuze gegeben? fuhr Dankmar fort.

Das Korn der blinden Henne! war Alles, was Hackert kurzab antwortete.

Damit war die erste Annäherung schon wieder abgebrochen.

Dankmar kopfschüttelnd, sah zur Kirche, zum Parke, zum Schlosse des alten Präsidenten hinüber. Tiefe Stille, nächtliches, friedliches Walten ....

Eben wollte er wieder eine abgerissene Bemerkung an Hackert richten, als von dem düstern Parke her die[110] Töne einer wahrscheinlich dort aufgehängten Äolsharfe erklangen.

Es war ein zauberhafter Accord, der der schweigsamen Nacht eine geisterhafte Feierlichkeit, die Stimmung einer wehmüthigen Melancholie gab.

Die Anhöhe ging steil. Dankmar konnte den weichen Tönen aufmerksam lauschen und einige noch helle Fenster des kleinen Schlosses länger im Auge behalten. Es war ihm, als bemerkte er an diesen Fenstern eine weibliche Gestalt, die sicher wie er, aber ohne Zweifel mit unendlich ruhigern und mildern Gefühlen, dem sanften, melodischen Gesäusel des Parkes lauschte ....

Hackert erkannte die Dame, die Siegbert Wildungen den labenden Trunk geschickt hatte. Für die Äolsharfe, für den träumerischen Blick jener, wie es schien, leidenden und tieftrauernden Frau zu den Sternen empor hatte er keine Empfindung. Er schien in völlige Apathie oder in tiefes nachdenkliches Grübeln versunken.

Die nächtlich stille Scene, verklärt von den Sternen und dem klagenden Lufthauche vom düstern Parke her, wurde oben von einem heftigen thierischen Gekrächze gestört, das die Accorde der Äolsharfe übertönte. Dankmar besann sich. Er wußte, daß der oberste Chef aller Justizcollegien ein großer Freund der Thierseele war und sich in Studien über die Temperamente, Instincte und Angewöhnungen wilder und zahmer Bestien einen Namen erworben hatte. Er sah noch, daß die weibliche Erscheinung, wol auch erschreckt durch die Störung ihrer stillen [111] Abendandacht, vom Fenster verschwand, und fuhr jetzt bergab, verfolgt von einem wirren Durcheinander der, wie es schien, durch Hackert's Peitsche wachgewordenen Menagerie des alten Präsidenten. Ein düsterer Tannenwald nahm bald das kleine Fuhrwerk auf.

Wie Dankmar seinen Vordermann so schweigsam und stillergeben in seine Kutscherrolle fand, rückte er zur weitern Verständigung mit der aufrichtigen Erklärung heraus:

Sagen Sie mir aber bei dieser Gelegenheit, bester Freund, für was halte ich Sie? Sind Sie Cavalier oder eine Art Commissionair?

Sie staunen über meine resolute Art, Geschäfte zu machen? sagte Hackert, ohne sich umzuwenden.

Allerdings. Sie reiten mir ein Pferd in den Stall, Sie bieten sich mir als Kutscher an. Ich überlege, wieviel ich Ihnen für diese Expedition nach dem Schlosse Hohenberg zu bezahlen habe.

Bieten Sie! sagte Hackert fast höhnisch.

Bieten Sie? wiederholte sich Dankmar. Gut, dachte er, wir wollen bieten.

Drei Thaler, bester Freund! Ich rechne dabei noch die Mühe für das hoffentlich abgelieferte Pferd.

Wie Dankmar hierauf gespannt die Erwiderung abwartete, hielt Hackert plötzlich still, legte die Peitsche neben sich hin und wendete sich mit verdächtiger Miene rückwärts.

Nun? sprang Dankmar auf und maß seinen Vordermann, [112] dessen Benehmen in diesem düstern Tannenwalde sonderbar genug aussah.

Das Pferd hab' ich geritten, sagte Hackert ergrimmt, weil ich's gern that und weil Ihr Bruder mir Freundlichkeiten erwies, ohne mich zu kennen. Ich hab's gethan aus noch einem andern Grunde, den Sie künftig einmal hören sollen, wenn wir uns besser verstehen, als es bisjetzt den Anschein hat. Zum Fahren nach Hohenberg erbot ich mich, weil ich in Hohenberg zu thun habe. Ein Kutscher bin ich nicht, fahre auch jetzt keinen Schritt weiter, wenn Sie mir hier nicht auf der Stelle gestatten, neben Ihnen zu sitzen. In Hohenberg aber fahren Sie, ich steige dort aus oder bin gleichsam Ihr Freund, verstehen Sie? Nicht um hundert Thaler fahre ich Sie in Hohenberg.

Damit wollte er über die Lehne springen und an Dankmar's Seite sich setzen.

Halt da! sagte dieser und wehrte dem Beginnen mit Entschlossenheit.

Sie als Freund anzuerkennen, hab' ich keine Veranlassung, erklärte er. Behagt es Ihnen nicht, vor mir zu sitzen, so sind wir noch nahe genug am Pelikan, daß Sie umkehren können ....

Hackert's Antlitz verzog sich zu einem bitter grimmigen Lächeln. Der innerlich in ihm tobende Zorn gab ihm etwas Grinsendes. Er fühlte, daß er seinen Mann gefunden hatte, und blieb, niedergedrückt von dem viel stärkern Dankmar, auf seinem alten Platze.

Also welches waren die Bedingungen? sagte Dankmar. [113] Wir wollen eine nach der andern prüfen und zugestehen, was den Umständen angemessen ist.

Hackert dachte jetzt auf andere Art das Gleichgewicht herzustellen. Er streckte sich nachlässig auf dem Kutscherbock, zog eine Cigarre aus einem schön gestickten, einst gewiß farbig frischen, jetzt etwas abgetragenen Etui, zündete sie an einem portativen Streichfeuerzeuge an und blies die Wolken vor sich hinaus, als verachtete er Den, der ihn mit Gewalt in eine niedrige Stellung hinabdrücken wollte.

Also welches waren die Bedingungen? wiederholte Dankmar. Erstens, Sie sitzen vor mir. Zweitens ...

Hackert blieb ruhig und rauchte.

Zweitens, fuhr Dankmar fort, bei Hohenberg ergreife ich Peitsche und Zügel. Zugestanden in dem Falle, daß Sie aussteigen und mir die Gnade nicht abschlagen, dann drei Thaler für Ihre Dienste anzunehmen.

Hol Sie der Teufel! rief Hackert lachend, hieb wild auf den Gaul ein und klatschte mit der Peitsche so übermüthig, daß es laut durch den stillen Wald widerhallte.

Dankmar schwieg. Er hatte einen Anmaßenden züchtigen, einen Verdächtigen in die nothwendigen Schranken zurückweisen wollen. Den ihm von Pelikanwirth geborgten Mantel über die Füße schlagend, gab er sich nun mit ganzer Seele der Überlegung alles Dessen hin, was er anordnen wollte, um wieder zu seinem verlorenen Gute zu kommen. Daß ihm dieser Unfall begegnen konnte, mitten in dem Gedränge der Hoffnungen, die sich ihm an die [114] Angeroder Entdeckung knüpften, erfüllte ihn fast mit Groll gegen die Launen des Geschicks. Er sah sich nicht etwa gestört in dem Genusse von Reichthümern, die ihm seine Entdeckung gewinnen konnte, er hatte diese Träume so entschieden abgelehnt, daß wir seinem ehrlichen Worte glauben dürfen ... es erfüllten ihn andere, uns noch dunkle Vorstellungen. Vielleicht begeisterte ihn nur der juristische Kampf um die Geltendmachung seiner Ansprüche. Vielleicht spornte ihn die Vorstellung: Du trittst jetzt mit einem verjährt scheinenden Rechte auf, weckst vergangene Misbräuche aus dem Moder der Schreibstuben, kämpfst gegen Besitzthümer, die sich vielleicht in ihrer Begründung unendlich sicher dünken! Vielleicht verglich er die Zeit selbst mit seinem persönlichen Interesse. Dankmar war Jurist und Politiker. Sein Vater, ein denkender, ernster Beobachter, hatte früh in dieses Kindes Talenten die Fertigkeit der Rede, die schnelle Auffassung, den unverwüstlichen Trieb der Gerechtigkeit erkannt, und Dankmar, dem vielleicht ein anderer Beruf augenblicklich lieber gewesen wäre, mußte sich doch später sagen, daß die Bestimmung des Vaters einer tiefen Beobachtung entsprungen und eine richtige war. Man rühmte allgemein seine juristischen Deductionen. Nur zur rein formelhaften Erfassung des Rechts konnte er sich nicht abtödten. Ein Unrecht vertheidigen, das Recht suchen je nach der spielenden Beleuchtung scheinbarer Rechtssätze und zweideutiger Gesetzesstellen, war ihm auf die Länge unmöglich. Deshalb auch währte die Begründung einer [115] festen Stellung für ihn länger als bei manchem geringern Talente. Er hatte schon seit fünf Jahren die Universität verlassen, alle Prüfungen bestanden, war vor den Gerichten, wie in der Gesellschaft wohlgekannt und seines Freimuths wegen gefürchtet, von der jüngern Frauenwelt, seines männlichen Äußern, fröhlichen Humors und seiner ritterlichen Galanterie wegen ebenso geschätzt wie sein sanfterer Bruder von der ältern Frauenwelt; aber zu einem ergiebigen Anhalt an Ämter und Würden hatte er es noch nicht gebracht. Nur hier und da flossen ihm zuweilen in Diäten die Mittel zu, die ihm erlaubten, seinen Antheil an dem hinterlassenen kleinen väterlichen Vermögen zum größten Theile noch der Mutter anheimzustellen. Die Urkunden, die ihn vielleicht als den rechtmäßigen Erben eines vermoderten Hugo von Wildungen erwiesen, verwandelten sich in seiner Phantasie keineswegs in die Millionen, von denen er dem Bruder gesprochen. Er wußte, daß der Staat in diesem Augenblicke Alles daransetzte, jene allerdings seit Jahrhunderten offene Erbschaftsfrage in seinem Interesse zu lösen und die städtischen Besitzungen dem Fiscus zu gewinnen. Ihn reizte nur die Theilnahme an diesem Kampfe. Er wollte dem feudalen Staate zeigen, wie sich seine Anmaßungen in den Angeln eines Erbrechts bewegten, das zuletzt jedem Andern ebenso gut zustattenkommen könne wie einem Fürsten. Er knüpfte an diesen Proceß nur seine Wissenschaft, seine Kunst und die auf ihr sich gründende Zukunft seines Berufs, für den er ebenso viel Ehrgeiz besaß wie sein Bruder [116] für die Malerkunst. Und nun sollten diese Träume an dem misgünstigsten Zufall, der einen einsamen auf der Landstraße preisgegebenen Frachtwagen treffen konnte, scheitern? Er sah den Schrein erbrochen, die werthvollen Papiere zerstreut, zu gewöhnlichen Zwecken gedankenlos misbraucht, ja vielleicht gar in den Händen der beiden Parteien, denen vor allen der Besitz dieser uralten, glücklich aufgefundenen Verschreibungen zu entziehen war! Er verfiel in tiefes, unmuthiges Sinnen.

Wenn Sie darüber nachdenken, fing Hackert jetzt, der sich in sein Schicksal ergab, von selbst an, wie Sie zu Ihrem Verluste wiederkommen können, so rechnen Sie dabei nur nicht auf die hohenberger Justiz. Mit der sieht's nicht zum besten aus.

Dankmar bemerkte:

Sind Sie in Hohenberg bekannt?

Bekannt eben nicht, antwortete Hackert; schlechte Justiz merkt man nie so gut in der Nähe wie in der Ferne. Den dortigen Patrimonialrichter kenne ich aber. Er war oft in der Residenz. Er soll nun in die ordentlichen Gerichte aufgenommen werden, und handelt noch mit der Regierung über seinen künftigen Titel. Fürstlich hohenbergischer Justizdirector hieß er und möchte den langen Schwanz nicht gern aufgeben, wenigstens seine Frau nicht, wenn auch die Stellung draufgehen wird.

Wir treffen also ein Patrimonialgericht? sagte Dankmar. Das ist mir für unsern Fall erwünscht. Es geht da mit einem Processe kurz und bündig zu.

[117] Ja, ja, antwortete Hackert, die Hohenberger haben gleich ihren Thurm, drei Klafter tief, bei der Hand. Der Thurm ist Inquisitoriat, Spinn-, Zuchthaus, Festung, Alles in einem Loche. Nach den allgemeinen vaterländischen Zuchthäusern schicken nämlich die Patrimonialrichter nicht gern, das wissen Sie wol? Da müßten sie ja ans nächste Landesgericht referiren, das gibt Schreiberei, Untersuchung; da werden von oben her Nasen über schlechte Proceduren ausgetheilt, und so kann Einer einen Mord anstiften, stehlen, einbrechen, falsch schwören und so lustig fort; der Herr Justizdirector findet immer soviel mildernde Umstände, daß der Mörder mit einem halben Jahre Localhaft davonkommt und die Regierungsjustiz nicht genirt wird. Ein halbes Jahr, länger darf der Fürst von Hohenberg Keinen strafen, sonst muß der Spectakel gleich an das allgemeine Landgericht.

Dankmar empfand jetzt fast Reue über die entschiedene Art, wie er Hackert entgegengetreten war. Er sprach da so kundig über Rechtsverhältnisse, daß fast ein collegialisches Gefühl in ihm auftauchte. Um Hackert's zurückgekehrte gute Laune im Zuge zu erhalten, sagte er:

Ihre Schilderung ist nicht übel. Apropos! Sie erwähnen den Fürsten von Hohenberg. Wissen Sie etwas von ihm? Ich wunderte mich, was mein verdammter Fuhrmann von einem Balle auf dem Schlosse fabelte. Der alte Fürst Waldemar von Hohenberg ist todt. Der junge Prinz Egon ist ja wol verschollen?

[118] Prinz Egon, sagte Hackert, der über diese Verhältnisse allseitig unterrichtet schien, Prinz Egon ist in Paris oder sonstwo und kommt schwerlich mehr nach Hohenberg zurück. Wenn die Herrschaft nicht zu Hause ist, halten Hunde und Katzen Hof. In Hohenberg auch die Füchse und Wölfe und Blutegel. Die drei Hauptcreditoren der fürstlichen Masse sind vor ein paar Tagen hinaus mit Kind und Kegel, um Luftbäder zu nehmen. Justizrath Schlurck ißt gern Forellen, frisch aus dem Murmelbach, wie die Frau Justizdirectorin sagt, die Schlurck's schwache Seiten kennt ......

Hat denn Schlurck die Curatel auch über die Hohenberg'sche Masse? fragte Dankmar, der den Namen des gefeierten und vielgesuchten Advocaten Franz Schlurck sehr wohl kannte.

Wo hätte Franz Schlurck nicht seine Finger im Spiel! war Hackert's scharfbetonte Antwort. Seit dem Tode des Fürsten von Hohenberg geht dort Alles durch seine Hand, bei Lebzeiten des Fürsten war er schon Administrator. Es ist prächtig Das mit so einer Administration! Die Gläubiger jagen den Besitzer von Haus und Hof, setzen einen Verwalter über die verschuldeten Häuser und Güter, lassen Den den Rahm oben abschöpfen und nehmen Das, was zuletzt von dem Spaße übrigbleibt, als Abschlag für die Zeit, wo's besser wird. Alle Jahre feiern sie eine allerliebste Assemblée, die sie die Besprechung der Masse-Creditoren nennen. Man rechnet erst, man schimpft, man droht, man lärmt, aber Abends ist Ball, Versöhnung,[119] Händedruck und wol auch »Gänschen, du liebes Gänschen, was rasselt im Stroh!«

Die letzten Worte sang Hackert mit frivolem Ausdrucke und nach bekannter volksthümlicher Melodie.

Dankmar fühlte zwar, daß Hackert aus seinem Schreiberamte eine vielfach unterhaltende Bekanntschaft mit allerhand Privathändeln sich erworben hatte, mochte ihm aber doch, um seine eigenen Angelegenheiten bewegt, in den innern Zusammenhang seiner Ansichten und Empfindungen nicht zu weit folgen. Er begnügte sich, auf alle diese Mittheilungen vorerst zu schweigen. Auf die Länge – die Uhr einer Dorfkirche schlug die zwölfte Stunde – fühlte er eine Anwandlung von Schlaf. Wirklich sah er auch nur mit halbwachem Bewußtsein, daß sie in ein stilles Örtchen kamen, wo nicht einmal das Bellen eines Hundes sich hören ließ. Ein Brunnen plätscherte laut vor einem Hause, das vielleicht eine Herberge war. Dankmar sah nothdürftig, daß Hackert abstieg, den Gaul bei Seite und an den Brunnen führte. Hackert nahm ihm die Halfter ab und ließ ihn an den Rand des Wassers. Dabei langte er ein Stück Brot aus der hintern Rocktasche und theilte mit dem Gaul. Ein großes Messer, das er aufklappte, schnitt bald für das Thier, bald für ihn einen Bissen ab. Auch in das Wasserbecken des Brunnens beugte sich Hackert, trank wie der Gaul und klopfte dann die Tropfen ab, die ihm dabei auf Halstuch und Weste gefallen sein mochten. An diesen sorgsamen Verrichtungen hatte Dankmar, durch die müden Augen blinzelnd, seine [120] Freude. Sie gaben ihm so sehr das Gefühl der Sicherheit, daß er, ohne gerade Neigung für seinen Vordermann zu gewinnen, ihm doch volleres Vertrauen zu schenken anfing und den Schlummer immermehr über sich Herr werden ließ.

Doch schlief er nicht so fest, um nicht zuweilen, aufgerüttelt von dem inzwischen wieder weiterrollenden Wagen, seinen Gedanken klarer nachzuhängen. Wie man so oft an sich erfährt, daß jede im ersten Sturme ergriffene Unternehmung nicht immer standhält, wenn die zu ihrer Ausführung nothwendige Zeit langsam schleichend an uns vorüberzieht, so übermannte auch Dankmarn bald das Gefühl der Ergebung in Das, was das Schicksal über seinen Verlust nun würde bestimmt haben. Er konnte sich ausmalen, welche Freude ihm das Wiederfinden des Schreines bereiten würde; aber ebensosehr rüstete er sich auch schon auf die Gewißheit, daß er all den Plänen, die er an jene Entdeckung im Archivsaale des alten Tempelhauses geknüpft hatte, entsagen müßte. Er warf diese Thatsache wie so viele andere, denen der Erfolg fehlte, in jenes große weite Meer, auf dem schon so viel Hoffen untergegangen, so viele Träume gescheitert sind. Und das Gefühl einer gewissen Leere übermannte ihn so gewaltig, die Gleichgültigkeit gegen jedes Geschick überschlich ihn mit der schwindenden Kraft des jungen, schlafgewohnten Körpers so unwiderstehlich, daß er nach einiger Zeit sich aufraffend den mit großen gespenstisch offenen Augen in die Nacht hinausstarrenden Hackert anrief:

[121] Freund, ich will Ihnen sagen, woran wir besser thun.

Nun? fragte Hackert wie aus Träumen erwachend.

Beim ersten Wirthshause, das wir entdecken, halten wir, trommeln die Leute aus dem Schlafe, führen den Gaul in den Stall und schlafen im Bette oder auf der Diele oder im Stroh eines Stalles, gleichviel. Was meinen Sie?

Mir ist's recht, sagte Hackert und zeigte auf ein Licht, das in einiger Entfernung am Saume eines Waldes sichtbar wurde. Wo sind wir wol hier?

Kennen Sie nicht einmal den Weg, fragte Dankmar, den Sie so muthig fahren?

Dies ist die erste Reise, die ich in meinem Leben mache, sagte Hackert. Ich habe den Sündenpfuhl, in dem ich geboren bin, noch auf zwei Meilen nie verlassen.

Nun begreif' ich, sprach Dankmar lachend und doch wieder von Mistrauen ergriffen, daß Sie die Gelegenheit einer Luftveränderung beim Schöpfe festhielten. Wenn man Sie anschaut, möchte man nicht glauben, daß Sie in irgend Etwas noch ein jungfräuliches Gemüth sein können. Übrigens will ich hoffen, daß wir nicht auf dem Wege nach Hamburg oder Leipzig, statt nach Hohenberg sind. Sie machen mir schöne Sachen! Jetzt auf das Licht zu! Und da bleiben wir, bis es hell wird und wir wissen, wo wir hier unter den Sternen herumkreuzen.

Hackert pfiff dem Gaule zu, der von dem Lichte auch eine freundlichere Ahnung zu bekommen schien und sich wacker in Trab setzte.

[122] Ich bin ja erst zweiundzwanzig Jahre alt, sagte Hackert, gleichsam um sich zu entschuldigen. Was weiß ich, wo die Wegweiser da all am Wege hinzeigen!

Zweiundzwanzig Jahre erst? antwortete Dankmar staunend und maß dabei, sich vorneigend, die Furchen auf Hackert's Stirn, die tiefliegenden Augen, die schlotterige, entnervte Haltung. Seine Lippen waren fahl, das Auge nur dann feurig, wenn es in unheimliche Erregung kam. Zweiundzwanzig Jahre, wiederholte er, wie haben Sie das gemacht, schon wie ein Sechsunddreißiger auszusehen? setzte er nicht ohne Bitterkeit hinzu.

Ich habe geschrieben, antwortete Hackert. Wer von seinem vierzehnten Jahre an nur auf dem Schreiberbocke reitet, kann keine so farbigen Wangen haben, wie meine Haare sind. Sechs Tage in der Woche habe ich acht Jahre lang Actenstaub geschlürft und Proceßgift eingeathmet. Abends und Sonntags hab' ich gelebt ....

Gelebt? wiederholte Dankmar. Was nennen Sie leben? Es scheint, leben hieß bei Ihnen soviel als sich langsam umbringen.

Hackert gab auf diese Bemerkung keine andere Antwort, als daß er nach einer Weile bemerkte:

Das Licht ist ein Wirthshaus.

Ein gewaltiges Hundegebell begrüßte die nächtlichen Ankömmlinge. Sie standen vor der Pforte eines großen Gehöftes, aus dem im Dämmerlichte Leitern, Stangen und Scheunen hervorsahen. Ein dem dunkeln Walde zu gelegenes stattliches Wohnhaus schien geschlossen, oben [123] aber in den Fenstern des ersten Stocks brannten noch Lichter. Hackert sprang vom Wagen und stieß mit dem Griffe der Peitsche an den Thorweg, daß die Hunde nur noch zorniger bellten. Auf ein mehrmaliges Heda! kamen endlich über den gepflasterten Hof die Pantoffeln des Hausknechts angeschlorrt. Ein großer Holzriegel wurde von innen zurückgeschoben, eine Stalllaterne warf ihre trüben Strahlen auf Hackert's bleiches Angesicht.

Können wir Nachtquartier haben? war Hackert's Frage, der überhaupt so gewandt sich in Alles zu finden wußte, als wenn er Jahrelang auf Reisen zugebracht hätte.

Nur herein! rief der Hausknecht mit einem sonderbar fröhlichen Tone. Hier seid's gut geborgen, Kin der! Juchhe! Du armes Thierchen du! wandte sich der fröhliche Hausknecht zum Pferde. Komm! komm! mein Hühnchen! Friß Vogel und stirb mir nicht! Ja! Ja! Wenn's immer, wenn's immer, wenn's immer so wär'.

Hier geht's ja spaßhaft zu, sagte Dankmar und sprang von seinem Sitze herunter. Ihr singt ja wie die Nachtigall im Busch.

Hört Ihr sie schlagen, Herr? fragte der Hausknecht. Ihr kennt mein Lieschen im Busch? Noch drei Tage, dann sagt sie: Adieu Dietrich, Adieu Heidekrug! Und erst über's Jahr kommt sie wieder. Fahr' wohl!

Hackert erklärte diesen Humor für die Folgen eines gut angewandten Trinkgeldes. Dabei fielen sie fast über einen andern Knecht, der lang auf einem Strohhaufen ausgestreckt im Hofe lag.

[124] Dietrich und Heidekrug! bemerkte Dankmar. Soviel haben wir jetzt weg. Der Heidekrug ...

Ja, ja, der Heidekrug – komm, Schimmel! Im Stall – im Stall – im Stall ist's kühl.

Damit zog der fröhliche Hausknecht vom Heidekrug singend den Gaul von dem Einspänner in den Hof und begann ihn vorm Stalle auszuschirren.

Heidekrug? sagte Hackert. Wohnt denn hier der Heidekrüger?

Ja, Kutscher, das habt Ihr gut gerathen. Hier wohnt der Heidekrüger.

Dankmar, dem der Name ebenfalls auffiel, bemerkte:

Der Heidekrüger? Das wird doch nicht Herr Justus sein?

Just Herr Justus, sagte Dietrich und führte den Gaul in den Stall.

Kennen Sie den gelehrten Gastwirth auch? fragte Hackert.

Ich wundere mich, daß Sie ihn kennen.

Hackert wurde über diese Replik wieder verdrießlich. Dankmar's unausgesetzter Zweifel an seiner Bildung und die offenbar geringschätzige Ansicht von seinem Herkommen verletzten den bizarren und, wie es schien, mannichfach mit der Welt bekannten und wieder mit ihr zerfallenen jungen Mann.

Während Dietrich mit dem Gaul beschäftigt war, hatten sich die beiden Gefährten im Hofe des Heidekrugs genauer umgesehen. Er machte einen freundlichen, [125] willkommenheißenden Eindruck. Rings begrenzten ihn Scheunen und Schuppen. Im Stalle hatten sie mehre Pferde bemerkt. Der Rinderstall grenzte dicht daneben. Ein wohlgehaltenes Stacket schied den Hof von einem reichen Baumgarten ab, der sich hinten zum Walde verlor. Die Düngerhaufen hier und dort gehörten zum Wesen einer großen Ökonomie. Das Wohnhaus hatte hinterwärts einen Anbau für die Küche. An der Seite, die nach dem Hofe ging, zog sich ein Spalier in die Höhe, das den weißen Kalk mit grünem dichten Weinlaub bedeckte. Vor den untern Fenstern waren große Blumentöpfe und Rankengewächse in Kästen aufgestellt, auf deren einem gerade eine Katze lag, die mit funkelnden Augen hier wahrscheinlich das Schlafzimmer der Herrschaft hütete. Der Eingang des Hauses nach vorn war geschlossen, aber hinterwärts, von dem Eingange zur Küche her, fanden sie eine offene Thür und unter ihr eine Magd sitzend, die hier auf der Schwelle ebenfalls eingeschlafen war, vom Lärm der in ihren Hütten festgeschlossenen Hunde aber nun erwachte. Als sie die Augen aufschlug und die Fremden erblickte, griff sie rasch nach einem glänzenden Gegenstande, der in ihrem Schooße lag und ihr entfallen schien. Es war ein neuer blanker Thaler. Wie sie sich besann und ihr Geldstück in Sicherheit gebracht hatte, sagte sie den Ankömmlingen, daß dies der Heidekrug, ihr Herr, Herr Justus, der Heidekrüger wäre. Oben fänden sich Zimmer genug und kalt essen könnten sie auch noch und wie sie wol oben am lauten [126] Sprechen im Saale hörten, auch Gäste fänden sie noch. Der Herr, dem der Wagen da unten gehöre, wolle noch heute weiter, um mit Sonnenaufgang in der Residenz zu sein.

Ja, ja, sagte sie etwas polternd, bei uns geht's bunt her! Hier machen wir die Nacht zum Tage und die Tage zur Nacht. Wir sind hier Alle überstudirt!

Hackert hatte bereits den von der verdrießlichen, aber rührigen »überstudirten« Magd erwähnten Wagen der oben befindlichen Herrschaft bemerkt. Er stand auf der andern Seite des Hauses, bereit zum Vorfahren. Ein Kutscher in Livree saß eingehüllt in einem leichten Staubmantel auf dem Bocke und schlief.

Wem gehört der Wagen? fragte Dankmar, die Livree des Schlafenden ins Auge fassend.

Einem prächtigen Herrn aus der Stadt, sagte die Magd. Er ist erst drei mal auf dem Heidekrug gewesen, und ich denke, wenn er öfter kommt, werden die Leute nicht mehr sagen: Auf dem Heidekrug wird die Milch schon in der Kuh sauer.

Sagen Das die Leute?

Ja, Herr, ich weiß nicht, ob Sie ein Studirter sind. Aber ich denke immer, der Bauer soll dem Herrn Pastor das Latein lassen. Die Ochsen lernen doch im Leben kein Hebräisch ...

Wenn sie nicht an Moses und die Propheten verpfändet werden ... fiel Dankmar lachend ein. Wenn ich hier wirklich auf dem Gute des Heidekrügers Justus bin, so merk' [127] ich fast, das Gesinde theilt nicht die Leidenschaft seines Herrn für Politik ....

Die Magd hörte nicht. Sie war hinterher, ein Licht anzuzünden und den Ankömmlingen hinaufzuleuchten in die Zimmer, die sie ihnen anweisen wollte.

Dankmar beobachtete Hackert, der sich inzwischen mit scheuem Blicke dem eleganten Reisewagen genähert hatte und prüfend vor ihm stand und vor sich hin murmelte:

Neumann! Bei Gott, er ist's! Es ist Neumann.

Was murmeln Sie denn? Kennen Sie den Wagen?

Hackert zeigte auf die Chiffre am Schlage.

Man mußte nahetreten, um sie in dem nur sternenhellen Dunkel zu erkennen.

F.S. Nicht wahr? sagte Dankmar.

F.S. wiederholte Hackert bestätigend und gab die Erklärung:

Franz Schlurck.

Meinen Sie wirklich? Der Justizrath Schlurck? Der Kutscher schläft. Wir wollen die Magd fragen. In dem Falle bleib' ich noch auf. Ich hätte Lust, den berühmten Juristen kennen zu lernen.

Hackert schwieg. Er war nachdenklich vor dem Wagen wie festgebannt, streichelte die Pferde und lachte mit einem eigenen, fast schwermüthigen Ausdrucke in sich hinein.

Kommen Sie mit hinauf, Hackert! Hören Sie nur, wie man noch die Gläser anstößt! Es ist mir, als dränge bis [128] hierher ein duftender Punschgeruch. Essen wir in der lustigen Gesellschaft oben zu Nacht und stoßen wir fröhlich mit den Fröhlichen an!

Hackert hörte nicht. Er stand wie abwesend vor den Pferden und streichelte sie. Diesen that der nächtliche Gruß wohl. Die prächtigen Thiere schnaubten leise und reckten die Ohren. Hackert aber fuhr ihnen sanft über die Mähne. Da strichen die Rosse die Hufen auf dem Pflaster und schlugen die langen Schweife in die Höhe. Die Mähnen der Thiere bewegten sich unruhig und ihre dunkeln großen Augen blinzelten in der Nacht ganz geheimnißvoll, als wollten sie sagen: Sieh da, Hackert, wir kennen dich, warum sehen wir dich nicht mehr?

Gute Nacht! sagte darauf Hackert, der alles Dies nachzufühlen schien, und wandte sich dem Stalle zu.

Die mit dem Lichte wartende Magd, drängend und freundlich gestimmt, bemerkte:

Ei kommen Sie doch. Es sind oben auch Zimmer für die Kutscher!

Geh' Sie zum Henker mit Ihrem Kutscher! sagte Hackert und schlenkerte die müden Glieder dem Stalle zu, wo er, auf Dankmar's Nachruf nicht hörend, rasch und gleichgültig verschwand.

Er will im Stalle schlafen, sagte die Magd. Es ist besser, er ist bei Ihrem Pferde. Dem Dietrich bekommt's nicht, wenn der gute Herr oben bei uns zu oft einkehrt.

Zahlt der immer so gute Trinkgelder?

Er will nur, daß Alles lustig ist, gibt gleich Wein und [129] Geld und unsern Herrn wechselt er auch ganz aus. Kommen Sie! Ich geb' Ihnen ein gutes Zimmer und gehen Sie getrost noch in den Saal.

Nun gut! sagte Dankmar. Etwas kalte Küche! Braten, Wein, wenn man ihn haben kann! Dann mach Sie's Bett! Ich will noch einen Augenblick in den Saal treten.

Dankmar kannte nur den bedeutenden Ruf des Justizraths Franz Schlurck. Er war der gesuchteste Anwalt der vornehmen Welt, hatte Häuser und Güter in Administration, verwaltete minorennen reichen Erben ihre künftigen Besitzthümer, galt für einen der beliebtesten Gesellschafter und war besonders durch das glänzende Haus, das er machte, und die Schönheit seiner Tochter Melanie Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit. Dankmar kannte die reizende Melanie nur von flüchtiger Begegnung, hatte auch Schlurck nie persönlich gesehen. Er fand es ganz in der Ordnung, die Gelegenheit zu benutzen, einen vielbesprochenen Mann, der ihm gewissermaßen als nachahmenswerthes Vorbild seiner eigenen Laufbahn gelten konnte, kennen zu lernen. Daß Schlurck allein reiste, ohne seine Familie, hatte er schon vernommen. Er rechnete darauf, außer Schlurck nur noch den Heidekrüger Justus zu finden, einen gleichfalls bekannten öffentlichen Charakter, der schon seit Jahren viel Wunderliches von sich reden machte.

Als Dankmar die Treppe hinaufgestiegen war und die Thür, hinter der er sprechen hörte, geöffnet hatte, blendete ihn anfangs der entgegenstrahlende Lichtschimmer, [130] sodaß er erst fast nichts von Dem sah, was er hier antreffen sollte.

Auf seinen Gruß antworteten ihm mehre Stimmen zugleich mit einem theilweise überraschten: Guten Abend!

Um ein Uhr des Nachts hatten im Saale des Heidekrugs aber nur noch drei Männer beisammengesessen, die eingehüllt vom feinsten wohlriechendsten Cigarrendampf den Morgen mit wachen Augen begrüßen zu wollen schienen. Den Heidekrüger und den Justizrath glaubte Dankmar sogleich zu erkennen. Es war aber noch ein Dritter anwesend, der entfernt von diesen Beiden mit einer blauen Blouse bekleidet in einem düstern Winkel saß.

[131]
6. Capitel. Die blaue Blouse
Sechstes Capitel
Die blaue Blouse

Das ziemlich geräumige, aber etwas niedrige Gastzimmer des Heidekrugs war von vier Wachslichtern, die auf dem länglich durch die Mitte gehenden Tische dicht zusammengerückt standen, heller erleuchtet, als solche Räume es sonst zu sein pflegen. Die vier Kerzen standen so, daß sie zu gleicher Zeit im Spiegel sich verdoppelten. Zwischen der zweiten und dritten Kerze stand ein silbernes Gefäß, das der Kundige auf den ersten Blick als einen Champagnerkühler erkannt hätte, wenn nicht auch der daraus hervorragende Hals einer Flasche mit gerolltem Blei umlegt gewesen wäre. An der Seite des silbernen Gefäßes stand einer jener gelbirdenen Töpfe, in welchen die strasburger Gänseleberpasteten versandt werden. Eine Blechbüchse schien eine andere Näscherei zu enthalten, die jedoch mit dem großen Laib groben Brotes, der auf einem Teller daneben lag, in sonderbarem Widerspruche stand. Einige Büchschen mit Etiketten – in der Form erkannte sie Dankmar als englische – schienen pikante indische Saucen zu enthalten. Alle diese Herrlichkeiten standen vor einem mit großer Behaglichkeit [132] gesticulirenden und eben einen silbernen Becher mit Champagner an die Lippen setzenden Herrn. Seiner Gourmandise nach hätte man vermuthen sollen, er wäre rund genährt und böte ein behagliches Embonpoint. Im Gegentheil aber sah Justizrath Franz Schlurck sehr mager und dürr aus. Die Züge des klugen und überaus verschmitzten Antlitzes konnten nicht trockener sein. Im Munde war auch nicht ein ganzer Zahn mehr übrig, wie man deutlich sah, wenn der von Weinlaune erregte Mann dann und wann einen Zug aus seiner sehr kostbaren Cigarrenspitze zwischen den behutsam aufgesperrten schlaffen Lippen von sich blies. Den Ausdruck der Augen zu erkennen, war schwer; denn eine goldene Brille verdeckte sie. Das dünne graue Haar saß so spärlich auf dem wohlgebauten und gefällig geschweiften Schädel, daß man ordentlich erblickte, mit welcher Sorgfalt die einzelnen Haare langgezogen und vom Hinterkopfe her über die Glatze herübergekämmt waren. Ein feiner blauer Frack mit gelben Knöpfen, ein weißes Halstuch und eine weiße Piqueweste gaben der Toilette etwas ebenso Gewähltes, wie die mit großen und kleinen Ringen gezierte Hand Pflege und ein Bewußtsein der Zierlichkeit derselben verrieth.

Neben diesem Sybariten an der Ecke des Tisches saß der Wirth, eine starke, stattliche Gestalt von gewaltigem Knochenbau und einem sichern festen Auge. Das Wesen dieses Mannes war kein gewöhnliches. Die Kleidung ging über den ländlichen Schnitt hinaus, die Haltung war des [133] Welttones nicht unkundig. Man glaubte eher den Bürgermeister einer Landstadt als einen hier in der Einsamkeit des Waldes Wirthschaft treibenden Ökonomen vor sich zu haben. Eine lebhafte Auseinandersetzung schien ihn zu beschäftigen; nicht nur der Champagner, von dem er aus einem großen Wasserglase trank, hatte ihn geröthet, vielleicht auch das Feuer einer Ansicht, die er in dem Augenblicke, als Dankmar eintrat, sehr lebhaft vertheidigte. Als Dankmar einen Guten Abend! gesagt hatte, stand der Heidekrüger auf und lüftete ein kleines Sammetkäppchen, das mehr zur Zierrath als aus Rücksicht auf seinen starken Haarwuchs den Scheitel bedeckte.

Sie werden sich wundern, sagte Dankmar, noch so spät Besuch zu bekommen. Ich will nur eine Kleinigkeit zu Nacht nehmen, eine kurze Bettruhe halten und morgen in der Frühe mit meinem Einspänner weitermachen.

Haben Sie sich bestellt, was Sie wünschen? fragte der Heidekrüger mit einem gewissen Gentlemanton, als wollte er sagen, ich bin kein Wirth im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern verweise Sie auf die Bedienung, die hier ganz eine Privatsache meiner Leute ist.

Als Dankmar bejahte und bat, sich nicht stören zu lassen, fuhr der Sprechende, als wäre er gar nicht unterbrochen worden, mit kräftiger Stimme fort:

Woran liegt's, als an der gänzlichen Unbekanntschaft mit dem Zustande auf dem Lande selbst? Wir haben's erst versehen, daß wir Leute hineinschickten, die am schnellsten mit dem Munde voraus waren. Sie haben die [134] Verwirrung nur noch größer gemacht, vom Hundertsten ins Tausendste gesprochen, Alles sehr schön, aber ohne Kenntniß. Denn warum? Es waren Doctoren, die ihre Praxis aufgaben ....

Wenn sie welche hatten, ließ Schlurck lächelnd einfallen.

Auch das, sagte der Heidekrüger. Es waren Schullehrer, Advokaten, aber keine Geschäftsleute. Die werden wir diesmal schicken; aber auch die Beamten und die Angestellten nicht, die die Regierung geschickt wünscht.

Schlurck schien im Grunde nicht geneigt, dies Gespräch fortzusetzen, wenigstens hätte sich sein glatter Weltton erst lieber mit dem neuen Ankömmling vermittelt. Dieser hatte dicht ihm gegenüber Platz genommen und die hier ausgebreiteten Delicatessen mit einem sehr deutlichen ironischen Lächeln gemustert. Diese Kritik setzte den Epikuräer in Verlegenheit und mit einem eigenthümlichen Hinaufziehen der Stirnfalten, das dem Munde und den Schläfen einen nicht unheimlichen, aber sonderbar faunischen Ausdruck gab, wandte er sich an Dankmar mit den Worten:

Wenn man überall so gut aufgenommen wäre wie bei dem in allen Wassern erfahrenen Herrn Justus, würde man nicht nöthig haben, sich für eine Reise in diesen Gegenden so zu verproviantiren. Übrigens ist nur das Eis eine Contrebande von mir selbst, der Champagner, vortrefflicher Geldermann-Deutz, kommt aus dem Keller des Heidekrugs. Ich zahle kein Korkgeld.

[135] Der Geldermann-Deutz ist auch, antwortete Justus lachend, mit der neuen Zeit da hineingekommen. Seit die Wahlbesprechungen die Zungen trocken machten und alle möglichen Stände, Leute, die ich nie bei mir gesehen habe, Offiziere, Landräthe, Präsidenten bei Einem vorkommen, hat die Nachfrage nach dem süßen Zeug auch die Anschaffung nöthig gemacht. Ich bezahl' ihn für echt. Ich will hoffen, daß er's ist.

Schäker! Schäker! drohte Schlurck mit affectirter Schelmerei. Nicht echt? Hab' ich Ihnen nicht, als ich die Ehre Ihres Besuches genoß, die besten Quellen genannt? Wenn unsere junge Freundschaft sich so echt erweist wie dieser Geldermann-Deutz, Justus, so können wir schon zusammenhalten. Darf ich Ihnen anbieten, mein Herr?

Damit hatte Schlurck ein Wasserglas, mit perlendem röthlichen Bouzy gefüllt, auf einen Teller gestellt und ihn Dankmarn präsentirt.

Dieser lehnte jedoch ab und brauchte dafür den höflichen Scherz, daß er sagte:

Ich trinke keinen Geldermann-Deutz.

Warum nicht? Das Haus ist sehr beliebt.

Der Name Deutz, sagte Dankmar lachend, erinnert mich immer an den Verräther der Herzogin von Berry und ihre Gefangenschaft auf dem Schlosse ... wie heißt es doch? ...

Blaye ... rief eine Stimme von einer entlegenen dunklen Ecke des Saales herüber. Dankmar wandte sein Auge zu [136] dem Sprecher. Das französische Wort kam von jenem dritten Anwesenden, der in blauer Blouse gleich beim Eintreten Dankmarn aufgefallen war. So weit er ihn im Dunkeln erkennen konnte, war der junge so unterrichtete Mann von schönem hohen Wuchs. Die blaue Blouse ging ihm dicht bis an den Hals, der mit einem leichten seidenen Tuche umschlungen war. Ein Stock, ein gefälliger Ranzen, eine Mütze lagen neben ihm. Er stemmte den Kopf auf die Hand und streckte das Bein lang über einen Sessel hin, den er vor sich stehen hatte, ohne ihn mit den Stiefeln zu berühren, was sich ohne Zweifel der Heidekrüger würde verbeten haben. Der Ausdruck des Kopfes entging Dankmarn leider, da er ihn niederbeugte und mit der Hand verdeckte.

Richtig, Blaye! sagte Dankmar erstaunt; denn er fand gegen die zugeflüsterte Bemerkung der eben mit kalter Küche eintretenden Magd, daß der Dritte ein Handwerksbursch wäre, dem Äußern nach kaum etwas einzuwenden.

Es ist nicht der erste Beweis, begann Schlurck halblaut zu dem sein bescheidenes zweites Nachtessen anschneidenden Dankmar; es ist nicht der erste Beweis, den uns der vortreffliche junge Mann dort in der Ecke von seinen Kenntnissen gibt! Er ist, sagt er, in dieser Gegend zu Hause. Daher unstreitig Wähler und wählbar, wie alle diese jungen Menschen jetzt, wenn sie nämlich nachweisen, daß sie keinem Andern die Stiefeln putzen und dreißig Jahre alt sind, was er doch wol zu sein scheint.

[137] Sind Sie ein Gegner des allgemeinen Wahlrechts? bemerkte Dankmar, mit einem Stück Kalbsbraten beschäftigt.

Wie könnt' ich das in einer Zeit, sagte Schlurck ironisch, wo die untern Stände sich so ausgezeichnet entwickeln, daß sie sogar die Geschichte der Herzogin von Berry wissen! Schon einige male bot ich dem jungen hoffnungsvollen Tischler – es ist ein Tischler, der junge Mann – von unserm Geldermann-Deutz, aber, erstaunen Sie –

Er hat dieselbe Antipathie gegen Verrätherwein wie ich? bemerkte Dankmar lachend, setzte nun aber, um nicht zu verletzen, hinzu:

Das edle Getränk soll indessen unter seiner Etikette nicht leiden. Wenn Sie erlauben, thu' ich Ihnen Bescheid.

Schlurck, außerordentlich geschmeichelt und gleichsam glücklich, einen Bundesgenossen gegen den jungen Tischler, der ihn schon lange zu necken schien, zu finden, schenkte, um die Schäumung recht frisch zu geben, noch einmal in einem nahestehenden Glase ein und überreichte es Dankmarn, der freundlich Bescheid that.

Der Heidekrüger aber lachte und schraubte den Justizrath, indem er anfing:

Ei, ei, Herr Justizrath, was haben Sie mir da für eine Etikette empfohlen? Das hätt' ich wissen sollen, als ich wegen meiner kleinen Häkeleien mit der hohenberg'schen Masse bei Ihnen war und Sie um eine Empfehlung guter Weine bat, wegen der bevorstehenden Wahlmanöver und Zweckdemonstrationen!

[138] Geldermann-Deutz wird mir hier verworfen, sagte Schlurck mit halb ernster, halb komisch sein sollender Entrüstung. Da müssen Sie zur Strafe jetzt alle zusammen einem Montebello oder einem Moët den Hals brechen. Was befehlen Sie?

Damit langte er neben sich hinunter und griff in einen zierlichen Flaschenkeller, der neben ihm auf der Erde stand und in seinen Räumen noch Platz hatte für die köstlichsten Speisen und sogar das Eis, das er im blechernen Boden der ganzen Maschinerie beisichführte.

Nehmen Sie vom alten ehrlichen Jaquesson, rief der junge Tischler herüber und änderte ein wenig seine bequeme Stellung. Im hohenberger Schloßkeller lagen von dem Hause Jaquesson noch vor einigen Jahren ein Dutzend Körbe der bewährtesten Etikette.

Schlurck richtete sich auf und blickte mit entrüstetem Antlitz zu dem kühnen Sprecher hinüber. Die Brille auf seine hohe Stirn ziehend, stierte er ihn jetzt mit den unbewaffneten grauen Augen an; denn Schlurck gehörte zu denjenigen Weitsichtigen, die gerade erst die Brille absetzen, wenn sie gut sehen wollen.

Woher wissen Sie Das, junger Mann? fragte er mit gezogenem Tone.

Ich habe im hohenberger Schloßkeller an den Gestellen für die Weinflaschen gearbeitet, antwortete der Tischler lachend, und Dankmar konnte ihm jetzt in sein schönes edles Antlitz sehen. Sein Haar war bräunlich und gelockt wie das seinige, der Mund voll der schönsten Zähne. Überhaupt [139] hatte der Fremde einige Ähnlichkeit mit Dankmar.

Sieh, sieh! bemerkte Schlurck mit sonderbarem Dehnen der Stimme; sieh, sieh, ich habe in der That nur Jaquesson bei mir.

Dann sich setzend und die Brille wieder über die Augen werfend, rief er:

Vive la gaieté, meine Herren! Rücken Sie näher, junger wählender und wählbarer Tischler! Justus, Sie deutscher Patriot, herbei! Sie stoßen auf die nächste Wahl in Ihrem Bezirke an, id est auf Ihre eigene Wahl! Ha, ha, alter Sünder! Das ist's doch nur, was Ihr so im Stillen ambirt! Papst Sixtus! Papst Sixtus! Der hat's auch so gemacht. In Demuth dem Herrn gedient, geächzt, gestöhnt, die höchste Würde abgelehnt, abgelehnt bis er sie hatte und Papst war! Justus, edler Märtyrer alter Beamtenwillkür! Heran! heran! Eins, zwei, drei! Krach, das Eisen ist ab und nun die Eimer her! Vollgeschöpft!

Dankmar hielt getrost hin. Was sollte er da lange zögern? Der Heidekrüger aber legte die Hand auf sein Glas und sagte ganz verstimmt:

Das bitt' ich mir aus, Herr Justizrath! So haben wir nicht gewettet. Ich sollte daran denken, gewählt zu werden? Darum all' mein Eifer für Ihre gute und rechtschaffene Wahl? Nein, nein, bester Herr! Ich bin ein schlichter, einfacher Mann. Ich hab' Ihnen gesagt, wie ich mir Alles denke, wie's werden muß im Staate, und nun kommen Sie an und thun, als hätt' ich den Hinterhalt ...

[140] Hi, pfiff gleichsam Schlurck und gab einen eigenen Ton des zahnlosen Mundes von sich, einen Ton, der List und Ungläubigkeit ausdrückte. Was ist da mehr? Kommen Sie, wählender wählbarer Tischler, thun Sie Bescheid! Sie haben schon manches gute Wort in unser Gespräch hineingegeben. Ich ehre auch die Arbeit! Ich ehre auch die Herren Arbeiter! Die Herren Arbeiter sollen leben! Wir wählen Freunde der Arbeit! Feldarbeit, Werkstattarbeit, Geistesarbeit; nicht wahr, mein Herr, Sie sind Geistesarbeiter? ...

Diese Frage war an Dankmar gerichtet. Er bejahte sie.

Nun sehen Sie, fuhr Schlurck fort und reichte, um den Heidekrüger zu versöhnen, diesem seine goldene Dose hinüber, aus der er vorher selbst eine Prise nahm, was murren Sie, Justus? Es ist Alles Windbeutelei mit der jetzigen Politik! Kenntniß vom Recht? Gleich Null. Ehrgeiz ist die Achse des ganzen Getriebes. Steck da Einer seine Finger hinein, sie werden ihm bald zerquetscht werden. Die beste Politik ist gewiß die, aus dem Staate Alles hinauszufegen, was in diesen Begriff seit hundert Jahren hineingepfercht ist. Wer sagt so etwas? Eine gute Polizei, das ist Alles, was man vom Allgemeinen verlangen sollte. Das Übrige bleibt der Gesellschaft überlassen. Verwaltung und Schule kommt an die Gemeinde, die Kirche bete und singe, was sie will. Die Provinzen halten jede für sich! Die Ständekammern sind bloße Abrechnungsconvente. Man kommt zusammen, um Soll und Haben auszugleichen. So ist's in Amerika, so in England, und [141] das Beste dabei ist, daß die Menschheit vergnügt bleibt und Jedermann das angenehme Gefühl hat, in seinem Kreise so viel zu gelten, als er mit seiner Person behaupten kann.

Bravo, sagte Dankmar, die Ansicht ist fast die meinige. Doch sind Sie dabei auf dem besten Wege zur Republik.

Wenn wir uns, fuhr Schlurck behaglich lächelnd fort, wenn wir uns eine Republik denken könntencomme il faut, warum nicht? Aber Das ist ja der ewige Jammer. Die heutigen Republikaner wollen mit dem Staate auch wieder nur Staat machen. Da soll Alles von unten aufgebaut werden, symmetrisch, Alles in die Höhe, Alles Pyramide, Alles Centralisation. Der Mensch, die Gemeinde, die Gesellschaft werden nur ausgesogen zu einem großen Allgemeinzwecke, der im Grunde wieder nicht besser ist als die alte Königs Majestät von Gottes Gnaden. Diese Wuth, den Einzelnen für nichts mehr zu erklären, die ist ja so allgemein jetzt, daß die Lumpe in dem verdammten Communismus ihr Heil finden, als wenn dann der Einzelne was hätte, wenn Alle nicht viel haben! Meine Herren, die Erde ist ein höchst unvollkommener, höchst kleiner, obscurer Planet und wird's bleiben, bis er sich einmal an einem größern ganz die Nase zerstößt oder wohlbehalten in ihm aufgeht. Wir Menschen sind vielleicht vollkommener als die Bewohner der großen Planeten; denn allerdings schon die Gastronomie belehrt uns, daß die kleinen Krabben besser schmecken als die großen. Möglich, weil die Erde klein ist, sind ihre Bewohner feiner organisirt als die Bewohner [142] des Saturn. Aber bis zur Vollkommenheit bringen wir es nicht. Wir sind ein wimmelndes Geschlecht fleischfressender Vernunftsthiere. Was wir für Moral halten, ist veredelte Gesundheitslehre; was uns Metaphysik scheint, ist nichts als die Reflexion der einen Sinnentäuschung in der andern. Denn da diese gänzliche Rathlosigkeit über unsern Ursprung und unsers Hierseins Zweck und Absicht bereits mehrere Jahrtausende dauert, so hat sich von den Millionen Blasen, die darüber in unsern Köpfen schon aufgestiegen sind, ein solcher Blasebalg von Traditionen gebildet, daß Keiner mehr weiß, was er selbst oder was Andere gedacht haben und woher der Wind eigentlich weht. Verdauen Sie gut, meine Herren, haben Sie das einzige Glück, das die Erde gewähren kann, so schreiben Sie lustig an den gestirnten Himmel: Das Prinzip des Alls ist die Liebe. Verdauen Sie aber schlecht, meine Herren, und möchten Sie nach jeder Gänseleberpastete des Teufels werden, so schreiben Sie voll Zorn auf dieselbe Stelle: Das Prinzip des Alls ist der Haß. Was ist da nun Wahrheit?

Herr Justizrath! rief der Heidekrüger, wenn Sie so zu den Bauern sprechen, bekommen Sie in Schönau nicht Eine Stimme.

Wirklich? Wie so?

Jeder Wahlmann wird Ihnen sagen: Das sind Lästerungen!

Hm! hm! Glauben Sie Das?

So müssen Sie diese Naturmenschen nicht fassen, Herr Justizrath.

[143] Wissen Sie was, Justus! sagte Schlurck nach einigem Besinnen und vom Champagner nippend; der Henker hole Ihre ganze Wühler- und Wählerei! Wenn's nicht jetzt Mode wäre, Politik zu treiben, und die unhöflichste Vergessenheit über Jeden käme, der nicht auch in einem Club sitzt und in die allgemeine Confusion mithineinbrüllt, ich würde mich wol in Acht nehmen, meine Zeit und Muße zum Opfer zu bringen. Ich habe ein paar Ressourcenfreunde gesehen, die nur drei mal im Constitutionellen Club waren und um zehn Jahre älter wieder herauskamen. Sie hatten ein Gesicht – so lang! – gekriegt. Übrigens irren Sie, werthester Freund, wenn Sie glauben, daß die Bauern blos patriotische und politische Salbung hören wollen. Die Leute ahnen auch längst, daß die Welt ein großes Loch hat, wo all der Wind, den man ihnen seit tausend Jahren vorgemacht, zwecklos wieder durchbläst ins Leere, und unsere Existenz eine bloße Flause ist. Es soll ihnen nur Einer einmal von Grund aus zeigen, wie die Welt damals aussah, als sie blos für Adam und Eva geschaffen wurde; ich weiß nicht, Freundchen, ob Sie für Ihre schönauer Loyalitätsadresse die fünfhundert Unterschriften bekommen hätten, die Ihnen in der Zeitung schrecklich viel Insertionsgebühren müssen gekostet haben.

Sind Sie jetzt ein Loyalitätsadressenschreiber? fragte Dankmar ganz erstaunt den Heidekrüger.

Justus stützte den Kopf auf den linken Arm und antwortete, Dankmarn scharf ins Auge fassend:

[144] Ich weiß nicht, mit wem ich zu sprechen die Ehre habe; aber Das weiß man vom Heidekrüger Justus zehn Meilen Weges, daß ich das Bischen Einfluß auf unser Land und unsere Gegend nicht zum Unrechten verwende. Mit den Wühlern hab' ich niemals gehen mögen. Ich wurde schon verfolgt vor zehn Jahren von der alten Polizeiwirthschaft. Warum? Weil ich verbotene Bücher las, in den Provinziallandtagen manchmal ein Wort über die Beamtenwirthschaft, über Grundsteuer und die Chausséebauten sprach. Das war ein Hetzen, ein Untersuchen, ein Incriminiren ....

Sie haben sich damit einen Namen erworben, fiel Dankmar ein. Ich bin angenehm überrascht, die persönliche Bekanntschaft des freisinnigen Heidekrügers Justus zu machen ....

Justus zog, etwas geschmeichelt, sein Käppchen.

Schlurck schnitt eine ironische Miene und blinzelte zu Dankmarn hinüber, als wollte er sehen, ob man wol von ihm verstanden würde, wenn man in scheinbar ernster Miene etwas blicken ließe, das etwas soviel sagte als: Der eingebildete Esel!

Schlurck war ein völlig negativer Kopf, vor dem nichts festen Bestand hatte. Er leitete fast Alles aus dem Interesse her, auch Justus' politische Stellung, die in der That keine geringfügige war, wenigstens in den Tagen vor den neuesten Bewegungen.

Die Wühler, sagte Justus, haben Jeden verdächtigt, der keine Schulden auf seinem Eigenthum hatte. Sie haben [145] sich hier an einige bankrotte Müller und Wirthe und vorlaute Tagelöhner gehängt und Die in die Stadt geschickt, um für sie zu sprechen. Ob es anderswo anders war, weiß ich nicht; genug, wir Alten von sonst sahen dem Treiben ruhig mit zu. Die Regierung foderte Die, die sie noch für das Bessere treugesinnt hielt, durch Circularausschreiben auf, man sollte durch Adressen seine wahre Gesinnung kundgeben, und was versprochen wäre, Das würde auch gehalten werden. Nun, darauf hin, Herr, wenn man uns Das hält, was versprochen ist, darauf hin konnten wir sagen, daß wir an unserm angestammten König festhalten und uns von keinerlei Rottirung würden irremachen lassen. Es haben's Vierhundertneunzig unterschrieben und viele Arme darunter, die aber vollkommen klar wissen, was sie thaten, als sie die Feder führten.

Sie sehen, sagte Schlurck mit feinem Humor, unser braver Herr Justus gehörte sonst zu den Demagogen, jetzt zum rechten Centrum. Das rechte Centrum ist die Gegend, wo die Portefeuilles wachsen. Wenn das Glück gut geht, Justus, und Sie die Stimmen haben, werden Sie doch noch bei irgend einer Krisis Excellenz ....

Nein! Wenn Sie so über Alles spotten, Justizrath, sagte Justus fast ärgerlich und wollte aufstehen.

Sitzen geblieben! rief Schlurck. Altes Haus, Spaß verstehen! Hier Jaquesson getrunken! Alles Andere ist eitel .... Sie sind auch eitel.

Dabei füllte er die Gläser, bemerkte aber, daß der Tischler vorhin das seine nicht geholt hatte. Als er sich [146] umwendete, um ihn dazu aufzufodern, fand er, daß der sicher sehr ermüdete Wanderer schlief.

Der junge wählbare Wähler schläft, flüsterte Schlurck. Und um ein Uhr Nachts wach zu sein, ist allerdings eigentlich nur das Privilegium der Gebildeten.

Der Heidekrüger, verstimmt, gab ihm einen Wink und sagte leise:

Schlimm genug, daß wir in Zeiten leben, wo man nicht einmal einem reisenden Handwerksgesellen sagen kann: Scher' er sich auf den Heuboden!

Was, Herr Justus ist nicht nur rechtes Centrum, bemerkte Dankmar, sondern auch Aristokrat geworden?

Ich bin ein ehrlicher Mann geblieben, antwortete der Heidekrüger; ich gebe Gott was Gottes, und dem Könige was des Königs ist. Jeder Stand soll in seinen Grenzen bleiben, der Dienende sich nicht zu dienen, der Arbeitende sich nicht zu arbeiten schämen.

Und der Wirth, fiel Schlurck mit jovialer Bestimmtheit ein, der Wirth soll sich nicht irre machen lassen, sein Hausrecht zu gebrauchen. Wenn Sie, bester Freund, nicht auf Popularität speculirten, hätten Sie den Burschen da längst zur Thür hinausgeworfen.

Sie können's, seh' ich, Justizrath, sagte Justus, nicht lassen, mich für einen ehrgeizigen Mann zu halten. Es sollte mich kein Mensch hindern und keine Rücksicht auf Wählen oder Nichtwählen bestimmen, Einem zu sagen, was ich von ihm denke. Aber betrachten Sie doch nur den Mann! Ich halte ihn für Das, was er von sich aussagt, aber [147] die Meisten sind heute etwas Schlimmeres, als was sie sein wollen. Der kommt mir aber vor, als könnte er etwas Besseres sein.

Schlurck und Dankmar betrachteten den Schläfer in der blauen Blouse noch einmal aufmerksamer. Es war ein schöner, schlank gewachsener junger Mann. Er hatte den Kopf dicht unter beiden gekreuzten Händen auf den Tisch gelegt. Dem dadurch recht sichtbaren krausen hellbraunen Haar sah man die sorgsamste Pflege an. Ein um das Kinn rundherum gehender Bart hob die blassen, edlen Züge nur noch lebendiger her vor. Auf der hohen Stirn schien ein anderer Beruf zu schlummern, als ihn die Blouse verrieth. Und doch war auch diese feiner als die eines gewöhnlichen Handwerkers. Sie war rings am Kragen, an den Ärmeln und auf der Brust einfach, aber sehr sorgfältig gesteppt. Die bunten Beinkleider waren von einem gewählten Muster, die Stiefel saßen auf einem zierlichen Fuße, dem das Wandern auf der Landstraße nicht geläufig schien. Als Dankmar bemerkte, daß an den Hacken dieser Stiefeln sich sogar ein kleiner Absatz Sporenleder befand, überflog den Justizrath eine düstere Wolke plötzlichen Unmuths. Es schien, als hätte er sagen wollen: Alles Fremde ist mir unheimlich. Auch Dankmar blieb ihm ohne Zweifel zu lange namenlos. Er griff nach der Uhr, zog sie an einer langen, schweren goldenen Kette hervor und ließ sie repetiren. Sie schlug ein Viertel auf zwei.

Jetzt, bester Freund, begann er, zu Justus gewendet, [148] ist es Zeit, aufzubrechen. Die Pferde werden vom Warten müde. Mein Kutscher fällt wol gar vom Bocke und es ist heiß hier, recht heiß ....

Damit wollte er aufstehen. Aber Justus, der breite Auseinandersetzungen liebte, war eben erst im Begriff, sich recht gehen zu lassen. Man hatte seine Offenheit bezweifelt; jetzt kam ihm erst das Bedürfniß, sich vollständiger auszusprechen.

Nein, sagte er, nun lass' ich Sie nicht. Nun müssen Sie auf ein Stündchen bleiben. Die Nacht ist einmal verdorben. Sie fahren mit Ihren Staatsfüchsen in zwei Stunden nach der Stadt, was wollen Sie früher ankommen als mit Sonnenaufgang?

Bester Freund, mich erwarten Geschäfte ....

Sie bleiben noch! Auch der fremde Herr; ja! ja! Das laß ich mir nicht nehmen, mich gegen ungerechten Verdacht zu vertheidigen. Mein ehrlicher Name ist nicht von gestern. Auch wir Alten, die wir sonst etwas waren, müssen uns wieder aussprechen dürfen. Oder sollen nur die Communisten, nur die Reubündler reden?

Die Reubündler stachelten Schlurck auf. Sie werden doch nichts gegen die Reubündler zu sagen haben, Justus? bemerkte er.

Gegen die Reubündler? Warum nicht? Sind Sie Mitglied des Reubunds?

Allerdings.

Ein Mann von Ihrem Geiste? bemerkte Dankmar.

Sehr schmeichelhaft, mein Herr! erwiderte Schlurck.

[149] Allein ich versichere Sie, der Reubund ist eine der merkwürdigsten Neuerungen, die ich unserer an Ideen so armen Zeit kaum zugetraut hätte.

Das müssen Sie beweisen, Justizrath! rief Justus donnernd und zwang den Epikuräer, der diese Nacht einmal beschlossen hatte, die Gewalt des Sohnes derselben, Morpheus, nicht anzuerkennen, eine so kühne Behauptung zu rechtfertigen.

Schlurck sah sich noch einmal mistrauisch zu der schlummernden blauen Blouse um, schenkte noch einmal die Gläser mit seinem Jaquesson aus der hohenberg'schen fürstlichen Kellerei voll und begann mit einer Dankmarn wohlverständlichen und ihn sehr angenehm unterhaltenden Ironie:

Eh' ich denn also vom Reubunde spreche, lassen wir erst noch den Heidekrüger reden! Entfalten Sie sich, Justus! Entwickeln Sie sich in Ihrer ganzen Bedeutung für das vaterländische Allgemeine!

[150]
7. Capitel. Der Reubund
Siebentes Capitel
Der Reubund

Nun wohlan, sagte der Heidekrüger und warf sich dabei gewichtig in die Brust; hier und anderwärts sind Viele aufgestanden und haben gesagt: Seht den Justus, den Heidekrüger, der einst jedes verbotene Buch las, einst für die Polen sammelte, in ewiger Untersuchung stand, Justus, der ...,

Der selbstzufriedene Mann stockte.

Nein, nein, half Schlurck nach, sagen Sie offen, daß Sie der Mirabeau der Provinziallandtage waren, der Schrecken der Landräthe, der O'Connell des alten Liberalismus ...

Er ist doch recht schlimm! bemerkte Justus mit einem Blicke auf Dankmar und meinte den satyrischen Justizrath.

Doch gestand Dankmar die Bedeutung des Heidekrügers vollkommen zu und machte ihm damit Muth, sich in seinem ganzen Werthe zu fühlen.

Nun meinetwegen, sagte Justus, ich bin ein Landwirth, habe mir einige Kenntnisse erworben, die über die Pflugschar [151] hinausgingen, und lag mit dem alten Polizeisysteme in Hader, seit ...

Ihre Frau todt ist, schaltete Schlurck ein. Doch hörte Justus nicht darauf, sondern fuhr fort:

Kinder hab' ich nicht und los und ledig muß Eins sein, wenn man nicht erschrecken will vor einer Haussuchung durch Gendarmen oder ähnliche Visiten bei Nacht und Nebel. Nun gut! Die neue Zeit ist gekommen. Nun sagen die Leute: der Heidekrüger galt sonst für einen dreisten Mann und gab der Regierung etwas zu rathen auf. Warum rückt er jetzt nicht mehr mit der Farbe heraus? Warum hat er einen Bund mit dem Feinde gemacht?

Warum will er Minister werden? schaltete Schlurck parodirend ein und stieß mit Dankmars Glase an.

Ja! Auch Das haben sie gesagt, fuhr Justus fort. Aber ich, Justus ...

Der Heidekrüger ...

Sage! Das ist erlogen ...

Und dreimal gelogen!

Die Loyalitätsadresse aus dem schönauer Kreise kam vom Herzen ...

Und vom Geldbeutel ...

Nein, Justizrath! ...

Unterbrechen Sie Herrn Justus nicht so oft, Herr Schlurck, sagte Dankmar lächelnd.

Nein warum? meinte Schlurck. Ist der Mann denn nicht reich? Gehört ihm nicht der Heidekrug mit Wald, Wiese und so und soviel Morgen Kornland? Hat er nicht da [152] unten in seinem grünbewachsenen Stübchen neben einem Schranke weiland verbotener, jetzt erlaubter Bücher, mehre Ausgaben des Conversations-Lexikon nebst einem eisernen feuerfesten Schranke voll kostbarer Provinzialcreditkassenscheine und den frequentesten Eisenbahnactien? Die Loyalitätsadresse ...

Kam vom Herzen, sag' ich nochmal, rief Justus, sich erhebend mit donnernder Stimme und ganz mit dem Feuer und der Stentorbrust eines zu einem Präsidentenstuhle sich eignenden parlamentarischen Löwen. Sie kam nicht vom Geldbeutel, Justizrath! Auch nicht von der Furcht! Kein Gendarm hat uns Fünfhundert dazu gezwungen, wie's anderwärts geschehen ist, wo die Leute um Gotteswillen gequält wurden, ein gutes Zeichen vonsichzugeben und den Landesvater durch Zustimmung zu retten. Allein, wenn wir in unserer festen Gesinnung eine Erklärung gegen die Wühlerei, die Demokratie und den Communismus abgaben, so ist darum noch nicht gesagt, daß wir Reubündler sind.

Was wollen Sie nur mit Ihren Reubündlern?

Wenn Justus etwas beginnt, so kennt er die Grenze, wo er aufhört. Vor ein paar Tagen hat man mir einen Brief geschickt, ich sollte mich in den Reubund aufnehmen lassen. Graf Bensheim lobte unsere Fünfhundert-Adresse. Herr von Sengebusch kam selbst von Randhartingen, um mir die Statuten des Reubundes zu bringen. Der fürstlich hohenberg'sche Rentmeister von Sänger schickte einen Expressen ...

[153] Hätte Ihnen der Alte seine reizende junge Frau geschickt ... unterbrach Schlurck den salbungsvollen Redner, der sich als das Wahrzeichen der ganzen umliegenden Landesgesinnung darstellte.

Justus hörte nicht auf diese Zwischenrede, da es ihm eben war, als wenn sich der Tischler in der Ecke in seinem Schlafe regte.

Nun? Sie blieben beim Rentmeister von Sänger stehen, rief ihm Dankmar zu, als er auf den Schläfer blickend stockte.

Als dieser sich nur auf einen andern Arm gelegt hatte, fuhr Justus fort: Ja, man verhieß mir die besonderste königliche Gnade, wenn ich diese ganze Gegend auf zehn Meilen in der Runde für den Reubund gewönne ...

Der Orden ist da! meinte Schlurck ironisch.

Er ist nicht da, Justizrath! schlug Justus auf den Tisch. Ich habe geantwortet: Ich wüßte zur Zeit noch nicht, was ich zu bereuen hätte, und wem's hier, ich zeigte aufs Herz, reumüthig auf der Seele brenne, Der solle in sein Kämmerlein gehen und auf die Knie fallen und Gott um Gnade und Vergebung seiner Sünden bitten. Aber so vor aller Leute Augen sich auf die Brust schlagen und ich weiß nicht, was öffentlich bereuen, Das möchten Die thun, die die Komödie bezahlt kriegen. Das hab' ich geantwortet und das ist meine Meinung von dem Reubunde.

Bester Freund, sagte jetzt Schlurck, da haben Sie sehr thöricht gehandelt.

Wie so? fragte der Heidekrüger, erhitzt von innerer[154] Glut, vom Weine und vom Selbstgefühl. Soll ich Ihnen sagen, was hinter dem Reubund steckt? Muckerei steckt dahinter. Es ist die alte pietistische Betkammer wieder, aber in neuer Form. Alle Offiziere, die früher beteten, stehen an der Spitze.

Sie irren sich!

Was? General Voland von der Hahnenfeder? Leitet der nicht auch den Reubund?

Sie irren sich!

Probst Gelbsattel ...

Täuschung!

Stehen nicht Frauen an der Spitze? Die Geheimräthin Pauline von Harder?

Die auch eine Betende? lachte Schlurck. Sie verwechseln Pauline von Harder mit ihrer Schwester, Anna von Harder. Nein, nein, bester Heidekrüger, fuhr Schlurck fort, Sie mögen vortrefflich über die Hypotheken, Creditbriefe und Vicinalwege dieser Provinz unterrichtet sein ...

Ich halte sieben Zeitungen ...

Deswegen eben! ... Aber Sie werfen Namen zusammen wie Kraut und Rüben! Namen, die mit dem Reubunde nichts zu thun haben! Pauline von Harder ... ich muß lachen ...

Ist sie nicht Großmeisterin?

Wohl, wohl! Aber, bester Freund, Pauline von Harder ist Alles, nur keine Betschwester.

Irr' ich nicht, bemerkte Dankmar, so ist Pauline von Harder eine geistvolle Schriftstellerin.

[155] Allerdings, sagte Schlurck. Nein, nein, Justus, da reimen Sie sich hier auf Ihrem Freihofe, unter den Tannen, Birken und beim schönen Gesange des Kukuks zuviel ungereimte Dinge zusammen ...

Ich bleibe dabei, sagte Justus, der Reubund ist Muckerei.

Möglich, sagte Schlurck pfiffig, aber nicht in Ihrem alten lichtfreundlichen Sinne! Bester Heidekrüger, Sie nehmen mir nicht übel, Sie sind etwas zäh, etwas starrköpfig in Ihren alten Anschauungen ...

Im Reubund ist Muckerei!

Ja, ja, in gewissem Sinne, aber nicht in Ihrem! Ich sag' es ja! Sie denken noch immer an die alten Provinziallandtage und Ihre dummen verbotenen Bücher ...

Im Reubund ist Muckerei.

Er ist nicht zu widerlegen, meinte Schlurck zu Dankmar gewandt. Er bleibt bei seinem Satz und wird Recht behalten, trotzdem, daß im Reubund die lustigsten Leute essen, trinken, tanzen und an Alles, nur nicht ans Beten denken.

Justus brummte nichtsdestoweniger immer für sich fort.

Im Reubund ist Muckerei.

Der Heidekrüger war so befangen in den alten Voraussetzungen seiner improvisirten Bildung, daß er zwar conservativ geworden war, aber in die Fußangeln des Mysticismus, als alter Gegner desselben, den Reactionairen nicht folgen wollte.

Ich bin aber doch begierig, bemerkte Dankmar nun zum [156] Justizrathe gewandt, Ihre Analyse des Reubundes zu hören. Sie werden ihn wirklich vertheidigen?

Wenn Justus conservativ geworden ist, antwortete Schlurck mit ernster Miene, so mußte er auch keinen Anstand nehmen, in den Reubund zu treten.

Warum? donnerte Justus und hob sein mit dem Käppchen geziertes rundes, starkgeröthetes Antlitz wie ein erzürnter Olympier oder der Präsident irgend einer »verfassunggebenden« Nationalversammlung.

Weil jede Zeit ihre eigene Sprache hat, bester Mann, begann Schlurck fest und bestimmt, die Sprache, alter Freund, in der man allein von ihr verstanden wird. Wenn der Unsinn siegt, geht man eben mit dem Unsinn. Ist es Mode, die Augen zu verdrehen, so spricht der Vernünftige von der Erleuchtung. Ist es Mode, mit den Pensionairs, den Offizieren und Beamten das Lied von der Majestät zu singen, so singt man's, wie man vor einigen Monaten, als die Taschendiebe und Wühler Volksversammlungen hielten, wühlte, die Volksversammlungen besuchte, immer Bravo rief und blos hinten seine Rocktaschen zuhielt. Bester Freund, was wollen Sie nur gegen den Reubund? Ich bin selbst Mitglied. Ich denuncire Sie. Ich klatsche Ihnen einen Proceß an den Hals, bei dem Sie zehn Monate Wasser und Brot besehen können, trotz Geschworenengericht und allem mündlichen Zubehör.

Das begreif' ich aber denn doch nicht, begann Dankmar, wie Sie bei der klaren Beurtheilung der staatlichen und allgemein menschlichen Verhältnisse, die Sie vorhin zu erkennen [157] gaben, doch so sich der allgemeinen Meinung, die Sie selbst schwerlich theilen, unterordnen und gleichsam mit den Wölfen heulen können. Der Reubund scheint mir wirklich eine der trostlosesten Ausgeburten eines Volks, das für politische Bildung seine völlige Unreife zur Schau stellt. Er ist das vollständigste testimonium paupertatis des Geistes, das sich eine in Servilität und Beamtenschmeichelei großgezogene Bevölkerung nur stellen kann. Er ist eine Zuflucht der absolutesten Gedankenlosigkeit, ein Schafstall der Furcht und des panischen: Rette sich wer kann! Ein strenger Absolutist sogar, z.B. der geistreiche vorhingenannte General Voland von der Hahnenfeder, wird nicht im Stande sein, sich diesem Bunde anzuschließen; denn der Absolutist bedarf Ideen und dort findet er nur Götzendienst.

Ganz Recht, bemerkte Schlurck und zog, um doch den feurigen Sprecher schärfer zu betrachten, die Brille auf die Stirn; ich stimme Ihnen vollkommen bei, und dennoch hab' ich die Mode mitgemacht, eben weil sie Mode ist und man sich nur in Weitläufigkeiten und lästige Auseinandersetzungen verwickelt, wenn man den Leuten sagen soll, warum man die Mode nicht mitmacht. Darum tragen wir ja die allgemeine französische Tracht, um uns das Echauffement zu ersparen bei Auseinandersetzung der Gründe, die uns bestimmen könnten, diese oder jene uns viel geschmackvoller erscheinende Kleidung zu tragen. Sie könnten nicht nur ewig zu thun haben, um geschmacklosen Leuten auseinanderzusetzen, warum spanisch schöner [158] als byzantinisch ist, sondern auch auffallen, sehr auffallen, und ich gebe Ihnen die Versicherung, Sie sind jung, Sie streben vielleicht erst nach einer festen Lebensstellung, ich bitte um Verzeihung für diese Voraussetzung, aber haben Sie eine feste Lebensstellung erreicht, so ist Ihnen nichts störender als das Auffallen. Das Auffallen zwingt Sie, mit Ihrem Dasein immer wieder von vorn anzufangen, immer wieder erklären, immer polemisiren zu müssen. Ich bin z.B. Jurist –

Ein sehr gesuchter, fiel Dankmar ein.

Bitte! erwiderte Schlurck nicht ohne Artigkeit. Meine Praxis ist groß.

Sie stehen mit der halben Welt in Verbindung, scherzte Dankmar und sagte doch aufrichtig Das, was er dachte.

Wollen Sie's so ausdrücken, fuhr Schlurck ohne alle Eitelkeit fort, ja! Ich habe durch meine Administrationen Gelegenheit, alle Stände kennen zu lernen, Fürsten und Handwerker, Grafen, Barone, Juden, Türken, Maitressen, Betschwestern, was Sie wollen ... denn das Geld, das Geld regiert Alles, das Geld und der Genuß. Soll ich nun mitten im Strom der Tagesmeinungen und der sich überstürzenden Begebenheiten immer mein apartes Glaubensbekenntniß auskramen? Das ist sehr weitläufig. Nein! Ich war Mitglied aller Bibelgesellschaften, aller Missions-, aller Gustav-Adolfvereine. Ich hielt mich anfangs zum constitutionellen Angstclub, ich bin jetzt ... Reubündler; was soll ich mich dabei aufhalten, den Leuten zu sagen, warum ... ich es nicht bin!

[159] Und doch wollen Sie, sagte Dankmar, trotz dieses indifferenten Interesses an den öffentlichen Angelegenheiten theilnehmen und sich wahrscheinlich hier in der Gegend wählen lassen?

Ich thu's mit schwerem Herzen, antwortete Schlurck; denn ich fühle, daß ich unglücklicher Mann immer rechts stimmen muß, und ich lebe wieder von sehr, sehr vielen Menschen, die außerordentlich links denken, und denke selbst links. Ich darf mich leider nicht weigern. Ein Mann in meiner Stellung – Sie scheinen sie zu kennen – was kann Der thun, wenn man ihm sagt: Das Interesse des Staats verlangt jetzt auch Ihre Beihülfe! Auch Sie müssen theilnehmen an der Wiederherstellung der Monarchie und des sichern Kraftgefühls der Regierung! Es ist nun einmal oben die Idee vorherrschend, der Regierung müßten vor allen Dingen wieder die Prädicate des Zermalmens und Zerschmetterns zurückgegeben werden. Dazu bedarf man der unbedingtest Ergebenen, entweder der Fanatiker der Theorie, Das bin ich nicht, oder der Fanatiker der reubündlerischen Schwärmerei, zu denen gehöre ich nur formell, oder der Fanatiker der Ironie, zu denen gehöre ich ganz. Ich werde in der Kammer nur Ja und Nein! sagen und meine Freude daran haben, daß wenigstens vorläufig die übermäßige Verwirrung aufhört, wenn auch mit Aufopferung der Debatte. O, mein Herr, man muß in der That wieder anfangen können, von diesem kleinen Planeten, Erde genannt, soviel Vergnügen abzugewinnen, als der tückische Erdenkloß, der uns mit [160] feuerspeienden Bergen antwortet, wo wir Neapelwonnen erwarten, herausgeben will. Sehen Sie, schon Das ist ja etwas werth, wenn es die Reaction durchsetzt, daß Einer mit Behaglichkeit wieder in ein Bad reisen kann. Nennen Sie mir Das nicht Indifferentismus! Die Staatsformen, mein bester Freund, wechseln, aber die Forellen bleiben. Und was mir lieber wäre als alle Politik, das brauch' ich Ihnen eigentlich nicht zu sagen. Aber wenn Sie's wissen wollen, junger Mann ... nein, nein, Sie wissen es selbst ....

Ich weiß es nicht, Herr Justizrath ... sagte Dankmar, sich besinnend und in den Ideengang des alten Epikuräers sich versetzend.

Ah! ah! rief Schlurck ablehnend.

Belehren Sie mich: was steht höher als Staatsformen und Forellen? Ich weiß es wirklich nicht.

Gehen Sie weg, Sie junger, hübscher Lovelace ....

Lovelace? Ah! Sie meinen ...

Ja natürlich mein' ich! Was ist lieblicher als ein schönes Weib? Herr! Was ist die Bestimmung der Erde anders, als die, ein Stelldichein für Verliebte zu sein? Ich bitte Sie, wo soll es hinaus mit unsern fünf Sinnen, unsern Lippen – der Glückliche, der sie noch frisch und rund hat, wie Sie! – wo soll es hinaus mit der Poesie des Daseins, wenn diese verdammte Politik den kleinen Gott Amor so langweilt, daß er unsere Erde für eine unnütze Station seiner Wanderungen erklärt? Die Attraction der Leidenschaften, der Magnetismus der Gefühle, Das ist der Erde edelster, [161] höchster Zweck. Hole der Henker die Politik und die Revolutionen!

Dankmar hatte nicht den Idealismus seines Bruders, der solche Reden verabscheut hätte. Er war beweglich und praktisch. Über diesen Materialismus mußte er wirklich lachen, und da er, unterhalten wenigstens von so frivolen Grundsätzen, schwieg, fand Schlurck volle Gelegenheit, unbeirrt durch den mürrischen Heidekrüger, fortzufahren:

Von allen neuen Systemen der Weltverbesserung und Menschenbeglückung hat mir, aufrichtig, das des Franzosen Fourier am besten gefallen. Sehen Sie, dieser Fourier gesteht es ein, daß ein frisches Stück Rheinsalmen mehr Werth für das Jahrhundert hat als confuse Begriffe über den Ursprung der Gesellschaft. Er ladet seine Jünger in schöne luftige Paläste ein, spielt ihnen herrliche Musik auf, arrangirt amusante Bälle, schmückt die reichbesetzten Tafeln mit Blumen, die er, glauben Sie mir's, ebenso sehr liebt wie Forellen, und was das Beste ist, seine Menschen sind gut, sie amusiren sich, sie sterben mit dem Bewußtsein, daß sie die ihnen verliehenen Organe zweckentsprechend benutzt haben ......

Wollen Sie, fragte Dankmar spottend, im Reubund diesem doch revolutionairen Systeme Anerkennung verschaffen?

Das hoff' ich! sagte Schlurck. Gerade dieser Bund ist auch deshalb der vernünftigste, der seit dem Jahre 1720, ich meine, seit der ersten englischen Freimaurerloge, entstanden [162] ist. Warum? der Reubund versteht unter dem Vorwande loyaler Gesinnungsverbrüderung eigentlich eine Allianz zur gegenseitigen Lebensverschönerung. Bester Freund, die wahren Reformatoren unsers Jahrhunderts kommen erst noch! Das werden Die sein, die von den Ideen sprechen und darunter die Cotillons und die Schönheitslinien der Polka verstehen. Im Reubund zeigt sich schon die Ahnung dieses neuen Evangeliums. Man hat seine Logen, seinen ersten und zweiten Grad, es gibt Brüder, es gibt Schwestern, es gibt Erkennungszeichen, verstohlene Handgriffe, geheime Einweihungen, und was vorläufig dort das Beste ist, man ißt nicht schlecht, jedenfalls besser als man gewöhnlich bei Gesinnungsfesten solcher Art zu speisen pflegt.

Ich gestehe Ihnen, sagte Dankmar, daß ich eine ernste, keine humoristische Vertheidigung des Reubundes erwartet hatte.

Ich bin wirklich ganz ernst, antwortete Schlurck; man muß wirklich wieder Orden stiften wie ehemals Zechbrüderschaften, Trinkstuben, Massenien. Gleichgesinnte müssen zusammentreten unter gefälligern Formen, als Tabacksdampf und offene, von Spionen belauschte Sitzungen sind.

Er warf dabei einen eigenen Blick auf den Schläfer in der blauen Blouse.

So etwas wie die alten Ritterorden, fuhr er fort, muß man wieder auferwecken, den Templerorden z.B., wo es auch fröhlich herging und man sich um den Papst und den [163] Kaiser nicht scherte und mit den Türken, die man bekämpfen sollte, Frieden schloß, weil sie schöne Weiber hatten und prächtige Weisheitslehren. Nur keine Duckmäuserei! Ah! Meine Tochter führte mich neulich in den »Egmont.« Ich geh' ungern ins Theater, und zwar deshalb, weil die Komödie doch die rechte Pflanzschule aller falschen und unmotivirten Begeisterung, die rechte Schwatztradition der tausendjährigen Dunstreflexionen über Tugend, Moral und ewige Vergeltung ist. Aber der frische, phrasenlose Ritter Egmont gefiel mir! Seine Ansichten über Politik bringt er ganz gelegentlich an, spricht wie ein Cavalier über ein paar Pferde mitten im Zorn über den Alba'schen Belagerungszustand, und als er zum Tode geht, vermacht er seine Maitresse einem Andern, der sie aushalten soll: Du wirst sie nicht verachten, weil sie mein war. Ha, ha, ha! Meine Melanie sang, als wir nach Hause fuhren, immer: »Freudvoll und leidvoll!« Ich mußte dagegen sagen: Du wirst sie nicht verachten, weil sie mein war. Prächtiges Wort Das! Glauben Sie mir, junger Mann, wenn man das Leben gar zu ernsthaft nimmt, sagt wiederum dieser capitale Ritter, der die einzige Dummheit beging, dem Generalissimus Alba nicht die Statuten eines kaiserlich spanischen Reubundes vorzulegen, was ist denn dran? Was ist denn dran? Am Leben nämlich, wenn man's gar zu ernsthaft nimmt, was ist denn dran? Justus, nichts! Nichts, Justus! Gute Nacht, junger Mann! Besuchen Sie mich. Sie finden eine kluge Hausfrau und eine Tochter ... sie heißt Melanie ....

[164] Melanie Schlurck ist die erste Schönheit der Stadt, bemerkte Dankmar.

Sagt man Das?

Man urtheilt selbst dann so, wenn man ihr auch nur flüchtig begegnet – zum Beispiel zu Pferde ....

Nicht zu Pferde! Nicht zu Pferde!

Man sieht sie viel über die Promenade reiten.

Halsbrechende Geschichten! Lassen wir Das! Besuchen Sie mich, mein Herr! Ich wohne in einem merkwürdigen Hause, in einem Hause, das mich auch an die mittelalterlichen Reubünde erinnert ....

An die Templer, wie Sie sagten?

An die Templer, die die besten Zechbrüder des Mittelalters waren, an die Johanniter, die Palästina Palästina sein ließen und das Grab des Erlösers da vertheidigten, wo ihre Güter angetastet wurden, ihre Schlösser, ihre Ordenseinkünfte. Ich wohne in einem dieser Häuser, für die ich jetzt den merkwürdigen Proceß mit dem Fiscus führe. Ah Processe! Processe! Das mahnt mich aufzubrechen. Gute Nacht, Justus!

Sie, Herr Justizrath, führen den Proceß wegen ... Dankmar wagte seine Überraschung kaum auszusprechen.

Nichts als Processe! Ich, der friedliebendste Mann von der Welt! Gute Nacht, Justus! Helfen Sie mir mein Reisenecessaire packen.

Er zeigte auf den Eiskühler, den strasburger Pastetentopf und den Flaschenkeller.

Justus griff zu und half ihm beim Einpacken, erklärte [165] auch, da die Bedienung schlafe, ihm Alles an den Wagen tragen zu wollen, und plauderte von den schönauer Wahlen noch Dies und Jenes durcheinander ......

Dankmar aber hätte jetzt so gern von dem Gegenstande begonnen, den Schlurck nur flüchtig berührte. Er hätte so gern gehört, ob der Justizrath wirklich sein künftiger Gegner in diesem Processe sein würde. Aber Schlurck's Entschluß, nun aufzubrechen, stand fest .....

Schon hatte er den Hut ergriffen, schon einen flüchtigen Abschiedsblick auf den schlafenden Fußwanderer geworfen, sich angeschickt, Dankmarn um seinen Namen zu ersuchen .....

Justus, um einen Versuch zu machen, sein Mädchen zu rufen, öffnete die Thür .....

In dem Augenblick sieht Schlurck flüchtig hinaus auf den Corridor und reicht eben Dankmarn die Hand. Dieser will sie ergreifen, als Schlurck plötzlich einen Schreckensruf ausstößt und fast in Ohnmacht sinkt. Dankmar's Hand läßt er plötzlich wie gelähmt fahren und hält sich mit der Linken schwindelnd an der Wand. Dankmar springt hinzu, der Heidekrüger läßt den Korb aus seiner Hand sinken und ruft:

Was ist Ihnen Mann?

Auf dem Corridor, dicht an der Thür des Saales vorüberschleichend glaubten sie ein Gespenst zu sehen. Halb entblößt, auf dem obern Körper nur im Hemd, stand mit geschlossenen Augen eine Gestalt dicht vor ihnen. Verworren und mit Heu untermischt hing ihr das Haar über [166] die Stirn. Strohhalme schleppten die Schuhe mit sich fort über die Treppe und den Corridor. An dem halbnackten Arm hing mechanisch getragen eine Laterne, die düster den Gang erleuchtete. Die Magd stand hinter diesem grauenerregenden Aufzug und deutete mit zusammengefalteten, fast wie betenden Händen an, daß man um Gotteswillen schweigen möchte.

Aber schon hatte Schlurck mit Entsetzen: Hackert! gerufen.

Hackert war es, als Nachtwandler .... Auf den Ruf seines Namens öffnete er die Augen und taumelte fast zusammen.

Dankmar, von innigstem Mitleiden für den Unglücklichen, der ein Nachtwandler war, ergriffen, fing ihn rasch auf. Der Lichtglanz blendete den auf seinen Namen erwachten Träumer. Er schien sich nicht sogleich sammeln zu können, als er aber Schlurck in der Thür sah und erkannte, besann er sich und wollte anfangs lachen.

Dankmarn war diese Situation furchtbar. Er rief dem noch immer vor Entsetzen starr dastehenden Mädchen zu:

So zeig' sie uns doch unsere Zimmer! Sie sieht ja, mein Kamerad hat zu Bett gewollt!

Die Magd entnahm Hackert die Laterne und ging rasch voran, um sie eine Stiege höher zu führen. Hackert folgte stumm, und nur zuweilen war's Dankmarn, als hörte er ihn hinter sich keuchen und seufzen. Die Magd wie von einem Gespenst verfolgt, öffnete rasch zwei Zimmer, ließ [167] die Laterne stehen und eilte hinunter. Dankmar zündete ruhig zwei Kerzen an, die in einem der Zimmer bereitstanden, schloß die Fenster sorgfältig und verwies Hackert, der wie träumend dastand, auf ein Bett des einen Zimmers. Gute Nacht! sagte er ihm und ging mit dem zweiten Licht in das Zimmer nebenan. Er rückte behutsam sein Bett an die Verbindungsthür, um lauschen zu können, ob sich Hackert legte. Als er bemerkte, daß dieser völlig ruhig war, das Licht löschte, die Thür zuriegelte und sich aufs Bett warf, entkleidete er sich selbst. Er hatte von dem Gespräch, dem Wein und der Entdeckung über Hackert's unglückliche Nervenstörung selbst halb verwirrt, sich kaum niedergeworfen, als er in der Ferne Schlurck's Wagen zu hören glaubte, so spornstreichs und im heftigsten Anlauf war der plötzlich verschwundene genußsüchtige Spötter aus dem Hofe gefahren. Über die Beziehung, in welcher Schlurck zu dem Nachtwandler stand, noch länger nachzudenken, fehlte ihm die Sammlung der Sinne.

Unten aber hatte der Heidekrüger, als er erfuhr, daß der Nachtwandler des fremden jungen Mannes Kutscher war, erst noch wissen wollen, ob der Justizrath diesen kenne, dann aber, als Schlurck leichenblaß schwieg und sich nur eilig in seinen Wagen setzte, ihn mit der Bemerkung: Der Reubund ist doch Muckerei! wieder zur Besinnung bringen wollen. Schlurck aber scherzte nicht mehr. Mit der Bemerkung: Gehen Sie zu Bett, Justus, Sie haben zuviel getrunken! hatte er ihn vom Wagenschlage [168] entfernt und nur noch mit der Magd einige Worte gewechselt, deren Inhalt wir im nächsten Capitel erfahren werden.

Justus, der Heidekrüger, hatte, wie freundliche Herrschaften, die ihren Dienstboten gern Trinkgelder gönnen, die Gewohnheit, sich jedesmal, wenn seine Gäste die Börse zogen, zu entfernen und seinen Dienstleuten die Abrechnung zu überlassen.

Wir wissen nicht, ob auch dieser Charakterzug in dem Buche erwähnt ist, welches vor mehren Jahren erschien und unter Anderm auch Justus' Portrait und Lebenslauf enthielt. Es hieß, wenn wir nicht irren: »Deutschlands Biedermänner.«

Dankmar Wildungen aber brauchte lange Zeit, bis er, erschreckt von allen diesen Erlebnissen, in dem endlich stillgewordenen Heidekrug entschlief.

[169]
8. Capitel. Der Spion
Achtes Capitel
Der Spion

Der Morgen brach unfreundlich an. Die Westwolken, die schon die Nacht drohten, hatten sich über den ganzen Horizont gezogen. Das liebliche Blau der vergangenen Tage war verschwunden; die Schwüle der Luft war noch wie bisher dieselbe. Blüte und Blatt schmachteten der endlichen Erfrischung durch Regen entgegen. Noch standen die Wolken starr und fest, noch wollten sie sich auf die staubige Erde nicht niedersenken.

Schon arbeiteten die Schnitter im Felde, um vor den drohenden Gewitterstürzen die Ernte in Sicherheit zu bringen, als Dankmar mit Hackert ausgefahren war, um die begonnene Reise fortzusetzen. Der Heidekrüger schlief wol noch, aber die kluge geschäftige Hausmagd, die sich Liese nannte und der die Sorge für das große Hauswesen ganz allein obzuliegen schien, war schon früh bei der Hand in dem von Arbeitern und Mägden belebten Hofe. Auch das Städtchen Schönau erblickte Dankmar jetzt am fernern Rande des Waldes und mancherlei lebhaften Verkehr, durch welchen diese Wirthschaft des Heidekrügers Justus bedeutsamer mit der ganzen Gegend verbunden[170] wurde. Es erklärte sich ihm jetzt das sichere Gefühl, mit dem der Heidekrüger von seinem Einflusse auf die nächstbevorstehenden Wahlen sprechen konnte.

Als Dankmar in den Hof gekommen, fand er Hackert schon mit Aufzäumen des Pferdes beschäftigt und vor ihm die Liese, die ihm mit furchtsamem Ausdruck, eingedenk des gestrigen Abends, zu seinem Erstaunen eine gefüllte Börse mit den Worten hinhielt:

Die Herrschaft in der Nacht hat Dies für Sie dagelassen.

Wer? fragte Hackert verdrießlich.

Der Herr Justizrath! sagte die Liese.

Sie irrt sich wol. Das Geld ist wol für Sie bestimmt ....

Die Magd Dankmarn erblickend, rief ihm, ihr beizustehen. Der Herr Justizrath hätten, erzählte sie, dem Heidekrüger gestern Nacht diese Börse mit all' dem Gelde drin geben wollen, der hätte aber wie immer gethan, als könnte er blank nicht fünf zählen ....

Was? sagte Dankmar. Eine gute Magd, die so ihren Herrn verleugnet?

Liese wurde roth.

Ich merkte schon lange, setzte Dankmar scherzend hinzu, daß Liese mit ihrer Herrschaft nicht im Reinen ist ....

Ach, sagte das schon ältere Mädchen, der Heidekrüger ist ein braver Herr, aber zu hoch studirt. Wie ich herzog zu ihm – es sind jetzt an acht Jahre, die Frau Heidekrügerin lebte damals noch – ging Alles nach der Schnur; denn die [171] Frau führte das Regiment. Als sie starb, wollt' ich fort, weil mir der Herr zu hochgestapelt war und für Unsereins kein Gehör hat ....

Der Heidekrüger hochgestapelt? Kein Gehör? Ein Volksmann? sagte Dankmar.

Ich ließ mich beschwatzen und blieb, und es ging auch, weil Die von der Polizei dem Herrn alle Bücher weggenommen hatten und auch einige gute Freunde von ihm im Loche sitzen mußten. Da ließ er die großen Staatssachen und das Geschäft hier kam wieder in Gang. Aber seit ein paar Monaten ist wieder Alles im Brand. Nicht eine vernünftige Antwort hat man von dem steifen Mann. Was soll ich da? Ich will in einen andern Dienst.

So, so, Liese! Nun, als ehrlich kann man Sie empfehlen. Was soll die gefüllte Börse?

Hackert stand in einiger Entfernung und horchte halb herüber.

Der Justizrath wollte die Börse dem Heidekrüger geben, daß er die Zeche abzieht und den Rest da an den ...

An meinen Kutscher ... sozusagen ...?

Ja Herr, an den ...

Sie blinzelte Dankmarn zu, als wenn man nicht recht wisse, wie man mit dem gespenstischen jungen Menschen dran wäre und ihn näher bezeichnen solle ....

Schon gut, sagte Dankmar, der steife Heidekrüger hat viel Vertrauen zu seiner ungetreuen, unpolitisch gestimmten Liese ....

[172] Gezählt hab' ich's nicht. Aber Das merk' ich schon, es ist mehr als mein ganzer Lohn auf drei Jahre beträgt. So nehm' er doch! Damit wandte sie sich, fast collegialisch, wieder an Hackert und brummte etwas vom Hans Narren.

Hackert wies sie finster zurück.

Als Dankmar zureden wollte, bat er ihn ungeduldig, endlich einzusteigen und die Gans schnattern zu lassen.

Gib mir den Beutel, setzte er noch rasch hinzu und betrachtete die Häkelarbeit der Börse. Es war rothe Seide mit Gold durchzogen, das Ganze sehr kunstvoll durcheinandergewirkt. Laß mir den Beutel! Behalte nur getrost das Übrige; Verrätherin, die ihren Herrn verleugnet!

Als ihm die Magd den Beutel reichte, schüttete er den ganzen Inhalt erst in seine volle Hand und sagte wirklich:

Halt' die Schürze auf, Hexe!

Dann warf er die aus Gold- und Silberstücken bestehende bedeutende Summe der Liese in den Schoos und murmelte:

Die Börse will ich behalten. Was drin war, gib entweder deinem Herrn, er soll's dem Schlurck wiederzustellen, oder behalte es selbst.

Ich will nichts behalten. Wir stehlen hier nicht, antwortete die Magd, empfindlich über Hackert's grobes Benehmen und sein ... Anhexen.

Ist Sie großmüthig? Eine Tugendprahlerin? So gibt sie auf Heller und Pfennig, fuhr Hackert fort, dem Heidekrüger das Geld da oder stellt in meinem Namen, in Fritz [173] Hackert's Namen, hört Sie, Fritz Hackert's, dem Justizrath Schlurck das Ganze zurück, wenn er des Weges kommt, oder schickt's ihm. Verstanden?

Lateinisch redet Ihr nicht! brummte die Magd ärgerlich und zugleich doch aufs äußerste erstaunt.

Der Herr da will zahlen, fuhr Hackert resolut fort, indem er Dankmarn, der ihm jetzt ernstlich das Geld zu behalten zureden wollte, die Rede abschnitt. Was ist er schuldig?

Einen Thaler fünf Groschen, sagte die Magd, und überreichte eine Rechnung.

Dankmar nahm einen der Hackert'schen Scheine aus seiner Tasche, nicht ohne Verlegenheit zu ihrem seit der Nacht ihm wieder unheimlichen Darleiher hinüberblickend. Hackert erwiederte diesen Blick und schielte, indem er die Rechnung einsteckte, zu den Thalerscheinen, als kennte er sie. Ist der Nachtwandler verschwenderisch und geizig zugleich? dachte Dankmar und wußte sich diesen Gegensatz nicht zu reimen. Doch war Hackert's Blick auf den Inhalt seiner Rocktasche nur ein flüchtiger. Die von der Magd erhaltene Börse fesselte ihn lebhafter. Er betrachtete die Häkelarbeit mit der Andacht eines Menschen, der an der Echtheit einer Reliquie deshalb nicht zu zweifeln wagt, weil er das tiefe Bedürfniß fühlt, sie zu verehren. Wäre Hackert allein gewesen, er hätte die Börse, deren Inhalt er so stolz verschmähte, vielleicht geküßt. Mindestens betrachtete er sie mit andächtigster Theilnahme.

[174] Jetzt hinter einem Manne zu sitzen, von dem er wußte, daß er bei Nacht im Schlafe wandelte, war Dankmarn natürlich peinlich genug. Die Erinnerung an die Erlebnisse der vergangenen Nacht überhaupt und die aufregenden Gespräche trat verworren und wüst in ihm auf. Der Gedanke an seinen eigentlichen Reisezweck, die Wiederentdeckung eines ihm verloren gegangenen werthvollen Besitzes, würde vielleicht in den Hintergrund getreten sein, wenn Schlurck's Reden ihn nicht aufs lebendigste geweckt hätten. Was er in diesen Tagen nur über die alten Zeiten schon in dem Tempelhause von Angerode nachgedacht hatte, stimmte mit den Äußerungen Schlurck's, das Wesen der Ordensgesellschaften betreffend, merk würdig zusammen. Ihm freilich waren die alten Templer nur in dem verklärten Märtyrerglanze erschienen, wie sie auf dem Bilde seines Bruders strahlten. Schlurck sprach zwar auch in seiner Weise hochachtend über sie. Diese war aber für ihn eine geringschätzende. Endlich gewann ihm Das, was Schlurck über den Reubund gesagt hatte, ein lebhaftes Interesse ab. Hinter dem Spotte des Justizraths lag ein gewisser Ernst, dessen einschmeichelnde Macht er nicht zurückweisen konnte. War die Zeit von Ideen nicht wirklich bis zur Armuth verlassen? Schmachtete sie nicht nach Thaten des Geistes und neuen Offenbarungen? Einen Augenblick überkam ihn der Gedanke: Wie, wenn du in diesen von der Regierung geduldeten Modebund trätest und ihn zu deinen Ansichten herüberleitetest! Wie, wenn Das, was ein Bollwerk des Absolutismus [175] sein soll, eine Schutzmauer des Kampfes gegen ihn würde? Hatte er neben sich in Hackert einen Ausnahmemenschen, dessen Zustand auf dunkle Nachtseiten der Natur führte, so war ihm auch das Ordenswesen plötzlich eine geheimnißvolle Nachtseite der Gesellschaft und er konnte nicht umhin, sich selbst zu sagen: Wer sieht schon jetzt die ganze Reihenfolge Dessen ab, was Alles im Menschen- und Völkerleben als Keim zukünftiger Entwickelungen liegt? Kein sterbliches Auge verfolgt die schlummernden Möglichkeiten. Wer ahnte einst die Gestaltungen, die nun voll und kräftig in der Gegenwart reifen? Wer verfolgt die Wege, die sich tief im Schooße der Erde der Maulwurf des Weltgeistes gräbt? Welche wunderbare Entwickelung hätte der Tempelherrnorden nehmen können, wenn ihn vereinte weltliche und geistliche Macht nicht unterdrückt und aus der Wettbahn der Kräfte, die das Mittelalter stürzten, hinausgedrängt hätte? Die Päpste bereuten später bitter genug, daß sie im französischen Exil, abhängig von der Willkür französischer Herrscher, den Templerorden aufgehoben hatten, diesen gewaltigen Arm, der ihnen nach dem Verluste des heiligen Grabes und einer veränderten Bestimmung des Ordens im Herzen der weltlichen Gewalt die Waffe hätte führen können, die ihnen später erst das Gift und die Intrigue des Jesuitenordens wurde! Dreißigtausend Tempelherren hätten – Philipp der Schöne fürchtete es – bewaffnet in Frankreich allein gegen die Ausbildung der weltlichen Tyrannei auftreten können, und was wäre es [176] denn auch für ein Unglück gewesen, wenn immerhin der Geist eines Innocenz des Dritten über den weltlichen Supremat gesiegt hätte? Es früge sich, ob wir uns nicht besser ständen, wenn der Monarchismus in der absoluten Weise, wie er jetzt auf den Völkern Europas lastet, im theokratisch regierten Europa niemals sich hätte entwickeln können? Es früge sich, ob wir nicht durch die Kirche, die doch allein die Bewahrerin der Bildung geblieben ist, trotz ihrer theilweisen Verfinsterung doch wol zu größerer Wahrung unserer Menschenfreiheit gediehen wären, als durch den Staat, der uns Revolutionen über Revolutionen brachte und jetzt erst recht im neunzehnten Jahrhundert begonnen hat, ohne alle Rücksicht auf Leben und Tod, mit grausamster Consequenz, für sein frivoles, irdisches, egoistisches Bestehen förmlich, wir sehen es täglich, zu wüthen! Das erkannte Philipp der Schöne, der klügste politische Kopf seiner Zeit, und rottete die bewaffneten Vertheidiger der Hierarchie mit Hülfe eines von ihm eingesetzten lasterhaften Papstes aus. Das templerische Element flüchtete sich in den Johanniterorden, der leider keines größern Gedankens mehr fähig war. Man fühlte Das. Man dachte an Erneuerung. Immer und immer sollte der Bund wiederhergestellt werden, der dem Papste Kraft über die Gemüther gegeben hätte und zugleich seinen Arm bewaffnet. Aber erst, als das Papstthum sich überlebt hatte, gelang ihm der alte römische Plan durch Ignaz Loyola und Franz Lainez. Eine geistliche Ritterschaft war nun wieder da. Freilich bewaffnet [177] mit dem Schwerte der Scholastik. Das Kreuz des reinen Templermantels ... mit heimlichem und offenem Blute gefärbt. Diese verspätete Ritterschaft kämpfte für eine verlorene Welt, für eine verwelkte Blüte der Jahrhunderte ..... Warum aber erhob sich nicht die Reformation zu einem Gegenbunde gegen die Jesuiten? Warum brachte sie es nicht weiter als bis zu den allgemeinen und indifferenten Anschauungen der Maçonnerie? Die Freimaurer sind der Gegenbund der Jesuiten, aber welch ein Feld ist noch übrig, um aus dem Logenschurzfelle des Maurers einen echten Templermantel zu machen, aus der Kelle einen wehrhaften Schild zu schmieden, aus dem Hammer ein Schwert, blank und im Kampfe haarscharf?

Diese Gedanken regte bei Dankmarn Schlurck's Wort im Allgemeinen an. Im Besondern aber trat ihm auch die Äußerung, daß er jenen berühmten Proceß führte, der ihn nun bald selbst betreffen konnte, mit beklemmender Überraschung entgegen. Durch den Verlust Dessen, was er eben so bedeutungsvoll gewonnen hatte, sah er sich zwar ausgeschlossen von der Theilnahme an einem alten Rechtshandel, dessen Führung bei Schlurck in den gewandtesten Händen war; allein sollte er das Verlorene wiederfinden, wie konnte er in diesem Falle nicht noch mit Schlurck in Gegensätze gerathen, die greller waren als die der verflossenen Nacht? ... Doch warf Dankmar bald diese Grübelei aus seinen Betrachtungen fort und hielt sich an das Nächste, an die Natur und an die Abenteuerlichkeit seiner Reise, zu deren Räthseln vorzugsweise Hackert [178] und jetzt auch seine Beziehung zu Schlurck gehörte, dessen Geschenk an den nervenkranken Nachtwandler von einer auffallend innigen Theilnahme zeugte.

Hackert störte die unhörbaren Selbstgespräche seines Gefährten nur durch das Knallen der Peitsche, die am Walde widerhallte, und ein Locken und Pfeifen des Mundes, immer wenn er Vögel sah und diese vom Wege in die Schatten der Bäume zurückhüpften. Als er merkte, daß Dankmar geneigt war, auf ihn zu hören, begann er:

Im Stalle gestern lag ich schlecht; ich zog doch vor, oben in einem guten Bett zu schlafen. Haben Sie gut geruht?

Dankmar bemerkte wohl, daß Hackert seine plötzliche Erscheinung im obern Corridor auf natürliche Weise erklären wollte, als einen freiwilligen Entschluß. Warum sollte er ihm diese Beschönigung seiner Krankheit stören? Es rührte ihn vielmehr, daß der Mensch über Etwas, das ein angeborenes Schicksal ist, das Gefühl der Scham haben konnte! Er erinnerte sich, daß Siegbert oft beim Anblick elend geborener oder körperlich verwahrloster Menschen gesagt hatte: Wie finden sich diese Menschen nur mit ihrem Schöpfer zurecht! Wie tragen Sie nur ihr Leid, nicht sehen, nicht hören, nicht sprechen zu können! Welche langen Kämpfe des Gemüths gehören dazu, bis der unheilbar Kranke, der ewig liegen muß, sich nicht mehr frei bewegen kann, sein Schicksal als unabänderlich hinnimmt und sich von den Freuden des Lebens noch soviel in die Vorstellung bringt, daß er denkt: Das bleibt dir doch noch; Das lohnt sich doch noch, all diesen [179] Jammer zu tragen, und mit ihm auszuharren, und wär' es nur der warme, milde Sonnenschein! Dankmar, um sich dem Kranken gegenüber ganz unbefangen zu zeigen, vermied jede weitere Frage, auch die wegen Hackert's näherer Beziehung zu Schlurck. Er lenkte von Allem, was seine Neugier reizte, auch von dem Inhalt der Börse, die er zurückbehalten, und der schönen Häkelarbeit, auf Etwas hinüber, das ihm jetzt schon für gleichgültiger erschien, seine Ankunft in Hohenberg und die Untersuchung wegen eines an dem Fuhrmann Peters wahrscheinlich verübten Raubes.

Bei den Leuten auf dem Heidekrug, sagte Hackert, hab' ich mich erkundigt. Wir passiren noch eine kleine Stadt, Dassel geheißen, dann kommen wir ins Hohenbergsche nach Berghübel und gegen Abend sind wir in Plessen am Fuße des Schlosses Hohenberg. Es ist ganz Recht, dort treffen wir noch lustige Gesellschaft. Alle Creditoren der Hohenberg'schen Masse, Schlurck's Frau, seinen Buchhalter Bartusch, dann einen Bankier von Reichmeyer und ein Dutzend Vampyre aus der Stadt, die alle in den fürstlichen Zimmern rumoren und sich geadelt glauben, weil sie unter adeligen Wappen schlafen können. Wenn Prinz Egon – aber sehen Sie nur – Sie werden ja da gegrüßt!

Dankmar hatte mit Theilnahme sein Auge nur auf Hackert ruhen lassen und forschte in seinen Zügen nach einem Verständniß dieser jedenfalls noch unentwickelten und doch schon so überreifen, in sich wohl unklaren Natur. Das Wägelchen ging langsamer, weil sich der Wald in die [180] Höhe zog. Sich nun umwendend, erblickte er am Rande des kleinen Grabens, der frisch ausgehöhlt neben der Straße sich zog, den Tischlergesellen von gestern Nacht. Er trug den leichten Ranzen über dem Rücken, hatte ein sauberes Taschentuch vorn in der Brusttasche seiner blauen Blouse stecken und schritt mehr im Gange eines Lustwandelnden als eines ermüdeten und schwertrabenden Wanderers. Dankmar hatte ihn seit gestern Abend, wo er bei den politischen Unterhaltungen einen schlafenden Zeugen abgab, aus dem Gedächtniß verloren; jetzt aber trat er ihm wieder mit der ganzen Bedeutsamkeit, die ihn schon gestern in seiner zurückgezogenen Bescheidenheit umgab, auffallend genug entgegen. Sein Gruß war höflich, ohne unterwürfig zu sein. In seinen schönen Zügen lag ein feines Lächeln. Kein Wunder, dachte sich Dankmar, daß eine französische Dichterin in unsern vorschreitenden Zeiten gewagt hat, einen sogenannten Kunsttischler in einem ihrer communistischen Romane so liebenswürdig hinzustellen, daß er selbst das Interesse einer hohen gebildeten Dame er wecken konnte!

Wir sollten den Mann einladen mitzufahren, meinte Dankmar. Es ist ein Tischler und von überraschender Bildung ....

Höflich sein auf der Landstraße? antwortete Hackert kalt und wollte das Pferd antreiben. Er machte ein Gesicht, das alle Merkmale eines Neides ansichtrug, der aus ihm über die Theilnahme, die der Handwerker fand, deutlich zu sprechen schien.

[181] Es ist ja Platz neben mir; fuhr Dankmar fort.

Neben Ihnen? Warum denn nicht hier vorn? Wir vergessen überhaupt unsern Vertrag, fiel Hackert unruhig und fast heftig ein.

Nur Mitleid mit einem so großen Unglück Hackert's, wie er es gestern entdeckt hatte, bestimmte Dankmarn darüber zu lächeln.

Das wär' ein Tischler, sagen Sie? fuhr Hackert fort. Den Gauner hab' ich heute früh schon im Hofe als verdächtig erkannt. Ein Batisttasehentuch in der Blouse! Wenn er's nicht gestohlen hat, ist's ein Beweis mindestens für Spionage. Sei Einer ja behutsam jetzt, wenn man sogenannte Arbeiter sieht, die von dem Rechte der Arbeit reden, aber keine Schwielen in der Hand haben. Die Polizei weiß sehr gut, was sie jetzt Alles auszustöbern hat. Hier herum wimmelt's von jungen Accessisten, die ihr Probestück ablegen mit einem falschen Paß ....

Probestück mit falschem Paß? Was heißt Das? fragte Dankmar.

Lieber Gott, die alten Unteroffiziere und Wachtmeister reichen jetzt für die sogenannte praktische Polizei nicht mehr aus. Um jetzt eine Polizeicommissariusstelle zu bekommen, verkaufen hundert Referendare, Assessoren sogar und Lieutenants ihre Seele, wenn sie eine haben, und leisten, was Blindschleichen und Menschen nur können, die eine Anstellung finden und gern heirathen möchten.

Wie kommen Sie auf einen solchen Verdacht? fragte [182] Dankmar, doch erstaunt, weil er sich gewisser Äußerungen erinnerte, die auch Schlurck gestern fallen ließ.

Ach! Es sind jetzt wenig Menschen Das, was sie scheinen, sagte Hackert. Wie bei gewissen Koffern, mit denen man nach Frankreich und Rußland reist, haben zahllose Menschen jetzt einen doppelten Boden. Ich wohne in der Brandgasse. Mein Vicewirth, Hausmann, oder wie Sie den Kastellan einer Armenkaserne nennen wollen, ist ein Schlosser, seine Frau eine Flickschusterin, und Abends treibt der Mann Polizeigeschäfte, und sie – nun sie kuppelt. Nebenan wohnt ein verdorbener Klempner. Das ist ihr und sein College. Nach oben hinauf ist's nicht besser. Die Politik hat ja die Menschen so vielseitig gemacht! Der schnüffelt, Der heuchelt, Der gibt an! Und Den da, den hab' ich auch schon längst weg.

Für was halten Sie ihn?

Im Heidekrug beschnüffelte er Alles. Eine Dreschmaschine sah er zehn mal an, wie die Kuh das neue Thor, und einen Pflug zeichnete er sich sogar ab. Ich gebe mein Wort. Es ist entweder Assessor Müller selbst, der auf dem Polizeipräsidium arbeitet, oder sonst Einer, der von ihm hierher geschickt ist, um Recherchen zu machen, natürlich politische. Die Spitzbuben haben ja jetzt die schönsten Tage. Die Polizei spürt nur nach Revolution. Neulich sagte ein junger Mensch, der seit mehren Jahren unter polizeilicher Aufsicht steht, weil er in seiner Kindheit einmal in aller Unschuld wo eingebrochen ist: Es ist ordentlich beleidigend, sagte er, für unsereins; wir sind ganz aus der [183] Mode gekommen! Wenn Einer bei dem Hofjuwelier selbst einbräche, nicht drei Tage würde davon gesprochen!

Dankmar fand diese Vermuthung über den Tischler nicht ganz unwahrscheinlich, und so wenig Neigung er sonst hatte, mit Spionen oder den offenen unsanften Armen der weltlichen Hermandad in Berührung zu kommen, so hätte er doch vielleicht noch Gelegenheit finden können, sie heute für sich in Anspruch zu nehmen. Seines verlorenen Schreins gedenkend, sprang er aus dem Wagen und wandte sich zum großen Ärger des scheelblickenden Hackert zu dem Wanderer hin über.

Haben Sie in dem Wirthshaus eine gute Nacht gehabt? fragte er, als der angebliche Tischler ihm nahe genug war und sich ihm so anschloß, daß Beide nebeneinanderschritten.

Ich schlief später noch in einem Zimmer neben Ihnen! antwortete der Fremde. Aufrichtig! Ich hatte mich nur so gestellt, als wollt' ich im Wirthshaussaale bleiben. Der Schlemmer interessirte mich, und als vollends noch Sie hinzukamen und das Gespräch belehrend für mich wurde, schloß ich die Augen ohne zu schlafen. Hernach ging ich wie Sie in ein leidliches Bett.

Da haben Sie uns also ... belauscht? bemerkte Dankmar, erstaunt über diese Offenheit.

Wenn Sie's so nennen wollen! sagte der Fremde; ja! Hätt' ich mich wach gezeigt, so würd' ich dem Manne haben sagen müssen, warum ich nicht von ihm zu trinken annehmen wollte, oder was noch schlimmer gewesen [184] wäre, ich hätte mich hinreißen lassen, seinen jämmerlichen Lebensansichten zu widersprechen ....

Dem Wirth, glaub' ich, sagte Dankmar lachend, würde dann doch die Geduld gerissen sein. Er schien Sie längst nur mit großer Selbstüberwindung in einem Saale zu dulden, wo einer seiner Gäste Trüffeln und Champagner ausbreitete.

Ich weiß! Vor unserer Umwälzung hätt' er mich zur Thür hinausgeworfen und auf den Heuboden verwiesen, antwortete der Wanderer. Die Zeiten werden schon wiederkommen und vielleicht mit Recht. Was anmaßend und zudringlich ist, bleibt zu allen Zeiten besser vor der Thür als drinnen.

So wandeln Sie wohl, sagte Dankmar, in politischen Dingen den Mittelweg des vortrefflichen Herrn Heidekrügers?

Satt aller Antwort gab der Fremde seinem edelgeformten Kopf nur den Ausdruck eines Lächelns, das Dankmar nicht umhinkonnte geradezu für fein und geistreich zu erkennen. Dies Lächeln entwaffnete ihn. Er mußte einen Augenblick schweigen.

Nach einer Weile begann der Fremde von selbst:

Ist denn Das auch ein System? Ist denn Das auch eine Meinung? Was diesen Heidekrüger beseelt, ist nichts als der crasseste Egoismus der Eitelkeit! Dieser Mann hat ein vortreffliches Landgut und brave Dienstboten, die unter seinem Dünkel leiden. Warum bleibt er nicht in seinen Scheunen und auf seinen Feldern? Er krankt, jedes [185] seiner Worte verräth's, an der traurigen Großmannssucht, welche die Hauptrolle in unsern politischen Kämpfen spielt. Er kommt mir vor und Tausende mit ihm kommen mir vor wie Grundbesitzer, die bei Anlegung einer neuen Eisenbahn durchaus verlangen, daß die Linie an ihrem Eigenthum vorübergehen soll. Ohne sie gibt es nichts. Ohne sie kein Wind und Wetter. Ohne sie nicht Sonnenschein und Mondschein. Es ist dabei ein Trost, daß diese Menschen nicht ganz servil sind. Sie stellen sich der Regierung gegenüber doch manchmal ein bischen auf die Hinterfüße und wollen erobert, wollen gesucht, wollen geschmeichelt sein. Aber erst große Worte! Erklärungen! Die Hand aufs Herz! Lafayette! Lafayette! Hat man jedoch einen solchen Provinzial-Cato endlich an der Leine irgend einer kleinen menschlichen Schwäche gefangen, so kann man Dienstags auf der pariser Fastnachtsprozession keinen größern Ochsen sehen als ein solches, um jeden Preis an das Bestehende gefesseltes, früher liberal gewesenes Hornvieh.

Dankmar fühlte nach dieser wie eine Bombe platzenden Kernäußerung, daß, wenn der Fremde ein Spion war, er als Agent provocateur in der That Talent besaß. Unmöglich konnte er ein Tischler sein. Er beschloß jedoch, harmlos zu bleiben, nicht weiter nach dem Sinn der blauen Blouse zu forschen und vor seinen Überzeugungen, die er immer frei bekannte, keine Furcht zu verrathen. Da ihn diese Unterhaltung bei dem trüben Wetter und der einförmigen Gegend nur erfreuen konnte, trat er ohne [186] weiteres Mistrauen, ohne ängstliche Furcht, ganz offen mit seinen Empfindungen hervor.

Ganz wahr bezeichnen Sie diese Gattung von Menschen, sagte er, die leider zu sehr den Schwerpunkt unserer Zustände bilden! Sahen Sie nicht, wie scheinbar uneigennützig dieser Biedermann jeden Anspruch auf persönliche Auszeichnung vonsichwies und wie er doch seine Anforderungen an einen Volksvertreter gerade so nur stellte, daß sie auf ihn allein zutreffen mußten? So machten es Cäsar und Cromwell auch, als sie in Versuchung geriethen, sich krönen zu lassen, und nicht wußten, was ihnen größer stehen würde, die Krone oder der Schein, sie ausgeschlagen zu haben! Wie schlau und fein durchschaute Schlurck diesen Tartüffe vom Lande, den deutschen patriotischen Ehrenmann, der nur das »Gute« will und doch den Untergang der Welt von dem Augenblick an datirt, wo man vor dem Zorn seiner zusammengezogenen Augenbrauen nicht in Ohnmacht sinkt!

Ja! Ja! Dieser Schlurck ist ein pfiffiger Spitzbube! sagte der Fremde mit nachdenklichem Ernst.

Und mir mit seinem politischen Nihilismus noch lieber als diese aalglatten Heuchler, diese doctrinair gewordenen Spießbürger!

Auch der Nihilismus taugt nichts, sagte der Fremde, der sich immer gebildeter zeigte und Dankmarn überraschte. Aus nichts wird nichts. Ein Nihilist bringt ebenso die Welt in Verwirrung wie der phrasenhafte Egoist. Der Nihilist springt von Meinung zu Meinung, gehorcht [187] Jedem, der gerade die Gewalt hat, und ist der rechte Widersacher, der Erzfeind aller guten Dinge. Wir leiden an keinem Übel so sehr, als an der Eitelkeit und an der Genußsucht. Die Genußsucht ist der eigentliche rothe Faden der Revolution, der sich durch alle unsere Gesellschaftsschichten zieht. Die Genußsucht stürzt die Staaten im Grunde um, sie lockert das unterste Gebäude. Sie lehrt jenes Übermaß im Siege bei allen Parteien. Paris! Paris! Das ist nicht der Heerd der Gedanken, sondern der Heerd der Genußsucht! Wissen Sie, was die ganze, die ganze Welt regiert? Der Cours der französischen Rente. Ich war in Frankreich. Der Franzose arbeitet bis in sein funfzigstes Jahr. Dann will er noch zwanzig Jahre genießen. Er kauft sich Staatspapiere und lebt von ihren Zinsen. Um diese Zinsen auf hohem Fuße zu erhalten, werden in Paris alle Heiligthümer des Himmels und der Erde verrathen. Ein plötzlicher Sturm kann den Rentenfuß herabdrücken, man wird soviel lügen, soviel verrathen, soviel preisgeben von Dem, was vielleicht die Menschheit aus ihren Nöthen hätte herausbringen können, bis wieder die alte trügerische Windstille da ist und zur Beglückung aller in Europa lebenden Gesellschaftsdrohnen, die vom todten Ertrage des Capitals leben, die Renten hinaufsteigen. Die französische Börse, die Vertreterin der lungernden, arbeitsmüden oder arbeitsscheuen Genußsucht, regiert die Welt. Die Capitalisten werden, dazu sind sie zu feig, sich einem großen Sturm nicht mit Gewalt widersetzen, aber sie werden Alles aufbieten, allmälig wieder die Zügel in die Hand [188] zu bekommen und der Politik eine solche Wendung zu geben, bis sie wieder auf ihrem Lebensthermometer, auf dem Courszettel das Quecksilber der Rente auf dem Grade sehen, wo es in den Tagen stand, wo ein Bankier auf dem Throne Frankreichs saß.

Fügen Sie aber noch Etwas hinzu, sagte Dankmar, ergriffen von der wahren Schilderung dieses gebildeten Mannes, der ihm plötzlich wie verklärt vor Augen stand .... Fügen Sie noch Eins hinzu! Das Unglück der Welt verschuldet Paris auch dadurch, daß das Princip der Genußsucht dort auch Die ergreift, die eine Zeitlang im Dienste der Ideen gestanden haben. Möchte man, wenn man sieht, wie dort die Dinge jetzt gehen, nicht glauben, alle diese tonangebenden Charaktere wären nur so lange ehrlich und heldenmüthig, bis sie sich eine Stellung erobert haben und an der Quelle der Gewalt sitzen? Dann schöpfen sie diese Quelle rasch ab. Sie ahnen, daß ein Windstoß morgen sie wieder ins Nichts stürzen kann. Nun soll es im Fluge gehen, daß sie sich bereichern und dem steilen Felsen der Existenz einen californischen Goldklumpen fürs ganze Leben abgewinnen. Nun wird gelogen, betrogen, die alte Gesinnung Lügen gestraft. So kamen die Heerführer der Franzosen einst als Herolde einer neuen Zeit, und diese alten Republikaner waren nur beutesüchtige Genußmenschen, die für ihr Alter Vorräthe sammeln wollten. So haben jetzt in Paris alte Demokraten conservative Bedenklichkeiten, ja sogar junge Wüstlinge, Spieler von Baden-Baden, die mit einem kindischen Napoleoniden in [189] Strasburg und Boulogne eine Emeute versuchten, die durch Theatercoups lächerlich wurde, sprechen jetzt vom Jahrhundert, von der Mäßigung, von der Philosophie des Bestehenden, von der Grenze der Freiheit. Nein! Die Genußsucht ist ihre wahre Philosophie. Ihre Maitressen sind die wahren Egerien dieser neuen, meist militairischen Numas in rothen Hosen.

Der Wanderer in der blauen Blouse nickte beifällig. Dankmar ersah daraus, daß er auch feinere Anspielungen vollkommen verstand.

Welche Mittel gibt es aber dagegen? fragte der Wanderer, dem auch Dankmar zu gefallen schien.

Ich sinne täglich darüber nach. Wo soll man die Besserung suchen?

Ich finde sie in der Heiligung der Arbeit, sagte der Fremde nicht ohne Feierlichkeit; in der alleinigen Bekränzung Dessen, der sich beschäftigt und reelle Werthe erzeugt. Es gibt zu viel Geistesarbeiter und zu wenig wahre Handarbeiter. Die Handarbeit muß in den Vordergrund aller unserer politischen Beziehungen treten, ihr müssen die größten Belohnungen zufallen; denn nur durch die spartanische Erziehung der Menschen zur Arbeit kann sie von Grund aus gebessert werden. Ich bin kein Socialist. Ich werfe gerade den Communisten vor, daß sie die Arbeit viel zu sehr als eine Last, als einen Fluch hingestellt haben, als einen Jammer, der einmal die Menschen drücke und den man ihnen versüßen, erleichtern müsse. Ist Das nicht wiederum Genußsucht? Ist Das nicht [190] wiederum dasselbe Übel, an dem wir die ganze Gesellschaft kranken sehen? Nein; gerade im Gegensatze zu den Communisten muß die Arbeit als eine Quelle der höchsten Freuden dargestellt werden, und Institutionen müssen auftauchen, die die Arbeit und Alles, was mit ihrer Förderung zusammenhängt, in den Vordergrund aller Politik stellen.

Verstehen Sie darunter Belohnungen? fragte Dankmar gespannt und tief ergriffen von diesen Worten, die aus dem Munde eines Denkers kamen.

Belohnungen, Auszeichnungen, Erhöhungen des Lohnes, Sorge für die Angehörigen der Arbeiter, unmittelbare Beziehung der Staatsformen nur zu der Arbeit, Vertretung der Gewerbe im Vorzug gegen alle andern Stände, die, sei es Kaufmanns-, sei es Gelehrtenstand, nur die Diener Dessen sein können, der arbeitet. Wenden Sie mir nicht ein, daß die Bildung immer den Vorsprung vor dem Arbeiter gewinnen wird, auch da, wo jene vielleicht nur eine und dieser zwei Stimmen hat! Ich will, daß auch der Arbeiter gebildet ist. Ich will ihm nichts entziehen von Dem, was sich der Bevorrechtete zum Schmucke seiner Seele verschaffen kann. Der Staat soll es ihm geben. Der Staat soll aufhören nur die Garantie des Besitzes zu sein, er soll einzig und allein eine Schutzwehr und Garantie der Arbeit werden. Die Franzosen haben mit ihrer Garantie der Arbeit nur einen halben Schritt gethan. Für die Arbeiter zwar Summen aussetzen und die Arbeit erleichtern, dabei aber die ewige Rente behalten und die [191] Staatspfründen und das Militair und die ganze Maschinerie der künstlichen Arbeit, der sogenannten Geistesarbeit, und die Repräsentationsarbeit der Beamten im alten Bestande zu lassen, Das ist es nicht, was helfen kann. Auf einen Arbeiter müssen zwei Müßiggänger aufhören müßig zu sein; Das nur kann helfen. Machen Sie die Arbeit zur einzigen Garantie der Rente, und Sie werden sehen, wie Alles die Arbeiter umschmeicheln, wie man bedacht sein wird, ihre Arbeit ertragsfähig zu machen und in dieser Eigenschaft zu erhöhen. Sie sehen an solchen Eisenbahnen, die einen niedern Curs ihrer Actien haben, wie das dabei betheiligte Publicum Alles aufbietet, um diesen Curs zu heben und den Werth der Schienenlinie zu erhöhen. Dies ist nur ein ungefähres Beispiel jener organischen Verschmelzung, in der ich mir die Arbeit in das allgemeine Leben des Staats aufgenommen denke. Die Arbeit muß endlich aufhören, eine Ausgesetzte, ein Paria der Gesellschaft zu sein.

Dankmar war entzückt. Er theilte diese Meinung theoretisch nicht ganz; ihn ergriff nur der Contrast der Blouse und dieser geistreichen Worte. Übrigens zweifelte er nicht, daß er hier doch wol einen jener socialistischen Schwärmer vor sich hatte, der sich Handwerker nannte, weil er es wirklich einmal war, längst aber in einen höhern Bildungsstand übertrat und nur die alte Weise beibehielt, um den Arbeitern näher zu stehen und ihnen Vertrauen zu erwecken. Nach einigem Bedenken entgegnete er:

Ich habe lange Zeit, um den gewaltsamern radicalen [192] Mitteln zur Besserung der Welt auszuweichen, mich mit diesen linderen beschäftigt, die Sie andeuten. Oft habe ich mir die Menschheit als einen kranken Organismus gedacht, wo der rasche, vielbeschäftigte und ungeduldige Arzt sogleich Eisen und Feuer verordnet, der tieferblickende, wohlwollende und prüfende aber nur eine Umstimmung der Functionen. Wenn ich dann aber zuletzt doch sah, daß zur Umstimmungsmethode Jahrhunderte gehören würden und vor allen Dingen solche Staatsformen, wie wir sie eben von dem Status quo nicht erlangen können, so bin ich immer wieder darauf zurückgekommen, daß wir bei der alten Methode der Französischen Revolution, bei der Zerstörung des Feudalstaats, zur Zeit noch leider müssen stehen bleiben. Wir müssen – es hilft doch nichts – nivelliren. Die Fürsten und der Adel müssen durchaus dem Vorrecht des Bluts entsagen, der Begriff der Gewalt muß in die Souverainetät des Volks gelegt werden und alle bisherigen Stützen der Macht in den Dienst der neuen Staatskräfte treten. So nur finden wir Zeit und Gelegenheit, jene größern, anfangs vielleicht nationalen Naturprocesse durchzumachen, die in der Triebkraft aller solcher Völker liegen, denen die Geschichte die Einwurzelung in ihre Heimatlichkeit und den Glanz und die Größe dieser Heimatlichkeit raubte. Dann können nach den nationalen Wiedergeburten die Völker jene noch größern Beglückungen der Gesellschaft anbahnen, die in einer veränderten Gliederung des Menschengeschlechts überhaupt liegen und in jenen Neuerungen, [193] die Sie andeuten. Ich verkenne keineswegs, wie gefahrvoll die Entwickelung jener Zustände ist, die man die Herrschaft des Volks, Demokratie, nennt. Allein die Reformation hatte auch ihre Bauernkriege, ihre Bildersturmexcesse und ihre Wiedertäufer. Ihr besserer Kern erhielt sich und ließ nicht einmal dasjenige Gute verkennen, das auch in jenen gräuelvollen Misverständnissen noch theilweise lag. So muß es auch mit der Demokratie werden. Oder glauben Sie wirklich, daß unter der Alleinherrschaft der Könige das Alles sich ausführen läßt, was Sie sich unter der Heiligung der Arbeit gedacht haben? Ich glaube an die Monarchie, als an eine in der menschlichen Natur begründete Staatsform; aber die edle ideelle Monarchie ist die Monarchie der Zukunft, nicht die der Gegenwart. Mit der Monarchie der Gegenwart, die sich aufs Mittelalter, auf den Adel, das Militair, die Beamten, die gottbegnadete Berufung stützt, ist nichts Derartiges anzufangen, wie Sie sich's als heilsam denken. Blicken Sie um sich! Die deutschen Fürsten haben plötzlich aus der demokratischen Frage eine nationale und nun aus der nationalen gar eine Cabinetsfrage gemacht! Dynastie wetteifert mit Dynastie, und die alten verjährten Vorurtheile der Völker und Stämme werden aus der Trödelkammer der Geschichte wieder hervorgesucht, abgestäubt, mit dem Firniß neuer Redensarten überputzt und so zum Gefechte geführt. Kommen wir da weiter? Werden da, wenn diese nutzlosen Kämpfe, die nur Blut, Geld und frivole Gedanken kosten, vorüber sind, nicht wieder [194] dieselben alten Schäden bald zum Vorschein kommen? Oder ist es nicht gleich besser, zu sagen –

Fort mit allen Fürsten und reinen Tisch gemacht? fiel der Fremde lächelnd ein.

Dankmar schwieg, weil ihn der satirische und durchdringende Blick seines Gefährten jetzt plötzlich befremdete. Es spielten ihm um die zusammengekniffenen feinen Mundwinkel soviel pikante Schattirungen, daß er sich plötzlich vornehmen mußte, in sei nem Vertrauen nicht zu weit zu gehen. Der Fremde strich seinen schönen Kinnbart, der sich rund um das längliche Oval seines edlen Gesichts zog und ihm viel Ähnlichkeit mit Dankmarn selbst gab, und sagte:

Ich muß lachen, wie ich als einfacher Tischler dazu komme, Ihnen, einem studirten Herrn, so ernst entgegnen zu wollen, und doch bin ich nicht Ihrer Meinung ....

Sie wirklich ein Tischler? sagte Dankmar, fast verletzt darüber, daß der Fremde noch jetzt sein Incognito in dieser Weise aufrechterhalten wollte.

Ja! Ja! Ich bin ein Tischler, sagte der Fremde. Warum denn nicht? Ich könnte Ihnen manchen eleganten Stuhl zeigen, den ich zusammenleimte, und noch viel mehr hab' ich mich geübt, Meubles zu zeichnen, hübsche Formen zu erfinden. Doch gesteh' ich Ihnen sehr gern, daß ich auch, wenn ich will, auf meinen Arbeiten selbst sitzen darf und sie nicht zu verkaufen brauche. Ich bin ein Tischler, aber ich trage diese Blouse nur, weil es, wie Sie sehen ... stäubt.

[195] Fürchten Sie da aber nicht, daß man Ihnen einen Paß abfodert und Sie ein Incognito, das Sie zu bezwecken scheinen, lüften müssen? fragte Dankmar.

In diesen Zeiten fodert man keine Pässe; antwortete der Fremde; ich gehe auch nur bis Hohenberg.

Bis Hohenberg? sagte Dankmar. Hohenberg ist auch mein Reiseziel.

Sie werden früher dort ankommen als ich. Von hier werd' ich noch zehn Stunden zu gehen haben und Sie wol nur noch sechs zu fahren.

Sie sollten mit meiner schlechten Kalesche vorlieb nehmen, bemerkte Dankmar. Er that Dies nicht ohne Zögern, da eben Hackert hinter ihnen ungeduldig und lärmend mit der Peitsche klatschte.

Der Fremde sah sich den Wagen an und blieb mit den Worten: Der Staub ist allerdings sehr lästig! stehen.

Hackert rührte sich nicht vom Platze, öffnete auch den Schlag nicht, sondern schien ruhig abzuwarten, ob Dankmar ihn ganz als Kutscher behandeln und jetzt sogar zwingen würde, einen wandernden Handwerksburschen zu fahren .....

Beide Fälle, ob nun die blaue Blouse zu Dankmar oder zu ihm gesetzt wurde, waren seinem empfindlichen Ehrgefühl peinlich. Er schnitt die grimmigsten Gesichter, sprach von Ermüdung des Gauls, schlechtem Wege, engem Platz. Der Fremde, erstaunt über die Unhöflichkeit eines Menschen, den er nur nach dem Bock, auf dem er saß, beurtheilte, schien einen Augenblick zu vergessen, [196] daß er diesem doch auch nur ein wandernder Tischler sein konnte, und über die von Hackert's Mienenspiel ihm gegebene Andeutung, sich, wenn er aufstieg, vorn zu ihm zu setzen, schoß ihm fast das Blut ins Gesicht; doch schien er sich so gleich zu fassen, als Dankmar, alle weitern Erörterungen mit dem widerwärtigen, ewig nergelnden Hackert abschneidend, diesem den Zügel und die Peitsche aus den Händen riß, sich selbst auf den Bock setzte, Hackerten und den Tischler auf den Wagen verwies und mit den Worten: Ich fahre gern einmal selbst! vorn Platz nahm und selbst das Rößlein des Pelikanwirthes nun zu rascherm lustigen Trabe anfeuerte.

[197]
9. Capitel. Die Visitenkarte des Tischlers
Neuntes Capitel
Die Visitenkarte des Tischlers

Der Wald war zurückgelegt. Zu dem Städtchen Dassel hinab ging es im raschen Trabe. Einige Regentropfen fielen schon, ohne jedoch sehr zu belästigen.

Dankmar, wie er so dahin jagte über die staubige Straße, schüttelte über sich selbst den Kopf. Er suchte einen Schatz, der ihn, wie er vielleicht scherzte, zum Millionair machen sollte, und um ihn zu finden, fuhrwerkte er eben eigenhändig einen Handwerksburschen und einen elenden abgedankten Schreiber! Es ging ihm wirklich unwirsch und ärgerlich im Kopfe hin und her. Auch der Umstand, daß er das Gespräch mit dem geheimnißvollen und ihm jetzt wieder zweideutig gewordenen Fremden gerade da abgebrochen hatte, als er – ohne das vernünftige granum salis hinzugefügt zu haben – sämmtliche deutsche Fürsten wie alten Sauerteig ausfegen wollte, drückte ihn .... Es ist so lästig, in extremen Behauptungen ohne Vermittelung dazustehen. Wir Alle leiden ja überhaupt mehr darunter, daß man uns nicht ausreden läßt, als darunter, daß man uns absichtlich misversteht. Man glaubt uns so oft zu verstehen und Das eben erscheint [198] uns so gefährlich! Man unterbrach uns nur oder das Schicksal unterbricht uns in Augenblicken, die uns gerade die wichtigsten waren. Der Tod, welche schreckliche Unterbrechung für einen Menschen, der sich noch aussprechen, seine Gefühle rechtfertigen, seine Gedanken erläutern möchte! Und doch ist der Tod noch der geduldigste unserer Zuhörer. Selten, daß er uns mitten in einer Periode einer Auseinandersetzung für unser ganzes Leben überrascht. Die ungeduldigsten und quälendsten Störer sind aber gerade die, die uns immer vortrefflich verstanden haben wollen und gleich in die Rede fallen. Sie verlassen uns wie in schönster Übereinstimmung und wir bleiben mit dem Gefühle stehen: Der geht doch mit einer Voraussetzung von uns fort, die nicht zutrifft! Es sind doch nicht meine Gedanken, die er da als die meinen mit fortnimmt! Himmel, er wird sie verbreiten, er wird mich nach ihnen beurtheilt machen, er hat mich nicht ausreden lassen und macht mich unglücklich.

So lagen auch offene Gewaltthätigkeiten Dankmar's politischen Meinungen ganz fern. Er wollte immer nur das Nothwendige und Vernunftgemäße und hier fühlte er nun, daß er doch weit mehr noch hätte sagen müssen, um ganz verstanden zu sein. Diesem drückenden Gefühle half etwas die Ankunft in Dassel ab. Es zerstreute doch, durch eine kleine gewerbfleißige Stadt zu fahren, und wenn auch nur im Vorüberfluge hier und da von einem freundlichen Gesichte begrüßt zu werden.

[199] Hinter Dassel belustigte Dankmarn, der sich eine Cigarre angezündet hatte und um zu gleicher Zeit fahren und rauchen zu können, schweigen mußte, ein Gespräch, das Hackert mit dem Fremden anfing. Hackert hielt diesen für Das, was er gleich anfangs vermuthet hatte, einen Spion, redete ihn aber für Das, für was er sich ausgab, an und sagte ganz dreist:

Tischlergesell bist du?

Tischlergesell – wiederholte nach einigem Zögern der Fremde.

Wo bist du her?

Hier aus dem Hohenbergischen.

Wo standest du zuletzt in Condition?

In Paris.

Donnerwetter, Das ist weit. Von da kommst du direct und verlegst dich nicht aufs Fechten? Hast wol in Paris geschafft? Ich seh' es. Deine Mütze ist bei Noack in der Fischerstraße ganz neu gekauft und deine Blouse, glaub' ich, hab' ich schon 'mal auf dem Maskenball im Opernhause gesehen.

Diese Wendung frappirte den Fremden.

Dankmar lachte in sich hinein:

Siehst du! dachte er; du kommst da an den Rechten.

Tischler ist kein übles Handwerk, fuhr Hackert behaglich fort. Aber immer Wiegen zu machen, wäre mir zu läppisch, und immer Särge, zu schwermüthig. Wobei hast du denn am meisten den Hobel angesetzt?

Ich bin ein Kunsttischler, mehr zum Luxus ....

[200] Aha! Luxus ... Mahagony? Nicht wahr? Drum gefiel dir auch wol die neue Dreschmaschine beim Heidekrüger?

Der Fremde ließ sich durch diese verschmitzte Frage nicht irremachen, sondern setzte umständlich das Getriebe einer solchen Maschine auseinander, trotzdem, daß sie nicht von Mahagony war. Er wollte eben zeigen, daß er die Praxis verstand.

Dankmar, der aufmerksam zuhörte, mußte fortgesetzt lachen; denn Hackert verstummte plötzlich über die Schrauben, Ventile, Stempel, von denen der Fremde sprach. Sein Plan, den verkleideten Regierungsassessor Müller aufs Glatteis zu führen, war gescheitert.

Das darauf eintretende Stillschweigen währte längere Zeit. Dankmar rauchte. Hackert schickte sich zum Schlafen an. Der Fremde sah auf die Gegend und notirte sich zuweilen Etwas, was ihm plötzlich einzufallen schien, in einem kleinen zierlichen Buche. Das dauerte so fort, bis er hinter einem Dorfe, das sie wieder zurückgelegt hatten, Namens Helldorf, zu Dankmar sagte:

Da sind wir jetzt in einem Lande, wo ja mit einem Fürsten, wie wir vorhin sagten, reiner Tisch gemacht worden ist! Es ist wahr, es lebt sich darin nach wie vor. Die Menschen gehen und wandeln, die Bäume tragen schwer an den Ästen, die Ernte ist reif, das Gras schon zum zweiten male gemäht. Es hat sich nichts verändert.

Wo wären wir denn da? wandte sich Dankmar um.

In dem Fürstenthume Hohenberg, sagte der Fremde; hier beginnt die kleine Herrschaft, die so verschuldet ist, [201] daß selbst eine Lotterieanleihe sie nicht mehr retten konnte. Heben Sie den Glanz und das Glück der kleinen Herrscher auf und sie gehen von selbst.

Und die großen? fragte Dankmar, der nicht abgeneigt schien, das begonnene Gespräch fortzusetzen.

Halten Sie es für möglich, sagte der Fremde, unbekümmert um den in politischen Dingen schweigsamen und nun schlafenden Hackert; halten Sie für möglich, daß jemals Staaten wie Preußen, Österreich, Baiern ganz aufhören können? Diese Sondergeschichte ist nicht auszulöschen und in den Fürsten erhalten sich die Erinnerungen der Völker und werden durch sie getragen.

Dankmar antwortete ironisch:

Ich bewundere, wie Sie glauben, die Hebel der Gesellschaft, die Organe der Menschheit in Bewegung setzen, neue Sitten, neue Gesellschaftsformen bilden zu können und doch an dem Bestande von Dynastieen wie an etwas Ewigem haften! Wie gern auch söhnt' ich mich mit diesem Bestande aus, wenn ich darin nur die Fortbildung unserer Freiheit gesichert sähe! Wissen Sie, was mir durch diese Monarchieen allein gesichert scheint? Ein Übel, das mir noch gefährlicher dünkt als die von Ihnen gerügte allgemeine Genußsucht. Es ist Dies die allgemeine persönliche Eitelkeit, begründet auf eine durchgreifende Erniedrigung des Menschengeschlechts. Wir hörten ja gestern vom Reubunde. Wie erscheint der Ihnen?

Ein wenig lächerlich, war die Antwort.

Mir scheint er gefährlich, sagte Dankmar. Gefährlich [202] deshalb, weil er mit einigen guten Eigenschaften des civilisirten Menschen ein unverantwortliches Spiel treibt. Liebe und Hingebung sind himmlische Thätigkeiten der menschlichen Seele, aber sie haben ihre Grenzen. Sagen Sie selbst, ob nicht in jener Monarchie, zu deren Erhaltung und Unterstützung der Reubund gestiftet wurde, das eigentliche Hinderniß freier Entwickelung die tief in den Institutionen und den Erinnerungen des Volks wurzelnde Eitelkeit das Hinderniß der wahren Freiheit ist? In diesem Staate entwürdigt sich der Mensch als Gattungsbegriff, um sich als bürgerliche Person hochzustellen. Das Individuum will bedeutend sein auf Kosten des Geschlechts. Oder woher denn sonst dieses rastlose und die Menschenwürde beschämende Drängen nach Auszeichnung? Eine Unzahl von Ehrenzeichen und Titeln wird in Massen verschleudert, die allgemeine Militairpflicht untergräbt das kräftige Selbstgefühl der Heimat und ordnet Jeden einer abstracten Ehre, der Soldatenehre, unter. Wo Sie im Bereich dieser Monarchie hinkommen, überall bilden sich die Menschen ein, in unmittelbarer Beziehung zum Fürsten zu stehen. Jeder glaubt sich von ihm persönlich gekannt; Jeder drängt sich vor, um irgendwie zur Notiz der hohen Behörde genommen zu werden. Wie eilt nicht Alles zu Unterschriften, zu namentlicher Nennung bei jeder Gelegenheit! Streiten Sie mit diesen Menschen, so hat Jeder eine Meinung für sich, Jeder weiß es besser als der Andere, und wenn man sich unterordnet, so ist es nur einem hochgestellten und [203] betitelten Manne. Einer Berühmtheit die Schleppe zu tragen, die Kundschaft einer Excellenz zu genießen, von einer erlauchten Person angeredet zu werden, Das ist dort wie in Rußland der Bindekitt des öffentlichen Geistes und die Bedingung seiner Formen. Wenn Montesquieu die Ehre als das Wesen der Monarchie bezeichnete und er es aufrichtig meinte und nicht etwa damit seinem Souverain ein leeres Compliment machen wollte, so kommt dieses Merkmal, das nur aus Mangel eines tiefern Begriffes erfunden zu sein scheint, in jenem Staate zu seiner kleinlichsten, aber auch gefährlichsten Anwendung.

Der Fremde schwieg eine Weile. Dann nahm er, als er Hackert wirklich schlafend fand, das Wort und sagte:

Auch ich hasse die gedankenlose Hingabe an den flüchtigen Glanz des Bestehenden, nur um an diesem Glanze theilzuhaben; besonders ist mir, trotz meiner conservativen Gesinnung die Coquetterie mit dem Heere unerfreulich. Es ist Dies ein Stolz, der denn doch auf nur höchst unglückliche, den großen Menschheitszwecken widerstrebende Anomalieen sich begründet! Nie wird ein Staat eine Zukunft haben, der sich nur auf die Institutionen der Gewalt stützt und darauf hinarbeitet, im Volke das Staatsleben nur wie einen Formel- und Götzendienst zu begründen. Auch das Beamtenwesen ist eine solche morsche Stütze des dauernden Bestandes. Eine einzige verlorene Schlacht stürzt alle diese blankgeputzten und zierlichen Götzen und was nicht unendlich Wichtigeres mit ihnen! Aber dennoch sind Sie ungerecht, wenn Sie glauben, daß[204] die Dynastie von dieser Hingebung allein zehren will. Ich hoffe doch, sie strebt nach der Befestigung durch jene tiefer wirkenden Hebel der Industrie, des Handels, der Ackerbauerleichterungen. Freilich auf gewöhnlichem Beamtenwege wird hier nichts bewirkt. Solange nicht die Arbeit selbst an den Thron für sich redend tritt und die Bureaukratie aufhört, der Dolmetscher der Interessen der Arbeit zu sein, kann es nicht besser werden. Es fehlen uns Staatsmänner, die ihre Schule im Volke gemacht haben.

Dankmar fühlte sich durch die Ideen seines Reisegefährten oft so angezogen, daß er sie für die seinen erkannte, oft aber auch wieder ganz von ihnen abgestoßen. Er schwieg eine Weile und überlegte das Gesagte. Als ihn darauf der Fremde ersuchte, anzugeben, wie er sich's denn möglich dächte, jenen Geist der eitlen ehrsüchtigen Selbsterniedrigung in der Monarchie zu dämpfen, antwortete er:

Dadurch, daß man diesen falschen und unwürdigen Royalismus auf seine wahren Quellen zurückführt, die Quellen der Eitelkeit und der speculirenden Selbsterhaltung. Denn leider auch deshalb wird jetzt ein so übertriebenes Spiel mit monarchischen Formen getrieben, weil man einen Damm sucht gegen die drohenden Fluten der allgemeinen Zerstörung, gleichviel aus welchem Material gebaut. Ehrlich sind unter den Reubündlern nur Die, welche sich einbilden, vom Glanz der Monarchie falle etwas auf sie selbst, und unehrlich alle Die, welche zum Royalismus aus Angst für ihr Eigenthum flüchten oder [205] die sich, wie dieser Schlurck, vor dem Auffallenden fürchten und der Mode folgen, weil sie Mode ist. Es muß Etwas erfunden werden, mein' ich, was das Individuum vernichtet, ohne die Person zu zerstören.

Das ist ein tiefes, aber dunkles Wort! unterbrach ihn der Fremde. Das Individuum vernichten, ohne die Person zu zerstören?

Wir müssen, erläuterte Dankmar, eine andere Gleichheit predigen als z.B. die der Volksversammlungen. Gleichheit mit dem Pöbel ist die Sehnsucht der Denkenden nimmermehr. Gleichheit der Ansprüche auf die große Ehre, die in einem Allgemeinen, uns Alle Bindenden liegt, Ehre, zurückstrahlend auf Alle von einem Begriff aus, der Ehre verdient, da ist Etwas zu suchen, zu erfinden, was uns rettet vor dem Rückfall in die Barbarei, daß wir aus Furcht vor Revolutionen der Anbetung des Bestehenden verfallen.

Als Schlurck's Name genannt wurde, erwachte Hackert. Die beiden Andern schwiegen, und die Nothwendigkeit, dem Pferde einige Ruhe zu gönnen, trennte vor einem am Wege gelegenen Wirthshause auf einige Zeit die drei Gefährten. Als der Fremde, um nach einem Mittagsimbiß zu fragen, ins Haus getreten war, winkte Hackert Dankmarn und zeigte ihm ein Taschentuch, das Jener hatte liegen lassen. Mit geheimnißvoller Miene bedeutete er ihn näher zu treten und hielt ihm verstohlen den Zipfel des Tuches hin. Es war sehr fein eine Krone mit dem Zeichen 100 und dem Buchstaben E darin gestickt.

[206] Das heißt, sagte Hackert, der Mensch, von dem er dieses Taschentuch gestohlen, hatte deren hundert, war mindestens kein Tischler und fängt in seinem Vornamen mit einem E an.

Oder es gehört ihm wol selbst, sagte Dankmar.

Das ist auch möglich, antwortete Hackert trocken und rief einen Knecht, für das Pferd zu sorgen. Dann knöpfte er sich den Rock zu, streifte Beinkleider und Rockärmel glatt und benahm sich affectirt genug wie ein Gentleman.

Schneiden Sie kein so schlimmes Gesicht! sagte er zu Dankmar; jetzt, wo wir Hohenberg näher kommen, wird's mit meinem Fahren freilich nicht mehr viel werden. Wenn Sie indessen in Ihrem eleganten Costüm fahren, weiß man, daß Sie es nicht nöthig haben und es nur aus Vergnügen thun. Wenn ich es aber thue, so sagt jede Canaille, Das wäre mein Beruf. Wenn wir in Hohenberg sind und Sie leichten Herzens, aber schwerer im Wagen mit Ihrem Schrein zurückfahren, so sag' ich Ihnen, warum das Alles so sein muß, wenn Sie nämlich Lust haben, es zu hören.

Es ist eine verkehrte Welt, meinte Dankmar kopfschüttelnd nachgiebig und steckte das Tuch zu sich. Wir wollen sehen, ob wir da auch Etwas zu essen finden.

In der Wirthsstube trafen sie einen Jäger. Ein stattlicher Fünfziger, wie es schien. Seine Jagdtasche hing ihm mit langen Troddeln um die Schultern. Sein grauer Rock mit grünen Aufschlägen war von leichtem Sommerzeug und wohlerhalten. Das gebräunte mit fuchsrothem Barte umschattete Antlitz trug einen unverkennbaren [207] Ausdruck offenster Ehrlichkeit und treuherzigsten Vertrauens. Seine großen wasserblauen Augen grüßten die Ankömmlinge ebenso freundlich, wie er schon unterhaltend und unterhalten im Verkehr mit dem schöngewachsenen jungen Mann in der Blouse war. Eine Menge kleiner Kinder tobten um ihn her, spielten mit seinem Hunde, zupften an den Troddeln und dem Netzwerk seiner Jagdtasche und während er mit der Blouse, ja schon mit Dankmar und Hackert sprach, ging er doch dabei zu gleicher Zeit freundlich auf die Scherze der Kinder ein, die er hinterwärts mit den offen gelassenen Fingern haschte und neckte.

Sie sind hier im Gelben Hirsch! erklärte er den Ankömmlingen. Ihr Mittagsmahl müssen Sie nehmen, wie Sie's finden. He da, Lenchen! Jungfer Drossel!

Ein junges hübsches Mädchen, die die Wirthstochter schien, brachte schon für den jungen Mann in der blauen Blouse einige Teller von ihrem eigenen Mittagsmahle. Nun mußte aber auch noch genug für die beiden Andern da sein.

Ja, sagte der Jäger, wenn der Drossel nicht immer im Busch säße und seine politischen Lieder pfiffe!

Wie? erstaunte Dankmar, auch hier, wie auf dem Heidekrug, die Politik Störerin der häuslichen Ordnung?

Das nicht, meinte der Jäger begütigend; die Frau und das schmucke Lenchen da sehen schon nach dem Rechten. Aber es ist Alles mehr vollauf, wenn der Hausherr selbst für seine trockene Zunge sorgt. Wer viel spricht, muß [208] auch sich und dem Magen viel bieten. Wir im Wald sind immer allein und reden nur einmal mit unserm Phylax oder mit den Grünspechten oder den Maulwürfen und da thut ein Stück Brot, ein Trunk Wasser oder einer aus der Korbflasche seine Schuldigkeit. Zur Nacht freilich gibt ein Jägersmann seinem Magen auch volles Gehör. Da knurrt der und will für sein Tagewerk ein kräftiges Futter ....

Das Euch wohl bekommt ... sagte Dankmar, auf des Jägers frisches Aussehen deutend.

Besser als vielleicht Herrn Drossel das Essen auf sein vieles politisches Reden, fiel der Fremde ein, der sich bei Seite gesetzt hatte.

Ach nein, meinte begütigend der Jäger, es folgt Jeder seinem Geist.

Damit wandte er sich zur bedienenden hübschen Lene, den Kindern und dem Hunde Phylax. Er wollte es wol vermeiden, den Wirth zum Gelben Hirsch so anzuklagen, wie die Liese den Heidekrüger angeklagt hatte.

Lenchen, sagte er ablenkend, wirst immer schmucker! Blitzaugen hat das Mädel! Ganz wie ihre selige Tante! Bist aus einem Tiegel mit ihr geschmolzen! Gott verzeihe mir die Sünde, daß ich von Feuer rede ....

Die letzten Worte brummte der Jäger mehr vor sich hin.

Warum nicht vom Feuer? meinte Dankmar, eine dargereichte Weinkarte musternd. Die Menschen sind mehr durchs Feuer als durchs Wasser geschaffen.

Er bestellte eine Flasche Hochheimer.

Lenchen ging mit dem ganzen Kindertroß, der sie in den [209] Keller begleiten wollte. Auch Phylax würde gefolgt sein, wenn ihn der Jäger nicht zurückgehalten hätte.

Das Feuer im Wein laß' ich mir gefallen, sagte der Jäger freundlich, die Bestellung gleichsam lobend. Aber, setzte er mit zusammengedrückten Augen hinzu, das Feuer, das ich meinte, ist ein anderer Brand. Hier das Haus ging vor nunmehr sechzehn Jahren einmal in Feuer auf und mit ihm ... die Schwester Drossel's ... ein junges Wesen ....

Verbrannte?

Verbrannte.

Der Jäger wandte sich auffallend erschüttert zum Fenster hinaus. Die Reisenden aßen. Lenchen kam bald mit dem Wein zurück. Die Kinder lärmten wieder und litten nicht, daß der Jäger nach der Flinte griff, die an der Wand hing, und gehen wollte.

Ei, Onkel Heunisch, schon fort? sagte Lene Drossel. Vater und Mutter müssen von Schönau bald zurück sein. Ich dachte, Sie erzählen uns noch von Fran ziska's letztem Brief ....

Komm ins Jägerhaus, Lenchen! Kannst ihn selbst lesen!

Ins Jägerhaus komm' ich nicht.

Fürchtest dich? ...

Vor der Eule nicht.

Vor der Ursula. Ich weiß es. Bist ein Kindskopf.

Dabei lachte er wieder und verharrte dabei, daß er gehen müsse. Es wär' eine tüchtige Strecke nach Hause, meinte er.

[210] Dann grüßen Sie aber die Fränz und danken Sie ihr für das hübsche Band! sagte Lenchen.

Solltest ihr selbst schreiben, Lenchen! Legst es an die Tante bei –

Das dürfen wir nicht!

Die Tante Pfannenstiel? Ist die so ungefällig? Die reiche ...

Die!

Sieh! sieh! So schreib' der Fränz durch die Post. Sie hört gern Etwas von Hohenberg, vom Wald und Gelben Hirsch. Mein Schreiben ist nicht viel nutz. Franziska Heunisch, beim Tischlermeister Märtens auf der Wallstraße ....

Franziska Heunisch? unterbrach Hackert das Verzehren seiner Mahlzeit, ein Geschäft, daß er mit vielem Appetit verrichtete.

Kennen Sie die Fränz Heunisch, Herr? fragte der Jäger, angenehm überrascht.

Hackert kaute und antwortete nicht. Er schien nicht das Gemüth zu besitzen, dem Onkel, der seine Nichte zärtlich zu lieben schien, eine Auskunft zu geben, die den freundlichen Waldbewohner glücklich gemacht hätte.

Als der Jäger die Frage: Ei! Kennen Sie die Fränz Heunisch? nochmals wiederholt hatte, stieß Dankmar ärgerlich mit dem Ellenbogen den kauenden Hackert an und sagte:

Hören Sie denn nicht?

Fränzchen Heunisch, antwortete Hackert mit zweideutigem Lächeln; eine angenehme kleine Putzmacherin ....

[211] Ja, Herr, sagte der Jäger, sie macht Putz.

Dann aber, da er Hackert's Lächeln sonderbar fand, setzte er, indem ihm das Blut in die Wangen schoß, mit unterdrücktem Zorn hinzu:

Wissen Sie von Fränz Heunisch etwas Unrechtes?

Ich weiß von ihr nichts, bester Jägersmann, sagte Hackert, als daß sie allerliebste Zähne, hübsche rothe Wangen, braune Augen, schwarzes glattes Seidenhaar und um die Augen eine gewisse reizende Haut wie von Wachs hat und in der Wallstraße Nr. 14 im zweiten Hofe links eine Treppe hoch wohnt.

Herr, da wohnt sie! sagte der Jäger und warf sich jetzt die Flinte so zornig über die Schulter, daß die Jagdtasche hin- und herflog. Was aber nun? Was nun?

Was nun? Nun? Nichts nun! Sie wollten ja die Adresse genau wissen. Wallstraße Nr. 14 im zweiten Hofe links. Ist's nicht so?

Der Fremde, der an dem Jäger Wohlgefallen zu finden schien und einen üblen Ausgang dieser Reibung fürchtete, hielt es für das Angemessenste, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

Eilen Sie schon so? sagte er zu dem kirschroth gewordenen Mann, der auf Hackert Blicke schoß, die im Grunde doch mehr rührend als erschreckend waren. Er fürchtete sicher, Franziska Heunisch möchte wirklich auf schlimmen Wegen sein.

Die Jagd kann Sie nicht rufen, fiel Dankmar ein, der in dem Jäger den über seine Nichte aufsteigenden Verdacht [212] gleichfalls zerstreuen wollte; ich denke, in den Wäldern hier mag es im Herbst lustig zu pirschen sein ...

Es gibt nicht mehr viel Wild in den fürstlichen Wäldern, sagte der Jäger, sich sammelnd, aber noch mit zitternder Stimme.

Sind Sie Hohenbergischer Jäger? fragte der Fremde.

Das bin ich.

Früher Militair?

Militair.

Dem alten Feldmarschall nahe gestanden? Nicht wahr?

Nicht so nahe. Der selige Feldmarschall war kein Jäger.

Und doch kein Wild? bemerkte der Fremde, der sich so benahm, daß ihn Niemand mehr für einen wandernden Handwerker halten konnte.

Doch kein Wild! fiel der Jäger, der sich rascher beruhigte, als Dankmar erwartet hatte, ein. Das machen die Finanzen ....

Wie so die Finanzen? sagte Dankmar.

Weil die Juden den alten Fürsten ganz in Händen hatten. Wie ihm kein Strohhalm mehr im Lande gehörte, ließen sie dann auch frisch aufs Wild losschießen, Reh' und Haas, Alt und Jung, nur um Geld herauszuschlagen. Jetzt sind sie ja in Hohenberg All' versammelt; sie wollen zur Jagd wiederkommen, sagten mir neulich ein paar Steifböcke; aber ich lachte und dachte mir: Bringt wieder, was Ihr schon Alles in unserm Wald vertilgt habt, dann wird sich's der Mühe lohnen. Übrigens schwieg ich; denn kein Mensch weiß, was aus der Herrschaft [213] werden soll und wer uns inskünftige was zu befehlen hat.

Wer ist denn Alles oben? fragte Dankmar, der den etwas frugalen Fremden in der Blouse gebeten hatte, sich des Weins gemeinschaftlich zu bedienen.

Ich kenne sie nicht Alle, die geputzten Leute, sagte der Jäger. Aber Das weiß ich, solche sind's nicht, wie Die, die zur Zeit, als der Fürst und die Fürstin im Glanze lebten, da zu Besuch gekommen sind. Der Fürst ist in der Residenz gestorben, kam auch nie hinaus nach Hohenberg, schon die zwölf Jahre nicht, daß die Fürstin da wohnte. Als die fromme Frau noch lebte, durfte sich Niemand von den Creditores auf dem Schlosse sehen lassen. Das war so ausgemacht. Als sie aber die Augen zuthat, es sind nun zwei Jahre her, da ging's lustig los. Erst fing's auf den Wirthschaftshäusern herum und in der Rechnungskammer an zu rumoren. Hui, was für fremde Vögel, die da durcheinander zwitscherten: Das ist für meine Kralle, Das für meinen Schnabel! Das Schloß blieb noch unangefochten, aber seit den drei Monaten, daß nun auch der Fürst in Gott entschlafen ist – ja, ja! – in Gott – Gott hab' ihn selig, es war ein guter, aber auch wieder ein recht schlimmer Herr – Da – Hurrah! Da kamen sie denn Alle an, in großen Staatskutschen. Ritsch! Ratsch! Jetzt zerhackt und zerstückt das Ganze! Wenn sich Keiner findet, der die halbe Million zahlt, die allein schon als Schuld auf dem Ganzen steht, ist's aus! Es ist nun drei Wochen her. Schnedderedeng! Trarara! Das ganze Dorf unten – es [214] heißt Plessen – kam zusammengelaufen und gaffte die Postillone all und Kuriere an, und die Herrschaften stiegen aus. Das sind nun Die, die viele Jahre lang erst auf den Boden, dann auf den Wald, zuletzt auf Geräth, Leinenzeug, Tisch- und Bettzeug und den letzten Spahn Holz im Schlosse Geld geliehen haben. Der Fürst ließ ja – Gott sei's geklagt! – seine alte kostbare Lebensart nicht, brauchte zehn mal mehr als er einnahm und so war er zuletzt dermaßen herunter, daß sein Sohn in Paris die Erbschaft nicht antreten will und.. nicht antreten kann und.. nicht antreten wird.

Während der Förster so plauderte, verzehrten die drei Reisenden vollends ihr bescheidenes Mahl. Dankmar hatte in der Zerstreuung das Taschentuch an den Fremden zurückzugeben vergessen. Hackert blinzelte ihm deshalb einige mal mit den Augen zu, ohne sich aber Dankmarn verständlich machen zu können.

Liegt nicht am Fuße des Hohenbergs, fragte Dankmar, seine eigenen Angelegenheiten erwägend und darin, daß der Fremde in tiefes Nachdenken versunken schien, nichts Auffallendes erblickend, liegt nicht in Plessen eine Schmiede?

Ja wol, lautete die Antwort.

Kennen Sie den Schmied?

Er heißt Zeck! Ist blind und sein Sohn ist taub.

Hackert lachte und fügte hinzu:

Und hoffentlich sind bei ihm recht viel Pferde lahm?

Der Jäger sah den Witzmacher finster an und wandte [215] sich in seinen Erläuterungen zu den Andern, Hackert den Rücken kehrend.

Die Zeck'sche Schmiede war sonst in Flor. Alle Fuhrleute haben da angesprochen und sparten ihre Reparaturen auf die plessener Schmiede; jetzt kommt selten noch ein Wagen den Berg herunter.

Wenn jetzt da oben Alles aus Rand und Band ist, fragte Dankmar, so gibt es wol viel verrufenes Gesindel auf der Herrschaft?

Das doch nicht! Dann und wann einmal ein Wilddieb. Und Das selten, weil nichts zu dieben da ist. Ja! Holz wird gestohlen ....

Und Das tüchtig! schaltete Lenchen ein, die ab-und zuging und manchmal ein Wort dreinredete, wie es einem resoluten Mädchen zukommen mag.

Ja! sagte der Jäger lachend; mehr als billig.

Aber wie reimt sich Das, bemerkte der Fremde, mit der allberühmten Frömmigkeit, durch die sich ja die ganze Gegend auszeichnen soll?

Der Jäger lächelte nicht ohne Feinheit.

Es wird wol so dick damit nicht aussehen, meinte Lenchen und lachte, indem sie abdeckte.

Ich will Ihnen sagen, nahm der Jäger das Wort; es mag mit der Frömmigkeit, die man so offen zur Schau trägt, nicht weit her sein; Das lernt man im Walde, wo man an jedem stillen Plätzchen denkt: hier ist's so gut wie in der Kirche! Aber wenn's auch nicht mehr sehr lange nachwirken wird, die selige Fürstin hielt doch viel auf's [216] Christenthum. Sie theilte Bibeln aus und sammelte jeden Sonnabend die Leute um sich und las irgend was Andächtiges vor, oder irgend ein fremder Herr mußte vorlesen und die Leute sangen dazu. Manchmal kamen Menschen, die früher ein Handwerk gelernt hatten, dann aber, wie sie's nannte, die vortreffliche Dame, die Erleuchtung bekommen hatten und Missionäre wurden, für die Heiden zu bekehren. Die stellte sie dann Sonnabends der Gemeinde vor und Alle mußten beten, daß Gott die frommen Apostel, wie sie sie nannte, in Gnaden beschützen und behüten möchte. Ach, Das war oft recht rührend, so einen guten Menschen zu sehen, der nun da hinaus muß ins Hottentottenland und die Buschmänner bekehren. Alle mußten weinen und Jeder gab ihm die Hand und sah den armen Menschen sich noch einmal erst an, ehe er gespießt und gebraten war. Manche freilich ....

Der Jäger machte eine schlaue Miene.

Nun, Manche? fragte Dankmar.

Manche von den Missionären gingen gar nicht hin zu den Hottentotten! sagte der Jäger pfiffig und kratzte sich hinterm Ohr. Wenn Die das Gute genossen hatten und recht ausstaffirt waren mit allerhand kostspieligen Geschenken, blieben sie in Bremen oder Hamburg ganz geruhig liegen oder schrieben, sie hätten schon bei England herum Schiffbruch gelitten und müßten wieder umkehren oder es müßte was Neues nachkommen. Ach, lieber Heiland, was sind da für Sachen vorgefallen!

Der Jäger war so gutmüthig, daß er diese Worte in[217] einem entschuldigenden Tone und wie über den Lauf der Welt kopfschüttelnd vortrug.

Kein Missionär, erzählte er weiter, ging von Hohenberg fort, ohne nicht noch einen ganzen Koffer voll Hemden und Strümpfe mitzunehmen. Die ließ die gute Frau Fürstin im Ländchen herum weben und stricken. Sie theilte das Garn und die Wolle aus, aber nur an Die, welche in die Betstunden kamen. Wer fromm zugehört und andächtig seinen Vers gesungen hatte, kriegte nachher, wenn die Andacht aus war, einen Napf voll Warmbier und etwas frisches Weißbrot – was die alte Brigitte schön backen kann – und beim Nachhausegehen bekam jede Frau und jedes Mädchen einen Korb voll Arbeit für die Heiden mit.

Hackert lachte über diese Schilderung so unverschämt laut auf, daß es ihm Dankmar fast verwies. Dennoch mischte er sich dreist in das Gespräch und sagte:

Ich kenn' einen ehemaligen Missionär. Der Schlingel hat mir's erzählt, wo die Strümpfe und Hemden all' hinkommen, die man ihnen nachschickt. Die Augenverdreher verkaufen sie an das erste beste Kauffahrteischiff, das sie am Meere antreffen. Nach Hause aber schreiben sie: Dank für das Übersandte! Die Heiden wandeln bereits im Licht und auf euren Strümpfen. Schickt nur mehr von der Sorte!

Hackert hatte die Genugthuung, daß seine Anekdote gefiel. Der Fremde aber verließ das Zimmer. Die Erzählung des Jägers schien ihn wol zu interessiren, ihre heitere Wendung aber zu verletzen. Da sein Ranzen liegen blieb, [218] so war nicht anzunehmen, daß er sich schon wieder auf den Weg gemacht hatte.

Und wer zahlt nun die Leute aus, die noch im Dienste der Herrschaft stehen? fragte Dankmar.

Der Justizrath Schlurck, antwortete der Jäger. Der ist schon seit zehn Jahren der eigentliche Fürst von Hohenberg. Der administrirt mit dem Director von Zeisel Alles durch- und übereinander. Die Creditores halten sich an Schlurck. Noch gestern war er auf dem Schloß, muß aber rasch eine Ordre gekriegt haben, so schnell ist er auf und davon. Seine Frau aber, die ist noch da mit dem Commerzienrath von Reichmeyer und Frau Commerzienräthin von Reichmeyer und Herr Bartusch und mit Respect zu vermelden ...

Der Jäger sah sich nach den Kindern um.

Diese spielten mit dem Hunde, und da er auch Lenchen Drossel nicht sah, so flüsterte er:

Drossel's Schwester ist auch dort.

Wer?

Frau Pfannenstiel.

Auch eine Creditorin?

Durch ihren Mann. Frau Wirthschaftsräthin Pfannenstiel. Ihr Mann war früher Pachter bei dem Fürsten, brachte dabei sein Schäfchen ins Trockene, zog in die Residenz, bekam den Titel Wirthschaftsrath durch den Fürsten und wurde gerade sein schlimmster Blutsauger. Kurz, Sie finden da allerlei Volk, Christen und Türken und ...

[219] Melanie Schlurck, des Justizraths Tochter, hat sich also einen ganzen Hof mitgebracht? schloß Dankmar.

Von Der wissen Sie schon? Ja! Das ist ein Engel oder ein Satan. Die macht Alle verdreht. Zu Fuß, zu Pferde, bald im Feld, bald im Walde, und hol' mich Dieser und Jener, sagt' ich noch neulich zur Ursula; sollte man nicht glauben, sie tanzte immer? Noch hat Die kein Mensch mit ruhigem Fuß gesehen und Augen hat sie im Kopf, Zähne im Mund ..... Ja! Die hat's Allen angethan, und was man ihrem Vater für Fluch und Malefiz nur anwünschen mag, der Mamsell kann man nicht gram sein; sie macht Alles wieder gut. Auch ein feiner junger Herr aus der Stadt ist mitgekommen ... er heißt ... ich weiß es nicht ... kurz und gut, so lustig ist's seit zwanzig Jahren da nicht hergegangen. Jemine! Säh' es die alte Fürstin, sie drehte sich im Grabe um.

Der Jäger trank seinen Labetrunk Bier aus, wünschte den Herren gute Verrichtung, schüttelte Dankmarn sogar die Hand und ging. Dankmar erwiderte freundlich, faßte aber Hackert ins Auge, da er dessen Angesicht plötzlich wie mit Blut übergossen sah; seine Wangen glühten, seine Stirn schien heiß; von der Farbe des Haares und der Haut entdeckte man kaum einen Unterschied mehr. Dankmar's erster Gedanke war, da von dem Jäger Lasally angedeutet wurde, an sein Pferd. Er glaubte in der Verlegenheit, die er auf Hackert's Antlitz bemerkte, als der junge fremde Herr, der wol nur Lasally sein konnte, erwähnt wurde, das Zugeständniß der Befürchtungen zu finden, [220] die er seinem Bruder Siegbert geäußert hatte, als dieser für Hackert's Ehrlichkeit gutsagen wollte. Aufs allerheftigste wurde er wieder von dem Gedanken ergriffen, daß zuletzt dieser Hackert doch wol nur ein Gauner sein möchte, der sich ihm noch zu irgend einem bösen Zweck angeschlossen hätte. Und dennoch fühlte er Mitleid mit ihm. Der Nachtwandler stand wieder vor ihm; der wüste schauerliche Eindruck, wie Hackert mit halb herabgefallenen Kleidern, mit Stroh und Heu im Haar, mit offenem Hemd, in der Hand die verlöschende Laterne vor ihm stand und Schlurck vor Entsetzen das Wort ausstieß, das ihn weckte! Die Erinnerung an diesen Anblick trat ihm so mächtig in diesem Augenblicke vor die Seele, daß er fast erschrak, Hackert möchte eben wieder in einen ähnlichen Zustand verfallen. Denn er bemerkte, daß Hackert wie in Gedanken verloren zur Thür hinausging, geduldig den schon zur weitern Reise gerüsteten Gaul bediente, geduldig die Peitsche ergriff und, als wüßte er es nicht, vorn auf dem Bocke saß. Alles Das hatte er mechanisch, ohne Überlegung gethan. Seine Absicht, in der Nähe von Hohenberg Jedes zu vermeiden, was seine Eitelkeit in ein falsches Licht stellen konnte, hatte er in dieser träumerischen Abwesenheit ganz vergessen, und Dankmar stand und staunte, diesen Zustand still beobachtend.

Was ist dem Menschen? dachte er.

Der angebliche Tischler hatte sich inzwischen draußen mit dem Jäger noch einige Augenblicke unterhalten und dann seinen leichten Ranzen geholt. Er wollte den weitern [221] Weg zu Fuß machen und verabschiedete sich von Dankmarn. Dieser hielt ihn aber zurück und sagte:

Wir haben jetzt nur noch drei Stunden bis Hohenberg zu fahren; es hat inzwischen geregnet, der Weg ist zu feucht für Ihre dünnen eleganten Stiefel. Bleiben Sie bei uns!

Der Fremde stieg nachgebend ein, Dankmar bezahlte für sich und Hackert die Rechnung, folgte dann in den Wagen und rief: Fort! Hackert schien nicht zu wissen, wo er war, sondern gab sich willenlos dem Thiere preis, das im raschen Trabe weiterfuhr.

Der Regen hatte in der That mit einem einzigen und gewaltig starken Erguß die Natur erfrischt. Wie erhob sich Baum und Blatt, wie blickte der Grashalm so gekräftigt zu der Sonne auf, die hier und da schon aus den grauen, sich zertheilenden Wolken wieder hervorbrach! Auch die Gegend nahm jetzt einen viel gefälligern Charakter an. Die großen Flächen hörten auf. Der Boden hob sich wellenförmig, am Rande des Horizonts stiegen schon die blauen Conturen einer nicht hohen, aber anmuthig geformten Bergkette empor. Hier und da verrieth sich ein hinter Büschen geborgenes Dorf durch seine Kirchthurmspitze. Der Weg war mit Obstbäumen besetzt, die Äpfel und Birnen in reicher Ernte versprachen. Auf den Feldern war fast überall schon die Frucht geborgen, sodaß man mit dem Blicke weithin ausschweifen und die Krümmungen kleiner Bäche verfolgen konnte, die den Boden fruchtbar bewässerten und die Gegend lebendiger machten.

[222] Der Fremde betrachtete die Flur mit einem ernsten, sinnenden Blick.

Es ist meine Heimat, sagte er. Ich bin in diesen Thälern geboren. Früh schon verließ ich sie und doch kenn' ich jedes Dorf, jede Anhöhe wieder.

Wie traurig, sagte Dankmar, daß so schöne Besitzungen von einem leichtsinnigen, weltlustigen Herrn verschleudert wurden! Die Bauern haben sicher die Vortheile der neuen Zeit hier wahrgenommen, sie haben sicher die Laudemien und Gefälle abgekauft. Vielleicht ist die Summe, die dadurch auf einem Brete gezahlt wurde, für den künftigen Unterhalt des Prinzen Egon ausgesetzt, das Einzige, was ihm sein Vater zu erben mag hinterlassen können. Die übrigen gewöhnlichen Abgaben von Grund und Boden laufen ohne Zweifel in die Kasse der Gläubiger, die in den jetzigen schlimmen Zeiten wol sich vergebens nach einem reichen Capitalisten umsehen, der hier das ganze Besitzthum mit Activen und Passiven übernimmt!

Es ist wenig Heil noch auf Grund und Boden, sagte der Begleiter trübe gestimmt. Die Masse der Lasten drückt zu sehr. Wo der Staat etwas gewinnen will, denkt er immer gleich an das Erdreich und Den, der es anbaut. Immer den Zollstab an die Erde gelegt! Warum nicht an den Handel? Die Kaufleute, die jetzt die Welt regieren, wissen sich zu schonen. Da sie meist von den Handwerkern leben, so schützen sie allenfalls diese noch eine Zeitlang und auch mit Recht. Weil aber dem gefräßigen modernen Staate die Mittel der Existenz immer knapper [223] werden müssen, so sagen die regierenden Kaufleute und Börsenmenschen: Haltet Euch an Grund und Boden! Grund und Boden sind ewig! Welche Ungerechtigkeit aber! Es ist wahr, die alten aristokratischen Regierungen haben es möglich gemacht, daß Grund und Boden bei den großen Ansprüchen des Fiscus an die Staatskräfte oft steuerfrei durchschlüpften und meist mit einem blauen Auge davonkamen. Es ist wahr, daß der Grund und Boden in den Katastern oft falsch veranschlagt ist. Allein diese relativen Vortheile sind im Preise von Grund und Boden schon mit angeschlagen, und wie ich jetzt zwei mal mehr Steuern geben soll, so vergißt man, daß ich das Gut nur in der Voraussetzung kaufte, daß es beim Alten bleiben sollte und nur einfach zu zahlen hätte.

Ich kenne diese Streitfrage, bemerkte Dankmar; aber ich weiß nicht, ob man es nicht darauf könnte ankommen lassen, einmal der Aristokratie des Grundbesitzes die nothwendigen Folgen ihrer alten Regierungsmethode fühlbar zu machen. Man spricht von der Nothwendigkeit des isolirten Reichthums. Ich kann sie in diesem Sinne nicht anerkennen. Die gefährlichste Aristokratie bleibt die des Blutes, wenn sie sich auf einen großen und möglichst ungehemmt verwalteten Grundbesitz stützt. So lange wir, aufrichtig gestanden, das Adelsinstitut behalten, seh' ich kein Heil für die Menschheit. Der Adel ist hier und da zuweilen liberal aufgetreten und hat sich dem Volke angeschlossen; aber wie selten diese Ausnahmen! Ich anerkenne den Unterschied der Menschen, den die[224] verschiedenen Stufen der Bildung und auch des Besitzes mitsichbringen, aber einen durch die Geburt, durch Namen, durch Ahnen begründeten Unterschied sollte die Aufklärung nicht mehr dulden.

Ich theile Ihre Ansicht in gewissem Sinne, erwiderte der Fremde. Nicht daß ich den Adel ausrotten will; denn ich halte Das für unmöglich; ich halte die Umwandelung eines berühmten Geschlechts in eine einfache bürgerliche Familie höchstens für eine komische Episode der Geschichte, die nur auf kurze Zeit möglich ist. Aber man soll erstens die Überwucherung des Adels beschneiden durch das Erstgeburtsrecht und zweitens den Nachwuchs des Adels edler anpflanzen als es unsere Fürsten thun. Den Adel für Geld ertheilen oder für höchst zweifelhafte bureaukratische Verdienste, Das ist eine tägliche Herabsetzung desselben Instituts, auf das sich doch die feudale Monarchie so gern stützen möchte. Der Adel an sich kann nicht verdächtig sein. Man verdächtigt ihn nur dem Volke durch die Art, wie man neuen Adel macht. In jedem Wald und jeder guten Waldhutung herrscht ein natürliches System des Nachwuchses; nur beim Adel hat man dieses Nachwuchssystem nie beobachtet und deshalb sank die Achtung vor demselben.

Das ist eben das Wort, das ich verbannen möchte, rief Dankmar; Achtung des Adels! Wozu eine Kaste von Menschen, die sich eines Vorrechts vor Andern berühmt! Der Staat schafft die Vorrechte vor dem Gesetz ab. Das ist wahr. Der Bürgerliche kann alle Rechte genießen wie der [225] Adelige. So heißt es in den Gesetzbüchern! Und doch bleibt diese sonderbare geheime Verbindung unter den Adeligen. Es bleibt dieser geschlossene Bund, der sich immer wieder mit seinen Maximen hervordrängt, wenn ihn auch noch soviel Revolutionen zurückgeworfen haben. Sie wollen den Adel vermindern durch englisches Erstgeburtsrecht und besser anpflanzen durch Adelserhebungen wahrscheinlich an einen tapfern Krieger, einen geschickten Arbeiter, einen glücklichen Erfinder. Aber die Nachkommen der Letztern werden ebenso Aristokraten werden, wie es die Nachkommen der weiland zu Rittern geschlagenen Knappen und Kaufleute wurden. Es ist eben ein Institut, das ewig auf die Vegetation der Freiheit wie Mehlthau sich ansetzen und sie verderben wird.

Die Französische Revolution hat den Adel abgeschafft, sagte der Gefährte, und er ist wiedergekommen. Napoleon hat ihn noch mit seinen geadelten Corporalen vermehrt, und die jetzigen Börsenmäkler ließen sich mit Freuden adeln, wenn sie nicht fürchteten, sich lächerlich zu machen ....

O, so wünscht' ich, wallte Dankmar halb zornig halb lachend auf: daß einmal eine kleine Sündflut käme und dieses närrische Menschengeschlecht wenigstens partiell verschlänge! Es ist nichts mit ihm anzufangen.

Das Gespräch ging jetzt über leichte Dinge hin und weckte Hackert endlich aus der Betäubung, in die er so plötzlich verfallen war. Jetzt erst schien er sich zu besinnen, daß er wieder als Kutscher galt. Er wurde über [226] diese unwillkommene Entdeckung unruhig, blickte bald zur Seite, bald hinterwärts, maß den Fremden bald mit einem wüthenden Blick, bald begann er etwas an dem Riemzeug und der Peitsche zu bändeln und zu knüpfen, bis er plötzlich ganz still hielt. Auf ein starkes Nun? das ihm Dankmar zurief, hieb er zwar wieder gewaltig auf das ermüdete Thier, dem die allmälige Annäherung an Hohenberg ebenso noththat, wie dem immer unruhiger und gereizter werdenden Dankmar, aber Dieser wußte nun in der That nicht mehr, wessen er sich noch Alles von Hackert zu versehen und worauf er sich zu rüsten hatte ......

Es war schon vier Uhr. Die Sonne lachte wieder freudig vom Himmel. Alle Wolken hatten ihn verlassen. Das schönste Ultramarin erquickte das Auge, wenn man empor, das lachendste Grün der Wiesen und Büsche, wenn man zur Seite blickte. Die Gegend wurde immer reizender. Nach jeder Anhöhe, die das müde Roß erklimmte, öffnete sich ein immer lieblicheres Thal. Die Vegetation, statt gebirgig zu werden, wurde eher südlicher. Kastanien-, Ahorn- und Nußbäume standen auf kleinen Anhöhen am Wege neben Kirchen und Pachthöfen. Der weiße Flieder, der sich traulich an Ställe und Scheunen schmiegte und jeder verfallenen Mauer einen malerischen Reiz verlieh, konnte wol den Fremden bewegen, auszurufen:

Wie erinnern mich diese weißblühenden Gebüsche an das südliche Frankreich, wo es freilich der Feigenbaum ist, der mit seinen großen Blättern, seinen labyrinthischen Ranken und den versteckten grünen Früchten sich so an [227] jede nackte Felsen- und jede kahle Mauerwand lehnt, sie verschönernd durch seine trauliche Ansiedelung!

Vor den Reisenden lag dann auch endlich auf eine Stunde Weges entlegen das Schloß Hohenberg. Schon lange konnten sie das im Geschmack der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts errichtete stattliche Gebäude unterscheiden. Je näher sie diesem ihrem gemeinschaftlichen Reiseziele kamen, desto unruhiger wurde Hackert, desto heftiger seine Antworten, desto ungeduldiger das Seufzen, das ihm zuweilen entfuhr. Er wandte sich jetzt wieder zu Dankmarn und äußerte:

Bis hierher, Herr! Fahren Sie jetzt!

Dankmar beherrschte sich und erwiderte:

Bis ich die Cigarre fertiggeraucht habe!

Die Aussicht auf das Schloß verschwand. Man war in einem anmuthigen Buchenwalde, der sich bis nach Plessen hinzuziehen schien. Welch frisches Laub! Welche zauberhaften Lichter, wenn die Baumgattungen abwechselten und Tannen sich an Birken reihten, um gemeinschaftlich dann die Buchengruppen zuweilen zu unterbrechen! Welcher Smaragdschimmer, wenn grünbewachsene Plätze zwischeninnelagen und von der Sonne beschienen wurden, die schon großer Öffnungen bedurfte, um mit ihren sich senkenden Strahlen hier durchzudringen! Da sprangen ja noch Rehe erschreckt von ihrem grünen Lager unter einem großen freistehenden Eichbaum auf! Es mußte mit des Jägers Kummer über die ausgeschossene Belebung dieser Wälder nicht so schlimm stehen.

[228] Der Fremde war im Anblick dieses stillen Friedens wie verloren.

In dem Augenblicke hörten sie in der Ferne Pferdegetrappel. Hackert springt auf. Man sieht einen Zug von etwa fünf Reitern dahertraben, in der Mitte eine Dame, wie man an dem in der Luft fliegenden blauen Schleier erkannte. Hackert wirft Peitsche und Zügel fort, springt vom Sitz, schießt wie besessen über den Chausseegraben und ist im Nu im Wald verschwunden. Der Gaul, erschreckt von der heransprengenden Cavalcade, bäumt sich. Die Zügel schleifen schon an der Erde. Dankmar wirft eiligst die Cigarre fort. Der Fremde hält ihn, damit er nicht hinausspringt. In dem Augenblick jagt die Dame mit ihren Begleitern, an deren Spitze Dankmar den Stallmeister Lasally erkannte, vorüber. Es war Dies ein Glück für den bescheidenen Einspänner; denn dem stutzigen Gaul wurde die Gelegenheit zum Durchgehen genommen. Die Cavalcade nahm sie im Vorbeireiten in die Mitte. Die Dame lachte vielleicht über die komischen Capriolen des zügelfreien Thieres und die verlegene Besorgniß der beiden Männer. Mit einem Sprung war Dankmar, als der Gaul glücklicherweise stand, hinaus und griff nach dem Zügel. Mit Verwünschungen gegen den Betrüger, der sie hier so plötzlich im Stich gelassen und ihm auch die Gelegenheit genommen hatte, die Dame zu fixiren, hieb er auf das erschreckte Thier zu und ohne sich weiter um Hackert's Rückkehr zu bekümmern, jagte er auf und davon.

[229] Was hatte nur der tolle Mensch? fragte der Fremde, über das Zusammentreffen aller dieser Vorfälle erstaunt.

Ich sehe, er ist verrückt, antwortete Dankmar.

Ich glaubte diese Eigenschaft schon längst an ihm bemerkt zu haben.

Es erleichterte Dankmarn, seinem Begleiter zu erzählen, wie er an diesen Gesellen gekommen wäre. Als er dabei einen Bericht über den eigentlichen Zweck seiner Reise erstattete und den Schrein erwähnte, den er in Hohenberg verloren und dort suchen wollte, unterbrach ihn der Fremde mit den Worten:

Einen Schrein? Etwa von drei Fuß Länge?

Wie? fragte Dankmar gespannt; allerdings ... etwa drei Fuß Länge ...

Eiserne Bänder an dem Deckel?

Wohl! Und am Boden ...

Zwei Fuß breit mit ausgefelgten Rändern?

Zierlich geschnitzt ...

Auf dem Deckel in erhabener Holzarbeit ein Kreuz ...

Himmel, wo haben Sie diesen Schrein gesehen? Er ist es!

Wo hab' ich ihn gesehen! fragte sich der Fremde selbst. Besinn' ich mich wol, wo mir noch gestern dieser Schrein auffiel!

Ich beschwöre Sie, rief Dankmar, forschen Sie in Ihrem Gedächtniß. Die wichtigsten Angelegenheiten knüpfen sich für mich an diesen Schrein.

[230] Das Kreuz hatte nicht die gewöhnliche längliche Form der Kirche ...

Doch! doch!

Es war ein Malteserkreuz!

Ähnlich!

Ganz recht! Es war ein Kreuz an den Enden mit kleeblattförmigen Rundungen.

Das ist er!

Dankmar war wie auf glühenden Kohlen. Das Pferd hielt er an, da der Fremde ohnehin gewünscht hatte, aussteigen und nach Plessen einen Seitenweg einschlagen zu dürfen. Endlich, als Dankmar fast krampfhaft und erwartungsvoll des Fremden Hand ergriffen hatte, rief Dieser aus:

Ich weiß es. Den Schrein sah ich gestern Abend im Hofe des Heidekrugs auf Schlurck's Wagen.

Auf Schlurck's ...? wiederholte Dankmar und stockte.

Auf Schlurck's Wagen, versicherte der Fremde, der sich ihm in diesem Augenblick in einen Boten des Himmels verwandelte; es war nach vier Uhr. Es dämmerte aber noch sternhell, als ich im Heidekrug ankam. Anfangs wollt' ich die Nacht benutzen und nach einer Erfrischung weiterwandern. Da sah ich im Hof einen Reisewagen stehen, leicht bepackt, elegant. Der Kutscher zündete die beiden Laternen an, als wollte er weiterfahren. Der Wagenschlag hatte eine Chiffre, die mich fesselte. Ich blieb in der Nähe stehen. Ich sah dem Kutscher zu, wie er die Laternen befestigte. Dann ordnete er an seinem Fuhrwerk Dies[231] und Jenes. Unter seinem Sitze hatte sich in einer dort befindlichen Vache Stroh gelockert. Er riß es vollends ab und rief den Hausknecht um neues an. Einen in der Vache liegenden Gegenstand schien er frisch emballiren zu wollen. Bei der Gelegenheit sah ich deutlich jenen Schrein, der mir wegen seiner alterthümlichen Form und des auf ihm sehr zierlich angebrachten Kreuzes, da der Deckel zur Seite lag, auffiel. Ich würde mich an dem Wagen nicht solange verweilt haben, wenn mir nicht das verwischte fürstlich Hohenberg'sche Wappen an dem Schlage und das frisch und lebhaft darunter aufgetragene F.S. aufgefallen wäre. Ich fragte, wem die Kalesche gehörte. Es hieß: Dem Justizrath Schlurck. Ein lebhaftes Interesse, das ich an diesem Namen nehmen muß, veranlaßte mich zu bleiben und hinaufzusteigen in den Saal, wo Sie mich später fanden. Unten rief mich der Kutscher, ein brutaler Mensch, als ich ihm zusah, wie er den Schrein mit frischem Stroh umwand, mit groben Worten an. Ich gedachte meiner Blouse, blieb demüthig und machte die Bekanntschaft Schlurck's, der mir für mein Leben ebenso wichtig ist, als er es jetzt vielleicht auch Ihnen werden kann.

Und auf wessen Zeugniß, fragte Dankmar im Ausbruch seiner jubelnden Freude, auf wessen Namen kann ich mich berufen, wenn ich von Schlurck mein Eigenthum zurückfodern werde?

Muß Dies sein? sagte der Fremde zögernd und stieg von dem Wagen herab, während Dankmar die Zügel stark, aber auch den Fremden sanft festhielt.

[232] Daß Sie der Tischler nicht sind, sagte er dabei, der Tischler, für den Sie sich ausgaben, ist gewiß. Sie müssen mir das Zeugniß ausstellen, daß ich discret war und nicht in Ihr Geheimniß drang. Aber jetzt durch Ihre mir ewig dankenswerthe Entdeckung wird es mir zur Pflicht, Sie um Ihren Namen zu bitten; denn ich weiß nicht, es ist mir, als wenn ich mit dem Finder nicht leichten Kauf haben werde. Schlurck ist ein Mann, der mir vorkommt, als könnte man ohne Zeugen und Proceß kein vor seinen Augen verlorenes Taschentuch wiedererhalten.

Wie der Fremde noch zögerte und mit verlegenem Lächeln sich wegen seines Geheimnisses entschuldigen zu wollen schien, griff Dankmar, der nicht ohne Grund das Beispiel vom Taschentuche gewählt hatte, rasch in seinen Frack und langte das dem Fremden gehörende Tuch hervor:

Hier! sagte er, dieser Verlust muß uns näherbringen.

Mein Taschentuch! bemerkte der Fremde.

Ihr Taschentuch? Wirklich das Ihrige? Das eingestickte Zeichen ... die Krone? E. und die Zahl 100? Wohlan, mein Herr! Ich will Ihnen das Geständniß erleichtern. Tauschen wir unsere Karten?

Damit zog Dankmar sein Portefeuille hervor und überreichte dem Fremden seine Karte.

Dankmar Wildungen, sagte er, indem der Fremde seine Karte las; Dankmar Wildungen, ein obscurer, junger Mensch, Prätendent des Glücks, wo er es findet, ein junger Jurist, Bürger kommender Jahrhunderte, ein Posa, [233] den König Philipp mit dem entschuldigenden Titel: Sonderbarer Schwärmer! entlassen haben würde, wenn er gerade in der Laune gewesen wäre, einmal von seinen Autosdafé sich auszuruhen.

Nun denn, Sie junger, lieber Malteser! sagte der Fremde, so will ich Ihr Carlos sein; unter der Bedingung, daß Sie feierlichst geloben, mich nicht zu kennen, wo Sie mir hier auch in und um Hohenberg begegnen werden ....

Mein Ehrenwort genügt! sagte Dankmar mit ernstem Nachdruck.

Lassen Sie uns Freunde bleiben, fuhr der Fremde fort. Ihre Offenheit kam aus edlem Herzen. Der Menschheit kann eine Zeit nicht verloren gehen, wo noch solche Flammen lodern wie in Ihrem Herzen, selbst wenn sie sich und Ihre Träume verzehren sollten. Aber nochmals ...

Schwören soll ich? sagte Dankmar lächelnd. Wobei wünschen Sie?

Der Fremde schüttelte den Kopf. Er hatte ein elegantes Portefeuille geöffnet, Dankmar's Karte hineingelegt und die seine hervorgezogen. Er überreichte sie Dankmarn mit einem herzlichen Händedruck, klopfte, wie zum Abschiede und Dank dem Gaul ein paar mal auf den schweißgebadeten Rücken und verschwand dann rasch hinter einem ganz in der Nähe befindlichen Gebüsch, von dem sich nach Plessen zu ein kleiner Fußweg durch die Wiesen schlängelte.

Als Dankmar, unendlich glücklich über die vorläufige Beruhigung wegen seines ihm so werthvollen Verlustes, [234] vorzog, nun erst am Fuß des Schlosses Hohenberg über Nacht auszuruhen, bis er zu der ihn jetzt magnetisch wieder zurückziehenden Hauptstadt umkehrte und er dann in leichtem Trabe nach dem unter dem Schlosse Hohenberg friedlich von der Abendsonne beleuchteten Flecken hinabfuhr, las er auf der Karte einen Namen, der ihn nach Allem, was er seither auf dieser Reise selbst erfahren und von Andern erzählt bekommen hatte, auf das angenehmste überraschen mußte. Die Visitenkarte lautete ganz einfach:Le Prince Egon de Hohenberg. 7 Rue d'Auteuil.

[235]
10. Capitel. Der Gläubiger vom Throne
Zehntes Capitel
Der Gläubiger vom Throne

Das Schloß Hohenberg liegt auf dem ersten Vorsprung eines allmälig oberhalb des Fleckens Plessen sich erhebenden, unten mit Wiesen, oben mit Tannenwäldern bedeckten nicht unansehnlichen Bergrückens. In einem etwas schnörkelhaften Stile gebaut, besteht es aus einem dreistöckigen Hauptgebäude mit zwei fast gleich hohen hervorspringenden Seitenflügeln. Beide Flanken sind vorn durch ein etwas verwahrlostes, aber einst kunstvoll aus getriebenem Eisen verfertigtes Gitter verbunden. Das fürstlich Hohenberg'sche Wappen aus verwittertem Sandstein gehauen, ziert oberhalb des Säulenportals die Spitze der über den Fenstern mit behelmten Römerköpfen gezierten Hauptfront. Im untern Stock gehen die Fenster wie Thüren auf den gepflasterten schattigen Hof, den in schöneren Tagen Orangenbäume zierten in großen buntgestrichenen Kübeln. Nach dieser durch große grüne Holzjalousieen noch gehobenen sehr stattlichen Vorderseite ist der emporgehende Fußweg unmittelbar von der Kirche und dem Pfarrhause zu Plessen her ziemlich steil. Sanfter aber dacht sich nach hinten der Berg so abwärts, [236] daß man von dorther mit einem Umweg, der gleichfalls an der Vorderfront mündet, auch zu Wagen sehr bequem in dies einfache würdige Schloß gelangen kann.

In den Zeiten der Fürstin Amanda, besonders als sie durch ihren religiösen Hang noch nicht zu sehr zur Verachtung der Weltfreuden verleitet war, übertraf die hintere Seite des Schlosses noch die stolze vordere beiweitem an traulicher Wohnlichkeit. Dort schloß sich dem Bau unmittelbar ein kunstvoller Garten an. Die Fenster des Erdgeschosses waren im Sommer geöffnet und führten unmittelbar aus etwas steif gegipsten und bemalten, aber doch anmuthigen Sälen ins Freie. An den Fenstern, wo große hellgrüne Vorhänge sich niedersenkten, wohnte die Fürstin im Sommer selbst und hatte um sich den ganzen Reichthum von Erinnerungen und Andenken, die sie so sehr liebte, ausgebreitet. Damals standen in dem von einem plätschernden Springbrunnen heiter belebten schattigen Quadrat des hintern Hofs und besonders an der Spitze des einen Flügels (während an dem andern sich einige unerläßliche Wirthschaftsgebäude anlehnten) kleine gefällige Statuen auf zierlichen Postamenten. Ein wohlunterhaltenes grünes Heck zeigte an, daß hier die stille trauliche Gartenwelt der Besitzerin begann, zu der die Abends und Morgens geöffneten Fenster dieses Flügels unmittelbar den Eintritt erlaubten. Auf leichten, vom Regen zwar verwitterten, aber doch bequem ebenen Steinstufen kam man, während sich links am kleinen Anbau der Fahrweg hinunterschlängelte, rechts in diesen [237] wohlgehaltenen, terrassenförmig sich abdachenden Garten, von dem aus dem Bassin des obern Springbrunnens herab ein künstlicher Wasserfall sich in immer behendern Sprüngen bis in das Bächlein ergoß, von dem die plessener Mühlen getrieben wurden, die liebliche, baumbeschattete Ulla, die aus dem Ullagrunde herunterhüpfte. Diese Welt war schön. Die Natur bot der nachhelfenden Kunst die Hand, um sie liebevoll ansichzuziehen. Während rings die Berge schweigsam und feierlich herniederblickten, aus der Ferne Glocken läuteten, die Kühe auf den grünen Wiesenabhängen am Fuße der Berge weideten, war auch das Nächste hier innig und das Herz erhebend. Diese nähere Umgebung des Schlosses war halb ein Park, halb ein Garten. Man hatte Das, was die Natur bot, nur geordnet und zur Unterlage der Kunst gemacht. Da standen Beete von stolzen Feuerlilien und violetten Iris dicht unter einem Gebüsch von Hängeweiden, das man nicht erst zu pflanzen nöthig gehabt hatte. Da schimmerten weiße Birken neben Rosen oder diese rankten sich freigelassen an eine einsam stehende Tanne empor und umschlangen den trauernden Winterbaum so zärtlich, als wollten sie ihn tröstend erheitern mit duftender Frühlingsumarmung. Dann kam zum Ausruhen und Genießen gleich eine steinerne Bank dicht unter dem Schatten einer Hollunderhecke, die in sich selbst einen artigen Versteck barg, wenn man nur in den dicht zusammengewachsenen Zweigen genauer forschen wollte und den Eingang da suchen, wo man ihn am wenigsten vermuthete. Jetzt lag [238] auf der Steinbank freilich Moos und Verwitterung. Die Spuren des letzten Regens blieben tagelang in dem Gestein, bis sie verdufteten oder eingesogen waren. Aber man fand doch auch neuere, grüngestrichene hölzerne Ruheplätze. Zu den Feldern und Wiesen abwärts hin, die dann wieder zu dem höhern und waldumkränzten Gebirge hinauf sich lehnten, dehnte sich der Garten in die Breite, aber noch immer ebenso traulich wie oben auf den sich allmälig abdachenden Terrassen. Da lag das von wildem Wein ganz eingehüllte Haus des Gärtners, lagen Treibhäuser, Ställe, Remisen, aber Alles versteckt durch sorgsam gepflegte Anpflanzungen. Eine Mauer, dann und wann von einem Graben oder einem alten Gitterwerk unterbrochen, umzog hier die ganze Besitzung. Freilich entdeckte man gerade auch hier die meisten Spuren des Verfalls. Ein Wasserbassin, eine ehemals gewiß lustig und schwatzhaft genug belebt gewesene Volière mit jetzt durchbrochenem Drahtgitter und ausgeflogenem Gefieder, kleine Pavillons, Postamente, auf denen Götter standen, die wol schon in den letzten Zeiten der Fürstin Amanda verschwanden, alles Das hatte sein früheres Leben verloren und stand wie müßige Denkmale des Vergessens da. Aber besonders gefällig ist doch noch immer ein kleiner Tempel am Rande der Grenzmauer, von dem aus man die Aussicht halb in die Thalebene, halb in das Gebirge genoß, das hier ein Echo wiedergab. Um sich mit dem ursprünglich heidnisch gedachten Bau dieses Tempels zu versöhnen, hatte die Fürstin, die ihn liebte, ein[239] schönes, noch wie neu strahlendes goldenes Kreuz auf der runden Kuppel errichten lassen. Hier, erzählte man, hatte sie stundenlang gesessen und die Grüße der Vorübergehenden entgegengenommen und meist mit einem gewissen strengen Ernst erwidert, als wollte sie Jedem tief hinunter in den Grund der Seele blicken und fragen: Bist du auch nicht etwa dir selbst gerecht, oder fühlst du, daß du nur durch die Gnade Gottes lebst? Hier hatte sie Greise, Männer, Frauen, Kinder angehalten, nach ihren Schicksalen, Wünschen und Hoffnungen befragt und sie oft mit Unterstützungen, immer aber mit einem Fingerzeige auf den Erlöser, der Alles zum Besten kehren würde, entlassen. Dabei las sie meistens ein Buch ihres gewählten Geschmacks, blickte über die Gitter des Tempels zum düstern Walde hinüber, wo die Ulla aus den grünen Berglehnen hervorbrach, ließ die alte Brigitte hinter sich plaudern, nahm des alten Winkler Berichte über die Gartenanlagen entgegen und hob sich doch, obgleich sie bei noch nicht funfzig Jahren sehr krank war, immer höflich empor, wenn der Pfarrer, Guido Stromer, ihr täglicher Umgang, zur gewohnten Stunde eintraf. Als sie unter diesem durch das goldene Kreuz entsündigten heidnischen Tempel nicht mehr sitzen, die Vorübergehenden nicht mehr grüßen und im Herrn ermahnen konnte, nahte sich ihr Ende auch in raschen, von dem drüben in Randhartingen wohnenden Doctor Reinick nicht mehr abzulenkenden Schritten.

Hier, in der Nähe dieses nun heute vom Abendlichte besonders schön angestrahlten Tempels, erblickte man [240] noch die meiste Pflege der im Ganzen verfallenen und vernachlässigten Besitzung. Der alte Gärtner Winkler, der für einen Gärtner galt, weil ihn die Fürstin in den Zeiten, wo schon ihr Sinn für die geschmückten Schönheiten der Natur zu ersterben anfing, für einen Gärtner nehmen wollte, der alte Winkler, sonst nur in jungen Tagen ihr Kammerdiener (in den Tagen der Hoffahrt, wie sie sie nannte), hatte den Gartenrechen in der Hand und zog mit Zittern und kaum sich aufrechthaltend im Sande die kleinen Striche, die hier Pflege und Ordnung bedeuten sollten. Die alte Brigitte, sonst die allgewaltige Beschließerin des Hauses, sah ihm, auf einer Bank sitzend, zu und seufzte einmal über das andere. Sie wehklagten, was ihnen Beiden die nächste Zukunft bringen würde. Noch war Brigitte schwarz gekleidet, noch trug sie die Trauerkleider über die vor zwei Jahren heimgegangene Gebieterin, die ihr testamentarisch angefertigt wurden, trotzdem, daß es an solchen düsterfarbenen Kleidern im Nachlaß der Fürstin nicht fehlte .... Die Trauer sollte echt sein und aus der Fülle des Herzens fließen .... Der alte Winkler aber nahm sich in seiner hellblau-rothen Hohenberg'schen Livrée schon recht abgeschabt und verkommen aus.

Gott walt' es, sagte die alte Brigitte; der Herr hat die Haare auf unserm Haupte gezählt ....

Der schon etwas kindisch gewordene Gärtner entblößte seinen kahlen Scheitel, auf dem keine Haare mehr standen, und meinte auch:

Ja, ja; er hat die Haare auf unserm Haupte gezählt ...

[241] und kein Sperling fällt vom Dache ohne seinen Willen; setzte er hinzu.

In dieser Weise hatten die Dienstleute der Fürstin Amanda sich auszudrücken gelernt.

Wenn sie uns hinausstoßen, begann Brigitte mit praktischer Anwendung .... Was thun wir? Wer nimmt uns arme Sünder auf?

Der Herr wird ihre Herzen lenken, meinte der alte Gärtner. Und der Prinz wird's nicht geschehen lassen ....

Ich hab' ihn auf meinen Knieen geschaukelt ... er wird's aber vergessen haben ....

Er wird's nicht vergessen haben ....

Als er vor sechs Jahren noch einmal da war, sah er uns nicht mehr an ....

Sah er uns nicht mehr an ...

Er war noch zu jung ....

War noch zu jung..

Sein Herz lag noch im Argen ....

Es lag im Argen ....

Die Fürstin sah's wohl ....

Die sah's wohl ....

Und sie weinte darüber ....

Der alte Winkler bestätigte alle diese rhapsodischen Bemerkungen und weinte auch, als Brigitte die Schürze nahm, um sich das Auge zu trocknen.

Aber die Fürstin sagte doch, fuhr dann nachdenklicher die alte Beschließerin fort, sagte doch: Auch seine Stunde wird schlagen ....

[242] Sie wird schlagen ...

Und die Erleuchtung kommt von oben!

Kommt von oben! wiederholte Winkler und harkte wieder und fügte sich wieder in Geduld und überließ wie immer die praktische Seite ihrer Verhältnisse der geisteskräftigern Brigitte.

Wie die alten Diener des Hohenberg'schen Hauses, für die der verstorbene Fürst, der berühmte Generalfeldmarschall Waldemar von Hohenberg, wenig ge sorgt zu haben schien, noch so ihre bangen Sorgen aussprachen, welche Zukunft ihnen bei dem rathlosen Zustande der Verwaltung dieser schönen Besitzungen werden würde, redete sie plötzlich ein langer, feingekleideter, mit steifer Haltung einherschreitender Herr an und lächelte dabei mit einem sonderbaren Ausdruck.

Excellenz! riefen Beide erschrocken aus einem Munde und wandten sich bestürzt um.

Der lange Herr nickte sehr gnädig und ging ruhig lustwandelnd auf dem frisch geharkten Wege, ihn mit seinen Fußstapfen vertretend, weiter.

Das wäre eine Herrschaft für uns, sagte die alte Brigitte, als dieser lakonische Herr vorüber war und Winkler sich anschickte, wieder jene Fußstapfen zu überharken .... So vornehm, so apart! O die Zeit, da nur solche Menschen hier verkehrten! Ja, ja, Das ist eine Excellenz!

Hochmuth kommt vor dem Falle! meinte Winkler.

Er hatte eine Meinung geäußert, die jedoch hierher nicht zu passen schien.

[243] Wie so Hochmuth? meinte Brigitte, die in dieser selbständigen Antwort nicht viel Vernunft fand.

Als der Alte schwieg, schüttelte sie den Kopf und flüsterte vor sich hin:

Er wird recht schwach!

Der Gärtner hatte kaum die Fußstapfen des Mannes, den sie so ehrerbietig mit Excellenz begrüßt hatten, ausgeglichen, als diese gemessene steife Figur wieder zurückkehrte. Brigitte stand wieder auf, knixte wieder, Winkler zog wieder sein Käppchen und Beide sagten wieder:

Excellenz!

Der große zugeknöpfte Herr nickte herablassend mit dem kleinen Kopf, blieb, ohne etwas zu sagen, einen Augenblick stehen und entfernte sich mit einem Ausdruck, als wollte er äußern: Ich freue mich, daß ihr mir die Hochachtung erweist, die ihr meinem Stande schuldig seid! Doch sagte er nichts, sondern schwieg und lächelte.

Brigitte setzte sich und der geduldige Winkler harkte zum zweiten mal die Fußstapfen der Excellenz aus ....

Wenn's nach mir ginge, meinte Brigitte, ich wünschte, so eine Excellenz kaufte das Schloß ....

Kann man das Schloß kaufen? meinte Winkler, plötzlich ganz verdutzt.

Natürlich kann es Einer kaufen. Aber reich muß er sein, fuhr Brigitte fort, ohne auf die Narrheit der Winkler'schen Einwürfe zu hören. Der wär' es da! Sein Bedienter ... der [244] Franz ... hat's gesagt; die Meubles alle kauft er schon; aber für den König.

Für den König? die Meubles? verwunderte sich Winkler und mit Recht.

Alle Schlösser vom König hat ja die Excellenz da zu regieren, erklärte Brigitte.

Wer regiert die Schlösser? fragte Winkler.

Der da! Und alle Gärten! fuhr Brigitte fort. Alle Schlösser und Gärten des Königs und viele hundert Gärtner und Gärtnermädchen stehen unter ihm ....

Jetzt bekam der alte Mann einen Einfall. Nun fühlte er sich. Er glaubte mit seinem verwilderten Garten, der doch so schön grün noch aussah, der doch soviel bunte Blumen noch trieb, eine Ehre einzulegen, vielleicht Anerkennung, Beförderung zu finden. Aber bis zu dem Muth, Frau Brigitte aufzufodern, sich nach des vornehmen Herrn, den sie nur als Excellenz kannten, Namen zu erkundigen, die Idee auszusprechen, ob er nicht noch ein Plätzchen im Staatsdienst offen hätte für eine alte zitternde Gärtnerhand, soweit reichte sein, wie man wol annehmen kann, durch die formelle Religionsübung und die systematische Selbstbeschränkung verengter Horizont nicht, obschon ihm in der That die Auszeichnung zutheilwurde, daß der herablassende vornehme Herr zum dritten male zurückkam, wieder den geharkten Weg zertrat, wieder sich eines beifälligen Nickens befleißigte, endlich aber doch mit Kennermiene sich als ein mit Sprachwerkzeugen begabter Sterblicher zeigte und dahin [245] äußerte, daß er ganz kurz und gar leise, gar leise die Worte flüsterte:

Schön geharkt! Richtiger Strich Das! Seid's braver Gärtner! Kenne Das! Schön geharkt! So fortgefahren! Brave alte Leute!

Brigitte dankte für sich und für den alten Winkler, der ganz sprachlos vor Spannung dastand und die leisen Worte nicht gehört hatte.

Ach, Excellenz sind gar zu gnädig, ergriff sie, sich Muth fassend, rasch das Wort; gar zu gnädig gegen uns geringe Leute. Gott wird Excellenz dafür lohnen, zeitlich und ewiglich, denn bei Dem da oben gilt kein Ansehen der Person. Aber wenn Excellenz (die vorige Phrase choquirte weder ihn noch sie), wenn Excellenz das ganze Schloß kaufen sollten und nicht blos das Mobiliar der in Gott ruhenden Fürstin, der ich funfzig Jahre treu gedient habe, wenn Excellenz dann zwei alte Diener nicht verstoßen möchten, die jeden Riegel hier im Schlosse kennen –

Schön geharkt! Richtiger Strich! Braver Gärtner! Ich kenne Das!

Diese Worte waren Alles, was der vornehme Herr, sie unterbrechend, als Antwort gab. Er lächelte dabei sehr herablassend und ging, nachdem er Winkler und Brigitte auf die Schultern geklopft hatte, vorüber, ohne sich auf ein Dienstgesuch einzulassen, daß man ihm wahrscheinlich schriftlich einreichen mußte. Ein Gefühl, daß er da Menschen zurückließ, von denen er mit vollem Rechte [246] annehmen durfte, daß er sie außer ordentlich glücklich gemacht und durch seinen Beifall mit einer der angenehmsten Hoffnungen für ihre noch kurze Lebenszeit erfüllt hatte, überkam ihn dabei wol mit einschmeichelndem Behagen, aber nur flüchtig, nur obenhin.

Dieser vornehme Herr war nun, wie wir bald bestätigt erhalten werden, Se. Excellenz der Herr Intendant sämmtlicher königlicher Schlösser und Gärten, eine im Lande wohlbekannte und gefürchtete Persönlichkeit, der wirkliche Geheimrath Kurt Henning Detlev von Harder zu Harderstein, zweiter Sohn jenes neunzigjährigen Obertribunalpräsidenten, der bei Tempelheide mit Anna von Harder, der Witwe seines ersten Sohnes, in so stiller Zurückgezogenheit lebte. Der neunzigjährige Hohepriester der Themis hatte bekanntlich zwei Söhne; einen feurigen, höchst talentvollen, unternehmenden, aber früh verstorbenen, den Gatten eben jener Anna von Harder, die Frau von Trompetta als ein so seltenes Muster edler Weiblichkeit gerühmt hatte und nach Allem, was wir jetzt schon von ihr wissen, ein solches wol auch sein mußte. Der jüngere dagegen war diese sogenannte »junge Excellenz von Harder«, die nicht ganz in die Richtung des Harder'schen Hauses paßte. Der alte Vater war ein scharfsinniger und sehr bedeutender Kopf, dem der ältere Sohn in jeder Hinsicht entsprach; der Jüngere dagegen, früh etwas verwöhnt, wurde durch einen Zufall, den der Vater ewig bereute, für den Hof erzogen, war anfangs Kammerpage, dann Kammerjunker, zuletzt Kammerherr und hatte [247] keine andere Bildung sich angeeignet als die, die er auf Reisen mit dem verstorbenen Monarchen, dem Vater des jetzt regierenden, sich sammeln konnte. Es war durch die Richtung, die der Kammerherr Kurt Henning Detlev von Harder nahm, eine große Spannung zwischen Vater und Sohn eingetreten. Berührungen fanden seit Jahren zwischen ihnen nicht mehr statt und konnten es um so weniger, als sich der wunderliche alte Herr nur auf seine Gerechtigkeitsübung beschränkte, in frühern Jahren allenfalls noch nebenbei die Maurerei, die er sehr liebte, eifrig trieb, gegenwärtig aber auf seine sonderbaren psychologischen Studien über die Thierseele, die ihn von den Menschen ganz abzog, sich beschränkte. Spötter bei Hofe, die den später zum wirklichen Geheimrath und Intendanten der königlichen Schlösser avancirten Kammerherrn von Harder nach seinem Geistesgrade kannten, behaupteten, daß sein Vater, als dieser sein Sohn von Reisen mit dem verstorbenen Landesfürsten und besonders von einer mehrjährigen Abwesenheit in Paris zurückkehrte, gerade durch das Wiedersehen desselben auf die Idee gekommen wäre, sich künftig nur noch mit den Geistesanlagen der Thiere zu beschäftigen. Ehemalige Spötter behaupteten Das. Denn wie wir bald sehen werden, in der Nähe des gegenwärtigen Herrscherpaares durften sich solche Plaisanterien, Wortspiele und kleinen Frivolitäten nicht mehr hörbar machen. Nach anderer Version verdankte Henning von Harder seine Stellung nicht den Rundreisen mit dem verstorbenen Monarchen, [248] sondern dem eminenten Geiste seiner Gattin, die zufälligerweise auch seine Schwägerin war. Die beiden Harders hatten Schwestern geheirathet, die geborenen Freiinnen Anna und Pauline von Marschalk. Wie Dem auch sein möge – die Zukunft wird uns über diese in unsere Geschichte eingreifenden Persönlichkeiten Aufklärung geben – wie Dem auch sein möge, Se. Excellenz der Geheimrath von Harder war auf dem Schlosse Hohenberg alsGläubiger vom Throne erschienen und hatte in der That den Befehl zu vollziehen, sich das Mobiliar der verstorbenen Fürstin Amanda vollständig anzueignen.

Fürst Waldemar von Hohenberg, der Verstorbene, zu allen Zeiten Verschwender und geldbedürftig, verkaufte nach einer Sinnesart, die wir noch deutlicher werden kennen lernen, auf seinen Gütern das Ei unterm Huhne und wie dann auch das Huhn dazu, so auch sogar die letzten Erinnerungen an seine Gattin. Zu diesem Schritt entschloß er sich einige Wochen vor seinem vor drei Monaten erfolgten Tode. Wie die Intendantur der königlichen Schlösser eigentlich darauf kam, sich so geflissentlich diesen Erwerb anzueignen, war dem Publicum noch ein Räthsel. Die Einen fabelten von einer wunderbaren Einrichtung, die jedoch Andere gänzlich in Abrede stellten. Viele sagten, die Einrichtung der Fürstin Amanda von Hohenberg war zwar nicht kostbar, aber sie war sinnig und geschmackvoll. Sie liebte Rococomöbeln, sagten die Einen. Im Gegentheil berichtete Frau von Trompetta (und sie, die zu den Wenigen gehörte, die Hohenberg[249] besucht und sich der verschollenen frommen Fürstin manchmal erinnert hatten, konnte es wissen); im Gegentheil, ihre Wohn-, Schlaf- und Betzimmer wären ganz in altdeutschem Geschmack gewesen: man fände daselbst nur große Tische und gewaltige Schränke mit gewundenen Füßen und Säulen, Alles pechbraun oder rabenschwarz gebeizt; ausgezeichnet, gestand sie zu, sind die Gegenstände, die auf einem rings an den Wänden angebrachten zierlichen Holzsimse ständen. Da sähe man Schnitzarbeiten von Elfenbein und Hirschhorn, gußeiserne Crucifixe, das Abendmahl von Leonardo da Vinci aus Wachs bossirt, ein Meisterstück von einem tiroler Mönche .... Ja! fügte die Trompetta in ihrer Weise erregt hinzu, und der vielen Lithophanieen an den Fenstern und all der bunten Glasbehänge nicht zu gedenken, die ihren Zimmern einen wahrhaft heiligen, das Gemüth sanft zur Ruhe wiegenden Dämmerschein gaben! Nach dieser Mittheilung der Frau von Trompetta kam dann eine mysteriöse Schalkheit dieser Frau. Frau von Trompetta, behauptete man, hätte bei einer Audienz, wo sie die Königin zur Theilnahme an einem neu von ihr begründeten Kleinkinderbewahrinstitute aufgefodert, sich erlaubt, der erlauchten hohen Dame eine solche Schilderung von Hohenberg zu entwerfen, daß diese eine große Neigung faßte, die Hinterlassenschaft zu erwerben. Man liebte ja bei Hofe die Dämmerungszustände .... Man hüllte sich ja so gern in diese bunten Lichter des Räthselhaften und Ahnungsvollen ein .... General Voland von der Hahnenfeder, [250] der berühmte militairische Diplomat, hatte ja den Hof und dessen Liebhabereien mit seinen Sammlungen von Glasmalereien, Elfenbeinschnitzarbeiten, Handschriften ganz in der Gewalt und auch für diese Idee, obgleich sie vielleicht von der ihm nicht sehr zusagenden quecksilbernen Frau von Trompetta angeregt, von dem geistreichen artistischen Tonangeber, dem Probste Gelbsattel, den Voland wie alles lutherisch Kirchliche nicht gern zu üppig und breit aufkommen ließ, unterstützt war, lautete sein Votum doch durchaus empfehlend. Für den Leonardo da Vinci aus Wachs hatte Voland sogar schon einen Platz in der Privatkunstkammer des Königs, wo bereits mehre Kunstwerke standen, die Voland bei seinen Reisen durch österreichische Klöster gesammelt hatte. So vermutheten die Tiefern, die Bedeutenden und Ahnungsvollen .... Doch gestehen wir, daß es auch noch eine andere sehr nüchterne, kalte und rationalistische Partei bei Hofe gab, die diese Acquisition ganz vom finanziellen Standpunkte beurtheilte. Diese sahen eine dem überschuldeten Fürsten Waldemar von Hohenberg aus der königlichen Chatulle gezahlte Summe von dreitausend Thalern rein als eine einfache Unterstützung an, die man dem vom höchstseligen Landesfürsten abgöttisch verehrten tapfern Husaren Waldemar von Hohenberg, einem der glorreichsten Haudegen der Armee, in dieser harmlosen Form wollte zufließen lassen, und darauf das Mobiliar der Fürstin als eine Verpfändung. Um den Bruder des Königs, den Prinzen Ottokar, der den Oberbefehl der Armee führte, [251] gruppirten sich Diejenigen, die sich für diese nüchterne Auslegung verbürgen wollten und die Mission des Geheimraths Henning von Harder zu Harderstein als eine einfache, nur dem königlichen Kämmerer, der die Chatulle verwaltete, bekannte finanzielle Eintreibung einer verfallenen Schuld ansahen.

Dann begreif' ich aber nicht, hatte Bartusch, das Factotum des Justizraths Schlurck zu diesem noch vor einigen Tagen auf Schloß Hohenberg gesagt, dann begreif' ich nicht, wie Herr von Harder mit so ungestümer Eile, mit so ängstlicher Sorgfalt von dem Inhalt dieser drei Zimmer Besitz nehmen konnte. Wie rasch die Siegel an die Zimmer gelegt wurden! Kaum, daß der Fürst die Augen geschlossen, lag schon das Siegel der Hofkanzlei auf Thür und Fenster. Jetzt, statt einfach einen Commissar zu senden und den Inhalt auf Treu und Glauben verladen zu lassen für dasjenige Schloß, wohin jene Schnurrpfeifereien nun bestimmt sein mögen, kommt die Excellenz da mitten in der Nacht in höchst eigener Person, einen Tag darauf folgt ein großer Meubles- und Transportwagen, wie für ein Paar Elefanten, und jetzt soll Einer die Angst sehen, mit der zwei Bediente über die drei Zimmer wachen, daß auch nicht eine Stecknadel hinaus kann. Was steckt dahinter?

Sie kennen, hatte dagegen Schlurck zu seinem treuen Bartusch gesagt, Sie kennen die ängstliche Gewissenhaftigkeit dieses musterhaftesten aller Staatsdiener. Henning von Harder, der nichts von Dem sehen und hören will, [252] was die närrische Pauline in seinem Hause täglich anrichtet und in der Welt schon Alles angerichtet hat, weiß dennoch mit genauester Bestimmtheit, ob gerade in dieser Minute ein Rhododendron in dem königlichen Schlosse zu Buchau am Rheine blüht oder geblüht hat oder blühen wird. Dieser Mensch ist eine Uhr. Im Gefühl seiner Pflicht einmal aufgezogen, schnurrt er sich in mathematischer Genauigkeit Minute um Minute ab, bis er sich mit dem Gefühl seiner Würde wieder neu aufzieht und wieder da anfängt wo er geendet hat.

Hm! Hm! Hm! hatte damals der kluge und schlaue Vertraute aller Schlurck'schen Geheimnisse für sich in den Bart gebrummt und dann noch diese oder jene Vermuthung einstreuen wollen ..... Schlurck aber hatte kurz vor seiner schnellen Abreise nach der Residenz einfach die Weisung gegeben:

Bartusch, behandeln Sie die Excellenz mit all der Achtung, die ihrem einflußreichen Stande, noch mehr aber der gefährlichen Intrigue seiner uns sonst innigst zugethanen Frau gebührt! Ich würde fürchten, nicht mehr lachen zu können, wenn diese leicht verletzbare Frau, die mich jetzt verehrt und schätzt, zufällig meine Feindin würde. Lassen Sie ihn die besten Zimmer bewohnen, bieten Sie den beiden Schlingeln von Bedienten die freundlichsten Worte und getrost soviel Wein wie sie wollen. Mein Princip ist auch das, immer die Häuser von unten aufzubauen. Wissen Sie noch, Bartusch, ich habe darüber einmal in der Loge zu den drei Triangeln eine Rede gehalten, als das[253] beste Princip aller zünftigen und unzünftigen Maurerei? Mit der übrigen Gesellschaft, die sich hoffentlich auch bald verzieht, wird sich der vornehme Herr wenig in Gemeinschaft setzen. Darauf aber mach' ich Sie aufmerksam: Einen gewaltigen Fehler hat er – alle königlichen Gärtnermädchen wissen davon zu erzählen – der schon alte Knabe ist sehr verliebt. Melanie liebt Späße ... und die, hoff' ich, werden nicht in Ernst ausschlagen. Ich will keinen Kastellanposten in Buchau oder Sansregret oder Solitude haben, verstehen Sie, Bartusch! Sagen Sie Melanie Das: Ihr Vater will nicht königlicher Schloßkastellan werden. Und noch Eins! wenn die Zimmer geöffnet sind, so behalten Sie ...

Die Familienbilder, fiel Bartusch mit Nachdruck ein.

Wohl, sagte Schlurck, die Familienbilder. Denn die Clausel steht in der Verkaufsurkunde: die Familienbilder gehen sämmtlich an den Prinzen Egon zurück.

Damit hatte sich Schlurck seinem treuen Geschäftsbeistand Bartusch empfohlen und in der That raffte Dieser, ein sonst nicht sehr glatter, wenn auch geriebener Weltmann, alle ihm ungewohnten, nur aus alten dienenden Zeiten ihm erinnerlichen Höflichkeitsformen zusammen, um gegen den Intendanten der königlichen Schlösser und Gärten möglichst unterwürfig zu sein. An diesem Morgen, nach Schlurck's rascher durch irgend ein ihm unbekanntes Erlebniß veranlaßten Abreise hatte Herr von Harder die drei Zimmer öffnen und mit Unterstützung des Justizdirectors von Zeisel, der unten in Plessen wohnte, ein [254] Inventar aufnehmen lassen, das mit dem vom Fürsten Waldemar vor nunmehr etwa fünf Monaten übergebenen verglichen wurde und stimmte. Das Geschäft war im Laufe des Vormittags beendigt. Die Verpackung sollte morgen vorsichgehen und den Tag darauf wollte Herr von Harder abfahren, als Sauvegarde jenes ungeheueren Transportwagens, der unten noch im Dorfe stand. Man hätte glauben sollen, die unruhige Gesellschaft, die eben das Schloß bewohnte, müßte ihm bei dieser wichtigen Staatsaction sehr störend gewesen sein und Bartusch, der eben zu ihm herantrat, als er die alte Brigitte und den greisen Winkler durch seine Herablassung so glücklich gemacht hatte, sagte auch:

Ew. Excellenz werden froh sein, endlich einmal einen ruhigen Augenblick genießen zu können.

Der Intendant lächelte und meinte bedeutungsvoll:

Hm!

Bartusch entschuldigte den verwahrlosten Zustand des Gartens, der einem Kennerblick gewiß sehr misfallen müsse.

Hm! Hm!.. Bleiben recht lange aus; war darauf die ganze Antwort.

Bartusch wußte aus Schlurck's großer Praxis, daß vornehme Menschen selten auf Das Acht haben, womit sie Einer zu unterhalten sucht, und ahnte sogleich, daß Excellenz einen andern Gedankengang verfolgten. Es war, Das sah er wohl, die Cavalcade gemeint, der Dankmar im Walde begegnet war.

[255] Excellenz werden doch den kleinen Abendcirkel durch Ihre Gegenwart verschönern, bemerkte Bartusch unterthänigst.

Abendcirkel? wiederholte der Intendant. Wie gestern so etwas? Hm! Gesellschaft – ein Bischen gemischt – Was?

Leider! sagte Bartusch, sich dem wandelnden und zuweilen nach der an der Mauer sich hinziehenden Straße hinausblickenden Cavalier anschließend. Das bemerk' ich nirgend mehr als in meinen Büchern, wo wir nun diese schreckliche Confusion einer höchst zerrütteten Verlassenschaft zu ordnen haben. Da stehen Jud' und Christ nebeneinander, Civil und Militair, Kaufmann und Handwerker, wer nur was zu geben hatte und sechs Procent von dreieinhalb unterscheiden konnte.

Der Intendant lächelte wieder und meinte:

Recht schlimmer Herr gewesen – der Fürst Waldemar Durchlaucht; – aber viel Bravour im Kriege gehabt – hoch gespielt in den Bädern – aber – höchstselige Majestät ihn sehr geliebt – bewundernswürdiges Attachement gewesen ....

Und die Damen, nicht wahr, Exzellenz? bemerkte Bartusch lauernd. Auch davon wissen die Bücher in Zahlen zu erzählen, die in alle Brüche gehen.

Der Intendant erwiderte hierauf blos ein schmunzelndes Lächeln, was indessen einer jener Gesichtszüge war, mit denen er in gewissen Fällen Ermuthigung bezeichnen wollte.

Die Tänzerin Persiani! sagte Bartusch; die Polin Sobolewska[256] – die Kunstreiterin La Houppe – die drei Wandstablers – Dore, Flore, Lore –

Ein leichtes Meckern, ziegenartig, verrieth, daß Excellenz sich dieser Namen wohl erinnerten und piquanten Antheil nahmen. Doch schien sie das Gehen zu echauffiren. Herr von Harder nahm den feinen weißen Castorhut ab und strich einige mal sehr behutsam über seine außerordentlich glatt anliegende Tour vom glänzendsten pariser Bagnohaar ... ein sehr schönes südeuropäisches Schwarz bezieht man mehr aus Toulon als aus Brest ... Herr von Harder war zwar schon in den Sechzigen, doch hatte er sich Haltung und Wesen eines beiweitem jüngern Mannes bewahrt und konnte auf den ersten Blick jeden Prüfer zweifelhaft lassen, ob er ihn der noch anspruchsvollen, unternehmenden Generation zurechnen sollte oder der schon entsagenden.

Er fing nun von der »Gesellschaft« an.

Da ist eine Frau von Pfannenstiel ... Wer ist Das? fragte er.

Madame Pfannenstiel? antwortete Bartusch achselzuckend; Wirthschaftsräthin.

Nicht üble Frau – ein bischen dumm. Was?

Excellenz wissen in diesem Punkte gewiß das Richtige zu treffen ....

Aber reich?

Leider!

Wie so leider?

Weil sie Geld hat, ist sie hier. Dumme Menschen sind [257] lästig. Mir wäre lieber, ihr Mann wäre da. Es läßt sich leben mit ihm.

Warum ist der Mann nicht da?

Wagt's nicht. Da er früher hier wirthschaftete und das Volk geschunden hat, wie seinen armen Fürsten, so traut er sich nicht herzukommen.

Ah! ... Madame Schlurck ist eine charmante Frau ... fuhr der Geheimrath fort, der nun gesprächiger wurde.

Bartusch schlug die Augen nieder, aus Gründen, die der Geheimrath nicht zu kennen schien und die auch wir erst später kennen lernen werden.

Die muntere Blondine ... sehr charmant ....

Frau von Sänger ....

Frau von? ...

Frau von Sänger, die dritte Gemahlin des alten ehemaligen Rentmeisters von Sänger. Sind nach Randhartingen zurückgereist.

Wohin?

Randhartingen, Excellenz! Dort hinüber – zwei Stunden weit – rechts beim Ullagrund.

Ah! ... Allerliebste Frau.

Bartusch ließ dem Geheimrath Zeit, sich zu besinnen. Er kam, da er eine junge erwähnt hatte, jetzt auf eine ältere.

Die magere? sagte er.

Welche, Excellenz?

Die mit der – die mit dem – die ...

Mit den großen Zähnen, wenn sie lacht ....

[258] Ah!, Ja!

Frau Pfarrer Stromer.

Keine schöne Frau.

Gute Frau. Hat viel Kinder.

Und die starke? Wissen Sie, die kleine runde!

Frau von Reichmeyer, die Schwester des Herrn Lasally ...

Nein, die nicht!

Sie meinen die Justizdirectorin von Zeisel, eine geborene von Nutzholz-Dünkerke.

Nutzholz-Dünkerke? Gute Familie! Apropos. Was will denn der famose Stallmeister Lasally hier?

Der Geheimrath fragte fast unmuthig und nicht ohne besondern Nachdruck.

Es ist des Commerzienraths Schwager, Bruder der Frau von Reichmeyer, wie Sie vielleicht wissen; Reichmeyer hat 50.000 Thaler noch von der großen Lotterie her zu fordern ....

Lasally hat doch wol schwerlich dabei eingeschossen ... meinte der Geheimrath; sein Stall ist ja, soviel ich weiß, sequestrirt; seine Pferde auf dem Rennen gewinnen nicht mehr. Lasally muß ganz im Misère stecken ....

Weiß ich nicht, antwortete Bartusch diplomatisch – die Pferde, die er mitbrachte, reiten sich gut. Dies bemerkte gestern Fräulein Melanie ....

Hat Pferde mitgebracht! Famose Idee! Warum – Pferde?

Man glaubte, der Aufenthalt würde sich in die Länge [259] ziehen, man rechnete auf ein fröhliches Beisammenleben. Da sollten Bälle gegeben werden, soweit die Jahreszeit und die plessener Musik das Tanzen möglichmachte, da sollte gehüpft, gesprungen, gesungen und geritten werden. Jeder versprach seine rosenfarbene Laune mitzubringen und Freunde, soviel deren von verträglicher Sorte nur aufzutreiben waren. Was ist nun geworden? Einer versteht den Andern nicht und mit Schlurck's Abreise ist Alles wie auseinandergesprengt.

Der Intendant sagte:

Brave Leute Das hier, aber kein Ton! Graf Bensheim, Frau von Sengebusch eingeladen – wie war Das möglich! Pure Dissonanz! Haltung – Haltung ist viel – sehr viel ist Haltung. Feste zu arrangiren, erfodert Kopf und wie gesagt .... Geburt ....

Was Feste arrangiren heißt, sah man am letzten Geburtstage der Königin, bemerkte Bartusch mit höflicher Verbeugung. Das arkadische Schäferfest suchte seines Gleichen, Excellenz ....

Recht schön gewesen, äußerte der Intendant geschmeichelt und fast gleichgültig. Ich war wegen der Costüms selbst in Dresden – wissen Sie – um mir die Porzellansammlung anzusehen. Alle Menschen ... sehr hübsch wie von Porzellan gewesen – war sehr niedlich und richtig! Alles nach echtem meißner Porzellan. Professor Lüders hat Alles sehr richtig gefunden.

Nur eine Stimme darüber! bemerkte Bartusch. An uns gewöhnliche Menschen kommt davon nur so ein Blick [260] durchs Gitter und auch der ist verboten; aber Excellenz sollen sich in dem Porzellanball wirklich selbst übertroffen haben.

Als der Intendant lächelte, verbeugte sich der schlaue Graurock, der es in der Kunst, mit allerlei »Gemenschel«, wie er zuweilen verächtlich sagte, umzugehen, weit gebracht hatte. Doch kaum hatte er sich empfohlen, kehrte er, da er Etwas vergessen zu haben schien, zurück und sagte zu dem Intendanten, der seinen Blick unverwandt in die Gegend schweifen ließ, von wo die Cavalcade zurückkehren mußte:

Noch ein Wort, Excellenz. Die Bilder wollt' ich doch gehorsamst erinnert haben –

Bilder? Was für Bilder?

Die Familienbilder! – Morgen bei der Verpackung! betonte Bartusch.

Welche Familienbilder? sagte Herr von Harder plötzlich mit Amtsmiene und fast ungehalten.

Bleiben bei der Masse – testamentarische Verfügung –

Weiß Alles. Schon gut –

Dürft' ich mir erlauben, diese Stücke an mich zu nehmen und zur weitern Verfügung zurückzubehalten?

Verfügung? Zurückzubehalten? Wer verfügt? Ich verfüge!

Bartusch erstaunte über diese kategorische Antwort, die von einem so bösen Blick begleitet war, daß die ganze freundliche Herablassung des vergangenen Gesprächs wie in Nichts verronnen erschien. Bartusch stand einen [261] Augenblick rathlos, ob er unterwürfig bleiben sollte oder entschieden auftreten. Noch zog er den ersten Ton vor und sagte:

Excellenz kennen des seligen Fürsten letzte Bestimmung, daß die Familienbilder von dem Kauf ausgeschlossen sind. Es war das Gewissen, das aus ihm sprach, die Ehre ....

Familienbilder! sagte der Intendant mit großem Nachdruck, und verrieth durch seine Sicherheit, daß er hier nicht aus sich, sondern nach einer Instruction sprach. Se. Majestät werden den letzten Willen Sr. Durchlaucht wohl zu ehren wissen, ... indessen, mein lieber Herr – was reden Sie von Gewissen, von Ehre? Herr – ...

Bartusch! ergänzte dieser, als der brüske Intendant den Namen suchte.

Bartusch, mein lieber Herr Bartusch! Der Intendant sprach diese Worte mit einem Anflug von Schlauheit, der den starren Zügen etwas höhnisch Lächelndes gab – Was sind Familienbilder?

Bilder der Fürstin, des Fürsten, des Prinzen Egon – fiel Bartusch erregter ein.

Haben Sie den Fürsten gekannt?

Ich denke wol – antwortete Bartusch malitiös.

Die Fürstin haben Sie nicht gekannt.

Wenn nicht ich, so kennt sie im Dorfe jedes nicht zu kleine Kind.

Kind ... im Dorfe? Ist das eine Autorität? Eine Autorität für einen allerhöchsten Specialbefehl, den ich zu [262] vollziehen die Ehre habe? Kannten Sie die geborene Gräfin von Bury, welches die Mutter der Fürstin gewesen ist? Kannten Sie den k.k. österreichischen Generalfeldzeugmeister Grafen von Hohenberg, der in zweiter Linie mit dem Fürsten von Hohenberg Durchlaucht verwandt war? Familienbilder sind ein sehr allgemeiner Begriff – mein lieber Herr Bartusch – ein sehr allgemeiner. Man wird die Bilder nach der Residenz nehmen, alle – alle – alle – und Prinz Egon, Prinz Egon wird entscheiden, welche davon zur Familie gehören oder nicht. Haben sie verstanden, Herr Bartusch? ... Wer verfügt? Ich verfüge! Verstanden?

Mit diesen kurz abgestoßenen, kalten, schneiden den, bösen Worten entfernte sich der vornehme impertinente Mann. Bartusch hatte Mühe, ansichzuhalten. Er besaß Verstand genug, einzusehen, daß diese Überlegung nicht aus Herrn von Harder's Kopfe kam, sondern der Wortlaut einer ausdrücklich ihm gegebenen Instruction war. Die Wendung, die so kräftig betont wurde: »Familienbilder sind ein allgemeiner Begriff« entsprach den Begriffen des Intendanten keineswegs.

Das hat ihm Jemand so oft vorgesagt, bis er das schwere Wort behielt und sich Etwas darunter vorstellen konnte! murmelte Bartusch vor sich hin, und in der Überzeugung, daß es mit den Zimmern der Fürstin eine doch sonderbare, seine ganze Neugier spannende Bewandtniß haben müsse, lenkte er nachdenklich seinen etwas schlorrenden und schleichenden Schritt dem Tempel zu, wo er mehre [263] von den Damen, die jetzt das Schloß bewohnten, Andere, die es eben besuchten, erblickte, wie sie nickend mit Tüchern in die Ferne wehten. Dieser Gruß galt Melanie und ihren Begleitern, die soeben von ihrem Spazierritt im vollen Trabe zurückkehrten.

[264]
11. Capitel. Melanie Schlurck
Elftes Capitel
Melanie Schlurck

Das war ein Lärmen, ein Lachen, ein Jubeln, als die schöne Amazone vom hohen Sattel gehoben wurde und die dampfenden Pferde um sie her im Hofe des Schlosses stampften und wieherten. Reichmeyer's und Lasally's Bediente und Jockeys hielten die Renner am Zügel und führten sie nach den unten am Fuße des Berges gelegenen Ställen zurück, nicht ohne dazwischengeworfene, den Pferden gespendete Liebkosungen oder Scheltworte, jenachdem die Reiter mit ihren Thieren zufrieden gewesen waren oder nicht.

Die Thiere gingen à merveille! rief Melanie unter fortwährendem Gelächter, das dem klagenden und trostlosen Commerzienrath galt; man muß nur reiten können!

Arme Laura, sagte sie zu dem von Reichmeyer gerittenen Pferde, es streichelnd; du hattest es so gut mit deinem Reiter im Sinn! Er sollte dir deine Gedanken ablauschen und du lauschtest sie ihm ab. Du sprangst, du stutztest vor jedem Ast, du schlugst mit den Ohren hochauf, wenn ein Vögelchen geflogen kam, du schwenktest dich anmuthig nach der rechten Seite hin, wenn auf der linken ein Hund kam und bellte, und alles Das will die gefühlskalte Geldseele [265] jetzt nicht anerkennen und schilt dich, arme Laura! Fliehe die Commerzienräthe! Diese Menschen verstehen nicht, was sensible Naturen sind.

Die ältern Damen, die unten im Tempel gewartet, hatten sich auch inzwischen oben am Schlosse eingefunden und begrüßten die ziemlich lange Ausgebliebenen in dem hintern Hofe.

Ohne Spaß, sagte der Commerzienrath zu seiner ihn ängstlich anblickenden Gemahlin, einer Dame in rauschenden Stoffen, ich habe meine Noth gehabt. Man hat mir bei Gott das wildeste Pferd gegeben. Eugen hätte auch mehr Einsicht haben sollen.

Frau von Reichmeyer warf einen vorwurfsvollen Blick auf ihren Bruder, den Stallmeister Lasally, der sich indessen nur mit Melanie beschäftigte und dieser »Querelen« nicht achtete.

Ging es mir denn besser? sagte der Justizdirector von Zeisel, eine lange, hagere Figur mit grauen Haaren und zugeknöpftem blauen Frack mit gelben Knöpfen, eine Bureaugestalt voll Höflichkeit und geschmeidig. Ging es mir denn besser? Mir platzte der Sattelgurt! Denken Sie sich, Frau Justizräthin, mein Malheur, wie ich plötzlich ins Schwanken gerathe und auf meinem Fuchs hin- und hertaumele. Ist mir nur in jüngern Jahren passirt! Die Geistesgegenwart des liebenswürdigen Herrn Eugen hat mich gerettet, sonst wär' ich, ich kenne Das, vielleicht geschleift worden.

Billigerweise hätte Frau von Zeisel, geborene von Nutzholz-Dünkercke, [266] die sich gleichfalls unter den Begrüßenden befand, diesem möglichen und glücklich abgewandten Unglück ihres Gatten die theilnehmendste Aufmerksamkeit schenken sollen, aber die noch sehr anmuthige und von den runden wohlgenährten Körperformen noch jugendlicher, als sie war, aussehende kleine Frau nahm wenig Notiz davon und überließ es der guten Madame Schlurck, die Möglichkeiten eines solchen Unfalls theilnehmend zu durchdenken, während sie mit dem inzwischen herzugetretenen Bartusch sprach und sich über das betrübende Ereigniß der plötzlichen Abreise des immer so liebenswürdigen und jovialen Justizraths Schlurck nicht trösten konnte.

Eine sehr unbedeutende und nur mit lächelndem Nichtssagen zugaffende Rolle spielte die reiche Madame Pfannenstiel, geborene Drossel, die die frühere Wirthschaftsinspectorin nicht verleugnen konnte, trotz ihrer dicken goldenen Erbskette und der großmächtigen Brillantuhr, die sie fast bis unten auf die Hüfte ihres schmächtigen Körpers trug.

Melanie war die Seele dieses bunten Kreises, den das Geld hier zusammengewürfelt hatte. Geist, Neigung, hatte sie früher gesagt, bringen Gleichartiges zusammen. Das Geld kann nur Vermittler des Zufälligen sein. So beschloß sie denn, Geist und Neigung in diese widerstrebenden Elemente zu bringen. Es gelang ihr aber nur theilweise und durch nichts Anderes als durch ihre eigene Persönlichkeit.

[267] Wie reizend stand sie da im Schloßhofe! Das lange, enganschließende Reitkleid war von einem silbergrauen leichten Stoffe und ließ die lieblichsten Formen der schönen Gestalt bewundern. Von der Halskrause, die über dem ganz oben geschlossenen Kleide zierlich gefältelt lag, bis zu den Hüften herab zeigte sich das schönste Ebenmaß der äußern Bildung. Die Schultern hoch und gerundet. Wenn sich der holde, liebliche Kopf, mit den braunen brennenden Augen, dem schönen Munde und den weißen Perlenreihen der Zähne lächelnd über die Schulter wandte, gab der Winkel, der sich dann aus dem Kopf und der Schulter bildete, die reinste Schönheitsform. Halb noch auf den schwarzen, hinten über Flechten zurückgekämmten Locken, saß ein kirschrothes, silbergesticktes kleines Sammtgewinde, über dem der Reithut mit blauem Schleier gebunden war. Längst hatte sie diesen Hut weggeschleudert. So hoch Melanie und fast mit dem Wuchse der Pappel aufgeschossen war, so behend ließen doch ihre Bewegungen. Ihr Fuß schien kaum den Boden zu berühren, so schwebte sie dahin, mit der linken Hand die lange Schleppe des Kleides nach vorn an sich drückend, mir der Rechten die am Griff von blauen Steinen geschmückte elegante Reitpeitsche in die hohe kräftige Hüfte stemmend. Mit innigster Herzlichkeit gab sie ihrer Mutter einen Kuß, worauf sie den Kopf in den Nacken warf und mit komischer Feierlichkeit erklärte:

Ich danke Ihnen, meine Herren, für Ihre ritterliche Begleitung! Sie haben Noth und Gefahr mit mir getheilt!

[268] Sie haben, als wir im Walde einem scheu gewordenen Einspänner, auf dem zwei Handwerksbursche sich vom Fußwandern auszuruhen schienen, begegneten, die mögliche Gefahr des eigenen Durchgehens Ihrer Rosse muthvoll überstanden! Sie haben an der Försterwohnung vor einer alten roth- und weißhaarigen Hexe, die alle Pferde stutzigmachte, hochherzigen Muth bewiesen. Sie haben sich würdig gezeigt, von mir, der dermaligen Fürstin von Hohenberg, heute Abend beim Thee zu meinen Cavalieren und Vasallen geschlagen zu werden. Ich hoffe, daß Keiner meiner Getreuen fehlen wird! Und damit seid Ihr für jetzt entlassen!

Die Herren applaudirten. Melanie entschlüpfte in eines der unten geöffneten Schloßfenster und verschwand. Die Gesellschaft trennte sich vorläufig mit dem Versprechen, um acht Uhr an den geöffneten Fenstern der Zimmer, die Schlurck für die Seinigen gewählt hatte, sich zum Genuß der milden Abendluft und zum Thee zu versammeln. Die Einen begaben sich in den Garten, die Andern ins Schloß, Andere wandten sich hinunter dem Orte zu.

Mit großem Wohlgefallen hatte diese Scene von fern der Geheimerath Henning von Harder beobachtet. Se. Excellenz standen am offenen Fenster eines der ihm zur Disposition übergebenen Zimmer der verstorbenen Fürstin und kniffen eine goldene Lorgnette so scharf in die Augenhöhle, daß ihm auch keine Miene der schönen und verlockenden Melanie Schlurck entgehen konnte. Als sie sprach mit ihrem wohllautenden, vollen, aus der Brust [269] quellenden Organe, bedeutete er seine beiden Bedienten, Ernst und Franz – die auf dem Fußteppich saßen und hämmerten und packten –, einen Augenblick in ihrem Diensteifer innezuhalten. Er verschlang Melanie's Worte und täuschte sich dabei keineswegs in der Voraussetzung, daß sie sich von ihm beobachtet glaubte. Er gehörte zu den Männern, die sich in ihrer Jugend wol hatten sagen können: Du bist glücklich bei den Frauen, weil du eine schöne Gestalt hast und eine gewisse Kunst sie geltendzumachen. Sein Haar war einst lockig gewesen, sein Auge nicht ohne Feuer. Er konnte diese Triumphe seiner Jugend nicht vergessen. Daher kam es, daß er an Jahren zunehmend, immer wieder einen neuen Reiz an sich zu entdecken glaubte, der ihm ebenso fesselnd vorkam, wie es früher seine Jugend gewesen war. Nur schlimm, daß er diesen Reiz nicht in geistigen Dingen, sondern in äußerlichen fand! Geist verleiht dem Äußern des Mannes mit den Jahren einen veränderten Ausdruck, der wol die Frische der ersten Jugend ersetzen kann. Die Liebe des Jünglings ist eine andere als die des Mannes und wer würde so oberflächlich und sinnlich sein, die Poesie und die fesselnde Schwärmerei allein nur dem zwanzigjährigen Blute zuzuerkennen? Im Gegentheil mischt sich in die erste süße Liebe des Jünglings nur zu wild und bitter oft die Gährung der noch unfertigen Charakterbildung, während eines älteren Mannes Liebe eine Kette reinster Hingebung, uneigennütziger Aufopferung und jener höhern Poesie sein kann, die aus einem gebrochenen wehmüthigen [270] Bewußtsein fließt. Mit diesen Erscheinungen hatte das noch immer lodernde Feuer des fast sechzigjährigen Henning von Harder zu Harderstein nichts gemein. Er gehörte zu den Thoren, die im zwanzigsten Jahre ihre Eroberungen auf ihre wirkliche Schönheit fußen können, im dreißigsten auf das Glück dieser Schönheit und den Ruf ihrer Eroberungen, im vierzigsten Jahre aber schon nur noch auf ihre gesellschaftliche Stellung und gewisse jugendliche Reminiscenzen, vom funfzigsten an aber auf die verzweifeltste Eitelkeit, die sich an diesen oder jenen kleinen Rest früherer Vorzüge klammert, an eine weiße kleine Hand, einen zierlichen kleinen Fuß und ähnliche, in den meisten Fällen auch unleugbare Vollkommenheiten, die aber einen ganzen Menschen nicht mehr ersetzen können. Der Geheimrath hörte nichts lieber, als daß er eine schöngeformte Nase und niedliche kleine Hände hätte. So manche verschmitzte Coquette, die nach seinem durch Pauline von Marschalk erworbenen Reichthum blinzelte, konnte ihn in jugendliche Flammen und wahnsinnige Träume versetzen, wenn sie seinen niedlichen kleinen Fuß lobte. Manche versicherten, daß man auch durch das Lob seiner kleinen Ohren eine Wirkung auf ihn hervorbrachte. Sie waren in der That niedlich, diese Ohren. Kein Spiegel bestritt diese Wahrheit. Warum sollte er nicht sonst noch allerlei Fesselndes besitzen, da er doch dies Eine, die Werkzeuge des Hörens, wirklich in einer so unbestrittenen Vollkommenheit besaß! Hier nun vollends auf Hohenberg, wo er, zur Entschädigung für [271] eine lästige Reise, zu der ihn mit sonderbarer Bestimmtheit seine ihn, wie noch viel andere Menschen beherrschende geistreiche Gattin gezwungen hatte, das Zusammentreffen mit einer der gepriesensten Schönheiten der Residenz genoß, hier hielt er einen angenehmen Eindruck auf Melanie Schlurck für um so leichter, als er einerseits mit nicht ganz kurzsichtigem Auge entdeckt hatte, daß dies eigene Mädchen gewohnt war, über gewöhnliche Grenzen hinaus zugehen, und andererseits seine gesellschaftliche Stellung die aller übrigen Besucher des Schlosses beiweitem überragte. Er stand ja doch, dachte er, dem Landesfürsten außerordentlich nahe, war ja durch unbedingt gehorchende knechtische Umgebung himmelwärts hier erhaben, strahlte ja durch äußere Haltung wie immer so auch hier im Vollglanze seiner mit Orden emaillirten Excellenz und faßte in der That um so rascher eine Flamme für Melanie, als dies kluge Mädchen bereits beim ersten Zusammentreffen seine weiße Hand, den zierlichen Fuß und sogar schon das Profil seiner Nase bewundert hatte. Sie entdeckt, hatte er sich im Stillen gesagt, sie entdeckt gewiß auch noch meine Ohren! Er wiederholte sich diese Hoffnung mit Wohlgefallen, als ihn einer seiner Bedienten darauf aufmerksam machte, daß das Fräulein merkwürdig oft nach Excellenz sich erkundigt hätten, als Excellenz heute früh mit der Registratur des Nachlasses der Fürstin Amanda beschäftigt gewesen wären ....

Nur eine Persönlichkeit war ihm bei der schönen Hoffnung eines Erfolgs ein gefährlicher Nebenbuhler, jener [272] Schwager des Commerzienraths von Reichmeyer, Eugen Lasally. Dieser nicht mehr ganz junge Mann war ein öffentlicher Charakter der Residenz. Völlig abweichend von Dem, was christliche Spottsucht über die Juden einmal festgestellt zu haben glaubt, war Eugen Lasally im Gegentheil eine höchst chevalereske Erscheinung. Nicht groß, von behendem Körperbau, leichten, zarten Gliedern, hatte er sich früh eine große Fertigkeit in Leibesübungen erworben. Er schoß, focht, ritt auf eine Art wie der geübteste junge Dandy der vornehmen Welt. Seine Ältern gehörten den ersten jüdischen Familien an und hätten ihm gern die übliche artistische Bildung dieser Kreise gegeben, ihn zum Maler, zum Musiker bestimmt. Doch zeigte Eugen für diese Berufswege nicht die geringste Empfänglichkeit, ebenso wenig wie zum mercantilischen Fache oder zu irgend einem wissenschaftlichen Studium. Als seine Ältern starben, ging sein ererbtes Vermögen sehr rasch auf die Lebensweise hin, die er seit seiner ersten Selbständigkeit ergriffen hatte. Cavalerieoffiziere, junge Stutzer, Adelige waren sein alleiniger Umgang. Durch eine Reihe muthig bestandener Duelle hatte er gelernt, sich in dieser Sphäre zu behaupten, und als er durch Spiel und Vergnügungssucht an den Rand des Abgrundes gebracht, von seinem Schwager Reichmeyer nur noch soviel erhielt, um aus einem der ersten Wettrenner fast in Verzweiflung erst ein »Pferdekenner«, dann ein Pferdehändler und zuletzt Errichter einer Reitschule zu werden, blieben ihm seine alten Gefährten getreu. Das [273] Pferd ist auch darin ein so edles Thier, daß es fast Alles adelt, was mit ihm umgeht. Ein Bedienter mag sich höher dünken als ein Bereiter. Mehr Muth und männliche Entschlossenheit, mehr Charakterstärke findet sich gewiß bei Letzterm. Eugen Lasally war als Besitzer einer Reitbahn und was damit zusammenhängt sogar Pferdeverleiher, doch nur um so enger mit einer gewissen fashionablen Gesellschaftsclasse im Zusammenhang, und wäre nicht sein aristokratischer Tic gewesen, seine Sucht in Allem und Jedem es mit seinen Freunden aufzunehmen, der alte Levi, den er sich aus einem mecklenburgischen Pferdemäkler zum ersten Bereiter umgeschaffen hatte, würde ihn gewiß durch seinen Fleiß und seine Umsicht und kluge Geschäftskenntniß oben erhalten haben. Er war aber im Sinken begriffen. Die Verzweiflung, daß ihm seine Plane nicht gelangen und er von Gläubigern unablässig gehetzt wurde, machte ihn oft zornig und gab ihm einen menschenscheuen finstern Charakter, der zuweilen ins Brutale ausartete. Er war auch gefürchtet wie der schlimmste Gast.

Als auch ihn der Intendant der königlichen Schlösser und Gärten so mismuthig durch die Lorgnette betrachtete und dabei die höchst vernünftige Vermuthung äußerte, daß ihn wol hauptsächlich die Speculation auf Melanie's großes Vermögen an diese »bunte kleine Schlange« fesselte, sagte eben Eugen zu einem seiner Jockeys, der die Pferde hinübergeführt hatte und nun heraufkam, um die Küche zu besuchen:

[274] Kannst du dich nicht entsinnen, Jack, was mit dem Einspänner im Walde war?

Der Einspänner? wiederholte Jack, ängstlich vor dem immer misgestimmten, zum Zorn gereizten Herrn ....

Kannst nicht hören? sagte auch Dieser sogleich aufbrausend. Der Einspänner im Walde – es sprang Einer vom Bock herunter – ich hab's deutlich gesehen – hast du die Augen zugehabt?

Als der peitschenscheue Jack sich noch nicht recht zu besinnen vermochte, sagte Eugen Lasally:

Er ist ein blinder Hess'! Scher' Er sich!

Jack wollte gehen ....

Lasally rief ihn noch einmal zurück und schwang die Reitgerte.

Jack blieb in einiger Entfernung.

Führe die Laura, sagte dieser, in die Schmiede unten! Das Thier hat Etwas. Es quihnt. Die Rackerei mit schlechten Reitern schadet einem guten Pferd. Es wird selbst ängstlich, wenn Einer auf ihm Angst hat. Der Schmied soll der Laura Rhabarber geben. Aber mit dem Alten sprich –

Mit dem Blinden?

Mit Dem! Der Blinde ist pfiffiger als der Junge, der taub ist.

Jack, zwar ärgerlich, daß er nicht in die Küche konnte, wo Melanie's Mädchen, Jeannette, die Manieren ihrer Herrin nachahmte und unter der Dienerschaft ebenso belebend und animirend wirkte, wie Melanie in ihrem Kreise, wandte sich jedoch gleich wieder um, sklavisch [275] ergeben, stieg wieder den Schloßberg abwärts und wollte die Laura in die Schmiede bringen.

Läßst die Laura keine Minute aus dem Auge! rief ihm Lasally noch nach.

Wie Jack ging, wandte sich Lasally an Bartusch, der gerade vorüber wollte:

Wissen Sie, wen ich im Wald gesehen habe, Bartusch?

Eine alte Hexe, hör' ich ja.

Lieber den Teufel selbst, sagte Eugen – Hackert hab' ich gesehen.

Ach! meinte Bartusch mehr komisch als ernst verwundert; was denken Sie?

Ich gebe Ihnen mein Wort! Nehmen Sie's mit der Canaille nicht so leicht!

Wie käme Hackert ...

Ich will beschwören, daß auf einem kleinen Einspänner Hackert saß und als er uns bemerkte, ins Dickicht sprang ....

Daß dich –! Aber was wäre dabei zu fürchten?

Zu fürchten? Seit dem Abend ... seit dem Vorfall hinterm Zaune ... in der Königsvorstadt ...

Es war auch arg genug, Herr Lasally!

Arg? Ich begreife Euch nicht! Ihr schont diesen Menschen.

Schonen, Herr Lasally? ...

Es kommt mir vor, als hätte Schlurck Angst vor ihm ....

Herr Lasally!

[276] Ihr werft den Schlingel aus dem Hause und habt eine Zärtlichkeit für ihn ....

Zärtlichkeit?

Er muß Euch in Händen haben ....

Uns? In Händen? Weil ihm Schlurck Vertrauen schenkte?

So etwas. Alle denkt Ihr an den Burschen, und Keiner spricht von ihm. Ihr haßt ihn und gebt ihm täglich Beweise von Liebe. Dahinter steckt ein Geheimniß ... ich bin nur zu stolz, auf Dienstboten zu hören.

Dienstboten, Herr Lasally –?

Sagen Sie der Jeannette, sie möchte, wenn sie Abends Punsch macht, unter den Bedienten, Kutschern und Jockeys nicht soviel in Euren Familiengeheimnissen kramen ....

Die Jeannette?

Ich sag' Ihnen soviel, Bartusch, wenn mir Hackert hier in Hohenberg in den Weg kommt ... ich kenne mich selbst nicht. Es ist mir, als wäre Das mein böser Feind. Ich bin im Stande und schieß' einmal den Hund nieder.

Herr Stallmeister!

Warum schonen Sie ihn? Warum dulden Sie, daß er zudringlich ist? Was ist er? Was kann er wollen? Was kann er für Ansprüche haben?

Ansprüche? Sieh! Sieh! Hat die Jeannette etwas von Ansprüchen gesagt?

Ich weiß nichts, was die Jeannette gesagt hat und habe meinen Leuten verboten, bis in die Nacht um die Punschterrine [277] des tollen Mädchens zu sitzen und abscheuliche Indiscretionen anzuhören.

Wirklich die Jeannette?

Lasally antwortete nicht und ließ den erschrockenen grauen Actenwurm, Herrn Bartusch, mit der Dose in der Hand, die er ergriffen hatte, um sich zu fassen, stehen ....

Lasally verfiel sogleich wieder in die ihm eigene blasirte Ruhe. Seine Mienen verzogen sich nie, sein blasser, etwas gelber Teint blieb bei der größten Aufregung fast unverändert. Um elegantere Toilette zu machen, ging er auf das ihm angewiesene Zimmer, das von denen Melanie's und ihrer Mutter entlegener war, als er wünschte.

Melanie's Mutter saß schon oben vor dem Theetopf und erwartete ihre Gäste.

Man konnte die Frau Justizräthin Schlurck nicht im geringsten ehrwürdig nennen, würde aber auch sehr Unrecht thun, wollte man einen gewissen Werth an ihr unterschätzen. Im Gegentheil besaß die Frau des philosophischen Epikuräers Franz Schlurck höchst merkwürdige, höchst anerkennenswerthe Eigenschaften. Ohne eigentliche Bildung hatte sich die gewandte kleine Frau einen seltenen Reichthum von Erfahrungen erworben und eine gesunde natürliche Anlage zur Lenkerin aller ihrer oft treffenden Urtheile gemacht. Ohne ein besonderes religiöses Bedürfniß war sie mitleidig, gab gern, unterstützte Hülflose. Noch mehr, sie erkundigte sich nach den Ursachen der Leiden und half ihnen gern radikal ab. Wer Geld haben wollte, Dem gab sie Lebensmittel, und [278] wer Lebensmittel begehrte, dem gab sie zugleich Arbeit. Eine Wöchnerin in elenden Umständen erregte ihre ganze Theilnahme; doch bediente sie sich dabei keiner Phrase, sondern griff zu, handelte, wirkte, riß die Fenster auf, wo es dunstig war, schalt, strafte, wo sie eigene Vernachlässigung bemerkte. Kinder, die bettelten, schickte sie in die Schule oder zeigte sie ohne Weiteres der Polizei an. Halbes und »Quengeliges«, wie sie's nannte, konnte sie nicht leiden. Überwiegend setzte sie bei den Menschen, wie sie sagte, »leider«, das Schlechte voraus. Gute und aufopfernde Thaten mußten ihr erst bewiesen werden, bis sie daran glaubte. In ihrem Hause herrschte neben merkwürdiger Ordnung doch eine sehr große Üppigkeit, weniger weil sie selbst ihrer bedürftig war, als aus Rücksicht auf ihren Mann und Melanie, das besonders von diesem verwöhnte, aber keineswegs »verquengelte« einzige Schooßkind ihres Glückes. Denn glücklich schien Alles um sie her zu sein. Sie duldete wenigstens keinen andern Anschein. Gute Laune ging ihr über Alles. Mürrische und melancholische Menschen nannte sie im Geheimen eitel oder schlechterzogen. Sie duldete an ihrem Manne nie das träge schleichende Aufkommen einer griesgrämigen Stimmung, von der der alte Bonvivant keineswegs ganz frei war. Sie ließ allen seinen Neigungen und Leidenschaften ohne Ausnahme die Zügel schießen, beförderte sie sogar oder schloß die Augen zu denen, die seinem Alter nicht ziemten. Das waren Erscheinungen, die uns wol misfallen können, aber mit ihrer Wahrheitsliebe und [279] ungeschminkten Natürlichkeit nicht im geringsten im Widerspruche lagen. Sie wollte eben nur das Natürliche. Sie war eine Frau, von der man sagen mochte: Sie ist eine Najade; ihr Element ist das reine, frische, klare Quellwasser. Sie badete auch täglich. Und so war ihr auch zugleich geistig jedes »Muffige«, wie sie's nannte, verhaßt. Ein langer Kampf mit Leidenschaften schien ihr völlig nutzlos. Sie nahm ihren Mann, wie er war; sie nahm Melanie, wie sie war. Nur reinlich, nur sauber, nur frische Wäsche und frischer Muth! Das Übrige war ihr, wie sie's nannte, meistentheils »dummes Zeug«. Hannchen Schlurck, aus einer einfachen, aber bemittelten Bürgerfamilie, war dabei gar nicht unbelesen, gar nicht ungebildet und vollkommen fähig, in der großen Welt zu repräsentiren. Schlurck's »Hannchen« war ein Philosoph wie ihr Gatte. Auf den Genuß hielt sie selbst für sich gar nichts. Sie schenkte Andern Champagner in Strömen ein, trank aber selbst nicht. Und Melanie hatte Ähnlichkeit mit ihr. Die Mutter, verschweigen wir es nicht, die Mutter hätte von ihrer Tochter das Schlimmste vernehmen können, sie würde nur bedauert haben, wenn Melanie dabei »dumm« gehandelt hätte. Ob sie sich dieselbe Freiheit gestattete? Ob sie sich in allen Beziehungen beherrschte? Es ist darüber schwer Etwas zu sagen .... Nur behauptete man, daß Bartusch, das Factotum ihres Mannes, einen größern Einfluß auf sie hatte als Schlurck selbst, der nach ihrem Sinne nicht immer praktisch war. Das hinderte aber nicht, daß der Justizrath mit vollem Rechte oft laut [280] rühmen durfte: Er besäße in seinem saubern, klugen, runden, netten Hannchen die vernünftigste und respectabelste Ehefrau von der Welt!

Frau Pfannenstiel, die hier nur »geduldet« wurde »aus Rücksichten«, die elegante Frau von Reichmeyer hatten sich bereits eingefunden. Etwas später kam in sehr gewählter Toilette auch Frau von Zeisel, eine sehr bestimmt auftretende unruhige, anspruchsvolle und doch gar kleinstädtische Dame. Auch die bescheidene Frau des Pfarrers Guido Stromer stellte sich mit diesem selbst ein. Herr von Zeisel, dem zuviel daran lag, die Gunst des allgewaltigen Administrators zu behalten, schlenkerte neben seiner Gattin her; so lang und weitläufig er an Gestalt war, hatte er doch etwas Windspielartiges. Auch Herr von Reichmeyer kam mit Briefen und Zeitungen, die man ihm natürlich sehr gern für sich zu lesen gestattete, um nur seine üble Laune nach dem gewagten Ritte und dem nicht günstigen Resultat der Massa-Bilanz auf eine Zerstreuung abgeleitet zu sehen, die vielleicht auch die Andern unterhalten konnte.

Dem Pfarrer Guido Stromer hätte es eigentlich sehr befremdlich vorkommen müssen, in denselben Räumen, wo er so oft mit der frommen Fürstin Amanda und allen ihren Schutzbefohlenen gebetet und gesungen hatte, jetzt einer sehr weltlichen Gesellschaft beizuwohnen. Allein dieser eigenthümliche Mann schien sich ziemlich leicht in die veränderte Stimmung dieser Atmosphäre zu finden. Es waren dieselben hohen Zimmer, die von seinem Gebete [281] sonst widerhallten, es waren dieselben großen geöffneten Fenster, durch die die balsamische Kühle des Sommerabends jetzt erquickend hereinströmte, wo sonst die Stickluft der vielen zusammengedrängten Bauern und Bäuerinnen die Brust beengte. Aber ihm selbst schien es ganz wohl zu sein, von der Vergangenheit sich erlöst zu sehen. Ob er freilich in seiner Unterwürfigkeit und Nachgiebigkeit gegen die veränderten Umstände des Schlosses Hohenberg nicht zu weit ging, mag sein Gewissen entscheiden. Die alte Brigitte z.B., die im Schlosse hin- und herwandelte und sich an die Wände drückte, um von all den neuen Kammerzofen, Köchinnen, Jägern, Jockeys, Bedienten nicht umgerannt zu werden, klagte den Pfarrer Guido Stromer laut genug an, daß er allerdings seinen Sinn geändert hätte. Oft stand er sonst bei ihr still und hatte gefragt nach Diesem und Jenem, von dem er wissen konnte, daß sie der Fürstin davon wiedererzählen würde; jetzt aber, in gewählterer Kleidung, mit bunten Tüchern und Westen, rannte Guido Stromer gleich allen andern Weltkindern an ihr vorüber und that, als wenn er sie nicht mehr kannte und ihm eine Minute verlorenginge, die er hoffen durfte, in der Nähe dieser neuen Halbbesitzer von Plessen und Hohenberg zu verweilen! Schon in den zwei Jahren, als der Fürst allein hier walten durfte (jedoch niemals ernstliche Anstalten dazu traf und nicht selbst erschien), hatte sich Stromers frühere Gesinnung sehr abgekühlt, wie die alte Brigitte oft genug der Frau Pfarrerin klagte. Diese, eine sehr einfache und nur in ihrem [282] nächsten Kreise wirkende, mit vielen Kindern geprüfte und, man kann wol sagen, von ihnen völlig zerbröckelte und zermürbte Frau, ließ sich nicht gern auf Dinge ein, die ihr in Allem stark und sehr selbstbewußt auftretender Mann allein vertheidigen mochte. Stromer gehörte zu einer gewissen Classe von Gelehrten, die man »ewige Studenten« nennen möchte. Entweder war er wirklich ein Genie oder, was für die Beurtheilung seiner Stimmung wol Dasselbe sagen will, er hielt sich dafür. Pietismus ist solchen Naturen der willkommenste Ableiter eines überstarken Selbstgefühls. Der Pietismus lehrt die Welt verachten und setzt sich über das Urtheil der unausgewählten Menschen hinweg. Guido Stromer war Pietist, solange die Fürstin lebte. Jetzt aber, wo sich die äußern Anlehnungen dieser gottseligen Richtung nicht mehr in dem seiner Eitelkeit schmeichelnden Kreise vorfinden wollten, jetzt brach in dem Manne wirklich die alte Nichtbefriedigung eines sich zu nichts Gewöhnlichem berufen dünkenden Gemüths hervor. Es war ihm oft, – seine arme Frau litt sehr darunter – als müßte er beengende Fesseln brechen, als wäre diese häusliche Umgebung eines Mannes seiner Art nicht würdig, als wären ihm dieses Weib, diese fünf Kinder nur wie von einem bösen Traume angezaubert worden. Guido Stromer war gerade in dieser vollsten Krisis begriffen. Die Erinnerung alter Zeiten erwachte in dem unglücklichen, unruhigen Manne. Er sah das Leben in neuen ihm bisher fern entrückt gewesenen Erscheinungen wieder so sonderbar lächeln, so eigenthümlich [283] nicken und winken. Die nächsten Ansprüche seines Berufs kamen ihm so qualvoll, so geringfügig vor, und obgleich er daheim immer eine gewisse Tobsucht, selbst in seiner frühern demüthigen Periode gezeigt hatte, so war er doch seit einiger Zeit, wie Alle wußten, förmlich aus Rand und Band, warf, die Mägde erzählten's, schon in der Frühe seine Kleider dahin und dorthin, perorirte laut, wenn ihm nicht Alles gleich nach Wunsch sitzen und sogar der Spiegel Beifall schenken wollte. Er war sich unbewußt ein Vierziger geworden. Er sah, daß ihm die »Harmonie der Seele« zwischen ihm und einer fürstlichen Durchlaucht die schöne, unersetzliche Zeit von seinem achtundzwanzigsten bis vierzigsten Lebensjahre gekostet hatte. Er hatte nie zurück, nie vorwärts geblickt. Er hatte sich die große Herrschaft, die er auf die Fürstin ausübte, mit all den interessanten damit verknüpften Anregungen, den Correspondenzen, den Beziehungen zu vornehmen Menschen genügen lassen. Er hatte fast mehr auf dem Schlosse als unter seinem Pfarrdache gelebt. Und nun war die Fürstin todt. Der ausgestreute Same brachte keine Früchte. Er sah, daß er seine Jugend verstreut, verzettelt hatte. Was besaß er? Das Gefühl einer unsäglichen innern Nichtbefriedigung. Oft schlug er sich verzweifelnd an die Stirn. Er rannte im Hause, im Felde, im Walde mit seinem langen gelbblonden, wirren Haar wie ein Besessener umher. Er quälte seine seit Jahren tief verschüchterte Frau, zankte ohne Grund die Kinder. Wie glücklich war anfangs die gequälte Mutter derselben, als die Fremden [284] auf's Schloß kamen! Da wurde ihm anfangs wohl, da schien sein ganzes Wesen elektrisirt. Er bekämpfte wohl Schlurck's Neologie, tadelte wol Reichmeyer's Indifferentismus, aber es waren doch Damen da, die ihn ehrten, anerkannten, die Gräfin Bensheim machte wieder einmal einen flüchtigen Gegenbesuch auf Hohenberg, Frau von Sengebusch, die liebenswürdige Frau von Sänger, ... alles Das gab wieder eine Sammlung, eine Anregung, einen Reiz und die innere schlummernde »Poesie« wachte auf; vollends, als Melanie zuweilen an seiner Seite rauschte .... In der Art, wie manchmal Guido Stromer jetzt sein hier und da etwas graues gelbblondes Haar mit Selbstironie entschuldigte, wie er noch die rüstigste Jugendlichkeit und eine gewisse alte akademische Genialität aus seinen Gesichtszügen und seinem Benehmen sich selbst hervorschmeichelte, glich er dem Geheimrath von Harder trotz des Unterschiedes der Jahre. Auch ihm war Melanie gefährlich geworden und seine Gattin fing zu zittern an, was in ihm wol schlummern, in ihm gähren mochte ...

Schon war auch Eugen Lasally eingetreten und hatte sich ziemlich entfernt von der um einen runden Tisch sitzenden und Thee trinkenden Gesellschaft an die offenen Fenster postirt, wo er eine Cigarre rauchte, deren Dampf er in den Garten hinausblies, als endlich die Flügelthür aufging und Melanie eintrat. Der Moment machte den Eindruck des feenhaftesten Schwebens und Rauschens. Sie hatte eine völlig veränderte Toilette gemacht. Etwas [285] blaß von dem Ritt, der nach einer momentanen Aufregung hintennach doch immer den Ausdruck der Abspannung und Erschöpfung zurückläßt, hatte sie, dieser Erfahrung sich wohl bewußt, ein Kleid von rosafarbenem Krepp gewählt, das in drei mächtigen mit Atlasbändern verzierten Volants wie eine Wellenwoge sie umfloß. Hals und Arme von blendender Weiße waren unbedeckt und ließen nur an den Rändern ein gesticktes spitzenreiches Unterkleid in schmalen Streifen hervorschimmern. Dann und wann zog sie in einer sehr anmuthigen, graziösen Bewegung eine Echarpe von weißem Chinakrepp über Schultern, die oft aus dem weiten Ausschnitt des Kleides verführerisch hervorglitten und den schönen gerundeten Nacken zeigten, den die Echarpe ebenso rasch wieder verbarg. Über dem vollen zierlich zusammengelegten schwarzen Haar lagen, zurückgekämmt mit goldenem Kamm, die Vorderlocken und ließen die Schläfe so frei erblicken, daß man das vollendete Bild griechischer Schönheit zu sehen glaubte. Die Centifolie, die voll und schwer noch als letzter Schmuck im Haar befestigt war, gebührte ihr mit ganzem Rechte, wie ihr jede Blume, jede Frucht gebührt hätte, wenn sie ein anderer Paris der größten Schönheit hätte zuerkennen sollen.

Eugen Lasally warf sogleich die Cigarre, Herr von Reichmeyer die Zeitungen von sich. Der Justizdirector und Guido Stromer stellten die Theetassen auf den Tisch. Sie hatten ihr Erstaunen über die rasche Metamorphose auszudrücken, deren einzelne Bestandtheile zum [286] Zeichen des hier herrschenden vertraulichen Tones von den Frauen analysirt wurden.

Ich bitte, sagte Melanie, schweigt nun! Löst mir nicht Alles, was da jetzt fertig und angepaßt an meiner irdischen Hülle sitzt, gleich in Stoffe und in Ellenwaren auf! Das ist nun mit mir verschmolzen und Eins. Wer mir jetzt von Volants und dergleichen spricht, thut meinem Herzen weh, zu dem sie ... ja, ja – seht sie Euch an! – sie reichen fast hinauf zu ihm. Nein! Ich sage Euch keine Adressen. Kein Wort von Putzmacherinnen! Wollt Ihr still sein von Mademoiselle Florentine, von Fränzchen Heunisch und Luise Eisold! Die Rose dürft Ihr besprechen. Von der sag' ich Euch: von wo sie kommt! Auch wissen sollt Ihr, wohin sie geht ... Ich trage sie als Preis für Den, dem ich heute Abend die Gunst meiner Seele schenke.

Und was muß man thun, um diese Gunst zu erobern? fragte der Pfarrer, der redegewandt nicht ansichhalten konnte und die Aufmerksamkeit davon abzulenken suchte, daß er aus seinem Garten Melanie mit Blumenzusendungen überhäufte.

Nichts thun, Herr Pfarrer, sagte Melanie ... Nein! Nichts thun! Was muß man sein? Was besitzen? Danach soll gefragt werden und lassen Sie mir nur Zeit, über das Seltenste und Schönste nachzudenken, wodurch sich ein Mann auszeichnen kann. Aber wir sind noch nicht vollzählig. Noch fehlt unser alter brummender Hauskater Bartusch und demüthigen Sie sich, meine Herrschaften, [287] noch fehlt der Glanz von Hohenberg, Se. Excellenz, der wirkliche geheime ...

Mit diesen künstlich gezogenen Worten öffnete sich, wie Melanie hinter sich gehört hatte, die Thür und Herr von Harder trat ein. Alles erhob sich. Es war wirklich ein unleugbarer Effect in seinem Auftreten, ein Effect, dem diesmal Niemand widerstehen konnte. Lag die Wirkung nun in dem kleinen silbernen Sterne auf der Brust oder in der gebrannten Perrücke und der höchst gewählten Toilette; oder lag sie in dem Zuletzterscheinen ... genug die Wirkung war da und Excellenz setzten sich, sehr befriedigt von dem Eindruck, den ein Mann seiner Stellung in einem solchen doch nur mittlern Kreise hervorrief ... Wir werden künftig sehen, wie Herr von Harder in der großen Welt doch auch nur klein erschien, hier aber gaben ihm Tournure und selbstgespendete Sorgfalt in der That einen Schimmer von Interesse, der nur bei längerer Dauer sich dann nicht hielt, wenn er nicht künstlich immer wieder angefacht wurde. Melanie übernahm dies Amt. Ob aus neckender Spottsucht oder Coquetterie, ist schwer zu sagen. Soviel aber stand von ihr fest, daß sie sonst wirklich nicht zu den guten lieben Frauennaturen gehörte, die, wie z.B. die edle Anna von Harder that, die Schwester Paulinens, in einer Gesellschaft immer gerade den Bescheidensten hervorsuchen. Melanie hing sich an Den, der der Löwe des Cirkels war. Geist besaß sie wol genug, um Das herauszufühlen, was ihr geistig am meisten hätte genügen müssen; aber ihr Herz schlug [288] nicht warm genug, um zu ertragen, daß man durch die Beschäftigung mit einem Bescheidenen selbst in den Hintergrund tritt. Hier war Herr von Harder der wichtigste und effectvollste und ihm widmete sie sich. Wäre ein berühmter Virtuose in diesem Augenblicke eingetreten und hätte wieder den Geheimrath verdunkelt, so würde sie sich mit Diesem vermittelt haben. Sie war ein Schmetterling, der die Sonne und die leuchtenden Blumen liebt.

Man sprach Viel über Vieles. Die Menschen sind nie so mechanisch und willenlos, wie da, wo sie sich in starker Anzahl ohne einen Zweck vereinigen. Man glaubt dann in der That unter Wesen zu sein, die ursprünglich niederer, halbthierischer Abstammung, nur durch eine eingelernte und angewöhnte Ausbildung sich höher aufschwingen. Man spricht um zu sprechen. Ein Jeder klammert sich an das Unbedeutendste, um daraus eine Art Friction, die man Geselligkeit, Gesprächigkeit nennt, hervorzubringen. Man ergreift Strohhalme und raisonnirt über sie, wie über die Achse der Erde. Ist eine solche Gesellschaft vorüber, so kriecht Jeder wieder in das Schneckenhaus seines Interesses zurück, bleibt Dem Feind, den er scheinbar heute als Freund begrüßt hat, und spinnt die wahren geheimen Fäden seines Daseins und Charakters so fort, wie er sie einmal anlegte, um sich durch das Labyrinth des Lebens führen zu lassen.

Man bedauerte die Mühe, die der Intendant mit dem Transport des fürstlichen Mobiliars hätte ...

[289] Für welches Schloß, fragte der Commerzienrath, ist diese Einrichtung bestimmt?

Mein allergnädigster König, antwortete der Befragte, haben darüber noch nichts befohlen.

Mit dieser kurzen Erwiderung war eigentlich dies Thema abgeschnitten. Allein Stromer, der sich seit einigen Tagen wieder in jener feurigen, vulkanischen Stimmung befand, brach bei dieser Veranlassung durch und sprach folgendes Bedeutungsvolle:

Wenn nur Alles zusammenbleibt! Wenn nur Keins vom Andern getrennt wird! Das ist ja ein Leben, ein ganzes Dasein, was in einem solchen durch Jahre hindurch gesammelten Hausrath liegt! Man würde ja hier einer Blume die Staubfäden entreißen und sie für echt und vollkommen nicht mehr auszugeben wagen dürfen, wenn man dieser Einrichtung irgend etwas entzöge oder sie wol gar theilte! Ja, ich gehe soweit, daß ich das Verwehen des Staubes, des Duftes beklage, den solche gewohnte Spuren eines bedeutenden Lebens – und ein solches hat mit der Fürstin ausgeathmet – zuletzt annehmen! Wie stand da nicht Eines neben dem Andern in gewohnter Symmetrie! Das Bild des Heilandes prangte in einem geöffneten Flügelschrank von ausgelegter altdeutscher Arbeit. Immer schmückten Blumen diese der Fürstin heilige Stätte. Wie oft betrachtete sie die Häupter der Blumen, die sich hier so sanft, so allmälig neigten, immer matter, immer matter, und zu den Füßen des Erlösers allmälig welkten, sowie er. Es sind Das da Kronen, sagte sie mir einmal, [290] Diademe sind's und Ritterhelme, die so vergänglich vor dem Herrn und König der Welt versinken. Und sie duldete nicht immer täglich frische Blumen, sie wollte erst die alten sterben, vergehen sehen, todt und geknickt, wie der Erlöser. Sie war so sinnig, die liebe Frau in ihrer stillen Schwärmerei! Und wenn wir auch durch ihren Tod hier Alle, die wir sie umgaben, wie von einem schweren Traume befreit sind, der unsere Sinne gefangen nahm und uns zu sehr, zu sehr von der üblichen Ordnung des Lebens abzog, so ist ihr doch nur das Lob der edelsten Eigenschaften nachzusagen, und wenn ich wagen könnte, durch Ew. Excellenz Mund zu unserer zartfühlenden Landesmutter zu sprechen, so würd' ich bitten: Lassen Sie diese sinnige Einrichtung beieinander! Stellen Sie diese Schränke, diese Tische, Stühle mit den vielen Andenken der Liebe, den gestickten, von frommwirkenden Vereinen ihr gewidmeten Kissen, den eingerahmten Blumenstücken, den gußeisernen, bronzenen, elfenbeinernen kleinen Nippsachen, die treffend gewählte Bibliothek und besonders die werthvollen Bilder, die das Beste in Stichen wiedergeben, was Overbeck, Wach, Veit geleistet haben, der Gemälde nicht zu gedenken, von denen einige Originale sind und keinen vorübergehenden Werth ansprechen dürfen, stellen Sie alles Das in irgend einem Landsitze des erhabenen Königspaares auf! Man bewahrt auf diese Art ein Gemeinschaftliches, das mir vorkommt wie ein wandelbarer, fernwirkender, geheimnißreicher, elektrischer Leiter. Aus der Liebe geboren, weckt es Liebe. Ich bin [291] gewiß, Niemand wird diese drei Zimmer der Fürstin, selbst wenn sie, wie weiland die heilige Krippe von Bethlehem nach Loretto, anderswohin übersiedelt würden, ohne innerlichste, tiefste Anregung betreten und von dem Odem unergriffen bleiben, der früher in ihnen wehte.

So sprach Guido Stromer, den wir bei dieser Gelegenheit schon vollständiger kennen lernen. Als er diese Worte, die fast eine Rede waren, geendet hatte, blickten natürlich Aller Augen zum Intendanten und erwarteten von ihm eine Erwiderung. Guido Stromer hatte einen Wunsch vom Herzen geschüttet, der etwas Feierliches hatte. Der Geheimrath repräsentirte in dem Augenblicke. Die Einzige jedoch, die den gewaltigen Widerspruch einer so beredt vorgetragenen geistvollen Bitte und eines so unglaublich beschränkten Kopfes, wie Henning von Harder, sogleich ganz übersah und nachfühlte, war vielleicht nur Melanie's Mutter. Melanie hatte für lange Perorationen überhaupt keinen Sinn. Hannchen Schlurck aber, die Mutter, überdachte in ihrer üblichen trockenen Weise diese Situation ganz kurz und sprach ihr Resultat leise zur Frau von Reichmeyer, die in ihrer Nähe saß, mit den Worten aus:

Was nutzt der Kuh Muskate!

Herr von Harder schwieg nämlich ganz und nickte nur, statt aller Antwort. Er nannte sonst, von seiner Gattin unbelauscht, Äußerungen, wie sie der Pfarrer hier vorgetragen hatte, »schwülstig« und verwies auch ihre Beantwortung meist an seine Frau, die ein Organ dafür [292] hatte. Er belächelte Alles, was ihm zu schwunghaft auftrat. Wußte er doch von seiner Gattin, wie künstlich oft die Schwingen erst angebunden werden müssen, mit denen die großen Geister vorgeben, natürlich zu fliegen ...

Melanie übernahm es daher, das Gespräch fortzuführen.

Ich wäre gerade im Gegentheil dafür, sagte sie, daß eine so werthvolle Einrichtung ganz getheilt und überallhin zerstreut würde. Gehet hin in alle Welt und lehrt und prediget! Das kann man auch diesen kleinen Herrlichkeiten der frommen Fürstin zurufen. Da kommt ein Briefbeschwerer Dem wieder vor Augen, dessen Briefe oft darunterlagen, eine kleine Stickerei Dem, der dazu Subscriptionen sammelte, und wenn sich dann in Allem, wie Sie versichern, Herr Pfarrer, jenes gewisse Parfüm, der schöne Duft der Liebe und Andacht wiederfindet, so wirkt Das sogar noch Wunder. Es macht Proselyten, bekehrt Heiden. Es gewinnt, ohne daß ein starres Herz es ahnt, wie ich immer, wenn ich bei der unglücklichen Anna von Harder in Tempelheide die Windharfe im Parke flüstern und klagen höre, von Gefühlen bewegt bin, die ich selbst nicht habe, mir aber aus Andern herausdenke.

Man fand auch diese Auffassung charmant. Der Geheimrath lächelte wieder und dachte bei sich, wozu diese Reden alle! Ich halte mich an den Buchstaben meiner Instruction! Was kann ich von meiner sentimentalen Schwägerin Anna und ihrer Windharfe im Dienste meines Monarchen brauchen?

[293] Stromer aber drohte der Sprecherin mit dem Finger und mit blitzenden exaltirten Augen.

Zu weltlich! zu weltlich! sagte er. Aber Sie mögen in Ihrem Sinn Recht haben! Ich wollte nur in dem meiner verstorbenen Gönnerin mich aussprechen. Wenn man so viele Beweise der Huld empfing, wie die Fürstin mir zutheilwerden ließ, so ist man verpflichtet, das Gedächtniß der Spenderin in ihrem Geiste aufrechtzuerhalten. Ach! Ich fühle wohl, wie mit den Menschen auch die Gedanken sterben, die sie zu verwirklichen schienen. Ich bin jetzt über zwölf Jahre in diesem Orte und habe zehn Jahre lang täglich mindestens einige Stunden hier oben zugebracht. Die Fürstin war von einer bewundernswürdigen Offenheit und fand eigentlich eine Art von Genugthuung darin, sieh durch Aufrichtigkeit zu demüthigen. Sie gestand jede Unwissenheit ein. Sie hatte, ich darf es so nennen, ein katholisches Princip, das ich natürlich nicht ganz billigte. War sie von irgend einem Gegenstande lebhaft erfreut, so schenkte sie ihn sogleich weg. Sie wollte ihr Herz an nichts hängen, außer an die Betrachtung des Ewigen. So gern hätte sie die allgemeine Beichte unserer Kirche in eine Ohrenbeichte verwandelt und sich über jeden Fehler umständlich und unter Thränen ausgesprochen. Denn erst dadurch, sagte sie oft, kommt mir die Erleichterung von dem Druck, daß ein Anderer ganz weiß, was ich that. Was sind Sünden, die man nicht bekennt! Sie schrieb viel, zerriß es wieder, ließ aber auch Manches stehen. Ich warnte sie oft vor der Gefahr, die mit dem Buchstaben [294] verbunden ist, aber es erleichterte sie, sich schriftlich auszusprechen. Einige solcher Betrachtungen hab' ich ja als Manuscript für Freunde später drucken lassen. Sie gefielen natürlich nur da, wo man die rechte Stimmung mitbrachte. Jetzt freilich würd' ich mich weniger so ganz darin verlieren, da die persönliche Beziehung fehlt und nur für das Persönliche sprech' ich ja.

Melanie's Mutter, um der drückenden und allzu persönlichen Vortragsweise Stromer's einen Damm zu setzen, sagte mit angenehmem Lächeln offen und ehrlich:

Ja, ja, Herr Pfarrer, tragen Sie nur jetzt den Kopf ein bischen mehr nach oben und lassen Sie die alten Zeiten ruhen! Es sind nun Leute in dies Schloß gekommen, böse, böse Leute, die sich gern freuen, daß es in der Welt hübsch munter und lustig hergeht. Wer nach uns einzieht, kann man freilich nicht wissen. Aber wer's auch sei, Herr Pfarrer, bleiben Sie nur jetzt bei unserm Glauben. Wollen Sie Das? Immer! Wissen Sie, es hält oben, und einmal lebt man nur. Das ist zwar Alles recht dumm geredet, aber gesund ist's, darauf verlassen Sie sich, und Ihre liebe Frau blinkt mir schon zu und meint: Justizräthin, da treffen Sie, was ich seit zwölf Jahren dachte. Nicht wahr?

Alles lachte über dieses derbe, ehrliche Votum. Melanie sprang auf, die Mutter zu umarmen.

Du bist köstlich, Mama! sagte sie; ja baue du die Brücke, auf der der Herr Pfarrer wieder ins Leben zurückkehrt. Ein so junger liebenswürdiger Mann! Ich[295] sage Das, Frau Pfarrerin, Ihnen zum Trotz! Ich sollte nur hier wohnen und eine Zeitlang die Fürstin von Hohenberg spielen dürfen! Wie wollt' ich die Fenster aufreißen und Luft hereinlassen! Wie wollt' ich in die Hütten gehen, wo früher für die Heiden gesponnen und genäht wurde, und die Leute lehren, auch noch an viel schlimmern Menschen Geld zu verdienen! Und dann käme Excellenz und zauberten uns hier einen seiner schönen Gärten wie in Buchau oder Solitude, wo die herrlichen Fontainen springen, die Wasserfälle rauschen und die Schwäne auf den Teichen schwimmen ...

Eines Inspectors Mangold, der des Geheimraths rechte Hand war und nach englischen Studien alle diese Verschönerungen angegeben und lenkte, wurde dabei natürlich nicht gedacht ...

Habe zwei neue Schwäne kommen lassen – sagte der Intendant – aus Island – diplomatische Vermittelung mit Dänemark – seltene Race – sehr elegante Thiere – allerliebst!

Ich kenne sie ja, sagte Melanie. Im Atelier des Professors Berg wurden sie copirt zu einem reizenden Ledabilde, das Heinrichson entwirft ...

Heinrichson – ganz recht! fiel der Intendant ein. Meine Frau protegirt Heinrichson und hat mich veranlaßt, ihm die beiden isländischen Schwäne aus Island kommen zu lassen, wollt' ich sagen, zu versprechen, ... daß sie ... ich meine, daß sie ihm aus dem königlichen Ankauf geliehen wurden ...

[296] Das mehrfache Versprechen war für Diejenigen komisch, die da wußten, daß Frau Geheimräthin von Harder für den schönen und eleganten Maler Heinrichson wol noch größere Opfer gebracht hätte, als nur eine Veranlassung, daß zwei schöne wilde Schwäne ... vom König für ihre Privatinteressen angekauft wurden ...

Lasally kannte dies Verhältniß und wollte sich einige spottende Bemerkungen darüber erlauben. Doch unterbrach ihn Melanie:

Heinrichson war von dieser Aufmerksamkeit so gerührt, daß er auch der Freundin der Geheimräthin, Frau von Trompetta, versprochen hat, ein Blatt für ihr Gethsemane zu malen.

Bitte, sagte der Geheimrath scherzend, bitte Fräulein Melanie, nicht der Frau von Trompetta, sondern mir, mir direct hat er es versprochen. Ich hab' ihm die beiden Schwäne, festgebunden natürlich, selbst gebracht, wie sie vom Schiff kamen und war dabei, als er sie zeichnete ... Sie waren schrecklich wild ...

Ganz Recht, fuhr Melanie lachend fort, aber Frau von Trompetta stand doch während dem Acte hinter einer spanischen Wand –

Ofenschirm, verbesserte der Geheimrath.

Gut, Ofenschirm ... und gedeckt von diesem Sittlichkeitsfächer unterhandelte Frau von Trompetta mit Heinrichson über das Gethsemane und schrie entsetzlich über die bösen Schwäne und verwünschte die frivole Malerkunst und eine große hölzerne Puppe ....

[297] Melanie konnte vor Lachen nicht weiter.

Ja, sagte der Geheimrath, ganz Recht! Die große hölzerne Puppe sollte nämlich den Moment bezeichnen, wo die Lady von den Schwänen beängstigt wird. Die Puppe stellte die Lady vor –

Die Leda, corrigirte Melanie – Leda, Excellenz!

Ganz Recht! Die Puppe war die Lady und der Schwan, nicht wahr? Der Schwan war eine verkleidete Gottheit ....

Jupiter! rief Melanie, während alle Die, die ein wenig Mythologie verstanden, sich auf die Lippen bissen und die Übrigen gespannt zuhorchten ....

Ganz Recht, Jupiter ... in einem Travestissement ... es ist nur eine Maskerade ... und mein Franz hielt den einen isländischen Schwan so fest an den Flügeln, daß das wilde grimmige Thier furchtbar tobte und mit den Flügeln ausschlug ....

Und Frau von Trompetta hinter dem Ofenschirme schrie – erzählte Melanie unter fortwährendem Lachen – schrie, als stäke sie am Spieß und rief: Excellenz, er beißt! er beißt!

Er biß auch, sagte der Geheimrath. Bei Gott! Er hat Franzen gebissen ... schickte deshalb in die Thierarzneischule ... beinahe hätte ja das wilde Thier die ganze hölzerne Lady in Grund und Boden zertreten ....

Leda! Leda! Excellenz; eine allerliebste Nymphe aus dem Alterthum – berichtigte Melanie.

Enfin, schloß Baron von Harder, der sehr angenehm ins [298] Feuer gerieth, enfin, Frau von Trompetta fiel über diese antike Scenerie in Ohnmacht, und meine Frau, die ja dabeistand, wußte nicht, womit wir sie anders trösten sollten, als ....

Ich zeichnete im Nebenzimmer, unterbrach Melanie, und beobachtete den ganzen Vorfall. Die geistreiche Frau Geheimräthin schalt Frau von Trompetta in einem kaum unterdrückten Zornausbruch kindisch und sagte vor allen Malern: O, schämen Sie sich, Trompetta. Sie fürchten sich vor Schwänen und reden den ganzen Tag vom Schwanenorden! Das sagte sie und fügte hinzu: Das ist nun da ein Schwan, ein echter isländischer! Und nun machen Sie den Lärm! Aber, bei aller Achtung vor der Geheimräthin von Harder, ich hielt diese Vorwürfe für ungerecht. Ich glaube, Frau von Trompetta fiel in Ohnmacht nicht über das Beißen der Thiere, sondern über das Sujet des Herrn Heinrichson, über die Puppe, über die Idee des Ganzen. Heinrichson zeichnete lachend und freute sich, je wilder und toller sich das abscheuliche Thier gebehrdete ....

Die Schwäne machten Aufsehen, fuhr Herr von Harder fort. Man wollte sie sehen, alle Freundinnen meiner Frau wohnten den Wiederholungen der Action bei, und Frau von Trompetta ... denken Sie sich, Frau von Trompetta gewöhnte sich an das Schauspiel und hatte später selbst darum gebeten, noch einmal dabei sein zu können, falls sie von der Estrade in dem Atelier aus zusehen dürfte. Aber wie gesagt, das erste mal, aus Furcht, gebissen zu werden, fiel sie in Ohnmacht, sodaß meine Frau nichts [299] Anderes wußte, sie wieder ins Leben zurückzurufen, als daß Heinrichson – ein berühmter Maler, sehr ausgezeichneter Künstler und Weltmann – versprach, meiner Frau zu Gefallen und aus Dank für die königlichen Schwäne ihr nun auch ein schönes Blatt für das Gethsemane zu machen.

Ah! sagte man allgemein, von der Anekdote vortrefflich unterhalten. Alle lachten, selbst Frau Pfannenstiel. Nur Einem schien dieses Durcheinander von Lachen, Erzählen und Fragen im höchsten Grad unheimlich, dem Pfarrer Guido Stromer. Die Ausdrücke: Maler, Schwan, Schwanenorden, Leda, Solitude, Gethsemane – gingen so bunt an seinem Ohr übereinander weg, daß ihm schwindelte. Aber die heilige Entrüstung, die er sonst bei einer Erzählung würde gefühlt haben, die so ganz und gar nicht in die alten Erinnerungen dieser Räume paßte, überkam ihn zu seinem eigenen Staunen nicht mehr. Zu lachen vermochte er freilich nicht. Fehlten ihm doch die Verbindungsfäden näherer Bekanntschaft mit den Personen und die genauern Details. Aber es war da Etwas in ihm von eigenthümlichen Jugenderinnerungen, die ihn ergriffen und ihn wonnig überrieselten. Er gedachte, so im Stillen grübelnd, der Zeiten, wo er noch in akademischen Jahren den Trieb hatte, bei einem berühmten Archäologen Kunstgeschichte zu hören, wo er noch mit aufmerksamer, herzinniger Betrachtung durch die Säle einer Kunstausstellung schreiten und marmorne Gestalten mit Professor Tholuck, den er in Halle später hörte, noch [300] nicht Götzenbilder nannte! Er strich sich nachdenkend über die Augen, er, der außer Melanie der Einzige war, der etwas Genaueres von der Mythe der Leda, die die Unwissenheit des Intendanten mit einer Lady verwechselt hatte, verstand und diese Mythe zu deuten wußte. Als nach dem Lachen eine Pause eingetreten war und Alles nun zu ihm, dem heiligen schweigenden Manne, mit einer gewissen Befangenheit hinblickte, sagte er mit sehr leiser Stimme:

Ich wollte mir nur die einfache Frage erlauben, was es mit dem vorhin mehrerwähnten Gethsemane der Frau von Trompetta für eine Bewandtniß hat?

Melanie erklärte es ihm, indem sie noch einige Entdeckungen über die Art, wie Frau von Trompetta ihr Album zu sammeln und einer gewissen geräuschvollen Wohlthätigkeit zu widmen verstand, zu erzählen wußte.

So! so! war Stromer's ganze Antwort. Er versank in ein stilles Nachdenken und spann Betrachtungen für sich aus, die ihn auch auf die große Ähnlichkeit führten, die zwischen einer von ihm einst bewunderten Leda der dresdener Galerie und der reizenden Melanie bestand. Er blickte nieder, brütend, abwesend und nur unheimlich schoß sein Auge zuweilen einen Blick empor, der forschend über die Versammlung glitt. Er überdachte einen andern Entwickelungsweg, den er hätte zurücklegen können, wenn die hohe Frau, die ihn an den Pietismus, an sein einfaches Weib, an seine fünf Kinder und diese Dorfpfarre fesselte, nicht eine Fürstin gewesen wäre ....

[301] Nachdem sich, wie immer, wenn ein Gegenstand erschöpft ist, um den Theetisch eine gewisse Stille eingestellt hatte und Henning von Harder noch in dem Gefühl, durch interessante Entdeckungen eine ganze, wenn auch seiner nicht würdige Gesellschaft angeregt zu haben, sich wiegte, versuchte nun auch der Commerzienrath von Reichmeyer sich geltendzumachen. Er stellte seine Theetasse auf den runden Tisch, auf dem inzwischen schon die große Lampe aufgetragen wurde, räusperte sich und bemerkte:

Soeben las ich in der Zeitung die Ankunft des Prinzen Egon von Paris.

Wer kennt den Prinzen Egon? fragte Melanie mit einiger Lebhaftigkeit, ohne jedoch aufzuhören, sich in einem Fauteuil lang auszustrecken und dabei sorglos und fast abgespannt mit einem Fächer von Maraboutfedern zu spielen.

Als Alles schwieg, richtete sie ihren Blick auf den Intendanten und sagte:

Sie vielleicht, Excellenz?

Ich habe nicht die Ehre, Se. Durchlaucht zu kennen, bemerkte Herr von Harder.

Commerzienrath von Reichmeyer theilte daher mit, was er wußte.

Der Prinz, sagte er, kann jetzt etwas über sechsund-zwanzig Jahre alt sein. Er wurde von seinem zwölften Jahre in Genf erzogen, kam achtzehn Jahre alt nach Deutschland zurück, um jedoch sogleich die Universitäten [302] von Bonn und Heidelberg zu besuchen. Er versuchte dann ein Jahr in der Nähe seiner Familie zu leben, war aber so wenig mit den Maximen seines Herrn Vaters in Einklang zu bringen, daß er Deutschland wieder verließ, nach der Schweiz zurückkehrte und auf Reisen theils in Frankreich, theils in England zubrachte. Eben im Begriff nach Nordamerika sich einzuschiffen, traf ihn die Kunde vom Tode des Generalfeldmarschalls. Mit der bestimmten Erklärung, sich den Antritt seines überschuldeten Vermögens noch vorzubehalten, einer Erklärung, die er an die Curatoren der Masse vorausschickte, ist er nun zurückgekehrt; indessen hoffen wir Alle, daß er sich von diesem Entschlusse abbringen läßt und durch weise Sparsamkeit von den Besitzungen, die einmal seinen Namen tragen, soviel rettet, als noch zu retten ist.

Melanie nannte Das geschäftliche Äußerlichkeiten. Sie wollte Anderes von dem Prinzen Egon hören. Wie sein Äußeres wäre, sein Wuchs, die Farbe seiner Haare, sein Wesen und Benehmen ....

Nach Allem, was man hier und da von dem Prinzen erfahren hat, sagte sie mit trockenem ironischem Humor, muß man wol darauf rechnen, in ihm eine große Ähnlichkeit mit Sr. Excellenz zu finden.

Diese Bemerkung fiel natürlich allgemein auf.

Wie so? In der That? Mit Excellenz?

Da wir nicht hoffen können, fuhr der Schalk fort, daß der Prinz mit meinem guten Vater, den er zu hassen scheint, weil er sein Herz nicht kennt, verkehrt, so bleibt [303] uns nichts übrig als uns an Diejenigen zu halten, die ihm ähnlich sehen. Man rühmte mir schon oft den eleganten Fuß und die kleine weiße Hand des Fürsten ....

Über diese Spitzbüberei brummte die Mutter etwas erschrocken vor sich hin und Alle fühlten, daß Melanie die Gesellschaft auf Kosten eines Mannes, der den Spott nicht merkte, unterhalten wollte. Harder erröthete, er wurde unruhig. Er rückte mit dem Stuhl und schien plötzlich sprachunfähig.

Auch Eugen Lasally erschrak. Er schien an Melanie's Komödienstreichen keinen Gefallen zu finden und drückte Dies genugsam durch die Schärfe des Tones aus, mit dem er das Wort ergriff und sagte:

Prinz Egon gilt unter den Leuten, die ihn kennen, für einen halben Gelehrten. Manche seiner Universitätsfreunde nennen ihn überstudirt. Er soll erst die Rechte getrieben haben, jetzt aber ein Narr sein. Man sagt, er hat drei Handwerke, Tischler, Schlosser und noch eins gelernt, ich weiß nicht, Horndrechsler, Friseur, Kammmacher oder welches andre solide Metier!

Während jetzt besonders Herr und Frau von Zeisel über diese Äußerung eines kecken jungen Fremdlings erschraken, bestand Melanie sogleich darauf, diese dritte Profession müßte die Kammacherei sein ....

Das Haar ist die schönste Zierde des Menschen, rief sie. Ob ein Haar sich gefällig lockt oder schlicht am Scheitel fällt, ob es die Stirn bedeckt oder ihre Fläche frei erglänzen läßt, immer ist es der lebendigste Sprecher für [304] den Charakter, der in dem Kopf unter ihm schlummert. Kammmacher, nicht wahr, Excellenz?

Herrn von Harder war diese Bemerkung allein gewidmet. Sie galt seinem Haar. Aber, im Hause des Gehenkten ist nicht gut von Stricken reden. Der Blick auf seine pariser Bagno-Perrücke, die Franz, sein Bedienter, wie das natürlichste Haar zu kräuseln verstand, erschreckte ihn doch. Es war ihm daher nur erwünscht, daß man vom Scherz auf Ernstes zurücklenkte ....

Wir lachen, sagte der innerlich etwas entrüstete Justizdirector von Zeisel mit beklommener Stimme, wir lachen über die wunderlichen Sagen, die man sich von Sr. Durchlaucht, meinem gnädigsten Prinzen Egon erzählt. Soviel steht allerdings fest, daß Prinz Egon ein ... ein ... ein sehr unglücklicher junger Mann ist. Denn ... erlauben Sie die Bemerkung ... denn denken Sie sich eine Jugend, die allerdings nicht behaglicher, angenehmer sein konnte, als noch die reichen Mittel des Vaters, ich sage, als diese noch ... noch beisammen waren. Aber schon im genfer Pensionat muß er gefühlt haben, wieviel ... sozusagen ... wieviel Störungen in dem Hauswesen seiner Ältern eintraten. Als er, es war gerade Winter und die Fürstin in der Residenz, von Genf zurückkam ... entdeckte er ohne Zweifel die gewaltige, wie soll ich's nennen? allerdings ... die Zerrüttung des schon lange gestörten ... oder ist Das zuviel gesagt? ... nein! allerdings – des gestörten häuslichen Friedens zwischen den beiden hohen Personen. Wir sahen ihn hier gar nicht. Er bezog sogleich im nächsten Frühjahr [305] die Universität. Nach seinen akademischen Studien lebte er mit seiner Mutter einige Wochen auf den Gütern der Familie, über die sie damals noch ... hm! hm! ... ja noch! ... im obern Gebirge frei ... ja allerdings – frei zu schalten hatte. Dann ist er, wie ganz richtig erzählt wurde, sozusagen verschollen, und was man von ihm erfuhr, war in der That ein wunderbares Durcheinander der seltsamsten Dinge, die er, wie man erzählt – hm! hm! treiben, wenn man diesen Ausdruck brauchen darf – treiben soll und unter Anderm allerdings auch die Nachricht über seinen Entschluß, sich ... wie soll ich's nur nennen? ja allerdings ... sozusagen, sich mechanische Fertigkeiten anzueignen.

Und niemals war er in Hohenberg? fragte man, nach dieser höchst discreten Rede eines taktvollen und feinfühlenden Beamten, allgemein erstaunt und sah dabei auf Guido Stromer, der noch immer abwesend und wie in Träumen verloren schien.

Herr Pfarrer! Herr Pfarrer! hieß es, wo waren Sie?

Ei! ich wette, sagte Melanie, Sie sind noch immer bei der Scene mit dem Maler Heinrichson. Ja! Ja! Sie überlegten, wieviel Genuß Ihrer verstorbenen Freundin, der Frau Fürstin, die Bekanntschaft mit dem Album der Frau von Trompetta verschafft haben würde.

Guido Stromer war allerdings noch bei jener Scene, aber im völlig andern Sinne. Dennoch sammelte er sich und sagte:

Ich leugne nicht, daß ich das Vertrauen der Fürstin in [306] seltenem Grade besaß, und überlegte bei mir im Stillen, wie sie wol eine so erpreßte Wohlthätigkeit, von der Fräulein Melanie erzählte, beurtheilt haben würde. In ihrem Geiste sagte ich mir: Wenn der Künstler soll mit Gewalt gezwungen werden, in das Gethsemane einen Beitrag zu stiften, so ist ja in der That dieses Album recht ein Thränengarten, wie der Name bedeutet, und Judas der Verräther lauert ja mit dem falschen Kuß der Liebe an seinem Eingang. Frau von Trompetta gleicht da dem heiligen Crispinus, der den Reichen das Leder stahl, um den Armen daraus Schuhe zu machen. Nimmermehr würde die selige Fürstin eine solche Unternehmung, etwa durch Übernahme von Loosen, unterstützt haben. Denn es liegt doch wol kein Segen in Dem, was nicht aus reiner Quelle fließt ....

Nun, Herr Pfarrer, meinte Herr von Reichmeyer, der erst seit seinem letzten Knaben Christ war, wenn das Album mit zweihundert Louisdors verkauft wird und der Betrag, ich will einmal sagen, an das Waisenhaus käme, um den Kindern daraus warme Jacken anzuschaffen; die Jacken halten ebenso warm, ob nun das Album zusammengebetet oder zusammengebettelt wurde.

Stromer horchte auf und betrachtete den witzigen Sprecher mit ernster Miene. Und gleichsam als würdigte er ihn keiner Antwort, wich er der weitern Debatte mit den leisen Worten aus:

Irr' ich nicht, so hört' ich vorhin den Namen des Prinzen Egon erwähnen?

[307] Melanie, die eine unbehagliche Stimmung in der Gesellschaft nicht wollte aufkommen lassen, bestätigte diese Bemerkung.

Allerdings! sagte sie. Er ist ganz frisch von Paris angekommen. Kennen Sie ihn, Herr Pfarrer?

Geistig sehr wohl, sagte Stromer. Gesehen hab' ich ihn niemals.

Er war auch zu Ihrer Zeit nicht in Hohenberg? bemerkte Herr von Zeisel und fügte bei:

Seit meinem Amtswirken wenigstens ist er abwesend.

Doch! doch! lieber Herr Justizdirector, erzählte Stromer; Prinz Egon lebte bis in sein vierzehntes Jahr größtentheils hier in Hohenberg. Mein Amtsvorgänger war damals sein Erzieher. Später verbrachte er, nach vollendeten Universitätsstudien einmal acht Tage hier – acht Tage – wo Sie eine Inspectionsreise machten und ich, entsinnst du dich, Linchen, lag ja wol krank?

Linchen, seine Frau, nickte. Sie war so schüchtern, kaum ein leises Ja! zu flüstern.

Als ich wieder vom Krankenlager erstand, fuhr Stromer fort, erzählte mir die Fürstin, wie wenig sie sich mit ihrem Sohne verständigen könne. Beide Gemüther, in so vielen Dingen nahe verwandt, trennten sich gerade in den wichtigsten Lebensfragen. Sie liebte den Prinzen, ihr einziges Kind, mit einer Leidenschaft, deren Ausbrüche mich oft in Angst versetzten. Nie konnte sie seiner ohne Thränen gedenken. Wenn sie einen Brief von ihm empfing, klopfte ihr das Herz mit hörbaren Schlägen. Sie [308] schluchzte, indem sie ihn las, und gestand mir, daß sie sich durch dies Kind oft unglücklicher fühle, als selbst ein Mutterherz tragen könne. Rudhart, mein Amtsvorgänger, hatte dem Prinzen die ersten Grundlagen seiner Bildung gegeben. Es war Dies ein strenger, unfreundlicher Mann, der in der Religion nur eine gegenseitige Übereinkunft der Menschen sah, sich nicht zu morden und zu bestehlen. Diese Übereinkunft war ihm durch den Lauf der Zeiten so oder so verbrämt, bunt und willkürlich ausgeschmückt, sodaß er Christenthum und Islam ineinanderwarf, wenn nur der äußerste Zweck einer gewissen moralischen Haltung und Erziehung durch diese Religionsformen erzielt wurde. Als dieser Seelsorger, ein sonst sehr achtbarer Mann, unserer Gemeinde entsagte und zu einer deutsch-russischen Familie in Liefland zog – er scheint jetzt verschollen –, war mit der Fürstin schon längere Zeit jene Veränderung vorsichgegangen, die sie bestimmte, nicht nur einen Geistlichen der jüngern und neuern Richtung zu wählen, sondern auch ihren Sohn vorzugsweise nach Genf zu schicken in die Anstalt des Professors Monnard, wo sie gewiß sein durfte, ihn nach ihren Principien erzogen zu sehen. Solange Prinz Egon in diesem Institut verweilte, erhielt die Mutter von ihm zwar etwas kalte, aber doch in religiöser Hinsicht beruhigende Briefe. Man konnte oft zweifeln, ob diese Briefe der reine Erguß seines Innern oder nur Schulübungen waren. O Gott, rief sie einst aus, wenn diese Briefe von den Lehrern erst deshalb gelesen würden, um auch ihren Geist so zu corrigiren wie die [309] Sprachfehler! Wenn Egon nur aus Furcht, seinen Lehrern zu misfallen, so schriebe, wie ich wünschte, daß es ihm aus innerster Seele käme! Als ich sie dann, die treffliche Frau, damit zu beruhigen suchte, wie ja Allem, was dereinst uns innerlich und ureigen werden solle, doch wol erst etwas Äußerliches und anderswoher Entlehntes vorangehen müsse, antwortete sie: Wie aber, wenn dies ungern Aufgenommene in Egon's Seele nicht haften bliebe, sich nicht in sein eigenstes Blut verwandelte und von seinem eigenen Bedürfniß nach himmlischer Stärke ergänzt würde! Leider trafen diese Befürchtungen ein. Als Prinz Egon, neunzehn Jahre alt, in der Residenz mit der Mutter zusammentraf und die Universität beziehen wollte, schrieb sie mir, wie kalt, ich wiederhole ihre Worte, wie kalt sie sein Herz gefunden hätte. Eis, sagte sie, gab er mir für die Glut meiner Liebe. Ich suchte sie damals zu trösten; ich verfiel, ich weiß nicht wie, auf die Wendung, daß vielleicht einmal ein großes Unglück ihm heilsam werden könnte. Diesen Gedanken hielt sie, als sie nach Hohenberg zurückkam, mit auffallender Zähigkeit fest. Immer wieder kam sie darauf zurück, daß man nur durch Trübsale und Prüfungen zur Erkenntniß seines wahren Heils gelange. Und Wahrheit, Wahrheit, Wahrheit! rief sie eines Tages ganz krampfhaft aus und sank erschöpft in ihren Sessel zurück. Die zerrütteten Finanzen des Vaters gaben viel Veranlassung, dem Prinzen fühlbar zu machen, wie abhängig er doch im Grunde von äußern Umständen und Bedrängnissen war. Aber der Bruch blieb. Mit dem Vater und der [310] Mutter zerfallen, lebte er auf der Universität, ich kann wol sagen, wild in den Tag hinein, schrieb oft in einem halben Jahre nur einmal nach Hause; dem Vater ohnehin nie. Zuletzt bezog er die Summen, deren er benöthigt war, vom Herrn Justizrath Schlurck, der ihm auch den Tod der Mutter, später den des Vaters anzeigte. In den letzten Wochen vor ihrem Tode hatte die Fürstin die Freude, auf Anlaß ihrer immer mehr zunehmenden Krankheit noch einen hingebenden, recht zärtlichen Brief von ihrem Sohne zu erhalten. Sie küßte ihn unter Thränen, sagte dann aber, ernst sich aufrichtend und auf ein Bild des Erlösers blickend: Der ist die Wahrheit und das Leben! – Sie hatte damals noch ihre letzten Kräfte zusammengerafft, um ihr Testament, ein längeres Vermächtniß, an ihren Sohn niederzuschreiben. Ob es in die Hände des Vaters gekommen; ich weiß es nicht. Sie starb, ich wiederhole Brigitten's Erzählung, mit dem sonderbaren Ausrufe: Das Bild –! Mit diesen, wahrscheinlich auf ein Crucifix sich beziehenden Worten lähmte ein Schlag die Zunge und wenige Augenblicke darauf war sie verschieden.

Auf jenen letzten Ruf der Fürstin hin, ergänzte der inzwischen leise schleichend eingetretene Bartusch die eine feierliche Stille verbreitende Erzählung; auf diesen Ruf hin hat der Fürst beim Verkauf des Nachlasses seiner Gemahlin auch angeordnet ...

Bartusch stockte, mit einem Blick auf den Geheimrath, der vom Tode nicht gern erzählen hörte.

Was angeordnet? fragte man allgemein.

[311] Ich vermuthe wenigstens, sagte Bartusch, den Geheimrath dreist fixirend; ich vermuthe, daß die letztwillige Erklärung des verstorbenen Fürsten, alle Familienbilder auf Hohenberg sollten dem Sohne übergeben und von dem Verkauf an das königliche Haus ausgeschlossen bleiben, auf diesen letzten Worten seiner Gemahlin beruht.

Der Geheimrath machte eine unruhige Bewegung.

Herr von Zeisel glaubte ihn zu verstehen und fiel rasch ein:

O, mein Herr Bartusch, es ist diese Anordnung doch wol nur die schuldige Rücksicht eines berühmten Geschlechts auf seine eigene Ehre oder sozusagen ... den Glanz seines Hauses. Nicht wahr, Eugenie?

Eugenie, seine Gemahlin, bestätigte diese Worte mit einem kurzen vornehmen:

Allerdings!

Sie war eine geborene von Nutzholz-Dünkerke.

Nun! Nur soviel weiß ich, vertheidigte sich Bartusch mit vieler Trockenheit und wollte den ihm von der Justizräthin zugeworfenen Wink nicht verstehen; soviel weiß ich, die Fürstin war ohne alles Vermögen. Prinz Egon konnte ein mütterliches Eigenthum nicht beanspruchen. Die Familienbilder und eine aus der Verwaltung des Schuldenwesens für ihn sich herauswerfende Apanage von jährlichen sechstausend Thalern bilden in diesem Augenblick seinen ganzen Besitz. Es wird ihm in Deutschland nicht lange behagen, zumal wenn es wahr ist, daß er Bier trinkt, in die Vereine der Handwerker geht, Colonieen [312] stiften will und ähnliche Phantastereien treibt, mit denen man sich bei uns höchstens eine vorübergehende Popularität erwirbt, aber die vielen Feinde, die sich das Haus Hohenberg so schon zugezogen hat, in den obern Regionen leicht vermehren würde.

Frau von Reichmeyer, die es fühlte, daß sie zu lange geschwiegen hatte, um nicht für beschränkt zu gelten, ergriff diese Gelegenheit zu der Frage:

Woher kommen nur diese Feinde?

Liebe Schwester, sagte Eugen, wer kein Geld hat, hat keine Freunde, und keine Freunde haben ist soviel, wie Feinde haben.

Der Fürst, erklärte Herr von Zeisel, setzte leider seine Würde zu oft aufs Spiel und verdarb es mit denselben Protectoren, denen er es mislich, ja schwer machte, das Wohlwollen, das sie für ihn fühlten, immer auch öffentlich zu zeigen ...

Nein, nein, seien Sie aufrichtig, fiel Stromer ein. Verschweigen Sie nicht, Herr Justizdirector, wovon wir bei unsern nähern Beziehungen zur Fürstin so oft Gelegenheit hatten, uns zu überzeugen; verschweigen Sie nicht, daß es wirklich eine geheim angelegte sonderbare Mine der Intrigue gegen die Fürstin gegeben hat! Sie wissen, wie oft sie über die Bosheit und Heuchelei der Menschen bei wirklich räthselhaften Veranlassungen klagte. Sollte Ihnen entfallen sein, welche Namen sie nicht selten als die ihrer ärgsten Feinde bezeichnete? Ich erinnere Sie an eine Dame –

[313] Stromer hielt absichtlich inne. Herr von Zeisel wurde unruhig, überroth, seine Gemahlin erblaßte, Beide blickten erschrocken bald auf den heute sehr tapfern, angeregten Pfarrer, bald auf Herrn von Harder, dem seit Erwähnung der Bilder dies Gespräch verdrießlich, ja unehrerbietig erschien.

Genug, sagte Stromer. Die Feinde des fürstlichen Hauses mögen verschuldete sein, es sind ihrer aber auch solche, die wol nur dadurch entstanden, daß die Fürstin Amanda in ihrer Jugend sehr schön, sehr liebenswürdig und von aller Welt angebetet war ....

Bei diesen Worten erhob sich Herr von Harder. Er ahnte in ihnen eine Beziehung zu seiner Gemahlin. War er auch wenig in die eigenen Lebensbezüge derselben, die erst seit zehn Jahren seine Gattin war, verwachsen, so wußte er doch, nach der ihm von der energischen Frau gegebenen Anweisung, sehr vollkommen, welche Farbe er in dieser, überhaupt in jeder Gesellschaft halten mußte. Sie sagte ihm ja immer: Sei kalt oder warm gegen Diesen oder Jenen! Und ohne daß er die Gründe dafür erfuhr, war er dann eiskalt gegen Den oder in seiner Weise glühend gegen Jenen. Er wußte vollkommen, daß seine Gattin in ältern Tagen, noch während ihrer ersten Verheirathung – mit ihm führte sie die zweite Ehe – mit der Fürstin verfeindet war; er hatte noch neuerdings, wo gerade auf ihre Veranlassung der Ankauf der Hohenberg'schen Einrichtung betrieben wurde und sie sich vor Ablieferung an den Hof die genaueste Untersuchung derselben in der [314] Residenz bedingte, bei Auseinandersetzung der Gründe, die sie scheinbar dazu bestimmt hätten, das lebendigste Auftauchen der alten Erinnerungen Paulinens beobachten können, und somit überstieg das Gespräch das Maaß Dessen, was er als Gatte und überhaupt als Excellenz glaubte hier so ungeahndet mit anhören zu dürfen ....

Melanie aber rief:

Laßt die Todten ruhen! Was quälen wir uns damit, zu erforschen, was die Verstorbenen noch Alles gedacht oder gefühlt haben mögen! Zürnen Sie nicht, Herr Pfarrer, daß wir so oberflächlich und weltlich sind! Unsere Religion ist die Natur, die Kunst, die Freude! Kommen Sie, wir wollen etwas Musik machen, wenn dieser Tonkasten hier bei guter Laune ist und die Gnade hat, noch einige Klänge herzugeben.

Damit öffnete sie den Flügel, der noch in diesem Saale von den ehemals hier gehaltenen Betstunden stehengeblieben war. Es war ein altes verbrauchtes Instrument, dessen Klang schon vor Jahren nur soweit ausreichte, leidlich eine Melodie anzugeben oder durch kraftvolles Anschlagen der Dominante einen Bauernchor zu verhindern, nicht immer taumelnd in den Octaven herumzuspringen oder einen Vers um eine Terz höher zu schließen als man ihn angefangen hat ....

Melanie schlug eine Polka an. Manche Saite war schon gesprungen, manche sprang jetzt erst. Sie ließ sich jedoch nicht irremachen, sondern begleitete die leicht tändelnde Melodie, die sie spielte, mit den entsprechenden Bewegungen [315] ihres Körpers. Zuletzt gab es denn aber doch ein zu klägliches Durcheinandersummen der ungestimmten Töne. Ärgerlich brach sie ab. Sie konnte aber vollkommen befriedigt sein von dem heitern Erfolge ihrer Improvisation. Man war die feierliche Stimmung los, stand auf, nahm einige kalte Speisen zu sich, die Madame Schlurck nach dem Thee herumreichen ließ, und stellte sich in Gruppen an die Fenster, an den Flügel, an das Kanapee der freundlichen Wirthin.

Guido Stromer aber war nicht der Mann, der sich so leicht entthronen ließ. Er warf sich mit leichtem Geschick auch auf diese neue Wendung des Abends, lobte Melanie's Spiel, rühmte die Speisen, erörterte die kleinsten Dinge durch piquante Commentare und entwickelte dabei immer denselben analytischen Geist, der sich in jede Gedankenreihe mit dem Talente, sie auszuspinnen und sinnig zu verknüpfen, finden konnte. Herr von Harder mied jedoch den vulkanischen Mann. Ohnehin neckte ihn Melanie und wußte ihn, gleich einem Magnet, der in einer Wasserschüssel blecherne Enten und Fische nach allen Seiten zieht, bald in diese bald in jene Ecke zu locken, sodaß er nahe daran war, von dem Nimbus seiner ihn umstrahlenden Würde viel einzubüßen und sich wie Einer der Andern unter den Andern zu verlieren. Als er anfing, doch auch zu freundlich zu zerschmelzen, zu geziert, wie Malvolio in Shakspeare's »Was Ihr wollt«, nach geschnörkelten Phrasen wie nach Fliegen zu haschen, entwand sich ihm das listige Mädchen und ging gerade da, wo er schon [316] zweideutig zu flüstern begann, in einen lauten Ton über, den Alle hören sollten. Man gruppirte sich um sie. Sie neckte Alle. Sie neckte den Commerzienrath mit seinen Staatspapieren, den Justizdirector mit seinen Processen, Eugen Lasally mit seinen Wettrennen, für die er Pferde und Jockeys hungern und mager werden lassen müsse .... So hatte sie es dahin gebracht, daß Alles wieder saß und sich gefallen ließ, Räthsel und Charaden zu lösen, die sie in schnellster Gewandheit, den anwesenden Personen angepaßt, zu erfinden verstand.

Die Überladung, die das eigentümliche Kennzeichen der Häuslichkeit Schlurck's war, brachte auch für diesen Abend, wie für jeden noch eine Collation Champagner. Dieser Wein war bei Schlurck so eingebürgert, daß man wol sagen konnte: er floß bei ihm in Strömen. Es mochte dieser Luxus daher kommen, daß Viele seiner Committenten, Viele der Personen, denen er Häuser, Güter, Geschäfte verwaltete, ihn mit Naturalgeschenken dieser Art gern erfreuten. Ein gewisses prahlerisches Wohlleben war leider die tägliche Ordnung im Schlurck'schen Hause und für so besonnen und klug Melanie's Mutter auch im Praktischen gelten konnte, nach dieser Richtung hin gestattete sie die vollste Freiheit und liebte es, jeden Tag als einen Tag der Freude zu begrüßen und zu beschließen, als ein Fest, wo Abends die Becher blinkten und Morgens wieder Rosen sie frisch umkränzten.

Ja! ja! rief zuletzt der vom Champagner angeregte Stromer, der kein Auge für Linchen, seine bescheidene [317] Frau, den ganzen Abend über gehabt hatte, jetzt aber doch einmal zu ihr, der Dulderin, hinüberschritt mit dem Champagnerglase in der Hand; ja, ja, Lina, wie ist die Welt so schön, wenn man mit der Natur auf vertrautem Fuße steht! Da blitzt der Krystall, da lacht die Rebe, da funkeln Diamanten, auch wenn man Krystall und Diamanten nicht selbst besitzt! Im Auge liegt die Welt, im fröhlichen Auge der Liebe liegt sie gewiß; Liebe verklärt, Liebe besitzt, Liebe verjüngt! O wer sie nie gesehen hätte die schaurigen Schatten der Einsamkeit, wer nie erbebt wäre vor dem Anblicke des Todes! Da würden sie fern geblieben sein die düstern Gedanken, mit denen der grübelnde Mensch sich seinen Sonnenschein verhängt, seine Lauben in Grüfte verwandelt, seine lachenden Fernsichten in Abgründe! Ein Kind, ein Kind zu sein unter Blumen und Früchten! Lina, nichts schleppen als, jenen lieblichen dicken dresdener Jungen des Rubens ähnlich, Trauben, Trauben und Pfirsiche und kleine Kaninchen; o Seligkeit, es ist vielleicht die des Himmels auf Erden. Und wenn wir einst an die Pforte des Paradieses klopfen und sie im Jenseit genießen wollen, sagt uns Petrus: Ihr Thoren, was sucht Ihr hier oben? Die Seligkeit habt Ihr Euch auf Erden ja entgehen lassen! Steigt nun hinunter in das Zwischenreich, wo nicht die Seligen, nicht die Verdammten wohnen. Ach, ich weiß, was da hauset! Es ist die Reue! Die bittere nagende Reue!

Bravo! rief Melanie überlaut und stürzte sich mit komischem Affect Stromer'n fast zu Füßen.

[318] Bravo, Priester! sagte sie und sprach damit die allgemeine den Pfarrer bewundernde Stimmung aus. Auf diesen Glauben gib mir deinen Segen!

Stromer'n, dessen allerdings geistreicher, eigenthümlicher und für deutsche Zustände bezüglicher Natur wir immer näher kommen werden, Stromer'n zitterte das Champagnerglas in der Hand. Einige Tropfen fielen auf Melanie's entblößte Schultern.

Guido! schalt Linchen, seine Gattin.

Mag' es fließen, rief Melanie, während Alle lachten; er taufte mich auf seinen neuen Glauben! Pfarrer! Sie müssen sich zu uns bekehren. Wollen Sie?

Damit stand sie auf und schüttete ihr Glas in das seinige. Wie eine Hebe so schön, hob sie den gerundeten nackten Arm und ließ von oben herab in wohlberechneter Entfernung den Strahl niedergleiten, daß es in Stromer's Glase aufzischte und wie mit tausend Perlen schäumte. Geblendet saß der glühende Mann da und setzte taumelnd das Glas an die Lippen! ... Ah! rief Alles plötzlich erschrocken. Noch nachträglich zu den vielen gesprungenen Saiten im alten Pianoforte der Fürstin sprang eben noch eine der letzten .... Diese Mahnung wie von Geisterhand brachte Guido Stromer'n zur Besinnung. Es überrieselte ihn ein Schauer, als er der Tage gedachte, wo er hier betete und von der Sündhaftigkeit der Creatur sprach .... Aber so wirkte noch die warme Berührung seiner Kniee durch die vor ihm fast niedergesunkene Melanie in seinen zitternden Nerven nach, daß er nur noch in ihrem [319] Anschauen lebte und mit wonniger Spannung zuhörte, als sie in ihr dunkles Haar greifend rief:

Jetzt zum Abschied für heute Abend: Wem laß' ich die Rose hier zum Andenken? Ich wollte sie verschenken. Wehe! Sie ist vom Stiel gebrochen! Armes hülfloses Hundertblatt, wer soll nun deine Stütze, dein Stab und Stengel werden? Wer soll dich mitnehmen und an sein Herz oder in sein Stammbuch oder auch nur in eine einfache Cigarrentasche legen und sich dabei sagen: Melanie gedenkt Deiner, gedenke du ihrer!

Alles sah gespannt auf den Pfarrer und Dieser, bebend, schlug die Augenwimpern nieder.

Ich concurrire nicht, sagte Eugen sogleich mit einer spöttischen, ernsten Miene über Melanie's Übermaß von Coquetterie.

Sie ziehen Ihren Einsatz zurück, Stallmeister, antwortete sie, und wissen nicht, wie Sie gewinnen, ... wenn Sie schweigen! Sie haben heute soviel geschwiegen, Lasally; wüßten Sie nur, welchen Respect man vor Ihnen bekommt ....

Melanie sprach diese Worte so scharf, daß sie unwillkürlich belacht werden mußten, zum großen Ärger der Commerzienräthin von Reichmeyer, die ihren Bruder liebte und Melanie's Gefallsucht umsomehr verabscheute, als auch ihr Gatte von den Netzen derselben umstrickt war. Eugen aber war eine viel harmlosere Natur.

Mein Fräulein, sagte er, Sie wissen, daß ich auf Geist keinen Anspruch mache. In meinem Kreise amüsirt man [320] sich, wenn man gut reitet, gut schießt, Glück bei den Damen hat und die besten Cigarren hält. Um mich gründlich zu bilden und bei einem großen Genie in die Lehre zu gehen, hab ich einmal angefangen, nicht nur Schiller, sondern auch Goethe zu lesen. Ich las »Wilhelm Meister's Lehrjahre«.

Nun, rief Stromer wild. Wie wurde Ihnen da? Ergriff Sie Achtung vor der Bildung?

Bester Herr Pfarrer, antwortete Lasally trocken, als ich las, daß dieser Wilhelm Meister, dieser junge Commis und Ladenschwengel –

Entsetzlich! rief Frau von Zeisel, die Etwas auf Autoritäten hielt und auf Erziehung Ansprüche machte.

Als ich sah, ließ sich Lasally nicht irremachen, daß dieser Wilhelm Meister seine Liebhaberei für Puppenspielereien einer hübschen Schauspielerin erzählt, die dabei einschläft und immer noch von Puppenspielen erzählt, während Marianne schon in seinen Armen schnarcht, habe ich das Buch weggeworfen und mir vorgenommen, bei Gelehrten nicht in die Lehre zu gehen ... man wird da lächerlich, ohne es zu merken.

Melanie strafte ihn aber für diese böse, gegen Stromer gerichtete Anmerkung.

Ein Goetheverächter, sagte sie, bekommt meine Rose nicht.

Es wuchs die Spannung, wem sie ihre Gunst zuerkennen würde.

Dem Witzigsten! hieß es.

[321] Dem Artigsten! .....

Dem besten Reiter! sagte man mit Spott auf den Commerzienrath.

Melanie ging mit der Rose im Kreise umher und wählte und wählte ...

Ich suche seltene Vorzüge, sagte sie, irgend etwas Neues, Bedeutendes ... Wer meine Gunst verdient, muß ... Ah Bartusch!

Mich lassen Sie aus dem Spiele! rief Dieser komisch erschreckt und wehrte die Rose ab zum Gelächter der Übrigen.

Daß Sie heute nicht mit den Fingern rechneten, rief Melanie, nicht an den Nägeln kauten und Ihren alten bösen Husten einmal bei sich behielten, verdiente in der That eine Auszeichnung, und wenn ich bedenke, daß Sie heute sogar noch ein hübsches, glattes, sauber rasirtes Kinn haben –

Der graue Schleicher, verfolgt von Melanie'n, rief kichernd: Gute Nacht! ergriff schnell einen Leuchter und lief unter allgemeinem Spotte davon.

Die doch etwas verletzten Damen wollten seinem Beispiel folgen und aufbrechen.

Nein! sagte Melanie, ihr misgünstigen Schwestern, wird Frauengunst so verschmäht? So wenig Werth gelegt auf eine Rose, die ein Mädchen im Haar getragen? Zur Strafe für die studirten Herren, deren Gattinnen am meisten mit den Stühlen rücken, bekommt die Rose der, der die größte äußere Schönheit besitzt, den kleinsten [322] Fuß und die weißeste Hand .... Herr Justizdirector, strecken Sie Ihren Fuß vor!

Dieser zog seinen furchtbaren Elefantenfuß rasch zurück. Henning von Harder aber merkte etwas .....

Die Hand des Commerzienrathes wurde gerühmt. Sie war rundlich und wohlgepflegt, aber viel größer als Harder's. Und seine Gemahlin bedeckte sie; sie wollte der Posse ein Ende machen .....

Harder war entzückt ..... er zitterte .....

Ich hab's! rief Melanie. Meine Rose ist erobert. Excellenz .... Excellenz hat das Seltenste, was ich je gesehen ....

Was? fragte man erstaunt.

Die kleinsten, zierlichsten Ohren von der Welt! sagte Melanie.

Der Contrast der Würde, die dieser Mann behauptete, und die allgemeine lautlose, starre Bewunderung seiner Ohren, die er mit geschmeichelter Befangenheit wirklich nun zuließ, war im höchsten Grade lächerlich. Die Ohren fand man rings um die Excellenz herumgehend, in der That so klein, daß Herr von Harder nicht ohne Schüchternheit gestand, daß er diesen Vorzug allerdings schon oft an sich hätte rühmen hören. Mit einer Bescheidenheit, als wenn er für eines der größten Geistestalente nichts könne, da es ihm die Natur einmal gegeben, nahm er dann von der in seinem Anschauen wie selig schwelgenden Melanie die Rose entgegen und richtete an die bestrickende Circe eine so verwirrte Anrede, daß man sich an der Eitelkeit eines alten eingebildeten [323] Galanthomme gründlichst weiden konnte. Schwerlich hatte sie bei dieser Neckerei ein Interesse. Was war ihr der Geheimrath? Was war ihr die Huldigung eines vornehmen Mannes, sie, die die zudringlichen Anträge junger Grafen und Fürsten täglich abzulehnen hatte und deren ganzes Jugendleben eigentlich ein ewiges Sichbeherrschen und consequentes »Nein«-Sagen sein mußte .... Prinz Ottokar selbst, des Königs Bruder sogar, hatte sie schon auf Bällen ausgezeichnet ... sie floh nur immer, wich immer nur aus. Was war ihr also die grenzenlose Verwirrung, die sie über den Geheimrath hervorbrachte, anders als eine Tändelei der »Lieb' im Müssiggang«?

Als sich die ganze Gesellschaft empfohlen und zerstreut hatte, brach Melanie, die Mutter umarmend, in die Worte aus:

Zürne mir nicht, gute Mutter! Wir tanzen solange über den Blumen des Lebens hin und blicken dabei unvorsichtig nach der Sonne empor, bis wir einmal zerschmettert an einem Abgrunde liegen, den wir in unserer Lust doch übersahen!

Welch ein Bild! Kind! Das wolle Gott verhüten! antwortete die Mutter besorgt. Was hast du?

Kopfweh für heute! sagte sie abgespannt. Und nun ... gute Nacht!

Damit küßte sie die Mutter, der sie für weitere Fragen, Mahnungen, Besorgnisse mit graziöser Handbewegung rasch den Mund zuhielt, und verschwand in ihrem [324] Zimmer, wo Jeannette, ihre hübsche Zofe, sie schon ungeduldig mit einem Licht erwartete ....

... Das Mädchen kaute Kaffeebohnen, um an ihrem Athem zu verbergen, wie man unten im Erdgeschoß oben den Herrschaften nachahmte und sich würdig zeigte, in einem Hause zu dienen, wo nur der Materialismus herrschte ....

Melanie, in Gedanken versunken, merkte nichts von den Kaffeebohnen, nichts von dem glühenden, punscherregten Gesicht des Mädchens. Sie ließ sich ruhig entkleiden. Sie duldete ohnehin niemals, daß man sie vor dem Schlafengehen aus ihren Träumen durch Plaudereien weckte, besonders so indiscrete und zweideutige, wie sie Jeannette meist zu verführen pflegte.

[325]
12. Capitel. Eine Überraschung
Zwölftes Capitel
Eine Überraschung

Melanie's und ihrer Mutter Schlafzimmer wurden von einem großen Salon getrennt. In diesem pflegten sie sich des Morgens zu begrüßen und gemeinschaftlich zu frühstücken, wenn sie nicht vorzogen, die balsamische Frische der Natur und den Kaffee in dem Garten einzuschlürfen.

Schon lange hatte am nächsten Morgen die Mutter gewartet und sich, als Melanie nicht endlich heiter wie sonst hereinhüpfen wollte, erlaubt, leise an die Thür des Schlafzimmers ihrer Tochter anzupochen. Als keine Antwort erfolgte und sie es acht Uhr schlagen hörte, klopfte sie um halb neun Uhr wieder ein wenig leise an ...

Komm doch herein! rief drinnen Melanie mit leidender Stimme und die Mutter trat ein.

Wie erschrak sie, als sie ihr Kind noch im Bett fand! Melanie erklärte sich leidend. Sie hätte eine unruhige Nacht gehabt, und fühlte sich unvermögend schon aufzustehen.

Die Mutter gerieth in nicht geringe Bestürzung.

Nein, nein, sagte Melanie, bekümmere dich nicht, Mutter! Ich konnte nicht einschlafen. Wie ich so mit müden Augen lag, die sich nicht schließen wollten, glaubte ich, [326] vielleicht wäre die Hitze des Zimmers an dieser Aufregung der Nerven Schuld. Ich stand auf, zog die Vorhänge zurück, daß der helle, volle Mondenschein hereinfiel ...

Da hast du dich erkältet, sagte die Mutter, als Melanie stockte ...

Sie schüttelte den Kopf.

Was ist es denn? Sprich, mein Kind!

Wie ich das Fenster öffnete ..., glaubt' ich unten eine Gestalt zu sehen, die entweder ein Gespenst oder ein Phantom meiner Einbildungskraft war.

Hackert! sagte die Mutter mit blinzelnd zugedrückten Augen und sich abwendend.

Ja Hackert! wiederholte Melanie seufzend. Ob ich sagen soll, daß er in seinem gewohnten nächtlichen Zustande war, weiß ich nicht. Er schien mir wach zu sein. Das Weiße seiner Augen leuchtete mich in der hellen Nacht fast geisterhaft an. Ich schlug entsetzt das Fenster zu. Als ich dann noch einmal hinblickte, war Fritz verschwunden. Ich schlief ein, ward aber so von Träumen geängstigt, daß ich mich jetzt von einem solchen Schlafe mehr erschöpft als gestärkt fühle.

Die Mutter konnte ihr leider Hackert's Nähe bestätigen. Lasally wollte ihn gesehen haben und Bartusch hatte es ihr schon gestern Abend am Theetisch zugeflüstert ....

Du hast keinen Geist gesehen! sagte sie seufzend.

So sind wir denn überall von ihm verfolgt! rief Melanie und warf sich wie verzweifelnd auf eine andere Seite ihres Lagers.

[327] Gutes Kind, begann bekümmert die Mutter, beruhige dich! Ach, es ist über diesen Gegenstand schon soviel von Deinen Ältern gejammert worden, daß deine Klagen unsern Schmerz nicht erreichen! Der Vater nahm Hackert aus dem Waisenhause. Alles, was man von seiner Geburt erfahren hatte, war so dunkel und abenteuerlich, daß er unser Mitleiden erregte. Der Vater brauchte einen Arbeiter, den er sich von unten auf selbst erziehen wollte. Er ließ ihn unterrichten; er arbeitete unter seiner Aufsicht und hat sich früh schon von einer solchen geschickten Anstelligkeit bewiesen, daß er mit des Vaters geheimsten Angelegenheiten vertrauter wurde, als selbst Bartusch es ist. Die Folge davon war die größte Vernachlässigung seiner selbst und eine Vertraulichkeit mit der Familie ...

Schweige! Schweige! rief Melanie mit dem Ausdruck des größten Schmerzes.

Ich denke mit Entsetzen daran, fuhr die Mutter mit bedeutsamem Ernste fort, daß wir so blind sein konnten, in der Freude unsers glücklichen Aufschwunges, im Genusse der vielen Heiterkeit, die uns auf unserm Lebenswege lachte, das Ernsteste zu übersehen, das Gefährlichste, was sich neben uns entwickelte. Dieser Knabe wuchs mit dir auf. Listig wie er war, gewann er bei aller Häßlichkeit, aller Widerwärtigkeit seines Äußern, an die wir uns gewöhnt hatten – die Mutter hob diese Worte besonders scharf hervor – unser Aller Vertrauen. Ob wir, um dich aus einer Kindergesellschaft abzuholen, den Bedienten [328] schickten oder Fritz diesen Dienst verrichten ließen, schien uns unglücklichen Menschen einerlei; ja wir zogen seine Dienstwilligkeit vor, da er verläßlicher schien als Alle und fast im Hause wie dein Bruder gehalten wurde. Unselige Vertrautheit, die ihn ermuthigte, Hoffnungen in ihm nährte und seine Sicherheit bis zum Übermuth steigerte!

Melanie schwieg eine Weile, stemmte ihr schönes Haupt auf eines ihrer Kissen und sagte zu der ängstlich sie anblickenden Mutter:

Und doch war die Strafe, die ihr über ihn nach jener schrecklichen Nacht verhängtet, zu hart! Sie ist die Quelle unausgesetzter Leiden für uns Alle geworden! Aus dem Hause wie ein Dieb geworfen, vom Vater in einem Zorn, den ich nie an ihm kannte, fast mit Füßen getreten, irrte er wie ein rachsüchtiges Thier umher und droht uns mit Allem, was er in unserm Hause erlebte, erfuhr, entdeckt hat ... droht uns ...

Entdeckt hat? unterbrach sie die Mutter erschreckend. Was kann er entdeckt haben als den regelmäßigen Gang eines großen ehrenvollen, vom Fleiß und dem Genie des Vaters geleiteten Geschäfts? Das Einzige, was man fürchten konnte, war der lose freche Mund des frühverdorbenen jungen Wüstlings. Ich zitterte, wenn ich nur daran dachte, wie ...

Die Mutter stockte.

Was dachtest du? sagte Melanie.

Ach, ich will nichts mehr sagen! Laß es gehen!

[329] Mit euerm ewigen Gehenlassen! Dieses stete Vertuschen und Verschweigen! Was nur dachtest du?

Melanie –!

Fürchtest du, daß er den Menschen erzählt, wie früh dieser sozusagen Halbbruder, der mit mir aufwuchs, versucht hat ...

Deine Phantasie zu vergiften! Ja, Melanie, wenn die Welt die Bubenstücke erführe –

Mutter! rief Melanie hastig auffahrend, als könnte sie doch die zu gründliche Untersuchung dieser Wunde, die sie selbst veranlaßte, nicht länger ertragen. Schweige! Schweige! Vergiß nicht, daß dieser Unselige vorgibt, mich zu lieben, mir treu sein will mit unglaublicher Anhänglichkeit und niemals wagen wird ...

Anhänglichkeit, die ich Wahnsinn, Frechheit nenne! unterbrach sie die Mutter, vor Zorn sich röthend.

Laß es gut sein!

Die Mutter schwieg auf diese tonlosen Worte und beruhigte sich allmälig.

Erst erwartete sie, daß Melanie ihr zusprechen sollte. Da die Tochter aber in ihrer träumerischen Lage verblieb und mit keinem tröstenden Blicke sich ihrer Pein erbarmte, streichelte die Mutter die heiße Stirn des Kindes und küßte die zarten blauen Äderchen, die sie in Melanie's Augenwinkeln entdeckte.

Weg, weg mit diesen Sorgen, rief sie, sei heiter, Melanie! Noch gestern hast Du alles bezaubert und Dir ja eine ganz neue Eroberung gewonnen. Die gefeierten Ohren [330] des Herrn von Harder haben mehr Wirkung auf ihn gemacht, als wenn Du dem Lieutenant von Aldenhoven gesagt hättest, er gliche dem Adonis. Was willst du mit dieser Eroberung?

Melanie verzog ihre ernsten, schmachtenden und erschöpften Mienen zu einem Lächeln, dem ein wehmüthiger Zug beigemischt war. Ohne auf die Frage der Mutter zu antworten, lenkte sie das Gespräch wieder auf Hackert zurück.

Gern wollt' ich beruhigt sein, sagte sie, beruhigt über Alles, was uns Hackert Schlimmes etwa anthun könnte, wenn ich ihn nur überzeugen könnte ....

Wovon? Wovon, Kind? fragte die Mutter erstaunend. Kehrst Du wieder auf diesen unheimlichen Gegenstand zurück?

Melanie gab anfangs keine Antwort, dann aber sagte Sie:

Ich thue Niemanden gern weh.

Aber ich bitte Dich, Kind, Erklärungen! Erklärungen gegen einen solchen Menschen! Ein halbes Thier ist dieser Hackert ....

Mutter!

Ja Melanie! ... Die Mutter ließ sich in ihrer Auffassung nicht stören und hob absichtlich das an Hackert Ungefällige hervor – ja, Melanie, es ist ein Mensch von einer Unreife, die mir ein Grauen einflößt. Dies Haar, dieser Gang, diese Magerkeit! Und diese Bosheit, dies verruchte Herz –

[331] Du übertreibst ....

Nein, Kind, Das ist ein Wesen, wie ich mich entsinne, einst in einer Gesellschaft gehört zu haben, zu der mich Frau von Trompetta mitnahm. Wie hieß das Stück, das der berühmte Dichter vorlas, das Stück, wo ein so unfertiger Halbmensch vorkommt, den ein Zauberer mit seinem Geiste zwickt und zwackt und seiner Rohheit Daumenschrauben anlegt?

Der Sturm! Der Sturm, liebe Mutter!

Der Sturm! Und der böse Gast, den der Zauberer auf der wüsten Insel findet –

Caliban!

Caliban! Das ist's! Ein solcher Caliban ist dieser Fritz, fähig, seine eigenen Geschwister ... zu verzehren, wenn ihn grade Hunger triebe! Ein Halbmensch, ohne Gemüth, ohne Liebe, ohne einen Funken edler Hingebung! Nur sinnlich, nur ein Wesen, das blindlings seinem Instincte folgt ....

Er ist krank ...

Durch sich selbst! Die Zerrüttung seiner Nerven, wer verschuldet sie?

Sein Nachtwandeln ist erst über ihn gekommen, als man ihn so grausam verstieß. Als man ihn vollends mishandelte, als Lasally –

Nein, die Wuth, der angeborene Zorn lassen ihn nicht schlafen ....

O Mutter! Ich weiß, was ihn nicht schlafen läßt! Ich lasse mich nicht irremachen. Ich habe nachgedacht über [332] Fritz. Ich habe über ihn geweint. Das ist der Mensch, wie er frisch und roh aus der Hand der Natur kommt und sinnlich ohne den Sonnenschein des Geistes aufwächst –

Ja! Ja! Sagte Das nicht der Probst Gelbsattel, als der Sturm vorgelesen und Caliban's Charakter erörtert wurde?

Mit diesen Betrachtungen, meinte Melanie, schwatzen wir unser Unrecht nicht weg. Wenn ich ihm sagen könnte: Fritz –

Melanie, fiel die Mutter ein, Du wirst doch keine Erörterungen mit ihm herbeiführen, seinem Wahnsinn keine neue Nahrung geben wollen?

Der Schein, Lasally's empörendes Benehmen zu billigen, drückt mich ....

Nimmermehr! Wie geht Das! entgegnete die Mutter besorgt. Die Mißhandlung, die ihm Lasally angethan hat, war roh, aber sie brachte gute Folgen. Sind wir nicht seitdem vor seinen Nachstellungen bis jetzt sicher geblieben? Konnten wir sonst einen Schritt vorm Thore, im Park thun, ohne ihn aus den Büschen heraustreten zu sehen? Konnten wir das Theater besuchen, ohne beim Nachhausefahren ihn im Gedränge der Menschen an unserer Seite zu finden? Seit einem Vierteljahre ist es jetzt das erste mal, daß er sich wieder in unsere Nähe wagt. Er wird Lasally und seine Jockeys sehen und sich vor ihren Reitpeitschen zum zweiten male in Acht nehmen ....

Erinnere mich nicht, fuhr Melanie entsetzt auf, an diese brutale Scene! Sie hat mir Eugen, den ich seines ehrlichen [333] und offenen Charakters wegen zu schätzen im Begriffe stand, aufs tiefste entfremdet. Ich gestehe, daß ich an Lasally Gefallen hatte. Gerade, daß er als geborener Israelit nicht eine einzige der Eigenschaften zeigte, die man sonst an diesem Volke tadelt oder lächerlich finden will, hatte mich zu ihm hingezogen. Sein trockener Witz ist ganz anders als der Witz seiner Glaubensgenossen. Er gibt sich für beschränkter, ununterrichteter als er ist. Er will, während alle seine Glaubensgenossen nach Geist streben, keinen Geist haben und hat ihn. Wie er mich reiten lehrte, that er es mit soviel Bonhommie, soviel Humor, daß ich ihm wahrhaft gut war. Was soll aus mir werden? Eine Königin? Eine Herzogin? Eine Offiziersfrau? Eine Frau Assessorin? Ah ... Bah! Ich konnte mir denken, der Vater stellt dem Eugen durch meine Mitgift seine Finanzen wieder her, wir bauen eine prächtige Arena, den Tummelplatz der ganzen eleganten Welt, wir verbinden sie mit einer glänzenden Erleuchtung, mit Lauben, mit Treibhäusern für Die, welche nach dem Ritte sich erholen wollen. Mich blendete bei meinem ersten Austreten aus der einfachen bürgerlichen Sphäre, in der wir bisher gelebt hatten und in der ich erzogen war, der Gedanke, durch die Verbindung mit Lasally könnt' ich die Aufmerksamkeit der ganzen Stadt fesseln, mit den schönsten Damen, den elegantesten Männern in Verbindung kommen und mich auf heitere Art durchs Leben tummeln, bis ich freilich durch die größere Bekanntschaft in dieser Sphäre Eugen's, der mich in sie eingeführt hatte, ihrer [334] überdrüssig wurde und es bald bemerkte, wie ich denn doch dabei in der Gesellschaft eine beschattete und nur untergeordnete Stellung erhalten würde. Es war eine Verirrung. Und doch währte es lange, bis sich meine Phantasie von Lasally, dem noch vor wenig Jahren angebeteten Antinous aller Damen, dem galanten kühnen Reiter und gesuchten, bei allen Kunstausstellungen auf ein Dutzend Bildern dargestellten öffentlichen Charakter, lossagte. Erst als ich den Abend in unserm Garten vorm Thore, wo Lasally mit mir scheinbar harmlos lustwandelte und ich plötzlich erzürnt ausrufen muß: Gott, da ist schon wieder Hackert über den Zaun gestiegen! das Bellen der Hunde Eugen's und Hackert's klägliches Geheul hörte, als Lasally selbst, wie ein Rasender, seine ganze Kaltblütigkeit aufgebend, nach der Hecke lief und ich ihm nacheilend sehen muß, wie zwei seiner Bereiter den Unglücklichen mit langen Peitschen grausenhaft mishandeln und Lasally, Eugen Lasally selbst, ihn mit der Reitgerte wie ein Rasender gerade über den Kopf hieb, während die Hunde seine Kleider zerrissen –

Rege Dich nicht auf! sagte die Mutter. Laß die Erinnerung, Melanie! Es ist ein Jahr her. Ich habe damals Noth genug um Dich gehabt, weil ich glaubte, Du würdest von dem Schreck ein hitziges Fieber bekommen.

Ihr verschwiegt mir, daß Hackert auf den Tod lag, sagte Melanie.

Der Vater ließ für ihn sorgen ....

Ich erfuhr später Alles, fuhr Melanie erregter fort.

[335] Von der Kopfwunde hat Fritz die schlimmsten Folgen davongetragen. Doctor Hammer, der ihn im Spital behandelte und mir zufällig in einer Gesellschaft begegnete, erzählte mir, daß er Anfälle von Raserei hätte. Wie ein wüthendes Thier schlüge er dann um sich, fluche allen Menschen und verfalle zuletzt in eine Erschöpfung, die vielleicht eine nie heilbare Nervenschwäche zur Folge haben würde ....

Es ist traurig. Aber was läßt sich thun? sagte die Mutter bestimmt, jedoch ohne Kälte. Und der Vater handelt edel an ihm ....

Doctor Hammer erzählte zuerst von seinem Nachtwandeln – in großer Gesellschaft – vor aller Welt ... Meine Verzweiflung, Das anhören zu müssen! Ich hätte in die Erde sinken mögen –

Schon bei uns hieß es, er wandle bei Nacht!

Nie! sagte Melanie bestimmt.

Woher kannst Du Das so bestimmt versichern?

Nie! sag' ich! wiederholte sie der staunenden Mutter. Sein damaliges Nachtwandeln war etwas Anderes .... Und nun genug davon!

Melanie schwieg und warf sich auf die Seite, den Kopf tiefer in das Kissen wühlend.

Die Mutter, des Justizraths »gutes Hannchen«, gehörte zu den Wesen, denen nichts unbequemer war, als eine allzu tiefe Erforschung von Dingen, die nur auf Unerfreuliches führen konnten. Sie war eine durchsichtige, verständige, scharfblickende Frau. Sie ahnte durch Inspiration rascher [336] Etwas, als manche schwerfällige Untersuchung langsam ergab. Aber sie liebte es, sich über Das, was ihr möglich, ja wahrscheinlich dünkte, dennoch keine Rechenschaft abzulegen. Sie wollte das Geschick immer nur en profil, nie en face sehen. So ließ sie denn auch über dies sonderbare »Nie« getrost den Schleier fallen. Sie wußte, daß in ihrer unverzeihlichen Sorglosigkeit Melanie neben Hackert aufgewachsen und von dessen zügelloser Frühentwickelung in bedenkliche Gefahren gerathen war, von denen das aufgeregte, ebenso über die Liebe früh nachgrübelnde Mädchen noch »zur rechten Zeit« wie der Vater damals sagte, befreit wurde .... Und so alles Unangenehme vertuschend, verwischend, beschwichtigend sprach sie mit heiterm Ton:

Laß Das nun gehen, Kind! Wir hätten einen solchen Caliban nie ins Haus nehmen sollen! Es geschah. Es sollte so sein. Wir hatten Mitleid mit dem ungewissen Schicksal eines vor dem Waisenhause einst ausgesetzten Findlings, hielten ihn höher, als wir ihn hätten halten sollen, und müssen uns vorwerfen, daß wir nicht strenger wachten, als er anfing auf schlimmen Wegen zu gehen und sich und Andere zu verderben. Geliebt kann er dich nie im Ernste haben; denn seine Aufführung bewies es nicht. Es kam später Alles zu Tage, was er war und wie er auf die Zerstörung seiner Jugend wüthete! Jeannette hat viel gebeichtet. Er verwandelte Tag in Nacht und Nacht in Tag. Am Bureau neben dem Vater schlief er mit offenem Auge. Da mußte er in den Nächten wol mit geschlossenen Augen [337] wachen. Die Lection, die ihm Lasally gab, war nicht nach unserm Sinne, sie war grausam; aber sie hat ihm gezeigt, daß wir ihn nicht fürchten, mag er auch noch soviel drohen, noch soviel mit seiner Kenntniß der Geheimnisse des Vaters prahlen. Wir boten ihm, wenn er uns nicht mehr belästigen wollte, Geld an; er nahm nicht mehr, als wir ihm früher schon ausgesetzt hatten, bis er eine Stelle fand. Und doch, sagt man, soll er so träge sein, daß er nicht die geringsten Anstalten trifft, seine Zukunft von der Abhängigkeit, die ihn an den Vater fesselt, zu befreien. Ach! Kind, es war immer eine böse Natur! Bald Verschwender, bald geizig. Bald offen, bald hinterlistig. Und welche maßlose Eitelkeit! Ich will nicht davon sprechen, daß er mit seiner abschreckenden Figur, seinem rothen Haar, seinen abgerissenen Stiefeln und seiner unausrottbaren Unreinlichkeit sich einbilden kann, noch einen Eindruck auf Dich zu machen .... Ist es nicht die tollste Eitelkeit, daß er uns hat sagen lassen, er schone den Vater bis zu seinem fünfundzwanzigsten Jahre, wo ihm Dieser versprochen hätte, ihm das Geheimniß seiner Geburt zu entdecken?

Der Vater weiß darum, sagte Melanie.

Nicht ein Wort weiß der Vater, sagte ihre Mutter. Er hat einzelne Anzeichen, einzelne kleine Zufälligkeiten entdeckt (z.B. einen zerbrochenen, bei dem Findelkinde gefundenen Ring), die auf ein nicht ganz gewöhnliches Herkommen dieses Menschen schließen lassen; aber die wenigen Worte, die der Vater einmal bei guter Laune darüber fallen ließ, haben ihm so den Kopf verwirrt, daß er [338] sich einbildet, sicher ein Baron zu sein. Genug von ihm! Steh' nun auf! Sei heiter! Genieße das himmlische herrliche Wetter! Sieh! Sieh! Die goldene Sonne!

Damit riß die Mutter die Vorhänge auf, der lichte Sonnenschein fiel in das dunkle, plötzlich erhellte Zimmer.

Auf! Auf! Tummle dich, Melanie! ermüdete die Mutter nicht zu rufen. Nimm an mir ein Beispiel! Schon war ich im Bade! Schon trank ich Wasser an der frischen Quelle im Garten. Wasser, Sonne, Luft, Licht, Blumen! ... Mädchen, weißt du denn nicht mehr, was schön und jung macht, schön und jung –

Erhält! fiel Melanie schmeichelnd ein, wandte sich und reichte der frisch und rosig strahlenden Mutter die Hand.

Indem klopfte es.

Wer klopft?

Eine Stimme wisperte am Schlüsselloch:

Darf ich?

Jeannette?

Nein, sagte die Justizräthin; es ist Bartusch.

Stör' ich? rief Bartusch durch das Schlüsselloch. Kommen Sie heraus! Es sind merkwürdige Briefe vom Justizrath da.

Vom Vater?

Die Mutter ging hinaus.

Nach einigen Secunden kam sie wieder und rief:

Melanie! Denke dir, wer angekommen ist?

Erschrecke mich nicht! Ich rathe nicht gern. Meine Nerven sind angegriffen ...

[339] Der Prinz Egon!

So? Das wissen wir ja schon.

Prinz Egon von Hohenberg!

Angekommen? In der Residenz?

Nein, hier! Hier auf dem Schlosse.

Sonderbar, wie diese Worte auf Melanie wirkten! Sie kannte den Prinzen nicht und mußte eher im Interesse ihrer Familie vor ihm auf der Hut sein, als dabei interessirt, ihn gerade hier zu sehen, wo sie Alle von seinem Eigenthum fast Besitz genommen hatten .... Dennoch sprang sie jetzt aus dem Bette, ließ Hackert Hackert sein, kümmerte sich nicht mehr um Lasally, nicht um den Intendanten, vergaß die Nacht, vergaß ihr Kopfweh, vergaß ihre Schlaflosigkeit und trieb nur die Mutter an, ihr zur nothdürftigsten Toilette beizustehen. Wie ihre Füße in die seidenen Pantöffelchen schlüpften, die leichten Nachtgewänder abgeworfen wurden, wie sie an den Toilettentisch eilte und sich in flinkester Behendigkeit Angesicht und Nacken benetzte, wie sie dazwischen an dem Schellenzug riß, um den Bedienten das Zeichen zum Serviren des Frühstücks zu geben ... man hätte nicht glauben sollen, daß Dies dasselbe Wesen war, das noch eben wie leblos, ganz in Träumerei und Erinnerung versunken, zwischen den grünseidenen Couverten des Bettes gelegen hatte. Das einzige Wort: Ein Prinz, der Prinz Egon, ist hier auf Hohenberg! hatte sie elektrisirt. Sie herzte die Mutter und tröstete sie mit den Worten:

Laß es nun gut sein, sonst muß ich über mich selbst [340] lachen! Ja! Ja! Wasser! Luft! Sonnenschein! Die Mutter hat Recht.

Damit drängte sie die kleine runde Mama, die schon so frisch, so sauber ausschaute, durch die Thür und hüpfte ihr mit den Worten nach:

Nun guten Morgen, Bartusch, was haben Sie? Was schreibt Papa? Wo ist hier ein Prinz? Wer hat den Prinzen? Her mit ihm!

Bartusch war schon ganz in seiner gewohnten Toilette. Einfach, aber sauber. Weiße Halsbinde, weißes Vorhemd, schwarze Weste, grauer Überrock, weite lichte Beinkleider, Schuhe mit grauen Kamaschen. Er wiederholte die Zeichen, die Stillschweigen bedeuten sollten, mit um so größerm Nachdruck, als ein Diener in Schlurck's geschmackvoller Livree eintrat und das Frühstück beim offenen Fenster auf einem runden Tische auftragen wollte, an dem zwei Sessel standen. Bartusch ließ ihn gewähren. Als er gegangen war und einige kleine Befehle, die Melanie's Ungeduld folterten, für die Wirthschaft mitgenommen hatte, schloß Bartusch wieder behutsam das Fenster und zeigte einen Brief, der diesen Morgen von der Residenz mit einem Expressen angekommen war, viele geschäftliche Anweisungen des Justizraths und unter Anderm auch folgende Stelle enthielt:

»Schließlich, liebster Bartusch, mach' ich Sie auf ein merkwürdiges Gerücht aufmerksam, das hier zu meiner Kenntniß gelangte. Prinz Egon ist vor einigen Tagen hier angekommen und hat sich, wie man für gewiß behauptet, [341] in einer Verkleidung nach Hohenberg begeben. Zu welchem Zwecke ist mir unbekannt. Wenn er wirklich streng incognito reist, um uns wahrscheinlich zu belauschen und sich Hohenbergs Zustände anzusehen, würde Ihnen eine genauere Beschreibung seiner Person, die ich nicht einmal ganz geben kann, wenig nützen. Doch dürfte es immer rathsam sein, wenn Sie sich merken wollten, daß Prinz Egon mir allgemein jetzt als ein ziemlich schlankgewachsener, doch nicht übergroßer junger Mann von mehr lichtbraunem als blondem Haar geschildert wird. Seine Augen wären braun, seine Hände und Füße zierlich, was weiß ich von den Schönheiten allen, die er besitzen soll und über die man am besten thäte, erst bei den schönen Frauen in Paris Erkundigungen einzuziehen.«

Überflüssige Anmerkung, die wol von Ihnen kommt? unterbrach Melanie den schmunzelnden Vorleser ...

Dieser fuhr fort:

»Das Beste an der Sache ist, daß ich ohne Zweifel den Prinzen Egon auf seiner Incognitoreise gesehen habe. Im Heidekruge, bei dem ehrlichen Manne, dem Volksfreunde Justus, der mich mit seiner Verwendung für meine schönauer Wahl betrügen und sich selbst wählen lassen wird, lernt' ich einen jungen Mann kennen, dessen Äußeres vollkommen den mir gemachten Schilderungen entspricht. Er fiel mir im Gespräch sogleich durch geistvolle Wendungen sehr auf, und da er liberale Ansichten aussprach, bin ich überzeugt, daß es der Prinz war, den die diesseitige Gesandtschaft in Paris sehr oft als einen Communisten [342] bezeichnet hat. Soviel ich aus Champagnernebeln her mich entsinne, hatte dieser Fremde hellbraunes Haar, trug sich mit einem der modernen Bärtchen, deren Namen ich nicht kenne, war ohne Stutzerei gutgekleidet und sprach höchst angenehm und fertig. Folgen Sie diesem Signalement. Forschen Sie Egon's Schritten nach. Begierig bin ich, was der Prinz in Hohenberg beabsichtigt. Möglich, daß seine geheime Besichtigung der Familienbesitzungen ihn bestimmen könnte, die Verwaltung derselben noch einmal zu versuchen und sich mit den Gläubigern seines Vaters abzufinden. Sie fühlen, daß mir mit einem solchen Entschlusse wenig gedient sein kann, denn er würde meine Administration aufheben, die doch, so Gott will, bei der jetzigen Lage der Dinge einige dreißig Jahre über mein kühles Grab noch hinausdauern könnte. Also beobachten Sie ihn und schlagen Sie in unserm Verhalten zu ihm den Weg ein, der Ihnen der nützlichste scheint. Entdeckt er sich nicht, so wär' es am gerathensten, ihn harmlos von selbst aufzusuchen und unter irgend einem Vorwande im Schlosse anständig zu fesseln, ohne daß man dabei sein Incognito verletzt. Vielleicht hilft dabei meine gute und kluge Melanie ...«

Helfen? Ich? sagte Melanie fast erröthend.

»Melanie«, fuhr Bartusch zögernd fort; »der ich übrigens wünschen muß ...«

Die Mutter nahm den Brief, den ihr Bartusch jetzt zum Einsehen hinreichte, zögernd.

Melanie, gespannt und ungeduldig wie sie war, wollte [343] kein Geberdenspiel und sagte, indem sie den goldenen Kaffeelöffel vom Munde absetzte und in die Tasse senkte:

Was soll es denn mit der guten klugen Melanie? Was ist ihr zu wünschen?

Sie kann es hören, meinte die Mutter, die weiter gelesen hatte. Ich sagte ihr ja schon, welche Belästigungen uns bevorstehen, da sich Hackert erlaubt hat, hierher zu folgen. Der Vater warnt uns vor ihm, da er ihn auf dem Heidekruge gesehen hätte und vermuthen müsse, er würde die Dreistigkeit haben, sich hierher zu begeben. Er bedauere, schreibt er, nicht gefragt zu haben, auf welche Veranlassung Hackert im Heidekrug wäre ...

Lassen wir Das, sagte Melanie, und bleiben wir beim Prinzen Egon stehen. Was weiß man von ihm? Ist Jemand angekommen, der dem Signalement ähnlich sieht? Schöne Kennzeichen sind das! Wer findet sich aus solchen Allgemeinheiten zurecht? Lichtbraunes Haar, zwischen blond und braun in der Mitte spielend – ein unglaubliches Phänomen! Und die kleinen Hände und Füße, der namenlose Bart und die Französinnen, die Papa wol hätte auslassen können! Er meint die Gräfin d'Azimont, von der ich schon gehört habe ....

Bartusch unterbrach sie mit dem Bemerken, es fände sich in dem wider Schlurck's Gewohnheit sehr langen, aber durch die Wichtigkeit der Veranlassung begründeten Briefe noch ein interessantes Postscriptum.

Wie in einem Frauenzimmerbriefe? sagte Melanie.

Während sie ihr feines von der alten Brigitte jeden[344] Morgen frisch gebackenes Weißbrot zerkrümelte, las Bartusch:

»Nachträglich noch eine Notiz für die Erkennung des Prinzen. Soeben war Frau von Trompetta bei mir, um einmal wieder eine ihrer tausend Unterschriften zu sammeln. Sie antwortete mir auf meine Frage, ob sie nichts Genaueres über die Äußerlichkeit des Prinzen Egon wisse, er ähnele, sie sagte es freilich mit sonderbarer Neckerei, dem jungen schönen Maler Siegbert Wildungen ....«

Siegbert? unterbrach Melanie erstaunend ....

»Siegbert Wildungen, den ich mich entsinne einige mal bei uns zum Thee gesehen zu haben. Und in der That ....«

Sie erfinden da Etwas, Bartusch, sagte Melanie und riß den Brief an sich.

Sie konnte nun selbst weiter lesen:

»In der That entsinne ich mich, daß mein räthselhafter Fremder im Heidekrug, nach dessen näherm Reisezweck, Namen und etwaniger Gesellschaft ich mich leider zu erkundigen vergessen habe, mir den Eindruck einer großen Ähnlichkeit mit Jemanden machte, den ich erst kürzlich mußte gesehen haben. Möglich, daß sich mir die Gesichtszüge des jungen Malers Wildungen von den kleinen Theegesellschaften eingeprägt haben. Ich könnte Ihnen von Egon's hiesigem Auftreten mancherlei Wunderliches erzählen, besonders von seinem Reisebegleiter, einem Franzosen, Namens Louis Armand; doch verspar' ich Das auf Eure Rückkunft. Behandeln Sie den Prinzen mit Discretion und tragt Alle dazu bei, Kinder, daß der Haß, mit [345] dem er den Namen Franz Schlurck verfolgt, sich mildere und die ungemein wichtige Verständigung, die ich mit ihm durchführen muß, vernünftig abläuft .... In großer Eile!« ....

Siegbert Wildungen! wiederholte Melanie noch einmal mit einem Ausdruck ihrer Gesichtszüge, der vielleicht sagen sollte: Wie mischt sich dieser reine Name in meine Lust und meinen Frohsinn?

Diese Trompetta! sagte sie zur Mutter. Es ist kein Wort wahr, daß Prinz Egon dem Maler Siegbert Wildungen ähnlich sieht; sie wollte mir nur den Stich geben: Bedenke, wen du schonen solltest! Bedenke, wer dich zu lieben vorgiebt! Der sanfte gute Siegbert!

Die Mutter zog eine Miene und nannte fast verächtlich den jungen Maler geradezu den Ritter Toggenburg aus dem Atelier.

Ich wette, diese verschmitzte Trompetta wollte mir sagen lassen: Melanie, verlieb dich nicht in den Prinzen, nicht in die Excellenz, den Gatten meiner guten Freundin Pauline von Harder, sondern denk' an Siegbert! ... Bei all ihrer Heiligkeit hat sie nichts als Romane im Kopf.

Und, Fräulein Melanie, sagte Bartusch, hier ist noch eine frühere Stelle des Briefes, die wir übersehen hatten.

Ich will nun nichts mehr wissen, antwortete das Mädchen träumerisch, von der Erwähnung Siegberts erschreckt.

Vorher noch, fuhr Bartusch fort, ohne sich irremachen zu lassen, vorher noch, sagte der Justizrath – die Erwähnung [346] des Fritz machte, daß wir die Stelle übersprangen ....

Welche denn?

»Die Anwesenheit des Prinzen von Hohenberg hinge vielleicht auch mit der Entführung des Mobiliars seiner Mutter zusammen. Die Trompetta hätte erzählt, er wäre darüber bis aufs äußerste entrüstet. Frau von Trompetta hätte bemerkt, man beabsichtige bei Hofe vielleicht die schönsten Andenken dieser Einrichtung dem Fräulein Friederike Wilhelmine von Flottwitz zu verehren, als Anerkennung für ihre landesrettende Hingebung an das Kriegsheer und die Stiftung des weiblichen Reubundes ....«

Der Vater schriebe Das? rief Melanie lachend; von dieser blonden Magdalena? Das sind satyrische Arabesken!

Sie nahm den Brief, fand die Stelle wirklich und setzte mit nicht ganz scherzhaftem Zorne hinzu:

Soll die Flottwitz vielleicht in die Lage kommen, auch zu dem Prinzen Egon in Beziehungen zu treten? Gebt Acht, Das wird eintreffen! Ihm raubt ein liebloser Vater die theuersten Andenken an seine Mutter. Der alte Fürst, der Alles verspielt und vergeudet hat, opfert auch noch die letzte Erinnerung an die Mutter seines Sohnes. Der Hof rettet ihn durch eine Summe auf jene Einrichtung, und statt sie dem Sohne zurückzugeben, schenkt man das Beste davon meiner blonden Freundin Friederike Wilhelmine, die es darauf anlegt, eine geschichtliche Person zu [347] werden. Das seh' ich vor mir! Der Prinz bittet um die Erlaubniß, bei ihr diese Reliquien noch einmal betrachten zu dürfen. Er sieht die Briefbeschwerer und Crucifixe und küßt die Stickereien, und vergißt sich und küßt auch die Hand der Flottwitz, die ihn erobern wird mit Gott für den König, das Vaterland und für – sich! Nein, nein, diese Verschwörung ist entdeckt, die Fäden sind in unserer Hand und wir benutzen sie so, daß der Prinz Egon nicht der Gräfin d'Azimont, nicht der Flottwitz gehört, sondern zu unserer Fahne schwört, und Das gleich. Fort Bartusch, holen Sie ihn nur her! Wo ist der Prinz?

Die Mutter rief lachend:

Gemach! Gemach!

Es ist mein Ernst, sagte Melanie, sprang empor und stampfte mit komischem Zorn so auf, daß die alten verwitterten Dielen von den kleinen Pantöffelchen zitterten.

Nur ruhig! Nur behutsam, bitt' ich, meinte Bartusch, der gewohnt war, sich immer streng an des Justizraths Befehle zu halten. Discretion!

Vor allen Dingen weiß man ja noch gar nicht, bemerkte die Mutter, ob der Prinz Egon wirklich hier schon angekommen ist.

Darüber, sagte Bartusch pfiffig, darüber kann ich Bericht erstatten ....

Rasch! Bartusch; Sie schleichen wieder wie ein Maulwurf!

Muß ich nicht? Müssen meine Morgenrapporte nicht von einer gewissen systematischen Gründlichkeit ...

[348] Nichts von Gründlichkeit! Die Mutter erläßt Ihnen heute Ihre gewöhnliche Spionage! Also ...?

Erstens hätt' ich denn zu melden, fing Bartusch behaglich an, daß die alte braune Kuh, die Frau Justizräthin so lieb haben ...

Was? sagte Melanie und warf sich in ein Canapee. Fort doch mit der alten braunen Kuh!

Laß ihn nur, meinte lächelnd die Mutter. Es ist besser, in solchen Dingen nichts zu übereilen. Du weißt, wieviel dem Vater an der Administration liegen muß ....

Aber die alte braune Kuh! ...

Die vorgestern vom grünen Abhang fiel, ist wiederhergestellt; der blinde Schmied curirte sie ... sagte Bartusch und erfreute dadurch die gutmüthige Justizräthin.

Weiter!

Zweitens, die kranke Frau Müllerin –

Bartusch! Ich sterbe ...

Laß doch Kind! Was ist mit der Frau Müllerin?

Sie will nicht aus der Mühle ...

Wirklich nicht?

Sie will da sterben, wo sie gelebt hat.

In dem dumpfen, feuchten Gemäuer? Bei dem ewigen Klappern der Räder? Bei dem Schaume, der fast auf ihre Betten spritzt? Wie kann da die Frau je gesund werden?

Hannchen Schlurck war wirklich außer sich über diese hartnäckigen Gewohnheitsmenschen; aber Bartusch sagte:

Leben in der Mühle und sterben in der Mühle. Doctor [349] Reinick meinte auch: Diesen Leuten ist in solchen Sachen nicht beizukommen.

Melanie konnte über die Spannung, in der sie Bartusch erhielt, nicht entrüsteter sein als ihre Mutter über Menschen, die an der Schwindsucht leiden und nicht das Geringste für das Einathmen einer gesunden Luft thun ....

Drittens, der Bauer Sandrart ...

Ach! Ach! schmachtete Melanie, fast verzweifelnd.

Der Bauer Sandrart ist absolut nicht zu bewegen, vor uns die Mütze abzunehmen, wenn wir in den Ullagrund fahren.

Warum nicht? sagte die Mutter aufwallend.

Der Justizdirector meint, es wäre nun einmal der reichste, freieste und impertinenteste Mensch im ganzen Fürstenthum .... Jetzt, da sein Sohn in der Garde sogar Sergeant geworden wäre, käm' ihm Keiner gleich, es wäre denn der Fürst von Hohenberg selbst ....

Egon, heißt der! Gott sei Dank! Sie lenken ein! Bleiben Sie auf der Fährte!

Oder der Feldwebel seines Sohnes, der in der dritten Compagnie des Leibregiments steht, unter dem Major von Werdeck ...

Bartusch!

Gegen solchen Trotz und den Stolz der Dummheit vermag keine Drohung Etwas; sagte Bartusch immer ruhig.

Berichten Sie's nur, beschied die Mutter, Herrn von Reichmeyer! Er war über diesen Sandrart am meisten indignirt ....

[350] Was das Schloß anbetrifft, fuhr Bartusch unerschütterlich fort, so scheinen Herr und Frau Commerzienrath von Reichmeyer sehr angenehm geruht zu haben. Sie sind schon früh im Felde spazieren gegangen, haben mit Arbeitern herablassend gesprochen und sich die Wirthschaftsgebäude wiederholt angesehen. Man kann daraus schließen, daß von dieser Seite der Gedanke, Hohenberg anzukaufen noch immer nicht ganz fallen gelassen wird.

Die Mutter nickte ....

Lasally – fuhr Bartusch fort ...

Was Der gethan oder nicht gethan, können Sie überschlagen! rief Melanie, aufs Äußerste gereizt.

In der That weiß ich auch nichts Weiteres von Lasally, sagte Bartusch gemüthlich, als daß er noch schläft und sich gestern Abend über Ihre Coquetterie bitter beklagt hat. Ein Opfer derselben –

Mehr Thatsachen, weniger Betrachtungen!

Ein Opfer derselben, wiederholte Bartusch sehr nachdrücklich, der Pfarrer ...

Guido Stromer ...

Guido Stromer soll gestern Nacht noch Veranlassung zu einer häuslichen Scene gegeben haben. Ob Eifersucht der Gattin, Verzweiflung über seine seit dem Tode der Fürstin nicht mehr besonders gesicherte Lage oder ob die Wirkung des Champagners –

Bei diesen Vermuthungen klopfte es. Man wollte die Störung nicht, deshalb sprang Melanie, ihr ungeordnetes Haar zusammenraffend und über die halboffene Brust [351] zusammenschlagend, an die Thür des Zimmers, um zuzuriegeln. Doch war es nur ihr Mädchen Jeannette, die, schon zierlich geputzt, einen großen Blumenstrauß in der Hand hielt. Das Geschenk kam vom Pfarrer und war als Morgengruß für Fräulein Melanie Schlurck bestimmt. Jeannette lächelte bei dieser Meldung etwas maliciös.

Da sieht man die Ursache des gestrigen Zanks, bemerkte Bartusch, als Jeannette auf später beschieden wurde und sich mit feiner Miene entfernt hatte; im Entzücken über den erlebten Abend wurde von ihm beschlossen, heute früh wieder ein Blumenbouquet hierherzusenden, und dieser Plan gab ohne Zweifel die Veranlassung zu einem Ausbruch längst verhaltener Gefühle.

Während die Mutter den großen frischduftenden Strauß zertheilte, um ihn vorläufig in die kleinen Wassergläser, die mit dem Frühstück gekommen waren, setzen zu können und kein weiteres Klingeln erst nöthig zu haben, sagte Melanie, die das Geschenk mit aufrichtiger Theilnahme entgegengenommen hatte:

Und wer weiß, kluger Mann, ob diese Blumen nicht heute ganz früh in der Stille im Pfarrgarten gepflückt wurden, während die gute treue Gattin und die fünf Schreihälse von Kindern noch schliefen! Laßt mir den Pfarrer!

Und die gestrige Scene? fragte die Mutter.

Die stille Frau, die hier saß, als könnte sie nicht Fünf zählen und zu Allem lächelte, sagte Bartusch, hat einen Anfall von Leidenschaft gehabt und sehr geweint. Stromer [352] aber schlug auf die Tische, drohte mit allen möglichen Entschließungen und die Kinder, aufgeschreckt aus den Betten, in denen sie schon schliefen, warfen sich zwischen die beiden Streiter und suchten Frieden zu stiften, bis die Hunde der Mühle anfingen zu bellen und die Eheleute zur Besinnung auf die geistliche Würde des Hauses zurückriefen. Die Frau schwieg, aber, wie sie gesagt haben soll, nur aus Schonung für die kranke Müllerin.

Unglückliches Bild der Ehe! seufzte Melanie's Mutter, die zwar aus ihrem eigenen Leben solche Scenen nur von ganz früh kannte, die Welt aber hinlänglich beobachtet hatte, um dergleichen Nachspiele zu einem heitern gesellschaftlichen Abende, wo der Mann mit der Frau, die Frau mit dem Manne nicht vollkommen zufrieden war, zu verstehen.

Melanie aber, aufgeregt, sagte noch nachdrücklicher:

Laßt mir nur den Pfarrer gehen! Guido Stromer kommt mir vor, wie ein Apfelbaum, dem, nachdem er lange keine Früchte getragen hat, plötzlich einfällt, im November zu blühen! Der Mama gesteh' ich's, er hat mir gar nicht misfallen. Er ist nicht schön und schon über die Jahre hinweg, wo man noch eines angenehmen Eindrucks durch sein Äußeres gewiß ist, und dennoch besitzt er eine Frische, die auf ein nur gehemmtes, nicht erstorbenes Bedürfniß zur Lebensfreude schließen läßt. Ich denke der Zeit, wo die kleinen Linien, die ich da im Spiegel im Zorn über Bartusch's mich quälende Grausamkeit schon mit feinen Strichen auf der Stirn und den Schläfen gezeichnet [353] sehe, einmal auch garstige Furchen sein werden, die weder Schminke noch ein Schönheitswasser fortjagen kann! Da wär' es vielleicht nur der Verstand, der sie auslöscht. Jung erhält nur der Geist. In dem Pfarrer schlummert viel.

Das du doch nicht etwa wirst wecken wollen? sagte fast erschrocken die Mutter.

Warum nicht ich? Jeder! antwortete Melanie. Guido Stromer hat große schöne Augen, die er oft so gewaltig lüftet, als sollte man in eine ganz helle Krystallwelt sehen, auf der Alles anders aussieht, wie auf der unsern. Wenn der Mann mich lange und prüfend betrachtet, fühl' ich Etwas von den Vampyren, die schon mit ihren Blicken Andern das Leben aussaugen. Verpflanzt doch nur einmal einen solchen Mann, wie mir Siegbert Wildungen ja von einem lateinischen Schulmeister, dem großen Winkelmann, erzählt hat, verpflanzt ihn aus einem Städtchen in der Priegnitz oder Altmark von seinen Büchern und seinen häuslichen Jämmerlichkeiten hinweg nach Rom und zu den Göttern Griechenlands .... Doch wohin verirr' ich mich? Was sind Ihnen, Bartusch, die Götter Griechenlands! Bellen Sie weiter, alter Cerberus!

Das Gebell der Hunde, fuhr Bartusch fort, indem er an den kleinen Backwerkresten kaute, die sich noch auf den Tellern fanden; das Gebell der Hunde kann indessen auch von mancherlei Abends und über Nacht angekommenen neuen Besuchern und Durchreisenden des Orts herrühren.

[354] Endlich! Endlich!

Da ist zuvörderst zu erwähnen, sagte Bartusch, daß mitten in der Nacht eine Depesche an den Herrn Intendanten einlief, deren Inhalt sich aus der großen Eile abnehmen läßt, mit der heute schon in aller Frühe das Geschäft der Einpackung begonnen hat.

Daher also das frühe Hämmern und Poltern, das mich nicht mehr einschlafen ließ? sagte Melanie und trat ans Fenster.

Himmel, rief sie, was soll der geschmacklose Wagen?

Man legte die Gardinen zurück und entdeckte im innern Hofe einen langen und breiten Transportwagen der Art, wie man sie in großen Städten bei Umzügen braucht. Die Pferde waren ausgespannt. Hinten der weitläufige Raum halb geschlossen. Zu gleicher Zeit sah man auf dem andern Flügel schon die Excellenz mit ihren beiden Bedienten in voller Thätigkeit, Befehle ertheilend, hier und da beim Emballieren zur Behutsamkeit mahnend, sonst aber schon in gewählter Toilette und die Gelegenheit wahrnehmend, ob der geöffnete Zipfel des Vorhangs an dem schon lange von ihm fixirten Fenster nicht Etwas von seinen weiblichen Bewohnern zeigen würde. Als er eben grüßen wollte, ließ die Mutter rasch den Vorhang fallen und Melanie rief lachend und mit komischem Pathos hinter dem schützenden Versteck:

Bist Du es denn, Mann mit den himmlischen kleinen Ohren? Alp meiner Seele, der mich eine Nacht gekostet hat, die ich auf dem Kalender unserer jungen Liebe als [355] eine verlorene ausstreichen muß! Blinzle nicht so gefahrvoll herüber! Mäßige das Feuer Deiner Augen, vortrefflicher Don Quixote! Fürchtest Du nicht, daß ich, angezogen von dem süßen Lächeln Deines mit so kunstvollen pariser Zähnen geschmückten Mundes zu Dir hinüberfliege und da das prächtige Buch in dem grünen Sammeteinband mit dem goldenen Schnitte Dir aus der Hand reiße und rufe: Mein! Mein? Ja mein, weil Du es berührtest! Schlag es nur auf, Mann! Lächle nur! Es ist die Bibel, das Buch aller Bücher, worin das Hohe Lied Salomonis steht, das ich singen werde zur Geige und Flöte, wenn ich komme, um Deine kleinen Ohren mit Rosen zu umkränzen! Da notirt er es in einem langen Buche, vielleicht gerade Nummer sechzig, die eine schnöde Anspielung auf Deine Lebensgeschichte enthält! Aber Bartusch, Mutter, seht nur, es ist ein Staatsdiener, der das Vertrauen seines Fürsten verdient, selbst die verwesten Blumen, die da noch in der chinesischen Vase stehen, betrachtet er, ob sie dem Staate verfallen sind oder nicht? Nimm sie! Nimm sie! Es sind ja die vortrefflichsten Strohfäden für das Haar unserer neuen Ophelia, meiner Freundin Friederike Wilhelmine von Flottwitz, die aus Liebe zum Prinzen Egon, wollt' ich sagen Ottokar, dem Oberbefehlshaber der bewaffneten Macht, bereits närrisch geworden ist ....

Kind! Kind! sagte die Mutter, nimm Dich nur selber in Acht! Das Abentheuer mit dem Incognito bringt Dich um alle Vernunft. Es ist nichts damit; denn Bartusch scheint [356] uns zu foppen und von einem Fremden mit lichtbraunem Haar nichts zu wissen.

Doch! fuhr dieser aus seiner Fassung nicht zu bringende Mann fort; wir haben nunmehro die Wahl zwischen drei fremden Personen, die seit gestern Abend angekommen sind. Denn den Kurier, der wahrscheinlich wegen der hier vermutheten Anwesenheit des Prinzen Egon zur schleunigsten Beschlagnahme der drei Zimmer der Fürstin gerathen hat, rechne ich nicht ....

Rechnen Sie ums Himmels willen nicht! rief Melanie ungeduldig. Sagen Sie, wer von den Dreien dem Siegbert Wildungen ähnlich sieht?

Ich kenne den jungen Maler nicht, bemerkte Bartusch; aber eine gewisse Person, die man gestern tief in der Nacht hier ums Schloß hat schleichen sehen und die durch dieselben Hunde, die ich schon aus zwei andern Ursachen bellen ließ, verscheucht wurde, kann es nicht sein. Sie hatte rothe Haare ....

Das war Hackert, sagte die Mutter unmuthig ....

Melanie schwieg.

Er muß sich den Garten heraufgeschlichen haben, verschwand auch dorthin, als die Bedienten des Intendanten, die drüben in den Zimmern abwechselnd wachen, ihn entdeckten, das Fenster öffneten und anrufen wollten. Wo er Obdach gefunden, weiß man nicht; auch Niemand sonst hat ihn irgendwo im Dorfe unten gesehen.

Mutter und Tochter schwiegen ernst.

Dann, fuhr Bartusch, die Pause benutzend, fort, dann [357] ist zu nennen ein älterer Mann, der in der Krone unten angekommen mit einem allerliebsten Knaben. Der Fremde nennt sich Ackermann. Herr Ackermann soll sich geäußert haben, er käme von einer weiten, weiten Reise und hat hier im Dorf Aufsehen gemacht durch das viele Seltsame und Abenteuerliche, das er gestern Abend den Leuten im Wirthshause von Amerika erzählte. Nun ja! Das fehlte uns noch, daß zu allen Calamitäten, die wir schon auf dieser Herrschaft zu überstehen haben, sich noch das Auswanderungsfieber gesellte und durch irgend einen gewandten Agenten, Das wird Herr Ackermann sein, die Leute vollends zu ihrer Arbeit keine Lust und Liebe mehr behielten! Ich ließ darum schon heute in aller Frühe genauer nach diesem Herrn Ackermann forschen und erstaune, daß auch er, wie der Letzte und Beste von Allen, über Die ich zu berichten habe –

Endlich der Prinz? unterbrach ihn Melanie mit äußerster Ungeduld.

Nun wol, sagte Bartusch, der Prinz, glaub' ich, ist da. Aber Sie würden mich außerordentlich verbinden, wenn sie in dem äußern Antheil, den Sie an diesem Abenteuer nehmen, mein Fräulein, nicht vergäßen, wie streng die Vorschriften des Justizraths sind und wieviel möglicherweise darauf ankommen kann, ob und wie wir hier mit dem Erben der fürstlich Hohenberg'schen verwickelten Masse zusammentreffen.

Ja, Melanie, sagte nun die Mutter, durch Hackert's Erwähnung streng und ernst gestimmt; laß Bartusch seine [358] ganze Meinung sagen, damit wir wissen, wie wir uns zu verhalten haben .... Des Vaters halbe Existenz beruht auf dieser Administration.

Melanie, befriedigt schon von der Thatsache, daß der vielbesprochene und abenteuerliche Fürst nun wenigstens da war, nahm aus einem der Gläser einige Blumen des Pfarrers und schwebte, ihren Duft einathmend und in sorgloser Spannung sich wiegend, im Zimmer leise auf und ab. Die Melodie, die sie dabei trällerte, störte nicht.

Der dritte Fremde, berichtete Bartusch, kam denn also gestern Nachmittag in einem kleinen Einspänner mit einem sehr ermüdeten Pferde an.

Gestern Nachmittag? unterbrach Melanie. Mit dem kleinen Wägelchen, das wir im Walde trafen? Wir ritten pfeilschnell vorüber. Aber es waren zwei Herren –

Einer nur! sagte Bartusch.

Es waren zwei, erklärte Melanie. Einer faßte nach den Zügeln des scheugewordenen Pferdes, die ihm entfallen waren. Der Andere, der Andere in einer blauen Blouse, war gleichfalls im Wagen aufgesprungen und half ihm. Wir ritten zu schnell, um genauer zu beobachten. Mein Schleier flatterte zu sehr im Winde, die Mienen konnt' ich nicht unterscheiden. Auch waren Beide jung und der Eine ... der Eine schien mir viel eleganter, als für den schlechten Wagen paßte ....

Von Zweien weiß ich nicht, sagte Bartusch. Der da unten in der Krone abgestiegen ist, hat in der That lichtbraunes Haar, zarte Hände, modernen Bart und gleicht [359] ganz dem Signalement, das uns der Justizrath vom Prinzen gegeben hat. Bald nach ihm kam auf der andern Straße von Randhartingen her der Amerikaner, der sich Ackermann nennt, mit einem Knaben. Der wahrscheinliche Prinz hat keinen Namen genannt. Die eingeschlafenen Gewohnheiten des Nachtbuchs in den Gasthäusern haben ihn auch nicht aufgefodert, einen zu nennen. Beide, der Braunblonde und der Amerikaner, schienen sich fremd und doch haben sie gemein, daß sie sich mit auffallendem Eifer nach den kleinsten Details des Schlosses und der Familie Hohenberg erkundigten. Und noch mehr, Beide fragten nach dem blinden Schmied im Dorfe ....

Nach Dem frägt ein Jeder, der mit einem eigenen Wagen kommt und sein Pferd beschlagen lassen will.

O nein –

Sei doch ruhig! sagte die Mutter ernst; und laß Bartusch reden!

O nein, nahm Dieser wieder seine Ermittelung des Thatbestandes wie ein Jurist auf; nicht wegen der Pferdehufe geschah Das. Der Amerikaner fragte nach dem Schmied Zeck und nach dessen alter Schwester, die im Walde beim Förster Heunisch wohnt. Der Prinz aber, wenn er es ist, machte sich mit demselben alten Schmied Zeck zu schaffen, indem er behauptete, ein Schrein der ihm gehöre, wäre kürzlich von einem Fuhrmann, der ihm das Frachtstück aus der Stadt Angerode hätte überbringen sollen, bei einer Reparatur seines Wagens hier entweder verlorengegangen oder nach allen Anzeichen [360] gestohlen worden. Den Lärm wegen jenes Schreins kennen Sie ja! Wie kommt der Prinz zur Kenntniß dieses Vorfalls? Welchen Antheil hat er daran? Ja noch mehr, wie konnte er zu dem alten Zeck sagen: Der Schrein ist gefunden worden, bemüht Euch nicht, mir den Jammer wieder auszumalen, an dem noch Peters krank darniederliegt! Ich reise morgen zurück und lasse den Schrein mir von Dem zurückstellen, der ihn gefunden hat, dem Justizrath Schlurck.

Wie, Schlurck? rief Melanie's Mutter und auch Melanie, die von dem ganzen Vorfall nichts wußte, blickte staunend ....

Ich entsinne mich des Morgens, sagte Hannchen Schlurck, wo das Geschrei eines Fuhrmanns das ganze Schloß in Aufruhr brachte. Wir hatten unsern verunglückten Ball gehabt, auf dem nur die Bürgerlichen aushielten. Schlurck war trotzdem von der heitersten Laune. Nachdem wir kaum vom ersten Schlaf erwachten, wird es unter unsern Fenstern laut. Ein Fuhrmann hat, um die Hitze zu vermeiden, in der Nacht statt am Tage fahren wollen. Beim Herabfahren vom Berge, dicht an der Schmiede, bricht die Achse und der Wagen schießt über ihn her. Erst muß er eine Weile so gelegen haben, bis das Bellen seines Hundes die Leute weckt. Noch war hier oben Alles wach. Der Schmied wird aus dem Schlafe gerüttelt. Man packt den Wagen ab. Der Fuhrmann wird in die Schmiede getragen. Man stellt seinen Wagen wieder her. Der arme Mensch kommt zur Besinnung, ladet wieder [361] auf und vermißt einen Schrein, um dessen Wiedererlangung der Mann fast wahnsinnig wird. Er beschwört Alles, was lebt, um sein verlorengegangenes Frachtstück, klagt den Schmied an, das Schloß, das ganze Dorf. Der Justizdirector wird geweckt, man nimmt ein Protokoll auf, der Fuhrmann reist unverrichteter Sache in Verzweiflung wieder ab, und nun sagt Prinz Egon, wenn er es ist, das geraubte Gut befände sich in den Händen meines Mannes? Wie ist das möglich?

Der Fremde scheint darüber so beruhigt zu sein, fuhr Bartusch ebenfalls erstaunt fort, daß zuvörderst dem alten Zeck ein Stein vom Herzen gefallen ist ....

Der alte Schmied, sagte die Mutter, hat ein unheimliches Aussehen und erinnerte mich, ich muß es wol sagen, oft an Hackert. Doch achtet man ihn allgemein. Gehört er nicht zu den Frommen, wie auch seine Schwester im Walde?

Die Hexe? ergänzte Melanie. Als wir gestern beim Förster vorbeiritten, graute uns vor dem Gruße der Alten, die unter den Tannen am Wege saß, wie eine der alten schottländischen Nornen ....

Wenn diese Leute den Schrein genommen hätten? meinte die Mutter.

Der blinde alte Zeck? bezweifelte Melanie.

Wie käme aber der Vater dazu? Habt Ihr auf seinen Wagen einen solchen großen Schrein, der außerdem noch ganz sonderbar ausgesehen haben soll, aufladen sehen?

Nein! war die Antwort.

[362] Und wenn ihn Schlurck auch gefunden und Ursache hätte, es zu verschweigen, da er vielleicht einen irgendwo vermißten Gegenstand entdeckte, wo hätte er ihn finden sollen? Es war zwei Uhr, als sich das Unglück mit dem Fuhrmann ereignete. Der Schrein ging um zwei Uhr verloren. Schlurck hatte schon lange vor ein Uhr die jüngere forttanzende Gesellschaft verlassen, die Justizdirectorin, die sich mit den Adeligen entfernen zu müssen glaubte, früh nach Hause begleitet und mußte längst wieder zurück sein, da man den Weg hin und her von der Zeisel'schen Wohnung in einer halben Stunde macht ....

Mußte zurück sein! sagte Bartusch mit einem Ernste, dem ein boshaftes Lächeln folgte.

Melanie's Mutter fixirte ihn.

Mußte? sagte sie erröthend ....

Es trat ein peinlicher Augenblick ein. Offen lagen da plötzlich gewisse geheime Schäden dieser frivolen Familie, die bisher vom absichtlichen Nichtwissenwollen verdeckt waren .... Schlurck verehrte Frau von Zeisel .... Frau von Zeisel war ohne ihren Mann vom Balle gegangen .... man konnte Vermuthungen Raum geben .... man konnte Schlüsse ziehen .... man konnte ...

Genug! rief Melanie; weg mit Eurer abscheulichen juristischen Untersuchung! Ist es nicht, als säße man hier auf dem Armensünderstuhl und müßte seine unschuldigsten Erlebnisse zu Protokoll geben! Schämen Sie sich, Bartusch, mit Ihrer grübelnden Weisheit, die doch nichts zu Tage fördern wird, als daß Sie unter Thoren der Thörichtste [363] sind. Ein Schrein – eine Justizdirectorin – zwei Uhr – was ist das Alles? Gehen Sie hinunter in die Krone, richten Sie an den hellbraunen Lockenkopf, der uns hier Fallen legen, auf falsche Fährten bringen und dem Vater, den er haßt, schlimme, böse Streiche spielen will, den Gruß meiner vortrefflichen Mutter, Johanna Schlurck, geborenen Arnemann, aus, und sagen Sie ihm: Diese noch junge, schlanke, sehr liebenswürdige Johanna Schlurck hätte eine Tochter, die verhältnißmäßig jünger, noch schlanker, aber nicht liebenswürdiger wäre als die Mama, und sich erkundigen müsse, ob ihm gestern im Walde mit seinem störrischen Thiere keine Unannehmlichkeit widerfahren wäre? Verstehen Sie? Und die Antwort darauf, fahren Sie fort, die Antwort, würden die Bewohner des Schlosses lieber von ihm selber hören, falls er geneigt wäre, bei uns heute einen Löffel Suppe zu essen. Bürgerlich um halb zwei Uhr. Bist du's zufrieden, Mama?

Die Mutter war noch erschüttert davon, daß Bartusch auf die Artigkeit anspielen konnte, die der Justizrath der Frau von Zeisel erwies ....

Einen Korb nehmen wir nicht, fuhr Melanie den Unmuth verscheuchend fort. Das ganze Getriebe von Intriguen zwischen den Häusern Hohenberg und Schlurck, alle diese Feindschaften lass' ich nicht aufkommen. Der Vater soll uns keine Vorschriften ma chen, die wider die Natur der Frauen gehen. Hier lebe die Galanterie! Sie machen sich sogleich auf den Weg, Bartusch, bei Strafe meiner Ungnade, und knüpfen die Verbindung auf feine diplomatische [364] Art an! Lächeln Sie mir aber nicht etwa, wie's im Hamlet heißt, als wollten Sie sagen: Wir wissen recht gut, Sie sind Prinz Egon, aber wir drücken die Augen zu! Oder: Wir scheinen dumm und sind klug! Wir wollen Sie nur nicht kennen! Verstehen Sie? Nicht so! Will der Prinz sich verborgen halten, so nehmen Sie ihn ernst und heilig für Das, wofür er sich ausgibt, und wär' es ein gewöhnlicher Kammerjäger, der hier oben auf dem Schlosse nur die Ratten und Mäuse verjagen will ....

Wer weiß, ob Das nicht seine wahre Absicht ist! sagte die Mutter, die sich jetzt erst sammelte.

Nein, ich stifte Frieden zwischen den Häusern Friedland Piccolomini! sagte Melanie und drängte Bartusch zur Thür hinaus, indem sie ihm noch nachrief:

Halb zwei Uhr steht die Suppe auf dem Tisch!

Bartusch zögerte.

Melanie gab ihm kein Gehör mehr. Sie drückte gewaltsam hinter ihm die Thür zu.

Mutter! sagte sie, jetzt gilt es schön sein!

Sie klingelte und rief ihrem Mädchen.

Bartusch wollte draußen immer noch zweifeln, klopfte, begehrte Einlaß, erinnerte immer noch an das doch nur im Allgemeinen zutreffende Signalement ....

Melanie rief hinaus:

Wir werden bald wissen, woran wir sind. Der Wink der Trompetta soll nicht verloren gehen ....

Leiser und fast für sich setzte sie hinzu:

Wir werden ihn sehen und uns bald überzeugen, ob er [365] einem jungen Manne ähnlich sieht, den wir ja wol sehr genau kennen, dem guten Siegbert Wildungen.

Damit denn ging Bartusch. Melanie bedeckte die Mutter mit zärtlichen Küssen, umarmte sie, tanzte mit ihr und suchte sie möglichst aufzuheitern. Davon, daß der Geist der Wahrheit, des Ernstes und der heiligen Pflichterfüllung bestimmt schien, hier den von uns geschilderten frivolen Lebensprincipien eine tiefe Demüthigung zu bereiten, konnte sie keine Ahnung haben ...

Nicht ohne einen Anflug von Rührung ließ die ernstgestimmte Mutter die Liebkosungen ihres Kindes geschehen und folgte dann der Auffoderung, gemeinschaftlich zu berathen, wie dieser Mittag angeordnet, vor allen Dingen, welche Gäste noch und welche Kleider gewählt werden sollten.

Indem Beide mit der inzwischen eingetretenen Jeannette in das Garderobezimmer traten, schritt Bartusch nachdenklich die Anhöhe herab dem Wirthshause von Plessen zu, genannt: die Krone.


Ende des ersten Buches. [366]

Zweites Buch

1. Capitel. Ackermann, der Amerikaner
Erstes Capitel
Ackermann, der Amerikaner

Dankmar Wildungen befand sich an jenem Morgen wo ohne Zweifel er selbst für den Prinzen Egon gehalten wurde, in der That noch am Fuße des Schlosses Hohenberg.

Seit der von dem Fremden in der blauen Blouse empfangenen Beruhigung über seinen Verlust, einer Versicherung, an deren Zuverlässigkeit er keinen Augenblick zweifelte, war sein Gemüth leicht geworden, der Freude zugänglich und auch der Freude bedürftig. Nach jeder großen abgenommenen Sorge will ja das erschöpfte Herz sich wieder füllen und stärken und wie in eine große Lücke und Leere stürzt das Leben dann nur mit so ungefesselterer Gewalt. Warum sollte er schon wieder nach der Residenz zurückkehren, jetzt, wo keine Last mehr auf seinem Gemüthe lag und sich so Manches begeben hatte, dessen nähere Entwickelung seine Neugier spannte?

Zuerst war es Hackert's plötzliches Verschwinden, über das er doch eine irgend zutreffende Aufklärung wünschen mußte. War ihm auch diese Bekanntschaft eine solche, von der er lieber gewollt hätte, er hätte sie nicht gemacht, so [369] peinigte ihn doch jetzt die völlige Ungewißheit über das, was er von diesem oft aller Theilnahme würdigen und dann wieder so fremdartig abstoßenden, ja niedrig und geringfügig denkenden Menschen halten sollte. Stündlich erwartete er seine Wiederkehr. In dem Gasthause zur Krone glaubte er bestimmt, von ihm erfragt zu werden. Aber vergebens! Jede Spur des abenteuerlichen jungen Mannes war verschwunden.

In noch höherem Grade als die Enthüllung der Hackert'schen Persönlichkeit, fesselte Dankmarn die Aussicht, hier irgendwo, wenn auch unter dem schützenden Deckmantel der ihm gelobten Unbekanntschaft, dem Prinzen wieder zu begegnen. Er konnte kaum daran zweifeln, daß der von seinem Vater so schmählich verkürzte Erbe der Hohenbergischen Besitzungen wirklich hierher gekommen war, entweder um einen Act der Pietät, ein Opfer des Herzens, zu vollziehen oder sich ungekannt von dem wahren Zustande dieser Besitzungen zu unterrichten. Die letzte Annahme schien ihm nach längerer Erwägung fast die richtigere und der Natur des Fremden entsprechendere. Denn so edel und männlich ihm Alles erschien, was der junge ihm an Jahren nur wenig vorangeschrittene Fremde in Worten und Benehmen geäußert hatte, so war doch Dankmar Wildungen schon Kenner der menschlichen Seele genug, um sich zu sagen, daß bei Egon von Hohenberg, wenn er es war, die Kräfte des Verstandes das vielleicht verstecktere oder unentwickeltere Gemüth überwogen. Wie wenig hatte er sich von dem Förster Heunisch [370] auf dem gelben Hirsch über seine Mutter berichten lassen! Weit mehr dagegen, besonders als sie beide vor die Thür des Wirthshauses gegangen waren und Dankmar ihr lautes Gespräch hören konnte, hatte er der gegenwärtigen Verfassung dieser seiner mehr als zweifelhaft gewordenen Besitzungen nachgeforscht. Dankmar griff in solchen Beurtheilungen nicht fehl. Wie sich eine seelenvolle, rein gemüthliche Natur äußert, konnte er durch keinen Vergleich sicherer treffen, als durch den mit seinem theuern, ältern Bruder Siegbert, der einen kindlichen Glauben an die Menschen besaß und die Jahre, die er vor Dankmarn voraus hatte, nur gewonnen zu haben schien, um immer wärmer, immer ergebener und nachsichtiger zu fühlen, während Dankmar dagegen schon an sich selbst gestehen mußte, daß er mit jedem Jahre, an dem sein Alter zunahm, im Gegentheil kälter zu denken lernte. Die Kälte des Fremden schien ihm nicht Kälte des Herzens, sondern gerade auch diese Kälte der Erfahrung, diese Kälte des Unglücks und des innersten Mismuthes.

Aber auch von diesem Fremden sah Dankmar nichts mehr. Zu den Behörden zu gehen, seinen Verlust dort noch einmal anzuregen, schien ihm, nach dem tiefen moralischen Eindruck der Versicherung des angeblichen Egon, nicht mehr nothwendig. In der Schmiede, wo er vorsprach, hatte er einen stumpfsinnigen tauben jüngern Gesellen, den Zeck Sohn angetroffen, der keine einzige seiner Fragen beantworten konnte. Mit dem ältern, dem Zeck Vater, schien es ihm anfangs, als würde er, wenn er viel forschen[371] müßte, noch schlimmern Stand haben; denn dieser war stockblind. Die Unruhe, die den großen athletisch gebauten alten Mann ergriff, wie Dankmar sich als Eigenthümer des neulich geraubten Frachtgutes zu erkennen gab, fiel ihm allerdings auf. Allein einem Verdachte gab er keinen Raum und konnte es nicht, da die Aussagen des Blinden mit denen des Fuhrmanns stimmten. Kannte er doch auch hinlänglich diese, man möchte sie geistig halbwüchsige Menschen nennen, aus seiner eigenen juristischen Praxis! Er wußte ja, wie selbst der Unschuldigste vor einem Richter zittert und sich verfärbt, wenn man ihn eines Verbrechens zeiht und mit allen in solchen Fällen üblichen Feierlichkeiten inquirirt. Hatte er nicht Fälle erlebt, wo diese beschränkten Menschen, besonders wenn sie in einer gewissen religiösen Dumpfheit lebten, unter den Fragen eines Richters so über sich in Unklarheit geriethen, daß es ihnen allmälig wurde, als hätten sie in der That, vielleicht in einem unzurechnungsfähigen, von bösen Geistern ihnen angezauberten Zustande, die Verbrechen begangen, deren sie verdächtig er scheinen sollten! Des Menschen Seele ist ein schüchtern Ding, ein zitternd flimmerndes Beben. Nur darin erschien Dankmarn der alte Zeck wunderlich, daß er bei seiner Mittheilung, Zeck möchte sich beruhigen, Justizrath Schlurck hätte den Schrein gefunden, hätte ihn mit sich nach der Hauptstadt genommen, ..... sich verfärbte und stutzte ..... Statt sich zu freuen, daß seine und seines Sohnes Ehrlichkeit nun in das hellste Licht gesetzt war, griff der Alte sich in sein weißes Haar, riß die starren [372] blinden Augen bis zu den dicken weißen Augenbrauen auf und tastete so krampfhaft erregt um sich her, als wäre ihm die niederschlagendste Mittheilung von der Welt gemacht worden. Darauf länger zu achten und zu forschen, behielt sich Dankmar vor. Er mußte die Natur dieser Menschen erst kennen lernen. Die sonderbar und falsch angebrachten Bibelsprüche, die der alte Zeck, wie nach seiner sogleich gemachten Entdeckung Viele in und um Plessen, im Munde führte, deuteten auf seltsame Anomalieen. Statt diesen nachzuforschen, beschäftigte sich Dankmar einstweilen lieber mit einem alten Bekannten, den er hier zu seiner Freude wiederfand.

Es war dies Niemand anders als Bello, der Hund des Fuhrmanns Peters. Er und der kleine bejahrte unansehnliche Spitz kannten sich schon von Angerode her, schon vom Lyceum, das die Gebrüder Wildungen dort besucht hatten. Wie Dankmar in die Schmiede trat, wo der Blinde noch mit gewaltigem Arm, wie in mechanischer Gewohnheit, auf glühende Hufeisen schlug, während der Taube den Blasebalg am Feuer zog, bis sich Beide ablösten und umgekehrt ihr Geschäft verrichteten, sprang das noch immer lahme Thierchen, das lange zottige Haar vom Dampf der Feueresse ganz geschwärzt, zu Dankmar hinauf, winselte, schmiegte sich, blaffte vor Freude, als wollte es sagen: Da ist Einer, der sich meiner erinnert! Ich weiß, du kommst um mich zu holen, du alter Gönner vom Gasthof zum Einhorn in Angerode, wo du als Lyceist zu Mittag speistest, du bringst mir Grüße von meinem Herrn und [373] meiner Frau! ... Und des Thierchens Erregung war so lebenvoll, in dem Grade fast sprechend, daß es Dankmarn, wenn er noch unruhig gewesen wäre über seinen Verlust, so hätte zu Muthe werden müssen, als spräche ihm Jemand: Das Thier will dir ja etwas sagen, es weiß ja, wer der Räuber deines Eigenthums ist und wird ihn dir ohne Zweifel bei erster Begegnung zeigen, verrathen!.. Bald sprang Bello zu ihm, bald gegen den alten Schmied auf, zerrte an Dankmar's Rockschooß, bellte den Blinden an, bis dieser, den Moment wahrnehmend, so gewaltig mit dem Fuß gegen den Störenfried austrat, daß er sich, an seinem wunden Bein getroffen, heulend und winselnd in eine dunkle Ecke der Schmiede verkroch. Ei, wie grob! rief Dankmar. Nennt Ihr das Pflege? Ich denke, Ihr seid ein Arzt für Thiere?

Nehmt den Bello nur mit!.. hatte darauf der alte Schmied gesagt; er ist geheilt, so weit wie's möglich war, bei seinem strampligen, unruhigen Wesen! Die Bestie ist wie alle Fuhrmannshunde nur auf's Kläffen dressirt; für Bandage und Kost verlange ich nichts! Ich mag den Hund nicht!

Seitdem hatte Dankmar den für immer lahmen Bello zu sich genommen, in der Krone ihn säubern und waschen lassen und war von ihm auf seinen kleinen Spaziergängen, trotzdem er kläglich hinken und humpeln mußte, schon allwärts treu und munter begleitet worden.

Die schöne, liebliche, sonnenhelle Natur war es zuvörderst, die Dankmarn bestimmte, dem magern Gaule [374] des guten dicken Pelikanwirthes einen ganzen Tag Ruhe zu gönnen.

Bring' ich doch Freude mit! sagte er sich. Trost und den Hund für Peters! Dem Bruder die Beruhigung über mein eigenes Unheil und, was auch etwas werth ist, die Erzählung meiner Abenteuer.

Dankmar fühlte, wenn er die Fenster des kleinen Zimmers, das er in der Krone bewohnte, öffnete, so recht jene reine selige Stimmung, die Jeder kennen muß, der einmal von einer großen Gefahr oder den Ursachen einer großen Befürchtung befreit wurde und dann zugleich die Muße fand, diese Seligkeit der Erlösung ganz zu genießen .... Die rebenlaubumkränzten Fenster gingen nach dem schönen Dorfe Plessen hinaus. Jedes Haus hatte da seinen Garten, den die Natur pflegte, wenn auch vielleicht die Menschenhand erlahmt war, seit die Zustände der Herrschaft sich so ins Ungewisse verliefen. Auch ordnen die Geringen sich lieber einer kraftvollen Macht unter, als einem schlaffen und ungeregelten Regimente. Diese Bauern und Häusler waren frei, aber nicht in dem Grade, sich ganz auf eigene Hand unabhängig zu fühlen. Ihre Abgaben an den Fürsten Waldemar waren schon seit lange capitalisirt. Die neue Zeit hatte wol an den vielen kleinen noch übriggebliebenen Laudemialgefällen rütteln können, aber nicht an den einmal bestimmten Abfindungssummen. Da gab es nun Mismuth, Unfriede, Zorn, Gewaltthat genug. Doch wirkliche Widersetzlichkeiten zeigten sich nur in Randhartingen, dem größten und selbständigsten [375] Orte im Hohenberg'schen, im Ullagrunde, wo neben einem reichen Bauer, Namens Sandrart, viele Arme wohnten, in Schönau, wo dem Fürsten von Hohenberg manche Gerechtsame gehörten und der Haidekrüger Justus, noch entschiedener aber Drossel, der Wirth zum Gelben Hirsche, die Leidenschaften in Gährung hielt. Hier in Plessen merkte der Herrschaftsdirektor von Zeisel nicht so auffallend, wie bedenklich seine Stellung wurde. Plessen hing vom Schlosse und dem Leben auf ihm seit Jahren ab. Und schon seit Jahren fehlte die von oben strömende Befruchtung. Die Menschen ließen recht den Kopf hängen und welkten in ihren Hoffnungen so hin oder verwilderten wie ihre Gärten und die kleinen Hecken, die sie trennten. Plessen war sonst so lieblich! Die Ulla floß vom Ullagrund in zwei Armen hernieder, von denen der eine raschere und bewegte die Mühle bewässerte, die, wie wir wissen, die kranke Müllerin nicht verlassen wollte; der andere schlängelte sich hier und da durch den Ort und machte eine Menge kleiner Stege und Brücken nothwendig, die ein Haus mit dem andern gar traulich verbanden. In der Mitte des baum- und buschdurchzogenen Ortes lag ein kleiner Teich, auf dem Enten sich tummelten. Zur Seite, von düstern und verschnittenen Linden beschattet, lag des Pfarrers Wohnung, vor der die Stromer'schen Kinder spielten und baarbeinig, gleich allen andern Kindern des Ortes, mit den Enten um die Wette in der Ulla und dem Teiche wateten. Höher hinauf lagen dann herrschaftliche Gebäude, vor allen »das Amt«, nach alter Bauart, von [376] einem Hofe mit Portal und Einfahrt umschlossen. Dankmar konnte von der Krone bis in die Zimmer der Frau von Zeisel hinüberblicken und bemerkte wol die kleine, sehr geputzte Dame, die unruhig und unbestimmt wie ein lebendiges Fragezeichen an den hohen Fenstern saß und bald an feiner Wäsche arbeitete, bald in einem Buche las, bald zum Fenster hinausschaute, bald in einem der Amtswohnung zur Seite liegenden Garten mit einem Körbchen unterm Arm sicher und bewußt auf und ab mehr trippelte als in ruhiger Würde und zufriedener Stimmung schritt. Zur Linken ging's dann nach dem Schlosse hinauf. In der Mitte zwischen dem Schloßberg und dem »Amt« lag auch jener gewaltige Thurm, von dem Hackert Veranlassung genommen hatte, seine erbauliche Schilderung der Patrimonialgerichtsbarkeit zu entwerfen. Es war ein festes und gutes »Stück Arbeit« dieser alte Zwinger der Ungebehrdigen und Tröster der etwa Reuevollen. Nur lag er sonderbarer Weise etwas einsam, ganz am Ende des Ortes. Denn hinter ihm lagen getrennt nur durch eine vom sonnigsten Himmel überwölbte fruchtbare Ebene sogleich die blauen Ränder der Berge, die dem nach ihnen pilgernden Wanderer, wie Dankmar gehört hatte, die reichste Mannigfaltigkeit von Tannengeschmückten Gründen, Wildbächen mit kleinen Wasserfällen, schroffen Abhängen und lieblichen Thälern bieten sollten. Auch von Kohlenmeilern, Steinbrüchen und besonders einer Sägemühle wurde gesprochen, die Dankmar besuchen sollte. Die Sägemühle konnte nicht zu weit sein. Dankmar [377] hörte deutlich, wenn die von einem Waldbach getriebenen Räder wahrscheinlich standen und die großen Sägen wieder frisch geschärft wurden. Es klang das so hell und klingend herüber, daß er anfangs glaubte, in dem Walde da oben läge eine Kirche verborgen und die Glocke riefe jedes Christenherz, sie in ihrem grünen Verstecke aufzusuchen.

Dankmar war eine verstandesklare dialektische Natur; doch wenn auch das Gemüth bei ihm öfters schlummerte, so lebte es doch unter der Decke der Gedanken. Er besaß unter Anderm auch die schöne Eigenschaft gemüthlicher Naturen, daß er das Anmuthige und Wohlthuende nie für sich allein empfinden mochte, sondern zugleich auch mit für Die, die er liebte und die er bei seinem Genusse anwesend wünschte. Er gedachte, als er am Abend seiner Ankunft sogleich noch einen Spaziergang im Orte und seiner nächsten Umgebung machte und die Schönheiten des Eindrucks in vollen Zügen einsog, sogleich seines geliebten, zu früh geschiedenen herrlichen Vaters, der, wie hier in Plessen jetzt der ihm unbekannte Pfarrer, so in Thaldüren still und reichern Looses würdig gehaust hatte. In den kleinen Kindern, die da im Entenpfuhl wateten, erkannte er sich und Siegbert wieder. Er betrachtete wehmüthig die dunklen, von den Lindenbäumen allzudüster beschatteten Fensterscheiben der Pfarrerwohnung. Der Pfarrer und seine Frau, beide fast festlich geschmückt, verließen gerade, als er so in Gedanken und Herzensvergleichen stand, die Wohnung ... wir wissen, [378] daß sie zum Schlosse hinaufgingen. Dankmar trat zurück, um nicht gesehen zu werden. Er vergegenwärtigte, Guido Stromern prüfend, sich den doch viel ehrwürdigern Vater und die theuere Mutter, die jetzt daheim einsam in dem Sterbehause zu Angerode ihre Wittwenzeit vertrauerte. Dieses Pfarrerpaar dort ging so stumm, so kalt neben einander! Stumm und kalt? sagte er sich ... und gedachte der Vergangenheit. Ach! Er mußte sich gestehen, daß auch seine Ältern nicht immer in jüngeren Jahren auf einen Ton gestimmt waren .... Eine Thräne stand ihm im Auge, als er der Zeiten sich entsann, die ihm als Kind nicht verständlich waren, jetzt aber klarer vom Jüngling begriffen wurden, der Zeiten, wo der Vater auch oft Noth hatte, sich mit einer schönen, gutherzigen, aber zuweilen anspruchsvollen, aufbrausenden und eigensinnigen Frau zu vermitteln. Später, als die Mutter an ihrer eigenen Familie, besonders an einem heißgeliebten verschollenen Bruder viel Leids erfuhr, ebnete sich auch in ihrer Brust der etwas schroffe Sinn und manches wärmere Wort entquoll den welkeren Lippen, die damals, als sie rosig waren, selten gebebt, selten gezittert hatten und selbst dann nicht gezittert, wenn den Vater der Schmerz darüber verzehrte. Das sind so Stimmungen in den Herzen der Kinder, wo sie die Erde aufwühlen und die theuern Todten aus der Gruft wecken möchten, um ihnen zu sagen: Was hast du gelitten und wir verstanden es nicht? Was hast du von uns fodern dürfen und wir ersetzten dir nichts? Warum lebtet ihr nicht so lange, daß ihr euch ganz verstandet? Warum [379] sieht nun jetzt Einer nicht die Trauer des Andern? .... Bei solchen Erinnerungen kommt natürlich auch in ein sonst so weltliches Gemüth, wie das unsers Dankmar, ein ernster Anflug jener Stimmung, die uns ja auch die unerschütterliche, auf die ewige Gerechtigkeit begründete Nothwendigkeit des Wiedersehens dieser unserer Lieben wie eine Gewißheit in die Hand giebt, die dem Granit der Berge gleicht.

Von den Gästen, die zum Schlosse gingen, sah Dankmar auch den Justizdirector mit seiner kleinen anspruchsvollen, runden Frau, von der Hackert gesagt hatte, sie kenne Schlurcks schwache Seiten. Dankmar vermied auch dies Paar, indem er um die Mauer ging, die das Amthaus und den dazu gehörigen Garten umschloß. Wie prangten da die Obstbäume in ihrer schweren Last! Wie guckten die schwanken Spitzen der drinnen rankenden Rebengewinde über den weißen Kalk herüber! Wol, dachte er, muß es diesen kleinen Paschas, die bisher auf den adeligen Herrschaften Justiz übten, übel bekommen, wenn sie aus solchen anmuthigen Wohnungen, wo sie die Herren waren, in die Landstädte versetzt werden, wo sie, nach der gewöhnlichen Beamtenelle gemessen, auf der allgemeinen Bleiche des Staates nur ein bescheidenes Stückchen Tuch, vielleicht nicht länger als ihr Ordensbändchen, vorstellen. Näher besichtigte er sich jetzt den gefährlichen Thurm. Dankmar wünschte Siegberten den Anblick dieses malerisch gelegenen alten Mauerwerks mit seiner herrlichen Fernsicht auf die Ebene und das Gebirge. Mit Lächeln [380] betrachtete er sich diesen Überrest alter feudaler Zeiten genauer. Der Thurm lag etwas erhöht und war gewissermaßen das Wahrzeichen des Ortes. Neben ihm wohnte ohne Zweifel der Büttel, Gerichtsbote und sonstige Amtsgehülfe, der dies wahrscheinlich alles in einer und derselben Person vorstellte. Der Eingang in den Thurm zeigte sich schauerlich genug. Die Thür war mit Eisen beschlagen und das Schloß von einem gewaltigen Umfange. Die untern Fenster deckten hölzerne, quer über die Gevierte genagelte Latten. Ganz oben aber waren die wahrscheinlich dort befindlichen Gefängnisse mit vergitterten kleinen Fenstern versehen, denen fast sämmtliche Glasscheiben fehlten. Vögel hatten daselbst ihre traulichsten Nester angebracht und unterhielten sicher die Gefangenen, wie Condorcet sich mit den Spinnen unterhielt. Dankmar mußte lachen, wenn er gedachte, daß hier eine gute Leiter und eine Feile, geschickt von einem guten Freunde bei Nacht dirigirt, jeden Gefangenen befreien konnte; denn der Thurm lag ganz frei, ganz außer dem Orte, in dem offensten Zusammenhange mit der Landstraße, dem freien Felde und dem Gebirge. Er legte sich, behaglich angemuthet, eine Cigarre rauchend, am Fuß des criminalischen Gemäuers nieder, recht in die Mitte unter frischen, duftenden Feldblumen, unter gelbweißen Kamillen, dunkelrothen Klapperrosen, blauen Glockenblumen, Winden und zwischen hochstämmige hier und da aufgeschossene wilde Wurzel- und Staudenpflanzen.

Da fühl' ich's, dachte er im Sinne des Bruders, da fühl' [381] ich's, was doch zum Ergreifen des Pinsels treiben kann! Wer möchte dies weite Feld, diese Wiesen, diese schlängelnden Bäche mit den Thurmspitzen und blitzenden Fenstern der Meyerhöfe nicht dauernd festhalten! Wär' ich ein reicher Mann, trotz meines Bruders historischem Pinsel, nur Landschaften gewänn' ich mir! Die andern Maler geben mir alle zu viel aus sich und nur aus sich, der Landschafter giebt nur das, was ich brauche, um mich selber zu erfreuen und mich mit ihm in gleiche aber freie Stimmung zu setzen. Auch ein Genrebild will, daß man gerade diesen Moment und nur diesen, den der Künstler darstellt, genießt. Bei jeder Verschiebung der Gruppe hört das Bild schon auf, die Veranlassung gemalt zu werden, zu verdienen. Aber die Landschaft, die bleibt sich immer gleich! Der Beschauende wechselt. Er wechselt nicht in seinen Stimmungen, denn die sei eine und dieselbe durch jedes Landschaftsbild, aber in seinen Gedanken, in seinen Betrachtungen, Anknüpfungen, Auslegungen. Könnt' ich dort den Waldesrand auf dem Berge so nun für ewig mit mir führen! Es wäre ein Gefühl damit verbunden, das mir immer und immer gleich bleiben würde. Das Pünktchen da oben am Bergrücken ist fast eine Kappe von dunklerm Grün, die der hellgrün gekleidete Berg sich aufgesetzt hat! Wie mag es unter diesen Tannen da rauschen, singen, flüstern! Hätt' ich das nun immer so bei mir, könnt' ich's in einem Bilde so mit mir führen, wie gewiß wär' ich, daß mir nicht nur diese Vergleichungen, sondern diese ganze selige Stimmung, hier [382] unter dem plessener Gerichtsthurme und am Fuße des Schlosses Hohenberg, nie verloren ginge! Es könnte nun kommen im Leben, was da wolle, ich sähe mein Bild, und immer genöß' ich das wieder, was ich jetzt genieße ... Ich muß mir den Siegbert einmal hier hinaus plaudern. In dem Atelier, bei dem Theelöffelgeklapper seiner vornehmen Protectricen, in den Salons und Coterien, wo er ästhetisirt und sich verdüftelt, wird er mir – jetzt besinn' ich mich auf sein Aussehen im Pelikan – ohnehin ganz blaß ... und verschmachtet mir wol gar ... an einer geheimen Liebe?

Wie Dankmar so im versengten Grase und unter den würzigen Kräutern und bescheidenen Blumen, den Kopf auf den Arm gestemmt, in die Gegend blickte, die ihm, dem Unruhigen und Rastlosen, so viel Friede in die Seele goß, verweilte sein Auge, das anfangs nur summenden Käfern und Schmetterlingen, dann und wann einem Landmanne, einem Bauermädchen, einem Wagen nachhängender folgte, auf einem ältern Manne und einem Knaben, die beide hinter dem Thurme dahergeschritten kamen und sich wie er in der Gegend umschauten. Es war dies jener Fremde, der Ackermann heißen sollte und sich mit einem bescheidenen Fuhrwerke gleichfalls in der Krone Nachmittags eingefunden hatte. Der zierliche, außerordentlich behende, schöne Knabe, der ihn begleitete, war sein Sohn. Er nannte ihn, wie Dankmar von den Leuten in der Krone schon gehört hatte, mit einem Namen, den Jene offenbar verwälschten. Er wußte von diesem Namen nur erst so [383] viel, daß er dem seinigen zu ähneln schien .... Der Fremde bemerkte Dankmarn nicht, wohl aber sein kleiner Begleiter, der sein grüßendes Nicken mit Anmuth und so bescheiden erwiderte, daß er vor Verlegenheit roth wurde. Welch' ein anmuthiges Kind! sagte Dankmar unwillkürlich, als Beide vor ihm auf der Landstraße der Ebene zuschritten. So behend, so zärtlich, so verschämt! Das Bild eines Ganymed!

Vater und Sohn waren fast gleich gekleidet. Leichte Strohhüte mit weiten Rändern schützten vor dem Sonnenstrahl. Der Vater trug einen Überrock von demselben halbwollenen Zeuge, von dem der Sohn ein Jäckchen trug. Die Beinkleider waren weit und von einem gestreiften Zeuge. Der Vater hatte die Brust halb offen und hielt nur den Hemdkragen mit einem bunten Foulard zusammen, dessen lange Zipfel über die weit ausgeschnittene Weste fielen. Der Sohn dagegen trug ein zierlich gefälteltes Chemisett, das oben in eine Art Halskrause endete und seinem Antlitz mit den schönen dunkeln Locken, die über die Schultern herabrollten, etwas Neckisches, ja Zierliches, Stutzerhaftes gab. In der rechten Hand trug der Knabe ein Stöckchen mit einem goldenen kleinen Knopf und fuchtelte damit in der Luft hin und her, während sein linker Arm in dem des Vaters hing, neben dem er graziös und sich ihm fast zärtlich anschmiegend einherschritt, fast wie ein Mädchen.

Dankmar konnte beide Lustwanderer genau betrachten; denn oft standen sie still, wandten den Blick wieder [384] rückwärts und sahen sich die Gegend, die sie ebenso wie ihn zu erfreuen schien, gründlichst an. Endlich hielten sie an einem der Wege, die zum Schlosse hinaufführten, inne. Sie schienen unschlüssig, ob sie ihn einschlagen und auch Hohenberg besichtigen sollten. Der Kleine verrieth durch seine zuredenden Gebehrden, daß ihn die Neugier recht stachelte, zum Schloß hinaufzusteigen. Zu den Gästen, die dort oben ihr Wesen treiben, dachte Dankmar, gehören sie nicht. Oder ist der Vater vielleicht geneigt, diese Besitzung zu kaufen? Er mußte sich sogleich sagen, daß der Fremde trotz unverkennbarer Bildung etwas von einem Landmann hatte. Seine Gesichtszüge waren sehr fein und edel, ja sie hatten sogar etwas, was ihn durch irgend eine ihm unbewußte Ähnlichkeit so mächtig ergriff, daß er hätte betheuern mögen, einen solchen Mann einmal als einen höhern Staatsdiener oder einen berühmten Gelehrten irgendwo schon gesehen zu haben, dann aber fand er wieder, daß der Fremde sich doch nur als ganz schlichter Naturfreund gab, der zuweilen Ähren raufte und sie prüfend betrachtete, einen Stein vom Wege aufgriff, in der Sonne funkeln ließ und wieder gleichgültig wegwarf, das Stackett, mit dem der zum Schlosse gehörige Baumgarten hier schon umzäunt war, mit dem Fuße rüttelnd prüfte und an schadhaften Stellen, um zu zeigen, wie vernachlässigt es war, sogar eine morsche Planke etwas losriß, kurz er war bei allem Anstand der Haltung doch eine derbe, der Natur des Landlebens kundige Persönlichkeit, die sicher einem Ökonomen oder ähnlichen Geschäftsmanne entsprach. [385] Endlich folgte der Fremde der Überredung des Knaben und that ihm mit sichtlichem Widerstreben den Gefallen, mit ihm zum Schloß hinaufzusteigen.

Dankmar stand nun auf und wäre gern gefolgt. Der Fremde und sein Knabe fesselten ihn. Er beschloß, sich ihnen zuzugesellen, um auch seinerseits das Schloß in Augenschein zu nehmen. Da Schlurck dort oben gewohnt hatte, konnte er vielleicht erfahren, wie der Justizrath zu seinem Schrein gekommen war. Auch die schöne Melanie, von der er die Erinnerung hatte, sie schon in der Stadt gesehen zu haben, Melanie Schlurck, von der er so viel Phantasieanregendes vernommen, die er selbst im Walde an sich hatte vorbeisprengen hören – genauer nach ihr zu sehen, war er durch Hackert's Flucht und den Zustand seines Pferdes verhindert – auch diese konnte er vielleicht hoffen, irgendwo an einem Fenster zu erblicken. Sein Bruder, mehr wußte er nicht, hatte sie im Atelier des Professor Berg, wo sie malte, zuweilen beobachtet. Daß Siegbert, der neuerdings sogar in ihrem Hause war, durch ein Bild wegen ihrer verspottet sein sollte, wußte er nicht. Alle diese Dinge waren während seiner Abwesenheit in Angerode vorgefallen. Er selbst, zu voll von dem, was er dem Bruder zu erzählen hatte, war noch nicht dazu gekommen, ihn nach seinem eigenen inzwischen Erlebten zu befragen. Von den andern Namen, die Hackert und der Förster Heunisch genannt hatten, kannte er Niemand, selbst Eugen Lasally nicht persönlich, obgleich er zuweilen eines seiner Pferde ritt. Die Sphäre, in der Lasally[386] lebte, war ihm aus vielem Betrachte widerwärtig und auch unzugänglich.

Als er einige Schritte dem Fremden und seinem Knaben nachgegangen war, blieb er stehen. Man wird dich, wenn du dich ihnen anschlössest, für zudringlich halten! sagte er sich. Und da oben um das Schloß herumschnuppern und der Eitelkeit der dort hausenden Menschen die Folie der Neugier geben, ist doch auch wol deine Sache nicht!

So blieb er unten, blickte noch einmal dem leicht hinaufhüpfenden Knaben nach, durchschritt einige Feldwege und kehrte wieder in die Krone zurück, wo er bestätigt erhielt, daß der Fremde wirklich aus Amerika käme und Ackermann hieße. Aber dem Namen des Knaben kam er wieder nicht bei. Man hatte ihn offenbar nicht verstanden und sprach ein Wort aus, das ihn mehr an einen indianischen Häuptling, als an einen christlichen Taufnamen erinnerte.

Früh zur Ruhe sich legend, das stille Einathmen eines ländlichen Abends unter Sternengeflimmer und beim vollen goldgelben Julimondenschein sentimentaleren Naturen überlassend, hatte er die Absicht, am nächsten Mittag, wenn er sonst von Hackert und dem Prinzen nichts erfuhr, mit seinem Einspänner und dem anschmiegsamen Bello sich auf den Rückweg zu begeben. Kaum hatte er wol am Abend gedacht, daß am folgenden Morgen nicht nur eine nähere Bekanntschaft mit Ackermann und seinem Knaben ihm diesen Entschluß vereiteln, sondern [387] auch eine abenteuerliche Kette von Misverständnissen aller Art ihn so umstricken würde, daß er sich für's Erste vom Fuße des Schlosses Hohenberg nicht wieder loswinden konnte und der Lage sich aussetzen mußte, dort die seltsamsten Dinge zu erleben.

[388]
2. Capitel. Selmar Ackermann
Zweites Capitel
Selmar Ackermann

Als Dankmar zwar in aller Frühe aber doch wiederum wahrnahm, daß Niemand sich nach ihm erkundigte, der Prinz und Hackert wirklich verschwunden waren, wollte er noch einmal zur Schmiede gehen und vor seiner Abreise von dem alten und jungen Zeck, die ihm doch ein gar sonderbares Paar schienen, prüfenden Abschied nehmen.

Bello begleitete ihn. Das kranke und sonst so schweigsame Thier wurde an der Schmiede sogleich wieder unruhig und gerieth in sein schon bezeichnetes, dem alten Schmied so widerwärtiges Kläffen und Bellen.

Es schien ihm schon von Ferne ziemlich lebendig unter und vor dem Dache der Schmiede. Da standen Wagen und Pferde, die die Hülfe dieser Dorfvulkaniden in Anspruch nahmen. Bauernbursche, herrschaftliche Stallknechte, auch einer von Lasally's Jokeys, der die »quihnende Laura« eben wieder in die Ställe des Schlosses zurückführte. Näher gekommen, merkte er, daß die meisten der hier Haltenden ungeduldig waren, lärmten und abgefertigt sein wollten. Aber nur der junge Zeck war zugegen und nahm in Ruhe, da er die Flüche nicht hörte, eine Arbeit nach der andern vor. Die Lärmenden mußten [389] sich gedulden und zerstreuten sich durch Possen, die, seit sie Dankmar hörte, nur ausgelassener wurden; denn die Menschen sind geborene Schauspieler und werden, beobachtet, im Guten und Schlimmen nur rührsamer.

Bello sprang zwischen diesen Tumult mitten hinein und stöberte einen Flüchtling auf, dem seine Lebhaftigkeit doch bedenklich vorkam. Es war dies der junge Ackermann, der an der Schmiede unter ihrem von zwei Holzsäulen getragenen Vorbau dem Hufbeschlag zugeschaut hatte. Als die Reden der Bauernbursche zu derb wurden – sie kamen meist aus dem Ullagrunde, besonders vom reichen Bauer Sandrart – wandte er sich schon dem grünen Rasen zu, der rechts vom Hause lag und mit Obstbäumen bepflanzt war. Dort witterte ihn Bello und beängstigte ihn.

Dankmar sah schon längere Zeit, wie der Knabe, der ihm denselben gefälligen Eindruck wie gestern machte, auch einer alten Magd zuschaute, die zwischen den Obstbäumen eine Leine zog, um auf ihr Wäsche zu trocknen, und ihr allerhand Antworten abzugewinnen suchte. Doch ein weichliches Ding! sagte er sich. Was nimmt er an der Wäsche für einen unmännlichen Antheil! Wie er die Sacktücher mustert! Ich will glauben, er ist nur neugierig und will die Buchstaben lesen, mit denen sie gezeichnet sind.

Bello hatte es vielleicht eigentlich nur auf die Alte abgesehen und erschreckte nur zufällig auch den Knaben. Dankmar bedeutete ihm Ruhe, trat dem Rasen und den Obstbäumen näher und knüpfte mit dem jungen erröthenden Amerikaner ein Gespräch an.

[390] Wo ist dein Vater, Kleiner? fragte Dankmar mit einer Stimme, die ihm selber komisch vorkam, denn er suchte ihr den Ausdruck des Holden zu geben, weil sie Holdes anredete ...

Oben bei dem Schmied! war die schüchterne, verlegene Antwort; ich erwarte ihn hier.

In der That war das Feuer in der Esse am Verglimmen. Ein Eisen auf dem Ambos verglühte. Die Geräthschaften lagen alle so durcheinander, als wenn sie eben Einer im Nu weggeworfen hätte. Der junge Zeck konnte die Arbeit kaum allein zwingen ...

Wie gefiel es dir gestern auf dem Schlosse oben? sagte Dankmar, um sein Gespräch nicht sogleich wieder abzubrechen.

Mir weit besser als dem Vater! sagte der Knabe.

Der hat freilich wol schon Vieles gesehen, was schöner ist, entgegnete Dankmar. Ihr kommt ja weit her?

Von Amerika, sagte der Knabe, und setzte nach einigem Besinnen hinzu: Aus Missouri.

Aus Missouri! Ja, ja! Man erzählte mir's schon in der Krone, bemerkte Dankmar. Da seid ihr wol nur zum Besuche hier und werdet gewiß wieder übers Meer zurückwollen?

Das wissen wir selbst noch nicht, erwiderte der Knabe. Wenn es dem Vater wieder in Deutschland gefällt, bleiben wir; wo nicht, kehren wir nach Columbia am Missouri zurück, wo wir gewohnt haben.

Nach Columbia! Am Missouri! ..... sagte Dankmar[391] herzlich; so will ich wünschen, daß euch Alles hier erfreuen und befriedigen möge, damit wir nicht nur gute Menschen an Amerika verlieren, sondern deren auch welche von da wieder herübergewinnen.

Der Knabe schlug zerstreut mit seinem Stöckchen auf einige hochstehende Grashalme .....

Dankmar fühlte, daß ein längeres Gespräch mit dem schüchternen und bescheiden die Augen niederschlagenden Kinde es ängstigen würde und brach, wenn auch ungern, seine Unterredung ab. Er konnte nicht umhin, dem Knaben flüchtig die erröthenden Wangen zu streicheln, worauf dieser vollends feuerroth wurde und sich geängstigt abwandte.

Dankmar nickte noch einmal und wandte sich links zur Schmiede. Ein Wagen fuhr eben davon. Zwei Pferde, hinten angebunden, hüpften ihm, mit neuen Hufeisen beschlagen, lustig nach. Lasally's Jokey war gleichfalls verschwunden. Nur noch ein Reitknecht hielt den Huf eines Gaules, dem der junge Zeck, in Hemdärmeln, ganz schwarz berußt, die Hornhaut vom Hufe abstach. Dankmar sah eine Weile zu. Der junge Zeck grüßte flüchtig und eilte sich in der Arbeit, was er nur konnte. Der junge Ackermann hielt sich inzwischen in der Ferne auf dem Rasen und schien sich mit Bello ausgesöhnt zu haben. Kaum hatte sich Dankmar wieder nach ihm umgesehen, war auch die letzte Arbeit in der Schmiede verrichtet. Der Knecht bezahlte und eilte mit seinem Pferde davon. Der junge Zeck verschwand in dem innern kohlengeschwärzten Hause.

[392] Dankmar beschloß, sich dem blinden Alten vor seiner Abreise doch noch einmal zu empfehlen. So folgte er in die dunkle leere Werkstatt und sah eine kleine schmale Treppe, die oben in die Wohnung des Schmieds führte. Er trat behutsam auf. Die Nachwirkung des Eindrucks, den der Knabe in seiner Sanftmuth auf ihn gemacht hatte, ließ ihn leiser auftreten, als er sonst würde gegangen sein. Man hörte ihn nicht. Wie erstaunte er daher, als er unerwartet oben, eine Thürklinke niederdrückend und in ein niedriges Gemach eintretend, den blinden Zeck eben im Begriffe fand, einen ganzen Tisch voll flimmernder, hellblitzender Goldstücke einzustreichen! Der taube Sohn stand gierig gaffend daneben und der Amerikaner wollte eben gehen ....

Wer da? rief der Blinde mit Heftigkeit, als er sich so plötzlich überrascht fand. Sein sonst so feines Gehör mußte ihn bei dem Fühlen und Tasten nach den schweren Goldstücken verlassen haben, sonst würde ihm wol schwerlich das wenn noch so stille Hinaufsteigen Dankmar's entgangen sein ....

Beruhigt Euch! sagte Dankmar. Ich wünsch' Euch alles Glück, wenn Ihr in der Lotterie gewonnen oder eine Erbschaft gemacht habt. Ich wollt' Euch nur sagen, daß ich aufbreche und wenn Ihr an den Fuhrmann Peters etwas zu bestellen habt –

Nichts! Nichts! Was Peters! Herr! polterte der Blinde grob und unhöflich. Seit dem plötzlichen Reichthum schien er auch schon alle Fehler der Reichen bekommen [393] zu haben. Sein Zorn erinnerte Dankmarn an die Bosheit, mit der er heimlich gestern den vorlauten Bello hatte niedertreten wollen. Der Alte hatte sein schon halb lose hängendes Schurzfell rasch abgebunden und es wie zum Schutz auf den Tisch so geschwind gebreitet, daß einige Goldstücke auf die Erde rollten. Der Blinde tastete, der Taube kroch nach den rollenden Friedrichsd'oren mit der Gier einer Katze. Es war ein häßlicher, ängstlicher Anblick ....

Dankmar hatte schon die Thür in der Hand und entfernte sich, den feinlächelnden Amerikaner flüchtig grüßend, mit den Worten:

Ich sehe, daß ich störe. Genießt Euer Glück in Frieden! Lebt wohl!

Damit kletterte er getrost die Hühnersteige wieder hinunter zu Bello und dem Knaben, der inzwischen draußen im Vorbau der Schmiede auf einen dreibeinigen Schemel sich niedergesetzt hatte und dem Hund, der sich ihm jetzt nach Entfernung der garstigen Magd, die hinten an einem Ziehbrunnen wusch, traulicher anschmiegte, nach seinem traurigen Schaden sahe ....

Wetter! sagte Dankmar aufgeregt zu dem Knaben, wenn ich gewußt hätte, daß dein Vater oben Geldgeschäfte mit dem impertinenten alten Schmied hat, würde ich mich wol gehütet haben, ihn zu stören ....

Es ist eine Erbschaft, sagte der Knabe, die ihm der Vater aus Amerika mitbringt.

Eine Erbschaft! Und das so aus freier Hand, ohne[394] gerichtliche Vermittlung? Erbschaften sollen nur durch die Behörden gehen. Verstehst du etwas vom Recht?

Der Knabe schüttelte den Kopf.

Dankmar bemerkte mit Wohlgefallen die langen seidnen Wimpern des braunen Auges, die der kleine Amerikaner niederschlug, ohne eine gewisse Pfiffigkeit und Schlauheit verbergen zu können, die hinter seiner Scheu verborgen lag.

Ihr wißt von unserm Amtswesen und unsrer Federfuchserei nicht viel? sagte Dankmar, um sich von dem unangenehmen Eindruck, den ihm der oben erlebte Augenblick hinterlassen, zu zerstreuen.

Doch, Herr, antwortete der Knabe und stemmte den einen Fuß wie spielend rückwärts an ein zerbrochenes Rad; doch! doch! Der Vater hat sich freilich gestern nach dem Schmied und seiner Schwester erkundigt und sich nachschlagen lassen, was man auf dem Amt von ihnen weiß und da er fand, daß es die Richtigen sind, denen er das Geld zu bringen hat, so hat er's ihnen nun wol oben gegeben. Es war uns schwer genug. Um den Leuten Freude zu machen, wechselte er das Papier in pures blankes Gold.

Die Schwester des Schmieds? wiederholte Dankmar, erfreut durch die ermuthigte und gesammelte Antwort und den gutmüthigen Zug des Vaters. Also eine Schwester hat der Schmied? Er ist blind, sein Sohn taub, was muß da wol die Schwester für ein Gebrechen haben?

Das Alter, hör' ich; sagte der Knabe lächelnd.

[395] Das Alter! .... wiederholte Dankmar.

Die Antwort gefiel ihm. Er schaute ganz betroffen auf, vergrößerte die Augen und hätte fast Brav, mein Junge! gesagt.

Der Knabe aber, seine angenehme Erregung übersehend, fuhr harmlos fort:

Sie sollte erst in die Schmiede kommen, daß wir ihr hier ihren Antheil auch auszahlten und das schwere Geld loswürden. Aber sie soll seit Jahren ein Gelübde gethan haben, nicht weit vor die Thür zu gehen und so müssen wir ihr's nun wol selbst bringen .....

In diesem Augenblick rief vom Innern der Schmiede her eine starke sonore Stimme:

Selmar!

Dem nun aufspringenden Knaben trat sein Vater entgegen. Wie dieser Dankmarn erblickte, sagte er freundlich:

Sie waren sehr rücksichtsvoll, mein Herr! Wie rasch Sie sich entfernten! Ja, ja! Der Blinde oben ist außer sich, daß Sie uns da so plötzlich überrascht haben. Diese Leute wollen um jeden Preis etwas besitzen, es aber um's Himmelswillen Niemanden sehen lassen.

Er kann schon sicher sein, sagte Dankmar, daß ich weder, was ich sah, noch was mir mein kleiner Freund Selmar erzählte, ausplaudern werde .....

Dankmar benutzte die Gelegenheit, zu bemerken, daß er endlich den Namen des jungen Ackermann erobert hätte.

[396] »Freund Selmar!« »Ausplaudern!« Diese Worte schienen einen Eindruck auf den Vater zu machen. Er warf einen eigenen verlegenen Blick auf sein Kind.

Selmar faßte ihn unterm Arm. Beide schickten sich an die Schmiede zu verlassen.

Sie kommen aus Amerika! sagte Dankmar, sich anschließend und die fortdauernde Verlegenheit des Vaters nicht bemerkend. Sind die Amerikaner denn auch so wunderlich in Geiz, Habsucht und Verstellung und unsern andern versteckten europäischen Lastern?

Ackermann antwortete im Gehen lächelnd:

Der Amerikaner trägt gern offen zur Schau, was er besitzt, prahlt auch wol ein wenig .... aber die schnöde Furcht des Besitzes ist selten. Findet sich dies Laster, so ist es aus Europa mit hinübergebracht.

Wie bei Morton? Nicht wahr? sagte Selmar.

Dem Vater schien Selmar fast mit Dankmarn schon zu vertraut geworden. Er blickte Dankmarn wiederholt an und schien sich zu überlegen, ob sein Sohn gut gethan hätte, sich dem jungen Fremden schon so weit zu vertrauen, daß er von einem gewissen Morton sprach .....

Morton? wiederholte er und schwieg.

Die Stimmung, die durch diesen wiederholten Namen und das plötzliche Stillschweigen des Vaters zwischen allen Dreien entstand, löste der junge Zeck, den Dankmar jetzt erst hinter ihnen bemerkte.

Dahin wohnt die Tante! sagte er und zeigte dem Walde zu.

[397] Er sah dabei Dankmarn stutzig an und schien fragen zu wollen, ob dieser zu der Partie gehören dürfe .....

Alle Vier waren aber schon auf dem Wege und der Fußsteig von hier nach dem Walde zu gehörte zuletzt Jedem.

Dankmar, der sich nicht irre machen ließ, gab wol die Frage nach dem Geizhalse Morton auf, bemerkte aber, zu Ackermann gewandt und innerhalb der Grenze erlaubter Neugier:

Sie sind in Deutschland geboren? Vielleicht schon früh ausgewandert?

Vor einigen zwanzig Jahren! sagte der Fremde und blickte sich nach Selmar um, der sich eben von ihm getrennt hatte. Diese Trennung galt Bello, auf den der Knabe sich schon soviel Einfluß zutraute, daß er diesen von dem Unmuth beruhigte, der ihn wieder beim Anblick des jungen Zeck befiel.

Ich habe mich in der Union drüben viel herumgetummelt, sagte dieser sogenannte Ackermann, bis ich endlich am Missouriflusse in dem Städtchen Columbia mich niederließ. Mein Weib, das ich aus Deutschland mitgeführt hatte, starb vor noch nicht lange und hinterließ mir da den spät gebornen Jungen. He Selmar! Selmar! Laß doch dem Thierchen seine Freude! Der Junge ängstigt sich.. Sie wissen wol, in Amerika bellen die Hunde nicht..

Der taube Zeck öffnete ein Stacket, durch das man erst zu einer Wiese und dann zum frisch sie anwehenden Walde gelangte. Er blieb, als Selmar und sein Vater passirt waren, stehen und machte eine hämische Miene, indem er in [398] der den Tauben eigenen leisen Art, aber dummdreist, zu Dankmarn sprach:

Wir gehen aufs Jägerhaus!

Dankmar achtete nicht.

Aber auch Ackermann schien Dankmar's weitere Begleitung nicht vorauszusetzen und blieb stehen, wie wenn man sich empfehlen wollte .... Selmar aber hatte den lahmen Bello aufgegriffen und ihn mit den Worten: Armes Thierchen, das Laufen wird dir schwer; ich trage dich! an die Brust gedrückt und war ohne Rücksicht auf den Vater und den Fremden schon ein Stückchen Weges weiter gegangen.

Kinder und Thiere bringen die Menschen zusammen! dachte Dankmar und schritt über die Wiese getrost mit zum Wald hinüber.

Vater, sagte Selmar sich umwendend, so mächtig wie unser Büffelforst ist ein deutscher Wald doch nicht!

Das wollt' ich meinen, Junge! antwortete der Vater, der sich in Dankmar's Begleitung nun ergab. Hast du das Stacket bemerkt? Kein Jagdgesetz hegt unsern Urwald ein!

Wohl Vater .... aber..

Aber?

Lieblicher ist der deutsche Wald!

Was lieblicher!

Sieh, bei uns unter den riesenhohen Bäumen mit dem rothen Holze und den ellenlangen Nadeln, wer kann da lustwandeln? Überall Stämme, deren Wurzeln hoch aus [399] der Erde herausstehen und quer über Das hinweglaufen, was ungefähr wie ein Weg aussieht und doch keiner ist! Dazwischen ganze Bäume, die während der Überschwemmung des Missouri ausgerissen wurden und hoch in den Zweigen der andern stecken blieben, wo sie jeden Augenblick niederstürzen können; der fürchterlichen Steine garnicht zu gedenken, die von uraltem Moos zerfressen überall umherliegen und die ganze Ordnung so einer friedlichen Baumgruppe stören. Sieh nur, Vater, wie die Sonne so heiter durch das Hellgrün der Buchen schimmert! Bei uns dringt die Sonne garnicht durch oder fällt nur von oben so geheimnißvoll herab, daß man sich nach dem Felde hinaussehnt, wo sie frei scheint. Und auch dort, gesteh's nur, Vater, was hat man als die unabsehbar große Prairie, die wie ein grünes Meer ist, endlos, unheimlich und recht melancholisch!

Da sehen Sie es, sagte Ackermann nach dieser gewandten Schilderung, die Dankmarn überraschte und fast erschrecken ließ, daß er den gebildeten Knaben ohne Weiteres mit Du angeredet hatte; da sehen Sie's, Selmar hat es darauf angelegt mich hier zu behalten. Wie gefiel ihm nicht das abscheuliche London, das garstige Hamburg! Gestern auf dem Schloßberge oben bekam er Gefühle, wie ein junger, unter Klosterruinen erzogener Siegwart! Ein Amerikaner! Ein praktischer Verstandesmensch! Schäme dich!

Selmar lachte. Er hatte es schlau angefangen. Erst den Vater durch ein Lob Amerika's gewonnen und dann doch seine Meinung gesagt.

[400] Dankmar hörte schweigend zu. Er lächelte mit Wohlgefallen und Überraschung. Die gebildeten Äußerungen des Knaben, der freundliche Scherz des geistreichen, plötzlich so fein und unterrichtet sich ausdrückenden Vaters erfreute ihn innigst.

Der Träumer trifft dich, Vater, sagte jetzt Selmar, ließ den unruhig zappelnden Bello wieder laufen und hüpfte zu Ackermann heran, ihn zärtlich umfangend.

Wie so mich?

Er trifft dich, Vater! Besinne dich nur auf Gestern! Erst wolltest du nicht hinauf auf's Schloß, weil du wol dachtest, da fallen mir all' die schönen Mährchen und Geschichten ein, mit denen du und die Mutter mich in der langen trüben Regenzeit in Columbia unterhieltest! Weißt du noch die Sagen vom Kynast, vom Falkenstein, vom Kyffhäuser und vom Drachenfels? Immer zanktest du, wenn die Mutter von diesen Geschichten anfing, und sagtest: Laß das dumme europäische Zeug! Wenn aber die Mutter doch erzählte und nicht recht weiter konnte oder eine Sage nicht mehr recht im Zusammenhange wußte, fielst du ein und erzähltest mehr als sie.

Ja, ja! Aber oben ..... was ist oben auf dem Schlosse gewesen?

Verstell' dich nicht! Wie du oben an dem Schlosse warst ... rührte dich Alles, der kleine Pavillon im Garten, die Grotte, die kleinen Wasserfälle, die du, um nur spotten zu können, kleine Fingerhut-Niagaras nanntest; Und mit der alten Beschließerin und dem weißhaarigen Gärtner, [401] mit dem besonders, hast du gesprochen, als wenn sie Kuno und Kunigunde hießen und seit tausend Jahren da wohnten ....

Brigitte, heißt die Alte, Kind! Das ist ein ganz romantischer Name! Aber du irrst, mein Junge, die thaten mir's nicht an. Jedes dritte Wort war ein Bibelvers. Das können wir in Philadelphia auch haben. Ja! Das war's, was mich ergriff, Kind, die Erinnerung an Philadelphia .....

O du entkommst mir nicht! sagte der liebliche Knabe, immer zärtlich und dem Vater so treu ins Auge blickend, daß im Vaterauge wirklich eine Thräne der Rührung quoll; gestern hast du beim Anblick des Schlosses oben eher an die Hängematte eines Negers gedacht, als bei den beiden alten Leuten, die es hüten, an Philadelphia!

Junge, was soll der Herr da von deinem Geschmack denken? Das alte Rococo-Möbel.. im Commodenstyl! Wie kann uns das an deutsche Sagen erinnern!

Erzähltest du nicht von der alten Geschichte des Hauses Hohenberg? Und von den Grafen Bury, die mit ihm verwandt sein sollten? Und dir gefiel auch das alte Möbel mit seinem geschnörkelten Eisengitter, den vergoldeten Namenszügen und den wunderlichen Fratzen über den Fenstern! Und wie du erst hineintratest in den Hof.. oben war bunte fröhliche Gesellschaft,.. da schautest du in die Fenster so nachdenklich, so feierlich, als wolltest du dir schon die Stelle aussuchen, wo du deine Bücher hinstellen könntest, hier die deutschen, da die [402] englischen und französischen, und wie du hinaufblicktest auf die Krone, die über dem Giebel des Portales schwebte, da dachtest du dir gewiß: da setz' ich meinen durchbrochenen Himmelsglobus hin und betrachte mir von seinem Innern aus in schönen Winternächten die Sterne.

Wenn keine Krähen drin nisten! sagte Ackermann und fuhr nach einer Weile fort: Du bist ein Phantast! Man sieht, daß du von deutschen Ältern stammst und deutsche Ältern ihre eigne Heimathssehnsucht in dich hineingeseufzt haben. Im Gegentheil! Ich habe Mitleid mit Denen, die sich da oben hinpflanzten und Einsiedler sein wollten. Reuige Menschen zogen oft in die Wüste, aber sie nahmen keinen Spiegel mit, der dazu dienen sollte, sich doch immer noch selbst nicht zu vergessen. Thaten sie es, wie Timon der Menschenhasser, so wollten sie im Spiegel nur ihren Verfall, ihr Elend erblicken. Der Ort da oben kommt mir wie ein Spiegel vor, in dem eine Büßerin beschaut, wie sie bei aller Reue sich doch noch immer schön ausnimmt ....

Die Bewohnerin des Schlosses, sagte Dankmar, war die Fürstin Amanda von Hohenberg.

Ich weiß es, bemerkte Ackermann ernst und mit auffallender Bestimmtheit.

Sie wurde fromm, fuhr Dankmar fort, als sie sich unglücklich fühlte und keine irdische Rettung mehr kannte. Ihr Gatte trug einen berühmten Namen ohne Würde. Er verschleuderte sein Vermögen. Die Arme ließ nichts zurück, als ein gesegnetes Andenken und einen Sohn, [403] der, wenn ich nicht sehr irre, gelernt hat, irdische Auszeichnungen entbehren.

Dankmar sprach diese Worte mit fester und doch bewegter Stimme. Er hatte eine so tiefe Achtung vor seinem Reisebegleiter in der Blouse gewonnen, daß er glaubte, hier für ihn einstehen zu müssen, wo seiner unglücklichen Mutter vorgeworfen wurde, sie hätte mit ihrer Frömmigkeit es doch wol nur auf die hergebrachte weibliche Eitelkeit, wenn auch in andrer Form, abgesehen gehabt und es wäre ihre Reue von Selbstzufriedenheit begleitet gewesen.

Ackermann wandte sich auf diese Worte plötzlich, blieb einen Augenblick stehen und sah Dankmarn mit fragendem Ernste an.

Kennen Sie den Prinzen Egon? sagte er, hochroth erglühend.

Ich kenne ihn! erwiderte Dankmar mit einer Erregung, die ihm gleichfalls in die Wangen stieg. Ich verbürge mich für ihn; setzte er entschieden hinzu.

Es kennt ihn hier Niemand, sagte Ackermann, es kannte ihn in der Residenz Niemand, er lebte in Paris; und Sie ... kennen ihn?

Ich kenne ihn! erwiderte Dankmar bestimmt und war fast entschlossen abzubrechen und umzukehren.

Ackermann schwieg, betroffen, wie es schien und seine Anklage bereuend. Er wandte sich wie in tiefes Nachdenken verfallen, zu dem jungen Zeck, der mit schwerem plumpem Gang voranschritt und einmal über das Andere [404] für sich über das Glück seines Vaters und seiner Tante in sich hinein lachte. Die für die Letztere bestimmten Goldstücke mußte Ackermann in der weiten Brusttasche tragen, denn mit stierer Neugier und einem gewissen vertraulichen Zublinzeln zu dieser Stelle schien der Taube sagen zu wollen: Nicht wahr, da steckt das Geld für die Tante? Nur zu Dankmarn wandte er sich dann wieder mit mistrauischer Furcht und betrachtete ihn noch ängstlicher als gestern schon, wo er sich als Eigenthümer des an ihrer Schmiede verlorenen Schreines zu erkennen gegeben hatte ...

Selmar blieb bei Dankmarn zurück.

Es scheint, sagte Dankmar, als wenn ihr Beide, du und dein strenger Vater, im Streite wäret, wo ihr künftig leben solltet, hier oder wieder drüben, jenseit des Meeres .....

Das eben ist es! sagte der Knabe.

Der Vater muß eine üble Meinung von Europa haben. Ich hörte es an der heftigen Anklage gegen die frömmelnde Fürstin Amanda ...

Er war gestern anders .... Sonderbar..

Kannte er sie?

Die Fürstin Amanda? sagte der Knabe erstaunend. Ich glaube: nein!

Ist der Vater reich, so sollte er diese Besitzung kaufen ...... Sie ist zu haben.

Ja zu haben! rief der Knabe lachend und schüttelte den Kopf, als glaubte er, dazu gehörten Millionen.

Dann fuhr er fort:

[405] Nein, nein! Der Vater kämpft mit sich, was er mehr lieben soll, die alte oder die neue Welt. Erst zog es ihn mit so großer Gewalt nach Europa zurück, er traf alle Einrichtungen, nie wieder zu kommen, ließ Haus und Hof in getreuen Händen, die, im Fall er nicht wiederkäme, ihm dafür den baaren Betrag einer ansehnlichen Kaufsumme schicken wollen und nun gefällt ihm ja das alte Heimathland nicht mehr! Jede Gegend, die er von früher sieht, erweckt ihm traurige Erinnerungen und während er so rüstig, so gesund und sonst so heiter ist, ruft er hier überall aus: Ich bin alt geworden, alt! ... und blickt dabei so wehmüthig gen Himmel, ... daß ich weinen möchte!

Selmar weinte ...

Armes Kind! sagte Dankmar, den Knaben tröstend. Und dir geht es umgekehrt? Dir gefällt die Heimath deiner Mutter. Dich kann ein Land nicht befriedigen, wo wie in Missouri noch Sklaven dem Boden seine Erzeugnisse abgewinnen. Dich reizt das Gewühl unserer Städte, die bunte Mannigfaltigkeit unserer Bestrebungen, die Verschiedenheit der Sprachen, der Luxus, die Pracht der Lebensweise, die schönen Krieger in glänzenden Uniformen – nicht so?

Selmar wurde über und über roth und lachte plötzlich.

Ei bewahre! sagte er endlich ganz verschämt.

Doch! doch! fuhr Dankmar fort. Das ist's, was dich fesselt! Für ein so schönes Schauspiel, wie bei uns eine Heerschau der buntgeschmückten Krieger in funkelnden Waffen und bei kriegerischen Klängen, giebst du noch [406] Amerika's ganze Freiheit hin, alles das, was ohne Zweifel die wahre Fessel ist, die den Vater an Amerika kettet; denn aus seinen Äußerungen über das Schloß dort oben seh' ich, daß er die Wahrheit und das Licht der Vernunft liebt.

O gewiß, Wahrheit und Vernunft liebt der Vater! sagte Selmar mit leuchtenden Augen. Dann fuhr er fort:

Glaubt nur nicht, daß ich kein Herz für die Größe der Union habe und die freie Staatsform, in der wir leben, geringschätze. Indessen –

Warum stockst du?

Ich will es auch nur aufrichtig sagen, fuhr Selmar mit herzlicher Innigkeit fort. An dieser Lust, die ich empfinde, Europa und Deutschland zu sehen, ist die Mutter Schuld. Sie schläft drüben in amerikanischer Erde! Aber ihre Seele, wenn es Gott gestattet, daß sie zuweilen noch auf Erden weilen darf, würde am glücklichsten sich fühlen, dürfte sie hier weilen unter den deutschen Eichen. Sie umschwebt uns gewiß überall, wo wir weilen werden und zögen wir in die Wildnisse Asiens. Aber das reinste und schönste Opfer, das man ihr bringen kann, wäre das, wenn wir da lebten, wo ihr Geist auch die Andern noch umschweben kann, die sie hier liebte und verließ, als sie nach Amerika zog .....

Dankmar empfand diese schlicht vorgetragenen, tief empfundenen Worte in ihrer ganzen Wahrheit. Er sah im Geist die Mutter dieses Knaben sich trennen von denen, die ihr hier nächst dem Gatten das Liebste waren und mit [407] halbgebrochenem Herzen in das ferne Land dem noch jetzt schönen, edlen Manne folgen, der da vor ihm herschritt mit eben ergrauendem Haare, noch stolz und männlich! Er konnte nachfühlen, wie hier ein Kinderherz früh getheilt war zwischen dem, was den Vater beglückte und dem, was die Sehnsucht der Mutter war. Vielleicht lebten hier noch viele Menschen, denen Selmar die Züge der frühvollendeten Mutter zurückrufen sollte; vielleicht sollte dieser Knabe ihnen Ersatz für Das werden, was sie an ihr selbst verloren .....

Um der wehmüthigen Stimmung Selmar's keine neue Nahrung zu geben, lenkte Dankmar das Gespräch darauf hinüber, daß er sagte:

Ich kann mir denken, was die gute Mutter von Europa Alles mag erzählt haben und wie das früh in deinem Kopf gezündet hat. Hättest du in New-York gelebt, würde das Geräusch einer großen Weltstadt auch nicht den Drang nach der Ferne so mächtig in dir haben aufkommen lassen; aber eine solche kleine Niederlassung am Missouri, unter Urwäldern und Prairien! Da mag es melancholisch genug sein und ich kann mir denken, die Sagen vom Kynast und Drachenfels, die dir in der trüben Regenzeit erzählt wurden, kamen nicht vom Vater –

Nein! fiel der Knabe ein, die kamen von der Mutter, der guten Mutter. Sie war nur Liebe und Güte.

Wie hieß sie? sagte Dankmar und dachte dabei nur an ihren Vornamen ...

Der Knabe erröthete, fast erschreckend. Er that, als[408] hätte er die Frage überhört und machte sich mit den Sträuchern am Wege zu schaffen, von denen er einen kleinen Zweig abbrach.

Dankmar nahm das Nichtbeantworten seiner Frage für zufällig. Nur daß der Knabe zum Vater hinsprang und er allein blieb, wie Einer, der nicht zu den Andern gehörte und sich doch wol nur als einen Aufdringling betrachten müsse, war ihm peinlich. Er blieb stehen und hätte die Fremden vielleicht ohne Abschied gehen lassen, wenn sich nicht Ackermann umgewandt und auf ein kleines Haus in einem grünen Thalgrunde, der abwärts vom Walde nun in die Tiefe ging, aber rings vom Walde noch eingeschlossen blieb, gezeigt hätte mit den Worten:

Da ist das Jägerhaus!

Offenbar wollte er sagen: Sie begleiten uns doch?

Aber Dankmar fühlte etwas, was ihm zuflüsterte: Das Geschäft dieses Mannes im Jägerhause ist wol so eigner Art, daß du nur ein unwillkommener Zeuge sein würdest. Er sagte daher kürzer und fast schroffer, als er wollte:

Entschuldigen Sie meine Begleitung! Ich konnte dem lockenden Walde nicht widerstehen.

Damit lüftete er den Hut und nickte dem Knaben, der nachdenklich und wie eingewurzelt stand, ein freundliches Adieu! zu.

Auch Ackermann schien betroffen, wandte sich aber ...

Lästig war das erneute garstige Bellen des Hundes, der seinen Namen »Bello« von der Schönheit seines Äußern weit weniger, als vom Bellen verdiente. Während Dankmar [409] ihn zur Ruhe bedeutete, gingen die Wanderer schon weiter, ohne sich anfangs nach ihm umzublicken. Nur Selmar, als sie im Grunde waren, that es noch zuweilen, aber wie verstohlen. Dankmar's Augen waren scharf genug, noch einige Zeit zu verfolgen, wie traurig dabei des Knaben Miene schien und daß beide stumm nebeneinandergingen.

Warum folgst du nicht? schienen ihre Augen sagen zu wollen und Dankmar sagte sich selbst: Warum folgst du nicht? .....

Der Weg, der zum Jägerhause führte, erstreckte sich ziemlich lang am Rande des Waldes und der Wiese hin, die rings vom Walde eingeschlossen war und zu abschüssig ging, als daß man quer über sie hätte hinwegschreiten können. Dankmar stand an einem alten Eichenbaum und sahe, die Arme verschränkend, dem Amerikaner und seinem Sohne nach.

Was zieht mich euch Beiden nach, sagte er sich, dir du strenger Mann und dir du holder Knabe! Ist es die wunderbare ferne Welt, aus der ihr wiederkehrt und die vielleicht auch einst nur das Land sein wird, wo meine Träume reifen können? Warum trennen wir uns, da wir uns kaum begrüßten? Warum kann ich nicht gleich tief in deine Seele und dein ganzes Leben greifen, tüchtiger Mann, der du gewiß von deinen eigenen verzweifelten Stunden her Timon den Menschenhasser kennst und den Spiegel kennst, in dem er sich selbst anredete und die Menschen verfluchte? Warum hab' ich nun kein Zeichen, das dir [410] gleich gesagt hätte: Ich fühle Ehrfurcht vor deinem Antlitz, deinem Auge, deinem leise angegrauten Haar! Wenn ich dich selbst nicht lieben könnte, so lieb' ich dich in deinem Sohn! Ich weiß es schon, du Kräftiger, daß in dir Gedanken leben, die höher hinaufweisen als die gewöhnlichen Wegweiser unserer grauen Theorie! Du hast nachgedacht, du hast gefühlt, gelebt, geliebt! Ich weiß schon Alles ..... Ein Weib folgte dir und vergaß ihre Thränen in deinen Umarmungen und dies Kind ist das Unterpfand dieses Schmerzes, das Denkmal einer Liebe, die sich noch im Tode bewährte ... und die du selber ehrst, sonst würdest du nicht dies Europa wiedersehen wollen, dies Land, das dich doch sicher – denn du heißest schwerlich so, wie du dich nennst! – von seinem Herzen stieß! Wo kann ich dir wieder begegnen, edler Mann? Wo mich an deiner starken Hand führen? Nie also, nirgends mehr? Das wäre so verloren! Und warum verloren? Weil du die Menschen vielleicht hassest wie Timon? Nein! Weil du mich für einen gedankenlosen Dieb deiner Zeit hältst, der nichts kann, als fremde Menschen belästigen und zwecklos ausfragen! Ich mißfiel dir; du kennst mich nicht! Warum ist nun kein Wort möglich, das mit einem Hauche sagt: Hier ist auch ein Mensch, ringend, wie du einst gerungen hast, ein Mensch ohne Ehrgeiz für sich, aber voll Ehrgeiz für das Allgemeine! Das Allgemeine? Ja das Allgemeine! Das nicht Einen, nein Tausende, Hunderttausende Gleichgesinnter braucht! Sind wir beide gleichgesinnt? Warum erkennen wir uns nicht? Die Freimaurer erkennen sich!

[411] Gerechter Gott, und was drückt das aus: ein Freimaurer! Wenig genug, wenn man Lessings Geständnisse liest. Und doch grüßen sie sich geheim, wie mit einem Gruße in der Wildniß! Man ist mit diesem Gruße nicht mehr dunkel über sich, man hat doch Eins gemein, Eins, das Gefühl der Brüderlichkeit, so misbraucht es auch wird und so lästig es dem sein muß, der das Zeichen dem erwidern soll, der ihm gleich beim ersten Blicke misfällt. Aber was führt die Männer, die sich gefallen sollten, zusammen? Wer läßt den Geist den Geist erkennen? Was kürzt uns durch einen einzigen Blick den langen Umweg ab, den wir brauchen, um die, die uns gleichgesinnt sind, erst zu erkennen – ach, wo anders erkennen wir uns, als ... auf dem Schlachtfelde ..... in den Gefängnissen ... im Grabe!

Dankmar blickte auf. Der Knabe hatte noch einmal zu ihm herübergeschaut wie mit traurigem Vorwurfe ...

Um sich einem Anblick zu entziehen, der ihn zu heftig bewegte, trat Dankmar zurück und warf sich ins Gras unter einem Haselstrauche, den die dichten Zweige der etwas entfernteren Eiche noch beschatteten ...

Er spann die Gedankenreihe aus, in der wir ihn schon so oft, am meisten nach Schlurck's Äußerungen über den Reubund, belauscht haben und die, das merken wir nun wol, mit seinem glücklichen Funde in Angerode zusammenhing. Er vergegenwärtigte sich die alten Zeiten, wo das Christenthum ganz allein die Stelle solcher neuernden Begriffe vertrat, wie sie jetzt die Menschheit beherrschen. Er sah die damalige Bildung, die christliche, da [412] nicht dem Zufalle preisgegeben, sondern in der Obhut eines gewissen gegliederten Kastengeistes, den sogleich die Verbrüderungen, die Herbergen, die Agapen und dann die Mönchsorden vertraten. In den Ritterorden erblickte er dann die Beseitigung der Gefahren, die das alleinige Vorrecht des geistlichen Standes an der Verwaltung der Ideen mit sich bringen konnte, wenn es ausschließlich wurde. Die Orden waren Jedem zugänglich, selbst Ungelehrten und unadlig Gebornen. Wenn er dann die rege Betriebsamkeit eines gemeinschaftlichen Wirkens und die sichere Anlehnung an Gleichgesinnte, die man durch äußere Kennzeichen in der ganzen damaligen christlichen Welt antreffen konnte, bewundern mußte, so flößte ihm vollends die feine und durchdachte Gliederung besonders des späteren Jesuitenordens als Form, als kunstmäßig angelegter Bund, die größte Achtung ein ...

Warum geht bei uns Alles so in der Irre! dachte er sich. Warum gruppirt man sich nur in losen Vereinen ohne Form und dauernde Haltung! Warum verschwört man sich nur blindlings mit abenteuerlichen, leicht enthüllten Masken ... Wer uns eine Stiftung brächte, die unabhängig von jeder zunächst auf der Tagesordnung stehenden Frage nur die Verständigung über sie im Allgemeinen, die Einigung über die ersten Grundsätze erleichterte! Wer uns etwas ersänne, das wie ein elektrischer Schlag Jeden träfe, der mit uns in einem geistigen Rapport steht und uns dann immerhin so ganz zufällig begegnete! ... Man würde sich gleich erkennen. Wie würde man seine Erfahrungen [413] austauschen, wie würde man sich zu einem geordneten, sicheren System des Handelns rascher vereinigen! So viel Verstand und keine Verständigung!

Und wenn sich Dankmar dann gestehen mußte, daß alle die, die etwas Großes in dieser materiellen Welt dauernd behaupten wollen, Mittel besitzen müssen, um die Zweifelnden und Lässigen zu ermuntern und das Beispiel der Entbehrung, das so Mancher in seiner Großherzigkeit giebt, für die Andern auch nicht gar zu abschreckend zu machen, so gedachte er der Papiere, die er in jenem Schreine gefunden hatte. Eine alte Überlieferung seiner einst angesehenen Familie hatte sich plötzlich in eine mit Händen zu greifende Wahrheit verwandelt. Die Vergangenheit ragte in die Gegenwart mit Wurzeln herein, die in einem gesitteten Rechtsstaate wirklich noch festen Boden gewinnen, keimen, ausschlagen, blühen konnten. Er hatte die Mittel in Händen, einer seit zwei Jahrhunderten schwebenden Verhandlung über ein immer größer angewachsenes Vermögen von Häusern und Grundbesitzungen eine neue Diversion zu geben, die sich auf die Annahme gründete: Wenn der Staat begonnen hat, jene Verlassenschaft, die Jahrhunderte lang gleichsam herrenlos war, für sich in Anspruch zu nehmen und den gegenwärtigen Nutznießern zu entziehen, warum kann sich nicht mit den sichersten und festbeglaubigten Urkunden ein Mitkämpfer um das gleiche Ziel ihm zur Seite stellen und Alles das, was Jener zur Begründung seiner Ansprüche mühsam und aus Zwangssätzen der Gewalt [414] zusammenstellt, mit weit größerem Fug und Recht aus verbrieften historischen Thatsachen herleiten?

Wer weiß, fuhr er innerlichst zu erwägen fort, ob in jenem Processe, dessen inneres Getriebe mir bald kein Geheimniß mehr sein soll, nicht Assertionen genug vorkommen, die mir unbewußt über das, was noch sonst dem eingebildeten Entwickelungsgange dieses Processes einen plötzlichen Umschlag geben könnte, meinen Wettlauf mit dem Staate und jener großen mächtigen, von Schlurck vertheidigten Commune erleichtern?

Und so gewaltig ergriff ihn jetzt die Aufgabe, die er sich gestellt hatte und die er nicht zu seinem Vortheil, sondern in der That zur Durchführung einer großen socialen Idee lösen wollte, daß ihn nun eine namenlose Angst überfiel, welches Schicksal die in Schlurck's Händen befindlichen Papiere treffen könnte ... Mit dem Entschlusse, jetzt unmittelbar nach der Residenz zurückzueilen, sprang er auf, warf, um nicht gefesselt zu werden, keinen Blick mehr nach dem grünen Plane und dem Jägerhause zurück, sondern lief fast mit beflügelter Eile denselben Weg zurück, den er eben neben dem Knaben so gemüthlich geschlendert war ...

Bello konnte auf seinem lahmen Beine kaum folgen. Dankmar rief, feuerte ihn an und trieb zur Eile .... Da grüßte ihn ein freundliches Wort aus dem Busch. Ein Bekannter hielt ihn an, der eben aus einem Seitenwege des Waldes trat und plötzlich, ihn fast erschreckend, vor ihm stand. Es war der Jäger Heunisch.

[415]
3. Capitel. Das Jägerhaus
Drittes Capitel
Das Jägerhaus

Heunisch, die Büchse auf dem Rücken, eine sorgfältig geschlossene Pfeife im Munde, schien so eben nach seiner Wohnung einlenken zu wollen. Er erkannte in Dankmarn sogleich jenen jungen Mann, dem er gestern früh auf dem Gelben Hirsch, während es so heftig regnete, von alten und jungen Zeiten auf Schloß Hohenberg hatte erzählen müssen. Seinen freundlichen Gruß erwiderte Dankmar mit den Worten:

Eilen Sie, daß Sie nach Hause kommen! Sie haben Besuch ...

Ich erfuhr es schon in Plessen, sagte der Jäger. Wie ich in der Schmiede vorsprach, sagte mir's der alte Zeck. Wenn die Ursula so ins Feuer geräth über den amerikanischen Besuch, wie ihr blinder Bruder, der wie närrisch herumtastete und herumgrabbelte, so muß es ein sehr naher Freund zu ihr sein.

Oder er bringt Grüße von einem Freunde aus Amerika, bemerkte Dankmar, der es vorzog, das, wie es schien dem Förster unbekannte Geheimniß der Erbschaft zu verschweigen.

[416] Auch möglich, sagte der Jäger. Die Zeck's sind alle heimlich.

Heimlich? fragte Dankmar. Was verstehen Sie unter heimlich?

Dankmar hätte sie lieber unheimlich genannt.

Nun! sagte der Jäger. Es soll mir nicht einfallen diesen Leuten etwas Schlimmes nachzusagen, sie stehen in bravem Rufe und gehörten früher auch zu den Frommen, die die hochselige Fürstin beschützt hat. Aber es kommt mir mit ihnen vor wie mit einem zugegrabenen Brunnen oder einem ausgetrockneten Teich. Man kann nicht darüber gehen ohne daß es einem immer ist, als könnte da wieder einmal Wasser zum Vorschein kommen.

Wir nennen das, sagte nun Dankmar, unheimlich. Sie nennen's heimlich. Worin finden Sie denn, daß diese Familie etwas Verstecktes und Unzuverlässiges hat?

Der Jäger kratzte sich hinterm Ohre und erbot sich Dankmarn, der eine kaum angerauchte Cigarre mechanisch in der Hand hielt, Feuer anzuschlagen, wenns auch, wie er sagte, eigentlich nicht gestattet wäre im Walde Cigarren zu rauchen.

Dann lassen Sie's! sagte Dankmar.

Aber der Jäger meinte:

Ach was? Wie lange wird's dauern, so lassen die oben doch all die Stämme hier abhauen, um zu Gelde zu kommen. So ... oder ... so! setzte er lachend hinzu.

Und so rauchte Dankmar die Cigarre an des Jägers geöffnetem Pfeifendeckel an. Den Deckel dann in Erwägung [417] der Waldordnung kräftig zuschlagend und selbst durch einige Züge sein gelbes Kraut wieder lebhafter anglimmend, fuhr der Jäger fort:

Die Zecks in der Schmiede gelten für ehrliche Leute und sind's auch, aber sie kommen Manchem vor wie Welche, die mit einem Strick am Halse leben. Drossel auf dem Gelben Hirsch sagte noch vor Kurzem, er hätte immer gehört, wenn ein Vornehmer 'mal einen Knecht erschlägt, so kann er sich vom Galgen loskaufen durch eine runde Summe, aber auf den Boden stellt ihm die Justiz auch was Rundes hin, nämlich's Rad, damit er immer einen Augenspiegel in der Nähe hat. Ob's wahr ist, weiß ich nicht. Aber der alte Zeck kommt Manchem vor wie Einer, der auf'm Boden auch so sein Rad stehen hat. Von meiner alten Ursula gar nicht zu reden, die die Leute eine Hexe nennen. Aber die Leute sind närrischer als sie.

Wie kommt denn Zeck's Schwester in Ihre Jägerwohnung? fragte Dankmar, den eigentlich der Rückblick auf Ackermann und Selmar fesselte.

Ei, sie war ja meines Vorgängers Frau! sagte der Jäger. Ich habe sie ja mit übernehmen müssen, als ich vor Jahren hier in den Posten kam! Damals warf sich ja die Alte auch auf die Frömmigkeit, um die Fürstin zu rühren. Und so kam's auch. Heunisch, sagte die Fürstin, (Gott hab' sie wirklich selig, es konnte Jeder, der die Augen verdrehte, mit ihr machen, was er wollte!) Heunisch, sagte sie, Ihr seid mir gut empfohlen worden und der Fürst hat nichts dagegen, daß ich Euch Marzahn's Stelle gebe – Marzahn [418] hieß der frühere Förster, mein Vorgänger – aber sagte die Fürstin – Ihr seid jung und rüstig – damals war ich's mehr als jetzt – und die Marzahn bleibt in dem Hause bis an ihr Ende. Sie können sich denken, Herr, was ich für ein Gesicht dazu schnitt! Ich wollte mich just verheirathen und die Ursula Marzahn, hieß es, ist von jeher ein Drache voll Gift und Bosheit gewesen. Ich sagt's auch der Fürstin – Gott hab' sie selig – Durchlaucht, sagt' ich, die Marzahn? ...... Und mehr braucht' ich eigentlich garnicht zu sagen; denn sie mußte es gleich fühlen, daß das so viel hieß, als in einen Thurm geworfen werden, wo unten nichts als Kröten und Schlangen sind. Nämlich die dummen Leute hatten der Urschel den Ruf gemacht. Sie kam schon ziemlich bejahrt mit dem ewig betrunkenen Marzahn hier an, mit dem sie anfangs wild gelebt hatte und erst verheirathet wurde, als er den Posten bekam. Der alte Sägemüller im Gebirg, auch der reiche Sandrart, den ich manchmal im Ullagrund besuche – ein stattlicher aber grober Bauer – haben mir Teufelsdinge erzählt, wie die Urschel anfangs hier auftrat. Sie war schon fast an die Funfzig und soll früher bei einem Scharfrichter gedient haben, von dem sie Doctorei mit Vieh, aber auch mit Menschen gelernt hat. Genug, von ihren jungen Jahren weiß man nichts, als daß sie bei dem Doctor Lehmann, so hieß der Scharfrichter, von dem Sie wol gehört haben ...

Ich kann nicht sagen, bemerkte Dankmar lachend ...

Bei dem, der meilenweit immer verschrieben wurde, fuhr Heunisch fort ....

[419] Verschrieben?

Zu den Armensünderfrühstücken, Herr! Nun, bei dem hat sie ja gedient und war dann an den Marzahn, einen ausgedienten Soldaten, gekommen und mit ihm hierher. Wie sie eine Weile im Walde war, kam auch der Bruder nach, der auch mit Vieh Doctorei treibt ....

Dankmar mußte zur Bestätigung auf seinen schlechtgeheilten Bello sehen, der sich mit dem Hunde des Jägers zu vertragen schien und ruhig neben diesem aushielt.

Genug, sagte Heunisch; Marzahn starb bald, was kein Wunder war ...

Ich will hoffen, bemerkte Dankmar lächelnd, daß seine Frau, die Ihr wie ein Gespenst schildert, ihm keinen Trank eingerührt hat ....

Keinen Trank? sagte Heunisch, der die Redseligkeit selbst war. Trank genug! Er trank den ganzen Tag. Ursula hatte schlimme Tage bei ihm ... sie hat's in Geduld ertragen ... Die Urschel kennen die Men schen gar nicht ...

Ihr müßt einen Schatz an ihr haben, daß Ihr so allein mit ihr leben könnt und sie vertheidigt!

Ich sage Ihnen, Herr, die Urschel ist bei alledem treu wie Gold. In jungen Jahren soll sie's arg mit Männern gehabt haben, aber seit sie alt geworden ist ...

Hoffentlich auch seit sie der schreckliche Doctor Lehmann in der Cur gehabt hat ...

Davon weiß ich nichts. Ich sage Ihnen aber, sie hat an dem Marzahn, der sie schlug und mit Füßen trat, wie ein Kind gehangen ...

[420] Käthchen von Heilbronn unterm Galgen.

Nicht von Heilbronn, Herr; und Ursula! Ursula! Nicht Käthchen!

Ich verstehe! Aber ich kann mir schon denken, Ihr habt die Ursula bei Eurem Försterposten als Inventarium oder sogenanntes »eisernes Vieh«, wie wir Juristen sagen, mit in Kauf nehmen müssen ...

Beinahe so! lachte der Förster. Heunisch, sagte die Fürstin, ich weiß, was Ihr sagen wollt, aber die Marzahn ist durch den Tod ihres Mannes erleuchtet geworden und der Erlöser ist ihr im rechten Lichte aufgegangen, und was solche schöne Sachen mehr sind, die aber bei der Marzahn, wer sie nämlich kannte, eigentlich zum Lachen waren. Jetzt will ich Ihnen nur sagen, bester Herr .... Ich wollte nämlich heirathen und nahm die Stelle und auch, weil's nicht anders ging, die Marzahn mit. Und wie gesagt, sie war eigentlich bei alledem eine charmante Person! Sie wollte sich auf ein einziges Zimmer einrichten und sie that's auch ganz bescheiden bei alledem!

Bei alledem?

Ja, bei alledem! Ich dachte, sie macht nicht lange ... aber wer starb, war nicht die Alte ... wer starb, war ... Doch was halt' ich Sie da auf, guten Morgen, Herr! Guten Morgen!

Dankmar fand an dem treuherzigen Manne Gefallen und bat ihn, doch fortzufahren ...

Nun, wer starb, war meine Braut, und als ich nach drei Jahren wieder ein nett Mädchen kennen lernte – wer da [421] wieder starb – war wieder meine Braut – und Das überwand' ich seit vierzehn Jahren, und nun bin ich zweiundfunfzig. Man sieht's mir nicht an, gelt? Aber ich bin's. Und die Ursula Marzahn hustet und hustet und ächzt und stöhnt und ist jetzt dreiundsiebzig Jahre und sie ist bei mir geblieben und ... was die Leute reden ....

Was reden die Leute? fragte Dankmar den Jäger, der nun gehen wollte.

Ich sag' immer, der Mensch soll leben, als ging' er grade der Nase lang! sagte Heunisch und steckte die Pfeife ein, die ihm ausgegangen war.

Schlecht und recht, meint Ihr?

Das zuerst und dann nicht links, nicht rechts sehen und sich kümmern, was wol Alles an Dem sein möchte ....

Die Wahrheit fliehen, Heunisch? Den Glauben theil' ich nicht .... Was sagen die Leute?

Es ist besser, Herr! Ich hab's auch der Fränz geschrieben, die mir einmal Etwas von dem seligen Fürsten klagte. Kind, schrieb ich ihr, laß die Nachforschung und thu' deine Arbeit ohne Nachdenken!

Dankmar mochte nicht weiter forschen, erstaunte aber über des Jägers plötzlich bleicher gewordenes Antlitz.

Ich halt' Euch auf ... sagte er.

Nein, nein, meinte Heunisch; ich plaudere mit Ihnen aus dem nämlichen Grund. Ich mag nämlich gar nicht in mein Haus, solange die Fremden da sind. Ich dränge mich nicht in die Heimlichkeiten der Ursula ....

Ihr habt viel Zartgefühl, Heunisch ....

[422] Nennen Sie Das so? Es könnte vielleicht auch anders heißen ....

Nichts Schlimmeres aber! Ihr seid die Rücksicht selbst.

Doch! doch! Nennen Sie's nur Furcht ....

Furcht?

Furcht, Das zu wissen, was Eins besser nicht weiß ....

Wie Heunisch diese Worte sprach, stand er nachdenklich und blickte mit starrem Auge bei Seite.

Was ist Ihnen, Heunisch? fragte Dankmar, erschrocken über des Mannes nachdenklichen Zustand. Es steigen Ihnen unfreundliche Erinnerungen auf?

Ja! ja! Aber lassen Sie nur, bester Herr, sagte Heunisch, fast tonlos. Ich habe an meine erste Braut gedacht und an die zweite – ich kann's ja allein hier bedenken an dem alten Doppelbaum, der in zwei Stämmen aufschießen wollte und in beiden verdorrt ist. Gehen Sie nur weiter! Ich mag nicht nach Hause; ich setze mich so lange daher.

Dankmar legte dem bewegten Jäger die Hand auf die Schulter und sagte:

Ihr denkt Eurer beiden Verlobten! Beide starben! Beklagenswerther Mann! Und Ihr mußtet ein Ungethüm neben Euch dulden, das Euch Eure einsamen Tage zu einer ewigen Folter machte. Habt Ihr Das ertragen können?

So nicht! So nicht! bester Herr! sagte der Jäger. Ihr hörtet's ja, der Brunnen ist verschüttet und der Sumpf ist ausgetrocknet. Die Ursula hat mich nie gequält, niemals, ich müßte lügen. Sie hatte einen heftigen, rohen Menschen [423] geheirathet, meinen Vorgänger, den Marzahn. Der schlug sie und sie duldete das. Als er starb, es war ein noch junger Kerl, aber er hatte sich dem Trunk ergeben und ging vor der Zeit hin, als er starb, hätte sie sich erlöst fühlen sollen. Aber so verblendet war die Narrheit der Frau, die über zwanzig Jahre mehr zählte, als ihr Mann, daß sie ihn wie eine Verrückte beweinte und damit die Fürstin rührte, daß Die sie wohnen ließ, bis ich kam. Von Stund' an hat sie sich auf eine kleine Stube, die dunkelste, beschränkt, die ich gar nicht gemocht hätte, weil sie mir vorkommt, als müßt' es drinnen spuken. Sie hat mich gepflegt, wenn ich krank war, die Ursula, mich bedient wie eine Magd, die Ursula, sie hat – sollten Sie's glauben, Herr ....

Es ist zum Lachen? Warum lacht Ihr, Heunisch?

Ich kann's gar nicht sagen ....

Wetter, Ihr seid ja verschämt wie ein Mädchen ....

Ich möchte nur wissen, ob die Ursula dahintersteckte ....

Hinter welchem Busch denn?

Daß ich sie heirathen sollte, Herr!

Dankmar wollte lachen und konnte nicht.

Mein Seel! Kein Spaß! Der Blinde, der sich nach Marzahn's Tode in Plessen angesiedelt hatte, sprach mich darum an, ich sollte die Schwester doch heirathen ....

Hm! Und beide Bräute starben Euch – vor oder nachher?

Vorher! Ich lachte blos und schlug's aus. Seitdem sprach der Bruder kein langes Wort mehr mit mir, so oft [424] ich in der Schmiede vorsprach. Heute seit Jahren gönnt' er mir einmal wieder die erste Anrede. Aber die Ursula ... nein! nein! die konnte von dem tollen Antrag nichts wissen oder sie hat sich damals ihrer sechszig Jahre geschämt. Sie ist freundlich und gut mit mir geblieben, ob ich sie gleich manchmal recht fürchte und ein Grauen vor ihr habe ....

Dankmar voll Theilnahme meinte:

Geht denn doch lieber ins Jägerhaus! Wenn Ihr wie andere Menschen seid, freut Ihr Euch gewiß, wenn um Euch her Alles heiter und glücklich ist. Ursula's Besuch wird sie überraschen und wenn sie keine Geheimnisse vor Euch hat, theilt sie Euch mit, was sie Frohes erlebt hat, und erfreut Euch selbst.

Nein, nein, ich bleibe noch fort! sagte der Jäger, der sich jetzt wieder erholte und seine Pfeife anzündete. Ich will nicht in ihre Karten sehen. Darin liegt's gerade, was ich heimlich nenne. Seitdem mir meine zweite Braut so plötzlich und so schrecklich starb – sie glitt im Gebirge aus und brach sich das Genick ....

Um Gottes Willen! unterbrach Dankmar.

Ja, ja, Herr, die erste ...

Die Jungfer Drossel auf dem Gelben Hirsch ...

Ihr erinnert Euch ...

Starb in den Flammen ... Das weiß ich schon! Aber die zweite ...

Des Sägemüllers Tochter da oben aus dem Gebirge ...

Verunglückte so entsetzlich?

[425] Brach den Hals!

Armer Mann! Jetzt begreif ich Eure Liebe zur Fränz in der Stadt.

Der Förster schwieg eine Weile schmerzbewegt und fuhr dann fort:

Seitdem, Herr, bin ich eigentlich wenig daheim in meinem Hause, wandere immer hier und dort umher und erfahre oft nichts von Dem, was während meiner Abwesenheit im Jägerhause geschieht. Die Ursula ist ganz froh, wenn ich komme, denn ich seh's ihr an, sie hat in der Zeit dann allerlei Jammer und Noth gehabt ... wirklich, Das hat sie ... aber wiedererzählt wird nicht. Da hab' ich dann schon gesagt: Ursel, du kommst mir vor, als wenn du immer in meiner Abwesenheit die Geister bei dir tractirtest und mit dem Teufel manchmal lustig zu Nacht speistest! Da sagt sie denn wol seufzend: Hast Recht, Junge! Ich habe meine Noth! Aber dann ist sie still, macht ihre Arbeit und ist froh, wenn's mir nur schmeckt. Straf mich Dieser und Jener, ich hätte die Alte in ihren jungen Jahren wirklich geheirathet; denn soll ich's nur gerade heraussagen, so glaub' ich, sie war trotz ihrer Sechzig in mich verliebt, und weiß der Geier, sie war auch noch ganz hübsch und sauber. Nun ist sie elend und hinfällig und wird kindisch. Ihre Gespensterseherei macht mir besonders im Winter arg zu schaffen ....

Dankmar nahm diese letztere Mittheilung fast so scherzend, wie sie der Jäger gab, fuhr daher auch in diesem Tone fort und sagte:

[426] Nun denn, so macht, daß Ihr nach Hause kommt! Der Besuch aus Amerika ist kein Gespenst und prüft sie einmal, ob sie aufrichtig ist. Ihr seid ein so ehrlicher und biederer Mann, daß ich Euch unter dem Siegel der Verschwiegenheit verrathe: Der Amerikaner bringt ihr einen Beutel ganz mit Gold gefüllt.

Sie spaßen? sagte der Jäger erstaunt.

Ja, Heunisch. Nach Allem, was Ihr mir von diesen Zeck's und der Ursula erzählt habt, vom Tode Eurer beiden Bräute und den Gespenstern, die diese fromme Witwe sehen will ...

Nun, was stocken Sie, Herr? Was sehen Sie mich so groß an?

Nach alledem möcht' ich doch, daß Euer unbefangener, offener und gläubiger Sinn im Jägerhause nicht misbraucht würde. Versteht Ihr?

Wieso misbraucht? Ich verstehe nicht ...

Dieser Amerikaner brachte dem blinden Zeck eine Summe Goldes, die einen ganzen Tisch bedeckte –

Was? meinte der Jäger ... Das müssen ja über tausend Thaler sein!

Und ebensoviel empfängt jetzt die Schwester. Gebt Acht, sagte Dankmar, ob sie wahr gegen Euch ist und ...

Dankmar stockte.

Nun da bin ich doch curios! Ja, ja, sie sagte mir heute früh, daß ihr etwas Merkwürdiges bevorsteht ....

Paßt Ihr mehr auf, Heunisch! Seid nicht so sorglos!

Hm! Sie hatte die ganze Nacht rumort und mich im [427] Schlafe gestört. Die Hunde bellten. Ich sah den Mond so grußelich durch den großen Kastanienbaum scheinen, der vor meiner Schlafkammer steht. Es war mir einmal, als hört' ich die Ursula häßlich schreien. Aber es war wol nur ein Traum und ohnedies weiß ich ja, daß sie immer laut redet und ganze Nächte in Bewegung ist. Wie sie mir das Frühstück bringt, frag' ich sie: Aber, Urschel, frag' ich sie, was war denn Das die Nacht? Hast ja geschrien! Und groß mich anglotzend, als wär' ich ein ganz Anderer als der fürstlich Hohenbergische Revierjäger Heunisch, sagte sie: Fritze, was hast du für garstige rothe Haare! Wenn Das deine Gräfin sieht! Ei Mutter, sag' ich, ich heiße Leberecht Heunisch und meine Haare schimpf' mir nicht, die haben bei keiner Gräfin am Feuer gestanden. Da kicherte sie und meinte, sie hätte in der Nacht das Fenster aufgemacht und hinaus in den Wald gesehen. Da wär' ihr verstorbener Bruder, von dem sie oft wie von einem Baron faselt, über die grüne Wiese gegangen, ganz wie er noch in seiner Jugend gewesen wäre, lang und schlank und sehr vornehm, aber im Gehen hätt' er geschlafen, sie aber doch artig gegrüßt und sich dann still ins Gras niedergelegt unter dem Ebereschenbaum, der auf der Wiese steht. Und sie wiss' es, sie erführe nun auch heute was Neues. Na, sagt' ich, Urschel, dann will ich hoffen, daß es was Rechtes ist. Stellen Sie sich aber Eines vor, als ich nachher ausging, um in Plessen auf dem Amt Etwas ins Reine zu bringen, seh' ich hinüber nach dem Ebereschenbaum, den ich lieb habe, weil er im Herbst so prächtige [428] rothe Beeren trägt, die über die ganze Wiese leuchten, wie Sägemüllers Nantchen ihre rothen Ohrbommeln ... Seh' ich ja, daß das Gras wirklich an dem Baume niedergetreten ist, gehe hinüber und finde an dem Baum im Grase die Spur, daß hier ein Mensch gelegen hat und noch ganz frisch, ohne Widerrede erst in der letzten Nacht. Und daß ich mich wirklich nicht täusche, liegen ja drei vollwichtige neue Spitzkugeln im Grase, eingewickelt in dies Papier. Da! Ohne Zweifel war's ein Wilddieb, und nun will ich meiner Alten doch sagen, daß sie diesmal Menschen und keine Geister gesehen hat, und auf der Hut müssen wir sein, so wie so. Sehen Sie! So was passirt im Walde.

Damit wog der Jäger die ziemlich schweren, sonderbar geformten, nur für eine eigens eingerichtete Büchse passenden Kugeln.

Dankmar nahm die Kugeln und wog sie gleichfalls. Sie waren in ein Papier eingewickelt.

Diese Kugeln sind aber sonderbar, sagte Dankmar. Ich möchte fast glauben, daß es keine Kugeln, sondern eher kleine Gewichte sind ....

Es sind Spitzkugeln, ich versichere Sie! sagte der Jäger.

Indem betrachtete Dankmar das Papier, in dem das Blei eingewickelt war. Wie erstaunte er, als er in ihm eine Rechnung aus dem Heidekruge erkannte, dieselbe, die auf Zehrung für zwei Personen und ein Pferd lautete, vom gestrigen Datum ... ein Thaler acht Groschen!

Sonderbar! sagte er und war von einer Ahnung ergriffen; behalten Sie das Papier, lassen Sie mir die Kugeln!

[429] Der Jäger besann sich erst und fragte:

Haben Sie denn einen Verdacht?

Als Dankmar betroffen das Papier von allen Seiten betrachtete, fuhr Heunisch fort:

Ich wollte erst die Kugeln aufs Amt tragen; nachher besann ich mich und dachte: du machst dir den Spaß und gibst sie der Urschel als Erinnerung an ihren rothhaarigen Fritze!

Lassen Sie mir wenigstens das Papier! wiederholte Dankmar.

Da! Nehmen Sie Beides! sagte der Jäger. Sie sind ein feiner Kopf, Das merk' ich wol. Sind Sie einem Strauchdieb auf der Fährte, so vergessen Sie nicht, diese Kugeln lagen in dem Papier und unter dem Ebereschenbaum schlief Einer die Nacht im Grase. Aber mehr können wir nicht bezeugen; denn was die Urschel vor Gericht vorbringen würde, wäre gewiß so gräulich, daß die Schreiber davon liefen, auch hat sie's nicht gern mit dem Amt und geht überhaupt nicht drei Schritte vor die Thür. Also soviel Gold! Nun muß ich doch sehen, ob's die Amerikaner uns wirklich auch gebracht haben und ob sie's mit dem Golde heimlich hat. Einen ganzen Tisch voll? Ist's auch wahr, Sie haben Ihren Spaß mit mir. Sie merken schon: ich bin ein bischen leichtgläubig.

Verlassen Sie sich darauf – sagte Dankmar.

Und wo soll ich Ihnen denn sagen, ob die Alte mir den Schatz auch anvertraut hat?

Der Jäger sprach diese Frage mit einem zögernden Ton, [430] als wünscht' er, Dankmar theilte ihm seinen Namen und die Gelegenheit einer Wiederbegegnung mit.

Dankmar aber unterbrach ihn mit den Worten:

Noch Eins! Sahen Sie Niemanden von meiner Reisegesellschaft?

Ihren Kamerad ... der Sie begleitete ... den in ...

In der Blouse?

Nein, den vorwitzigen Burschen ... im Gelben Hirsch ... den Andern!

Meinen Kutscher?

War's Ihr Kutscher? Das hätt' ich wissen sollen!

Er sprach Euch nicht angenehm zu Ohre. Er ist vorlaut ....

Wer weiß! Wenn er über die Fränz Recht hätte ...

Beruhigt Euch! Er verleumdet gern ...

Es hat mir die ganze Nacht keine Ruhe gegeben ...

Die Fränz wird tugendhaft sein ...

Wenn die Fränz – das Kind ist mein Augapfel, meine einzige Lebensfreude! Es ist meines Bruders Kind und die Erbin von dem Bischen, was ich habe ... Wenn die Fränz ....

Seid doch kein Thor! Niemand hat sie verleumdet! Und wenn auch, der Bursche verdient keinen Glauben.

Dem Jäger funkelten die Augen.

Das Mädchen soll zu mir! Sie muß aus der Stadt heraus! sagte er.

Hierher in den Wald?

Sie war schon einmal da ....

[431] Eine Putzmacherin hier unter den Tannen? Bei der Ursula? Ich wette, daß es ihr nicht bei dem guten Onkel gefallen hat ....

Das abscheuliche Wort Putzmacherin!

Ich denke doch, es hieß so?

Ja, sie schneidert und näht und stutzt Hauben und Hüte ....

Also ...

Und hübsch ist sie ....

Also ...

Und sie arbeitet bald da, bald dort ....

Also! Eine Putzmacherin!

Aber rechtschaffen, Herr! Ein Kind wie ein Engel. Ich nahm sie hierher in den Wald, weil böse, giftige Menschen ihr nachstellten ....

Sie nannten ja den alten Fürsten .... Die Durchlaucht wird doch nicht? ...

Herr, wer gibt uns Lohn und Brot? Also: Kusch! Ich nahm sie hier heraus, und sie war so munter anfangs wie da die Eichkätzchen. Aber mit der Ursula ...

Die wurde eifersüchtig ...

Meinen Sie?

Ich denke fast, nach dem Frühern zu schließen ...

Unfriede, Jammer und Noth gab's. Die Fränz fürchtete sich vor der Alten, wurde elend und krank und da gab ich sie in die Stadt zurück.

Daran thatet Ihr am besten, und ich versichere Euch, Fränz Heunisch ist gewiß eine tugendhafte Putzmacherin, [432] die allen ihren Kameradinnen als Muster aufgestellt werden kann.

Sind die so –?

Ich verspreche Euch, Heunisch, mich nach ihr zu erkundigen, und seid gewiß, ich brauche nur zu horchen, was sie für Umgang und allenfalls was für einen Liebhaber sie hat, so weiß man schon ...

Keinen Liebhaber! Ich versichere Sie, Herr! Keinen Liebhaber!

Warum nicht, Heunisch? Wenn's der rechte ist? Es gibt tugendhafte Putzmacherinnen, die sich die Männer erst ansehen, ehe sie mit ihnen Landpartien machen. Verlaßt Euch darauf! Ihr verdient es, eine brave Nichte zu haben. Auf Wiedersehen, Förster! Eilt jetzt, daß Ihr zur Ursula kommt!

Der Jäger, Dankmarn freundlich die Hand schüttelnd, wandte sich um und ging mit beschleunigten Schritten vorwärts, seinem Hause zu. Dankmar aber blieb eine Weile stehen. Er hätte schwören mögen, diese Rechnung beträfe nur ihn, Hackerten und das Roß des Pelikanwirths. Die Speisen waren nicht genau angegeben, sondern in Bausch und Bogen die ganze Zehrung genommen .... Der nächtliche Waldbesucher war doch wol nur Hackert, dessen Spur ihm so ganz entschwunden war .... Unter dem Ebereschenbaum hatte er geschlafen .... Wie kam er zu diesen Kugeln? Wie war es möglich, daß ihn diese Ursula als das verjüngte Ebenbild ihres Bruders erkannte? Als einen Verwandten, den sie mit Höflichkeit [433] wie etwas Vornehmes auszeichnete? ... Alle diese Betrachtungen liefen darauf hinaus, daß ihm, wenn Hackert in diesem Augenblicke plötzlich aus dem Gebüsch getreten wäre, das Wiederfinden einen nicht eben sehr erfreulichen Eindruck gemacht hätte. Dazu die verworrenen Reden über jene Ursula Zeck ... über das Unglück, vielleicht ... den gewaltsamen Tod zweier jungen Mädchen .... Die Stille des Waldes weckte Dankmar's Phantasie und die unheimlichsten Gestalten umgaukelten den einsamen Wanderer. Erst als er endlich den Weg sich am äußersten Ende lichten sah, wurde ihm freier zu Gemüth, und vollends erlöst athmete die Brust erst auf, als er, die ihm jetzt doppelt widerwärtige Schmiede vermeidend, durch die Gärten von Plessen über den Mühlbacharm der Ulla in das Wirthshaus zur Krone zurückkehrte und überall wieder Sorglosigkeit, wieder Unschuld, wieder ergebene Ruhe aus den Augen der arbeitenden Männer in den Gärten und der beschäftigten Frauen und spielenden Kinder ihm entgegenlachte. Es war ihm nach der Waldscene wie dem an Kohlendunst fast Erstickenden, der im Nebel und Dampf eines Zimmers nur noch soviel Kraft besitzt, das Fenster aufzureißen und die Frische der reinen Luft in die sich gewaltsam hebenden Lungen einzuathmen ....

Die überraschenden Einladungen, die er in der Krone nun vorfand, konnte er nicht ahnen. Es waren deren zwei. Eine ins Schloß und eine zweite, merkwürdig genug ... in den Thurm, an dessen Fuße er gestern im Grase träumend gelegen hatte.

[434]
4. Capitel. Der Thurm
Viertes Capitel
Der Thurm

Als sich Dankmar der Krone näherte, war es ihm auffallend, daß ihm schon in der Ferne die Wirthsleute winkten und ihm anzudeuten schienen, er möchte sein Kommen beschleunigen.

Bello sprang so gut er konnte voraus und nicht wenig erstaunt war Dankmar, schon das Thierchen vom Wirth, der Frau Wirthin, allen Hausknechten und Mägden mit einer Art von Feierlichkeit begrüßt zu sehen. Wie stieg aber sein Befremden, als man endlich vor ihm selbst die Mütze zog und sich wie vor einem großen Herrn verneigte! Man zeigte ihm nämlich im sonderbarsten Durcheinander zu gleicher Zeit an, daß er aufs Schloß – nein! riefen Andere, die sich neugierig dazu gesellten, in den Thurm! ... Was in den Thurm? sagten Jene wieder, ins Schloß – geladen sei.

In den Thurm? Aufs Schloß? wiederholte Dankmar befremdet.

Einer suchte dem Andern den Rang abzulaufen und ihm zu erzählen, wer ihn zu sprechen wünsche. Man konnte dabei kaum begreifen, wie ihm die Erläuterung seiner Einladung in den Thurm weit wünschenswerther [435] war, und immer wieder fingen sie von einem kleinen sehr wichtigen Herrn an, der eigens vom Schlosse heruntergekommen wäre, sich mit der größten Artigkeit nach ihm erkundigt hätte und ihn bäte, heute Mittag mit den gnädigen Herrschaften oben zu speisen. Das war der Inhalt der klaren Rede, die sich die Frau Kronenwirthin durch all das Geschwirre endlich angebahnt hatte.

Viel gespannter aber sah Dankmar dabei auf die inzwischen stummen Gruppen der Umstehenden, die ihm von einem auf dem Schlosse gefangenen Taugenichts erzählten, der in seiner Todesangst bäte, man möchte den jungen fremden Herrn im Reitrock aus der Krone zu sich ins Gefängniß führen ... ehe er baumeln müsse, sagten die Leute lachend.

Dankmar hatte noch keine Veranlassung gefunden, in der Krone seinen Namen zu nennen; aber die Beschreibungen sowol von Seiten der Schloßbewohner, wie von Seiten des Thurmgefangenen, trafen so vollkommen auf ihn zu, daß es gar keiner Frage, ob man sich auch nicht in seiner Person irre, bedurfte, sondern seine eigene Neugier nur zu erwarten hatte, wie sich ein so vielfach begehrter Herr in diesen auf ihn gerichteten Ansprüchen benehmen würde ...

Dankmar fand zunächst in der Einladung, auf dem Schlosse zu speisen, nichts als eine freundliche Aufmerksamkeit gegen einen Fremden, von dem man vielleicht – so dachte er – erfahren hatte, daß ihm der Justizrath Schlurck durch das Überbringen seines verlorenen [436] Schreins einen Dienst, den er schon kannte, erwies und dem man für diese angenehme Entdeckung Gelegenheit zu einem Dank für die ganze Familie geben wollte. Aber von einem im Schlosse ertappten Diebe zu hören, der ihn sprechen wolle, schien ihm selbst in dem höchstwahrscheinlichen Falle, daß Hackert der betroffene Verbrecher wäre, weit größerer Aufmerksamkeit werth. Unmuthig gedachte er der Möglichkeit, über seine Verbindung mit einem ihm selbst, seit Entdeckung der drei Spitzkugeln, gefährlich scheinenden Menschen vor einer umständlichen und in kleinlichen Dingen pedantischen Justiz vernommen und wol gar an dem endlichen Beginn seiner Rückreise verhindert zu werden.

In dieser seiner verlegenen und unmuthigen Stimmung trafen ihn die Worte eines sich sehr höflich nahenden und von allen Dorfbewohnern mit herabgezogenen Mützen begrüßten Mannes:

Mein Herr, schon einmal war ich in der Krone, und ich wiederhole jetzt den mir von der Frau Justizräthin Schlurck gegebenen Auftrag, Sie ergebenst zu bitten, heut' Mittag oben auf dem Schlosse einen Löffel Suppe einzunehmen ....

Einige Bursche lachten über die sonderbare Zumuthung, einen so starken kräftigen jungen Mann nur mit einem einzigen Löffel Suppe bewirthen zu wollen.

Bartusch (denn Dies war der Sprecher) fuhr fort:

Es ist elf Uhr, mein Herr! Man speist um Eins. Können wir auf die Ehre rechnen?

[437] Dankmar erwiderte leichthin:

Mein Herr, ich bin hier ohne alle Garderobe und höre auch soeben von einem Vorfall auf dem Schlosse – von einer sonderbaren Einladung in den Thurm – ...

Erfuhren Sie schon den kleinen Spektakel auf dem Schlosse? fragte Bartusch.

Dankmar, von dem Gedanken an Hackert aufs peinlichste berührt, konnte seine Verlegenheit nicht ganz bemeistern und sagte stockend:

Ich will hoffen ...

Der Lärm hat nicht die geringste Unordnung hervorgerufen, fiel Bartusch sogleich ein. Se. Excellenz der königliche Intendant Herr von Harder zu Hardenstein ließen einen Fremden verhaften, der sich mit sonderbarer, zudringlicher Neugier in der Nähe der Zimmer aufhielt, deren Inhalt vom verstorbenen Fürsten Waldemar von Hohenberg an den Hof abgetreten ist. Seine Diener meinten, der Fremde hätte es geradezu auf einen Diebstahl abgesehen gehabt. Und da der Intendant in Erfüllung seiner ihm allerhöchsten Orts aufgegebenen Pflichten, wie weltbekannt, sehr streng zu Werke geht, so hat man den Fremden nach einem kurzen Verhör, in dem er sich vorläufig für einen harmlosen Wanderer und einen Tischlergesellen ausgab, bis auf Weiteres in den Thurm gesteckt ...

Einen Tischlergesellen? rief Dankmar, von einer Ahnung ergriffen. Ihn in den Thurm?

Ich höre, daß der verdächtige Mensch sich auf Sie[438] berufen hat, fuhr Bartusch mit scharf gespitztem Auge fort. Ohne Sie, mein Herr, zu kennen und zu nennen, bezeichnete er Sie doch als einen wohlwollenden Gönner, der ihn gestern in seinen Wagen aufgenommen und den er in jenen Zimmern oder irgendwo auf dem Schlosse wiederzufinden gehofft hätte ....

Ich gestehe Ihnen jedoch, fuhr Bartusch mit lauerndem Späherblick fort, seine Aussagen liefen dermaßen wirr durcheinander, daß man fast glauben möchte, dieser Fremde wäre kein Handwerker, sondern vielleicht der Freund, der Reisebegleiter irgend eines im Incognito ... reisenden ....

Bartusch zog und blinzelte so eigenthümlich, daß Dankmar das Incognito nur auf sich beziehen konnte und daher die Vermuthung des alten Schleichers, in ihm wirklich den Prinzen zu treffen, nun erst recht dadurch bestätigte, daß er betroffen über die Kühnheit, ihn zum Mitschuldigen eines jedenfalls auf dem Schlosse für einen verdächtigen Menschen genommenen Abenteurers zu machen, sagte:

Mein Herr! Wie kommen Sie –

Bartusch fühlte aber sogleich, daß er sich nicht gut ausgedrückt hatte, wenn er überhaupt das vermeintliche Incognito des in Dankmar vorausgesetzten Prinzen Egon schonen wollte. Er verbesserte sich daher rasch, indem er sagte:

Fräulein Melanie, die, weil wir den Frauen alle Aufregung ersparen wollten, den Arrestanten nicht gesehen, erzählte gestern vom Zusammentreffen mit Ihnen im [439] Walde. Sie erwähnte dabei eines Begleiters in blauer Blouse, der allerdings derselbe zu sein scheint, den Herr von Harder soeben verhaften ließ ....

Blaue Blouse? sagte in schmerzlicher Verwirrung Dankmar, und doch auch von der Möglichkeit ergriffen, daß ihn ein Fremder dupirt hätte. Lichtbraunes Haar ...?

Ein Kinnbart, fügte Bartusch hinzu, wie man ihn nur in Paris zu ziehen pflegt ....

Es ist der Prinz! rief es in Dankmar mit unwiderstehlicher Gewißheit. Seine Sehnsucht, klar zu sehen, dem Prinzen beizustehen, beflügelte sich, jemehr Bartusch ihm lästig wurde ....

Werden wir die Ehre haben? fragte Dieser lauernd.

Ich bin ermüdet, entgegnete Dankmar leicht und fast abstoßend. Entschuldigen Sie mich! Ich habe früh schon das Lager verlassen, einen tüchtigen Spaziergang gemacht und bitte mich zu entschuldigen ... ja, ja, entschuldigen Sie mich ...

Aber ....

Mein lieber Herr! Sie sehen ja! Ich bin gar nicht ausgestattet, Besuche bei Damen zu machen. Sowie ich hier bin und stehe ....

Wozu bedürfte es der Förmlichkeiten? sagte Bartusch verschmitzt. Ein Mann von Welt wird aus jeder Hülle erkannt, wie ich auch an dem vermeintlichen Tischler sogleich erkannte, daß er wol der Kammerdiener, vielleicht auch der Freund eines Prinzen sein könnte, wenn nämlich ... das Incognito ....

[440] Kammerdiener? Freund eines Prinzen? wiederholte Dankmar von einer Ahnung ergriffen. Wie meinen Sie Das?

Wenn nämlich ... Bitte recht sehr ... Also ... Können wir auf die Ehre rechnen? war die Antwort Bartusch's, der sich nicht, wie man sieht, ganz an Melanie's Vorschriften hielt und grade in jene Zeichensprache überging, die Hamlet an Rosenkranz und Gyldenstern so sehr tadelte.

Wetter, dachte Dankmar bei sich und wandte sich ab, wenn man dich wol gar selbst für den Prinzen Egon nähme und den Gefangenen ... für deinen Vertrauten?

Und indem er noch darüber nachsann, welche Vortheile oder Nachtheile für ihn oder den wahren Prinzen aus einem solchen Misverständnisse entstehen könnten, sammelte sich seine juristische Geistesgegenwart zu einer bedachteren Erklärung!

Mein Herr, sagte er kurzweg, richten Sie der Frau Justizräthin meine ergebenste Empfehlung und mein Bedauern aus, diesen Mittag auf die Ehre verzichten zu müssen. Ich höre von einem Gefangenen, der sich auf mich beruft, mich sprechen will. Ich bin Dankmar Wildungen, Referendar am königlichen Appellhofe, lernte auf meiner Hierherreise einen jungen Handwerker kennen, den ich aus Rücksicht auf die erst staubigen, dann nassen Wege in meinen Wagen nahm. Ist der Gefangene derselbe und beruft sich auf mich, so bin ich es meiner Pflicht als Jurist schuldig, ihn in seiner Haft zu besuchen und ihm meinen Rath und Beistand zu ertheilen. Wenn die freundlichen [441] Bewohner des Schlosses mir aber bis zum Abend ihre wohlwollenden Gesinnungen erhalten wollen und mich nicht noch anderweitige Gründe bis dahin zur Abreise bestimmen, so werd' ich nicht verfehlen, mich bei Ihnen zum Thee einzufinden. Haben Sie die Güte, Dies der Frau Justizräthin anzuzeigen.

Dankmar verbeugte sich leicht, brach rasch ab und ging in die Krone.

Bartusch stand verdutzt. Diese runde Abfertigung! Diese raschen, ihm eingelernt scheinenden Worte! Diese Namenangabe! Dankmar Wildungen! Referendar am königlichen Appellhofe .... Wildungen! Derselbe Name, der schon in des Justizraths Signalement genannt worden war! Woher kommt Das? dachte er. Wildungen? ... hat der Justizrath vielleicht ... der Justizrath hat ihm wol selbst diese Ähnlichkeit auf dem Heidekruge angedeutet und nun benutzt sie der Prinz ... denn er ist es, jedes Wort ein Fürst! ... und nennt sich Dankmar Wildungen. Diese kurze, fast brüske Art, dieses bestimmte, sozusagen grobe Wesen, diese Betroffenheit über die Verhaftung eines mindestens sehr neugierigen Eindringlings in die innern Räume des Schlosses! ... Bartusch blieb bei der Voraussetzung, daß, wenn einmal der Prinz Egon im Incognito das Schloß Hohenberg zu besuchen sich aufgemacht hätte – wofür Schlurck ohne Zweifel die sichersten Beweise hatte – der Prinz Niemand anders sein könne als dieser Fremde, der sich nach Mittheilungen, die Schlurck wahrscheinlich schon im Heidekrug selbst erzählt hatte, [442] ein Geschäft mit einem verlorenen Frachtgute mache und sie Alle irreführen wolle. Sehr erbaut von seinem Scharfsinn, unzufrieden nur mit der Erklärung des Fremden, erst am Abend kommen zu wollen, stieg Bartusch, um der in brennender Ungeduld harrenden Melanie Bericht zu erstatten, schon heute zum zweiten male wieder zum Schloß empor.

Dankmar aber wartete jetzt nur noch das allmälige Verlaufen der Leute ab, um sich sogleich zum Justizdirector von Zeisel und von da zum Thurm zu begeben.

Kaum konnte er sich fassen über den Gedanken, wie ein so unglückliches Begegniß auf den jungen hochgestellten Mann, der ihm sicher der Prinz Egon von Hohenberg war, hereinbrechen und auf ihn wirken mußte. Überfallen, dachte er sich, vielleicht mishandelt, unter Zulauf der Menschen wie ein Verbrecher durch den Ort geführt!.. Diese Besorgniß milderte jedoch der Wirth, der erzählte, man hätte den Dieb sogleich auf dem kürzesten Wege, ohne alles Aufsehen, hinter dem Ort in den Thurm gebracht ...

Dankmar begab sich jetzt aufs Amthaus, wo ihm die Düfte der von Zeisel'schen Mittagstischvorbereitungen entgegenwallten und er erfuhr, daß der Justizdirector mit dem Schreiber bereits drüben im Thurme wäre. Dort angelangt fand Dankmar noch ein Dutzend Neugieriger, die an der geöffneten Verließthüre gafften, als wenn hier Jemand Pranger stehen sollte.

Geht nach Hause, rief er ärgerlich; die Grütze wird Euch kalt!

[443] Beim Eintritt in den Thurm wußte sich Dankmar nicht gleich zurechtzufinden. Das alte Gebäude sah von außen kleiner aus, als sich die innere Räumlichkeit darstellte. Der Boden war der reine bloße Sand; unterirdisch schien es also hier keinen Gewahrsam zu geben. Das durch die Thür hereinfallende Licht ließ zur Rechten eine schmale hölzerne Treppe erkennen, die empor führte. Dankmar bestieg sie und entdeckte sogleich einen der wahrscheinlich Herrn von Harder angehörenden Bedienten; wenigstens war dieser von Bartusch ausgesprochene Name Schuld, daß er beim Anblick des Bedienten sich sogleich der bekannten Uniform jener vielvermögenden Familie der Harder's entsann, deren Haupt der alte neunzigjährige Chef der ausübenden Justiz des ganzen Landes war. ...

Wir haben Sie schon kommen sehen, sagte der Bediente kurz und ziemlich impertinent, treten Sie nur hier ein!

Eine kleine niedrige Thür öffnete sich und in einem größern Gemache, das die ganze Rundung des Thurmes begriff, von einem Fenster aber nur spärlich erhellt war, fand er den Justizdirector, einen Schreiber und den neben dem Thurm wohnenden Wächter, der eine alte abgeschabte fürstlich Hohenberg'sche Livree, hellblau mit roth, und ein gelbes Schild auf der Brust trug ....

Dankmar erfuhr hier, was er schon über den Schloßvorfall wußte und wiederholte über den Gefangenen Dasselbe, was er zu Bartusch gesagt hatte. Die Absicht des Gefangenen, im Schloß zu stehlen, wurde von dem Justizdirector zwar nicht entschieden bestritten, aber doch [444] auch gegen den unziemlich lärmenden Bedienten in Abrede gestellt.

Er griff erst nach den Bildern herum, sagte dieser; dann hob er sie von der Wand, und während wir auf einen Augenblick uns entfernt hatten, wollte er sie geradezu stehlen. Excellenz verlangen, daß Das streng genommen wird, und er muß doch noch vors Hofgericht in die Stadt!

Herr von Zeisel, den ein Grauen überfiel, als vom Hofgericht die Rede war, äußerte, daß hier vielleicht nur eine leichtverzeihliche Neugier obgewaltet hätte, mindestens könne er nicht begreifen, was ein reisender Handwerksgesell, den der Anblick schön ausgestatteter Zimmer gefesselt hätte, mit einem alten unansehnlichen Bilde anfangen sollte, während doch viel kostbarere, kleine transportable Sachen in der Nähe gestanden hätten, die man mit einem kühnen Griff sich hätte aneignen können. Übrigens könne ihm in der That nicht zugemuthet werden, diesen Gefangenen auf derlei geringfügige Aussagen hin der annoch zu Recht bestehenden Ortsjustiz zu entziehen, es müßte denn von einem hohen Obergerichte ihm ausdrücklich befohlen werden. Weit bedenklicher scheine ihm allerdings des Gefangenen gänzlicher Mangel an Legitimation und sein trotziges, hartnäckiges Ablehnen jeder nähern Erklärung, weshalb er auch durchaus nichts dagegen hätte, daß sich der von ihm mehrfach um Vermittelung ersuchte anwesende Herr zu ihm verfüge und von ihm selbst die Willfährigkeit zu Geständnissen zu gewinnen suche.

[445]

Dankmarn fielen hier Hackert's Mittheilungen über die Hohenberg'sche Justizpflege ein. Er verstand vollkommen des mildgesinnten Justizdirektors Absicht, dieser Untersuchung so viel wie möglich überhoben, noch mehr aber vor einer Verschleppung derselben an die Kreisgerichte gesichert zu sein. Der Harder'sche Bediente murmelte Vielerlei gegen diese Erklärung, aber die Versicherung des Amtsboten und Gefangenwärters, der Inculpat säße ja nun criminalisch, bewirkte denn doch, daß der Justizdirector, der wie Alle auf dem Lande gegen zwölf Uhr aß, die Sitzung aufhob und Dankmarn bat, ihm um drei Uhr Nachmittag, wo er seinen ärztlich befohlenen Ruheschlaf beendigt hätte, gefälligst mitzutheilen, was er von dem störrischen und trotzigen jungen Manne, der sich nur ihm hätte anvertrauen wollen, denken solle. Dem Wärter die strengste Obhut anempfehlend, stieg er mit dem Schreiber, der seinen ziemlich leeren Protokollbogen in eine Mappe legte, die baufällige Treppe behutsam hinunter. Der Bediente, Dankmarn mit mistrauischen Blicken musternd, folgte. Der Wärter aber winkte dem staunenden Dankmar und führte ihn noch eine Treppe höher.

Diese brachte ihn erst zu den eigentlichen Gefängnissen, deren der Zahl der kleinen vergitterten Fenster nach zu schließen, die Dankmar außen beobachtet hatte, etwa vier oder fünf hier sein konnten.

Sind sonst noch Gefangene da? fragte Dankmar beim Hinaufsteigen.

[446] Nein, erwiderte der Wächter, es fällt jetzt im Ganzen nicht viel vor, und was Politische sind, die kommen gleich weiter ins Provinziale!

Jetzt stand Dankmar im zweiten Stock vor einer stark verriegelten Thür, die erst zu einem Vorplatze führte. Hier umgab ihn völlige Finsterniß. Der Vorplatz war nur von der aufgehenden Thür erhellt, die der Wächter gleich ansichzog.

Ich muß Sie mit einschließen ... sagte der Mann zu Dankmarn, und war dabei nicht ohne Höflichkeit.

Thut nichts! erwiderte Dankmar.

Sie brauchen nur aus dem Fenster zu rufen: Pfannenstiel! Dann höre ich's schon und komme.

Gut! gut! sagte Dankmar und hörte mit pochendem Herzen, wie Pfannenstiel, dessen Namen er fast überhörte, in der Dunkelheit den Schlüssel an ein Schloß setzte und öffnete.

Die Thür eines kleinen niedrigen Gemachs ging auf und in der That, vom spärlichen Lichte, das durch die Gitterfenster fiel, beleuchtet, saß an einer Pritsche, den Kopf aufgestützt, derselbe Fremde da, der sich Dankmarn allerdings nur durch eine Visitenkarte, aber denn doch auch durch seltene Bildung und die feinste Erziehung als Prinz Egon von Hohenberg zu erkennen gegeben hatte.

Da ist der Herr, den Sie sprechen wollen! sagte Pfannenstiel. Und wie ist's nun mit dem Mittagessen? setzte er hinzu.

[447] Gehen Sie in die Krone! sagte Dankmar nach seiner Gewohnheit rasch entschlossen; bestellen Sie das beste Mittagessen, das der Wirth für zwei anständige Personen nur auftreiben kann. Um ein Uhr muß es hier sein! Auch eine Flasche Wein! Verstehen Sie?

Damit drückte er dem Meister Pfannenstiel ein Trinkgeld in die Hand.

Dieser, schon an die möglichen Überbleibsel der Mahlzeit denkend und von dergleichen freigebigen, luxuriösen Inculpaten und Zeugen, die hier selten vorkamen, überrascht, erbot sich zur pünktlichsten Besorgung, rückte mit aller Beflissenheit einen alten Tisch ans Fenster und fragte, ob wol noch ein Stuhl nöthig sei?

Dankmar, mit Gefängnissen vertraut, ergriff die Pritsche, auf der ein alter verfaulender Strohsack lag, warf diesen herunter, rückte das Holzgestell an den Tisch und sagte:

Das ist gut genug zum Sitzen. Viel Meubel machen's hier zu eng ....

Wie Sie wollen, sagte Pfannenstiel und ganz erstaunt, die beiden jetzt zu Inhaftirenden so curios sicher und vertraut sich begrüßen zu sehen – der Andere war allerdings anfangs kaum aufgestanden – schloß er die Thür wieder ab und polterte draußen so gräulich mit seinen Schlössern und Riegeln, daß nach jener Seite hin an ein Entrinnen nicht zu denken war.

Als man das letzte Eisen vorgeschoben hörte, sprang der Gefangene von einem Schemel, auf dem er während [448] der Verständigung zwischen Dankmar und Pfannenstiel, unbeweglich den Kopf in beiden Händen stützend, gesessen hatte, auf und rief:

O mein Gott! Was sagen Sie nun dazu?

Durchlaucht sehen mich hier, antwortete Dankmar, um von Ihnen Etwas zu vernehmen, das soviel wie eine Aufklärung ist. Ich bin ganz Ohr!

Dankmar war sonst kein Freund von Titulaturen. Er hob die Würde des Gefangenen nur darum so nachdrücklich hervor, um zu sehen, ob dieser sie wirklich zu behaupten verstand ....

Nichts von Durchlaucht! sagte der Fremde; keine Förmlichkeiten, die ich schon draußen in der Freiheit hasse, und die hier in diesem abscheulichen Loche am wenigsten am Platze wären. Ich habe Sie auf unserer Reise schätzen, ja lieben gelernt. Vor allen Dingen! Seien Sie mir Freund, Wildungen!

Damit reichte er Dankmarn erregt die noch von seinem eben Erlebten zitternde Hand.

Dankmar ergriff sie etwas zögernd. Er konnte denn doch nicht umhin, sich zu sagen:

Wunderliche Herablassung eines gefangenen Diebes, der vielleicht wirklich unschuldig, aber denn doch auch vielleicht nichts weniger als der Prinz Egon ist!

Sie haben kein Vertrauen mehr zu mir, Wildungen! sagte der Fremde. Und ich Wahnsinniger verdien' es auch nicht! Wie kann ich mir einbilden, daß Sie meinen Worten trauen können! Wie kann ich glauben, daß Sie mich für [449] Egon Hohenberg halten! Höchstens, daß Sie mich für keinen Tischler nehmen! Und was das Schlimmste ist, Wildungen! Ich bin ...

Der Gefangene stockte ....

Als ihn Dankmar erwartungsvoll fixirte, sagte er leise:

Ich bin wirklich ein Dieb.

Durchlaucht ...

Ich habe auf dem Schlosse wirklich stehlen wollen ....

Dankmar besann sich bald.

Mein Fürst, sagte er, man nennt Das nicht stehlen, was das Antreten einer Erbschaft, das Besitzergreifen von einem Eigenthum ist. Allein ...

Nun? Nicht wahr? Auch dieser Act muß in gesetzlichen Formen geschehen?

Allerdings, sagte Dankmar. Ich kann nicht glauben, daß Sie sich in der That auf dem Schlosse irgend Etwas haben heimlich aneignen wollen.

Der Fremde schwieg und suchte nach Fassung.

Nach einem Augenblick strich er sich mit der Hand durch das lichtbraune Haar, das von dem blassen edeln Angesicht jetzt noch schöner abstach, und sagte:

Weg mit den Grillen! Bedenk' ich es genau, so ist das Ganze ein Abenteuer und ich wünschte, der Wein aus der Krone wäre schon da, damit Sie mit mir auf die Befestigung unserer Freundschaft anstoßen.

Dankmar konnte sich in diesen Übergang zur Heiterkeit nicht finden. Es überfielen ihn plötzlich alle nur möglichen Zweifel an dem Fremden, von dem er sich düpirt [450] zu werden als Etwas dachte, was ihm das Blut in die Wangen trieb ....

Er sah sich um und kam auf die Widerwärtigkeit eines solchen Ortes zurück, in dem sie sich wiederfinden mußten ....

Es ist toll! sagte der Fremde. Aber wie glauben Sie nur, daß ich aus diesem Rattenneste frei werde?

Vor allen Dingen, meinte Dankmar mit bestimmter Betonung, vor allen Dingen müßt' ich doch wissen, mit welchem Rechte Sie hierher kamen?

Weil ich stehlen wollte..

Wie? Scherzen Sie?

In der That! Ich bin ein Dieb ....

Ich habe nicht gesagt, Durchlaucht, beweisen Sie, daß Sie der Prinz Egon von Hohenberg sind; aber daß Sie ein Dieb sind, müssen Sie jetzt wirklich beweisen ....

Was soll ich zuerst beweisen? Ich sehe, Sie glauben Beides nicht.

Ohne zu schmeicheln, möcht' ich fast glauben, wenn Sie mir beweisen, daß Sie der Prinz Egon von Hohenberg sind, so hätten Sie kaum nöthig, entschuldigend von Ihrem sogenannten Diebstahl zu sprechen ....

Ah! Sie Demokrat! Finden denn die Fürsten bei Ihnen noch so ein gutes Vorurtheil?

Dankmar schwieg mit seinem feinen geistreichen Lächeln und erwartete mit einer Art strengen Prüfung die Mittheilungen, zu denen sich der Fremde nun anschickte.

[451]
5. Capitel. Der Dieb
Fünftes Capitel
Der Dieb

Wohlan! sagte der Gefangene nachdenklich, stützte das Haupt auf und sah trübsinnig durch das enge Fenster in die schöne, sonnenhelle Gegend. Vernehmen Sie, Wildungen, ich bin hier geboren, bin hier erzogen. Da am Rande jener Berge hab' ich kletternd die erste jugendliche Kraft erprobt. Viel ist schon hinweggezogen von neuen Erfahrungen und neuen Eindrücken über die erste Kinderzeit, aber noch taucht aus ihr in strahlendem Glanze auf ....da das Schloß mit seinem alten geschnörkelten Baustil ...der Hohenberg selbst, an den sich die ältesten Erinnerungen unserer Familie knüpfen. Wissen Sie, früher stand auf dem Hohenberg eine Burg, zu der dieser Thurm, der jetzt hier den letzten Sprossen dieses Hauses gefangen hält, als ein äußeres Bollwerk, eine Art Warte, gehörte. Ich habe in der Beschäftigung mit ernsten und nüchternen Lebensaufgaben doch längst abzustreifen gesucht das dämmernde, träumerische Gefühl der Wehmuth, das uns nur einlullt zum süßen Nichtsthun und zur Beschönigung unserer rathlosen Thatkraft ... Aber wie ich da wieder im Walde die alten Wipfel rauschen hörte, wie ich am Jägerhause [452] stand, wo ich auf einer grünen Wiese von einem früheren Soldaten, Namens Marzahn, die Büchse spannen lernte und manchmal das an einen Eichbaum gesteckte bunte Ziel traf, wie ich wieder die Mühle rauschen hörte, die ein Ullaarm, aus dem Gebirge niederströmend, in Bewegung setzt und mich an die Regenbogen erinnerte, die die Sonne auf dem gespritzten Wasserstaube malt ... ein Anblick, der mich beim majestätischen Rheinfall in Schaffhausen ausrufen ließ: Rühmt mir nichts von Dem, was ich am Mühlbach auf dem Schlosse meiner Väter fast ebenso schön, fast schöner, kindlich glücklicher, schon gesehen habe! ... wie ich so wieder gedachte des Heimwehs der Kindheit und der Sehnsucht nach einem Lande des Glücks, das – ach! es ist nur zu wahr! – niemals vor uns, immer nur hinter uns liegt! ... da, Freund ... nein, nein, Sie zweifeln ja! Sie verstehen ja meine Empfindungen noch nicht!

Bei diesem gemüthvollen Ausrufe mußten Dankmar's Bedenklichkeiten schwinden.

Prinz, sagte er, tief erschüttert und innigst überzeugt, die Augenblicke sind gezählt; sie sind kostbar, wenn man an die Erlösung von diesem jammervollen Zustande denkt ... Was beginnen wir zu Ihrer Befreiung?

Ich denke nun nicht mehr daran, sagte der Gefangene mit feiner Ironie, in die sich fast ein leiser, artiger Vorwurf mischte. Erst haben Sie Aufklärung begehrt, nun fühle ich nicht einmal so lebhaft mehr das Bedürfniß, frei zu sein. Jetzt will ich gefangen sein, um reden, mich aussprechen, [453] mich erinnern zu können. Ja, ja! So ist der Mensch! Wenn er gesund blüht, ist er vor nichts so besorgt, wie vor einer Krankheit. Da erfaßt sie ihn denn und nun findet er bei allem Schmerz des äußern Menschen auch eine Freude für den innern. Man kehrt auf dem Krankenlager bei sich ein, wird reifer, geläuterter und steht geistig besser vom Lager auf, als man sich niederlegte. Schenken Sie mir jetzt nur ruhig Ihre Gegenwart, Wildungen, hören Sie mir nur still, mit Theilnahme zu und bereiten Sie sich darauf vor, daß ich Ihnen vielleicht ...

Der bewegte Sprecher stockte.

Dankmar schwieg, aber seine Blicke sprachen ihm jede Ermuthigung.

Daß ich Ihnen vielleicht eine Bitte vortragen werde, deren Erfüllung Sie nur dann erfreuen kann, wenn Sie mein vergangenes Leben kennen.

Dankmar äußerte schon jetzt für das Vertrauen des Gefangenen seinen Dank und bat ihn, sich offen mitzutheilen. Er würde sich ihm in Nichts entziehen.

Der Erzähler fuhr nun fort:

Ich lebte hier in Hohenberg mit jeweiliger Unterbrechung, wo wir unsere andern Güter und die Hauptstadt besuchten, fast bis in mein dreizehntes Jahr. Der Vater, kurz vor meiner Geburt in den Fürstenstand erhoben, hatte um dieselbe Zeit ein großes Vermögen durch einen unerwarteten Tod des Stammhalters der österreichischen Seitenlinie gewonnen und war von seinem plötzlichen Glücke so gehoben und getragen, daß er nur auf der hohen [454] Flut des Lebens schwamm und sich wenig um seine Häuslichkeit kümmerte. Der Vater war Militair und hatte Lust, auch mich im zartesten Kindesalter schon für diesen Stand zu bestimmen und abzurichten. Die Mutter aber erkannte in dem Plan, mich in eine milltairische Erziehungsanstalt zu schicken, nur den Egoismus eines Weltmannes, der die Erziehung seines Sohnes sich so leicht als möglich machen wollte. Sie trat diesem Plane mit Entschiedenheit entgegen. Das leider sehr tief eingerissene Zerwürfniß der Ältern machte eine unter ihrer gemeinschaftlichen Aufsicht genossene Erziehung fast unmöglich. So beschlossen sie mich ganz hierher nach Hohenberg zu versetzen, soviel wie möglich hier zu leben und mich mit Lehrern, Hofmeistern und Aufpassern aller Art so zu umgeben, daß ihr Gewissen beruhigt sein durfte. Meine Mutter liebte damals noch die Welt. Sie war noch nicht in die Krisis getreten, die sie später zu einer sehr unfruchtbaren und meiner innersten Natur heterogenen Frömmigkeit geführt hat. Es lebte damals hier im Orte ein sehr braver Pfarrer, Namens Rudhard. Dieser strenge und doch keines wegs gemüthlose Mann erhielt über meinen ganzen Bildungsproceß die obere Aufsicht, und noch jetzt – er weilt fern an den Ufern des Schwarzen Meeres in Odessa – noch jetzt dank' ich ihm für die spartanische Strenge, mit der ich in jenen Tagen erzogen worden bin. Zwar sträubte sich in mir etwas und wollte sich bäumen und das oft drückende Joch des Gehorsams abschütteln; aber Dank sei es der damaligen Charakterfestigkeit [455] meiner Mutter, sie widersetzte sich jeder Intrigue, die vom Schlosse aus und sonst gegen den Pfarrer gesponnen wurde. Wie auch die Lehrer, die mir oben beigegeben waren, gegen den unten über sie wachenden Rudhard polterten, wie sehr auch einer von ihnen, ein Franzose, Namens Sylvestre Rafflard, förmlich intriguirte, Rudhard behielt Recht. Auch mein Vater hatte bei aller Zerfahrenheit seines Charakters eine gewisse männliche Entschlossenheit, die ihn Windbeuteleien sehr leicht als solche erkennen ließ, und wenn mich Rudhard's strenge gewaltige Hand nicht geführt hätte, ich wäre umsomehr misrathen oder doch in meinen ersten Entwickelungen geradezu gesagt verpfuscht worden, als die Mutter in ihrer Behandlungsweise im höchsten Grade unregelmäßig, launenhaft und willkürlich verfuhr. Bald warf sie sich mir mit brennender Liebe an den Hals, küßte mich und benetzte mich mit tausend Thränen, deren Grund ich nicht kannte, bald wieder war sie schroff und behandelte mich mit einer Fremdheit, die früh mein Herz gegen sie eingenommen hat. Scheiterte ihr in der großen Welt irgend ein Lieblingsplan, fühlte sie die Hand irgend einer Intrigue kalt und ertödtend in ihr Herz greifen, so kam ein reitender Bote, um mich augenblicklich in die Stadt zu rufen. Auf Wolkenflügeln sollt' ich dann zu ihr eilen, das Muttergefühl sollte sie trösten für allen Kummer, alle Entbehrungen! Und wenn ich ankam, fröhlich, überglücklich, im prächtigen Palais der Ältern mich umschauend, fand ich sie schon abgekühlt, schon getröstet, schon zerstreut[456] durch etwas Neues, dem ihre nie zu befriedigende Sehnsucht nachjagte. Dann blieb ich wol einige Wochen bei den Ältern, wurde verwöhnt, verhätschelt, war ihnen aber bald so im Wege, wurde so unwillkommener Zeuge der unglücklichsten häuslichen Zerrüttung, daß man dann sogleich hundert Gründe hatte, mich wieder nach Hohenberg zu meinem gestrengen Rudhard, den französischen und musikalischen Maitres zurückzuschicken. Zu diesen Maitres! Diesen Erziehungsvirtuosen, die ich später zu entlarven Gelegenheit hatte! O, durch welches Wirrsal muß sich ein Kindesherz durcharbeiten! Wenn ich daran denke, daß ich dabei immer noch mit Dem, was aus mir wurde, leidlich zufrieden sein darf, so kann man wol sagen: Die Jugend ist eine Pflanze, die wächst und ans Licht muß, auch wenn man unter dem Namen der Erziehung einen schweren Stein auf sie legt!

Sie beurtheilen Ihre Ältern streng, sagte Dankmar, und der Gefühle gedenkend, die ihn gestern über seine eigene Mutter beschlichen, fügte er hinzu:

Es ist eigentlich ungerecht, Menschen nur deshalb streng zu nehmen, weil sie das Schicksal zufällig unserm Herzen so nahegestellt hat, daß wir sie leichter ergründen können als Andere! Wir sollten da gerade doch duldsamer sein und den Vorsprung nicht benutzen, den uns der nähere Besitz gestattet. Doch vergeben Sie ... ich gedachte eigener Erfahrungen ....

Wohl! Wohl! sagte der Fremde nachdenkend und tiefmelancholisch .... Die Liebenden quälen sich wechselseitig [457] am meisten ... und Keiner wol bereitet sich das Gift des Todes oft willenlos geflissentlicher als Die ... die sich das Leben sind!

Nach einigen Augenblicken schwermüthigen Sinnens fuhr der Fremde fort:

Sie strafen mich, Wildungen, daß ich so streng von meiner Mutter spreche und den Vater vollends nicht schone. Aber werfen Sie einen Blick auf meine Lage, ist diese nicht entsetzlich? Ein tapferer Krieger wird von seinem Monarchen, der ihn liebt und verwöhnt, in den erblichen Fürstenstand erhoben. In demselben Augenblicke fallen ihm in der Ferne Besitzungen im Werthe einer Million zu. Er veräußert sie und statt die flüssigen Gelder auf einheimischen neuen Grund und Boden und dessen Ankauf oder die Verbesserung seiner alten Besitzungen zu verwenden, werden sie in flüchtigen Tändeleien, in luxuriösen Einrichtungen, einem prächtigen Palais, in Pferden, in Marställen, im Spiel, ja ich muß es sagen, sogar im Trunk vergeudet! Man drängt in ihn, ein Fideicommiß zu stiften für die Familie und ihre dauernde Anlehnung an einen Besitz, der wol entwerthet, aber nicht ganz veräußert werden kann. Der Staat begünstigt solche Majorate und wünscht sogar ähnliche Bestimmungen, um einen vornehmern Adel zu gewinnen, als das übliche adelige Gesindel ist, das uns die ganze Frage vom Adel verdorben hat. Man wollte die Ausführung der damaligen Idee von einer künftigen Pairsschaft durch Majorate anbahnen. Aber nicht nur, daß mit der Zeit jene Capitalien verschwendet [458] und auf eine nutzlose Prachtliebe verwandt waren, die mir in der Residenz allerdings ein sehr schönes Palais hinterlassen hat, dessen innere Einrichtung zu sehen Ihnen einmal Freude machen wird ... auch die alten gräflich Hohenberg'schen Güter Plessen, Randhartingen, Wiesbach, unsere Antheile an Schönau, Berghübel, sind so durch darauf geborgte Summen überschuldet, in ihrer Ökonomie vernachlässigt, daß ich zweifelhaft bin, ob ich überhaupt ihre Herrschaft antrete und sie nicht lieber ganz, wie der Lateiner sagt, unter den Spieß stelle, das heißt, wie Sie wissen, sie losschlage. Erwägen Sie diesen Zustand und fragen Sie, ob hier das Gedächtniß eines Sohnes Alles liebend beseitigen und über die Vergangenheit nur Blumen der Versöhnung streuen kann! Nein! Nein! Ich kann nur mit bitterstem Unmuthe diese Gedanken an das Vergangene in mir vorüberziehen lassen; ich habe Stunden erlebt, wo ich meine Mutter kalt bemitleidete, aber noch unglücklichere, wo ich meinen Vater bis aufs Blut haßte. Denken Sie sich den einen Zug! Dieser Mann, der meine Mutter mishandelt hat, sie zuletzt in ihrem Nothdürftigsten beschränkte, dieser Mann, der dennoch vor dem jungen Monarchen weinte, als er ihm den Tod meiner Mutter anzeigte, weil ein ernster Blick der Umgebungen des Fürsten ihm sagte: Hohenberg, Sie haben da ein Herz brechen helfen! ... dieser Mann verkauft, weil die frühere Gräfin Bury nichts besaß und ich keine Ansprüche auf ihren Nachlaß habe, die Einrichtung ihrer Zimmer, verkauft den stillen Frieden ihrer liebsten [459] frommen Abgeschiedenheit von der Welt, verkauft die Thränen, mit denen sie ihre Polster und Gebetbücher benetzte, verkauft – o mein Gott, Wildungen, Ihr wißt nicht, wie weit die Herzlosigkeit dieser vornehmen Stände geht! Wenn ich in Lyon einen armen Seidenarbeiter sterben sah, ja, da gehörte wol schon das Stroh, auf dem er endete, dem reichen Fabrikanten, dem er all sein Hab und Gut verpfändet hatte; aber ein Crucifix, Wildungen, auf das die blassen Lippen ihre letzten Küsse gedrückt hatten, ein Gebetbuch, aus dem seine weinenden Kinder, die zu kurz die Schule besucht hatten, um lesen zu können, die letzten Tröstungen der Religion stammelnd buchstabirten, ja vielleicht der letzte Stab, Wildungen, der ihn stützte, der letzte Rock, der seine Blöße deckte und die letzten Schuhe, die er auszog, als er sich auf das Lager warf, auf dem er sterben sollte – die waren noch sein, um die bat er den Fabrikherrn für sein Weib und seine Kinder, verpfändete sie nicht, um der Liebe willen nicht ...um seines Heilandes willen nicht ... ach, mein Freund, vergeben Sie mir, wenn Sie einen Sohn hören, der vor seinem Vater keine Achtung hat.

Erschöpft von seiner Aufregung warf sich Egon auf die hölzerne Pritsche und schien die Härte dieses Lagers kaum zu fühlen.

Von tiefster Theilnahme ergriffen beugte sich Dankmar zu ihm herab und bat ihn, seine Empfindungen nicht zu heftig aufzuregen.

O, warum bin ich auch hierher zurückgekehrt, rief[460] Egon leidenschaftlich, ausgesetzt einer ewigen Verhöhnung durch mich selbst! In der Ferne, ja da war ich glücklich! Ich galt für Den, für den ich mich gab. Wildungen! Glauben Sie mir's, ohne mich einen Wahnsinnigen zu schelten, ich habe in den Werkstätten von Paris gearbeitet, ich galt für einen deutschen gebildeten Arbeiter. Niemand wußte etwas von den Schulden meines Vaters; mit Dem, was sie mir übrigließen, konnt' ich fleißige Arbeiter belohnen, manche nützliche Unternehmung befördern, ... selbst leben ... ich war glücklich ....

Setzen Sie dies Leben hier fort! sagte Dankmar innigst theilnehmend und vor Freude bewegt, endlich einmal einen Vornehmen zu finden, der wie jeder andere Mensch sich fühlte und gab. Man wird sich mit dem Vater aussöhnen, der einen solchen Sohn hinterließ. Man wird milder von der Aristokratie denken, sich dem Adel verwandter fühlen ...

Man wird mich auslachen! unterbrach ihn der junge Fürst. Unsere Verhältnisse bieten keinen Boden für eine solche Umkehr der Stellungen.

Warum nicht? sagte Dankmar.

Der Fremde schwieg ....

Nach einer Weile fuhr er fort:

Aber hören Sie von dem Vergangenen!

Sich aufrichtend erzählte er weiter:

Ich hatte kaum das dreizehnte Jahr erreicht und sollte nach des Vaters Wunsche jetzt unmittelbar für den Kriegerstand gebildet werden. Da kam über meine Mutter [461] jene Erleuchtung, die denselben bigotten Zustand zur Folge hatte, von dem noch die spaßhaften Erzählungen des Jägers vom »Gelben Hirsch« Ihnen im Gedächtniß sein werden. Sie hören, wie wenig erbaut ich von dieser Erbauung spreche und ich kann Sie versichern, Wildungen, daß ich hier nicht wie der Blinde von der Farbe rede, sondern eine Zeit lang war ich selbst einer der Hellsehenden, Einer der von Angesicht zu Angesicht Schauenden und der Gotterleuchteten.

Dankmar lächelte wie der Erzähler. Er hätte manche, so auch diese Äußerung von ihm anders gewünscht; doch hörte er mit Aufmerksamkeit zu.

Wie meiner guten Mutter dieser traurige Zustand anflog, weiß ich nicht. Ich glaube, diese Frömmigkeit war damals in der großen und kleinen Welt eine Sache der Mode. Man betete viel und gern laut, und wissen Sie, Wildungen, für die Politik war Das sehr gut. Es bewahrte vor Übereilung in Entwickelungen, für welche der beschränkte und philisterhafte Sinn unsers Volkes kaum jetzt schon reif ist, wie viel weniger damals ...

Die jämmerlichen Staatsmänner jener Zeit, sagte Dankmar, diese Polizeiseelen, Creaturen Metternich's, fanden in der Bigotterie eine Stütze des Absolutismus, eine Art Chinin gegen das Constitutionsfieber.

Wohl! Wohl! sagte der Fürst. Genug, ich für mein Theil hatte einige sehr angenehme Folgen von dieser Sinnesänderung meiner Mutter zu erfahren. Erstens wurd' ich nicht zum Soldaten bestimmt. Im Gegentheil wollte die [462] Mutter jetzt nur noch durch mich Gott ... und durch Gott mir leben. So sagte sie selbst! Sie zog für immer hierher nach Hohenberg und richtete sich so ein, als wollte sie ihre Tage hier für immer beschließen. Anfangs verursachte mir diese Entdeckung einen lähmenden Schrecken. Ich sehnte mich ja hinaus in die Welt, ich wollte Schulen besuchen, wie Andere, wollte die Freundschaften unterhalten, die ich bei meinen kurzen Anwesenheiten in der Residenz im Fluge knüpfte. Ich wollte der junge Fürst von Hohenberg sein! Aber die Mutter hatte es anders beschlossen. Sie gedachte mich in ihre ausschließliche Obhut zu nehmen. Rudhard wurde entfernt, weil seine Auffassung des Christenthums der ihrigen nicht entsprach. Man versetzte ihn, ich weiß nicht, ob auf ihren Betrieb oder freiwillig, in andere östliche Gegenden. Tief betrübt sah ich ihn scheiden, denn so streng er war, die Gediegenheit seines Charakters konnte selbst dem Kinde nicht entgehen. So wenig er meiner Eitelkeit als einem jungen Fürsten schmeichelte, so besaß ich doch Lernbegierde genug, von seinem reichen Wissen Vortheile zu ziehen. Ja wie Knaben mit ihren Lehrern pflegen, in meiner eitlen Bewunderung stellt' ich ihn wol gar noch höher als er stand. Seinen Nachfolger wählte die Mutter auf Empfehlung der pietistischen Kreise in der Residenz. Es war dies ein junger, gewandter Theolog, Namens Guido Stromer. Wenn ich nicht irre, brachte er sich sogleich eine Gattin mit und gewann das Herz meiner Mutter in dem Grade, daß es ihm gelang, einen andern Plan mit mir durchzusetzen, [463] für den ich ihm eigentlich Dank weiß. In seiner Furcht, meine Erziehung auf dem Schlosse würde doch einen ewigen Ab- und Zustrom von Hofmeistern und Fachlehrern aller Art zu einer nicht zu ändernden Bedingung machen, äußerte er der Mutter die Idee, mich nach Genf in ein Pensionat zu geben. Naturen wie Sylvestre Rafflard gewesen war, blieben ihm gefährlich. Die Mutter, nicht ahnend, daß er nur in der ihm natürlich sehr wichtigen Gunst seiner Kirchenpatronin die Nebenbuhlerschaften entfernen wollte, ging auf diesen Plan mit Begeisterung ein. Sie hatte Genf selbst gesehen, schwärmte für den reizenden bergumkränzten Leman, träumte oft von dem Glücke, dort zu wohnen, dort ihre Tage zu schließen, was ihr bei der Beschränkung ihrer Mittel nicht beschieden sein konnte ... und alle diese Reize erhöhte ihr zuletzt noch das Bewußtsein des in dem dortigen Leben und der dortigen Erziehung herrschenden Geistes der strengen Kirchlichkeit. Die Sekte der Momiers war damals neu in der französischen Schweiz erst aufgekommen. Sie erkannte in ihnen, nach den Berichten einer von ihr nach Kräften unterstützten Kirchenzeitung, eine Gemeinde Wiedergeborener, die sich nur an den reinen biblischen Geist des Christenthums hielte. Es wurden Erkundigungen eingezogen über die Pensionate von Lausanne, von Vevey, von Neufchatel, Genf. Das war ein Geschwirre von Briefen der Pastoren jener herrlichen Gegend, die Alle mit Empfehlungen der christlichen Institute zur Hand waren und dabei die Gelegenheit [464] benutzten, mit einer deutschen Dame von Stande in Rapport zu treten. Denn diese Pfaffen dort, müssen Sie wissen, haben keinen größern Ehrgeiz, als mit der halben vornehmen Welt Europas in Rapport zu stehen und sich mit den Briefen zu brüsten, die sie selbst aus Petersburg, Stockholm und Neuyork erhalten. Damit ist zugleich ein eigenthümlicher Menschenhandel verbunden. Kennen Sie Casanova?

Dankmar verneinte befremdet.

Casanova, sagte der junge Fürst, Casanova, den ich im Pensionat des Herrn Monnard mit aller Bequemlichkeit gelesen habe ....

Im Pensionat? sagte Dankmar erstaunt.

Casanova, fuhr Egon ruhig fort, erzählt von den in Europa zerstreuten italienischen Sängern und Tanzmeistern und plaudert uns deren Memoiren aus; ich versichere Sie, der fromme Menschenhandel mit Bonnen, Gouvernanten, Hauslehrern aus der französischen Schweiz ist so organisirt, daß ich eine große Ähnlichkeit finde. Sie haben keine Ahnung, welche Dinge in einer französisch-schweizerischen Pfarrerswohnung von Yverdun oder Meudon abgemacht wer den. Ich könnte Ihnen Fürstinnen nennen, die auf europäischen Thronen sitzen und von den Fäden einer ehemaligen, glänzend pensionirten, bei Genf in ihren Verbindungen schwelgenden alten Erzieherin gelenkt werden. Sie erfahren in einem frommen Thee in Lausanne mehr Cabinets- und Hofgeheimnisse, wie in Berlin in dem engern Cirkel eines Ministers.

[465] Dankmar fiel lachend ein:

Das hätte ja fast Ähnlichkeit mit dem Einflusse, den zehn Meilen weiter von Lausanne die freiburger Jesuiten über das übrige Europa ausüben ....

Die vollkommenste! bestätigte der junge Fürst. Sie können aber auch in Lausanne die Politik der Jesuiten und in Freiburg die Politik der Momiers studiren. Es ist ganz dieselbe Sache, wie sie auch von Menschen vertreten wird, die sich untereinander vor Brotneid aufzehren möchten. Das ist eine Sucht, dem andern eine Beute abzujagen! Denken Sie sich diese Correspondenz der reformirten Geistlichen mit den höchststehenden Familien! Der Reiz der französischen Sprache, die elegante glatte Weltbildung neben der frommen Salbung, die den gutkatholischen Fénélon zum Ideal auch dieser Protestanten gemacht hat, ... genug, die gute Mutter war auf Grund meiner Versendung nach Genf so lebhaft in Verbindung mit den schönsten, durch die Fremdenbesuche an Neuigkeiten ergiebigsten Gegenden der großen europäischen Route, daß sie sich in ihren Briefen hier auf Hohenberg schon da vortrefflich unterhielt, noch ehe ich abreiste. Wie aber nahm Das erst zu, als ich wirklich in Genf war! Wie wurden da über mich, über meine Erziehung, meine Anlagen, meine Irrthümer, meine Tugenden und Gebrechen soviele Anfragen an Geistliche, Professoren, Syndics, Künstler, am Genfersee domicilirte Freunde und Freundinnen gerichtet und von diesen beantwortet! Nun war ich der einzige Gedanke der Fürstin, ja der Angelpunkt und [466] die Achse ihres ganzen Daseins geworden. Welche Briefe ließ mich Professor Monnard und sein boshafter erster Lehrer, Sylvestre Rafflard, schreiben ....

Rafflard? unterbrach Dankmar. Sie erwähnten ja seine Anwesenheit in Hohenberg ....

Rafflard war, berichtete der Erzähler, ursprünglich aus Genf, kam nach Deutschland, zu uns als Lehrer der französischen Sprache, von da nach Kurland, wo er mit Rudhard wieder zusammentraf und zwar feindselig genug, dann kehrte er nach Genf zurück, wo ich ihm im Monnard'schen Institute wieder begegnete. Jetzt ist er Jesuit ....

Das ist eine lehrreiche Biographie! sagte Dankmar.

Sie werden noch Manches von Sylvestre Rafflard hören; schaltete der Erzähler ein und fuhr fort:

Wie oft wurden meine Briefe von Monnard und Monsieur Sylvestre ausgestrichen und unter dem ein fachen Scheine stilistischer Veränderungen in ihren Thatsachen so umgewandelt, daß weiß erschien, was ich als schwarz hatte melden wollen – kurz, mein Freund, ich wurde in geistigen Dingen so methodisch zur Lüge und zur Phrase erzogen, so auf eine gewisse herzlose Regelmäßigkeit abgerichtet, so nach dem Modell einer gutgearbeiteten genfer Uhr künstlich zusammenspintisirt, daß ich in meinem achtzehnten Jahre wirklich als ein heilloser Schlingel, voll Verstellung und Einbildung, zur Mutter zurückkehrte und die Vorwürfe der inzwischen gar düster gewordenen und gramverschleierten Frau im reichsten Maße verdiente.

[467] Natürlich misfiel es hier einem jungen Taugenichts, der statt im Thomas a Kempis im Pensionat heimlich den Casanova las, im höchsten Grade. Ich entfloh, so zu sagen. Als die Mutter mir in die Residenz nachreiste und ich auch mit dem Vater in Händel gerieth, dankte sie Gott, wie ich wenigstens soviel guten Willen zeigte, daß ich mich entschloß, in Bonn, Heidelberg, Göttingen zu studiren. Erlassen Sie mir, Ihnen davon eine Schilderung zu machen! Die akademische Zeit eines jungen deutschen Adeligen, der die Universität besucht ohne einen andern Zweck als den, einmal dagewesen zu sein, wird für Sie keiner Schilderung bedürfen. Man genießt, was das Leben bietet und was der von Hause bezogene Wechsel sich zu verschaffen möglich macht. Durch Unterwürfigkeit und Kriecherei der sogenannten »Philister«, ja der berühmtesten Professoren, lernt man früh die Niederträchtigkeit der Menschen kennen und man verläßt die Hochschule, übersättigt, verdrießlich, reizbar, im Jugendlenz schon ein Misanthrop. Die Mittel flossen meiner Lebenslust gering zu. Der Justizrath Schlurck, derselbe, der im Besitz Ihres verlorenen Schreins ist, derselbe, den wir beobachteten, wie kostbar ihm Pasteten und Champagner schmeckten, die er sich bei solchen Administrationen, wie die Hohen-berg'sche ist, verdient, schickte ein, was die ganz in seinen Händen befindliche Verwaltung der Angelegenheiten meines Vaters zu schicken erlaubte. Der epikuräische Spitzbube war dabei sehr höflich, sehr devot, aber karg. Ich haßte ihn, vielleicht mit Unrecht. Aber er war der [468] Nächste, der meinen beleidigten aristokratischen Ärger, meine gentlemanliken Vorwürfe auffangen mußte. Die Mutter sprach oft davon, man müsse seinen Feinden vergeben: ich entnahm dieser Wendung ihrer Briefe weiter nichts, als daß ich mich auch wirklich vor Feinden zu hüten hätte .... War sie doch selbst seit der frühesten Zeit, der ich mich entsinnen kann, von den Gespenstern unsichtbarer Gegner verfolgt! Früh schon prägte sie dem Kinde die Vorstellung einer großen Verschwörung gegen ihr Lebensglück ein. Sie machte mir Begriffe, als wenn die Welt voll Teufel stäke und an der Spitze dieser Hölle, sagte sie mir einst, stände eine Frau ... eine Frau, die früher ihre zärtlichste Freundin war, Pauline von Harder, sonderbarerweise wirklich die Gattin jenes Mannes, dessen schlingelhafter, frecher Bediente mich, den Besitzer von Hohenberg, in seinen eigenen Thurm hat werfen lassen!

Pauline von Harder? wiederholte Dankmar und gedachte der Erwähnung derselben auf dem Heidekrug. Er kannte sie nur als eine Schriftstellerin, von der er jedoch nichts gelesen hatte ...

Sie ist mir unbekannt, fuhr der junge Fürst fort, wie die meisten erlauchten hoch- und hochwohlgeborenen Häupter unsers Adels, einige Jüngere ausgenommen, mit denen ich in Bonn und Göttingen verkehrte. Prüfungen zu bestehen und mich um ein Amt zu bewerben, lag nicht in meinem Plane: der Vater, der sich über seine Verhältnisse gern in einem völligen Dunkel erhielt, um von ihnen das [469] Bessere annehmen zu dürfen, glaubte noch hinlänglich vermögend zu sein, mir eine standesmäßige Existenz auch ohne Arbeit und Amt zu sichern. Dies war aber nicht der Fall. Ich fühlte mich so gezwungen und nach allen Richtungen hin so gehemmt, daß ich vorzog, wieder auf Reisen zu gehen und mich deshalb der Schweiz, Italien und Frankreich zuwandte. Die Beziehung zur Mutter blieb leider unerfreulich. Sie hatte in ihrer Art das Beste im Sinn, aber sie gab es entweder nicht in der richtigen Form, oder mein Herz ist kalt, ich weiß es nicht, ich kam nie mit ihr zu einem warmen offenen Wahrheitstone. Oft empfand ich Hinneigung zu meinem derbnatürlichen Vater. Die Mutter unterbrach aber jedesmal diesen Strom meiner Empfindungen und lenkte ihn wieder auf sich zurück, wo er jedoch nur künstlich floß. Ihre trübe Auffassung des Lebens entsprach meinem heitern Sinne nicht. Rudhard's Unterricht hatte schon tiefe Wurzeln in meinem Herzen geschlagen und mich gegen allen Schein und die Charlatanerie gestählt, mit der in Genf die Erziehung betrieben wurde. Ich gewann dort einige Bekanntschaften, die der allgemeinen Pietisterei in der dortigen Lebensweise gegenüber mir reinere Begriffe von Gott und seinem weisen Erziehungsplane der Menschheit einflößten, und wenn ich Ihnen erzählen sollte, wie es vor fünf Jahren etwa über mich kam, welch ein neuer Geist mich gerade in der französischen Schweiz und dem südlichen Frankreich ergriff .... Sie würden sagen, die dumpfe, hier auf dem Schlosse wohnende protestantische Ascetik konnte mich [470] nicht erwärmen, selbst wenn sie von der zärtlichen Fürsorge einer Mutter betrieben wurde! Ach ja, Wildungen! Ich gedenke des Tages, wo ich von Genf zu Fuße wanderte, die Rhone entlang durch Savoyen über den Jura nach Lyon! O dieser Tag! Diese Welt! Diese Freiheit! Vergebens hatte ich auf Briefe von Schlurck gewartet, vergebens auf eine Mittheilung von meiner Mutter, die wegen meines plötzlichen Entschlusses zu reisen, mit mir boudirte, vom Vater hatt' ich eine längere freundliche Zuschrift, in der er mir nach seiner Weise kurze Verhaltungsmaßregeln schrieb, etwa in dem Stile: Junge! Mach Schulden, aber meide die Wucherer und borge immer vier Wochen früher, ehe du das Geld brauchst, sonst preßt dir die Noth die niederträchtigsten Zinsen ab! Verlieb' dich nie ernstlich und lerne aus der Liebe zu den Weibern die leichteste Methode, sie zu verachten ... und dergleichen epikuräische Sätze mehr, die er mit Herzensgüte verband ... er war leichtsinnig, doch wohlwollend und nur durch eine unmäßige, vom verstorbenen Monarchen geschürte militairische Eitelkeit aus Rand und Band gegangen .... Diesen Brief hatt' ich, aber keinen Wechsel. In der Ungeduld, ihn erwarten, Stunde um Stunde, Minute um Minute zählen zu sollen, ging ich mit der letzten Baarschaft, zu Fuß, in einer Blouse, wie Sie mich jetzt hier sehen, von Genf nach Lyon .... In der Meinung, nach vierzehn Tagen kehrst du zurück und findest, was zu erwarten dich so peinigt, schritt ich muthig vorwärts. O, welch eine Erinnerung! Wie lange hielt ich sie fern, Wildungen!

[471] Gedenk' ich dieser himmlischen Maitage, als ich von Genf auswanderte, die grünen Ufer der Rhone entlang, bei jedem Blicke aufwärts die blauen Höhen des Jura, bei jedem Blicke rückwärts die weißen, unter dem reinsten blauen Himmel ausgebreiteten Schneedecken des Montblanc und Chamounixthales .... Wildungen ... An der kleinen, hoch in den Lüften schwebenden Bergveste des Forts de l'Ecluse warf ich noch einmal den Blick in das Genfer und Savoyer Thal zurück. Lebe wohl, du schöne Ebene! Lebe wohl, du theures Land! Es war wie ein Abschied von meinem ganzen Dasein ... Ich setzte mich an dem Fort auf einem Steine nieder und jeder von einem leichten Lüftchen bewegte Grashalm rührte mein junges, sich damals so arm, so arm fühlendes Herz. Jede kleine Glockenblume, die mein Fuß hätte zertreten können, schien mich mit bittendem Auge anzuflehen: Schone mich! Der Vogel, der von dem Felsen in die Ebene hinunterschoß mit wellenartig wogenden Flügeln, schien mir im Einverständnisse mit meinem innersten Leben und auf der gewaltigen flachen Felswand, die dem Fort de l'Ecluse gegenüber ausgebreitet liegt und die andere Seite der Schlucht bildet, über welche ein schmaler Engpaß durch diese kleine Festung nach Frankreich führt ... las ich wie auf einer großen, vom Himmel mir entgegengehaltenen Tafel mein künftiges Schicksal .... Ich grübelte und forschte, zu erkennen, welche Figuren das Moos und die Bäume und die Sträucher und die zerbröckelten Risse auf ihr bildeten. War es ein geharnischter Ritter zu Roß? War es der Gott [472] Vulcan, der mit aufgehobenem Hammer vor der Esse stand? Es schien mir ein riesiger Adler mit weit ausgebreiteten majestätischen Flügeln. Ich sprang auf. Wie Ganymed wollt' ich mich von diesem Göttervogel forttragen lassen in alle Himmel und Fernen sehnsüchtigster Ahnung .... Ich kannte kein Bleibens mehr. Hinüber zog es mich über den kahlen Rücken des Jura, und als ich niederstieg an den gewaltigen Rhonefällen vorüber, durch tannenbeschattete Schluchten, an Eisenhämmern und Kohlenhütten vorbei ... in die burgundische Ebene, als mich neue Menschen, neue Sitten, neue Erinnerungen der Geschichte begrüßten ... wie hab' ich da meinen Hut in die Luft geworfen und allen Bäumen zugerufen: Warum habt ihr hier schon geblüht? Warum nicht gewartet auf diesen Maitag und auf mich? Warum liegen eure Flocken schon alle auf der Erde? Und wenn ich einen Pfirsichbaum sahe, der sich verspätet hatte, der noch blühte, ach, da hätt' ich ihn umarmen mögen wie mich selbst, wie mein Bild, wie meinen Kameraden, so kam ich mir jung, glücklich und wie umgeboren vor! In solcher Stimmung kam ich, die Ufer des Ain entlang wandernd, in Bauerhütten einkehrend, mit Fuhrleuten sprechend, die leichte Kost des Landes genießend, mit einem Freunde, den ich mir unterwegs erwarb, wie ich Sie erwarb ... in dem schönen Lyon an, wo ich nicht die Villen, nicht die prächtigen italienischen Luxushäuser der reichen Kaufleute an den weinbekränzten Ufern des Kanals besuchte, sondern – doch was unterhalt' ich Sie mit Empfindungen und Rückblicken, [473] auf ein Leben, das keinen Werth für Sie haben wird! ... ach, vielleicht auch keinen mehr für mich selbst!

Doch, doch! rief Dankmar, fast mit Egon weinend vor Rührung. Ich nehme den innigsten Antheil, Prinz!

O fort mit dieser Benennung, Freund! sagte Egon. Prinz! Durchlaucht! Ich habe sie nie geliebt, diese alten Reliquien pedantischer Kanzleisprache, diese geschmacklosen Überlieferungen italienischer und spanischer Etikette. Und Das jetzt? Jetzt, Wildungen? Der Fürst soll sich ehren durch seine Weisheit, der Adel durch seine Tugend und durch die Ehre seiner Thaten und Gesinnung, der Bürger durch seinen Beruf, und der einfache Name ist es, der uns der schönste Gruß, die würdigste Anrede erscheinen sollte. Entwöhne sich Einer, wie ich, mein Freund, vier Jahre lang aller Erinnerungen an äußere Lebensstellung, sei Einer eine Zeit lang nur Das, was sein Talent oder wenigstens sein guter Wille aus ihm macht, und man wird die Hohlheit aller äußern Formen für immer gewahr werden. Wildungen, ich habe das Leben an seiner reinsten Quelle erkannt. Nicht die Schichten, wo man nur Abstractionen genießt und den Fleiß anderer Hände und die Gedanken anderer Köpfe, nicht diese bieten uns ein Bild des wahren Lebens, sondern da rinnt sein Quell, wo die Arbeit aus rohen Stoffen eine Gestalt hervorzaubert, da strömt sie, wo die ewige Schöpfung Gottes von der Hand des Menschen fortgeführt wird. Ich wurde durch einen Zufall in Lyon ein Handwerker, kehrte nicht nach Genf zurück, lebte in und mit dem Volke und liebte [474] seine Leiden und seine Freuden. Was mich dahin führte, welcher Irrthum vielleicht oder welche Täuschung oder welche richtige, höhere Bestimmung ... wie ich veranlaßt wurde, die Blouse, die ich auch nur des Staubes wegen in Genf angezogen hatte, in Lyon nicht wieder abzulegen, Das, mein Freund, erzähl' ich Ihnen ...

Egon stockte.

Dankmar schien schon jetzt um Mittheilung zu drängen.

Nein, sagte Egon, den Ausdruck in Dankmar's Mienen wohl verstehend, Das erzähl' ich Ihnen, wenn Sie einmal Abends in der Residenz auf meinen Polstern und Divans sitzen werden und Ihnen unter dem Schimmer eines kostbaren Kronenleuchters, den mein Vater in ein liebliches Gewächshaus hat hängen lassen, wo hundert Spiegel die Blumen und Flammen widerstrahlen, eine Thräne auffallen wird, die sich mit dem Glockenschlage Elf – in mein – umflortes Auge schleicht.

Egon schlug sanft die Arme unter den schönen männlichen Kopf und streckte sich auf das harte Holz, auf dem er saß, fast der Länge nach ....

Die Erzählung hatte ihn erschöpft, schon in Dem, was er sagte, und schien ihn noch mehr zu erschüttern in Dem, was er verschwieg.

Dankmar wollte, um den schmerzlichen Eindruck zu verwischen und sich selbst von einer ihn drückenden wehmüthigen Stimmung zu befreien, das Wort ergreifen, als sie Schloß und Riegel rasseln hörten. Pfannenstiel, der Wächter des Thurms, brachte ihnen das Essen aus der [475] Krone und mochte bei sich denken, daß ein offenbarer, überwiesener Spitzbube – denn als solchen hatte ihn noch immer mehr draußen der Thatbestand festgestellt – wol noch nie hier so gut und behaglich gespeist hätte. Dem jungen Fürsten waren der Speisen fast zu viel. Er aß nur einige Löffel von der Suppe, Dankmar gestand von sich einen lebendigern Appetit ein, worüber Pfannenstiel, der auf die Überbleibsel rechnete, wol nur wenig Freude empfand. Dennoch schien er dem ganzen und dem halben Gefangenen nicht gerade abgeneigt und ließ sich auf mancherlei Plaudereien über das Schloß, seine ehemaligen und auch gegenwärtigen Bewohner ein. Es wurde dabei nur das uns Bekannte wiederholt und bestätigt. Neues aber lag in folgender Bemerkung:

Das Glück ist ungleich vertheilt, sagte Pfannenstiel. Das ist schon so und man muß es sich vom lieben Gott gefallen lassen. Aber schlimm ist's, wenn der Hochmuth die Menschen noch weiter auseinanderbringt, als es das Gold schon thut. Ich habe da oben auch auf dem Schloß eine Schwägerin. Die ist reich geworden, weil mein Bruder, der des Fürsten Wirthschaftsinspektor war, zu seinem Vortheil rechnen konnte. O liebe Zeit, sie ist eine simple Wirthstochter hier aus der Gegend und hat eine Zeitlang nicht gewußt, soll sie meinen Bruder nehmen oder den Jäger Heunisch dazumal oder mich, der ich Schreiber war im Amt und den Amtsdienerposten nehmen mußte, weil ich mir beim großen Brand auf dem Gelben Hirsch hier da den Daumen verbrannte ... und nun[476] stolzirt sie wie ein kalekutischer Hahn und weiß nicht, ob sie ihren armen Schwager noch kennen und grüßen soll. Eine Gans war sie schon immer. Ich glaube nicht, daß sie jetzt schon ihren Namen schreiben kann ....

Die beiden Freunde erinnerten sich der Erzählung des Försters im Gelben Hirsch. Der junge Fürst wußte aber von diesen Dingen noch mehr, als er auf dem Gelben Hirsch verrathen hatte.

War Das bei dem Brande, sagte er, wo das junge Mädchen verunglückte, die Schwester des jetzigen Wirths Drossel?

Vor funfzehn Jahren, ja! sagte der Wächter verwundert; die Tochter auf dem Gelben Hirsch, die Braut vom Jäger Heunisch ... Ei, woher weiß Er ... wissen Sie ... woher weiß Er ....

Als Egon kopfschüttelnd über seine Lage, die einen solchen Mann zweifelhaft machte, wie er ihn anreden sollte, schwieg, sagte Dankmar seinen Appetit unterbrechend:

Mein Freund ist aus hiesiger Gegend. Das sehen Sie doch nun wol, daß Ihr hier keinen Verbrecher vor Euch habt, sondern einen gebildeten jungen Mann, der sich das Schloß und allenfalls auch die Bilder näher besehen hat, weil sie ihm gefielen.

Das wird wol auch herauskommen, ja! ja! entgegnete Pfannenstiel, den Essenden zusehend. Die Bedienten des Herrn von Harder sind gerade so grob, wie ihr Herr stolz ist. Den alten Gärtner Winkler hat einer so umgerannt, [477] daß er auf den Tod liegt und als die alte Brigitte darüber klagen wollte – sie weiß warum Einer sein Mundwerk hat – drohte man ihr, sie solle sich vor Schlimmerem in Acht nehmen. Solche Bengel! Ordnung ist oben keine mehr. Die Weiber tanzen und musiciren. Der alte Schleicher, der Bartusch, kriecht herum wie's böse Gewissen und möchte mir die Knöpfe von der Livree abschneiden, weil er denkt, es ist noch Silber darin; so geizig und gierig sind die Menschen, in deren Rachen hinein uns der alte Fürst in Gnaden verkauft und verjubelt hat.

Dankmar fürchtete, diese Mittheilungen würden eine Wendung nehmen, die Egon's Wunden aufrisse und beschleunigte die Befriedigung seines Appetits, um nur den geschwätzigen Büttel loszuwerden.

Egon aber schien an dessen Mittheilungen Gefallen zu finden und sagte, ohne seine Theilnahme verbergen zu können:

Also die alte Brigitte lebt noch und der alte Winkler!

Kennen Sie denn Die? fragte Pfannenstiel erstaunt. Freilich, wer hat Die hier in der Gegend nicht gekannt! Sie sind wol aus –?

Aus Schönau! sagte der Fürst.

Aus Schönau! Ja! Da weiß man's auch. Wenn die selige Fürstin die gemeinen Leute einlud – sie mußten freilich singen und beten und Manchem konnt's gar nicht schaden – theilte die alte Brigitte das Warmbier aus, das immer vor'm letzten Vaterunser den Leuten schon von der Küche herauf in die Nase kribbelte. Ach du liebe Zeit, [478] es waren curiose Geschichten; aber doch noch besser als jetzt, wo kein Mensch weiß, was nun aus Hohenberg und Plessen und den herrlichen Gütern werden wird ....

Was wünschtet Ihr denn am liebsten, daß daraus würde? fragte Dankmar, der Egon's Gedanken errieth.

Das ist schwer zu sagen! Übernimmt der junge Fürst das Ganze und befriedigt die Creditores, so stehen wir uns natürlich Alle hier am besten; denn wir bleiben doch, hat erst neulich der alte Winkler gesagt, in der Familie. Er hat Recht, der alte Mann, der's in seiner Kinderei oft noch trifft. Eine Herrschaft, die ein gutes Herz hat, behandelt ihre Angehörigen, als gehörten sie in ihre eigene Familie. Uns hier vom Amte kann's am Ende gleich sein, denn die Gerichtsbarkeit kommt doch wol nunmehro an die Regierung. Aber – so ist's und so wird's kommen – für die Andern ist von dem Prinzen Egon nichts zu erwarten.

Warum nicht? fragte Dankmar.

Der verkauft das Ganze, bezahlt die Schulden, nimmt den Rest und geht damit nach Frankreich, wo er ja – es ist 'ne Schande! – mit einem ganz gewöhnlichen Frauenzimmer so gut wie verheirathet sein soll und überhaupt ein curioser Hanns geworden ist ...

Verheirathet? sagte Dankmar und blickte dabei mit ungläubiger Ironie auf Egon.

Wie ich Ihnen sage! fuhr Pfannenstiel fort. Der Prinz ist hier wie aus der Welt. Sonst wußte man doch, daß er in der Schweiz auf Schulen und am Rhein auf Universitäten war; und man konnte sich bei der Frau Fürstin recht [479] insinuiren, wenn man ihr begegnete und ihr sagte: Nun Durchlaucht, lange nicht geschrieben Prinz Egon Durchlaucht? Früher nämlich, als wirklich Briefe von ihm kamen, hatte sie's gern. Dann aber soll er drei Jahre lang nicht geschrieben haben, drei Jahre lang vor ihrem Tode; da hat sie's nicht gern gehört, wenn Einer sagte: Nun Durchlaucht, lange nicht geschrieben Prinz Egon Durchlaucht? Wer Das sagte, mußte entweder dumm oder ein rechter Spitzbube sein. Denn Alle wußten, daß er in Frankreich war, sich mit gemeinen Leuten herumtrieb und die Tochter von einem Tischler gerade nicht geheirathet hatte, aber, verlassen Sie sich darauf ... mit ihr lebte ... und Kinder hat ... und ... wie gesagt, ganz verwilderte Geschichten.

Die Thräne unter dem Kronenleuchter, Freund – warf Egon Dankmarn anblickend, mit schmerzlichem Lächeln hinein – verstehen Sie?

Pfannenstiel sah auf seinen Gefangenen, dessen Bemerkung ihm wunderlich vorkam.

Wie meinen – Wie meint Er – Thräne unterm Kronenleuchter? ... fragte er, stockend und in dem Glauben, es wäre wol mit dem Gefangenen nicht recht richtig.

Herr Pfannenstiel, sagte Egon, um diese ihm peinlichen Mittheilungen abzubrechen; Sie sehen, wir sind gesättigt. Nehmen Sie den Rest und lassen Sie den Herrn noch bei mir. Sie wissen, daß es der Justizdirektor ja gestattet hat.

Pfannenstiel packte die Reste ein und sagte währenddem mit einiger Ironie:

[480] Lassen Sie sich nicht durch den Justizdirektor und seinen Doctor irremachen, der schläft auch ohne den Doctor bis vier Uhr; wenn's Ihnen sonst hier gefällt, bleiben Sie in Gottes Namen. Kühler ist's als unten in der Krone; es ist wahr. Aber – Wetter, da hab' ich ganz vergessen ... Ich soll Ihnen sagen ...

Der Büttel wandte sich an Dankmar.

Mir? Was ist noch?

Es hat Einer inständigst nach Ihnen in der Krone verlangt ....

Ich sehe, ich bin der Vielgesuchte, sagte Dankmar. Wahrscheinlich der Amerikaner mit dem freundlichen Knaben?

Nein, erwiederte der Schließer, der Herr Ackermann, der prächtige Sachen von Amerika erzählte, ist abgereist, gerade wie ich das Essen holte. Vielleicht kommt er wieder. Er lobte unsern Boden. Der Knabe läßt Sie noch grüßen und hat eine solche Angst um Sie gehabt, daß Sie hier im Thurme wären, daß ich meine Noth hatte, ihm zu erklären, Sie sitzen hier nur zum Spaß ....

Welcher Amerikaner? fragte der Fürst.

Dankmar erzählte ihm in einigen Worten die Bekanntschaft, die er gemacht und setzte hinzu, daß er einige Zeit geglaubt hätte, dieser Fremde könnte vielleicht an eine Ansiedelung, an einen Güterkauf denken ....

Nein, fuhr der Schließer, der sich inzwischen besonnen hatte, fort, ein Anderer wollte Sie dringend sprechen und wenn ich richtig gehört habe, es soll just kein feiner Herr [481] gewesen sein und wenn mir recht ist, der Wirth sagte, er hätte ... rothe Haare.

Hackert! sagte Dankmar. Wahrscheinlich mein davongelaufener Kutscher, bemerkte er zu Egon hingewandt.

Mit dem Bescheide, daß dessen Nachfrage nicht viel auf sich hätte, entfernte sich endlich Pfannenstiel und ließ die beiden Freunde allein, die ihm bei der betroffenen Art, wie sie bei Erwähnung des Rothhaarigen sich anblickten und gleichsam verstohlene Zeichen gaben, doch wieder etwas zweifelhaft vorkommen mußten. Er schien mit gutem Gewissen die Thür zuzuschließen. So kräftig klangen die Schlüssel, als wollte er sagen: Es ist doch besser, daß ihr Beide da festsitzt!

Da sehen Sie nun, begann Egon, als die Schlüssel des Wärters nicht mehr hörbar waren, da sehen Sie, wofür ich hier gelte. Und doch weiß ich nicht, ob ich mich nicht freuen soll, wie schon alle Bande der Anhänglichkeit, die mich bestimmen könnten, die Besitzungen zu behalten, gelöst sind. Jener Amerikaner – Ackermann nannten Sie ihn? – lobte den Boden. Nun wohl! Mir ist er nicht günstig und trägt keine Früchte. Man spottet meiner Mutter. Man sehnt sich neuen Zuständen entgegen. Man gibt mich auf. Kann mich Etwas bestimmen, mich hier zu entdecken? Kann ich wünschen, hier erkannt zu sein? Ein unendlich schönes poetisches Verhältniß, das mich in Frankreich fesselte, ist so elend entstellt hierher gedrungen! Eine niedrige Gesinnung wird bei mir vorausgesetzt; bei mir, den Niemand kennt, dessen Züge Keinem wieder einfallen, [482] höchstens vielleicht dem alten Gärtner, wenn ihn die Knechte der ungebetenen Gäste nicht vielleicht gemißhandelt hätten. O daß ich mich entschlösse, diese Wechsler aus dem Tempel meiner Familie auszutreiben! Würde mir nicht Gehorsam geleistet werden müssen? Könnt' ich nicht die Genugthuung haben, daß ich oben auf dem Schloß erschiene und Allen zuriefe: Noch bin ich Herr an dieser Stelle und ich rathe euch, daß ihr Alle zum Teufel geht!

Zorn hatte Egon ergriffen. Er stand mit leuchtenden Augen da und seine schlanke Figur reichte fast bis zur Decke des niedrigen Gemachs. Er öffnete das Fenster und rüttelte an den Stäben, die fester saßen, als Dankmar geglaubt hatte.

Und was kann ich anders thun, um hier zu entkommen, als mich zu entdecken? fuhr Egon mit sich steigernder Ungeduld und Dankmar's Schweigen für Zustimmung nehmend fort. Dieser Harder ist ein königlicher Hofbeamter, sein Wort hier wirkt allmächtig. Jedes Gutsagen für mich von Ihrer Seite wird an seinen Befehlen scheitern. O fühl' ich da nicht jetzt plötzlich die alte feindselige Hand wieder, die schon meine Mutter verfolgte? Es war doch wol keine Grille ihrer erregten Einbildungskraft, daß sie diese Harders für die Erbfeinde ihres Glückes erklärte ....

Der Absicht, sich zu entdecken, stimmte Dankmar bei. Er wußte selbst kein anderes Mittel freizukommen, als daß der junge Fürst das Gedächtniß der Menschen, die [483] ihn noch als Knaben oder Jüngling hier gesehen haben mußten, gleichsam aufrüttelte, sie auf Wiedererkennung seiner Züge lenkte und wenigstens durch dieses äußere Zeugniß ergänzte, was ihm an Documenten fehlte.

Nicht Jeder – sagte Egon lächelnd – nicht Jeder glaubt wie Sie, einer Visitenkarte!

Dankmar erinnerte ihn jetzt an die Mittheilung der Bitte, die er ihm hatte stellen wollen.

Wird sie sich ausführen lassen! sagte Egon zweifelnd. Sie sind auf dem Schlosse nicht bekannt ....

Ich werde es heute Abend besuchen. Man lud mich ein, sagte Dankmar.

Was hilft es, sagte der Fürst; ich verlange von Ihnen Etwas, das Sie verabscheuen werden.

Sie stocken? ... Haben Sie kein Vertrauen?

Ich verlange von Ihnen Dasselbe.. was ...

Sagen Sie es, Prinz!

Daß Sie sich zu meinem Mitschuldigen machen ...

Noch immer dieser Scherz?

Vergessen Sie nicht, daß ein Dieb zu Ihnen redet!

Wohlan! Redete er nur!

Wenn Sie meine Bitte erfüllen wollen, müssen Sie Das ausführen, was mir gescheitert ist, Wildungen!

Was Ihnen unbedenklich schien, soll an meinem Gewissen kein Hinderniß finden ....

Dankmar sagte diese Worte klar und frei, fühlte sich innerlich aber doch beklommen. Er gedachte seines verlorenen Schreins und der Bangigkeit, mit der Siegbert [484] gerufen hatte: Du hast ihn doch nicht aus dem Archive des Tempelhauses entführt und ihn Dir eigenmächtig angeeignet? Er gedachte sogar wieder der Möglichkeit, daß der Fremde nicht der Prinz, sondern nur über ihn vollständig unterrichtet war und er durch einen unglaublich gewandten Abenteurer veranlaßt werden könnte, einem Andern verbotene Kastanien aus dem Feuer zu holen ....

Der Gefangene sagte:

Sehen Sie! Sie werden nachdenklich ... Ich verlange von Ihnen die rascheste unbelauschte Aneignung eines Bildes!

Eines Bildes? fragte Dankmar erstaunt.

Eines Bildes meiner Mutter ....

Als Act der Pietät?

Nicht die bloße Folge erwachter kindlicher Liebe ....

Ich würde diese Regung loben; aber warum ein gefährliches Geheimniß?

Weil mit dem Bilde selbst ein Geheimniß verbunden ist.

Es ist zwei Uhr, sagte Dankmar, auf die Thurmuhr, die eben schlug, deutend. Sie werden noch Zeit haben ...

Ihnen mein ganzes Herz auszuschütten? Wohlan! sagte Egon, nahm wieder auf dem schrägen Brett, das vielleicht für die nächste Nacht seine Lagerstätte werden mußte, Platz und fuhr, durch das zwar wenig genossene Mahl doch etwas gestärkt, in seiner Erzählung fort.

[485]
6. Capitel. Das Bild
Sechstes Capitel
Das Bild

Als ich in Lyon unterm Volke lebte, erzählte der Gefangene, empfing ich noch zuweilen, jedoch natürlich vorwurfsvolle Nachrichten von meiner Familie und auch die gewohnten Mittel zu meiner frühern Existenz. Die Mutter blieb sich in ihren christlichen Ermahnungen gleich. Da aber jeder Brief, den sie schrieb, mit einer Vorahnung ihres Todes anfing und einer darangeknüpften Betrachtung endete, so wirkte es nur wenig auf mich, als sie eines Tages mir wieder schrieb, ihre Stunden wären nun gezählt, sie würde sterben. Ich sollte eilen, schrieb sie, auf Flügeln der kindlichen Liebe eilen, sie noch einmal zu umarmen und ihr einziges letztes Vermächtniß, das sie in ihrer Dürftigkeit mir geben könnte, entgegenzunehmen .... Sollte aber Gottes ewiger Rathschluß sie schon früher abrufen, ehe ich an ihrem Lager kniete und mit ihr zu Gott betete, so würd' ich hinter einem Bilde, das ich wol kannte, einem gewissen runden Pastellgemälde aus ihrer Kindheit, das sie selber darstellte, die Worte finden, die sie mir auf die weite Bahn meines Lebens und an der [486] Schwelle ihres eigenen zurufen müsse, gewichtige, inhaltschwere Worte.

Dankmar, der jetzt das Geheimniß des Diebstahls erkannte, konnte nicht umhin, den Erzähler zu unterbrechen und unwillig auszurufen:

Aber welch ein Platz! Welche Stelle, einen letzten Willen niederzulegen, der hoffentlich nur in Betrachtungen besteht!

Für den Fall wichtigerer Mittheilungen doch nicht so übel gewählt! sagte der Erzähler. Da die Mutter von meinem Vater die feierliche Zusage empfangen hatte, ein Jahr lang den ganzen Zustand Hohenbergs zu lassen, wie er bei ihrem Tode gefunden würde, dieselben Wohlthaten zu spenden, dieselben Diener zu unterhalten, an der innern Einrichtung der Zimmer nicht das Mindeste zu verrücken, ja, auf dem Schreibtische die Feder so zu lassen, wie sie sie niedergelegt hätte in dem Augenblick, als die Todtenglocke ihr schlagen würde; jedes Buch, jedes Glas so zu lassen, wie es sein würde, wenn ihr Auge bräche ....

Ah! Ah! rief Dankmar, Egon unterbrechend. Vergeben Sie mir, daß ich meine Empfindungen ausspreche. Ehre Ihrer Mutter! Aber welche fromme ...

Coquetterie! sagte Egon schmerzlich. Aber dieser Beweis ist nicht so triftig, wie mancher andere, wo Sie die Mutter schon vertheidigen wollten. Hier hatte sie Grund zu solchen gesucht erscheinenden Anordnungen. Denn sie schrieb mir, da sie diese Verfügung vom Fürsten bewilligt erhalten hätte, so würd' ich, selbst wenn ich verspätet [487] ankäme, den Lebensschatz da unberührt finden, wohin sie ihn aus Furcht vor der Bosheit sündiger Menschen verborgen hätte ....

Aber gibt es denn nicht Vertrauensmenschen? Geistliche? Notare? Advocaten? sagte Dankmar, über die Letztern selbst lächelnd.

Auch Guido Stromern, dem Pfarrer, schrieb die Mutter, fuhr Egon fort, könne sie dieses Testament nicht anvertrauen, denn man wisse nicht, ob die Furcht des Herrn in ihm dann noch stark bliebe, wenn sie dahin wäre. Sie hätte zuviel Bäume sich herbstlich färben schon gesehen.. Zuviel wanken und scheitern, und sie glaube nur an einen einzigen ewigen Frühling, wo das einmal Entblätterte wieder ausschlüge und wieder blühe im Lande der ewigen himmlischen Palmen. Das Bild, das ich wohl kannte, beschrieb sie mir noch einmal und erwähnte das Geheimniß der Öffnung. Ein starker Druck auf das Glas und die hintere Wand spränge auf und in einer Kapsel würde ich den letzten Beweis ihrer Liebe finden, die Enthüllung eines Geheimnisses.

Und Sie reisten nicht sogleich ab? fragte Dankmar gespannt und sich in die Grille der sonderbaren und eigenthümlichen Fürstin ergebend.

Ich that es nicht, sagte Egon fast mit dem Gefühl der Beschämung. Verurtheilen Sie mich deshalb nicht! Die Trägheit des Herzens ist wol eine der sieben Todsünden, die nicht vergeben werden können. Dennoch war mein Herz damals nicht träge. Es litt, rang, klopfte mit stürmischer [488] Bewegung in andern Verhältnissen, als in meinen Beziehungen zu einer Mutter. Sagen Sie Dem, der unter einer Brücke zu ertrinken im Begriff ist und mit der letzten Anstrengung seiner Kräfte gegen die Wellen rudert, er soll ein wildes Roß anhalten, das über ihm auf der Brücke sein Theuerstes schleife; er hört wol den Hülferuf, aber kann er mehr, als sich ergeben, die letzte Kraft verlieren und selbst untergehen? So eingewachsen war ich in mein neues Leben, daß ich das Absterben des alten dem Tode überlassen mußte.

Eine Weile hielt Egon inne, dann fuhr er fort:

Als ich den wirklich erfolgten Hingang der Mutter erfuhr, fand ich reichere Muße, um sie zu weinen. Es waren Thränen, die von einem andern Leide noch übrig waren und mit denen um dieses zusammenflossen .... Ich war mir eines Unrechts bewußt und fühlte, daß sich das Schicksal wol die Klage der ohne mich sterbenden Mutter gemerkt haben würde und mich irgend ein Schmerz in Zukunft noch dafür strafen soll. Aber der alte Spruch, daß Niemand über seine Kräfte hinaus Etwas vermag, trocknete mir das nasse Auge und ich selbst sprach mich frei, wenn mich auch irgend eine Nemesis verdammen wird.

Ich kenne, sagte Dankmar, das stärkere Gegengewicht nicht, das auf der Wagschale Ihres Herzens die kindliche Pflicht in die Höhe schnellte; aber die geheimnißvolle Andeutung über das Bild der Fürstin mußte Sie doch veranlassen, nach ihrem Tode wenigstens aufzubrechen und [489] an Ort und Stelle von diesem und manchem andern Nachlasse der Mutter Besitz zu ergreifen ....

Auch Das versäumte ich, sagte der Gefangene. Schätze konnt' ich keine erwarten, nicht einmal gesammelte Sparpfennige. Meine Mutter, eine geborene von Bury, besaß schon anfangs wenig und von einem spätern mütterlichen Vermögen war noch weniger für mich die Rede. Eher noch hinterließ sie in Folge ihrer unbegrenzten Wohlthätigkeit Verlegenheiten, die mein Vater abzuwickeln hatte. Und da dieser mir vollends schrieb, daß er den Tod der Mutter aufrichtig beweine und sich eine heilige Pflicht daraus mache, ihrer letzten Anordnung zu folgen und Alles ein Jahr lang unverrückt und unverändert in ihrem Sinne bestehen zu lassen, ja immer, immer, mein theurer Sohn, schrieb er, bis dein alter morscher Vater selbst zusammenbricht und du dann über unsern Gräbern zu Gericht sitzen wirst, hoffentlich nicht zu streng, Junge –! Da mir der Vater so geschrieben hatte, ließ ich das Bild Bild sein und überredete mich: Was wird es enthalten? Fromme Ermahnungen und ihren letzten mütterlichen Segen!

Sie haben wol Recht! sagte Dankmar. In der That .... Ich glaube nicht mehr. Dem Charakter der frommen Frau angemessen war eine solche letzte mütterliche Ansprache an ein Herz, das sie nach ihrer Auffassung auf dem Wege der Verdammniß sah. Ein wirkliches Geheimniß konnte sie an einer solchen Stelle nicht niederlegen.

Nicht anders dacht' auch ich damals, sagte Egon, und folgte, unbekümmert um die Heimat, in der Fremde [490] meinem Stern. Von Lyon führte mich dieser nach Paris. Die große Stadt, die ich zum ersten male sah, ergriff mich gewaltig. Im Gewühl der sich hier durchkreuzenden Interessen fühlt' ich mich wie von einem Elemente gehoben, das denn doch stärker war als meine bisherige kleine Welt, die ich mir in Lyon aufgebaut hatte. Sowie mir es damals war, muß es einem früh aus seiner Heimat entführten Menschen sein, dem die Erinnerung an sie völlig entschwunden ist und der, plötzlich in sie zurückversetzt, an den kleinsten Dingen, einem Laute, einem von ihm beobachteten Kinderspiele sich auf ein altes Dasein erinnert. O, mein Freund, ich wollte, ich hätte damals in Paris diese lockende Musik nicht verstanden. Die Kunst, die Wissenschaft, die Politik, das höhere gesellige Leben fingen an mich plötzlich hinwegzuführen, wie eine anschwellende Flut, von der Ebbe, wo ich mir auf dem Sande von kleinen Kieselsteinen und Muscheln und Binsen ein Hüttchen gebaut hatte. Die große Flut kam gewaltig .... Sie verschlang die Hütte und die Muscheln und die Binsen ... und mich warf sie in Strudeln auf und ab, hoch zu allen weißen Schaumkronen der Wogen empor und wieder nieder in die gähnenden Schlünde, wo die Ungethüme der See überrascht entgleitend ihre misgestalteten Formen verbergen ... bis ich betäubt niedersank und erwachte – an dem frischen Hügel eines Kirchhofes. Es war wieder nicht der Hügel meiner Mutter, auch nicht der meines Vaters. Es war ein anderer, mir nicht minder heiliger ....

Egon hielt eine Weile inne; dann fuhr er fort:

[491] Fast zwei Jahre waren in Paris so hingegangen. Ich war mehr Franzose geworden als ich noch Deutscher blieb, verfolgte immer noch meine alten populairen Neigungen, wenn auch in anderer Form, bis mich die Nachricht vom Tode meines Vaters und sein letzter Gruß, etwa in diesen Worten traf. Wildungen, wollen Sie eine Probe vom Stile meines Vaters hören?

O, sagte Dankmar, die Sprache des alten berühmten Kriegers, der mit den Truppen in den köstlichsten Lakonismen sprach, ist gewiß auch in diesem Falle originell gewesen.

Egon hob den Kopf empor, blickte auf die Decke des Gefängnisses und besann sich.

Er schrieb, soviel ich mich aus dem Gedächtniß entsinnen kann, sagte er, ungefähr so: Mein guter Egon, der alte Generalissimus da oben läßt gewiß nächstens bei mir Appell blasen, und deinen Vater kennst du als einen guten Soldaten, der, wenn die Trompete ruft, pünktlich auf seinem Posten steht. Da die Reise weit ist, mein Junge, so nehm' ich viel Gepäck mit. Mit Dem, was ich zurücklasse, sieh zu, wie du fertig wirst! Du bist wenigstens der Fürst Egon von Hohenberg, Das führt dich immer noch gut ins Leben ein, wie mich leidlich heraus. Wenn du Ursache haben wirst, manchmal zu wünschen, dein alter Vater hätte in dieser Welt bessere gute Freunde gefunden, als seine Gläubiger waren, so bemitleide mich! Schlurck sagte mir immer: Durchlaucht, Sie ruiniren sich .... Ich sagte ihm: Canaille, Geld, aber keine Moral! Von dir nicht! Von [492] euch Allen nicht! Schlurck sagte auch: Durchlaucht, Sie ruiniren Ihren Herrn Sohn! Das war richtiger .... Aber darum sag' ich doch: Pass' dem Kerl auf die Finger, Junge! Es bleibt dir noch genug, um bei Hofe manchmal mit vier Pferden aufzufahren, bei einer Schlittenfahrt gute Livreen zu erfinden und die deutschen Weiber mit deinen Französinnen zu vergleichen. Da ich mit Freude gehört habe, daß du solid geworden bist, wie mich Graf d'Azimont versichert, dessen junge Frau du verführt hast, da du ferner deine verfluchten Muckerstreiche mit Metierlernen, Hobelführen und solche verrückte Angedenken an die Pension und deine seligechêre Mêre aufgegeben hast .... Gott hab sie selig ... so zweifle ich gar nicht, daß du hier im Lande noch eine gute Partie mit Geld und Gütern machst und unser Wappen ein Bischen neu vergoldest. Von deiner Mutter nochmals zu reden, so nimm mir's nicht übel, mein Sohn, daß ich in einem Anfall übler Laune und schlechter Kasse ihre hohenberger Hinterlassenschaft in Bausch und Bogen losgeschlagen habe. Die Harders sind eigentlich zunächst Schuld daran und quälten mich um die Einrichtung. Pauline, die in ihren jungen Tagen, ich will nicht wissen warum, deiner Mutter das Leben nicht gönnte, hat seit ihrem Tode gethan, als wenn sie in Mama ihre letzte Freundin verloren hätte. Kaum hatte Mama die Augen zu, so kam sie und lamentirte um Andenken und verlangte zuletzt ihren ganzen Nachlaß, um ihn in ihrem neuen Landhause vor der Stadt aufzustellen. Natürlich käuflich. Du weißt, daß ich vor einem Jahre nichts daran[493] räumen und ändern durfte. Als aber das Jahr um war, lieber Junge, kam sie wieder mit dem alten Jammer um die edle Freundin, aber sie ist schlau dies Weib! Was den Nachlaß anlangte, über den wir um dreitausend Thaler schon einig waren, so wollte sie ihn jetzt durch ihren Mann auf Staatskosten für die königlichen Lustschlösser ankaufen lassen. Sie wußte es richtig so zu drehen, daß der Hof Wind bekam und in seiner mir immer bewiesenen Gnade gleich das Geld gab, das ich gerade den impertinentesten meiner Manichäer, den Hund, den Pfannenstiel – brenne die undankbare Canaille im ewigen Feuer dafür! – zu befriedigen dringend brauchte. Siehst du, Junge, so ging das Mobiliar zum Teufel! Jetzt aber noch Eins! Weil ich nicht begreifen konnte, wie das weiland so böse Weib, die Pauline, zu so schrecklicher Zärtlichkeit für unsere Familie kam und mich Schlurck, der überhaupt mit allen Hunden gehetzt ist, einfach und trocken versicherte, die gute Geheimräthin fürchte den geschriebenen Nachlaß ihrer ehemaligen Freundin und wolle nur tout bonnement jeden Keim wiederauflebender alter Geschichten dadurch ersticken, daß sie die Macht bekäme, auf Hohenberg jeden Winkel zu durchstöbern ... so hatt' ich, – lobe mich dafür! – die Vorsicht, erst alle Schränke öffnen und jeden Schnitzel Papier, der sich vorfand, verbrennen zu lassen. Glücklicherweise fand ich nichts als das Geschreibsel von allen Pfaffen der Erde an die Mama, an die sie das Geld verthan hat, und an die Heidenbekehrer und Hottentotten noch dazugenommen. Ich war dabei, als der ganze [494] fromme Gestank im Kamin prasselte, und fast hätten wir Hohenberg damit in Brand gesteckt. Nun mag die Hexe, die Pauline, den Rest durchstöbern! Sie wird nichts mehr für ihren Schnabel mit den falschen Zähnen finden! Die Familienbilder, mein Sohn, versteht sich von selbst, sind von dem Verkauf ausgeschlossen und bleiben dein. Ça commande le nom de la famille ... Also, mein lieber Sohn, nun mach' ich dir Platz in dieser Welt, die gerade nicht schlecht ist, wenn's kein Podagra und keine Wucherer gäbe! Thu' mir die Liebe und folge nicht überall meiner Spur, sie verlor sich manchmal ein Bischen ins Holz, wo der gute Weg aufhört und die Irrlichter zu plänkeln anfangen – aber – duld' aber auch nicht, daß Buben über mein Grab springen, Hunde darauf u.s.w. dürfen! Mit einem Wort, bleib ein Cavalier, wie ich einer war, wenn's auf Bravour ankam, und verstehst du, auf ein honettes Sentiment. Mein Sohn! Meine Orden schickst du an die Herren Souverains zurück, die meine Brust damit geschmückt haben. Es sind ihrer eine schwere Menge. Thu' Das mit Anstand und feiner Etiquette! Vielleicht läßt dir Einer oder der Andere so ein Kreuz oder Band auf Abschlag für künftige Verdienste gleich um den Hals zurück und sagt: Ich wüßte keinen bessern Erben Ihres Herrn Vaters als den Herrn Sohn! Es führt gut in die Gesellschaft ein und macht sich immer artig, wenn man, wie du, eine Figur danach hat. Die Verdienste kommen schon später. Sorge nur, ich bitte dich darum, für meine alten Pferde, für meine Hunde und auch die Diener! Auch Das [495] noch: Wenn einmal Einer mit zerschossenem Bein kommt und sagt: Unter Ihrem Herrn Vater Durchlaucht hab' ich bei Leipzig den Schuß gekriegt, so lass' ihn, wenn er auch lügt ... denn die Jungens sind Alle todt oder versorgt ... so lass' ihn nicht ohne ein paar Groschen gehen! Hörst du? Das eigentlich große Denkmal setzt mir der König, mein guter Herr! Leb' nun wohl, Egon! Das ist mein letzter Brief. Ich ahne Etwas von einem recht langen Winterquartier unter der Erde. Nimm meinen Segen. Brauchst ihn nicht zu verschmähen. Ein Husar, der ehrlich stirbt, ist doch so gut, wie ein Pfarrer. Adieu, mon fils! Pour jamais! Dein treuer Vater Fürst Waldemar von Hohenberg. Postscriptum: Verkauf getrost meinen ganzen Nachlaß, aber die Uniformen laß beisammen als Familienstück! Ich möchte, daß Das aufbewahrt bleibt. Vielleicht wird einer von deinen Jungens Soldat und lacht, wenn erst die neuen Theatersoldaten zugeschnitten sind, lacht als Cadett über einen alten Generalfeldmarschall von ehemals. Dies entre nous! Zeige den Brief Keinem vom Hofe ... verstehst du? Hüte dich vor den Harders und thue Recht und scheue Niemand! Adieu, mon fils!

Als Egon diesen Brief aus dem Gedächtnisse fast wörtlich wiederholt hatte, konnten sich Beide, so traurig die Veranlassung war, einer heitern Stimmung nicht erwehren.

Ich fühle denn doch, sagte Dankmar, wie in diesem martialischen Herrn, den ich gar oft noch habe reiten sehen und dessen feierliches Begräbniß die ganze Stadt in [496] Bewegung brachte, der Kern jener Gesinnung lag, die man die gute alte deutsche nennt .... Was wollte er nur mit dem Postscriptum und dem Verbot des Zeigens bei Hofe?

Es ist das Postscriptum spätern Datums als der Brief selbst, erklärte Egon, und offenbar in großem Unmuth geschrieben. Die Jugend dieser alten Haudegen fiel in Zeiten, wo die Fackel des Kriegs durch ganz Europa loderte und an eine edlere Bildung auf der Wettbahn der Tapferkeit und des Glückes nicht zu denken war. Die darauf folgende Friedenszeit hat zwar den wohlerworbenen Kriegsglanz eines gefeierten Namens nicht trüben können, aber nur zu bald stellte sich heraus, daß die Helden des Feldlagers Sitten nach Hause brachten, die ihrer hohen, Aller Augen zugänglichen Stellung nicht entsprachen. Da sollte denn äußerer Glanz, vornehmer Prunk die innere Leere ersetzen. Im Widerspruch mit einem jüngern heranwachsenden Kriegergeschlecht, das aus Büchern und in einer stillen Friedenswärme für seinen Beruf sich bildete, machten jene alten Helden gerade ihre wilden Sitten, Trunk, Spiel und Galanterie um so zügelloser geltend, als der politische Horizont sich manchmal doch wieder zu umwölken und irgend ein kriegerisches Zeichen am Himmel noch hervorzuzucken schien. Später, wo die bedenklichen Krisen der europäischen Staaten friedlich verliefen und die alte militairische Tradition sich immer mehr verlor, gewann auch die geistige Richtung beim Militair so die Oberhand, daß man die alten Helden des Lagers, die Ritter vom Schwerte, nur noch aus Pietät [497] schonte und diese, um sich nur zu behaupten, sogar auf Moderichtungen des Tages sich verlegten. Mein Vater soll in seinem Bestreben, sich hoffähig zu erhalten und modern geistreich zu werden, höchst komisch gewesen sein. Wenn er bei der jetzigen jungen Landesmutter zum Thee war, erzählte man mir in pariser Cirkeln, schenkten ihm die Bedienten, die dafür reichliches Trinkgeld erhielten, statt Thee Rum ein und während die junge Königin mit Bewunderung sah, welche artigen Sitten der alte Fürst Waldemar angenommen hatte, pries er so lange seine Vorliebe für die von ihr protegirten Mäßigkeitsvereine, bis er unter irgend einem Vorwande sich still entfernte. Die Zarten, Empfindsamen freuten sich, daß wahrscheinlich das Gefühl der Wehmuth, das am Hofe sehr cultivirt wurde, auch schon solche derbe Naturen übermannte. Andere meinten aber, nur der Rum hätte ihn übermannt, wieder Andere aber, die ihn noch besser kannten, sagten geradezu, er ginge, weil ihm der Rum der jungen Landesmutter zu schwach war, zur Prinzessin Ottokar, wo er eine gewisse schärfere, weiße Sorte Rum vorfand, die er vorzog und die ihm die bereits unterrichteten Bedienten dort feierlich und schweigsam in den Thee gossen. In den Cirkeln der Prinzessin Ottokar war man nämlich mit den Anfoderungen der Armee vertrauter als bei der jungen Königin, ihrer Schwägerin.

O mein Gott! rief Dankmar, der über diese Anekdote, die Prinz Egon mit lächelndem Schmerze vortrug, nicht lachen konnte; wie wenig verdienen Sie die Vorwürfe, die [498] Sie sich jetzt zu machen scheinen, Prinz, Vorwürfe, daß Sie von solchen zerrütteten Zuständen fernblieben ....

Sie können sich denken, fuhr Egon nach einer Pause fort, daß ich nach dem Tode meines Vaters nun doch nicht länger in der Fremde verweilte. Es waren Umstände eingetreten, die mir die Rückkehr, die jetzt eine Pflicht der Vernunft war, auch zu einer Tröstung des Herzens machten. Ich betrat den deutschen Boden und den unserer engern Heimat. Aber ein solches Grauen empfand ich, in das Palais meines Vaters, so schön, so prachtvoll es ist, einzuziehen, daß ich erst in einem entlegenen Gasthofe abstieg und im Grunde nicht recht wußte, was ich nun eigentlich hier beginnen sollte. Es meldeten sich sogleich Haushofmeister, Secretaire, Kammerdiener, Lakaien. Alles huldigte mir. Ich antwortete zerstreut und planlos. Der Einzige, der mich in mein Eigenthum, in die zerrüttete Lage meiner mehr als zweifelhaften Besitzungen ein führen konnte, der Justizrath Schlurck, war nicht zugegen. Ich erfuhr, daß er in Hohenberg war. In Hohenberg, mußt' ich mir sagen! Und ich sagt' es nicht ohne Bitterkeit. Da kam mir ein Gedanke: Hohenberg und das Bild meiner Mutter! Du sollst nun handeln, schaffen, wirken: entledige dich zuerst eines Opfers der Liebe, rief es in mir, suche die Grabstätte deiner Mutter und rette dir das Bild, wenn es noch möglich ist, und das wichtige Geheimniß, das es enthalten soll! Meines Vaters Diener erzählten mir, daß das hohenberger Mobiliar soeben von dem Geheimrath von Harder in Besitz genommen wurde.

[499] Ich erwähnte die Familienbilder. Man sagte mir, sie blieben die unsrigen, aber erst müßten – den Bedienten war alles Das so bekannt, wie den Herrschaften selbst – auch diese wie alle Gegenstände nach der Residenz geführt werden. Man wußte, daß die Geheimräthin von Harder einen Antheil an dieser Procedur nahm, den sich Niemand erklären konnte .... Mich ergriff nun ich weiß nicht welche Beklemmung. Die Worte des Vaters, seine Warnung vor den Harders kamen mir so beängstigend in den Sinn, daß ich mich rasch entschloß und theils um Hohenberg in der Stille zu beobachten und mich für meine künftigen Plane über Behalten oder Nichtbehalten vorzubereiten, theils um auf irgend eine Art das Bild meiner Mutter mit dem plötzlich mir selbst geheimnißvollen, viel leicht schon geraubten Einschlusse zu retten, mich auf den Weg machte. Ich that es in einer Verkleidung, die Sie kennen. Ich begegnete auf dem Heidekrug Schlurck, den wahrscheinlich die Nachricht von meiner Ankunft schleunigst zurückrief. Wir lernten ihn in seinem ganzen Leichtsinn kennen. Ihnen entdeckt' ich mich, Wildungen, weil ich Sie liebgewann und mir denken muß, Sie werden mein ganzes Leben hindurch mein Freund sein und bleiben. Sagen Sie mir's, aber aufrichtig! Irr' ich mich?

Dankmar reichte ihm gerührt die Hand ....

Diese festhaltend, schloß Egon mit den Worten:

Ich habe es eine Weile bereut, diese Reise unter solchen Umständen gemacht zu haben, jetzt nicht mehr. Ich wollte erst zum Förster Heunisch, den wir auf dem Gelben [500] Hirsch gesehen hatten, mich dort zu erkennen geben und die Nacht bei ihm bleiben. Ich blieb, um ihn zu erwarten. Ein altes widerliches Weib schreckte mich ab ....

Ursula Marzahn! sagte Dankmar.

Marzahn? bemerkte Egon. Ist das die Frau des wilden Soldaten, der mich schießen lehrte! Sie muß kindisch sein ....

Was that sie Ihnen? fragte Dankmar erstaunt.

Als ich warten wollte und mich für einen reisenden Tischler ausgab, sagte sie: Ich kenne dich wohl, du bist ein Tischler und machst Särge! Geh! Geh! Hier ist Niemand zu begraben! Das schreckte mich doch. Ich mußte ihre Art für wahnsinnig halten. Noch lange rief sie mir nach: Ich kenne dich! Ich fing an mich zu fürchten und lief fast. Es war mir als hetzte mich ein böser Geist, so rannte ich durch den Wald vor dieser gräulichen Alten, auf die ich mich ... ja! ja! ... ich besinne mich, es war die schon damals alte Frau des jüngern, lüderlichen Marzahn, schon damals verrufen als ein schlimmes, unfreundliches Weib!

Wo blieben Sie aber diese Nacht? fragte Dankmar theilnehmend.

Da die Alte von den Todten gesprochen hatte, so führte es mich unwillkürlich auf den hiesigen Kirchhof. Da sucht' ich erst das Grab meiner Mutter und fand es in einem einfachen von einem goldenen Kreuz gezierten Mausoleum. Es war Nacht geworden. Auf dem Schlosse oben sah ich erhellte Fenster. Ich hörte die Klänge eines Flügels durch den stillen Frieden herüber. Es war fremde Gesellschaft [501] in Räumen, die doch noch mir gehören! Unter dem Scheine einer Besprechung der Gläubiger genoß man die Vorfreuden des künftigen Alleinbesitzes. Wenn ich in dem Augenblicke, wo Alles der Freude und dem Scherz hingegeben, das Schloß zu betreten wagte, die mir wohlbekannten Zimmer aufsuchte und jetzt gleich mit eigener Hand das Bild rettete, das mir eine sterbende Mutter auf die Seele gebunden hatte? Ich entschloß mich rasch und stieg hinauf. Die angefesselten Hunde bellten nicht, sie schienen den lebhaften Verkehr im Schloßhofe gewohnt. Die Thüren des Gitterwerks standen weit offen, obgleich es längst die zehnte Stunde geschlagen hatte. Den großen Eingang fand ich aber verschlossen. Nur mein Klingeln hätt' ihn geöffnet. Dazu fehlte mir der Muth, die Fassung. Ich setzte mich, umspielt von einem leisen balsamischen Abendwind, auf die Schwelle eines der innern Fenstervorsprünge. Der Mondschein fiel auf die entgegengesetzte Seite. Ich saß im Schatten und blickte zu den Sternen aufwärts. Hinunter sah ich dann in die dunkeln Gebüsche des Gartens, von wo der mir so wohlbekannte kleine Wasserfall herübermurmelte. Ich hörte einzelne Worte des oben geführten Gesprächs. Es schien mir fast, als spräche man von mir selbst. Ich hörte oft den Namen meiner Mutter und fand diese Umkehr der Dinge, diesen Wechsel des Geschicks so traurig, so jammervoll, so entwürdigend für mich, daß ich den Muth zur That verlor und meine Gedanken hinausspann bis nach dem Genfersee und der Rhone, wo ich solcher Abende ach!

[502] soviele erlebt habe, soviele, die mir im Angesicht der majestätischen Gebirge und im Rauschen der Wogen hingingen wie jene Gebete, die meine Mutter von mir in einsamer Kammer oder vor dem Altar einer Kirche verlangte .... Endlich ging die Gesellschaft oben auseinander. Noch lachte und neckte sich Alles beim Abschied und dem Herunterkommen von der großen steinernen Haupttreppe. Man entfernte sich nach vorn, nicht durch den innern Hof. Hier und dort wurde ein Fenster hell und verlosch wieder .... Wie in einem Gasthofe! Man sah, daß überall die Menschen sich wie häuslich niedergelassen hatten. Endlich wurde Alles still, alle Lichter erloschen, nur in den Zimmern meiner Mutter schien noch der matte Schein des Lämpchens zu glimmen. Ich mußte annehmen, daß sie bewacht wurden. Dennoch nahm ich meinen Entschluß wieder auf. Ich umging den rechten Flügel des Gebäudes. Ach! hier lag noch der kleine Kieselsand auf dem Boden und knirschte unter meinen Schritten, hier waren noch die Stellen auf ihm eingedrückt, wo sonst einige Orangenbäume in großen hölzernen Gefäßen prangten. Einer kleinen Seitenthür näherte ich mich, ich drückte darauf, auch sie war verschlossen. Dann sah ich empor, ob ich nicht wagen könnte, hinaufzuklettern; aber die Stuccaturvorsprünge der Mauer waren zu schwach. Sie würden mich nicht getragen haben, selbst wenn ich mich mit den Nägeln in den Kalk hätte einkratzen wollen. So konnte denn nur eine Leiter helfen und diese zu suchen entfernt' ich mich. Wie ich so vorsichtig, geschützt von den [503] langen Schatten des Schlosses, in der nächsten Umgebung hin und her spähe, hör' ich ein Knistern auf dem Kieselboden. Aus dem Garten schleicht sich ein Mensch behutsam näher. Es war hell genug, in ihm denselben kecken Burschen zu erkennen, mit dem ich Sie zuerst erblickte, und der uns im Walde so plötzlich verließ.

Hackert? fragte Dankmar.

Derselbe Mensch mit dem röthlichen Haare, sagte der Fürst, derselbe mit dem hämisch lauernden Ausdruck der Augen, derselbe, der mich für einen politischen Spion hielt.

Er wandelte im Traume? sagte Dankmar.

Wie? antwortete der Fürst, der diese Frage nicht ganz verstand. Im Traume? Er war in einem völlig bewußten Zustand. Eine Weile stand er lauschend still. Ich drückte mich hinter eine Karyatide, die eine der Fensternischen ziert und folgte dann behutsam und spürte seinem Treiben nach. Er blieb, ringsum spähend, in dem innern Schloßhof. Wie er an einem der Fenster das Merkmal gefunden zu haben schien, das er suchte, blieb er an der entgegengesetzten Wand im vollen Mondscheine stehen und blickte unverwandt wie ein zweiter Ritter Toggenburg auf jenes Fenster. Endlich regte sich etwas an dem von ihm beobachteten Punkte. Vorhänge wurden zurückgeworfen und eine, wie es schien, jugendlich schöne weibliche Gestalt im Nachtkleide öffnete das Fenster. Kaum hatte sie einen Blick in den Mondschein geworfen, als sie laut und mit Entsetzen jenen Namen rief, den Sie vorhin nannten. Ja!

[504] ja! Hackert war es! Das Fenster wurde von dem lieblichen Wesen, das mich selbst bezauberte, wie in der Eile der Angst zugeworfen, die Vorhänge fielen zurück, der abenteuerliche Mensch lachte grell auf, polterte, lärmte, als wollte er sich hörbar machen, und sprang pfeifend und singend wie besessen davon. Ich eilte ihm nach. Er hüpfte den großen Fahrweg hinunter. Ich folgte ihm zuletzt mit Mühe. Zuweilen stand er ganz still und sprach laut lachend, sah sich um und wiederholte mit kindischen Gebehrden seinen eigenen Namen. Unten aber wandte er sich dem Walde zu, wohin ich ihm nicht folgen mochte, da ich plötzlich im Dorfe lautes Sprechen hörte. Ich folgte diesem Lärm. Man schien im Pfarrhause laut zu peroriren. Kinder schrieen. Als ich näher kam, war es still. Da gab ich denn für diese Nacht mein Vorhaben auf, blieb auf dem Kirchhof und warf mich unter dem Vordache des Mausoleums meiner Mutter zum Schlafe nieder. Erstaunen Sie darüber nicht! Es ist nicht das erste mal, daß ich unter freiem Himmel schlafe ....

Ich wünsche, sagte Dankmar gerührt, daß in der heiligen Nähe Ihrer Mutter Sie ein Traum beseligt haben möge, worin sie Ihnen die Palme des Friedens und der Versöhnung reichte ....

Dieses Glück wurde mir nicht zutheil! sagte Egon. Ich träumte auf dem harten Boden nur von jenem Bilde, das mich nicht mit der Zärtlichkeit einer Mutter, sondern erst todt und kalt, dann immer häßlicher, zuletzt in wilden Fratzen anblickte, bald von Schlangen umringelt war, die [505] es bewachten, bald sich in einen derartig gewöhnlichen Gegenstand verwandelte, daß ich im Traume gelacht haben muß. Ein mal war es ein zinnerner Teller, den die alte Brigitte in der Hand hielt! Darauf war ich so ermüdet, daß ich ziemlich fest und lange schlief. Als ich erwachte, fiel mein Auge auf den marmornen Sarg, der hinter dem Gitter von einem Engel gehütet, in nicht übel ersonnener Architektur, vor mir stand. An der Hinterwand las man die mit Gold eingegrabenen Worte: »Kommt zu mir Alle, die Ihr mühselig und beladen seid, ich will Euch erquicken!« Erst sah ich neben dem Kirchhof in einem freundlichen Garten, wo ich in der Nacht das laute, heftige Sprechen vernommen hatte, den Pfarrer, Guido Stromer wahrscheinlich, den ich nicht kenne, von Blumenstrauch zu Blumenstrauch gehen und mit sinnender Überlegung ein Bouquet zusammensetzen, das er wahrscheinlich nach einer häuslichen Scene zur Versöhnung seiner Frau auf den Frühstücksteller legen wollte .... Frühstück! Ich gedachte dabei meiner eigenen Nahrung und besann mich, daß ich ganz prosaischen Hunger hatte. Ich erquickte mich, die Ulla entlang wandernd, in entlegenen Bauernhäusern an frischer Milch. Da sah ich plötzlich gegen neun Uhr einen großen Transportwagen zum Schlosse hinauffahren. Der Gedanke: Noch ist es Zeit! elektrisirte mich. Ich faßte wegen des vielleicht noch zu rettenden Bildes einen letzten Entschluß. Entweder, dacht' ich, kannst du dir noch glücklich durch Gewandtheit dein Eigenthum erobern oder du entdeckst dich dem Geheimrath von [506] Harder und machst diesem Maskenspiel ein Ende, selbst mit Gefahr, seiner Gattin gerade das Bild zu verrathen, an dessen Besitz, wenn sie das Geheimniß kannte, ihr soviel gelegen schien wie mir. Ich komme aufs Schloß, das Durcheinander und Lärmen der Diener begünstigt mein Vorhaben. Man trägt einen Tisch nach dem andern, Sessel, Fauteuils, ja selbst das geschmackvolle, gothisch geformte, auseinandergenommene Bett der Mutter in jenen großen Wagen, bei dem der Geheimrath Wache zu stehen schien, wenn ich anders eine hagere, mit Orden geschmückte Figur dafür halten muß. Bei einer solchen Demüthigung meines Namens mich zu entdecken – ich hätt' es nicht vermocht. Ich betrat das Schloß, erstieg die Treppe ... man sah soviel Menschen durcheinander, daß ich nicht auffiel. Ich gelange in die Zimmer meiner Mutter. Welche Verwüstung! Welche Zerstörung! Alles durcheinandergewühlt, Fetzen Papier auf der Erde, die Wände halb zerschlagen, die Kamine, wahrscheinlich vom Verbrennen der Papiere, mit Ruß und Rauch überzogen. Das war ein Chaos! Ich sehe Leute, die packen und tragen ... ich schreite weiter, als gehört' ich zu ihnen. Im Schlafzimmer der Mutter hängen noch Bilder, mein eigenes Bild als Knabe. Das Bild des Vaters, das Bild der Großmutter und über dem Platze, wo das Bett stand, über einem Crucifix, das unberührt hing, sehr hoch, still und schweigsam, ja gespenstisch, das bezeichnete runde Pastellgemälde! Ich suchte nach einem Sessel. Ich ergreife den ersten besten, steige in die Höhe, reiche nach dem Portrait, hab' [507] es in der einen Hand und fahre schon mit der andern über die Glasfläche, als ich mich an den Füßen gepackt fühle. Der Bediente, den Sie hier sahen, reißt mich hinunter, schleudert das Bild aus meiner Hand, glücklicherweise auf nebenanliegende Betten, ruft Hülfe! Man umringt mich, der Intendant mit großen dummen Schafsaugen mißt mich auf zehn Schritte Entfernung, weil er meine zornfunkelnde Miene fürchtete, und befiehlt zitternd und bebend meine Verhaftnahme .... Man packt, hält mich, führt mich den Weg hinunter in diesen Thurm, und nun sagen Sie, was ich anders thun kann ....

Als sich eine Weile ergeben, Prinz! erhob sich Dankmar jetzt mit sorgloser froher Bewegung, und von Ihrem Freunde Alles erwarten, was nur in seinen Kräften steht! Wie Sie ungekannt von hier entkommen können, weiß ich noch nicht, aber weder das Geheimniß des Bildes noch Ihr eigenes dürfen Sie preisgeben. Nach dieser Behandlung ... nein, können Sie sich nicht entdecken! Niemals! Niemals!

Ich fühle Das, Wildungen!

Sie müssen für immer auf diesen Tag einen Schleier fallen lassen und das Übrige ...

Das Übrige?

Dankmar stockte und sagte dann nachdenklich:

Ist es nicht wunderbar, daß ich mit Ihnen durch das gleiche Schicksal verbunden bin? Scheint es nicht ein Fingerzeig des Zufalls zu sein, der scherzend die ernsten Missionen des Verhängnisses erfüllt, wie wir so zusammengeführt [508] werden durch eine ähnliche, ja fast gleiche Aufgabe! Wie sich mir an jenen Schrein eine große Aufgabe knüpft, die ich Ihnen einst ausführlicher entwickeln werde, so verbirgt Ihr Bild ohne Zweifel Thatsachen, die tief in Ihr Leben eingreifen und der Schlüssel zu den dunkelsten Verwirrungen werden können, die Ihnen noch für Ihr Leben aufbewahrt scheinen! Bedenken sie diesen verdächtigen Eifer einer Frau, die Ihrer Mutter Freundin war, dann sie haßte und sie nun auch im Tode verfolgt und jede Spur von ihrem Dasein – Sie sehen es ja – vertilgen möchte.

Was man von dieser Pauline Harder weiß, sagte Egon ergriffen von der Theilnahme des Freundes, ist nur zu sehr geeignet, ihren Schutz für ebenso allmächtig, wie ihre Verfolgung für eine Hölle auf Erden zu erklären. Was beherrscht sie nicht? Ich weiß es aus den diplomatischen Kreisen in Paris. Sie regiert durch die verzweigtesten Fäden ihrer gesellschaftlichen Beziehungen einen Theil der öffentlichen Meinung. Was hat sie nicht schon Alles unternommen! Was nicht gefördert und gehemmt! Wo nur eine Idee ins Leben treten soll, find' ich ihren Namen, als Beschützerin oder Gegnerin und grade, weil sie Denen eine starke Macht verleiht, die sie aufsuchen, fürcht' ich für Die, die sie vermeiden, umgehen wollen ... Eine Freundin von ihr, die Gräfin d'Azimont ...

Egon stockte.

Sie nannten jene Dame, die Ihr Vater in seinem originellen Briefe erwähnte, bemerkte Dankmar.

[509] Der junge Fürst schwieg, fast verlegen. Dankmar schonte sein Gefühl, nahm das Wort und sprach die Vermuthung aus:

Ihre Mutter hat ohne Zweifel Erinnerungen ihres Lebens geschrieben; die große Welt fürchtet ihren Wahrheitseifer. Das Gerücht von Memoiren der Fürstin Amanda wird sich verbreitet haben, und diese, diese werden gesucht, vielleicht Briefe aus alten Zeiten, die manches Geheimniß enthüllen. Geben Sie die Eroberung nicht auf!

Aber wie? sagte Egon. Ich bin gefangen und schon in diesem Augenblicke vielleicht ist der Wagen gepackt, schon jetzt rollt er vielleicht der Residenz zu und die genaueste Untersuchung eines vor Enthüllungen zitternden Weibes durchstöbert jedes kleinste Theilchen seines Inhaltes und wird auch bald entdecken, daß die Rückwand des Pastellbildes auffallend stark, ja fast einem Kästchen ähnlich ist ...

In der That? bemerkten Sie Das? sagte Dankmar.

Aufs Deutlichste.

Geben wir dann nur Eins nicht auf, rieth Dankmar. Das ist die Zeit! Jede Stunde kann noch einen Gewinn bringen, jede Minute das Schlimmste abwenden. Ich bin auf das Schloß geladen. Ich werde alle Fragen wegen meiner eigenen Angelegenheit fallen lassen, da ich Ihr Zeugniß habe, daß Schlurck meinen Verlust schon mit sich geführt hat. Sie und Ihr Interesse sollen mein einziges Augenmerk sein. Ich werde horchen, ich werde forschen, ich [510] werde mir irgend eine Gelegenheit zu Nutze machen, Ihnen zu dienen; aber Sie müssen sich entschließen – so peinlich der Gedanke ist ...

Wozu? sagte Egon, indem er Dankmar's, die kleine Zelle musternden Blicken folgte; ... Sie meinen, ich muß den Gedanken an Freiheit für heute aufgeben –

Das ist es! sagte Dankmar. Nur um Zeit zu gewinnen, setzte er hinzu. Zeit, sich der einen Sache, der im Augenblick wichtigern, widmen zu können. Warum soll ich nicht das Gespräch auf dieses Bild führen können, es nicht ansehen dürfen, warum durch den raschen Druck auf das schützende Glas den Inhalt nicht zum Vorschein bringen? Denken Sie sich diese Überraschung! Ich würde sogleich als Jurist auftreten, ich würde Beschlag auf diese Papiere legen, ich würde sie nicht eher aus der Hand lassen, bis ich nicht den Gefangenen aus dem Thurm befreit hätte, dem sie allein gehören, dem Prinzen Egon von Hohenberg!

Wildungen! rief Egon, sprang auf und warf sich ihm an die Brust, indem er mit stürmischer, Dankmarn fast seltsamer Freude den Bruderkuß auf die Lippen drückte. Wildungen! Sei mein Bruder!

Dankmar, ablehnend, fast erstaunend, ungewohnt solcher Regungen in dieser kühlen Zeit, wollte scherzend erwidern. Aber Egon litt es nicht und sagte:

Eine Vergleichung mit Posa und Carlos wäre lächerlich. Ich habe kein Spanien zu erben! Aber ein Posa bist du, Freund, wie wir, weißt du, schon einmal scherzten. Das Kreuz des Malthesers würde deinen Mantel zieren, wie [511] den tapfersten Ritter, der für das Grab des Erlösers focht ...

Dankmar war erst erschrocken über diese stürmische, ihm doch etwas peinliche Empfindsamkeit, dann aber betroffen über diese Erinnerung an seine eigensten, geheimsten Ideengänge ... dachte er an Siegbert, an Ackermann und den Knaben ... und er hätte sie gern in diesem Bunde gehabt, in diesem Bunde der Freundschaft, der Liebe und des einen Geistes! ...

Eben sagte Dankmar liebevoll und gerührt:

Egon! Gibt es denn noch Freundschaften in unserer Zeit?

Egon wollte erwidern –

Da hörten sie draußen den Riegel gehen. Der Schlüssel im Schlosse drehte sich und schon auf dem Vorplatz machte sich der Thurmhüter vernehmbar mit den Worten:

Ich komme früher, als Sie mich rufen.

Wie er die zweite Thür aufgeschlossen hatte und eintrat, reichte er Dankmarn einen Brief hin.

Der sonderbare Mensch, sagte er, der nach Ihnen in der Krone fragte, hatte keine Ruhe und wollte Sie sprechen. Da Sie nicht kamen und ich ihn nicht herauflassen durfte, schrieb er diesen Zettel an Sie und hat ihn mit vier Siegeln zugeklebt, als fürcht' er, ich würde seine Staatsdepesche lesen. Eigentlich lass' ich mich da auf Sachen ein ...

Dankmar nahm den Brief und erstaunte sowol über[512] die wunderbar schöne, wie in Kupfer gestochene Handschrift, wie über die Adresse, die wörtlich lautete: »An den Ritter vom vierblättrigen Kleeblatt.«

Dankmar mußte auflachen.

Pfannenstiel spähte und fragte:

Ist Das wirklich an Sie?

Er mußte wol glauben, hier hinter eine verzweigte Gaunerbande zu kommen, die sich in einer eigenen Spitzbubensprache verständigte.

Egon las auch die Adresse und sagte:

Aber Das ist ja erstaunlich! Da ist ja der Ritter Posa schon anerkannt und von einem Schreiber – von einem Schreiber ... diese kupfergestochene Handschrift kenn' ich –

Sie ist von Hackert, der mich nicht nennen will! sagte Dankmar. Jetzt glaub' ich wol, daß er nicht die Peitsche zu führen versteht. Das ist ja meisterhaft geschrieben! Er wollte mich nicht mit Namen nennen, der schlaue Fuchs, und so erinnert die Adresse an einige Erörterungen, die ich mit ihm über das Kreuz auf dem von Schlurck gefundenen Schrein hatte. Bester Pfannenstiel, der Brief ist an mich ... und enthält hoffentlich kein Gaunerlatein!

Schlurck? sagte Egon und setzte leise hinzu:

Alle Briefe, die ich von der Verwaltung meines Vaters empfing, waren von dieser nämlichen Hand geschrieben.

Natürlich, sagte Dankmar ebenso. Hackert war Schlurck's Schreiber ...

Und während noch der junge Fürst seinen Erinnerungen [513] über diesen Gesellen und sein nächtliches Treiben nachhing, eröffnete Dankmar den Brief und las für sich.

Betroffen fuhr er sich mit der Hand über die Stirn, las noch einmal, lachte dann, nahm rasch seinen Hut und sagte zu Egon:

Nun keine weitern Erörterungen mehr, Freund! Sie würden – er sah auf Pfannenstiel – hier nicht am Platze sein. Noch heute Abend oder morgen früh hörst du mehr von mir. Ergib dich in dein Schicksal! Träume vom Genfersee, von Lyon, von Paris, von der Zukunft und wenn du willst, von der Gräfin d'Azimont! Leb wohl!

Und damit entfernte er sich wirklich zum großen Erstaunen des Schließers, der noch einige Worte mit dem Gefangenen wechselte, ihm alle Bequemlichkeiten versprach und dem »Ritter vom vierblättrigen Kleeblatt« folgte, den er unten an der Thurmpforte zu finden hoffte. Dankmar war aber schon weit von dannen ... Pfannenstiel schloß die Thür mit gewaltigem Schlüssel zu. Er dachte doch wol:

Wir haben einen curiosen Fang gemacht! Das Examen wird unserer Justiz viel Ärger und Mühe kosten.

Egon nahm aber den Brief, den ihm Dankmar in seiner eiligen, ihn fast verwirrenden Entfernung zurückgelassen hatte.

Er las:

»Ew. Wohlgeboren werden heute Abend auf dem Schlosse sein. Sollte die Rede auf mich kommen, Fritz Hackert heiß' ich, so können Sie Vieles von mir sagen, was [514] Sie wollen, selbst daß ich Ihnen wie ein Esel erschienen bin. So etwas schadet mir da nichts, weil man meine Ohren kennt und was ich hinter ihnen habe. Aber, wenn Sie ein Mann von Ehre sind und Sie es gern hören, daß ich außer einem Wesen, das vielleicht kein Mensch ist, keinen Menschen in der Welt so lieb habe, wie ... nicht etwa Ew. Wohlgeboren, sondern Ihren Herrn Bruder, der mich in einem Augenblicke der Verzweiflung mit Menschenliebe erquickte, so beschwör' ich Ew. Wohlgeboren, sprechen Sie von mir auf dem Schlosse nie wie von Ihrem Kutscher! Ich bin ein elender Mensch und kämpfe mit allen niedrigen Leidenschaften eines jämmerlichen Kerls, der das Gute will, ohne die Organe dafür zu haben, aber ich unterliege wenigstens nicht ganz, wenn ich mich höher hinauf halte, als wohin mich ein grausames Schicksal geworfen hat. Erniedrigen Sie mich da nicht, wo Sie heute wahrscheinlich sehr hoch stehen werden! Denn ich muß Ihnen im Vertrauen mittheilen, daß man im Orte unten und schon oben auf dem Schlosse anfängt, Sie für den Prinzen Egon von Hohenberg zu halten, der im Incognito hierher gekommen wäre, um sich vom Zustande seiner Güter zu unterrichten .... Vielleicht macht Ihnen dies von mir aus bester Quelle geschöpfte Misverständniß Spaß. Ich wünsche, daß Sie Ihren Schrein gefunden haben. Noch einen Rath: Reiten Sie nie mehr mit Pferden von Lasally! Dies unter uns! Übrigens noch mals: Nicht Kutscher! Ich nenne Sie nicht, wie Sie heißen, sondern wie die Aufschrift lautet, weil es Sie vielleicht unterhält, das Vorurtheil zu benutzen [515] und auf dem Schlosse einige Stunden lang den Fürsten Egon von Hohenberg zu spielen! Etwas vom Teufel haben Ew. Wohlgeboren doch auch im Leibe oder sind wenigstens ein Mensch, der mir vorkommt, als könnte er mit der ganzen Welt Fangball spielen!«

Aus diesen zwar rasch, aber ebenso in der Rechtschreibung sicher wie in der Kalligraphie bewunderungswürdig correcten und gefällig geschriebenen, ihm in den Hauptsachen aber dunklen Worten, ersah Egon sehr wol den Grund, warum Dankmar plötzlich laut auflachte und rasch einen Entschluß fassend, so außerordentlich muthig und fast drollig aufbrach. Mit dem heitern und erwärmenden Gefühl, vorläufig einen wahren Freund gefunden zu haben, ergab er sich nun ruhig in ein Schicksal, das durch die Aussicht, wol gar von Dankmar Wildungen jetzt auf dem Schlosse vertreten zu werden, an wunderbarer Verwickelung und abenteuerlicher Verwirrung noch gewonnen hatte.

[516]
7. Capitel. Der Doppelgänger
Siebentes Capitel
Der Doppelgänger

Als Dankmar wieder auf seinem kleinen Zimmer in der Krone war und ihm der Wirth gesagt hatte, es gäbe täglich Gelegenheit, Briefe zu befördern, schrieb er aus Rücksicht auf einen nun wahrscheinlich sich etwas verlängernden Aufenthalt an seinen Bruder Siegbert Wildungen:

»Lies den Ariost, theuerster Bruder, und du wirst eine Vorstellung von meinen gegenwärtigen Schicksalen haben! Hätte jener fabelnde Sänger den Zug der Argonauten geschildert, die auszogen gen Kolchis, um das goldene Vließ zu holen, ich wette, seine Erfindungen würden den Abenteuern gleichen, die ich wirklich, ich sage wirklich erlebe. Über mein goldenes Vließ sei vorläufig beruhigt! Ich glaube, daß es in sicherer Hand ist. Willst du ein Übriges thun, so besuche den Justizrath Schlurck und zeig' ihm an, daß er keine Schritte thun möchte, den Eigenthümer des mit einem Kreuz bezeichneten von ihm gefundenen Schreins zu entdecken. Er würde in der Person deines liebenswürdigen ihm schon bekannten Bruders Dankmar sich ihm bald selbst vorstellen. Auch Peters [517] beruhige und erfreu' ihn mit der Nachricht, daß ich Bello mitbringe, leider nur mit einem solchen Bein, das sich wird heilen lassen, wenn man es noch einmal zerschlägt. Dies Hundeleid, lieber Bruder, ist das einzige Herzeleid dieser Hohenberg'schen Reise! Sonst rüste dich zu einer traulichen Winterabendstimmung, wenn ich anfange dir zu erzählen, was hier schon Alles hinter mir liegt, noch mehr, was bevorsteht. Am Webstuhl der Zeit sitzen doch immer noch recht alte verschlafene Heidenhexen und spinnen auch noch jetzt unsern überhellen Tagen träumerische Märchen und unglaubliche Fabeln. Ich sage dir, Horatio, es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, als wovon die Zeitungen und die Staatsanwalte sich träumen lassen. Wenn es reif sein und ans Tageslicht kommen wird, dann sagt man vielleicht: es war gewöhnlich! Aber im Werden erlebt und mit allen ungewissen, fragwürdigen Umständen der Schicksalszubereitung aus dem Kessel genossen, hat es etwas von Prospero's Insel. Ich wünschte, du sähest, wie ich in meinem Elemente plätschre! Ich werfe mich jetzt eben auf diesen Brief an meinen sanften und vernünftigen Bruder nur, um mich nach allen Regeln des Anstandes zu sammeln vor Beginn eines der lustigsten Tage meines Lebens. Füge nur getrost hinzu: Er wird das Traurige haben, daß ich nach der ewigen Ordnung aller Dinge ihn dereinst mit vielen trüben Stunden werde bezahlen müssen. Aber Das ist hoffentlich das einzige »Aber« an meinem heutigen frohen Glauben. Zähme deine Neugier und erwarte nichts Gewöhnliches!

[518] Die Welt war uns wirklich ein zu ernstes Drama geworden, Bruder, höchstens manchmal künstlich, ach gar, gar zu künstlich eine derbe Posse, wie sie Policinell mit der Pritsche und mit Prügeln im Kirchweih-Kasten spielt. Heute, lieber Junge, erlebt' ich Dinge, die, wenn du willst, dem Sommernachtstraum angehören, den du so sehr liebst mit seiner Waldeslust, seinen verzauberten Eselsköpfen, seinen herablassenden kritischen Königswitzen und besonders dem Elfenspuke und ihrem die schmachtende Sehnsucht erweckenden Augenbalsam – auch wir verwandeln uns und werden verwandelt, Bruder, und wir wissen wol, Prinz, was wir sind, aber nicht, was wir sein werden ... Hamlet-Ophelia. Meine Gleichnisse erschöpfen sich. Du siehst, mein Junge, ich wollte gern in Deiner Sprache reden. Ich wollte gern deinen Düsseldorfer Senf mit seinen Bildern und Gleichnissen treffen. Was würdest du für gebeizte Augen machen, wenn dich Das träfe, was ich schon Alles hier sah und sehen werde, und wie würdest du dir vorkommen? Ich sähe dich, Siegbert, umwunden von Blumen, mit einer Krone auf dem Haupte ... Elfen umtanzen dich und du guter frommer Sterblicher, der so etwas nur gemalt und gedichtet sich denken kann, sträubst dich vielleicht gar und sagst zu den necken den Baumnymphen: Meine Damen! Ich bitte, bitte Sie inständigst, inkommodiren Sie sich nicht! Ich bin der Maler Siegbert Wildungen aus Angerode, der sich jetzt aufs Historienfach geworfen hat und von einem hochlöblichen Kunstverein den Ankauf [519] eines Tendenzbildes vielleicht vergebens erwartet; ich bin ein realistisches Wesen geworden; laßt mich, ihr schönen Fräulein mit blauen Kränzen in dem Haar und dem Maaßliebchen auf der Brust, laßt mich in Ruhe; unsere Schule träumt dergleichen nur und malt es in die Albums kunstliebender Salondamen, edler Diakonissen und Schwanenjungfrauen. So hör' ich dich, du blöder, schnöder Vernünftling! Aber es würde dir gar nichts helfen. Die Fräulein von der Wiese im Mondschein würden dich auslachen, dich kichernd verfolgen: Schaut! Schaut! Der sträubt sich und will nicht der Sohn des Königs Phantasus sein! Der kennt uns nur aus Büchern und Bildern und weiß nicht, daß wir seine Schwestern sind! Ach, ich wette, du schämst dich dann doch, Bruder, in der Kunst immer kühn und im Leben so bedächtig zu erscheinen, du fängst doch mit den kleinen Creatürchen zu tanzen an im Mondenschein unter den Sternen, die – siehst du denn Das auch jetzt des Nachts? – so schwer und voll wie Traubengehänge auf dich niederlangen, und du nimmst auch das funkelnde Krönlein, das dir in grünen Livreen die Kammerherren der Mondfräulein, die Eidechsen, mit schwänzelnder Höflichkeit präsentiren! Leider bist du nun aber nicht hier und deine Sommernachtstraum-Rolle muß ich spielen, so gut ich kann, wenn auch nimmer so würdig, wie du! Und noch Eins: Erzähl' ich dir einst meine Hohenberger Erlebnisse – ein Einst, das sich in drei Tagen höchstens erfüllen wird –, so setz' dich nicht etwa wie ein Criminalrichter hin und ziehe zu Allem die Stirn, wie du sie gerunzelt hast [520] im Pelikan unter dem Apfelbaum, als ich in feierlicher Stunde bei Froschgequak, Johanniswurmleuchten und beim Duft eines erinnerungsreichen Schnittlaucheierkuchens dir meine freie Maurerei im Tempelhause zu Angerode und den Fund der alten Wildungen'schen Recesse und Cessionen erzählte; jammre mir etwa nicht und lamentire über gewagte, unglaubliche, ungesetzliche Dinge und stell' dich nicht wieder, als wolltest du eine Anstellung haben als officieller Pinsel, Constablerhutlackirer oder Criminalmaler, der die Verbrecher malt, die man in effigie verbrennt! Ich sehe nicht ein, warum die Komödie der Irrungen nur auf der Bühne gespielt werden soll. Ist der Wald denn nicht wirklicher als eine Tapete? Die Sonne nicht berechtigter als eine Öllampe? Kann ... ich sage kann ... hörst du? Kann der Acteur jemals stocken, der seine Rolle frei von der eigenen Leber erfindet und sich dabei, wenn nicht an die Regeln des Aristoteles, doch an sämmtliche Regeln des Anstandes und sogar die drei Einheiten des guten Tons hält (Harmonie der Handschuhe, der Cravatte und der Weste), und sich nur Eines als freie Muse ausbedingt, die himmlische, märchengeborene, traumbeglückende, süße Unwahrscheinlichkeit! Siegbert! Siegbert! Ich bestreite es dir mit dem übereinstimmenden Zeugniß aller Elemente, aller Jahreszeiten, aller Krebs- und Nicht-Krebs-Fischerei-Monate und aller himmlischen Zeichen des Thierkreises ... ich bestreite es mit dem Verdict deiner eigenen fünf Sinne, die doch die gewissenhaftesten Geschworenen unsers Urtheils sind ...

[521] Die Welt sieht nicht so aus, wie das hintere Zimmer eines Kaffeehauses, wo es nur Zeitungen, Kellner, Fidibus, Cigarren und klappernde Dominosteine gibt! Ich bestreite dir, daß Coak-Gas das Hellste auf Erden ist und ein Tunnel das Finsterste. Wie ... o wie wünscht' ich, daß ich – manchmal du wärest ... Wie wünscht' ich, daß du zuweilen spazieren gingest aus deiner künstlichen, gemachten Phantasterei heraus und vor den Thoren die Romantik erlebtest, die du nur zu malen verstehst! Reiße dich los, Bruder, von der classischen Walpurgisnacht deiner Anschauungen, wo nur theoretische Schemen und Larven dich umtanzen, nur alte Weiber, aufgeputzt mit Phrasen, beim Klitschklatsch der Theelöffel-Imagination, die Zaubereien bewundern, die du mit Hülfe der Bücher-Nekro mantik, mit Hülfe der grauen Theorie und des ästhetischen Höllenzwanges aus dem Boden der Trompetta'schen, Mäuseburg'schen, Harder'schen Salons steigen lässest ... wirf die Fesseln ab, die dich an diese tapezirte Welt des Scheines bindet, stürze dich ins Rauschen der Begebenheit, in die immer offenen Arme der Natur und Geschichte, wo du allein erwarmen und nur etwas Dauerndes wie deinen Molay schaffen kannst, auch wenn ihn der flammende Ketzerrichter des Geschmacks und rothe Kunstvereins-Cardinal Propst Gelbsattel verwirft. Dies schreibt dir dein aufrichtiger Bruder, sonst ein passives Meisterstück der Schöpfung, heut' aber ein activer Stümper im Wettkampf mit dem großen Michel Angelo des Lebens, genannt: die Gottheit.«

[522] Wie Dankmar diesen tollen Brief überlas, that es ihm doch fast leid, daß eine so scherzhafte Absicht, die ihn anfangs im Schreiben allein geleitet hatte, zuletzt in eine ernste Wendung übersprang, die seinen Bruder vielleicht verwunden konnte. Er überlas ihn daher nochmals und voll Besorgniß. Doch ließ er ihn, wie er war, schloß ihn, siegelte mit einer Krone, dem Wappen des Kronenwirthes, und legte ihn getrost zum Absenden zurecht. Er hätte ja nur, sagte er sich entschuldigend, auf sein altes Thema spielend angestreift, das ihn im Gespräch mit dem Bruder schon so oft ergriff. Er hätte ihn ja nur wieder aufgefordert, sich freizumachen von einer gewissen mehr gelehrten als natürlichen Begeisterung für seine Kunst. Siegbert's Geschmack schien ihm zuweilen mehr der Geschmack der Schule als des eignen Bedürfnisses zu sein. Alle Anspielungen Dankmar's auf Meister William und die Elfen, auf Ariost und die Abenteuer, auf Goethe und die Gespenster waren kleine Spöttereien auf Siegbert, der sich zur Zeit in dieser vorgezeichneten Richtung des Schaffens noch sehr gefiel. Salonromantiker nannte ihn Dankmar oft, wenn Siegbert in vornehme Gesellschaften geladen wurde und mit Andacht zuhörte den Vorlesungen über Kunst und Poesie, die in gewissen Kreisen der Gesellschaft Mode waren, besonders als noch die jetzt politisch gestimmte Pauline von Harder in dieser Richtung den Ton angab und Alles um sich versammelte, was in Wissenschaft und Kunst glänzend hervortrat ... Mag er's nehmen, sagte sich Dankmar, wie er's immer genommen [523] hat! Als Anregung zur Selbstprüfung oder Gelegenheit, mich eines Bessern zu belehren und ihn um Verzeihung zu bitten.

Mit diesem Briefe, mit den Erzählungen des Wirths über Hackert's ängstliches Forschen, mit der Nachfrage nach dem Befinden seines Gauls und einem Besuch im Stall, endlich mit der nicht leichten Aufgabe, aus seiner beschränkten Reisetoilette eine Art nonchalanten Reisenegligées herzustellen, verging die Zeit bis zur sechsten Stunde. Endlich setzte er den wohlausgebürsteten, von Staub gereinigten weißen Castor auf und musterte sich in dem kleinen Spiegel seines Zimmers, dem hier und da die hintere Metallbekleidung fehlte und der eigentlich nur Fragmente von Dem wiedergab, der sich in ihm erkennen wollte. Diese Fragmente sagten Dankmarn, daß er wirklich an Wuchs fast dem Prinzen gleich war. Er hatte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit ihm, nur daß sein bräunliches Haar heller, gelockter, das schlichtere kurzgeschnittene Egon's dunkler war. Sein kleines Stutzbärtchen kleidete ihn zierlichst und die klugen Augen funkelten so unternehmend, daß sie wol dem Zuge von Ironie und Schalkheit an den Mundwinkeln entsprachen, der Hackerten bestimmen konnte, mit soviel Respect von dem Manne zu reden, der ihn, ehe er ihn nachtwandelnd im Heidekrug gesehen, so kräftig im Zaume hielt. Gewöhnt, sich immer gut zu halten, konnte Dankmar keinen Anstoß nehmen, sich so wie er war auf dem Schlosse zu zeigen. Hatte er doch die Gesellschaft oben nicht selbst [524] gesucht, ihre Einladung nicht erwartet. Sein zerknittertes Halstuch bügelte ihm die Magd frisch auf. Leicht schlang er es um den Hemdkragen, der ihn am meisten beunruhigte, wenn man nicht die Blicke, die er auf seine Handschuhe warf, noch besorgter nennen will. Indessen sagte er sich:

Bin ich oben Dankmar Wildungen, so bin ich auf dem Impromptu einer Reise begriffen. Bin ich Prinz Egon, so hab' ich noch den Vortheil voraus, als Tischlergesell direct aus Lyon oder Paris zu kommen und eine Art von Communisten zu spielen, das heißt, mit einer großartigen Verachtung des äußern Luxus meine geheimen Pläne unterstützen zu können.

Als Dankmar zum Schlosse gegen Abend hinaufstieg, war es ihm unangenehm, daß er merken konnte, er vertriebe für heute die gewohnten Gäste. Einige Damen schritten an ihm vorüber und betrachteten ihn zwar höchst neugierig, aber misgünstig. Dankmar kannte nur zwei, die Eine, die ihm noch die freundlichste war, die Pfarrerin, die duldend und nachgiebig schien, und die Andere, die im vollen Staate befindliche aber zornglühende Frau Justizdirektorin von Zeisel, die Dankmar's Gruß höchst spöttisch erwiderte.

Himmel, dachte Dankmar, du erregst schon Misgunst, statt Theilnahme. Das ist kein guter Anfang! Und noch schlimmer, daß Niemand an mein Incognito glaubt. Hackert hat gelogen. Keiner denkt daran, mich als etwas Geheimnißvolles zu bewundern.

[525] Weiterhin rollte ein Wägelchen von einem knarrenden Hemmschuh gehalten an ihm vorüber und gleichfalls den steilen Berg hinunter. Eine Dame mit zwei Herren saßen darin. Alle Drei lorgnettirten ihn. In dem jüngern erkannte er den Stallmeister Lasally, von dem er oft einen Gaul gemiethet hatte, ohne indessen mit dem schroffen und etwas unzugänglichen Herrn selbst in Berührung zu kommen. Er warf Dankmarn einen entschieden verächtlichen Blick zu und musterte ihn von unten bis oben, sodaß sich Dankmar fast beleidigt fühlte.

Unentschlossen, ob er dem Wagen irgend ein Wort nachrufen sollte, hörte er sich von einem andern ausfliegenden Gaste angeredet, von einem Manne, in dem er den Pfarrer erkennen mußte. Diesem schien die Abweisung am allerverdrießlichsten zu kommen. Das unheimliche Feuer des Neides glimmte aus seinen Augen, als er dem Günstling des Abends begegnete ...

Sie sind erwartet, mein Herr, sagte Stromer. Man muß Sie glücklich preisen, mit Fräulein Melanie den Thee trinken zu dürfen ...

Und ohne eine Antwort abzuwarten, ging der erzürnte, fast verwirrte Mann vorüber.

Dankmar wußte nicht, wie ihm geschah. Er kannte alle diese Menschen nicht, in die er so plötzlich wie ein brennender Schwärmer hineinfuhr und die er zu ihrem Ärger auseinandersprengte! Der Geistliche schien ihm vollends die Besinnung verloren zu haben. In seinem Auge lag etwas Irres. Er übersah sehr rasch, daß diese Gäste heute [526] sich wie täglich von selbst eingefunden hatten und mit der Bitte begrüßt worden waren, sie möchten entschuldigen, daß sie diesmal nicht gebeten würden, den Abend über dazubleiben, da ein der Familie Schlurck sehr werther Fremder sie aus mancherlei Rücksichten allein in Anspruch nähme ... Wenn Dem so war, so durfte er darin eine höchst feierliche Vorbereitung erkennen und einen noch nicht sehr weit umgegriffenen Verdacht über seine Person oder eine Hackert'sche Flunkerei. Als ihm aber dann doch der alte Herr, der ihn eingeladen hatte, auf halbem Wege entgegenkam und ihn versicherte, die Herrschaft wisse ihm für die Annahme seiner Einladung den größten Dank, als Dankmar sah, daß man ihn wirklich wie eine Standesperson einholte, konnte er nicht umhin, ganz aufrichtig zu sagen:

Ich bin überrascht, mein Herr, wie die Reise, die ich zur Wiederauffindung eines mir sehr werthvollen Eigenthums machen mußte, mich in eine so freundliche Berührung mit der Familie des Mannes führt, dem ich ohnehin schon, wie ich zufällig unterwegs im Heidekrug erfuhr, die Rettung meines Verlustes verdanke.

Bartusch fixirte Dankmarn mit halbzugekniffenem Auge, räusperte sich und bat den Gast, er möchte, er bäte sehr darum, des Schreins, von dem auch er schon gehört hätte, keine Erwähnung thun. Die Wiederauffindung desselben wäre zufällig mit Umständen verknüpft, die in Madame Schlurck gewisse unangenehme Empfindungen hervorriefen ... Gedanken, die sie doch lieber nicht [527] wecken wollten. Es thäte ihm leid, darüber dunkel bleiben zu müssen.

Eine so geheimnißvolle Äußerung mußte Dankmar's Neugier eher steigern; doch fügte er sich gern der sonderbaren Bitte, die einen Gegenstand betraf, über welchen er sich jetzt vollkommen beruhigen zu dürfen glaubte.

Auf dem Schloßhofe trafen sie dann den großen Transportwagen des Intendanten.

Welch ein Ungethüm! rief Dankmar. Das ist ja kein Wagen! Das ist ein wandelnder Salon, in dem man tanzen könnte ....

Bartusch erklärte ihm mit lauerndem Blicke die Bestimmung dieses großen Behälters.

Doch nicht Alles schon gepackt? fragte Dankmar dringend.

Zum größten Theil, antwortete Bartusch, überrascht von dieser Frage. Noch heute Abend wird Herr von Harder abreisen. Zwei Gendarmen sind ihm vom Landrath als Begleitung zur Verfügung gestellt ...

Dankmar schüttelte ärgerlich den Kopf, blieb stehen und öffnete die Hinterthür des Wagens.

Derselbe Bediente, den er im Thurm gesehen hatte, saß völlig aufrecht wie ein Wächter auf den sehr geordnet zusammengestellten Möbeln und grinzte ihn boshaft an ...

Lieber Himmel! äußerte sich Dankmar lachend zu Bartusch, zwei Gendarmen? Wie streng wird Das hier genommen! Es scheint, als wenn in Plessen die Justiz viel zu thun hat. Die arme Blouse im Thurm leidet darunter.

[528] Ihr hat, wie mir der arme Mensch erzählte, ein Bild gefallen, weil es nicht wie die Andern glänzend, sondern nur wie mit buntem Staub gemalt ist. Er wollte sich diese Art zu malen genauer betrachten und – Gehen denn die Familienbilder auch schon in die Residenz?

Die letzte Äußerung Dankmar's wurde von ihm so hingeworfen, um ihre Wirkung zu beobachten.

In der That war aber diese Wirkung nicht gering. Bartusch riß die Augen auf, richtete sich in die Höhe und zweifelte keinen Augenblick, daß eine solche Äußerung nur von dem Prinzen selbst oder dem intimsten Vertrauten desselben kommen konnte.

Die Vermuthung, daß der im Thurm Sitzende ein Jäger oder Kammerdiener des Prinzen Egon war, stand längst bei ihm fest.

Leider, sagte Bartusch, hat der Vorfall von heute früh den Geheimrath so alterirt, daß er nun auch sämmtliche Bilder sogleich in den Wagen tragen ließ!

Sämmtliche Bilder? sagte Dankmar, unangenehm betroffen.

Allerding's! fuhr Bartusch lächelnd und fein fort. Ich zweifle indessen nicht, daß sich der Monarch ein Vergnügen daraus machen wird, nicht nur, wie ausdrücklich bedungen ist, alle Familienbilder zurückzustellen, sondern auch den jungen Prinzen durch manches andere werthvolle Andenken an seine Mutter zu erfreuen. Was die Administration der Masse thun kann, um alle diese Verwickelungen angenehm zu lösen, alle diese herrlichen [529] Besitzungen beisammen zu lassen und dem jungen Fürsten an ihnen Freude und Gewinn zu sichern, wird gewiß geschehen. Es ist viel von der Vergangenheit gut zu machen, aber bei einigem guten Willen von Seiten Derer, die hier zu fodern haben, und bei Kraft und Ausdauer von Seiten Derer, die wol für den Augenblick verlieren müssen, läßt sich für die Zukunft mancherlei wiederherstellen.

Dankmar nickte beifällig. Die wohlgesetzten Worte gefielen ihm an und für sich schon. Dann aber an die Bilder sich erinnernd, warf er einen schmerzlichen Blick auf den großen bewachten Wagen, von dem sie sich nun entfernten und unterdrückte den Seufzer nicht, der Bartuschen auszudrücken schien, als wollte er sagen: Sie sprechen gut, aber Ihre Wünsche sind vergebens!

Mag er ihn in diesem Sinne nehmen, sagte sich Dankmar, der trotz der Gendarmen vor der wirklichen Abfahrt des Wagens den Muth nicht verlieren wollte; mag er denken, ich bin der Prinz! Ob ich Dankmar Wildungen oder Egon bin, was thut Das hier!

Still jetzt bei sich überlegend, was sich nun wol noch wagen und unternehmen ließe, folgte er dem Führer über die große steinerne Treppe, die in den ersten Stock ging. Einige hübsche Mädchen betrachteten ihn neugierig und sehr pressirt, einige leichtfertige Bediente mistrauisch. Vom Intendanten entdeckte er nichts, obgleich sein Blick in die Reihe der Zimmer fiel, die Se. Excellenz mit so strenger Consequenz ausgeleert hatten. Er hoffte nicht, [530] daß auch der Geheimrath zu den abgewiesenen gehörte. Diesem noch begegnen zu können, schien ihm unerläßlich. Bartusch öffnete eine hohe Saalthür. Dankmar durchschritt einige Gemächer, bis er endlich in dem von Melanie eigens zu seinem Empfang vorbereiteten Flügel- und Eckzimmer eintrat.

Die beiden Damen, die sich ihm heute ganz allein widmen wollten, waren schon zugegen ....

Melanie's seit dem Morgen von Stunde zu Stunde gewachsene, durch die abschlägige Mittagsantwort nur gesteigerte Spannung war denn nun endlich gelöst. Die Erfüllung ihrer Sehnsucht stand vor ihr. Sogleich erkannte sie die in der That treffende Ähnlichkeit dieses Besuchers mit jenem Siegbert Wildungen, der ihr soviel Aufmerksamkeit, Verehrung und Liebe zollte, und sogleich begann sie von diesem Siegbert und brachte Dankmarn durch ihre Schönheit, ihre reizende Toilette und die in ihm geweckte Voraussetzung, der Bruder hätte ihm doch längst von ihr erzählen sollen, was nicht geschehen war, in eine Verlegenheit, bei der er sich verwickelte und sich nicht sogleich fassen und sammeln konnte. Das traf denn allerdings rasch mit einem schlauen blitzschnell zugespielten Winke Bartusch's zusammen und in glücklichster Überraschung wisperte Melanie bei einer leichten Wendung des Kopfes der Mutter zu:

Es ist der Prinz!

Dankmar gehörte zu denjenigen jungen Männern, die früh unter Frauen und Mädchen sich tummelnd dem Reiz [531] des andern Geschlechts, den es so überwältigend auf unreife Neulinge ausübt, schon abgestumpft haben. Siegbert floh in seiner ersten Jugend aus Schüchternheit die Frauen und erlag deshalb später um so mehr ihrem Reiz und fast jeder vertrautern Annäherung. Dankmar dagegen hatte schon als reifender Knabe gebildeten Frauen im Gespräche sozusagen standgehalten, kleine Liebschaften mit jüngern gepflegt und erschrak nun nicht mehr zu heftig vor der zauberischen Gewalt des Weibes. Aber diese Melanie blendete ihn doch. Und wie sollte sie's nicht in dem weißen, sich aufbauschenden Kleide, das sie umflutete wie eine leichte Wolke? Zeigte diese ungesuchte und einfache Tracht doch fast nichts als sie selbst! Sie selbst in der plastischen Schönheit ihrer Formen, im Ebenmaß ihrer leicht behenden Glieder, im frischen Ton des Incarnats, dem man von Dem, was unverhüllt sich zeigte, ahnend ins Verborgene folgte. Melanie besaß heute noch mehr Anziehung als je; denn sie hatte warten, sich sehnen, sich vor sich selbst demüthigen müssen. Diese Sehnsucht malte sich in ihren Augen, die feuchter als sonst strahlten. Auf der kleinen, edlen Stirn und an den hohen, frei leuchtenden Schläfen lag ein Ernst, der ihr sonst fremd war. Sie hatte das freie Spiel ihrer Coquetterie schon dadurch verloren, daß sie heute mehr des Gastes als ihrer selbst eingedenk sein mußte. Wie malte sie sich nicht den Tag über aus, was sie Alles vom Prinzen schon wußte und noch im Laufe des Tages erfuhr! Wie verlor sie sich in Möglichkeiten der Zukunft! Wie überdachte sie [532] die Abenteuer, die schon von dem Prinzen alle erzählt wurden! Wie natürlich fand sie diesen geheimnißvollen Besuch auf einem Schlosse, das er mit seinem wahren Namen nicht sehen mochte, um nicht vor Denen gedemüthigt zu werden, die hier das elende Geld zu Herren gemacht hatte! Wie hatte sie diese Gläubiger im Laufe des Tages verspottet, wenn sie rechneten und maßen, ob sie wol vorziehen sollten, selbst diese Herrschaft anzukaufen oder sich in ihr Deficit ruhig zu ergeben! Wie entschieden hatte sie jeden Besuch für heute zurückgewiesen, um dem unglücklichen jungen Fürsten die Demüthigung zu ersparen, Menschen zu sehen, zu deren Untergebenen ihn der Leichtsinn seines Vaters gemacht hatte! Bartusch hatte die größte Mühe gehabt, diese Ablehnungen so höflich wie möglich einzukleiden ...

Dankmar, seine bedenklichen Handschuhe allmälig ganz unbelauscht ausziehend, begann mit Entschuldigungen über seine Garderobe, die nur für eine plötzliche Geschäftsreise eingerichtet wäre ...

Als er dafür von den Damen die holdseligste Absolution in Empfang genommen hatte, sagte er:

Meinem Bruder muß ich die bittersten Vorwürfe machen, daß er mich von dem Glück einer Bekanntschaft niemals unterhalten hat, die er mir vielleicht nicht gönnte. Seit wann kennen Sie ihn?

Seit einigen Wochen, erwiderte Melanie ... ungläubig lächelnd und mit den Augen blinzelnd, als müßte sie sich beherrschen, nicht laut in Lachen auszubrechen.

[533] Dann entschuldigt ihn, sagte Dankmar, meine längere Abwesenheit. Finden Sie, daß wir uns ähnlich sehen?

Erstaunlich, sagte die Mutter. Zwar ist mir Herr Wildungen nur aus größern Gesellschaften, die wir gaben, erinnerlich, allein meinst du nicht, Melanie – die Augen – ich meine die Augen –

Warum nicht gar! sagte Melanie. Es ist eine große Ähnlichkeit da, aber der Ausdruck und die Art ist eine völlig andere. Von den Augen zumal, Mutter, darfst du nicht reden. Siegbert's Augen haben einen schönen frommen, leuchtenden Glanz; entsinnst du dich des Bildes von Leidenfrost, auf dem ich und Herr Siegbert verspottet sein sollen? Man erkennt die verklärte Stimmung einer nur zu regen Begeisterung bei ihm, aber die Ihrigen, mein Herr, sind etwas unheimlich, etwas bös; man möchte ihnen kein Vertrauen schenken ....

Dankmar bedankte sich für eine Rüge, die doch nichts als eine coquette Schmeichelei war. Das Gemälde von Leidenfrost war ihm aber unbekannt. Ein Gemälde, auf dem Melanie und sein Bruder verspottet wären? Sein Bruder verspottet? Verspottet von dem ihm wohlbekannten, Siegbert befreundeten Leidenfrost? Darüber verfiel er in eine wahre, gar nicht erkünstelte Verlegenheit und wußte nicht, was er dazu sagen sollte.

Die Justizräthin, diese Verlegenheit vollkommen durchschauend, nahm das Wort und entschuldigte den so kleinen Cirkel, mit dem man ihn begrüße. Sie hätte ihn anfangs für menschenscheu gehalten. Man hätte ihn hier und [534] dort allein lustwandeln sehen; zum Schlosse empor hätte er nie blicken mögen ... so wäre es gekommen ... daß ...

Sie lieben die Einsamkeit, unterbrach Melanie die ehrliche Mutter, die nicht gut Komödie spielen konnte. Es ist bekannt, Mutter! Herr ... Herr ... Herr Wildungen sind ein Einsiedler.

Dankmar mußte sich im Stillen sagen, daß bei ihm gerade das Gegentheil stattfand; doch gelang es seiner Situation mehr als ihm selbst, sich die schwermüthige Miene zu geben, die Melanie's Ausspruch voraussetzte ...

Als er lächelnd verlegen niederblickte, sagte Melanie rasch:

Kennen Sie den Prinzen Egon?

Den Prinzen? – Ich kenne ihn ... sagte Dankmar nach einem Moment fast ohne Überlegung.

Wie, fuhr Melanie elektrisirt auf, Sie kennen Jemanden, den Niemand kennt? Wo ich gefragt habe: Wer ist Prinz Egon? Wie ist er? Wo ist er? Nirgend hab' ich eine klare und deutliche Antwort bekommen. Es ist der Mann der Sage, der Anekdote, der Fiction. Und Sie wollen ihn kennen?

Dankmar fühlte wol, daß er sich hatte fangen lassen. Aber einmal im Netze, beschloß er, das Netz auch nicht mehr zu zerreißen und lieber von der Möglichkeit, ihn selbst für Egon zu halten, die Vortheile zu ziehen, die sich ihm vielleicht noch im Laufe des Abends darbieten würden.

Es ist zu weitläufig, sagte er, Ihnen zu erzählen, wo ich [535] den jungen unglücklichen Erben dieses Fürstenthums kennen lernte, aber ich kenne ihn.

Melanie biß sich, um nicht zu lachen, auf die Lippen. Sie erröthete und stützte sinnend das Kinn auf ihre Arme, die sie im Schooß zusammenlegte. Von unten herauf blitzte aus ihren Augen ein Feuer, das gleichsam zu sagen schien: Ich bin viel auf den Fluren umhergeflattert, ich froher Schmetterling, aber von allen Huldigungen, die ich empfing und als Siegerin zurückwies, könnte mich keine mehr zur Sklavin machen, als die deinige, du schöner, männlicher, liebenswürdiger Schalk ....

Wird der Fürst in der Residenz wohnen? fragte sie dann, sich allmälig sammelnd.

Er wird in der Residenz wohnen, sagte Dankmar bestimmt.

Also behält er das herrliche Palais seines Vaters? fuhr die Mutter neugierig und schon ermuthigter fort.

Das Testament bestimmt es so. Er wird sich dem Willen seines Vaters nicht entziehen, sagte Dankmar.

Das Palais soll wunderschön eingerichtet sein, forschte Melanie.

Unter den brennenden Kronenleuchtern, erwiderte der kecke, übermüthige Dankmar, unter den Blumen und Lichtern, deren Widerschein sich in den Spiegeln des Pavillons bricht, wird er der Vergangenheit gedenken.

Diese Antwort ward von Dankmarn mit absichtlicher Zweideutigkeit gegeben. Das Quiproquo fing an, ihm Vergnügen zu gewähren. Er dachte sogar: Wartet nur, ich [536] will Euch für Eure Eitelkeit, Eure Genußsucht, Euer irdisches Behagen strafen ....

Melanie sprang auf. Sie konnte kaum zweifeln, den jungen Fürsten vor sich zu haben. Rasch, aber ihrer Empfindungen völlig Herr und jetzt sich wol hütend, die stürmische Bewegung ihres Herzens frei zu zeigen, sagte sie mit spottendem Humor:

O liebe Mutter, sieh, hier geht der Tisch auseinander! Man wird eine Einlage machen müssen! Prinz Egon fehlt mit seinem Hobel! Der gute Prinz soll ein Tischler sein ... hoffentlich hat er es so weit gebracht, einen solchen Schaden zu heilen. Er wird hier viel zu thun bekommen. Ich möchte nur wissen, ob er sich bei uns einen Gewerbeschein lösen wird ....

Hannchen Schlurck, die Mutter, sah bald zu Melanie strafend, bald zu Dankmarn bittend und höchst verlegen hinüber ....

Dankmar aber faßte sich sehr rasch und bemerkte in völliger Ruhe:

Mein Fräulein, diese Reparatur macht sich besser durch einen Schlosser. Er nimmt zwei eiserne Krammen, macht sie glühend und schlägt sie, gerade während sie glühen, hier an den Ecken – der Tisch erlaubt es, da er ja nicht immer bedeckt ist – so ein, daß sie im Holze selbst abkühlen. Verstehen Sie? Die Abkühlung zieht dann die beiden Tischblätter allmälig zusammen. Erkaltend werden die Eisen kleiner.

Melanie lachte laut auf und klatschte in die Hände.

[537] Das ist symbolisch zu verstehen! rief sie. Das ist das Bild einer guten vernünftigen Ehe, liebe Mutter. Die Abkühlung durch die Vernunft, sagtest du ja immer, ziehe nur um so enger zusammen. Übrigens, Herr von Wildungen, Das werd' ich dem Maler, meinem Freunde Siegbert Wildungen, erzählen. Er wird erstaunen, einen Schlosser zum Bruder zu haben. Ha! ha! ha! Ihr klugen Männer!

In dieser Art tändelte sie fort. Ihre Neckereien galten Allem, was man vom Prinzen Egon wußte, und Dankmar erwiderte ruhig aus Absicht und par dépit in demselben Doppelsinne. Was er im Thurm erfahren hatte, kam ihm dabei zustatten. Er gab über Egon's Plane so gründliche Auskunft, wies so entschieden jede Aufklärung über die Art, wie er dessen Bekanntschaft gemacht hätte, zurück, daß Melanie allmälig wirklich vorsichtiger wurde. Die Vorstellung, für diesen bei allem Unglücke doch in der Gesellschaft so hochgestellten jungen Mann von einer Leidenschaft ergriffen zu werden, machte ihr bald das Herz beklommen. Die Folgen waren so unabsehbar, die möglichen Verwickelungen viel ernsterer Natur, als sie den kleinen Tumulten ihrer Gefühle bisher gestattet hatte.

Sie lud Dankmarn zu einem Spaziergange im Garten ein.

Dies war ein Zeichen für die Mutter, sie allein zu lassen. Die ängstliche Frau, die von Bartusch's Andeutungen über Schlurck's nächtliche Wanderungen noch nicht ganz die Verstimmung des Morgens verloren hatte, auch in dem Erscheinen des Prinzen auf Hohenberg kein für [538] die Angelegenheiten ihres jetzt von der Politik zerstreuten Mannes gutes Zeichen erblickte, ließ das jugendlich schöne, leichtsinnige Paar allein. Bediente brachten auf den Zug einer Schelle für Melanie einen leichten Überwurf von blaßrother Seide, rings am Rande mit den feinsten schwarzen Spitzen besetzt. Bei der Art, wie sie im Garten diese Mantille trug, hätte man glauben sollen, sie wäre mehr bestimmt gewesen, von der Schulter herabzufallen, als sie zu bedecken. Denn Dankmar konnte sie nicht oft genug über den schönen Bug des Rückens weiterhinaufziehen helfen und nicht oft genug konnte sie Melanie wieder entgleiten lassen, bis sie sie zuletzt gewaltsam griff und wie einen altdeutschen Radmantel über die eine Schulter warf und unter der andern sie mit beiden Armen ohne Rücksicht auf die Falten zusammenpreßte.

Beim Hinuntersteigen zeigte sie Dankmarn die Zimmer der Fürstin, die nun ganz leer waren, wie Dankmar zu seiner großen Betrübniß bemerkte. Unten spottete er mit wirklichem Zorn über das Ungethüm des Wagens und ereiferte sich gegen den Geheimrath, der aus einem Fenster etwas steif grüßte.

Ich halt' ihn jetzt für meinen Feind! sagte er zu Melanie, die ihm mit neckischer Laune und wunderbar rasch sich entwickelnder Vertraulichkeit den kleinen Roman erzählte, den sie mit diesem gewissenhaften Manne aus Langerweile angesponnen hätte ...

Denken Sie sich, sagte sie, als sie in den Garten traten und sie beim Hinabsteigen von den kleinen Stufen und [539] hügelartigen Abdachungen sich zuweilen auf Dankmar's Arm stützte und ihn die Glut ihrer Adern durch die feinen über die Arme gehenden langen Spitzenhandschuhe unwillkürlich fühlen ließ; denken Sie sich, daß ich entdeckt habe, wie man dieser hölzernen Exeellenz beikommen kann, um sie lächeln zu machen! Ich versuchte es mit vielen Huldigungen, aber er blieb ungerührt. Endlich bemerkte ich, daß es die gütige Natur freundlicher mit ihm gemeint hatte, als er es verdiente! Trotzdem, daß er Alles in Allem genommen ein Esel ist, hat sie ihm doch nur ganz kleine Ohren an seinen eingebildeten Kopf gesetzt. Auf diese Bemerkung hin ist dieser wichtige Mann im Staate vor mir so klein geworden, daß er jetzt, weil ich ihn nicht erhörend aufhob und in seine natürliche Höhe richtete, mit mir boudirt. Er bildet sich ein, ich wäre Mitglied einer Verschwörung gegen seine Würde und Amtsehre, die ihm deshalb sehr schwer zu behaupten wird, weil die Natur nicht gewollt zu haben scheint, daß er etwas Anderes wird als der dumme Sohn eines sehr achtbaren und allgefeierten Vaters. Denken Sie sich, dieser Mensch spricht bei jedem dritten Satz von seinem Papa! Nicht weil er den General en Chef unserer Justiz, der in der That, wie Themis es ganz sein soll, halb blind ist und nur noch Hunde, Katzen, Affen, Raben und ein herrliches Geschöpf liebt, das sich Anna, nicht Pauline von Harder nennt, seiner gutmüthigen Eigenschaften wegen kindlich verehrt, sondern weil es ihm selbst, dem Sechziger, ein gar kindlich rührendes Aussehen gibt, noch in seinen Jahren von [540] einem Papa zu reden. Wissen Sie denn, bester Wildungen, daß Der, der schön sein will, immer eine häßliche Folie neben sich haben muß und daß die alten Coquetten gar zu gern von ihren Müttern sprechen?

Ich lerne Weltkenntniß von Ihnen, Fräulein Melanie, sagte Dankmar zu dem ihn plaudernd unterhaltenden Mädchen. Aber welche Verschwörung erwähnten Sie da? Erzählen Sie doch! Jener Auftrag, den der Geheimrath hier mit brutaler Strenge vollzieht, interessirt mich ....

Melanie, die im Stillen dachte: Das wollt' ich meinen! fuhr fort:

Ich hatte bereits die schönste Toilette zu unserm durch sie verunglückten Diner gemacht und dem Geheimenrath zwei mal seine Morgenvisite abgeschlagen, als ich ihm selbst eine in den Zimmern der Fürstin machte. Ich wollte jenes Portrait sehen, von dem es hieß, daß es einem bettelnden Vagabonden bis zum Mitnehmen gefallen hätte ....

Wohnten Sie der Scene bei? fragte Dankmar gespannt.

Nein, antwortete Melanie. Vor rohem Lärm flieht eine Furchtsame wie ich bin, und doch bedaur' ich, daß ich nicht in den Hof hinunter sah, als man einen Mann fortschleppte, der doch sehr leicht, wie Bartusch vermuthet, ein verkleideter Kammerdiener des Prinzen Egon sein konnte. Sie werden Das besser wissen, wie ich, denn Sie haben ja mit dem Gefangenen im Thurme ein Tête à Tête gehabt?

Es brannte Dankmarn auf der Zunge, mit seinem[541] Anliegen offen hervorzutreten, sich entweder diesem klugen Mädchen ganz zu entdecken oder auf der gewagten Bahn des Misverständnisses weiter zu gehen. Melanie durfte eine Antwort, eine Aufklärung über den Gefangenen erwarten. Sie sah ihn forschend an. Dankmar schlug in ganz natürlicher Verwirrung die Augen nieder und sagte nach einer Pause:

Der Gefangene steht allerdings dem Besitzer von Hohenberg sehr nahe ... der Prinz kann wol Ursache haben, jenes Bild vor den Trödlern zu retten. Es ist mindestens das Bild seiner Mutter!

O welche lieblichen Züge! sagte Melanie mit Innigkeit. Wie hätt' ich das Bild mit Küssen bedecken mögen! Die herrlichen braunen Augen! Die edle Stirn! Der holdselige Mund mit einem Ausdruck stillduldenden Schmerzes. Wissen Sie, wen ich mir so denke, Prinz?

Nun? sagte Dankmar gespannt und die Anrede: Prinz! vor Erwartung ganz überhörend.

Prinz? ... wiederholte sich Melanie fast erschreckend im Stillen. Sie staunte, daß er diese Anrede so ruhig geschehen ließ und nichts erwiderte, als drängend noch einmal: Nun? Nun? Wem sieht das Bild ähnlich?

Ich denke: der Gräfin d'Azimont! sagte Melanie mit gezogenem Tone und wandte sich rasch, als wollte sie in ihm den Eindruck beobachten, den dieser Name auf ihn hervorbringen würde.

Dankmar kam aber in der That in Verlegenheit. Er hatte den Namen der Gräfin d'Azimont im Thurm nennen [542] hören, wußte auch, daß ein französischer Attaché einst in der Residenz so hieß und die Gräfin jedenfalls eine Schönheit war, weil sie sonst Egon's sonderbare Laufbahn in Frankreich nicht, wie es schien, würde unterbrochen haben; aber es blieb doch die reinste Natürlichkeit, als er ganz unbefangen fragte:

Was wollen Sie mit der Gräfin d'Azimont?

O Sie Schelm! sagte Melanie, den Finger aufhebend. Sie wollen den Prinzen Egon kennen und wissen nicht, was mir die Excellenz erzählte, als sie mit dem größten Zorn das Bild mir aus der Hand nahmen und es den Dienern gaben, um es in den Wagen zu tragen? Die Excellenz war erschrocken sogar über ihre eigene Unfreundlichkeit. Excellenz, sagt' ich, ich wäre im Stande, Sie an einem Ihrer kleinen Ohrzipfel empfindlich zu kneipen. Wie können Sie mich so abscheulich anfahren? Er sprach ein Kauderwälsch durcheinander von gefährlichen Intriguen und höhern Befehlen und endete dann, um mich auf andere Gedanken zu bringen, damit, daß er sagte, dies Bild der jungen Fürstin Amanda erinnere ihn sehr an die Geliebte des Fürsten Egon, die Gräfin d'Azimont?

Dankmar lächelte, aber bedeutsam ....

Zum Glück, fuhr Melanie wie eifersüchtig fort, zum Glück ist diese schöne Dame verheirathet. Ich bemerkte Das schon Herrn von Harder. Sie lebt in Paris, setzte er plaudernd hinzu, um mich zu zerstreuen und das alte Vertrauen wieder zu gewinnen. Lebe sie wo sie wolle! Sie verderben mir die Freude an diesem Bilde, sagte ich.

[543] Er misverstand meinen Unmuth, glaubte, ich neckte ihn und ließ mich die Folter ausstehen, daß er mir nach Tisch, er nahm Ihre Stelle ein, in einer Fensternische Dinge sagte, wie sie Prinz Egon der Gräfin d'Azimont nicht feuriger vortragen kann. Alles Das kommt von Ihrer Gräfin, die in Paris vergessen hat, daß sie verheirathet ist! O gehen Sie, Wildungen, mit Ihrer leichtsinnigen Gräfin d'Azimont!

Fräulein ...

Ja, ja, Sie .... Schämen Sie sich solcher Verhältnisse ....

Welcher?

Eine verheirathete Diplomatin! Gewiß ist sie sehr schön, aber auch gewiß sehr intriguant! Gewiß sehr coquett! Ich habe das Schlimmste von der Gräfin d'Azimont erfahren .... Und wenn sie nun gar der Fürstin Amanda gleicht, kann ich nur noch viel Schlimmeres von ihr denken.

Ich muß gestehen: Sie haben die Phantasie dafür! sagte Dankmar.

Gleichviel! Sie mögen mich nun tadeln oder den Maler des Bildes oder den gütigen Schöpfer .... Wenn die Gräfin d'Azimont dem Bilde gleicht ... ich tadle sie doch .... Die Nase auf dem Pastellgemälde war nicht schön.

Dankmar mußte über diese Wendung lachen. Melanie boudirte künstlich .... Er war entzückt von der Coquette-rie des eifersüchtigen Mädchens.

Mit halb künstlichem, halb natürlichem Ärger und von einer Eifersucht gefoltert, als wenn sie alle die Menschen, [544] die sie doch nur dem Namen nach kannte, leibhaftig schon vor sich sähe, hüpfte Melanie fort.

Dankmar ihr nach ....

Melanie sprang Stufe von Stufe die Terrassen herab bis zu jenem griechischen Tempel hinunter, der einen so stillen Fernblick in das waldige Gebirge und die unterhaltende Nähe der sich hier kreuzenden Wege erlaubte. Melanie war so geeilt, so hastig an der alten, eben von dem kranken Gärtner kommenden und kopfschüttelnd stehenbleibenden Brigitte vorübergeschritten, daß sie auf eine Bank des Pavillons niedersank und Dankmarn das schöne Schauspiel ihrer mächtigsten Erregung bot. Den Überwurf hatte sie im raschen Gehen und dem Herabspringen von den Stufen, eine zweite Atalante, um ihn aufzuhalten, unterwegs fallen lassen. Er mußte auch, während sie lachte, innehalten und ihn aufheben; jetzt schlug er den Überwurf über den Nacken und die wogend sich hebende Brust. Auf der Erde suchte er eine große goldene Nadel, die gleichfalls ihrem Haar entfallen war und die zurückgesteckten Locken gehalten hatte ...

Lassen Sie nur, sagte sie und strich sich die Haare hinters Ohr, wo sie nicht halten wollten, und von der einen Seite nach vorn fallend, ihr einen schwärmerischen Ausdruck gaben ...

Lassen Sie nur! ... Sie müssen mir jetzt sagen, fuhr sie nach einer Weile, während sie Dankmar glückselig betrachtete, gesammelt fort; Sie müssen mir jetzt sagen, wie die Gräfin d'Azimont das Haar trägt. Ich will gar keine [545] künstliche Frisur mehr tragen, bis ich nicht weiß, wie diese abscheuliche Coquette sie trägt ....

Dankmar war in der That von der Liebenswürdigkeit des Mädchens, das sich in den gewagtesten Capricen gefiel, bezaubert ....

Gehen Sie doch, theure Melanie, sagte er unternehmend und sich ihr zur Seite niederlassend; gehen Sie doch mit diesen Erinnerungen. Diese Zeiten sind vorüber. Egon hat sich dem Vaterland zurückgegeben. Er wird es lieben, trotzdem daß es ihn so unfreundlich begrüßt. Sie haben Recht, auch der Intendant gehört zu seinen Feinden und wenn Sie versprechen könnten ....

Ich verspreche nichts, sagte Melanie und meinte doch das Gegentheil.

Eben wollte Dankmar sich zu einer Erklärung zusammennehmen, als er aufhorchen mußte. Getrappel von Pferden und noch mehr ein Geklirr von Waffen schien an sein Ohr zu dringen. Er stand auf und beugte sich über die Balustrade des Pavillons. Von Randhartingen her sah er die zwei Gendarmen reiten, die wahrscheinlich den Transport des Mobiliars schützend begleiten sollten. Die beiden Schnurrbärte grüßten militairisch und wandten sich dem großen Aufgang zum Schlosse zu.

Die gewaltigste Unruhe folterte Dankmarn. Schon sah er alle seine Hoffnungen vernichtet, schon den Preis der Rolle, die er hier, wenn auch ohne Mühe, doch zur Qual seines Wahrheittriebes durchführte, seiner Hand entwunden. Unwillkürlich stand er da wie Jemand, den ein [546] Geheimniß preßt, zu dessen Entdeckung er gern von einem prüfenden Blick in das Auge Dessen, dem er sich zu vertrauen im Begriffe steht, ermuthigt werden mochte ....

Was haben Sie? fragte Melanie, diesen Zustand nachfühlend.

Wann reist der Intendant ab? fragte Dankmar entschlossen.

Noch heute Abend!

Er, der Sie liebt, bewundert, ... trennt sich sobald?

Da ich ihn über Das, was er heute in der Nische zu mir sprach, ausgelacht habe, noch heute Abend ....

Er kann sich trennen? Von Ihnen, Melanie? Von Ihnen, die Sie Alle zu fesseln, Alle zu bezaubern verstehen ....

Er kann's und hofft morgen Abend in der Residenz zu sein ....

Nein, nein, er bleibt! Er bleibt, weil er die Schönheit bewundert, er bleibt, weil er nichts fürchtet, als ...

Er fürchtet Alles. Wie Sie sehen, diese Gendarmen hat er sich vom nächsten Landrath erbeten, weil er fürchtet!

Sie sehen daraus, rief Dankmar, daß die Entführung dieser Angedenken an eine unglückliche Frau, die man noch im Tode verfolgt, ein Act der Gewaltthat ist! Jenes Bild, das Sie in Händen hatten, das der Gefangene im Thurme sich aneignen wollte, ist mir über Alles, über Alles werth und theuer. Es enthält das wichtigste Geheimniß einer edeln Familie! Wir müssen es besitzen. Sagen Sie ein Mittel, es zurückzuerhalten!

[547] Ich erstaune! erhob sich Melanie mit verklärtem Blick, unendlich erfreut und tiefgefesselt. Sie sind also nicht durch Zufall hier? Sie hatten eine Absicht, verlangen Vertrauen zu Ihnen und erwidern es nicht einmal Denen, die nicht zu Ihren Feinden gehören, mag auch die Stellung des Fürsten Waldemar zu meinem Vater noch so schwierig gewesen sein! Warum sagten Sie nicht sogleich offen –

Ich gestehe Ihnen Alles, unterbrach sie Dankmar! Himmlisches, liebenswürdiges Mädchen! Melanie, einer Göttin gleich! Wenn ich Ihnen sagen wollte ...

Schweigen Sie jetzt! rief das hocherglühte Mädchen rasch und zeigte verstohlen nach dem Eingang des Pavillons hinter sich. Ich will Ihr Vertrauen erwidern; flüsterte sie. Nur jetzt nicht, jetzt nicht, Durchlaucht ...! Wir sind nicht allein.

[548]
8. Capitel. Das Geheimniß der drei Kugeln
Achtes Capitel
Das Geheimniß der drei Kugeln

Lasally, Herr von Reichmeyer, der unvermeidliche Guido Stromer, Lasally's Schwester und Madame Pfannenstiel traten hinter dem Gebüsch hervor und wollten, wie sie Melanie und den Fremden allein erblickten, umkehren, als fürchteten sie lästig zu fallen. Sie hatten von ihrer Unterhaltung nichts gehört, wol aber, nach ihrer Rückkehr von einer Spazierfahrt und im Dorfe sich vereinigend, das schöne Paar im Auge behalten und beim Lustwandeln im Garten, der auch von unten her dem Kundigen zugänglich war, so gethan, als würden sie Denen nur zufällig begegnen, die, wie sie wol sahen, ungestört zu sein wünschten ....

Man that nun, als wollte man sich gegenseitig nicht hindern, und verwickelte sich gerade deshalb absichtlich in ein lästiges Gespräch. Um ja nichts zu sprechen, sprach man. Die Gegend, das Wetter, zuletzt sogar die Zeit und ihre Verwirrung mußte den Stoff hergeben, Reden zu wechseln, bei denen man die Absicht, sich nur zu schrauben und auszuhorchen, schlecht verdeckte .... Wer war dieser Fremde? Es peinigte Alle.

[549] Lasally schien in eigenthümlicher Unruhe. Er hielt sich für einen der bevorzugtesten Verehrer Melanie's der sich Hoffnung machen durfte, sie immerhin nach mancherlei flatterhaften Abirrungen zuletzt doch wol noch zu gewinnen. Die Gelegenheit, seine Schwester hierher zu begleiten, unterstützte seine Bewerbung. Auch Reichmeyer wünschte, um Eugen's Finanzen geordnet zu sehen, glücklichen Erfolg .... Lasally schien es Ehrenpflicht, sich jetzt an Melanie zu halten. Er störte absichtlich.

Dazu noch die geldstolze Einfalt der Pfannenstiel und das unruhige Geisthaschen des Pfarrers, dem durch Melanie offenbar eine Verzauberung gekommen war, die ihn aus seinem bisherigen Murmelthierschlafe zu einem nochmaligen Lebensversuche – Beides Ausdrücke von ihm selbst – wecken sollte ...

Melanie, aufgeregt durch das Band des Geheimnisses, das sich eben mit dem bedeutendsten Manne, der ihr je begegnet war, knüpfen wollte, litt entsetzlich unter der Pein dieser Störung. Diese Fragen, die da aufgestellt wurden, wie lästig waren sie nicht! Melanie wurde vor Zorn sogar boshaft, gab schnippische Abfertigungen, hatte aber das Unglück, dadurch die Eitelkeit umsomehr anzustacheln. Froh war sie, als Dankmar wenigstens eine dieser kichernd Zudringlichen mit der Bemerkung abtrumpfte und entfernte, daß er bei dem Namen Pfannenstiel aufhorchte und an den Wächter des Thurms und den Amtsboten gleiches Namens erinnerte. Die Tochter des [550] frühern, Schwester des jetzigen Wirths vom Gelben Hirsch gestand diese Verwandtschaft mit Erröthen ein, sammelte sich aber doch zu einer Antwort, die Dankmarn ein äußeres Interesse an dieser Frau einflößte, was sie schwerlich ahnte ...

Ich besuche meinen Schwager selten, sagte sie, weil er mich an ein Unglück meiner Familie erinnert.

Sie meinen die unglückliche Katastrophe jenes Brandes, sagte Dankmar, bei welchem er vor vielen Jahren den Gebrauch seiner rechten Hand verlor?

Welch ein Brand? fragte sogleich die Gesellschaft.

Auf dem Gelben Hirsch, erzählte der Pfarrer, der nicht gern lange schwieg, brach aus Ursachen, die noch bisjetzt unentdeckt geblieben sind, vor Jahren ein Feuer aus, bei welchem ein junges blühendes Mädchen, die Braut unsers gegenwärtigen Försters, den Tod in den Flammen fand ....

Es war Dies meine Schwester! sagte die Frau des Wirthschaftsraths.

Dankmar besaß nicht seines Bruders Siegbert Weichherzigkeit. Dennoch entging ihm nichts, was nur irgend einer gefühligen Stimmung ähnlich sah. Er bereute in seinem Herzenstakte jetzt die Erwähnung so trauriger Erinnerungen und würde es ganz in der Ordnung gefunden haben, wenn die inzwischen so wohlhabend gewordene »Hirschentochter« sich verstimmt gefühlt und entfernt hätte. Die blieb aber und fand sich gar nicht wenig geschmeichelt, plötzlich der Mittelpunkt eines gewissen [551] Interesses geworden zu sein. Sie erzählte mit der größten Umständlichkeit alle einzelnen Vorkommnisse jenes Brandes, die herrlichen Eigenschaften ihrer ältern unglücklichen Schwester, die Aufopferung der Männer bei der schrecklichen Gefahr, die Verzweiflung des Försters, der mit den Frauen kein Glück haben sollte, denn drei Jahre später wär' ihm eine neue Verlobte im Gebirge von dem jähen Felsrande eines Waldbaches gestürzt und hätte zerschmettert ihren Tod unter den Steinen im fast leeren Flußbette gefunden. Das wäre die Tochter des Sägemüllers oben in der Ullaschlucht, ein Mädchen von zwanzig Jahren gewesen. Sie hätte gerade hier nach Plessen in die Kirche gehen wollen, wo sie zum ersten mal aufgeboten wurde ....

Ich entsinne mich sehr wohl, sagte Guido Stromer, es war ein rührender Anblick! Das schöne sonntäglich geputzte Mädchen hatte sich vielleicht verspätet und hörte schon die Glocken rufen, die den Beginn ihres Ehrentages einläuteten. So nahm sie einen kürzern Weg, hüpfte das Ufer des Waldbaches entlang von Stein zu Stein, Vorsprung zu Vorsprung, bis sie fehltrat, ausglitt, sich nicht halten konnte und in der einen Hand ein gesticktes Taschentuch, in der andern ihr Gesangbuch festhaltend, zerschmettert in der Tiefe lag. Das letzte Bewußtsein schwand in dem doch noch ziemlich rauschenden Wasser. Noch im Tode hielt sie ihr Taschentuch und das Gesangbuch krampfhaft fest. Am Ausgange des Waldes stand der geschmückte, stattliche Jäger, harrte [552] und harrte, der Gottesdienst begann, man schickt in die Sägemühle und erst am Abend entdeckten Kohlenbrenner das geschehene Unglück. Die Fürstin, voll Theilnahme und sinnig wie immer, ließ oben an der Stelle, wo der Sturz begonnen haben mußte, ein einfaches Kreuz mit Erwähnung Dessen errichten, was hier so leidvoll und wie ein schwermüthiges Idyll geschehen war ....

Dankmar's ernstes Nachdenken über die Erzählungen nahm die leidenschaftlich aufgeregte Melanie für eine Erinnerung aus seiner Jugend. Sie hörte Dem, was Alle erschütterte, kaum zu und erwachte erst aus ihrem Träumen und dem trunkenen Einathmen der sie so tief anregenden Erscheinung dieses jungen Mannes, als sie einen Namen nennen hörte, den sie jetzt nicht erwartet hätte. Lasally war nämlich boshaft genug, Melanie grade in dem Augenblick, wo seine Hoffnungen wieder entrückt zu werden schienen in eine ungewissere Zukunft, in dem Augenblick, wo ein unbekannter und ihm nur äußerlich bedeutend erscheinender junger Mann Melanie so mächtig fesseln konnte, sie mit Erinnerungen zu quälen, die ihr schmerzlicher waren, als der Wirthschaftsräthin die an ihren Schwager und ihre unglückliche Schwester. Lasally wollte sie hinabschleudern in das beschämende Gefühl der Abhängigkeit von männlicher Großmuth und so sagte er nach einer Pause, die jene Mittheilung halb vergessener und verschmerzter Unglücksfälle ablöste:

[553] Irr' ich nicht, mein Herr, so sah ich Sie gestern im Walde mit einem Kutscher, in dessen Hände Sie wol nur durch einen unglücklichen Zufall können gerathen sein. Es war ein magerer blasser Mensch mit röthlichem Haar. Als er uns anreiten sah, entsprang er plötzlich. Ich glaube Ursache zu haben, in ihm einen gewissen Hackert zu vermuthen, der erst Schreiber bei des Fräuleins Vater war und nach und nach eine Reihe der verschmitztesten Bosheiten ausgeführt hat, die ihn wol bestimmen konnten, vor uns, die wir ihn sehr gut kennen, die Flucht zu ergreifen ....

Melanie schoß auf Lasally einen vernichtenden Blick, der Dankmarn befremdete. Jetzt begriff er fast, warum Hackert ihn gebeten hatte, ihn hier nicht in der Eigenschaft eines Dieners aufzuführen und so groß war seine Antipathie gegen den kalten Ton der eben gehörten Bemerkung, daß er, trotz des Verdachtes, den ihm die im Walde von Heunisch gefundenen Kugeln einflößten, Hackert in diesem Augenblick zu seinem besten Freunde, ja zu einem Baron und Seigneur hätte machen mögen ...

Sie irren! sagte er, eingedenk des kalligraphischen Hackert'schen Zettels. Ich führte mein kleines Fuhrwerk selbst. Die beiden Gefährten waren ein Handwerker, dessen Fußwanderung mir leid that, den ich aufnahm und vorhin im Thurm leider unter zweideutigen Inzichten wiedergefunden habe; der Andere, auf den Ihre Beschreibung paßt, ist ein junger Mann, den ich im Heidekrug [554] fand, gerade im Begriff, hierher nach Hohenberg zu reisen in Zwecken, die ich nicht kenne. Ich vermuthe, es ist ein Jagdliebhaber.

Herr von Reichmeyer lachte laut auf und Lasally sagte etwas maliciös:

Er verließ Ihren Wagen, angezogen wahrscheinlich von einem Wilde, das er zwischen den Schatten der Bäume entdeckt zu haben glaubte.

War er bewaffnet? fragte Frau von Reichmeyer sehr besorgt.

Du hörst ja, liebe Schwester, sagte Lasally, er war diesmal ein Jäger ohne Flinte. Er sprang vom Wagen, aus freier Hand einen Hasen zu schießen ....

Dankmar, der nicht begreifen konnte, wie man dazu kam, ihn über Hackert so scharf und beleidigend ins Verhör zu nehmen, fixirte Lasally mit unwilligem, zornfunkelndem Blick.

Melanie, die zwischen diesen Männern eine Scene fürchtete, trat dazwischen und wollte den Streit scherzhaft wenden, indem sie sagte:

Ich bitte! Ich glaube, wir vergaßen die Herren bekannt zu machen ... Herr Lasally! Herr Wildungen!

Dankmar, der fühlte, daß er bei seiner Aussage bleiben mußte, wandte sich unmuthig ab und sagte:

Herr Lasally! Warum soll ich von dem jungen Mann nicht annehmen, daß er die Jagd liebt? Er war vielleicht doch bewaffnet. Hier sind noch drei Kugeln, die Herr Hackert im Wagen zurückließ. Wollen Sie sie ihm [555] zurückerstatten? Ich bedauere, ihn nicht wiedergesehen zu haben ....

Als Dankmar die Kugeln vorzeigte, erschrak er über die mächtige Wirkung dieser Mittheilung.

Lasally, der sich erhitzt hatte, erblaßte. Der Commerzienrath griff nach dem Blei und rief entsetzt:

Es sind dieselben!

Frau von Reichmeyer hielt sich halb ohnmächtig an dem Pfarrer, der wie Dankmar und die Wirthschaftsräthin von Alledem nichts begriff und Melanie, todtenblaß, biß die Zähne zusammen, indem sie Lasally mit halb erstickter Stimme zurief:

Es ist empörend!

Daß man Hackerten in diesem Kreise haßte und fürchtete, war Dankmarn nun gewiß, wenn er auch die Gründe dafür nicht begreifen konnte und sich im Gegentheil sagen mußte, daß Schlurck auf dem Heidekrug sich gegen den Nachtwandler äußerst liebevoll benommen hatte.

Lasally war doch nicht der Mann, sich vor einer Kugel zu fürchten, selbst wenn man annehmen wollte, daß Hackert ihm eine zugedacht hätte? Dankmar wußte zu gut, daß der Unbewaffnete eher feig als unternehmend war. Und doch dieser Schreck vor den drei Kugeln? Selbst Melanie, die von Ungeduld und Verzweiflung über die lästigen Intermezzi gefolterte Melanie, schien diese Furcht zu theilen. Was war es mit den drei Kugeln?

Noch räthselhafter wurde Dankmarn das Geheimniß, als Lasally einen in der Nähe befindlichen Jockey, der zu [556] seinen mitgebrachten Leuten gehörte, anrief und ihn fragte:

Ist den Pferden nichts? Was lauft Ihr da herum? Warum nicht im Stall? Was hab' ich Euch gestern Nachmittag eingeschärft?

Der Reitknecht gab jede nur wünschenswerthe gute Auskunft über die vier schönen Reitpferde, die Lasally von der Residenz mitgeführt hatte.

Herr von Reichmeyer fragte, ob sie Hackert's nicht ansichtig geworden wären?

Die Antwort lautete, daß man ihn allerdings dann und wann am Schlosse hätte umherschleichen, auch mit dem Kammermädchen des Fräuleins, Jeannette, sprechen sehen, doch wären sie Alle auf der Hut, ihn bei erster Annäherung niederzuwerfen. Die Pferde wären im sichersten Gewahrsam ....

Die Kugeln beweisen seine schlimme Absicht. Es sind dieselben wie früher, sagte Reichmeyer.

Warum denn dieselben? Warum denn? rief Melanie. Ich beschwör' Euch, laßt diese Unwürdigkeiten.

Mein Herr! sagte Lasally jetzt zu Dankmarn im entschiedenen aber sehr höflichen, fast versöhnten Tone; mein Herr, ich ehre die gute Meinung, die Sie von einem der abgefeimtesten Bösewichter haben. Sie kennen ihn eben nicht. Würden Sie die Gefälligkeit haben, mir diese drei Kugeln zu lassen?

Dankmar gerieth nun in Verlegenheit. Er hatte das Eigenthum an diesen Kugeln auf nur völlig äußere Anzeichen [557] hin – ja er mußte sagen nur auf die Vision der Ursula Marzahn unter dem Ebereschenbaume – Hackerten zugeschrieben und nun begründete sich auf diese willkürliche, wenn auch sehr wahrscheinliche Annahme eine förmliche Anklage ...

Er lehnte nun die Herausgabe der Kugeln ab und streckte die Hand, sie wieder an sich zu nehmen. Er bat darum.

Lasally aber verweigerte sie aufs entschiedenste und sagte kategorisch:

Haben Sie keine Sorge für Ihren Schützling, mein Herr! Er ist zu feig, von diesen Kugeln einen offenen und ehrlichen Gebrauch zu machen. Wissen Sie aber, wozu diese Kugeln dienen sollten? Ich will es Ihnen sagen. Zum teuflischsten Morde an armen, edlen, unschuldigen Thieren! Wissen Sie, daß ich in einer Nacht drei meiner schönsten Pferde – ich bin der Stallmeister Lasally – habe müssen niederschießen lassen, weil sie toll wurden, toll durch eine Ursache, die wir nicht entdecken konnten?

Lasally zitterte. Seine Schwester bat ihn, sich zu beruhigen. Melanie wandte sich ab. Die Übrigen hörten gespannt zu, Dankmar mit einer Theilnahme, die ihn seine eigenen Angelegenheiten und die des Gefangenen im Thurme für einen Augenblick fast vergessen ließ.

Auf einer Partie in den am Wasser gelegenen Fichtenwald, begann Lasally, – Sie werden ihn aus der Residenz kennen – auf dieser Partie, wo eine Gesellschaft von Damen und Herren im sogenannten Jagdhause von den [558] elegantesten, preiswürdigsten Pferden stieg, um eine Stunde im obern Stock zu frühstücken, vernachlässigten meine Leute die Aufsicht auf die draußen festgebundenen Pferde. Wir kommen nach einer Stunde herab, wir wollen aufsteigen und finden drei meiner Thiere in der sonderbarsten Aufregung. Sie schleudern mit dem Kopf, schnauben mit den Nüstern, schlagen wild aus und Niemand wagt, sie zu besteigen. Wir erkundigen uns, was geschehen ist. Niemand weiß eine Auskunft. Wir glauben, die Thiere scheuen vor irgend einem uns selbst fremden Gegenstande. Wir binden sie los und machen das Übel ärger. Zorn erst über die Thiere, dann über meine Leute ergreift mich. Niemand weiß, was den Pferden geschehen ist. Ich besteige endlich mein liebstes Roß, um es zu bändigen. Es wirft mich fast ab, rennt wie rasend davon und wirft sich der Länge nach in den Weg mit dem Kopf gegen eine Eiche bohrend. Die Gefahr für uns selbst, bei dem Ausschlagen und wilden Toben, wuchs. An ein Besteigen war nicht mehr zu denken. Meine Leute unternahmen, um das Versehen zu büßen, die schwere Aufgabe, die drei Thiere in die Stadt zu geleiten, während die nun plötzlich Unberittenen auf einem in der Nähe gemietheten Leiterwagen bis zu dem Stadthore zurückfuhren. Schon unterwegs brach sich mein Renner beide Schenkel und blieb für todt liegen. Mit genauer Noth kamen die beiden übrigen, auf den Straßen wie rasenden und tobenden und von einem Volkshaufen verfolgten Thiere in den Stall. Die Knechte haben Lebensgefahr überstanden. Dort, wo wir nun Ruhe [559] hofften, begann von neuem erst der Schrecken. Die Thiere schlugen über die Stangen, die sie trennten, rissen sich von der Kette los und verwundeten sich in wilder Wuth so heftig, daß ich die Heilung aufgeben mußte, selbst von Zorn übermannt, ein Doppelpistol ergriff und mit einer Ladung in blinder Wuth sie niederschoß. Bei der Obduction entdeckte der Veterinärarzt in den Ohren jedes dieser Thiere eine kleine Kugel, die, hinuntergeglitten bis ans Hirn, sie rasend gemacht hatte. Mein erster Gedanke, wer diese teuflische That vollbracht haben konnte, war aus Gründen, die Sie nicht wissen können, Hackert. Und nun urtheilen Sie, ob diese drei Spitzkugeln, die, wie Sie sagen, diesem uns hierher nachgeschlichenen, Böses im Schilde führenden Menschen gehören und völlig jenen andern ähnlich sind, mich nicht mit Schaudern erfüllen sollen und bestimmen müssen, meine Thiere zu hüten, zugleich aber auch diese Kugeln als gerichtliches Zeugniß in Verwahrsam zu nehmen?

Lasally schwieg, noch zitternd. Er konnte gewiß sein, auch Dankmarn erschüttert zu haben.

Dankmar war erblaßt. War es das Entsetzen von einer an den armen edlen Thieren begangenen so ruchlosen Frevelthat, war es die wie ein lähmender Schlag ihn treffende Vorstellung, daß er noch vor zwei Tagen ein Roß aus desselben ihm hier begegnenden Mannes Marstall Hackerten zur Obhut übergeben hatte, – er mußte sich an einer ihm grade nahestehenden Marmorvase halten, um nicht seine Empfindungen zu sehr zu verrathen ....

[560] Entsetzlich! sprach er dumpf vor sich hin. Dann aber doch aufgeschreckt von einem Unrecht, das er Hackerten thun könnte, indem er doch nur seiner Vermuthung folgend diese Kugeln als wirklich von ihm herrührend bezeichnet hatte, fragte er:

Sind Sie aber auch ganz gewiß, daß gerade Hackert Ursache haben kann, sich auf eine so nichtswürdige empörende Art an Ihrem Eigenthum zu rächen?

Als Lasally diese Frage belächelte und die beiden Reichmeyers den uns bekannten Vorfall der Züchtigung andeutend, diese Ursache verkleinern und geringfügig darstellen wollten, rief Melanie mit glühender Entrüstung, sich stolz erhebend und aufrichtend wie eine Königin, ein stolzes, wie Glocken tönendes:

Ja! Er hatte sie!

Alles blickte auf Melanie und war von dem Ausdruck ihrer Mienen, die einen nie an ihr gekannten hoheitsvollen Ernst verriethen, so staunend ergriffen, daß unwillkürlich eine feierliche Pause eintrat.

Als Niemand etwas erwiderte, sagte sie, den gespannten Ton fallen lassend und mit gemildertem Ausdruck, fast scherzend:

Und jetzt wünsch' ich, ja befehl' ich: Genug hiervon!

[561]
9. Capitel. Die Mitschuldige
Neuntes Capitel
Die Mitschuldige

Die Sonne war eben mit reinster Klarheit untergegangen, als die Gesellschaft oben am Schlosse ankam. Die Mutter und Bartusch traten ihr entgegen und baten Alle zu einem leichten Nachtimbiß zu bleiben. Melanie unterstützte diese Bitte. Sie bedurfte eines Übergangs aus ihrer vielfachen Aufregung zu jener einfach seligen Empfindung zurück, die sie in dem Augenblicke mit überströmender Gewalt ergriffen hatte, als ihr Dankmar ein Geständniß machen wollte. Wie dringend es war, einen Entschluß zu fassen, riefen ihm die bewaffneten Organe des Landfriedens zurück, die beiden Arme der Gerechtigkeit. Der Wagen war geschlossen. Eine eiserne Stange ging quer über die hintere Thür hinweg. Die Rettung des Bildes war für den Augenblick unmöglich.

Dankmar ergab sich vorläufig mit stummer Resignation in das Unabänderliche. Die letzte Entdeckung über Hackert und das lästige Gefühl, bei alledem, daß er diesen unglücklichen Menschen nun hassen mußte, Schuld zu sein an seinem Unglück (denn Lasally behielt die Kugeln), und ihm vielleicht noch gar Unrecht zu thun, alles Das drückte [562] ihn so, daß er wirklich der zärtlichen Blicke und zutraulichen Tröstungen Melanie's bedurfte, die ihn aufzurichten und zu ermuthigen suchte. Er begriff dabei nicht vollkommen was in ihm vorging. Und als nun gar noch die Excellenz von Harder schon im Reiseanzug vor dem Beginn des Nachtessens sich melden ließ und sein bequemer Landau vorfuhr, der ihn aufnehmen und noch heute entführen sollte, als Melanie dem Abschied von dieser ihm zum ersten male entgegentretenden Persönlichkeit eine heitere, fast ausgelassene Wendung gab, verstand er nicht das Geringste mehr von ihren Absichten.

Die Couverte des gedeckten Tisches wurden complettirt, die Zahl der Messer und Gabeln vermehrt, die nun doch noch à la fortune du pot festgehaltenen Gäste standen rings erwartungsvoll und ihren verschiedenartigen Empfindungen hingegeben sich lehnend an Möbel und Fenstersimse .... Dankmar hörte den geheimen Neckereien zwischen Melanie und dem Intendanten befremdet zu und belächelte doch wieder, bei aller innern ernsten Aufregung, die Einbildung eines alten vornehmen Herrn, der in der That zu glauben schien, er hätte auf ein solches Wesen Eindruck gemacht .... Melanie's künstliches Schmollen hielt die Excellenz für Verzweiflung über die Abreise. Lasally und auch Dankmar schüttelten den Kopf über dies Flüstern, dies Blinzeln, dies huldvolle Vertrösten auf die nun bald in der Residenz sich hoffentlich inniger anknüpfende Freundschaft .... Melanie nahm den Intendanten bei Seite, zog ihn an eine Gardine des [563] Fensters und scherzte so drollig mit seiner Schwäche, so beflissen, so zuthunlich, daß Frau von Reichmeyer ungeduldig wurde, von Unsittlichkeit sprach und mit einem Blick auf ihren gleichfalls eifersüchtigen Gatten laut erklärte, sie fürchte, solche Grundsätze steckten an. Endlich brach die Excellenz auf und riß sich aus dem tête à tête am Fenster mit den Worten los:

Sie täuschen mich! Warten Sie, warten Sie!

Sie werden sehen, Excellenz, rief dagegen Melanie, Sie werden sehen, ich täusche nicht ....

Wirklich! sagte der Intendant, Sie wollten –

Melanie rief laut:

St! Die Wette gewinnen ...

Damit drängte sie den verklärt Leuchtenden förmlich aus dem Zimmer ....

Herr von Harder nahm von Melanie's Mutter einen höchst herablassenden, zerstreuten Abschied, von den Übrigen einen höher herablassenden, verwirrten, Dankmarn aber, als ein ihm noch nicht vorgestelltes unbekanntes Wesen, ignorirte er gänzlich.

Als der Geheimrath fort war, der Landau und der Transportwagen dahinrollten, das Säbelklappern der Gendarmen verhallte und die Gäste ihre Plätze zögernd und um Entschuldigung bittend eingenommen hatten, erklärte Melanie plötzlich, daß sie morgen in aller Frühe aufbrechen und nach der Residenz zurückkehren würde.

Wie? rief man allgemein. Ist das Ernst?

Sie brachte für ihren plötzlichen Entschluß so viel[564] wohlgeordnete, überlegte, entschiedene Gründe vor, daß man erstaunt war über eine bei ihr im Stillen gereifte Erklärung ....

Wenn Melanie mit solcher Sicherheit ein Vorhaben behauptete, war ihre Mutter nicht gewohnt ihr zu widersprechen.

Wohlan! sagte sie. So reisen wir!

Reichmeyer staunte erst, erklärte aber dann auch, daß er sich überzeugt hätte, ein Ankauf der Herrschaft würde sich ihm nicht lohnen. Lasally war schon seit lange durch diesen Aufenthalt verstimmt, durch Hackert's Nähe jetzt vollends beunruhigt, und Bartusch gab den letzten Nachdruck noch dadurch, daß er sagte, die Verabredungen der Gläubiger wären geschlossen, die Verständigungen ziemlich klar erörtert, man wisse, was Jeder zu fodern hätte und wie er sich wolle befriedigen lassen ... es bliebe nun nichts übrig, als die letztliche Erklärung des inzwischen in der Residenz angekommenen Prinzen Egon ....

Dies leuchtete ein ... Bartusch's Blinzeln auf Dankmarn verstand man nicht.

Melanie überließ Jedem sich die Gründe zurechtzulegen, die ihn bestimmen konnten, das Schloß schon jetzt zu verlassen ... sie, sagte sie, würde es morgen in aller Frühe thun. Sie bat Lasally, dazu die Pferde in Bereitschaft zu halten, denn sie würde bald fahren, bald reiten. Auch Dankmarn bat sie, ihrem Beispiele zu folgen und sich eines der Pferde des Stallmeisters zu bedienen, sein [565] Wagen könne ja, geführt von einem der Leute Lasally's, folgen ....

Nicht wahr? sagte sie neckisch.

Dankmar gestand zu, was sie nur verlangte.

Die Mutter, fuhr sie fort, schließt sich uns in der Mitte in unserm neuen Coupé an. Ja, ja, wir werden bald fahren, bald reiten und uns die Rückreise nicht etwa wie einen bittern Nachgeschmack von vielen hier gehofften und nicht eingetroffenen Freuden bekommen lassen, sondern wie Etwas, das den ganzen Aufenthalt auf dem Schlosse allein aufwiegen und alles Vorangegangene übertreffen soll ....

Die Einwendungen der Mutter wegen doch allzu großer Beschleunigung widerlegte sie durch ihre Bereitwilligkeit, ihr die ganze Nacht hindurch packen zu helfen. Ihr Entschluß stünde nun einmal fest und was sich nicht sogleich mitnehmen lasse, könnten die als zuverlässig erprobten Leute schon nachbringen. Auch die Nothwendigkeit, Abschied zu nehmen von Zeisels, von Sängers, von Doctor Reinick, von Bensheims, Sengebuschs und mancher andern Bekanntschaft, ließ sie nicht gelten. Allen solchen Bedenklichkeiten abzuhelfen genüge die Visitenkarte.

Und den Einzigen, fuhr sie fort, von dem der Abschied uns schwer geworden wäre, unsern theuern Herrn Pfarrer Stromer, den haben wir ja hier und können ihm all unser Bedauern gleich ins Angesicht sagen. Ja! Lieber Pfarrer! Sie kommen gewiß recht bald zu uns! Sie müssen Domprediger [566] werden! Schade, daß Sie keine Töchter mehr aus der Propstei heirathen können! Propst Gelbsattel hat noch ein halbes Dutzend, aber die Älteste liebt den Candidaten Oleander und die Jüngste der fünf Andern – sind es nicht soviel, Mutter? – würde noch zu alt für Sie sein, für einen Mann, der anfängt nur das Schöne zu lieben. Zum Glück besitzen Sie die beste der für Sie passenden Frauen. Aber kommen Sie! Irgend eine Kanzel findet sich schon .... Ich kenne an dreißig junge Frauen und Mädchen, die Alle nicht mehr wissen, wem sie ihre Sünden beichten sollen .... Der Eine ist zu rauh, der Andere zu sanft, der Dritte zu gelehrt, der Vierte zu oberflächlich. Und die abscheuliche Anzüglichkeit dieser Modeprediger! Dieses Schlagen auf die Kanzellehne, dieses Lärmen und Poltern über die verstockten Sünderherzen, diese düstere Lehre vom Blute Christi .... Propst Gelbsattel, der sonst so beliebte letzte Rettungsanker, ist gar nicht mehr zu verstehen seit den Revolutionen. Er weiß nicht, wohin er sich wenden soll, ob zum Volke oder zum Könige. Seine Zeit ist um, sagte er kürzlich in einem Anfalle von Wehmuth, weil er bei Hofe nicht geladen war. Vielleicht werden Sie Propst, Herr Stromer! Kommen Sie! Ich habe Verbindungen und bring' es schon dahin, daß wir Sie irgendwie den Unserigen nennen; Das bin ich Ihnen ja schuldig für den schönen Blumenstrauß, mit dem Sie mich heute wieder beglückten ....

Als Stromer hocherröthend niederblickte, gedachte Dankmar der Erzählung Egon's und seiner Vermuthung, [567] der Pfarrer hätte wol die Blumen seiner guten Frau nach einem nächtlichen Zwist als Morgenselam der Versöhnung bestimmt. Es machte ihm einen eigenen Eindruck, als er sich so im Irrthum entdeckte und der immer an sich zu denken scheinende und seiner klar bewußt bleibende Pfarrer mit gewähltem höchst sicherm Ausdruck sagte:

So schwindet denn wieder eine Freude hin, die ach! nur allzu kurz einer rosigen Wolke gleich an unserm grade nicht grauen, eher heitern und immer gleichen, aber eben in seiner unermeßlichen freundlichen Identität so lästigen Horizonte aufzog! Wir haben am Ende nichts, was uns bleibt, als Blumen, die Symbole der Begrüßung und des Abschieds. Eines und Dasselbe drückt Freude und Trauer aus. Doch ich sehe Sie morgen noch einmal und nehme einen gesammeltern Abschied und hoffentlich nicht für immer. Erblicken Sie mich auch nicht wieder als Domprediger in Ihrem Sinn, so denk' ich, einen Dom wölbt sich das Auge bald über sich her und auf der Kanzel des Herzens und in dem Beichtstuhl der Gesinnung treff' ich Sie schon noch im Leben wieder – Alle! Alle!

Damit erhob sich der sonderbare Mann, in der That nicht ohne eine gewisse Rührung zu hinterlassen. Heilig konnte Dankmar den Eindruck, den des Pfarrers Ergriffensein in ihm hervorrief, nicht gerade nennen. Die Weise eines Pietisten war Das auch nicht mehr: im Gegentheil kam ihm das Feuer seiner Augen unlauter vor, fast weltlich. Für einen weichen Anempfindler sprach er zu fest und kräftig. Er interessirte ihn, ohne ihn anzuziehen ...

[568] Alle diese Betrachtungen stellte Dankmar nur flüchtig an, denn die ganze Gesellschaft erhob sich. Der förmlich als Befehl gegebene Entschluß, sobald abzureisen, erfüllte Jeden mit seiner nächsten Aufgabe, die im Räumen und Packen bestand. Man trennte sich in der Erwartung, morgen in frühester Stunde sich zur Abreise beisammen zu finden ...

Als auch Dankmar unschlüssig stand und eben Hannchen Schlurck's Hand geküßt hatte, da ihm die ruhige, klare und lebensfrohe Weise der Frau, die wieder den Champagner wie gewöhnliches Getränk hatte einschenken lassen, ganz wohl gefiel, rief ihm Melanie leise zu:

Bleiben Sie doch noch!

Als Lasally noch über die morgende Equipirung sprach und nun der Knäuel der Gesellschaft wieder nicht recht auseinandergehen wollte, streifte sie an Dankmar vorbei und flüsterte die Worte:

Gehen Sie lieber! In einer Viertelstunde an der steinernen Vase im untern Garten ...

Dankmar winkte ihr leise bejahend zu, sprach noch einmal laut seine Freude aus, morgen in so angenehmer unterhaltender Gesellschaft seine Rückreise antreten zu dürfen und empfahl sich.

Die noch Gebliebenen flüsterten erstaunt hinter ihm her. Er hatte das Talent gehabt, trotzdem daß er wenig sprach, sich doch immer als den Mittelpunkt des Abends zu erhalten und jedem Worte, jeder Bewegung, die von ihm ausging, die allgemeinste und seinem Zweck und [569] Wesen nachspürende Aufmerksamkeit zu sichern. Das Gerücht, das ihn zum Prinzen Egon machte, hatte sich bis zu ihnen noch nicht verbreitet ...

Es schlug vom Dorfe herauf zehn, als Dankmar an die steinerne Vase im untern Garten trat, wo er Melanien erwarten sollte. Es war dieselbe, an die er sich bei der ihn wie ein Schlag treffenden Erzählung über Hackert's Frevel hatte lehnen müssen. Wie bewegt war sein Herz! Wie flossen die wunderbarsten Erfahrungen und Eindrücke in seinem Innern zu einem Gefühle zusammen, das nicht mehr jene behagliche Sorglosigkeit über ihn ausgoß, die er in dem ersten Anfang des über ihn verhängten Misverständnisses empfand! Wie neu war das Alles und wie folgenschwer konnte es werden! Schon sah er sich als gerichtlicher Zeuge in der Nothwendigkeit, seine gegen Hackert ausgesprochene Beschuldigung zurücknehmen oder beweisen zu müssen. Eben so verwickelt konnten sich die Beziehungen zum Fürsten gestalten. Und diese bedenkliche Melanie! Was bezweckte sie? Wohin riß sie der Muth, den der von ihm doch nur wenig genährte Glaube an seine Einerleiheit mit Egon dem jungen, waghälsigen Mädchen einflößte? Scheiterte Das, was sie vielleicht unternahm ... mußte er es nicht verantworten? Wie erschrak da sein rechtskundiger und bei allem Freimuth an Gesetzmäßigkeit gewöhnter Sinn! ... Und doch traten alle diese Bedenklichkeiten gegen den allgewaltigen Zauber zurück, mit dem ihn Melanie in so kurzer Zeit wie seinen Bruder Siegbert umstrickt hatte. Gibt es denn [570] auch ein wonnigeres Gefühl, als so im Fluge, ohne Anstrengung, ohne lange Werbung, von Frauen zärtliche Hingabe zu gewinnen? Noch hatte Dankmar sich keiner Gunst von Melanie rühmen können, aber er fühlte es dieser zarten Hand, wenn sie ihn flüchtig berührte, der Brust, wenn sie in seiner Nähe sich hob, dem Hauch ihres Mundes an, wenn sie ihm leise ein Wort der Vertraulichkeit zuflüsterte, daß ein excentrisches Wesen, welches vielleicht Allen gefallen wollte und Keinem sich ergab, ihm den Siegespreis der Liebe bieten könnte ... Dankmar war, sonst vielgeliebt, selbst eher kalt gegen die Frauen. Sie beschäftigten ihn nie so ausschließlich, wie andere junge Männer, deren ganzes Fühlen und Denken sich nur um die Liebe spinnt ... Aber Melanie's Herz ... das klopfte schon dicht an seinem eigenen Herzen. Ihre Wange ... er fühlte es, sie schmiegte sich schon zum Kusse seines Mundes hin ... Er griff in die Luft ... doch wußte er, daß diese Arme sich nicht mehr lange vergebens nach den schönsten und liebenswürdigsten Formen ausstrecken würden ... So stand er, der junge leidenschaftliche Mann, den wir entschuldigen müssen, eine Weile harrend an der Marmorvase, überwältigt von Sehnsucht, zitternd auf den Triumph über ein liebendes Weib, den Fuß auf den Sockel der Vase, das Haupt in den Arm stützend und hinaufschauend in den mondscheinumflossenen Flügel des Schlosses, den Melanie bewohnte.

Endlich kam sie.

Unter den Blumen, den Sternen, dem Mondglanz hier in [571] der Stille der Nacht, von keinem Zeugen gestört, als dem plätschernd herabhüpfenden Wasserfall, wollte Dankmar sie gleich mit dem Entzücken der rasch aufgeloderten Liebe begrüßen.

So dacht' er's sich, als er sie die Gartenstufen herniederschweben sah, in eine Mantille von purpurrothem mit weißem Schwan besetzten Sammt gehüllt und auf dem vollen schweren Geflecht des Haares ein weißes Schleiergewebe tragend, das hinten herabfiel fast bis in den Nacken ... Doch sprach sie ihn schon aus der Ferne an, redete schon im Herabsteigen fast gleichgültig mit ihm und schnitt durch Vermeidung einer Pause und aller Feierlichkeit die förmliche Begrüßung ihres schnellgewonnenen Freundes ab, dessen Aufmerksamkeit nun sogleich von der Galanterie abgezogen und von ihrem Plane gefesselt wurde.

Endlich ein freier Augenblick! sagte sie schon auf mindestens zwölf Schritte entfernt; ein Augenblick, wo ich Ihr Vertrauen erwidern darf! Aber nur ein kurzer! Die Zeit drängt. Sie sollen sehen, daß Sie sich in dem Muthe eines närrischen Mädchens nicht irrten. Sie erhalten das Ihnen so theure Bild zurück, irgendwo auf der Reise, wo wir den Train des Herrn von Harder einholen werden. Aber die Mittel, die ich anwenden werde, es zu erobern, dürfen Sie mir nie, nie anrechnen. Versprechen Sie mir Das?

Wie Das so klang in der stillen Nacht! Wie die Büsche dabei so flüsterten! Wie so milchweiße, bläuliche Lichter [572] über die Sprecherin glitten und Alles so magischumflossen, so bebend, so fast ohnmächtig und wie schattenhaft war!

Melanie! rief Dankmar, Sie sind ein Engel! Wenn ich nicht annehmen müßte, daß nur der Reiz des Abenteuers Ihren Geist in dieser Angelegenheit beseelt und Ihnen die Flügel des erfindenden Genius an den ebenso schönen wie schelmischen Nacken setzt ... (er wollte ihn küssen; sie wehrte es) ich würde es wagen, mich Ihnen zu Füßen zu werfen und von Liebe zu sprechen ...

O Sie Böser! sagte Melanie. Wenn die Gräfin d'Azimont Das hörte ...

Was soll mir diese Frau! war Dankmar im Begriff auszurufen und einzugestehen, daß er selbst ja nimmermehr der Prinz wäre. Aber die Vorliebe, mit der Melanie auf diese erträumte Rivalin zurückkam, war ihm wie ein Nebel, den er zu verwehen fürchtete. Dennoch sagte er:

Melanie, ich bin nicht der Prinz, aber ich bin sein bester Freund auf der Welt. Was Sie thun, thun Sie für ihn! Sie thun es für mich; denn Niemanden kann Egon's Glück mehr am Herzen liegen als mir! Kann Egon hier Egon sein? Kann er den Muth, die Selbstüberwindung haben, sich da zu verrathen, wo man sein und seiner Mutter Andenken mit Füßen tritt? Ich bin der Theil des Prinzen, der noch Vertrauen zu den Menschen hat, der Theil, der nicht verzweifeln will, wenn er noch Geschöpfen begegnet, die in Körpern der Engel auch eine überirdische Seele tragen ...

[573]

Melanie schlug ihre mächtigen braunen Augen zu ihm empor, daß das volle Licht des Mondes in sie fiel und ihre Schimmer in jenem feuchten Glanze zitterten, der ihnen etwas Verklärtes gibt ...

Sie sah ihn fragend und mit zärtlicher Innigkeit an. Melanie hatte Das erreicht, wohin vielleicht ihr Ehrgeiz dunkel tastete, vielleicht war es Zufall, daß ein Mann, der ihr ein Fürst schien, auch zugleich der erste sein mußte, dem gegenüber sie sich klein, ja demüthig vorkam – es war ihr, als wenn sie, ein bunter, flatternder, leichtsinniger Schmetterling, die Flamme gefunden hätte, die ihr gewisser Tod werden sollte, ihr Tod wenigstens für dies leichtsinnige Schmetterlingsdasein ....

Melanie wehrte Dankmar's verlangenden Arm zurück, aber nur um ihn aus einiger Ferne inniger betrachten zu können. Eine Locke seines Haares, die ihm im Sturme seiner aufgeregten Sinne auf die Stirne fiel, streifte sie ruhig zurück, als hinderte sie ihr die Aussicht in sein Auge und seine Seele.

Lassen Sie! sagte sie sanft.

Melanie! rief Dankmar noch einmal mit gesteigerter Glut der Empfindung und wollte sie ansichziehen ...

Seiner männlichen Kraft gelang es; aber sie wandte, in seinen Armen liegend, rücklings das Haupt und verweigerte ihm die zärtliche Berührung der Wangen, nach der er schmachtete. Sie that Dies so entschieden, daß er es ließ und sich an einem Bilde begnügte, das den Meißel des Bildhauers herausfoderte ...

[574] Gute Nacht! sagte sie, losgewunden, mit lächelnder Lieblichkeit, und auf Wiedersehen für Morgen!

Damit war sie für Dankmar fast einem Traume gleich entschwunden.

Wie er sich nun anschickte, hinunter zu wandern und durch das erste beste Seitenheck auf den großen Weg zu springen, fühlte er eine so herausfodernde, ihn riesig durchströmende Kraft in sich, daß er fast laut zu jubeln begann. Alles lachte ja in ihm. Jeder Gefahr, jedem drückenden Gedanken wurde die Volte geschlagen, jeder Bedenklichkeit die Anlehnung aus seinem Innern wegescamotirt. Ja, er hätte sich mit dem Arm gegen die Bäume stemmen und sie niederbeugen mögen! Es war ihm, wie dem biblischen Erzvater gewesen sein mochte, als er auf der Heide mit einem unsichtbaren Engel rang. Er hätte den Dämon niedergeworfen, so titanisch fühlte sich seine Muskelkraft. Er lachte über sein Abenteuer selbst. Selbst des Gefangenen im Thurme, dem er jetzt noch vor dem Gitterfenster hinauf Muth und Trost zuzusprechen beschloß, gedachte er im heitersten Humor und sagte sich:

Ich bin wahr gewesen! Ich war Dankmar Wildungen! Ich habe meine eigene Rolle gespielt und deine Fürstenkrone mir nicht aufs Haupt gesetzt. Ich! Ich fühlte den Druck ihrer Hand! Wie schlug diese warme Brust an der meinen, wie strömte das elektrische Feuer der Berührung aus ihren Adern in die meinen, und wenn ihr die Schuppen vom Auge fallen, wer weiß, ob der Wahn siegt oder die [575] Wirklichkeit! Sie liebt nicht Das, was ich scheine, sie liebt Das, was ich bin!

Und in diesem Hoffen und Entzücken, das seine Adern schwellte, seine Sehnen stärkte, konnte ihm zuletzt auch nichts Willkommneres geschehen, als der plötzliche Anblick Hackert's ... Er war es, der hinter den Büschen rauschte ... Das schleichende Rascheln um Dankmarn her verrieth ihn schon längst ... Er sah ihn jetzt am Fuße des Weges sich ducken und lauern ... ob auf ihn, ob auf Die, an denen er sich auf dem Schlosse so teuflisch gerächt hatte ... er wußte es nicht, mußte aber annehmen, daß er auf ein neues Verbrechen sann; denn an dem Rauschen hörte er, daß es war, als streifte er mit einer langen Stange an dem Laube der hohen Hecken. Bald sahe er deutlicher; Hackert hielt eine Leiter in der Hand, die er in dem Augenblicke fallen ließ, als er Den, der noch so spät den Schloßweg herunterkam, erkannte.

Elender Hallunke! rief Dankmar zornentbrannt schon von Ferne. Mörder! Dieb!

Wie Hackert – er war es wirklich – diesen zornigen Anruf hörte, sprang er ins Gebüsch.

Er mochte sich diese Begrüßung nicht haben träumen lassen.

Dankmar in einer Stimmung, als müßte er die längst ihn schon quälende Spannung und Ungewißheit über Hackert durch irgend eine Probe seiner männlichen Kraft und wäre sie mit der Faust endlich lösen, rief:

Steh, Bube! Steh!

[576] Aber Hackert entrann und als ihm Dankmar noch nachrief: Eine Kugel in dein Ohr, Mörder! Wo ist mein Pferd, Gauner? ... war er plötzlich ganz verschwunden.

Dankmar fühlte sich in einer Stimmung, als hätte ihm Liebe und Wein die Zunge gelöst und zum Redner gemacht, dem Worte nur ein dürftiger Nothbehelf für Thaten sind. Er schickte Hackerten die tollsten Shakspeare'schen Flüche und lange, kunstvolle Verwünschungen nach, bis er zuletzt über sich selbst lachte und im steten Hinblick auf die Stelle, wo Hackert verschwunden war, fast über die Leiter stolperte, die quer im Wege lag.

Was hat er mit dieser Leiter gewollt? sagte er sich, und darüber sinnend, fiel ihm der Thurm ins Auge, der nun dicht in der Nähe stand. Der Gedanke, mit kurzem Proceß seinen theuern neuen Freund, den gefangenen jungen Fürsten, zu befreien, ergriff ihn so lockend, wie der Kitzel zu dem fröhlichsten Abenteuer.

Nun sind wir einmal im Zuge! sagte er sich, lud die schwere, irgendwo aus einem Bauerhofe entwandte Leiter, an der er mit Vergnügen bemerkte, daß sie für das Thurmfenster lang genug sein mußte, sich auf und schleppte sie an dem einen Ende auf dem Rücken, an dem andern hinter sich her im Grase zu dem kleinen Hügel hin, wo der Thurm völlig unbewacht in der Stille der Nacht wie eine friedliche Warte und Einsiedelei lag. Die Eisenstäbe oben aus der Mauer auszuwühlen, war schwer und doch vielleicht bei der Schadhaftigkeit und Zerbröckelung des Kalkes nicht unmöglich, wenn nur Egon [577] die Messer und Gabeln von ihrem Mittagessen zurückbehalten hatte.

Sorgfältig schaute sich Dankmar um. Hackert war verschwunden, Alles still. Nur Käfer summten im Grase und dann und wann platzte ein humoristischer Froschruf auf vom Felde her, wo es moorige Stellen gab .... Dankmar war so guter Laune, daß er sich zu seinem Unternehmen erst noch eine Cigarre anzündete.

Die Leiter, aufgerichtet an dem Thurm, reichte vollkommen an das vergitterte Fenster, das zu Egon's Gewahrsam gehörte. Vorsichtig kletterte er, noch einmal sich mit Behutsamkeit umblickend, die Sprossen hinauf. Leider sah er schon auf halber Länge, daß die Eisenstäbe dick waren, und als er über sich hinaufgriff, fühlte er wol auch, wie fest sie saßen ....

Das Fenster stand auf. Der volle Mondenschein fiel in die dunkle Kammer, die er schon von unten als die rechte erkannte.

Egon! rief er bis hinauf und lauschte.

Keine Antwort.

Er stieg höher und blickte in das offene Fenster.

Wie groß war sein Erstaunen, als er drinnen nirgend eine Spur des Prinzen entdeckte! Vielleicht hätte er versteckt in einem Winkel schlafen können ... er spähte ... er übersah das ganze kleine Gemach. Er rief einige male mit unterdrückter Stimme:

Egon! Egon!

Es gab keine Antwort.

[578] Um ganz sicher zu sein, zog er ... die Cigarre war in der Aufregung weggeworfen ... noch sein Streichfeuerzeug und machte mit mehren zusammengehaltenen Zündhölzchen, um die Wirkung des Scheines zu verstärken, Licht ...

Der hellere Glanz bestätigte ihm nur, was er schon im Mondenscheine gesehen hatte. Der Gefangene war entweder schon befreit oder von selbst entflohen.

Die Empfindungen, mit denen Dankmar nun die Leiter hinabstieg, waren getheilt. Ehe er jedoch nicht alle Umstände genau kannte, wagte er kaum ein Urtheil zu fällen. Wenn ihn Egon schon in der Krone aufgesucht hätte? Beim Schließer nebenan wagte er nicht zu klopfen und anzufragen. Da im Anbau der Wohnung war Alles so still, so finster und schläfrig. War Egon entflohen, warum die Häscher wecken? Auch drüben im Amthause sah man kein Lichtchen mehr. Im Dorfe nichts als Anzeichen des tiefsten Schlafes aller seiner Bewohner. Selbst in der Krone, zu der er langsam und nachdenklich schritt, hatte er Mühe, die Leute, die ihn erwarteten und im Erwarten eingeschlafen waren, zu wecken. Als er hörte, daß Niemand, auch nicht Einer, nach ihm gefragt hatte und somit der Gefangene ihm fast spurlos verschwunden war (denn morgen in der Frühe hatte er wol keine Zeit mehr, ihm nachzuspähen), überkamen ihn die sonderbarsten und quälendsten Zweifel. Es war ihm fast, als wenn sein Fuß nicht mehr die Erde berührte, als wenn er mit seinen guten Absichten, mit all seiner Liebe und Aufopferung, [579] wie ein Getäuschter, in der Luft schwebte und wahrhaft komisch erschien er sich, wenn er an seine Figur auf der Leiter dachte, wie er einen Gefangenen befreien wollte, der ihm vielleicht, es war ihm Dies ein höhnischer Gedanke, ein tolles Märchen aufgeheftet und zu einer Posse misbraucht hatte! Die Einsamkeit der Nacht, die Qual der Schlaflosigkeit mehrte den lästigen Reichthum der Vorstellungen, die er sich über dies plötzliche Verschwinden machen mußte. Er sah sich mitten im Zuge von Dingen, die ihm plötzlich nun wie die Neckereien eines bösen Geistes vorkamen ... und wenn ihm nicht Eines sicher geblieben wäre, das Gefühl, mitten in diesem Spuk doch ein wahrhaft Wirkliches gehabt zu haben ... das warme Klopfen eines schönen Mädchenherzens an seiner von Lust und Liebe erfüllten Brust ... er würde wie in einem Chaos der unleidlichsten und leersten Eindrücke rathlos umhergetaumelt sein.

An diese eine unleugbare und nicht mehr in Trug zerrinnende Thatsache hielt sich denn auch Dankmar. Sie gab ihm Besinnung, Ruhe, Gefühl der Sicherheit, Behaglichkeit und Schlaf.

Er schloß aber doch die Augen viel zu spät für die frühe Stunde, in welcher er Befehl gegeben hatte, ihn am nächsten Morgen zu wecken.

[580]
10. Capitel. Heimwärts
Zehntes Capitel
Heimwärts

Nach einem ereignißreichen Tage, an welchem sich vielfache Fäden für zukünftige Erlebnisse angesponnen haben, spornt bei tüchtigen Naturen das Erwachen nur zum Muth und zur Entschlossenheit. Alles Das, worauf man in der Frühe sich vom Abend her mit Staunen besinnt und was einmal nun nicht mehr zu ändern ist, tritt jetzt in Form einer Pflicht und einer gewissenhaft durchzuführenden Aufgabe vor die Seele zurück und weit entfernt, zu klagen und sich in Betrachtungen zu verlieren, wie das Alles hätte möglich sein können, rührt ein entschlossener Geist die ihm zugebotestehenden irdischen Hände, kämpft sich durch die Schreckbilder eitler Erwägungen hindurch und beginnt oft von einem solchen schwierigen und aufgabenreichen Tage den Abschnitt eines neuen Lebens.

Dankmar, ein freier Naturmensch, war noch keineswegs ein fertiger abgeschlossener Charakter. Er fühlte zu oft noch, daß immer wieder neue Erfahrungen an seinen Gesichtspunkten rüttelten, neue Bekanntschaften, neue Thatsachen ihn ganz aus seinem gewohnten[581] Gleichgewichte werfen konnten. Aber bis zu der Einwurzelung hatte er es denn doch schon gebracht, daß er nicht mehr von jedem Eindrucke, der ihm unvorbereitet kam, sogleich willenlos hin und her geschleudert wurde.

Während Siegbert mehr ein Gemüths- und Phantasieleben führte, hatte Dankmar die thatkräftige und verständige Richtung seines Innern vorzugsweise schon entwickelt und sich in ziemlich sichern Grundzügen seine etwanige künftige Laufbahn entworfen. Er liebte das Recht, dessen Studium und Praxis er sich zur Lebensaufgabe gewählt hatte, er liebte es auch an und für sich selbst. Er hatte schon als Kind einen leidenschaftlichen Trieb zur Gerechtigkeit und konnte Denen, die seinen für Das, was ihm wahr schien, aufflammenden Eifer misverstanden, heftig, ja gewaltthätig erscheinen. Er scheute schon als Knabe keine Gefahr, wo ihn das Bewußtsein einer richtigen Handlungsweise, einer Ausgleichung fremder Unbill begeisterte. So war er auf der Universität nicht nur oft in Zweikämpfe verwickelt, die er ohne Tollkühnheit mit besonnenem Muthe bestand, sondern noch weit öfter Zeuge und Vermittler fremder Ehrenhändel und nicht selten Schiedsrichter in Streitfragen, wo er den Ausbruch einer übereilten Berufung an die Waffen hintertrieb. Sein männliches Wesen gewann ihm alle Herzen. Bei jedem Anlaß, wo verschiedene Ansichten sozusagen grell aufeinander platzten, wählte man ihn zum Vorsitzer der Debatte. Er hatte überall die angenehme Genugthuung, [582] daß sich ihm die tüchtigsten Menschen unterordneten, worüber er nicht um seinetwillen, sondern um der Sache selbst willen Freude empfand. Bunten Seifenblasen lief er nicht nach. Er ließ das süße Geschäft des Träumens seinem weichern Bruder.

Dennoch verwarf darum Dankmar Siegbert's Richtung noch nicht. Er hielt hier eine männliche Befruchtung, dort eine weibliche Empfangnahme in allen Geistern für nothwendig; denn die Geister, sagte er, haben kein Geschlecht. Für sich selbst aber behielt er Das als Richtschnur, was seinem Wesen entsprach. Er scherzte oft tändelnd ohne gedankenlos zu werden, er spottete ohne zu verwunden. Im Übrigen hielt er sich in seinem gewohnten Ernste, den er gefällig, leicht, ohne Kopfhängerei zur Schau trug. Unterstützt von einer sehr edlen Gestalt, die sichtbar die Kraft und Fülle einer unverdorbenen Jugend ansichtrug, hätte er in der Welt großes Glück machen müssen, wenn ihn nicht die spärlich zugemessenen Mittel beengt und von einer freien Bewegung in größeren Kreisen entfernt gehalten hätten. Wie oft rief er nicht mit dem Dichter: Ich bin ein Fisch auf dürrem Sand!

Seine einzige Schwäche war vielleicht die, daß er auf eine plötzliche Erhebung durch irgend eine hohe Flut hoffte .... In diesem Sinne war er romantischer und abergläubischer als Siegbert. In diesem Sinne glaubte er an Wunder. Ob diese hohe Flut nun in einer Zeitbewegung oder einem günstigen Zufalle, in der Liebe oder wol gar in einem persönlichen Unglück bestehen würde, war ihm [583] fast gleich. Genug er glaubte an die Nothwendigkeit, daß an jeden Menschen einmal vom Schicksal irgend ein Hebel gesetzt wird, der ihn aus der Gewöhnlichkeit und dem träge sich fortspinnenden Genuß eigener Hände- und Geistesarbeit herausschleudern müsse. Die Das bestreiten, sagte er einmal zu Siegbert, der bei all seiner Romantik in gewissen Dingen »praktisch«, ja nüchtern sein konnte; die Das bestreiten, Bruder, haben wahrscheinlich nicht den Muth gehabt, den ihnen vom Schicksal dargebotenen Finger, das zugeworfene Ankertau kühn zu ergreifen! Wer da zögert und fürchtet, man könnte vielleicht mitten in den Wolken von der Hand der Himmlischen plötzlich losgelassen werden oder das Tau könnte reißen, Der versäumt sein besseres Erdenloos durch eigene Schuld. In spätern Jahren, wenn man wie eine Schnecke zu seinem solid erfaßten Ziele fortgekrochen ist und vielleicht irgend ein Häuschen zur Unterkunft gegen Regen und Ungemach gefunden hat, später entsinnt man sich dann sehr wohl, daß man einst an einem Seitenwege gestanden hat, wo uns ein unerklärliches Etwas in der Brust zurief: Lenke hier ja ein! Man steht vielleicht nicht sehr hoch und übersieht nun doch, daß jener Weg zur eigentlichen Hauptstraße führte und daß Viele, die ihn wandelten, es weiter brachten als wir. Eine einzige unterlassene Bekanntschaft kann sich so empfindlich rächen! Ein einziges Wort von einem edlen, einflußreichen Menschen, nicht aufgegriffen und befolgt, war so für immer verloren. Ja ein Besuch, den man den Muth hätte haben sollen, [584] einem freundlichen Gelehrten oder Staatsmanne oder einer schönen Frau zu machen, die in einer Gesellschaft, wenn auch nur drei holde, ermunternde Worte zu uns sprach, konnte für uns Vortheile, Lebensplane, Lebensrichtungen zeitigen, die sich blöde Zaghaftigkeit kaum möglich gedacht hatte. Und in diesem Sinne, sagte er sich immer, greif' ich einmal irgendwo ganz keck zu, wenn ich bemerke, daß an der Wand Etwas, wenn auch nur vom leisesten Schatten einer Schicksalshand spukt und dämmert, und wenn ich Gefahren erblicke, wenn ich selbst vor kühlerm Urtheil gestehen müßte, eine Thorheit zu begehen, ich finde mich schon aus ihren Folgen wieder heraus, versinke nicht, kämpfe solange ich kann mit den Wogen und bin, wenn ich aus der Betäubung erwache, entweder drüben am andern Ufer, wo Glück und Freude blühen, oder ich erwache nie mehr aus ihr, und Das wäre dann auch gut.

Ein solches geheimnißvolles Schattenspiel an der Wand war Dankmarn nun der Verlauf des ganzen gestrigen Tages. Er hätte, wenn er Siegbert's Wesen folgen wollte, jetzt fliehen müssen. Ein Brief an diese gefährliche Melanie, der Vorwand plötzlicher Abhaltung, vielleicht die ausdrückliche Berichtigung ihres Misverständnisses, wenn sie es, wie Dankmar kaum wissen konnte, noch hegte, alles Das wäre Siegberten nun sogleich gebieterisch in den Sinn gekommen. Er hätte alle Fäden abgerissen und sich wieder in sein Atelier geflüchtet, den Pinsel ergriffen und in Gott und sich vergnügt Leinwand bemalt. Ganz [585] anders der entschlossene feurige Dankmar. Der hielt nun fest, was ihm der Zufall an Drähten von der großen Weltkomödie in die Hand gespielt hatte. Prinz Egon war nicht mehr zu finden. War es ein Betrüger gewesen, so ergab er sich darein und nahm Das, was sich aus unangenehmen Irrthümern als angenehme Wahrheit ergeben hatte, für ein Übriges, für einen reellen Gewinn. Zum Justizdirector von Zeisel konnte er nicht mehr gehen, denn es war zu früh am Tage. Der Thurm, an dem der Büttel wohnte, lag ihm sogar zu fern. War der Prinz entflohen, so konnte ihm nur damit gedient sein, einen Vorsprung zu gewinnen, den er durch seine Meldung vielleicht verloren hätte. Auch hatte er genug zu thun mit seiner Reiserüstung. Schon schlug es fünf Uhr und um sechs wollte Melanie vor der Thür der Krone halten, so meldete ein Jockei Lasally's, den dieser geschickt hatte, um den Einspänner des Fremden in Empfang zu nehmen. Dankmar überwies ihm sein geliehenes Fuhrwerk mit strenger Weisung zur Obhut und Schonung. Auch Bello wurde ihm anempfohlen, den er sorgsam zu hüten versprach. Die Rechnung beim Wirthe wurde berichtigt. Er sah dabei mit Schrecken, wie seine zwanzig kleinen Papiere schon zusammengeschmolzen waren, und wenn er vollends gedenken mußte, daß diese Summe fast eine bei Hackert gemachte Anleihe war und daß ihn ohne Zweifel in der Residenz die Nachricht empfangen würde, ein ihm von Lasally's Bereiter, dem alten Levi, anvertrautes stattliches Pferd wäre wieder von Hackert auf irgend eine Weise wenn nicht ganz zugrundegerichtet, [586] doch vielleicht gemishandelt zurückgeschickt worden, so ergriff ihn vor den möglichen künftigen Verwickelungen fast ein Anflug von Muthlosigkeit.

Melanie aber erschien ihm bei solcher Stimmung wie Ariadne. Sie war ihm die Retterin aus dem Labyrinthe jeder Gefahr. Wie er sie und Lasally und das ihm bestimmte Pferd und einen Reitknecht dahersprengen hörte, verschwand jede Besorgniß. Er trat auf die Schwelle des Gasthauses und empfing schon in der Ferne Melanie's freundlichen Morgengruß. Sie nickte ihm alle Träume der vergangenen Nacht zu. Sie sagte ihm nicht durch Worte, sondern durch einen einfachen Blick: Ich bin Dieselbe, die ich gestern war! Ich bin Die, die sich in der Mondnacht deiner Umarmung nur darum entwand, um dir, wenn du willst, für's Leben zu gehören! Lasally sprach Einiges über den Gaul, den er Dankmarn hatte satteln lassen. Dieser, seit frühen Jahren ein geübter Reiter, fand sich bald auf ihm zurecht und erfreute Melanie nicht wenig durch seine kundige Haltung der Bügel und der Lenkseile. Sie trug einen grauen Hut mit schattiger breiter Krempe, einen blauen Schleier und ein weites, bis oben geschlossenes, gleichfalls blaues Reitkleid. Die Reitgerte hielt sie unter dem linken Arm angepreßt, während die linke Hand die Zügel hielt, denn in der Rechten hatte sie ein weißes zierliches Papier, von dem sie Verse ablas, die ihr heute schon in aller Frühe überreicht waren. Sie kamen vom Pfarrer, der sie ihr am Fuße des Schloßberges entgegengehalten und einen Abschied [587] genommen hatte, von dem Melanie versicherte, er hätte sie mehr beängstigt als erfreut.

Denn ich bin wol glücklich, sagte sie, Die zu erobern, die mir gefallen, aber geschätzt zu werden, wo man es am wenigsten erwartete, setzt in Verlegenheit!

Am Ende des Dorfes, dicht vor Zeck's Schmiede, hielten drei Reisewagen, die schon die ganze übrige Gesellschaft aufgenommen hatten. Nach der Abreise Melanie's und ihrer Mutter wollte Niemand mehr auf dem Schlosse zurückbleiben. Man hatte bis in die tiefe Nacht gepackt und sich mit wenigen Stunden Schlaf begnügt. Diese lebensfrohen, vom Dasein so begünstigten Herrschaften reisten mit allem Comfort des Besitzes. Die Wagen waren elegant und bequem, die Kutscher in Livreen. Recht großmüthig theilte Melanie's Mutter noch an die Diener des Schlosses Geldspenden und Geschenke aus; kärglicher zeigte sich Reichmeyer, der sich zu seinen Zeitungen und Cursen zurücksehnte. Die Wirthschaftsräthin war geradezu geizig. Bartusch, der Hannchen Schlurck gegenüber saß, theilte außerdem noch an die alte Brigitte manche Befehle aus und verhieß eine baldige Rückkehr, worauf sie nicht zu erwidern verfehlte, daß sie Alle in Gottes Hand gegeben wären und daß der alte Winkler den Tag des Herrn bald werde anbrechen sehen. Dann wandte die Alte sich zu Dankmarn hin, der eben mit Melanie von der Krone dahersprengte und beantwortete Bartuschens heimlich an sie gerichtete Frage, ob sie nicht glaube, daß dieser Herr der Prinz Egon wäre, mit den Worten:

[588] Über ein Kleines wird man ihn sehen und über ein Kleines wird man ihn nicht sehen!

Bartusch machte ihr seine Frage deutlicher.

Der Prinz! Der Prinz! sagte er. Kennt Sie ihn nicht mehr?

Die Alte hatte so viel Angst vor diesen fremden Leuten, daß sie Alles, was man sie fragte, nur halb verstand. Da meinte sie denn:

Viele sind berufen, aber Wenige auserwählt!

Bartusch hätte sie nun lieber sollen stehen lassen. Diese gute Alte war eben durch die lange Gewöhnung an kirchliche Äußerungen, durch überirdische Sehnsucht, zwei Jahre der Furcht und des Schreckens vor einer Zukunft von vielleicht noch einigen Jahren der Entbehrung, in einen solchen Zustand der Verdumpfung gerathen, daß sie nur das allernächste Wirthschaftliche noch begriff und auf Bartusch's erneuertes Drängen, ob sie jenen jungen Mann nicht für den Prinzen Egon halte, unfähig war, sich zu sammeln und vernünftig zu antworten.

Auch die beiden Zecks standen schon vor der Schmiede und gafften, der Blinde als wenn er sehen, der Taube als wenn er hören könnte. Seit Jahren schon waren sie gewohnt, ihre Sinne gegeneinander auszutauschen, und so kam es fast, daß der Blinde besser sah als der Taube, und der Taube besser zu hören schien als der Blinde. Sie faßten sich Beide an; denn das Pferdegetrappel machte den Stand selbst unter dem Vordache der Schmiede gewagt. Der alte Zeck lächelte, weil er viel zu wissen schien, der [589] junge lächelte, weil er entschieden nichts wußte und einfältig war. Jener grüßte in einem fort und sprach laut die lebhaftesten Reisewünsche aus, dieser nickte Allen zu und bestätigte stumm, was der Vater hastig und von innerer Unruhe getrieben fast in die Luft sprach, denn Niemand hörte auf sie; selbst Dankmar nicht, dem diese Menschen seit dem Besuche des Amerikaners und Heunisch's harmlosen Mittheilungen nicht mehr gefielen. Nur Bello kümmerte sich um sie und klaffte auf seinem zum Fourgon umgewandelten Einspänner viel unfreundlicher, als sich für den Abschied und die Ohren der Damen geziemte. Dankmar hörte dem Thiere die Freude an, zu seinem Herrn, dem Fuhrmann Peters, zurückzukommen, von dessen Schicksalen an der Schmiede es mehr zu wissen schien als Peters selbst. Doch suchte er den Lärmmacher ernstlich zu beruhigen.

Als sich denn endlich der Zug in Bewegung setzte und die Reitenden noch eine Weile an den Wagenschlägen sich hielten, kam man noch einmal auf den sonderbaren Abschied des Pfarrers zu sprechen, der am Wege oberhalb einer Anhöhe stand und mit dem Tuche Allen nachwehte.

Dankmar sagte zu Melanie:

Den haben Sie auf dem Gewissen! Der ist an Ihrem Sonnenstrahl noch einmal wie zu neuem Leben erwacht und kommt mir vor, als wenn er beschlossen hätte, den nächsten Schnee auf diesen Bergen nicht mehr abzuwarten!

So soll er uns willkommen sein! sagte Melanie. Seine [590] Verse verrathen denselben Geist, den Sie ihm auch in seinen Reden werden angemerkt haben. Ich glaube es ist ein Poet.

Etwas viel Gefährlicheres, sagte Dankmar. Es ist ein Genie; wenigstens glaubt er es zu sein. An Betrachtungsformen der Dinge, an Reflexionen, sie bald so, bald so spielen zu lassen, scheint er in der That überreich zu sein. Von dieser Gattung Menschen hatt' ich immer eine Ahnung, wie sie wol sein könnten und nun bin ich begierig, ob sich jetzt mit Ihrer Abreise das in Aufruhr und wilde Gährung gebrachte bedeutende Element in diesem da legen wird und er zurückkehrt zur gewohnten Ordnung und Resignation seines Lebens, oder ob es ihn nicht mehr ruhen läßt und er noch einmal den Faden seines Lebens, den er früher mit der Fürstin im Pietismus fast versponnen hat, zu einem neuen Gewebe anlegt ....

Wäre das ein Doctor, sagte Lasally kurz und mit einer Art trockenen Humors, wie Alles was er sprach; wäre Das ein Doctor, von dem ließ' ich mich nicht curiren, und wenn mir nichts als ein Finger weh thäte.

Es ist wol möglich, sagte Dankmar, daß er Ihnen soviel von dem Wesen einer Entzündung der Hand spräche, soviel geistreiche Wendungen für die Wichtigkeit der Fünfzahl im menschlichen Körper vorbrächte, bis ein ganz prosaischer Chirurg kommen und Ihnen von Ihren fünf Fingern den einen kranken abschneiden müßte.

Dankmar sagte Das an der Stelle, wo ihm der vermeintliche Egon die Visitenkarte gegeben hatte ....

[591] Darüber zwar geneigt, in Betrachtungen zu versinken, konnt' er doch solchen ernstern Stimmungen nicht nachgeben; denn Melanie duldete keine Pause. Man kennt ja jene Stimmung der glücklich Liebenden, wenn sie ihr Geheimniß unter gleichgültig scheinenden Scherzen zu verbergen suchen und von der innern, ihre Brust mit dem Gefühl aller Seligkeiten zu sprengen drohenden Macht getrieben, in holdem Muthwillen bald nach diesem, bald nach jenem Gegenstande und Gedanken greifen, deren wirres Durcheinander wol den oberflächlich Blickenden dann täuscht, dem tiefern Forscher und Kenner der Herzen aber sich gar bald verräth!

Wenn auch hier die Forscher und Kenner fehlten, so fehlten doch Die nicht, die Melanie's Natur kannten. Alle wußten, daß der junge Fremde, der auf die Länge ihnen immer höher wuchs und für den Bruder eines in Melanie ohne Erhörung verliebten Malers fast zu hoch von ihr verehrt wurde, nicht Das sein sollte, wofür er sich ausgab. Man flüsterte staunend vom Prinzen Egon. Hatte man doch auch von einem Diener gehört, daß er einen mit einer Krone gesiegelten Brief zur Post gegeben! War man doch betroffen über seine genaue Kenntniß aller innern und äußern Beziehungen der fürstlich Hohenberg'schen Familie! Nur das Wohlwollen schien ihnen befremdlich, das er ihnen Allen nicht entzog. War es der junge Fürst, so hatten sie Alle das Gefühl, daß er ihnen Etwas schenkte, worauf sie kaum Ansprüche machen durften. Und war er freundlich, ihrer finanziellen Ansprüche wegen, so lag [592] darin Etwas, was ihn wieder geringer erscheinen ließ, als seiner Art zu entsprechen schien. Herr von Reichmeyer faßte ihn schon gering. Er nahm oft Gelegenheit, seine Unzufriedenheit mit Vielem auszusprechen, was sich ihm auf der Reise durch die Herrschaften des Fürsten zur Anerkennung oder Rüge darbot, und machte sich in der ganzen vollen Bedeutung geltend, die er dem bedrängten Erben haben mußte.

Dankmar, unbekümmert, genoß nur den Augenblick.

Er ließ ihn nur noch von Melanie erfüllen. Sie hatte ihm gesagt, daß sie den Intendanten auf dem Heidekruge einholen würden und daß bis morgen das Bild in seinen Händen sein würde .... Mehr bedurfte es nicht ... Er ließ Alles geschehen um des Bildes und um des süßen Abenteuers willen. In vollem Zuge genoß er das Glück des stillen Einverständnisses mit einem reizenden Weibe. Beseligt empfand er die Macht eines einzigen jener Blicke, die aus Melanie's dunkeln, liebeverheißenden Augen ihn für tausenderlei gleichgültiges Geplauder, Forschen, Blinzeln, Moquiren entschädigen sollten. Konnte ihm denn entgehen, daß Melanie nur seinetwegen so muthig auf ihrem Rosse aushielt, daß sie nur seinetwegen mit den Leuten am Wege scherzte? Zwar gab sie sich die Miene, von einer brennenden Sehnsucht nach dem Intendanten verzehrt zu werden. Sie fragte Jeden, ob sie nicht den schönen Mann in dem eleganten Reisewagen hinter der großen Thierbude gesehen hätten und da durch diese Örter noch der Transport des Mobiliars bei Nacht geschehen war, so [593] stellte sie sich untröstlich, von Niemanden Auskunft zu erhalten ....

Hier hat er geschlummert, rief sie, hier haben seine kleinen Ohren sich in die Kissen seines Wagens gedrückt! Hier über diesen Stein rollten vielleicht die Räder seines Landaus und weckten ihn aus einem Traume, wo ich vielleicht eben vor ihm niederkniete und ihm sagte: Einziger! Nur du! Nur du!

Und wenn die Leute über eine gefahrene Thierbude, von der sie sprach, erstaunten, hier und da wol auch Jemand von dem ungeheueren Wagen gehört hatte, so sagte sie Andern wieder, es wäre eine Hütte, die ihr Geliebter mit sich führe, dieselbe Hütte, wo er sie zum ersten male gesehen und die er deshalb mit in sein Schloß nähme, um sie unter eine Glasbedeckung zu stellen ....

Mit solchen Scherzen vergingen die ersten Stunden des Morgens, bis man sich am Gelben Hirsche sammelte und dort ein Frühstück einzunehmen beschloß.

Comfortables Geschirr und feine Küche hatte man bei sich. Eier und Butter gab die Wirthschaft, die von dem Bruder der hier nicht gern verweilenden Wirthschaftsräthin geführt wurde. Zu verwandtschaftlichen Begrüßungen blieb hier nicht viel Zeit; denn die so außerordentlich zahlreiche Gesellschaft drängte und setzte alle Hände des Wirthshauses in Bewegung. Der Bruder der Frau Pfannenstiel war wiederum nicht zugegen. Man sagte ihr, sie könnte ihm vielleicht noch begegnen; er wäre in Helldorf, wo die angesehenen Eigenthümer der [594] Gegend sich zu einer Wahlbesprechung unter dem Vorsitz des Heidekrügers Justus versammelt hätten. Die Wirthschaftsräthin wußte, daß ihr Bruder stark Politik trieb und war froh, daß sie sein drittes Wort nicht hörte: Schwester, thu' Etwas für mich! Ich habe ein halbes Dutzend Kinder .... Diese Kinder schmiegten sich denn auch, während die Mutter von der Verlegenheit über soviel Gäste fast überwältigt war, an die Tante, bekamen aber wenig andere Zärtlichkeit von ihr erwidert, als daß sie sich das Zerdrücken und Beschmutzen ihres seidenen Kleides verbat. Sie würde ihnen gern, sagte sie, von den Leckerbissen der Wagenvorräthe abgegeben haben, wenn sie nicht dann jene Beschädigung hätte fürchten müssen .... Lenchen lächelte dazu fein, ungläubig und betrachtete sie kaum .... Was ist Blutsverwandtschaft, wenn sie nicht durch den ebenbürtigen Geist vermittelt wird!

Unter einem Apfelbaum hinterm Hause nahm die Gesellschaft Platz und breitete ihre Vorräthe aus, während die Dienerschaft auf Käse und Butter aus der Wirthsküche und eine schnelle Revision aller Hühnernester angewiesen war. Frau von Reichmeyer vertheilte Teller, Servietten, Gläser, putzte und reinigte, was ihr nicht sauber schien, während die Justizräthin mit gutmüthigen Entschuldigungen ihre scharfe Kritik wieder kritisirte und Alles zum Besten zu kehren trachtete.

So heiter man schien, so entging es Dankmarn doch nicht, daß er anfing die Gesellschaft zu drücken. Seine Anwesenheit belästigte wol nicht, im Gegentheil mußte sie [595] Allen, selbst Lasally, der oft von seiner Anklage gegen Hackert sprach, interessant erscheinen; allein der Hinblick auf ihn wurde doch ein befangener. Bartusch hatte sich entschließen müssen, Schlurck's Brief mitzutheilen. Er ging heimlich von Einem zum Andern. Man las, man verglich, man zweifelte und glaubte, jenachdem Dankmar in der Laune war, die geheimen Zeichen des Zweifels und des Glaubens, deren Gründe er wol errieth, durch sein Benehmen zu unterstützen oder zu widerlegen. Hätt' er nicht immer noch annehmen müssen, diese doch hochstrebende, von der großen Gesellschaft verwöhnte Melanie gäbe sich seinen Planen vielleicht doch wol nur hin, weil sie in ihm die Eroberung eines Fürsten zu haben glaubte, er hätte dem zweifelhaften Schimmer seines Ichs bald ein Ende gemacht und sich offen als das anspruchlose Glied der Gesellschaft zu erkennen gegeben, das er wirklich war.

In dieser Stimmung kam ihm ein Gruß sehr willkommen, den ihm ein an dem Apfelbaume Vorübergehender schenkte. Es war Heunisch, der Jäger. Alle kannten ihn. Es befremdete nicht wenig, daß Dankmar, den das seinetwegen stockende Gespräch fast verlegen machte, aufstand, Heunischen, der ins Haus gehen wollte (er kam durch den Garten, vom Felde her) auf die Schulter schlug, ihm freundlich die Hand schüttelte und mit ihm nach der Straße zu durch das Haus ging. Die Kinder umjubelten den fleißigen Besucher dieser Stätte, auf der ihm so Schmerzliches begegnet war. Sie grüßten seinen Hund, [596] den sie liebkosten. Sie nahmen dem Onkel, wie sie Heunisch nannten, den Hut und selbst die Flinte ab, die er ihnen heute gab, weil sie nicht geladen war. Das Pulverhorn behielt er.

Dankmar knüpfte gleich an Heunisch's Erinnerungen an und wollte von Ackermann, von Selmar, von der Ursula und ihrer Erbschaft hören. Während die Gesellschaft im Garten frühstückte, setzte er sich mit Heunisch auf die Bank vor dem Gelben Hirsch, dicht unter eines der Enden des gewaltigen Geweihes, das über der Thür als Wahrzeichen einer Herberge hing, die man nach der Gesinnung des Herrn Drossel ein demokratisches Widerspiel des »Heidekruges« nennen konnte. Gelb hieß der Hirsch wol deshalb, weil das Haus grell gelb angestrichen war oder ... umgekehrt.

Wir werden begierig sein, wie die Ansichten des lebhaften, unruhigen, in seinen Finanzen zerrütteten Hirschenwirthes in Helldorf mit denen des Heidekrügers über die Wahl des Justizraths Schlurck zusammentreffen müssen, wollen uns aber einstweilen mit Dem begnügen lassen, was uns unser alter Freund, der gutmüthige Jäger, noch aus seinem grünen Reviere erzählen wird.

[597]
11. Capitel. Ein Nachhall aus dem Walde
Elftes Capitel
Ein Nachhall aus dem Walde

Heunisch, der Förster, war ein so zerstreuter, gutmüthig vergeßlicher Mann, daß er nicht errathen konnte, was er eigentlich Dankmarn zu berichten versprochen hatte.

Er fing sogleich, als ihm Lenchen einen Trunk Bier gebracht hatte, den er neben sich auf die Bank stellte, während Dankmar durch Abrücken Platz machte ... er fing sogleich von Dem an, was Dankmar bereits wußte.

Ja, ja, sagte er, hier hab' ich meine erste Braut, das Riekchen Drossel verloren. Da die Scheune ist, wie Sie sehen, neu gebaut und auch das Wohnhaus ist fast neu; doch sind's schon wieder fünfzehn Jahre her und Alles sieht schwarz und vergessen aus. Haben Sie denn in der Ullaschlucht das Kreuz gesehen?

Welches Kreuz? fragte Dankmar, selbst zerstreut.

Das Kreuz um Sägemüller's Nantchen! Die Leute weisen ja jeden Fremden dahin und erzählen ihm mein Elend ...

Dankmar besann sich und bedauerte, sich die Stätte nicht angesehen zu haben.

Das Kreuz an dem Wasserstrudel, sagte Heunisch, ist [598] gleich von Hause aus schwarz. Drum hält sich's immer wie neu. Die Frau Fürstin ließ es setzen. Sie war doch gut ... und eigentlich ist's nicht recht, daß ich öfter hierher gehe als an das Kreuz.

Warum nicht? Hier findet Ihr Trost und Labung.

Nein Herr, sagte Heunisch, oft werf' ich mir's wirklich vor, daß ich lieber hierher gehe und mich gewöhnt habe, fast alle drei Tage bei Drossel's zu sein, als auf die Sägemühle zu, wo ich selten hinkomme und doch weiß ich nicht, wessen Tod mich mehr geschmerzt hat ... Nantchen's oder Riekchen's. Nantchen war schelmisch und behend wie ein Reh; sonst hätte sie mich Riekchen nicht vergessen lassen, die so freundlich hier die Gäste empfing und gleich wenn sie bedient hatte, sich wieder zum Arbeiten hinsetzte, da hinter die Blumen am Fenster. Lieber Gott, ich rede von damals! Damals lag das Fenster hier unten rechts und Blumen waren dahinter gezogen wie eine Laube. Ich sehe sie noch mit ihrem Kamm von Schildpatt und Elfenbein hinterm Goldlack .... Jetzt ist der Flügel ganz abgebrannt und neu angebaut, die Scheune ist neu und der Stall. Der Wind trieb den Brand nach Scheune und Stall und im Hause verbrannte Die nur, die verbrennen sollte.

Verbrennen sollte? fragte Dankmar verwundert. Wer wollte denn, daß sie verbrannte?

Ist's denn nicht Gottes Rathschluß, so wie so, und was uns bestimmt ist, wer kann ihm entgehen! antwortete Heunisch nachdenklich.

[599] Er kam dann auf die Schwester seiner Braut, die er wol erkannt, aber nicht gegrüßt hatte ... die Frau Wirthschaftsräthin. Überhaupt war er erschrocken, da unter dem Apfelbaum so die ganze »Bescherung« vom Schlosse anzutreffen ....

Was sie wol mögen herausgebracht haben über unser Aller Schicksal, fragte er; denn – nehmen Sie mir's nicht übel, Herr ... Sie gehören doch wol auch ...

Zu den Gläubigern? sagte Dankmar kopfschüttelnd und gab ihm den Trost, daß sich der Prinz ohne Zweifel noch entschließen würde, die Herrschaft beizubehalten, worüber Heunisch große Freude bezeugte. Dann aber fuhr Dankmar fort:

Aber Heunisch, Sie sind mir ja noch Eins schuldig ... wissen Sie denn nicht mehr? ...

Ich wollt' Ihnen was erzählen? Von der Fränz in der Stadt? Nicht wahr?

Nein! Nein!

Von den Kugeln unterm Ebereschenbaum?

Erfuhr ich schon ... Nein, nein! ... Ob die Ursula Marzahn ... gestanden hat, daß ihr der Amerikaner ...

Ah Das, Herr! Ja offen und ehrlich hat sie's! sagte Heunisch lachend. Alles hat sie gestanden, das Geld hergezählt und mir übergeben, freilich in ihrer Art, accurat so, daß Einer, der sie nicht kennt, lieber nichts davon hätte wissen mögen ...

Wie denn? fragte Dankmar, mehr wegen Ackermann's und des Knaben, als wegen der Ursula gespannt.

[600] Wie ich hinüber kam in mein Haus, erzählte Heunisch, da begegnete mir schon an der Wiese der fremde stattliche Herr mit dem lieben Jungen. Allerliebstes Kind Das! Nach seinem Geschäft, wenn es doch ein geheimes sein sollte, mochte ich ihn nicht fragen und er sagte selbst weiter nichts davon und grüßte blos. Da er denn aber doch in meinem Hause war, so blieb ich stehen und er fing an recht freundlich zu werden und meinte, daß ihm die Alte nicht gefalle. Ei, Herr, sagt' ich, die hat schon Manchem nicht gefallen, kommen Sie aber nur wieder mit zurück; es hat eben Jeder seine Art. Nein, nein, sagte er und der kleine Bursch schmiegte sich ihm ordentlich furchtsam an, sie hat den tauben Schmied da behalten, mit dem sie sich so wahnwitzig curios verständlich macht, daß Leute, die hören können, besser die Ohren zuhalten und davongehen. Hätte mein Junge Drüsen am Hals oder sonst ein Kinderübel, so käm' ich schon wieder; denn die Alte scheint mir zu den Wahrsagerinnen, Kartenlegerinnen, und ums gerade herauszusagen, zu den Hexen zu gehören!

Das war rundweg gesprochen, Heunisch!

Da ich mich dagegen im Grunde nicht sträuben konnte und es geschehen lassen muß, wenn man die Ursula so nimmt, wie sie sich eben gibt, so mußt' ich ihn wol ziehen lassen. Nun aber hielt der Amerikaner mich selber auf und fragte die Kreuz und Quer, nach Feld, Wald und Wiese in Hohenberg und wollte Tausenderlei von unserer Ökonomie wissen. Endlich kam ich in mein Haus, wo ich denn [601] richtig die Ursula mit der goldenen Bescherung antraf. Sie hatte all ihr Gold, es waren hundert doppelte Friedrichsdore, in der Schürze und rief mich gleich an: Schnappauf, Junge!

Schnappauf Junge? wiederholte Dankmar. Das klingt ja ganz kindlich!

Ich mußte gleich die Mütze hinhalten und in die Mütze, die ich hinhielt, schüttete sie's mir, Alles baar und blank und tanzte dabei wie närrisch ....

Tanzte?

Sie hielt's für Katzengold, sagte sie.

Katzengold? Heunisch, dann müßt Ihr's doch wol wiegen lassen.

Wie so?

Sie kann's ja gleich verhext haben.

Ach Spaß! Ich sah schon, daß die Friedrichsdore echte Landsvaterwaare sind und über Nacht nicht wieder Kohlen werden. Nächsten Sonntag sollen die Zeck's bei uns zu Mittag speisen und da wollen sie denn zusammen abmachen, was sie mit dem vielen Gelde beginnen.

Seht! Seht! sagte Dankmar, da werdet Ihr ja einen feierlichen Sonntag haben ....

Ich mag nicht dabei sein; antwortete der Jäger.

Wo man vielleicht Wein trinkt?

Der Blinde verdirbt mir den Appetit ....

Ihr söhnt Euch aus ...

Mit einem Habgierigen nicht!

[602] Ist Das so ein Währwolf?

Ein Blutsauger, was das Geld anlangt ...

Der blinde Zeck?

Der Mensch ist heimlich, wie ich Ihnen schon gesagt habe ....

Unheimlich ...

Aber man könnte ihn in Ehren grünen und blühen lassen, was die Arbeit, den Fleiß und die gute Aufführung anlangt ....

Und dennoch?

Seine Habgier! Das ist die Plage!

Er scheint doch in leidlichen Umständen ...

Für sich bedarf er nichts, aber sein Junge ... den liebt er, wie ein Affe seine Jungen ...

Macht ihm Ehre ...

Wol! Das sag' ich auch. Aber Alles in seinen gehörigen Grenzen ....

Da habt Ihr Recht!

Wie quält er seine Schwester!

Seine Schwester? Quälen? Erkennt die Ursula einen Meister?

O Herr, Das ist nicht zu sagen! Ich warf ihn schon oft zur Thür hinaus!

Was, glaub' ich, nicht leicht ist. Er hat Arme!

Daß er nicht sehen kann, ist sein einziger Jammer ... aber am Zuschlagen hindert's ihn nicht.

Er sucht wol, wo es etwas zu fischen gibt?

Für seinen Jungen, für den er sammelt, für den er spart [603] und geizt ... denn es ist wol ein elender Mensch, der Sohn, wenn der Alte einmal ...

Die Augen zuthut, kann man nicht sagen ...

Kann man nicht sagen ... Aber doch sieht er mit den Händen, mit den Füßen, mit der Nase, mit den Ohren. Da ist in unserm Forsthause ein Schrank ... Sie hätten uns doch besuchen sollen ...

Das nächste mal, Heunisch!

Den Schrank hab' ich der Ursula gelassen, weil er ihr schon bei Marzahn gehörte. Da hat sie alle ihre Papiere drin und Geldsachen und Quacksalbereien und was weiß ich ...

Ihr seid, bei Gott, nicht neugierig!

Nein, Herr! Vertrauen und Accuratesse! Das war immer mein Wort! Ich lasse die Ursula in ihren Schrank legen, was sie will. Und wenn der Schlüssel auf dem Tisch läge ....

Ihr nähmt ihn nicht?

Ich nähm' ihn nicht ....

Aber Zeck? Der wäre nicht so rücksichtsvoll?

Auf den Schrank hat er's! Den umschnüffelt er! Da wittert er Gold und Silber und Erbschaften und Verschreibungen ....

Alles für seinen Sohn?

Für den Jungen, der einmal blinder als blind ist, wenn der Alte nicht mehr ist.

Doch immer eine väterliche Fürsorge! Etwas Achtbares dabei!

[604] Ei ja! Ich will's gelten lassen. Ich gönn' ihm sein Geld, ich gönn' ihm die Erbschaft, die der feine Herr aus Amerika gebracht hat ... aber ...

Von wem kommt denn die Erbschaft?

Im Vertrauen, glaub' ich – von einem verstorbenen Bruder, der hoffentlich ein seligeres Ende genommen hat als er es verdiente ....

Eine seltsame Familie!

Lassen Sie's gut sein, Herr! Ich hab's nie wissen mögen, warum sie seltsam ist und so weiß ich auch nicht, warum Schwester und Bruder an das Gold nicht glauben wollen ....

Das sie doch mit Händen greifen?

Das sie mit Händen greifen! Katzengold, sagt die Ursula ....

Der Bruder war doch etwa ... kein Falschmünzer?

Stille! Stille! Das ist wieder mein vergrabener Brunnen .... Ich war gestern Abend noch an der Schmiede. Der Blinde sitzt vor seinen Goldstücken und klingt Eines an das Andere an, ob es auch echt ist ....

Das nenn' ich Mistrauen!

Ja, ja, Sie lachen, bester Herr! Ich sitze, weiß Gott, recht unter tollen Geschichten und wenn sie mir denn doch zu bunt werden, geh' ich hier hinauf in den Gelben Hirsch. Hier ist's luftig und frei. Ein gesunder Zug in die Brust hinein stärkt mir die Lungen hier, und hätt' ich nicht Hunde daheim und ein paar alte Eulen und eine ganze Stube voll Vögel und freilich auch mein Brot im Walde und [605] die Hoffnung, die Fränz kommt einmal aus der Stadt für immer wieder heraus zu mir, ich ginge am liebsten nicht wieder hinein, so schwül wird's mir manchmal, denn die Gespensterseherei der Alten nimmt überhand ....

Dankmar nahm innigen Antheil an dem guten treuen Menschen und erzählte ihm auch seinerseits Einiges von der Verlegenheit, in die er durch die bei einem ihrer Gespenster gefundenen Kugeln käme ...

Das Gespenst da, sagte Heunisch rasch, hab' ich seitdem auf dem Strich und bin ihm schon so nahe beigekommen, daß ich ihm ein Halt da! Steh Canaille! hätte zurufen können.

Wirklich? fragte Dankmar gespannt und fast in der Hoffnung, der Förster möchte ihm nun ja Hackerten als den Verdächtigen bezeichnen, seinen Begleiter, den er von seinen Anzüglichkeiten auf die schöne kleine Franziska schon kannte.

Es kam auch so zum Vorschein. Der Jäger sagte:

Da Sie selbst darauf kommen ... will ich auch nicht zurückhalten ....

Sprecht offen! sagte Dankmar. Wir sind gute Freunde ....

Drum thut mir's leid, daß Sie mit dem ...

Also der Rothhaarige, der mit mir hier auf dem Gelben Hirsch ...

Der Buschklepper, den ich seitdem hier und da herumspuken sehe ... Gestern Nacht hatt' ich mich bei den Holzschlägern verspätet. Die Leute müssen bis in die helle [606] Mondnacht schlagen, um nur für die Nimmersatts da unterm Äpfelbaum aus unsern jungen Pflanzungen, die sich kaum erholen können, Silber zu münzen.

Sprechen Sie leiser!

Ach was! Sie können's hören! Mit der Frau Wirthschaftsräthin, Herr, können Sie doch nicht unter einer Decke stecken ....

Nein! Heunisch, und wenn's eine seidene wäre! sagte Dankmar lachend und gespannt.

Nun ja! Es mochte gestern schon stark nach zehn Uhr sein, als ich meinen rothen Burschen über die Wiese streifen sah, die vom Plessener Thurm her, hinterm Gebüsch um den Schloßberg, in den Wald führt. Er rannte mehr als er ging.

Mein rother Begleiter?

Ich denke wol! Ich stelle mich hinter einen Baum, um ihn besser zu beobachten. Er sieht sich überall um, und Jeder hätte geschworen, der Kerl hat ein böses Gewissen. Endlich ging er langsamer, ich ihm nach. So mocht' ich eine halbe Stunde hinter ihm geschlichen sein, als ich sehe, daß Dies der Weg zum schwarzen Kreuz ist, wo mein Nantchen vom Felsen glitt. Es ist ein gespenstiger Ort, fast wie eine Kirche bei Nacht. Rings über dem Wildbach stehen gerade hier rundum alte Bäume und uralte Felsensteine und sehen so zackig und knorrig in die Flut hinunter, daß ich mir schon manchmal gedacht habe, wenn die alten Äste einmal lebendig würden und husch! wie Schlangen durcheinander führen und dich einmal packten, Heunisch!

[607] Ihr habt Phantasie, Heunisch!

Es preßt mir immer die Kehle, wenn ich an den Ort komme und das Kreuz so ernst, gerade als ob es reden wollte, da oben steht und mir vorwirft, daß ich am Ende das Riekchen hier doch lieber gehabt hätte, weil ich immer auf dem Gelben Hirsch bin ....

Ihr seid zu gewissenhaft, Heunisch! Nantchen von der Sägemühle freut sich im Grabe, wenn Ihr getröstet seid.

Da bin ich denn umgekehrt und hab' den Schelm aus dem Gesicht verloren. Nun hab ich's aber der Ursula erzählt ... wissen Sie, was Die sagte?

Ich bin begierig ...

Es ist zum Lachen, fuhr Heunisch fort; das schwachsinnige alte Weib ließ sich nicht ausreden, daß sie ihren Bruder gesehen hätte. Es ist ja Fritze aus Amerika, sagte sie, der uns das Katzengold gebracht hat und sieh Einer nur nach, unten, im Bach, wo Schön Nantchen stolperte, da liegt noch weit mehr von dem Dreck. Geh hin, Heunisch, da liegt ein ganzer Schatz! Ja Schatz! Mein Schätzchen liegt da! sagt' ich aus Spaß und doch betrübt; mein Schätzel war hübsch, aber reich war sie nicht, Urschel! Da schwieg sie und meinte blos: Laß den Fritze nicht hereinkommen, Heunisch! Wir haben nichts mehr für ihn hier zu suchen, es ist Alles fort, Alles fort. Es braucht auch keinen Tischler zu schicken, um nachzufragen, ob wir nicht den Sarg bestellen wollten. Laß ihn aber auch gehen! Wer auf Geister schießt, trifft sich. Damit war sie wieder vergnügt und ging in die Küche und richtete ein gutes Essen an.

[608] Wetter, sagte Dankmar, Das wiederholt noch einmal, Heunisch: Wer auf Geister schießt, trifft sich, sagte sie?

Eine alte Regel, Herr, die älter ist, als ...

Der Doctor Lehmann am Rabenstein! Wer auf Geister schießt, trifft sich! Das ist so alt, wie der bethlehemitische Kindermord und die Aussetzung Mosis am Wasser und die Inquisition und die Censur.

Ja, ja! lachte Heunisch. Im Walde lernt man sein Bischen schwarze Kunst. Wer auf Geister schießt, trifft sich!

Dankmar überlegte. Er sahe, daß sich Egon's Erzählung von der bösen Aufnahme, die er im Forsthause fand, nun zusammenschloß mit Dem, was er hier von Heunisch vernahm. Er wollte aber noch genauer forschen. Ohne ihm Etwas von dem Gefangenen im Thurm zu sagen, kam er auf den Tischler zurück und fragte Heunischen, was die Alte mit dem Tischler gewollt hätte?

Heunisch erzählte ihm dann Alles, was Dankmar, freilich in anderer Auffassung, schon wußte und bemerkte auch ganz richtig, daß Dies ohne Zweifel jener junge schöne Handwerker gewesen wäre, den er hier mit im Gelben Hirsch gesehen hätte.

Freilich! freilich! sagte Dankmar. Der war's. Wußte sie nicht mehr von ihm zu sagen?

Heunisch, seine drängendere Neugier nicht bemerkend, sagte ganz ruhig:

Sie hatte genug, als er von sich als einem Tischler sprach. Denn ihre Furcht vorm Tode ist eine Schande. Sie wird auch aus purer Todesfurcht steinalt und überlebt [609] mich zehn mal. Ich hatte meinen Spaß mit ihr und sagte: Urschel, Urschel, der Tischler hat ja nur vorläufig 's Maß nehmen wollen! Da schluchzte sie, fiel wieder in eine andere Narrheit und meinte: So groß wie seine Mutter brauch' ich's nicht.

So groß wie seine Mutter? fragte Dankmar erstaunt. Wessen Mutter meinte sie?

Das kann ich nicht sagen, Herr, sprach Heunisch; man muß auch Nichts drin suchen. Die halb Verrückten und Geisterseher haben's immer mit zweierlei Menschen zu thun, mit Kindern und mit Müttern. Bei ihrem gespenstischen Bruder kommt sie immer gleich auf Kinder, die er wol kann hinterlassen haben, und beim Tischler kam sie gleich auf seine Mutter. Der frühere Pfarrer in Plessen – wie hieß er doch –

Rudhard, ergänzte Dankmar.

Ei sieh, woher wissen Sie Das? fragte Heunisch erstaunt, Rudhard ... Richtig! Ganz richtig! Das war ein anderer als der jetzige, der erst ein Augenzwinkerer war und nun ein Schwätzer ist. Der Rudhard sagte einmal: Im Menschen wäre Alles, was auf eine Mutter und auf ein Kind ginge, ein göttliches Geheimniß. Ich hab's deutlich behalten, weil's die erste Predigt war, die ich in Plessen hörte, und ich kann Ihnen wol im Vertrauen sagen, die letzte seit meiner Confirmationszeit. Der Mann sagte auch: Daß ein Kind Kind sein könne und eine Mutter Mutter sein könne, Das wäre so schwer zu begreifen, wie Gottes Wesen selbst und drum haben's auch, wie ich an [610] der Urschel sehe, die Hexen und die Teufel immer mit Kindern und mit Müttern. Das muß wol der Eingang in die Hölle sein.

Oder der in den Himmel, Heunisch! sagte Dankmar und schüttelte ihm nun wie zum Abschied die Hand. Ja, ja! In den Himmel! setzte er hinzu. Haltet noch eine Weile unter diesen Menschen aus, die Eurer nicht würdig sind, bis die Fränz kommt, die besser, tugendhafter sein wird, als sie der Hallunk, von dem Ihr mir leider zu wenig erzählt habt, Euch darstellte.

Heunisch hielt Dankmarn und sah ihn treuherzig mit seinen männlichen Zügen ohne Falsch und einem guten sorglosen Auge an.

Nicht wahr? Das meinen Sie auch? sagte er bewegt; und nun, bester Herr, wir sind uns immer so angenehm begegnet; wenn ich einmal in die große Stadt dahinunter komme und Sie mir erlauben wollen, wieder mit Ihnen ein Bischen zu plaudern ...

Er zögerte, sein Anliegen auszusprechen.

Offenbar wollt' er Dankmar's Namen wissen und Dieser, nach der ihm einwohnenden offenen Weise, unbekümmert über die möglichen Folgen, hielt es für seine Pflicht, dem Ehrlichen gegenüber ehrlich zu sein und sagte:

Ich heiße Dankmar Wildungen, bin ein Referendar beim Gericht. Wenn Sie den Namen behalten, finden Sie mich wol auf oder fragen Sie nur bei dem Gericht. Dankmar ...

[611] Dankmar Wildungen! wiederholte Heunisch langsam und nachdenkend, als wollt' er sich den Namen des ihm so liebgewordenen jungen Mannes recht einprägen.

Dabei hielt er aber noch immer Dankmar's Hand fest ....

Und als dieser die Wagen vorfahren hörte und sich ihm nun langsam entziehen wollte, brach Heunisch gerade mit Etwas hervor, was er noch auf dem Herzen gehabt hatte und was auch vielleicht die Ursache seiner großen Offenherzigkeit gewesen war ....

Und wenn nun, sagte er fast schlau lächelnd, wenn nun die Zeck's nächsten Sonntag bei mir zu Hirsebrei in Milch und einem Rehbock oder was sonst die Urschel und meine Flinte bescheren wird, kommen und Rath schlagen, wo sie mit den vierhundert Friedrichsdoren – denn so viel sind's – hin sollen und Heunisch auch ein Wort mitsprechen möchte: Was rathen Sie mir da wol? Wo legt man nun solch Geld jetzt am besten an?

Aha! dachte Dankmar bei sich. Nun kommt der Schlüssel zu all den offenbarten Geheimnissen ... Wie schlau ist mein Waldsohn!

Nur nicht in Staatspapieren! war seine rasche Antwort.

Sagte mit heute der Amerikaner auch, meinte Heunisch.

Der Amerikaner? Heute? Haben Sie ihn denn wiedergesehen?

Vor einer Stunde! Er muß des Weges kommen.

Hierher?

[612] Dankmar war ergriffen von Freude und fast mußte er sich sagen, von Schreck. Dieser Fremde und sein holder Sohn hatten sich ihm eingeprägt wie eine Mahnung immer nur an sein edelstes Selbst. Sie waren sein Gewissen geworden. Und so erschrak er fast über die Möglichkeit, daß dieser Fremde, mit dem schlichten Namen Ackermann, plötzlich von den Abenteuern Einsicht bekommen könnte, in die er sich hier verwickelt hatte ...

Der Jäger erzählte ihm, daß er auf seinem kürzern Wege, den er von Plessen eingeschlagen hätte, Ackermann mit seinem Sohne begegnet wäre und wenn ihm Recht wäre, sähe er sie dort – damit zeigte er auf einen Weg, der sich hinter dem Gasthause heraufzog – in dem kleinen Wägelchen schon herkommen –

Dankmar blickte hinüber.

Ackermann und Selmar saßen in einem leichten Wagen und grüßten ihn schon von ferne ... Da aber stand auch schon Lasally mit dem Rosse neben ihm, das er besteigen sollte. Die ganze Gesellschaft drängte, die Wagen fuhren durcheinander, die Pferde stampften, die Bedienten riefen, Heunisch trat zurück und lüftete die Mütze und Dankmar, der nicht mehr wußte, wohin er hören und was Alles sehen sollte, verlor fast die Besinnung ...

Euer Geschäft, sagte er zu Heunisch, indem er fast mechanisch auf sein Roß stieg, also Euer Geschäft, bester Freund ... Ich will Euch sagen, rief er ganz laut, kommt in die Residenz und fragt beim Prinzen Egon, Euerm Herrn. Oder schreibt! Bei uns sollt Ihr die beste Auskunft [613] finden! Ich bin für Grundbesitz oder Industrie und Das hättet Ihr ja in Plessen oder bei Hohenberg gleich in der Nähe, um immer Euer Auge in die Benutzung des Geldes einsehen zu lassen. Wer weiß, was man jetzt in Hohenberg nicht Alles für Mittel brauchen kann. Euer Herr gibt Euch die besten Hypotheken! Also kommt nur zu mir! Beide gehen wir dann zum Prinzen Egon! Oder es macht sich Alles schriftlich, wie Ihr wollt!

Damit saß Dankmar im Sattel. Heunisch trat dankend und fast erschrocken, daß man so laut von dem Gelde gesprochen, zurück. Einige Wagen fuhren ab. Dankmar's Gaul folgte mechanisch dem stattlichern Renner Lasally's. Dankmar wandte sich um. Selmar grüßte noch immer und Ackermann nickte freundlich. Zur Erwiderung zog er sein Taschentuch und schwenkte es in der Luft hin und her, zog auch seinen Hut und ließ die winkende Hand Das sagen, was sein Mund in die weite Entfernung nicht mehr hinübertragen konnte.

Nun ließ er dem Pferd die Zügel schießen und sprengte der übrigen Gesellschaft nach, die an ihm schon vorüberfuhr.

[614]
12. Capitel. Melanie-Späße
Zwölftes Capitel
Melanie-Späße

Als sich Dankmar auf seinem Rosse gesammelt hatte, sah er sich nach Melanie um. Er entdeckte sie nicht. Neben ihm fuhr Herr und Frau von Reichmeyer. Er erkundigte sich nach Melanie. Das reiche Ehepaar stand im Wagen auf, um rückwärts zu sehen, und zeigte ihm den Wagen der Justizräthin, der noch fern am Gelben Hirsch hielt. Er sah das leere Pferd, das Melanie geritten hatte, von einem der Jockeys geführt, ihm längst voraus. Es schien also wol, daß sie fahren wollte. Endlich entdeckte er sie, wie sie in den Wagen stieg mit veränderter Toilette. Sie hatte sich aus einer Amazone in eine Dame der neuesten Mode verwandelt und trug einen weißen Seidenhut, ein weißes Kleid und einen leichten rothen Krepp de Chine-Shawl. In dem Augenblick fuhr sie ab, wo Ackermann und Selmar anlangten.

Kommen Sie denn endlich zur Besinnung? rief sie Dankmarn entgegen, als der Wagen schnell ihm nachflog und der Staub sich so verzogen hatte, daß man im langsamern Fahren sprechen konnte.

Dankmar bat um Entschuldigung über sein langes[615] Gespräch mit dem braven Waidmanne, den er auf die ser Reise sehr liebgewonnen hätte.

Er fügte hinzu, er könne die Zerstreuung um so weniger bereuen, als sie ihm jetzt die volle Überraschung ihrer plötzlichen Metamorphose gewähre ....

Sie sollten sich zu uns setzen, sagte Melanie mit Vertraulichkeit. Bartusch rückt und ist überhaupt der bequemste Reisegesellschafter von der Welt, ein Reisenecessaire in Taschenformat ....

Sie zeigte dabei auch auf die Geldbörse, die der kleine schlaulächelnde Mann in der Hand hielt, während er die Ausgaben im Hirsch verrechnete.

Prinz! Hier ist Platz! rief Bartusch, ganz in seine Rechnung verloren.

Wie Dankmar die Worte hörte und Melanie ihn über sie fixirte, übergoß es ihn purpurroth und wie mit einem Seitensprunge das Pferd vom Wagenschlage ablenkend jagte er, seine Verlegenheit zu verbergen, Lasally nach.

Hast du bemerkt, wie er erröthete? sagte Melanie zur Mutter.

Diese wandte sich, noch ganz erschrocken über Bartusch's Auffoderung zu diesem hinüber und fragte:

War Das mit Absicht, Bartusch?

Nein, sagte Bartusch, die Augenbrauen in die Höhe ziehend, es kam mir zufällig ...

Seither war ich im Zweifel, sagte die Mutter, und kann mir nicht denken, daß sich ein junger Mann, der uns so [616] wenig Ursache hat befreundet zu sein, uns dermaßen vertrauensvoll anschließt. Melanie ist freilich sehr unvorsichtig ...

Mutter! sagte Diese und legte, da Hannchen Schlurck recht zürnend ausschaute, den Arm um ihre Schulter, um sie zu beschwichtigen ... Mutter, zanke mich nur aus!

Ich werde dir nie rathen, sagte die Mutter, daß du Lasally erhörst, aber ich bewundere die Geduld dieses treuen Menschen. Er hatte sicher gehofft, in der Einsamkeit des hohenberger Aufenthaltes würden seine Wünsche dir nicht misfallen und nun muß er erleben, daß du von dort mit einer doch im Grunde sinnlosen Leidenschaft zurückkehrst, die dich heute noch närrisch macht ....

Du meinst doch meine Excellenz? fragte Melanie mit Schalkhaftigkeit.

O geh mit dieser Posse! sagte die Mutter, fast verstimmt. Immer freu' ich mich, daß deine Späße ihre Lacher finden, heute aber wundere ich mich darüber.

Mutter, sagte Melanie, du wirst bitter! Du willst meine Erfolge stören? Das ist ... fast hätt' ich das vierte Gebot verletzt.

Frau Justizräthin ist trüben Humors, meinte Bartusch und spielte boshaft genug auf den Eindruck an, den der sonst so heitern und duldsamen Frau die Enthüllung einer sonderbaren nächtlichen Wanderung ihres Gemahls gemacht hatte, als Bartusch von dem gefundenen Schrein erzählte. Ein ernster Blick der nachdenklichen Frau verbot ihm weitere Erörterungen ....

[617] Die lästige Pause, die eintrat, unterbrach Melanie mit Wiederholung der Worte, die sie von Dankmar am Gelben Hirsch gehört hatte:

»Also kommt nur zu mir und Beide gehen wir dann zum Prinzen Egon!«

Es ist deutlich genug! sagte Bartusch.

Und der Jäger, meinte die Mutter. Schien er nicht ganz erschüttert, da wir ihm die Muthmaßung mittheilten? War es nicht, als wollte er sagen: Nun gingen ihm ja plötzlich die Augen auf und er erkenne, mit wem er sich so oft und so gut unterhalten hätte?

Ich habe, sagte Melanie ernster gestimmt, ich habe diesem Fremden, ob es nun der Prinz oder nicht der Prinz ist, einen Dienst zu leisten versprochen, dessen Ausführung mir viel Überwindung kostet. Ich leugne nicht, daß er sogleich mein Herz gewann und zum Zeichen, daß ich beim Anblick dieses liebenswürdigen Mannes mehr empfinde, als ich bisher für irgend Jemand in der Welt empfunden habe, wollen wir morgen in aller Frühe, gegen sein Wissen, vom Heidekrug weiter reisen, damit wir ... doch wol nicht zu weit gehen. Hab' ich dem Drange genug gethan, ihm mich so weit zu widmen, als ich sehe, daß er Liebe, Hingebung und die Aufopferung eines treuen Herzens nöthig hat, so hört mein Spiel auf und es ist dann an ihm, zu zeigen, was er für soviel Freundschaft mir Ernstes erwidern will ...

Kind, rief die Mutter, denkst du so hoch?

Ich denke gar nicht, liebe Mutter, sagte Melanie ruhig.

[618] Denn wenn ich dächte, würde Das, was ich heute noch Alles ausführen soll, kaum möglich werden. Ich fühle nur. Nur ein Instinct, ein wunderbarer Reiz ist es, der mich seit dem Augenblicke leitet, daß ich diesen Fremden sah –

Nein, verbesserte die Mutter, seit der Vater schrieb, der Prinz wäre im Incognito am Fuße des Schlosses, und wir annahmen, die von ihm gegebene Beschreibung passe auf jenen Fremden, der uns vielleicht Alle täuscht –

Er täuscht uns nicht, sagte Melanie, er nennt sich Dankmar Wildungen. Ist es der Prinz nicht ... so werden wir ihn um so leichter vergessen können.

Ich dagegen hoffe, sagte die Mutter, daß es wirklich der Bruder des blonden Malers ist, den du bei uns eingeführt hast. Denn ein Roman mit einem Manne, der zu hoch steht, als daß er dich heirathen könnte, wäre bei den mancherlei Sorgen, die so schon unsere Brust drücken, vollends eine Qual ....

Denke nicht an die Zukunft, Mama! sagte Melanie. Das Nächste ist, daß ich bitte, mich auf dem Heidekrug rumoren zu lassen, wie ich will. Morgen früh mit Sonnenaufgang bin ich vielleicht vor Euch Allen schon auf dem Wege nach Hause und spreche den Fremden nicht mehr ... vielleicht nie mehr.

Was hast du denn nur vor? fragte die Mutter, die jetzt erst die Andeutungen eines Planes verstand, mit gesteigerter Besorgniß.

Einer Antwort ward Melanie dadurch überhoben, daß [619] Dankmar und Lasally jetzt dicht bei den Schlägen des Wagens ritten, Einer rechts, der Andere links.

Melanie knüpfte rasch ein unverfängliches Gespräch an und verlangte zu wissen, was Das für Fremde wären, denen Dankmar so freudig zugewinkt hätte?

Der Befragte theilte so viel von Beiden mit, als sie interessiren konnte, ohne Dinge zu erwähnen, die vielleicht unbekannt bleiben sollten.

Der Knabe, sagte Melanie nach einigem Nachdenken und stockte ...

Nicht wahr? Ein liebes Kind? fiel Dankmar ein.

Ja, ja, der Knabe schien mir ein verkleidetes Mädchen ... sagte Melanie.

Melanie! rief Dankmar sich vergessend und begriff nicht, wie ihn diese Äußerung so erregen, so in allen Adern durchbeben konnte.

Sie erschrecken? Was? Eine neue Rivalin? Eine Rivalin der Gräfin d'Azimont wollt' ich sagen. Kommt das Alles von Paris?

Dankmar mußte lächeln, weil ihm die Misverständnisse des gestrigen Abends einfielen. Doch wünschte er sie abzubrechen und sagte:

Wer die Gräfin d'Azimont ist, wissen wir; lieber möcht' ich Herrn Lasally veranlassen uns zu erzählen, welches die schönsten und gewandtesten Amazonen der Residenz sind ....

Man blickte zu Lasally hinüber, der nachdenklich schien.

[620] Hören Sie denn nicht, Lasally, sagte Melanie, wer reitet von den Damen besser als Melanie mit dem abscheulichen Namen Schlurck?

Die Frau Major von Werdeck reitet besser! sagte Dieser kurz und bestimmt.

Man lachte über seine Offenheit.

Sie sind kurz angebunden! Wie können Sie eine Polin mit mir vergleichen ... eine wilde Demokratin!

Demokratin? fragte Dankmar.

Eine Sarmatin, die auf einem Pferde zur Welt gekommen scheint ... sagte Lasally, um sich zu entschuldigen.

Stille! Stille! Es wird immer besser! rief Melanie und wollte von der Frau Major von Werdeck nichts mehr wissen.

Auch die Damen von Wachendorf, die Baronin Spitz und Frau von Landskrona sind in der Zügelführung anzuerkennen, sagte Lasally.

Die Erwähnung so vieler Damen führte auf die Chronik der großen Welt. Man zeigte sich über alle hervorragenden Persönlichkeiten derselben ziemlich unterrichtet. Dankmar hörte Namen, die er mit Siegbert in Verbindung wußte, andere, die ihm ganz fremd waren. Er hörte, da sich auch Reichmeyer's in diese Erörterungen mischten, kaum zu und verlor sich in Erinnerungen an Egon und die so schnell gewonnene Freundschaft jenes Gefangenen im Thurm, der nur der junge Fürst sein konnte. Als er von seinen Grübeleien erwachte und man noch von den Damen der Residenz sprach, benutzte er die Gelegenheit, sich [621] über Egon's Vorsicht in Betreff der Harder'schen Familie zu unterrichten und fragte:

Wir haben Herrn von Harder kennen gelernt. Nicht wahr? Es gibt mehre Damen von Harder ... was weiß man von ihnen?

Melanie begann sogleich:

Mit den Harder's bitt' ich vorsichtig umzugehen. Jede Äußerung, die einen Verwandten meiner Excellenz betrifft und für seinen geliebten Namen ungünstig ausfiele, könnte mein Herz verwunden ...

Melanie! rief die Mutter ...

Laßt mich, sagte sie. Spottet nicht! Sie am wenigsten, Lasally! Ich habe euch eitle und schwankende Männer lange studirt und mir wol die Fähigkeiten er worben, das Echte vom Unechten zu unterscheiden. Meine Excellenz gehört zu den Bessern ihres Geschlechtes. Ich will nicht in Abrede stellen, daß auch Harder von Harderstein Schwächen besitzt, allein wenn er nun auch eitel wäre, darf er es nicht sein? Hat er nicht die kleinsten Ohren, die ich je am Kopfe eines Mannes erblickt habe? Ist er nicht schlank gewachsen wie eine Pappel und hält er sich nicht ganz so gerade, wie es seiner Stellung am Hofe angemessen ist? Nein, nein, ihr Männer wißt nicht, worin eigentlich der Zauber liegt, den gewisse Blüten eures Geschlechtes auf uns ausüben. Scheltet mir meinen Geheimenrath nicht!

Nach der Heiterkeit, die diese muthwilligen Scherzreden hervorbrachten, bemerkte die Mutter, ohne Zweifel [622] hätte die Frage ihres Herrn Begleiters den Damen gegolten, die den Namen von Harder führten.

Von Pauline von Harder, sagte Melanie, red' ich nicht. Ich hasse sie. Sie ist die Gemahlin meines Ideals. Aber Anna von Harder kenn' ich. Dieser Dame verdanke ich mehr, als man für glaublich halten möchte. Ihr Schwager, der Intendant, lehrte mich fühlen, sie selbst, Anna von Harder, lehrte mich Etwas, was man mir ebenfalls allgemein absprechen will, nämlich ... rathen Sie?

Die Mutter sagte lachend:

Singen, mein Kind!

Das ist wirklich das Unmöglichste, was Sie zu leisten gelernt haben, Melanie! fiel Lasally spottend ein.

Sollte Ihnen, mein Herr, wandte sich Melanie zu Dankmar, diese boshafte Äußerung Lasally's unverständlich sein, so müssen Sie nämlich wissen, daß ich, wie man allgemein behauptet, keine Stimme habe. Ich spiele Klavier, Harfe und Guitarre. Aber dennoch fand ich immer, daß wirklich zur Musik nur Mittelmäßigkeiten Talent haben, was ich Ihnen durch Lasally's Beispiel beweisen könnte, der ein ganz vorzüglicher Bläser auf dem Cornet à piston, dem Postillonshorne ist. Ich selbst strebte immer nach dem Ruhme, in meiner Art das Beste zu leisten und da mir eine gewöhnliche mittelmäßige Fähigkeit im Singen nicht genügt, so zog ich es vor, zum Davonlaufen schlecht zu singen. Das hinderte aber doch nicht, daß ich einige Zeitlang die Akademieen der guten Anna von Harder auf Tempelheide unterstützt habe.

[623] Bis sie dich ersuchte, fiel die Mutter lachend ein, lieber deine andern Talente zu pflegen, als die zweifelhafte Gabe des Gesanges, wie sie dir einmal selbst schrieb.

Mit Gänsefüßen! Zweifelhaft mit Gänsefüßen, liebe Mutter! rief Melanie. Die zweifelhafte Gabe des Gesanges waren meine eigenen Worte, mit denen ich mich von Frau von Trompetta und der neuen Jungfrau von Orleans, der Flottwitz, bei ihr einführen ließ. Die falschen Noten, die ich sang, waren nicht Schuld, daß ich wegblieb, eher noch die vielen heiligen und langweiligen Sachen, die wir aufführten ...

Heilige, langweilige Sachen? fragte Dankmar, der das Gespräch von den Nachforschungen über seine Person und dem Drucke des zunehmenden Misverständnisses ablenken wollte.

Melanie erklärte ihre Äußerung.

Sie wissen vielleicht nicht, sagte sie, daß Anna von Harder während des Winters in der Stadt und im Sommer auf dem Gute des alten Obertribunalpräsidenten in Tempelheide von jungen Dilettanten und Dilettantinnen geistliche Musiken aufführen läßt? Sie ist nicht fromm, Anna von Harder, aber sie liebt alles Das, was zur Frömmigkeit gehört. Diese Akademieen ...

Bitte! bitte! unterbrach Dankmar die Mittheilung des schönen neckenden Mädchens, das sich, wie wir hören, auch nöthigenfalls selbst persifliren konnte. Sie sagen da ein Wort, das wiederholt zu werden verdient. Nicht selbst [624] fromm sein, aber Alles lieben, was zur Frömmigkeit gehört?

Ich weiß es kaum anders auszudrücken ...

Sie bezeichnen damit eine Geistesrichtung, die ziemlich allgemein verbreitet ist und mir sehr gefährlich erscheint ...

Es ist die der Schwanenjungfrauen und Diakonissen, sagte Melanie. Allein spotten wir nicht! Anna von Harder ist keine Mäuseburg, keine Trompetta ...

Sie hat in ihrer Jugend die tiefsten Herzensprüfungen bestanden ... ergänzte die Mutter.

Und weiß noch jetzt, was ein Herz ist! fiel Melanie ein, sich vielleicht irgend einer vergangenen Scene mit ihr entsinnend.

Aber die Musiken in Tempelheide sind darum doch lächerlich! meinte Lasally.

Wer sagt Das? fragte Melanie.

Hauptmann Thielo sagt's, Rittmeister Konnewitz ... fragen Sie, wen Sie wollen.

Diese competenten Richter! Sie sind komisch, diese Musiken, aber Thielo und Konnewitz sind die ernsthaften Menschen nicht, die sie komisch finden dürfen.

Fräulein, Sie überbieten sich in geistreichen Aperçus, fiel Dankmar ein. Sie sagten eben wieder ein Wort, das ich bewundere. Es kann Etwas lächerlich sein, aber nicht Jeder hat das Recht, es lächerlich zu finden. Wie erscheinen denn Ihnen diese Musiken?

Im Grunde, sagte Melanie mit den Augen blinzelnd und [625] schelmisch, im Grunde ganz ebenso wie dem Thielo und Konnewitz ... aber ...

Man wollte dies »Aber« nicht hören. Man wollte wissen, warum Melanie diese Musiken komisch fände.

Nun ... Denken Sie sich nur die ewige alte classische Musik, sagte sie. Nie etwas Weltliches! Ewig und ewig: Heil dir Israel! und Jauchze, Juda! und so Alles durch, was die alten Maestri und die Neuern nur in diesem Stil componirt haben. Mit Trompeten und Pauken in großen Kirchenräumen macht sich Das prächtig, aber so mit dünnem Klaviergeklimper begleitet und die oft achtstimmigen, ganz labyrinthisch verwickelten Fugen von zimperlichen Chören gesungen – ich gebe Ihnen mein Wort, man wird vom Zählen allein schon confus, wie sehr erst von dem Durcheinander, wo der Eine Juda! der Andere Israel! der Dritte Jerusalem! jauchzt und das kleine quiekende Klavierchen dazwischen summt und summt und summt ... Mir ist manchmal in dem Chaos das Notenblatt vor Schreck aus der Hand gefallen, aber die Andern stürmten fort wie die Makkabäer, und die gute Anna, die das Ganze am Klavier dirigirte, verlor fast die Besinnung, bis wir zuletzt am Finale ankamen und wie ankamen! Der Eine um acht Takte zu früh, der Andere um zwölf zu spät. Kurz es sind geistliche Charivaris ...

Die aber doch sehr belustigend gewesen sein müssen, sagte Dankmar, über diese Schilderung lachend; warum haben Sie sie aufgegeben?

Ja! Sie waren drollig, fuhr Melanie fort. Denken Sie sich [626] nur, wenn Sie sie kennen, die dicke kleine Trompetta; denken Sie sich diese Frau mit glühender Andacht im Chor ihre Altstimmen zusammen halten und die Flottwitz immer wie in höhern Sphären und ihre blonden Tirebouchons wie eine Löwin vom Stamme Juda schüttelnd, als wollte sie die Demokratie radical zu Grunde singen ... Die Herren sind theils junge Assessoren, theils Lieutenants, drei Brüder der Flottwitz allein schon, und der Vierte, der noch in der Cadettenschule ist, würde sich auch schon angeschlossen haben, aber seine Stimme setzt sich eben ...

Melanie lachte ausgelassen.

Ich habe von diesen Akademieen gehört, besann sich Dankmar. Der alte Präsident soll sie sehr lieben ...

Dankmarn wurde nämlich erinnerlich, daß sich Einige seiner juristischen Collegen der besondern Protection dieses ehrwürdigen Greises erfreuten, weil sie gute Stimmen hatten ...

Gewiß liebt er diese Concerte, aber nicht der Musik wegen! sagte Melanie.

Weswegen denn?

Das sollen Sie erfahren und zugleich den Grund, warum ich ausgetreten bin. Ich fühlte nämlich allerdings, daß ich weltliches Kind den anwesenden Damen nicht begeistert genug für diese Art von Musik vorkam. Ich singe herzlich schlecht, aber Das weiß ich, ich zähle gut. Und eigentlich ist Das bei diesen Motetten und Oratorien die Hauptsache. Die Flottwitz gerieth nun beim Zählen immer ins [627] Schwanken. Sie zerstreute sich, wenn 38 oder 49 über einem Pausenzeichen stand und wir blos von Anna von Harder's Blick abhängig waren, um uns wieder bis zu unserm Anfang zurechtzufinden. Die Flottwitz sah nämlich bei einer solchen großen runden Zahl gleich auf die Achselklappen ihrer Brüder und verlor sich in Betrachtungen über die Zahlen der Regimenter, die auf den Knöpfen derselben zu lesen stehen. Wahrhaftig, sie war weit mehr beim 38sten und 49sten Linien-Infanterieregiment, als bei dem Chor der Pharisäer und Schriftgelehrten, den wir mit 38 und 49 Taktpausen als Mädchen vom Stamme Benjamin oder Ruben ablösen mußten. Nein, nein, zählen konnt' ich wirklich ganz allein, und Takt glaub' ich immer zu haben. Aufrichtig, ich sehnte mich nach frischerer, lebendigerer Musik, so gering ich sie auch unterstützen konnte. Als ich einmal die »Jahreszeiten« zu singen vorschlug, kam ich gar übel an. Man erklärte die »Jahreszeiten«, besonders von Seiten eines widerlichen alten Ausschusses, der sich um die sanfte, treffliche Anna von Harder gruppirt hatte und sie tyrannisirte, für eine im Grunde frivole Musik, die alle Kennzeichen ihres Ursprungs aus dem Wiener Prater an sich trüge. Minder leichtfertig erschien die »Schöpfung«. Als dann abgestimmt wurde, was man wählen sollte zum nächsten Winterstudium, blieb ich mit zwei Lieutenants und drei Assessoren für die »Jahreszeiten« und, in Folge eines Amendements, sogar für die »Schöpfung« in der Minorität. Der »Tod Jesu« siegte.

[628] Ist doch auch ziemlich modern! warf Dankmar ein, den diese Mittheilungen aus gewissen exclusiven Kreisen der Gesellschaft interessirten ....

Würde auch nicht gesiegt haben, erzählte Melanie, wenn nicht die Flottwitz das Wort ergriffen und dem »Tod Jesu«, außer seiner größern Heiligkeit noch besonders eine militairische Ehrwürdigkeit zuerkannt hätte.

Militairische? fragte Dankmar erstaunt.

Militairische! Der »Tod Jesu«, sagte die Flottwitz, wäre ein Garnisonkirchen-Oratorium, Graun wäre Kapellmeister des großen Friedrich gewesen und hätte die Märsche für Trommel und Querpfeife componirt, die noch jetzt ein gewisses glorreiches Kriegsheer täglich spiele und kurz und gut die rein fromme Partei und die Partei der musikalischen Puristen wurde unterstützt von der jetzt so fanatisch patriotischen des Reubundes. Man machte aus dieser Wahl eine Tendenz- und Zeitfrage. Ich blieb für den österreichischen Haydn in der großdeutschen Minorität. Die beiden Lieutenants, die Brüder der Flottwitz, die mich aus Galanterie unterstützt hatten, bekamen von Friederiken Wilhelminen, ihrer Schwester, einen ihrer bekannten durchbohrenden Blicke. Sie behandelte die armen Menschen fast wie Fahnenflüchtlinge, die ihrem Könige den Eid gebrochen hätten. Großer Gott, sagt' ich, liebes Fräulein von Flottwitz, beruhigen Sie sich, Ihre beide Herren Brüder werden das Vaterland darum noch nicht verrathen, daß ihr Ohr nicht geübt genug scheint, aus dem »Tode Jesu« den alten Dessauer herauszuhören.

[629] Wie scharf! rief Dankmar lachend.

Melanie fuhr fort:

Löste dieser Verfall fast ohnehin schon das lockere Band –

Dem Ihre Schönheit, sagte Dankmar, Ihr Vorzug vor den andern Nachtigallen, noch weniger Festigkeit wird gegeben haben –

Spotten Sie nur! erwiderte Melanie. Ich nehme das Compliment doch an. Allerdings behauptete man, besonders der Ausschuß, der so gelb war, wie das alte Notenpapier, das wir absangen, ich machte durch Coquetterie die Bässe und Tenöre im Zählen irre. Jetzt frag' ich Sie, kann ich dafür, daß ich so gut zählen kann? Kann ich dafür, daß man den Wink, den ich immer den Bässen und Tenören gab, wo sie anzufangen hätten, so misverstand, als wollt' ich ihnen etwas zublinzeln, was ganz außerhalb des Generalbasses lag? Diese Eselsköpfe brachten mich mit meinem Kunsteifer auch leider selbst in dies falsche Licht. Wenn ich nickte und damit blos sagen wollte: Jetzt kommen Sie! Aufgepaßt! so wurden die Tenöre roth und die Bässe verwirrten sich, fragten mich: Wie befehlen Sie, Fräulein? und setzten regelmäßig falsch ein, bis endlich eine der giftigsten vom Ausschuß, die Gräfin Mäuseburg, die sogenannte Chinesische-Missions-Äbtissin, rief: Fräulein Melanie, die Direction sitzt hier am Klavier und wird schon angeben, wann die Herren einzufallen haben. Schonen Sie das Feuer Ihrer Augen!

Diese Äbtissin! rief man scherzend und unterstützte [630] dadurch den lustigen Humor, in dem Melanie plaudernd fortfuhr:

Auf diese fanatische Bemerkung schwieg ich und überließ meine Vertheidigung der guten Anna von Harder, die für mich das Wort ergriff, meine gute Absicht anerkannte und mein Talent im Zählen so ausnehmend rühmte, daß ich froh war, nicht die Tochter eines Kaufmannes zu sein, wie eine solche neben mir stand und sich auf die Lippen biß, aus Furcht, von meinem Lobe etwas abzubekommen. Der Friede war nun zwar hergestellt und das Misverständniß ausgeglichen, allein mein Entschluß auszutreten stand fest ....

Und der wahre Grund? fragte Dankmar.

Als ich wegen der Menagerie des alten Präsidenten zum dritten male in Ohnmacht fiel –

Ja Das ist der Grund! sagte die Justizräthin; ich glaubte anfangs immer, wenn Melanie nach Hause kam, es griff sie das Singen an, wofür wirklich ihre Kehle nicht gebaut ist –

Mutter auch du? rief Melanie komisch.

Liebes Kind, Sanitätsrath Drommeldey hat dich untersucht und Alles gesagt, was dir in der Kehle ...

Abscheulich! Was soll diese Anatomie!

Genug, fuhr die Mutter fort, ich glaubte immer, du strengtest dich über die Gebühr und gegen dein Vermögen an. Da kam's denn heraus, daß sie förmliche Nervenzufälle gehabt hat über das garstige Gethier, mit dem sich der alte kindische Mann, der Obertribunalpräsident, umgibt ....

[631] Nenn' ihn nicht kindisch! rief Melanie. Um Gotteswillen nicht! Ich verehre ihn wie einen Heiligen. Nein! Nein! Mutter! So denk' ich mir die Hohenpriester aus dem Alten Testament.

Und fast wie Siegbert einst zu Hackert bei Tempelheide gesagt hatte, fuhr sie fort:

Daß ein Mann, wie der, der neunzig Jahre zählt und siebzig Jahre lang die Acten der Erbärmlichkeiten aller der Menschen, die unsern großen Staat bewohnen, zu sehen bekommt, sich zuletzt den Thieren zuwendet, nimmt mich nicht Wunder. Aber noch mehr, er liebt die Thiere nicht als Thiere, sondern er beobachtet und zähmt sie und hat die erstaunlichsten Beweise, wie bildungsfähig z.B. die mir in den Tod fatalen Katzen sind ...

Ist Das nicht Tollheit? sagte die Mutter.

Dankmar berichtigte gleichfalls diese rasche Auslegung und behauptete, daß man über diese Dinge wol auch eine tiefere Auffassung haben könne. Die Übergänge der Natur in den Geist wären wunderbar genug. Wer könnte die Grenze bestimmen, wo der Mensch willenlos würde und einer dämonischen Macht seiner Triebe wie ein von ihnen gefesselter Sklave anheimfalle? Dankmar erwähnte ohne Weiteres ... das Nachtwandeln ...

Frau von Reichmeyer, die in ihrem Wagen ganz nahe war und von dem lauten Gespräche Vortheil zog, bat, dies Thema doch ja nicht zu verlassen ... Sie gehörte zu denjenigen Jüdinnen, von denen man nicht blos sagen konnte, daß sie Christinnen geworden waren, sondern daß sie, [632] wie man es gennant hat, »christelten«. Es war längst ihr Wunsch, da sie Stimme besaß, an den berühmten geistlichen Akademieen in Tempelheide theilzunehmen, an Gesangleistungen, für die sich sogar der Hof interessirte ... diese Vorliebe für alte Musik spielte ja auch in die ganze eigenthümliche Romantik hinüber, mit der sich der Thron des Staates, in dessen Grenzen wir uns befinden, so bedeutsam umsponnen hatte ...

Sie bat Melanie, den Gegenstand doch ja nicht zu verlassen und aufrichtig zu sagen, was ihr denn eigentlich in Tempelheide so Abschreckendes begegnet wäre? ...

Melanie aber, weit mehr jetzt von der Erwähnung des Nachtwandelns erschreckt, antwortete nicht.

[633]
13. Capitel. Natur und Geist
Dreizehntes Capitel
Natur und Geist

Als Melanie, auf die Alle blickten, zu lange schwieg, ergriff Dankmar das Wort, knüpfte wieder an das abgebrochene Thema an und sagte:

Der alte Obertribunalspräsident ist für seine Liebhabereien ja weltbekannt. Man verdankt ihm werthvolle Versuche über die Schmiegsamkeit und Bildungsfähigkeit der Thiere: seit Jahren sammelt er an einem Werke über die Thierseele. Demnach kann ich mir wol denken, wie peinlich es sein muß, auf Tempelheide aus- und einzugehen und unter all den Raben, Kranichen, Kaninchen, Affen, Meerschweinchen, Hunden und Katzen sich durchzuwinden, Thieren, von denen er behauptet, daß sie eine Art Vernunft haben.

Gerade diese Thiervernunft, sagte Melanie, die etwas die heitere Stimmung herzustellen versuchte, ist so peinlich. Ich weiß nicht, ob ich es nicht lieber hätte, in allen diesen Thieren gewöhnliches dummes und böses Vieh zu vermuthen, vor welchem man nur einfach sich zu hüten hat, als anzunehmen, das Alles sind gezähmte edle Charaktere, die uns, wenn sie nur sprechen könnten, die wunderbarsten Geheimnisse verrathen würden ...

[634] Nein, nein, sagte die Mutter nun auch lachend und die heitere Stimmung festhaltend, nein, nein, gesteh' es nur ganz einfach, Melanie! Du hast eine Antipathie gegen Thiere, selbst gegen Hunde und Katzen, fürchtest dich vor Truthähnen und Enten und schreist auf, wenn dich ein großer Vogel nur von der Seite ansieht. Wie ich von der Viehwirthschaft auf Tempelheide erfuhr, litt ich's nicht mehr, daß du hinausfuhrst, und so haben deine Gesangsstudien ein vernünftiges und völlig begründetes Ende genommen.

Aber erklären Sie mir nur, meine Damen, sagte Lasally, wie verhalten sich denn nur die Katzen zu diesen Concerten?

Frau von Reichmeyer verwies ihrem Bruder seine profanirende Zwischenrede.

O, sagte Melanie, die Katzen sind gerade der Grund, warum der Präsident diese Concerte besonders liebt. Er sitzt nebenan, in seinem großen Saale, unter seinen rings in Käfigen aufgestellten Thieren und freut sich der angenehmen Wirkung, die auf sie nebenan die Musik hervorbringt. Da ist auch kein Miston, der dieses Concert stört. Er hat es dahin gebracht der alte Herr, daß die geschwätzigen Thiere still sind, wenn sie unsere Akademieen hören, und nur wenn wir gar zu sehr in die Doppelfugen gerathen, hört man manchmal einen Papagai aufkreischen, daß es Einem durch die Glieder fährt.

Ich will hoffen, sagte Lasally, daß Sie sich außerdem jedesmal hinreichend mit Esbouquet versehen hatten –

[635] Auch darüber erzählt Melanie wunderbare Dinge, sagte die Mutter; es soll gerade durch die große Reinlichkeit der Thiere von dem alten Mann bezweckt werden, daß sie von ihrer gewohnten Art lassen, und Das ist wirklich vernünftig. Die Reinlichkeit veredelt jedes lebende Wesen. Des alten Präsidenten Leute sind angewiesen, in der Haltung der Thiere das Sauberste zu leisten und durch die Sauberkeit bekommt das Vieh etwas Vernünftiges.

Bartusch schüttelte den Kopf und meinte, sie würden morgen Abend an Tempelheide vorbeifahren. Er wünsche doch, sagte er, es ließe sich ein Umweg machen, so sonderbar wär' es Einem, an einen Ort zu denken, wo ein Mensch lebt, der Thiere wie Wesen höherer Art behandelt ....

Der alte Herr, erklärte Dankmar, unbefangen über Egon, der schwerlich in Paris soviel vom Leben dieser Residenz hatte erfahren können; der alte Herr ist ein ausgezeichneter Jurist und wird wol nie von seinem wichtigen Amte zurücktreten. Er arbeitet fleißiger als mancher Jüngere. Man hält ihn für streng und Viele behaupten, er ist es deshalb, weil er keine Religion hätte. Man will ihn noch nie in einer Kirche gesehen haben und doch erzählte man mir, daß er der Chef aller Maurerlogen des Landes ist und für einen tiefen Kenner der maurerischen Geheimnisse gilt ...

Ich sage Ihnen, ergänzte Melanie, daß ich diesen alten Mann liebe und bewundere.

Wie seinen Sohn! fiel Lasally spottend ein und wiederholte [636] die Scherze, die er über die Thierseele des Intendanten in der großen Welt gehört hatte.

Ich lasse nichts auf meine Excellenz kommen, fiel Melanie ein. Ich gebe Euch allerdings zu, man kann ein sehr geistreicher Vater sein und einen höchst dummen Sohn haben. Beispiele finden sich genug. Es gibt auch Viele, die regelmäßig, um diesen Satz zu beweisen, den alten Harder und unsern Intendanten citiren. Ich gebe sogar zu, daß ein Sohn seine eigenen Wege wandelt und von einem Vater aufgegeben wird, wenn er sich in Äußerlichkeiten und Eitelkeiten gefällt. Aber wer sagt Euch denn, daß mein so rasch, so wunderbar gewonnener Freund dumm ist? Im Gegentheil leuchtet aus seinen schwarzen Augen Klugheit und mitunter etwas Pfiffiges. Er geht seinen geraden Weg, weicht nicht rechts, nicht links, thut, was seine Pflicht und Schuldigkeit ist. Ist Das nicht Weisheit? Und hat er nicht vom Vater die Talente geerbt, die den Fürsten bestimmten, ihm alle seine kostbaren Schlösser und herrlichen Gärten anzuvertrauen? Hat er nicht beim Verpacken des Mobiliars eine Umsicht und praktische Kunde verrathen, die eines Tapeziers würdig war? Und bei seinen Wanderungen durch den hohenberger Garten bin ich erstaunt gewesen, wie heimisch er in Allem ist, was sich auf Gießkanne und Rechen bezieht. Es ist eine praktische Natur, die vom Vater zwar nicht seinen speculativen Geist erbte, aber seinen Adel, sein Geld, seinen hohen, geachteten Namen und eine gewisse Betriebsamkeit, die sich bei Jenem in der Liebhaberei für die Seele [637] der Thiere und bei diesem in der Pflege der todten Natur äußert. Berühren Sie bei der jungen Excellenz irgend einen in ihr Fach einschlagenden Gegenstand und Sie werden erstaunen, daß er Ihnen auf Heller und Pfennig sagen kann, wieviel ein chinesischer Pavillon in einem königlichen Garten am Rhein oder der Elbe gekostet hat. Ist Das auch nichts? Lasally, Sie schlechter Rechnenmeister! Sehen Sie nur, mit welcher Sorgfalt er seinen Auftrag schon in Hohenberg ausführte. Und hier im Sande glaub' ich nun auch die Spuren seines großen Möbelwagens zu entdecken. Nennen Sie mir den Cavalier, der seinem Fürsten soviel Hingebung zollt und sich auf Staatskosten selbst vor dem Stempel des Lächerlichen nicht scheut, der leider oft den besten und solidesten Bestrebungen in dieser Welt aufgedrückt ist!

Mir fallen da wirklich die Hofmarschälle ein, sagte Dankmar, diese Beamten, die in melancholische Betrachtungen versinken, wie sie's machen sollen, um jährlich einige hundert Thaler an Öl und Wachslichtern zu ersparen ....

Die denn doch, ergänzte Bartusch artig und sich fast verbeugend, irgend einem Künstler oder Gelehrten zugutekommen, dem man ein Bild abkauft oder eine Dedication durch ein Geschenk vergilt ....

Bartusch wollte eigentlich nur dem vermeintlichen Fürsten ein Compliment machen und gab doch dem jungen Demokraten eine bittere Lehre.

Wie es schien, waren, wie es immer nach zu ausgelassenen [638] Scherzen zu gehen pflegt, plötzlich Alle verstimmt. Die Mutter und Lasally über den viel zu lang ausgesponnenen Scherz mit dem Geheimenrath, Melanie über den schwerzulösenden Widerspruch zwischen einem Vater, den sie verehren, und einem Sohne, den sie lächerlich finden mußte, Dankmar über eine Wahrheit, die ihm aus dem Munde eines gesinnungslosen politischen Unterwürflings misfiel. Nur Bartusch frohlockte; denn durch seine Bemerkung und Dankmar's Stillschweigen darauf schien er die vermeintliche Würde ihres Begleiters getroffen zu haben, während dieser gerade an seinen Bruder Siegbert und dessen unverkauftes Gemälde dachte ...

Die andern Wagen waren alle näher gekommen. Man befürchtete einen Regenschauer und foderte die Reiter auf, gleichfalls Platz zu nehmen. Es war über Mittag, die Reiter waren ermüdet, sie stiegen ab, gaben die Pferde den Reitknechten und Bartusch war höflich genug, sich in den zweiten Wagen zu Reichmeyer's und der Wirthschaftsräthin zu setzen, während Dankmar und Lasally Melanien und ihrer Mutter gegenüber Platz nahmen.

In Helldorf beschloß man, das Mittagsmahl ausfallen zu lassen und erst im Heidekrug zu soupiren. Im besten Wirthshaus zu Helldorf war auch kein Platz zu finden; denn der große Saal hallte von einer Versammlung wider, in der mehre Redner laut durcheinander sprachen. Man hatte auf dem Gelben Hirsch schon erfahren, daß hier eine politische Besprechung stattfand. Die Wirthschaftsräthin behauptete, deutlich ihren Bruder zu hören. Man [639] horchte auf und richtig drangen die donnernden Worte an das Ohr der Reisenden: »Wenn man Familie hat, wenn man wie ich sechs Kinder ernähren muß ...« Man klatschte Beifall.

Es ist sein ewiges Lied, sagte sie, und ich möcht' es heute am wenigsten gern hören: wir fahren wol hier weiter?

Dankmar dagegen hätte gern etwas von dieser wahrscheinlich der Schlurck'schen Wahl gewidmeten Besprechung gehört. Er sah durch die Fensterscheiben auch den Heidekrüger Justus, dessen gewaltige athletische Formen über Alle hinwegragten und den man sich auch, seiner Stellung auf einem Musikchore nach zu schließen, als Präsidenten dieser Vorberathung gewählt zu haben schien. Viele Bewohner von Helldorf standen an der Thür und den Fenstern und lauschten .... Dabei gingen Mägde auf und ab und trugen Bier. Die Einen lachten, die Andern zankten. Alle Leidenschaften waren in Bewegung. Der ganze Ort sah aus wie zur Zeit der Kirchweih.

Dankmar, der eine Erfrischung nahm, konnte an der Thür kaum durch. Er hörte drinnen die donnerndsten Schlagworte, hörte Parteien sich befehden, hörte Persönlichkeiten, die Jubel oder Drohungen nachsichzogen ...

Für Wen entscheidet sich's denn? fragte er die Leute.

Man wußte noch keine Auskunft. Die Zuhörer waren Urwähler. Die eigentlichen Wähler saßen drinnen und lärmten die ihnen gegebenen Aufträge aus.

Schlurck wird da schwerlich gewählt! sagte er sich.

[640] Solchem Tumult ist der feine satirische Philosoph nicht gewachsen. Ein Schlurck kann Alles, nur das Schreien nicht ertragen ....

Er hatte die Absicht, an die Wägen zurückzugehen und die Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen, daß eben Herrn Justizraths Schlurck politische Laufbahn hier entschieden würde. Aber Melanie hatte mit einem andern Gegenstand vollauf zu thun. Bei einer Gruppe Umstehender fragte sie nach dem Wagen des Geheimraths. Man erzählte ihr, daß der große Behälter vor noch nicht vier Stunden hier durchgekommen und allgemein wäre angestaunt worden. Die genauere Erkundigung, die sie nach den Gendarmen, den Bedienten einzog, verdrängte in Dankmarn das politische Interesse und erfüllte ihn fast mit Rührung. Er sah, wie das waghalsige Mädchen treu und fest an dem Gedanken hielt, ihm, wie sie versprochen hatte, das geheimnißvolle Bild zu erobern ....

Als man weiter fuhr, betrachtete Dankmar auch Melanien lange mit einem Interesse, dessen eigentliche Natur zu bezeichnen ihm fast schwer wurde. War es die unwiderstehliche Macht ihrer Schönheit, die sich gleich blieb, auch wenn man sich an ihre erste blendende Erscheinung gewöhnt hatte? War es ihre in aller Bestimmtheit verrathene Absicht, ihm und nur ihm zu gefallen? War es die Bescheidenheit, mit der sie sich ihm als ein Wesen von mäßigen Ansprüchen auf Geist und höhere Empfänglichkeit gezeigt und sich andern pretentiöseren Erscheinungen, von denen sie erzählte, unterordnete?

[641] War es der neckende humoristische Vortrag ihrer Erzählungen, der plötzlich einem halb scherzenden, halb ernsten Unmuth Platz gemacht hatte? Wie erstaunte Dankmar, als er sich nach allen diesen Regungen zuletzt auf einem Gefühle für Melanie ertappte, das er fast Mitleid hätte nennen mögen ...

Mitleid? Nimmermehr! rief es in ihm. Und doch war es Mitleid. Mitgefühl für Etwas, was er in Melanie's Wesen sich kaum selbst bezeichnen konnte, was aber Niemand mehr zu fühlen schien als sie selbst. Ist es nicht unser Mitgefühl erregend, ein Wesen zu beobachten, das im vollen Bewußtsein ihres Sieges über die Männer, doch ein edleres Bedürfniß zu empfinden scheint als die bloße Genugthuung ihrer Eitelkeit, und das dennoch trotz dieses bessern Gefühles von ihrer leichten, ihr einmal zur andern Natur gewordenen Art nicht lassen kann? Menschen, die unter dem Druck ihres Schicksals leben, können wir bemitleiden, ohne daß uns dies Gefühl gerade für sie erwärmt. Menschen aber, die unter dem Drucke ihres Charakters leben, bemitleiden wir oft von Herzen oder wir können oft nicht sagen, sollen wir sie hassen oder lieben.

Lasally bemühte sich Anekdoten zum Besten zu geben. Er war stark darin und nicht eben wählerisch. Als ihm Melanie sagte, sie hätte sie schon zu oft von ihm gehört, begann er vom Residenzleben, den Matadoren der jungen fashionablen Gesellschaft und trug alle seine Mittheilungen so vor, als könnte er sich dem Fremden, von dessen [642] räthselhaftem Charakter er Dasselbe vernommen hatte wie die Andern, dadurch für die Zukunft empfehlen. War es der junge Fürst von Hohenberg, so konnte er sich um so sicherer dünken, da Melanie wol mit einer Leidenschaft für ihn spielen, aber doch bei ihrem im Ganzen besonnenen Charakter mit ihr nicht Ernst machen konnte. Als es Lasally heute nicht gelingen wollte, durch seine kurze, trockne und nicht unliebenswürdige Art Lachen zu erregen, lenkte er wieder auf das früher abgebrochene oder steckengebliebene Gespräch ein und sagte:

Aber Fräulein, noch sind Sie uns schuldig, Ihre nähern Berührungen mit den Thieren des Präsidenten zu schildern. Wir wissen nun, daß die geistlichen classischen Musiken in Tempelheide aufgeführt wurden, um Katzen daran so zu gewöhnen, daß sie nicht mitwirkten; aber mußten Sie denn die Menagerie selbst passiren, um in den Saal der Akademie zu gelangen?

Melanie war ernst geworden und antwortete nicht.

Ich denke mir Das allerdings recht gefährlich, fuhr Lasally fort. Schon wie Sie anfuhren, grüßte Sie am Thorweg ein widerlicher Truthahn, der sich wie ein Reactionair nach etwas Rothem an Ihnen umsah, um in Zorn zu gerathen. Nun kamen wol kleine Schafe mit Silberglöckchen und wollten Ihnen das Futter aus der Hand fressen, aber dazwischen drängte sich ein Ziegenbock, den der Präsident gewiß zu einem gesinnungsvollen Schneider abrichtet und mustert Ihre Toilette. Die Enten, besonders die Erpel, haben es immer mit den Beinen der Menschen zu [643] thun. Ich höre Sie schreien, Melanie, wie so Einer von diesen Erpeln angewackelt kam und höchst neugierig nach Ihren Schuhen sah. Nun setzte sich wol gar Einer von den Raben des Präsidenten, die seine klügsten Thiere sein sollen, weil sie direct mit dem Galgen verkehren, auf Ihre Schulter und zauste an Ihrem Kopfputze. Nicht wahr? So ging es Ihnen wörtlich und ich weiß, Ihre Nerven sind schwächer als die der Flottwitz, die wir auf dem Jockeyclubb gewöhnlich die Schwester des Regiments nennen.

Beinahe so, lieber Freund, sagte Melanie verächtlich und schwieg.

Dankmar, um vor der entscheidenden Ankunft im Heidekrug eine bessere Stimmung zu erzeugen, spielte diese Spöttereien auf etwas Ernsteres hinüber.

Alles zusammengefaßt, sagte er, bleibt der steinalte Chef unserer praktischen Justiz ein merkwürdiger Mensch. Ich halte ihn nach Allem, was ich nun von ihm weiß, für einen Naturphilosophen. Er gilt bei manchen frommen Beamten, und wir haben deren noch viel, für einen Neologen, einen Atheisten. Viele beschuldigen ihn, er glaube an die Seelenwanderung und nur die Freimaurer nehmen ihn in Schutz. Ich gehöre diesem Bunde selbst nicht an, was ich aber von ihm zu wissen vermuthe, so denk' ich mir, der alte Harder ist ein Priester der Naturreligion und liebt das Geheimmß, nicht weil es Geheimniß, sondern ein Weg zur Offenbarung ist. Daß er an die Perfectibilität der Thiere glaubt, scheint [644] mir eine Grille; denn was hilft es, einen Hund und eine Katze so zu gewöhnen, daß sie sich nebeneinander vertragen –

Und in dem Falle nicht accompagniren, fiel Lasally ein, daß Frau von Trompetta Solo singt –

Der Naturzustand, fuhr Dankmar fort, ist der, der doch zuletzt allein und einzig über das Wesen der Thiere entscheidet. Kann man eine ganze Race nicht umformen, nicht aus Löwen (für Jeden, nicht blos für den Wächter) Schooshündchen machen, so entscheidet am Ende die Zähmung sehr wenig und beweist überhaupt nichts für die Thiere, sondern nur für die große Kraft des Menschen und seines übermenschlichen gewaltigen Geistes ...

Sie müssen den Präsidenten kennen lernen, sagte Melanie –

Aber rasch, ergänzte Lasally; es ist bei ihm die höchste Zeit ... Gerade noch eine halbe Minute vorm Abfahren.

Diese eigenthümlichen Menschen, fuhr Dankmar fort, diese Originale, diese Wundermenschen sterben leider fast Alle aus ...

Welche Menschen? fragte Melanie's Mutter, die Dankmar's ernster, würdiger Erörterung nicht recht gefolgt war.

Die Denker, sagte Dankmar, die Menschen von Eigenthümlichkeit und apartem Forschergeist, die praktischen Philosophen, die Autodidakten, die Sternseher auf eigenem Dachgiebel, die Mathematiker auch in der Form und der Weise ihres ganzen Lebens, die Sonderlinge, mit [645] einem Worte alle Die, welche, ohne eitel zu sein, sich merkwürdig von der Masse unterscheiden ...

Ich verstehe, sagte Lasally. Sie meinen z.B. solche alte Uhrmacher, kleine vertrocknete Männchen, die alle Vierteljahre in die Häuser kamen und die Wanduhren ausbliesen und vom Staube putzten. Zu meinen Ältern, weißt du noch, Schwester, kam immer Einer mit einem ganz kleinen Zöpfchen, das er hinten in der Weste versteckt hatte .... Er kam jeden Monat zu uns, als wir noch alte Schlaguhren hatten. Ob das alte Eisoldchen noch lebt?

Der alte Eisold? Ich kenn' ihn wohl, sagte Frau Schlurck.

O, fuhr Dankmar fort, ich kenne das alte Eisoldchen nicht, aber verlassen Sie sich darauf, er ist todt! Alle gehen hin, die noch etwas von der Art des vorigen Jahrhunderts in seiner Blütezeit haben. Vielleicht gelingt mir's durch Ihre Protection, Fräulein, den Präsidenten einmal in Tempelheide zu sprechen. Er ist für die Juristen sehr unzugänglich und gibt in Tempelheide vollends nur Denen Audienz, die sich ihm im Interesse seiner Studien über die Thierseele oder mit dem Zeichen der Freimaurer nahen.

Melanie lächelte über die consequente Art, wie Dankmar seinen Charakter als Rechtsverständiger festhielt.

Anna von Harder, sagte sie, kann Sie bei ihm einführen ...

Zufällig war der Wagen, in welchem Bartusch fuhr, fast dem der Justizräthin dicht zur Seite gekommen. Bartusch [646] griff von den letzten Äußerungen eine auf, die sich auf den alten Uhrmacher Eisold bezog, und rief herüber:

Behüte! Der alte Eisold lebt. Brandgasse Nr. 9. im dritten Hofe drei Treppen hoch. Hackert wohnt ja bei ihm ...

Damit fuhren die Wägen wieder hintereinander und in der frühern Ordnung.

Die Erwähnung Hackert's brachte einen Miston in die Stimmung der jungen Gesellschaft, die im Wagen der Justizräthin saß.

Lasally, der unterwegs immer an seine gerichtliche Untersuchung denken mochte, sagte:

Beim alten Eisold wohnt Hackert? Sieh! Sieh!

Die Justizräthin, die Melanie's Unruhe bemerkte, wollte die Wiederaufnahme dieses Gegenstandes vermeiden und fiel sogleich ein:

Brandgasse Nr. 9. Großer Gott! Wohnt der alte Mann in den jammervollen Häusern, wo die Armuth und das Elend hausen ......

Ist die Brandgasse nicht eine schmale, enge, alterthümliche Straße? fragte Dankmar.

In der Altstadt ....

Wo nicht Sonne, nicht Mond scheinen?

Uralte Häuser, die mein Mann administrirt ...

Es sind Häuser ...

Die der Commune gehören; Häuser, die alle an dem Eingang mit dem Kreuz und dem vierblättrigen Kleeblatt bezeichnet sind ....

[647] Dankmar horchte staunend auf.

Die Stadt zieht aus diesem Elend und Jammer, sagte die Justizräthin, jährlich bedeutende Summen. Man glaubt es nicht, was Alles auf den Ertrag dieser Höhlen der bittersten Armuth angewiesen ist. Ich versuchte sonst, sie zu durchwandern und mich nach den Leiden dieser hier eingepferchten Bevölkerung zu erkundigen; aber ich verzweifelte bei dem Anblick und hielt ihn auf die Länge nicht aus ... ich konnte zuletzt nicht mehr thun, als mich an die Gesellschaft der Frauen anschließen, die diesen Armen beizuspringen sich zur Lebensaufgabe gemacht haben und gern würde ich thätiger im Frauenverein mitgewirkt haben, wenn ich nicht immer von diesen Damen hätte hören müssen: das Christenthum wäre solchen Unglücklichen nützlicher als frische Wäsche. Zu dumm für solche Sätze, zog ich mich zurück und beschränkte mich auf Geldbeiträge.

Diese Häuser gehören zu der Erbschaft ... sagte Dankmar vor sich hin und verfiel in ernstes Nachdenken.

Lasally erwachte aber aus seinem Grübeln und sagte mit einem Griff in die Tasche:

Beim alten Eisold! Himmel! Jetzt begreif' ich die Form dieser Kugeln. Es sind ja Uhrgewichte ....

Damit zeigte er die bleiernen, kleinen runden Körper, die man anfangs für Spitzkugeln gehalten hatte und die in der That auch für Uhrgewichte gelten konnten.

Lasally wünschte weitere Erörterung, Dankmarn drängte die Frage nach dem Verhältniß des Justizraths [648] zu jenen Häusern in der Brandgasse, von denen man sagte, daß die städtische Commune von ihnen mit unnachsichtlicher Strenge Abgaben eintreibe .... Melanie aber machte durch ein einziges: »Ich bitte!« und ein Zurückstoßen der von Lasally dargehaltenen Kugeln oder Uhrgewichte der weitern Erörterung ein Ende und brach kurz und entschieden von einem Gegenstande ab, der jede der in diesem Wagen befindlichen Personen anders und entgegengesetzt, aber Keinen in erfreulicher Art aufzuregen schien ...

. .....Mit der flachern Gegend war auch das Wetter unfreundlicher geworden. Es fing an zu regnen. Man schlug hinten wol die Wägen auf, aber nach vorn blieben die Herren ungeschützt und mußten sich mit Regenschirmen behelfen. Das gab nun eine unerquickliche Fahrt. Man lachte zwar, aber nur um sein Unbehagen nicht zu ernst auszulassen. Melanie und die Mutter hüllten sich in Mäntel. Jene band sogar einen Schleier über den Hut und verbarg sich in einer Wagenecke wie eine verhüllte Nonne, sich ganz ihren Betrachtungen überlassend. Nur zuweilen blitzten die großen braunen Augen zu Dankmarn hinüber, wenn er gerade nachdenklich in den Wald starrte oder zu den immer dichter heranziehenden Wolken aufsah. Die Kutscher peitschten zur Eile ...

Dankmarn waren trotz des strömenden Regens alle Stellen erinnerlich, wo er vor wenig Tagen mit dem jungen Prinzen, für den er hier selbst gehalten wurde, in nähere Berührung gekommen war und seine Gedanken [649] mit einem Manne ausgetauscht hatte, der kein Tischler sein konnte. Was lag da nicht Alles auf seiner belasteten Seele! ... Um sechs Uhr war man im Heidekrug. Er erkannte den lustigen jetzt aber nüchternen und verdrießlichen Hausknecht Dietrich und die rührsame unpolitische Liese, deren Rechnung Hackerten noch in schlimme Händel bringen konnte. Aber zu lange konnte er kaum beim Vergangenen verweilen; denn Alles, was ihn an Schlurck, den Heidekrüger, die Wahlen und den Wagen, der hier mit seinem wiedergefundenen Verluste, den alten Papieren des Tempelhauses in Angerode, gestanden hatte, erinnerte, verdrängte jetzt die Überzeugung, daß sie hier wirklich den Geheimrath von Harder eingeholt hatten. Da stand sein Landau, vom Regen triefend, da war der Möbelwagen, die Arche Noäh, wie sie jetzt von Melanie genannt wurde; da sah er am Stalle die beiden Gendarmen und die Leute des Intendanten, die von da aus den mit einer eisernen Stange verschlossenen Wagen streng behüteten ..... Wie sich Alles sammelte, über das Wetter klagte, Zimmer, Speisen verlangte, wie die Hunde an den Ketten rissen, Bello kläffte, Einer da, der Andre dorthin sich verlor, war Das ein Durcheinander zum Einbüßen aller Besinnung. Melanie flüsterte Dankmarn, als er in das Zimmer trat, das ihm die Liese für diese Nacht anwies, die kurzen aber bedeutungsvollen Worte zu:

Wie und wo das Bild herkommen soll, weiß ich noch nicht! Aber Sie haben es bis morgen!

[650] Dankmar wollte etwas Verbindliches erwidern. Sie schnitt seine Worte ab und sagte nur:

Lassen Sie, da ich nicht weiß, wie ich Ihnen das Bild zustellen kann, die Nacht über die Thür Ihres Zimmers offen! Hören Sie?

Damit verschwand sie und überließ Dankmarn dem Erstaunen über Etwas, was ihm völlig unmöglich schien. Er öffnete das Fenster des kleinen dumpfen Zimmers, um trotz des Regens frische Luft zu gewinnen. Es war ihm nicht lieb, daß er diese Kammer als jene erkannte, in welche man Hackerten geführt hatte, als man ihm nicht sagen wollte, daß er im Schlafe wandelte. Das Heu, das damals von Hackert aus dem Stalle mitgebracht wurde, lag nicht mehr im Zimmer. Dafür war der Heidekrug zu reinlich gehalten. Aber die Erinnerung war da und die erschreckte ihn doch mächtig.

Den Abend über ging es nun verworren genug in diesem Hause und auf dem Hofe zu. Die schöne Einheit der Gesellschaft war durch das Wetter und die breite Souverainetät, mit der sich die Excellenz des Wirthshauses und seiner besten Zimmer bemächtigt hatte, gestört. Jeder aß für sich. Die Damen hatten sich ganz zurückgezogen. Der Versuch, nachdem der Regen mit Sonnenuntergang aufgehört hatte, das Freie zu gewinnen, den Garten zu besuchen, in den Wald, an den er grenzte, einen Blick zu werfen, scheiterte an den stehenden Wassern und dem feuchten Grase. Dankmar war überrascht, sich so plötzlich allein zu wissen, kaum noch selbst von Melanie [651] beachtet. Er hörte viel Trepp auf, Trepp ab gehen, sah auch den Geheimrath öfters den Kopf zum Fenster hinausstecken, vernahm auch, daß die Bedienten immer in Bewegung waren. Aber so sehr seine Neugierde durch dies Alles gesteigert werden mußte, so ergab er sich doch völlig ungewiß in das Unabänderliche und überließ es der Zukunft, in das Chaos, das auf seine Brust gewälzt war, Licht zu bringen und seine Stimmung in heitere leichtere Gefühle aufzulösen.

Im Wirthssaale traf er bald mit dem reichen Banquier von Reichmeyer, bald mit dessen Schwager Lasally zusammen. Man berathschlagte über die vorsichtigste Art, zur sichern Entdeckung der Hackert'schen Frevel zu gelangen. Dankmar, dessen Besorgniß über das von ihm an Lasally abzuliefernde Pferd immer mehr stieg, schloß sich ihrer Entrüstung mit aller Entschiedenheit an und weigerte sich keineswegs, etwa verlangte gerichtliche Zeugnisse abzulegen. Reichmeyer war über Hackert weniger unterrichtet als Lasally. Dieser gestand, als Dankmar von dem krankhaften Zustande des Nachtwandelns sprach, dies bedauerliche Übel des Burschen, wie er ihn nannte, ein, bemerkte aber, die Discretion verböte ihm, über die wahren Ursachen dieses Zustandes ausführlicher zu sprechen.

Jedenfalls, sagte er, können Sie überzeugt sein, daß Das ein Mensch ist, der alle Fähigkeiten besitzt, Einem über den Kopf zu wachsen, wenn man ihn nicht zur rechten Zeit mit Füßen tritt. Sie werden doch jedenfalls zugestehen, [652] daß es ein Unglück ist, wenn Spitzbuben große Männer werden? Deshalb ist die Polizei, das Zuchthaus und im Nothfall jede andere eclatante Beschimpfung da, um die übergroße Üppigkeit solchen Talenten für immer zu vertreiben.

Dankmar verstand nicht recht diese gewaltthätigen Äußerungen und fand sie auch zu unbehaglich, um länger über sie nachzudenken oder gar über sie zu fragen. Er beschloß die Erinnerung an diese Begegnung, wenn irgend möglich, ganz aus seinem Gedächtniß zu werfen und unterhielt sich mit Lasally über andere Dinge. Im Ganzen fand er ihn klug und sehr klar, aber von merkwürdig geringem Fond. Es war ein junger Mann, den man zum Gentleman erzogen hatte und der deshalb, weil ihm die Mittel dafür zu fehlen anfingen, in einer verdrießlichen Stimmung war. Es gefiel ihm, daß Lasally etwas Offenes und Aufrichtiges hatte. Als sie Beide im Saale allein waren und einander ihre Cigarren anrauchten, sagte der Stallmeister auch ganz frei heraus:

Sie sind Prinz Egon von Hohenberg! Man weiß es. Warum wollen Sie sich auch vor mir maskiren? Ich stand sonst mit dem Grafen d'Azimont in Verbindung. Er kam vor einigen Jahren aus Paris, ich sollte ihm damals einen Stall completiren und bin darüber noch mit ihm in Verrechnung. Von seinem Verwalter erfuhr ich, daß Sie im Incognito Ihre Güter besuchen wollen, zum größten Jammer der Gräfin, die Sie liebt ...

Dankmar redete ihm diese Ansicht ganz entschieden [653] aus, indem er ihm die Wahrheit gestand, soweit sie hierher gehörte.

Ich bin ein einfacher Jurist, sagte er, Dankmar Wildungen ist mein Name, aber ich bin ein Freund des Prinzen. Ich bemerke, daß man gegen mich vorsichtig, behutsam, ja mistrauisch sich benimmt. Reden Sie doch Jedem den wunderlichen Verdacht aus!

Auch Melanien? fragte Lasally, die Augen halb zudrückend.

Auch ihr, sagte Dankmar. Sie hat mir Theilnahme bewiesen, aber es fängt mich zu verdrießen an, wenn sie mich nicht wegen meiner selbst schätzt, sondern aus einem Misverständnisse.

Sie selbst lieben sie also schon! sagte Lasally. Und deshalb möcht' ich, Sie wären wirklich der Prinz Egon ....

Man störte Beide in dieser wunderlichen Erklärung. Lasally wurde abgerufen und Dankmar schritt in der verdrießlichsten Stimmung im Wirthszimmer auf und ab. Sein Abenteuer war ihm wie zerstört. Er war mit der Nothwendigkeit, ehrenhaft und aufrichtig zu sein, in eine Collision gerathen, wo diese siegen mußte. In diesen gemischten Empfindungen störte ihn nun auch noch der Heidekrüger, der von der Helldorfer Wahlbesprechung zurückkam und sehr überrascht war, sein Haus so reich an Gästen zu finden. Er erkannte Dankmarn sogleich wieder, hörte von ihm die genaue Angabe aller der Personen, in deren Gesellschaft er angekommen war und erwiderte [654] auf die Frage wegen der politischen Versammlung, die Dankmar an ihn richtete, mit einem sonderbaren Gemisch stattlicher Würde, aber auch ebenso großen Selbstvertrauens.

Es wird nun doch dahin kommen, daß man mich, nicht den Justizrath wählt, sagte er. Es ist nicht möglich, sich dem Vertrauen seiner Mitbürger zu entziehen. Ich habe mich lange gesträubt, ein so wichtiges Amt, wie das eines Volksvertreters, anzunehmen, allein der große Augenblick und die Gefahr, in der sich unser Vaterland befindet, reißt Jeden fort, auch Den, der nur geringe Gaben hat und die, die er vielleicht besitzt, nicht wie ein Gelehrter ausbilden konnte. Das Ministerium schwankt. Es wird sich nicht halten können und was an mir ist, würd' ich der Letzte sein, der es von seinem Falle rettete. Es genügt Keinem; dem Adel nicht, dem es zu frei, dem Pöbel nicht, dem es zu gemäßigt ist. Die Verwirrung in der Hauptstadt soll grenzenlos sein und umsichtiger, besonnener, ruhiger Vaterlandsfreunde bedarf es mehr denn je. Ich bringe wenigstens meinen guten Willen mit.

So hätte also der Justizrath Recht gehabt? sagte Dankmar, erstaunend über die gewandte Art des Heidekrügers, sich zu fassen und auch in Worten auszudrücken.

Ich schlug ihn vor, sagte Justus, die Achseln zuckend. Ich nannte Alles, was man zum Lobe eines so gelehrten Mannes sagen kann, der in großem Ansehen steht. Aber man scheut sich jetzt, von Advocaten zu hören. Man hat kein Vertrauen mehr, seitdem Die, welche am gewandtesten [655] von den Rechten der Menschen sprachen, kein Wort mehr für die Pflichten hatten. Das Eigenthum ist es, bester Herr, das nicht in Gefahr kommen darf. Man muß nicht zittern dürfen vor einem tollen Durcheinanderwühlen von Mein und Dein. Man muß sich sogar nicht fürchten müssen vor Dem, was man uns von den Rechten der Andern schenkt; denn wie bald würde man wieder von Solchem, was uns nun gehören soll, doch wieder Andern abzugeben haben!

Sie sind conservativ geworden, sagte Dankmar, und haben als reicher Mann alle Ursache, vor einer zu wilden Gährung der Köpfe Haus und Hof zu sichern. Aber der Justizrath wäre doch unstreitig auch ganz Ihrer Meinung gewesen ....

Der Heidekrüger wurde nachdenklich. Er sah voraus, daß seine Stellung dem Justizrath gegenüber recht ärgerlich war ...

Dankmar erleichterte ihm seine Verlegenheit und meinte: der Justizrath würde wol zu weit rechts gesessen haben?

Es ist sehr schlimm, sagte der Heidekrüger kopfschüttelnd, daß es soweit hat kommen müssen, jeden Menschen gleich links oder rechts unterzubringen. Wenn es nach mir ginge, setzte ich mich auf die äußerste Linke und stimmte rechts! Was sollen denn diese Unterschiede? Wozu denn dieser Zwang, den der Parteigeist schon ausübt, eh' man nur den Saal der Sitzungen betritt? Ich kann den Schwätzern nicht folgen und ich kann auch der Regierung nicht [656] folgen ... sagen Sie mir die Stelle, wo ich mich hinsetzen soll?

Ins Centrum, meinte Dankmar ironisch, und da müssen Sie denn doch noch Minister werden, wie der Justizrath gesagt hat ...

Indem brachte die unpolitische Liese ein Packet neuer frischangekommener Zeitungen, das sie unwirsch vor ihrem begierig darüber herfallenden Herrn hinwarf. Es waren deren eine so reiche Auswahl, daß Dankmar sagte:

Alle neuen Zeitungen? Sie treiben ja die Politik wie Metternich!

Das sollte Sie freuen, bester Herr, erwiderte Justus, die Blätter begierig auseinanderfaltend. Das Licht besserer Erkenntniß, die Verbreitung der Hülfsmittel, um das Wahre von dem Falschen zu unterscheiden, that endlich noth. Wir haben auch früher in den Zeiten des Druckes, wo unsere Klagen in dem jämmerlichen Institut der Provinzialstände ungehört verhallten, nicht die Hände in den Schoos gelegt. Sehen Sie, daß ich mich wohl vorbereitete auf eine bessere Stunde und las, was uns frommen kann, nun sie endlich geschlagen hat.

Damit öffnete Justus nicht ohne einige Zaghaftigkeit und geschmeichelte Verschämtheit die Thür eines Nebenzimmers. Es war ein Cabinet, recht traulich und fast wie das Studierzimmer eines Gelehrten anzusehen. Da waren Epheuranken am kleinen Fenster, Vogelbauer hingen mit einigen schon schlummernden Canarienhähnen, ein Stehpult mit einem Drehstuhl davor zeigte Spuren fleißiger [657] Benutzung sowol des Tintenfasses wie der Streusandbüchse. Das Auffallendste aber war eine reiche Bibliothek. Hinter den Glasfenstern eines hohen Bücherschranks las Dankmar in der Abenddämmerung an dem Rücken der Bücher: Rotteck's Weltgeschichte, Das Pfennigmagazin, Welcker's Staatslexikon und eine Menge von Schriften, die früher zu den verbotenen gehörten und meist in Altenburg, Hamburg oder im Auslande erschienen waren ...

Diese verbotenen Bücher, bemerkte Justus, enthielten viel Falsches, allein man mußte sie sich anschaffen, um auch das Gute sich anzueignen, das sie mit dem Falschen zugleich brachten. Wahrheitstrieb erschien damals für unerlaubte Freisinnigkeit. Ich galt viele Jahre für einen schlimmen Feind des Königs und wurde von seinen bösen guten Dienern arg verfolgt. Diese Schriften, die ich mir mit List und Gefahr verschaffen mußte, lagen alle versteckt und sind erst jetzt gebunden worden. Es war wahrhaft traurig, daß man etwas hüten und heimlich schützen mußte, was man nur las, um es sehr bald als Übertreibung zu vergessen. Doch war auch manches gute Korn unter der Spreu, und Das soll jetzt aufgehen und gute Frucht bringen. Nicht wahr, Herr?

Dankmarn war sonderbar zu Muthe. Er mußte den Mann, der sich da so ganz aus eigenen Mitteln emporgerafft, eine Bildung und sogar eine Meinung sich erworben hatte, von ganzem Herzen achten und doch misfiel ihm das Selbstgefühl des Heidekrügers, sein gewichtiger, [658] feierlicher und dann wieder naiver und gemachter treuherziger Vortrag und mehr noch als Dies seine egoistische Auffassung des Staats. Als der Heidekrüger das Kämmerchen wieder schloß und nach den Zeitungen griff, um mit großer Spannung selbst noch in der Dämmerung, ehe man Licht brachte, ihren Inhalt zu überfliegen, mußte er sich sagen, daß ja zuletzt der Absolutismus eines Fürsten von Gottes Gnaden nicht schlimmer ist als so ein Patriot von Gottes Gnaden, der ganz wie Jener den Staat aus seinem eigenen Ich herleitet. Dennoch gefiel ihm wieder, als dieser Mann, den er fast für den rechten Urtypus des politisirenden deutschen Michels hätte nehmen mögen, beim Umblättern der Zeitungen sagte:

Diese albernen sogenannten Eingesandts! Ist's denn möglich! Die Gesinnung möcht' ich hingehen lassen, obgleich sie in übertriebener Unterwürfigkeit nur den Rückschlag in die alte dumme Zeit zu weit befördern, aber sieht man nicht jeder Unterschrift an, daß sie von Menschen herrührt, die gleichsam dem Landesfürsten sagen mögen: Merkst du dir denn auch meinen Namen? Unterstützest du mich denn nun auch bei Gelegenheit oder befiehlst den Ministern, meinen Sohn zu befördern? Da flucht ein Rittergutsbesitzer der Umgegend hier über die Demokraten und unterschreibt sich groß und breit mit seinem ganzen Major außer Diensten und allen Kreuzen, deren Inhaber und Ritter er ist. Aber wir Alle wissen, daß dieser Herr Vom Busche neulich die Dreistigkeit hatte, an den König zu schreiben, seine Tochter müßte [659] doch nun wol auch das Pianoforte lernen, er könnte ihr, da er fünf Kinder hätte, kein Instrument kaufen, ob sein allergnädigster Fürst und Herr nicht die Gnade haben wollte und ihm für seine treuen Dienste –

Ein Pianoforte kaufen? sagte Dankmar, zornglühend, und setzte hinzu:

Und ich glaube fast, daß der Mann das Pianoforte bekommen wird?

Er hat es schon, sagte Justus. Ja, ja, die Geheimnisse unserer fürstlichen Chatoulle gäben das unterhaltendste Buch, das einem hamburger Buchhändler nur könnte verboten werden ...

O, rief Dankmar, müßte den König nicht Zorn, ja Scham ergreifen, wenn er sähe, worauf er die Behauptung seiner Vorrechte gründet, wenn man solche Adressen schreibt und schreiben läßt! Sind es denn freie, unabhängige Menschen, die da mit sich selbst beschränkendem, lohndienerischem Verstande seiner Gewalt zustimmen? Nein, es sind Die, denen die alte Ordnung der Dinge Vortheile brachte, die sie bei der neuen zu verlieren fürchten. Die Demokratie mag viel zügellose Elemente in sich hegen und manchen verdächtigen Ansprüchen einen schimmernden Namen geben, aber so auf die Lüge gebaut ist sie nicht, wie bei uns die Vertheidigung des alten beschränkten Landeskinder-Gehorsams. Menschen, die nie einen andern Blick in die Zukunft warfen, als der bis zu ihrem nächsten Gehaltstage oder bis zu ihrem Avancement reichte, geben sich plötzlich das [660] Ansehen, politische Gedanken zu haben und wollen den Thron befestigen, indem sie ihn auf ihren eigenen Egoismus bauen! Hätte sich das Regiment bei uns wirklich geändert, auch dieser Major Vom Busche würde sich verändert haben und sein Pianoforte von dem Tribunen oder Dictator erbetteln, der ihm gerade dem Staatsschatze am nächsten sitzend erscheint ...

Hoffentlich bei Denen ohne Erfolg! sagte der Heidekrüger etwas spitz.

Und darum, fuhr Dankmar ungehindert fort, daß solche Zumuthungen, solche Misbräuche nur bei der gegenwärtigen Form der Regierung, ihren militairischen Erinnerungen und ihrem patriarchalischen Verwachsensein mit dem Dünkel der isolirten Nationalität möglich sind, darum soll das Bessere, Vernunftgemäßere gefährlich und verderblich sein? Den Schmarotzern am Tische der Monarchie allein ist es verderblich und darum auch der Monarchie selbst gefährlich. Können sich Throne auf die Länge behaupten, die auf den Egoismus einzelner träger Classen gebaut sind? Wird man nicht endlich einsehen, daß, wie die Schrift sagt, die Lüge der Leute Verderben ist und jedes Königshaus entweder der Republik oder einer radicalen monarchischen Verjüngung weichen muß, wenn es, wie einst die Stuarts, selbst eine Partei im Staate vertritt?

Republik? sagte der Heidekrüger lächelnd. Bitte! Bitte! Nicht Republik!

Und den Kopf schüttelnd, ergriff er wieder die Zeitungen [661] und blätterte in ihnen; denn es war nun auch Licht gebracht worden und sein Nachtessen wartete ...

Dankmar ging noch einige mal im Saal auf und ab und empfahl sich kurz, um auf sein Zimmer zu steigen ... Lasally, Reichmeyer und einige der Frauen, die ihm begegneten, Alle verfolgten ihn neugierig und fast zuthunlich. Aber er war in einer Stimmung so völligen sich Vereinsamtfühlens, daß er am liebsten zu Melanie gegangen wäre, an ihre Thür gepocht und sich ihr mit ganzer Seele anvertraut hätte. Wo ist auch noch ein Trost für unbefriedigte Gemüther, wenn sie die Söhne unserer Zeit sind, als allein in der Liebe? Wo ist die Bürgschaft noch, daß in den Schrecken der Empörungen und Kriege, in den schaudervollen Gerichten der Reaction und der Rache noch etwas vom Ewigen und Menschlichen sich erhält, als in der Liebe? Wo werden noch Worte des Lebens gesprochen, wo rinnen noch Thränen der Freude, wo weht noch der Hauch des stillen Einverständnisses, wo ist noch Liebe, als in der Liebe!

Dankmar lehnte jede Einladung ab. Er warf sich auf das Lager in seinem kleinen Zimmer ...

Es mochte gegen zehn Uhr sein. Er hätte schlafen sollen; denn die Erschöpfung dieser Tage hatte seine Nerven bis zur Krankhaftigkeit abgespannt. Schon vor Übermüdung konnt' er nicht schlafen. Er hatte die Fenster geschlossen ... er riß sie wieder auf. Die runde volle Mondscheibe konnte am bewölkten Himmel nicht überall hervortreten, noch drückte Gewitterschwüle die Luft, so [662] feucht schon die Erde war, so frisch es schon herüberduftete von den durchnäßten Tannen des Waldes ...

Es war nicht ruhig im Heidekrug. Er hörte die Säbel der Gendarmen. Er hörte laut lachen und ein Hin – und Wiederhuschen auf dem Corridor. Die Thüre ließ er unverschlossen. Mußt' er nicht annehmen, daß ihm Melanie plötzlich wie im Traum erscheinen wollte? Was hatte sie vor? Wie konnte sie sich das Bild aneignen aus einem Raume, der bewacht und verschlossen war? Wird sie den Intendanten überreden? Seiner Eitelkeit schmeicheln? Ihm unmögliche Versprechungen machen?

Sogar die Eifersucht ergriff ihn, so lächerlich der Gegenstand war.

Unter ihm, im Wirthszimmer, glaubte er jetzt die Diener des Intendanten, die Gendarmen, die Jockeys Lasally's zu hören. Er warf sich nieder auf das Bett, dessen unheimliche Erinnerungen an Hackert er nicht loswerden konnte. Er blieb angekleidet, wie er war ... Nach einer Weile ließ sich doch der Schlaf nicht mehr zurückweisen. Er verfiel in einen halb wachen, halb träumenden Zustand, der ihm eine Zeit lang bleischwer aufs Auge sich senkte ... Dann fuhr er wieder empor. Er mußte eine halbe Stunde so gelegen haben. Das Zimmer war hell. Die Wolken hatten sich etwas verzogen und ließen dem Monde Raum, sein goldgelbes, fast zehrendes Licht auszugießen. War es die Erinnerung an Hackert, an dessen nächtlichen Gang auch am Schlosse, den Egon beobachtet und ihm erzählt hatte, war es die Erinnerung an [663] Hackert's gespenstisches Hinschreiten über die Wiese zum Ebereschenbaum, von dem der Jäger gesprochen, seine eigene Begegnung mit ihm am Thurm und sein Verschwinden zur Waldschlucht und dem Kreuze hin, wo des Sägemüllers Nantchen verunglückt war; waren es alle diese Erinnerungen an das fast dunkle phantasmagorische Leben eines Andern ... oder war es seine eigene nervösen Reizung ... es kam ihm vor, als fühlte er recht die ziehende, magische Gewalt der Mondstrahlen, das Verzehrtwerden von diesem trockenen, ausgebrannten Himmelskörper, der so geheimnißvoll auf die Erde wirkt, fühlte er recht das Schwinden in das geisterhafte Licht hin ... Er legte sich und glaubte zu schlafen, schlief und wachte ...

War es Traum? War es wirkliche Erscheinung? ... Er sah die Thür sich leise öffnen ... er hörte sie knarren ... Tritte schleichen ...

Ach, kam ihm der Gedanke, Das ist Melanie! Er blinzelte einmal auf, lächelte und schloß die Augen wieder ... bleischwer lag eine räthselhafte Gewalt auf seinen Sinnen ... er mochte sich erheben und konnte nicht ... er mochte reden und der Mund war wie krampfhaft geschlossen ... Wie Musik floß es um ihn her ... Er fühlte jene Schwingungen der Seele, die uns oft sind, wie die Vorahnungen der Seligkeit ... wie der Tod uns nahen mag ... So zerfließen ... so hinübergehen ... so sterben!

Er täuschte sich aber nicht. Es war ein nächtlicher Besuch, den er zu begrüßen, anzureden keine Kraft hatte ...

[664] Nicht aber Melanie war es.

Eine männliche, edle Gestalt beugte sich auf ihn nieder ... Er sah, er fühlte sie ... Er lächelte zu ihrem lächelnden, freundlichen Gruß empor.

Der Fremde hatte ein Bild in der Hand ... es war rundoval ... die Farben blaß ... Der goldene Rahmen glänzte matt im Mondenschein ... Es war das Bild einer jungen schönen Frau und Der, der es trug, war Ackermann, der Amerikaner. Leise trat der nächtliche Besuch näher, neigte sich über Dankmar, küßte abwechselnd das Bild, abwechselnd die Stirn des halbwachen Schläfers ... Dann war das Bild verschwunden, aber der Fremde, derselbe, den man Ackermann nannte, des holden Selmar Vater, blieb noch. Nach einer Weile zog er das Portefeuille aus der Brust, neigte sich über Dankmar und ... Was that er nur? Dankmar hörte etwas, wie das Klingen eines Instruments – er hörte den Schnitt wie eines Messers – nein, er fühlte etwas an sich selbst, das aber nicht schmerzte, nicht verwundete ... Seine müden Augen blinzelten ... Er wollte den Traum nicht stören ... Das Mondlicht that den Sternen der Sehkraft wehe ... Aber die Gestalt war keine Täuschung. Der Amerikaner trat zurück und betrachtete eine Locke, die er sich eben von Dankmar's Haupte geschnitten, küßte sie und legte sie mit Rührung in sein Portefeuille. Das Zimmer wurde dunkler, die Wolken traten vor den Mond ... Die Erscheinung war verschwunden.

Als Dankmar sich aufrichtete, war es ihm fast, als[665] hörte er noch die Thür klinken. Alles war still. Alles dunkel, der Mond war dicht verhüllt ... er konnte nichts unterscheiden ... Du hast geträumt! sagte er sich, und schön geträumt! ... Und Dankmar glaubte geträumt zu haben, so schwer lag die Ermattung auf ihm, daß er für Alles, was Wahrheit sein mußte, jene süße Gleichgültigkeit empfand, die die gewaltigste Reaction der Natur verrieth. Er sah nach seiner Uhr und glaubte den Zeiger schon auf Eins zu erkennen und doch war es finster ... Er kleidete sich in zwei Minuten völlig aus und warf sich ins Bett, unbekümmert um Alles, was ihm noch eben Freude oder Schmerz, Antheil oder Widerwillen eingeflößt hatte ...

Schon stand die Sonne hoch am Himmel, als Dankmar erwachte. Er sprang aus dem Bett und erstaunte, daß seine Uhr bereits über Sieben zeigte. Seine Toilette machen, nach frischem Wasser klingeln war das Eiligste, was er thun mußte.

Du hast dich verspätet, sagte er sich, den lang' entbehrten stärkenden Schlaf hat die Natur in dieser Nacht für sich mit Gewalt eingefodert ... Von elf bis sieben Uhr. Ei, du Schläfer und welch ein Schlaf! Wie bleiern lag es in deinen Gliedern ... du weißt nichts ... nichts ... Himmel, ein ganz neues Leben erquickt deinen müden Körper ... aber die Zeit hast du doch verschlafen ... Das steht fest.

Und so tummelte er sich fort ...

Da fährt er mit der Bürste durch sein Haar. Er steht vorm Spiegel und will sich den gewohnten Scheitel[666] ordnen ... Was ist das? Die Lage der Locken ist nicht die alte ... der gewohnte Strich, der Fall der Haare ist gestört ... Ein Büschel sich rundender Haare fehlte ihm dicht über den linken Schläfen ...

Er besinnt sich ... auf die Nacht! Auf den Traum! Nein, kein Traum! Wirklichkeit! Hier fehlt das Haar ... die Locke wurde abgeschnitten. Die ermatteten Augen hatten nur nicht die Kraft gehabt, sich länger offen zu halten; die Willenskraft, der Widerstand war von der Übermüdung gelähmt gewesen. Die Locke fehlte. Er sah sich im Zimmer um. Der Gedanke an das Bild ergriff ihn mit Zauberkraft. Es war da gewesen. Ackermann hatte es geküßt, hatte sich über ihn geneigt mit dem Bilde. Selmar's Vater! Wie war Das? Er rückte den Tisch, die Stühle, er warf das Bett auseinander ... noch einmal ... er faßt nach dem Kopfkissen. Da ist ... da fällt etwas in die Betten ... ein harter Gegenstand ... ein rundes Bret ... er wendet es um. Es ist das Bild!

Egon und Melanie hatten das Bild Dankmarn beschrieben, sowie er es fand. Ein weiblicher, schöner Kopf in blassen Pastellfarben ... ein goldener Rahmen gab ihm die Form eines Medaillons ... Hinten ein stärkeres Bret ... das Bild viel schwerer, als es seinem Umfange nach sein konnte. Er zweifelte nicht, daß es ein Geheimniß enthielt. Die Feder, die es durch einen Druck auf das Glas öffnete, zu suchen, trieb ihn zwar die Neugier. Aber als er einige male vergebens über das Glas gefahren war, hier drückte, da schüttelte, es von allen Seiten betrachtete und nichts [667] sogleich von der geheimen Öffnung entdeckte, war er fast froh nicht in Versuchung zu gerathen und Dinge zu erfahren, die nicht für ihn bestimmt waren.

Jetzt hätte er rufen mögen: Melanie! Selmar! Er hätte Ackermann sich an die Brust ziehen mögen ohne Erkennungszeichen, ohne Geheimbund, ohne zu wissen, wer er war und was er glaubte und dachte ... Er riß die Thür auf und rief nach dienenden Wesen, der Liese, dem Dietrich. Niemand hörte ihn. Doch war Alles in Bewegung. Trepp auf, Trepp ab hörte er rennen, toben. Man klopfte, schrie, man drohte. Was war? Was ist? Hatte man das Bild vermißt?

Rasch kehrte er zurück und verbarg es.

Da tritt die Magd ein und erzählt ihm in ihrer polternden Art: Es wär' ein Unglück geschehen, man könnte den Intendanten nicht finden. Der Heidekrüger wäre außer sich ... alle seine Bücher hülfen ihm nun doch nichts. Ein vornehmer Mann wäre auf dem Heidekrug verloren gegangen!

Dankmar bittet, ihm ruhiger zu berichten.

Gestern Abend noch spät, sagte die Liese, erlaubt der gnädige Herr den Gendarmen und Dienern im Saale auf sein Wohl zu trinken und geht dann zu Bett. Die zechen etwas lang und stehen schwer im Kopf auf und gehen zu Bett und es wird Tag und der große Wagen fährt fort, ehe noch der gnädige Herr geweckt ist. Der einzige Diener, der zurückgeblieben, wartet und wartet, der Herr kommt nicht. Excellenz! Excellenz! heißt es. Man findet die Thür [668] offen, das Bett so gut wie unberührt, der Herr muß in der Nacht aufgestanden sein und ist nun nicht da. Man sucht ihn überall. Er ist nirgend. Ganz gewiß, er hat ein Unglück erlebt. Diese Zeit! Dies Leben! Wer hält Das auf dem Heidekrug aus!

Aber so fragt die Damen, mit denen ich kam, rief Dankmar erstaunt und über Melanie's Geheimniß grübelnd ....

Die sind in aller Frühe fort .... sagte die Magd.

Melanie, Madame Schlurck und die Andern?

Alle fort, schon um fünf Uhr. Das Fräulein sagte, Sie wollten mit Ihrem Einspänner allein bleiben und später fahren. Der steht unten und wartet. Das Hündchen winselt nach Ihnen. Hören Sie's?

Bello kratzte an der Thür. Dankmar öffnete. Das Thierchen humpelte freudig an seinem interimistischen Herrn hinauf ....

Aber Ackermann und Selmar? sagte Dankmar.

Wer? fragte die Magd.

Dankmar dachte:

Wahnsinn! Du frägst hier nach Traumgestalten?

Und doch sagte er:

Kam nicht gestern Nacht noch ein stattlicher Herr mit einem Knaben hier an?

Freilich! freilich! sagte die Magd. Es war ja fast zwölf. Sie waren so durchnäßt, daß wir Angst hatten, sie würden uns krank werden .... Aber die sind nun auch schon fort. Eine Stunde später als die Andern. Und eben vor einer halben Stunde fährt der große Wagen ab, die prächtige [669] Karosse des Geheimraths steht unten, man denkt, er steigt jeden Augenblick ein und nun suchen wir ihn ...

Man hörte jetzt draußen auch den Heidekrüger lärmen und laut sein Befremden äußern.

Excellenz! Excellenz! Herr Geheimerrath! rief man in alle Winkel hinein, und in alle Gruben hinunter, ja in solchen suchte man den geheimen Rath, die man sonst nur für geheimen Unrath bestimmte –

Dankmar, in seinem Taschentuche sorgfältig das Bild verbergend, stieg die Treppe hinunter, sah sich die Verwirrung eine Weile mit an und erstaunte, daß der Heidekrüger, der Staatserretter, der Lafayette und Washington, hier schon den Kopf verlor.

Denken Sie sich, sprach er zu Dankmarn mit leichenblasser Miene, wie mir so etwas begegnen muß! Wie sonderbar kann man Dergleichen auslegen! Ein hoher Beamter des Hofes, Mitglied des Reubundes, eine Stütze der Reaction, Gatte einer einflußreichen Dame, die in unserer Politik eine große Rolle spielt, verschwindet spurlos in der Wohnung eines zwar nicht wühlerischen, aber freigesinnten Gesinnungsmenschen ... o mein Gott! habt Ihr denn überall geforscht, Alles aufgedeckt? Alle Gruben? Alle Gelegenheiten, wo Jemand in stiller Nacht mit einem Licht verunglücken kann? Was werden die Sänger's, die Vom Busche's und die Sengebusch's sagen!

Dankmar beschwichtigte seine Besorgnisse mit der festen, ungeheuchelten Überzeugung, daß sich diese Angelegenheit völlig natürlich lösen würde. Da er wußte, [670] daß hier eine Schelmerei Melanien's im Spiele war, zeigte er selbst über sein natürliches Mitgefühl hinaus sich fast ausgelassen und lachte, als er sah, wie und wo man die vornehme, aufgeblasene Excellenz Alles suchte ...

Über Ackermann's Benehmen und mögliche Beziehung zu Melanie oder zum Geheimrath erfuhr er nichts. Hier war ihm ein völlig unlösbares Räthsel. Mit dem letzten Reste der Hackert'schen Anleihe bezahlte er seine Zeche und wollte von dannen fahren unter lautem Jubelgebell seines Hundes. Da trat die Liese heran und Dietrich und Beide wollten Dankmarn die Zügel nicht geben ...

Auf wen wartet Ihr denn noch? sagte Dankmar.

Auf Ihren Kutscher, Herr! ... Hier ist auch noch das Geld von neulich. Wir haben's an den Justizrath noch nicht anbringen können ... er mag es ihm selbst geben.

Wer? Welches Geld?

Ei, das Geld aus der schönen Börse! Von der Nacht her, wo Ihr Kutscher das böse Übel hatte ....

Hackert? Wo ist denn Hackert?

Er kam doch mit Ihnen?

Hackert? Mit mir? Ich kam allein. Hat man den Rothkopf hier gesehen ....

Lichterloh, sagte Dietrich. Der schläft wol noch auf dem Heuboden? Da muß Eins die Spritze bereithalten ....

Ihr Leute irrt Euch! Ich kam allein. Kein Wort weiß ich von meinem Reisebegleiter von neulich .... Und Ihr saht ihn wirklich?

Dietrich pfiff, als wollte er Hackerten ein Zeichen[671] geben. Die Liese drängte, Dankmar sollte das Geld ansichnehmen.

Dieser weigerte sich aber und erklärte, mit dem unheimlichen Gaste in keiner Verbindung mehr zu stehen.

Daß Hackert auf dem Heidekruge in dieser Nacht gesehen worden, blieb ausgemacht. Die Aussagen der Leute stimmten zu sehr überein. Alle hatten geglaubt, er wäre mit der großen Gesellschaft zurückgekehrt. Man suchte nun auch ihn.

Da sich aber keine Spur mehr weder von ihm noch von dem Geheimrathe finden wollte, so fuhr Dankmar von dannen, nicht wenig betroffen und tief erstaunt über das sonderbare Zusammentreffen so vieler höchst räthselhaft sich durchkreuzenden Thatsachen.

Eine Gewaltthat, Das wußte er, war nicht an dem Geheimrath verübt worden, höchstens ein lustiges Abenteuer, von dem Melanie den Schlüssel und dessen eigentlichen Kern, das Bild, er selbst besaß. Im Übrigen gönnte er dem Heidekrüger diesen kleinen Kummer als Strafe für die heuchlerische Art, mit der er anfangs versprochen hatte, Schlurck's Wahl im schönauer Bezirke zu befördern und sich nun selbst vorschob. Der Liese aber sah er die Freude an, ihren »steifen und hochgestapelten« Herrn einmal mit seinem Gesinde wieder auf gleicher Linie stehen zu sehen, wieder von Dem bewegt und erregt, was zu dieses Hauses eigentlicher Ordnung gehörte. Das Geld versprach sie Hackert zuzustellen, wenn er sich noch fände ....

[672] Dankmar fuhr rasch von dannen und konnte wol die Gleise der Wagen und Pferde sehen, die den Langschläfer im Stiche gelassen hatten. Er erreichte sie aber ebenso wenig wie den Wagen, mit dem Ackermann und Selmar, vielleicht auf Nebenwegen, abgefahren sein sollten.

Gegenstände zum Nachdenken hatte er für die Reise den Tag über genug! Abenteuerliches begegnete ihm nichts mehr. Er hätte es zu Dem, was ihn Alles schon in Anspruch nahm, kaum noch aufnehmen können.

Es wurde schon Nacht, als er sich Tempelheide näherte. Er warf einen Blick auf den Landsitz des alten Präsidenten. Ein Rabe saß auf dem Schornstein und schien für die sternhelle und monddämmernde Nacht das Wunderhaus zu bewachen. Dankmar überließ es seinem lahmen Begleiter Bello, zu dem steif und ernst dort oben thronenden Vogel verdutzt und wie auf dem Anschlage hinüberzuschauen. Er kümmerte sich um nichts mehr, was rechts und links lag. Mit unwiderstehlicher Macht nur trieb es ihn zu der großen Stadt hin, die schon zu seinen Füßen lag und der Schauplatz neuer Erlebnisse werden sollte.

Wie der Wagen die kleine tempelheider Anhöhe hinunterrollte und er zur Allee einlenken wollte, die an den Eisenbahndurchschnitt führte, hörte er dasselbe melodische Gesäusel wieder aus dem Schlosse, das ihm noch von seiner Ausfahrt erinnerlich war. Er mußte stillhalten, so bewegte ihn der harmonische Lufthauch. Es war nächtliche Ruhe um ihn her. Im abgemähten Felde, auf der Wiese zirpten nur die Grillen schon ihre Herbstesvorahnungen. [673] Die Kirche stand feierlich im Mondscheinlichte. Die Bäume säuselten und die Lüfte klangen von der Harfe zauberhaft belebt in wehmüthigen Accorden. Es war ein sanftes Moll, in dem die Windharfe gestimmt unter den Tannen hing .... Ach, es war ein Accord, der die ganze Stimmung seiner eigenen Seele aussprach. Zärtlich hoffend, aber tief wehmüthig ....

Ja, sagte er sich, noch geschehen Wunder! Noch helfen unsichtbare Geister an unsern Werken mit und das Schicksal ist keine leere Fabel.

Anna von Harder, die Lenkerin der musikalischen Akademieen, sah er nicht .... Die Fenster blieben geschlossen ... er hätte doch gern die weibliche Gestalt an ihnen wiedersehen mögen, die an jenem Abende seiner Ausfahrt der Windharfe lauschte ... er hätte ihr doch gern die Gefühle übertragen, die diese Töne in ihm selber weckten ....

Sie kam nicht und so mußte er selbst sein Herz öffnen, selbst diese Töne in seine Brust einlassen und die Geister nahen hören, die ihm sagten:

Wandle nun hin unter dem schützenden Sterne, den dir die Gottheit unter diesen Millionen Lichtern am Himmel dort aufgestellt hat und den du nicht kennst! Verknüpfe dir das Leben zu immer räthselhaftern Knoten, die du einst ungeduldig mit dem Schwerte wirst lösen wollen und deren Fäden vielleicht plötzlich klar und unverwirrt in deinen Händen liegen, wenn dein Schutzgeist sich dir naht, vielleicht so auf einem Accorde der Freundschaft [674] schwebend, so auf einer kleinen nächtlichen Luftwolke des Zufalles, so auf dem Mondenstrahl, der, wie da hinter den Tannen, so aus dem Auge der Liebe bricht! Gehe hin! Noch muß sich dir viel erfüllen, viel begeben! Aber vertraue! Siegbert und Dankmar Wildungen! Euer Genius spricht aus diesem Lufthauche der Äolsharfe im Tannenpark von Tempelheide!

Das müde Pferd zog an; weiter ging es bergab in unfreiwilliger Eile .... Von allen Thürmen der Stadt schlug es Zehn, als Dankmar mit seinem müden Gaule nach einer ereignißreichen Reise von vier Tagen in den Thorweg des Wirthshauses Zum Pelikan wieder einlenkte. Das Bild an sich pressend, des doch wohl auch ihm sichern Schreines gedenkend, mußte er sich sagen, daß er mehr zurückbrachte als er verloren hatte, mehr gefunden als er suchte. Und dennoch war es ihm, als riefe ihm eine Stimme zu: Nun erst beginnt dir der Ernst des Lebens und die Schranken deines Wettlaufes mit dem Schicksal öffnen sich!

[675]
14. Capitel. Neue Menschen
Vierzehntes Capitel
Neue Menschen

Die vielthorige, in breiter Fläche gelegene, laut rauschende Residenz hatte seit einigen Jahren ein neues Viertel gewonnen, das man seiner vielen schönen, von den vornehmsten Herrschaften bewohnten Häuser wegen das diplomatische nannte. Es lag außerhalb der längst durchbrochenen Ringmauer in einer Gegend, wo es früher nur Felder gab. Eine rund sich schlängelnde Nebenstraße lenkte von der staubigen schnurgeraden Hauptallee ab und bot rechts und links zwischen hohen Bäumen, Gärten und jungen Anlagen ein Gemisch von Villen dar, die ohne nach einem bestimmten Plane angelegt zu sein, doch darin eine harmonische Wirkung übten, daß sie im Stile und der gefälligen Überschmückung der nur aufs Comfortable gerichteten Theile sich fast wechselseitig überboten. Vor den Villen lagen Gärten mit kleinen Springbrunnen oder einfache englische Boulinggreens. Selbst in der gefälligen Form und Verzierung der eisernen Gitter suchten sich die Besitzer oder die reichern Abmiether anderer auf Speculation gebauter Häuser zu übertreffen.

Ziemlich in der Mitte dieser vom Gewühle der Stadt [676] entrückten Niederlassung lag ein ganz besonders hervorstechendes, geschmackvoll angelegtes Landhaus. Es war von stattlicher Breite und mit den obern Mansarden gerechnet fast dreistöckig. Das obere Dach war in italienischer Weise platt und rings mit einem eisernen Gitter geschmückt. Zwei Balcone hingen an den Fenstern der Hauptetage, zeltartig überwölbt mit roth – und graugestreiftem Damastzeuge und unter diesen vor der Sonne schützenden Dächern mit den farbigsten Blumen geschmückt. Die Einfahrt geschah durch eine gußeiserne Pforte von geschmackvoller Zeichnung. Auf einem gekieselten Wege gelangte man dann zu einem epheu – und weinumrankten Überbau an der rechten Seite des Landhauses, wo die Wagen anfuhren und Strohdecken bis zu den Stufen des Einganges hinaufgelegt waren. Ein Gebüsch von Rosenhecken an dem Gitter entlang versteckte den Einblick in den einfachen Vorgarten. Zierlich rankten sich die Rosen durch das eiserne Gitter hindurch, ein Anblick, bei dem mancher sinnige Wanderer stillstehen und freudig oder wehmüthig Italiens gedenken mußte .... Die weißen Fenster waren mit langen, gleichfalls roth – und graugestreiften Staubgardinen von außen verdeckt .... Nach hinten lagen auf der einen Seite Ställe, Remisen und ein Wirthschaftsgebäude; nach der andern erstreckte sich ein Anbau bis in den Garten, der umfangreich die sorgsamste Pflege verrieth und in seinen äußersten Grenzen noch von den Treibhäusern und der Wohnung des Gärtners eingefaßt war.

[677] Der nur einstöckige hintere Anbau des Hauses endete nach dem Garten zu in einem Salon und einer Veranda. Beide hingen fast zusammen und waren nur durch hohe Glasthüren getrennt. In diesem Salon sahe man Divans, Causeusen und die ganze übliche Ausstattung einer reichen und, wenigstens nach der Mode gerechnet, geschmackvollen Ausstattung. Die Fenster waren von buntem Glase und warfen blaue und rosige Lichter von magischer Wirkung auf das glatte Getäfel dieses gefälligen Gesellschaftsraumes. An den Wänden, die mit eingebrannter Wachsmalerei geziert waren, rankten sich Epheustöcke aus weißlackirten Untersätzen empor und versteckten ihre äußersten Spitzen hinter den schweren gelbseidnen Gardinen, die, oben von den Fensterrundungen herab sich senkend, hinter schweren Rosetten zurückgesteckt waren. Die grünen Zweiglein suchten nach der Sonne, deren Licht ja die Nahrung ihres Lebens ist. Vom Plafond, der gleichfalls mit enkaustischer Malerei glänzend überzogen und mit Goldleisten eingefaßt war, hing ein sehr geschmackvoller Kronenleuchter von Bronce und Krystall herab. An den Wänden sah man zwischen den sechs Fenstern ... drei lagen auf jeder Seite ... Beleuchtungs – Glocken, die Abends ihren Schimmer durch ein mattes rothes Glas warfen.

Durch diese Räume nun schritt, von der Garten – oder Hofseite herkommend, in Begleitung einer ältern Dame stattlichen Aussehens, die Besitzerin dieser comfortablen Wohnung. Es war eine hohe magere Gestalt, in eleganter [678] Morgenkleidung. Die Dame war nicht mehr jung und schien auch auf den Schein Dessen, was sie nicht mehr besaß, keinen allzu lebhaften Anspruch zu machen. Sie trug ein weißseidnes Bandeau um das strenge, früher vielleicht wenn nicht schöne, doch interessant gewesene Haupt mit den dunkelumschatteten, scharfstechenden Augen. Der große weiße Kaschmir – Schlafrock war mit grellstem seidenen Roth gefüttert und gab, wenn er aufschlug, der stolz daher schreitenden Frau fast ein Ansehen, als wäre sie für den Purpur geboren. Sie hatte ein fein battistenes Spitzentuch in der Hand, mit dem sie zuweilen über die hohe Stirn fuhr, um die Spuren der Hitze oder irgend einer gewaltigen Anstrengung, die sie überstanden zu haben schien, zu tilgen. Das weißseidene Bandeau, das mit einem Zipfel über den noch an den schwärzesten Haaren recht reichen Hinterkopf fiel, gab ihrem Blick etwas ungemein Scharfes und Stechendes, fast wie vom Ausdruck eines Raubvogels. Nach vorn war über dem sonst gewiß ebenholzschwarz gewesenen Haare schon ein leichter Anflug von künftigem Silber sichtbar. In einem gewellten Scheitel lag dies grauschimmernde Haar über der Stirn und den Schläfen. Das Bandeau schien die Unentschlossenheit anzudeuten, ob sich die Dame bereit erklären sollte, vielleicht ganz im grauen Haare, das mancher geistreichen und noch leidenschaftlichen Matrone außerordentlich schön stehen kann, ihren Stolz zu suchen oder es vorläufig doch noch so viel wie möglich zu verbergen.

[679] Hinter der Dame und ihrer ältern Begleiterin, die etwas gebückter, etwas hinfälliger, aber doch unter der feinen breitkantigen Spitzenhaube die List und Schlauheit ihrer Augen nicht verbergen konnte, folgte ein Bedienter, der ein silbernes Wasserbecken und ein feines damastenes Handtuch trug. Seine Gebieterin tauchte die schön gepflegten langfingerigen Hände mehrmals in das Wasser, ihre Begleiterin nahm von einer in einer Ecke des Saales stehenden Etagère ein Krystallflacon und spritzte etwas von dessen wohlriechendem Inhalt noch in die silberne Schüssel. Dann nahm die Gebieterin das Handtuch, trocknete sich sorgfältig und schickte den Bedienten mit dem Befehle fort, daß Ernst, sowie er vom Schlosse wieder da wäre, unverzüglich zu ihr kommen sollte. Als der Bediente gehen wollte, rief sie ihm noch die Frage nach:

Und Franz mit dem Landau noch immer nicht da?

Vor einer Viertelstunde ist er gekommen, Excellenz! war die Antwort.

Ich will ihn sogleich sprechen!

Excellenz haben bestellt, daß er auf's Schloßamt komme, sowie er steht und geht; bemerkte zögernd der Diener.

Und ich sage, er soll erst zu mir kommen und nicht wie er steht und geht. Er soll sich reinigen und wie es sich gehört anziehen. Wenn ich ihn gesprochen habe, geht er zum Geheimrath.

Der Bediente murmelte ängstlich ein »Zu befehlen«!

[680] und ging mit dem Wasserbecken und dem Handtuche über die Veranda in den Hof zurück, von wo alle Drei und zwar aus der großen Wagenremise hergekommen waren.

Pauline von Harder – denn in ihrem Hause befinden wir uns – warf sich erschöpft und mißgestimmt auf eines der rings im Überfluß vorhandenen Polster und sprach zu Charlotte Ludmer, ihrer vieljährigen Wirthschaftsführerin und innig befreundeten Vertrauten, die eben ein großes langes Papier auf den Tisch gelegt hatte, mit matter Stimme die Worte:

So haben wir denn wirklich Nichts gefunden und alle Mühe, alle Umsicht und Sorgfalt sind vergebens gewesen!

Ich komme immermehr zu der Überzeugung, sagte Charlotte Ludmer, die Vertraute, indem sie eine kleine Dose von gedrechseltem Horn aus ihrem Rockschlitz griff und wie ein Mann in aller Form eine Prise nahm, ich komme immermehr zu der Überzeugung, daß die Sage von den für die Veröffentlichung bestimmten Denkwürdigkeiten der Fürstin Amanda von Hohenberg ein leeres Gerücht ist.

Unsern Untersuchungen nach zu schließen, sagte die Geheimräthin Pauline von Harder, möchte man glauben, daß du Recht hast, Charlotte. Haben wir wol eine Spalte, eine Ritze unerforscht gelassen! An jeden Boden klopften wir, ob er hohl ist, in jedes Polster fuhr ich mit diesem spitzen Dolche, den mir Rodewald einst in Italien schenkte, und von dem ich nie geahnt hätte, daß ich mit ihm noch nach den Spuren seines Verrathes suchen [681] würde – o Charlotte, wie schmerzliche Erinnerungen weckt mir dies Andenken alter Zeit!

Gieb ihn her, Kind, sagte die Ältere und griff nach einem verrosteten Stilet, das die Geheimräthin aus dem Brustschlitz des eleganten Kaschemirschlafrockes gezogen hatte. Es war ein florentinischer Dolch mit damascirter Arbeit auf den drei Kanten, von zierlich gearbeitetem Griff, eine Schlange vorstellend, die sich so eigenthümlich ringelt, daß die Hand bequem in einer ihrer Windungen ruhen konnte. Der Dolch selbst aber war eine lang aus dem geöffneten Munde herausgestreckte Giftzunge, dreikantig, dünn und vom härtesten Stahl gearbeitet.

Gieb ihn her, Kind, wiederholte die Ludmer, als ihn Pauline zu ernst betrachtete ...

Ha! Es war in Verona, sagte Pauline träumerisch. Wir hatten Romeo's und Julien's Grab gesehen und scherzten darüber, daß der Unverstand der Zeiten einen Futtertrog für Pferde daraus gemacht hatte oder aus dem alten Futtertroge, wie Rodewald in seiner scharfen und ungläubigen Weise sagte, später das Grab der Julia! Es ist dreißig Jahre her und noch seh' ich uns wie heute, als ich an seinem Arme, krank damals und elend, hing und wir vom Tode sprachen, der mir damals so möglich bevorstand ... Rodewald stieg langsam mit mir auf einen Hügel vor der Stadt und zeigte mir die große im Sonnenglanze hingegossene Ebene. Ergriffen von dem Lichte und dem Sonnenschein, dem Grün und dem duftigen Nebel, dem Violet der fernen Berge und dem blauen Aufblitz einer[682] Ecke vom Lago di Garda, sagte er: Wenn du stirbst, Pauline, so wirst du mir nicht ein Restchen Gift zurücklassen, wie Romeo Julien. Da muß es ein anderes Mittel sein! .... und damit zog er den Dolch, daß ich laut aufschrie und bebend zurückfuhr. Es war aber nur ein Scherz von ihm, er glaubte an meine Krankheit nicht, er glaubte nicht an meinen Tod und an den seinen noch weniger. Es stand ihm aber so schön, so halb zu spielen und halb zu philosophiren! Ich entriß ihm den Dolch, er lachte und sagte: er hätt' ihn sich bei einem Alterthümler gekauft, während ich in der Santa Maria die Gräber betrachtete. Mir Albernen war es Bedürfniß, seine Worte für Ernst zu nehmen, ich ergriff das tödtliche Instrument, verbarg es, gab es ihm nicht zurück ... Zwei Jahre darauf, in Landeck, hätt' ich es ihm in die Brust stoßen mögen und als ich genas, in Ems ... da mir selbst!

Pauline! Pauline! rief die Ludmer und verbarg den Stahl; wie kommst du auf diese alten Dinge zurück! Konnten wir auch nichts Anderes finden, um staubige Polster zu durchstechen!

Wie ich so in den alten Geräthschaften Amandens wühlte, fuhr die Geheimräthin fort und stützte den Kopf auf, der ihr brannte; wehte mich's ganz gespenstig an und es war mir, als lebten sie Alle noch, sie, die Elende, – ich selbst noch wie einst – und Zeck stand plötzlich vor mir – ach, was nicht Alles! Man soll den alten Plunder, mit dem sie noch im Tode auf dem Schlosse coquettiren wird, hinbringen, wohin man will! Es mag in ihm Lüge und [683] Verläumdung wie Gift gegen Ungeziefer verborgen und versteckt liegen – ich will nichts mehr wissen – nichts, nichts! – ich habe dies Leben satt! Leben mit Furcht ist mehr als der Tod.

Damit erhob sich die wild erregte und leidenschaftliche Frau und schritt, heftig und von unstillbarer Unruhe gequält, im Saale auf und ab.

Die Ludmer nahm aber in aller Ruhe eine Prise und lachte, daß das zahnlose Kinn wackelte.

Hi! Hi! Hi! schallte es durch den Gartensalon.

Was ist? wandte sich Frau von Harder.

Alles Das der Zorn, Täubchen, sagte die Alte, daß unsere Mühe und Plage vergebens war? Nachlaß! Nachlaß! Schulden hat sie nachgelassen. Das ist ihr Nachlaß! Die Geschichte von ihren Papieren war ein Schreckschuß. Wer hätte sie fortnehmen sollen? Ihre Pfaffen? Zeisel ließ ja sogleich Alles versiegeln und mit Beschlag belegen. Der Fürst wollt' es so und sie hatt' es selber angeordnet. Zwei Jahre stand's unberührt. Die Papiere sind verbrannt, wo kann etwas hingekommen sein? Und unten in der Remise ... da haben wir seit heute früh fünf bis jetzt um elf Alles untersucht, wir sind matt und müde davon, wir haben uns, gut gerechnet, sieben mal waschen müssen von all' dem Staub und Moder, und hinter keinem Bild, in keiner Schublade ist Etwas zu finden. Von dieser Seite aus sind wir vor bösem Leumund sicher und du hast alle Aussicht, unter die Heiligen zu kommen, was du doch wol willst! Vergib, daß ich spotte.

[684] Noch vor sechs Jahren, sagte die Geheimräthin ruhiger, hätte über mich erzählt werden können, was da wollte! Es war eine Zeit, wo man noch die Leidenschaften als die Quelle edler Gefühle erkannte. Aber jetzt, wo sich Alles verändert hat, wo das junge Herrscherpaar einen neuen Ton in die Gesellschaft einführte, jetzt wo sich Alles dadurch auszuzeichnen sucht, so gewöhnlich und unscheinbar wie möglich zu sein und nur den nächsten Pflichten zu leben, jetzt könnt' ich in der wilden Zügellosigkeit der Urtheile und der völligen Schutzlosigkeit des Einzelnen gegen das Gewühl der Zeit, die Alles, das Beste, rasch verbraucht und als Dünger für Neues von sich wirft, eine solche Öffentlichkeit der Rache nicht ertragen. Und glaubst du nicht, Charlotte, daß sie Alles weiß, von Allem unterrichtet ist? ...

Die Alte schwieg und zuckte bedeutsam die Achseln.

Du hättest sie in deiner Amarantha schonen sollen, sagte die Ludmer. Jedermann rieth auf Amanda, und der Spott war unverkennbar. Nach Allem, was zwischen Euch einst vorging, nach Allem, dessen du dir, als kitzlich und zu heiß zum Anfassen, bewußt warst, hättest du lieber schweigen sollen, und du weißt, was ich überhaupt davon dachte, als du die Feder ergriffest ...

Die Geheimräthin seufzte.

Das ist vorbei, sagte sie dann. Ja! Ich hätte dir folgen sollen. Ich schrieb, weil Alles schrieb, und da ich nichts erfinden konnte, erzählt' ich, was ich oder Andere erlebt hatten. Ich streifte mit genauer Noth an Partien vorbei, [685] wo ich mich und Andere zu schonen alle Ursache hatte, und doch reizte mich der Kitzel des Spottes und der Trieb der Vergeltung. Ich fühlte, daß ich plötzlich in der Feder eine Waffe hatte, die mir damals allmächtig schien. Ja! Amarantha ist Amanda und sie ist es nicht. Ich ließ eine Magdalena fromm werden, aber Amanda konnte sich doch wol in allen Sünden Amaranthens nicht wiederfinden. Dennoch nahm man sie für Amarantha und ich erschrak genug, als ich eines Morgens einen Brief mit dem Postzeichen Plessen empfange und die einfachen, von einer mir wohl erinnerlichen Hand geschriebenen Worte lese:

»Die Fürstin Amanda von Hohenberg schreibt keine Romane, aber sie schreibt Bekenntnisse, die Gott richten wird«. Damals lacht' ich darüber. Es schien mir die Drohung der Ohnmacht. Ich schwelgte in den Huldigungen, die die Gesellschaft meiner jungen Feder zollte. Aber die Gesellschaft ist nicht mehr die »Gesellschaft«, die Fürstin ist gestorben, alle Welt erzählt von Denkwürdigkeiten, an denen sie in ihren letzten Lebensaugenblicken schrieb und Eines, Eines, Charlotte – die Zecks lebten auf ihren Gütern – hab' ich nicht Ursache zu zittern?

Die alte Freundin blieb in ihrer unerschütterlichen Ruhe und erschöpfte sich in einer Menge von Trost – und Gleichgültigkeitsgründen, die alle auf eine sehr leichte und fast kecke Ansicht vom Leben hinausliefen. Pauline hatte diese Ansicht früher auch getheilt. Daß sie aber jetzt, nicht mehr von ihr getröstet wurde, hing nicht etwa mit einer gesteigerten Innerlichkeit ihres Wesens, mit dem [686] Gefühl der Reue und Besserung zusammen, sondern mit einer eigenthümlichen Wendung der öffentlichen Verhältnisse, die ihrem Ehrgeize Schranken setzte, an denen sie bis zur Verzweiflung bohrte und rüttelte, ohne sie erschüttern oder hinwegräumen zu können. Diese Beziehungen müssen wir genauer anführen, da sie zugleich für einen gewissen Umschwung des Zeitgeistes auch im Allgemeinen bezeichnend genug geworden sind und die Grundlage unsrer fortgesetzten Erzählung bilden werden.

[687]
15. Capitel. Die »Gesellschaft« und die »kleinen Cirkel«
Funfzehntes Capitel
Die »Gesellschaft« und die »kleinen Cirkel«

Auf dem Throne des Staates, in dessen Residenz wir uns befinden, sitzt ein erst kürzlich an die Regierung gekommenes junges Herrscherpaar. Der frühere Monarch, ausgezeichnet durch hohe Tugenden der Mäßigung und Gerechtigkeit, hatte gewissermaßen die Zügel der Geistesrichtungen seines Landes sich selbst überlassen und dadurch möglich gemacht, daß sich in der Familie und Gesellschaft ein von ihm selbst völlig verschiedenes Wesen entwickelte, eine gewisse ihn selbst völlig ignorirende Genialität oder Starkgeistigkeit, wie man diese leichte Auffassung der Sitten und Überlieferungen im Gegensatz zu einer auf der andern Seite überwuchernden Bigotterie nennen konnte.

In dieser Zeit hatte Pauline von Harder geglänzt. Es war die Zeit gewesen, wo sie zwar den Ansprüchen ihrer damals noch sehr anziehenden Gestalt, den Ansprüchen der schönen Reste einer jugendlichen Epoche noch keineswegs entsagt hatte, aber doch schon nach mancherlei Unterstützungen des Einflusses greifen mußte, den sie [688] auf die Gesellschaft ausüben wollte. Sie war lange zweifelhaft, ob sie, um bedeutend zu bleiben und zu erscheinen, mit den Empfindsamen gehen sollte. Sie sahe, daß diese Partei großen Einfluß hatte und auf den nicht mehr verheiratheten greisen Landesfürsten Alles vermochte. Doch war die Maschine des Staats damals so einfach, der Gang der Geschäfte so trocken, die Politik so wenig anregend, daß es für guten Ton galt, sich nicht um das Öffentliche zu bekümmern und lieber für Italien, die Kunst, die Literatur, die Dichter, die Virtuosen und die starken Gefühle zu schwärmen, als für die Welt und ihre nächsten Aufgaben. Pauline schlug sich zur fröhlichen Partei, zu Denen, die sogar am Schmerz eine eigene Freude hatten, durch unverstandene Stimmungen sich verständlich machten und in der Zerrissenheit ihre wahre Einheit fanden. Sie hatte früher gemalt. Da aber die Malerei nicht aufregt und im Gegentheil große Ruhe bedingt, so ergriff sie die Feder und warf in zwei Romanen, Amarantha und Nadasdi, eine Menge jener vulkanischen Stoffe aus sich heraus, die sie, wie so viele andere weibliche Naturen damaliger Zeit, so auch in sich vorgefunden haben wollte. Amarantha galt für ein Bild aus der Wirklichkeit und wurde reißend gelesen. In der That hatte Pauline hier Alles zusammengerafft, was sie nur, ohne zu auffallend indiscret zu erscheinen, von gestörten Eheverhältnissen, unverstandenen Seelenleiden, zerrissenen Freundschaften in der höhern Gesellschaft beobachtet hatte. Sie hatte einige Gräfinnen, Baronessen, [689] Fürstinnen in Conflicte ihrer nächsten Herzensinteressen gebracht und dabei die jungen Offiziere und Legationssecretaire die Rollen spielen lassen, die in alten Zeiten die St. – Preuxs, die Werthers oder Roquairols spielten. Amarantha war die Heldin dieser Abenteuer, eine eitle aus einer Hand in die andere fliegende und für jede neue Liaison und jede alte »Rupture« immer die triftigsten Gründe anführende Coquette, die zuletzt, da sie Niemanden mehr gewinnen kann, fromm wird, ins Kloster geht und dort einige komische Wunder thut. Das Ganze war mit Bosheit geschrieben und deshalb gewiß nicht ohne Unterhaltung, denn leider gehört die Malice jetzt auch zu den Musen; Apollo würde sie in unserm Jahrhundert als die zehnte seines Bundes nicht zurückweisen dürfen. Die Malice erfindet, schafft, sie »macht«. Eine Zeitlang wenigstens dauern ihre Werke. Eine Zeitlang fesseln, unterhalten sie, dann zerstiebt ihre Composition und diese zehnte Muse, die eben noch wie ein leichtes duftgewobenes Traumbild lächelnd vorüberschwebte, verwandelt sich in ein garstiges altes Hexenweib, mit Krallen an den Fingern und einem giftschäumenden Mund voll unheimlicher Zähne ...

Nach der Dame »Tausendschön«, d.h. Amarantha, sollte der Roman »Nadasdi« eine eigene Erfindung der Geheimräthin vorstellen. Doch machte sie mit diesem jungen Magyaren Nadasdi ein klägliches Fiasko. Kein Mensch mochte ihn lesen, so langweilig war die Geschichte eines schwärmerischen und sentimentalen ungarischen Husarenoffiziers, [690] der in ihrem Roman sechsmal über Briefe, die er erhält, in Ohnmacht fiel. Man brachte in diesem selben Strudel, genannt die »Gesellschaft«, das Wort auf, wenn man sich langweilte, zu sagen: Ich nadasdisire mich. Man ließ z.B. in einem öffentlichen Blatte das Zeugniß eines Briefträgers abdrucken, der erklärte, Nadasdi wäre beim Empfange seiner Briefe niemals ohnmächtig geworden, sondern hätte regelmäßig sein Porto bezahlt, ohne die Adresse zu lesen, sich auf sein Kanapee niedergestreckt, türkischen Taback gekaut und seine Lieblingsbeschäftigung ergriffen, zu schlafen, was schon damals seine Kameraden nadasdisiren genannt hätten .... O, an erfinderischer Bosheit fehlt es in der Gesellschaft für Den gar nicht, der sich in ihr zu weit hervorwagt, mehr Geist als ein Anderer haben will und dann einmal einen Unfall erlebt! Ein Kleiderhändler mußte sogar in den Zeitungen Nadasdi – Schlafröcke ankündigen, wo nicht nur auf das Langweilige dieses Buches im Allgemeinen, sondern auch auf die Beschreibung eines Phantasie – Schlafrocks ihres Helden angespielt war, dem die unglückliche Dichterin mehr als drei volle Druckseiten ihres Werks gewidmet hatte.

Pauline gab nach dieser Demüthigung die literarische Laufbahn auf und befleißigte sich einer neuen »Läuterung«. Sie nannte nämlich die Metamorphosen ihrer Beschäftigung »Läuterungen«. Sie wollte alle Schlacken unreiner Empfindungen, wie sie in der Vorrede zu Amarantha und Nadasdi gesagt hatte, von sich werfen und [691] sich in einen reinern Äther tauchen. Ist Dinte ein reinerer Äther? hatte zu ihr einmal der Baron Otto von Dystra, der berühmte Reisende, gesagt. Zwar erwiderte sie diesem Sonderling, dem eben eine schwarze Sklavin gestorben war, die er sich aus Afrika mitgebracht hatte, sie hätte gehofft, allmälig so oft in diesem Äther zu baden, bis sie seinem Geschmacke entsprechen würde ... allein ihre »Läuterungen« wurden ebenso verspottet, wie Nadasdi, dessen Schlafrock und seine Ohnmachten.

Unentschlossen, wohin sie sich in ihrer Rathlosigkeit wenden sollte, überraschte sie und alle Welt der Thronwechsel .... Ein junger Herrscher ergriff das Scepter anfangs mit schüchternen Händen, als er aber eine junge liebenswürdige Gattin gefunden hatte und mit ihr einen sehr gewählten Beirath vom Hofe seiner Schwiegerältern, als Mitgift, wie man spottete, erhielt, trat er sicherer und selbständiger auf. Anfangs war nichts so sehr aus der Mode als das junge Königspaar. Man beachtete es kaum. Man bespöttelte seine Neigungen und erklärte beide Theile für beschränkt. In kurzem aber wendete sich das Blatt. Das Herrscherpaar wurde Mode. Seine Gesinnung fing an den Ton anzugeben. Alles richtete sich nach der neuen Sonne, der es wirklich, so hoch sie stand, zwei Jahre mühseligen Ringens gekostet hatte, durch die Wolken der »Gesellschaft« hindurchzudringen.

Plötzlich kam nun das Einfache, »Seelenvolle«, Bescheidene, Beschränkte, Häusliche in die Mode. Das »Geniale« wurde verabschiedet. Man las gerade nicht fromme oder [692] frömmelnde Schriften, aber man las unschuldige, reine, seelenläuternde, naive. Die frivolen Sittengemälde der großen Welt wurden ignorirt. Man »portirte« sich für das Einfache, Naive, Ländliche. Pauline, noch niedergedrückt von ihrem Nadasdi, sah aus einer gewissen Einsamkeit, in der sie sich nach ihrem Falle hielt, dieser Wendung der Dinge mit Ruhe zu. Sie wollte anfangs dieser neuen Mode nicht folgen. Sie hatte manche »Läuterung« durchgemacht; aber bis zur Beschränktheit, sagte sie öffentlich, beschränk' ich mich nicht. Sie wollte jetzt Reisen machen und als Touristin wirken, worin schon andere schriftstellernde Damen soviel Muthiges und Leserliches geleistet hatten. Da brachen jedoch die großen politischen Umwälzungen aus. Das Reisen wurde unmöglich. Sie blieb daheim und gerieth in die große Strömung des Tages. Einen Augenblick schwankte sie, ob sie abwarten sollte, woher der Wind käme und wohin er fahren würde. Sie fand die Heldengröße der Charlotte Corday ihr nicht ebenbürtig, aber die Roland, die hatte der »Gesellschaft« angehört, die Roland war groß in der Gironde gewesen, und sie versuchte es etwas mit der Demokratie. Sie kam aber glücklicherweise zu spät. Die Demokratie hatte schon ausgespielt und kurz vor Thoresschluß konnte sie Niemanden mehr compromittiren. Die sogenannte Reaction gab Paulinen nun Gelegenheit, viel verschlagener zu wirken und mit geringerm Einsatze persönlicher Gefahr. Wie früher nichts unmodischer war, als sich um das junge Fürstenpaar und seine kleinen Theezirkel zu [693] kümmern, so wurde jetzt gerade der Cultus der Anbetung des Monarchen zu einer Leidenschaft ganzer Stände. Pauline, am Bestande der Monarchie in der That doch auch durch ihren zweiten Gemahl interessirt, durch ihren Gemahl, der ihr jetzt plötzlich werthvoll und rücksichtswürdig erschien, Pauline warf sich nun endlich fast über Hals und Kopf in das neue Element und leistete in dem Systeme der unbedingten loyalen Hingebung und der conservativen Huldigung weit, weit mehr, als sich von der Gattin eines Hofbeamten von selbst verstand. Sie war eine Hauptanstifterin contrerevolutionairer Schläge, sie half den Reubund begründen, sie wühlte bei den Wahlen mit beispiellosen Umtrieben, sie organisirte im Großen die Brotlosigkeit aller der Kaufleute und Handwerker, die nicht unbedingt so wählten und stimmten, wie die Vornehmen und Beamten es verlangten ....

Alles Das konnte jedoch nicht genügen, einen so unerschöpflichen Ehrgeiz ganz zu befriedigen. Pauline erkannte plötzlich, daß sie da doch im Grunde nur Das that, was jetzt Jeder that, den sein in dieser Weise aufgefaßtes Pflichtgefühl trieb und spornte. Himmel! sagte sie sich eines Tages, was ich da Alles jetzt treibe, was ist denn das anders bei Hofe als meine Schuldigkeit! Wozu nützt mir denn Das? Hebt mich, fördert mich Das? Welche Belohnung hab' ich denn davon? Pauline dachte in zu großartigem Stile, als daß ihr dabei eine gemeine Anerkennung äußerer Form und äußern Erfolgs hätte einfallen können. Sie hatte vielmehr nur ihre »Stellung«, ihre gesellschaftliche [694] Bedeutung im Auge. Stand sie jetzt den Ereignissen nahe? Lenkte, leitete sie die hohe Politik?

Als sie in dem Gartensalon so verzweifelt auf – und abging und die leichten Trostgründe und Zureden der alten muthigern Charlotte Ludmer nicht hören wollte, wurde gerade die junge Flottwitz gemeldet, in dringenden Reubundsangelegenheiten; man wollte weibliche Arbeiten für verwundete Krieger verkaufen, die Ordnerinnen des weiblichen Reubundes sollten selbst vor den Verkaufsbuden zierlich gekleidet stehen und Käufer in einen Saal locken, über dessen Wahl die Flottwitz eben Raths erholen wollte ....

Nein, nein! sagte Pauline. Ich bin nicht zu Hause.

Die Flottwitz wurde abgewiesen ...

Was soll ich mich, rief Pauline erregt aus, was soll ich mich ferner mit diesen albernen Dingen quälen! Mögen Das die Frauen der Offiziere, die Weiber der Beamten und die Verwandten der Hoflieferanten betreiben! Bin ich dazu da, in der Masse unterzugehen? Hab' ich für all meine monatlange Hingebung auch nur ein Wort der Anerkennung von oben her erhalten? Sie thun ja dort, als verstände sich Das von selbst. Sie halten es ja für eine gemeine Pflicht, die uns Allen mahnend und schwer genug aufliege und wo wir unsern Dank darin finden sollten, daß man ja nicht selbst guillotinirt wird und noch seinen Adel behält! Nein! Ich habe diese Demonstrationen satt. Die Flottwitz ist entweder eine Närrin, und dann pass' ich nicht für sie. Oder sie ist eine durchtriebene Coquette und[695] weiß, wie schmachtend ihr diese Schwärmerei steht, dann pass' ich wieder nicht für sie; denn dieser äußerlichen eitlen Art, sich in die Öffentlichkeit zu stellen, hab' ich längst entsagen müssen. Selbst die Trompetta hat den richtigen Instinct gehabt, sich von Dem, was große und massenhafte Demonstration ist, zurückzuziehen und sich ganz auf Mission und Ähnliches zu beschränken. Sie hat wieder ihre alte kleine Industrie hervorgesucht, wählt sich kleine bescheidene Zwecke, die sie allein vertritt, läuft, rennt, bettelt, macht sich lächerlich, überall, und doch wird sie's erreichen, daß man drei Tage lang, wenn es erscheint, von ihrem Gethsemane spricht und daß sie die Ehre hat, in den kleinen Cirkeln des Hofes einen halben Abend lang besprochen zu werden, vielleicht es gar selbst den Herrschaften vorzulegen. Ah! Meine Schwester! Meine Schwester! Ah! Die weiß, wie man jetzt wirkt! Die lebt zurückgezogen, eine Einsiedlerin! Sie stickt, sie strickt, sie liest Pascal und Fénélon, sie musicirt Bach und Händel und ich schwöre, die Königin hat förmlich ein Gelüst, sie einmal bei ihrer Windharfe zu sehen und wäre glücklich, sie in dem alten Tannenparke von Tempelheide sprechen zu dürfen!

Die Schwester Paulinens ist, wie wir wissen, Anna von Harder .... Beide, geborene Freiinnen von Marschalk, leben schon seit Jahren in gespannten Verhältnissen. Es ist Dies um so auffallender, als auch Beide gegenseitige Schwägerinnen sind: sie heiratheten, freilich zu verschiedenen Zeiten, zwei Brüder. Dennoch fand keine Beziehung [696] zwischen ihnen statt. Ob Anna von Harder wirklich so ein edles Wesen war, wie man nach der einstimmigen Verehrung Derer, die bisher von ihr sprachen, schließen sollte, müssen wir der künftigen Erzählung überlassen. Man kann nicht sagen, daß sich die Schwestern haßten. Sie lebten nur nicht füreinander, sie hielten sich gegenseitig für todt, und Anna von Harder pflegte, wenn man sie darum fragte, seufzend und tief erschüttert hinzuzufügen:

O! Wir haben Ursache dazu! ...

Paulinens Ehrgeiz war jetzt der, in einer merkwürdig aufgeregten, alle geistigen Kräfte in Anspruch nehmenden Zeit von Wirkung und wahrem Einflusse zu sein. Andern und immer nur Andern die Wege ihrer Interessen zu bahnen, wurde ihr nachgerade zum Überdruß. Sie war viel genannt, viel gerühmt, aber auch viel geschmäht worden für Das, was sie kürzlich zu Gunsten der reinen Monarchie eingesetzt hatte. Und dennoch stand sie der eigentlichen Quelle der Ereignisse fern! Sie hatte auf allerhöchste Anerkennung, Theilnahme an den innern Vorgängen der Politik gehofft und nichts an jener Stelle gefunden, wo allein die Ereignisse bestimmt wurden, nichts als einen kalten Dank für ihre warme Hingebung an die »gute Sache«. Das war ihr denn doch zu wenig. Die Ministerien wechselten, die Kammern, kaum zusammengetreten, wurden wieder aufgelöst, da war nichts zu erfahren, nichts zu eröffnen, nicht einmal ein Salon von Notabilitäten .... Die alten geistigen Namen, die sie sonst fast jeden Abend bei sich versammelt hatte, waren erbleichte [697] Sterne. Maler, Bildhauer, Dichter, Gelehrte – wer fragte nach ihnen in einer Zeit, wo nur Stimmen und nur Stimmen – Stimmen haben! ... Sie hatte sie auch nicht mehr einladen lassen, die großen Männer von ehemals. Wer sprach von ihnen? Wer bewunderte ein Gedicht, wer ein Bild, wer eine astronomische Entdeckung? Arme Begrabene! Von den Todten konntet ihr nur auferstehen, wenn ihr die Raserei der politischen Mänaden mitmachtet und in den Demonstrationen des patriotischen Clubs eure Wiedergeburt feiertet! Armseliger Anblick eines mit Orden geschmückten berühmten Forschers der Wissenschaft ... im patriotischen Club lärmend, polternd, erhitzt neben einem Hoflieferanten, der sich durch den gemeinen Muth, die ausübende Polizei zu unterstützen, ausgezeichnet hatte, neben kleinen, leidenschaftlichen Geistern des Bureaus und der Kaserne, deren ganze Weisheit im Tumulte des patriotischen Zornfeuers aufprasselte! ... Dann kamen die Deputirten an die Reihe der Gunst, Menschen ... welchen die Zeit eine Bedeutung gab. Nur Wenige behielten sie, wenn sie nach dem Puppenspiele wieder in den Kasten der Verborgenheit zurückgelegt wurden .... In dieser Sphäre fühlte wol Pauline den Puls der Begebenheiten schlagen, aber dicht am Herzen wollte sie sein, da, von woher alle Arterien lebenskräftig strömten. Und dies Herz war nicht einmal in den Ministerien zu suchen, sondern es schlug nur Abends zwischen acht und zwölf Uhr in den sogenannten »kleinen Cirkeln«, die sich um das junge Herrscherpaar versammeln durften.

[698] Die kleinen Cirkel waren nicht nur die größte Auszeichnung des Hofes, sondern auch ein Beweis seines intimsten Vertrauens. Hier trat nur ein, wer der königlichen Familie die Bürgschaft der tiefsten Erkenntniß der Zeit gab. Die kleinen Cirkel regierten das Land, bestimmten die Richtung der auswärtigen Politik. Hier legten Gesandte ihre Beichte ab, hier las man die Depeschen, die eben mit Kurieren oder dem Telegraphen eingelaufen waren. Hier trugen berühmte Gelehrte, die das besondere Vertrauen genossen, bei einer einfachen Tasse Thee ihre Ansichten über die Zeit vor oder erzählten, was sie auf Reisen neuerdings beobachtet hatten. Die kleinen Cirkel waren der Alpdruck der Ministerien. Selten, daß Einer von den Männern, die die Woge des Augenblicks dem Hofe als Minister zuwarf, hier Zutritt erhielt. Es gehörten dazu Eigenschaften, die nicht in der Kunde des Staats und seiner Verhältnisse allein lagen. Man mußte sozusagen auf den Ton des Herrscherpaars, besonders der jungen Königin, gestimmt sein. Wie Wenige waren Das von den trockenen Bureaukraten, den barschen Kriegern, den verschmitzten Rechtsgelehrten! Und doch fühlten sie Alle, daß in den kleinen Cirkeln die Parole des »Systems« ausgegeben wurde. Manches, was man hier wünschte, scheiterte vielleicht zum ersten male am Widerstande der Minister, zum zweiten male aber nicht mehr. Es gab tausend geheime Fäden, die plötzlich die scheinbar gesichertste Stellung von den kleinen Cirkeln aus umgarnt hatten und sie zum Falle brachten. So allmächtig ist in der Monarchie [699] Das, was von einem Dutzend kluger und treuergebener Menschen – Sklaven als Idee des Fürsten und seiner nächsten Umgebung treu aufgegriffen und mit heiligem Eifer fortgepflanzt wird!

Zu den Theilnehmern der kleinen Cirkel gehörten außer dem General Voland von der Hahnenfeder, den man allgemein sozusagen für einen ideellen Goldmacher und sympathetischen Zauberer hielt, außer einigen gestürzten Staatsmännern des alten Regiments, einigen vielbelesenen, aber urtheilslosen Gelehrten, die man als Nachschlagewörterbücher und Dictionnaires de poche benutzte und wie eine bequeme Lesebibliothek gern immer gleich bei der Hand hatte, mehre Damen: einige fremde Gesandtinnen, einige Frauen vom Hofe, vor allen Dingen die kluge und strenge Oberhofmeisterin Frau Gräfin von Altenwyl. Diese, die frühere Erzieherin der jungen Monarchin, war ihr mit von der Heimat gefolgt ... Pauline von Harder, die Gattin eines der ersten Hofbeamten, die Schwiegertochter des Chefs aller Gerechtigkeit im Lande, eine Marschalk, eine Baronin Ried aus erster Ehe, brannte vor Begier, in diese Cirkel aufgenommen und, wenn Dies nicht, ihnen wenigstens wichtig zu werden. Das konnte sie seit lange um keinen Preis erreichen. Früher, als man das Herrscherpaar in der tonangebenden Gesellschaft umging und für beschränkt erklärte vom Standpunkte der Genialität, früher suchte sie eine Auszeichnung nicht, an der ihr jetzt Alles lag. Sie hätte sie aber auch schon damals nicht gefunden. Es gehörte eben zum [700] Charakter der Bildung, die in den kleinen Cirkeln waltete, die Stoffe, aus denen Erscheinungen wie Pauline von Harder gefügt waren, gerade nicht zu verachten, wol aber zu fürchten, zu vermeiden. Es war ein inneres tiefes Abgeneigtsein, was besonders die junge Monarchin gegen diese Richtung der freien Selbstbestimmung seiner Schicksale und wie die Lieblingswendungen einer schrankenlosen Leidenschaftlichkeit hießen, beherrschte. Der Monarch liebte die Geschäfte und pflegte kleine wissenschaftliche und Sammlerneigungen, seine junge Gattin aber, im Bunde mit der etwas prüden und über den Monarchen mehr wie über seine Gemahlin wachenden Altenwyl, hielten einen großen gewaltigen Schild vor ihn, um nichts an ihn heranzulassen, was irgendwie zu frivol in der Sprache der Zeit redete. Religiöse und sittliche Begriffe waren eben hier in einer sehr starken Steigerung auf eine fast schroffe Höhe getrieben, während wiederum eine gewisse kindliche, fast biblische Auffassung ihres schwierigen Lebensberufs diesem hohen Ehepaare das Gepräge naiver Einfachheit gab. Während der Adel, die Beamten, das Militair wild tobten und rasten, um sich nicht aus althergebrachten Ansprüchen entwurzeln zu lassen, sah das Monarchenpaar dem Kampfe der Zeit mit Schüchternheit zu, rief oft, als wäre ihm hier nur eine Gottesprüfung beschieden, die innere Stimme des Gewissens in sich wach und wäre vielleicht nicht abgeneigt gewesen, gegen ein erträumtes schäferhaftes Arkadien, wo Wohlthun und Liebe der einzige Beruf ihres Lebens [701] hätte sein können, eine Zeitlang vom Throne zu steigen und ihn ... freilich dann auch keinem Nachfolger, sondern immerhin der Republik zu überlassen, bis man eines Tages sie oder ihre Kinder aus dem Arkadien irgend einer Verbannung glorreich wieder zurückberufen würde. Obgleich nun aber ihre Ehe mit Kindern nicht gesegnet war und Prinz Ottokar, ein gewaltiger Kriegesfürst, ihnen folgen sollte, so ließen sie sich doch von diesem zu keinem gefährlichen Entschlusse drängen, sondern wogen mit vieler Sicherheit Das ab, was zur Zeit noch ihnen, nicht ihm gehörte und was sie, nicht er zu verantworten hätten .... Ihre Hauptkraft lag in dem besonnenen Verstande der Altenwyl und einem gewissen mystischen Glauben an die Inspirationen des vielfach angefeindeten und von den strengen Monarchisten sogar gehaßten Generals Voland von der Hahnenfeder.

Für diesen Kreis war Pauline nun eine förmliche Idiosynkrasie. Man wußte zuviel des Zweideutigsten von ihr und ahnte dessen noch mehr, als man wußte oder wissen konnte. Schon eine Frau, die so gewaltig über einen beschränkten Mann, wie den geduldeten Intendanten der Schlösser und Hofgärten, emporragte, war in jenem Kreise anstößig, denn man liebte zwar das weibliche Übergewicht sehr, achtete aber äußerlich doch das schicklich Gleichartige in der Ehe und hielt auf Sitte und Gesetz. Von Verhältnissen, wie sie nicht sein sollten, galten Beispiele sogar schon für gefährlich. Man tadelte Paulinen vielleicht niemals, weil man überhaupt vor fertig ausgesprochenen [702] Urtheilen große Scheu hatte, aber der Trieb der Hinneigung fehlte. Pauline existirte natürlich für den Hof in Allem, was die allgemeineren Rechte der höhern Gesellschaft waren, sie fehlte nie auf der Liste der großen Einladungen, aber sie nahm diese nicht an, weil sie eben für die kleinen Cirkel nicht existirte. Sie besuchte nie eine Cour, nie einen Hofball, nie ein Concert, wozu die leidenschaftliche Musikliebhaberei des Königs oft die Veranlassung gab ... sie wollte nur bei den kleinen Cirkeln sein, und da man sie dort nicht wünschte, so haßte sie eigentlich jene Personen, die es ertragen konnten, sie nicht zu sehen, sie nicht zu kennen! Sie haßte eigentlich in den Personen heimlich sogar dasselbe Princip, dessen Vergötterung sie in ihrer Überstürzung loyaler Demonstrationen öffentlich so angelegentlich betrieben hatte.

Ist es nicht empörend, rief sie nach der Abweisung der Flottwitz, daß ich mich nun zwei Monate lang vergebens angestrengt habe, die Aufmerksamkeit der kleinen Cirkel auch nur obenhin zu erregen? Ich habe Altäre gebaut, haushoch mit Blumen bestreut, habe Weihrauch angezündet, daß der ganze Staat wie eine Kirche nach dem Ambra der Liebe und des Vertrauens duftet und mit alledem hab' ich nur meine »Schuldigkeit« gethan! Was stemmt sich mir entgegen? Bei dem Ankauf des Nachlasses der Hohenberg hofft' ich auf eine Annäherung. Ich fühlte, daß ich Misdeutungen zu vermeiden hatte und Das, was ich besitzen mußte, um nicht neue Qualen zu erleben, [703] nicht selbst ankaufen durfte. Ich bringe Hardern, auch gelegentlich die Trompetta dahin, die Damen am Hofe zu interessiren. Ich erlebe erst, daß aus einer von mir eingeleiteten Idee für mich selbst eine förmliche Demüthigung entsteht. Doch ich dachte: Lobt und preist nur die Fürstin, um die Verfasserin der »Amarantha« zu kränken! Ich habe doch meinen Plan! Allein der alte Feldmarschall in seiner Beschränktheit glaubte wirklich, mein Vorschlag wäre ein Act der Versöhnung, sprach darüber in den kleinen Cirkeln in meinem Interesse und der alte, freilich kindische Graf Franken nahm meine Partie und rühmte schon damals, wie ich von meiner frühern Art ganz abgelassen hätte ... Und doch ... doch! Da schon keine Antwort aus dem Munde der Königin! Nicht ein Wort, nichts, nichts, als ein gnädiges Urtheil über Nadasdi, den sie nicht so schlimm fände, als die Welt sagte. Dafür dann ein freundlicher, die Milde ihres königlichen Herzens rühmender Blick der Altenwyl – es ist mir Alles erzählt worden – und dabei blieb's und weiter sind wir nicht, weiter kommen wir nicht.

Sind das auch alles Berichte, auf die man sich verlassen kann? sagte die kältere Ludmer kopfschüttelnd.

Der alte Graf erzählte ja den Vorfall bei der Werdeck ... Wie kannst du auf die Urtheile dieser wilden Frau hören!

Wild? Weil Sie eine Polin ist, weil sie ein Vaterland hat, das sie liebt, weil sie den Fürsten, alle Könige der Erde haßt ...

[704] Pauline!

Ha, ich fühle die Süßigkeit des Hasses! Ich hasse die Menschen, die sich einbilden unentbehrlich zu sein! Wer gibt Euch denn das Recht, Euch für so unendlich sicher zu halten, Ihr ...

Pauline! Pauline!

Die alte Gefährtin und Freundin schalt ernstlich diesen Ausbruch einer sich sogar den höchsten Personen jetzt feindselig zeigenden Gesinnung. Sie tadelte, daß Pauline von Harder den Major von Werdeck in ihren Cirkeln duldete, einen Offizier der Garde, der für liberal galt, weil seine Gattin, eine geborene Polin, ihn in andern Anschauungen erhielt, als die hier zu Lande in militairischen Kreisen üblich waren ...

Pauline hörte auf nichts mehr. Sie hatte mit ihrem Dolche alle Polster des Mobiliars von Hohenberg durchstochen, alle Schränke, alle Schubläden untersucht und nichts von den Denkwürdigkeiten der Fürstin Amanda, die diese ihr für ihren Tod als Antwort auf »Amarantha« angedroht hatte und obgleich, wie man allgemein sagte, wirklich vorhanden, seit zwei Jahren nicht erschienen waren, gefunden ... sie war unglücklich. Ein Schmerz weckt den andern. Die Last ihrer ganzen Stellung fiel ihr aufs Herz und mit einem Jammer, den die Ludmer nicht mehr trösten konnte, stieß sie Klagen aus, die Derjenige kaum verstehen wird, der so glücklich ist, nicht in der Sphäre der Hofgunst zu leben.

In diesem Augenblicke trat der Bediente Ernst ein.

[705] Es ist dies derselbe kecke Bursch, dessen Art und Weise wir schon vom Thurme in Plessen her kennen.

Er wollte nur einfach berichten, daß endlich Franz mit dem Landau angekommen wäre und sich sogleich melden würde ...

Als er rasch gehen wollte, hielt ihn die Ludmer zurück.

Dageblieben! sagte die Alte schnarrend und mit giftigem Blick. Wir haben nun noch miteinander zu reden.

Ja, sagte die Geheimräthin, aus ihrem Unmuth sich gleichfalls zornig aufraffend; Das haben wir! Warum kommt Franz verspätet?

Warum kommt der Landau nach dem Geheimrath? Was ist das Alles? Was sind gestern Nacht auf der Reise für Dinge vorgefallen? rief die Ludmer schnaubend.

O weh! Jetzt kommt das Examen über den Heidekrug! dachte Ernst und biß die Lippen zusammen.


Ende des zweiten Buches. [706]

Drittes Buch

1. Capitel. Das Examen
Erstes Capitel
Das Examen

Die Geheimräthin Pauline von Harder winkte ...

Ernst, der Bediente, der an der Thür des Gartensalons verlegen harrte, verstand das Zeichen seiner strengen Gebieterin, trat an's Fenster, öffnete – da ihn die bunten Malereien der Scheiben ungesehen machten – und rief hinaus in den Hof ...

Nach einigen Secunden trat noch der Bediente Franz ein ...

Franz sah verstört und überwacht aus ...

Die Ludmer fixirte ihn mit Habichtsaugen und griff zur Erhöhung ihrer geistigen Kraft und zur Unterstützung ihrer Würde in die Horndose diesmal mit einer gewissen Feierlichkeit.

Ernst hat uns von einem Bilde gesprochen, begann die Geheimräthin zu Franz gewendet, von einem Bilde, das der verdächtige Gefangene, von dessen Haft im Thurme zu Plessen ich Bericht erhalten habe, hätte von der Wand nehmen wollen. Er entsinnt sich nicht, was es darstellte?

Eine schöne junge Frau ... sagte Franz.

Schön? wiederholte die Geheimräthin mit einem eigenen spöttischen Tone.

[709]

Ganz blaß gemalt, sagte Franz und beschrieb ausführlich das uns bekannte Gemälde, indem er von seiner Verlegenheit sich allmälig sammelte.

Die Geheimräthin betrachtete die Ludmer mit den ihr gleichfalls eigenen großen stechenden Raubvogelaugen. Entsinnst du dich ein solches Bild in der Remise gesehen zu haben? fragte sie erstaunt.

Es sind im Ganzen vierzehn Bilder, sagte die Ludmer. Ja, ja und auch runde sind darunter und Pastellbilder ....

Im Verzeichniß steht Alles genau angegeben, meinte Ernst, und auch dies muß darunter sein.

Die Ludmer sah nach dem Verzeichnisse, das auf einem der kleinen Marmortische lag.

Die Geheimräthin zählte die angegebenen Bilder und fand zu ihrem Erstaunen ... eins durchstrichen.

Wie kommt der Strich durch diese Nummer? fragte sie mit großer Strenge.

Die Bedienten sahen auf das Verzeichniß und zuckten die Achseln ...

Sie wußten nichts, als daß Excellenz selbst die Liste bei sich getragen hätte ...

In der Geheimräthin stieg ein Verdacht auf, ein immer lebhafterer, ohne daß sie recht wußte, wo sie ihre Vermuthungen anknüpfen sollte.

Hier las sie von einem runden Bilde, in Medaillonform ... ein solches hatte man entwenden wollen ... und nun fehlte es!

Zornig fuhr die Ludmer die Diener an, sie sollten jetzt [710] nur gleich gestehen, wo dies Bild hin wäre und warum überhaupt Franz nun erst mit dem Landau nachkäme ....

Die Diener standen verlegen ....

Sie blieben stumm. Die Frauen wußten, daß Beide gewohnt waren, immer nur den Willen ihrer Herrin zu thun und vom Geheimrath keine Notiz zu nehmen ... sie konnten kaum mistrauen.

Es kam aber doch zu einigen Erörterungen.

Die Diener sollten erzählen, was Alles zuvor auf dem Schlosse sich Verdächtiges ereignet hätte ....

Wie groß war da freilich Paulinens Bestürzung, als sie die durch Melanie's Mädchen entstandene Plauderei, die Hackert erfahren und Dankmarn gemeldet hatte, nun auch ihrerseits in Erfahrung gebracht zu haben gestanden und der Geheimräthin eröffneten, es wäre später ein verdächtiger Mensch, der mit dem Handwerker im Thurme auffallend vertraut gewesen wäre, auf dem Schlosse erschienen, hätte dort bei den Damen außerordentliches Glück gemacht, den Geheimrath sogar in seinem Glanze sozusagen ausgestochen und man hätte sich zugeflüstert, dieser junge Mann wäre kein Anderer als der Prinz Egon von Hohenberg ....

Einen heftigern Schlag konnte Pauline nicht fühlen. Der Sohn ihrer Todfeindin, ein junger Mann, der ihr aus vielen Gründen selbst verhaßt war, erscheint auf dem Schlosse halb unerkannt und in dem wichtigen Augenblicke, wo sie sich jedes von seiner Mutter nachgelassenen Schnitzelchens und Spahnes bemächtigen wollte, um ...

[711] gewisse alte Dinge im Keime zu ersticken! Sie wußte, daß der Prinz von Paris hier angekommen, dann plötzlich sogleich verschwunden war, sie hatte durch Rapporte aus dem hohenbergischen Palais eine Ahnung von Dem, was die Diener erzählten und dafür als Jeannettens Quelle einen vom Justizrath Schlurck angekommenen Brief erwähnten .... Sie sah ihre gewagtesten Vermuthungen eingetroffen und mußte sich auf einem ihrer seidenen Polster erst sammeln, bis sie reden konnte.

Die Ludmer, umsichtiger, weil minder leidenschaftlich als ihre Gebieterin, setzte das Examen fort.

Die Bedienten kamen auf die Vorfälle im Heidekrug ...

Daß dort der Fremde, in dem sie den Prinzen vermutheten, wieder auftauchte, erschien ihnen, sagten sie, auch da im höchsten Grade verdächtig, sie hätten dem Geheimrath es, wie sie sagten, »stechen« wollen, aber ... hier fingen die beiden geschäftigen Livree – Sklaven an zu stocken ... zu erröthen, sich gegenseitig verlegen anzublicken.

Den Frauen entging davon nichts.

Was habt Ihr? hieß es.

Nichts! war die zögernde Antwort ...

Aber bald sahen die Frauen, daß ihnen gewisse Dinge verschwiegen geblieben waren und daß sie sehr gut gethan hatten, dem später angekommenen Franz zu verbieten, sich erst auf's Hofamt zum Geheimrath zu begeben.

Was wußten sie? Die Bedienten berichteten ...

Sie wußten, der Geheimrath war gestern Nacht mit dem großen Möbelwagen angekommen, auf dessen Bock [712] er, wie er sagte aus Vorsicht, bis zum Stadtthore selbst gesessen hätte. Später nahm er am Thor einen Fiaker ....

Man hatte den Geheimrath Kurt Henning Detlev von Harder zu Harderstein beim Thee, nachdem sich der Maler Heinrichson entfernt hatte, über diese Sorgfalt schon gestern sehr ausgelacht und in der Freude, den möglichen Versteck von Memoiren, die zwei Jahre lang nicht erschienen waren und doch existiren sollten, in der Wagenremise unten ganz sicher zu wissen, ihn sehr anerkannt und gelobt, trotz der lächerlichen Figur, die der ernste Mann auf dem Bock des Möbelwagens gemacht haben mußte ...

Jetzt aber erschien seine Aufopferung plötzlich verdächtig.

Man begriff nicht, wie er Franzen hatte, wie dieser sagte, verschweigen können, daß er mit dem Transportwagen fahre und als dieser sich verwirrte und sein späteres Eintreffen keineswegs, wie der Intendant, mit irgend einem Übel der Pferde entschuldigte, mußte denn vorläufig schon diese Wahrheit an den Tag, daß auch Ernst gestand, die Excellenz keineswegs gleich beim Ausfahren auf dem Bocke bemerkt zu haben. Man wäre mit dem Transportwagen vorausgefahren, in der festen Meinung, der Landau käme sogleich nach, und als das eine Weile gedauert hätte und man an eine Ecke und sonst sich schlängelnde Wege gekommen wäre und sich dem Glauben hingegeben hätte, der Landau würde schon nachkommen, da ...

[713] Da?

Da ...

Um des Himmelswillen, riefen die Frauen, wo war denn da die Excellenz?

Franz war nun ebenso neugierig wie die Damen und blickte Ernsten an ...

Als Ernst in äußerster Verlegenheit erst schwieg, dann zur Erde blickte und von der Ludmer ein wenig in handgreiflicher Sokratischer Methode an der Schulter gerüttelt worden war, sagte Franz endlich:

Wir suchten Excellenz im ganzen Heidekrug und ich hätte schwören mögen, er wäre uns gemordet worden. Sein Bett war nicht berührt. Wie er am Abend ging und stand, so war er am Morgen verschwunden.

Nun war es an Ernst, zu reden.

Über und über roth, schwieg er aber noch immer ...

Pauline pflegte in jungen Jahren bei ähnlichen Fällen an ihren Leuten durch eine kräftig eingesetzte, mit Geschicklichkeit an die Wange applicirte Ohrfeige deren Trieb nach Wahrheit zu unterstützen. Schon fühlte Ernst etwas von den Vorbereitungen eines Rückfalls in diese freundliche Ermunterungsmethode, als er lieber aus eigenem Anreiz der Wahrheit entgegen kam und seine Bereitwilligkeit, Geständnisse zu machen, durch ein schadenfrohes, boshaftes Lächeln nun schon im Voraus ankündigte.

Aha! Er lacht! Was ist? sagte die Ludmer.

Ernst wandte sich nun wie verschämt um, und meinte ganz einfach:

[714] Es ist eine curiose Geschichte!

Diese Einleitung genügte vollkommen, spannte aber auch die Neugier der Frauen auf's Höchste.

Geheimrath waren wirklich mit uns gefahren auf dem Transportwagen, sagte Ernst schlau; wir hatten ihn nur nicht gesehen.

Nicht gesehen? fragte die Ludmer und ihre Gebieterin ergänzte mit ganz gewöhnlicher auf die Würde des Intendanten nicht Rücksicht nehmender Phraseologie:

Wo steckte er denn?

Drin im Wagen, sagte Ernst und platzte mit längstverhaltenem Lachen so hervor, daß die Toilette der Damen fast in Gefahr kam.

In dem Transportwagen drin? riefen die Frauen.

Excellenz saßen im Transportwagen drin und hatten auch drin geschlafen, fuhr Ernst fort. Ja! ja! aus Wachsamkeit ganz inwendig geschlafen! Erst nachdem wir eine Stunde gefahren waren, hörten wir immer was so sonderbar rufen. Es war, als spukt' es oder als wären Ratzen in den Möbeln, so sonderbar klopfte es. Erst wußte die Gendarmerie nicht, wo's herkam. Hernach aber merkten wir's, daß es doch von inwendig kam und keine Ratzen waren. Halt! dachten wir, da hat sich Einer drin gefangen, und schon berathschlagten wir, was nun zu thun. Das Klopfen aber hörte nicht auf und statt jeder Antwort auf unser: »Wer ist denn da drin?«, bekamen wir wieder das Klopfen. Da machten wir denn die Stange los und öffneten behutsam, wie wenn Einer Vögel lebendig gefangen hat [715] und die Falle aufmacht. Wer kroch in Lebensgröße heraus? Excellenz! Von Fragens war natürlich keine Rede; denn Excellenz waren furchtbar ungnädig, winkten mit der Hand und setzten sich vorn auf den Bock, wo sie sehr wenig gesprochen haben, nichts aßen und nichts tranken als eine Tasse Kamillenthee in einem Dorfe ... und mir verboten haben ...

Verboten? rief die Geheimräthin mit satirischer, von der Vorstellung des aus dem Kasten kriechenden Gatten zum Lachen höchstgeneigter Miene; verboten, von dieser Aufopferung zu sprechen? Das Abenteuer ist so amusant, was ist da zu verbieten?

Sie betrachtete dabei mistrauisch mit den Augen zwinkernd die Ludmer.

Die Ludmer aber, die nie etwas ganz schwarz sehen konnte, lachte über die Maßen. Das Kinn wackelte ihr vor Entzücken über den eingeschlossenen Geheimrath und weit entfernt, dem Zusammenhang sothaner Misverständnisse nachzuspüren, hielt sie sich ganz einfach an das komische Factum, wie der hagere, steife, stolze Herr müßte ausgesehen haben, als er aus seiner Falle herausgekrochen gekommen wäre.

Falle sagst du, Charlotte? wandte sich die Geheimräthin zu ihr. Falle? Wer hat ihm denn eine Falle gestellt? Wie ist denn der Geheimrath hineingekommen in den Wagen, von dem mir doch gesagt wurde, daß er von Euch und zwei Bewaffneten bewacht war?

Jetzt blickten die Diener wieder scheu zur Erde und [716] verriethen, ohnehin durch die Confrontation verlegen, was ihnen Ferneres vorgestern Abend begegnet war.

Dies kam denn darauf hinaus:

Der Geheimrath hätte die übrige von Hohenberg nachkommende Gesellschaft, wie sie dachten des Prinzen wegen, mit großer Spannung im Heidekruge erwartet, wäre aber den ganzen Abend über nur mit Madame Schlurck und Fräulein Tochter zusammengewesen, wäre dann zu ihnen in den Hof gekommen, wo es vom Regen fast nicht zum Aushalten gewesen und hätte ihnen gesagt:

Kinder, wir sind hier sicher, ich will nicht, daß ihr des Wagens wegen um einen trocknen Platz kommt! Da geht hinauf und trinkt auf des Königs Wohl! Damit hätte er ihnen einen Thaler gegeben. Sie wären hinaufgegangen in die Wirthsstube und müßten sich freilich schämen zu gestehen, daß sie auf des Königs Wohl über Kräfte getrunken hätten, woran die Gendarmen Schuld wären und wie gesagt, des Königs Wohl. Nach einer halben Stunde wären dann Excellenz gekommen und hätten den Schlüssel zu der Eisenstange am Wagen verlangt. Er wollte etwas nachsehen, hätt's geheißen. Sie hätten ihn natürlich begleiten wollen, allein Excellenz hätten es nicht leiden mögen und so hätten sie für des Königs Wohl gesessen bis in die Nacht hinein. Nachher wär' ihnen aber denn doch der Schlaf gekommen und die Sorge für den Wagen. Wie groß wär' ihr Erstaunen gewesen, als sie den Wagen in der Dunkelheit offen, die Stange aber mit dem Schlüssel an einem Ende baumelnd gefunden hätten. In [717] Angst, es möchte der Geheimrath aus Vergeßlichkeit hier Gelegenheit zu einem Diebstahl gegeben haben, wären sie rasch bei der Hand gewesen, die Thür wieder zuzuschließen. Und da hätten sie denn ihren Herrn, der auf einem der Fauteuils wahrscheinlich entschlummert wäre, wider Wissen und Willen mit eingekerkert und einen so vornehmen Herrn gezwungen, die ganze Nacht in dieser höchst elenden und bejammernswürdigen Lage zuzubringen.

Pauline hielt beide Hände über die Stirn und rief halb im Zorn, halb doch von der komischen Situation ihres Gatten amüsirt, laut aus, ob denn so etwas möglich, nur denkbar und wirklich glaublich wäre!

Dann aber des sicher bei dieser Gelegenheit verloren gegangenen Bildes gedenkend, rief sie:

Was hatte er aber so spät in der Nacht in dem Wagen zu schaffen! Der furchtsame Mann, der nicht allein des Abends oben auf sein Zimmer gehen kann! Der Verschlafene, der wie die Hühner nach Sonnenuntergang kein Auge mehr offen behält!

Ernst, wie immer lebhaft, und an diese vertrauliche Art, über den Intendanten zu sprechen, im Hause längst gewöhnt, lachte und platzte mit den Worten heraus:

Nun, die Äugelchen hat wol an dem Abend das Fräulein wach gehalten.

Das Fräulein –?

Einem solchen Verrathe, der aus einer recht bösen Lust zu schaden hervorging, aus einer absichtlichen Reizung [718] zum Unfrieden, mußten denn freilich jetzt die umständlichsten Geständnisse folgen ...

Welches Fräulein? Demoiselle Melanie? Melanie Schlurck? Wie war Das? Was sah man? Was hörte man? ...

Wir lassen nun einen Vorhang fallen über die fernere Entwickelung dieser häuslichen Angeberei, die zu den allerdings wiederkehrenden täglichen Erscheinungen großer Häuser gehört, zugleich aber zu den widerlichsten Belegen raffinirter Entsittlichung.

Die Diener wurden mit dem Bemerken entlassen, daß sie zwar für die Vernachlässigung ihrer Pflichten auf dem Heidekrug Strafe verdient hätten, indessen wolle man in Anbetracht ihrer sonst aufrichtigen Geständnisse Gnade für Recht ergehen lassen und nur diese Bedingung noch ihnen ernstlich einschärfen, daß sie die Mitwissenschaft der Frauen ihrem Herrn zu verschweigen und sich überhaupt im ferneren Verlauf dieser Dinge zu erinnern hätten, von wem ihr längeres Verweilen in einem so guten Dienste, mit dem gewöhnlich eine künftige Staatsanstellung als Kastellan eines königlichen Schlosses verbunden war, abhinge, ob von Excellenz dem Geheimrath oder Excellenz der Geheimräthin ...

Die Diener gingen leise und erleichtert.

Pauline winkte der Ludmer und schlüpfte über einen kleinen Verbindungsgang aus dem Gartensalon in ihre Zimmer.

Diese lagen je nach ihrer Stimmung nach vorn oder hinten.

[719]

In dem Zimmer nach vorn empfing sie nähere Bekannte, in dem, das nach hinten lag, dachte und grübelte sie; beide waren durch ihr Schlafzimmer, einen nach beiden Seiten hin offenen Alkoven, getrennt.

Das vordere Boudoir war ungemein geschmackvoll und auch ganz so eingerichtet, als wenn sie immer in ihm verweilte. Ein Schreibtisch von Jacarandenholz, sehr zierlich gearbeitet und mit den reichsten Schnitzereien eingefaßt, trug alle jene kleinen Geräthschaften, Briefbeschwerer, Siegel, Statuetten, Visitenkartenhalter, wie man sie bei einer so gewählten Einrichtung anzutreffen pflegt. Alles lag hier zierlich und wohlgeordnet nebeneinander. Das Zimmer war hellblau. Die Sessel alle mit gelbem Plüsch überzogen. Auch die Vorhänge fielen gelb von den im Sommer sonnengeplagten Fenstern herab. Hier sah man eine Bibliothek mit kostbaren Einbänden, eine Etagère mit den »Souvenirs« und Geschenken einer ziemlich langen Lebensperiode, dazwischen Blumen, jedoch nur geruchlose, des Schlafzimmers wegen, das durch einen schweren auch gelbseidnen Vorhang von diesem Zimmer getrennt war.

Das Schlafzimmer hatte kein eignes Fenster und wurde nur durch die Fenster der beiden Zimmer, die es verbanden, gelüftet. Das Bett war einfach und verrieth in seiner geringen Aufladung einen abgehärteten fast männlichen Sinn. Das war kein Bett zum süßen Träumen, sondern zum wirklichen Ausruhen von ernstem Wachen!

[720] Ebenso war das zweite vertrautere Boudoir, das nach hinten hinausging zu dem Winkel, den im Garten der vorgeschobene Anbau des Gartensalons und das Frontgebäude bildeten, sichtlich nicht zum bloßen Staate bestimmt. Hier lebte Pauline wie sie war. Zur Rechten lag der Eingang in eine große Garderobe, wo in Schränken rings an allen Wänden ihre Kleider hingen. In diesem zweiten Boudoir war Alles grün. Auch der Vorhang, der nach dieser Seite das Schlafzimmer trennte, war grün, von einfacher Seide. Hier lagen Bücher und Schriften wild durcheinander, Papiere zerrissen im Papierkorbe, Siegel und Siegelwachs in reichster Anzahl und von wirklichem Gebrauche zeugend. Im blauen Zimmer mit den gelben Vorhängen sah man wol auch Spuren von Thätigkeit, auch einen Papierkorb, auch Siegelwachs und Petschafte, aber Alles zierlich, lieblich, graziös, wie für den Gebrauch eines Elfen, einer Sylphide bestimmt. Im hellgrünen Zimmer mit den dunkelgrünen Vorhängen und Möbeln dagegen traf man das wirkliche Leben ihrer starkgeistigen Bewohnerin. Da waren Schubfächer mit geheimen Druckern, Schränke, festverschlossen, und Polster, die wirklich zerlegen und zersessen waren. Hier war Pauline wahr. In dem Vorderboudoir gab sie einen gefälligen Schein. Wohnlich und traulich war es dort ... Man mußte glauben, in ihre geheimste innere Werkstatt zu kommen, wenn man durch eine lange Reihe Gemächer endlich durch den allgemeinen Empfangsalon bis in jenes blaue Zimmer gelangte. Da war Alles fesselnd und sinnvoll, gemüthlich [721] und beziehungsreich. Man mußte die sinnige Frau, den still waltenden Geist bewundern, der hier wirkte und schaffte und sich mit dem bescheidenen, anspruchlosen Bett begnügte. Aber ... Pauline wohnte nicht hier. Sie wohnte in dem Zimmer Grün in Grün mit düstren Vorhängen, schattig und dunkel und in hundert Spuren die Wildheit ihres Innern verrathend. Hätte sie noch so lieben können, wie sie einst liebte und Niemanden leidenschaftlicher, als jenen Heinrich Rodewald, sie würde auch diesen Raum zu einem Tempel der Liebe erweitert und verschönert haben ... Jetzt trug er keine Spuren mehr davon. Mit ihrer letzten längern »Liaison«, dem französischen Attaché Grafen d'Azimont, hatte sie diesen sie ganz allein erfüllenden Anregungen ihres Innern Lebewohl! gesagt und sich überhaupt, in Rücksicht auf die kleinen Cirkel, einer musterhaften Aufführung befleißigt. Man muß gestehen, daß sie Ursache hatte, endlich etwas zu finden, was sie ganz erfüllte. Sie hatte zu Vielem entsagt, um nicht Ansprüche auf die stärkste und umfassendste Befriedigung ihrer nach Thätigkeit schmachtenden Seele zu haben. Das Verhältniß zu dem Maler Heinrichson war jetzt ein letzter sanfter Abendschimmer der Vergangenheit. Dieser junge, schöne, elegante Salonmaler besuchte sie täglich, aber sie gefiel sich darin, vor der Welt die Miene anzunehmen, als wenn er in ihr, der bald Sechzigjährigen, nur eine Mutter besäße, eine ältere, rathende, anregende Freundin ... Wie hätte sie auch sonst von Heinrichson's kleinen Aventüren sprechen und oft zur Trompetta, zur [722] Mäuseburg, zur Werdeck, zur Landskrona, zur Spitz sagen können: Ach, ich bin recht verstimmt ... Heinrichson hat so viel Unglück mit einer kleinen Blondine oder einer Brünette, die er liebt! Ich habe das Mädchen besucht, ihr einen Shawl geschenkt ... oder einen Hut ... aber sie liebt ihn nicht und macht mich unglücklich!

Die Ludmer folgte Paulinen in das Zimmer Grün in Grün. Aufmerksam hörte sie ihrer Gebieterin und Freundin zu, als diese auf eine Ottomane sich werfend, nunmehr ausrief:

Welche Entdeckungen! Welche Enthüllungen! Henning im Möbelwagen! Prinz Egon auf Hohenberg! Eine junge Kokette, die so liebenswürdig und geistreich sein soll, daß der Geheimrath ganz aus der Façon gekommen sein muß und seine Grandezza und seine pariser Perrücke einmal vergessen hat! Ein Bild, das über dem Wirrwarr verloren geht, vielleicht geraubt wird! Wer bringt Licht in dies Dunkel? Wer entwirrt uns eine Intrigue, die doch an den sichtbarsten Fäden uns umsponnen hält? Und bei dem Allen, mag es sich entwirren wie es will, wer bringt uns das von Harder hier ausgestrichene Bild zurück, das vielleicht grade die Denkwürdigkeiten meiner Feindin, die Rache einer Heuchlerin enthält! Denn ich besinne mich! Die Fürstin starb mit dem letzten Ausruf:

das Bild! Und die Familienbilder sollte Prinz Egon behalten ...

Ach! Man verlangt von Hardern, sagte die Ludmer beruhigend, einen genauen und unverhohlenen Bericht.

[723] Was kann uns der helfen? antwortete Pauline, wenn er selbst, wie es scheint, zu Denen gehört, Die irgend eine schlaue Berechnung täuschte. Hat er wohl ein Wort von Prinz Egon's Anwesenheit gesprochen? Er wird uns vielleicht nicht betrügen, gehört aber, wie wir Alle, zu den Betrogenen! Es ist gar zu lächerlich, in einem Möbelwagen verschlossen zu werden und statt im Bett, auf einem Fauteuil in einer ambulanten Remise einzuschlafen. Und gib Acht! Wir werden forschen dürfen, so viel wir wollen, wir werden nichts von ihm erfahren, als daß er hätte »gewissenhaft« sein wollen.

Es kommt auf eine Prüfung an, sagte die Ludmer, die sich mit Recht von der Furcht Henning von Harder's vor seiner Gattin viel versprechen durfte.

Und Schlurck, fuhr Pauline fort, der sonst so aufmerksame Schlurck, der mir nie etwas verschwieg, was sich auf Egon bezog, er verschweigt mir diese Reise nach Hohenberg! Auch Zeisel hat mich vergessen, weil ich es nicht möglich machen konnte, ihm eine seinem alten Range angemessene Versetzung zu verschaffen. Er soll die Arrestation des neugierigen, sicher verkappten Handwerksburschen ganz oberflächlich betrieben haben. Kurz, ich bin nicht mehr Die, die ich war ... ich existire nicht ... man ignorirt mich, man durchkreuzt mir die besonnensten Pläne.. man operirt, daß sie scheitern müssen!

Du unternimmst zuviel, antwortete die Ludmer, und war erfreut beim ruhiger ausströmenden Schmerz der [724] Gebieterin mit Anstand wieder eine Prise nehmen zu dürfen. Du wagst dich an die schwierigsten Dinge, ohne dafür eine Anerkennung zu finden. Ich wünschte wol, du hütetest dich vor Schlurck –

Vor Schlurck? Wie so?

Seine Späße sind oft bitter! Seine Mienen haben etwas Säuerliches, als wollte er sagen: ....

Nun? Was sagen?

Die Ludmer stockte ...

Foltre mich nicht! fiel die Geheimräthin ein. Verdächtige mir nicht die besten Freunde!

Die dich benutzen und fallen lassen, wenn sie dich auspreßten ....

Schlurck mich benutzen? fragte verdrießlich die Geheimräthin, deren Geschmack zugleich an dem Bilde von der ausgepreßten ... Citrone kein Gefallen fand.

Schlurck ist mir verdächtig ... sagte die Ludmer. Ein so boshafter kalter Egoist ....

Ah! Bah! antwortete die Geheimräthin. Das verstehst du nicht. Das ist ein Philosoph und nach dem Abenteuer seiner Tochter mit Harder zu schließen, hat das Mädchen Laune und Geist ... ich muß sie kennen lernen ....

Damit sie dich immermehr umstricken? Immermehr misbrauchen!

Misbrauchen? Wozu? fragte die Geheimräthin ungeduldig.

Der Obercommissair hat mir Alles erklärt und auseinandergesetzt ....

[725] Man muß gestehen, sagte die Geheimräthin bitter, deine Verwandtschaft wirkt sehr ungleichartig auf dich. Deiner Nichte weisest du die Thür ... und deinem sogenannten Neveu, der dich beerben wird, der jetzt schon sogar deine Verwandtschaft erbt, ohne je etwas Anderes gewesen zu sein als ein gewandter Intrigant und dein Liebhaber ....

Pauline! Du bist gereizt! sagte die Alte mit ärgerlichem Tone, aber doch von dem Worte: Liebhaber! angewandt auf ihre alten welken Züge, ein wenig geschmeichelt ....

Was sagte denn Pax? fragte die Geheimräthin.

Als Obercommissair der Polizei kann Pax klar sehen, antwortete die Ludmer. Er warnt vor Schlurck. Wenn Prinz Egon die Verwaltung seiner Güter übernimmt, verliert der Justizrath die Hälfte seiner Einkünfte. Die andere Hälfte kommt von der Administration der alten städtischen Häuser .... Mit der sieht es gleichfalls nicht besser aus.

Er wird sie behalten!

Denkst du? Jetzt, wo das Ministerium Alles daran setzt, diesen Proceß zu gewinnen?

Der Hof ist für die Ansprüche der Commune.

Dank deinem Einflusse! Wie schlau weiß ihn dieser Schlurck nicht zu benutzen! Wie zerfloß er in Rührung, als du ihm sagtest: Die Königin misbilligt die Handlungsweise des Ministeriums und bietet Alles auf, der Commune ihre alten Schätze zu erhalten!

Kind! Er lachte darüber! sagte die Geheimräthin. Er [726] lachte über die Geistesrichtung des Hofes, daß dieser sogar gegen seinen eignen Vortheil gestimmt ist, wenn es sich um eine mittelalterliche Träumerei handelt. Du sprichst von meinem Einflusse! Soll Das Spott sein? Anna! Anna! Meine Schwester! Das ist die Quelle, zu der Schlurck Zugang finden müßte! Anna wird entscheiden können ....

Warum Anna?

Durch unsern Schwiegervater! Das Obertribunal wird in letzter Instanz Recht geben und behalten. Wer weiß, ob das dringende Verlangen des Hofes, Annen's Bekanntschaft zu machen, nicht mit jenem Proceß zusammenhängt!

Nimmermehr, sagte die Ludmer, die sich auf die Länge immer mehr als eine kluge, praktische Frau zu erkennen gab, nimmermehr, Herz! Solche Einwirkungen können wol den Untergeordneten einfallen, aber die Oberhofmeisterin, die Altenwyl, denkt an solche Pläne nicht. Man schätzt Anna, weil sie für anspruchslos gilt und sich ganz und ausschließlich der Pflege eines ehrwürdigen Alten widmet. Auch treibt sie alte Musik. Das ist allein schon hinreichend, ihr ein Lüstre zu geben, wie man's nun oben einmal liebt. Rechnet man noch die Neugier hinzu, eine Frau kennen zu lernen, die von dir so verschieden sein soll, so ist Alles beisammen, was dort für sie spricht. An den Proceß denkt Niemand. Pax meint Das auch.

Ich will es glauben, sagte Pauline, was Anna's Beziehung zum Papa anlangt. Allein der Gegenstand, um den [727] mich Schlurck neuerdings besucht, ist dem Hofe wirklich sehr wichtig. Er wird viel besprochen und auf die Lösung ist man allgemein gespannt. Und so wunderlich ist dabei die Stellung der kleinen Cirkel zum Ministerium, daß beide ganz verschiedene Zwecke verfolgen. Die Ministerien wollen die alte Erbschaft für den Staat und die kleinen Cirkel sind dafür, daß sie der Stadt verbleibt. Das wissen sehr Wenige und Keiner wird es begreifen, der sich nicht in die Natur dieser träumerischen Menschen oben hineingefühlt hat. Und sind wir doch selbst an der Entscheidung betheiligt? Unser altes Familienhaus in der Stadt ist ein Johanniterlehn. Jahrhunderte lang zahlten die Marschalks eine sehr geringe Abgabe an die Stadt, der die Rechte und Besitzungen übertragen wurden, als die alten Ritterorden protestantisch wurden und ihre großen Güter auseinanderfielen an den Ersten Besten, der in Zeiten allgemeiner Verwirrung von ihnen Vortheil zog und Besitz zu ergreifen verstand. Wenn wir nun vom Staate abhängig werden, würde der Zins ohne Zweifel erhöht. So geringfügig dieser Grund sein mag, der auch uns sollte wünschen lassen, die Sache bliebe beim Alten, so habe ich doch dadurch ein geeignetes Mittel, den intimsten Wünschen der eigentlich einflußreichen und das Ganze regierenden Partei entgegenzukommen, und es ist wiederum eine unbegreifliche Vernachlässigung Schlurck's, daß er mir so lange auch nicht über den Gang dieser Angelegenheit berichtet hat.

Lange wogte so das Chaos von vielen ungewissen und [728] quälenden Stimmungen und Betrachtungen in der ehrgeizigen, thatendürstenden Frau auf und ab. Was war da nicht Alles, das schattenhaft vor ihr auf – und niedergaukelte! Liebe, Haß, Streit, Friede, Staat, Familie, die Welt, ihr Haus, ihr Herz .... Alles war in Aufregung und keine Idee war da, die ihr als Stütze und Anlehnung in dieser Verwirrung hätte dienen können.

Sie warf einen Rückblick auf die Vergangenheit ....

Ach! sagte sie; wo sind die Männer, die uns einst zur Seite standen?

Lass' Das! rief Charlotte Ludmer. Sieh, da geht der Commissionair des Hotel garni am Paradeplatz ... er kommt zu uns ....

Ich will nichts wissen von der Gegenwart, sagte Pauline. O diese Vergangenheit! Diese kraftvollen Arme, die uns einst emporhielten über diese schaale Welt ....

Ein Bedienter geht über den Hof und bringt eine Karte, sagte die Ludmer, die von dem grünen Zimmer zuweilen in das gelbe schritt ....

Erst dieser Ried, mein erster Mann! Ich war jung, kindisch. Ich nahm einen reichen Finanzier. Er war alt, dick, unausstehlich, aber in seiner Weise anerkennenswerth, unternehmend, speculativ. Dann Anton.. auch Eduard ... aber Heinrich Rodewald! Welch ein Heros! Welcher Titan an Größe des Geistes! .... Mit seiner Untreue brach meine Kraft.

Du wirst in den Blättern deines Lebens nachschlagen, sagte die Ludmer spottend, bis du auf Zeck kommst ....

[729] Charlotte!

Denselben Zeck, den Schlurck schon einige Male in deiner Gegenwart so zweideutig genannt hat!

Schlurck? Es ist wahr ...

Wenn Schlurck die Denkwürdigkeiten der Fürstin Amanda längst besäße!

Charlotte!

Eben wollte die Ludmer sagen: Warum vermeidet dich seit einiger Zeit der Justizrath? als der Bediente Ernst eintrat und zwei eben abgegebene Gegenstände brachte, eine Karte und einen Brief.

Auf der Karte stand: Justizrath Schlurck wird sich die Ehre geben, binnen einer Viertelstunde, wenn erlaubt, aufzuwarten ...

Triumphirend blickte die Geheimräthin, die viel Neigung für Schlurck's philosophische Weltanschauung hatte, auf die »auch gar zu kluge«, wie sie sie öfters nannte, geheime Vertraute.

Und als sie vollends den vom Commissionair gebrachten Brief entgegengenommen und die Aufschrift gelesen hatte, gerieth sie in ein höchst angenehmes Erstaunen.

Von der d'Azimont! rief sie. Ist es möglich? Aus Paris?

d'Azimont? Kommt der Graf zurück? fragte die Ludmer gedehnt und gedachte dabei im Nu der Möglichkeit neuer Störungen des sittlichen Verhaltens, das Pauline dem Hofe gegenüber behaupten wollte.

Pauline durchflog das Billet in gespanntester Aufmerksamkeit und ließ während des Lesens die Worte hinfallen:

[730] Nein – der Graf nicht – von ihr – Was? – krank – Wer? Prinz Egon ist krank? – Der Arme – sie hat sich brouillirt – mit dem Grafen? – Nein, mit Egon auch? O! -Sieh! Sieh! – Sie ist rasend – sie verzweifelt – sie wird abreisen? – sie kommt von Paris – Nein, was les' ich denn! Sie ist schon da! Himmel der Brief ist ja von hier –

Die d'Azimont ist hier? fragte die Ludmer.

Die d'Azimont! Helene d'Azimont, Egon's Geliebte! Hier?

Sie war dir immer zugethan ... aber ....

Indem fuhr ein Wagen vor. Ohne Zweifel schon der angekündigte Besuch des Justizrathes ...

Unterhalte dich eine Weile mit Schlurck, sagte Pauline rasch, legte das empfangene Billet zurecht und setzte sich zu einer Antwort hin. Schlurck soll nicht gehen, hörst du? Der Bediente der d'Azimont soll warten. Ernst soll sich erkundigen, ob Prinz Egon wirklich wieder sichtbar, wirklich krank ist und seit wie lange? Ich vermuthe, er verleugnet sich nur der Armen wegen, mit der er brechen will, der alberne Sohn einer albernen Mutter – Franz soll auf's Hofamt sagen, daß ich den Geheimrath um drei Uhr zu sprechen wünsche – wir essen um vier ... Um acht heute Gesellschaft ... Wenn Schlurck fort ist, mach' ich Toilette ....

Die Ludmer ging gehorsam nach vorn in's Empfangzimmer und brummte lachend vor sich etwas hin, als wollte sie sagen:

Nun ist ja Alles wieder im besten Zug!

[731] Und in der That schien es wirklich zu gehen. Da war ja mit einem Male Alles wieder wie es sein sollte. Menschen, Briefe, Neuigkeiten, Situationen ... Alles, was Pauline haben mußte, um leben zu können.

Mit rascher Hand warf sie auf ein zierliches Blatt die Worte:

»Tausendmal gegrüßt, liebenswürdige Freundin! Engel, wie schön, daß Sie da sind! Zittern Sie doch nicht um Ergon! Wenn er seiner Mutter gleicht, ist er sanft und wenn er dem Vater gleicht, nur leichtsinnig! Kommen Sie an mein Herz! Haben Sie Thränen zu weinen, in meiner Brust ist eine Stelle, wo Thränen nicht entweiht werden! Kommen Sie! Kommen Sie! Um Eins! Toute à Vous! Um Eins, oder um Sechs, wie Helene will! Ach Helene, wie lieb' ich Sie! Nein daß Sie da sind! Wie überraschend! Wie Helenisch! Willkommen! Willkommen!«

Rasch gesiegelt, geklingelt, abgegeben. Den Kopf geordnet, das Bandeau über das Haar gezogen, die langen spitzenbesetzten Zipfel noch einmal zu einer schönen Schleife geknüpft, die Falten der Morgenrobe geglättet, ein Batisttuch in die Hand genommen, noch ein Blick in den Spiegel und dann nach vorn geschwebt, durch das Schlafkabinet aus dem Zimmer Grün in Grün in das Zimmer Gelb in Blau. Die Thür geöffnet ... alle unmuthigen Mienen verschmolzen in holdseligstes Lächeln –

Schlurck trat ein ...

[732]
2. Capitel. Was ist Romantik
Zweites Capitel
Was ist Romantik?

Die Ludmer hatte sich entfernt, um noch einmal den Versuch zu machen, ob sich nicht unter den Geräthschaften, die von Hohenberg gekommen waren, doch noch das fehlende Bild fände.

Sie hatte bei ihrer Gebieterin zu oft erlebt, daß diese im stürmischen Eifer ihres Temperamentes etwas zu vermissen glaubte, was sich später doch so vorfand, ganz wie es sein sollte ....

Wir überlassen sie ihrer, im heutigen Falle fruchtlosen Arbeit.

Die Geheimräthin und Schlurck saßen sich indessen schon auf bequemen Polstern gegenüber.

Der Schimmer der gelben Decorirung that seine Wirkung. Pauline erschien frischer, als sie heute schon hätte in Folge der gewaltigen Aufregung aussehen können.

Wenn man glauben wollte, diese beiden Naturen, die von Ehrgeiz zernagte Pauline und der ruhige Epikuräer, hätten füreinander so gepaßt, wie Pauline glaubte, würde man irren. Sie verstanden sich gegenseitig, aber sie gaben keinen gleichen Accord. Sie schätzten sich, ohne sich zu [733] lieben. Schlurck war dies Feuer denn doch zu zehrend, Paulinen sein Phlegma denn doch zu lähmend. Sie hätte immer stürmen, drängen, wirken mögen, er lächelte nur und glossirte. Er arbeitete nur, um die Mittel zum Genuß zu haben, den sie verschmähte, deshalb vielleicht verschmähte, weil sie ihn besaß, ohne ihn erwerben zu müssen.

Schlurck führte auch ihre sehr günstigen alten Ried'-schen Finanzen, die von denen des minder begüterten Gemahls gesondert verwaltet wurden.

Des Jahres zwei- oder dreimal gab er ihr eine Übersicht ihrer Einnahmen und gern hörte sie ihm zu, auch wenn er dann gelegentlich von andern Dingen sprach.

Heute nun erklärte Pauline sogleich, über Vieles mit ihm Rücksprache nehmen zu müssen und Schlurck, lächelnd seine Brille abnehmend und die Gläser mit dem einen seiner gelben Glacéehandschuhe, den er auszog, putzend, antwortete:

Ich habe zwar nicht viel Zeit, indessen fangen Sie an! Sie verstehen zu fesseln.

Wollen Sie heute mit mir rechnen? fragte Pauline, um Zeit zu gewinnen, alle ihre Fragen sich erst vorsichtig zurecht zu legen.

Nein, meine Gnädige, erwiderte Schlurck, ich komme nur, um mein Bedauern auszusprechen, daß es mir nicht gelingen wird, die mir vom Reubunde zugedachte Rolle zu spielen. Wollen Sie mich an ein anderes Wahlgebiet verweisen, in der Vorversammlung zu Helldorf ist meine [734] Bewerbung durchgefallen. Mein eigener Lobredner, Justus, der Dorftartüffe, der große Mirabeau der gemäßigten Dummheit, wird die meisten Stimmen davontragen.

Wahlen sind immer interessant, wie auch für Die, die nicht in der Lotterie spielen, die Nachricht von großen da- oder dorthin gefallenen Gewinnen unterhaltend bleibt.

Pauline sprach ihr Bedauern aus und verhieß, anderweitig sorgen zu wollen.

Nein, sagte Schlurck, ich bitte! Lassen Sie mich lieber ganz davon, gnädige Frau! Ich passe in diesen Wirrwarr nicht. Meine Geschäfte wachsen mir über den Kopf, ich müßte sie so vernachlässigen, daß ich in meiner Praxis zurückkäme. Was hülfe mir ein Portefeuille, das ich vier Wochen lang verwaltete? Ehe ich mich noch in der Ministerstraße eingerichtet hätte, müßt' ich schon wieder ausziehen und einen Ärger hätt' ich vielleicht davon, so empfindlich, daß ich meine Verdauung schwächte. Ich werde recht difficil mit meinem Magen.

Aber wenn Sie sich nun behaupteten, Justizrath! Wenn Sie eine Partei bildeten!

Behaupten kann ich mich schon deshalb nicht, weil ich zu leise spreche, und von Parteibildung ist noch weniger die Rede, da ich zu sehr Advocat bin, um nicht jede Ansicht, die uns Vortheil bringt, vernünftig zu finden. Was soll ich für eine Partei bilden? Die der äußersten Austernesser wäre mir die liebste, und auch bei denen [735] gibt es nicht immer einerlei Meinung. Die Einen ziehen die Austern mit Porter, die Andern mit Rheinwein vor und schon über die obligate Anwendung der Citrone hab' ich mich mit mehren meiner Collegen zuweilen überworfen. Nein, nein, keine Politik mehr! Ich habe Fälle erlebt, daß einige meiner Austernfreunde, die sich wählen ließen, plötzlich Gesinnung bekamen. Denken Sie sich, friedliche, ruhige Menschen, die nichts in der Welt mehr kümmert, als daß der Kanzleidiener richtig jedes Quartal ihre Gage bringt, diese kommen plötzlich in Unruhe, weil zweifelhafte Fälle ihr Gewissen beängstigen. Sie erinnern sich dann, daß sie einmal von einem gewissen Papinian auf der Universität gehört hatten, der lieber den Kopf verlieren, als eine ungerechte Sentenz fällen wollte, und wirklich, meine Freunde verloren den Kopf. Das Gewissen, die aufgerüttelte alte akademische Erinnerung guillotinirte sie. Sie hörten von zwei Parteien, saßen mitten drinnen zwischen Baum und Borke, das Beispiel steckt an, die Wähler drohen auch, was macht nun so ein unglücklicher Appellationsgerichtsrath mit Weib, Kindern und seinen alten Collegienheften? Immer schwebt ihm der kopflose Papinian vor Augen und richtig, er legt sich auch auf den Block, stimmt glorreich, wie es die feierlichen Momente, wo Jahrhunderte auf dich herabsehen, edler Staatsbürger, mit sich bringen und ist für ewige Zeiten – geliefert! Ich habe die harmlosesten Menschen aus dem Austernclub verschwinden sehen, denen jetzt kaum etwas Anderes übrig bleibt, als sich einen Hut mit rothen Federn und [736] eine Büchse zu kaufen, um auf Leben und Tod unter die Freischärler zu gehen.

Pauline lachte und erwähnte einige Namen, denen es freilich so ergangen war ... andere, die sich durch die schamloseste Reue im Reubunde wieder zu rehabilitiren suchten.

Nein, fuhr der Justizrath fort, keine Politik! Ich habe wirklich zuviel in meinem nächsten Beruf zu thun. Das häuft sich unglaublich. Prinz Egon ist nun zurück und die große Hohenbergische Auseinandersetzung nimmt ihren Anfang. Auch dem Proceß, den ich für die Commune führe, Sie sind selbst daran betheiligt, droht plötzlich eine ganz neue Wendung ...

Ja! fragte Pauline, wie steht es damit? Siegt das Kreuz mit den drei oder mit den vier Blättern? Bei Hofe wird viel davon gesprochen.

Ich wünschte, sagte der Justizrath und rückte dabei die Brille auf dem Augenknochen zurecht, ich wünschte, wir wären mit dieser Sache über allen und jeden Klee hinweg, den drei- und den vierblättrigen; den Luzerner Jesuitenklee, den ich dabei wittre, gar nicht zu rechnen. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, daß sich zu den beiden streitenden Parteien auch noch eine dritte gesellt ...

Eine dritte? Wie wäre Das? fragte Pauline gespannt. O reden Sie!

Lassen Sie mich noch davon schweigen, meine Gnädigste, erwiderte Schlurck; nur soviel ahn' ich, daß die [737] Verwickelung den höchsten Grad erreichen kann, so sehr, daß ich zwischen zwei Feuer gerathe und diesen ganzen Gegenstand in andere Hände geben muß.

Sie spannen meine Neugier! sagte Pauline.

Als Schlurck aber schwieg, fuhr sie fort:

Sie wissen doch, daß der Hof an diesem Proceß Interesse nimmt? So geben Sie mir auch Materialien, auf den alten Grafen Franken oder meinen Mann oder sonst einen Kanal dort wirken zu können!

Es ist merkwürdig, antwortete Schlurck, daß die Minister für eine Entscheidung kämpfen, die den kleinen Cirkeln gar nicht lieb wäre.

Verstehen Sie diesen Widerspruch?

Ich glaub' ihn zu verstehen, sagte der Justizrath und schüttelte den Kopf.

So klären Sie mich darüber auf!

Meine Gnädige, sagte Schlurck, wir leben im Zeitalter der Confusionen. Was der Körper begehrt, darüber scheint unser Jahrhundert einig zu sein. Daß der Magen in den materiellen Fragen die Hauptrolle spielt, haben die Proletarier sowol wie die äußersten Austernesser hinlänglich entschieden und man kann von diesem Standpunkte dem Kampfe ruhig zusehen. Es ist ein Kampf der Verdauungsorgane. Siegen Die, die nur Brot haben wollen, d.h. Brot im weitesten Sinne, als da sind: Trüffeln, Austern und Seefische (denn Das ist der ganze Sehnsuchtsjammer auch Derer, die nur Brot! Brot! schreien), so werden sich ihrer so viele wieder den Magen verderben, [738] daß Brot, einfaches Brot, eine Delicatesse wird und wir da ankommen, wo wir ausgegangen ...

Das ist die materielle Frage, sagte Pauline, aber auf die Materie folgt ...

Das Herz! sagte Schlurck galant und doch ausweichend. Was das Herz anlangt, meine Gnädigste, so ist das Ihr Capitel! Die Verfasserin der Amarantha – wissen Sie, daß ich altbackner Mensch aus dem empfindsamen Zeitalter von Hölty und Matthison dies Meisterwerk immer noch nicht gelesen habe?

Sehr Unrecht von Ihnen, Justizrath!

Aber Nadasdi hab' ich gelesen, schaltete Schlurck pfiffig ein und runzelte damit Paulinen die Stirn.

Alte Sünden, sagte sie, längst vergeben!

Nein, meine Beste, bemerkte Schlurck, Nadasdi las ich, weil ihn Alle verurtheilten, Amarantha nicht, denn die priesen Alle. Der gute Advocat nimmt sich immer des Bedrängten an; so zog's mich zu dem schönen Ungar, der mich ganz gut unterhalten hat. Und wissen Sie warum? Weil ich darin eine Frau fand, die sich in nichts als Frau verläugnen konnte und ganz meisterhaft nach der Natur copirt war, nämlich die Verfasserin selbst.

Pauline wollte entgegnen und abbrechen ...

Erlauben Sie, sagte Schlurck. Ich habe eine große Bibliothek und gelte für einen Literaturfreund. Allein ich sammle und steigere meist auf die Werke, die die berühmten Autoren gern von sich verstecken möchten. Die allgefeierten Schriften belehren mich lange nicht so wie die [739] mislungenen. Und ohne nun sagen zu wollen, Nadasdi wäre mislungen –

Sie haben keine Zeit, sagten Sie, und spotten so behaglich? bemerkte Pauline und drohte mit dem Finger –

Ohne sagen zu wollen, wiederholte Schlurck sehr nachdrücklich, Nadasdi wäre mislungen, so fehlt ihm gerade deshalb die künstlerische Abrundung, weil Sie zuviel von sich selbst gegeben haben. In der Amarantha hör' ich, daß Sie, schlimme Frau, Andere geschildert haben – Andere kenn' ich genug – die Familie der Andern, ach, die ist so groß! Aber Sie, Sie in Ihrer Unruhe, Ihrer Sehnsucht, Ihrem Bedürfniß nach Anlehnung, Sie hab' ich in Nadasdi gefunden. Ich sah eine Frau, von der ich wußte, warum sie liebt. Sie lieben deshalb, weil Ihnen die männliche Ergänzung Bedürfniß ist und wer mir gesagt hat, Sie wären von einem männlichen Geiste, dem hab' ich geantwortet:

Nein, diese Frau ist ganz Weib und wenn man's nicht glauben will, so lese man den Nadasdi.

Schlimmes Compliment! antwortete Pauline überrascht von Schlurck's Artigkeit, hinter der ihr etwas verborgen schien. Sie wollen doch wol nur andeuten, daß wir nichts ohne die Männer vermögen und daß wir, wenn wir einmal selbst etwas schaffen wollen, höchstens einen misrathenen Roman zu Stande bringen?

Vergebung, sagte der Justizrath halb und halb beistimmend und das Bittere seiner Äußerung durch einen Handkuß überzuckernd, ich wollte nur sagen, warum ich die berühmten Schriftsteller gern aus den Werken studire, [740] die sie nicht gesammelt haben. Ich komme darauf zurück, daß über die Stellung, die das Herz zu unserm Jahrhundert einnimmt, doch wol die Damen entscheiden mögen.

Nun aber der Geist? sagte Pauline. Sie vergessen die Erklärung des Widerspruchs, in dem die kleinen Cirkel über jene Angelegenheiten befangen sind.

Beste gnädigste Freundin, sagte Schlurck, der Geist ist ein Chamäleon oder einer jener delicaten Fische des Alterthums, der sich in italienischen Seen finden soll und über dessen Geschmack ich nichts sagen kann, ebensowenig wie über seine zweckmäßigste Zubereitung. Dieser Fisch aber, soviel weiß ich, meine Beste, hatte die curiose Eigenschaft, daß er, gekniffen und gemartert, in hundert Farben spielte. Über den Magen, über das Herz ist man einig; man weiß, daß speisen und lieben oder, um mich anständiger auszudrücken, geliebt werden in dieser Beziehung die befriedigendsten Seligkeiten gewähren, aber der Geist, dessen Nahrung, dessen Befriedigung, darüber rennen sich die Behälter des Geistes, die Köpfe, blutig aneinander. Was im Mittelalter Geist war, nun wohl, das wußte man damals, es war Religion und Scholastik. Was in der Reformation Geist war, das wußte man auch, es war Bibelerklärung und hebräisches Wortgeklaube. Was im vorigen Jahrhundert Geist war, das kannte man unter dem Namen Esprit, Voltaire, Hume. Aber was jetzt Geist ist, gnädige Frau, was jetzt dem Einen tief, dem Andern oberflächlich erscheinen soll, darüber herrscht mehr Anarchie als in der Gesetzgebung über die Einreden und [741] Verjährungen. Erstaunen Sie nicht, die kleinen Cirkel halten es geradezu für geistreicher, der Commune den Sieg in dieser Frage zu gönnen als dem Fiscus.

Für geistreicher? wiederholte Pauline lachend. Das zu fassen, bin ich zu geistesarm. Romantischer, sagen Sie!

Meine Beste, fuhr Schlurck fort, der an Paulinen oft gemerkt hatte, daß sie sich belehren ließ; sehen Sie, das ist etwas, was sich mehr fühlen als beschreiben läßt. Ich will Ihnen eine Analogie sagen. Wenn ich Caviar esse, den ich sehr liebe, falls er im Rathskeller frisch und hübsch großkörnig angekommen ist ... wenn ich Caviar esse und der grüne Römer, mit Rüdesheimer gefüllt, steht vor mir und man fängt an zu streiten über Das, was wahrer sei: der Ausspruch eines Weisen oder der eines Narren, so gefällt mir der Narr besser. Ich höre oft feinstilige Autoren verurtheilen, weil sie bestechlich waren und mich prickelt mein Caviar und mein Rüdesheimer so, daß ich's laut ausrufe: Bestechlich hin, bestechlich her! Schreibt erst so wie sie! Tischt mir Eure Tugenden in einem Stile auf, der so glänzend ist, wie seine Laster schrieben, und dann möcht' ich manchmal in meine Bibliothek und solchen Schwätzern gleich die ganze Sammlung von zwölf oder zwanzig prächtig eingebundenen Werken dieser angefeindeten Lebemänner an den Kopf werfen! Ich liebe nun den Witz, die Bosheit und die schlagenden Antithesen in der Schreibart, Andere lieben das Bauschige, das Prächtige, das Rauschende, das Stoffene, Andere wieder das Harmlose, [742] Bescheidene, Fromme, Gänseblümige, Veilchene. Aber ...

Sie schildern ja unsere kritische Anarchie, Justizrath! unterbrach Pauline.

Ich schildere unsere ganze Geistesverwirrung. Sie findet sich überall, auf allen Gebieten. Das Wunderliche erscheint den Leuten wunderbar. Das Seltsame ist ihnen die Regel. Das Aparte sogar soll ihnen das Allgemeine sein. Gesinnung! Ich höre nicht gern davon, weil nachgrade das Verlangen danach unbequem wird. Aber diese geistreichen Empfindler nennen die Gesinnung unschön. Warum? Sie erhitzt! Sie spricht viel! Sie zwingt zur Kameraderie! Sie läuft! Sie rennt! Sie träumt, wenn sie vom Zweikammersystem reden soll, nicht über den Humboldt'schen Kosmos, nicht über Goethe's Morphologie der Pflanzen, nicht über Dante's Paradies und Hölle ... wie kann man so geistlos sein und von der Zeit, von Tendenzen, von der Gesinnung reden! Verstehen Sie? ....

O ich merke etwas von den »kleinen Cirkeln«, sagte Pauline lächelnd.

Nun nehmen Sie einmal unsern Proceß, fuhr der feine Ironiker fort. Siehe! Da gab es eine Zeit, die da geheißen ward: die mittlere. Und siehe! Da gab es eine Ritterschaft, die da geheißen ward: die geistliche. Die Einen trugen einen weißen Mantel mit rothem Kreuz und hießen Templer, und die Andern trugen einen schwarzen Mantel mit weißem Kreuz und hießen Johanniter. Beide erwarben Schätze, beide legten Comthureien und sozusagen Relais [743] für die Kreuzzüge an, Stationen, wo nur Tapferkeit, dummer Glaube, alter Wein und baares Geld zu finden war. Man kaufte Güter, baute Burgen, baute Häuser in den Städten und wußte mit dem Schwerte Das gewaltsam einzutreiben, was nicht mit dem Klingelbeutel von selber kam. Diese Ritter waren halb Soldaten, halb Mönche. Sie können sich denken, welches übermüthige Volk! Die Fürsten ertrugen's auch nicht gar lange und verbrannten und verbannten die Templer, die schon die üppigsten von Allen waren, wie Sie in der Oper sehen können, wenn sie einmal (der Templer und die Jüdin) wieder gegeben wird. Die Johanniter duckten sich und hielten sich länger ... Das schadet aber Alles nichts. In den Gemüthern, die, wie schon gesagt, das Bauschige, Prächtige, Rauschende, Stoffene lieben, bleiben diese Gestalten der Vorzeit ehrwürdig. Und nun kommt die Reformation, dieses in gewissen Kreisen so wenig geachtete Lichtexperiment, das wie unsere neue Gasbeleuchtung dem Einen nicht hell genug, dem Andern viel zu hell erscheint für's Sehen und Gesehenwerden – in Diebsprocessen kommen darüber Beschwerden vor – und die reichen Güter dieser Orden fallen da und dorthin, wer sie gerade in der großen Flut der Religionskriege und Säcularisationen auffischt. Hier unsere Stadt fischte sich siebzehn Häuser, darunter das spätere Wohnhaus der Marschalks, das Sie näher angeht, die Grundgerechtigkeit von Tempelheide und eine Menge anderer Grundrechte, die alle einst dem Johanniterhof von Angerode gehört hatten. Und Das ging so vom Jahre[744] 1550 bis in Zwischenräumen von immer funfzig, sechzig Jahren, wo der erstarkenden Souverainetät unserer alten allmälig avancirenden Markgrafen einfiel, daß herrenloses Gut doch wol eigentlich den Landesherren und nicht den Stadtgemeinden gehöre. Jetzt, wo man Geld braucht und unsere Communen, die sich gern, wie man zu sagen pflegt, volksthümlich gebehrden, empfinden lassen möchte, daß sie kein Staat im Staate sind, jetzt hat unser wühlerischer Finanzminister auch diesen alten Posten wieder aufgewühlt und verlangt eine Wiederaufnahme dieses alten Handels und zwar mit einer solchen Energie, wie der preußische Friedrich den alten schlesischen Proceß dadurch revidirte, daß er Schlesien ohne Weiteres gleich in die Tasche steckte.

Ist denn der Betrag erheblich? fragte Pauline.

Doch! sagte Schlurck. Es beläuft sich der jährliche Ertrag dieser alten Gefälle an die Stadtkämmerei auf achtzigtausend Thaler, woraus sich ein Capital von zwei Millionen ergeben würde ...

Und dies sollten die kleinen Cirkel dem Staate nicht gönnen? erwiderte Pauline erstaunt.

Gönnen? wiederholte Schlurck. Das wol! Aber nun denken Sie sich, über den siebzehn Häusern, von denen nur zwei in der Brandgasse noch die alten in ganz alter Form sind, thront als Wahrzeichen das Kreuz, das Kreuz mit seinen ritterlichen Erinnerungen, in Tempelheide hat die alte Kirche das Kreuz, Tempelheide ... Heidentempel ... Christentempel ... Tempelchristen ... und die [745] alte Stadt, die ist doch so etwas Ehrwürdiges mit ihren drei Schlüsseln im Wappen, und die besten Prediger die sind auf diese Gelder angewiesen und es läutet so schön mit den Glocken, wo diese Prediger wohnen und sie ihre Kirchen haben und die Geschichte und die Sage, die webt über das Ganze so einen undurchsichtigen, feierlichen Matthison'schen Nebelschleier, der sich in der stillen Abenddämmerung der Archive an der kundigen Hand des Generals Voland von der Hahnenfeder, der uns durch die Burgverließe der Jahrhunderte führt, so silbergrau, so patriarchalisch, so mystisch ausnimmt ...

Pauline unterbrach den Justizrath mit lautem Lachen. Hören Sie auf! rief sie, Sie sind prächtig, Justizrath! Ja, ja! Sie haben Recht! So ist's! So ist's! Von solchen Empfindungen werden wir jetzt regiert. Himmel! Von solchen Motiven werden die wichtigsten politischen Schritte geleitet! Aus dieser Dämmerung webt sich Voland von der Hahnenfeder seine schwache, haltlose Spinnenwebenpolitik! Darum kein energischer Aufschwung! Darum keine That! Kein Handschuh, kühn der Zeit hingeworfen! Darum die Unterordnung unter Rom, unter andere alte Fürstengeschlechter, nur weil sie fabelhafte Wappenthiere haben und die Tradition der älteren Vergangenheit! O Das ist die romantische Dämmerung, in der die Nachteulen fliegen müssen, die das Schloß besuchen dürfen.

Nicht wahr! sagte Schlurck mit satirischem Lächeln. Was läßt sich dagegen sagen! Solche Anschauungen kommen aus Dem, was die Herrschaften ihren Geist nennen, [746] wie wir wieder die Anschauungen Voltaire's unsern Geist nennen. Aber wissen Sie, welch ein Sonnenstrahl jetzt, wie das Schwert des Erzengels Michael, dies ganze Helldunkel durchschneiden kann? Will man denn doch die Verjährung nicht gestatten, will man sich immer darauf berufen, daß alle funfzig Jahre vom alten Zeitgeist gegen den neuen protestirt wurde, so ist es leicht möglich, daß sich ein dritter Bewerber einfindet, der in dem Augenblicke, wo der Staat zwei Millionen Capital in sein großes Buch einzutragen die Feder ansetzt, dazwischen tritt und sagt:

Halt da! Halbpart! Dies ganze alte Wesen ist mein Eigenthum und Ihr könnt zufrieden sein, wenn ich mich mit der Hälfte noch gar begnüge!

Das ist eine Allegorie! rief Pauline. Wie wäre diese Einrede möglich?

Keine Allegorie! sagte Schlurck, zog seine goldne Dose und nahm eine Prise; ich habe fast Ursache zu vermuthen, daß dieser Rival, der sich so zu sagen zwischen Fürst und Volk, alte und neue Zeit drängt ... der Prinz Egon ist.

Wie? rief Pauline und erhob sich. Prinz Egon? Wie kämen die Hohenbergs zu solchen Ansprüchen?

Das ist es eben, sagte Schlurck, was ich erfahren, von Ihnen erfahren möchte, gnädige Frau. Sie sind, Ihre Amarantha beweist es, mit der Geschichte der Hohenbergs sehr vertraut. Sie waren einst die Freundin der Fürstin Amanda. Ist von Seiten der Grafen von Bury ein Zusammenhang mit dem alten Tempelhause von Angerode und einem alten Johanniter Hugo von Wildungen denkbar? [747] Was die Hohenbergs selbst anlangt, so kenn' ich deren Geschichte genau und kann versichern, daß ich von dieser Seite nicht begreifen könnte, wie sich Prinz Egon an diesem Processe betheiligen sollte.

Prinz, Egon? Haben Sie denn dafür Beweise? fragte Pauline.

Beweise? wiederholte Schlurck. Ich habe vorläufig nur einen Verdacht und ein eigenthümliches Corpus delicti, das sich an meine letzte Anwesenheit in Hohenberg knüpft ... Ist Ihr Herr Gemahl zurück?

Seit gestern! Aber reden Sie doch! Erzählen Sie doch! Sie finden mich ja im lebendigsten Antheil, Schlurck!

Der Justizrath zog seine Uhr und hielt sie an's Ohr ....

Wir haben etwas lange philosophirt! sagte er.

Ich bitte! Bitte! Weg mit der Uhr!

Es ist schon spät ... Ich habe ...

Sie haben nichts, als mein Freund, mein liebenswürdiger Freund zu sein ....

Ah, gnädige Frau ....

Küssen Sie mir ein andermal die Hand!

Nun wohlan denn, so wollen wir uns beeilen, auf das Gebiet der Thatsachen zu kommen.

Die Geheimräthin hörte mit lautloser Spannung.

[748]
3. Capitel. Ein Bündniß
Drittes Capitel
Ein Bündniß

Ein junger Mann, begann Schlurck, der sich Wildungen nannte, erschien vor einigen Tagen am Fuße des Schlosses in Hohenberg, um dort einen Gegenstand zu reclamiren, der nichts mehr und nichts weniger als ein Schrein, eine einfache Kiste ist. Er gibt vor, daß ein Fuhrmann, dem er diesen Schrein anvertraute, ihn verlor. Und in der That bin ich es selbst, der durch Zufall diesen Schrein gefunden hat. Ich ließ ihn, um des Eigenthümers sicher zu werden, angezogen von einem merkwürdigen Zeichen auf seinem Deckel, öffnen. Er enthält die beglaubigten Ansprüche der Nachkommen einer Familie Wildungen auf gewisse, ihn vom Johanniterorden vor Auflösung des alten Tempelhauses in Angerode, zuerkannte Güter. Diese Güter sind alle die städtischen Besitzungen, die sich jetzt in den Händen unsrer Commune befinden. Ein alter Comthur, Hugo von Wildungen, trat sie nicht an, weil er katholisch blieb und die Plünderung der Verlassenschaft des protestantisch gewordenen Ordens verabscheuen mußte. Später ertheilte ihm der römische Stuhl einen Dispens. Aus politischen Gründen, um katholische Interessen [749] mitten in protestantischen Landen gefördert zu sehen, durfte er nun den Besitz antreten. Er starb. Die Documente wurden nach Angerode geschickt. Während die Stadt die Verwaltung der demnach der Familie Wildungen gehörenden Besitzungen für sich antrat, gingen die Documente im alten Tempelhause zu Angerode verloren. Sie sind jetzt gefunden worden. Wo? Wie? Von Wem? weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß Jemand irgendwo im Mondenschein vom Anblick des vierblättrigen Kreuzes so überrascht wurde, daß er ... Genug, die Documente über die Ansprüche der Familie Wildungen sind da und wer sie besitzt, wer sie mit Eifer in Plessen, wo sie verloren gingen, suchte, ist – sonderbar – Prinz Egon!

Pauline hörte voll Aufmerksamkeit zu, schüttelte den Kopf und meinte:

Ich erfuhr schon, daß Prinz Egon auf dem Heidekruge sich Wildungen nannte ....

Dort sah ich ihn ja selbst!

Sie selbst, Justizrath?

Bei meiner neulichen Rückkehr von Hohenberg ...

Wildungen! Wildungen! sagte die Geheimräthin nachdenklich und in ihrem Gedächtnisse forschend ...

Es gibt einen Maler dieses Namens, fuhr Schlurck fort, einen Maler, der einen Bruder hat, Namens Dankmar Wildungen, einen jungen Referendar. Ich schickte heute in aller Frühe, als mir mein Bartusch diese Dinge erzählte, in die Wohnung dieser jungen Leute. Man fand sie nicht.

[750] Ich schickte zu Prinz Egon. Er ist abwesend gewesen, gehütet gleichsam von einem gewissen Louis Armand gestern Abends zurückgekommen, elend, krank und hat sich sogleich abgeschlossen und zur Ruhe gelegt. Man vermuthet eine hartnäckige Unpäßlichkeit, ... Meine Tochter darf kein Wort davon erfahren. Dies wunderliche Mädchen hat einen förmlichen Roman mit dem Prinzen, falls er es war, gespielt, ich glaube sogar, sie hat eine Leidenschaft für den jungen Mann gefaßt, den ich begierig bin, kennen zu lernen. Ist es der Prinz –

Warum sollt' er es nicht sein? rief Pauline bitter. Eine Million wird grade hinreichen seine Verhältnisse wieder herzustellen ...

Sie überstürzen die Dinge, gnädige Frau! Wenn Sie nicht wissen, daß die Burys mit dem alten Geschlecht der Wildungen verwandt sind, so kann von einem solchen Gewinn nicht die Rede sein. Wär' es aber, welche wunderliche Stellung dann für mich, der ich die Sache der Commune vertheidige und mich doch auch zu sehen – hm! hm! – zu sehen freuen müßte, daß die Schulden des alten Fürsten dann plötzlich getilgt sind ...! Ich will noch einmal in die Wohnung der Gebrüder Wildungen und hören, ob es wirklich ein echter oder erborgter Dankmar Wildungen war, der mit den Meinigen reiste. Im letzteren Falle ist Prinz Egon Jemand anderes gewesen ...

Aber wer? fragte Pauline.

Ein junger Handwerker, sagte Schlurck ruhig, der im Schlosse Hohenberg ein gewisses Bild stehlen wollte ...

[751] Nein! sagte Pauline lebhaft, das ist nicht möglich ...

Warum nicht, gnädige Frau?

Dieser Verdächtige sitzt bis auf weitre Ordre – wir haben schon mit dem Obercommissär Pax Rücksprache genommen – er sitzt im Plessener Thurme ...

Und?

Und? Wenn der Prinz sich so compromittirte, daß er sich eine in diesem Grade schimpfliche Behandlung mußte gefallen lassen, so konnte er Ihre werthe Familie nicht begleiten, konnte nicht die Liebe Ihrer schönen Tochter – die ich nun kennen lernen muß, Justizrath – gewinnen ... konnte auf dem Heidekruge nicht das Bild ... doch genug! Es kann kein Prinz Egon im Hohenberg'schen Palais krank liegen, wenn der echte die Folgen eines gewagten Incognitos im Plessener Thurme büßt.

Sehr scharfsinnig! antwortete Schlurck, zog aber einen Brief aus der Brusttasche hervor und sagte:

In dem Falle thut mir nur Eines leid ...

Sie stocken? Was?

Frau von Zeisel, die mir ihr besonderes Vertrauen schenkt, schreibt mir soeben und im größten Zorn auf meine Familie. Man hätte sie und ihren Gatten mishandelt, man hätte vor Fremden ihr, einer Nutzholz-Dünkerke, ein Dementi gegeben und was dergleichen Aufwallungen einer in einem kleinen Orte mit ihrem Ehrgeize eingetrockneten, aber sonst ganz charmanten Dame mehr sind. Das Wichtigste ist, daß Herr von Zeisel, wahrscheinlich von dem Zorn seiner in einer Einladung [752] oder Nichteinladung gekränkten Gattin ermuthigt, den Gefangenen aus dem Thurme längst entlassen hat.

Pauline sprang auf.

Ist Das möglich? rief sie.

Bei Patrimonialrichtern, sagte Schlurck, ist Alles möglich.

Empörend! Dieser Gefangene ...

Dieser Gefangene wäre ja durch nichts Erhebliches gravirt gewesen, schreibt die liebe, etwas polternde, aber wie gesagt charmante Frau. Man hätte sich in Plessen nie lange mit fremdem Gesindel aufgehalten und wie sie denn dergleichen sicherheitspolizeiliche, ganz stichhaltige Gründe mehr anführt, die jedoch wol zunächst nichts, als eine Rache dafür zu sein scheinen, daß auf dem Schlosse plötzlich andre Menschen erschienen, die sie verdrängten. Herr von Zeisel greift mit Freuden zu, wo ihm eine Gelegenheit geboten wird, mit den Provinzialgerichten außer Berührung zu bleiben. Also gnädige Frau, dieser Gefangene ist nicht mehr im Thurm.

Pauline brach in die heftigsten Verwünschungen und Drohungen aus. Diese Nichtachtung gegen einen so hohen Beamten wie ihren Gemahl, sagte sie, würde dem Justizdirector theuer zu stehen kommen!

Schlurck suchte sie im Interesse der ihm sehr werthen Frau von Zeisel zu beschwichtigen. Einem feinen Beobachter konnte kaum entgehen, daß ihn auch vorzugsweise wol nur diese Angelegenheit hergeführt hatte. Offenbar bereute Herr von Zeisel die schnelle Übereilung [753] eines Entschlusses, den er nur auf Antrieb seiner Frau faßte ...

Pauline nannte nun den ganzen gegenwärtigen Staatszustand anarchisch und war plötzlich wieder so ultrareactionär, daß sie mit Spitzkugeln und Shrapnels dem Universum drohte.

Auffallend! sagte Schlurck, um die Geheimräthin nur auf andre Gedanken zu lenken, auffallend bleibt es, daß der Bilderdieb mit dem sogenannten Dankmar Wildungen im Einverständnisse war, denn jener berief sich auf diesen ...

Ein Helfershelfer! Ich wußt' es ja schon! Ein Chaos! Ein Chaos! Es soll diesen Zeisels theuer zu stehen kommen! rief Pauline und zeigte nicht wenig Lust, auch den Justizrath empfinden zu lassen, wie sehr sie sich durch seine Vertheidigung anarchischer Zustände verletzt fühle.

Sie ging im Zimmer auf und ab, ignorirte den bei ihrer Aufregung so ruhig bleibenden Besuch und hätte ihm bald verächtlich den Rücken gewandt, wenn Schlurck nicht ein Mittel zu finden wußte, sie plötzlich zu zähmen.

Andrerseits bin ich überrascht, fuhr er nämlich mit lauernder Miene fort, wie der wahrscheinliche Prinz Egon soviel mit den Zecks verkehrte.

Die Wirkung dieses Namens war erstaunlich. Pauline erblaßte. Krampfhaft hielt sie sich an ihrem Schreibtisch fest und richtete starr ihre Augen auf den spitzen Blick des Justizrathes, der fast gleichgültig und lächelnd, aber tiefforschend hinzufügte:

[754] Überall sah man ihn, auch bei der Ursula Marzahn im Walde!

Worin der Stachel dieser neuen Erwähnung nun auch liegen mochte, ob Schlurck auf Dinge anspielte, die er kannte oder nur erforschen wollte, Pauline war fast einer Ohnmacht nahe. Ihre Lippen erblaßten. Die Augen übergoß ein eigner verglaster Ausdruck starrer Abwesenheit. Das Weiße trat schreckhaft blendend hervor. Die Hand fuhr über das Bandeau, riß die Schleife auf und warf es zur Seite.

Wie heiß! sagte sie mit bebender Lippe.

Schlurck meinte boshaft:

Und in solcher Hitze trägt man im Sommer diese Verhüllungen? Die Mode! Die Mode! Aber, ich halte Sie auf! Ich habe versprochen, bei Lippi griechischen Wein zu kosten. Ich sehne mich nicht nach dem griechischen Wein, aber nach Lippi's kühlem Keller. Sie haben hier wirklich sehr heiß, Gnädigste. Leben Sie nun wohl, Excellenz!

Damit stand Schlurck auf, um zu gehen.

Aber Pauline rief:

Wo wollen Sie denn hin? Bleiben Sie doch, Justizrath. Ich habe Sie jetzt nöthiger, als Sie glauben. Griechischen Wein ... ich führe ihn leider nicht selbst ... aber ein Glas Capwein, Justizrath?

Gnädige Frau, ich danke ... was befehlen Sie noch?

Keinen Befehl, Schlurck! Nur Freundschaft und Theilnahme für ein unglückliches Geschöpf, das Vertrauen zu Ihrem Herzen hat und es selbst zu dem ihrigen verdient.

[755] Excellenz –

Ich beschwöre Sie, lassen Sie doch die Förmlichkeiten! Ich verachte ja diese Formen, ich sehe in ihnen das Flüchtigste, das Erbärmlichste von der Welt! Ich fühle Gott sei Dank! mehr innern Werth in mir, als daß ich mich durch einen äußern unterstützen müßte. Ach! Ich bin von einer Gefahr umgeben, Schlurck, die ich mir vielleicht zu lebhaft ausmale! Aber gegen seine Phantasie kann Niemand etwas. Die hängt vom Blute ab und ich weiß nicht, wie ich es machen soll, daß mein Auge nicht zu schwarz sieht –

Ein Arzt macht Das, sagte Schlurck. Cremortartari wird auch mein armer Zeisel nehmen müssen, wenn der Intendant von ihm den Gefangenen heraushaben will und den guten Mann in Teufels Küche bringt.

Wo denken Sie hin, Schlurck! Wenn ich weiß, daß Sie durchaus diesen Vorfall vergessen möchten ...

Gnädigste, Sie könnten die Güte haben, den Geheimrath zu bestimmen, den Zornausbruch einer gebornen Nutzholz – Dünkerke ...

Ach, scherzen Sie nicht! Schlurck! Das Vergessen! Das Vergessen!

Wenn es nicht mehr ist als diese Angelegenheit!

Meinen innigsten Dank!

Pauline nahm Platz und fuhr in leidender Aufregung, indem sie den Justizrath zum Bleiben nöthigte, fort:

Schlurck, ich hatte ein bewegtes Leben, aber ich sehne mich nach Ruhe. Ich mag die alten Aufregungen nicht mehr, ich habe den Muth nicht mehr, gegen das allgemein [756] Gültige zu trotzen. Ich will mein Leben abschließen, irgend noch einem guten vernünftigen Gedanken nachleben und vom Vergangnen mich lossagen. Aber ich will mich auch ganz lossagen. Ich will keine Erinnerungen in mir und in Andern und durch Andere noch weniger. Sie kennen die Macht der Antecedentien.

Ja, ja, beste Freundin! sagte Schlurck lächelnd über die plötzliche Zähmung der wilden Frau; warum sollt' ich die Antecedentien nicht kennen! Sie sind ja nächst der Cholera die verdammteste Krankheit der Zeit und eine ganz unheilbare! Wir sind die Censur der Schriften los, haben aber dafür die Censur der Sitten bekommen. Mit der Preßfreiheit, die vielleicht ein gesunder Zustand sein kann, ist die Krankheit der Antecedentien gekommen. Und wenn Sie wissen wollen, warum ich mich nicht wählen lassen mag, so ist es auch die Scheu vor einer allzufrechen Analyse meiner Persönlichkeit. Ich bin mir leidlicher Solidität bewußt ....

Aber Sie haben gelebt!

Gelebt! O das ist viel gesagt. Alles, Alles, Frau von Harder!

Ja! Leben! Gelebt haben, Schlurck! Geschleudert gewesen sein hin und her, heute von einem Wahn, morgen von einer Leidenschaft, geschleudert nicht immer durch das Schicksal, das uns unverschuldet traf, sondern auch durch das, was wir uns selber zugezogen und bitter bereuen. Wer kann dafür, daß man fast fünfzig Jahre zählt!

Gnädige Frau!

[757] Ja Schlurck, fast fünfzig Jahre! Ich besitze den Heroismus der Wahrheiten, die unleugbar sind.

O Sie sind ein Engel! meinte Schlurck und lächelte im Stillen, da er wußte, daß Frau von Harder hätte sagen müssen: Fast sechszig Jahre! Ja, ja, die Antecedentien! fuhr er fort. Da setzen sich Grünschnäbel hin, die nichts erlebten, nichts erleben konnten, weil sie jung, oder wenn alt, zu dumm waren und analysiren Lebensläufe! Nein, ich gestehe Ihnen, um diesen Preis wünsch' ich mir die alten Conduitenlisten der Behörden zurück. Die waren doch geheim, selbst die Register der Inquisition, in denen wir Beide vielleicht aufgezeichnet stehen, wir wissen's selbst nicht, selbst die sind mir nicht so zuwider, wie dies öffentliche Gerichtsverfahren über Menschen, die – gelebt haben!

Ah, das war eine Übereinstimmung! Es fehlte nicht viel, daß Pauline den Justizrath umarmt hätte ....

Erkennen Sie daraus meine Verlegenheit, sagte sie nach einer freudigen Pause. Amanda von Hohenberg war meine Feindin. Ja! Hören Sie! Ich sage Alles! Sie hat Denkwürdigkeiten hinterlassen, in denen, wie sie mir selbst einst schrieb, Gott richten würde. Für diese fanatische Person war Gott so sichtbar schon auf Erden, daß ich gewärtigen kann, eine große Störung meiner Ruhe zu erleben, wenn diese Denkwürdigkeiten in unberufene Hände kommen. Zwei Jahre sind vorüber. Die Memoiren sind nicht da, sie erschienen nicht. Bei Ihnen wurden sie nicht deponirt, bei Niemandem und dennoch sollen sie [758] vorhanden sein. Alle Welt erwartet sie. Die wahnwitzige Trompetta hat den Hof darauf schon vorbereitet. Jedermann ist gespannt. Sie finden sich aber nicht. Ich weiß es, Egon soll sie veröffentlichen. Egon sollte die Einrichtung ihrer Zimmer so treffen, wie sie sie sterbend verlassen hatte. Das Bild! war ihr letztes Wort. Alles ist nun, was sie schrieb, theils verbrannt, theils unter meinem Verschluß. Alles ist da, nur ein Bild nicht, ein Bild, das man in Hohenberg hat stehlen wollen. Alles ist da, nur die Memoiren sind es nicht und dies Bild. Dies Bild also enthält die Memoiren. Auf dem Heidekrug ist es entwandt worden. Entweder mit Wissen oder gegen Wissen meines Mannes. Darüber werden wir von ihm selbst bald Aufklärung haben, aber denken Sie sich, wenn Egon diese Denkwürdigkeiten drucken ließe!

Hm! hm! räusperte sich Schlurck. Wenn ich mir's genauer überlege ... das Geplauder einer alten Rivalin, die sich von der Welt zurückzog, weil sie vielleicht keine Verehrer mehr fand ... kann das schaden? Was machen Sie sich aus solchen kleinen Nadelstichen? Verbrechen werden Sie gegen keinen andern Gott begangen haben, als gegen den kleinen Gott der Liebe ... Über die Streiche dieses Kindes lacht man.

Pauline schwieg und sah Schlurck von der Seite mit großem Mistrauen an, gleichsam um heimlich auszuspähen, ob dies seine wahre Meinung wäre. Als er die Brille wieder aufgesetzt hatte, sagte sie:

Nein! Auch lachen soll man nicht mehr über mich. Ich [759] leide in der Gesellschaft noch zu sehr daran, daß man über Nadasdi lachte. Ein Buch von mir und ein Buch über mich ist ein großer Unterschied.

Die Bilder der Familie, meine gnädigste Freundin, fuhr Schlurck ruhig fort, die Bilder der Familie Hohenberg sollen an den Prinzen Egon zurück. Sie stehen genau in dem Inventarium verzeichnet, das beim Verkaufe des Mobiliars angefertigt wurde. Ich werde sie vom Geheimrath alle in Anspruch nehmen müssen. Meinen Sie vielleicht ein Bild im Medaillonformat, das Pastellportrait der weiland jungen Fürstin?

Suchen Sie es! sagte Pauline. Dies gerade wird fehlen ....

Schlurck blickte nieder und spielte mit dem leichten Stöckchen, das er in der Hand trug. Er legte den Perlmutterknopf des Stockes bald an die Lippen, bald klopfte er damit auf die Fläche der linken Hand.

Pauline fühlte sich gefoltert.

Sie wissen etwas von dem Bilde -Justizrath? sagte sie.

Und wenn ich etwas davon wüßte? Das Bild ist mein! Es gehört dem Prinzen Egon!

Und Sie wären im Stande, es ihm auszuliefern ... auszuliefern, ehe man es untersuchte? Wenn es eine Kapsel enthielte, unter der die Denkwürdigkeiten verborgen wären ... Schlurck, würden Sie ihm diese ausliefern? Würden Sie ruhig mit ansehen, daß mein Ruf, meine Ehre, in die Hände meiner Feinde käme?

Hm! hm! sagte Schlurck, schwieg dann, wiegte das [760] Stöckchen hin und her und schien zu überlegen, wie er diese Chancen der Aufrichtigkeit einer gefährlichen und einflußreichen Frau mit seinem Vortheil vereinigen sollte. Er ging von dem Grundsatz aus: Gegen schlimme Menschen muß man selber schlimm sein.

Auch Sie sind mein Feind, rief Pauline und sprang bebend vor innerer Erregung auf; ich sehe es, auch Sie!

Nach einer Weile warf sie sich in einen andern Sessel und bedeckte das Antlitz mit beiden Händen.

Schlurck stand auf und zog seine Handschuhe wieder an, als rüstete er sich zum Gehen ...

Wir klagen, sagte er, und jammern über ein Bild! Hätten wir es nur erst! Wissen Sie, wo ich es vermuthe?

Wo?

In den Händen meiner Tochter.

Schlurck?

In den Händen meiner Tochter.

Sie scherzen ....

Lassen Sie mich diese Vermuthung, die sich auf allerhand Plaudereien Bartusch's, die ich fast überhörte, gründete, genauer untersuchen. Ich hoffe, mich so zu benehmen, daß ich Ihnen nicht misfallen werde.

Pauline richtete noch einmal erstaunt den Kopf auf und fragte nochmals:

In den Händen Ihrer Tochter?

Sie wissen doch, sagte Schlurck, daß ich eine Tochter habe, die ich Melanie nannte, weil mir der Tonfall dieses Namens Das auszudrücken schien, was sie Gott sei Dank!

[761] zu meiner Freude wirklich geworden ist. Sie schwebt vorurtheilsfrei über die Erde hin und hat dazu von den Göttern die entsprechenden leichten Schwingen bekommen. Ich glaube, daß sie einmal der Sonne zu nahe kommen und sich elend verbrennen kann; aber wenn sie stürzt, wird sie nicht auf's Gemeine fallen. Ich liebe sie doppelt, einmal, weil sie mein Kind ist und zweitens, weil sie Verstand hat.

Sie liebt den Prinzen Egon.. Sie wird die Fürstin von Hohenberg! sagte Pauline.

Ich bitte Sie, rief Schlurck, dann nehm' ich mein Wort zurück und erkläre, daß sie keinen Verstand hat – Was glauben Sie? Ich wiederhole nur, was mir Bartusch, mein alter Maulwurf und Spürer, heute früh zugetragen hat. Da mich weit mehr der große Proceß und die Administration beschäftigte, als all diese kleine Romantik; da ich ferner jeden Augenblick zum Prinzen gehen wollte, um über alles Zukünftige klar zu sehen, so hört' ich nur halb und halb auf dies Tuscheln und Flüstern und merkte nur obenhin, daß der Alte von meiner Melanie viel Krauses und Buntes erzählte. Sie hat viel unterwegs gelacht und, wenn ich aufrichtig sein soll, gestern über Niemanden mehr –

Über Niemanden mehr- wiederholte Pauline gespannt. Schon wollte sie sagen: Als über meinen Mann? doch sie besann sich ... der Gedanke des im Möbelwagen eingesperrten Intendanten war ihr denn doch zu demüthigend ... Sie wiederholte:

Als über wen?

[762] Nun nannte Schlurck, mit einem wohlangebrachten Handkuß, in aller Delikatesse und mit viel Schelmerei wirklich den Geheimrath ...

Die Gewißheit, daß nun also doch Henning von Harder der Düpe irgend einer von weiblicher Hand im Interesse des Prinzen geleiteten Intrigue gewesen war, lag klar vor den Augen der klugen Frau. So wie sich weibliche Schönheit und Liebenswürdigkeit in die Verknüpfung der ihr so räthselhaften einzelnen Thatsachen mischte, ging sie nicht mehr irr, denn da hatte sie einen sicher leitenden Faden. Vom weiblichen Herzen wissen Frauen immer wohin es zielt und wofür allein es schlägt und wofür allein es etwas wagt. Ebenso klar war ihr aber auch, daß sie sich auf Schlurck jetzt nur noch halb verlassen konnte. Zu blind hatte sich ihr seine Liebe für das einzige Kind zu erkennen gegeben. Prinz Egon und Melanie im Bunde waren, das sah sie, unüberwindlich ... Und da in demselben Augenblicke die Ludmer schon mit einem zartduftenden Antworts – Briefchen von der d'Azimont kam, worin diese schrieb: »Das erste Wort der Freundschaft, das mich hier begrüßt, kommt von Ihnen, Pauline! Von Ihnen! Edles Herz (noble coeur, der Brief war französisch), Edles Herz, ich kann nicht um Eins kommen, aber um Sechs ... heut Abend um Sechs umarm' ich Sie« – als Pauline diese Zeilen gelesen und von der Ludmer noch leise vernommen hatte, daß all' ihr erneutes Suchen nach dem Bilde vergebens gewesen wäre, entwarf sich ihr in solchen Dingen rasch erfindender Geist einen andern Plan, der so lautete:

[763] Mögen Egon und die d'Azimont stehen, wie sie wollen, so groß sind noch ihre Ansprüche an diesen jungen Mann, daß eine bürgerliche kleine Kokette nicht wagen wird zu ihm aufzublicken, sieht sie erst die vielbewunderte junge Frau, der nach allgemeiner Übereinkunft in der Gesellschaft der wahre Besitz dieser von Melanie gemachten flüchtigen Landstraßen – Eroberung gehört ....

Sie hoffte die d'Azimont noch nach sechs Uhr festzuhalten bis zum Thee, durch sie auf Egon zu wirken, durch sie den Bund zwischen Melanie und Egon zu sprengen. Als einzigen und ausdrücklichen Beweis der Freundschaft verlangte sie jetzt vom Justizrathe nur noch, daß er heut' Abend zur nähern Besprechung dieser Angelegenheiten vor dem Thee wiederkäme und zugleich endlich seine bewunderte Tochter Melanie ihr aufführe.

Ich muß den schönen Bösewicht kennen lernen, sagte sie verschmitzt, den Engel, der es gewagt hat, die alten schlummernden Empfindungen des Geheimraths in Aufruhr zu bringen. Ist hier ein komischer Roman im Gange, so soll er unter meinen Augen fortgespielt werden. Ich bin eifersüchtig, ich will Melanie sehen. Verlass' ich mich darauf, daß sie kommt?

Schlurck erwiderte, er wolle versuchen, seine Tochter zu überreden.

Nichts überreden! Sie befehlen! sagte Pauline.

Befehlen? sagte Schlurck und griff verlegen nach seiner Perücke. Nun ja ... wir wollen befehlen.

Und wenn das Bild noch zu retten und nicht in Egon's [764] Händen ist, sagte Pauline, indem sie dem Justizrath lächelnd die Hand hinhielt, wer erhält es?

Der Prinz das Bild, sagte Schlurck; etwaige Contrebande –

Die Denkwürdigkeiten seiner Mutter? ...

Die ... jetzt wurde Schlurck schelmisch ... die trag' ich zum Buchhändler und lasse sie als zweiten Theil des Nadasdi drucken.

Mit dieser humoristischen Wendung wollte er zur Thür

Nein! Nein! So entkommen Sie mir nicht! sagte Pauline in wirklicher Angst. Ein klares Wort, keine Galanterie! Kein Humor! Ich bin überhaupt keine Frau für den Humor ....

Haben wir nur erst das Bild! sagte Schlurck drängend.

Justizrath, können Sie mich auf dieser Folter zurücklassen –?

Ludmer, setzte sie rasch hinzu, nimm ihm Hut und Stock ab!

Nein, nein, sagte Schlurck fast sich flüchtend, ich muß zu Lippi und griechischen Wein kosten und nachher noch einmal zu den Wildungens, dann zum Prinzen, wohin ich einen gewissen Ackermann bestellt habe, der sich zur Pachtung seiner Güter meldete. Auch die Krankheit der jungen Durchlaucht bekümmert mich ... Er ist denn doch der Sohn des alten Fürsten, dem ich soviel Beweise ...

Und kein Wort der Beruhigung, der Theilnahme, des Dankes für mein Vertrauen? unterbrach Pauline mit allem [765] Aufwand von Liebreiz, dessen ihr Auge und ihre Mundwinkel noch fähig waren.

Schlurck küßte ihr wiederholt die magere Hand und sagte:

Bezaubern Sie mich nicht! Ich bin im Geiste noch nicht so alt wie im Kirchenbuch steht!

Ah! Frau von Zeisel sollte nur hier sein! Die sollte nur ihre Bitten mit den meinigen vereinen und gewiß, wir würden das harte Herz schon erweichen –

Es war viel Anmuth in diesen Worten der Geheimräthin.

Schlimme Frau, was sprechen Sie? lächelte Schlurck. In der That, man weiß nicht, soll man Sie fürchten oder lieben? Ich will Sie lieben, Frau Geheimräthin! Verlassen Sie sich auf meinen Verstand und beten Sie zu irgend einem der Götter, zu dem Sie das meiste Vertrauen haben, daß es noch Zeit sein möge, bösen und albernen Dingen der Art, wie Sie sie fürchten und wie ich sie selbst niemals habe leiden mögen, mit Klugheit vorzubeugen. Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort. Mein Instinct spricht für Ihre Interessen! Heilig und gewiß! Auf Wiedersehen, vielleicht heut' Abend ...

Damit ging Schlurck ...

Nein, ganz gewiß! rief ihm Pauline noch nach, blieb dann eine Weile, um die beengte Brust durch einen tiefen Athemzug zu lösen, stehen, erwiderte nichts mehr auf die besorgten, fragenden Blicke der Ludmer und winkte nur, die halb tonlosen Worte ausstoßend:

[766] Er ist fort ... Auf alle Fälle macht man jetzt Toilette!

Damit hob sie den Vorhang ihres Schlafcabinets und schritt aus dem gelben Boudoir durch den Alkoven in das grüne und von diesem in ihr Toiletten- und Garderobe – zimmer.

Die Ludmer war gleichfalls verstimmt ...

Ihre Nichte hatte ihr ein altes Bettelweib geschickt, um wieder von ihr eine Unterstützung zu begehren ...

Sie hatte zwar draußen nur die einfachen Worte gesagt:

Ich kenne keine Auguste Ludmer, die sich meine Nichte nennt! ...

Sie hatte die Thür dem Bettelweib von der Nase zugeworfen, aber es alterirte sie doch. Sie mußte etwas Melissengeist auf Zucker nehmen, um sich von denselben Aufregungen zu erholen, von denen Pauline von Harder sich nur ein wenig durch die Wahl der Toilette erholte, die sie eben machen wollte ....

Als die Ludmer in das Garderobezimmer, wo ihre Herrin und Freundin noch wählte, nachkam, sagte diese nur die einzigen Worte:

Da hast Recht, Charlotte! Vor diesem Schlurck hab' ich heute zum ersten Male ein Grauen empfunden. Es ist mir, als hätt' er über uns Leben und Tod in seiner Hand.

Und das Bild? fragte die Alte.

Hat seine Tochter Melanie durch irgend eine Schlauheit, im Einverständniß mit Egon, meinem Mann abgelistet ...

Diese Kokette! Wie war Das möglich?

[767]

.... Das Heranrollen eines Wagens vor dem offnen Thore des Hauses, die sichere Anfahrt und die Art der Öffnung des Schlages – man hörte das auf's Deutlichste -verrieth, daß der Geheimrath angekommen war.

Die Bedienten klopften leise an die Garderobe und berichteten:

Excellenz? Excellenz!

Etwas langsam und bedächtig schallten die Fußtritte, mit denen der zum Beichten beschiedene alte Herr in den ersten Stock aufstieg, den er bewohnte ...

Wir werden ja hören! sagte Pauline ruhiger und entschied sich heute aus Rücksicht auf die zwei schönsten weiblichen Wesen, die man sich nebeneinander denken konnte, Melanie Schlurck und Helene d'Azimont, für einen Stoff von Silbergrau, auf den Abend aber für ein Costüm, das sie seiner malerischen Einfachheit und eines gewissen orientalischen Turbans wegen immer das biblische nannte.

Wir werden Gelegenheit haben, diese von Heinrichson ihr entworfene Toilette später genauer zu berichten ...

Von Schlurck aber, den wir zum ersten Male in seinem geschäftlichen Tone kennen lernten, müssen wir gestehen, daß er nicht ganz derselbe war, wie wir ihn beim Kredenzen von Jaquesson und Geldermann – Deutz kennen lernten. Vielleicht findet er bei dem Italiener Lippi wieder den gewohnten Gleichmuth seiner Stimmung und stärkt sich zu den Geschäften, die ihn in das Hotel des Prinzen Egon rufen, von denen das über Ackermann angedeutete ebensosehr [768] unsere Neugier spannen wird, wie die endliche Aufklärung über die Persönlichkeit der Prinzen Egon, mit dem sich Schlurck, nach Allem, was er über die Rückreise seiner Familie von Hohenberg fast Unglaubliches vernommen hatte, jetzt auf die leichteste Art zu verständigen hoffen durfte.

[769]
4. Capitel. Die rettende Hand
Viertes Capitel
Die rettende Hand

Das große Palais des verstorbenen Fürsten Waldemar von Hohenberg lag im lebhaftesten Theile der Residenz. Der Park und die Gärten, die sich ihm anschlossen, waren von hohen Mauern umgeben und konnten von entgegengesetzten Häuserreihen nicht beobachtet werden. Es standen theils die Bäume des Parkes an den Mauern so hoch, daß sie die innern Parthieen verdeckten, theils lagen in nächster Nähe nur freie Plätze. Das Hauptgebäude selbst war alt und in jenem geschweiften Commodenstil gebaut, der die architektonischen Verzierungen der ausgeschweiften Krümmungen und Windungen wirklich nach der Form der menschlichen Knochen bestimmte, wie Hogarth für den Geschmack seiner Zeit in seiner barocken Ästhetik ausführt. Die hohen Fenster waren mit jenen bekannten Knaufen und Rundungen versehen, die in Sandstein den knöchernen menschlichen Schlüsselbeinen und Gelenkpfannen nachgemeißelt schienen. Dazwischen ein Helm oder der Kopf eines sterbenden Kriegers oder ein Medusenhaupt. Im Einzelnen zergliedert mochten diese Ausschmückungen der Portale, Fenster, Vorsprünge [770] und Friese schwerlich vor der Kritik einer geläuterten Geschmackslehre Stand halten; allein der Totaleffect, das Ensemble war auch hier, wie beim hohenberger Schlosse, der einer gewissen Würde und vornehmen Stattlichkeit. Auch dies Palais hatte zwei jedoch nur sehr kurz vorgeschobene Seitenflügel mit verschlossenen hohen Eingängen. Der grasbewachsene und etwas verwilderte Vorhof, der durch die Flügel vor der langen Fronte gebildet wurde, war durch Ketten von der Straße abgesondert. In der mittlern Thür war die große Einfahrt eine Façade von sechs dünnen Säulchen, von denen je drei dicht beieinander standen und in der Mitte ein großes eisernes Becken zur Pechbeleuchtung bei feierlichen Gelegenheiten einschlossen. Das Schwärzen der Säulen hatte man dabei nicht zu fürchten, da das ganze Gebäude durch die allmälige Verwitterung des Sandsteins und die in der Stadt neuerdings stark betriebene Steinkohlenfeuerung ein dunkelgraues Ansehen hatte; nur die weißen Vorhänge an den großen Fenstern der ersten Etage und im Parterre einige Blumenstöcke gaben ihm den Charakter einer gewissen Wohnlichkeit.

Hatte Fürst Waldemar auch die äußere Erscheinung seines Palais nach vorn so gelassen, wie er es damals, als ihm vor etwa dreißig Jahren die große Erbschaft zufiel, von einem Seitenverwandten des regierenden Hauses erstand, so hatte er doch im Innern und nach hinten zu auch äußerlich bedeutende Verschönerungen im neuern Stile angebracht. Auf eine harmonische Verbindung dieser [771] Anbauten mit dem Vorgebäude war dabei nicht gesehen worden. Man stellte einen Pavillon dicht hinter das Hauptgebäude und verband ihn mit diesem nur durch einen bedeckten Glasgang. Dicht an diesen Pavillon reihten sich, jedoch ohne Verbindung, die Gewächshäuser. Die eine Seite des von einer hohen Mauer eingefriedigten Gartens war hell und freundlich, die andere der hohen Bäume des kleinen Parkes wegen etwas düster und bei heftigem Sturme, wenn die Gipfel schwankten und krachten, gar unheimlich. Den Park hatte der alte Fürst, dem die schöne Natur sehr gleichgültig war, vernachlässigt, und dem Garten würde es ebenso gegangen sein, wenn ihm sein Pavillon nicht sehr am Herzen gelegen hätte, in dem er kleine Diners und vertraute Soupers gab. Die Jalousieen dieses von ihm mit besonderer Vorliebe gepflegten Gartenhauses waren zwar immer herabgelassen ... doch zeigte er wol einmal seinen Gästen die Aussicht in's Freie, Grund genug, sie dem Pavillon entsprechend zu erhalten. Denn wir können annehmen, daß dieser eine ebenso reiche Einrichtung enthielt wie die großen Gemächer des Hauptgebäudes.

Sogleich, wenn man das Innere des Portals betreten und links an der Loge des Portiers, rechts an der Wohnung des Hauptverwalters des Schlosses und so zusagen Haushofmeisters, Herrn Wandstabler, vorüber war, verwandelte sich der ganze Stil des Hauses. Der Treppenaufgang entsprach vielleicht noch dem Charakter des ursprünglichen Baues. Es waren zwei Aufgänge, die links oder [772] rechts zu demselben Ziele führten. Aber die kostbaren Teppiche, über die man schritt, die Marmorstatuen, die auf dem Absatz der Treppen aufgestellt waren, die Form der das Gitter unterbrechenden Karyatiden, die über den Häuptern große vergoldete Laternen trugen, die Frescomalerei der Decke und die getäfelten Corridore, die man, oben angelangt, rechts und links sich ausbreiten sah, alle diese Verschönerungen gehörten der neuern Zeit an. Ebenso kostbar war die innere Einrichtung. Die alterthümliche Form der großen Zimmer war ganz verschwunden unter den Tapeten, Malereien und Stukkaturen im neuern Geschmack. Große Gemälde bedeckten die Wände, Tische mit Marmorplatten und vergoldeten oder bronzirten Füßen von Bildhauerarbeit, Consolen mit Statuen aller möglichen Auffassungen der Venus und Amor's und Psyche's, Gemälde, von denen viele ihrer allzusinnlichen Sujets wegen mit grünen Vorhängen bedeckt waren, große Kronenleuchter von Krystall, Teppiche, kostbare Ofenschirme, Das waren die Liebhabereien des alten Herrn, der hier über fünfzehn Jahre allein hauste und diese Pracht sich bei Denen, die er schalten und walten ließ, blindlings bestellte, ohne Rücksicht auf seine Mittel und ohne Rücksicht auf sein eigenes Verständniß. Es war ein wilder Krieger, der gleichsam im Felde gute Beute gemacht hatte und ein Halsgeschmeide fortgab, um, wie jener Kroat in Wallenstein's Lager, eine hübsche Mütze dafür zu erhandeln oder der um ein Halsgeschmeide, das gerade so und nicht anders sein sollte, soviel ausgab, als [773] drei, viel werthvollere gekostet hätten. Was er irgend sah, mußte er kaufen. Er glaubte, sein Stand brächte Das mit sich und gerade, weil seine Fürstenschaft neu war, that er Alles, um an Glanz zu ersetzen, was ihr an Alter fehlte. In's Gelag hinein bestellte er bei Künstlern, die er bei Hofe hatte rühmen hören, Arbeiten, und wenn sie in seinen Sälen aufgestellt wurden zur Besichtigung der Kunstfreunde und der eleganten Welt, so machte er in dem Falle, daß schöne Damen kamen, selbst die Honneurs und war immer bei der Hand, Denen, die ihm besonders gefielen, Aufmerksamkeiten und kostbare Andenken auf eine, oft nicht feine, aber keineswegs verletzende Art aufzuzwingen. Ohne Bildung und geringen Verstandes, war er im höchsten Grade gutmüthig und gefällig. Dieser tapfre alte Herr brachte seine ganze mit Lorbeern geschmückte Veteranenzeit damit zu, kleine Galanterien zu treiben, von Boudoir zu Boudoir zu fahren, mit seiner Husarenuniform zu kokettiren und so lange des Tages den Heros der Jugendlichkeit und des galanten Ritterthums zu spielen, bis sich Abends wieder der alte Landsknecht in ihm regte und er dem Spiele, dem Glase, ja zuletzt der Bowle verfiel.

Fürst Waldemar hatte eine Eigenschaft, die man eine positive Tugend nennen muß. Er war sehr reinlich. Noch jetzt, drei Monate nach seinem Tode, entdeckte man in seinem Palais überall die Spuren dieses einzigen Verschönerungsmittels, das eigentlich unmittelbar aus ihm selber, seiner angeborenen Natur, kam. Das war noch der alte [774] Soldat, der die Sauberkeit und »Propreté«, wie er's nannte, über Alles schätzte. Er wußte vielleicht selbst nicht einmal, daß er mit diesem schönen Triebe der Reinlichkeit ein außerordentliches Verjüngungsmittel besaß und dadurch in der That den Damen gefällig erscheinen konnte. Sein halbweißer, nie gefärbter Bart mußte, wie er es nannte, appetitlich sein. Seine Wäsche wurde täglich gewechselt. In dem Seitengemache seines Pavillons hatte er ein Bad eingerichtet, voll Eleganz und Geschmack und nicht blos zum Staat oder Amüsement seiner Freunde, die die hier aufgehängten indiscreten Bilder und umstehenden kleinen Statuetten belachten, sondern zur wirklichen Stärkung seiner einst gewiß sehr schön gewesenen Gestalt. Noch jetzt zeigten sich alle Spuren dieses Cultus der Reinlichkeit. Für ein so großes Haus, dem eine weibliche Herrin seit Jahren fehlte, herrschte eine große Sauberkeit. Der Staub war überall gekehrt. Alles, was an Stoffen und Farben leicht von der Sonne litt, war verhangen, die Zimmerteppiche wurden noch immer gelüftet und nur sehr dünn war jene Sonnenstaublinie, die sich in jedem halbgeschlossenen, von der Sonne beschienenen Zimmer zeigt. Es war, als wenn noch immer des alten Fürsten Geist hier befehlend waltete, als wenn sich noch Alles beeiferte, seinen in diesem Punkte unversöhnlichen Zorn zu vermeiden.

Die Dienerschaft des Hauses bestand noch jetzt aus einem Portier, drei Bedienten, einem Koch, einem Kutscher, zwei Reitknechten und dem Kastellan oder Haushofmeister, [775] der, wie schon gesagt, Wandstabler hieß. Das Eigenthümliche aller dieser Menschen war, daß sie, außer dem pariser Koch, sämmtlich dem Militairstande angehört hatten. Es waren ehemalige Soldaten, blessirte, brave, gutempfohlene Unteroffiziere, Sergeanten, Feuerwerker, je nach ihrer Waffengattung. Wandstabler war bei denselben Husaren, deren Uniform der Fürst am liebsten trug, Wachtmeister gewesen und hatte ihm im Felde die treuesten Dienste geleistet, ja sogar mit Aufopferung des eignen Lebens einmal das seine beschützt. Wandstabler war dadurch zum eigentlichen Chef der ganzen Hausverwaltung des Fürsten allmälig avancirt. Keineswegs durch sein großes Rechnungstalent oder seine Ordnungsliebe oder seine nüchterne Aufmerksamkeit im Dienste, sondern lediglich durch die Erinnerung an die alten treuen Dienste und, um es nur hinzuzufügen, noch einen Vorschub, den er in seiner eignen Familie besaß. Wandstabler hatte drei Töchter, die, von nicht unangenehmem Äußern, Eine die Andere so in Jahren ablösten, daß immer, wenn die Eine verblüht war, die Andre gleichsam an ihrem Stamme frisch aufschoß. Die drei Demoiselles Wandstabler spielten eine sehr einflußreiche Rolle in der Lebensgeschichte des alten Fürsten Waldemar. Sie regierten das Haus und fast Alles, was dem Fürsten nach seiner Überschuldung an eigner freier Disposition übrig blieb. Die drei Demoiselles Wandstabler waren jetzt sechsunddreißig, dreißig und vierundzwanzig Jahre alt, hießen Florentine, Doris und Laura, wurden aber der [776] Kürze und Harmonie wegen: Florette, Dorette und Lorette genannt, oder wie sie der Fürst nannte: die Flore, die Dore und die Lore. Darin waren sie fast eine einzige Person, daß ihnen die ganze ausübende Gewalt der Hohenberg'schen innern Angelegenheiten gehörte. Wodurch sie diesen Einfluß errangen, wodurch sie ihn behaupteten, ist kein Geheimniß. Der Fürst hatte einen Kammerdiener vor der Welt, aber keinen in seinem nähern Bedürfniß. Er hatte nur Bediente, die die äußern gröbern Arbeiten verrichteten. Man sagte aber, daß eben die Demoiselles Wandstabler beim alten Fürsten die wahren Kammerdienerdienste verrichteten und daß er ohne sie nicht gehen, stehen, essen, trinken u.s.w. konnte. Jede Handreichung von Morgens in der Frühe den Bädern und dem Frühstück an bis Abends, wenn er von den Spiel- oder Trinkabenden heimkehrte, leisteten weibliche Hände unter oberer Leitung der Demoiselles Wandstabler.

Der Fürst ist dahingegangen ... Wir kennen das Folgende ... Sein Erbe scheint eingezogen und wird jetzt als krank gemeldet, krank nach einem kurzen Ausfluge, den er, man ahnte nur wohin, kurz nach seiner Ankunft aus Paris gemacht hatte. Zitterten über ein Dutzend Menschen für ihre Zukunft, als der alte Generalfeldmarschall die Augen schloß, erwarteten sie im bangen Vorgefühl, was ihnen von einem als wunderlich und launenhaft bekannten jungen Manne bevorstehen würde, so mußte ihnen jetzt, da dieser so plötzlich erkrankte, vollends bange werden über eine Zukunft, die der Fürst beim [777] besten Willen nicht sichern konnte, da er keine Mittel dafür besaß. Der alte Wandstabler verlor gleich nach dem Tode des Fürsten den schon immer schwachen Kopf. Vormittags nur war er sonst gewohnt, ihn noch einigermaßen zu gebrauchen, Nachmittags schlief er und gegen Abend folgte er dem Beispiele seines Herrn und ergab sich allen nur möglichen schlimmen gebrannten Geistern. Er war dick und schwammig, hatte eine fürchterliche Röthe im Gesicht und wichste sich seinen martialischen Schnurrbart mit dem besten nur aufzutreibenden ungrischen Firniß. Der Contrast dieser dicken Figur und des schwammigen, schwarzbärtigen, weißhaarigen Kopfes zu dem schwarzen Frack und den kurzen, engen Beinkleidern und weißen Strümpfen, die er tragen mußte, war sehr barock. Er sollte den Haushofmeister spielen und stand kaum auf der Stufe des Portiers. Wenn ihn nicht seine drei Töchter gehalten hätten, er würde sich in dieser noblen Stellung nicht haben behaupten können. Diese aber dachten statt seiner, ordneten und regierten statt seiner und sowie er eine an ihn gerichtete Frage nach einem brummischen Räuspern nicht beantworten konnte, rief er eine seiner -oren oder -etten zu Hülfe, die Dore, die Flore oder die Lorette und ließ den Fall entscheiden ... sie waren alle auf dieselben Dinge abgerichtet und leisteten in jedem das Mögliche.

Seit drei Monaten war Wandstabler nicht aus der Rührung herausgekommen. Seine ohnehin sehr leicht thränenden Augen flossen bei jeder noch so leisen Berührung [778] an die gefährlichen Fragezeichen seines künftigen Schicksals. Der junge Prinz war ihm von früher nur ziemlich flüchtig erinnerlich. Er ahnte, daß er von seinem Leben nicht vielen Vortheil haben würde, wußte aber auch, da er nun heftig erkrankt war, daß mit seinem Tode vollends jede Hoffnung schwand. Die Töchter waren nicht minder erschrocken. Den jungen neuen Herrn hatten sie eigentlich kaum noch gesehen, und Anfangs auch noch nicht recht fürchten wollen. Alle weiblichen Dienstboten des Hauses, die unter dem alten Fürsten trotz ihrer eignen großen Geltung doch immer jung und gefällig sein mußten, waren zwar rasch abgeschafft worden, aber.. Lorette, die Vierundzwanzigjährige, hatte eine schöne Gestalt, eine gewisse Anmuth, ja sogar die Dreißigjährige, Dorette Wandstabler, konnte unter gewissen Umständen sich zutrauen, wenn auch keinen Eindruck, doch sich gefällig, angenehm, beliebt zu machen. Frauen fürchten sich vor Männern nie. Und so hofften Flore, Dore, Lore auch hier schon fertig zu werden.. nun aber wurde der Prinz krank und die Ärzte machten die bedenklichsten Mienen.. Sie sprachen vom Nervenfieber.. einer Krankheit mit so tückischen Möglichkeiten.

In der schönen Wohnung, die Wandstabler im Parterre rechter Hand inne hatte, saßen Dorette und Lorette am Fenster auf einem Tritt und richteten ihr Auge bald auf die Wägen zweier Ärzte, die vorm Hause standen, bald auf einen würdigen hohen, stattlichen Mann, der in Begleitung eines schönen Knaben auf einem Sopha saß und [779] mit ernster, fast trauriger Miene die Bilder an den Wänden musterte.

Es waren dies Ackermann und Selmar.

Sie hatten in der That bei Schlurck in aller Frühe einen Besuch gemacht, waren von ihm in das Palais des Prinzen beschieden worden, wo er ihnen auf Ackermann's überraschenden Antrag, die Hohenberg'schen sämmtlichen Güter in Pachtung zu nehmen, Bescheid geben wollte.

Nun saßen sie schon eine Stunde und harrten.. und erfuhren, daß Prinz Egon von einer Reise krank zurückgekehrt war..

Die Ärzte waren am Lager des jungen Prinzen, sie erblickten überall traurige Gesichter, Ackermann sprach nichts und Selmar konnte die Thränen nur mit Mühe unterdrücken.

Zuweilen kam der Haushofmeister Wandstabler in's Zimmer, schüttelte den Kopf, stöhnte und sprach die traurigen Worte:

Es kann ihn Niemand sprechen! Niemand! Aber der Herr Justizrath vielleicht ... Der Herr Justizrath!

Er ging dann an einen kleinen Wandschrank, öffnete ihn, klapperte mit Schlüsseln, die daselbst in aller Ordnung aufgehängt waren, benutzte aber auch regelmäßig diese wahrscheinlich zu seinem Amte nicht gehörende stete Revision der Schlüssel, um aus einigen Flaschen, die neben den Schlüsseln im Wandschranke standen, sich eine kleine Herzstärkung zu holen. Wenn seine jüngern Töchter nach der ältern Schwester fragten, sagte er, sie [780] wäre oben und höre die Befehle der Ärzte. Dann sah man einen Bedienten mit Recepten eilen.. ein andermal kamen vornehme Lakaien von da und dort und erkundigten sich nach dem Befinden Sr. Durchlaucht ... Es gewährte einen schmerzlichen Anblick.

Ackermann hatte die Mädchen gefragt, wann der Prinz von seiner Reise zurückgekommen wäre?

Gestern Abend; hatte es geheißen.

Und Sie glauben, daß er in Hohenberg war? hatte Ackermann gefragt und ein kurzes Ja! war die Antwort der beiden etwas stolzen Damen gewesen, die sein Anliegen nicht kannten und ihn nur hier duldeten, weil ihnen der Name Schlurck, auf den er sich berief, nach Umständen ein Gespenst des Schreckens war.

Daß bei allem Leide diese Frauen doch immer noch Zeit fanden, zu jedem Vorübergehenden hinauszublicken und nach dem Kettengeländer hin ihre langen Hälse auszustrecken, daß sie überdies geputzter waren, als ihrem Stande zukam, mißfiel Ackermann genug und die zarte Hand seines in eine schmerzliche Beklommenheit versunkenen Knaben ergreifend, sagte er zu den Mädchen:

Wer weiß, wann der Justizrath kommt! Erlauben Sie wol, daß wir so lange in den Park gehen, den wir am Palais bemerkt haben? Es wird uns wohlthun, dort an der frischen Luft zu warten.

Die Mädchen sahen sich an.

Ist der Pavillon verschlossen? flüsterte die Dore.

Da hängt der Schlüssel! sagte die Lore.

[781] Gehen Sie dann nur! antwortete kalt die Ältere; wenn der Herr Justizrath kommt, werden wir Sie rufen lassen.

Selmar's Vater athmete frei auf, als er die beklemmende Atmosphäre dieses Zimmers hinter sich hatte. Es war groß und geräumig, auch kühl gewesen und doch lag etwas in dem Zimmer, was ihm die Luft verdickte ...

Komm, mein Kind! sagte er draußen und faßte Selmar's Arm, der sich an ihn hing, und wie ein zärtliches Paar schritten sie über die Einfahrt, den etwas düstern Hof, dem Garten zu, wo sie unter den hohen Bäumen aufathmeten und sich gegenseitig das Herz auszuschütten begannen.

Wer hätte erwarten können, begann der Vater, daß dieser junge kräftige Mann von den Anstrengungen seiner Reise so konnte darniedergeworfen werden! Es müssen doch die Reichen und Vornehmen für die Bequemlichkeiten, die ihnen das Leben gewährt, auch wieder viel büßen.

Sollte ihn nicht eher der Kummer ergriffen haben, sagte Selmar, daß er sein Eigenthum unter so betrübenden Verhältnissen antritt und fremde Menschen da schalten und walten sieht, wo sein Herz gewiß am liebsten verweilt, an der Grabesstätte seiner Mutter?

Wenn er dir ähnelte, Kind, sagte der Vater, gewiß nicht! Du denkst an den Ocean schon gar nicht mehr zurück und unsere Farm, unsere Rinder, unsere Lämmer, unsere Wiesen und Pflanzungen mit der Trauerweide, die am See den kleinen Hügel beschattet, hast du ganz vergessen!

[782] Ach! sagte der Knabe schmeichelnd, verstell dich nicht, Vater! Ich sehe dir's an, daß auch du nicht mehr daran denkst, nach Amerika zurückzukehren! Der Geist der Mutter ist bei uns. Der lenkt und führt uns und hat uns auch nach Hohenberg begleitet in den Wald, an die Mühle und das rauschende Berggewässer! Wenn ich auch zurückkehren möchte.. ich sag's nicht.. deinetwegen.

Meinetwegen? fragte der Vater mit sinnendem Ernst. Da irrst du!

Ja deinetwegen, fuhr der Knabe fort. Wie bist du gerührt von Allem, was du hier wiedersiehst! Gesteh' es nur, du trugst das Land deiner Jugend im Herzen, wie die heimwehkranke Mutter. Sie sprach nicht davon und du sprachst nicht davon! Beide ertruget ihr die wechselseitig aufgelegte Pflicht, Beide entsagtet ihr Dem, was Euch lieb war, mit schwerem Herzen. Und nun du hier bist, kannst du dich nicht mehr losreißen von diesen Häusern und Plätzen, wo du schon einmal gelebt hast und glücklich warst ....

Glücklich? sagte der Vater ernst und wiederholte mit wehmüthiger Erinnerung:

O ja, recht glücklich!

Und du wirst es wieder sein! sagte Selmar. Ich sah es dir an, gleich seit wir in Hohenberg waren, das ich so lieb gewann, weil ich dich zum ersten male wieder nach langer Zeit weinen sah. O Vater, wenn du so trüben Ernst im Auge hegst, wenn es dir so dunkel in den Höhlen sich schattet und sie bleiben trocken und sie erquicken sich [783] nicht mit dem Thau der Thränen, ach dann muß ich statt deiner weinen und möchte Gott bitten, er gäbe dir meine eignen nassen Augen..

Wo weint' ich denn bei Hohenberg? fragte der Vater, fast gleichgültig.

Auf dem Kirchhofe, Vater, sagte Selmar. Wir hatten ja den häßlichen Leuten ihr Geld gezahlt, wir waren im Walde bei der alten Hexe gewesen, wollten nun fort und konnten nicht mehr von dem jungen Freunde, den wir gefunden, Abschied nehmen. Da gingen wir noch zum Lebewohl auf den Kirchhof und du lasest über einem Grabe: Kommt zu mir Alle, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken! Und als du nachsahest, wer dort lag, weintest du ...

Weint' ich? fragte Ackermann.

Ja, Vater! Und so schwer trennt' ich mich von dem Grabe, rief Selmar, und nun bist du jetzt überall ein Anderer. Du nimmst Theil, du bist bewegt, du erzählst, du erinnerst dich von der Stelle da in Plessen an hundert alte Dinge, und wie du gar von dem Jäger am Gelben Hirsch erfuhrst, unser lieber Freund möchte wol mit dem Prinzen Egon verwandt, es vielleicht gar selber sein, wie du im Heidekrug noch so spät aufstandest um ihn zu sprechen, und ganz verstört und doch beseligt wiederkamst, daß du schnell abreisen mußtest, um dich nur zu sammeln und deine Freude zu beherrschen, da muß in dir so viel Glück und Lust der alten Zeit aufgestanden sein, daß du plötzlich wieder Liebe zu Deutschland faßtest und dich entschlossen [784] hast, zu bleiben. Denn, daß du an die Verwaltung der Güter des Prinzen denkst, nur um meine Zukunft zu sichern und wenn diese sich entschieden, mich verlassen und wieder meerwärts ziehen könntest, das glaub' ich nicht, Vater!

Nein, mein Kind, rief Ackermann mit überschwellendem Gefühl und drückte Selmar's bewegte Brust an die seine; nein, wie würd' ich dich je verlassen können! Ich will bleiben. Ich bin es einem Gelübde deiner Mutter auf ihrem Sterbebette schuldig, dich in die Verhältnisse sanft zurückzuführen, denen du angehörst, und wenn ich dich dann verliere, wenn du dann nicht mehr mein bist und eine neue Mutter findest ...

Vater! rief Selmar, wie könnte das je geschehen? Wer kann meine wahre Mutter gewesen sein, als Die, die dich liebte? Dir hat sie mich geboren, dir hat sie mich gegeben für ein ganzes Leben! Die Großmutter eine neue Mutter für mich? Nein! Willst du zurückkehren, ich folge dir! Um meinetwillen steh' von dem Gedanken ab, den du in deiner Liebe jetzt ausführen willst, dem, deine reichen Erfahrungen und Kenntnisse hier in Europa zu bewähren. War ich es denn, Vater, der dir den Gedanken einflößte, am Fuße von Hohenberg zu wohnen und Egon's Eigenthum zu verwalten, dies schöne Fürstenthum vielleicht vor dem Untergange zu retten?

Nein, mein Kind, sagte Ackermann mit einer besondern Feierlichkeit; nein, das kam aus eignem Herzen! Ich will versuchen, noch einmal in der Heimat Anker zu [785] werfen. Ich will dein und mein Wohl begründen, indem ich mich entschließe, einem Herrn zu dienen, der es vielleicht nicht verdient.

Nicht verdient? sagte Selmar. Warum sollte es unser Freund nicht verdienen? O, daß er krank ist, daß ich nicht an seinem Lager stehen und seine Wünsche hören kann! Wie wollt' ich ihn pflegen, jeden Trunk müßt' er aus meiner Hand nehmen! Ich wäre eifersüchtig, wenn ihn ein Andrer mehr lieben sollte als ich!

Kind! Kind! Was sprichst du? sagte der Vater.

Ich sag' es nur, antwortete Selmar mit einem leisen Erröthen über das Feuer, das ihn ergriffen hatte; ich sag' es nur, weil du meintest, er ... verdiene es nicht.

Er ist vornehm, sprach der Vater mit ernstem Tone, er ist vornehm und leichtsinnig.

Nennst du ihn leichtsinnig? war des Knaben verwunderte Frage.

Ich kenn' ihn nicht mehr als du, sagte der Vater, aber seine Aufführung verdiente wenig Anerkennung. Statt sich genau nach Allem zu erkundigen, was etwa noch für die Rettung seines Eigenthums gethan werden könnte, streifte er um das Schloß gedankenlos, besuchte die Schmiede, wo ihn der Eine nicht sehen, der Andre nicht hören konnte, plauderte im Walde mit dem Jäger über Alles, nur nicht über Das, was ihm zu wissen nöthig war. Auf dem Schlosse kann er kaum etwas Andres gewollt haben, als eine leere Neugier befriedigen. Eine Kokette tändelte mit ihm ...

[786] Wirklich, Vater?

Die Tochter desselben Mannes, der an seinem Erbe nicht viel Redlichkeit gezeigt haben mag, konnte ihn so bestricken, daß er nur noch für sie einen Gedanken hatte –

Nur für sie? fragte Selmar traurig.

O, diese leichtsinnigen Jünglinge, sprach Ackermann mit Nachdruck und schärferer Betonung, als für diese Äußerung natürlich schien; diese jungen Männer sind flatterhaft und jedem Winde preisgegeben! Ihr Gewissen gibt ihnen keine Schwere, daß sie Stand halten könnten. Dieser da war schon in Paris und hat dort schwerlich in der Spreu das gute Korn gesucht, sondern eben nur die vom Wind getriebene leichte Spreu und das Angenehme. Wir wünschen, daß er von seiner Krankheit genesen möge und ist er geheilt, ist er vom Lager wieder erstanden, so will ich hoffen, daß die Welt, in der er lebt und die uns verschlossen ist, ihn nicht zu sehr verderbe!

Selmar schwieg und verfiel in eine große Traurigkeit. Nach einer Weile sagte er:

Warum aber konnte das schöne Mädchen mit ihm tändeln, da sie doch nicht seines Standes ist?

Ackermann belehrte ihn mit sonderbarer, ernster Umständlichkeit und entgegnete:

Der Leichtsinn, den die meisten Männer fühlen, ist ja auch vielen Frauen eigen. Dies Mädchen ist schön und sie glaubt, sie wird es immer sein. Deshalb versäumt sie, [787] schon jetzt durch Tugend und Zucht edlere Schönheiten zu sammeln, die sie ewig schmücken würden.

Warum warst du nur in jener Herberge so erregt über sie? forschte Selmar ....

Wann? fragte der Vater.

Da, als du ihr noch in später Nacht auf dem Gange begegnetest? Du schienst ihr damals nicht zu zürnen.

Ich war erstaunt, sagte Ackermann. In Begleitung des unheimlichen rothhaarigen Menschen, der sich zu uns gesellte, kamen wir spät in der Nacht an, du legtest dich zum Schlafe, der mich noch floh. War ich von dem strömenden Regen fiebernd durchkältet oder bewegte mich zu lebhaft der Plan, in der Art einer großen amerikanischen Niederlassung hier einen landwirthschaftlichen Versuch nach meinem Geschmacke zu wagen, ich konnte nicht schlafen. Was sollt' ich nun von einem Mädchen denken, das tief in der Nacht, während Alles in dem großen Hause ruhte, im leichten Übergewand über den Corridor huscht und das Zimmer eben öffnen will, wo ich wußte, daß Prinz Egon schlief .... Sie erschrak so heftig, daß sie entfloh .... Seit jenem Augenblicke weiß ich, daß der junge Mann seine Neigungen zu leicht verschenkt und würde Niemanden beneiden, der sich rühmt sein Freund zu sein.

Das kann dein Ernst nicht sein, Vater, sagte Selmar und schmiegte sich, schalkhaft lächelnd und in sein großes, festes und sicheres Auge blickend, zu ihm empor; wie würdest du nur sonst so lebendig den Gedanken ergriffen [788] haben, des Prinzen Güter zu verwalten, ihn vielleicht vor dem drohenden Zusammensturz seines Erbes zu bewahren, ihn zu schützen vor schlimmen Haushaltern, die nur von ihm rauben, nicht durch Unterstützung seines Erwerbes den ihrigen verdienen wollen! Gestern, als wir noch einen Umweg einschlugen, um ein anderes Gut des vornehmen Freundes anzusehen, wie hast du da geschwärmt für den Gedanken, ihm wieder das Leben zur Freude zu machen!

Hab' ich geschwärmt, Herz? sagte der Vater fast scherzend. Geschwärmt! Geschwärmt! Über Kartoffelbau nach unserer Art, Rüben, Ölpflanzen, Dresch-, Säe-, Egge-Maschinen hab' ich geschwärmt! Überall sah ich meinen neuen Pflug durch die Erde gehen, sah, wie die Bauern ringsherum staunen werden, wenn ich Taback baue von virginischem Samen, sah Felder mit Runkelrüben besäet und die Schornsteine von Laboratorien rauchen, die aus solchem Material noch Werthe erzeugen sollen, das man hier gewohnt ist als unnütz wegzuwerfen. Das war meine Schwärmerei. Nun wohl, ich schwärmte für die Sache an sich. Daß dieser Plan auch den jungen Mann, dessen Krankheit hoffentlich Gott wenden wird, um ihm Gelegenheit zu geben, noch sehr an Herzensgüte und Sittenreinheit zuzunehmen, mit betrifft, ist ein Zufall, der mir nicht viel sagen will. Jetzt aber genug von ihm! Ich möchte ihn noch ärger schelten, wär' er nicht krank.

Selmar schwieg. Er hatte sich in seiner Vertheidigung erschöpft. Das Letzte, was er für den vermeintlichen [789] Prinzen noch anführen konnte, seine bedenkliche Erkrankung, hatte ja der Vater schon vorweggenommen. Er wußte, daß er diesen erzürnen würde, wenn er einen von ihm für erledigt erklärten Gegenstand von freien Stücken wieder aufnahm. Er sah zur Erde und schleuderte mit dem schwanken Stöckchen, das er in der Hand trug, hier und da einen kleinen Stein zur Seite auf die Beete, die nicht gut gehalten waren .... Die Blumen wuchsen fast wild. Die Hecken trugen Beeren, die überreif vertrockneten, weil sie nicht abgelesen wurden. Die Blätter der verwelkten Rosen lagen zerstreut unter den grünen stachlichten Stämmen. Niemand hatte die Rosen gebrochen, bis sie mit auseinanderfallenden Blättern von selbst niederglitten. Tausende verwelkter Blütenkapseln lagen auf den Wegen und mischten sich mit dem Kieselsand. Es war hier weder die Hand der Liebe, noch die der Furcht sichtbar und Ackermann sagte einige Male mit Recht:

So sieht es aus, wo kein Herr ist!

Einige Male trennten sich unsere harrenden Wanderer, die wol schon zehnmal Park und Garten auf und ab durchmessen hatten. Den Vater fesselte dann ein Baum, den Knaben eine Blume und dadurch geriethen sie zuweilen auseinander. Einmal stand Selmar an dem Pavillon und betrachtete von allen Seiten das geheimnißvolle umfangreiche Gebäude, dessen Fenster mit äußern Jalousieen verdeckt waren. Es waren Marquisen von schiebbaren Holzstäben. An eins dieser Fenster trat Selmar näher heran, hob den hölzernen Vorhang ein wenig in die Höhe, [790] sodaß die Bretter sich verschoben und einen Blick ins Innere erlaubten.

Ha! Vater, wie schön! rief er plötzlich.

Ackermann kam ruhig näher. Scheinbar ruhig .... Er war es vielleicht nicht. Er sah wenigstens mit ängstlicher Spannung bald zur Gartenthür, bald zu den Fenstern des Palais ... Die Krankheit jenes jungen Mannes, in dem er den Prinzen Egon kennen gelernt zu haben glaubte, beschäftigte ihn mehr, als er seinem Sohne verrieth, dessen übergroße Freundschaft für Egon er, wie wir wohl bemerkt haben werden, absichtlich niederhalten wollte.

Wie ihm Selmar, von dem Innern des Pavillons so überrascht, zurief, kam er dem Fenster, wo Selmar lauschte, näher; aber kaum hatte er in der Meinung etwa einen schönen Saal zu sehen, einen Blick durch die engen Bretter der Jalousieen geworfen, als er sie voll Entrüstung zuzog und seinen Unmuth über Selmar aussprach, den er jetzt neugierig, ja zudringlich nannte .... Es war das Badezimmer des alten Fürsten gewesen, das Selmar gesehen hatte, eine bunte, magisch von oben herab beleuchtete Kammer mit Statuen und Gemälden in einem Geschmacke, der das Auge der Sittlichkeit beleidigen mußte .... Doch war Selmar so unbefangen, daß er nur an dem Gold und den Farben hing, nur die von einem rothen Kuppelfenster angebrachte magische Dämmerung bewunderte und nicht begreifen konnte, wie der Vater so zürnen und schelten konnte ...

[791] In diesem Augenblicke kam ein Bedienter und meldete mit leicht hingeworfener verächtlicher Rede die Ankunft des Justizrathes:

Er hat Sie ja wol bestellt? hieß es.

Gut, gut, mein Freund! sagte Ackermann. Wir kommen schon.

Beide verließen den Garten; Ackermann mit einem schmerzlichen Rückblick auf den Pavillon, der ihm einen traurigen künstlerischen Irrthum, eine ansteckende und gefährliche Lebensansicht auszudrücken schien.

[792]
5. Capitel. Eine Scene
Fünftes Capitel
Eine Scene

Ackermann und Selmar trafen den eben angekommenen Justizrath in dem untern Zimmer, bei den Demoiselles Wandstabler. Verletzend genug für Ackermann's Gefühl war auch hier die Überraschung, daß sie beim Eintreten Schlurck in dem Versuch einer flüchtig scherzenden Umarmung der jüngern, der Lorette, Lore oder Laura Wandstabler antrafen ....

Ackermann ließ die Thür zu und blieb einstweilen draußen auf der Thorflur stehen. Der Knabe war vor dem Anblick bewahrt geblieben ...

Schlurck kam schmunzelnd, erhitzt, heraus und winkte, nach höflicher Begrüßung, ihm über die Treppe hinauf zu folgen. Er würde versuchen, sagte er, ob die Ärzte eine mündliche Unterredung zwischen Herrn Ackermann und dem Fürsten über das von ihm gemachte dankenswerthe, den Wünschen aller Gläubiger entsprechende Anerbieten erlaubten.

Ich habe nochmals, sagte Schlurck beim Hinaufsteigen mit prüfender und den Amerikaner scharf durchbohrender Miene, nochmals Ihre Offerten durchgelesen und bin vollkommen überzeugt, daß sie Sr. Durchlaucht genehm [793] sein werden. Sie stellen eine Caution von 10.000 Thalern und übernehmen die Pachtung sämmtlicher Güter des fürstlichen Hauses Hohenberg. Sie zahlen jährlich dreißigtausend Thaler in die Masse, um damit theils die Zinsen der Schuld, theils das Capital derselben allmälig zu tilgen und erbieten sich den Rest Ihrer Einnahme dem Fürsten zur Disposition zu stellen, nachdem Ihnen erstens die Verzinsung des Capitals, das Sie selbst in die Ökonomie stecken werden, gesichert ist und Sie für Ihre eigene Mühewaltung eine Summe von – wie viel war es? Tausend Thalern – ergänzte Ackermann.

Bester Freund, sagte Schlurck und blieb auf der Treppe, gerade an einer Statue stehen. Lassen Sie uns erst aufrichtig reden! Tausend Thaler! Was ist Das? Ich dachte heute früh, ich hätte Sie misverstanden und nun wiederholen Sie diese Bagatelle.

Überhaupt bin ich mit manchen Punkten noch nicht einverstanden, fuhr er fort. Wie können Sie bei so geringer Einnahme bestehen? Sie opfern ja Ihr Interesse dem eines Fremden! Sehen Sie hier! Das ist die Statue des Merkur. Ein bedeutsames Wahrzeichen. Es muß Sie an Ihren Vortheil erinnern. Merkur war der Gott des Handels ....

Und der Diebe! sagte Ackermann scharf einfallend.

Schlurck hob den Kopf, zog die Brille etwas in die Höhe und fixirte mit halb unbewaffnetem Auge, mit dem er in der Nähe besser sah, diesen seltsamen Ein fall.

Ganz recht! sagte er und machte ein eigenthümliches [794] Zeichen, das Ackermann als Freimaurerzeichen erkannte, ohne es jedoch zu erwidern.

Schlurck wollte sich über diesen neuen Generalpächter orientiren, blieb immer noch stehen und wiederholte seine Bemerkung:

Aber – ob des Handels oder der Diebe, gleichviel ... Sie opfern ja Ihr Interesse dem eines Fremden! Tausend Thaler!

Das ist meine Sache, sagte Ackermann. Genügen Ihnen meine Zeugnisse, meine Cautionsanerbietungen, meine Vorschläge für die Creditoren, so hab' ich nur die Absicht, mein Vermögen sicher anzulegen und im Übrigen durch diese Verwaltung Gelegenheit zu haben, gewisse Grundsätze der Landwirthschaft, die ich auch als Kenner und Theoretiker treibe, praktisch anzuwenden. Die natürliche Beschaffenheit dieser Güter kommt meinen Ideen entgegen. Die Ökonomie auf ihnen ist mehr vernachlässigt als irgendwo und doch sind es wieder meist dieselben Fehler, die überall in Europa gemacht werden. Ich habe mir die Gelegenheit angesehen, die ich an Ort und Stelle günstig genug gefunden habe, etwas Tüchtiges zu schaffen und wenn ich fast für gewiß voraussehe, daß Sr. Durchlaucht noch zwanzigtausend Thaler reinen Gewinns übrig behalten werden, so können Sie schon getrost eine so vortheilhafte Anerbietung eingehen.

Schlurck blieb, da man inzwischen weiter gegangen war, oben auf dem Corridor stehen und lehnte sich an das Gitter der Treppe.

[795] Hm! hm! sagte er dehnend. Es ist aber doch nöthig, daß wir ganz im Reinen sind, ehe wir den Versuch machen, die Meinung des Prinzen zu hören – Die bisherige Verwaltung durch die im Dienste Sr. Durchlaucht Angestellten beträgt etwa sechstausend Thaler. Sie war früher viel größer. Seit zwei Jahren hab' ich sie auf das Nöthigste reducirt. Dies Budget werden Sie ... wovon bestreiten?

Von den Einkünften des Bodens, aber auch von den Renten und Gefällen, die an die Gutsherrschaft gezahlt werden.

Bester Freund, sagte Schlurck, Renten, Gefälle.. die sind meist aufgehoben ...

So wurden sie abgekauft, sagte Ackermann. Dies Capital legt man an und erzielt davon eine Rente, die um so angenehmer ist, als nun durch keine böse Verstimmung mehr das Verhältniß des Grundherrn zum Bauer getrübt wird ....

Das Capital? sagte Schlurck lachend. Ja, guter Mann, Das, was die Bauern schon eingezahlt haben, ging längst in die Masse!

O! das war höchst ungerecht, das war unverantwortlich! sagte Ackermann.

Wie so? fragte Schlurck und rückte die Brille wieder empor.

Das war unbillig, wiederholte Ackermann. Sie konnten dulden, daß man so die Rechte des Erben verkürzt? Die Laudemien waren eine jährliche Rente. Von dieser Rente, von diesen Zinsen durften die Gläubiger nehmen.

[796] Die Ablösungssummen aber sind ein ganzes Capital, das an den Gütern haftet. Sie konnten sozusagen eine Ernte verkaufen, aber nicht den ganzen Boden.

Als Ackermann so laut und in den gewölbten Räumen widerhallend sprach, öffnete man die Thür.

Ein Frauenzimmer blickte heraus und schien eben in einen Strom von Scheltworten sich ergehen zu wollen, als sie erschrocken den Justizrath erkannte und ihrer Zunge augenblicklich Stillschweigen gebot.

Wie geht es Sr. Durchlaucht? fragte der Justizrath ruhig und bei sich über den Wahrheitsfanatismus dieses imposanten Landwirthes lächelnd.

Die Dame antwortete mit großer Unterwürfigkeit, daß die Ärzte im Zimmer wären, Niemanden zuließen und ihre Befehle nur dem französischen Bedienten mittheilten, den Se. Durchlaucht aus Paris mitgebracht hätten.

Wir Alle stehen hier in schmerzlicher Erwartung, sagte sie mit gewähltem, etwas geziertem Tone.

Dabei öffnete sie die Thür und schien Schlurck ein laden zu wollen, in den Vorsaal einzutreten ...

Es standen da einige fremde Bediente, andere saßen. Der alte Wandstabler ruhte auf einem Polstersessel und wischte sich die Thränen, die auf seinen grauen, heute nicht sehr gewichsten Schnurrbart rollten ... Es waren dies, da er unten schon oft nach den Schlüsseln gesehen hatte, Thränen sehr zweideutigen Ursprungs.

Die Sprecherin war Demoiselle Florette Wandstabler, seine Tochter. Sie erzählte flüsternd, daß der Prinz drei [797] Zimmer weiter läge, in der hochseligen Durchlaucht Schlafgemächern ... daß er im Fieber phantasire und nur auf Augenblicke bei Besinnung wäre ... Der Unglücksfall errege das allgemeinste Interesse. Alle hohe und höchste Herrschaften schickten stündlich und ließen Nachfrage halten ... Diese beiden Bediente dort gehörten der Gräfin d'Azimont, die jede halbe Stunde einen Rapport haben müsse.. Diese schöne bewunderungswürdige Dame hätte selbst an sein Lager fliehen wollen ... wäre schon auf diesem Vorsaale gewesen.. aber die dringendsten Befehle der Ärzte hätten gerade sie am meisten entfernt gehalten. Der französische Kammerdiener Monsieur Louis hätte sich ihr mit Entschlossenheit entgegen geworfen.. der wäre noch strenger, als die Ärzte.. und Sie kennen Sanitätsrath Drommeldey! schloß sie.

Selmar, der alle diese Mittheilungen anhörte, faßte krampfhaft die Hand seines Vaters, dem sich eine Thräne ins Auge schlich ...

Schlurck ersuchte jetzt Beide, in ein Seitenzimmer vom Entrée links zu treten und einen Augenblick zu verziehen.

Ich sehe doch, sagte er mit scharfer und selbstzufriedener Betonung, daß diese Angelegenheit nicht so rasch wird erledigt werden können, wie ich gehofft hatte ...

Er zog halb die Thür zu und flüsterte wieder mit Florette Wandstabler.

Als Ackermann und Selmar allein waren, warf sich dieser an den Hals des Vaters und weinte.

Beruhige dich, mein Kind, sprach der Vater gerührt.

[798] Unser Freund ist jung und von einer ungeschwächten Natur. Die gütige Vorsehung wird ihn schützen.

Und siehst du nicht, fuhr er dann fort, daß es Menschen genug hier gibt, die auf seinen Zustand lauschen wie auf die Athemzüge des geliebtesten Menschen? Er ist in Sorgfalt und Pflege.

Hätt' er eine Schwester, sagte Selmar, einen Bruder! Hätt' er eine Mutter, einen so zärtlichen Vater, wie du! Wir könnten mit ruhigerem Herzen dies große, ängstliche Gebäude verlassen. –

Deswegen sei ohne Sorge! tröstete ihn der Vater mit besonderem Nachdruck, dieser feine, mehr schlaue als kluge Herr, der sich in meiner Person sehr zu irren scheint, ist der Vater jenes schönen Mädchens, mit dem er in Hohenberg und auf der Reise so leichtsinnig tändelte und die Gräfin d'Azimont hörtest du doch, eine vornehme und sehr gefeierte Dame aus Paris, diese nimmt vollends einen Antheil an ihm wie an einem Bruder. Sie liebt ihn ja! So denk' ich, wird er von zärtlicher Obhut nie verlassen sein ...

Beklemmend war es für Ackermann, daß auch in diesem höchst elegant eingerichteten Zimmer Vieles enthalten war, was er von Selmar nicht gesehen wünschte ... Auf einem Sockel von grauem Marmor stand in einer Ecke eine Copie der mediceischen Venus von Alabaster. Er konnte nicht hindern, daß Selmar sein Auge auf dies schöne Kunstwerk richtete; ja hätte er davon zu sprechen begonnen, so würde er jetzt auch ruhig geantwortet haben [799] wie über etwas Harmloses. Es that ihm leid, daß er sich vorhin im Garten von seinem Unwillen hatte fortreißen lassen und gerade das Arge erst vielleicht geweckt hatte dadurch, daß er es durch seine Entrüstung als arg hinstellte.

Nach einiger Zeit ängstlichen Wartens trat dann Schlurck leise und schleichend wieder ein, nahm Platz und sagte mit verstimmter Miene:

Der Prinz hat das Nervenfieber, eine Krankheit ebenso gefährlich wie langwierig. Man wird nichts abschließen können, mein Bester ... Lassen wir dies Geschäft. Sie kommen aus Amerika? Darf ich ....?

Ackermann, von gewaltiger Unruhe getrieben, lehnte die dargereichte Dose ab und erwiderte:

Gerade jetzt ist vielleicht noch der einzige günstige Augenblick! Ein langwieriges Übel schiebt die Entscheidung auf unbestimmte Zeit hinaus. Kommen Sie, wir sprechen die Ärzte!

Unmöglich, sagte Schlurck und hielt Ackermann zurück. Wo denken Sie hin? Auch bin ich selbst, aufrichtig gestanden, mit Ihren Vorschlägen nicht ganz einverstanden. Sie bedingen sich nur Tausend Thaler eigenen Gewinnes. Ich finde Das mindestens gesagt auffallend ... Welches Interesse können Sie haben, sich solcher Mühe, so vielen Plagen zu unterziehen und dafür einen so geringen Entgelt zu beanspruchen?

Das ist ja meine Sache! wiederholte Ackermann.

Ihre Äußerung über die Capitalisirung der Laudemien, [800] fuhr Schlurck fort, frappirt mich; denn ich weiß in der That nicht, da ich die ganze Last dieser Überschuldung auf mir liegen habe, wie ich es mit den laufenden Ausgaben z.B. für die noch nicht an den Staat übergegangene Gerichtspflege und etwa ein Dutzend Angestellter des Fürsten halten soll. Sie haben ganz Recht, Herr Ackermann, daß es Unrecht war, ein Capital, von dem nur die Rente disponibel hätte sein sollen, zur Masse zu schlagen. Aber ein Familienstatut, ein Majorat existirt nicht. Was thun, um diese Löcher all zu stopfen?

Ich will, sagte Ackermann, in ruhiger Auseinandersetzung, ich will noch die sechstausend Thaler für Gerichtspflege und Amtskosten auf den Ertrag der Güter mit übernehmen, wenn ich die ganze Verwaltung der Grundrenten mit überkomme und mir die Ablösungen zur Verfügung und Durchsicht gestellt werden.

Schlurck erhob sich, schüttelte mit dem Kopfe und sagte:

Alles recht schön! Recht schön! Aber man kann Das nicht übers Knie brechen! Es thut mir leid –

Damit deutete er an, daß die Unterhandlung abgebrochen wäre.. Offenbar erfüllte ihn das sonderbare Drängen dieses Landwirthes mit Mistrauen. Er sah in ihm etwas Andres als einen Ökonomen, der nur landwirthschaftliche Versuche anstellen wollte. Die Zumuthung, Einsicht in die Bücher zu bekommen und gleichsam die frühere Verwaltung zu controliren, war ihm vollends lästig. Er war sich zwar, soweit er sich auf Bartusch verlassen konnte, keiner [801] auffallenden Verstöße bewußt, fürchtete aber doch alles Schroffe, Übereilte, Leidenschaftliche und das Allzuwißbegierige und Unbequeme ohnehin.

Da Ackermann nicht nachgab, so antwortete er, um nur eine Ausflucht zu haben:

Überdies gesteh' ich Ihnen, wir haben noch andere Anerbietungen, die vielleicht günstiger sind.

Er wollte gehen und kniff Selmar'n freundlich wie zum Abschied in die Backen.

Ackermann schwieg einen Augenblick, fixirte dann aber noch einmal den offenbar sich unbehaglich fühlenden Mann und sagte mit vieler Ruhe und Kälte:

Herr Justizrath, wenn ich die Verwaltung der Güter bekäme, würd' ich erkenntlich sein. Ich bot zehntausend Thaler Caution und verlange nichts, gar nichts vom Fürsten, um in die Ameliorationen etwas hineinzustecken.. Ich gebe das Alles selbst her, weil ich leidlich vermögend bin. Es ist mir nur um die Gelegenheit zu thun, eine große Wirthschaft zu führen und den deutschen Landwirthen amerikanische Erfahrungen zu zeigen.. Ich biete Ihnen ein kleines Gratial.. zweihundert Louisd'ors ... Herr Justizrath, wenn wir ins Reine kommen.

Dies gewagte Wort sprach Ackermann ganz ruhig hin und legte nicht den geringsten Accent darauf.

Schlurck aber sah ihn von der Seite an, zog seine Dose, nahm eine Prise und machte eine sehr lange Pause. Dann wandte er den Kopf empor, lächelte, schnellte den Rest des Tabacks aus den Fingern und sagte:

[802] Hm! Hm!

Noch einmal dann den Fremden, der ihn sicher und vertrauend und seines Mannes gewiß anblickte, fixirend, fragte er mit einem Tone, der etwa sagen wollte, als verstünde sich Das von selbst:

Jährlich?

Es war ein gewagtes Wort dies Jährlich! Es ließ einen tiefen, gefährlichen Blick auf Schlurck's Lebensphilosophie und die ganze Geschichte seines Berufes werfen ... Er sprach es aus, nicht etwa mit gemeiner schmeichelnder Gewinnsucht, die ihm fremd war. Er sprach es mit dem Tone eines Weltmannes, der gleichsam zum Andern sagen wollte: Die ganze Welt ist eine Komödie, wo Einer den Andern prellt. Was wollen wir Narren sein und die Tugend lieben?.. Der alte Fürst hatte ihm ja immer erlaubt, bei Gelegenheiten, wo er den Mäkler machte, auch an sich zu denken und von den geschriebenen Rechnungen allein war der ungeheure Aufwand, den er machte, nicht zu bestreiten.. Er fand es in der Ordnung, daß er bei einem guten Dienst, den er dem Andern leistete, auch eine Erkenntlichkeit für sich in Anspruch nehmen durfte ... Aber ... »Jährlich?«.. diese Frage war doch gewagt. Es war ihm eigentlich fremd, so zu feilschen und sein Gewissen in Fallen zu locken. Er liebte es nicht, daß er fodern sollte; er nahm, was man gab. Seine Lebensphilosophie haßte das Moralisiren auch nach dieser Seite hin und wenn man ganz die Wahrheit sagen will, so war er im Grunde doch viel weniger schlecht, als er sich im Allgemeinen [803] schlecht gab. Es war ihm eine solche Bestechungs-Angelegenheit nur der Humor des Lebens, der uns die Langeweile der Alltäglichkeit ausschmückt. Er hielt sich auch nicht lange bei solchen Verhandlungen auf und hätte vielleicht jetzt, wenn Ackermann die Achseln gezuckt und gesagt hätte: Nein, nur Einmal! Jährlich ist mir zu viel! gelacht und die tausend Thaler hingenommen, die er brauchen konnte, trotzdem, daß man ihn für reich erklärte.. Er war nicht reich. Er nahm viel ein und daß er viel einnahm, dazu gehörte gerade, daß man sich über tausend Thaler, in Gold baar auf den Tisch gelegt, nicht zuviel weitläufige Scrupel machte ...

Aber schlimm! Tausend Thaler auf einmal waren Schlurck nichts werth, wenn er die Administration dafür auf immer in andere Hände geben sollte. Er behielt zwar die Controle des Generalpächters, er vermittelte zwar die Ansprüche der Gläubiger, aber es trat ein neuer Mensch in seine Kreise ein, zwei neue, scharfe Augen sahen in seine Bücher und das für einmal eintausend Thaler in Gold? Das hätte ihm in diesem Falle lächerlich erscheinen müssen und deshalb wiederholte er noch einmal:

Jährlich?

Aber nun war es übel, daß auf Ackermann dies Wort fatal wirkte. Es war dies ein leidenschaftlicher Mann; die ganze Situation peinigte ihn schon lange. Er wollte mit seinem kleinen einfachen Anerbieten nur Schlurck auf den Zahn fühlen, in welchem Sinne dieser Herr wol des Prinzen Egon Güter verwaltete. Er hatte vielleicht Wunder [804] geglaubt, was er schon dem Gelüsten des Unrechts für einen gewaltigen Köder entgegenhielt. Als aber mit der Frage: Jährlich? ihm die Zumuthung eines perennirenden Betrugs gegen den Fürsten gestellt wurde, übermannte ihn so der Zorn, daß er glühend von Unwillen bei Wiederholung des Schlurck'schen »Jährlich« ausrief:

Nein, Schurke, nie!

Schlurck sank fast in einen Sessel.

Selmar sprang herbei, faßte die Hand des Vaters ...

Dieser ließ ihm den Hut, wie zum Aufbewahren, riß die Thür auf, stieß Schlurck zurück und sprach mit Donnerstimme, daß es Alle draußen hörten und ihn für wahnsinnig halten mußten:

Laßt mich zum Prinzen! Ein lichter Moment wird hinreichen, ihn vor Verräthern zu schützen!

Er stürmte mit diesen Worten auf die Thür zu, die zu den Zimmern des Fürsten führte.

Schlurck saß regungslos. Diese Scene! Diese Zuhörerschaft! Dies plötzliche Erlebniß, das er sich nicht hatte träumen lassen! Das war wie ein Einfallen des Himmels. Wie kam ihm denn Das? Ihm? Hier? Unter solchen Umständen? Hier bei der ihm wohlbekannten alabasternen Venus von Medicis ... Scenen! Scenen! Sie waren nie seine Sache gewesen. Er konnte geistreich, witzig, liebenswürdig sein; es war ein Mann sogar von Mitgefühl, von milder Gesinnung, von Wohlthätigkeit; er konnte auch einmal etwas begehen, was gewagt und gefährlich war. Aber still mußt' es dabei sein, die Leidenschaften mußten [805] schweigen, das Tollhaus der »Tugend« sich nicht entleeren, Scenen mußten wegfallen ... Daß er hier jetzt nur schon so auf den »Schurken« antworten mußte, so doch hinzuspringen, um den gefährlichen Mann von der Thür wegzureißen, das war ihm entsetzlich ... Einmal an sich entsetzlich, der Thorheit wegen, die er sich vorwerfen mußte, dann aber auch ebenso entsetzlich wegen der Exaltation, die solche Dinge in seinem träge rinnenden Blute hervorriefen ... O, er war einer Ohnmacht nahe.

Sein Schrecken wuchs, als sich die Thür öffnete, die Ärzte herbeistürzten und zornig nach der Ursache des Lärmens fragten ...

Ackermann, noch in der vollen Glut seiner Entrüstung, rief:

Meine Herren! Lassen Sie mich den Prinzen sprechen! Er kann davon nicht sterben, wenn ein Freund zu ihm spricht! Es wird ihn erquicken, wenn er sieht, daß es noch Menschen gibt, die ihn lieben und für ihn leben wollen.

Noch hatte er kaum zum unwilligsten Erstaunen der Ärzte, unter denen sich glücklicherweise Sanitätsrath Drommeldey nicht befand, diese Worte geendet, als ein junger Mann aus den Zimmern, deren Thüren nun alle offen standen bis in das dunkle hintere Schlafcabinet, heraustrat. Er war von mittler Statur, blassen gefälligen Mienen; das schwarze Haar lag kurz geschnitten auf dem Scheitel und erhöhte den Ausdruck des theilnehmend besorgten freundlichen Antlitzes. Nichts verrieth einen Dienenden.. Schwarzer Frack und schwarze Beinkleider [806] standen ihm wie einem Weltmann, doch war das Halstuch nur lose geknüpft und ließ durch den umgeschlagenen Hemdkragen in dem Eintretenden eher einen Studenten, als einen Kammerdiener, was er nach Florette Wandstabler sein sollte, erkennen. Die Hände entsprachen nicht ganz dem gefälligen Charakter des Gentlemans, sie waren zu stark im Vergleich zur Proportion der übrigen Formen und hatten nicht jene Weiße des Gesichts und des Halses, die zu dem schwarzen glänzenden Haare so auffallend abstach. Kinn und Oberlippe waren mit einem schöngekräuselten Barte geziert.

Was gibt's hier? fragte der Eintretende mit strengem, fast befehlenden Blick in französischer Sprache.

Ackermann zog die Thür an, die der Franzose noch in der Hand hielt und begann im beredtesten Französisch wie der gebildetste Weltmann sein Anliegen auseinanderzusetzen.

Mein Herr, rief er stürmisch erregt und ohne viel die Worte zu wählen; Sie sind ein Freund des Fürsten, denn er duldet Sie an seinem Krankenlager. Sagen Sie ihm, daß ein bemittelter und erfahrener Ökonom aus Amerika sich anbieten wollte, seine Güter zu verwalten. Sagen Sie ihm, daß dieser Mann dabei nicht das Interesse seiner eignen Bereicherung im Auge hat, sondern die Wohlfahrt des Besitzers. Er erbietet sich eine Caution von zehntausend Thalern sogleich zu zahlen als Bürgschaft seiner Treue und Ehrlichkeit. Er erbietet sich, die Hälfte seiner reinen Einnahmen auf die Befriedigung der Gläubiger [807] des Fürsten, die andere aber zur Befriedigung der Bedürfnisse des Fürsten selbst zu verwenden. Beide Summen werden Dank der Erfahrungen, die der fremde Landwirth machte, Dank seines ehrlichen Willens, groß genug sein, um ihren Zwecken zu entsprechen. Der Zuschlag müßte mindestens auf zehn Jahre geschehen. Die Capitale, die der fremde Mann auf seine Verbesserungen verwendet, gibt er selber her, unter der Bedingung, daß ihm eine Hypothek auf die Güter und die richtige Verzinsung gestellt wird. Für sich selbst verlangt er nur die Summe von jährlich tausend Thalern. Sagen Sie dem Fürsten, daß ich mich durch den Augenschein überzeugt habe, wieviel sich für seine Besitzungen noch thun läßt. Sagen Sie ihm das sogleich, mein Herr, ehe die Krankheit, die den jungen Prinzen bedroht, weitere Fortschritte macht und einen Zeitverlust verursacht, der in Rücksicht auf die nächstjährige Ernte nicht wieder eingebracht werden kann. Nennen Sie ihm meinen Stand und Namen! Ich bin ein Deutscher, komme aus Amerika, heiße Ackermann und biete alle Garantieen. Der Justizrath Schlurck ist zugegen, um die Willensmeinung des Prinzen in Empfang zu nehmen und die Urkunden aufzusetzen.

Der Franzose hatte ruhig, aufmerksam und ernst zugehört.

Monsieur, un instant! sagte er und kehrte in die Krankenzimmer zurück.

Ackermann sah nun in höchster Spannung um sich.

[808] Alles haftete an ihm. Die Bedienten, die Ärzte standen starr. Selmar schmiegte sich an den Vater und hielt ihm die eine seiner Hände, in denen man das Blut klopfen fühlte. Schlurck leichenblaß und im höchsten Grade mit sich selber unzufrieden, stand in einiger Entfernung am Fenster des Vorzimmers, klopfte mit seinem Stöckchen wie in der Zerstreuung an die Scheiben, Florette Wandstabler schlich sich zu ihm heran und fragte besorgt:

Was haben Sie, Herr Justizrath? Was ist Das nur?

Wer ist der Franzose? fragte Schlurck fast tonlos.

Monsieur Louis, antwortete diese ebenso leise. Sr. Durchlaucht gab gleich nach der Ankunft von Paris Befehl, diesem Franzosen in Allem zu gehorchen. Erst seit gestern wohnen Durchlaucht hier und Monsieur Louis sind erst eingezogen, seitdem Durchlaucht sich für krank erklärten. Denken Sie sich! Anfangs trug dieser Louis ein Überhemd wie ein Fuhrmann und wohnte vorm Thore in einem elenden Gasthofe. Jetzt erst, wo er beim Fürsten wacht, hat er sich so fein gekleidet. Die Gräfin d'Azimont, die heute früh hier fast in Ohnmacht lag, haben die Ärzte und Monsieur Louis mit Gewalt von Sr. Durchlaucht fern gehalten. Wir werden schlimme Dinge erleben, gleichviel, ob der junge Herr lebt oder stirbt ... was übrigens Gott verhüten möge ...

Schlurck erwiderte auf diesen Bericht nichts, wandte sich auch nicht nach ihr um, sondern sah auf die Straße hinaus. Er fürchtete, wenn er sich wandte, dem zermalmenden Blicke Ackermann's zu begegnen, den er überdies [809] für einen jener exaltirten Menschen aus der Schule des Heidekrügers Justus hielt. Alle Störungen der einfachen Lebenslogik waren ihm im höchsten Grade zuwider, vollends aber Phantasterei ... Ackermann stand da wie ein antiker Heros. Das Feuer des Zornes hatte alle seine Züge gehoben. Das braune lockige Haar, das nur wenig an den Spitzen hier und da schon graute, hatte sich fast aufgerichtet. Die Nasenflügel zitterten. Flammen eines jugendlichen Muthes blitzten aus den Augen und ließen erkennen, daß Ackermann sicher einst in seiner Jugend ein so schöner Jüngling war, wie noch jetzt ein imposanter, anziehender Mann.

Theatereffect! brummte Schlurck vor sich hin. Ich wette, es ist ein verdorbener Schauspieler ...

Und doch sagte er sich:

In dem Stück spielst du eine miserable Rolle!

Die Thür ging wieder auf.

Louis trat herein und sagte mit Ruhe und Anstand auf Französisch zu Ackermann:

Entschuldigen Sie, mein Herr, der Prinz ist zu angegriffen, um die Verhandlungen mit Ihnen selbst zu führen. Auch verbieten es die Herren Ärzte. Er frägt, ob er das Anerbieten, das Sie ihm stellen, mein Herr, die Ehre hat von einem Amerikaner, Namens Ackermann, zu empfangen, der in Begleitung eines kleinen Knaben vor einigen Tagen am Fuße des Schlosses Hohenberg war und dort die Bekanntschaft eines jungen Mannes, Namens Dankmar Wildungen machte?

[810] Ja, mein Herr, sagte Ackermann freudig erregt. Und auf seinen Knaben zeigend, setzte er hinzu:

Der bin ich. Das ist mein Sohn dort! Der Name Dankmar – wie sagten Sie?

Dankmar Wildungen! war die Antwort.

Ackermann schien plötzlich überrascht von diesem Namen, den er in Hohenberg nicht gehört hatte und den sich, wie er glaubte, der Fürst selbst gab.

Wildungen! Wildungen! wiederholte er.

Eine neue ihn befremdende Gedankenreihe schien über ihn zu kommen ...

Der Franzose wiederholte ein wenig dringender, aber artig, ob er jener Herr wäre?

Ja, sagte Ackermann, der bin ich; mein Knabe dort – ist es auch. Aber Wildungen? Wie kommt dieser Name hieher?

Es genügt, sagte der Franzose, daß Sie Herr Ackermann sind und in Begleitung Ihres Herrn Sohnes vor einigen Tagen in Plessen, am Fuße des Schlosses Hohenberg, sich aufhielten..

Damit entfernte er sich ...

Ackermann stand sinnend, strich sich über die Stirn und wiederholte:

Wildungen? Dankmar Wildungen? Warum Wildungen!

Schlurck hörte alle diese Verhandlungen mit gekniffenem Lächeln an. Waren sie ihm schon an sich peinlich, weil sie die Vorboten großer Störungen seiner Einkünfte [811] schienen, trübten sie ihm schon an sich den Humor, mit dem er das Leben zu fassen gewohnt war, so mußte er im höchsten Grade überrascht sein, hier Alles bestätigt zu finden, was er von Bartusch und Paulinen über die seltsamen Abenteuer auf Hohenberg vernommen hatte.. Der junge Prinz war auf Hohenberg gewesen, war unstreitig ein und dieselbe Person mit jenem Dankmar Wildungen, von dem er noch immer nicht mehr wußte, als daß er von ihm etwas erfahren hatte, was er ins tiefste Dunkel gehüllt glaubte, den Fund jenes räthselhaften Schreines an der Schmiede im Mondenlicht; er konnte keinen Zusammenhang, kein klares Licht mehr entdecken. Er sah nur noch jenes Kreuz mit den vierblättrigen Kleeblatt-Enden, das ihm in jener Nacht, als er aus dem Justizamte zurückkam, plötzlich an dem zerbrochenen Wagen eines verwundeten Fuhrmannes in die Augen fiel. Er gedachte des gewaltigen Eindruckes, den ihm da so plötzlich mitten in der Nacht eine Erinnerung an seinen großen, wichtigen Proceß über den Nachlaß einer geistlichen Ritterschaft machte, er gedachte der Mittel, die er brauchte, um die Familie Zeck zu überreden, verschwiegene Zeugen einer Aneignung zu werden, die fast auf einen Raub hinauslief ... er sah sich da von einem Netz umstrickt, in dessen kunstvoller Anlage auch die kleine weiße knöcherne Hand und das rothe Haar Fritz Hackert's ihm plötzlich entgegenfuhren, er sah um sich Gestalten, die die Zähne fletschten, hörte ihr teuflisches Hohnlachen, fühlte den Boden unter sich wanken ... und faßte sich erst, als wieder [812] die Thür aufging und Monsieur Louis zu Ackermann sagte:

Mein Herr! Der Prinz läßt Ihnen sagen, Sie wären ihm durch die Erinnerungen an Hohenberg und Dankmar Wildungen zu gut empfohlen, als daß er nicht mit Freuden die Gelegenheit ergreifen sollte, das unglückliche Schicksal seines Erbes herzlich gern Ihnen anzuvertrauen. Sollte ich sterben, fügte der Fürst mit Standhaftigkeit hinzu, so wird die Seitenlinie unsres Hauses gewiß meinen Willen ehren, den ich die Herren Ärzte zu bezeugen bitte ... Die Herren Ärzte waren anwesend. Der Prinz hat darauf befohlen, daß Herr Schlurck die ganze Verwaltung der Güter Herrn Ackermann übergibt und an ihr nur noch als Vertreter der Ansprüche der noch unbefriedigten Gläubiger betheiligt bleibt. Über dies Alles wollen Sie, mein Herr, in diesen Tagen gerichtliche Akte nehmen lassen! Die Ärzte sind Zeugen und ich selbst bin es, Louis Armand, gebürtig von Lyon.

Die wiederzurückgekehrten Ärzte bestätigten diese Äußerung, die Schlurck mit unfreiwilligem Lächeln entgegennahm.

Louis Armand war sogleich wieder in die dunklen Krankenzimmer zurückgekehrt.

Er wird leben! Der Prinz wird genesen! rief Ackermann und eine Thräne trat in seine Augen, während Selmar die seinen verbarg, um nicht zu sehr zu verrathen, wie der Ausdruck seiner Empfindungen sie schon längst feuchtete ...

[813] Nachdem Schlurck mit einem schweren Seufzer sich noch kurz geäußert hatte, in seinem Bureau würde Herr Aktuar Bartusch zu jeder Zeit und wenn man wünschte, noch heute die nöthigen Aufklärungen ertheilen und auch die Akte aufsetzen, die man gerichtlich niederzulegen hätte, schritten Ackermann und Selmar, Vater und Sohn, langsam und schweigend, aus dem Zimmer. Der Stolz, verklärt vom Schmerz der Liebe, ist ein Weiheaugenblick des Menschen, wo er am größten erscheint, auch ohne äußerlich zu triumphiren. Ackermann war zu großmüthig, um auf Schlurck verächtlich herabzublicken.

Florette Wandstabler aber trat zu Schlurck heran und flüsterte:

Herr Justizrath, ist denn das Alles gut?

Ihr Vater, der phlegmatisch, weinerlich und halb berauscht, dieser Scene stehend beigewohnt hatte, trat gleichfalls, fast hinkend auf seinen eingeschlafenen dünnen Beinen, deren Schuhe und Strümpfe in lächerlichem Contraste zu der ganzen dicken soldatischen Figur und dem Schnurrbarte standen, zu dem Justizrath heran, der bisher ihrer Aller Schutz und Hort gewesen war und drückte Das, was er ungefähr fühlte, durch einen fragenden, tiefgezogenen Seufzer aus.

Schlurck, sich zum Gehen wendend, sagte draußen unbelauscht von den Dienern, denen durch die französische Sprache diese aufgeregte Scene nicht ganz verständlich geworden war:

[814] Ja! Ja, seufzt nur Leute! Les jours de fête sont passés... französisch sprechen kann ich auch ...

Florette faßte draußen seine Hand und meinte noch besorglicher:

Also es ist nicht gut?

Mit einem verzweifelten Versuche, seine alte Heiterkeit wieder zu gewinnen, antwortete Schlurck:

Mädchen, macht, daß Ihr Männer kriegt! Dem oben werdet Ihr keine Bäder machen und hübsche Schmetterlinge fangen. Maikäferchen fliege! Schlaraffenland ist abgebrannt.

Aber den Franzosen hätt' ich mir ganz anders gedacht, sagte Florette ...

Beißt wol nicht an, der Schwarzkopf? erwiderte Schlurck. Alte Künstlerin, da müssen jüngere Hexen kommen!

Die Lore ist noch recht hübsch ... meinte doch Florette.

Und in der That stand Lore Wandstabler unten und wartete mit Dore, der mittleren Schwester ...

Sie hatten sich, da sie alle mager und schwarz waren, mit grellen Farben geschmückt.. und standen recht verfänglich da. Sie hatten das Schmiegsame und Hingebende so in der Übung, daß sie den Justizrath, wenn man sagen will, ebenso gut umstanden, wie schon umarmten ....

Aber er hatte heute keinen Geschmack für ihre lacertenartige Zärtlichkeit.

Katzen, sagte er halb scherzend, halb ärgerlich, laßt mich heute los! Und überhaupt ... setzte er hinzu, als sie [815] ihm für seine Stimmung doch zu schmiegsam wurden.. Ihr seid mir immer zu mager gewesen.

Mit dieser Grobheit ließ er die erschrockene Familie Wandstabler in Erstaunen und großer Bekümmerniß zurück.. so unhold war er ja nie gewesen.

Die Mädchen sahen sich fragend an, begleiteten ihn bis an das geöffnete Portal und staunten, welchem ruhigen, nachdenklichen Schlendergang sich heute der Justizrath ergab. Franz Schlurck, der sonst hüpfte und immer verrieth, daß die Welt eine Kugel ist, auf der sich Alles dreht und wendet ... schlich heute schneckenartig.

Wir zweifeln fast, ob unser alter Freund sich jetzt noch beim Italiener Lippi zur griechischen Weinprobe einstellen wird.

Es drückten ihn drei Widersprüche und eine Thatsache.

Erstens: War Prinz Egon jener Dankmar Wildungen vom Heidekrug, der gegen seine Familie und vorzugsweise Melanie so liebenswürdig sich benommen hatte, wie kam er jetzt auf diese offenbare Feindseligkeit?

Zweitens: Welche Bewandtniß hatte es mit den Andeutungen, die er von Bartusch über die Abenteuer auf dem Heidekruge erhielt und von denen er sich so viel gemerkt hatte, daß er glaubte, ein dem Prinzen werthvolles Bild befände sich noch gegenwärtig in den Händen seiner Tochter?

Drittens: Was sollte er auf die leidenschaftliche Caprice bauen, die seine Tochter plötzlich für jenen Mann gefaßt hatte, den sie für den Prinzen Egon hielt und der von [816] seinem gefundenen Schrein mit dem Kreuze sprechen konnte?

Das waren die Widersprüche.

Die Thatsache aber hieß:

Du hast die Administration des Fürstenthums Hohenberg verloren!

Er beeilte seine Schritte, um daheim für das Chaos der Widersprüche, in dem er sich befand, bei Melanien Licht, für Das aber, was unumstößliche Gewißheit war, heute einmal wieder seit lange bei der lebensfrohen Philosophie seines guten Hannchens Trost zu suchen.

[817]
6. Capitel. Die Brüder
Sechstes Capitel
Die Brüder

Am Abend vor diesem Auftritte war die Freude groß gewesen, als Dankmar mit dem Einspänner und dem vergnügt bellenden, hin- und herwackelnden, fast tanzenden Bello sich im Pelikan wieder einfand.

Der dicke Wirth – er hieß Hitzreuter – und Katharine Peters, geborene Bollweiler, waren noch auf.

Peters, der gerade nicht daheim war, hatte einige Tage gelegen, war aber bereits von jener Gefahr für sein Bein befreit und hatte nur noch gelitten unter der Ungeduld, was sich aus Dankmar's Reise ergeben würde ... Das längere Ausbleiben Dankmar's störte die guten Leute nicht. Sie hielten es eher für ein gutes Zeichen. In dieser Ansicht hatte sie auch Siegbert bestärkt, der jeden Tag wol zweimal kam, um etwas Beruhigendes zu vernehmen, vielleicht auch nur eine Botschaft von fremden Fuhrleuten. Von einem Briefe, den er aus Plessen vom Bruder erhalten haben sollte, wußte man im Pelikan noch nichts. Dankmar konnte sich leicht denken, daß das hier so sein würde wie es in solchen Fällen immer zu geschehen pflegt.. Er selbst kam vielleicht früher an als sein Brief.

[818] Das Beste, was Dankmar mitbringen konnte, war die Versicherung, daß Peters außer Sorge sein dürfte, da er es über den Schrein leidlich selber wäre. Das verlorne Gut hätte einen Herrn gefunden, bei dem er nach Allem, was sich für Dankmar jetzt an Melanie anknüpfte, in der Hauptsache geborgen war, mochte seine Verwandlung aus einem Prinzen in einen gewöhnlichen Sterblichen nun auch gern gesehen werden oder nicht, mochte Schlurck auch noch so von dem Funde selbst interessirt sein; Dankmar traute sich die Kraft zu, Melanie's Unwillen in seinem ersten Ausbruche zu ertragen, ja hoffte, nach dem Grade seiner eignen Liebe, auch sie selbst zu überwinden und vielleicht dauernd das Interesse zu behaupten, das er doch wol auch durch seine Persönlichkeit ihr mußte eingeflößt haben. Denn wie bescheiden auch ein Mann denken mag, den Werth, den er im Auge einer Frau haben kann, schätzt er bald ab. Einige wenige Proben ihres Verhaltens gegen ihn genügen, ihn aufzuklären. Und die Proben, die ihm Melanie gewährt hatte, waren so außerordentlich gewesen, daß hier nur Liebe, oder wie er sich mit Schrecken als Menschenkenner gestehen mußte, Haß übrig bleiben konnte.

Den ehrlichen Peters hätte Dankmar gern gesprochen, wär's auch nur gewesen, um ihm zu sagen, daß seine Verehrung vor den beiden Zecks auf geringere Erfahrung im Umgang mit Menschen deutete, als er ihm zugetraut hätte ...

Auch die Umstände, die Peters über den Moment des [819] Verschwindens seines Frachtgutes angeführt hatte, waren nach seiner nunmehrigen Übersicht dieses Vorfalles, so räthselhaft er ihm auch noch immer erscheinen mußte, doch höchst ungenau und fast flunkerhaft. Die Scherze, die er sich deshalb noch mit dem guten Peters erlauben wollte, versparte er auf ein andermal, streichelte das Pferd, dem die Fahrt unter seiner sorgsamen Hand durchaus nicht übel bekommen war, vereinigte sich mit dem Pelikanwirthe über eine Summe, die er ihn bat, bis auf Morgen schuldig bleiben zu dürfen – denn schon im Heidekrug hatte er den letzten Thaler gewechselt – und ging dann, der etwas verlegenen Kathrine und dem heute schweigsameren Wirth die Hand schüttelnd, Bello noch einmal am Ohr zupfend, sein Bild in ein Tuch gewickelt, zu Fuß in die Stadt.

Es war schon spät. Es zog ihn zu dem geliebten Bruder ... Und doch hätte er noch gern in Lasally's Stalle nachgefragt, wie es mit dem Pferde aussah, das er einem so gefährlichen Menschen, wie Hackert, übergeben zu haben schwer bereute. Jetzt begriff er, wie Hackert, der ihm keineswegs unvermögend schien, sich aus Rachsucht an sie hatte andrängen und sogar eine Geldsumme wagen können, um nur Gelegenheit zu haben, seinem Feinde zu schaden ... Indessen dachte er, ist hier etwas Widerwärtiges vorgefallen, so erfährst du es zeitig genug und schon im Begriff nach der Ottokarstraße, in ein neues entlegenes Viertel, wo sich jener Stall befand, einzulenken, schlug er wieder den graden Weg zu [820] seiner Wohnung ein, die in der sogenannten Neustraße lag.

Auf dieser Richtung lagen zwei Häuser, die für ihn jetzt eine große Bedeutung gewonnen hatten.

Mitten in der Stadt, wo sich das Menschengewühl, trotzdem daß die Wächter schon die Stunden riefen, nicht ganz verloren hatte, (die Theater waren eben beendet) stand er an einem Hause still, das er längst als die Wohnung des Justizraths Schlurck kannte. Schlurck galt unter den jungen Juristen als ein Beispiel, das man oft anführte, um zu beweisen, wie gut sich ein Advocat stehen könne, der das allgemeine Vertrauen genösse. Er wußte dabei kaum mehr von ihm, als daß er in diesem alten Hause wohnte, mitten in der Stadt, dicht an dem ehrwürdigen Rathhause, umgeben von ganz in der Nähe befindlichen alterthümlichen Kirchen. Nie hatt' er auf dieser belebten Passage sonst stillgestanden. Heute mußte er es. Heute erst entdeckte er, daß dies graue Haus in schöner, alterthümlicher Form gebaut war und mindestens zweihundert Jahre alt sein mußte. Die untern Fenster waren mit eisernen Gittern geschützt. Die obern waren hoch und mit Stukkaturen geziert.. An dem Thorweg hing eine große blankgeputzte messingne Klingel und auf dem daneben befindlichen Messingschilde las er ganz einfach die kräftig eingravirten Züge des unmelodischen häßlichen Namens:

»Schlurck«. Ihm klang dieser Name wie Musik und wie der Name Melanie selbst, der ganz das Selige und Wonnige seiner Stimmung ausdrückte ... An den Fenstern des [821] zweiten Stocks entdeckte er Licht. Vor wenigen Stunden erst konnte die Reisegesellschaft, die er nicht mehr hatte einholen können und auch nicht mögen, angekommen sein.. Daß ihm Melanie nicht zürnte, über nichts zürnen konnte, bewies sein erobertes Bild. Die Art freilich, wie sie es ihm gegeben hatte oder hatte geben lassen oder wie sie es ihn hatte finden lassen, war und blieb räthselhaft genug.. Er grübelte aber nicht darüber nach. Morgen, dachte er, klärt sich das Alles auf. Ich werde sie sehen und wenn sie zürnt, bedeck' ich ihre schönen Hände mit meinen Küssen und flehe um ihre Vergebung ... Von Empfindungen so süßer Art war er durchschauert, als er mitten auf der Straße stand und zu den Fenstern hinaufsah. Er mußte den prächtigen Kutschen ausweichen, die an ihm vorüberrollten, und doch hätte er gern gelauscht, ob die Schatten, die ihm an den Vorhängen vorüberzuhuschen schienen, wol von Melanie kämen? Sie verschwanden zu rasch!.. Vielleicht löscht sie das Licht aus, dachte er, um sich auf's Lager zu werfen – und an mich zu denken? setzte er wonnetrunken hinzu.

Wie er noch so stand, bald hier einem Wagen, dort einem Fußgänger auswich, entdeckte er über der Hausthür einen aus Sandstein gehauenen Schild mit einem Wappen, das ihn wahrhaft überraschen mußte. Er traute seinen Augen nicht, als er dasselbe Kreuz, das auf dem Schrein aus Angerode stand, auch auf diesem Schilde wiederfand, mit denselben vier Rundungen an den Enden, wie auf jenem Deckel ...

[822] Wie, dachte er, ist das vielleicht eins jener alten Häuser, die entweder selbst noch aus jenen Zeiten herstammen, oder auf dem Grund und Boden gebaut wurden, der dem protestantisch gewordenen geistlichen Ritterorden gehörte, und ist es wol gar eins von denen, auf die ich nun selbst glaube Ansprüche machen zu können?

Fast ein leiser Schreck, ein dunkel ahnender leiser Schauer überlief ihn, wenn er dachte, daß Schlurck vielleicht dochwol zu dem Schrein, den er verloren, in einem andern Verhältnisse stehen konnte, als dem eines.. »ehrlichen Finders«..

Doch dachte er dieser trüben Vorstellung nicht weiter nach, sondern entfernte sich von dem Hause, das ihm nun erst recht bedeutungsvoll erschien, in dem guten Glauben, am folgenden Tage aller seiner Zweifel und Sorgen los und ledig zu werden.

Seine Schritte wandten sich jetzt beschleunigter jener Gegend zu, wo die Wohnungen der Vornehmen an stolzen einsamen Plätzen lagen.

Hier war es menschenleer und still. Dann und wann eine Schildwache, die ihm der unruhigen Zeiten und noch oft sich wiederholenden Tumulte wegen ein Werda? zurief ...

Die Laternen warfen ihre Lichter über kleine mit Rasen besetzte Beete. Springbrunnen plätscherten da und dort und bewässerten das Gras, das sonst in diesen freien Räumen, immer schattenlos der Sonne ausgesetzt, bald würde verdorrt gewesen sein.

[823] Hier lag auch das Palais des Fürsten von Hohenberg, einsam, still, dunkel, wie in Trauer gehüllt.

Hier hätte er nun anhalten, klingeln, die Stille aufwecken, fragen mögen.. aber kein Licht im ganzen Gebäude.. Alles wie ausgestorben.. Wie er sein in ein Tuch gehülltes Bild an sich drückte und die Geschichte desselben mit dem großen, stolzen, stummen Palaste da vor sich verglich, kam er sich erst fast überfeierlich, dann aber doch plötzlich wie ein Thor, ja kindisch vor, schlug sich an die Stirn und rief:

Bist du wahnsinnig? Was ist mit dir? War das Alles in Hohenberg nicht ein Traum, in dem dich tolle Geister geneckt haben?

Diese Abendstille, – dieser ruhig blinkende Sternenhorizont – fern die rollenden Wagen – die plätschernden kleinen Quellen – es war ihm, als sollt' er das Bild nehmen und es wie einen zwecklosen Ballast in den Kanal werfen, der einige Schritte weiter sich durch dieses einsame Viertel zog.

Dann weckte ihn aber von dieser verzagten Stimmung ein Wagen, der langsam um die Ecke des Palais von der Gegend herbog, wo dies mit einer hohen Gartenmauer begrenzt war.. Der Wagen stand eine Weile still.. fuhr dann langsam an ihm vorüber und hielt vor den Ketten, welche das Palais von der Straße absperrten.

Sollte hier Jemand noch so spät am Abend aussteigen wollen? Sollte es Egon sein?

Dankmar trat näher.

[824] Aus dem niedrigen Wagen blickte ein weiblicher Kopf, der zu den Fenstern hinauf sah ... Vorn saß neben dem Kutscher der Bediente, der keine Miene machte herabzuspringen und den Schlag zu öffnen. Dankmar sah nur, daß die Dame einen Strohhut mit dunklem Schleier trug.

Er näherte sich. Die Dame zog sich zurück ...

Wie er auf dem Trottoir an dem Wagen vorüberging, sah er, wie sie sich in die Ecke ihres Coupé's drückte und den Schleier übergeworfen hatte.

Er ging vorüber und wandte sich doch, als der Wagen immer noch still stand.

Du störst hier ein Stelldichein? dachte er endlich und wollte nun gehen.

Die Dame aber, die sich beobachtet fühlte, gab ohne Zweifel ihren Leuten rasch ein Zeichen und im Nu flog das kleine, elegante Fuhrwerk davon.

Dankmar sah ihm lange nach. Einen Zusammenhang mit dem todtenstillen Palais und dieser nach den Fenstern hinaufforschenden eleganten verschleierten Dame konnte er sich nicht herstellen ....

Aber noch etwas Anderes schien ihm abenteuerlich.

Als er seine Schritte beschleunigend an der einsamen Gartenmauer des Palais entlang ging und bald an ihr vorüber war, um in sein Straßenviertel einzulenken, hörte er einen wunderschönen, männlichen Gesang vom Garten her.

Er blieb stehen ....

Der Sänger mußte dicht unter den Fenstern des Palais, [825] die nach hinten gingen, seinen Stand haben, so entfernt klangen die Töne und doch war es ihm, als unterschiede er deutlich, daß dies Lied nicht deutsch war. Es quoll aus tiefer Brust und hatte etwas Melancholisches und dabei wieder Scherzendes, wie alle Volkslieder, selbst die der Franzosen. Denn französisch schien ihm die Weise.

Nicht lange hatte der Gesang gedauert, als an dem wie ausgestorbenen Palais ein Lichtschimmer sichtbar wurde. Er beobachtete dies Alles durch ein Gitter, mit dem hier, wie an manchen Stellen, die Mauer unterbrochen war ...

Ein Fenster hinterwärts erhellte sich.

Die Bäume aber verhinderten ihn, zu sehen, wer es vielleicht öffnete oder an ihm erschien hinter den Vorhängen ...

Bald verstummte der Gesang und bald erlosch das Licht.

Es war wieder so still und finster wie vorher ... Zögernd machte sich Dankmar auf den Weg, nun wo möglich noch gespannter auf die Enthüllungen des folgenden Tages.

Daheim endlich mußte er stark klingeln, bis ihm geöffnet wurde. Es war ein großes, von vielen Familien bewohntes, neues Haus, wo er seit längerer Zeit schon bei armen Vermiethern wohnte, die ihre ganze Habe in die Ausstattung zweier Zimmer mit zwei »Cabineten« verwandt hatten. Nach vielem Pochen und Klingeln erschien endlich seine Wirthin und sagte schon drinnen im Thorweg:

Sie haben ja Ihren Schlüssel mit, Herr Wildungen!

[826] Ich den Schlüssel? dachte Dankmar. Aha! Mein Herr Bruder wird gemeint sein. Sieh, sieh, der wäre noch nicht daheim?

So war es auch. Als die große Hausthür aufging, traute die Wirthin ihren Augen nicht, den jüngeren Bruder zu finden und nicht den Maler.

Sind Sie's denn? So spät! rief sie, indem sie die Hausthür wieder zuschloß – Kaum angekommen, wieder wie weggeblasen!

Dankmar beschränkte sich auf die einfache Thatsache: Sehen Sie, Frau Schievelbein, nun bin ich wieder da, unter Ihrem Schutz, Ihrer liebenswürdigen Obhut.

Was haben wir auf Sie gepaßt, sagte Frau Schievelbein, die eigentlich vor Dankmar immer Furcht hatte und mit Siegberten zutraulicher stand; wir glaubten Wunder, was Ihnen widerfahren ist!

Ja, ja, Frau Schievelbein, sagte Dankmar, Wunder sind mir auch widerfahren! Ist mein Bruder nicht zu Hause? So spät? Wo steckt er noch?

Damit waren sie erst eine Treppe hinauf.

Seit Sie fort sind, Herr Dankmar, sagte Frau Schievelbein, sind Herr Siegbert fast jeden Abend aus –

Sollt' er sich fürchten, daß Hackert das Geld reclamirt! dachte Dankmar für sich.

Kein Geld angekommen? sagte er dann laut; kein Brief aus Angerode? Keine Besuche?

Für Sie nichts, antwortete die Wirthin, die mit einer [827] Nadel etwas den Docht ihrer Lampe heraufzog; ein Brief für Herrn Siegbert liegt oben.

Aha! Wahrscheinlich der meinige aus Plessen! dachte Dankmar.

Aber Geld wird kommen, fuhr Frau Schievelbein fort, Geld wird viel kommen; wissen Sie's denn noch nicht, das Bild ist ja verkauft!

Das Bild ist verkauft? sagte Dankmar freudig. Gott sei Dank! Wenn's nur wahr ist!

Daß Frau Schievelbein es bestätigte für ganz wahr und gewiß, konnte Dankmarn auch deswegen lieb sein, weil es ihm Muth gab, sich jetzt an die dritte Treppe zu machen; denn auch die zweite führte noch nicht zum Ziele.

Wer hat es denn gekauft, Frau Schievelbein? fragte Dankmar.

Der Verein, Herr Wildungen, ja, ja, der Herr, der so schlimm sein soll, der Herr Kunst – ich kann immer den Namen von dem Herrn nicht behalten.

Aha, Herr Kunstverein, bei dem man einen Vetter haben muß, wenn er ein armes Talent in Nahrung setzen soll!

Derselbe! Für Dreihundert Thaler hat's der Herr Bruder jetzt rundweg losgeschlagen –

Für Dreihundert Thaler! Arme Seele, die du ein Jahr über diesem Stoff geschmachtet hast, drei Vorskizzen machtest, einen Carton, doppelte Untermalung, zehn Übermalungen – gewiß, wir leben im Periklëischen Zeitalter.

[828] Dankmar mußte einen Augenblick stehen bleiben. Die geringe Summe that ihm doch weh, und – die dritte Treppe war noch nicht die letzte. Es gab noch eine vierte und diese führte nicht etwa auf den Boden, sondern wirklich erst in die bescheidene Wohnung der Brüder Wildungen. Freilich konnte Dankmar den Freunden und Bekannten, die bei ihren Besuchen über die vier Treppen fluchten und wetterten, immer sagen: Ich liebe meinen Bruder Siegbert zu sehr, als daß ich mich von ihm trennen könnte und mein Bruder ist ein Maler und Maler müssen gutes Licht haben! Aber ebenso oft fühlte er doch selbst, daß hier aus der Nothwendigkeit eine Tugend gemacht wurde und im Stillen machte er schon lange gegen Frau Schievelbein das Complot, ob nicht auch mindestens drei Stiegen hoch irgendwo ein gutes Malerlicht aufzufinden wäre. War doch jetzt der Contrast seiner ebengespielten Prinzenrolle zu dieser bescheidenen Existenz im vierten Stock auch gar zu jäh und abspringend!

Die vierte Treppe hatte das Gute, daß sie zwar sehr schmal, aber auch sehr kurz war. Dankmar betrat sein Zimmer und das seines Bruders. Siegbert war ausgeflogen und die Wirthin versicherte, er käme seit Dankmar's letzter Abwesenheit fast jede Nacht erst gegen zwölf Uhr nach Hause..

Diese Stunde wartet heute meine brüderliche Liebe nicht ab, ich gehe zu Bette! sagte er. Frau Schievelbein, einen Gruß an Siegbert, wenn Sie ihn heute noch oder morgen früher als ich sehen. Für heute gute Nacht!

[829] Damit legte er schlaftrunken das Bild auf seinen Tisch, enthüllte es, betrachtete noch einmal die freundlichen, etwas vornehmen Züge der weiland jungen Fürstin Amanda, tastete an dem hintern Holze, das ihm verdächtig genug vorkam, noch etwas hin und her, ohne das Glas heftig zu drücken, sah auf dem Tische des Bruders wirklich seinen Brief aus Plessen, eben frisch angekommen, mit dem Siegel der Krone, entkleidete sich, löschte das Licht, das ihm Frau Schievelbein angezündet hatte, und warf sich auf sein Lager in einem Alkoven, der jedoch auf dem Miethzettel der Frau Schievelbein an der Hausthür als »Cabinet« paradirte. Das angenehme Gefühl, bei allem Merkwürdigen, das er erlebt hatte, nun doch wieder in seiner eigenen Behausung zu sein und auf einem Bett zu ruhen, das ihm selbst gehörte – die Mutter hatte es ihm aus Angerode geschickt – erfüllte ihn bald mit jenem traulich sichern Behagen, ohne das man sanft und stärkend nicht entschlummern kann.

Es war heller, lichter Morgen, als Dankmar erwachte und im Erwachen fast erschrak, erschrak über Siegbert, der mit seinen reinen, klaren Augen eben über ihm in die seinen blickte. Siegbert hatte sich über den Schläfer gebeugt und ihn vielleicht mit dem Athem seiner sorgsamen Liebe aufgeweckt. Seine blonden Locken ringelten sich fast auf Dankmars frische, schlaferquickte Wange herab.

Nun da ist er ja, der Furioso der, sagte Siegbert zum Gruß, er der mir anräth, den Ariost zu lesen, um mich auf seine Abenteuer vorzubereiten! Schöne Dinge müssen [830] Das gewesen sein, daß man so alle Liebe vergessen und sich hinsetzen kann, einem armen verlassenen Bruder dermaßen bittre Dinge über die Kunst und seine besten Einbildungen zu schreiben. Wart! Jetzt sollt' ich dir das Bett über die Ohren ziehen oder hier die Kanne frischen Wassers nehmen, die schon auf dich wartet, und sie dir über den Pelz gießen!

Damit ergriff Siegbert wirklich das Wasser und jagte damit den Bruder, der sich vor einem solchen unfreiwilligen Bade schützen wollte, aus dem Bett. Dankmar besann sich jetzt erst auf die bittern Wahrheiten, die er in seiner übermüthigen Laune dem Bruder geschrieben hatte, um im Scherz ihm diejenige Überzeugung von seinen artistischen Irrwegen beizubringen, die er im Ernst hatte.

Siegbert hielt in der einen Hand den Brief, in der andern die Kanne und stand in drohender Stellung.

Dankmar mit einer geschickten Seitenwendung griff nach dem Briefe, eroberte ihn wirklich und wollte ihn zum Zeichen seiner Reue zerreißen.

Halt! rief Siegbert. Er hat mich mein ehrliches Porto gekostet. Der Beweis deiner Unbrüderlichkeit ist nun mein und ich will mich bemühen, das Wahre davon herauszufinden und danke dir für die Anwendung des corpus juris auf die Ästhetik. Abscheulicher Verräther du! Doch lassen wir jetzt unsere Fehde und nun gebeichtet, was hast du Alles erlebt? Wo geschwärmt? Was getrieben? Ich sehe dir an, daß du so voller Schnurren, Brummkäfer [831] und Schmetterlinge steckst, wie Faust's alter Mantel, als ihn Mephistopheles im zweiten Theil ausschüttelt. Jetzt schüttle dich von selbst, wenn ich dich denn doch nicht schütteln soll!

Lieber Junge, sagte Dankmar, indem er rasch die nöthigsten Kleider anzog, das Fenster seines Zimmers aufriß, frische Luft schöpfte und sich wusch, lieber Junge, fürs Erste gleich' ich Faustens altem Mantel darin, daß mein Magen so schlaff ist, wie ungekrämptes Tuch. Was hast du zu frühstücken? Mit gewöhnlichen Schievelbein'-schen Portionen bin ich heut' nicht zu befriedigen.

Das dacht' ich schon, sagte Siegbert, du sollst deine Ankunft nach Gebühr gefeiert sehen. Ich hoffe, daß du mir die Ehre anthust, heute einmal in der Akademie und nicht in der Aula zu frühstücken.

Wenn deine Farben nicht zu sehr nach Öl duften, lieber Bruder, sagte Dankmar, du kennst meine Antipathie gegen Eure Mischungen und wenn ich bei Raphael frühstücken sollte ... ich ... ich dächte, wir blieben doch lieber in der Aula.

Nein, nein, sagte Siegbert, in der Akademie! Verdirb mir meine Freude nicht! Die Farben sind eingetrocknet. Seit drei Tagen hab' ich zu Hause keinen Pinsel berührt ....

Damit zog Siegbert seinen Bruder durch dessen Zimmer in das seinige. Sie nannten das Zimmer Dankmar's die Aula und das von Siegbert bewohnte die Akademie. Die Akademie hatte gleichfalls ein »Cabinet.«

[832] In der Akademie fand Dankmar in der That eine sehr festliche Zurüstung. Der runde Tisch, der vor einem mit Haartuch überzogenen, mit gelben Knöpfen beschlagenen Sopha stand, war zur Hälfte mit einer weißen Serviette bedeckt. In der Mitte stand ein Glas mit den frischesten, heute schon vom Früh-Markte gekommenen Blumen. Daneben der Kaffee und die Milch in einer Maschine, in der sich die Brüder ihre Morgenstärkung selber brauten. Ein weit größeres Quantum von frischem Weißbrot, als gewöhnlich, lag aufgehäuft in einem Korbe, von dem zwar hier und da der Lack schon abgesprungen war, welcher Mangel aber durch große Reinlichkeit ersetzt wurde. Besonders wohlgefällig waren außer den beiden Tellern und den blauweißen Tassen heute drei Extraschüsseln mit den dazugehörenden Messern, Gabeln und kleinen Theelöffeln. Es war dies erstens ein frisches Stück ungesalzner Butter, das zierlich auf drei großen Weinblättern ruhte und durch eine Form mit Sternen und kleinen Sonnen ausgeprägt war. Zweitens ein Teller mit einer Serviette, in deren geheimnißvollem Innern wie in einem Neste eine halbe Mandel gekochter Eier sich traulich versteckte und endlich drittens ein Teller voll malerisch geordneter roher Schinkenschnitte, die weiß und roth in angenehmster Abwechslung zwischen Fleisch und Speck den Gaumen unwiderstehlich reizten. Auch hier war zur Verzierung eine Menge von verstreuter Petersilie angebracht.

Diese Strafe für seinen wilden übermüthigen Brief war [833] für Dankmar doch zu großmüthig. Er umarmte fast den Bruder und sagte:

Siegbert, wie kann ich dein edles Herz jetzt herzlicher anerkennen, als durch meinen Magen'. Mein Appetit sei der Dolmetscher meiner Gefühle!

Die Brüder setzten sich und begannen mitzutheilen und zu erzählen.

Wie hab' ich dich erwartet, sagte Siegbert, wie sah' ich dir an jenem Abende, wo du wie im Traume von meiner Seite verschwandest, verzweifelnd nach! Wie hat sich denn Hackert bewährt? Bist du mit ihm wieder zurückgekommen?

So war er also nicht da? fragte Dankmar. Hat sich noch nicht sein Geld geholt?

Zu unserer Ehre noch nicht, sagte Siegbert, ich hätte ihm aufrichtig gestehen müssen, daß wir es angegriffen haben. Doch die Schievelbein erzählte mir schon, daß sie dir den Verkauf meines Bildes mitgetheilt hat. Ja es ist verkauft, Dankmar, und damit ein Stein vom Herzen!

Dreihundert Thaler, sagte Dankmar, ich hörte es mit Ingrimm gegen diese Kunstvereinsknauserei! Die Beleuchtung ist allein soviel werth. Bildchen von zwanzig Thalern wollen sie kaufen, damit in ihrer Lotterie viel Gewinne fallen.

Und ist es nicht traurig, sagte Siegbert, daß ich kaum durch mich selbst und meine Arbeit zu diesem Resultate würde gekommen sein, wenn ich nicht für das Gethsemane der Frau von Trompetta ein Blatt malte? Und [834] noch schrecklicher! Diese Frau machte von meinem Bilde nicht etwa darum ein so großes Aufsehen, daß man es seines Werthes wegen ankaufen müsse, sondern weil ein Albumsblatt von mir ihr dann erst wichtig werden konnte, wenn ich eine öffentliche Anerkennung erhielt und unter die gesuchten Maler versetzt wurde!

Das muß ich sagen, fiel Dankmar ein und zerklopfte ein Ei, das nenn' ich das Gelbe von der Sache! O, o! Welche Lügen! Welche Schändlichkeiten! Frau von Trompetta heißt die Posaune deines Ruhms? Was machst du ihr denn in ihr Gethsemane? Hoffentlich etwas vom Schweiße des Heilands, der sich auf dem Tuche der heiligen Veronika abdruckt! Darunter würd' ich schreiben: Aus der ewigen Leidensgeschichte des Genius!

Genug! sagte Siegbert. Das Bild ist nun fort und die dreihundert Thaler werden uns Muth geben, so lange zu warten, bis du deine Million gewinnst. Ich hoffe, diese Million wird uns doch recht bald ausgezahlt werden..

Spottest du? sagte Dankmar und schnitt an dem Schinken, der trotz allen guten Willens, trotz symmetrischer Anordnung, trotz der grünen Petersilie etwas zäh war. Spottest du und machst Witze, so ledern wie dein Schinken? Mache dich würdig, meine Abenteuer zu vernehmen, sonst hüll' ich mich in ein undurchdringliches Dunkel.

Siegbert suchte aus dem Schinkenteller für den Bruder weichere Stücke und gerieth durch die Sorge für Dankmar's leibliches Wohl ganz von Dem ab, was doch seine [835] Neugier reizte. Er rieth ihm ein schärferes Messer zu nehmen, die Stücke kleiner zu schneiden; er hätte doch der Schievelbein gesagt, sie solle ...

Beruhige dich! Beruhige dich! rief Dankmar. Meine Zähne thun das Übrige und die Eier sind vortrefflich, wenn auch ein Bischen klein. Ich hoffe sie kommen nicht aus der Schievelbein'schen Kanarienhecke. Iß Bruder! Jetzt seh' ich erst, daß du etwas schmal ausschaust! Wie blaß! Wie schmachtend! Was ist denn auch Das, bis zwölf Uhr Nachts zu schwärmen? Hat's dir der Mond angethan? Verliebte Kater und verliebte Maler, die an den Häusern hinstreichen! Lernst Mandoline spielen?

Siegbert nahm diesen Scherz nicht auf, sondern blickte ernst.

Viel wichtiger, sagte er darauf mit unbefangener Miene, viel wichtiger als deine Kritik über meine blassen Wangen ist die Mittheilung, was denn nun aus deinem Wunderschranke geworden und wer der glückliche Finder ist? Erzähle!

Dankmar hatte noch nicht Lust, sich in diese wichtigen Thatsachen und ihre weitläufige Mittheilung einzulassen. Er sagte:

Lieber Bruder, das sind so umständliche Dinge, daß ich sie nicht beim Frühstück abmachen kann! Was ich dir von meinen seltsamen Begebenheiten schrieb, ist wahr; aber sie sind verworren, so unglaublich, daß ich wirklich von vorn anfangen und ganz methodisch erzählen muß. Sage mir vorläufig zur Beruhigung, was hast du von dem Pferde [836] gehört, das uns jener Strauchdieb in die Lasally'sche Reitbahn zurückführen sollte?

Er hat es abgeliefert, sagte Siegbert. Ich war selbst dort noch am selben Abend und habe seitdem nur die Sorge gehabt, jene hundert Thaler wieder zu vervollständigen – Du nennst den Fremden einen Strauchdieb. Hast du Beweise, daß er diesen Namen verdient?

Ich denke wol, entgegnete Dankmar, und sehr triftige. Indessen bin ich froh, daß sich das Pferd sicher in Lasally's Händen befindet. Ich wünschte, wir hätten ihm das Pfand zurückgegeben und kämen mit ihm in keine weitere Berührung. Leider fürcht' ich aber, daß ich gerichtlicher Zeuge gegen ihn werden muß. Gerade Lasally ist es, der diesen Hackert verklagen will und sich dabei auf mich zu berufen gedenkt ...

Siegbert war über diese Nachricht sehr erstaunt. Er hatte von Hackert ein gutes Vorurtheil gefaßt und bedauerte, daß er es nun aufgeben sollte. Um indessen dafür auch gerechte Veranlassung zu haben, fragte er Dankmar nach den Gründen, die Lasally zu einem solchen Verfahren bestimmen konnten.

Dankmar meinte, daß auch diese Gründe in die lange und prächtige Erzählung gehörten, die er ihm noch heute auftischen würde.

Am liebsten, sagte er, heut' Abend, wenn ich noch weitere Ergebnisse gewonnen habe! Denn aufrichtig gestanden, ich schäme mich fast, vor einer genauen authentischen Bestätigung aller meiner Entdeckungen so sicher [837] und bestimmt von ihnen zu reden. Wie ich gestern Abend hier durch die stillen Straßen schlenderte, kam mir Alles wieder wie ein Traum vor, als hätte mich irgend eine Fee nur necken wollen und mich verzaubert. Aber, Himmel ...

In dem Augenblick sprang er auf. Das Bild fiel ihm ein. Er hatte es gestern in der Übermüdung aller seiner Sinne so gedankenlos auf seinem Tische liegen lassen, dies wunderbar gerettete Bindeglied zwischen ihm und so vielen Menschen, die er noch heute sich eilen wollte, als wirkliche Menschen und keine wesenlosen Schatten zu erkennen ...

Wie er mit dem Portrait, das er noch an der alten Stelle fand, drinnen rumorte, um es wegzulegen, rief Siegbert zu ihm hinein:

Welch' alten Zopf hast du denn da auf einem Trödel erstanden? Oder ist das vielleicht eine Schwiegermutter, die du irgendwo auf der Reise erabenteuert hast? Hübsch muß in diesem Falle die Tochter sein, aber ich wünschte, daß sie einen bessern Maler fände als einst die Mama.

Mein lieber Bruder, sagte Dankmar und legte drinnen das Bild in eine wacklige nicht verschließbare Kommode; an diesem Zopfe hängt das Schicksal eines Fürstenthums. Auch Das ist eine Neuigkeit, die, jetzt schon aufgeklärt, lange nicht so überraschend ist als im Zusammenhange meiner ganzen Geschichte. Sage mir ferner lieber, wie es dir inzwischen ergangen und welche bösen Geister dich verführt haben, Nachts um zwölf Uhr nach Hause [838] zu kommen. Hat dich Leidenfrost wirklich zum Mitglied seines Clubs gemacht, hältst du Reden oder hörst du welche?

Manches der Art! antwortete Siegbert, der sich bescheiden mußte, seine Neugier über des Bruders Abenteuer, besonders über eine etwaige Bekanntschaft mit Melanie Schlurck gezügelt zu sehen. Ja, Freund, ich bin auf dem besten Wege, in Untersuchung gezogen zu werden.

Dankmar erschrak.

Wie? fragte er. Mein besonnener Siegbert macht Thorheiten? Du weißt, ich bin dafür, daß man links, aber nicht linkisch ist! Unser gewöhnliches Clubwesen ist das Grab der Freiheit, nicht ihre Wiege.

Befürchte nichts, Dankmar, sagte der Bruder lächelnd, meine Unternehmungen auf diesem Gebiete sind sehr friedlicher Natur! Auch ist Das, was aus meinem nächtlichen Ausbleiben sich noch allenfalls entwickeln könnte, erst im Entstehen begriffen und kann mit deinem Urtheile stehen oder fallen. Vorläufig sag' ich dir nur, daß ich in diesen Tagen deiner Abwesenheit zwei Menschen gefunden habe, die sich inniger als jemals Andre an mich angeschlossen haben und von denen es mich glücklich machen würde, wenn sie auch dir gefielen.

Um des vierblättrigen Kleeblatts willen, sei's! sagte Dankmar. Aber auf einem und demselben Stengel müssen wir sitzen, sonst werd' ich auf deine neuen Freunde eifersüchtig. Wer sind sie denn?

[839] Dankmar wurde hier von Frau Schievelbein unterbrochen, die den Augenblick, wo die Brüder mit dem Frühstück fertig waren, belauscht zu haben schien. Sie kam, theils ein Urtheil über ihre Anschaffungen zu vernehmen, theils die Kleider hinzubreiten, die sie geputzt hatte. Auch die Stiefeln gehörten, da sie es so dringend wünschte, ihrem Wirkungskreise an. Sie ließ sich diesen Verdienst an ihren beiden Miethsherren nicht nehmen und war in der That sorgsamer, als in diesem delikaten Punkte Frauenhände zu sein pflegen.

Dankmar überließ Siegberten das Lob ihrer Bemühungen für diese Empfangsfeier. Er selbst hielt sich mehr an die bürstende Bestimmung seiner Wirthin, schloß mit raschem Besinnen seinen Kleiderschrank, langte die beste Garderobe hervor und übergab sie Frau Schievelbein zu behutsamster Reinigung. Ihre Klage, daß der Staub aus den Reisekleidern kaum auszutreiben gewesen wäre, ließ er gelten. Auch auf die gewöhnlichen Stiefeln verzichtete er. Er stellte sehr glänzend gefirnißte in die Aula, Alles zur Vorbereitung für eine gewählte Toilette.

Du ziehst dich ja an, sagte Siegbert, als Frau Schievelbein mit den Kleidern sich entfernt hatte, als wenn du heute zu einem Fürsten gingest?

Das geschieht auch! sagte Dankmar. Verzeihe mir meine Zerstreuung, Bruder! Ich schlage dir vor, heut' unser Mittagessen –

Im Pelikan, fiel Siegbert rasch ein, an der Kegelbahn, neben den Johannisbeerhecken!

[840] Nein, nein, erwiderte Dankmar und legte ein Hemde, weiße Wäsche und mit Bedacht eine der Saison entsprechende Weste zurecht. Das ist zu entlegen und ich gestehe dir, deine Verehrung vor dem Proletariat und wahrscheinlich auch wieder vor Eierkuchen mit Schnittlauch theil' ich heut' nicht. Wenn ich zwei wichtige Besuche, die ich machen muß, hinter mir haben werde, sehn' ich mich nach einer Flasche Cantenac oder Leoville und will mit dir im Rathskeller, bei Lippi oder lieber bei Grüns speisen im kleinen Cabinet, wo wir abgeschlossen sind, von keinem Hundegebell gestört werden und ich dir mit Ausführlichkeit zwischen Schüssel und Schüssel erzählen kann, was ich erlebt habe!

So sicher steuerst du wahrhaftig auf die Million zu? Rathskeller? Lippi? Grün? sagte Siegbert, dem indessen der Vorschlag doch außerordentlich gefiel. Er war gern bei einem gewählten, gemüthlich vorbereiteten Genusse und empfand schon die Behaglichkeit, so allein mit dem Bruder eine Mahlzeit zu verzehren, die sie nur bei außerordentlichen Veranlassungen sich gestatten konnten.

Bist du's zufrieden? fragte Dankmar, immer in seinem Zimmer räumend und für seine Toilette Dies und Jenes zurechtlegend.

Siegbert, der sich nun gleichfalls anzuziehen begann, antwortete aus seinem Zimmer:

Nichts soll mir lieber sein! Ich gehe jetzt in's Atelier, arbeite fleißig an meinem Albumblatte für die Trompetta, die damit drängt und jede Stunde gelaufen kommt, meinen [841] Eifer zu controliren. Dann hab' ich ein neues Portrait zu malen. Bis zwei Uhr bin ich so weit, um mit mir hoffentlich zufrieden sein zu können. Dann noch ein Besuch bei dem einen meiner Freunde und um drei speisen wir. Bei Grüns wird es dann stiller. Aber das Cabinet müssen wir belegen und nur gleich sagen, daß wir für das Couvert einen Thaler zahlen, sonst nehmen es Reubündler, Offiziere oder andre Privilegirte in Beschlag.

Willst du das besorgen? fragte Dankmar. Deine Kasse reicht doch?

Sie reicht! erwiderte Siegbert. Die Dreihundert sind schon eingerückt. Ich verschwieg es der Schievelbein, um erst zu hören, wieviel du davon nöthig hast. Wenn du recht mittheilsam bist, nicht flunkerst und mir Gelegenheit zu malerischen Situationen gibst, so kann auf den Leoville auch wol noch ...

Champagner! rief Dankmar von drinnen scherzhaft drohend und von der Güte seines Bruders gerührt. Welche Excesse! Mensch!

Pst! Ich spreche ja nur von Schaum, weil ich den Barbier höre! sagte Siegbert lachend. Guten Morgen Herr Zipfel. Die Thür ging auf ...

Es war in der That der Barbier, Herr Zipfel, der mit Frau Schievelbein, die die Kleider zurückbrachte, zugleich eintrat.

Andre Leute bekommen jeden Morgen zum Frühstück naß und frisch die neueste Zeitung. Die Brüder hatten [842] aber diese Ausgabe nicht nöthig. Die guten Zeitungen lasen sie Nachmittags im Kaffeehause, und für die laufende Chronik, für Das, was sie das politische Wetter nannten, genügte jeden Morgen der Besuch des Herrn Zipfel.

[843]
7. Capitel. Das politische Wetter
Siebentes Capitel
Das politische Wetter

Herr Zipfel war eine seinem üblichen Berufscharakter entsprechende bewegliche Figur. Er liebte die laufende Zeitgeschichte. Wenn er zu Kunden kam, die schon die Morgenzeitung gelesen hatten, so erfuhr er von ihnen, was er Denen mittheilen konnte, die nur die Abendzeitungen gelesen hatten. Manche Irrthümer der Nachmittagspresse war er schon im Stande, durch die Morgenpresse zu berichtigen. Viele Thatsachen aber schöpfte er aus Quellen, die nur seinem Scheermesser zugänglich waren. Sein frühbesuchtes Atelier, seine zeitigen Ausgänge über die Straße, seine Besuche von Haus zu Haus bei Kunden, die zuweilen den Begebenheiten nahe standen, trugen ihm immer einen reichen Schatz von Notizen ein. Er konnte schon jeden Morgen ungefähr die politische Witterung des Tages angeben. Manches, was den Abend eintraf, sagte er schon am Morgen voraus. Ebenso oft aber irrte er sich auch und mit der Vergrößerung geringfügiger Dinge nahm er es nicht zu genau. Es verschlug ihm wenig, bei einer kleinen Arbeiterstreitigkeit die auf dem Schlachtfelde gebliebenen Flaschen für Menschen zu nehmen und [844] ohne Weitres von einem Dutzend Todter und einigen Dreißig höchst gefährlich Verwundeten zu sprechen. Es war nicht gut für die auswärtige Presse, daß Zipfel auch einige ihrer Berichterstatter rasirte. Sie benutzten ihn für ihre Mittheilungen fleißiger, als die Glaubwürdigkeit jener Zeitungen hätte sollen wünschen lassen.

Nach einer freundlichen Begrüßung des so lange erst im Harz abwesend und dann kaum zurückgekehrt wieder verschwundenen Herrn Referendars Dankmar, machte sich Zipfel daran, erst Siegbert von den Haaren zu befreien, die nicht zu seinem schönen blonddurchsichtigen Barte gehören sollten.

Auf ein einfaches: Nun, Zipfel, wie steht's? das ihm aus der Aula zugerufen wurde, sagte er, den Schaum schlagend, mit ruhiger Miene, als wenn er von etwas sehr Gleichgültigem spräche:

Der Telegraph spielt!

Zipfel wollte damit sagen: Im Werke ist irgend etwas und in ein paar Stunden wird man's wol erfahren.

Dankmar aber, der sich anzuziehen begann, wollte etwas von einheimischen Dingen erfahren und fragte, ob Alles ruhig wäre?

Alles ruhig! sagte Zipfel mit einer Miene, als wollte er ausdrücken: Es ist die Windstille vor dem Sturme! Im Grunde aber hätt' er doch lieber gehabt, es wäre schon sogleich irgendwo wieder zu einem »bedauerlichen« Conflicte gekommen.. Mit den letzten stürmischen Aufregungen der Zeit hatte sich die Phantasie ganzer Bewohnerklassen [845] großer Städte und des flachen Landes daran gewöhnt, jeden Tag mit Gier etwas Neues aufzuschlürfen. Das Bedürfniß nach starken Anregungen dieser Art war so allgemein, daß man die Beruhigung gewiß sehr langweilig gefunden hätte, wäre sie nicht für eine kurze Erholung des Handels und der Gewerbe so dringend nöthig gewesen.

Als Zipfel das Messer geschärft und an Siegbert's Kinn gesetzt hatte, sagte er:

Alles ruhig, aber oben wackeln sie doch!

Wackeln sie? fragte Dankmar und trat auf seine leichten Firnißstiefeln auf. Sie meinen die Köpfe der Minister, Zipfel?

Um Gotteswillen, sagte Zipfel, machen Sie mir keine Blutgedanken, mein Messer ist scharf! Die Köpfe oben haben die Gefahr überstanden. Das ist vorüber. Aber die Anstellungen! Die Anstellungen! Die mein' ich, die wackeln schon einmal wieder!

Wer soll denn nun an's Ruder kommen, Zipfel? fragte Dankmar. Ich habe eine Ewigkeit keine Zeitungen gelesen.

Reubund! Reubund! Alles jetzt Reubund! sagte Zipfel. Fix und fertig! In ein Tager Vierzehn stehen wir wieder auf Anno Toback! Die Errungenschaften werden zurückgenommen! Es ist Alles Schwärmerei gewesen!

Glauben Sie doch Das nicht, liebster Zipfel! sagte Siegbert und wischte sich die Seife von den Wangen, nahm Wasser, Handtuch und reinigte sich. Ein Ministerium aus [846] diesen Elementen kann sich noch nicht halten. Es wäre zu offen, zu ehrlich in seinem Wahnsinn. Erst müssen noch einige Lügner kommen, die mit Phrasen um sich werfen und die Brücke für Das bauen, was dann vielleicht kommen soll. Eher vermuth' ich, daß man einige Beamte und Offiziere wählen wird, die durch ihr äußeres Auftreten die Regierungsgewalt wieder sollen kräftig und nachdrücklich erscheinen lassen. So erzählt' es gestern Professor Lüders, der das große Empfangsbild vom Prinzen Ottokar malt. Ich mag den Mann nicht; aber er sitzt jetzt an der Quelle oder die Quellen sitzen vielmehr ihm.

Zipfel wusch sich die Hände, um zu Dankmar's viel verwilderteren Wangen und seinem kräftigeren Kinn überzugehen.

Er wiederholte sich dabei im Stillen:

Professor Lüders – Empfangsbild – Prinz Ottokar – sitzende Quellen – nachdrückliche Regierungsgewalt – Beamte und Offiziere ...

Er hatte damit einen ungemein ausgiebigen Stoff, der für die ganze Krisis und Windstille ausreichte. Es war Logik, Zusammenhang und feine Combination in diesen Kettengliedern. Um sich die Schlußfolge recht einzuprägen, ergriff er auch bei Dankmarn Anfangs einen Gegenstand, der ihn weniger zerstreute. Er drückte ihm sein Erstaunen über den verwilderten Bart aus, behauptete, die Winkel am Munde wären viel zu sehr überwachsen, auch der Kinnbart hätte sich schon zu hoch über die Wange hin verloren. Dankmar überließ seinem Geschmacke, ihn [847] wieder nach der üblichen Mode umzuformen. Während Zipfel fast wie ein Maler mit dem weißen schaumbestrichnen Finger die Conturen am Barte zeichnete, die er mit dem Messer verfolgen wollte, sagte Dankmar:

Zipfel, lassen Sie sich von meinem Bruder nichts aufreden! Der ist wie alle Künstler ein halber Reactionair! Mit unsern Errungenschaften stehen wir doch zuletzt fester, als die Reubündler glauben. Ich will Ihnen auch sagen warum? Die Revolution hat leider den Staat jetzt noch theurer gemacht, als er sonst schon war –

Wirklich! unterbrach Zipfel. Sehen Sie 'mal an! Wirklich theurer? Gestern bekamen wir Alle in meiner Nachbarschaft Zettel zugeschickt, wo Das auch gesagt war und jeder rechtschaffene Bürger wurde aufgefodert, bei den Wahlen nur Die zu wählen, die der Reubund vorschlagen würde. Sie meinen also wirklich theurer? Hören Sie, da behalten wir die Errungenschaften nicht! Was dem Bürger zu theuer ist, Das kauft er sich nicht. Ich rede nicht von mir, aber von den Andern!

Rasiren Sie mich nur erst! sagte Dankmar, ich werde Ihnen hernach meine Ansicht sagen, Zipfel.

Ansicht sagen – hernach – eine Ansicht!

Das war für Zipfel eine feierliche Pause. Seine Spannung drückte sich in allen Mienen des kleinen verschrumpften Kopfes aus. Er hatte die üble Gewohnheit, seine »Kunden«, um ihnen gut beizukommen, bei der Nase zu fassen und ihnen manchmal durch einen Fehlgriff die Flügel so stark zuzudrücken, daß sie zu ersticken drohten [848] und ihn mit Gewalt zurückstoßen mußten. Auch Dankmarn faßte er heute in seiner Spannung etwas zu kurz und erhielt dadurch trotz aller engern politischen Vertraulichkeit einen gewaltigen Rippenstoß von seinem fast gleichgestimmten Gesinnungsgenossen.

Bitte! sagte Zipfel. Entschuldigen Sie!

Bitte! antwortete Dankmar. Nichts für ungut!

Damit rasirte Zipfel fort und gerieth fast in Verzweiflung, als Dankmar in aller Ruhe sein Werk im Spiegel musterte und erklärte, er müsse heute noch einmal nachrasiren. Er hätte die Haarwurzeln nicht tief genug gefaßt ...

Herr Referendar sind recht eigen geworden! meinte Zipfel und schickte sich mit schwerem Herzen an das zu erneuernde Werk.

Und wie schöne Stiefel Sie anhaben! setzte er in Besorgniß, eben etwas Ungeeignetes bemerkt zu haben, bedächtig hinzu.

Spritzen Sie nur keinen Schaum auf diese Stiefeln!

Dankmar mußte endlich zufrieden sein und die Spuren dieser wiederholten ihm an jedem Morgen sehr fatalen Prozedur – sich selbst zu rasiren hatte er nicht die Geduld – vertilgend, begann er dann, Herrn Zipfel folgende Auseinandersetzung mit auf den Weg zu geben:

Also, mein bester Herr Zipfel, wenn Ihnen irgend ein Geheimrath oder Major außer Diensten, den Sie rasiren, sagt, die Revolution hätte den Staat theurer gemacht, so machen sie ihm nur ein Compliment von mir oder von wem [849] Sie wollen und sagen ihm, der Staat würde nur dadurch theurer, daß die Revolution nicht ganz gesiegt hätte.

Ach! Also noch nicht ganz?

Nicht ganz!

Was Sie sagen! Also Sie meinten ...?

Wenn die alten Machthaber, die sich gegen die vollendete Revolution anstemmten, sich gutwillig gefügt hätten, so wäre das Staatmachen jetzt schon wohlfeiler. Aber theurer ist der Staat nur dadurch geworden, daß nun die alte Zeit und die neue zugleich bezahlt sein wollen.

Natürlich! Natürlich! Doppeltes Conto!

Weil nun die Revolution nicht fertig geworden ist und die Fürsten und ihre Diener alles Erdenkliche aufgeboten haben, um sie nicht bis zur vollen Reife kommen zu lassen, deshalb kostet der Staat jetzt das Doppelte.

Allerdings! Ganz klar! unterbrach Zipfel und dachte bei sich: Wieder eine Thatsache mehr!.. Das Schlagende in Dankmar's Äußerung entging ihm nicht; doch besann er sich wegen der Äußerung: Die Revolution ist nicht fertig geworden! Bei dieser beschloß er, sich doch erst die Leute anzusehen, wo er eine so gefahrvolle, wenn auch scharfsinnige Bemerkung fallen lassen wollte. Die Revolution ist noch nicht fertig! Bedenkliche Worte!

Nun war aber noch der zweite befruchtende Gedanke zu erledigen, dessen Keim Dankmar in den ergiebigen Boden der Zipfel'schen Empfänglichkeit geworfen hatte. Und lern- und neubegierig wie er war, fragte Zipfel, seine Geräthschaften zusammenbindend:

[850] Aber wie sagen Sie denn, Herr Referendarius, daß justement, weil die ganze Wirthschaft jetzt theurer geworden ist, gerade derowegen die Errungenschaften nicht genommen werden können?

Ganz einfach, antwortete Dankmar und schlug sich vor dem Spiegel die Tragbänder über die Brust und bürstete darauf sein dichtes helllichtbraunes Haar. Ganz einfach, Zipfel! Wenn der Staat jetzt mehr Geld kostet als sonst, so muß vor allen Dingen das Geld wirklich da sein.

Es muß da sein! Sehr richtig! antwortete Zipfel, Das Geld muß da sein.

Wenn nun das Geld da sein muß, fuhr Dankmar fort, so muß die Regierung Sorge tragen, welches herzunehmen, wo sie's nur irgend finden kann.

Sehr natürlich! ergänzte Zipfel. Wo nichts ist, hat der Kaiser sein Recht verloren.

Was nun, sagte Dankmar, für uns Errungenschaft ist, ist für Die, die zur Reaction halten, Verlorenschaft gewesen.

Verlorenschaft! Sehr gut! Darum soviele »Eingesandts« in der Zeitung! Verlorne Gegenstände ...

Der Staat aber, der Staat aber –

Erlauben Sie, sagte Zipfel und sprang hinzu, Dankmarn hinten die Weste zuzubinden, die er eben angezogen hatte.

Der Staat also –

Der Staat – nicht zu fest, Zipfel!

Loser! Der Staat also –

Der Staat, Zipfel, muß haben und nimmt, wo er etwas [851] findet. Die Revolution hat ihm die bisherige Steuerfreiheit des großen Grundbesitzes zum Geschenk gemacht, hat ihm die Vermögenssteuer für die reichen Bankiers präsentirt, die gibt das gefräßige Ungeheuer, der Finanzminister, nicht wieder heraus –

Der Finanzminister? Ist der so ... sagte Zipfel erschrocken über das gewaltige Bild. Ah! Ja so! Sie meinen figürlich! setzte er sich selbstberichtigend hinzu.

Natürlich! Und der Finanzminister, sagte Dankmar, wird von jetzt an immer liberal sein und wenn man den tollsten Reubündler zum Finanzminister nimmt, er wird die großen Zahlen der Ausgabe sehen, die gierig wie der Rachen eines Haifisches sind und ich gebe Ihnen mein Wort, er stopft alle Rittergutsbesitzer, alle Bankiers, alle Majors außer Diensten und den ganzen Reubund hinein, um nur Geld zu haben, und dadurch setzen die Herren selbst die Revolution fort und die Errungenschaften bleiben uns sicher.

Bleiben uns sicher! Hören Sie, Das ist fein! So klar hat noch Keiner im Club gesprochen, obgleich.. ich ihn nicht mehr besuche. Es ist jetzt zu gefährlich ... Ich lasse mir nur rapportiren. Aber schade ... Das muß wirklich unter die Leute kommen. Denn warum? Wirkt so etwas nicht beruhigend? Ich gebe Ihnen mein Wort, daß die Menschen, die in unsre Barbierstube kommen – die, zu denen wir gehen, sind wieder anders gesinnt – die aber, die zu uns kommen, sind so auf ihr Wahlrecht versessen, wie beim Essen auf ihren eigenen Löffel und wenn er von [852] Blech ist und lange nicht von Silber. Aber ihr eigener Löffel! Ihr eigner! Wählen – Das gehört jetzt zur Reinlichkeit und gehört sich gerade so für den Familienvater, wie alle zwei Jahre einmal seine Stube weißen lassen. Es vertreibt die Motten! Die Motten im Kopf, die Grillen, die Raupen, den Ärger, den Kummer, die Sorgen, die Armuth, Alles, Alles, was Einen drückt und an sich selber wissen Sie – pauvre vorkommen läßt. Nur Wählen! Das erhält den Anstand, das hebt den ganzen Menschen, das ist wie eine reinliche Weste. Der Rock mag noch so verschabt sein, die Stiefeln geflickt, die Hose zu kurz.. Nur 'ne reinliche Weste. Meinen Sie nicht auch, Herr Referendarius?

Zipfel sagte den Brüdern mit dieser Äußerung zugleich eine Schmeichelei. Denn auch Siegbert zog sich heute gewählter an und legte eben ein schönes Gilet für sich zurecht. Zipfel, mit Dank gegen die »sitzenden Quellen«, die demnach auch ihm zu Gebote standen, empfahl sich und überlegte die vier Stiegen entlang, die er hinabzuhüpfen hatte, für welche von seinen Kunden Siegbert's Mittheilung über das nächste Ministerium und für welche Dankmar's Auseinandersetzung über die Sicherheit der Errungenschaften am besten passen würde. Er war bei aller Gesinnungstüchtigkeit doch etwas Diplomat und richtete sich nach den Umständen, wie die ganze Bourgeoisie jener Stadt, die im Herzen von einer weit freiern Auffassung war, als sie seit einiger Zeit anfing, vor den Machthabern und den bedenklichen Umständen zu heucheln.

[853]

Siegbert, ohne Empfindlichkeit, sagte jetzt zu seinem Bruder: Wie kommst du nur dazu, mich für einen Reactionair zu erklären? Wirfst du dich nicht so in Toilette, so in's Zeug, daß ich dich eher einen Aristokraten nennen sollte?

Dankmar hatte in der That seinen eleganten Anzug fast vollendet. Noch war der Frack nicht übergeworfen, aber schon legte er die Manschetten seines Hemdes zurecht und wetterte über einen an ihnen fehlenden Knopf. Auch ein Paar ganz neue Handschuhe in Paille hatte er noch im Vorrath und schickte sich an, sie wenigstens vorläufig einmal auf Probe anzuziehen.

Warum müssen denn Glaçeehandschuhe, sagte er, aristokratische Gesinnungen verrathen? Du bist ein conservativer Halb-Communist und trägst doch keine Blouse, nicht einmal im Atelier, wo man dich verspottet, weil du kein malerisches Esprit de corps hast und wie die andern dummen und aufgeblasenen Künstler die neue Zeit verachtest. Ich will hoffen, daß deine beiden Freunde nicht wieder Proletarier aus dem Material dieses Hackert sind?

Der Eine doch! sagte Siegbert.

Bruder, verschone mich! rief Dankmar. An Hackert haben wir von dieser Sorte genug. Ich will, daß man die Vernunft, die Gerechtigkeit und Natur in die Politik einführt, aber ich mag nicht, daß uns im Kampfe zuviel die Handwerker unterstützen, die da fechten mögen ... auf der Landstraße.

[854] Wie viel Juristen fochten auf den Barrikaden? sagte Siegbert.

Dankmar schwieg. Die Erinnerung an Hackert hatte ihn verdrießlich gestimmt. Er besorgte auch, das gute Herz seines Bruders ließe sich zu oft von Menschen gefangen nehmen, denen er mit seinem Mitleiden auch wol gar sein Vertrauen schenkte.

Nun wol, sagte er fast bereuend und zur Verständigung einlenkend, du hast Recht und doch erfüllt mich's oft mit Unmuth, wenn ich sehe, wie auch von dieser proletarischen Seite aus der Egoismus die Triebfeder zur Theilnahme an der Politik ist. Diese maßlosen Ansprüche auf die ungleich vertheilten Güter des Lebens! Diese verrückten Begriffe vom Rechte der Arbeit! Wahrlich diese dumme Diversion unsrer großen politischen Aufgabe hat uns mehr geschadet als genützt. Gib diesen Sozialisten ein Phalanstêre, eine große Kaserne gemeinschaftlicher Familien-Kaninchenwirthschaft und Suppenaustheilung, und sie nehmen den Despotismus, wenn ihnen dieser ein solches baut, lieber als die Volkssouveränität!

Es früge sich fast, was besser ist! sagte Siegbert. Deshalb wünsch' ich, du machtest die Bekanntschaft meines Sozialisten. Es ist ein Franzose.

Gar ein Franzose! sagte Dankmar. Und der Andre?

Ist Leidenfrost – antwortete Siegbert.

Leidenfrost, fuhr Dankmar erstaunt auf und erinnerte sich nun erst deutlicher, von Melanien diesen Namen gehört zu haben. Apropos! Leidenfrost? Der auf dich ein [855] Spottgemälde gemacht hat? Was ist es nur damit? Ein Spottbild auf dich? Und du ladest nicht deine Pistolen? Ich hoffe, daß du der Freund eines Menschen, der dich verspottet hat, erst geworden bist, nachdem ihr ein paar Kugeln gewechselt habt?

Mit diesen Worten war es Dankmarn wirklich Ernst. Er hatte oft der Äußerung, die er in Hohenberg von einem Bilde des Malers Leidenfrost, das seinen Bruder verspotten sollte, von Melanien selbst gleich bei der ersten Begrüßung hörte, nachgedacht. Er war so empfindlich über alles Das, was sich an die Ehre seines Namens knüpfte, daß er schon dort über diese Bemerkung in Verwirrung gerieth und in dem Antheil, der davon seinen Bruder betraf, vergessen hatte, wie sich auch Melanie, er wußte nicht recht wie, als an dem Spotte Leidenfrost's betheiligt darstellte.

Hast du auch schon von dem Scherze gehört? fragte Siegbert, der im Stillen erschrak, daß Melanie vielleicht von diesem Bilde erfahren und dem Bruder davon gesprochen hätte. Man muß einem Maler seine Ideen nicht verkümmern, nicht die Rolle der abgeschafften Censur spielen. Frei sei der Genius und erfinde Schöpferisches, selbst wenn es auf unsre Kosten geht!

Das könnt' ich denn doch nicht unterschreiben, sagte Dankmar. Ich würde eine Portraitähnlichkeit überall da verbitten, wo es sich um kein Portrait handelt.

Und was ist denn auch so Schlimmes geschehen? sagte Siegbert. Du kennst Leidenfrost's humoristischen Griffel.

[856] Er schreibt ebenso witzig wie er zeichnet und dabei hat er eine Auffassung seiner Kunst, daß er sie nur für eine Erholung seines Geistes erklärt und neben der Malerei ein Dutzend andre Künste und Fertigkeiten treibt. Schon daß er so recht den alten Italienern gleicht und wie Michel Angelo, Leonardo da Vinci, Benvenuto Cellini neben seiner Kunst auch in praktischen Dingen, sogar im Maschinenbau, in der Baukunst, im Kriegswesen nachdenklich und erfinderisch ist, Das allein schon könnte mich versöhnen, wenn er mich wirklich verspottet hätte!

Lammsmäßige Geduld! rief Dankmar ärgerlich. Und wenn er etwas erfindet, was noch über die Zündnadelgewehre hinausschießt, so wollt' ich ihm nicht rathen, daß er dich verspottet hat.

Er überraschte uns, erzählte nun Siegbert ruhig, nach vielem Hin- und Hertasten einmal durch ein Bild von großer Vollendung: Ein Künstleratelier. Professor Berg ist unverkennbar als Tizian wiedergegeben. Er unterrichtet in einer schönen Nebenhalle seines Ateliers ein reizendes Mädchen, das von den entfernt sitzenden Schülern, vielleicht ohne es zu wissen als Modell benutzt wird. Der Eine malt sie als eine Amazone, der Andere als eine Melusine mit einem Fischleibe, der Dritte als eine Sphinx, nur ich soll Derjenige sein, der in ihr eine Madonna findet und freilich muß ich gestehen, daß ich mich mit meinem frommen Glauben und dem sichern Aufschlag der Augen gen Himmel auf dem Bilde fast ein wenig albern ausnehme.

[857] Und Das beruht auf Wahrheit? fragte Dankmar erstaunt und gespannt.

Gerade deshalb, sagte Siegbert erröthend, nehm' ich es auch leichter. Ist schon die Idee an sich gefällig und höchst launig ausgeführt, zumal da auch die Schülerin zu merken scheint, daß sich das ganze Atelier sie zum Modell genommen hat, während ihr der Professor recht beflissen eben den Pinsel aus der Hand nimmt, um ihre eigne Leistung, die man nicht sieht, zu verbessern, so seh' ich nicht ein, was ich meine Neigung verbergen und mich schämen soll, eine Madonna in dem Wesen zu finden, das Andern nur als wilde Amazone, kalter Fisch oder gefährliche Halblöwin erscheint. Es gibt kaum eine sinnigere Apotheose der Liebe und so groß meine Ähnlichkeit mit dem verzückten Maler ist, ich habe sie Leidenfrost nicht nachgetragen.

Der Liebe? wiederholte Dankmar immer erstaunter. Aber was hör' ich denn? Seitdem ich in Angerode war, sind ja mit dir Wunderdinge vorgefallen. Verliebt? Wirklich, was man so nennt verliebt?

Fast möcht' ich über mich selbst erstaunen, sagte Siegbert, der eigentlich aufathmete, daß von ihm in Hohenberg bei Melanie nicht die Rede gewesen schien und doch daraus ein schlimmes Zeichen für sich hätte entnehmen müssen. Ich habe mich lange geprüft, wie wol meine Empfindung für jenes Mädchen beschaffen sein möge. Aber seitdem ich sehe, daß ich ihretwegen leiden kann und mich ordentlich freue, durch den Spott eines Andern des eignen Geständnisses überhoben zu sein, fühl' ich auch, daß dies [858] die rechte Stimmung ist, der man trauen darf. Ja, ja, Dankmar, du spröder, kalter Verächter der Frauen, ich bin auf dem Wege, viel Thorheiten zu begehen.

Damit umarmte Siegbert fast den Bruder und verlangte gleichsam durch eine erhöhtere Bezeugung seiner Liebe zu ihm die Erlaubniß, sein Herz nun mit Jemand, in dem Dankmar Melanie selbst nicht voraussetzte, theilen zu dürfen ...

Dankmar, der in einer fast gleichen Stimmung war, erwiderte nichts, sondern fühlte stumm die Wonne nach, die seinen Bruder zu erfüllen schien. Wirkte doch auch in ihm die reizende Bestrickung durch eine Armida wie ein Opiumrausch! Er sah nur Himmel, Glück und Seligkeit. Jeder Lufthauch, der durch das geöffnete Fenster über die hohen Dächer wehte, war ihm wie ein balsamischer Kuß von Melanie's Lippen. Ein Zauber rieselte durch seine Glieder und gab ihnen das Gefühl einer so ätherischen Leichtigkeit, als wenn er in den Lüften schwebte. Er hatte schon den Hut ergriffen, setzte ihn vor dem Spiegel auf, aber er sah sich nicht, er sah nur über seine Schultern sich hinlehnend das schöne Mädchen, das ihn in ihren Netzen gefangen hielt.

Siegbert hielt dies Schweigen für Das, was es wol auch zum Theil war, für das wärmste Mitgefühl und fast eine Bestätigung, daß Dankmar Melanien doch wol nicht in Hohenberg gesehen hätte, und erregt, wie schon den ganzen Morgen, fuhr er, sich selbst zum Ausgehen völlig fertig rüstend, fort:

[859] Das kleine Gemälde ist viel belacht und bewundert worden und Prinz Ottokar selbst hat es für eine Summe von fünfhundert Thalern angekauft. Leidenfrost war aber über dies Glück seines Spottes trostlos. Ich gestehe, daß ich einige Tage lang mit ihm nicht sprach. Er hatte das Bild in seiner Art so rasch hingeworfen, so keck unter meinen eignen Augen vollendet, daß ich denn doch etwas verstimmt war, wie ich den Spott erkannte. Da ich aber das Modell liebe und dir gestehen will, wie ich dazu kam, zu hoffen und was ich hoffe, so ertrug ich den Spott und dachte: Lacht ihr nur! Wer im Weibe das Schöne und Gute findet, gefällt doch den Menschen, wie ihr auch seiner spottet! Kaum auf der Ausstellung, war das Bild unter dem Titel: »Ein Atelier« schon verkauft. Am Tage nach unserer Scene im Pelikan kam Leidenfrost auf der Straße zu mir, bot mir die Hand und sagte: Wildungen, ich habe miserabel an Ihnen gehandelt! Ich habe ein Mädchen portraitirt und Sie mit ihr! Ich soll fünfhundert Thaler für den Fetzen bekommen, aber ich will ihn zerfetzen unter der Bedingung, daß Sie mein Freund bleiben! Leidenfrost, sagt' ich, was fällt Ihnen ein? Ich finde das Bild wunderschön. Es ist ein Gedicht. Der Gedanke ist gut und die Ausführung, wenn auch flüchtig, doch sicher, bestimmt und ganz graziös. Lassen Sie nur die Menschen lachen und streichen Sie Ihre fünfhundert Thaler ein! Leidenfrost war aber wahrhaft unglücklich. Er polterte hundert Dinge heraus. Um sich zu beruhigen, sagte er: Sie müssen nun aber das Mädchen wirklich heirathen, damit Sie Beide uns [860] Alle auslachen! Oder, rief er dann sogleich wieder, Sie sollen mir danken, daß Sie nun erst gar auseinander kommen; es ist eine Melusine! Eine gefährliche Sphinx! Sie paßt nicht für Sie! Und so ging es durcheinander fort, bis er endlich mit mir sich so weit geeinigt hatte, daß ich ihm versprach –

Siegbert schloß, da sie inzwischen gingen, die Thür zu. Dankmar zog schon draußen auf der Flur seine Handschuhe an. Frau Schievelbein nahm den Schlüssel ab und wünschte für den Tag gute Verrichtung.

Daß ich ihm versprach, sagte Siegbert, indem die Brüder die Treppen hinunter stiegen ... ihm versprach, wiederholte er, als die Uhr schon neun schlug und er im Gehen seine Uhr aufzog –

Dankmar zog halb nur zuhörend auch seine Uhr auf und richtete sie nach Siegbert's.

Daß ich ihm versprach, sagte Siegbert, ihm jetzt mehr Freund zu sein als sonst, und von den fünfhundert Thalern, die er durch mich eigentlich verdient hätte, von der Summe, die er ein wahres Sünden- und Heidengeld nannte, während ich für meinen Molay nur dreihundert hatte, wenigstens die Hälfte als Vorschuß zu einem neuen Bilde anzunehmen. Ich bedankte mich. Aber nein, sagte er, ich muß Ihnen doch irgend ein Opfer bringen, irgend eine Sühne! Wollen wir uns duelliren? fiel er ein. Auf Kanonen? war meine Antwort. Soll ich mit der neuen Hebemaschine, die ich construire, sagte er, mich zur Probe so oft in die Luft schleudern lassen, bis ich mich in einen [861] unappetitlichen Brei verwandelt habe? Als ich auch dies großartige Opfer nicht annehmen wollte, sagte er: Verlangen Sie, daß ich mich zur Strafe in meinen chemischen Tincturen vergreife und eine Portion Äther trinke und mit dem Motto: Leichte Lüfte heben mich! in's Unendliche verschwebe? Kurz ich lehnte alle seine komischen Opfer ab, bis wir auf unserm Schlendergange in der Wallstraße vor einem Hause standen, wo wir einen kleinen Schild ausgehängt fanden, mit der Inschrift: Armand Doreur de Paris. Neben dem Schilde hingen in einem großen Glaskasten eine Menge sehr feingearbeiteter, bronzirter Goldleisten. Da, Leidenfrost! sagt' ich, zur Strafe sollen Sie zwanzig Thaler zahlen und wissen Sie, auf welche Art? Ich weiß es, sagte er: Wir gehen zu Lippi und bestellen zehn Flaschen Champagner, von denen Sie eine trinken, ich muß die übrigen neun vor meinen Augen von Ihnen zum Fenster ausgegossen sehen und nicht einen Tropfen bekommen. Ist Das keine Strafe? Zu hart! sagte ich. Gut denn, schlug er vor, so trink' ich davon so viel, bis ich nicht stehen kann und dann jagen Sie mich auf die Straße, daß die Jungen hinter mir herlaufen und ich ein Pietist werden muß, um meinen verlorenen guten Ruf wiederherzustellen. Noch zu stark! sagte ich. Zur Strafe sollen Sie mir hier bei dem aus Paris neuangekommenen Franzosen, der allen Ateliers seine Karte geschickt hat, einen prachtvollen Rahmen zu einem neuen Gemälde schenken, durch das ich mich an Ihnen rächen will. Bravo! rief er und zog mich die Stiege hinauf zu [862] Monsieur Armand Doreur de Paris. Wie wir bei diesem eintreten ...

Hier wurde Siegbert's Erzählung und Dankmar's gespanntere Aufmerksamkeit unterbrochen.

Ein Offizier ritt eben vorüber und hielt, da er Siegbert zu kennen schien, mitten auf der Straße an.

Siegbert zog artig den Hut und trat zu ihm vom Bürgerstiege näher.

Das Bild wird vortrefflich! sagte der Offizier, eine hagere, aber strengmilitairische Erscheinung mit durchdringenden Augen und einem eigenthümlichen Lächeln, das halb graziös, halb sarkastisch erschien.

Ich danke Ihnen, Herr Major, für die gute Vormeinung! sagte Siegbert. Doch wissen Sie wohl, wie bedenklich es ist, ein Portrait in seiner ersten Anlage zu beurtheilen ....

Ich muß doppelt dankbar sein, sagte der Offizier, da meine Frau nicht genug rühmen kann, wie anregend sie von Ihnen unterhalten wird..

Bitte, Herr Major!

Wann dürfen wir Sie heute erwarten?

Ich wollte eben der gnädigen Frau anzeigen, daß ich heute vielleicht eine Sitzung überspringen werde und erst morgen fortfahre ....

Wie Sie wünschen, Herr Wildungen! Soll ich Ihnen den Weg ersparen und es meiner Frau selbst anzeigen..?

Sie sind zu gütig, Herr Major!

Meine Schuldigkeit! Guten Morgen, meine Herren!

[863]

Damit lenkte der Offizier vom Trottoir zurück und sprengte mit einer artigen Begrüßung, die auch Dankmarn galt, von dannen.

Siegbert war von dieser Unterredung etwas verlegen geworden.

Das muß ich sagen! begann Dankmar. Du bist mir völlig fremd! Du steckst ja in lauter neuen Verhältnissen! Wer ist denn Das?

Der Major von Werdeck, sagte Siegbert, dessen Frau ich male ....

Frau von Werdeck, fiel Dankmar sich besinnend ein; eine Polin –?

Ganz Recht, antwortete Siegbert, eine geborene Kaminska ....

Eine vortreffliche Reiterin, eine Amazone, die dir scheinbar zu einem Portrait sitzt und sich ärgert, daß du keine Tête à Têtes aus diesen Sitzungen machst!

Abscheulich! Dankmar! Dankmar!

Die Welt taugt aber nichts, lieber Bruder!

Aber die Menschen taugen noch hie und da etwas. Diese Polin liebt nur Eins, ihr Vaterland..

Hoffentlich nach dem Major von Werdeck ...?

Ich glaube auch ihn nur, wenn er die Gedanken theilt, die durch ihr glühendes Herz gehen ...

Dankmar besann sich, daß er auf der Rückreise von Hohenberg noch vorgestern von der Majorin von Werdeck wie von einer Demokratin hatte reden hören ...

Wem verdankst du diese Bekanntschaft? fragte er.

[864] Auch meinem Max Leidenfrost! sagte Siegbert. Er trat mir diese Bestellung eines Portraits ab. Er ist rührend in der Art, wie er mich versöhnen will. Auch glaub' ich wol, daß Major von Werdeck Anstand nehmen mußte, diesen Cyniker, den er übrigens sehr schätzt, in das Boudoir seiner Frau zu führen. So entschloß ich mich, die Bestellung zu übernehmen und freue mich, hier mehr als ein Portrait zu liefern. Diese leidenschaftliche Frau trägt den Typus ihrer Nationalität in jeder Fiber ihres Antlitzes. Die Bitterkeit ihrer Ansichten ist so grell, daß ich sie oft ersuchen muß, sich zu mäßigen, damit sie nicht unschön erscheint. Ich opponire ihr meist nur aus ästhetischen Rücksichten..

Dankmar war durch den Anblick jenes Offiziers, der wieder etwas von der fesselnden Ausströmung besaß, die ihn sogleich auch für Ackermann gewonnen hatte, noch theilnehmend beschäftigt. Er verfiel in die Gedankenreihe, wie wol ein Offizier in dem bekanntlich streng genug ihm vorgezeichneten officiellen Ideenkreise sich behaglich fühlen könne, wenn ein geliebtes Weib ihm den ganzen Schmerz einer durch die Politik zerrissenen Nation und die Hoffnungen, die diese Nation gerade aus der Umwälzung aller Verhältnisse für ihre eigene Wiederherstellung schöpft, täglich vergegenwärtigt und ihn allmälig doch dahin bringen müßte, entweder ganz mit seinem Innern oder seiner äußern Stellung zu zerfallen oder gar ein gedankenloser, unzurechnungsfähiger Heuchler zu werden ...

[865] Siegbert, der keine Ahnung von der gewaltigen Krisis hatte, in der sich die Überzeugungen seines Bruders befanden, ließ von diesem Gegenstande ab und kehrte auf die Erzählung zurück, die der Major von Werdeck unterbrochen hatte.

Wir können kaum zweifeln, daß Louis Armand, der Vergolder, derselbe junge Mann ist, der im Egon'schen Palais der Vermittler der Wünsche Ackermann's und der Bewilligungen des jungen Prinzen gewesen war.

[866]
8. Capitel. Louis Armand
Achtes Capitel
Louis Armand

Als wir, Leidenfrost und ich, fuhr Siegbert im weitern Gange fort, bei dem französischen Kunsttischler eintraten, trafen wir zuvörderst den Probst Gelbsattel.. doch du bist zerstreut? Meine Ausführlichkeit langweilt dich?

Nein, nein, fahre fort! sagte Dankmar. Doch will ich nicht hoffen, daß eine der häßlichen und magern Töchter dieses alten Gönners unserer Familie dein Madonnenideal ist!

Gönner unsrer Familie, sagst du? Er war der ärgste Feind meines Molay.

Es ist ein Schulkamerad des Vaters noch von Schulpforte her ...

Und gerade deshalb sein eifrigster Feind und auch uns misgünstig und hämisch gesinnt! Die Schulkameradschaften! Von einem mislungenen Wettkampf bei einem Exercitium spinnt sich oft ein Faden des Neides und der Misgunst an, der durch das ganze Leben geht! Wie kann ich gute Bilder malen, da er unsern Vater kannte, der neben ihm in ein und dasselbe Tintenfaß die Feder tauchte!

Bitter, Siegbert, aber wahr!

[867]

Ich bin bitter, weil ich wirklich sagen muß, daß erst Frau von Trompetta den Ankauf meines Bildes durchsetzte! Nicht, damit ich erst etwas für ihr Gethsemane male, sondern weil ich ihr schon etwas malte, deshalb mußt' ich erst durch Ankauf meines Bildes ein geachteter, guter Maler werden!

Ärgre dich darüber nicht! Die Mysterien des Ruhmes haben schlimmere Dinge zu berichten. Was wollte Gelbsattel bei dem Franzosen?

Gelbsattel kaufte Rahmen zu einigen Bildern, die vom Kunstverein verloost werden sollen. Er war ungemein freundlich, fast kriechend und erkundigte sich nach dir mit einer Umständlichkeit, die mir fast auffiel.

Nach mir? sagte Dankmar, halb befremdet, halb theilnahmlos.

Fast wie im Verhör mußt' ich ihm hunderterlei Fragen beantworten, fuhr Siegbert fort, die ich selbst kaum wußte, und was das Auffallendste war, er schien über deine Anwesenheit in Angerode auf's Genaueste unterrichtet und gerieth über die Mutter in Ekstase, die ich seit dem schlimmen Tage, wo er einst in Thaldüren uns besucht hatte, nicht vermuthete.

Die Lection, sagte Dankmar, die ihm der gute Vater damals gab, wirkte. Er drohte ihm für Alles, was ihm der Vater sagte, die furchtbarste Rache und doch wurde er gleich darauf nach Angerode versetzt. Diesen Menschen muß man nur die Zähne weisen und sie werden zahm.

[868] Nach Angerode, sagte Siegbert traurig, wo der Vater starb! Die Rache gelang!

Nun? erinnerte Dankmar, diese Erinnerungen vermeidend, an die Fortsetzung der Erzählung ...

Du hättest Leidenfrost sehen sollen, fuhr Siegbert fort, wie der den Probst sogleich hechelte, den Kunstverein geißelte! Der kolossale Herr wurde zornroth und warf mit Frivolität der Genrebilder, satirischen Bambocciaden und ähnlichem Schwulst um sich, während er die Rahmen behandelte und von dem Franzosen immer kurz und treffend, mit Würde und einem gewissen Stolz bedient wurde. Leidenfrost bestellte zwölf Ellen von der vorzüglichsten Arbeit, die Monsieur Armand in Proben ausgestellt hatte, und als ich lachte und sagte: Sind Sie toll? Was soll ich denn da hineinmalen? Nun was denn sonst, rief er mit einem Seitenblick auf Gelbsattel, was denn sonst als die Idee, die Sie mir eben so vortrefflich geschildert haben, eine Sitzung der Akademie della Crusca! Gelbsattel horchte hoch auf über ein Bild, an das ich gar nicht gedacht hatte. Sehen Sie, sagte Leidenfrost, zu Ihrem dicken Prälaten, der bei dieser Gelegenheit die Regeln des guten Geschmackes definiren will, brauchen Sie allein drei Quadratellen Leinwand. Der Kerl muß sich in seinem Lehnstuhle hinflegeln, wie eine in Schweinsleder gebundene Ausgabe sämmtlicher Werke des Aristoteles! Bis hierher ... Bitte um Entschuldigung, Herr Oberconsistorialrath! ... bis hierher müssen wenigstens seine Beine reichen, bis dahin seine Arme, hier oben streckt er [869] die Hand auf den grünen Tisch und legt sie mit plumper Vollsaftigkeit auf einen grünen Lorbeerkranz, der für ein Reihe herumgehendes Gedicht von den versammelten Kunstrichtern als Preis bestimmt ist. Der Eine rümpft die Nase, der kratzt sich hinterm Ohr, der rechnet an den Fingern nach, daß in der siebzehnten Stanze Vers drei ein Fuß zu wenig ist, der schlägt schon im Lexikon nach, aber der dicke Prälat, der sich bläht wie ein verdauender Kalekut, der gibt sich das Air, als grübelte er nur dem Geiste des zur Prüfung vorgelegten Gedichtes nach, und die Lorbeerblätter müssen unter seiner schweißigen Hand schon anfangen gelb zu werden. Würde der Kunstverein, schloß Leidenfrost, wol einen solchen Gegenstand ankaufen, Herr Probst? ... Gelbsattel stutzte, faßte sich aber. Der schöne Rahmen, sagte er salbungsvoll und sich wohl getroffen fühlend, der schöne Rahmen, mein Bester, den Sie da bestellen, ist vorläufig eine sehr gute Empfehlung dieser Sitzung der Academia della Crusca, die ich mir sehr treffend und sogar witzig denken kann, vorausgesetzt, daß der Pinsel des Künstlers edel bleibt und durch Portraitähnlichkeit nicht zum Pasquillanten wird!

Aha! rief Dankmar. Siehst du, wie du die Unbesonnenheit dieses unverbesserlichen Leidenfrost büßen mußt?

Lieber Dankmar, sagte Siegbert mit großer Milde, ich fühle Das wirklich weniger, als du und als es Leidenfrost fühlte. Der Probst ging und unser Spötter warf sich voll [870] Unmuth in einen Sessel. Der Franzose, der auffallenderweise recht geläufig deutsch sprach, fragte, ob dieser Herr der Vorstand hiesiger Katholiken wäre? Als wir ihm diesen Irrthum benahmen, sagte er, er hätte Dies geglaubt, weil ein Jesuit, der mit ihm von Paris gereist wäre, viel von dem Probst Gelbsattel gesprochen hätte. Ein Jesuit? fragt' ich zweifelnd; gibt sich, namentlich in jetziger Zeit, ein Jesuit so offen? Der Franzose lächelte und erwiderte: Er wäre von Brüssel bis Hannover mit ihm fast immer in einem Waggon gefahren, aber schon in Aachen wäre ihm kein Zweifel gewesen, daß er einen heimlichen Jesuiten neben sich gehabt hätte. Auch wisse er ein Zeichen, mit dem sich die Jesuiten zu erkennen gäben, wenn sie verwandten Brüdern oder Affiliirten des Ordens zu begegnen glaubten. Einige Herren, die in Elberfeld eingestiegen wären, hätten dies Zeichen auch sogleich erkannt und sich mit seinem Landsmann vielfach im Geheimen unterhalten, auch ein Geistlicher, der sich in Bielefeld anschloß ... mit diesem wäre oft vom Probste Gelbsattel in der Residenz gesprochen worden.

Schöne Arsenik-Adern Das, die sich da durch Deutschland schlängeln! sagte Dankmar.

Du kannst denken, fuhr Siegbert fort, wie mich nach solchen Mittheilungen dieser Franzose ansprach. Es ist ein noch ziemlich junger Mann, der Kunsttischlerei und das Vergolden zu gleicher Zeit gelernt hat und es zu einer Vollkommenheit in seinem Fache brachte, die noch bei uns Niemand erreicht. Seine Spiegel- und Gemälderahmen [871] sind von einem bewundernswerthen Geschmack. Er konnte nur Proben auslegen, da ihm die Gewerbeordnung untersagt, anders hier aufzutreten denn als Reisender und Commissionär. Er übernimmt aber jede Bestellung und wird sie entweder von einem großen Lager aus, das er in Paris hat, oder durch eine Verbindung mit irgend einer hiesigen Werkstätte ausführen. Er wohnt schon deshalb bei einem guten soliden Tischler, Namens Märtens ...

Märtens? fragte Dankmar ...

Es war ihm, als hätte er diesen Namen irgendwo gehört.

Märtens in der Wallstraße ...

Dankmar horchte auf. Doch fiel ihm nicht ein, daß dies die Adresse war, die auf dem Gelben Hirsch der Förster Heunisch von seiner Nichte, Fränzchen Heunisch, gegeben hatte.

Siegbert, der genauer ausführen wollte, wie er dazu gekommen, in Dankmar's Abwesenheit sich Leidenfrost und diesem Louis Armand näher anzuschließen, fuhr fort:

Armand's Fertigkeit in der deutschen Sprache fiel mir auf. Er behauptete, das Deutsche theils von einer halbdeutschen Mutter, theils von einem Beschützer gelernt zu haben, dem zu Liebe er hierher nach Deutschland gefolgt wäre. Vielleicht bliebe er, vielleicht ginge er wieder. Es hinge Das von seinem Freunde und Beschützer und dessen verwickelten Angelegenheiten ab. Er hatte kein Hehl, mir diesen Protector, wie er ihn nannte, mit Namen zu [872] nennen. Ich war erstaunt, als er eine hochgestellte Person nannte, den jungen Prinzen Egon von Hohenberg.

Wer? fragte Dankmar erstaunt. Den Prinzen Egon?

Von dem er nicht Rühmens genug wußte, fuhr Siegbert fort, und bei dessen Namen ihm die Thränen in die Augen traten.

Dankmar war jetzt überzeugt.. daß der Gefangene im Thurm ihn nicht getäuscht hatte!

Nun? Nun? drängte er den Bruder fortzufahren. Und der Prinz?

Von ihm erfuhr ich nichts, sagte Siegbert. Aber Louis Armand, der Franzose, interessirte mich. Er sprach Einiges von der Politik und nach wenig Augenblicken entdeckt' ich, daß dies ein pariser Sozialist ist. Leidenfrost, dessen technologische und mathematische Studien ihn mit seiner Malerei verbunden zu einem Genie im alten Sinne des Wortes, einem Albertus Magnus, Paracelsus, ja zum Faust machten, wenn er nicht zu sehr Mephistopheles wäre ...

O! O! unterbrach Dankmar. Ich bitt' euch! Das ist ja schon eine Lobhudelei unter euch, wie wenn sich zwei junge Studenten ihre ersten Gedichte vorlesen!

Leidenfrost, fuhr Siegbert unerschüttert fort, erhob sich aus seinem Sessel und nahm an unserm Gespräch den lebhaftesten Antheil. Dieser Franzose nun ist Schuld, daß ich seit einigen Abenden so spät nach Hause komme. Gestern Abend begleiteten wir, Leidenfrost und ich, ihn wirklich an das Palais des Fürsten Hohenberg. Er hatte [873] wirklich einen eigenen Schlüssel zu einer Seitenpforte, die in den Garten führte, wo wir Abschied von ihm nahmen ...

In den Garten sagst du? fiel Dankmar ein. War das nach zehn Uhr?

Gegen eilf! antwortete Siegbert.

Dankmar gedachte des Sängers von gestern Abend, gedachte Egon's. Die Brust wogte ihm freudig auf. Er fühlte, daß seine Erinnerungen keine Träume waren, daß sie aufleben sollten in einer neuen reizvollen Wirklichkeit ...

Da Dankmar schwieg, schloß Siegbert seine Erzählung, die er immer ruhig mit dem Bruder fortschlendernd vorgetragen hatte, mit den Worten:

Nun aber wird es an dir sein, endlich gleichfalls zu berichten. Wir sind am Atelier. Um drei Uhr bei Grün oder jetzt; ich will dir ganz gehören, wenn du es verlangst.

Dankmar hielt ihn allerdings fest. Es war ihm noch, als wäre nicht Alles los und frei in seiner und des Bruders Brust. Er sah zu den Fenstern des eleganten im italienischen Geschmack gebauten Hauses hinauf. Es bestand dies Haus aus zwei Theilen, von denen der eine (beide hatten Plattdächer) für die berühmte Malerschule des Professors Berg bestimmt war. Der andre enthielt Wohnungen; sie waren durch eine Terrasse verbunden, die mit Orangen-, Oleanderbäumen und Cactus verziert waren und einen Gang bildeten, über den Professor Berg zu seinen Schülern aus seiner Wohnung hinübergehen konnte.

[874] Eben ging auch der gefeierte Meister im leichten Überwurfe aus der Glasthür des Wohnhauses über diese Verbindungsterrasse in's Atelier. Er hatte ein ernstes, edles Gesicht, das mit langen grauen Locken beschattet war. Freundlich grüßte er zu den Brüdern hinunter.

Aha! Dein Tizian! sagte Dankmar. Bruder, ich weiß nicht, Leidenfrost ist doch werth, daß man ihn durchprügelt. Wie du Das so erträgst! Hätte der Vater nicht auf dem Todtenbette zu uns gesagt: Wie lieblich, wenn Brüder einträchtig beieinander wohnen! ich finge einen Heidenlärm mit dir an und zwänge dich mit ihm wenigstens zu einem Gang auf geschärfte Rappiere! Wetter, Bruder! Wie kann man harmoniren, wo eine solche unaufgelöste Dissonanz doch immer nebenher brummt!

Hab' ich nicht, sagte Siegbert, durch dies Alles einen reichen Gewinn? Leidenfrost's geniale Natur ist mir näher getreten: er zeigt mir aus Reue ein Gemüth, das er Allen verbirgt. Was hätt' ich nun, wenn ich ihn hassen müßte, mich zwänge, ihn zu hassen, den wunderlichen, in sich doch auch nicht glücklichen Menschen! Und bei dieser Freundschaft gewann ich noch eine andere, jenen Louis Armand, der mir, fast möcht' ich sagen in reinlicherer, graziöserer Weise die Ideen von dem möglich gesteigerten Glücke des Volkes verwirklicht, als ich sie an unsre schmutzigen, meist rohen und gedankenlosen Handwerker anknüpfen könnte. Wir sehen ihn vielleicht heut' Abend, wenn ihn der Fürst von Hohenberg nicht in Anspruch nimmt.

[875] Prinz Egon! wiederholte Dankmar mit einem Erstaunen, das der Bruder nur auf den Rang eines Mannes bezog, mit dem ein einfacher Rahmentischler und Vergolder bekannt sein sollte ...

Und von dem Tizian sprichst du, sagte endlich Dankmar, als Siegbert ihm die Hand gab, um in's Haus zu treten ... Von den Sphinxen und Melusinen sprichst du und von deinen Freunden und deinen durch Großmuth beschämten Feinden.. Aber die Madonna! Diese Vielgestaltige! Wer ist sie denn nun? Dieser weibliche Proteus, Der Jedem anders und dir als eine Heilige erscheint? Ich habe geschwiegen ... Ich wollte dir meine Bescheidenheit zeigen ... Aber du ehrst sie nicht. So werd' ich indiscret und frage: Wer ist sie denn?

Hättest du nur nicht so viel Verstand, Dankmar! sagte Siegbert. Von der Liebe schäm' ich mich mit dir zu reden ...

Wirst du nicht roth über und über? Ich wette, es ist Berg's Tochter! Der alte Tizian in Venedig hatte ja wol auch eine Tochter, die mit ihres Vaters Schülern ... seine Schule fortpflanzte? Wie? Fräulein Berg ist's?

Du kennst sie also nicht, sagte Siegbert. Und doch glaubt' ich ... in Hohenberg ...

In Hohenberg? fragte Dankmar erstaunt.

Sie ist eine Schülerin Berg's, hat Talent, aber wenig Ausdauer. Seit einigen Tagen ist sie verreist ... du solltest wissen wohin?

Ich?

[876] Zuweilen war ich bei ihr eingeladen. Bis jetzt zog sie mich jedem Andern vor. Was Viele als Koketterie an ihr tadeln, scheint mir ein künstlerischer Sinn. Könnt' ich sie gewinnen, ich hätte ein Ideal gefunden; denn sie ist vollendet schön ...

Dankmar wurde jetzt von einer Idee ergriffen, die ihn erstarren machte. Er wußte, daß Siegbert heute hier, morgen da, in Soireen und Theegesellschaften gebeten wurde. Daß ihn Melanie Schlurck kannte, schien ihm sowenig auffallend, daß auch nicht ein Gedanke ihm gekommen war, der in seinem Geschmacke an Frauen so wählerische Bruder möchte sich in die Netze gerade dieser Siegbert's ganzer Natur widersprechenden Erscheinung verloren haben. Aber als er schon von deren Abwesenheit hörte, von verreist, von Hohenberg, von Koketterie ... erschrak er furchtbar und wie in dem sichern Gefühle einer Ahnung, mit der ihm die Schuppen von den Augen fielen, sagte er:

Doch nicht Melanie Schlurck?

Du kennst sie? antwortete Siegbert hocherglühend und fast begeistert. Ja, gerade Die ist Berg's Schülerin und die Madonna. Sahst du sie nicht in Hohenberg? ... Du schweigst! So laß uns abbrechen. Ich sehe du bist verdrießlich, – du verurtheilst sie wie – Alle – Alle – oder – was hast du?

Nichts! – nichts –

Du bemitleidest mich – du hast einen wehmüthigen Zug um den Mund – warum wendest du dich? Was ist dir?

[877] Ich will gehen und die Couverte bei Grüns bestellen ...

Du willst dort mit mir moralisiren! Thu' Das nicht, Dankmar! Laß mir diese Täuschung, diesen Wahn! Ich liebe Melanie Schlurck und wenn ich das Gespött der Welt würde.

Und sie selbst?

Darüber heut' Mittag! Ich will an mein Ölblatt für das Gethsemane ... Du sollst mir Rath geben! Aber nicht moralisiren! Hörst du? Ich liebe wahnsinnig ...

Siegbert hatte keine Ahnung, daß sein kalter, gegen Frauen gleichgültiger Bruder, sein Nebenbuhler sein könnte. Er hatte Dankmar's erkaltete Hand geschüttelt und nichts von dessen Leichenblässe bemerkt. Dankmar war groß in der Kunst der Selbstbeherrschung.. Siegbert trat in das Atelier.

Und doch hätte Dankmarn, als er nun so allein stand mit dieser gewaltigen Thatsache, sein erstes klares Gefühl, dessen er Herr werden konnte, Thränen abpressen mögen. Nicht an sich dachte er! Der gute kindliche Bruder! rief es in ihm. Der tiefste Schmerz ergriff ihn, zu denken, daß diese reine spiegelklare Natur so von einem entschiedenen Irrthum, von einem Wahne völligster Unmöglichkeit überhaucht werden konnte! An das sonderbare Schicksal, daß zwei Brüder von einem und demselben Mädchen erfüllt sein mußten, dachte er gar nicht.. Das war zu oft vorgekommen.. Ihn rührte weit mehr der Schmerz um Siegbert, den er, obgleich älter als er selbst, hier schon wieder unpraktisch, träumerisch, zerflossen [878] fand! Wie klar durchschaute er den niezulösenden Widerspruch zwischen Siegbert und Melanie! Wie unmöglich schien ihm für jemals diese Vereinigung! Wie scharf, treffend, nur für seine Bruderliebe beleidigend treffend war nun der Spott des kecken Leidenfrost, der diesen Contrast so lebendig aufgefaßt und in seiner ganzen Lebendigkeit wiedergegeben hatte! Und wen er noch mehr haßte als Leidenfrost, das war wirklich ... Melanie selbst!

Ein Mann kann gar nicht lieben, sagte er sich, ohne daß ihm ein Weib dazu die Veranlassung gibt und Melanie hat sich einen Scherz erlaubt!

Und als ihm diese Gedankenreihe zu tantenhaft, zu gouvernantenmäßig klang, sagte er sich doch: O sie verdient uns Beide nicht! Er überraschte sich auf dem Geständniß, daß er sie vielleicht wirklich nicht liebe, nie geliebt hätte, daß sie ihm nur den Eindruck der Sinnlichkeit gemacht hätte. Opium ist Das, was in ihren Blicken liegt, sagte er sich. Ich könnte sie zermalmen, wenn es nicht Leidenfrost auch schon mit ihr in seinem Bilde gethan hätte. Prinz Ottokar hat es gekauft!.. Das versöhnt mich jetzt mit Leidenfrost! Das ist die schwerere Schale, die seine Schuld gegen den Bruder aufwiegt!

Und doch trat dann wieder Melanie als Siegerin und im ganzen Zauber ihrer Hingebung vor seine Seele ...

Er mußte sich unter einige in der Nähe liegende Bäume flüchten, eine Bank suchen um sich zu fassen, um sich zu sammeln ...

[879] Daß für ihn an Melanie nicht mehr zu denken war, schien ihm dem Bruder gegenüber unerläßlich.

Daß aber auch dieser von seiner Verblendung durch ein Mädchen, das er erst jetzt erkannte, da er sie in der Seele eines Andern beurtheilte, geheilt werden müsse, erschien ihm ebenso nothwendig ....

In dem Hin und Her dieser Empfindungen und Überlegungen versank er auf der steinernen Bank unter Kastanienbäumen, umrauscht von dem Lärmen des fashionablen Viertels, in dem er sich befand, in Wehmuth und in eine Traurigkeit, die fast alle seine Entschlüsse für den heutigen Tag lähmte.. Sein Anzug kam ihm jetzt lächerlich vor.. Er riß die Handschuhe von den Fingern. Prinz Egon, der Freund des Kunsttischlers Armand, bedurfte dieser Aufmerksamkeit nicht.. und mit Schlurck wollte er ungebundener sprechen.. Melanie, die ihm, wer weiß durch welche Zweideutigkeit, das Bild erworben hatte, wollte er nicht sehen. Er war außer sich und unglücklich.

Er saß dumpf brütend eine Weile, bis er die Augen aufschlug und auf der entgegengesetzten Seite des Platzes, den die Kastanienbäume beschatteten, eben um die Ecke der dort einmündenden belebten Straße einen Mann und einen Knaben schreiten sah, der ihm Ackermann und Selmar zu sein schienen. Erfüllt vom freudigsten Schreck sprang er auf und mit dem Ruf in seiner Brust: Es gibt noch reine Fluten, in denen des Mannes Seele sich läutern, stärken, erquicken kann! eilte er stürmisch nach [880] der Gegend hin, wo die lieben, ihm so theuren Gestalten eben aufgetaucht und wieder verschwunden waren. Sein behender Fuß, hoffte er, würde sie noch sicher erreichen. Er eilte, als jagte ihn die Reue über alles Das, was er in diesen Tagen erlebt, begonnen hatte. Jeder rasche Fußtritt war ihm, als müßte er mit ihm zu gleicher Zeit abschütteln, was auf ihm Unwürdiges und Zweideutiges lag.

Hinweg! Hinweg mit diesem Ballast! rief es in ihm. Sei Mann! Schüttle deine Mähne! Lebe in der Wüste deiner Überzeugungen einsam, aber wie ein Löwe!

Aber es war nur der Schmerz, der so in ihm schrie..

Er irrte und irrte.. Ackermann und den Knaben zu finden; ... er hatte ihre Spur verloren! Seine beflügelten Schritte ruhten erst, als er vor dem Hause stand, an welchem er gestern Nacht auf messingner Platte den einfachen Namen Schlurck gelesen hatte ...

... Ob Dankmar eintreten wird? ...

... Dies der Commune gehörende Haus mit dem Kreuze, gebaut auf Grundstücken, die einst dem geistlichen Ritterorden und der Comthurei von Angerode gehört hatten, trug zwar alle Spuren seines alterthümlichen Ursprungs, war aber von innen sehr wohnlich, bequem und in manchen Partien selbst elegant eingerichtet. Die Bogenwölbungen der Decken und die winkligen steinernen hier und da ausgetretenen Treppen waren nicht zu verbergen. Viereckte, abgestumpfte Säulen trugen die Treppenüberbauten. Lange Gänge zogen ohne alle Symmetrie, rein [881] nach dem Grundsatze der Bequemlichkeit, durch die Stockwerke und gaben nach allen Richtungen hin in den Zimmern Ausgänge, ohne daß diese darum selbst, wie leider bei den neuen Bauten, mit einer Überzahl von Thüren versehen waren. Fast in allen Zimmern war darauf geachtet, daß sie mindestens eine große, völlig thürfreie Wand hatten, an der die Wärme sich sammelt und der Rücken des Bewohners traulich und sicher anlehnen kann. Wenn nun auch viele Alkoven etwas Düsteres und kleine einfenstrige Durchgangszimmer etwas Weitläufiges darboten, wenn die ausgebauten Erker, die Fenster mit breitem Simse, von denen man nur durch im Zimmer angebrachte Tritte eine bequeme Aussicht auf die Straße haben konnte, mehr altfränkisch, als ehrwürdig erschienen, so hatte doch der lange ungestörte Aufenthalt eines sehr wohlhabenden, Luxus und Comfort liebenden Mannes in diesen Räumen dem Ganzen den Charakter jener Eleganz aufgedrückt, die man in den alten Häusern Nürnbergs oder, noch bezeichnender, Basels und Berns antrifft. Was hier Malereien an den Wänden und moderne gefällige Formen nicht bewirken konnten, wurde durch Sauberkeit und Gediegenheit erreicht. Die Fenster der Treppen sogar hatten Gardinen, die Vorplätze der niedrigen Zimmer waren gebohnt und mit kostbaren Blumenstöcken in weißen Porzellantöpfen geziert. Die inneren Zimmer waren prächtig tapeziert und wurden durch bunte Vorhänge gehoben. Die Möbel entsprachen dem neuesten Geschmack und die reichbesetzten Etagèren und Servanten [882] entfalteten einen Überfluß von Gold, Silber und Porzellan, der nur einer bessern Beleuchtung bedurfte, um – dann vielleicht nicht einmal so geschmackvoll zu erscheinen wie jetzt, wo gerade diese Äußerlichkeit dazu gehörte, sie zur Staffage eines Wohlstandes zu machen, den man allenfalls patrizisch nennen mochte.

Schlurck bezahlte eine sehr geringe Miethe für diese Wohnung, die zum Complex aller der Häuser und Liegenschaften gehörte, die er für die Commune verwaltete. Dieser Umstand allein hätte ihn aber nicht hier festgehalten, wenn es nicht seine Bequemlichkeit gewesen wäre. Seit fast zwanzig Jahren hatte Schlurck hier gehaust und in allen Dingen Gewohnheitsmensch war er auch nicht zu bewegen, Melaniens Bitten um eine moderne Wohnung nachzugeben. Er gestattete ihr lieber hundert andere Dinge, nur in diesem Punkte war er unerschütterlich. Dies Winkelwerk war ihm lieb geworden. Er hatte über sich Miethbewohner, die ihn nicht störten. Ställe, Remisen, Alles gehörte ihm so, als wär' er in seinem Eigenthum. Unten, hinter den vergitterten Fenstern, waren seine Schreibstuben, wo oft zwanzig Federn unaufhörlich kritzelten, immer ein halbes Dutzend junger praxisloser Juristen unter seiner Anleitung arbeitete und die Acten bis zu den Decken in einer Menge Schränken aufgethürmt lagen. Sein eigenes Audienzzimmer lag nach hinten hinaus, war sehr düster, aber traulich, und die Wendeltreppe, die er sich von hier aus in den ersten Stock hinauf hatte bauen lassen, that ihm vielfach erwünschte [883] Dienste. Dazu kamen die hohen, gewölbten Keller für seine Weine, die er als Kenner kaufte, lagern ließ und nach einem gewissen System verbrauchte. Dies ganze Winkelige, Versteckte, Alterthümliche war ihm nothwendig geworden, und oft sagte er zu den Gästen, die er in dem kleinen oder dem größern Saale oben versammelte:

Wir Menschen müssen über unsrer Wohnung stehen! Sie muß unsern eignen Gehalt, unser Gepräge annehmen! Eine Wohnung, die meinem Nachdenken, meiner Phantasie voraus ist, wird mir unbequem werden und wäre sie noch so schön! Was sollen mir Balkone, Plattdächer, Veranden! Ich bin nicht italienisch gestimmt. Eine Wohnung, die ich aus den alten Zeiten heraus mir nachbilde, selbst forme und nach Laune schmücke, wird mein Schneckengehäuse! Sie krustisirt sich aus meinem eigenen Körper heraus.

Für Melanie war aber die Wirkung dieser Wohnung verderblich. Sie war durch Bildung und Natur ein Kind ihrer Zeit und litt unter dem Druck dieser ihr nicht gleichmäßigen Existenz. Ihr war nie wohl daheim! Sie mußte immer hinaus aus diesen Fesseln ihres Geschmacks, mußte immer träumen von üppigeren Existenzen und erhielt dadurch die Unruhe und Beweglichkeit, die sie schon zu so mancher Thorheit verleitet hatte. Ihre Phantasie, immer in dem Drange, sich etwas Andres zu schaffen, als was sie besaß, war nicht gebunden durch jene Häuslichkeit, die beim Weibe die lebendigste und in manchen Fällen oft einzige Unterstützung der Tugend ist. Wer sich [884] in seinem gewohnten Dasein gefällt, geräth nicht in die Strudel jener unbefriedigten Gemüther, die das Glück überall, nur nicht am eignen Herde suchen.

Ohne nun Dankmar weiter im Auge zu behalten, bemerken wir, daß Melaniens Erwartungen für den heutigen Tag auf's höchste gespannt waren. Sie durchflog die trotz der Hitze draußen kühlen Zimmer wie ein gefiederter Genius auf und ab. Einen stillen Platz, wo sie selber waltete, hatte sie nie gehabt. Den kleinen Cultus sinniger Gemüther, die sich irgend ein Zimmer und wär' es noch so klein, irgend ein Plätzchen und wär' es noch so eng, nach ihrem eigenen Gefallen ausschmücken, hatte sie nicht. Sie schrieb ihre Briefe, wo sie einen Tisch fand. Kein Arbeitszimmer, das ihr allein gehörte. Überall fand sich ein Stückchen Spur von ihr. Sich einzuspinnen an irgend einem ihr allein angehörenden Orte, war ihr unmöglich. Sie hatte Schränke, wo sie das Ihrige beisammen fand, andre, wo sie Briefe aufbewahrte, sie hatte Nippsachen und Andenken genug; aber sich anzusiedeln an einer und derselben Stelle mit Allem, was ihr theuer war, das verstand sie nicht. Es war ihr eine Epheulaube gebaut worden mit Hängelampen und rankenden Gewächsen in zierlich gebrannten, aufgehängten Töpfen, sie hatte darunter einen kunstvoll gebauten Schreibtisch, sie saß aber nie davor. Das war ihr Alles zu eng, viel, viel zu pedantisch. Entweder saß sie in einem der Erker, wenn sie schrieb ... Konnte sie doch da bei jedem Federzug auf die lärmende Straße sehen!.. Oder wenn sie zeichnete und malte, worin [885] sie etwas Fertigkeit errungen hatte, mußte die Staffelei heute hier, morgen da stehen. Bald war sie bei der Mutter, bald bei dem Vater und wenn sie Beide genugsam gequält hatte, rief sie ihr Mädchen Jeannette, um sich anzukleiden, oder ging in ein Hinterzimmer, wo sie Büglerinnen, Nätherinnen, Putzmacherinnen antraf, die immer für das große Haus und seine verschwenderische Ökonomie zu nähen, stricken, zu wirken und zu arbeiten hatten.

Am Abend vorher hatte sie dem Vater schon Einiges von Dem mitgetheilt, was er von dem Hohenberger Aufenthalt wissen sollte. So sehr seine Neugier über den Prinzen gespannt war, so stand sie doch nur halb Rede. Man ging, ermüdet wie man war, früh zu Bette.. Am Morgen gab es dann Vieles zu ordnen, nachzusehen, zu tadeln. Der Tag sollte wichtig werden. Man nahm die Vorbereitungen auf ihn nicht leicht. Da waren Kleider zerdrückt, andre nicht mehr gefällig. Es gab ein Wählen, Lärmen, Laufen hin und her. Des auch schon in der Frühe vielbeschäftigten Vaters wurde sie kaum ansichtig. Gegen zehn Uhr bekam sie endlich eine ruhigere Stimmung. Am liebsten hätte sie gewünscht, es hätte schon jetzt am Hause recht wild und stark geklingelt. Jeannette erzählte ihr, sie hätte einen Bedienten des Geheimrathes von Harder schon auf der Straße gesehen, die Excellenz wäre also angekommen ... Ernst hatte Jeannetten Alles erzählt, was er so offen nicht einmal der Geheimräthin beichten wollte ... Melanie lachte über diese uns noch räthselhaften Vorfälle und überließ ihrem Mädchen, den Antheil, den [886] sie daran hatte, nach Belieben zu errathen. Den wahren Schlüssel dieses Geheimnisses behielt sie noch selbst.

Um elf Uhr war sie in einfacher aber geschmackvoller Kleidung bereit, Jeden zu empfangen, und käme Kaiser und Fürst! Den Gedanken an eine Selbsttäuschung über Egon mochte sie durchaus nicht fassen ... Bekümmerter war sie um das Bild. Sie schien mit der Art, wie es Dankmar empfangen haben mußte, nicht zufrieden. Oft wenigstens fragte sie Jeannetten, ob man sich wol auf Menschen verlassen könnte, die von einem Manne, wie dem Prinzen, so freundlich gegrüßt wurden.. Sie meinte den Amerikaner und seinen Knaben ... Dann kam sie auf diesen Knaben, den sie anfangs und um Dankmarn zu necken, ein Mädchen genannt hatte und ein Sinnen überfiel sie wirklich, ob nicht jener Knabe ein solches wäre und in Beziehungen zu ihrer neuen Eroberung stünde, die sie fürchten müsse! Etwas, was sie mit dem Vater des Knaben im Heidekrug und mit dem Bilde der Fürstin Amanda erfahren hatte, schien sie darauf zu führen, sich solche Vermuthungen lebhafter auszumalen.

Es schlug halb zwölf. Noch immer nichts, was sich zur Aufklärung der letzten Tage anmelden wollte ...

In ihrer Ungeduld rannte sie da und dorthin, endlich zu den Mädchen, die für das Haus zu arbeiten pflegten. Es war heute grade nur eine da, ein heiteres junges Mädchen von gefälligem Äußern. Sie arbeitete gerade an einem Besatz für Melanie. Jeannette stand neben ihr und Beide lachten eben, als Melanie eintrat.

[887]

Ihr seid sehr lustig! Worüber lacht Ihr? fragte Melanie.

Das Mädchen stand ehrerbietig auf und wurde blutroth.

Jeannette, eine Zofe, die sich gegen Melanie oft einen sehr vertrauten Ton gestattete, woran aber diese wol selbst Schuld war, Jeannette antwortete für die Nätherin:

Fränzchen ist verliebt, Fräulein, und wie Sie sehen, bis über die Ohren!

Fränzchen, in wen bist du verliebt? sagte Melanie und setzte sich zu ihnen. Erzähle mir wie verliebt du bist!

Jeannette ist eine Spötterin, sagte das Mädchen, das man Fränzchen nannte. Ein armes Mädchen fühlt leicht etwas, so gut wie Andre, aber sie nimmt sich wol in Acht, es so rasch Liebe zu nennen, wie Die!

Der Tausend! sagte Melanie. Das klingt ja wie aus einem Buch.

O, sagte Jeannette, es muß auch etwas ganz Absonderliches sein, was ihr in's Herz gefahren ist! Seit wir fort sind, ist Franziska Heunisch fast eine Gelehrte geworden.

Also ein Student? fragte Melanie die Nichte unseres guten Heunisch aus dem Walde. Blond? Schwarz? Jura? Medicin? Fränzchen! Fränzchen! Laß dich mit Studenten nicht ein! Ihre frischen Wangen müssen erst recht welk werden, bis sie heirathen können und dann heirathen sie immer erst noch die Töchter ihrer Vorgesetzten.

Es ist kein Student, sagte Fränzchen Heunisch verschämt.

Sie sagt's nicht, wer's ist! meinte Jeannette. Und doch ist er gewiß viel hübscher als der alte Fürst von[888] Hohenberg, den sie noch ein Jahr vor seinem Tode lieben sollte.

Jeannette lachte zu dieser Äußerung laut auf.

Fränzchen aber warf ihr einen ernsten Blick zu und wurde noch röther, diesmal aber vor Unwillen über Jeannettens lose Zunge.

Was ist Das? fragte Melanie. Verliebt in den alten Fürsten Hohenberg?

Fräulein, sagte Fränzchen mit einem erneuten verweisenden Blick auf ihr Mädchen. Jeannette ist oft recht schlimm ...

Warum denn, sagte die Zofe keck; wissen wir's doch Alle! Armes Täubchen! Die Wandstablers waren nahe daran, ihr recht die Federn auszurupfen.

Melanie drang wiederholt nach Aufklärung. Fränzchen schwieg. Die Nadel zitterte in ihren Händen ...

Jeannette aber sagte:

Ach ziere dich nicht, Fränzchen! Abenteuer, wo man mit heiler Haut davonkommt, sind immer lustig anzuhören. Fränzchen ist doch die Nichte des Jägers Heunisch, den wir mit seinem großen Fuchsbart bei Hohenberg öfters gesehen haben. Als noch der alte Fürst lebte, empfahl sie Heunisch an die Wandstablers, um im Palais einen guten Posten zu bekommen. Sie kennen doch die Wandstablers, Fräulein?

Melanie sagte, sie hätte von den drei Geschwistern gehört.

Jeannette fuhr fort:

[889] Die Wandstablers ließen mein Fränzchen kommen und betrachteten es von allen Seiten, ja untersuchten's, wie Herr Lasally thut, wenn er Pferde kauft. Endlich behielten sie sie im Palais und Fränzchen zog heute hinein und morgen lief sie, wie sie ging und stand, davon. Was mit ihr geschehen ist, davon hat nichts in der Zeitung gestanden. Fränzchen! Ich hätte dich sehen mögen, wie du in dem goldenen Pavillon an Händen und Füßen gezittert hast, als –

Fränzchen entrüstet hielt Jeannetten den Mund zu.

Und als jene doch reden wollte, sprang sie auf und drückte so gewaltsam auf Jeannettens unsaubere Lippen eine gewisse Handbewegung, daß deren fahles Gesicht kirschroth wurde und sie allenfalls sagen konnte, ihr wäre so gut geschehen, als hätte sie eine Ohrfeige bekommen.

Mädchen! Mädchen! rief Melanie lachend. Du zerdrückst mir die Volants an dem Kleide da! Wollt Ihr wol Beide Ruhe halten!

Fränzchen war so zornig, daß ihr die Thränen in die Augen traten.

Für Melanie waren die Worte: Goldener Pavillon im Hohenbergschen Palais, sehr gefährlich gewesen. Indessen bekämpfte sie sich, warf Jeannetten einen verweisenden Blick zu und sagte, um auf einen andern Gegenstand zu kommen:

Also ein Franzose ist's! Fränzchen, wie verständigst du dich denn mit ihm? Oder geht das Alles durch die Augensprache?

[890] Fränzchen schwieg wieder.

Jeannette aber statt ihrer sagte:

Er kann ja deutsch und was er nicht zu sagen weiß, macht er mit ihr figürlich ab. Er wohnt in einem Hause mit ihr und muß es gewiß sehr redlich im Sinn haben, denn er hat ihr noch nichts geschenkt, obgleich er mit lauter Gold umgeht.

Melanie fand an Fränzchens verschämter Schweigsamkeit und Entrüstung Gefallen. Fränzchen war klein, aber sehr zierlich. Ihre Augen hatten etwas Heiliges. Lange dunkle Wimpern lagen schwärmerisch über den braunen feuchtschimmernden Sternen. Die Haut war, wie Hackert im Gelben Hirsch gesagt hatte, von jenem Wachs, das nicht schön ist, wenn es zu blaß ist und an die Bleichsucht erinnert, aber sehr anziehend, wenn mit ihm dunkle und frische Farbe verbunden. Alle Formen dieser kleinen Schönheit waren im lieblichen Ebenmaß. Melanie beobachtete Das heute zum ersten male. Kleine Gestalten haben den Nachtheil, daß man über ihre Bildung zu flüchtig hinwegsieht und erst nach liebender Betrachtung plötzlich ihres Werthes inne wird.

Laß sie selber sprechen, sagte Melanie zu Jeannetten; Fränzchen weiß, daß ich gern höre, wenn sie glücklich ist.

Wie bin ich denn glücklich? sagte das junge Kind endlich, hab' ich denn schon ein Recht, so dreist zu sein, wie Jeannette? Er wohnt im Vorderhause und kam einige male hinten in den Hof, wo ich beim Tischler Märtens [891] wohne. Er will auf den Namen des alten Märtens hier ein Geschäft errichten von Spiegel-und Bilderrahmen und hat einige male freundlich mit mir gesprochen. Leider gibt es überall soviel Plaudertaschen, wie Jeannette ist ... Man hat ihm schon erzählt, was die bösen Wandstablers mit mir im Sinne hatten ... die noch ohnedies meine Cousinen sind! Was der Franzose damals zu mir sagte, war so schön und gut, wie wenn es ein Pfarrer spräche und wenn ich mich nicht geschämt hätte ...

Nun? fragte Melanie.

Ich hätte ... ich hätte ihm alle meine Sünden beichten können! sagte das erregte, glühende Mädchen.

Jeannette brach über diese Worte in lautes Lachen aus, das ihr aber Melanie verwies.

Das ist viel, Fränzchen, sagte Melanie, für einen Mann, der uns den Hof macht, zuviel. Gleich niederknieen vor ihm und anbeten und seine Sünden beichten! Allein man sieht, daß du recht verliebt sein kannst. Was hat er dir denn so Erbauliches gesagt?

Als die plauderhafte alte Märtens, sagte Fränzchen, ihm die Schlechtigkeiten der Wandstablers erzählt hatte, paßte er mir am Abend auf, wie ich von der Arbeit nach Hause kam. Er that zwar, als wenn er mit dem alten Märtens über die größere Tischlerei sprechen wollte, die er auf seinen Gewerbschein betreiben möchte, aber wie er aus dem Hut ein zierliches Rosenbouquet zog und mir in seiner wunderschönen Art zu sprechen sagte: Franchette, so nennt er mich, Franchette, ein Tribut an die Unschuld, [892] ein Geschenk an die Anmuth, die den Stolz der Tugend kennt!.. da wußt' ich doch –

Weiter konnte das gerührte Fränzchen nicht sprechen. Ihre Worte erstickten in Thränen..

Kind! Kind! sagte Melanie und griff ihre Hand und fuhr, sie ermunternd, mit den Worten fort, die sie hatte sagen wollen:

Da wußtest du doch, Fränzchen, daß der galante Pariser – denn das wird es hoffentlich sein – nur deinetwegen und nicht wegen des Gewerbscheins geblieben war. Aber für ein solches Compliment fällt man doch noch vor keinem Mann auf die Kniee und beichtet ihm alle seine Sünden! Es steht ja recht schlimm mit dir!

Jeannette machte Melanien einen gewissen Seitenblick, als wollte sie sagen: der arme Tropf ist närrisch geworden. Und wirklich war Fränzchen in einer so gehobenen feierlichen Stimmung, daß ihr auch Melanie's Zureden gar nicht gefallen wollte. Das war nicht der Ton, der ihr wohl that, Das nicht der Geist, der ihr des Gedankens an jenen Mann würdig schien! Dennoch raffte sie sich zusammen und erzählte weiter:

Ohne Das zu erwähnen, was die alte Märtens ihm gesagt hatte, sprach er ganz zart von den armen Leuten, die wol auch ihren Stolz haben könnten. Er erzählte von einer Schwester, die ihm gestorben wäre, gar jung und sehr unglücklich, unglücklich, nachdem sie ein paar kurze Jahre überglücklich gewesen wäre. Durch die Liebe glücklich! sagte er; denn nicht Gold, nicht Edelstein [893] können ein Weib wahrhaft glücklich machen, sondern nur das Gefühl, geliebt zu werden, und darin wären sie Alle gleich, die Vornehmen und Geringen, die Reichen wie die Armen.

Melanie blickte gerührt und sich getroffen fühlend nieder, während sich Jeannette, um ihren Drang, über diese verliebte Salbung laut zu kichern, zu unterdrücken, auf die Lippen biß und immer so that, als wollte sie sagen:

Das dumme Ding ist verrückt!

Franchette, sagte er, fuhr Fränzchen fort, du mußt die Welt nehmen wie einen Spiegel, in dem du dich selber betrachtest. Meine Spiegelrahmen machen mich nicht eitel, sondern sagen mir täglich: Sei aufmerksam auf dich selbst! Wo du irgend etwas erfährst und erlebst, was nicht so beschaffen ist, dir sogleich dein Bild und nur dich, nur dich in voller Reinheit wiederzugeben, da zieh dich zurück, denn es ist Gefahr da. Und wo du etwas erlebst und erfährst und du siehst dich zwar im Geiste leidlich dabei, bist aber nicht so gestaltet, wie du dich sonst lieb hast, gewohnt bist, so fliehe wiederum, denn dann hast du dich zwar nicht schon ganz verloren, aber du bist in Gefahr, es doch für immer zu thun oder eine Gestalt anzunehmen, die nicht mehr deine eigne ist.

Himmel! rief Melanie. Das ist ja ein Pfaff, ein förmlicher Jesuit, der dich katholisch machen will und statt in die Ehe, in ein Kloster praktizirt!

Mir recht! sagte Fränzchen träumerisch. Aber ich[894] denke Nein! Er sprach wenig Gutes von Denen, die Alles von der Demuth verlangen! Er will den Menschen doch recht stolz. Man soll sich nur vor Denen beugen, sagte er noch an dem Abend, die man nachzuahmen wünscht. Wir könnten uns Gott nicht anders vorstellen, als wie einen hochvollendeten, nachahmungswerthen Menschen und deshalb wäre die christliche Religion die beste, weil sie gelehrt hätte, der vollkommenste Mensch wäre Gott.

Fränzchen! Fränzchen! sagte Melanie. Das klingt nun wieder gar wie Ketzerei. Nimm dich doch ja in Acht! Der Teufel nimmt allerlei Gestalten an und in diese französische Maske bist du schon so verliebt, daß ich für meine Falbalas fürchte. Mit der Putzmacherei wird es wol aus sein, Fränzchen! Er wird sich etabliren, dich heirathen und deine Freundin Melanie, die keinen so schönen Franzosen findet, wird nichts zu thun haben, als sich auf ein hübsches Hochzeitgeschenk zu besinnen.

Behüte! antwortete Fränzchen, erglühend und schamgefärbt. Wie könnt' ich daran denken?

Er hat sie ja noch nicht ein einz'ges mal geküßt! fiel Jeannette ein.

Das wird schon noch kommen, meinte Melanie. Wenn die Welt dir jetzt ein Spiegel sein soll, der dir immer sagt, wie weit du bei gewissen Veranlassungen gehen kannst, so erleb' ich, daß du in seinen Augen dich ganz rein und unschuldig erblickst, je näher er dir gekommen ist und jemehr er dich geküßt hat. Er hat gewiß schwarze Augen?

[895] Wie Kirschen! sagte Fränzchen verschämt niederblickend.

Da sieh Einer! rief Melanie, während Jeannette übermäßig lachte und doch eigentlich von einem gewissen Neide berührt wurde; wie Kirschen! Man sieht, daß Ihr schon im Obstgarten bei den Früchten seid! Da werdet Ihr bald an dem Beete stehen, wo die verbotenen wachsen! Fränzchen! Fränzchen! Dein moralischer Franzos gefällt mir. Kann man ihn nicht einmal hierher bestellen, um uns einen Spiegelrahmen zu machen? Versteht sich, nicht von der Sorte, wie deine Augenspiegel sein sollen! Wir haschen ihn dir nicht weg! Einen ordentlichen Rahmen? Was?

Fränzchen schien über die Gefahr, ihren neuen Freund zu verlieren, ganz beruhigt und hielt sich bei den Worten des Fräuleins nur an die Möglichkeit, ihm einen Verdienst zuzuweisen.

Ich will es ihm sagen, antwortete sie, wenn ich ihn wiedersehe.

Siehst du ihn denn nicht täglich? fragte Melanie.

Sie hat ihn seit vorgestern nicht gesehen, die Ärmste! berichtete Jeannette.

O Das ist garstig, sagte Melanie, er vernachlässigt dich schon, nachdem er mit dir eben erst philosophirt hat? Das darf man nicht, oder man ist kalt oder kokett. Auch die Männer sind kokett, Fränzchen ...

Fränzchen schüttelte den Kopf und sagte:

Hab' ich denn Ansprüche auf diesen? Jeannette malt [896] Alles anders aus, als es ist. Er wohnt im Hause, kommt oft zu Märtens und ist freundlich gegen mich. Das ist Alles ...

Wenn ein Mann mit einem Mädchen so philosophisch gesprochen hat, wie dieser Franzos mit dir vorgestern, sagte Melanie, so ist man ein ganz abscheulicher Mensch, wenn man am folgenden Tag sich nicht wieder sehen läßt. Philosophiren, meine liebe Franziska, ist bei allen Männern das erste Capitel der Liebe..

Er konnte nicht kommen, entschuldigte ihn Fränzchen, die in den Verhältnissen ihres Freundes doch schon bewanderter war, als sie sich den Schein zu geben wagte; ein vornehmer Herr, den er sehr verehrt, war gestern Abend angekommen. Er kennt ihn von Paris und ist die Nacht wol bei ihm geblieben, da er viel mit ihm zu sprechen hätte.

Ein vornehmer Herr?

Ein vornehmer Herr! bestätigte Franziska mit der größten Zuversichtlichkeit.

Melanie lachte laut auf.

Fränzchen! rief sie, was bist du für ein armer Tropf! Gesteh' es nur, du bist mit dem philosophischen Spiegelrahmenmacher viel weiter, als du sagen willst und der Bösewicht, der des Nachts nicht nach Hause kommt, macht dir Windbeuteleien vor. Sag' ihm in meinem Namen: Mein lieber Herr ... Wie heißt Er?

Louis!

Louis? Also schon beim Vornamen? Fränzchen! Du bist ein rechter Duckmäuser! Eine Putzmacherin! Wie kann [897] man auch glauben, daß eine Putzmacherin mit einem Franzosen nicht weiter kommen wird als bis zum ersten Capitel der Liebe, bis zur Philosophie!

Er heißt Louis Armand, sagte Fränzchen, geängstigt über die Art, wie ihr diese beiden Mädchen zusetzten.

Also sag' ihm nur! fuhr Melanie fort, die diesen Namen doch schon einmal von Bartusch gehört, aber vergessen hatte; Monsieur Armand, Das sind Flausen! Wer ist Ihr Freund? Ihr vornehmer Freund? Vertheidigen Sie sich, mein Herr! Sie bleiben des Nachts aus! Daran ist eine Nebenbuhlerin, Ihre Untreue, Ihr Wankelmuth Schuld! Schämen Sie sich!

Er hat ihn mir schon genannt, den Freund! sagte Fränzchen kopfschüttelnd. Es ist Jemand, den er in Paris kennen gelernt hat und noch in einer andern Stadt, die ich nicht behalten habe. Diesem zu Gefallen ist er nach Deutschland gegangen. Ich wollt' ihn nicht gern nennen, weil ich dabei an meine Cousinen denken muß, aber es ist Niemand anders als der junge Prinz Hohenberg. Nun werden Sie nicht sagen, daß es Flausen waren! Denn nach dem Prinzen Egon könnt' ich mich bei meinen Cousinen leicht erkundigen und Armand wußte ja auch Alles, was ich mit diesen schon vorgehabt hatte!

Kaum hatte Fränzchen den Namen des Prinzen Egon ausgesprochen, als Melanie blutroth wurde und von Jeannetten, die ihre rasch aufgeschossene Neigung kannte, scharf fixirt, aufsprang. Das Kleid, an dem Fränzchen arbeitete, hatte halb auch auf ihrem Schooße gelegen. Sie [898] streifte es rasch von sich, ungeduldig und überrascht den Namen: Prinz Egon! wiederholend.

Der Prinz ist gestern Abend spät von einer Reise zurückgekehrt? sagte sie.

Armand erwartete ihn mit Ungeduld schon seit einigen Tagen, antwortete Fränzchen.

Er war in Hohenberg, auf dem Schlosse seines Vaters und hat auch mit Eurem Onkel, dem Förster Heunisch, gesprochen?

O Das wäre ein Glück für den Onkel, fiel Fränzchen lebhaft ein. So wird er in seinem Amte bleiben! Da er nicht verheirathet ist, der gute Onkel, so hat er mir versprochen, mich zu seiner Erbin zu machen. Doch mag er noch lange leben! Zu jeder Weihnacht schickt er mir einen Dukaten.

Wußte Armand nicht, ob der Prinz in Hohenberg war? wiederholte Melanie mit großer Dringlichkeit.

Davon hat er nichts gesagt, erwiderte Fränzchen. Wo sollt' er aber anders gewesen sein? Ich denk' es mir so. Er ist vor vierzehn Tagen hier von Paris angekommen, hat sich ganz still in einem Gasthofe eingemiethet ... Armand suchte einen Meister seines Gewerbes auf, bei dem er zwei Zimmer miethete, eins zum Wohnen, eins für seine Muster und Proben ...

Aber warum wohnt er nicht bei dem Prinzen in seinem großen und prächtigen Palais? fragte Melanie.

Das hab' ich im Scherz ihn auch gefragt. Aber ganz ernst gab er mir die Antwort: Der Prinz ist mein Gönner!

[899] Vielleicht sind wir sogar Freunde! Aber es ist besser, daß Jeder in seiner Sphäre bleibt. Die Fürsten wohnen in Palästen und die Tischler in Werkstätten!

Und doch blieb er die Nacht dort?

Vielleicht, weil der Prinz spät ankam. Er wird schon wieder in die Wallstraße No. 14 eine Treppe hoch zurückkommen.

Melanie machte jetzt ihrem Besuche im Garderobezimmer ein Ende.

Fränzchen, sagte sie zum Abschied, dein Franzos ist ein Phrasenmacher! Die philosophischen Schwätzer wollen Alles, nur keine ordentliche, gerichtlich bescheinigte, priesterlich eingesegnete Heirath. Sei auf deiner Hut! Wenn er wieder einen Rosenstrauß aus seinem Hute zieht und nicht wenigstens von Liebe spricht – falls du so großmüthig sein willst, ihm das Heirathen zu schenken – so sag' ihm nur, solche verblümte Magister hätten wir in Deutschland genug und überhaupt bei einer Putzmacherin müsse man sich mit Winkelzügen in Acht nehmen. Die wüßten sehr bald, was echt und was Flitter ist! Den Besatz da, Kindchen, setz mir etwas höher! Wenigstens drei Finger breit! Verstehst du? Und nun Adieu und vertragt Euch besser!

Damit ließ Melanie die beiden Arbeiterinnen allein. Fränzchen wird Jeannetten wahrscheinlich den Vorwurf der Indiscretion machen und diese wahrscheinlich einen neuen Beweis ihrer Plauderhaftigkeit dadurch geben, daß sie ihr über den Prinzen Egon und seine hohenberger [900] Abenteuer mancherlei zuflüstern wird, was sie besser thäte, im Interesse ihrer von Sehnsucht und Zärtlichkeit für Dankmar gefolterten Herrin zu verschweigen.

Melanie, haltlos, schwankend, aufgelöst, ging in die vorderen Zimmer zurück. Auf allen Uhren des Hauses sah sie, daß es gegen Eins war. Noch immer kein Lebenszeichen von Dem, was in diesen Tagen sie so gewaltig erregt hatte! Sie litt furchtbar. Sie hatte sich längst darauf gefaßt gemacht, daß irgend eine Verwechselung stattgefunden und dennoch kamen immer wieder neue Anzeichen zum Vorschein, daß jener junge Mann, der sich für den Bruder des Malers Wildungen ausgab, nur Prinz Egon war. Und wenn er es nicht war, so stand er in nächster Beziehung zum Prinzen! Mit Aufopferung jeder Rücksicht hatte sie ihnen Beiden einen Dienst geleistet, für den sie Anerkennung, Dankbarkeit, Enthusiasmus wenigstens, wenn nicht Liebe verlangen durfte! Hatte ihre übermüthige Laune auch vielleicht nur die Gelegenheit benutzen wollen, einem eingebildeten lächerlichen alten Herrn einen muthwilligen Streich zu spielen, so war doch das Mitergebniß desselben eine große Gefälligkeit für den Prinzen gewesen. Und von alledem schien nun nichts gewesen zu sein, nichts bot sich zur Wiederanknüpfung dar als höchstens eben die ihr sonderbar klingende Mittheilung, die ihr durch einen Diener vom Parterre herauf gemacht wurde, der Herr Justizrath ließe ihr sagen, sie möchte diesen Abend ihre Gegenwart an Niemanden vergeben als an ihn, sie möchte mit ihm zur [901] Geheimräthin von Harder fahren, die sie kennen zu lernen wünsche ...

Im Begriff zur Mutter zu gehen und ihr diese Auffoderung des Vaters mitzutheilen, hörte sie in dem Zimmer derselben laut und angelegentlich sprechen. Die Mutter hatte Besuch. Es war die Stimme eines älteren Herrn, die sie kannte, aber nirgend hinzubringen wußte. Fremden Menschen, die mit ihrer gegenwärtigen Erregung in keiner Verbindung standen, jetzt zu begegnen, war ihr unmöglich. Sie warf sich ungeduldig auf ein Canapé des Nebenzimmers sprang nach einem kurzen Augenblick der Ruhe wieder auf, sah in den Spiegel, sah zum Fenster hinaus, horchte wieder an der Thür, ergriff ein in der Nähe liegendes Buch, las eine Viertelseite, warf es wieder weg und verging fast in der Pein der Ungeduld. Endlich glaubte sie die Stimme des Sprechers zu erkennen. Sie war zu fest, zu feierlich, als daß ihr nicht zuletzt einfallen sollte, wer es war. Sie glaubte sich nicht zu täuschen, wenn sie annahm, daß diese Stimme dem Propste Gelbsattel gehörte. Und obgleich es ihr Religionslehrer und Beichtiger war, so würde sie sich doch nicht entschlossen haben, in's Zimmer der Mutter einzutreten, wenn nicht plötzlich die Namen Hohenberg, Fürstin Amanda, Plessener Pfarrei an ihr Ohr gedrungen wären. Jetzt öffnete sie rasch und trat ein.

Propst Gelbsattel hatte schon den Hut in der Hand und wollte sich eben von der Mutter, die eine eifrige Besucherin seiner Predigten war, empfehlen. Seiner Absicht, den [902] Justizrath zu sprechen, kam die Meldung entgegen, daß dieser ihn unten bereits erwarte ....

Propst Gelbsattel war eine hohe stattliche Figur, wohlgenährt und vom Lampenlicht der Studien seit Jahren schon nicht mehr angedämmert. Er hätte äußerlich durch seine imponirende Würde wol gut zu den Worten Veranlassung geben können: Auf diesen Fels will ich meine Kirche bauen! Schon längst hatte sich bei ihm die Gottesgelahrtheit mit dem Studium der Welt so verbunden, daß er mehr einem Hofmanne als einem Geistlichen geglichen hätte, wenn nicht sein noch immer schwarzes glänzendes Haar in einen Scheitel gekämmt gewesen wäre, dessen beide gleiche Seiten, ziemlich lang über's Ohr gestrichen, gar heilig niederflossen. Dieses einzige Merkmal schlichter Sitte erinnerte an die fromme Bestimmung seines Berufes. Sonst war er von gewandten, wenngleich immer würdigen Weltformen, scherzte mit Grazie, ohne ausgelassen zu werden, sprach über alle Vorkommnisse des Lebens, ohne den Schein übergroßer Vertraulichkeit anzunehmen. Seine Reden hielten Viele für mustergültig. Sie waren nach einem immer gleichen Schema gearbeitet und rafften Mancherlei in die Betrachtung der Kanzel, was weniger mit dem Christenthume, als mit einer allgemeinen Lebensphilosophie überhaupt zusammenhing. Er galt für biblisch, ohne daß er sich im Orthodoxen zu weit erging. Ein leiser Anflug von Pietismus fehlte nicht, ohne daß er darum die Vernunft herabsetzte. Er hatte so seine eigene Art, allen Parteien zu gefallen. Die Vornehmen [903] und Reichen strömten auch seinen Vorträgen, die er wohlweislich nur alle vierzehn Tage hielt, in großer Hingebung zu. Obgleich er bei der ersten alten Pfarrkirche der Stadt angestellt und überhaupt der erste Geistliche der Commune war, so kam doch regelmäßig auch der Hof zu ihm und gab den Ton an, sich allgemein durch Propst Gelbsattel das christliche Gewissen wecken und rühren zu lassen.

Aber nicht nur auf der Kanzel war seine Wirksamkeit eine bedeutende, nicht nur durch seine Seelsorge für die vornehme weibliche Jugend und die Beichtbeflissenen behauptete er einen großen Einfluß in der Gesellschaft, sondern ebensosehr auch durch seine rege Antheilnahme an fast jeder Frage, die, in welchem Gebiete es auch sei, das allgemeine Interesse der Residenz in Anspruch nahm. Die Stadt selbst bediente sich seiner zum Entwurfe von Addressen; denn man bewunderte die Geschliffenheit und lapidare Wucht seines Stils. Der Hof unternahm nie etwas, was artistisch oder irgendwie geistig in's öffentliche Leben treten sollte, ohne Gelbsattel zu Rathe gezogen zu haben. Orden schmückten seine Brust, wie einen Minister. In der Verwaltung der Schule und des Kirchenwesens hatte er Sitz und Stimme. Seine Gutachten entschieden über das Schicksal mancher erledigten Professur und ihre neue Besetzung. Ein gelehrtes Werk behauptete er schon lange unter der Feder zu haben, das ihm auch nach einem veröffentlichten Probestück den Eintritt in die Akademie des Landes, die sogenannte »Societät der [904] höheren Wissenschaften« gesichert hatte. Aber nicht nur das Wissenschaftliche und Künstlerische hatte sich diesen hervorragenden Mann zu einer entscheidenden Instanz gewählt, sondern auch in Communalangelegenheiten aller Art war er heimisch, ja bis zur gelegentlichen Begutachtung von Brunnen- und Kanalanlagen. Die Residenz war seine Vaterstadt. Er hatte ihre Alterthümer durchforscht. Er war wirklich im Stande, über die frühere Geschichte derselben kundigst zu sprechen und kannte alle kleinen Heimlichkeiten des Stadtlebens, um auf diesem Gebiete immer etwas Schlagendes, Sach- und Fachgemäßes beizubringen. Kurz man mag den vielen Gegnern, die ein so hochgestellter Herr, namentlich auf seinem kirchlichen Gebiete und neuerdings durch die ihm viel zu üppig auf sein Gebiet eingreifende »innere Mission« finden mußte, auch in vieler Hinsicht Recht geben, darin würde man ungerecht sein, wollte man die gewaltige Rührsamkeit und praktische Umsicht dieses stolzen Kirchenlichtes irgend verkennen. Um Gelbsattel recht schlagend zu bezeichnen, könnte man sagen, der Propst war auf dem Gebiete der Kirche, was der Heidekrüger Justus auf dem der Politik war.. Der große Mann!

Als Gelbsattel sein wildes Beichtkind, Melanie, begrüßt hatte, war er außerordentlich freundlich und drohte ihr recht schelmisch mit dem Zeigefinger, daß sie so selten die Johanniskirche besuchte ... Und noch am letzten Sonntage, sagte er, hab' ich über die Vergänglichkeit alles Eiteln gesprochen, mein schönes Kind!

[905] Ich war leider, sagte Melanie, an diesem Tage von der Vergänglichkeit meiner Schönheit in einem Orte tief überzeugt, den ich Sie eben habe nennen hören, Herr Propst, in Hohenberg. Kennen Sie Hohenberg?

Denke dir, sagte die Mutter, die Frage unterbrechend.. Guido Stromer! Er macht wirklich wahr, was er beim Abschied äußerte ...

Was ist mit ihm?

Er will in die Stadt versetzt sein.

Und Fräulein Melanie, sagte der Propst, ist gewiß das hüpfende Irrlicht, das ihn hierher verlockte. Kann ich zugeben, daß er mir eine so brave Beichtbefohlne raubt und mir wie ein Wolf in meinen Schafstall bricht?

Ein so reicher Hirt! sagte Melanie. Geben Sie ihm getrost ein Paar von Ihren doch verlorenen Seelen ab! Ich versichre Ihnen: Er predigt nicht so gut, als er spricht! Wirklich, gibt es nicht irgendwo eine offne Nachmittagspredigerstelle? Ich will mich, weil ich Guido Stromer lieb habe, mitten unter die alten Spittelfrauen setzen, die wahrscheinlich doch allein seine Gemeinde bilden werden?

Weil Sie ihn lieb haben? rief der Propst mit seiner sonoren Stimme. Da werd' ich eifersüchtig! Wie? Meine vernunftklare, durchsichtige, krystallne Melanie will zu einem Pietisten der alten Schule? Nein, meine kleine Sünderin! Diese Methode, Sie zu bessern, hat sich überlebt.

Pietist? erwiderte Melanie. Guido Stromer Pietist?

[906] Herr Propst, ich glaube, Sie irren sich! Der Plessner Pfarrer ist nichts weniger als Pietist.

Aha! antwortete schmunzelnd der freundliche Herr, dessen Falten immer glätter wurden; vor Ihnen schwankte der starre Dogmatiker! Haben Sie dochwol nicht unter vier Augen einen Tartüffe, einen »innern Missionär«, in ihm erkannt?

Ich berufe mich auf das Zeugniß meiner Mutter, sagte Melanie. Stromer hatte vor uns Allen kein Hehl, daß über ihn eine ebensolche Revolution gekommen wäre wie über die Staaten. Er hat jetzt entdeckt, daß im Regenbogen wirklich sieben Farben blinken! Ja sogar die Kunst ließ er gelten und meinte, die griechischen Götter wären zu früh von der Erde verschwunden. Wenigstens vermuth' ich, daß Das seine Gedanken waren, als er von der Leda hörte oder, wie Se. Excellenz, Herr von Harder, die Dame nannte, von der Lady, und so lange schwieg und grübelte ...

Gelbsattel lachte über die Kunstkenntniß des genannten Hofmanns und äußerte dann:

Haben Sie Kunstgeschichte mit dem Stromer getrieben? Machen Sie denn Alles verwirrt? Die Maler und die Seelenhirten? Nein, nein, diesen vertrockneten alten Pietisten, der mit der Fürstin Amanda von Morgens bis Abends gebetet hat und sich recht in dem Extreme der Momiers oder wie wir diese Form der Gläubigkeit unter dem Namen der Mucker erlebten, gefiel, diesen sollen Sie mir nicht auf Bilder bringen, die man vom Kunstverein [907] aus Rücksichten ankaufen oder empfehlen muß, schon um die neue, vielgestaltige Melusine in jeder Form ihrer Zaubereien zu haben. Nein, nein, der bleibt in Hohenberg und sorgt dort ein wenig besser für die Schulen, als er bisher gethan hat. Er schreibt von Zerstreuung, unglücklicher Zerrissenheit und Zweifelsucht. Er soll Seidenzüchter werden, wie andre Pfarrer thun! Brav Maulbeerbäume anpflanzen, Seidenwürmer hegen und Cokons gewinnen! Die Regierung zahlt ja dafür nicht nur die höchsten Preise, sondern theilt auch Denen, die sich in der Seidenzucht auszeichnen, Medaillen aus! Ich kann ihm nicht anders schreiben, als: Guido Stromer! Hübsch Seidenwürmer ziehen! Doch ich eile zum Justizrath, mit dem ich dringende Geschäfte habe. Und wenn ich nächstens von der Kanzel spreche, hoffe ich Fräulein Melanie mir vis à vis zu sehen. Ich werde über jenen Spruch reden, über den wir uns einmal erzürnt haben, wissen Sie wol noch, Fräulein? Vor wieviel Jahren war Das?

Erzürnt? fiel die Mutter ein, die aufgestanden war, um dem Propste das Geleite zu geben ...

Lassen Sie sich's nur von ihr erzählen! Dem holden Mädchen! Sie weiß es schon! Sie wird ganz roth! Ganz roth! Adieu meine Damen! Ha, ha! Auf Wiedersehen!

Damit küßte der Propst der Mutter die Hand. Die Tochter litt diese Huldigung nicht, sondern kehrte ihm schmollend den Rücken.

Als Gelbsattel hinunter stieg zum Vater, fragte die Mutter, was Das für ein Streit gewesen wäre?

[908] Ach! sagte sie, ich bin wenig in der Laune, an diese alten Thorheiten zu denken. Ich sollte im Confirmationsunterrichte einmal den Spruch hersagen: Wenn dich die bösen Buben locken, so folge ihnen nicht! Alle schnatterten, obgleich sie im Geheimen kicherten, den Spruch nach, nur ich weigerte mich und war durch nichts dahin zu bringen, ihn zu wiederholen. Ich glaube gar, ich ging soweit, ihn für einen dummen Spruch zu erklären, da anständigen Mädchen niemals einfallen würde, bösen Buben nachzugehen, wenn diese auch noch soviel lockten! Darüber gab es denn viel Gelächter von den Mädchen und soviel Zorn von Seiten des Propstes, daß wir hart aneinander geriethen und ich meinen Shawl und Hut nahm und davon lief. Hackert, der mich abholen sollte, wartete schon und wie ich vor Ärger weinte, meinte der in seiner trockenen Art: Es wäre für junge Mädchen doch der beste Spruch in der ganzen Bibel, nur müßten die Pfaffen gleich aufrichtig erklären, daß unter den bösen Buben Leutnants und Referendare zu verstehen wären! Ich bin damals mit Hackert, der mich in die Stunden bringen sollte, zweimal lieber in's Feld hinausgegangen, nur um nicht wieder in die Lage zu kommen, den garstigen Spruch herzusagen.

Die Mutter gedachte gerührt, aber auch erschreckt der alten Zeiten! ... Melanie aber hörte mit Verzweiflung, daß es nun voll ein Uhr schlug!

[909]
9. Capitel. Ein lutherischer Papst
Neuntes Capitel
Ein lutherischer Papst

Ehe Propst Gelbsattel mit dem Justizrathe zusammentraf, war dieser schon seit einer halben Stunde sehr mismuthig nach Hause gekommen.

Unterwegs hatte mancher den sonst immer freundlichen Justizrath Franz Schlurck gegrüßt, er hatte heute nur kurz und flüchtig erwidert. Die Art, wie ihm ein wildfremder Mann, der sogar von ihm etwas zu wünschen und zu ersuchen hatte, im Hohenberg'schen Palais begegnet war, lag ganz außerhalb des Kreises der Erfahrungen, die er täglich machte. Er hatte durch die glatte Art, wie sich Menschen, die etwas begehren, gefügig zeigen und von selbst Das aufdrängen, was eine Bestechung sein soll und nur als ein Geschenk geboten und genommen wird, sich eine so heitere, sorglose Auffassung seiner Praxis angewöhnt, daß ihm heute zum ersten male, als ihm das fürchterliche Wort: Schurke! zugedonnert wurde, das schöne Rosenlicht, das ihn immer umfloß, in Nacht verwandelt erschien. Er tappte auf der Straße hin wie im Finstern. Zwar hatte er noch Geistesgegenwart genug, dem berühmten Arzte, Sanitätsrath Drommeldey, der [910] ihm begegnete und ihm zurief: Ei, ei, Justizrath, was machen Sie, Sie werden alt! zu antworten: Alt? Nimmermehr! Das Altwerden ist eine dumme Angewöhnung! Und der Arzt, der wie alle Söhne Äskulap's mehr das Geistreiche, Witzige, Abgerissene, als das Systematische, Schulgerechte liebte, hatte ihn veranlaßt, diese paradoxe Äußerung rasch, da er zu Egon mußte, den er für sehr bedenklich erklärte, zu beweisen, aber an Das, was er sagte, glaubte er heute selbst nicht. Er hatte gesagt:

Nie werd' ich alt, Drommeldey! Das Altwerden ist eine dumme Angewöhnung! Nichts Anderes! Wir kommen der lahmen und hinfälligwerdenden Natur ja immer auf halbem Wege entgegen! Nehmen Sie schon in der Jugend! Der Knabe quält sich förmlich ab, ein Jüngling zu werden! Er raucht Cigarren, daß ihm grün und gelb vor den Augen wird! Er bindet sich Cravatten um den Hals und kräht Alt wie ein Hahn, während er noch den reinsten Kanarienvogelsopran in der Kehle hat! Ist er dann mit Ach und Krach ein Jüngling geworden, so quält er sich schon wieder ein Mann zu sein! Er will heirathen, solid werden, spricht vom Glück der Ehe und sieht Kinder an der Mutterbrust neben sich und schaukelt schon welche auf den Knieen. Gut! Dann wird er ein Mann! Nun will er gravitätisch erscheinen und spricht von seiner Würde. Bequemlichkeit wird die Belohnung seiner Anstrengungen, Brot zu verdienen. Auf den Bällen tanzt er nicht mehr. Mit den gesundesten Schenkeln gebehrdet er sich wie ein Casinogast und spielt Whist. Setzt er sich ans [911] Klavier, so konnt' er sonst ganz leidlich singen. Er kann es auch noch; aber aus Bequemlichkeit hebt er nicht mehr die volle Brust, sondern stöhnt und ächzt und läßt die Flügel hängen. So geht Das fort, bis dann natürlich das Alter wirklich da ist und die Natur frohlockt, ihren Sieg über den Geist davongetragen zu haben. Nein, nein, Doktor, sagen Sie's allen Ihren Patienten! Das Alter ist nichts als eine dumme Angewöhnung.

Das war so flüchtig und schalkhaft von ihm hingesprochen worden und der Arzt hatte darüber gelacht und sich's als Anekdote gemerkt – er heilte viele seiner Patienten mit Anekdoten – aber Schlurck hielt heute seiner eigenen Laune nicht Stand. Er knickte und sank recht erschöpft in seinem kleinen dunklen Arbeitszimmer in einem grünsaffianen Lehnsessel zusammen. Das empörende Wort des Fremden hatte ihn zusammengerüttelt, wie er sich selbst sagte, gleich einem alten Sack Nüsse. Das rasselte ohne Halt hin und her. Das lärmte wol und war eine Art Widerstand, aber schlaff! schlaff! sagte er sich. Ich konnte ihm nicht an die Kehle fahren, denn ich war ein Esel gewesen mit meinem: Jährlich? Warum ließ ich nicht Bartusch etwas abmachen, wozu mir im Grunde das Geschick fehlt! Und wenn ich auch nicht das wahnsinnige: Jährlich? geflüstert hätte, besäß' ich denn die Kraft, ihm den Schurken zurückzuschleudern? Nein! Der Witz macht schwach, nur Pedanten haben Kraft.

Bartusch hatte seinem Principal eine Menge von Papieren vorzulegen, die er ohne langes Besinnen und Prüfen [912] unterschrieb. Er bereitete jenen dann auf den Empfang Ackermann's vor und erzählte zu Bartusch's großem Erstaunen in der Hauptsache Das, was er im Palais erlebt hatte. Bartusch sollte ihm alle nur irgend geprüften und sichern Papiere vorlegen und die Berathung mit ihm allein pflegen. Er wünschte des Handels überhoben zu sein.

Bartusch, stumm und ergeben, merkte gleich, daß der Justizrath nicht in bester Stimmung war und unterließ alles Fragen, pünktlich sich merkend, was ihm geheißen war. Sein Überblick war so kundig, daß es eigentlich keiner Worte bedurfte, wie es mit den Papieren gehalten werden sollte.. Mit fast stummem Nicken und kopfschüttelnd flüsterte er dann aber doch:

Unsere Hohenberg'sche Verwaltung hört also auf?

Die Administration hört auf, sagte Schlurck tonlos.

Werden sich wol nun wählen lassen? setzte Bartusch noch leiser hinzu.

Daß ich ein Thor wäre! antwortete Schlurck. Meinen Ruin mit eigener Hand bereiten? Jetzt gilt es arbeiten, fleißig sein! Die Zeit der Allotria ist vorüber. Sind die polnischen Pupillengelder eingezahlt?

Auf Heller und Pfennig ... Die beste Aufklärung über Max Leidenfrost gab Frau von Werdeck ... Die Familienlegate der Kaminski ...

Genug! Wir müssen Revisionen halten, Bartusch! Uns rütteln, tummeln. Viele Adelige mahnen um Erledigung ihrer Angelegenheiten. Die Familienhäuser in der Brandgasse [913] zahlen zu wenig – der Magistrat wirft uns Saumseligkeit vor ...

Zuviel Armuth, Justizrath!

Das sollen die Staatsökonomen und Philanthropen ausmachen! Die Commune will Geld, Geld, Geld, Bartusch!

Ich lasse pfänden Tag und Nacht!

Setzen Sie Daumenschrauben an! Ich kann die Lage der Menschheit nicht ändern. Das ist Gottes Sache. Seine Welt ist ein Chaos. Man tastet im Dunkeln, greift und würgt. Ich weiß kein Mittel. Die Politiker sollen es ändern. Geld! Geld, Bartusch! Die Commune ist in Verzweiflung über die Johannitererbschaft und die Hartnäckigkeit des Ministeriums ... Wenn wir diese Branche meiner Geschäfte auch noch verlören ...

Justizrath!

Ich sehe heute schwarz.. gehen Sie Bartusch! Setzen Sie die Legitimation für den Generalpächter auf!

Aber der Prinz ....

Ist krank ....

Hört' es schon.. bedenklich?

Adieu, Bartusch! Lassen Sie mir etwas Ruhe!

Ich wollte auch nur noch ein Wort fallen lassen über eine sonderbare Äußerung des Prinzen in Betreff ....

Bartuseh wollte an den Schrein erinnern ....

Schlurck, obgleich er Vieles von ihm aufgeklärt wünschte, ließ ihn doch nicht zu Worte kommen, sondern seufzte so laut, daß Bartusch vorzog, abzubrechen und ihn sich selbst zu überlassen.

[914] Es waren die unmuthigsten Gedanken, die Schlurck bestürmten, als er allein war und so das Haupt auf die Lehne seines Voltaire-Sessels stützte. Er rieb die hohe Stirn, um gefälligere zu wecken. Er lüftete die Kleider, putzte an den Brillengläsern, es half nichts; er sah, wenn der Prinz genas, eine bedeutende Clientel, die ihm viel Geld eingetragen hatte, völlig genommen und, was ihm noch störender sein mußte, die Vergangenheit derselben einer scharfen Prüfung ausgesetzt. Auch die Verhandlung mit Paulinen hatte ihn aufgeregt. Daß der Prinz sein Feind war, ahnte er. Er sah trotz der Rückreise mit seiner Familie deutlich die Spuren davon. Wird er wieder hergestellt, sagte er sich, wär' es nicht besser, mich mit seiner Feindin zu verbinden und sie mir zu verpflichten?.. Die Frage nach dem Bilde, die er doch an Herrn von Harder richten mußte, war er fast geneigt, schon ganz fallen zu lassen.

In diesen Betrachtungen fiel sein Blick auf den Schrein, der auf der Seite seines Schreibtisches an der Erde stand..

Er erschrak, daß ihm hier eine neue Demüthigung erwachsen konnte, wenn sich Derjenige meldete, dem er gehören mochte.

Heftig zog er jetzt die Klingel.

Einer seiner Diener erschien und hastig ihm anbefehlend, daß er warten solle, ergriff er die Feder und schrieb:

»Da die vielfach angestellten Bemühungen, ein auf der Landstraße zwischen Angerode und der Residenz bei dem [915] Dorfe Plessen gefundenes Frachtstück an den rechtmäßigen Eigenthümer gelangen zu lassen, vergebens gewesen sind, so wird derselbe hierdurch öffentlich aufgefordert, sich beim Justizrath Schlurck in der alten Johanniter-Comthurei parterre links in den Frühstunden bis neun Uhr zu melden.«

Nachdem er diese Zeilen mit Goldsand bestreut hatte, übergab er sie dem Diener und ertheilte den Befehl, sie sofort in die beiden Hauptzeitungen der Stadt einrücken zu lassen. Schließlich rief er ihm nach, jenes Ersuchen an seine Tochter auszurichten, das wir in Betreff des heutigen Abends und einer Vorstellung bei Frau von Harder schon gehört haben.

Unwillig stieß darauf Schlurck den Deckel von dem Schrein, den er mit seinem blanken Firnißstiefel erreichen konnte ...

Der Deckel flog auf.

Die alten vergilbten Papiere lagen noch wohlgeordnet, wie er sie bei der eigenmächtigen und unverantwortlichen Öffnung eines fremden Eigenthums vorgefunden hatte.

Er bückte sich nieder und fing an, in ihnen zu blättern.

Wer weiß, dachte er, welche neue Entwickelungen sich aus diesen wurmstichigen Akten ergeben werden! Ist es nicht, als stiegen Geister aus der Erde und schüttelten sich noch einmal, um den Kampf mit den Lebenden zu beginnen? Wer wird der Kämpfer sein, der diese Waffen führt? Wo sind sie gefunden worden, unter welchem alten [916] Hünengrabe? Fast glaub' ich, dem Schilde da fehlt doch wol ein Arm, der ihn führt, dem Rosse da der Reiter:

es sind vielleicht nur alte Manuscripte Dem, der sie entdeckte; nichts Anderes! Daß er dann nie ihre Bedeutung erkennen möge! Ich verlöre den zweiten Arm, der mir arbeiten hilft, nachdem ich den ersten gelähmt schon an diesen Ackermann hingeben mußte!

Im bittersten Unmuth wühlte Schlurck unter den Papieren und zerrte fast an den Siegeln.

Er überlegte, ob es besser wäre, dem Besitzer, dessen Anmeldung er jede Secunde erwartete, einfach zu gestehen, er hätte, um den Eigenthümer zu entdecken, die Kiste öffnen lassen, oder ob er sie – das Schloß war durch ihn verdorben – mit einem neuen versehen sollte.

Das Letztere war verdächtiger, als für ihn, einen Notar, einen Mann der öffentlichen Treue, das erste.

Auch auf den Gedanken verfiel er: Wie? Wenn der Eigenthümer durch dich erst belehrt würde, welchen Gebrauch man von diesen Papieren machen könnte? Wenn du dich anheischig machtest, ihm zu einem großen Reichthum zu verhelfen und er den Gewinn mit dir theilte?

Indessen erschrak Schlurck vor dem gefährlichen Scheitern eines solchen Planes und vor der Nothwendigkeit, sich dadurch für immer das Patronat der Stadt zu verscherzen, für deren Interessen er nicht nur die alten Häuser und Grundstücke verwaltete, sondern auch in vielerlei anderer Hinsicht fruchtbringend beschäftigt war.

In diese quälenden Betrachtungen vertieft, zog er[917] diejenigen Urkunden hervor, welche unstreitig die wichtigsten der ganzen Sammlung waren.

Es war zuerst diejenige, in welcher der päpstliche Stuhl den Ritter Hugo von Wildungen von seinem Ordensgelübde, kein Eigenthum zu haben, freispricht und ihm gestattet, wie es darin hieß: quasi ex pallio sancto ab haereticis et latronibus dilacerato lumbum suum szippliciter adimere et togae suae equestri juxta crucem immaculatam bona fide affigere, d.h. von dem durch Ketzer-und Räuberhand gleichsam zerrissenen heiligen Mantel auch seinen Fetzen demuthsvoll anzunehmen und auf dem Ritterkleide neben dem unbefleckten Kreuze in gutem Glauben zu befestigen.

Diese Urkunde war nöthig um zu beweisen, daß Hugo von Wildungen das ihm zuerkannte Theil der großen Verlassenschaft des Ordens wirklich antreten durfte und sein früherer Protest auf dieselben Gründe, die er für ihn angeführt hatte, auch aufgehoben werden konnte.

Seine Bereitwilligkeit, die ihm zuerkannten Häuser und Güter von den protestantisch gewordenen und sich auflösenden Brüdern anzunehmen, lag hier in dem Fascikel, das auf jene päpstliche Urkunde folgte. Früher kannte man nur seinen Protest. Er war im Rathsarchive der Stadt niedergelegt und war die Hauptkraft des Beweises, daß der nächste Herr an diesen streitigen Gütern die alte Commune war; hier in dem Schrein lag nun des Ritters Zurücknahme jenes Protestes, unstreitig mit dem päpstlichen Dispens das wichtigste Document!

[918] Beide alte Blätter hatte der Justizrath in der Hand, als es klopfte.

Rasch stieß er den Deckel des Schreins und diesen selbst zurück und warf die Urkunden in ein Fach seines Schreibtisches.

Der Eintretende war Propst Gelbsattel ...

Schlurck und Gelbsattel verstanden sich sehr gut ...

Es waren Menschen, die eine ziemlich gleiche Lebensphilosophie hatten, nur daß sie sie anders aussprachen.

Die gesellschaftliche Stellung und die äußere Etikette seines Berufes bestimmte den Einen, vorsichtiger und behutsamer zu sein als der Andere, aber im Grunde kamen sie fast auf die gleichen Prinzipien zurück und hatten sich gern.

Die kleine pietistische Färbung, die sich Gelbsattel gab, störte Schlurck nicht; denn er war gar nicht in dem Grade Neolog, wie man seiner frivolen Äußerungen wegen schließen mochte. Er hatte sogar Anfälle von Aberglauben, ja von Mystik. Nur die kleinen hierarchischen Mucken, die Gelbsatteln zuweilen anflogen, seine jeweilige sogar katholische Stimmung mochte Schlurck nicht leiden und zuweilen in der Vertraulichkeit der Loge, deren Brüder sie waren, hatte er ihm oft ganz scherzhaft gesagt: Gelbsattel! Sie sind ein heimlicher Jesuit! Davon abgesehen, vertrugen sie sich sehr gut, billigten fast Alles, was sie wechselseitig mehr durch Andre, als unmittelbar von sich selbst erfuhren und hatten jetzt auch durch den[919] Prozeß über die alte Johannitererbschaft Berührungspunkte des gemeinschaftlichen Interesses genug.

In dieser Angelegenheit war es auch, daß Gelbsattel seinen Freund zu sprechen wünschte.

Doch schickte er die zeitgemäße Frage voraus:

Nun Freund, wie ist es? Haben Sie Aussicht in Schönau gewählt zu werden?

Weder Aussicht, sagte Schlurck etwas erheitert durch diesen immer anregenden Besuch, weder Aussicht noch Absicht.

Sie ergriffen die Gelegenheit doch mit so großer Lebhaftigkeit.

Beim Dessert, als wir Rosinen kauten und Mandeln knackten und einige Reubündler mir zu viel Champagner eingeschenkt hatten. Die ruhigere Erwägung hat mir gesagt: Schlurck, bleib' vom Feuer! Verbrenn' dich nicht! Es ruinirt deine Praxis und zwingt dich, mehr Charakter zu haben, als für deine Zufriedenheit brauchbar ist!

Aber Sie haben sich doch beworben und einen einflußreichen Mann wie den Heidekrüger für sich in Schönau werben lassen!

Hab' ich, sagte Schlurck; aber der gerechte Verwalter meiner Angelegenheiten, dieser treue negotiorum gestor, hat sehr ungerecht an mir gehandelt. Er lobte mich und zeigte sich im fremden Lobe so edel, so uneigennützig, daß man seinen Edelmuth und seine Entsagung bewunderte und ihn, den Edeln und Entsagenden, nun selber wählen wird. Seine Rede soll ein Meisterstück bäurischer [920] Verschlagenheit gewesen sein, ein Seitenstück zu des Antonius berühmter Rede gegen den Brutus am Leichnam des Julius Cäsar.

Wenn Sie denn durchaus keine Neigung mehr haben, als Bewerber aufzutreten, sagte Gelbsattel lächelnd, so ist wenigstens so viel erfreulich, daß in Justus ein liberal-conservativer Mann gewonnen wird ...

Richtig, sagte Schlurck, das ist so eine Art hölzernen Eisens, wie es unsre Zeit braucht. Liberal-conservativ! Es ist mir immer so, wenn ich Das höre, als wenn mir Einer künstliche Artischocken aus Schweinsohren geformt vorsetzt. Man bewundert den Koch, nicht die Natur, und läßt die Schüssel stehen. Übrigens werden Sie erleben, daß dieser große Charakter, der schon fünfzehn Jahre lang durch seine Neckereien die Regierung beschäftigt hat, zuletzt doch in ein Extrem fällt und in dem Falle, daß er Minister des Ackerbaues werden kann, ganz rechts, in dem Falle, daß man ihm irgendwo die Pferde ausspannt, ganz links wird. Verlassen Sie sich darauf! Oder er betrifft sich einmal bei einer unerwarteten kleinlichen Dummheit und verkrümelt sich in's Unbedeutende.

Sie hätten selbst auftreten und sich persönlich bewerben sollen, sagte Gelbsattel. Ihre natürliche Art besticht die Menschen. Ein glücklich hingeworfener Scherz wirft den Effect einer ganzen pathetischen Rede um. Man hatte im Wahlcomité des Reubundes so sicher auf Sie gerechnet ...

Machen Sie noch immer diese abgeschmackten Späße [921] mit? fragte Schlurck, der nun einmal in seine negative Art hineingekommen schien und seine Verdrießlichkeit auspolterte. Ist auch Das nicht Unsinn? Ist da ein Zusammenhang mit der gesunden Vernunft? Sieht man diesen Menschen nicht allen an, daß ihnen die Gesinnung aus dem Magen kommt? Wenn ich der Monarch wäre, ich verböte dem Volke ein solches Treiben! Unser Staat muß die Initiative des Verstandes, nicht die der Dummheit haben. Der König muß in seiner Bildung viel, viel weiter sein als seine dummen Bürger. Kann Das ein gutes Beispiel wecken? Wahrlich, wenn sich das Ministerium auf den reaktionären Wahnsinn der Beamtenweiber stützen will, ist es verloren. Die erste kräftige, gesunde Idee eines starken Kopfes bläst es im Nu um und wenn es von allen Bajonetten der Welt gestützt würde!

Sie sehen sehr schwarz, sagte Gelbsattel schlau lächelnd. Doch theil' ich Ihre Misachtung vor dem Reubunde, von dem ich mich zurückziehen werde. Es ist in der That nichts daraus geworden als eine großartig organisirte Gelegenheit zu Bällen und zu Verheirathungen. Unter dem Verwande der Gesinnung drängt sich jeder Familienvater hinzu, der eine Tochter zu vergeben hat und nicht hoffen kann, in eine feinere Ressource oder das große Casino aufgenommen zu werden.

Ach, es lebe das Menschliche! fiel Schlurck mit komischem Seufzer lachend und doch ärgerlich ein. Es lebe die Naivetät der praktischen Bedürfnisse! Sokrates, Christus und ihr Alle, die ihr gestorben seid, um dem Menschen [922] einen erhabnen Gedanken aufzustellen, lehrt, was ihr wollt, der Mensch weiß alle eure Himmel sich immer wieder zur Erde herabzuziehen und seine liebenswürdigsten Armseligkeiten in euren Paradiesen unterzubringen! Geben Sie mir eine Priese von Ihrem Macuba, Gelbsattel!

Gelbsattel zog eine der Schlurck'schen ähnliche Dose hervor. Beide tauschten ihren Taback. Denn Gelbsattel nahm aus Schlurck's Dose. Schlurck aus Gelbsattel's. Beide wollten sich damit ein Zeichen ihrer Freundschaft geben.

Über diesen Austausch lächelten Beide.

Treiben Sie noch immer so ein bischen Mysticismus? sagte Schlurck. Freund, ich weiß, warum Sie mit dem Reubunde nicht mehr zufrieden sind. Er schien Ihnen anfangs eine gewisse hierarchische Form anzunehmen. Er hatte so etwas von einem offnen Maurerbunde. Was? Und nun hat es sich erwiesen, daß außer einigen respektablen, aber unzurechnungsfähigen militärischen Elementen und einem horriblen Maximum von beschränktem Unterthanenverstand das absolut Leere in ihm steckt. Gedanken blieben fern. Das ist schlimm für Euch Jesuiten; denn wo Jesuiten wirken sollen, muß es Gedanken geben.

Gelbsattel lachte wiederholt über die Jesuiten und nahm diese Bemerkungen im vollen Einverständnisse harmlos und scherz-ernsthaft auf.

Ja, sagte er, Das mag es sein. Ihre Jesuitenriecherei, die Sie noch aus Ihrer alten Leipziger Schule haben, bester [923] Freund, laß' ich dahingestellt, aber Gedanken müssen die Menschen regieren; die bloßen Gefühle sind mir nur dann nutz, wenn Gedanken sie zu regeln wissen, und das System, das nur aus der rohen Geltendmachung der Interessen entsteht, das veracht' ich vollends. Diese Landräthe und reaktionstollen Subalternen haben wirklich keine Gedanken. Was läßt sich darauf pfropfen? Man hat in lächerlicher Weise für den Reubund etwas von uns Maurern entlehnt, aber wissen wir selbst schon nicht, was wir von unserer Symbolik Vernünftiges zu halten haben, was soll unter so oberflächlicher Nachahmung entstehen? Sie sprechen von den Jesuiten! Können Sie läugnen, Freund, daß in dieser Gesellschaft, mag man nun ihre Tendenz auch noch so sehr verwerfen, doch eine große Kunst der Organisation und eine Vitalität, eine Lebenskraft liegt, die jeden Menschenkenner mit Respekt erfüllen muß?

Ohne Widerrede! sagte Schlurck und meinte Dies mit aufrichtiger Übereinstimmung.

Und ist nicht das Ziel, fuhr Gelbsattel erwärmter und gesteigerter fort, ist nicht das Ziel dieses Ordens in der That das zeitgemäßeste, das man sich denken kann, wenn man erwägt, wie die Übergriffe des Staates gerade erst durch den Sieg des Liberalismus immer gewaltiger, immer nüchterner, roher werden müssen? Und die Kirche! Was erleben wir auf dem Gebiete unsrer Kirche? Die innere Mission sogar unterwühlt jetzt ihren Bestand, die innere Mission ist unter dem Scheine der Frömmigkeit [924] und der Mehrung des Gottesreiches die eigentliche Demagogie der Kirche, die sich liebedienerisch an den Staat lehnt und Das, was bisher für Kirche gegolten hat, unsre Gemeinden, unsere Beichtstühle, unsere praktische Seelsorge in die Luft sprengen wird.

Schlurck hörte aufmerksam zu ....

Aber ich will auf den Staat zurückkehren, sagte Gelbsattel immer erhitzter. Nehmen Sie doch nur unsern eignen Fall! Ich gelte für einen Mann vom conservativsten Wasser und bin es und predige in diesem Geiste. Die ältere Zeit, die nun vorüber sein soll, erlaubte, daß eine gewisse Kirchlichkeit bei allen öffentlichen Angelegenheiten bescheiden mitsprechen durfte. Die Periode ist vorüber. Ich mache theoretisch für die Kirche nichts, gar nichts geltend, als einen gewissen Einfluß auf die Stimmung der Gemüther, aber um diesen zu behalten, kann man da ruhig ertragen, daß in diesem politischen Wirrwarr jede höhere geistige Frage als nebensächlich betrachtet wird und die Ministerien, wenn sie's nicht mit der innern Missionswühlerei halten, rein nur noch Triebräder der gedankenlosesten Geschäftsroutine werden? Diese übermäßige Verweltlichung erzeugt eine Isolirung der geistigen und geistlichen Interessen, die so nicht fortdauern kann. Das absolut constitutionelle System ist der Tod der Menschheit. Die leersten, erbärmlichsten Dinge werden auf die Ordnung des Tages gesetzt: alles Große vergangener Zeiten gilt für nichts mehr in diesen Kammern, wo Bauern, Pächter, Schreiber, Gastwirthe über das [925] Staatsleben zu Gerichte sitzen. Was sind wir denn noch? Was gelten wir denn noch? Soll die Geistlichkeit nur Bibeln austheilen, nur Magdalenenstifte besuchen und sich mit dem Kehricht der Menschheit befassen? Nein, mein Freund, mag man von den Jesuiten sagen was man will, sie haben sich die Aufgabe gestellt, die geistige Herrschaft der Kirche aufrecht zu erhalten und den Menschen als Menschen zu retten, ihn nicht im Staate, im Betkämmerlein oder irgend einer andern Gemeinschaft mit Gott oder der Welt zu Grunde gehen zu lassen, und wenn der dumme Reubund auf eine solche tiefe Idee sich hätte erbauen können, dann wäre etwas mit ihm geworden, während er jetzt die Stelle der Heirathsbureaux vertritt und die Politik nur verwirrt, statt vereinfacht.

Schlurck wich von dieser Auffassung unstreitig sehr ab. Doch gehörte es zu seiner Art, daß er jedesmal, wenn er Jemanden von einer Idee recht warm erfaßt, ja flammend durchglüht sah, sogleich aufhörte sie zu bekämpfen. Denn er wußte, daß ein solcher Kampf dann vergebens ist; ja er scheute sich sogar vor Allem, was zu ernst und zu schwer auftrat, und so begnügte er sich auch hier mit den einfachen Worten:

Sehr wahr! Sehr wahr!

Gelbsattel, nun einmal im Zuge, fuhr, durch die scheinbare Zustimmung ermuthigt, fort:

Welche Anmaßung dieses herzlosen, kaufmännischen Ministeriums, das wir jetzt halten und gegen die Demokratie schützen sollen, der Prozeß, den Sie für die Stadt [926] führen! Man macht Ansprüche geltend, als handelte es sich um einen alten, durch Böswilligkeit oder Nepotismus unbezahlt gebliebenen Steuerrest! Immer nur der Staat! Immer nur dieses gefräßige Ungethüm, das seine tausend Polypenarme, die wiederum mit tausend Saugwarzen bewaffnet sind, überall hinausstreckt, überall das Mark jedem Lebenden entzieht und nichts duldet, was nach seiner eignen Verfassung leben mag. Der Hof billigt nicht einmal den Prozeß gegen die Commune; aber der Hof ist selbst bei der freundlichsten Gesinnung viel zu schwach, um diese Bankiers und Advokaten, die jetzt das Ruder führen, in ihren Unternehmungen zu verhindern. Man hat die Hofkammer zu einem vollständigen Prozeß gegen uns instruirt und ich bin jetzt begierig zu hören, bester Freund, wie diese Dinge stehen.

Schlurck rückte seine Brille in die Höhe, wie immer, wenn er scharf sehen wollte.

Die zweite Curie der Hofkammer, sagte er, hat uns alle nur erdenklichen scheinbaren Rechtsansprüche zugesandt! Hier liegen sie ...

Er zeigte dabei auf ein Convolut Schriften, das in einem der Schubfächer steckte.

Sie sind, fuhr er fort, der Hauptsache nach schon vor funfzig und aber funfzig Jahren geprüft und wenn nicht unhaltbar gefunden, doch durch dazwischen getretene größere Ereignisse unbenutzt geblieben. Jetzt will man nun Ernst damit machen und verlangt entweder die reale Überweisung aller jener Liegenschaften oder eine Art [927] Abkauf in Form einer von der Stadt zu emittirenden Schuldverschreibung im Werthe von zwei Millionen. Man will zwei Millionen Thaler Papierscheine, die man nicht den Ständen zu motiviren braucht, mehr in Cours setzen. Das ist das ganze Manöver, zu dem die Kämmerei-Kasse etwa 50.000 Thaler, um allenfallsige Realisirungen der Scheine bewirken zu können, deponiren müßte. Was sagen Sie! Ich finde darin nichts als eine arge finanzielle Plusmacherei.

Würdig der Erfindungsgabe unsres jetzigen Finanzministers, rief Gelbsattel. Würdig der Theorie vom Staate als einem nimmersatten Vielfraß! Glauben Sie ernstlich, Schlurck, daß eine solche Operation durchgeht, von den Schöffen und Beigeordneten der Stadt gutgeheißen wird? Ich glaube es nicht! Eher würde man die Liegenschaften selbst abtreten und ermessen Sie, welche Nachtheile dann für Die damit verbunden sind, die auf den Ertrag derselben angewiesen leben! Sie würden dies Haus zu verlassen haben, ich selbst würde in meinen besten Einkünften geschmälert werden und eine Menge der nützlichsten, städtischen Einrichtungen geriethe in's Stocken, wenn z.B. nur die Miethen ausblieben, die Sie von den Johanniterhäusern zu verwalten haben, die Grundzinse hier und auswärts gar nicht zu rechnen ...

Es ist so schlimm, sagte Schlurck, daß leider der Kläger und Richter hier fast in einer Person auftritt. Der Staat klagt und der Staat entscheidet..

Ist der Staat wirklich auch schon in den Richtern? rief [928] Gelbsattel immer erhitzter. Ist es schon soweit, daß auch die Gerechtigkeit nicht mehr eine eigene unabhängige Institution ist? Nein, vom höchsten Gerichtshofe des Landes kann, soll man Das nicht sagen. Und es freut mich, Ihnen mittheilen zu können, daß sich der alte Obertribunalspräsident für diese Angelegenheit interessirt.

Hat sie denn einen Zusammenhang mit der Zoologie? fragte Schlurck lächelnd.

Wie Sie's nehmen! erwiderte Gelbsattel. Einen Zusammenhang mit der Loge hat sie.

Mit der Loge? fragte Schlurck erstaunt. Unser Großmeister mag im Grade der eleusinischen Geheimnisse stehen, ich kenne sie nicht und hab's in unsrer edlen Kunst nicht weiter gebracht als bis zum ersten gehobenen Isisschleier, aber was dieser Prozeß mit der Loge zu thun hat, begreif ich nicht ...

Mit der Loge wol auch zunächst nicht selbst, sagte Gelbsattel. Aber mit ihrer Geschichte, wenigstens mit derjenigen Geschichte der Loge, für die der alte Herr schwärmt. Sie wissen, daß er zu Denen gehört, die unsre Kunst wirklich aus urältesten Zeiten herleiten –

Ah so! Aus den egyptischen, wo man die Pyramiden zu Ehren der Katzen baute, in denen der alte Narr göttliche Offenbarung erblickt ...

Er sieht in der Maurerei, sagte Gelbsattel, orientalische Tradition, die wir im Abendland der Vermittlung der Kreuzfahrer, besonders aber der Tempelherren, verdanken ....

[929] Haben die Tempelherren auch Katzen verehrt?

Sie haben es nach vielen Zeugnissen! sagte Gelbsattel nickend und ganz ernst.

Hören Sie! rief Schlurck jetzt, indem er lachend und wieder ganz erheitert aufsprang, so soll mir Einer jetzt die größte Thorheit erzählen und mir aufbinden, es gäbe Menschen, die sie für Weisheit hielten, ich glaube es! Wenn die Katzen mit unserm Prozeß in Verbindung stehen, so nehm' auch ich an Begeisterung für ihn zu, denn alle Miether der Johannishäuser klagen über das beispiellose Vermehren der Mäuse und Ratten so sehr, daß Keiner mehr aushält, wenn ich nicht vierteljährig einen Kammerjäger dort auf die Jagd schicke.

Ja noch mehr, sagte Gelbsattel, ich hege die Vermuthung, daß der Obertribunalspräsident schon aus eigenem Antriebe dem historischen Zusammenhang dieses Prozesses nachforscht! Ein junger Referendar, der in der zweiten Curie der Hofkammer, also in unserm Prozesse arbeitet und zufälligerweise ein Nachkomme des Ritters Hugo von Wildungen ist, dem ursprünglich diese Güter sollen gehört haben, hat sich im alten Tempelhause von Angerode eine eigenmächtige Untersuchung des dort seit undenklichen Zeiten vermauerten Archivs erlaubt, was ohne Zweifel nur im Auftrage der Gerichte geschehen ist.

Schlurck, der sich wieder gesetzt hatte, horchte hoch auf ... Die Brille schob sich noch höher.

Der neue Pfarrer von Angerode, erzählte Gelbsattel, hat mir diese Thatsache angezeigt. Man hat der Wittwe [930] des verstorbenen Pfarrers die Nutznießung der alten Amtswohnung in dem dortigen ehemaligen Tempelhause gelassen und ihr neuerdings auch noch in einem Anbau Räumlichkeiten zugewiesen. Nach einem Jahre hat diese Frau die Amtswohnung zu verlassen und es ist dem Nachfolger ihres Mannes nicht zu verdenken, daß er sich schon jetzt nach der Beschaffenheit seiner künftigen Wohnung umsah. Man entdeckte dabei, daß der Sohn jener Wittwe, ein junger hier lebender Referendar, ob absichtlich oder zufällig ist unbekannt, das alte Archiv des protestantisch gewordenen Johanniterordens wieder auffand und einen mit Dokumenten gefüllten Schrein hieher mitgenommen hat ...

Schlurck, in der größten Spannung den Worten des Propstes folgend, unterbrach Gelbsatteln mit dem Ausrufe:

Einen Schrein?

Mit dem Zeichen des Kreuzes auf dem Deckel, wie Beobachter versichern ...

Mit einem Worte hier – diesen Schrein?

Gelbsattel blickte erstaunt zur Erde nach der dunkeln Gegend hin, wohin Schlurck in der gewaltigsten Aufregung halb mit der Hand, halb mit dem Fuße gezeigt hatte..

Himmel, rief er, das Kreuz auf dem Deckel erkennend, wie kommen Sie zu dem alterthümlichen Fund? Das Zeichen der protestantischen Ritter von Angerode! Die vier Blätter des Kleeblatts an den Flanken des Kreuzes! Wäre [931] dies gelbe Papier da auf dem Tisch schon ein Dokument, das zu den Akten unsres Prozesses gehörte?

Schlurck hielt die Hand auf dem Papier, das Gelbsattel eben nehmen wollte ...

Sein erstes Gefühl bei diesen Mittheilungen war das der Freude. Er sah endlich einen Zusammenhang für den Ursprung seines Fundes und eine Möglichkeit, seine unredliche Verheimlichung desselben auf einen leicht zu entschuldigenden Weg der Ausrede zurückzulenken ....

Als der Propst in ihn drang, ihm genauere Auskunft zu geben, wog er ihm langsam die Worte zu:

Gemach! Gemach! Erst sagen Sie mir: Wer ist dieser Wildungen? Gibt es also wirklich einen Bruder des Malers Wildungen? Was ich vor einigen Tagen schon hätte untersuchen sollen, als ich an Bartusch ....

Es gibt deren zwei, unterbrach Gelbsattel mit einem eignen Ausdruck forschender Ungeduld die Vorwürfe, die sich der Justizrath über seine Sorglosigkeit in so wichtigen Dingen machen wollte ...

Von einem Maler hört' ich, sagte Schlurck. Hat er also wirklich einen Bruder?

Einen jüngern, berichtete der Propst, aber einen an Scharfsinn und Unternehmungsgeist dem Älteren weit überlegenen.

Wie kommen diese Wildungen nach Angerode? fragte Schlurck zerstreut. Er dachte nur an Egon, an den Heidekrug, an seinen Brief, an Melanie ...

Durch ihren Vater, der dort die Stadtpfarrei vor einigen [932] Jahren antrat und seit einigen Monaten nicht mehr lebt, erzählte Gelbsattel. Dieser Mann ist in meine früheste Jugendzeit verwickelt. Man konnte uns Freunde nennen, wenn wir uns nicht um eines Mädchens Willen überworfen hätten. Eine gewisse Julie Rodewald war der Zankapfel, der zuletzt zu ihm hinüberflog. Es war ein wunderlicher, grämlicher Mann, den die Ehe mit dem Mädchen, das wir Beide liebten, nicht heiter stimmte. Er versauerte und verbauerte in Thaldüren, einem thüringschen Gebirgsdorfe, wo man ihn als Pfarrer ließ, weil er zu einer bessern Stellung kaum paßte. Bald Pietist, bald Rationalist, bot er dem Consistorium kein klares Bild, keinen Henkel, schrieb ich ihm einmal auf seine ewigen Klagen um Verbesserung, um ihn anzufassen. Auf einer Rundreise durch seine Gegend wollt' es die Amtspflicht, daß ich bei ihm vorsprach. Er wurde heftig. Er sagte mir die bittersten Dinge und nannte seine Ehrlichkeit den Henkel, an welchem ihn freilich die Lügner nicht zu fassen wagten. Auf so wildes Reden hin, that man besser, ihm die nächste Vacanz zu geben. Er bekam sie nach Angerode als Stadtpfarrer und starb in den kaltgründigen alten Zimmern des Tempelhauses sehr bald nach der Übersiedelung. Von der Universität und aus Schulpforte her, wo ich, Wildungen, Rodewald und ein gewisser Rudhart Contubernalen waren, weiß ich, daß diese Wildungen von dem Johanniter Hugo von Wildungen stammen und oft sagte er mir, wenn sich gewisse Urkunden fänden, könnte er ein überreicher Mann sein. Ich gestehe, daß ich später, da mir die [933] Gegenstände seiner etwaigen Ansprüche selbst so wunderbar zur Bedingung meiner eigenen Existenz wurden, mit einem gewissen sonderbaren Mistrauen ihn nach Angerode ziehen sah. Wie nun, wenn sein Sohn, auf Veranlassung des Prozesses, in dem er arbeitet, in Angerode Nachforschungen gehalten hat, die mit Entdeckung eines eingemauerten Archivs endeten? Ich habe sogleich Auftrag gegeben, dort weitere Untersuchungen anzustellen und bin erstaunt, bei Ihnen schon die Spuren dieses unerwarteten Incidenzfalles anzutreffen.

Schlurck lächelte und sagte:

Bester Freund, Sie nehmen mir eine große Last vom Herzen. Dieses alte Ding da ist auf nicht ganz ostensible Art in mein Haus gekommen; aber wenn ich dabei etwas verbrach, so entschuldigt mich der Eifer für unser gemeinschaftliches Interesse. Ich will Ihnen diese Sache erzählen.

Gelbsattel's Neugier wurde durch eine Unterbrechung gestört ....

Bartusch war eingetreten und flüsterte seinem Prinzipal ins Ohr, daß der Amerikaner da wäre ...

Rechnen Sie mit ihm, sagte Schlurck. Führen Sie ihn oben in ein anständiges Zimmer! Zählen Sie seine Caution und stellen Sie ihm Scheine dafür aus soviel er will, ich werde sie unterschreiben. Den Knaben kann ja Melanie unterhalten ...

Bartusch nickte und ging, die Hand voller Papiere ....

Es währte einige Sekunden, bis Schlurck den unangenehmen [934] Eindruck dieser Unterbrechung überwunden hatte. Dann erzählte er dem aufhorchenden Freunde:

Ich war vor etwa acht Tagen in Hohenberg. Die Theilhaber der fürstlichen Masse hatten sich dort versammelt und nach den bittern Betrachtungen des Tages folgten Abends gesellige Tröstungen und Erheiterungen, so gut es gehen wollte. Ein kleiner Ball hatte ungewöhnlich spät gedauert. Das schöne Mondenlicht verführte mich, eine Dame, die ich sehr schätze, nach Hause zu begleiten, und, wie gesagt –

Schlurck fuhr sich mit der Hand an den Hinterkopf, wie er pflegte, wenn er eine künstliche Verlegenheit schildern wollte, strich das wenige dort sauber gelegte Haar glatt und warf die Brille wieder auf seine frivol die Öffnungen aufblasende kleine Stumpfnase ...

Nun – nun – unterbrach Gelbsattel schelmisch diese sonderbare Gebehrdensprache. Sie verweilen ja sehr lange bei der Dame im Mondenschein ....

Nicht im Mondenschein, fuhr Schlurck fort, dafür sind wir nicht mehr romantisch genug; genug, es war über zwei Uhr, als ich wieder aus dem Dorfe Plessen zum Schloß zurück will. Komm' ich da an eine Schmiede, die am Fuße des Berges liegt, und sehe, daß einem Güterwagen eben die Achse gebrochen ist. Der Fuhrmann hatte ohne Zweifel der Hitze wegen in der Nacht fahren wollen und war etwas im Schlaf gewesen. Genug, der Arme lag halbtodt unter dem Rade, dessen gebrochene Felgen glücklicherweise nicht mehr von der ganzen Kraft des [935] nicht übermäßig bepackten Wagens gedrückt wurden. Das laute Winseln eines gleichfalls verletzten Hundes, mein eignes Rufen weckte die Leute in der Schmiede. Man trug den Fuhrmann hinein und entleerte etwas den Wagen, um ihn leichter zur Verbesserung des Rades in die Höhe schrauben zu können. Bei dieser Gelegenheit entdeckt' ich, als ich eben übermüdet zum Schlosse hinaufsteigen will, einen Gegenstand unter den ausgepackten Sachen, der mich wahrhaft überraschte.. diesen alten Schrein! Es war das Kreuz mit den vier Kleeblättern in seinen Enden! Unser Prozeß im neuen ernsten Beginnen, die Wichtigkeit der daran sich knüpfenden Verhältnisse, Befremden über diese seltsame Erscheinung des protestantischen Johanniterkreuzes von Angerode, eine Art von Aberglauben über die Weisheit des Zufalls, alles Das bestimmte mich, die Bewohner der Schmiede zu veranlassen, den Schrein bei Seite zu stellen, wieder aufzupacken und dem Fuhrmann, wenn er sich erholt hätte, das Geschehene à tout prix zu verschweigen. Nachdem ich mich über den Fund orientirt hatte, konnte man ihn ja unter irgend einem Vorwande dem Besitzer wieder zustellen.

Gingen die Bewohner der Schmiede auf dies riskante Ansinnen ein? fragte der Propst erstaunt, und waren Sie ihrer so gewiß ...

Ich hatte mit einem alten Manne zu thun, der blind ist, sagte Schlurck, und seinem Sohne, der an Taubheit leidet. Meine Amtswürde nahm ich zu Hülfe und wußte ihnen [936] begreiflich zu machen, daß es sich hier um eine wichtige Entdeckung im Interesse des Staates handelte. Sie trugen mir den Schrein an einen verborgenen Ort. Kaum hatt' ich einige Stunden geschlafen, als der alte Schmied sich von dem jungen zu mir hinaufführen ließ und um Gotteswillen bat, ihnen zu erlauben, den Schrein herauszugeben, der Fuhrmann gebehrde sich wie rasend, an dem Schrein läge mehr, als ein Mensch ahnen könne ... denken Sie sich! Je mehr sie baten, desto mistrauischer wurd' ich natürlich und zuletzt bestand ich darauf, daß der Schrein nur noch für mich existire, und unverrichteter Sache stiegen sie wieder hinunter ...

Gelbsattel schaltete hier erstaunend wieder die Bemerkung ein:

Das brachten Sie mit Ihrem einfachen Befehl zu Wege?

Doch nicht! sagte der Justizrath. Ich ergriff ein mir glücklicherweise zu Gebote stehendes Mittel, den Alten zum Schweigen und unbedingten Gehorsam zu bringen. Ich raunte ihm ein paar Worte zu, die ihn so erschreckten, daß er zu Allem bereit war und mir den Schrein so lange bewahrte, bis ich ihn auf meinen Wagen lud und mit ihm hier ankam.

Ein paar Worte? fragte Gelbsattel erstaunt lächelnd. Sie sind ja ein wahrer Zauberer! Lehren Sie mich doch auch so inhaltsschwere und mächtige Worte!

Ich erinnerte die Leute, antwortete der Justizrath, einfach an eine alte Geschichte, in der der Vater eine Rolle gespielt hatte, für die ihm noch für den Rest seines [937] Lebens eine gewisse fatale Belohnung gut ist, wenn man ihn entdeckte ....

Sie Allwissender! bemerkte Gelbsattel kopfschüttelnd.

Vielerfahrener! antwortete Schlurck. Ich ließ den Schrein hier öffnen und fand darin Papiere, die mit unserm Proceß auf's innigste zusammenhängen. Daß dies jener Gegenstand ist, den man in Angerode vermißt, scheint mir unwiderleglich. Es frägt sich nur, ob die Regierung selbst oder die zweite Curie jene Untersuchung anordnete oder ob der junge Mann, den Sie erwähnen, ganz aus eigenem Antriebe auf diese Entdeckung kam. Jedenfalls hab' ich jetzt das Recht zu sagen, ich hätte einen geraubten Gegenstand bei einem Hehler entdeckt und es für meine Pflicht gehalten, ihn mir bis auf Weiteres anzueignen.. Werden Sie diese Wendung unterstützen?

In einer so wichtigen Sache? sagte Gelbsattel. Ohne Widerrede!

Meldet sich jetzt jener Wildungen, fuhr der Justizrath wahrhaft aufathmend und herzerleichtert fort, so verweigern wir ihm noch obenein die Auslieferung. Eine Anfrage in der Zeitung hat meinerseits dann nur den Zweck gehabt, hinter eine unerlaubte Aneignung zu kommen. Wir geben den Inhalt des Schreins zu den Akten ...

Und was glauben Sie, fragte Gelbsattel gespannt, was glauben Sie, daß durch diese höchst wahrscheinlich in bestimmter Absicht verborgen gehaltenen Dokumente bewiesen werden könnte?

[938] Nach flüchtiger Durchsicht, sagte Schlurck ruhig, sprechen sie weder für uns, noch für die Regierung. Eher möcht' ich glauben, daß der Auffinder desselben eine persönliche Absicht hat. Er erschien bald darauf in Plessen und forschte mit Leidenschaftlichkeit nach der Art, wie jenes Frachtstück verloren ging. Meine Schmiede scheinen nicht Wort gehalten zu haben; denn zu meinem Erstaunen äußerte er, über den Verlust selbst beruhigt zu sein. Er wisse, daß ich den Schrein besäße. Auf der andern Seite ist es auffallend, daß Viele behaupten, der Forscher nach dem Schrein wäre der Prinz Egon gewesen.

Prinz Egon von Hohenberg? fragte Gelbsattel erstaunt.

Der junge Hohenberg! bestätigte Schlurck.

Wie wäre Das? Er soll ja heftig erkrankt sein, erzählte man.

Die Ärzte fürchten ein Nervenfieber. Ein Zusammenhang des Prinzen mit jenem Wildungen, den Sie erwähnen, ist mir gewiß, ja ganz fest bewiesen. Welches aber der Zweck dieser Verbindung ist, wie er mit einer Reise jenes Wildungen oder Beider zugleich nach Hohenberg zusammenhängt, welche Rolle darin das erbrochene Archiv von Angerode spielt, Das bin ich zur Stunde unvermögend anzugeben.

Gelbsattel fiel darauf ein:

O, Freund, Ihr Scharfsinn wird binnen kurzem alle diese Dunkelheiten lichten! Doch hüten Sie sich vor diesem Dankmar Wildungen! Es ist ein unternehmender verschmitzter Kopf, voll planmäßiger Schlauheit und mit [939] einer Federkraft begabt, die ihm für die schwierigsten Dinge Muth und Ausdauer gibt. Auch gehört er mehr, als seinen Vorgesetzten gefallen will, zu den Demokraten.

Schlurck gedachte nun voll Beschämung über seine Champagnerverwirrung des Fremden im Heidekrug und fragte:

Er ist klein..

Mittlerer Statur!

Braunes Haar?

Mehr braun als blond. Das ganze Wesen unternehmend und keck.

Er trägt einen Bart auf der Lippe und am Kinn?

Ich sah' ihn längere Zeit nicht mehr. Seit den politischen Kämpfen meidet er alle die feinen Cirkel, in die ihn sein Bruder, der Maler Wildungen, ein ungleich geringeres praktisches Talent, obgleich nicht ohne Schwung und Poesie, eingeführt hat..

Schlurck schüttelte ärgerlich den Kopf. Er sah ein, daß er sich, wie er an Bartusch schrieb, »im Champagnernebel« getäuscht hatte, als er in Wildungen den Prinzen Egon zu erkennen glaubte und seiner Familie diesen allerdings nicht unbedeutenden jungen Referendar für eine so wichtige respectwürdige Standesperson angedeutet hatte.

Der Unmuth über diese Täuschung wuchs, als Melanie von oben die kleine Wendeltreppe halb herab stürmte und ohne Rücksicht auf Gelbsattel oben auf den Stufen in die ängstlichen Worte ausbrach:

[940] Vater! Eben will ich dem kleinen Amerikaner, da er so mädchenhaft aussieht wie Cherubim, eine Haube aufsetzen, als er mir sagt: Ich möchte ihn schonen, er wäre betrübt über die Krankheit des Prinzen. Ist der Prinz krank? So gefährlich krank, wie der Knabe sagt? Du warst ja dort? Sorgen die Ärzte wirklich um sein Leben?

Allerdings! sagte Schlurck. Doch geht dich Das wenig an. Du bist über den Prinzen in einem Irrthum ...

Melanie blickte den Vater starr an.

Ich habe eine sehr große Thorheit begangen, sprach Schlurck in gewaltiger Verstimmung zu ihr empor. Es war ein junger Referendar, Namens Wildungen, der Euch im Schlosse besuchte! Es ist ein Freund des Prinzen! Es gibt zwei Wildungen, einen Maler ...

Und einen Referendar! fügte Gelbsattel hinaufschmunzelnd hinzu.

Melanie entfernte sich erblassend und ohne zu antworten schwankte sie die engen Stufen hinauf ...

Bald aber hörte man, daß oben ein Fenster aufgerissen wurde, das in den Hof führte, und Melanie rief:

Neumann! Anspannen!

Gelbsattel, da es eben von seiner Kirche dumpf zwei Uhr schlug, empfahl sich. Er sagte noch zu Schlurck:

Sie haben viel auf dem Herzen, bester Freund, was Sie mir nicht mittheilen wollen. Ich denke, Sie werden es, wenn es reif ist oder, um es zu werden, meine Mitberathung vielleicht in Anspruch nimmt! Einstweilen hab' ich hier merkwürdige Thatsachen erlebt! Soviel seh' ich wol, [941] daß wir verwickelten Schwierigkeiten entgegen gehen und Manches erfahren werden, was wir in den bisherigen Stadien unserer Angelegenheit nicht für möglich hielten.

Darin haben Sie recht, Freund, sagte Schlurck, sammelte sich, da es Tischzeit wurde, zu seiner sonst üblichen Heiterkeit und schlug seine Hand in Gelbsattel's mit den Worten:

Sie wissen, daß ich das Altwerden für eine schlechte Angewöhnung halte. Noch heute hab' ich's dem Sanitätsrath Drommeldey gesagt. Aber auch dadurch bleiben wir jung, daß wir vor Schwierigkeiten nicht erschrecken. Immer die gerade Bahn laufen macht krumm und schläfrig. Es ist eine dumme Wahrheit, die nur in der Mathematik gilt, daß der gerade Weg zwischen zwei Punkten der kürzeste ist. Im Leben ist im Gegentheil der gerade Weg immer der längste. Nur was den Geist spornt, in Thätigkeit setzt, zum Aufmerken zwingt, belebt ihn und der Geist ist's doch allein, von dem die Maschine abhängt, oder meinen Sie, daß die Maschine den Geist regiert? Manchmal, wenn ich Appetit habe und mir die Gedanken schwinden, möcht' ich fast das Letztere glauben!

Lieber Freund, sagte Gelbsattel, den Thürdrücker ergreifend, Das machen wir hier zwischen Thür und Angel nicht ab! Nur darum möcht' ich Sie noch bitten, gäben Sie mir wol für einen Franzosen, der hieher gekommen ist, Herrn Professor Rafflard aus Paris, eine Empfehlung an den Criminaldirektor?

Empfehlung an den Criminaldirektor? sagte Schlurck [942] lachend. Er soll einen honetten Einbruch machen, dann braucht er meine Empfehlung nicht. Wie heißt der Herr?

Gelbsattel erwiderte mit einiger Befangenheit:

Professor Rafflard kommt von Paris, als Agent einer Humanitätsgesellschaft, um sich über den Zustand der Gefängnisse bei uns zu unterrichten ...

Aha! So ein philanthropischer Salon-Quäker! sagte Schlurck; Einer, dem es dafür um Orden, Titel und Einladungen zu thun ist! Wie viel gute Ideen müssen doch dafür herhalten, daß eitle Menschen auf sie reisen und sich lächerlich machen! Ich denke, Sie sind nicht für die »innere Mission«?

Professor Rafflard ist sehr gut empfohlen, bemerkte Gelbsattel schon im Gehen, während ihm Schlurck das Geleite durch einen dunkeln Gang gab; er hofft an den Hof zu kommen und dient einem Zwecke, dem sich einige uneigennützige Gemüther doch auch schon praktisch, ohne Phrasen, ohne Christelei gewidmet haben..

Verbesserung der Gefängnisse! sagte Schlurck. Eine Feile und ein Strick ist für die Spitzbuben die beste Verbesserung der Gefängnisse. Ich will's übrigens dem Criminaldirektor sagen ...

Damit trennten sich die Freunde.

Schlurck kehrte nun in sein Bureau zurück, schloß von innen ab und stieg langsam und nachdenklich in den ersten Stock, um zu lauschen, wie weit Bartusch in seiner Verhandlung mit dem Amerikaner gekommen war..

Er begegnete Melanie, die ihm auf die Frage, ob sie [943] heute mit ihm zur Harder fahren würde, keine Antwort gab.

Sie hatte sich den Hut aufgesetzt, einen Shawl umgeworfen und stürmte die Treppe hinunter, um sich in den offenen Wagen zu werfen, der eben unten in der Hausflur vorfuhr ...

Wohin befehlen Fräulein? fragte der Bediente, den sie getrieben hatte, jedes andere Geschäft, die Zurüstung zum Mittagsmahl und was sonst zu seinen Obliegenheiten gehörte, fahren zu lassen und sich nur in die Livree zu werfen ....

In das Atelier des Professors Berg! rief sie und warf sich in die weißen Kissen des Wagens.

Als ihr Vater vom Fenster nachsah, wie sie erst im Wagen sich die Handschuhe anzog und mit kalter Verachtung der Welt um sich her blickte, dann den Schleier überwarf und rasch davon fuhr, dachte er bei sich selbst:

Wohin tobst du, um deiner Verzweiflung zu entfliehen? Armes Kind! ... Sie hat sich doch wol eingebildet einen Fürsten zu lieben und nun ist es nur ein gewöhnlicher Mensch, wie wir Andern auch! Begeh' keine Thorheit, wilde Tochter! Wenn dieser gewöhnliche Mensch so viel Verstand hat, wie Gelbsattel an ihm fürchtet, so könnte er mich, wenn er dich liebt, zum Schwiegervater eines Millionairs machen ...

Wie er so sinnend stand, brachte Bartusch Papiere zum Unterschreiben und meldete zugleich, daß ihn Lasally zu sprechen wünsche ....

[944] Lasally? sagte Schlurck gezogen. Er wird mich doch nicht zum Anwalt seines albernen Prozesses gegen Hackert, den Ihr mir erzählt habt, machen wollen? Er soll zu meiner Frau gehen und heute einen Löffel gewärmter Suppe mit uns speisen. Gewärmt! Dahin kommt es auch noch! Melanie wird hoffentlich nicht zu lange bleiben. Die Papiere wollen wir in meinem Zimmer unterschreiben. Mühseliger Tag! Er wiegt schwerer als seit lange einer, und doch gehört er zu denen, die ich in anderm Sinne als Kaiser Titus einen verlornen nenne!

Bartusch ging zur Justizräthin, bei der Lasally schon wartete.

Schlurck stieg mismuthig die Wendeltreppe hinunter in sein Zimmer zum Abschluß der Verhandlung mit Ackermann, die seit lange seine schmerzlichste Erfahrung war. Etwas Halbes war ihm ... Nichts.

[945]
10. Capitel. Die Ganzen und die Halben
Zehntes Capitel
Die Ganzen und die Halben

Eine Werkstatt der zeichnenden Künste mußte so gebaut sein wie die des berühmten Professors Berg, um neben der Bestimmung, dem Künstler Gelegenheit zu ungestörtem Fleiße zu geben, auch als ein freier Tummelplatz heitrer Laune und scherzhaften Gespräches dienen zu können.

Der große Anbau seines italienischen Hauses war eine Halle, massiv gebaut, aber doch in Form jener antiken Bauart gehalten, die den Ursprung aller Architektur aus zusammengelegten Blöcken durch bunte Malerei, Vergoldung und Zierrath aller Art nicht verbergen will. Schimmerte auch die Decke nicht in goldenen Verzierungen, so wurden ihre Balkengevierte doch durch Farbenschmuck aller Art sehr frisch gehoben. Die Form der Halle war eine dreitheilige. Drei große nach Norden gehende Fenster warfen das der Malerei nöthige Licht in den gewaltigen Raum, der durch zwei von der halben Decke herabgehende schwere grüne Vorhänge in zwei kleinere und eine größere Abtheilung getrennt war. Ließ man die wuchtigen Vorhänge zufallen, so waren die hinter [946] ihnen beschäftigten Maler voneinander getrennt. Standen sie offen, so gewährten sie die Möglichkeit einer gemeinschaftlichen Unterhaltung durch das ganze Atelier.

In dem ersten Drittheil saßen einige Schüler und Anfänger, in dem großen Zwischenraum die selbständigen jüngern Kräfte, die sich um Professor Berg scharten, im dritten war dieser selbst beschäftigt.

Die große Südwand, ganz massiv, war in pompejanischem Geschmacke gemalt. Die rothe Farbe hatte in dem bunten Gemisch den Vorrang.

An der Ostwand war der doppelte Eingang, einer von unten her und einer oben von der Altane, die das erste Stockwerk des Hauptgebäudes mit dem Atelier verband. Auf der Hälfte der Stiege, die von oben her kam, schloß sich ihr von unten herauf eine andere an, die in einer langen hölzernen, mit grauer Ölfarbe gestrichenen Brücke endete, die durch das ganze Atelier ziemlich nahe an der Südwand sich hinzog – diese Brücke diente für große Gemälde, welche von dem Fußboden aus nicht gemalt werden konnten. Hier und da ließ sie sich auseinandernehmen und auf Rollen nach Belieben vor große Cartons oder Ölbilder vorrücken. An der Westwand, im engern Atelier des Professors Berg, waren sehr geschmackvolle Frescoverzierungen angebracht. Zwischendurch standen Statuen, meist von einem Blumenetablissement umgeben. Die Teppiche und Wandsophas, die ursprünglich in der ganzen Halle anzutreffen waren, hatten sich nur noch in dem engern Raume des Lehrers in dem eleganten [947] Zustande erhalten, wie ursprünglich dieser ganze kleine Kunsttempel gedacht war. Hier fanden sich noch Stühle und Polster, die man den Fremden anbieten konnte. An den andern Punkten hatte jugendliche Zwanglosigkeit schon mancherlei Zierrath für seine Bestimmung untauglich gemacht, zum großen Ärger des mit Überwachung dieser Räume beauftragten Dieners. Auch die großen mit Steinkohlen nur heizbaren Öfen hatten sich im Winter schon mit manchem anschwärzenden Protest gegen den Traum eines sich hier nach Italien versetztglaubenden Idealisten geltend gemacht. Die parkettirten Fußböden waren selbst beim Professor nicht recht wieder zu erkennen und trugen alle Merkmale, daß der wahre Künstler, wenn er einmal in die freie Ausbildung seiner Herrschaft über Kreide und Farbe geräth, an äußere Eleganz und fashionable Bestimmung nicht mehr denkt.

Siegbert arbeitete im Mittelraum.

Nicht weit von ihm Leidenfrost.. Neben diesem ein junger schöner schlanker Mann, Namens Heinrichson, derselbe, dem zu Gefallen Frau von Harder den Ankauf zweier Schwäne aus Island für die königlichen Gärten veranlaßt hatte. Neben ihm stand jener Ofenschirm, hinter welchem Frau von Trompetta die Bewegungen jenes Schwanes, der Jupiter vorstellen sollte, und seine Angriffe auf eine hölzerne Figur, die die Leda sein sollte, mit so vieler Angst beobachtet hatte ...

Dann kam ein junger Maler, Namens Reichmeyer, ein Verwandter des Bankiers von Reichmeyer.

[948] Diese vier Maler arbeiteten in der mittlern Halle.

In der Vorhalle standen drei oder vier Schüler.

Der Raum, den Berg allein einnahm, war noch mit einem kleinern, von Tapeten gebildeten oben offenen Cabinet versehen für die Aufnahme lebender Akte.

Siegbert, Leidenfrost, Heinrichson und Reichmeyer waren in einem Gespräche begriffen, wie man es mit Unterbrechungen, langen Pausen allenfalls bei mechanischgeistiger Production doch führen kann. Sie hatten vom Morgen an stark an größern Arbeiten geschafft und nahmen jetzt gegen Mittag leichtere vor, die wol erlaubten, daß dann und wann ein Scherz die gesammelte Stimmung durchkreuzte, die vielleicht gerade mit etwas vorher schon ernst Bedachtem beschäftigt war.

Siegbert arbeitete an seinem Albumblatt für Frau von Trompetta.

Die drei andern Maler standen eben hinter ihm und wollten wissen, was er in's Gethsemane »stiften« würde.

Man sah noch in schwachen Andeutungen eine orientalische Gegend ... Palmen, Felsgestein, Ölbäume. Am Boden ein schlafender Christus ... Vor ihm eine noch nicht fertige undeutliche Figur ... Negerknaben mit Fackeln ... In der Ferne ein Kameel mit Dienern.. Andeutungen am Horizont zufolge, die auf Sterne rathen ließen, sollte die Beleuchtung Nacht sein.

Ist das unklare Menschenbild da vielleicht, sagte Max Leidenfrost, eine kleine Figur mit zusammengetrockneten, sogenannten Silen- oder Sokrateszügen, ist Das [949] vielleicht einer von den heiligen drei Königen, der nach dreißig Jahren einmal wieder nach Jerusalem kommt, um den inzwischen stattlich herangewachsenen Heiland zu sehen? Er scheint sich recht zu verwundern, wie die kleinen Kinder mit der Zeit so aus Krippen herauswachsen können..

Siegbert antwortete, indem er mit dem Gummi die Negerknaben etwas corrigiren wollte:

Diese Jungen tragen Fackeln, um in die Nacht eine Art Rembrandt'scher Beleuchtung zu bringen. Die schwarzen Mohrenjungen hätten sich unter den Fackeln so prächtig ausgenommen ... sie kommen auch nicht fort.

Nein, Nein! sagte Heinrichson und hielt die Hand mit dem Gummi zurück, nicht zu rasch mit dem Ändern und Vertilgen! Ein vernünftiges Motiv muß man nicht so bald aufgeben. Leidenfrost's Idee scheint nicht einmal die rechte zu sein. Ich glaube nicht, daß Sie der Frau von Trompetta humoristische Witze in's Album malen wollen, die sich nicht biblisch rechtfertigen lassen ...

Wäre denn Das blos ein Witz, fragte Leidenfrost, wenn einer von den drei Königen einmal wieder einen Besuch in Galiläa machte? Könnt' er Jesus nicht gesagt haben:

Braver Mann, ich hielt so viel von Ihnen, aber Sie sind auf dem Wege sich in's Unglück zu stürzen! Sie wollen eine neue Religion stiften und ich komme, weil ich mir etwas Anderes in Ihnen vermuthete, expreß aus Indien, um Ihnen zu sagen, daß wir dort einige noch recht gute alte Religionen haben! Die beiden Mohrenjungen mit den [950] Fackeln würden eine treffende Symbolisirung der näheren Aufklärung über diesen Gegenstand sein ... Lesen Sie die Zendavesta und die Vedas, meine Herren! Selbst Gützlaff gesteht, daß Confucius kein Confusius war.

Ich vermuthe eher, sagte Reichmeyer, der an Eleganz mit Heinrichson wetteiferte trotz der Atelierüberhemden, die sie trugen; ich vermuthe eher, daß wir einen Abgesandten des Hauptmanns von Capernaum vor uns haben, der Jesus zu seinem Herrn beruft. Der Heiland versichert ihm, daß er das Wunder bereits verrichtet hätte, er möge nur nach Hause gehen und sich schlafen legen ...

Nein, meinte Leidenfrost trocken ohne die Miene zu verziehen, ich kann nimmermehr glauben, daß diese hohe, stattliche Figur, die ich da vor dem Heiland entstehen sehe, ein Unteroffizier oder eine Ordonnanz ist. Ich will dem militairischen Geiste der Juden nicht zu nahe treten, aber so stattlich war doch wol die Rekrutirung ...

Ich glaube, unterbrach Heinrichson diese frivolen Späße, ich glaube, daß sie gar kein Kriegsheer hatten und daß der Hauptmann von Capernaum ein römischer Centurio war. Die Mohrenjungen sind dann schon eher angebracht. Man könnte annehmen, daß dieser römische Hauptmann aus jener Armee hervorgegangen ist, die schon unter Antonius bei der Cleopatra afrikanische Luxusstudien machte..

Mein Himmel, unterbrach Siegbert, dem des Spottens und Schraubens doch am Ende zu viel wurde, diese für zwei Maler, die auf einige Ausstellungen schon Heiligenbilder [951] geliefert hatten, charakteristischen Äußerungen, mein Himmel, welche Verwirrung über die Auslegung einer sehr einfachen und, wie ich fast glaube, nicht genug ansprechenden Idee! Ich will ja nichts Anderes, als hier in einfacher Tusche die Thatsache wiedergeben: Nicodemus kommt zum Herrn bei der Nacht. Hier schlafen unter freiem Himmel die Jünger, von denen nur einige sichtbar sind. Christus wachend hat sich erhoben und empfängt den nächtlichen Besuch des vornehmen Pharisäers, der, von innerster Achtung vor dem Religionswerke des Heilands durchdrungen, doch noch nicht den Muth hat, ihn öffentlich zu bekennen. Die beiden Mohrenknaben leuchten ihm in den Garten. Hinten steht das aufgezäumte Kameel, auf dem er aus der Stadt gekommen, nur von einigen vertrauten Dienern begleitet. Auch diese wie die Mohrenknaben wollt' ich in ehrerbietiger Andacht erscheinen lassen. Hinten ganz fern sieht man die Zinnen von Jerusalem.

Sehr schön! rief Heinrichson mit einer gewissen gentlemanliken Herablassung. Die Skizze ist würdig, in Öl ausgeführt zu werden. Wie herrlich diese Beleuchtung durch die Sterne und die Fackeln! Schon seh' ich, daß Sie beabsichtigen, das rothe Licht grell auf die schlafenden Jünger fallen zu lassen. Es kann ein recht sanftes Leben in das Ganze kommen! Diese Nachtstille, diese schlummernde Pflanzenwelt! Und dabei das heilige Wachen des Glaubens und die feierliche Beherrschung der schlummernden Natur durch die Macht des Geistes! Ich sehe das Blatt schon [952] fertig vor mir und verspreche Ihnen davon eine gute Wirkung ...

Auch Reichmeyer stimmte dem feinen und so ausnehmend wohlwollenden Urtheile Heinrichson's, das Siegbert fast stutzig machte, bei und nannte das Ganze einen »guten Gedanken«. Doch tadelte er die Mohrenknaben.. Siegbert hätte selbst schon angedeutet, daß diese Vermuthung auf Abwege führen und für nicht echt jüdisch gehalten werden könnte. Die Juden hätten niemals solche Sklaven gehabt ...

Ach was! rief Leidenfrost. Welcher Künstler wird sich denn an solche Niemals! Niemals! kehren? Wir haben auch keine Sklaven und doch Jockeys und wer sich einen Neger halten kann und die Kreuzung der Racen unter seinem Gesinde nicht fürchtet, der läßt sich gerade von einem Neger dahin begleiten, wo einheimische Bediente vorlaut und unzuverlässig sind. Bleiben Sie ja bei den Negerknaben, Wildungen! Auch bei dem Kameel! Die alten Italiener waren darin ja so prächtig ungenirt. Auf Paul Veronese's großen neutestamentarischen Scenen kommen alle die Neger vor, die man in den Häusern der vornehmen Venezianer damals herumlaufen sah, Papageyen und Affen, wie sie einmal zur orientalischen Anschauung gehören ...

Siegbert, ermuthigt durch diesen Beifall und sonst schon den ganzen Vormittag in aufgeregter Laune, fiel mit den heitern Worten ein:

Die Negerjungen lass' ich schon der Frau von Trompetta [953] wegen. Sie werden ihr die traulichsten Missionsgedanken wecken.

Heinrichson und Reichmeyer lachten über diesen Einfall.

Leidenfrost trat nun näher, betrachtete noch lange die Skizze und sagte endlich:

Bedenklicher freilich, bester Freund, ist der geistige Ausdruck Ihrer Skizze! Sie wollen doch gewissermaßen sagen: Seht da Einen von Denen, die nicht den vollen Muth ihrer Überzeugung haben! Nicodemus hat einen Anflug von Christi göttlicher Sendung empfangen, er fühlt, daß dies der verheißene Messias ist und hat doch nur den Muth, bei Nacht zu ihm zu kommen! Ich bin begierig, wie dies Urtheil des Künstlers herauskommt! Denn urtheilen dürfen wir doch? Nimmermehr werd' ich die feigen Pinsel anerkennen, die nur die Thatsache geben wollen und das Urtheil dem Beschauer überlassen. Der Künstler soll Partei nehmen, wie es die Alten thaten. Die Alten malten im Glauben. Der Glaube war ihnen Partei. Der Zweifel konnte nichts malen, er sah nur auf Effecte, wie es seit Guido Reni, Carlo Dolce und meinem sonst prächtigen, theatralischen Guercino Mode wurde. Die Neuen haben keinen Glauben und auch keinen rechten Zweifel; gut! sie sollen nur gerecht sein und geschichtlich und wahr. Sie mögen eine Thatsache einfach hinstellen, aber dann doch so gruppirt, daß sie verrathen, sie hätten selbst darüber nachgedacht und empfänden etwas über ihr Bild, irgend eine warme Überzeugung. Wie [954] kommt mir nun hier, bester Wildungen, die Erbärmlichkeit dieses Nicodemus zur Anschauung, der nur bei Nacht den Muth hat, ein Christ zu sein? Zeigen Sie mir diese seine Erbärmlichkeit! Diesen Augenspiegel unserer ganzen Gegenwart!

Ich weiß zunächst nicht, antwortete Siegbert, die ästhetische Tendenzfrage fast vermeidend, soll ich ihn sehr reich oder recht arm kleiden? Das Erstere würde im Einklang zu seinen Dienern und den geschmückten Kameelen stehen, das Letztere aber gerade durch den Contrast mit diesen Umgebungen andeuten, daß er demüthig und voll Reue ist und seines Prunkes sich begeben will. Jesus sagt ihm ohnehin, es könne Niemand selig werden, der nicht in den Schoos seiner Mutter zurückkehre und von neuem geboren würde. Arm aber oder reich gekleidet denk' ich doch, daß hier die einfache Thatsache ihre Auslegung in sich selber trägt. Wie sollt' ich hier mein Urtheil anbringen, ohne nicht in Gefahr zu gerathen, den Frieden der Situation zu stören? Sie möchten den Nicodemus mit dem Pinsel gern geißeln, Leidenfrost! Geht Das?

O! rief dieser, prügeln möcht' ich ihn und nicht blos mit dem Pinsel!

O nein! fuhr Wildungen lachend fort, bleiben wir in der Welt meines Tuschkastens! Liegt nicht in des Heilands ernstem Blicke schon die ganze versöhnende Kritik seines nächtlichen Besuches? Wird Nicodemus nicht demüthig zur Erde schauen müssen und sich verneigen mit gekreuzten Armen, wie der Andächtige vor dem Crucifix?

[955] Versöhnt Das nicht? Und er kommt ja doch! Er folgt ja doch zu irgend einer Stunde dem innern Rufe, wenn auch nur bei Nacht! Er büßt doch seinen Fehler dadurch, daß.. er ihn büßt! Mehr als das bloße »Doch kommen«, »doch dem innern Drange Erliegen« mehr würde Strafe sein, unmöglich vorauszusetzen in der Absicht des Erlösers. Ich theile wie Sie den Zorn über die täglich uns begegnenden Menschen, die nicht den Muth ihrer Überzeugung haben, aber ich gestehe, ich habe mit der schwierigen Lebensstellung eines Pharisäers, wie Nicodemus, soviel Mitleid, daß ich ihn liebe, voll Wehmuth liebe, liebe seiner Schwäche wegen. Und gestehen Sie doch, wenn ein reicher Mann und gefeierter Schriftgelehrter zum Herrn kommt, ist's doch wol etwas mehr, als wenn arme Fischer und Handwerker von vornherein sich gleich zu ihm hielten?

Hm! brummte Leidenfrost. Zumal wenn man bedenkt, daß die Tausende von Müssiggängern, die diesem galiläischen Wanderprediger nachliefen, sich manchmal, um satt zu werden, mit fünf Broten und zween gebacknen Fischen begnügen mußten ... Gut! Gut, Wildungen! Malen Sie Ihren Nicodemus, zu deutsch: Ihren Herrn von Volksbezwinger so, wie er für die fromme, weichmüthige Welt paßt und im Gethsemane gewiß bei Hofe großen Effect machen wird.. schon der Fackelbeleuchtung wegen.. Aber, wenn ein Anderer einmal den Gegenstand ergriffe ...

Schweigen Sie endlich! rief Heinrichson nicht ganz im [956] Scherz. Ihre verdammte Ideenfülle, Leidenfrost, macht uns noch Alle confus! Wenn wir einen guten Gedanken zu haben glauben, so setzen Sie immer noch einen Trumpf darauf und bringen uns in Verwirrung ...

Reichmeyer stimmte dieser Bemerkung kräftigst bei und wünschte die Kritik zu allen tausend Teufeln ...

Malt was Ihr wollt! sagte Leidenfrost kurz und bündig und kehrte zu seiner Staffelei zurück, auf der er architektonische Prospecte angefangen hatte.

Siegbert aber fuhr ungestört und nicht im geringsten zürnend in seiner Bleistiftskizze fort.

Wie kann Euch aber, sagte er, nachdem Alle wieder an ihre Arbeiten gegangen waren, zu den beiden zürnenden Genossen, wie kann Euch eine fremde Auffassung nur irre machen! Ihr wißt, daß ich mit dem Namen des Künstlers nicht so oft um mich werfe, wie so viele Pfuscher unserer Kunst; aber darin hab' ich mich wirklich doch als Künstler weg, daß ich nicht von jedes Andern Idee so rasch ergriffen werde, um aus meiner eignen Anschauung, aus dem mir nothwendigen Leben des Gemüths und den Grenzen meiner Phantasie herauszukommen. Ich wünschte gerade, daß Leidenfrost aufrichtig sagte, wie er diesen Stoff behandeln würde! Was thut Das? Ich müßte mir vor kommen, als wäre meine Malerei mein Elend und Jammer, wenn ich vor der Ideenwelt der Andern immer gleich erschräke!

Diese Meinung theil' ich nicht, sagte Reichmeyer. Hat man von einer andern Auffassung den Effect erkannt, so [957] bin ich der unglücklichste Mensch, wenn ich bei meiner eignen, die vielleicht nüchterner ist, bleiben muß ...

Diese Empfindung, antwortete Siegbert, haben Sie nicht aus Italien, sondern aus Paris mitgebracht. Sie Glücklicher, Sie hatten die Mittel, auf Reisen zu gehen und wählen Paris für Rom und Florenz! Was haben Sie bei Vernet und Delaroche gelernt? Vortreffliche Farbenzusammenstellungen, rasche Pinselführung, aber auch eine knechtische Verehrung vor dem Götzen Effect, den Ihnen unser guter treuer Eckart der Kunst, Professor Berg, nicht wieder austreiben kann. Ihr seid die wahren Eklektiker der Kunst! Ihr malt die Heiligen, die Griechen, die Fischerknaben, die Betteljungen, die Grenadiere, Alles durcheinander, wenn sie einen brillanten Moment abwerfen, wie Schauspieler, denen jede Rolle, jeder Geschmack recht ist, wenn sie nur Gelegenheit finden, sich darin als Virtuosen zu zeigen.

Die Deutschen malen langweilig, sagte Reichmeyer kurzweg. Jeder denkt, wenn er sich selbst gegeben hat, wär' er ein Poet mit dem Pinsel. Das ist eine alte Sage, die von unsern Akademieen und den bezahlten Professoren noch aufrecht erhalten wird. Aber die Geldbeutel der Käufer glauben nicht mehr daran. Sehen Sie nur zu, lieber Wildungen, was geschehen würde, wenn man von unsern königlichen Frescomalern ihre Nibelungensuiten, nach der Elle gemessen, auf den Markt brächte; wer würde viel dafür geben, auch wenn er die Wände hätte, diese schöngezeichneten bunten Tapeten passend aufzukleben!

[958] Drum Dank dem Himmel, antwortete Siegbert, daß noch Möglichkeiten sind, die Kunst von der Liebhaberei des Privatgeschmackes frei zu halten! Sagen Sie nicht, ein Fürst, der auf große Bauten viel verausgaben kann, folge in ihrer Ausschmückung doch auch nur den Eingebungen seines Privatgeschmackes! Nein! Wir mögen über Geschmacksrichtungen streiten, soviel wir wollen, eine Kirche bringt ihren eigenen Geschmack mit sich, ein Königspalast gleichfalls, eine offene große Halle gleichfalls. Jede Anknüpfung der Kunst an große Institutionen veredelt das versteckte Gelüste der Privatliebhaberei und könnten wir es dahin bringen, daß alle Anknüpfungen der Künste noch, wie in alten Zeiten, großartige, allgemeine, vom ganzen Staatsleben unterstützte wären, so würden wir aller Willkür der Kritik, aller Anarchie der Production überhoben sein und Das malen, dichten, meißeln, componiren, was die Zeit wirklich will und was sich für das Allgemeine und die Würde der Kunst schickt.

Ein wahres Wort! mischte sich jetzt wieder Leidenfrost beistimmend ein. Ja! Wildungen, Sie sind auch so ein Nicodemus, der nur manchmal bei Nacht in den Hof der Wahrheit kommt! Sie wissen das Bessere und handeln nicht immer darnach, von Heinrichson und seinem alten mythologischen Schwäne-Kram und Reichmeyer's Melodramen-Malerei ganz zu schweigen! Ich habe Sie gestern mit Champagner gelabt, ich darf Ihnen heute Wermuth reichen. Wenn Ihr wahr sein wollt, gibt es eigentlich keine ideale Malerei mehr, es gibt nur noch Landschaften, Jagdstücke, [959] Portraits und auch die sind schon verdrängt durch die Lichtbildnerei. Die wahre Bestimmung der neuern Malerei ist Zimmerschmuck, und in allen andern Bestimmungen erblick' ich nur Krücken, auf denen sie nothdürftig so dahinhumpelt! Kirchengemälde! Wer baut denn Kirchen aus Kirchendrang? Sind denn Kirchen nöthig? Schmelzen nicht alle Gemeinden der positiven Staatskirche so zusammen, daß sie in einem mäßigen Saale Platz hätten? Und die Dissidenten, die Sektirer, die eigentlich Frommen wollen keine Bilder. Um die paar Kirchen, die der Gustav Adolf-Verein bauen läßt, wird man doch nicht sagen, daß noch das Kirchenbauen an der Zeit ist! Cornelius mit seinem ganzen jüngsten Gericht ist eine alte Reliquie von Anno Schwartenleder. Da sind wol mehr Gedanken sichtbar als bei Rubens mit seinen dicken zu Gnaden angenommenen Blondinen und den alten wasserbäuchigen Sündern, die von den Teufeln gepiesackt werden; ja, Cornelius hat Kohlrauschen's deutsche Geschichte gelesen und weiß, wer Segestes war und Rubens hat nicht den Kohlrausch gelesen ... aber die ganze Geschichte mit den jüngsten Gerichten und den Posaunenengeln und den Zornschalen ist alte Schweinsschwarte. Die Narrenspossen! Und nun Gott Vater, Gott Sohn, Gott der heilige Geist und solches bunte Farben-Gepinsel mehr! Sind denn Ruhmeshallen an der Zeit? Was ist denn Ruhm? Ein König setzt sich zu Gericht und sagt, was Ruhm ist! Ich will ein Volk sehen, das seine Kränze durch millionenfache Acclamation austheilt und was erleb' ich, Den, den ein [960] paar Tausend bewundern, wollen ein anderes paar Tausend mit Koth bewerfen! Ehe nicht unsre ganze Gesellschaft geändert ist, ehe nicht die Herrschaft des Volkes entschieden hat, was heutzutage noch die Schultern des Menschen tragen, seine Hirnfasern glauben können, ist alle Kunstpflege Spittalsuppe. Der thut fromm und mischt seine Farben statt in Öl in Thränenwasser der Andacht, wie Sanct Fiesole; der malt lange Hünen und ausgereckte Recken, die Cuvier zu Mammuthszusammensetzungen hätte benutzen können, zu präadamitischen Zeuglodons; der liebäugelt mit dem allgemeinen Begriff des Schönen und lockt sich ein Situatiönchen aus einem Gedichtchen oder einem Märleinchen hervor – und das Gequängel und Gepimpel wird noch dazu von einem ebenso confusen Geschmacke bezahlt, beliebäugelt ... und doch jammern die Herren, daß diese Sachen nicht das Evangelium sind und die Menschheit ummodeln können! Mit den Dichtern und Componisten ist es fast ebenso! Alle leiden daran, daß unsere Zeit erst zu einer neuen Herrschaft großer Thatsachen im Durchbruch liegt, Alle klammern sich an Vergangenes und machen sich eine künstliche Bildung, weil für eine natürliche und zeitgemäße die Anknüpfungen fehlen. Oft denk' ich: Käme nur einmal ein rechtes Wetter und übergösse Alles mit Hagel wie Quadersteine so groß, was jetzt prangt und sich brüstet! Auch die Kalmücken nähm' ich zu dem Ende mit Vergnügen an, wenn sie nur Alles kurz und klein hackten wie die Türken in Alexandria, die nichts leben ließen als den Koran.

[961] Unser ganzes Zeitalter ist ja ein solches buchmäßiges und schriftgelehrtes, wie es das alexandrinische war ...

Heinrichson war über diese Humoreske sehr unwillig. Er nannte sie geradezu eine outrirte Barbarei und warf Leidenfrost vor, daß er sich in auffallenden Behauptungen gefalle, die an burschikose Renommisterei grenzten..

Sie wissen nicht recht, Leidenfrost, sagte er mit seinem feinen, spitzen Tone, welcher Stimme Ihres Innern Sie folgen sollen! Bei uns Malern sprechen Sie wie ein Maschinenbauer und wenn Sie hinausgehen in die große Willing'sche Maschinenfabrik und dort Modelle zeichnen, so werden Sie da gewiß wieder von schönen, idealischen Formen reden und hoffentlich die Lokomotiven mit häßlichen Tintenfässern vergleichen, ja nicht einmal mit diesen, sondern mit plumpen, chemischen Zündfeuerzeugen oder Apothekerbüchsen für Pferdecuren. Ich wette, daß Sie eben im Begriff sind, einen neuen Hebebaum zu erfinden und wenn er gut ist, wird der Königshasser die Demüthigung erleben, daß man ihn beim Kölner Dom in Anwendung bringt.

Aha! rief Leidenfrost und pfiff die Marseillaise.

Die Politik, sagte Siegbert zur Vermittlung, die Politik, lieber Heinrichson, spielt doch auch sehr in diese Fragen hinein! Sie sind conservativ und haben Ursache dazu. Ein Maler, dem man zu Gefallen echte isländische Schwäne vom König ankaufen läßt, würde undankbar genannt werden müssen, wollt' er demokratische Auffassungen theilen. Diese Gêne macht ja leider uns Alle so [962] zahm und verpflichtet uns. Dennoch gibt es Demokraten unter uns. Auch Reichmeyer ist Demokrat, solange die Demokratie sich nicht auf communistischen Gelüsten ertappen läßt. Leidenfrost schüttet aber das Kind mit dem Bade aus und ist in seinen Irrthümern um so gefährlicher, als er selbst die Geheimnisse unsrer Kunst kennt und in Weihemomenten noch Glauben genug an sie besitzt, sie in seinem Sinne zu üben. Warum wollen wir in der hereinbrechenden Barbarei des Materialismus die Flucht ergreifen? Warum die Fahne Rafael's und Dürer's im Stich lassen und zu den Fabrikarbeitern und Nützlichkeitslehrern übergehen! Auch ich fühle für die praktischen Bedürfnisse des Volkes und die Nothwendigkeit, Alles zu bekämpfen, was die Tyrannei des alten Systems aus der Kunst entlehnt, um sich zu schmücken und scheinbar als Blüte der Humanität darzustellen, aber ...

Nun, rief Leidenfrost, nun? Sie sagen da etwas Entsetzliches, Wildungen! Sie stocken schon! Die Tyrannei entlehnt aus der Kunst, um sich zu schmücken und sich scheinbar als Blüte der Humanität darzustellen.. schlagendes Wort! Bricht diese nichtswürdige Lüge aber nicht der Kunst den Hals für immer?

Nein, sagte Siegbert ruhig, sie beschämt nur die Tyrannei. Die Kunst selbst kann, darf nicht leiden unter ihrer falschen Anwendung. Der Sinn für das Ideale darf nicht aussterben, die neidische Feindschaft gegen das Schöne nicht gehegt und befördert werden. Sagen Sie selbst, Leidenfrost, in unserm neuen Freunde, dem liebenswürdigen [963] Franzosen Louis Armand, liegt nicht bei all seiner Vortrefflichkeit und seiner warmen Empfindung für die Leiden des Volkes etwas in ihm, was man einen mangelnden sechsten Sinn, den der Schönheit nennen könnte?

Fünf Sinne brauchen wir nur! antwortete Leidenfrost trocken.

Reichmeyer fragte noch einmal nach dem Namen des Franzosen, den er eben erwähnt hörte..

Louis Armand! wiederholte Siegbert.

Louis Armand aus Paris? Ich kenne einen Vergolder dieses Namens, der dicht an Delaroche's Atelier wohnte.

Heinrichson, dem das Gespräch zu politisch wurde und es darum auf Anderes lenken wollte, sagte:

Gewiß, derselbe, oder ein Agent seines Geschäftes, der sich hier niedergelassen hat. Man rühmt die Proben seiner Gemälderahmen und hat Vieles bestellt ...

Er hatte in Paris ein bescheidenes, aber gesuchtes Geschäft, ergänzte Reichmeyer. Das ganz Landhaus einer vornehmen Dame, der Gräfin d'Azimont, sah ich ihn einmal mit Spiegeln auslegen, wo er vielen Beifall erntete. Ich habe einige enkaustische Sachen für diese Einrichtung gemalt ...

Heinrichson verstand Reichmeyern und merkte die Absicht, daß er ihm behülflich sein wollte, den politischen Faden abzuschneiden, den er nicht verfolgen wollte, da er ein leidenschaftlicher Anhänger des Bestehenden war und nur mit Vornehmen umging.

Ein Handwerker, sagte er, der von Künstlern lebt,[964] sollte gegen die Künste dankbarer sein. Ich finde es sehr komisch, Gemälderahmen zu machen, Spiegelpaläste zu zaubern und gegen Gemälde und den Luxus überhaupt, wahrscheinlich als Sozialist, zu polemisiren. Apropos! Die Gräfin d'Azimont..

Tragisch ist Das, bester Heinrichson, unterbrach Siegbert, der, wenn er einmal in Erregung war, von seiner Glut für die richtige Überzeugung nichts vergab und nun nicht dulden mochte, daß Heinrichson zu der ihm völlig gleichgültigen Gräfin d'Azimont ablenkte. Tragisch find' ich Das, wiederholte er, wenn ein Mann, der in seiner Theorie etwas haßt, in der Praxis davon zu leben gezwungen ist. Erinnern Sie sich, Leidenfrost, wie erschüttert Armand war, als er zufällig auf jenen Spiegelpalast zu sprechen kam. Sagte er nicht, daß er dort den Prinzen Egon kennen gelernt hätte?

Nein, berichtete Leidenfrost, er hat ihn dort nur nach früherer Bekanntschaft in Lyon wiedergefunden.

Wohl! fuhr Siegbert fort. Aber darin müssen Sie mir Recht geben, daß unserm Armand doch ein gewisser höherer Sinn fehlt für das Schöne, das Träumerische und Ideale in unserm Sinne. Ich gebe zu, daß man im Schweiße seines Angesichts, vom untersten Schmuze der Arbeit niedergezogen, nicht im Stande ist, sich zu einer reinen und heiteren Auffassung auch der Dinge aufzuschwingen, die zunächst keinen handgreiflichen Nutzen tragen. Aber aus dem Nichtvermögen entstand hier auch das Nichtwollen. Sie verwerfen die Kunst als Ausgeburt des Luxus [965] diese Communisten! Und kann man im Grunde den Ursprung der meisten Kunstwerke in etwas Anderem, als in der Leidenschaft für den Luxus finden? Solange noch dem Überflüssigen die jammervolle Nichtbefriedigung des Nothwendigen gegenüber existirt, solange ist auch die Kunst zur Gesellschaft schief gestellt. Wer die Kunst selbst anfeindet, weil sie überhaupt da ist, ist ein Barbar. Wer aber begehrt, daß die Kunst aus andern Beweggründen da sein solle, als nur in Folge der ungleichen und grausamen Eintheilung der Gesellschaft, dem muß ich Recht geben und halte ihn für einen um so größeren Menschenfreund, je mehr er die Kunst selber liebt. Jetzt sind wir die Sklaven der Reichen! Jetzt liegt an jedem Pinselstriche, den wir über die Leinwand ziehen, der Fluch des Elends der Gesellschaft! Wer sich damit tröstet, sich zu den Vornehmen, zu den Begüterten zu halten und in der Bezeichnung eines Reactionärs für sich etwas Ehrenvolles findet, der mag malen, dichten, componiren und von der Gunst der Großen Tausende verlangen, um seine Schöpfungen beim hellsten Lichte in's Leben treten zu sehen. Ich kann nicht zu diesen Glücklichen gehören. Ich möchte, daß die Kunst etwas Nothwendiges wäre und der Staat selbst, der durch die Volkssouveränetät frei gewordene Staat, sie mit in seine Sphäre aufnähme. Welch ein Gefühl, zu schaffen für eine Nation! Welche Wonne, mit seinem Talent einem großen, schönen Ganzen zu dienen! Nicht Aufdringling mehr, nicht geduldeter Sklave der Reichen, beschützter Schwächling, den die Tyrannen in ihre Obhut [966] nehmen müssen; nein, ein Priester des Volkes, berufen und geweiht vom Genius des Vaterlandes! Welche Bilder, welche Gedichte, welche Gesänge sollten dann entstehen! Wie würde die schwache Kraft des Einzelnen wachsen und mit Adlerschwingen emporfliegen! Wie würde Feindschaft, Isolirung, Geschmacksanarchie weichen und Alles zu Gesammtschöpfungen sich vereinigen, da hinfort nicht mehr aus uns die Willkür, sondern die Idee selbst herausbricht und in duftende, bunte Blüten schießt! Jetzt leben wir versteckt, fast, wie Lessing's Maler sagt, vom Diebstahl der Natur; dann würden wir geborne Krösusse sein und die Natur zu bereichern scheinen!

Heinrichson schickte sich nach diesen Worten an, zum Zeichen des Aufbruchs seine Pinsel zu reinigen,.. eine lästige Arbeit, mit der die Maler, wenn sie in Öl arbeiteten, ihr vormittägiges Tagewerk beschlossen. Des Nachmittags kamen Wenige in das Atelier, so anziehend auch die Kühle des Raumes war ...

Reichmeyer aber lobte diesmal zu Heinrichson's Ärger Das, was Siegbert gesagt hatte. Nur bedauerte er, daß man selbst in Frankreich, wo doch das nationale Leben am unmittelbarsten in jedem Einzelnen sich wiederfände, es nicht dahin hätte bringen können, die von der Regierung selbst beschafften künstlerischen Bestellungen ohne Neid von den Künstlern, die leer ausgingen, betrachtet zu sehen. Indessen fügte er hinzu, ist es doch immer erhebend zu beobachten, wie die gewöhnlichsten Bauern und Handwerker durch das Museum von Versailles wandern [967] und sich die Heldenthaten der französischen Nation von Chlodwig bis zu den Feldzügen in Algier betrachten. Auch die Theater und sogar die Literatur sind in Paris weit mehr Volkssache als bei uns, und Niemand murrt darüber.

Und doch noch Alles zu sehr Spekulation, sagte Siegbert, zu sehr Willkür des Einzelnen!

Mein Freund Wildungen, nahm Leidenfrost in seiner ruhigen kaustischen Weise die Erörterung auf, mein Freund Wildungen will Griechenland wiederherstellen und weiß nicht, was er da erst Alles abschaffen müßte. Ich will von unsern zwanzig Grad Reaumur im Winter nicht sprechen. Man hat bei uns die Kirchen gebaut, ohne Rücksicht auf das Klima, rein aus Nachahmung der warmen Gegenden, die die Wiege des Christenthums waren! Aber dies Christenthum selbst ist seinen Plänen im Wege. Gerade dieser Religion verdanken wir die gänzliche Unmöglichkeit, die schönen Künste irgendwie anders in den Staatszweck einzuführen, als wir sie jetzt haben. Schafft uns erst die Verachtung der Welt, die mönchische Isolirung, den Miskredit des absolut Schönen, die Zweideutigkeit alles Formenreizes ab, und hernach wollen wir mit der Menschheit sprechen! Das macht sich aber nicht. Apollo steht auf dieser Wolkenschicht und Christus auf der andern. Die Menschen fallen nicht dort, sondern hier nieder, nicht vor dem schönen griechischen Gotte mit den menschlich vollendeten Gliedern, sondern vor dem ernsten, strengen verhüllten Lehrer der Entsagung! Die [968] Tugend und Enthaltsamkeit ist den Menschen so ehrwürdig, daß sie aus Einem, der sie bis zur höchsten Vollendung übte, Gott selbst gemacht haben. Ehe nicht einmal ein Prophet kommt und die beiden Wolkenglorien verschmilzt, dem Apollo einen Heiligenschein, dem Christus eine Leyer in die Hand gibt, ehe nicht Apollo das Kreuz trägt und Christus wie einst die Ehebrecherin so auch die Musen, die vor ihm knieen müßten, frei spricht, eher wird sich auch in der Kunst und ihrer Stellung zum Leben nichts ändern. Wildungen möchte gern olympische Kränze austheilen und zu einem theatralischen Schauspiele ganze Völker einladen wie zu einem alle Jahre einmal stattfindenden Moment des fließenden Januariusblutes. Die Zeiten dieser Wunder sind vorüber! Und wen es anekelt, mit seiner Malerei um die Gunst der Großen und Reichen zu betteln, Kritiken zu lesen und nach Schultheorieen gefuchst zu werden, der verschönert die jungen Künste und Gewerbe, die einmal im Charakter unserer Zeit liegen und malt, wenn es nicht anders geht, ... Pfeifenköpfe und Porzellanteller. Das schönste Bild, das ich malen könnte, macht mir nicht soviel Spaß, als z.B. die Idee, dem Stallmeister Lasally einen idealen Pferdestall nebst daran stoßender Reitschule zu bauen ....

Wenn es meinem Cousin gelingt, eine reiche Frau zu heirathen! fiel Reichmeyer lachend ein, mit einem spottenden Blicke auf Siegbert, der roth wurde, da durch Leidenfrost's outrirte Grillen das im Atelier beliebte Melanie-Thema wieder in Gang kam.

[969] Heinrichson zog sich einen eleganten Frack an und rief:

Leidenfrost profanirt das Atelier! Er zeichnet hier Grundrisse zu Pferdeställen! Seine Phantasieen von Kalmücken und hereinbrechenden Baschkiren sind nun erklärlich. Wie können Künstler so sich von der Unruhe des Tages erschüttern, ja wegreißen lassen! setzte er ärgerlich hinzu. Proletariat, Communisterei ... welche Worte in einem Atelier, das Sie selbst so schön, so poetisch in Ihrem gefeierten Bilde geschildert haben! Ist Das auch nichts, daß wir Künstler und Genossen von Ihnen Alle verspottet wurden, daß Sie mich darstellten, wie ich in Fräulein Schlurck eine Sphinx sahe –

Reichmeyer warf hinein:

Und ich ein Meerweib mit goldenen Schuppen am Leib –

Beide Collegen wurden boshaft, worunter mehr Siegbert als Leidenfrost litt, der jedoch Siegberten durch eine Bemerkung beisprang, die er so obenhin einwarf.

Warum nicht eine Leda! sagte er. Heinrichson hätte dann nicht nöthig gehabt, die Auguste Ludmer zu copiren.

Die Wirkung dieses Namens war auf die Maler eine komische. Man lachte und sah zu dem ärgerlich die Augen niederschlagenden Heinrichson hinüber ... Leidenfrost hatte ein zweideutiges Mädchen genannt.

Wissen Sie, wo Auguste Ludmer jetzt wohnt? fuhr Leidenfrost boshaft fort. In der Brandgasse Nr. 9, Zimmer Nr. 17.

Sie sind maliciös, sagte Heinrichson, und dennoch loben [970] wir Sie! Solche Gesinnung ist also auch nichts? Künstleraufopferung, Hingabe aller Eitelkeit, rein der Idee des Schönen wegen, ist Das auch nichts? Oder ist es eine Gesinnung, würdig der bezahlten Sklaven, die den Reichen die Honneurs machen ... Ich prophezeie Ihnen –

Vergessen Sie Ihre Rede nicht, Heinrichson, sagte Leidenfrost, da will Sie eben ein Abgesandter des versammelten Volkes von Athen sprechen! Freier Künstler, wahrscheinlich sollen Sie für den delphischen Apoll eine Skizze zu einem geschmackvolleren Dreifuß machen, damit Ihre Prophezeiung besser gedeiht..

Heinrichson wandte sich um.

Ernst, der Bediente der Frau von Harder, stand in glänzender Livree schon länger hinter ihm, hatte mit schlauem Lächeln die Späße über die verstoßene Nichte der alten Ludmer gehört und richtete den Auftrag aus:

Frau Geheimräthin lassen Herrn Heinrichson ersuchen, heut Abend zum Thee zu kommen. Es wird große Gesellschaft sein.

Als Heinrichson bejahend und etwas erröthend genickt und Ernst sich kurz und bündig entfernt hatte, rief Leidenfrost:

Tusch! Hurrah! Tatterata! Tusch!

Er blies dabei, als sollte ein ganzes Orchester sein Vivat unterstützen ...

Bester Freund, setzte er zuletzt spottend hinzu, gilt die Einladung dem Maler oder Ihnen selbst, sozusagen als schönem Modell? Ist Das einfache Anerkennung oder [971] Anerkennung der Anerkennung? Sollen Sie dieser alten Pythia an dem Theekessel der Begeisterung Liebe einflößen? O heiliger Apollo, ich schwöre dir, auf diese Verirrung eines Collegen mach' ich keine Satire, denn statt einer Sphinx wäre ich da versucht, eine alte Nachteule aus dem Geschlechte der großen Neuntödter zu malen.

Heinrichson biß sich auf die Lippen. Äußerlich aber nahm er den Spott nicht übel, sondern antwortete in der ihm eignen feinen und gewandten Art:

Damit würden Sie die ganze Wahrheit treffen, bester Freund; denn die Eule ist der Vogel der Minerva. Ich lerne Weisheit bei jener Frau. Man sieht Ihnen an, daß Sie nicht zu ihren Protégé's gehören ...

Reichmeyer wandte sich und bemerkte verstimmt:

Gesellschaft bei Harder's? Schade!

Wie so? fragte Heinrichson.

Ich komme da in Verlegenheit ...

Ruhe! Stille! rief Leidenfrost spottend. Apelles und Polygnot schütten ihre Verlegenheiten aus ... Aspasia hätte wol auch Beide zum Thee laden können!

Leidenfrost, schweigen Sie! sagte Heinrichson zornig. Was ist? wandte er sich leise zu Reichmeyer.

Ich wollte den Abend zur Geheimräthin, sagte Reichmeyer, da mir die Gräfin d'Azimont, der ich heute freilich schon sehr früh um elf meine Aufwartung machen wollte, um sie als Pariser Gönnerin zu begrüßen, sagen ließ, sie wäre unfähig mich anzunehmen und ersuche mich, wenn ich sie sehen wollte, heute Abend zur Harder zu kommen, [972] falls ich dort eingeführt wäre. Sie würde sich dort einige Augenblicke zeigen.

Zweiter Tusch! rief Leidenfrost. Vornehme Verachtung! Sie würde sich da einige Augenblicke zeigen! Für Geld sehen lassen! Vielleicht läßt sie beim Vorüberschlüpfen eine gnädige Bestellung fallen, die Spiegelprinzessin!

Siegbert lächelte still für sich über diesen ungeschlachten Gesellen und arbeitete.

Sie irren, sagte Reichmeyer zu Leidenfrost gereizt. Die Gräfin weiß sehr wohl, daß ich den Grund ihrer Zurückgezogenheit verstehe. Sie hat ein Verhältniß mit dem Prinzen Egon von Hohenberg, der in Paris mit ihr gebrochen hat. Sie ist ihm nachgereist, hat ihn sehr krank gefunden und ist davon wahrscheinlich so erschüttert, daß sie sich vor Niemandem sehen läßt, außer, wo sie muß ...

Außer auf der großen Parade heute bei Heinrichson's Minerva – ergänzte Leidenfrost. Haltet Euch an sie, Jungen! Sie braucht eine öffentliche Demonstration ihres Schmerzes. Wie wär's mit einer weinenden Heiligen aus dem Kalender? Oder mit Miniaturen zu einem Gebetbuche, das ihre Augen benetzen werden? Hundert Louisdors für eine Magdalena, die zur Abwechselung einmal im gelben Duft interessante Thränen weint!

Heinrichson, ohne auf diese impertinenten Zwischenreden weiter zu achten, sagte zu Reichmeyer, er sollte ganz einfach zur Harder kommen, er würde ihr so willkommen sein wie immer und ihm gewiß den Gefallen thun, [973] auch ihn mit der so vielgerühmten jungen Halbfranzösin bekannt zu machen ...

Siegbert hatte bei seinem Schweigen besonders da mit stillem Sinnen an Melanie gedacht, als die Rede auf Leidenfrost's Bild kam. Die Erwähnung aber, daß der Prinz Egon krank wäre, machte ihn aufmerksamer. Er gedachte der näheren Veranlassung seines Verhältnisses zu Louis Armand, den er in kurzer Zeit schätzen gelernt hatte..

Reichmeyer hatte sich gleichfalls zum Gehen gerüstet:

es schlug schon lange ein Uhr ... Professor Berg kam von seinem abgeschlossenen Fenster her, um zu Tisch zu gehen ... Der lange freundliche Mann mit grauem gelocktem Haare, entblößtem Halse und altdeutschem Hausrocke sprach mit den Malern einige wohlwollende aber gleichgültige Worte, sah auch nicht nach ihren Staffeleien. Er that Dies nur bei den Schülern, die am Eingangsfenster arbeiteten, dort hielt er sich einige Augenblicke auf und stieg, mit dem Taschentuche sich die heiße Stirn trocknend, die Stiege hinauf, die zu dem Altan führte ...

Auch die Schüler gingen.

Heinrichson aber trat zu Leidenfrost heran und sagte:

Was hat nun wol der cynische Spötter gemacht, während andere Menschen ihrem Berufe leben und die Schranken der überlieferten Ordnung in Ehren halten?

Auch Reichmeyer näherte sich.

Doch vortrefflich! rief Heinrichson mit wahrer und aufrichtiger Begeisterung und Reichmeyer, der kälter und [974] kritischer, auch nicht frei von Neid war, mußte gleichfalls mit einstimmen und fragen:

Das haben Sie in der einen Stunde gemacht?

Als nun auch Siegbert hinzutrat, wollte Leidenfrost seine Skizze mit dem Bret, auf dem sie ausgespannt war, rasch wegziehen, aber die Andern duldeten es nicht.

Leidenfrost! sagte Heinrichson; quand même! Das müssen Sie ausführen! Ohne Kreide, ohne Bleistift haben Sie diese Idee so mit dem Tuschpinsel frei hingeworfen und wie gelungen ist sie! Wie viel versprechend für ein großes Gemälde! Erschütternd! Wahr! Und durchaus neu!

Ihr lobt mich nur, sagte Leidenfrost, um mich wieder in Eure Kunstspitäler zurückzukuppeln! Ihr denkt, wenn man mich recht streichelt wegen meiner Tapferkeit, so bleib' ich bei der Bande! Ihr Räuber Ihr!

Er wusch sich bei dieser Gelegenheit die rauhen Hände und nothdürftig das verschrumpfte zwetschenartig getrocknete Gesicht und rüstete sich zu gehen.

Siegbert, der heute bis zwei Uhr arbeiten wollte, betrachtete die Skizze, unter der Leidenfrost mit dem Pinsel geschrieben hatte: Die Ganzen und die Halben.

Es war gleichfalls der Besuch des Nicodemus; aber in Leidenfrost'scher Auffassung. Der Entwurf bestand aus drei Gruppen. In der Mitte stiegen von einem Berge Weiber, Männer, Kinder in frommer demüthiger Haltung nieder, aber vertrauensvoll zum Himmel blickend, Palmen schwingend und mit Eifer sich Pergamente zeigend, auf [975] denen sie nachzulesen schienen, was sie soeben über die alten Verheißungen gehört hatten. Sie kommen von Christus, den man nicht sieht, den man aber gerade Da ahnt, wo die volle Glut der Abendsonne wie eine aufgesprungene Pforte des Himmels erseheint. Auf der ganzen Gegend sollte wol Dämmerung, im Vordergrunde schon Nacht sein; die von Christus Heimkehrenden sind wahrscheinlich hinterwärts mit der Glut der untergehenden Sonne beleuchtet ...

In der zweiten Gruppe ganz in dem rechten Winkel des Papiers stehen die Pharisäer. Meist nur die Köpfe sind sichtbar. Sie warten auf die Ankunft der Christusanhänger. Echte Zeloten, boshaft und intolerant. Einige ausgestreckte Arme drohen mit Stricken und Steinen. Die offenen Bekenner der Jesuslehre werden so empfangen werden. Muthvoll und gläubig gehen sie ihrem Schicksale entgegen ...

Der dritte Punkt, der unsre Aufmerksamkeit fast als das Hauptsächlichste des ganzen Bildes in Anspruch nimmt, ist Nicodemus ganz allein. Dadurch, daß er in der Tracht, besonders am Haupte, wie die intoleranten Pharisäer erscheint, erkennen wir sogleich, daß er auch zu den Schriftgelehrten gehört. Die Ruinen eines alten Tempels verbergen ihn. Durch die zerbrochenen Säulen schimmert in der künftigen Ausführung die Glut der Abendsonne. Ihn selbst umfängt schon Nacht. Mit gesenktem Haupte, fast Thränen im Blick, die rechte Hand an's Herz legend, die linke eine Gesetzesrolle haltend, schreitet er dahin in [976] der Nacht, von woher die Armen und Todesmuthigen schon am Tage kamen. Weder die Pharisäer, noch die Gläubigen konnten ihn sehen, aber sein Emporsteigen läßt keinen Zweifel, daß er dahin will, von wo die scheidenden Sonnenstrahlen kommen..

Siegbert stand sinnend vor der flüchtigen nur andeutenden, aber doch selbst im möglichen Farbeneffect schon erkennbaren Skizze.

Lassen Sie sich nicht irre machen, Wildungen, sagte Leidenfrost jetzt ruhig und fast weich und seinen schlichten grauleinenen Gehrock überwerfend, es ist zwar Glaube in dem Bilde, aber doch nicht der rechte, weil kein rechter Christus. Die untergehende Sonne kann allenfalls auch die Feuerreligion bedeuten, den Spinozismus oder die Hegelei. Bleiben Sie bei Ihrem Heiland und wie Sie ihn faßten. Den wollen die Menschen natürlich, den wollen sie leibhaftig sehen, seine Nägelmale fassen, die Hand in seine Wunden legen, sonst glauben sie nicht und sonst wirkt es auch nicht.

Sie sagen da das Einzige, erwiderte Siegbert, was ich an dem Entwurfe ausstellen möchte, die fehlende Person Dessen, der die Wahrheit lehrt, mag es nun Christus sein oder Sokrates. Und doch vielleicht ist auch dies geheimnißvolle Ahnen schön! Ich finde das Ganze gut und bedeutend. Welch' ein Ausdruck läßt sich da dem frommen, freudig rückkehrenden Pilgerzuge geben! Welche Wuth und Blutgier den Pharisäerköpfen, von denen Sie nur die Köpfe, die Hände, die Stricke und die Steine sehen lassen!

[977] Und hier Nicodemus aufsteigend hinter den Ruinen, bedeckt mit dunklem breitblättrigem Feigenlaub. Die Füße sieht man nicht ... Fast Kniestück. Man hört ihn schleichen. Und welcher Schmerz im Antlitz! Welche Beklemmung und welche Sehnsucht nach Wahrheit! Ich ließ' ihn im Gehen das Alte Testament lesen und sich vorbereiten, ob er den rechten, verheißenen Messias finden würde. Man ist versöhnt mit ihm, man zürnt ihm nicht, man ahnt, daß er einst anstatt zu den Halben, zu den Ganzen gehören wird und sich einst seines Glaubens wegen steinigen läßt!

Halten Sie inne! rief Leidenfrost. Von Alledem steht noch nichts in der Pinselei! Bleiben Sie bei Ihrer Auffassung!

Besonders wenn Sie, sagte Reichmeyer, um mit einem Witze seinen Abgang effectvoller zu machen, außer den gläubigen Mohrenknaben und den Bedienten auch das Kameel hinten recht fromm und bekehrt darstellen.

Damit ging Reichmeyer, gefolgt von Heinrichson, der schon gelbe Glacéehandschuhe angezogen hatte ...

Erbärmliche Effecthascher! rief ihnen Leidenfrost mit verbissenem Grimme nach. Was mag Reichmeyer da wieder outrirt haben?

Damit deckte er dessen Staffelei auf. Es war noch immer das Portrait seiner Verwandten, der Frau von Reichmeyer, das er in den Spitzen, der Gewandung, den Blumen und dem Sammetüberzug des Sessels, auf dem sie saß, zierlich übermalte.

[978] Leider – sehr gut gemacht, sagte er. Es ist ärgerlich, daß man ihm nicht Eins versetzen kann.

Wozu? fiel Siegbert ein. Sein Spott ist lehrreich. Will ich mein Bildchen im Charakter des Gethsemane halten, so muß allerdings das Kameel auch fromm sein. Ich werde es ganz andächtig hinstellen.

Sie sind ein guter Mensch, Wildungen! sagte Leidenfrost und reichte ihm die Hand. Zu gut! Zu gut! Sehen wir uns heute? Meine Maschinenarbeiter, besonders Alberti, Heusrück, Danebrand quälen mich, den Franzosen kennen zu lernen. Die armen Jungen sind von unsern Demokraten zu läppisch an der Nase herumgeführt worden. Sie dürsten nach Vernunft, Wahrheit und Uneigennützigkeit.

Seien Sie in dieser Angelegenheit nur behutsam, bester Freund, antwortete Siegbert. Ich wünsche um Alles nicht, daß man uns misversteht. Ehe ich mich mit meinem Bruder nicht ganz verständigt habe, gehe ich auf diesem Wege nicht weiter. Heute hoff ich ihn mir in dieser Angelegenheit etwas näher zu bringen und auch Armand mit ihm bekannt zu machen. Wo sind Sie denn Abends?

Sind wir nicht zusammen, sagte Leidenfrost, so schlag' ich in meinem Gedächtnisse nach, ob ich nicht Jemanden seit längerer Zeit vernachlässigt habe.

Da wünsch' ich, daß Sie ein Mädchen finden mögen, fiel Siegbert lächelnd ein.

Ich möchte Sie wol einmal, sagte Leidenfrost kopfschüttelnd, mit einer Arbeiterfamilie bekannt machen, in die ich durch Willing'sche Maschinenbauer eingeführt [979] wurde. Sie würden staunen über eine weibliche heroische Natur, die an der Spitze dieses ganzen kleinen Gewühls von Kummer und kleiner Freude, von Greisen und lallenden Kindern steht. Waren Sie noch nie in den alten von der Stadt verwalteten Communal-Familienhäusern?

Niemals ...

In der Brandgasse ... in dem Hause, wo die Auguste Ludmer Nr. 17 wohnt ...

Wie käm' ich dahin ... die schöne Auguste! Die so tief gesunken ist!

Heinrichson's Verdienst!

Lassen Sie Das! Was geht Das uns an?

Louise Eisold ist der Name des Mädchens, das ich meine ...

Und das Sie lieben.. in einem solchen Hause?

Lieben! Nein, Wildungen! Ich meine, Sie kommen doch auch noch dahin, sich für die Frauen zu interessiren, ohne gleich Ihr Herz in Brand zu stecken..

Tändeln Sie mit dem armen Mädchen? Das wäre noch schlimmer!

Louise Eisold? Nein! Nein! sagte Leidenfrost fortgehend und sich Cigarren aus seinem Portefeuille hervorsuchend. Ich lasse sie in ihrem Element und beobachte nur, wie sich Das doch auch regt, doch auch bewegt, wie Das plätschert, zappelt und nach Luft schnappt, gerade wie vielleicht die schöne Gräfin d'Azimont! Sie werden doch bei der Werdeck, die ich Ihnen zu malen überließ, nicht sogleich auch an Liebe denken?

[980] Ich bitte Sie, Leidenfrost..

Es ist eine schöne unternehmende Frau ... eine Polin! Wenn Sie wüßten, sagte Siegbert fast erröthend, wie verächtlich mir die Männer sind, die bei jedem weiblichen Wesen sogleich an eine Eroberung denken! Im Gegentheil weckt die Bekanntschaft dieser Frau mir die dringendste Neugier, gerade ihrem Manne näher zu kommen. Sie verachtet unsere politischen Zustände und haßt sie in einem Grade, daß ich nicht begreife, wie ein Offizier in ihrer Nähe sich behaupten kann ohne ein Heuchler oder Tyrann zu sein, was Major von Werdeck doch wol nicht zu sein scheint ... Woher kennen Sie diese Werdecks?

In Werdeck's Innerm, sagte Leidenfrost ausweichend und fast geheimnißvoll zur Erde blickend, gährt es wie in dem Herzen vieler Edlen, die in Verzweiflung gerathen, ihre bessere Überzeugung mit den Anforderungen ihrer Stellung in Einklang zu bringen. Schließen Sie sich dem Manne an, Wildungen!

Seine scharfen Züge wirken fast abstoßend auf mich ... Jede bedeutende Capacität, die handeln will, muß etwas vom Mephistopheles haben. Wir sind Alle etwas borstig und widerhaarig, die wir eine Meinung behaupten. Ich weiß wohl, wie unangenehm ich durch meine Überzeugungen wirke. Lieben kann man uns nicht. Aber Major von Werdeck wird noch einst in der Geschichte Epoche machen, wenn er nämlich auch von den Halben zu den Ganzen übergeht!.. Adieu, Freund! Vergessen Sie nicht Ihren Bruder zu sondiren!

[981] Damit hatte sich Leidenfrost eine der Cigarren angezündet, seinen grauen Filzhut über den Kopf gestülpt und in ruhigem Schlendergange das Atelier verlassen ...

Die Worte: Wenn er von den Halben zu den Ganzen übergeht! hallten in dem inzwischen leer gewordenen Atelier so nach, daß Siegbert vor ihrem Widerklange fast erschrak. Es lag in Leidenfrost's Betonung etwas, das ihn selber traf und doch verdroß ihn der Schein des Geheimnisses, der plötzlich die ihm so liebgewordene Gestalt des talentvollen, mit sich und der Welt fast zerfallenen jungen Künstlers umschleierte. Zum ersten male sprach in ihm eine Stimme: Folge diesen dunklen Wegen nicht ohne Vorsicht! und dennoch stand er sinnend vor der Skizze, die Leidenfrost vom Nicodemus entworfen hatte. Das schleichende, ängstliche Aufsteigen des seines Irrthums sich bewußten Pharisäers zum Tempel der Wahrheit erschütterte ihn tief ... Er sah die ganze Zeit wieder, die ganze Schwere, die auf den Gemüthern lastet, den Widerspruch zwischen der bessern Überzeugung und der irdischen Rücksicht bei Hunderttausenden ... Nicodemus! seufzte er.

Es währte lange, bis er zu seiner eigenen Staffelei zurückkehrte.

[982]
11. Capitel. Zwei Besuche
Elftes Capitel
Zwei Besuche

Siegbert war im Atelier allein, er wollte lange arbeiten und gegen drei Uhr zu Grüns gehen, wo er den Bruder zu finden gewiß zu sein glaubte.

Das behagliche Gefühl, mit dem er den Augenblicken des traulichen Beisammenseins entgegen harrte, war ein wenig gestört worden. Das Gespräch war zu aufregend, zu beunruhigend für sein innerstes Gefühl gewesen. Er hatte einen so edlen, sittlichen Takt in allen Dingen ... Man hatte wieder von Melanie gesprochen und wußte doch, daß er sie liebte. Man hatte mit der Einladung zu der vornehmen Frau von Harder so laut geprahlt. Ja selbst daß Leidenfrost, der ihm seit kurzem erst sympathischer wurde, seine eigne Kunst so blindlings verwarf und dabei so streng, ja vielleicht eitel sein konnte, ihm vor den Augen einen Stoff, den er eben behandelte, anders zu gestalten, als er ihn sich gedacht hatte, das Alles war doch für sein weiches, offnes Herz eine nagende Pein ...

Als er Leidenfrost's Skizze betrachtete und ihre Schönheit wiederholt anerkennen mußte, ging er noch weiter und hatte sich gesagt:

[983] Wie, wenn der strenge Freund dich nur erziehen, zum Tieferen und Anschauungsreicheren zwingen wollte? Machst du dir dein Schaffen nicht zu leicht? Denkst du genug über Das, was zu existiren würdig ist, nach und stehst du ganz auf der titanischen Höhe der Bildung, mit der man jetzt die großen Meister schaffen sieht?

Tiefe Bekümmerniß, ja Muthlosigkeit hatte ihn überfallen, als er dieser Gedankenreihe weiter nachdachte. Es war ihm vorgekommen, als hätte er alle Theile der Kunst in seiner Hand und zu den mechanischen Fertigkeiten fehlte ihm doch noch das geistige, sie zusammenhaltende Band. In tiefster Verstimmung hatte er auf seine Skizze zurückgeblickt und siehe da!.. plötzlich wußte er nicht, wie sie ihn doch wieder so ermuthigend, so neubelebend ansprach ... Es war der Geist der Ruhe, der in ihr waltete, eine Ruhe, die in Leidenfrost's Andeutungen fehlte. Jene regten auf, seine Zeichnung füllte ihn mit lindem Trost, erquickte ihn! Die Gestalt des Heilands, die dort fehlte, übte gerade hier den Zauber der Erhebung und der wunderbarsten Stärkung. Auf's neue tauchte er den Pinsel in die zarten Aquarellfarben und begann mit jener eigenen gebundenen Wärme, aus der allein der Künstler und Dichter Andre Erwärmendes schaffen kann, sein bescheidenes, einfaches und sinniges Werk weiter fortzuführen.

So in Gedanken, so in stilles, heiliges Schaffen war er verloren, daß er kaum aufsehen mochte, als er Jemanden an die Thür klopfen, dann eintreten hörte. Mit zaghaften, knarrenden Tritten nahte sich ein Besuch. Es war jener [984] Franzose, den wir im Vorzimmer des Prinzen Egon gesehen hatten, Louis Armand, der Kunsttischler und Vergolder.

Siegbert erschrak über Armand's verstörte Miene.

Es war die ihm schon gewohnte und liebgewordene Erscheinung; aber auffallend war ihm schon die äußere elegante Kleidung. Der schwarze Anzug ließ die blassen Mienen des scharfgeschnittenen Antlitzes nur noch mehr hervortreten und stand in einem sonderbaren Widerspruche zu dem lose um den Hals geschlungenen, fast vernachlässigten Tuche, dessen aufgezogene Zipfel über die Brust herabfielen, ohne daß es Armand zu bemerken schien. Tiefer Ernst lag auf seiner Stirn, Schreck in seinen verstörten, dunkeln Augen ...

In Hast und Ängstlichkeit, mit der Absicht, sich keine Minute zu lang aufzuhalten, trat Armand auf die Staffeleien zu.

O c'est heureux! sagte er und fuhr dann in langsamer Betonung, aber in gutem gewandtem, sonderbarerweise etwas polnisch accentuirtem Deutsch fort:

Ich fürchtete, Sie nicht mehr zu treffen, Herr Wildungen!

Mein bester Armand! sagte Siegbert sich umwendend. Was bringen Sie.. Sie scheinen erregt .... Was ist Ihnen?

Ich bin sehr unglücklich..

In der That! Wie sehen Sie aus! Setzen Sie sich, lieber Armand! Reden Sie!

Wie ich gestern Sie verließ, erzählte Armand, fand ich [985] den Prinzen zwar zurück von seiner Reise, aber so krank, daß ich die ganze Nacht bei ihm gewacht habe. Die Ärzte erklären seinen Zustand für den Anfang eines heftigen Nervenfiebers.

Siegbert hätte an dieser Mittheilung Theil genommen, auch wenn ihm Egon seiner sonderbaren Beziehung zu einem einfachen Tischler wegen nicht liebgeworden wäre.

Wie kam Das so plötzlich? fragte er voll Theilnahme. Ein Nervenfieber!

Ein Nervenfieber ist fast so viel wie der Tod.

O machen Sie sich keine trübe Vorstellung, Armand! Wie kam Das nur?

Der Prinz hat auf seiner Reise viel erlebt, sagte Armand. Das Wiedersehen seiner Besitzungen, der Grabstätte seiner Mutter hat ihn erschüttert. Er kam schon krank nach Hause zurück.

Wo ihn vielleicht noch, ergänzte Siegbert, die Nachricht von dem Eintreffen einer schönen Frau beunruhigte, der Gräfin d'Azimont.

Woher wissen Sie – fragte Armand erstaunt.

Hab' ich nicht Recht? Er hat mit ihr in Paris gebrochen und dennoch reist sie ihm nach und wird seinen krankhaften Zustand nur noch gesteigert haben. Ich erfuhr soeben diese Verhältnisse.

Allerdings! So ist es! Aber ich erstaune, wie Sie Dies erfahren konnten?

Lieber Freund, sagte Siegbert, das liegt in der Natur solcher Liaisons. Diese Verbindungen haben für manche [986] Seelen, wenn sie verborgen bleiben sollen, nur den halben Reiz. Die Frauen sind es oft selbst, die ihrer natürlichen Scheu ungeachtet diese Verhältnisse mit Gewalt an das Tageslicht drängen. Wenn ich mich nur einigermaßen in dieser Dame orientire, so wird sie, wenn das Verhältniß nicht aus gegenseitigem Überdruß sich löste, ihren ehemaligen Freund jetzt so beunruhigen, daß Sie ihn vor ihr schützen müssen ...

Ich erstaune, rief Armand, Sie sagen Alles, was ich selbst denke. Und deshalb muß ich eilen, zu meinem Kranken zurückzukehren. Ja! ja! Es thut Noth, daß ich ihn schütze, vor Allen! Allen! Dutzende von Menschen, die ihn bedienen wollen und nicht ein Herz, das ihn mit Entsagung liebt!

Armand erzählte hierauf in flüchtigen Umrissen Einiges von der äußeren Lage Egon's, wie wir sie schon kennen. Als er sein Erscheinen hier im Atelier dadurch entschuldigte, daß er von Siegberten hätte für ein längeres Verschwinden Abschied nehmen wollen, kam er auf Ackermann, durch dessen Anerbietung dem Prinzen eine so große Wohlthat geschähe und schloß mit einer Bemerkung, die Siegberten überraschte.

Es ist mir ein so süßer und wohllautender Ton gewesen, sagte Armand, in den Fieberphantasieen meines kranken Egon so oft Ihren Namen zu vernehmen..

Meinen Namen? fragte Siegbert.

Wildungen! Den Namen Ihres Bruders..

Dankmar ...

[987] Dankmar Wildungen..

Der Prinz kennt meinen Bruder? So hat er ihn in Hohenberg kennen gelernt.

Der Gedanke an Ihren Bruder beschäftigt ihn auf's lebhafteste. Gestern Abend war er zu ermüdet, mir Alles zu sagen, was er auf dem Herzen hatte; das entsetzlichste Kopfweh peinigte ihn und in dem Ausbruch aller der Symptome, die auf seine schnell entstandene Krankheit deuteten, konnte von einer Verständigung nicht mehr die Rede sein. Nur einmal, heute vor einigen Stunden, als ich ihm die Anerbietungen jenes Herrn Ackermann vorzuschlagen wagte, trat ein lichter Moment ein, indem er deutlich den Namen Ihres Bruders als den bezeichnete, der ihm Ackermann schon genannt und empfohlen hätte, sonst erwähnt' er ihn in seinen Phantasieen bald als einen Gefangenen, spricht von einem Kerker, von Eisenstäben, erwähnt ein Bild und ruft: Da! Da! Verbergt es! Mit einem Worte, es foltern ihn die verwickeltsten Erlebnisse. Gern hört' ich, daß Ihr Herr Bruder beruhigende Aufklärungen gäbe. Wie leicht wär' es dann, irgend etwas so auszuführen, daß er in seinen schmerzenfreien lichten Augenblicken davon einen lindernden Trost hätte!

Siegbert versprach möglichst darin das Seinige zu thun.

Louis Armand schied von ihm, nachdem er noch die Versicherung erhalten hatte, Siegbert würde in der Wallstraße Nr. 14 bei dem Tischler Märtens die Gründe angeben, warum er vielleicht auf lange Zeit von seiner Wohnung keinen Gebrauch machen könne.

[988] Aber Ihr Geschäft, Armand?

Märtens soll die Bestellungen annehmen. Ausführen kann ich jetzt nichts. Egon bedarf eines Freundes.. ich verlasse sein Bett nicht.. es ist mir, als müßte ein Cherub niederschweben, um ihn zu beschützen.

Sie sind dieser Himmelsbote, Armand! sagte Siegbert und klopfte dem jungen Handwerker auf die Schulter. Tragen Sie mir alle Ihre Wünsche auf! Leidenfrost wollte Sie bei den Arbeitern einführen. Man sehnt sich nach Ihren Belehrungen..

O, o! lehnte der junge Mann mit Bescheidenheit ab.

Man ist gespannt auf Sie! Überall, Armand, wo man Wahrheit und keine Vorspiegelung der Phantasie will. Aber Sie werden nicht zu lange fern bleiben! Befehlen Sie über mich! Haben Sie irgend noch einen Wunsch?

Louis Armand stand eine Weile träumerisch und hielt in den Schritten ein, die beide junge Männer während dieser Worte schon an die Thür des Ateliers gerichtet hatten.

Endlich sagte er mit einem angenehmen Lächeln und mit halblauter Stimme:

Bestellen Sie, ich bitte, ein freundliches Wort einem kleinen guten Mädchen, das bei Märtens, dem Tischler, wohnt. Sie heißt Franchette oder Franziska. Es ist eine bescheidene Blume, die zwischen Felsen auf hartem Stein wächst, eine jener unbeschützten Seelen, die nur durch den Thau des Himmels gedeihen. Vielleicht finden Sie einmal Muße, mir dies kleine Gedicht, das ich auf dies liebe [989] Mädchen entwarf, in deutsche Verse zu übertragen. Ich fühle mich doch nicht stark genug in Ihrer Sprache, mich im Reim zu versuchen und Franziska würde meine französischen Verse selbst dann nicht verstehen, wenn ich sie ihr übersetzte.

Siegbert nahm dem bewegten Armand ein Blättchen Papier ab, das er ihm fast zitternd überreichte.

Ich will es versuchen, sagte Siegbert.

Ein Scherz über diese Mittheilung, eine Neckerei über Armand's liebende Galanterie lag ihm ganz fern. Es war ihm etwas Heiliges, da so einfach und still in das Innere eines andern Menschen blicken zu dürfen ...

Meine größte Sorge, sagte Armand, indem ihn Siegbert an die Thür begleitete, ist jetzt das Schicksal meines armen Egon! Ich glaube Ihnen Beweise gegeben zu haben, daß ich die Menschen nur nach ihrem wahren Werthe schätze, aber auf Egon fällt mir noch ein reineres Licht als das der Freiheit von seinem Stande. Ich überschätze auch seinen menschlichen Werth nicht. Ich habe leider Ursache, ein gewisses Schwanken seines Charakters als eine gefährliche Klippe zu bezeichnen und kann wohl sagen, daß ich ihn mir ganz gewonnen habe nur durch den Schmerz! Wenn wir uns näher stehen werden, Herr Wildungen, wenn Sie nicht ermüden, einen Mann meines geringen Berufes enger an sich zu ziehen, so werden Sie erfahren, welches das schmerzliche Band ist, das mich in dem fernen Frankreich an einen jungen vornehmen deutschen Herrn fesseln sollte! Ich hätte ihn nie lieben können, [990] wenn nicht ein schöner Enthusiasmus für das Große und Erhabene in ihm gelebt hätte und er war so weise, so gerecht, daß er suchte das Große und Erhabene auch im Niedrigen zu finden. Er vermißte Menschen, aber er fand sie. Er hat sie dann verloren und hat sie wieder gewonnen.. Es gab Tage, wo ich ihm mochte den Dolch in's Herz stoßen und es gab andere, wo ich mußte.. küssen – seine Hände ... Mag ihn der Himmel uns erhalten, mir und Ihnen; denn ich hoffe viel von seinem Geiste auch für die gute Sache Ihres Volkes, für uns Alle.

Die Thränen standen Louis Armand in den Augen, als er diese Worte halbgebrochen und nicht so zusammenhängend, wie wir sie wiedergaben, stammelte.

Siegbert war selbst so ergriffen, daß er nichts zu antworten vermochte, sondern stumm und still von Louis Armand Abschied nahm.

Schüchtern und bescheiden wie er gekommen war, verließ Louis Armand das Atelier.

Siegbert sah ihm nach und kehrte langsam zu seiner Staffelei zurück.

Er konnte nicht arbeiten ...

Berg's Diener, der die Aufsicht über die Räumlichkeit hatte, kam, um sie zu schließen. Siegbert bat, ihm die Schlüssel dazulassen. Er würde noch eine Weile verharren und ihm dann das Schließeramt abnehmen; er möchte gehen und seiner Mittagsruhe pflegen.

Wie Siegbert allein war, entfaltete er sogleich das Blatt, um die französischen Verse zu lesen.

[991] Sie gestalteten sich ihm rascher, als er geglaubt hatte, zu einem deutschen Gedichte.

Doch mußte er sich sagen, daß in diesen Versen ein gewisser für deutsche Verhältnisse fast zu greller, fast schneidend scharfer Hauch wehte ...

Er konnte begreifen, daß man nur in Paris einer jungen Handwerkerin so eigenthümlich huldigen könne und doch gestand er sich, es wäre schon gut, wenn auch die deutschen Arbeiter und Arbeiterinnen auf dieser Höhe edlerer Empfänglichkeit und Charakterstärke sich hielten ... Er wußte jetzt, was ihn eigentlich an Louis Armand fesselte.

Er selbst, doch ein Künstler von höherer, selbst gelehrter Bildung, nahm an diesem Handwerker Interesse, nicht weil ihm seine socialistische Theorie gefiel und er seine Träumereien von einer veränderten Gesellschaftsverfassung vollkommen billigen konnte ... ihn zog das düstere, ernste Wesen, die charakterfeste Persönlichkeit Armand's an und noch jedesmal, daß er mit ihm zusammentraf, nahm er einen neuen lebendigen Eindruck mit hinweg. So jetzt den, daß Armand auch dichtete!

Louis Armand brachte aber in seinem mit den Worten: Fille du peuple, pauvre mendiante! anfangendenNe pleurez pas! überschriebenen Gedicht der Fränz Heunisch etwa folgende sonderbare, halb ironische, halb wehmüthige und für deutsche Handwerkerbildung völlig unpassende Huldigung:

[992]
Weine nicht!
Des Volkes Tochter, arme Bettlerin!
Du bist nicht arm, was auch dein Elend spricht!
Der Unschuld Krone trägt dein schönes Haupt,
Und wenn ein Reicher ihr Geschmeide raubt,
Bist du nicht arm.. Was thut's? Sei klug! Nur weine nicht!
Des Volkes Tochter, arme Bettlerin!
Du bist nicht arm, was auch dein Elend spricht!
Ein Pfaffe ladet dich zum Beichtstuhl ein..
Geh hin! Er küßt dich! Im Marienschein
Bist du nicht arm.. Sei klug und fromm! Nur weine nicht!
Des Volkes Tochter, arme Bettlerin!
Du bist nicht arm, was auch dein Elend spricht!
Die Nachbarin läßt ihre Truhe auf ....
Greif zu! ... Zum Bagno geht dein Lebenslauf;
Und wenn zum Tod .... Was thut's? Nur stolz!
Nur weine nicht!
Des Volkes Tochter, arme Bettlerin!
Du bebst zurück? Du liebst die Tugend noch?
Sieh da! Du kannst die Perlen fallen sehn
Auf's Kleid der Braut, das deine Finger nähn!
Bist reich! Bist reich! – O Gott .... nun weinst ....
nun weinst du doch!

So ungefähr dachte sich Siegbert die Übertragung dieses epigrammatisch endenden wilden Liedes und verfiel dabei auf den Gedanken, ob wol einer deutschen Nähterin ein [993] solches Gedicht wirklich gefallen könnte, ob sie nicht vorziehen würde, sich denn doch in schmeichelhafteren Klängen besungen zu sehen und ob nicht die süße Phrase in Deutschland so regiere, daß sie selbst in den untersten Regionen das frische Gefühl und die wirklichen, nackten Thatsachen überpinselte ... Er nahm sich ernstlich vor, Armand zu warnen, mit einem solchen Gedichte bei uns die Gunst eines Mädchens aus dem Volke erobern zu wollen!

Unfähig zu arbeiten und doch noch in der Kühle des Ateliers die Stunde abwartend, wo er mit dem Bruder zusammenzutreffen gedachte, nahm er das Wasser, das in verschiedenen antikgeformten gebrannten Krügen, weniger für die Erquickung als die Reinigung der Maler dastand und begoß die Blumen, die hier und da am zahlreichsten in der eleganten Abtheilung aufgestellt waren. Sie hatten es nöthig in der Sonnenhitze.. Der Diener vernachlässigte sie.. Sie würden verwelkt gewesen sein, wenn ein barmherziger Samariter da des Weges nicht gezogen wäre und sich der Sterbenden angenommen hätte.

Das aufregende, bittere Gedicht, die Blumen und Melanie verschmolzen sich in Siegbert's bewegter Brust.

Wie oft hatte nicht die liebliche Gestalt auf diesen bunten Teppichen gesessen und nur mit halbem Ohre den Lehren gelauscht, die ihr der würdige Professor gab! Die Vorhänge waren herabgelassen gewesen ... Sie hatte im Grunde kaum eine andere Beziehung zu den andern [994] Malern gehabt, als daß sie an ihren vorüberschwebte und mit holdseligem Lächeln die ihr dargebrachten Grüße erwiderte! Aber auch welches Schweben! Welches holdselige Lächeln! Blieb dann einmal gar durch einen künstlich vorbereiteten oder natürlichen Zufall der große schwere Vorhang beim Lehrer eine kurze Zeit offen ... welche Verwirrung entstand unter den Malern und wie zitterte Siegbert, der nur die Schönheit in Melanie sahe und, daß sie sich deren bewußt war, wie das Erlaubteste entschuldigte.. Und war es denn nur bloße Einbildung, wenn Siegbert annahm, daß er diesem liebenswürdigen Mädchen nicht völlig gleichgültig geblieben war? Für Leidenfrost's kurze, gedrungene, ja häßliche Figur, seine dunkeln, tiefliegenden, strengen Augen, sein sarkastisches Lächeln und vor allen Dingen für seinen grauleinenen Kittel und plumpen grauen Schlapp-Hut konnte sie keine Sympathie haben. Reichmeyer war ihr ein zweiter Lasally. Heinrichson ihr sicher zu elegant, zu sehr Gentleman und alle Welt wußte, daß er von alten Damen sehr verwöhnt war und den Petitmaitre der Salons abgab und noch öfter abgeben mußte ... was den schönsten Mann allmälig doch untergräbt und lächerlich macht ... In Siegbert Wildungen aber war, was Melanie oft gefunden hatte, Haltung und Poesie zugleich; er galt für interessant, seine feuchten verklärten Augen zogen an, er trug sich als Künstler, ohne ins Barocke zu verfallen ... Konnte Siegbert nicht erhöhteren Muth fassen, wenn Melanie fast absichtlich mit ihm Gespräche anknüpfte, ihn in die [995] Gesellschaften ihrer Familie einführte, ja einige male sogar plötzlich im Atelier erschienen war, wenn sie wissen mußte, daß Alle fort waren und vielleicht nur noch Siegbert arbeitete? Sie hatte dann gewöhnlich etwas vergessen oder verloren, rannte an ihre Staffelei, beachtete den Überraschten gar nicht, bis sie ihn wie zufällig entdeckte und sich vielleicht nur an seiner Verlegenheit weidete und den Triumph genoß, einen Mann bewegt zu sehen, einen Mann in der Rede stocken zu hören! Die Abscheuliche! Und doch hatte sie ihn vielleicht gern und zürnte nicht, als Siegbert einmal in einem solchen Augenblicke der Überraschung ihre Hand ergriff und sie mit Küssen so lange bedeckte, bis sie ihn mit dem – zufällig! – ausgezogenen Handschuh schlug und vor seiner stürmischer werdenden Bewerbung lachend davonflog!

An diesen seligen Augenblick kurz vor Melanie's Reise dachte Siegbert und fast dieselbe Glut, wie damals, durchströmte seine Adern. So wirkte nur die Vorstellung jener Scene schon! Wie? Wenn sie sich noch einmal wiederholte?

Wäre Dies, dachte er sich, so läg' ich zu ihren Füßen! Ich ließe sie nicht, bis ich sie entweder zu mir nieder- oder sie mich zu sich emporgezogen hätte!

Wie Siegbert noch in diesen Erinnerungen schwelgte, sich ankleidete, mit dem Bleistift an der Übersetzung arbeitete, dann wieder einmal die Blumen emporrichtete oder sich auf eins der Canapés in Professor Berg's Arbeitsraum warf, geschah ihm das Wunderbare, daß er [996] einen Wagen vorfahren hörte, die Thür aufreißen und Melanie hereintreten sah.

Sie war es.. Melanie Schlurck!

Erst glaubte er sie in der weiten Entfernung vom Canapé aus nicht zu erkennen. Sie schien eine Andere, als sie eben in seinen Träumen gaukelte. Sie schien höher, stolzer, strenger, und doch.. es war Melanie! Sie selbst im rauschenden Gewande, sie selbst in dem zierlich leichten Strohhut, eine rothe Echarpe über den hellen Kleidern.. Melanie wieder mit ihm allein! Und er in einer Stimmung, die für ihn eine entscheidende werden konnte!

Aber wie erstaunte er, als Melanie entschlossen auf ihn zuschritt und ihn kurz mit den Worten begrüßte:

Guten Tag, Wildungen! Da bin ich von der Reise zurück! Wie geht's Ihnen? Sind Sie allein, Wildungen?

Fräulein.. sagte Siegbert, übergossen von dem edelsten Purpurroth, dem der männlichen Verlegenheit. Fräulein.. welche Überraschung!

Sie haben einen Bruder, fuhr Melanie kurz und entschieden und ohne allen Umschweif fort. Er heißt Dankmar. Nicht so?

Dankmar, Fräulein – Dankmar Wildungen ist mein Bruder.

Er war in Hohenberg?

Er war in Hohenberg!

Mit dem Fürsten Egon? Er ist ein Freund des Fürsten Egon?

Darauf kann ich keine bestimmte Antwort geben; doch [997] hör' ich, daß er dessen Bekanntschaft in Hohenberg machte.

In Hohenberg?

Er sagte mir, seine Reise wäre abenteuerlich gewesen. Doch wie und wodurch, hoff' ich heute erst näher von ihm zu erfahren.

Melanie hielt sich an eine der Staffeleien, die jedoch zu schwankend war um Stand zu halten ... Sie mußte ihre ganze Kraft aufbieten, nicht zusammenzusinken.

Siegbert begriff ihre Aufregung nicht.

Mit einer Entschiedenheit, die in dieser Form nur dem Weibe eigen ist, es aber auch dann nicht mehr schön erscheinen läßt, sagte jetzt Melanie:

Nun denn, so lassen Sie sich über diese Reise von Ihrem Bruder erzählen, was Sie wollen, bedeuten Sie ihm aber im Namen eines Mädchens, das nicht ohne Charakter ist, daß ich ihm verbiete, über Das, was zwischen ihm und mir vorgefallen, auch nur eine Sylbe zu sprechen!

Siegbert stand erstarrt..

Bedeuten Sie ihm ferner, fuhr Melanie fort, daß ich ihm untersage, dem Fürsten ein Wort zu erzählen von der Art, wie er zu dem Bilde gekommen ist, von dem Bilde, von dem Sie werden gehört haben – ich sprach soeben den Amerikaner, dem ich im Heidekrug durch Zufall es überlassen mußte; er versicherte mich, daß es in die Hände Dessen gekommen ist, dem ich es zugedacht hatte.

Siegbert erinnerte sich des Bildes, er erinnerte sich der Reden, die vom Prinzen Egon ihm eben Armand erzählt [998] hatte. Fast sprachlos aber über Melanie's Kälte und ihren Zorn gegen den Bruder, verwirrt durch das ihm völlig dunkle Chaos dieser Eindrücke, bestätigte er einfach, daß er von einem Bilde wisse.. ja!

Sagen Sie Ihrem Bruder, unterbrach ihn Melanie im glühenden Zorn, daß ich von einem Manne, den ich Ursache hätte zu verachten, noch soviel billige Rücksicht erwarte, daß er dem Prinzen das Bild einhändigt, ihm aber und jedem Andern zu erzählen unterläßt, wie er dazu gekommen..

Als sie sich wandte, um zu gehen, bestürmte sie Siegbert mit seinen Fragen um Aufklärung. Er versicherte, daß ihm und dem Bruder jeder ihrer Befehle eine heilige Verpflichtung sein würde.

Sie werden ihn sehen, sagte er, ich schicke ihn sogleich! Wann darf er zu Ihnen kommen, Fräulein?..

Nie! rief Melanie und wandte sich.

Melanie, nie? wiederholte Siegbert und wie von einer räthselhaften Ermuthigung ergriffen, hielt er sie mit männlicher Entschlossenheit fest ...

Ich lasse Sie nicht! sagte er. Was haben Sie mit meinem Bruder! Er liebt Sie? Gewiß, er liebt Sie! ...

Die Lippen bebten ihm, als er diesen ihm blitzschnell wie das Lachen eines Dämons durch den Sinn fahrenden Gedanken aussprach ...

Er liebt Sie? wiederholte er. Wie konnte er Ihnen so nahe sein, ohne Sie anzubeten? Allmächtiger Gott! Was red' ich? Was muß ich reden? Er muß Sie lieben; denn ich, [999] sein Bruder kam ihm ja zuvor und mein armes Herz ist ja nur bestimmt, zu entsagen und mich Denen zu opfern, die mir mein Leben sind!

Als dem jungen Manne dieses furchtbar schmerzliche Geständniß, diese qualvolle Ahnung in convulsivisch hervorgestoßenen Worten von den Lippen gekommen war und er fast ohnmächtig in einen Sessel sank, blieb Melanie eine Weile stehen und sah nicht ganz ohne Mitleid zu Siegbert, dessen leidenschaftlichem Festhalten sie sich entrissen hatte, nieder.

Siegbert Wildungen! sagte sie dann mit ruhiger Kälte. Lassen Sie diese Thorheiten! Ich liebe Sie nicht. Und will auch Ihren Bruder nie mehr sehen ...

Melanie! rief Siegbert und faßte nach dem Herzen, das ein krampfhafter Schmerz durchzuckte..

Die kalte, in ihrem Innersten geknickte und verwundete Melanie fuhr fort:

Sie haben Beide sich ohne Zweifel im Leben Ziele gesetzt, die über eine flüchtige Mädchenliebe hinausgehen werden! Halten Sie mich nicht für so leichtsinnig, als ich Ihnen scheine! Auch ich habe mir ein Ziel gesetzt. Es liegt nicht da, wohin Sie und Ihr Bruder steuern! Wiederholen Sie Diesem meine Bitte, unterstützen Sie sie, wenn Sie noch etwas Neigung für mich haben. Im Übrigen denken Sie nicht mehr an mich!.. Sie müssen ein Weib lieben, Wildungen, das wirklich eine Madonna ist, nicht Ihrer Phantasie und Ihrer Weltunkenntniß als eine solche erscheint. Ich bin keine Madonna. Und Ihr Bruder – den kenn' ich[1000] nicht und mag ihn nicht kennen lernen ... nie mehr sehen ...

Du widersprichst dir, Grausame! sagte Siegbert mit bitterstem Schmerz. Ach, mein Bruder sucht keine Madonnen..

Reden Sie nichts für ihn! Nein! Nichts! Er trifft mich nie, heute nicht, morgen nicht, nie! Leben Sie wohl, Wildungen! Glühen Sie für Ihre Kunst, nicht für Mädchenherzen! Wenigstens nicht für solche, wie das meine ist! Das sag' ich aus Stolz, nicht für mich, sondern.. für Sie!

Damit ergriff sie die Thür. Sie hatte das Letzte schon im Gehen gesprochen.. Sie verschwand. Der Wagen rollte dahin!

Siegbert sank auf einen Sessel, neben den Blumen, die er eben erfrischen wollte. Er war sterbender als diese ...

So lag er über eine halbe Stunde fast bewußtlos ...

Das furchtbare Wort: Ich liebe Sie nicht! ... wühlte in seiner Brust, wie ein zweischneidiges Schwert!

Dann zog sich die klaffende Wunde etwas zusammen, als er dem letzten Worte des stolzen, schönen, aber marmorkalt gewordenen Mädchens nachdachte:

»Das sag' ich aus Stolz, nicht für mich, sondern für Sie«.

Es sollte dies ein Balsam für seinen Schmerz sein, aber er mochte ihn nicht nehmen, er wies ihn von sich, er wiederholte sich nur:

»Ich liebe Sie nicht!«

Als sich der tiefgedemüthigte und im innersten Herzen [1001] verwundete junge Mann wie aus einem langen düstern Traume aufgerafft, schlug es drei Uhr ...

Er ermannte sich soweit wenigstens, jetzt sich zu erheben, den Hut zu nehmen, die Thür zu verschließen, den Schlüssel abzugeben und wie ohnmächtig durch die Straßen nach jener Promenade zu gehen, wo sich mitten in der Stadt der berühmte Restaurant »Grün« befand ...

Er traf den Bruder nicht, wohl aber ... einen Brief, den er in dem dennoch von Dankmar bestellten Zimmer still für sich allein las.

[1002]
12. Capitel. Junges Leben, frisches Hoffen
Zwölftes Capitel
Junges Leben, frisches Hoffen

Dankmar's Brief an seinen Bruder Siegbert lautete:

Gute Seele! Ach! Ach! ... Dies Ach! bedeutet erstens: Wir werden keinen Champagner trinken, wir werden keine Trüffeln essen! Laß dir ein Beefsteak geben, Herz, so zubereitet, wie du es liebst und höre dann gestärkt in Ruhe an, weshalb ich mein Wort nicht halten kann! Es kommt jetzt das zweite: Ach!

Wie du heute in dein Atelier tratest und mir zwischen Thür und Angel das Geständniß deiner Liebe zu Melanie Schlurck machtest, hast du wol nicht geahnt, daß du mich mit zwei, dir genauer von mir zu spezificirenden Donnerschlägen zurückließest. Donnerschlag eins ... du siehst, ich bin noch immer bei gesunder Logik ... betraf mich allein, Donnerschlag zwei muß aber durchaus dich auch noch treffen.

Dies Gewitter kann ich dir nicht ersparen. Kein Blitzableiter! Keine Vertuschung! Es hängt aber Alles so zusammen:

Beim ersten Gange unsres heutigen dinirenden Excesses wollt' ich dir erzählen, daß ich die Thorheit gehabt [1003] habe, in Hohenberg einen Roman anzuspinnen oder richtiger gesagt, mich zu verlieben.

Beim zweiten, wollt' ich dir sagen, in Wen? oder mit Wem?

Lieber Bruder! Die Götter haben es gut mit uns im Sinn. Sie wollen, daß wir exemplarische Menschen werden oder wol gar zu jenen Sterblichen gehören, die sie früh sterben lassen, damit sie nicht zu vorzüglich werden.

Das liebreizende Wesen, das mich gefesselt hat, ist Melanie.

Einen sehr edlen Charakter würde es eigentlich verrathen, wenn ich dir Das nicht sagte. Es müßte die Olympier zu Thränen rühren, sähen sie einen Menschen, einen Bruder, einen Referendarius, der entsagt, eines andern Menschen, eines Bruders, eines Malers wegen. Aber glaube mir, die Rolle, so dankbar sie sein mag für die Rührung, für den Beifall aller Gefühlvollen, so empfehlend sie sein mag für den bekannten Monthyon'schen Tugendpreis in Paris, sie gefällt mir nicht! Warum nicht? Weil sie mir nicht stehen würde! Natürlich muß der Mensch sein, sagte Eva, als Adam neben ihr, von den peinigendsten Gewissensbissen gefoltert, nicht schlafen konnte. Natürlich bin auch ich! Ich zerstöre die Ironie des Schicksals und sage dir offen, daß ich auch beim dritten Gange noch von Melanie gesprochen hätte.

Ich liebte sie!

Ist Das erhört, daß ich das Mädchen liebe, das mein Bruder liebt?

[1004] Es ist erhört!

Beim Dessert, wo wir vielleicht eine neueste frischangekommene Orange aus Messina verzehrt hätten, hätt' ich dir gesagt:

Feindlicher Bruder, die Braut von Messina verlangt ein Opfer! Du oder ich? Und ich hätte das Messer gehoben ... hätt' ich Das? Ja! Und ich hätte mit dem Messer dich gemordet? Nein! Ich hätte die Orange von Messina in zwei Theile zerschnitten!

Vielleicht aber auch nicht! Und vielleicht doch! Wer weiß! ...

Und jetzt kommt der zweite Donnerschlag, der dich mit betrifft!

Ich werde moralisch, Bruder!

Frage: Ist dir deine Liebe mit Melanie Schlurck Ernst? Bist du ein Thor, in einem Wesen eine Madonna zu finden, die aller Welt anders als dir erscheint und mir.. jetzt.. jetzt.. wie eine grüngesprenkelte Eidechse. Eine Eidechse, Bruder, denke dir das gefährliche Thier! Man hat Fälle, daß Eidechsen zu den grünen Zweigen hinaufblicken nach den freien Vögeln, die sich sorglos oben auf ihnen wiegen. Denke dir den Aufblick einer Eidechse zu einem Vogel, der nichts Schlimmes ahnt und singt und vielleicht zur Erde hüpft, in den Busch, in den Rosenstrauch, auf die blumige Wiese, wo die schöne Lazerte haust, und.. verloren ist er.

Soll ich dir ein Stückchen von dieser unsrer Eidechse erzählen?

[1005] Deinem besten Freunde und einzigen Bruder Dankmar lag sehr viel an einem gewissen höchst räthselhaften Bilde ... Dies Bild soll einen geheimen Druck und an der Rückwand Papiere besitzen, die irgend einer Person, ich muß sie einen Prinzen nennen, von Interesse sind ... die Eidechse hält mich für den Prinzen ... und will mir das Bild verschaffen; mir ..., weil ich ein Prinz bin.. zwar arm, aber doch ein Prinz! Zwar verschuldet, aber doch ein Prinz! Verstehst du ... Das Bild liegt irgendwo versteckt, unzugänglich. Wo, frägst du? Ich sage, in einem großen Möbeltransportwagen, der von Hohenberg nach der Residenz von zwei Gendarmen zwei Bedienten und einer Excellenz, dem Geheimrath von Harder, feierlich geleitet wird ... Melanie verspricht mir, was sag' ich, dem Prinzen, das Bild zu schaffen.. Was thut sie?. Sie spinnt eine Intrigue mit der Excellenz an.. die Excellenz geht in's Netz und ist verliebt, geschmeidig wie ein Aal. Es hat Wolken herabgeregnet.. Alles ist naß und feucht.. Man trifft in einer Herberge, Namens Heidekrug, zusammen.. Die Excellenz verlangt Beweise von Liebe, von Hingebung ... Er schmachtet, sie schmachtet.. Die Eidechse ist liebenswürdig, aber doch zu schlau und zu grausam für Unsereins.. Sie will das Bild und die Excellenz will einen Beweis ihrer Liebe ... Was erfindet sie?.. Ein Stelldichein!.. Sie soll ihm damit natürlich nichts Anderes gewähren, als nur ein Zeichen Dessen, was sie ihm zu gewähren.. im Stande wäre!.. So denkt die Excellenz. Die Eidechse zögert, schlängelt, schwänzelt. Endlich sagt sie: Ja, ich habe dir [1006] viel zu sagen, viel Gift in deine kleinen, schönen Ohren zu träufeln! Ich bin unglücklich! Die Excellenz wird jung unter ihrem verjüngenden Athem. Sie wagt Alles für einen zarten elastischen Druck der Eidechse. Da sagt diese: Ich komme, aber ich bin bewacht, du bist bewacht, wir Alle sind bewacht.. wo sehen wir uns? Drinnen ist's zu laut, draußen ist's zu naß! Wo seh' ich dich? Wo sag' ich dir, was ich fühle, was ich empfinde, wenn ich freie Vögel auf den Zweigen sehe und sie nicht mit einem Satz erschnappen kann? Wo? Wo? Die Excellenz ist zu Allem bereit, und da schlägt die Listige vor: Kein Ort ist sichrer als dein großer Wagen! Das ist ein Tanzsaal! Das ist ein Gesellschaftszimmer! Dort flüst're ich dir die drei Worte zu, die ich noch Keinem sagte, die drei Worte, inhaltsschwer, sie gehen von Munde zu Munde.. Die Excellenz macht Schwierigkeiten. Die Eidechse weiß Alles zu beseitigen, die Gendarmen, die Bedienten, den eisernen Schlagbaum.. Du öffnest um elf Uhr den Wagen, komm' ich auch erst um zwölf! Ich gebe dir den Beweis, den du Einziger, verlangst!.. Der Excellenz wird es schwindlig. Der Mann denkt an die drei Worte inhaltsschwer, sie gehen von Munde zu Munde.. Was ahnt er nicht? Was hofft er nicht? Es schlägt elf. Er hat die Wächter entfernt. Die zechen! Die trinken auf Königs Wohl! Der Wagen wird offen.. Er hatte »nur etwas in ihm zu suchen«, legt die Stange an, als schlösse er wieder zu und geht auf sein Zimmer, um sich sogleich heimlich wieder zurück zu begeben und die drei Worte zu vernehmen, inhaltsschwer. Die Eidechse..

[1007] husch.. rasch zur Hand.. kaum verschwand die Excellenz, war sie im Wagen und hatte, was der »Prinz« wollte ... das Bild! Nun entschlüpft sie.. aber hui! Da erschrickt sie vor Etwas, das sie nicht ahnte.. Es war vielleicht nur eine Katze, ein großer Kater, den sie fürchtete und vor dem sie Entsetzen überlief. Die Katzen lieben ja auch die freien Vögel auf grünen Zweigen und haben Brotneid gegen die Eidechsen. Katze oder Iltis ... genug, die Eidechse erschrickt so heftig, daß ihr das Bild entfällt und sie vor der Thür des Prinzen fast die Felsenspalte nicht wiederfindet, wo sie unterkriecht ... Es gab Lärm,.. wenigstens trat ein Reisender, ein Amerikaner, wenn nicht von Geburt doch von Gesinnung, auf den Corridor. Er erhebt das Bild, nimmt an den im Mondlicht erkennbaren Zügen ein Interesse, das dem »Prinzen« noch jetzt nicht erklärlich ist, und folgt der Weisung der in der Ferne harrenden Eidechse, die ihm rasch noch zunickt: Da! Dort! Dem schlummernden Prinzen gehört's! Bitte! Wollen Sie? ... Der bringt's dem »Prinzen« und legt's ihm feierlich unter's Kissen, während er schläft oder nicht schläft, gleichviel ... Das Bild ist da.. der »Prinz« hat es daheim in der offnen Kommode seiner »Aula« ... Die Eidechse sagte dem Amerikaner: Brav, mein Herr, ich danke Ihnen ... und verschwand.

Und von wem weiß ich das Alles?

Eben jenes Gespenst hat's mir erzählt, vor dem die Eidechse so erschrak.. ein somnambüler Kater, der sich auf's Mausen versteht und den deshalb auch die schöne, [1008] buntgeringelte Eidechse nicht leiden kann. Du kennst den somnambülen Kater.. Er heißt Hackert.

Brüderlein! Die Geschichte ist eigentlich aus! Denn das lustige Nachspiel, daß die Excellenz zu spät kommt, sich in dem Möbelwagen häuslich niederläßt, auf die Eidechse und die drei Worte, von Munde zu Munde Stunde zu Stunde vergebens wartet, endlich einschläft, eingeschlafen und eingeschlossen fortgefahren wird in die Residenz, Das ist nur ein humoristischer Schnörkel des Wortes: Punktum! und das satirische Nachspiel des Dramas bei Mondscheinbeleuchtung. Das Bild ist da, der falsche Prinz ist da, auch die Excellenz soll wieder aufgefunden sein.. aber die Eidechse! Die Eidechse!

Darf ich nun moralisch werden? Darf ich sagen, daß eine solche schöne liebenswürdige, aber tollkühne, listige Natter uns Gebrüder Wildungen nicht im Ernst bei den Fittichen fassen darf?

Die drei Worte, inhaltschwer, sie gehen von Munde zu Munde – heißen doch wol nur: Ich liebe dich!

Ich liebe dich! Himmlischer Weihegruß reiner Seelen! Glockenaccord der Andacht und Harfenton der reinsten Anbetung! Laß ihn aus deinem Herzen klingen, wo er würdig widerklingt; nur da nicht, Bruder, wo man über Melusinen lachen, mit ihnen kosen, mit ihnen im Krystallbache plätschern, aber immer auf den sichern seichten Stellen bleiben muß, wo sie uns nicht hinunter ziehen können in's ewige Vergessen und man ihnen nimmermehr außer dem Munde auch das Herz und das Leben geben darf!

[1009] Ich bin über diese schöne Eidechse hinaus!.. Ich will mich fassen und trösten.. Aber du? Du, Siegbert? Du, den schon die Bilder wegen ihrer verspotten? Du, der du Madonnen siehst, wo Andre schönflossige, geringelte Fischweiber ... und nun gar dein eigner Bruder eine Eidechse?

Denn Melanie ist die Eidechse! Ach Melanie! Melanie! Ihr Weiber! Wie schmilzt uns bei euerm Namen so sanft und so weich das Herz gleich Schneeflocken, die von dem Frühlingsveilchen der erste Märzsonnenstrahl hinwegküßt! ... Ach! Wehe! Wehe! Aber der Name Schlurck.. Ha, dies Hinterher rüttelt auf, das mahnt gleich zur Besinnung! Ich dank' euch, ihr Götter, daß dieser Name Melanie, der so sanft dahingleitet, selbst bei den verliebtesten Menschen, deren Phantasie mit Dampf fährt, doch durch den Namen Schlurck gebremst werden muß!

Nun könnt' ich wol sagen, Bruder, zum Tändeln für mich, reicht sie immerhin aus. Ich bin kein Mensch, dem sich viel in der Seele vergiften läßt. Ich habe innerlich zu viel Gegengift.. Rattenpulver heilt Schlangenbisse.. Aber du! Du, mit deinem aetherreinen Auge! Du Sohn des Azurs ... sollst du ihr Azor werden, belächelter, verspotteter Schooßhund ihrer Laune? Nein, ich selber verschmähe sie nun sogar zum Tändeln! Das bin ich dir schuldig, deinem Schmerze, deinem Jammer, deinen Thränen; denn ich weiß, du bist Thor genug, zu weinen, nicht daß du Melanie verlierst, nein darüber, daß Melanie doch eine Eidechse ist!

Zum Lachen ist das Abenteuer mit der Excellenz kostbar..

[1010] Preisaufgabe für ein Seitenstück zum Froschmäusekrieg! ... Ferner, der Besitz des Bildes kann sehr nützlich sein – aber.. über alles Übrige mach' einen Strich, so dick, so fest, wie die Eisenstange über dem Transportwagen war.

Ich scherze, Bruder! Und doch bin ich betrübt, wenigstens nicht so heiter, daß ich bei Grüns mit dir speisen kann! Ich bin unfähig, mich für den ganzen Tag zu sammeln. Erst deine Entdeckung, dann der Rapport des somnambülen Katers, den du heute Abend wiedersehen sollst. Ich erwarte dich nach neun Uhr in der Brandgasse Nr. 9 im zweiten Hofe, drei Treppen hoch. Adresse: Fritz Hackert. Komm' aber allein, ohne deine neuen Freunde, die erst einen Scheffel Salz mit mir essen müssen, bis sie die meinen werden. Die hundert Thaler kannst du auch mitbringen, wenn du willst! Fritz Hackert, Brandgasse No. 9. Du wirst erstaunen über diese Annäherung und Aussöhnung. Hackert will Bekenntnisse machen, aber nur in deiner Gegenwart, vor dir, von dem er sagte, du hättest den ersten Funken der Liebe in seine Nacht geworfen!

Bis dahin forsche mir nicht nach! Die beiden Donnerschläge haben mich erschüttert und zu jedem Entschlusse für heute unfähig gemacht.. Ich muß Natur suchen, muß frische Luft athmen. Ich muß im Grase den Namen: Melanie! ausweinen ... Nein! keine Thränen! Nein! Wir brauchen Kraft für Das, was endlich beginnen soll! Hinweg aus unsrer Bahn, entnervende Frauengunst! Weiß denn ein Weib zu würdigen, was ihm ein Jüngling, der sie liebt, [1011] zum Opfer bringt? Ich kehre zurück zu unsrer großen Aufgabe, wie ich sie im Tempelhause von Angerode und im Walde bei Hohenberg unter einer alten dreihundertjährigen Eiche geahnt, ergriffen, mit lebendigem Auge geschaut habe! Denk' an die Taube über deinen flammenverzehrten Templern! Denk' an das vierblättrige Kleeblatt am Kreuze, das mir ein Symbol geworden ist, einen großen Gedanken zu suchen auf der platten Wiese des Lebens, wie man ein Vierblatt im Klee sucht und freudig ruft: Ich hab's! Am Abend, Bruder, grüße mich stark und entschieden! Wir sind, denk' ich, einig über die Eidechse, und fliegen nicht von unsern Bäumen zu ihr hinunter, mag sie auch mit Augen wie Rubinen glänzen und ein Bett von eitel Rosen zeigen, auf dem es schön dünken mag, unsterblich sterblich mit ihr zu ruhen! Bei dem Geiste unsres Vaters! Dein ... Bruder!

Nachschrift. Verschließ mir das Bild! Ich geb's Morgen an den Prinzen Egon von Hohenberg ab, dem es gehört.

. ...Als Siegbert diesen Brief gelesen hatte, weinte er wirklich. Aber er weinte nicht aus Schwäche um Melanie's Verlust, sondern aus Liebe für den Bruder.

Dies Wort: Beim Geiste unsres Vaters – öffnete die Schleusen seiner Seele! Das war ein Zauberwort der Liebe und der kräftigenden Erinnerung! Was hatte er, wenn nicht die starke Hand des Bruders, den er gelobt hatte, zu erziehen und der ihn erzog!

Von dem Augenblicke an, wo er schon aus Melanie's gewitterblitzenden Augen, aus der dunklen Glut ihres [1012] Zornes gefühlt hatte, daß sie wol den Bruder oder der Bruder sie liebe, war sein Entschluß fest, nach einer solchen Blüte nicht mehr aufzublicken. Die gab er hin! Mit Schmerz; denn er gehörte zu jenen Männern, deren Bestimmung es zu sein scheint, gerade die Frauen zu lieben, die am wenigsten für sie passen. Aber er gab sie schon dahin! .... Nun aber bot der Bruder auch einen Ersatz, eine Heilung dar, die Verachtung des erträumten Glückes und ein höheres Ziel. Er fühlte das Letztere nicht mit dem Feuer wie Dankmar, er fühlte die Verachtung nicht so tief, wie Dankmar sie durch die Erzählung von einem gewagten, zweideutigen Abenteuer ihm.. er sah Das.. absichtlich und geschärft, förmlich einätzen wollte, ja es entgegnete seinen scharfen Worten in ihm die Gedankenreihe: Wie kannst du, Undankbarer, Das so heftig tadeln, was doch nur die rasendste Leidenschaft und Liebe für dich veranlaßt haben kann!.. aber der Rest seiner Betrachtungen war der, daß er sich sagte:

Die schöne Welt, die du dir aufgerichtet, ist zerstört! Und wo ich nicht die Blüte mehr sehe, mag ich keine Frucht.

Er entschloß sich, nur noch ... »unglücklich zu lieben«.

Nachdem er sich für sein langes Fasten durch mäßige Kost entschädigt hatte, ging er, ruhig und mit gesenktem Haupte schlendernd, erst in die Wallstraße, um Armand's Auftrag beim Tischler Märtens und gelegentlich auch für Franziska Heunisch auszurichten, dann ging er nach Haus und zählte sogleich das Geld für Hackert zurecht, über den [1013] plötzlich so Günstiges zu vernehmen ihm innigst wohlthat.

Die Wirthin wußte ihm nichts zu melden, als daß der Fuhrmann aus dem Pelikan mit seinem lahmen Hunde dagewesen wäre, auch ein anderer ihr ganz fremder Herr von finsterem, strengem Aussehen, der seinen Namen nicht genannt, aber versprochen hätte, wiederzukommen..

Fast antheillos warf er sich, halb entkleidet, auf das Canapé, das in Dankmar's Zimmer, in ihrer sogenannten Aula, stand.

Eine Weile that diese Ruhe, dieses Brüten, ihm wohl. Er schlug die hundert Thaler ein, die Hackert heute Abend in einer Wohnung zurückempfangen sollte, die ihm aus Leidenfrost's Äußerungen über die berüchtigte Auguste Ludmer, früher Malermodell, sehr unheimlich vorgekommen sein würde, wenn er nicht auch einer dort hausenden Proletarierfamilie in wohlthuender Weise erwähnt hätte.

Aber so interessant es ihm war, diese neuen Anregungen, besonders über Hackert, zu dem er längst wieder Vertrauen gefaßt hatte, seitdem er an Lasally das Pferd richtig zurückgestellt gefunden, empfangen zu haben, diese Gedankenreihe konnte ihn von seinem Kummer nicht loslösen.

Er suchte nach andern Gegenständen, um aus dem tiefen Unmuth, der ihn umschattete, wieder zum Lichte eines freieren Gedankens zu kommen. Er fiel so auf das [1014] Bild, dies vielbesprochene Bild! ... Dankmar hatte ihm ja aufgetragen, es sorgsamer zu verwahren.

Wie er an dem alten Rahmen des blassen Pastellgemäldes mit den Fingern streifte und den alten Staub auf der abgesprungenen Vergoldung tilgte, dann hinten den neuangefügten Boden befühlte, der etwas einer bedeutenden Familie so Wichtiges verbergen sollte, begriff er kaum, wer es gewesen sein könne, der mit einem Andern auf so gefährliche Weise hätte sich verständigen wollen. Durch ein Bild! Er glaubte kaum daran, daß das Bild in seinem Rücken Papiere enthielt ...

Es war weniger Neugier, als die zufällige Absicht, sich irgendwie zu zerstreuen, daß er anfing, einem etwaigen Mechanismus des Bildes nachzuspüren. Der wahre Besitzer, dachte er, wird sich leicht helfen; er weiß entweder das Geheimniß oder er zertrümmert den Rahmen. Das Letztere durfte er nicht und ein Geheimniß war nicht zu entdecken ...

Er gab seine Neugier auf und machte den Versuch, irgend eine Beschäftigung vorzunehmen, vielleicht der Mutter zu schreiben, vielleicht etwas zu zeichnen.

In den Zurüstungen dazu traf es sich zufällig, daß er auf einem Tische, auf dem er neben sich das Bild gelegt hatte, einen harten Gegenstand, sein Tintenfaß, bei Seite stellen wollte, um Papier aus einer, großen Platz wegnehmenden Mappe zu wählen. Nicht achtend, zufällig, stellte er das schwere Tintenfaß auf das Glas des Bildes. Doch ein starkes Glas! dachte er erschreckend und nahm das Bild, um [1015] mit einem flüchtigen Blick die Stärke des Glases zu würdigen. Dies führte ihn zufällig darauf, mit Kraft auf den oberen Rand des Glases zu drücken und im selben Augenblick sprang hinten der Deckel der Kapsel auf. Durch Zufall hatte er das Geheimniß der Öffnung selbst gefunden.

Erstaunt über diese wunderbare Enträthselung des Bildes, zögerte er fast, dem weitern Inhalt der Kapsel nachzuspüren; doch fielen darin enthaltene, zartgeschriebene kleine Briefblätter von selbst heraus.

Die Versuchung, diese kleine gekritzelte, blaßgelbe Handschrift zu lesen, war Anfangs nicht groß ...

Auch widerstand ihr Siegbert. Er war ein Gewissensmensch, der selbst die Geschenke des Zufalls zurückwies, wenn er annehmen konnte, daß sie einem Andern gehörten.

Wer hätte Siegbert ein großes Verbrechen daraus gemacht, wenn er diese Papiere gelesen hätte? Er wußte so gar nichts vom näheren Zusammenhang dieser Mittheilungen und kannte nicht im mindesten die Bedeutung, die sie dem Prinzen von Hohenberg haben mußten, ja er wußte nicht einmal, von Wem sie kamen ... Darauf hin durchflog er flüchtig wenigstens die ersten Seiten ....

Er fand, daß darin eine Mutter klagt, wie alle Welt sich gegen sie verschworen hätte, wie sie keinen Freund mehr auf Erden fände als Gott, und wie sie nicht wisse, wie Das, was sie einem entfernten Sohne, der seinem Stande, leider auch seiner Erziehung, seiner Bildung entsagt hätte, nach [1016] ihrem Tode in die Hände kommen sollte. Jedes bei Gerichten oder Notaren niedergelegte Dokument würde Aufsehen erregen und von Seiten ihrer Feinde doch errathen werden. Wie oft wären nicht durch scheinbaren Diebstahl Geheimnisse gewaltsam entdeckt worden! Und doch wäre, was sie zu sagen hätte, so wichtig, so folgenschwer –

Hier brach Siegbert schon ab und ließ die Papiere wie glühende Kohlen fallen.

Nach einigen Augenblicken entschloß er sich, sie wieder zusammenzulegen und das Kästchen zu verschließen.

Wie er sich eben dazu anschicken wollte und die Blättchen an einander reihte, fiel sein Auge, das nur ganz obenhin und flüchtig auf die Buchstaben sah, auf einen Namen, der ihm im höchsten Grade auffallen mußte. Dieser Name hieß: Rodewald. Rodewald war der Familienname seiner Mutter..

Er wagte noch einen Blick und glaubte sich nicht zu täuschen, wenn er annahm, daß hier von seinem Oheim gesprochen wurde, dem Bruder seiner Mutter, einem gewissen Heinrich Rodewald, von dem er viel Gutes und viel Schlimmes in seiner Jugend gehört hatte, viel Wüstes und Verworrenes.. Heinrich Rodewald galt als verschollen. Er hatte eine Partie gemacht, von der Siegbert ungefähr so viel wußte, daß sie seinen Verhältnissen nicht entsprechend gewesen war.. Dann wußte er noch, daß er nach Frankreich gegangen war – mehr hatte man von ihm nie erfahren.. Heinrich Rodewald! Der Name stand jetzt [1017] fast auf allen diesen Blättern. Er mußte sie fallen lassen, sie mit Gewalt von sich thun, um nicht der Verführung zu erliegen, sie im Zusammenhang zu lesen.

Als er sich von dem Tische, der ihn magisch anzog, fast mit Gewalt getrennt hatte, fühlte er, wie mächtig die Versuchung ihn doch gefangen hielt.

Heinrich Rodewald! sagte er sich. Mein Oheim! Der verschollene Bruder meiner Mutter, den sie so liebte, der so schön und so leichtsinnig, so geistreich und so unglücklich gewesen sein soll! Wenn ich hier etwas von ihm erführe! Wenn ich meiner Mutter die Freude bereiten könnte, sie auf eine Spur des verlorenen Bruders zu führen, eines Menschen, dem Alle die glänzendste Zukunft prophezeiten und der unter schöner Frauen Gunst, unter Frauenanbetung und gerade durch die Frauen zu Grunde gegangen sein soll!

So nur zerstreut war Alles, was er von Heinrich Rodewald wußte.. Noch fiel ihm ein, daß er ganz klein war, als sein Vater einmal gesagt hatte, als von des Onkels Wanderungen die Rede war: Nach Amerika sollte Rodewald ziehen! Da mag er Wälder roden! Dies Wortspiel hatte sich ihm tief eingeprägt und doch war es aus so früher Zeit, daß Dankmar nichts davon wußte; denn es war im Hause hergebracht, von dem Oheim wenig zu sprechen und ihn als verschollen zu betrachten. Man sprach von Kriegsdiensten, die er in Spanien genommen hätte oder von der französischen Fremdenlegion in Algerien.

Es war nicht ganz Neugier, was Siegbert reizte, es war [1018] der erwachte Familiensinn, das wirkliche Interesse für einen Mann, dem er so nahe verwandt war. Wie bebte er aber zurück, als er, noch einmal die Papiere ergreifend und sie durchblätternd, auf einer Seite den Namen Thaldüren und nicht weit davon auch das Wort Wildungen entdeckte!..

Wieder ließ er die Papiere fallen, aber jetzt in der bestimmten Absicht, sie zu lesen.

Warum sollt' ich nicht? sagte er zu sich selbst. Der wunderbarste Zufall fordert mich ja auf, in die Geheimnisse meiner Familie zu dringen. Bin ich nicht sogar gebunden, wenn ich von einem Menschen höre, dessen Schicksal uns bekümmert, die, die von ihm wissen, auszuforschen, gleichviel ob sie offen von ihm sprechen wollen oder ob ich sie nur belausche? Wissen ist noch nicht ausplaudern. Wenn ich schweigen kann, wenn ich Das, was ich hier erfahre, tief in mein Innerstes verschließe und die Gelegenheit ehre, die mich zum Mitwisser fremder Tugend oder fremder Schuld machte, handle ich da gegen meine bessere Überzeugung? Ich sehe eine Quelle und sollte mich nicht an ihr erquicken, weil eine Mauer zu übersteigen wäre, die nicht mein ist, während ich vor Durst verschmachte? Ich lese diese Papiere. Wer kann mich hindern? Wer sagt mir, daß ich sie nicht lesen darf?

Damit ergriff er einen Stuhl, rückte ihn an den Tisch, den Tisch dem Fenster zu, legte sich die Papiere zurecht und war eben im Begriff, mit dem ersten Bogen zu [1019] beginnen, als es stark und kräftig draußen an der vorderen Thür pochte.

Diese Störung war unwillkommen. Er hatte vergessen zuzuschließen oder sich verläugnen zu lassen.

Es klopfte noch einmal und während er rasch die Papiere, die ungeordnet neben ihm lagen, bunt durcheinander wieder in die Kapsel steckte, zudrückte und das Bild bei Seite legte, war schon Jemand in das vordere Zimmer, in die sogenannte »Akademie«, eingetreten.

Der Besucher war ein untersetzter Mann, wol schon ein Sechziger, aber fest, gedrungen und für sein Alter kerngesund. Er hatte eine Mütze auf, die er beim Eintreten abnahm und einen Kopf von harten, strengen Zügen sehen ließ. Die Stirn trat etwas hervor, die Nase war nicht fein geformt; sie war kurz und von starken Öffnungen, das Auge lag tief in grauüberbuschten Höhlen ...

Das graue Haar mußte einst dunkel gewesen sein; noch war es ungemein stark und ging bis tief über die Stirn herab. Der Mund war ernst, ohne das geringste Zeichen von Sarkasmus oder Satire, aber auch ohne Zeichen irgend eines üblen Willens. Recht düster und streng war der noch wenig ergraute Backenbart. Die Kleidung schlicht, aber sauber. Die Kamaschen an den Füßen gaben dem Fremden sogar ein gewähltes Aussehen, wozu freilich die grauen baumwollenen Handschuhe über den Fingern nicht paßten.

Siegbert hatte diesen Mann noch nie gesehen.

Als er aufgestanden war und sich in das vordere[1020] Zimmer begeben hatte, wo er den Fremden empfing, sagte dieser, daß er schon einmal dagewesen wäre, um einen der Herren Brüder Wildungen zu sprechen.

Als ihm Siegbert entgegnete, daß er der Ältere dieses Namens und Maler wäre, nannte auch der Fremde seinen Namen.

Ich heiße schlechtweg Rudhard! sagte er.

Siegbert forderte ihn auf Platz zu nehmen und wartete mit Spannung auf Das, was er von diesem Besuche würde zu vernehmen haben.

Auch diesen Namen hatte er noch nie gehört.

Ich muß es für ein großes Glück halten, begann Rudhard, daß ich in einer Angelegenheit, die ich schon längst zu einem guten Ende hätte führen sollen, nur so kurze Wege einzuschlagen brauche. Ich dachte auf die größten Schwierigkeiten zu stoßen und bin erfreut, daß sich mir Alles wie von selbst in die Hände gibt, den letzten Willen einer verstorbenen hohen Dame zu vollziehen. Sie kannten die Fürstin Amanda von Hohenberg?

Siegbert verneinte diese Frage.

So wird sie Ihr Herr Bruder gekannt haben?

Auch für seinen Bruder bestritt Siegbert eine genauere Bekanntschaft mit einer so vornehmen Frau. Er hätte davon Kenntniß haben müssen.

Dann bin ich erstaunt, sagte Rudhard, wie sie Beide, meine Herren, in eine so geheimnißvolle Angelegenheit verwickelt sein können, wie Die ist, welche mich zu Ihnen führt.

[1021] Sie spannen meine Neugier, sagte Siegbert und fand in dem Benehmen des Fremden mehr Weltton und Formenglätte, als dem schlichten Äußern und dem strengen Blick der Augen zu entsprechen schien.

Auch wird Ihnen dann mein Name fremd sein, fuhr Rudhard fort, und ich muß es daher für meine Pflicht halten, von mir selbst zu sprechen ... Ich war in dem fürstlich Hohenberg'schen Dorfe Plessen und für eine ziemliche Anzahl in der Nähe liegender Vorwerke vor Jahren Pfarrer und hatte wie es schien zur Zufriedenheit meiner Gemeinde an diesem Orte eine lange Zeit gewirkt. Beförderung hatt' ich freilich wenig zu hoffen, da mein religiöses Glaubensbekenntniß von jenem abwich, durch das allein man damals auf dem kirchlichen Gebiete, leider auch in manchem andern, sein Glück machen konnte. Zu heucheln war meiner nicht würdig. So ertrug ich mein bescheidenes, oft dürftiges Loos. Ich konnte es, da Gott meine Ehe mit Kindern nicht gesegnet hatte und ich nur für mein Weib, einige Verwandte und mich zu sorgen brauchte.

Siegbert fühlte sich von dieser Eröffnung schon angezogen. Er gedachte, ohnehin bewegt, seines Vaters und fühlte die Leiden auch seines gesinnungsgetreuen Charakters um so schmerzlicher nach, als dieser gerade noch die Noth um die Versorgung seiner Kinder gehabt hatte und sich selbst so Vieles entzog, um nur die Seinen glücklich zu sehen.

Er hörte, befremdet zugleich von der Ehre, wie er zu [1022] diesen Mittheilungen käme, und mit gelassener, wehmüthiger Aufmerksamkeit zu.

Rudhard fuhr fort:

Mein Loos schien sich zu verbessern, als die Für stin Amanda von Hohenberg sich entschloß, ihren dauernden Wohnsitz in Hohenberg, ihrem dicht bei meiner Pfarre gelegenen Stammschlosse, zu nehmen und ich daraus wol eine Erleichterung meiner Lage, wenigstens eine freundlichere Anregung erhoffen durfte. Zu gleicher Zeit wußt' ich, daß sie sich der Erziehung ihres einzigen Kindes, eines Knaben, in dieser Zurückgezogenheit ausschließlich zu widmen gedachte. Ich erfuhr, daß sie sich sorgfältig nach mir erkundigte und die Absicht hegte, mich mit in ihren neuen Lebensplan hineinzuziehen. Alle diese Anzeichen einer neuen bessern Zukunft trübten sich plötzlich, als die Fürstin mir gleich in den ersten Gesprächen, die ich mit ihr nach ihrer vollständigen Einrichtung wechselte, als eine fanatische Anhängerin der neuen frömmelnden Richtung entgegentrat. Sie betonte den Erlöser, die Gnade, die Rechtfertigung und die Nichtigkeit der guten Werke in einem Grade, der mich mit Befremden erfüllte. Eine Weltdame, die sie war, einst, wie ich gehört hatte, vielfach gefeiert, Gattin jenes wilden, berühmten Kriegers, über dessen Sitten wie über seine Tapferkeit nur eine Meinung herrschte, schien es mir unglaublich, daß sie in die Netze der neuen Verlockungen durch eine trübe, oft unehrliche Welt- und Lebensauffassung fallen konnte. Ich beging die Thorheit, mit ihr zu streiten. Der [1023] Streit war gerade Das, was sie suchte. Aber weit entfernt, mir zu danken, wie ich ihr doch Gelegenheit bot, für ihre Wahrheit und für ihren Heiland Zeugniß abzulegen, warf sie Mistrauen, Groll, ja zuletzt Feindschaft auf mich. Zwar erhielt ich die Oberaufsicht über den jungen Prinzen und begann mein Werk in meiner Weise, allein es verging nicht ein Tag, wo ich über unsre entgegengesetzten Grundsätze der Erziehung mit der Mutter nicht in Streit gerieth. Wie oft wollt' ich nicht die Zügel meiner Aufsicht in ihre Hand zurückgeben! Eine gewisse Achtung vor meinen mancherlei zerstreuten Kenntnissen, die Liebe und Anhänglichkeit des Knaben an mich trotz meiner Strenge, endlich aber wol die Verlegenheit, dem Kinde in dieser ländlichen Zurückgezogenheit irgend eine starke Nahrung des Geistes zu bieten, bestimmte sie doch immer wieder auf's neue, mit mir anzuknüpfen, Aussöhnungen vorzubereiten und Waffenstillstände zu schließen. Dies dauerte einige Jahre, bis es nothwendig wurde, fachwissenschaftliche Lehrer mit zu Rathe zu ziehen. Statt den Knaben in ein Institut zu geben, wollte die Fürstin ihn unter ihren Augen behalten und umgab sich mit fortwährend wechselnden Sprach- und Musiklehrern und andern Präceptoren, die im Schlosse viel Unheil anrichteten und sich selten länger als einige Monate auf ihren Plätzen behaupteten. Ich litt bei diesem Wirrsal am meisten; denn selbst die Kinderseele, für die ich dabei am meisten fürchtete, hielt die wilde Planlosigkeit zur Noth aus. Wie stark ist nicht ein junges Gemüth in seinem ersten Wachsthum!

[1024] Wieviel geht nicht in das dürstende Herz hinein, wieviel hinaus, ohne ihm zu schaden! Wär' es nicht so, so müßte man die Kinder in einen durchsichtigen Glasschrank setzen und von der ganzen Welt abschließen!

Ihr Werk ist gesegnet worden, bemerkte Siegbert. Der leider so heftig erkrankte Prinz Egon soll sich in jeder Hinsicht auszeichnen.

Siegbert sprach diese Worte mit einer Betonung, die seine über diese sonderbar aufrichtigen Mittheilungen zunehmende Verlegenheit deutlich zu erkennen gab.

Darüber fehlt mir ein genaueres Urtheil, fuhr Rudhard ernst fort. Ich habe nur die ersten Keime der Bildung in sein allerdings sehr begabtes Innere pflanzen können. Es war ein liebes Kind, trotz Eigensinn und Starrheit und einer überlebhaften Neigung zu Extremen! Ihn krank zu wissen, den nun herangewachsenen Jüngling, ja schon Mann, macht mich traurig.. Nach so vielen Jahren hätt' ich ihn gern freudiger begrüßt. Ich bin gewiß, er hätte sich meiner ohne störendes Misbehagen erinnert! Hat mir doch auch die Mutter in ihren letzten Lebensaugenblicken einen Beweis gegeben, daß sie in weiter Ferne meiner noch mit Achtung, ja sozusagen Versöhnung gedachte!

Sie schieden also von Hohenberg? fragte Siegbert.

Schon vor langer Zeit, fuhr Rudhard fort. Die Verstimmung zwischen der Fürstin und mir war nicht mehr zu heilen. Immer mehr Menschen, immer heftigere Bedürfnisse religiöser Schwärmerei drängten sich zwischen sie [1025] und mich, und als sie sich entschlossen hatte, gegen mein Bitten und Flehen den Prinzen nach Genf in eine bigotte reformirte Erziehungsanstalt zu schicken, war ich ohne ferneren Halt auf meinem Platze und zog vor, Plessen zu verlassen. Bei der Fürstin hatte sich ein Predigtamtscandidat, ein sehr befähigter, aber grundsatzloser Mann, eingenistet. Er wurde, da ich merkte, daß ich in jeder Hinsicht unbequem war, und nun eine andre Pfarre übernahm, mein Nachfolger. Ich darf, mein Verehrter, bei Ihnen, dem ich ganz fremd bin, kein Interesse ansprechen, wenn ich von meinen ferneren Schicksalen erzählen wollte, ich überschlage daher die Blätter meines Lebens bis auf den Augenblick, wo ich –

Nein, nein, sagte Siegbert und ergriff treuherzig die Hand des Fremden, kann einem jungen Manne etwas lehrreicher sein, als die Erfahrung des Alters sprechen zu hören! Ich fühle und lebe das Alles mit Ihnen mit, was Sie erzählen! Meine Zeit drängt mich nicht und die letzte Aufklärung über Das, was Sie zu den Brüdern Wildungen führte, bleibt mir ja doch wol gewiß.

Rudhard empfand ein sichtliches Wohlgefallen an diesen in so weichen Tönen gesprochenen Worten des jungen angenehmen Mannes. Er blickte auf ein reines Gemüth, wie er es lieben mußte. Seine Augen milderten sich der sanften Klarheit des Blickes gegenüber, den Siegbert auf ihn ruhen ließ. Doch that er Das nicht, was vielleicht jeder Andere gethan hätte und sprach etwa mit Anerkennung über die Gesinnung des jungen Mannes, die er doch [1026] schätzen mußte. Er machte nur eine kurze Pause und fuhr mit einer gewissen Strenge fort:

Ich zog mit meinem kränkelnden Weibe an die fernste Grenze unsres Vaterlandes, Rußland zu, in einen Ort Namens Schmalelinken. Dort in einer Provinz, wo man klare Begriffe von der Provinzhauptstadt aus beförderte und beschützte, glaubt' ich, für die spärliche Saat, die jetzt noch Geistliche in die Herzen der Menschen streuen können, hinlänglichen Boden zu finden und fand ihn. Die Nähe einer Rittergutsbesitzung, der angesehenen Familie von Osteggen gehörend, machte mich ganz besonders glücklich. Diese Familie war am begütertsten im benachbarten Kurland, lebte aber lieber als in Rußland auf dem bescheidenen Schlößchen Ostegg bei Schmalelinken, wo ich als Pfarrer wirkte. Dieses Glück dauerte aber nur kurze Zeit. Meine Gattin starb. Ich hätte es verwinden können. Aber dem Tiefgebeugten, der gleichsam mit dieser guten Frau auch die Kinder verlor, die sie ihm nicht hatte schenken können, der nun ganz allein in der Welt dastand, entzog sich auch der Trost jener Beziehung zu der Osteggen'schen Familie, wo ich zwei jungen liebenswürdigen Mädchen, Adèle und Helene, Erzieher geworden war. In Plessen war ich von bigotten Deutschen verdrängt worden, in Osteggen verdrängte dagegen mein Erscheinen einen gewissen Rafflard aus der reformirten französischen Schweiz. Ich erlöste diese Familie förmlich von der Sklaverei unter dem Joche dieses Rafflard, eines eiteln, unwissenden Intriguanten und hatte die Genugthuung, [1027] daß mein Wirken anerkannt, gewürdigt wurde. Da starb aber mein Weib und meine einzige Anlehnung, die Osteggen'sche Familie, wurde durch die glänzende Heirath Adèlens, der ältesten Tochter, mit dem Fürsten Wäsämskoi bestimmt, nach Odessa zu ziehen, wo der Fürst am russischen Gouvernement wirkte. Was that ich? Ich entschloß mich, den dringenden Bitten der Familie, der ausdrücklichen und ehrenvollen Anerbietung des Fürsten Wäsämskoi zu folgen und ging, nahe meinem fünfzigsten Lebensjahre, mit nach Odessa. Dort am Ufer des schwarzen Meeres, unter südlichem Himmelsstrich verlebte ich glückliche Jahre. Mancher düstre, trübe Zug meines Charakters milderte sich. Was früher hart und starr war, wurde weicher und ebener. Leider verschonten uns herbe Schicksalsschläge nicht. Die alte Baronin Osteggen starb. Vor einigen Monaten ist auch ihr Schwiegersohn, der Fürst Wäsämskoi, auf einer Reise nach der Krim an einem Fieber dahingegangen. So fiel die Sorge für die Fürstin Adèle und ihre drei Kinder auf mich. Ihre jüngere Schwester, Helene Osteggen, hatte in Odessa die Bekanntschaft des in Aufträgen reisenden französischen Attaché, Grafen d'Azimont, gemacht und war, nachdem er sie geheirathet, erst nach hier, dieser Stadt, wo er fixirt war, dann nach Paris mit ihm gezogen –

Die Gräfin d'Azimont? fragte Siegbert gespannt. Irr' ich nicht, so ist die Gräfin hier?

Sie ist es, sagte Rudhard mit düstrer Miene, auch ihre ältere Schwester, die Fürstin Wäsämskoi ist hier. Leider [1028] gerieth mein jüngster Zögling, Helene d'Azimont, so in den Strudel des modernen Weltlebens, daß sie mit der ganzen Familie brach und durch ihre wilde phantastische Lebensweise die Liebe und das Herz der Mutter zu frühe knickte ... Seit mehren Jahren schon ist jeder Verkehr zwischen den Schwestern Helene und Adèle abgebrochen und selbst das unter andern Umständen sehr erfreuliche Zusammentreffen in dieser großen Stadt wird keine Aussöhnung zu Stande bringen. Ich erwähne da Dinge, die in der großen Welt leider zu bekannt sind ...

Auf Siegbert's Lippen schwebte die Frage, ob Rudhard wol wisse, welche Beziehung zwischen dem Prinzen Egon und der Gräfin d'Azimont stattfände; doch schwieg er, weil er dem Herzen eines Mannes wehe zu thun fürchtete, dem ohne Zweifel das Werk seiner Erziehung an der zweiten Tochter der Baronin von Osteggen nicht gelungen war.

Rudhard nahm aber diesen Gegenstand selbst auf und zeigte sich über die Chronik der Schwester seines treugebliebenen Zöglings, der Fürstin Wäsämskoi, vollkommen unterrichtet.

Wie schmerzlich muß es mir sein, sagte Rudhard, daß sich die Nachrichten, die wir dann und wann über die Schwärmereien Helenens empfingen, an meinen plötzlich in Paris wieder auftauchenden Schüler Egon von Hohenberg anknüpften! Ich sah, daß auch Egon durch seine Genfer Erziehung in den Strudel gerathen war, in welchem Helene unterging, als sie sich verheirathete an einen Mann, der ihr niemals eine sittliche Anlehnung bieten [1029] konnte. Wie tief hab' ich das Conventionelle im Leben unserer vornehmen Stände damals verabscheut, wie bitter beklagt, daß mir unmöglich wurde, dies liebenswürdige, reizende, gutmüthige Kind, Helene Osteggen, nicht von einer, wie man sie nennen mußte, glänzenden Partie mit einem nicht mehr jungen, aber reichen und interessanten französischen Diplomaten fern zu halten! Legte sich doch selbst der Wunsch des Kaisers in die Wagschale, russische Unterthanen in Paris, an der Quelle der Begebenheiten, in genauester Verbindung eben mit den Lenkern der Begebenheiten zu wissen! Ich begehe keine Indiskretion, indem ich von diesen Dingen spreche; denn ich muß sie Ihnen sagen, weil sie mit Dem zusammenhängen, was mich zu Ihnen und Ihrem Bruder führt.

Ich erstaune über Das, was ich hören werde, sagte Siegbert und strich sich über die Stirn, als könnte sie kaum alle diese wunderbaren Beziehungen fassen.

Mein Unmuth, fuhr Rudhard fort, erstreckte sich in dem Grade auf Alles, was mit Helenen zusammenhing, daß ich auch Egon verwarf und Niemanden mehr verwarf als die Mutter Egon's, die Fürstin Amanda, die mir so viele bittere Schmerzen in meinem an Freuden nicht reichen Leben verursacht hatte. Was sollte ich dazu sagen, daß ich vor anderthalb Jahren einen Brief von der Fürstin Amanda empfing, den sie auf ihrem Todtenbette geschrieben hatte! Einen Brief, der mich erst in Schmalelinken suchte und ein halbes Jahr brauchte, mich am Schwarzen Meere zu finden; einen Brief, dessen Absicht ich versäumt [1030] glaubte, als er ankam, ja der selbst rechtzeitig hätte eintreffen können und mir keinen Entschluß würde abgewonnen haben, so erbittert und gram war ich damals dem Andenken an Alles, was mich an Hohenberg erinnerte. Doch lesen Sie selbst diesen Brief und erfahren Sie damit zu gleicher Zeit den Grund, der mich zu Ihnen führte und mich bestimmte, Ihnen einen Überblick meines Lebens zu geben. Um jedoch Ihre Spannung nicht zu lange hinzuhalten, bemerk' ich, daß mein Besuch mit einem Bilde der Fürstin Amanda zusammenhängt, das Sie besitzen.

Mit einem Bilde? fragte Siegbert erstaunt ....

Ist es nicht so? bemerkte Rudhard, der sich in seinem sichern Auftreten nicht stören ließ. Sie besitzen ein Bild der Fürstin?

Allerdings; aber ....

So bitt' ich! Lesen Sie!

[1031]
13. Capitel. Eine neue Wendung
Dreizehntes Capitel
Eine neue Wendung

Rudhard zog ein großes Portefeuille aus der Brusttasche, schnallte es auf und nahm aus mancherlei Papieren und Dokumenten, die in ihr angehäuft lagen, einen zierlichen Brief hervor, der durch seine mit hundert Notizen und Strichen überkritzelte Adresse einen wunderlichen Anblick bot. Es waren darauf ersichtlich die vielen Postzeichen und Bemerkungen des Hin- und Hersendens nach dem Adressaten in deutscher und russischer Sprache, in blauer, rother, grüner Tinte und wer weiß, setzte Rudhard mit einem leisen Anfluge von Lächeln hinzu, ob nicht noch in unsichtbarer, sympathetischer Tinte, die nur die geheime Polizei zu sehen und zu lesen im Stande ist!

Der Brief selbst, mit schwacher Hand, unsicher, wie von einer Todtkranken geschrieben, lautete:

»Nach Allem, lieber Rudhard, was zwischen uns auf dieser Erde vorgefallen ist, werden Sie erstaunen, wie Sie noch, ehe ich dies Dasein verlasse, von mir einen Abschiedsgruß erhalten können! Ja, mein lieber Rudhard, ich stehe an der Pforte der Ewigkeit. Die Stunden sind gezählt, die mich die Langmuth des Herrn noch athmen [1032] läßt und ich frage mich, warum der erlösende Engel noch immer nicht kommen, an mein Lager treten und mir die Augen zudrücken will! Ich frage: Was gibt dir denn der Herr noch zu bedenken? Was sollst du noch in deinem Hause ordnen, ehe du die Heimkehr zu deinem Erlöser antrittst? Ich blicke um mich, wo wol noch ein Herz schlägt, das ich betrübte, wo wol noch ein Fehl zu sühnen und zu büßen ist, und der Erinnerungen an Schlimmes und Sündhaftes sind in mir so viele, lieber Rudhard, daß ich noch eine Ewigkeit leben müßte, jeden nagenden Gedanken aus meiner Seele zu tilgen. Ach, mein Heiland, muß ich beten, ich ermüde, mich so zu schmücken wie du mich haben willst! Nimm mich hin in deine Arme und laß die Gnade mich rein waschen von meinen Sünden!«

Siegbert stockte, gerührt von diesen innigen Worten.

Ein Wink Rudhard's, ein leichtes Kopfschütteln, foderte ihn auf, fortzufahren. Siegbert las:

»Dennoch nutz' ich jede Frist, die mir die Anfälle der traurigen Krankheit, an der ich sterbe, lassen, – es ist dies Übel jenes schmerzlichste, an dem wir Frauen uns auflösen müssen – um doch irgend Etwas abzuthun, was mit meiner schwachen Kraft mir erreichbar scheint, und da bin ich zu einer ernsthaften Betrachtung gekommen, die mich darauf führt, Ihnen zu schreiben.«

Sie wird Sie, unterbrach sich Siegbert, um Verzeihung bitten, daß sie Ihnen so weh gethan, Ihren aufrichtigen Sinn verkannt, Sie von Haus und Herd vertrieben hat.

O nein, sagte Rudhard, mit ironischer Miene. Erwarten [1033] Sie eine solche Reue von einer Gottbegnadigten nicht! Auch ich erwartete, daß sie vielleicht, alle religiöse Parteiung bei Seite setzend, sich auf einen rein menschlichen Standpunkt stellen und mir als Menschen, als ehemaligem Freund, als Erzieher ihres Sohnes in der letzten Stunde ein Wort der Versöhnung zurufen würde. Nein! Davon finden Sie nichts! Im Gegentheil, sie verharrt in ihrem Bewußtsein reinster Gottseligkeit und überläßt mir nur noch eine Gewissenspflicht, die ich nach einer allgemeinen, rein praktischen und nur klugen Auffassung des Lebens prüfen solle. Sie anerkennt in mir den rechtlichen Mann; Das ist Alles!

Aber viel! sagte Siegbert. Viel wenn es ein Auftrag ist, der einen rechtlichen Mann erfodert und unter Hunderten, die sie wählen konnte, Sie es sind, an den sie in der Sterbestunde dachte, Sie, der Jahre lang ihrem Gedächtnisse entrückt war.

Ich bitte, lesen Sie! sagte Rudhard ruhig und ohne den mindesten Anflug eines geschmeichelten Gefühls.

»Was aus meinem unglücklichen Egon geworden, fuhr Siegbert fort, wissen Sie vielleicht! Ich weiß, daß es Niemandem unbekannt geblieben ist. Die religiöse Weihe, die ich seiner Erziehung geben wollte, hat keinen Widerschein in seiner Seele gefunden. Mit zerrissenem Mutterherzen gesteh' ich Ihnen, daß kein Sohn seiner Mutter geringere Aufmerksamkeit zeigt, kein Sohn die Hoffnungen seiner Ältern mehr getäuscht hat als dieser Unglückliche, Tiefverblendete! Daß ihn die innere Haltlosigkeit [1034] seiner Seele anekelte und ihn antrieb, nicht seinem Stande gemäß zu leben, will ich nicht tadeln. Aber nicht das Gefühl der Reue ist es, was ihn veranlaßte, sich das Kleid des Handwerkers anzuziehen, sondern leere, nichtige Originalitätssucht, der schlimmste von allen Trieben nach Auszeichnung. Ich wenigstens kann nicht daran glauben, daß die Erniedrigungen, die er in Lyon und Paris über sich verhängte, aus Liebe zum Erlöser, aus Geringschätzung des Lebens, aus wirklicher Demuth kamen. Eine Zeit lang hab' ich es geglaubt. Wie ich erfuhr, mein Egon ist von Genf nach Lyon zu Fuß gewandert, wie er mir einst einen guten, edlen Brief von dort schrieb, wie ich hörte, ihn ekle die schaale, große Welt an, er hätte fast denselben Beruf ergriffen, den Anfangs auch der Heiland von seinem Vater Joseph erlernte, – Rudhard lächelte – überkam mich eine Stimmung, die ich nicht schildern kann und doch hab' ich sie geschildert, habe versucht, sie zu schildern und schrieb meinem Sohne einen Rückblick auf mein Leben mit der Wahrheit, die aufgedeckt ist im Buche des Lebens und zu der es mich drängt mit unwiderstehlicher Erleuchtung. Als ich diese Geständnisse kurz vor dem Augenblick, wo ich in einer Nacht glaubte, an meinem Übel sterben zu müssen, vollendet hatte, wußt' ich nicht, wohin damit? Du stirbst und diese Blätter, wer bringt sie dem Sohne und ruft ihm durch sie zu: Folge deinem Rufe! Übe Demuth! Sei was dein Heiland war! Ach, es war Nacht um mich – die Wächterin schlief. Da griff ich nach einem alten Bilde, das meine jugendlichen Züge darstellte, es hing über [1035] meinem Bette. Es hatte ein Geheimniß, ein Kästchen, das auf einen Druck am Glase aufsprang, ein Scherz, den ich in jungen Jahren zu kleinem, verstecktem Krame benutzt hatte. Dort barg ich mein Gebet zu Gott, mein Geständniß, das ich in einigen schlaflosen und doch entzückten Nächten niedergeschrieben hatte, und glaubte nun zu sterben.«

Siegbert war über die plötzliche Aufklärung des Bildes so erregt, daß ihm das Lesen der schwierigen Handschrift wunderbar von Statten ging. Er fuhr fort:

»Ich starb nicht. Dies Übel ist fürchterlich, lieber Pfarrer. Es gewährt augenblickliche Pausen, wo man an Genesung glaubt und dann bricht die Macht der Zerstörung mit Hammerschlägen wieder auf die verwesenden Theile und man glaubt zu sterben, ohne es zu können. Moschus und Opium führen über die gräßlichen Krisen hinweg. Ich hatte oft Denkwürdigkeiten aus meinem Leben aufgesetzt und wenn ich Bogen vollgeschrieben hatte, sie wieder verbrannt. Sie waren nicht die reine Wahrheit, sie schlüpften ohne Reue über meine größten Sünden hinweg, ich vernichtete sie, weil ich mir vorkam wie der Pharisäer, der stolz auf seine Brust schlug und sich rühmte: Ich danke dir Gott, daß ich nicht bin wie Die! In jenem Jubelrufe an den Sohn aber war ich wahr gewesen; doch ich schauderte, wenn ich bedachte, was ich geschrieben! Es war Anfangs meine Absicht, jenes Bild zu versiegeln und bei Gerichten niederzulegen. Aber dann ergriff mich's mit furchtbarer Angst. Wie kannst du Das von [1036] dir geben? Wie kannst du dir die Möglichkeit nehmen, diese Blätter bei andrer Gesinnung rasch zu ergreifen und zu zerstören? Nein, du mußt sie zur Hand haben, und schon streckte die Hand sich aus, um die Papiere zu vernichten. Da zögerte ich wieder und warf mir vor: Siehst du, daß du zitterst vor der Wahrheit! Siehst du, daß du in Kleidern prangen willst, wie die Gerechten und deine Blöße verdeckst und sie nur Gott gestehen willst! Als ich später Schlimmes von Egon erfuhr, dacht' ich auch: O wie gut wäre dir's, Sohn, der Himmel schüttete eine Schale über dich aus, eine Schale seines Zornes und du lerntest Demuth durch äußere Dinge, da sie nicht in dir ist!«

Was sagen Sie zu dieser Selbstqual? unterbrach Rudhard den Vorleser.

Siegbert fuhr ohne zu erwidern fort:

»Ich schreibe an diesem Briefe schon den dritten Tag, lieber Pfarrer. Mein Ende naht. Ich fühle Das an jenem Pochen, das nun schon oft bis an's Herz reicht. Ein Schlag dieses Klopfers, der gut gezielt hat, und ich bin nicht mehr. Ich habe inzwischen Manches angeordnet. Der Fürst ehrte meinen Willen und läßt die Verhältnisse Hohenberg's ein Jahr so geordnet, wie sie sind, wenn ich die Augen schließe. Auch die Einrichtung meiner Zimmer bleibt. Dem Sohne empfahl ich durch einige Zeilen, die wol die letzten sind, die ich an ihn richtete, wirklich das Bild und sein Geheimniß. Zugleich aber, da meine Gedanken und Gefühle in einen nimmer auszugleichenden Widerstreit gerathen sind, entschloß ich mich, über diese [1037] Papiere noch Einen zu Rathe zu ziehen, vor dem ich mich nicht scheuen würde, wenn er sie läse. Ich suchte lange, bis ich ein Wesen fand, das mir würdig schien. Ich fand zuletzt einige Würdige. Aber unter den Würdigen nur Einen, der nützlich, weltlich und klug genug schien, Sie, Rudhard. Daß Sie leben, weiß ich; denn Ihren Tod würd' ich in den Kirchenblättern, die ich halte, erfahren haben. Wollen Sie mir das Versprechen geben, nach meinem Hingange, aber ich beschwöre Sie, ohne Kenntnißnahme des Fürsten! sich das Geheimniß jenes Bildes zu verschaffen und selbst zu prüfen, ob Egon diese Blätter lesen darf oder nicht? Ihnen entdeck' ich mich, weil ich weiß, daß Sie schweigen, wenn Sie zu schweigen gelobt haben, reden, wenn Sie zu reden gelobten. Sie werden aus diesen Blättern erkennen, warum ich Christus suchte. Halten Sie sie schädlich für Ihren Zögling, der nach Allem, was er über die Verläugnung seines Standes und den Entschluß, in Frankreich ewig als ein Arbeiter zu leben, schreibt, noch treu an Ihnen und Ihren Principien hält, so vernichten Sie sie! Lassen Sie dann meinen Sohn das Bild und nur – ich nehme Ihr heiliges Wort – mein Lieblingsbuch, den Thomas a Kempis, darin finden. Das ist meine Bitte! Eilen Sie, um jedem Misbrauch zuvorzukommen! Anliegend ein Wechsel für Ihre Reise, Ihre Bemühungen!«

»Wenn Sie mir schon in Ihrer umgehenden Antwort ein aufrichtiges: Ja! Ich vollziehe diesen Auftrag, zukommen lassen!.. bestimm' ich, wie Ihre Mühe noch ferner soll entschädigt werden. Eilen Sie! Einen Anfall wie den der [1038] verwichenen Nacht überleb' ich nicht. Viel duldend, aber freudig im Herrn Amanda Hohenberg.«

Diesen Brief, ergänzte Rudhard, als Siegbert erschüttert schwieg, erhielt ich erst nach einem halben Jahre und wußte an dem Datum und einer in Odessa gelesenen Zeitungsnotiz, daß sie schon einige Tage nach Absendung desselben gestorben war. Ich gestehe Ihnen, daß mein Eifer, dem Vertrauen der Sterbenden zu entsprechen, nicht groß war.

Sie waren in Odessa!

Der Entfernung wegen nicht. Die Donaudampfschiffe vermitteln das Schwarze Meer mit Deutschland ... Die Summe, die die Fürstin anwies, war bedeutend ...

Diese großartige Anerkennung auf dem Sterbebette! Sie fand in ihrem Gedächtniß keinen Redlicheren als Den, der ihre Ansichten nicht theilte, dem sie Übles gethan hatte ...

Wohl! Aber es empörte mich wieder, daß sie gerade durch diese Analyse ihres Weges, wie sie zu Christus hätte kommen müssen, sich vor mir rechtfertigen, mich vielleicht in ihrem Sinne bekehren wollte. Ich sah die ganze Frau vor mir! Dieses Gemisch der freundlichsten Eigenschaften mit einer unglaublichen Menge eitler, unpraktischer, confuser Vorstellungen! Ich fühlte mich so erkältet durch diese Widersprüche von ihr selbst, die bis zum Rande des Grabes angedauert hatten, daß ich meiner Unentschlossenheit um so mehr nachgab, als ich von Egon gerade damals hörte, daß er die communistischen [1039] Thorheiten, die er getrieben hatte, aufgab, wol wieder Fürst war und zu einer wahrhaft verlorenen Seele, die mir die bittersten Schmerzen schon gekostet hat, zur Gräfin d'Azimont in eine jener Beziehungen trat, die sich die verwerfliche Moral der höheren Stände, wie das Reinste und Edelste erlaubt. Sagen Sie selbst, ob ich tadelnswerth handelte, indem ich den Ablauf des Jahres herankommen ließ, ohne mich zu eifrig zu bemühen?

Ich weiß nicht, entgegnete Siegbert, ob ich an Ihrer Stelle mich beruhigt hätte. Die Geständnisse der Fürstin waren hoffentlich nur für den Handwerker Egon bestimmt ...

Rechnen Sie noch Dies, fuhr Rudhard fort, daß ich erfuhr, Egon's Vater hätte die ganze Einrichtung des Schlosses Hohenberg unter der Bedingung verkauft, daß von ihr nichts verändert würde bis zu seinem Tode, daß ich ferner aus den Nachrichten, die wir in Odessa über die d'Azimont hörten, wußte, Egon hätte nicht die Absicht jemals Paris zu verlassen. Fürst Wäsämskoi wollte eine Reise hierher unternehmen und auf diese spart' ich meine etwa noch mögliche Erfüllung der mir zugemutheten Verpflichtung auf. Der Fürst erkrankte aber auf einer Dienstreise und starb. Da bedenken Sie denn die Verwirrung, in die eine mir unendlich theure Familie gerieth! Bedenken Sie, wie ich alle meine schwindenden Kräfte zusammenraffen mußte, um diesen Verzweifelnden Stütze und Stab zu sein! Da gab es zu ordnen, zu rechnen, zu schreiben ... Die Reise hieher und ein längerer Aufenthalt in dieser [1040] Stadt wurde der Kinder wegen beschlossen, die hier unterrichtet werden müssen, wenn etwas von tieferer Bildung in diese gutgearteten Seelen kommen soll. Aber es verzögerte sich von Monat zu Monat. Endlich komme ich hier an, höre von Egon's Anwesenheit, von Helene d'Azimont, daß sie seit einigen Tagen hier ist ... Wir richteten uns vor dem Thore in einem dort durch die Gesandtschaft schon bereit gehaltenen Gartenlogis ein und ...

Nun? sagte Siegbert gespannt, als Rudhard stockte.

Nun wollt' ich doch sehen, ob es noch möglich ist, eine vielleicht durch die Gunst des Schicksals selbst verschobene Sache wieder aufzunehmen. Ich besuchte soeben das Palais des Prinzen, höre von seiner Krankheit, lerne einen Franzosen kennen, der mir ein so lebhaftes Interesse für den Prinzen, für mich, den er als früheren Lehrer desselben schon kannte, zu besitzen schien, daß ich mich nicht scheute, ihn in das Geheimniß der Fürstin Amanda, so weit thunlich, einblicken zu lassen. Er sprach selbst von dem Bilde und nannte mir Sie und Ihren Bruder als die zufälligen gegenwärtigen Besitzer desselben, und da bin ich denn nun, um zu hören, was Sie selbst von allen diesen Dingen halten und was Sie beschlossen haben, wie es damit ferner geschehen soll.

Siegbert erhob sich, ging mit einigen entschlossenen Schritten in das Nebenzimmer und kam mit dem Bilde wieder.

Da ist das Bild! sagte er.

[1041] Rudhard angenehm überrascht, erkannte es sogleich als das der Fürstin in jungen Jahren.

Als er aber danach langen wollte, hielt Siegbert seine Hand darauf und Rudhard trat zurück.

Siegbert sprach nichts und doch lag in seinem Blicke die beredtsamste Vertheidigung seines Vorenthaltes ...

Sie haben Recht, sagte Rudhard. Ich kann keine Ansprüche darauf machen. Auch nur der Anblick der Fürstin überrascht mich! Ich sehe die Spuren dieser eigenthümlichen Frau in meinem Gedächtnisse wieder wie lebendig auftauchen. Die Unglückliche kam schon krank nach Hohenberg und doch ... das schwärmerische, schmerzlichblickende Auge rührt mich. Vergib mir, liebe Frau, ich habe einen recht bittern Groll gegen dich im Herzen gehabt, du hast mir viel Leides angethan, vergib mir, daß ich mich deinem Andenken nicht früher versöhnte und deine dargebotene Hand ergriff! Der Tod ist hart, aber er ist nicht die Grenze unseres Lebens. Er soll nicht Alles ausgleichen. Der Tod soll Charakter haben, wie das Leben. Wann der Tod jede That des Lebens auslöschte, stünde schon seit Jahrtausenden die Geschichte still!

Sie klagen sich an, Herr Rudhard, begann Siegbert, indem Sie sich rechtfertigen wollen! Nach meinem Gefühle haben Sie allerdings das Recht verwirkt, die in diesem Geheimniß enthaltenen Blätter zu lesen! Aber eben wie Sie eintraten fiel mein flüchtiger Blick in diese Papiere, deren ganze Geschichte ich erst von Ihnen erfahre, und ich fühlte, daß sie Schweres, Bedeutungsvolles enthalten.

[1042] Der Geist der Fürstin Amanda ruft mir zu, daß diese Blätter ungelesen aufbewahrt bleiben sollten, bis Sie kamen ... Ich würde Ihnen doch das Bild geben, wenn nur mein Bruder damit übereinstimmt!

Ihr Bruder? wiederholte Rudhard ... Er bot Siegberten die Hand und betrachtete den jungen Mann voll Theilnahme. Er erkannte in ihm eine jener schwärmerischen Naturen, die ihm nicht ganz sympathisch waren, aber das Ehrenhafte, Würdevolle und Sanfte seiner Äußerungen gefiel ihm doch so außerordentlich, daß er eine wahre Liebe zu dem jungen Mann faßte.

Nun wohlan! sagte er. Lassen Sie es von Ihrem Bruder, dessen Ansprüche auf das Bild ich nicht kenne, abhängen! Der Prinz wird hoffentlich genesen. Ich durchfliege dann die Blätter und auf den ersten Blick werd' ich sehen, ob ihm diese Geständnisse einer bis über's Grab hinausgehenden Wahrheitsmanie oder die Bücher des Thomas a Kempis nützlicher sind. Zürnen Sie mir deswegen, daß ich die Bitte einer Sterbenden nicht sogleich erfüllte?

Ja! sagte Siegbert mit edler Offenherzigkeit, die Rudhard anerkennen mußte. Ich wäre nicht im Stande gewesen, eine solche Bitte unausgeführt zu lassen.

Werden Sie sechzig Jahre, mein junger Freund, antwortete Rudhard, indem er seinen Hut ergriff, sehen Sie erst, was Alles auf unser Urtheil, unsere Willenskraft mit Zumuthungen und Ansprüchen einstürmt und Sie werden zähe werden im Erfüllen, wie ich es bin! Dieses Schwunges der Phantasie, mich in Odessa von allem mir Theuren [1043] loszureißen und eine Grille verkehrter Menschen auszuführen, war ich nicht fähig. Verkehrt nenn' ich dich, arme Frau! Vergib mir auch dies Wort! Ich mochte nicht in deine Falle gehen, die noch nach funfzehnjähriger Trennung mir gelegt wurde, um mich zu bekehren! Denn Das ist es, lieber Wildungen! Was Sie auch auf flüchtigen Blick in diesen Papieren gefunden haben mögen, sie sind nur für mich berechnet, für meine Erleuchtung, für meine noch im Tode von der Proselytin des Glaubens versuchte Erschütterung der eingebildeten eigenen Vernunft!

Siegbert schwieg über diese wol zuweitgehende, aber charakteristische Vermuthung eines starren Rationalisten und schloß das Bild in einen Schrank der »Aula«.

Nach einigen Worten, die die neuen Bekannten über die Erklärung Dankmar's und den Ort des baldigen Wiederzusammentreffens gewechselt hatten, sagte Rudhard:

Woher stammen Sie denn eigentlich? Der Name Wildungen ist mir so geläufig! Er erinnert mich –

Vielleicht an meinen Vater? fiel Siegbert ein.

Wildungen! Wildungen! sagte Rudhard. Er war –

Pfarrer in Thaldüren und Angerode.

Studirte aber mit mir – glaub' ich..

Auf der Universität schwerlich, sagte Siegbert. Lebt' er noch, müßt' er erst ein Funfziger sein.

Wohl! Wohl! sagte Rudhard. Wildungen! Sieh! Es war mein Schüler ... Sieh! sieh! mein Zeltgenosse,contubernalis von dem Stifte her, das uns bildete. Im schönen [1044] Saalthale bei Naumburg auf der Schulpforte wurden wir erzogen. Ich war Primaner und nach damaliger Sitte hatt' ich jüngere Knaben unter meiner Aufsicht. Wildungen! Ich entsinne mich, Otto Wildungen.

Otto Wildungen! bestätigte Siegbert bewegt.

Er war mein contubernalis, sagte Rudhard. Ich mochte sechs Jahre älter sein als der kleine Quartaner, der meiner Aufsicht anvertraut wurde. Ich hatte deren drei unter meiner Obhut. In meinem alten akademischen Stammbuch hab' ich von ihm einen Denkspruch. Als ich zur Universität ging, schrieb mir jeder der Kleinen etwas zur Erinnerung, natürlich etwas, was ich ihnen dictirte, lateinisch oder griechisch, an ders verewigte man sich damals nicht in den Stammbüchern von Schulpforte, in mein Album.

Siegbert bezeugte eine große Neugier, dies Erinnerungsblättchen an die früheste Jugend seines Vaters zu lesen ...

Und als er gar noch vernommen hatte, daß die beiden andern contubernales des Primaners Rudhard Rodewald und Gelbsattel geheißen hatten, wuchs seine Neugier in dem Grade, daß ihm Rudhard anbot, ihn doch nun gleich zu begleiten und sich die alte Reliquie anzusehen ... Siegbert schlug es aus, da ihm doch die Sammlung fehlte, mit Jemandem, der nicht ganz auf sein Innerstes gestimmt war, jetzt zu lang' allein zu sein. Er ließ sich genau von Rudhard die Wohnung der Fürstin Wäsämskoi beschreiben und versprach, ihm schon morgen über Das, was sein [1045] Bruder wegen des Bildes beschließen würde, Bescheid zu geben.

Rudhard ging mit den Worten:

Ich freue mich nun doch, daß ich dem Triebe folgen mußte, Etwas zu thun, was die auf mich abgesehene Bekehrungsmethode der Fürstin Amanda erleichterte. Ich habe Sie kennen gelernt, einen Sohn meines kleinen Wildungen, der so sinnig und gut war! Und der ruht nun auch schon! Gelbsattel ist ein hochgestellter Papst unsrer Kirche, Rodewald, nach dem Sie mich fragen, scheint verschollen, ich verlor ihn ganz aus dem Gedächtniß. Er war der Jüngste von Allen, wild und störrisch, aber der Begabteste! Und Sie sind nun Einer von unsrer jungen Generation! Ein Maler! Neue Begriffe! Neue Lebensanschauungen! Auf eine Welt versetzt, in Zeitwirren, aus denen wir bald erlöst sein werden. Wir nämlich, die wir sie nicht mehr verstehen! Ich bin nur über Eins froh, daß die Menschen offner und gerader werden! Das ist noch das Beste von Dem, was uns diese Tage gebracht haben. Das Übermaß von Freimuth hat wenigstens das traurige Untermaß von früher, die Heuchelei und das Kriechen, entfernt. Im Übrigen find' ich mich nicht mehr in dieser Zeit zurecht ...

Sie kommen freilich aus Rußland, sagte Siegbert lächelnd.

Aber nicht aus Sibirien, ergänzte Rudhard, schon die Thür ergreifend. In Odessa friert der Verstand nicht ein und wo man das große allmächtige Meer sieht, das der [1046] menschlichen Dämme und Satzungen spottet, da wird man niemals Sklave. Ja, ja! Des Meeres Anblick macht Alles gleich. Aber.. Aber.. es lehrt auch die ewige Grenze des Irdischen, es lehrt uns Demuth und Bescheidenheit. Der stolzeste Segler fährt zerschmettert an ein verstecktes Felsenriff. Die Menschen, die der Natur und ihren großen Weihestunden entrückt sind, bilden sich zuviel ein auf ihre Pygmäenkraft. Auf den Bergen wohnt die Freiheit! Hast Recht, edler Schiller! Aber am Meere wohnt die Beschränkung. Leider liegen Paris, Wien und Berlin weder auf Bergen, noch am Meere. Der Dünkel des Flachlandes beherrscht uns. Die Täumerei der nackten Erdscholle, die nur blauen Himmel um und über sich sieht, Die erfindet die Ideen, die jetzt die Welt erlösen sollen! Ich vertheidige Rußland nicht: ich achte die Menschenwürde. Aber ein Land, in dem man schweigen muß, lehrt uns denken. Da, wo man Alles sagen darf, denken die Menschen nicht mehr.

Mit diesen Worten trat Rudhard an die Stiege, bis zu deren Rande ihn Siegbert begleitet hatte.

Siegbert befand sich, als er wieder allein war, in einer eigenen Stimmung. Er hatte Merkwürdiges, Überraschendes erfahren, aber auch wieder eine Binde mehr vor den Augen. Diese Blätter, die er eben hatte lesen wollen, die ihn so fesselten, so reizten, schlossen sich nun wie ein heiliges Geheimniß ... Er fiel in die Wehmuth über die Erfahrungen dieses Tages zurück ... Der Schmerz um Melanie, um den Bruder, um Alles durchzuckte ihn.

[1047] Dankmar kam nicht. Bei jedem Geräusch hoffte er, der Bruder würde eintreten. Er blieb aus ...

Siegbert fühlte das Leid des Bruders wie sein eignes. Beiden war eine lichte rosige Wolke entflohen! Beiden hatte derselbe Traum von Glück und Liebe gelächelt! Des Jünglings ringende Seele hat ja nur Eins, was ihn ganz erfüllen, ganz und voll ergreifen kann: die Liebe! Alles Andre, was sonst in sein Inneres drängt, ist ja noch unreif, unfertig und bedarf tausendfacher Bestätigung durch die Erfahrung und durch die unermeßliche Bücherwelt! Nur die Liebe bedarf keines Buches, sie liest die größten Schätze der Weisheit und der Wahrheit im Auge der Geliebten. Die Liebe bedarf keiner Prüfung, sie sieht nur und glaubt ja und vertraut. Die Liebe bedarf der Erfahrung nicht, denn sie liegt vom Anbeginn in unsrem Herzen!

Und diese Zauberkraft war Beiden plötzlich gelähmt! Gelähmt Beiden durch einen einzigen Schlag! Beiden war nichts geblieben als das Bewußtsein ihrer Unfertigkeit und vielleicht nie sich abschließenden Vollendung! Siegbert fühlte es an sich, was auch Dankmarn bewegen würde.

Er sucht, wie du jetzt, sagte er sich, die Fäden, die ihn in die alte gewohnte Auffassung seiner Mühen und Pflichten wieder zurückführen sollen! Er sucht, wie du jetzt, das in Kupfer verwandelte Gold seines Glückes in den Strom des Vergessens zu werfen und steht am Ufer vielleicht in Thränen dem schweren Falle nachhorchend! Er bittet die [1048] Bäume vielleicht auf einsamer Wanderung, ob sie ihm den Namen der Geliebten nicht mehr zurufen würden, um ihn zu quälen! Er bittet sie um mildernde Gedanken und Alles säuselt und rauscht doch vielleicht nur das alte süße, verlorne, erträumte Glück! Spare mir deinen Duft doch auf, du treuherzige, vertrauliche Blume, spar' ihn mir auf ein künftiges Glück, wenn ich es finde! Jetzt entlockt mir dein Gruß nur Thränen! Die Sprache, die du sprichst, darf ich ja nicht mehr verstehen.

So durchbebte es Siegbert von Mitleid um den Bruder – und um sich!

Ja, auch um sich! Gibt es denn nicht ein Mitleid auch um sich selbst?

Habt Ihr nie Thränen vergossen, träumte Siegbert, als er sich auf des Bruders hartes Sopha streckte, um Euch selber? Nie geweint um die bittern Schläge des Schicksals, die Euch trafen? Nicht, daß Ihr erlaget, daß Ihr unglücklich waret, schmerzte Euch so tief – Ihr hattet Kraft und Muth, das Widerwärtigste zu ertragen; aber daß es kam, daß es Euch gerade traf, daß Ihr es sein mußtet, denen das Füllhorn Fortunas immer und immer nur stachlichte Früchte zuwarf dies Mitleid mit Euch selbst war Euch rührender als das Unglück selbst. Lebensfrohe, hoffende, glückberechtigte Jugend, warum mußt du weinen? Stolzes, von Göttern geliebtes, riesenkräftig arbeitendes Genie, warum mußt du leiden? Edler, großer Wille, warum mußt du scheitern? Warum du? Warum du? Diese bittre Frage um Etwas, Das deine Kraft längst stolz[1049] beantwortet hat, Die ist es, die an deinem Herzen nagt und dein Gemüth verwundet!

...Siegbert war von seinem Kummer fortgerissen und so erfüllt von der Vorstellung, daß sein Bruder, der ihn erst um neun Uhr, bei jenem ihm plötzlich sonderbarerweise so nahe gerückten Fritz Hackert in der unheimlich alten, verrufenen Brandgasse sehen wollte, die Zeit bis dahin auf einer einsamen Wanderung vor den Thoren, im Parke, am Schloßteiche, in den Alleen, die zu den Dörfern führten, zubrächte, daß er sich aufraffte und ihn dort suchen wollte.

Es hatte sechs geschlagen. Die Sonne warf freundliche Lichter. Spaziergänger suchten wie er die Thore. Er flog nach der Gegend hin, die ihm die stillste und für den Kummer einladendste schien ...

In einer halben Stunde war er unter jenen Gärten und Villen, die wir bei Gelegenheit der Wohnungsangabe Paulinen's von Harder kennen lernten. Hier gab es stille Plätze und enge Wege, die hinaus in's Feld führten. Kinder mit Kornblumenkränzen begegneten ihm. Liebende gaben sich hier hinter den Mauern der Gärten ihre unbelauschten Stelldicheins. Gelehrte setzten sich mit Büchern auf eine einsame Bank und schöpften freie Athemzüge in ihre gebückte Brust.

Hier siehst du, sagte sich Siegbert, den Bruder unter irgend einem Lindenbaum! Du kennst einen solchen, dicht am Eingang in die Kornfelder! Dort sitzt er gewiß und denkt: Warum ist Siegbert nicht bei dir und wir plaudern [1050] über das Leben, die Täuschungen der Herzen, das allgemeine Ziel der Menschheit und unser eigenes!

So nachdenkend, bemerkte Siegbert kaum, daß er in dieselbe Gegend kam, wo ihm Rudhard gesagt hatte, daß auch die Fürstin Wäsämskoi wohne ...

Wie erstaunte er, als er an einem Spalier in einem kleinen Vorgarten plötzlich wieder denselben strengen Mann mit einem Buche lesend fand, umgeben aber von zwei wunderschönen Kindern, einem Knaben und einem Mädchen ...

Bald spielte der rüstige Greis mit den Kindern, bald las er eine Stelle in seinem Buche.

Ein Teller voll Obst stand auf einem grünen Tische neben ihm. Die Kinder naschten und er stellte sich, als sähe er es nicht ...

Wenn eins eine Kirsche ergriffen hatte, fuhr er mit der Hand nach den kleinen Dieben und diese freuten sich jubelnd ihn überlistet zu haben.

Siegbert, der Das so beobachtete, wollte erst an dem Stacket vorüber und wußte nun nicht, ob er sich nicht lieber zurückziehen sollte. Dem Besinnen über seinen Entschluß blieb aber nicht viel Zeit; denn Rudhard entdeckte ihn bei einer Wendung, die er, um die Kirschendiebe zu haschen, nehmen mußte. Er schien sehr angenehm überrascht, seinen eben verlassenen Bekannten schon wiederzufinden und lud Siegbert ein, jetzt nur gleich hereinzutreten.. Hier wohne er! Dies wären die jüngsten Kinder der Fürstin!

[1051] Siegberten war es, als wenn er zudringlich erscheinen könnte, als wenn man glauben müßte, er hätte absichtlich schon jetzt diese Gegend aufgesucht.. Er war in sichtlicher Verlegenheit.

Aber Rudhard blieb dabei, er müsse nun eintreten, sein Zimmer, seine Bücher, seine Sammlungen sehen.

Wir haben uns eingerichtet, sagte er, hier ein paar Jahre zu bleiben!

Wie er aber das fortgesetzte Sträuben Siegbert's durch die Worte zu widerlegen suchte: Und mein Stammbuch aus Schulpforte? Wie ist's damit? – da konnte Siegbert nicht widerstehen, sondern trat durch die Pforte zur Wohnung der Fürstin Wäsämskoi ein.

Die von Gußeisen gefertigte Thür dröhnte gewaltig, als sie hinter ihm durch ihre Wucht von selbst zufiel.

[1052]
14. Capitel. Olga Wäsämskoi
Vierzehntes Capitel
Olga Wäsämskoi

Die kleinen Wäsämskoi's hießen Rurik und Paulowna, sprachen deutsch und glichen sicher mehr ihrer deutschen Mutter, einer gebornen Adèle von Osteggen, als ihrem russischen Vater, dem Knäs Wäsämskoi.

Zutraulich machten sie die Bekanntschaft Siegbert's, von dem ihnen Rudhard, obgleich noch völlig unbekannt mit Siegbert's Talent, doch erzählte, daß er ein Maler wäre und herrliche Bilder machen könne.

Gleich hatten sie ihm ihre eignen Versuche in dieser Kunst mitzutheilen und versprachen ihm Proben zu zeigen.

Siegbert faßte die kleine Paulowna an der Hand, Rurik zog, ja zerrte ihn fast die Treppe hinauf in das Zimmer Rudhard's, den sie Papa nannten.

Dies Zimmer war sehr traulich von der eben sinkenden Sonne beleuchtet und obgleich erst seit kurzem bewohnt, doch schon von Taback ziemlich eingeräuchert.

Ich bin kein eleganter Hofmeister, sagte Rudhard, wie der moschusduftende Monsieur Rafflard in Schmalelinken, wo ich keine andere Unterhaltung als mein Weib, die Besuche aus Osteggen und den Taback hatte.

[1053] Die Kinder ließen ihm keine Zeit, seine eigene Einrichtung zu zeigen. Alles wußten sie genauer als Rudhard. Sie schleppten Bücher, Zeichnungen, gestickte Polster herbei, um ihren Besuch zu unterhalten. Ja es hätte nicht gefehlt, sie würden eine altmodische Stutzuhr heruntergeholt haben, um ihm zu zeigen, daß daran in Bronze der Tod immer mit der Hippe aufklopfe, wenn es eine neue Stunde schlüge ...

Endlich hatte Rudhard unter Papieren kramend sein altes Stammbuch gefunden und zeigte es Siegberten, den theils die Kinder, theils der anmuthige Blick in den Garten fesselten.

Rudhard schlug in dem kleinen Buche mit altem abgestoßenen Maroquinband die vergilbten Blätter auf und zeigte Siegberten eins, wo sein Vater recht mit einer Knabenhand die Worte eingeschrieben hatte:

Nemo ante mortem beatus. In memoriam Ottonis Wildungen Portensis.

Paulowna fragte, wie das hieße und Rurik konnte schon so viel Latein, daß er auf Rudhard's Aufforderung übersetzte:

Niemand ist vor dem Tode glücklich. Zur Erinnerung an Otto Wildungen ...

Bei Portensis stockte Rurik. Rudhard mußte es er klären und sagte:

Das heißt Otto Wildungen, ein fleißiger und sehr braver Schüler aus dem berühmten alten Stifte zur Schulpforte.

Rurik begriff nicht, wie ein einziges Wort Portensis so [1054] viel ausdrücken könne und wurde über die Vortrefflichkeit der alten Römersprache sehr nachdenklich.

Siegbert fühlte die Wahrheit dieses Spruches aus dem kummervollen Leben des Vaters ergriffen genug nach. Auf einem andern Blatte stand:

Per aspera ad astra. In memoriam Theophili Gelbsattel Portensis.

Rurik übersetzte wieder streng schülerhaft:

Durch Rauhes zu den Gestirnen. Zur Erinnerung an –

Gottlieb Gelbsattel, ergänzte Rudhard –

Heißt Portensis hier wieder ein fleißiger, braver Schüler aus Schulpforte? fragte Rurik.

Hier heißt es, sagte Rudhard, blos: Ein gut fortgekommener Schüler aus Schulpforte.

Rurik begriff diese neue Feinheit der Sprache nicht und übersetzte jetzt ohne allen Commentar das dritte Blatt von Heinrich Rodewald, das so lautete:

Nec te vestigia terrent! In memoriam Henrici Rodewald Portensis.

Und nicht dich Spuren schrecken! Was heißt Das? sagte der Knabe.

Rudhard antwortete:

Dieser Spruch ist schwer, mein Sohn, für einen Knaben zu begreifen und noch unglaublicher, wie man ihn als Knabe schon zum Denkspruch wählen konnte. Sicher hatte ein Lehrer diesen Spruch erläutert und für den wilden unternehmenden Rodewald paßte er wol. Dich erschrecken nicht, heißt Das, die Folgen deiner und fremder [1055] Handlungen! Ein trotziges Wort! Und doch gefällt es mir, wenn es der Muthige und der Tugendhafte sagt.

Siegbert mochte nicht hinzufügen, daß es hier der Tugendhafte nicht gesagt hätte. Dennoch mußte er erstaunen, wie im Bruder seiner Mutter schon so früh sich diese Sicherheit der eigenen moralischen Verantwortlichkeit ausgesprochen hatte: Nec te vestigia terrent! Und Spuren, ob eigne oder fremde, Folgen oder Gefahren, schrecken dich nicht!

Rudhard ergriff die Feder und sagte:

Zu Ihrem Vater aber muß ich ein Kreuz setzen zum Zeichen, daß er dahin ist. Niemand ist vor dem Tode glücklich. Wann fand der Gute sein Glück?

Siegbert nahm ihm die Feder ab und schrieb in bewegter Stimmung den schmerzlichen Todestag des Vaters hin. Unwillkürlich malte er dann das bei allen Verstorbenen stehende Kreuz so wie es zu ihrer Familiengeschichte gehörte, mit dem vierblättrigen Kleeblatt. Dazu schlug die merkwürdige alte Uhr über ihnen eben sieben und der Sensenmann schwang richtig siebenmal seine Hippe.

Die Form des Kreuzes fiel Rudhard auf. Doch unterließ es Siegbert ihm weitere Aufklärungen zu geben, weil der kleine Rurik durch die Devise: Niemand ist vor dem Tode glücklich! auf das Auskramen seiner kleinen Weisheit gerieth. Er wußte nämlich, daß diese Worte der weise Solon zum reichen Krösus gesagt haben soll, als ihm dieser seine Schätze zeigte. Rudhard ermunterte ihn, [1056] diese hübsche Geschichte seiner Schwester Paulowna zu erzählen. Er wollte ihn vorläufig los sein.

Indem Rurik sich dazu mit vielfachen Selbstberichtigungen und Wendungen: Nein, so war's, oder so.. in Athem setzte, bemerkte Siegbert, daß sich die Gesellschaft des nicht zu geräumigen Zimmers um eine Person vergrößert hatte.

Ganz leise und von ihm wenigstens unbemerkt war während des Blätterns in dem alten Schulpforter Stammbuche ein junges Mädchen von eigenthümlichem Wesen eingetreten und hatte sich ohne Gruß, ohne Antheil zu bezeugen, ohne ein Wort zu sprechen hinter Rudhard gestellt und den Erläuterungen der einzelnen Blätter zugehört.

Sie war älter als Rurik, der etwa zwölf Jahre zählen mochte.. Paulowna schien deren erst acht zu haben. Dennoch hatte sie etwas, was hinter ihren Jahren zurück war und plötzlich wieder etwas, was ihnen weit voraus schien. Sie war nicht groß, diese zarte Gestalt, von einer durchsichtigen weißen Haut. Der Kopf war entschieden russischnational. Die Augen mehr länglich als rund, aber sanft mit langen schwarzen Wimpern beschattet; die Lippen voll und schwellend, aber etwas bleich. Die Form des Gesichtes sehr rund, die Nase zart, aber mehr stumpf, als regelmäßig schön, die Augen blau, ruhig, tief und klar oder doch nur so unheimlich wie ein zu stiller See, von dem man nicht weiß, wo er das frische Quellwasser, das in ihm rinnt, hernimmt, durch welche unterirdische Schleuse er [1057] mit größeren, unbekannten, geheimnißvollen Gewässern zusammenhängt. Das starke pechschwarze, glänzende Haar war vorn im Scheitel und hing in den Nacken in zwei dick geflochtenen Zöpfen herab. Daß dies Mädchen noch feine battistene Spitzenpantalons trug, war fast eine Anomalie und doch war bei allem Ernst ihres Wesens, bei aller Reife des Blickes der ganze Eindruck unbestimmt, ja auf Augenblicke völlig kindlich.

Wie Siegbert diese stillgekommene Vermehrung der Gesellschaft bemerkte, sagte Rudhard zur Vorstellung die einfachen kurzen Worte:

Meine liebe Olga! Die Schwester meines guten Rurik, der so gut aus dem Herodot zu erzählen weiß, den er binnen zwei Jahren hoffentlich im Urtext liest! Der junge Maler, von dem ich der Mutter vorhin erzählte, Herr Wildungen!

Olga Wäsämskoi achtete wenig auf diese etwas förmlichen Worte, sondern sah fast todt und kalt in das Stammbuch, das Rudhard eben weggelegt hatte. Sie betrachtete das Kreuz, das Siegbert gezeichnet und schien dabei fast ohne allen Antheil, fast ganz apathisch.

Siegbert, befremdet über diese Art, hielt Olga mit Recht für stolz und besann sich, daß sie nach russischem oder französischem Sprachgebrauch eine Prinzessin war.

Wir müssen in den Garten gehen, Sie müssen die Mutter dieser guten Kinder kennen lernen, begann nun Rudhard.

Siegbert entschuldigte sich und wies auf seine Kleider.

[1058] Olga hob den Blick vom Stammbuche auf, stellte sich rückwärts an's Fenster und betrachtete Siegbert mit einem Blicke, dessen Ruhe ihm wahrhaft unbegreiflich war. Noch hatte sie kein Wort gesprochen, nicht das mindeste Interesse verrathen und doch setzte sie ihn durch diese Art, ihn zu fixiren, fast in Verlegenheit.

Rudhard lachte aber über Siegbert's Bedenklichkeiten wegen der Kleidung.

In ein so förmliches Haus, sagte er, sind Sie hier nicht gekommen. Unsere Jäger und Haiducken ließen wir in Odessa. Wir brachten nur uns selbst mit, Menschen ohne Ansprüche, die hier leben wollen, um zu lernen, einsammeln für die Misjahre, die in Rußland genug noch kommen werden. Begleiten Sie uns nur in den Garten! Sie sollen uns noch manchen Rath geben. Ja, ja, wir halten diese Bekanntschaft fest!

Die Kinder hüpften voraus. Olga blieb zurück und folgte Rudhard und Siegberten nur in gemessener Entfernung. Man trat aus dem Hause und bemerkte leider, daß ein Wagen vorgefahren war, der der Fürstin wol einen Besuch gebracht hatte. Siegbert entdeckte zur Mehrung seiner Verlegenheit sogar einen Bedienten in Hoflivree.

Wir lustwandeln etwas im Garten, sagte Rudhard, als ihm ein Diener der Fürstin gesagt hatte, die Oberhofmeisterin von Altenwyl wäre bei der Herrschaft.

Der Diener sprach diese Meldung aus, wie wenn es sich um das Gewöhnlichste handelte. Ein seltsamer Gegensatz [1059] zu Siegbert's Empfindung, der die hohe Bedeutung dieser Frau Gräfin von Altenwyl vollkommen kannte. Man ließ nun, um die Seitenfront biegend, die hintere Front des Hauses liegen. Hier gerade in der Nähe eines grünen Rasens und eines Akazienbaumes, dicht an der mit wildem Wein bezogenen Wand des Hauses, saß die Fürstin mit weiblichen Handarbeiten beschäftigt auf einem Gartenstuhl vor einem einfachen ländlichen Tische, auf dem bunte Wolle zu Stickereien, gemalte Muster, angefangene Teppiche ausgebreitet lagen. Hier hatte die Fürstin eben die Gräfin von Altenwyl empfangen ...

Die Kinder wurden natürlich herbeigerufen, um der Gräfin, einer Freundin der verstorbenen Mutter der Fürstin, vorgestellt zu werden ...

Die Kleinen trennten sich ungern von Siegbert, den Rurik und Paulowna schon an der Hand gefaßt hatten, um ihm ihre großen Pläne und Anlagen zu zeigen, die sie im Garten anzuwühlen, denn das war der beste Ausdruck dafür, im Sinne hatten.

Rudhard, der ein schwarzes Sammetkäppchen aufsetzte, grüßte im Vorübergehen leicht. Siegbert zog den Hut mit schuldiger Ehrerbietung und bemerkte, daß die Fürstin noch jung war, klein und zart und von einer Weiße der Haut, die von der Trauer, die sie noch trug, in einer dem Auge sehr wohlthuenden Art abstach.

Als Rudhard und Siegbert allein waren, sagte jener:

Diese Unmasse von Besuchen, die auf uns einstürmen, sind die lästige Seite unsres hiesigen Aufenthaltes. Und [1060] das Kennenlernen von Menschen ginge noch, da es lehrreich ist. Aber Jeder will noch mehr, als nur seine Person zeigen oder die unsrige erforschen. Man bietet sich zu hunderterlei Liebesdiensten an, die im Grunde keinen andern Sinn haben, als sich in seiner Macht, seinem Einflusse und leider auch in seinen falschen Lebensauffassungen zu zeigen. Da werden Bedürfnisse geweckt, die uns früher fremd waren, Meinungen, Unternehmungen sogar werden als sich von selbst verstehend vorausgesetzt, die wir weder kennen noch uns an ihnen zu betheiligen Verlangen tragen. Da hab' ich meine Noth im Widerlegen, im Entfernthalten! Glauben Sie mir, Das, was man die Gesellschaft nennt, ist der anmaßendste Tyrann, den man sich nur denken kann! Er nimmt die Menschen gefangen wider ihren Willen und bildet sie, ohne daß sie seine Berechtigung dazu anerkennen wollen.

Der Eindruck dieser großen Stadt, bemerkte Siegbert, wird um so gefährlicher sein, als mir die Fürstin noch jung scheint und unmöglich zu den schon abgeschlossenen Charakteren gehören kann.

Sie zählt doch, sagte Rudhard, schon etwa sechs und dreißig Jahre, während Helene, die Gräfin d'Azimont, etwa erst im dreißigsten steht. Sie haben Recht, wenn Sie andeuten, daß dies für die Frauen gefährliche Altersstufen sind. Diese und die erste zarteste Entwickelung der Jungfrau! Die Knospe hat eine mächtig überschwengliche Vorstellung von der Seligkeit ihrer künftigen Blüte und lacht ihrer Zukunft mit zitternder Ungeduld entgegen.

[1061] Und die schon volle Rose, die dem Entblättern nahe ist, die sträubt sich dann auch noch gegen ihren Verfall. Eine Frau in diesen Jahren weiß, daß es nun die Zeit des Abschieds ist, daß Das, was ihr bis dahin nicht geblüht hat, nie mehr blühen wird, und so erlebt man oft, daß die edelsten und besten Charaktere von diesem Alter wahrhaft beunruhigt werden und in die gefährlichsten Schwankungen gerathen.

Glauben Sie, daß bei der Gräfin d'Azimont dies der Fall war? fragte Siegbert, den die vereinzelten Andeutungen, die er schon über diese Frau empfangen hatte, doch interessirten..

Helene d'Azimont, sagte Rudhard, war ein liebes sanftes Kind! Als ich sie in Osteggen kennen lernte, schloß sie sich mir mit wahrer Zärtlichkeit an, inniger fast, als ihre ältere, eben sich verlobende Schwester Adele. Sie war damals dreizehn oder vierzehn Jahre alt. In Odessa versank Helene fast in eine stille Traurigkeit. Sie fand sich in der neuen Welt nicht zurecht, gerieth in ein dumpfes Brüten und wurde träg. Ich wollte sie durch die Bildung anspornen, aber sie trug wahrhaft schwer unter der Last der Dinge, die sie lernen sollte. Da hat man denn gern zugegeben, daß ein von der französischen Regierung mit Aufträgen für Konstantinopel reisender Diplomat sie mit sich nahm. Es war ein fröhlicher Gesell, nicht mehr jung, dieser Graf d'Azimont, er fand gerade an der rein physischen Schwere des Mädchens Interesse, was ich mir aus sinnlichen Gründen wohl erklären kann. Denn es mag [1062] einen eigenen Reiz gewähren, ein solches Träumen durch die Liebe zum Bewußtsein zu bringen und das schlummernde Phlegma zu beleben. Man ließ Helene mit banger Besorgniß ziehen. Sie ging schon fröhlich, schon fast ausgelassen. D'Azimont hatte sich nicht geirrt. Sein feiner Blick hatte wol herausgefunden, daß ein solches Wesen eigenthümlich beglücken kann. Freilich hat das durch die Sinnlichkeit geweckte Glück keinen Bestand. Bot ihr der blasirte Mann keinen Halt oder mußten sich die versteckten vulkanischen Elemente gewaltsam Bahn brechen, wir erfuhren, daß sie erst auf die wunderlichsten excentrischen Einfälle gerieth, sich wie eine Verschwenderin gebehrdete und jeder Grille kindisches Gehör gab. Alles Das war nur das Vorspiel Dessen, was dann erfolgte. Der Ehebruch versteckte sich hinter dem Namen der Liaisons. Wir hatten manchen Namen nennen hören, der mit ihr, wie man es nennt, liirt war, bis sogar Egon's mir nur knabenhaft erinnerliche Gestalt in diesem trüben Nebel auftauchte, was mir denn, wie Sie wissen, doppelt wehe that ...

Diese Liebe soll aber von seiner Seite nicht mit gleicher Neigung erwidert werden, bemerkte Siegbert.

Doch wohl! sagte Rudhard. Wie wäre sie sonst ihm nachgereist! Ihre Schwiegereltern sollen empört sein. Graf d'Azimont droht mit einer Ehescheidung und Enterbung. Es ist Dies ein Umstand, der mir im Interesse der Kinder Adelen's nicht gleichgültig ist. Fürst Wäsämskoi war nicht reich. Es wäre seinen Kindern wol zu [1063] wünschen, daß die Tante, die durch d'Azimont's Tod – er soll sich physisch ruinirt haben – ein großes Vermögen erwerben kann, es nicht durch ihren Leichtsinn verscherzt. Da sie der Zufall hierher führte, mit uns in eine und dieselbe Stadt, so werd' ich mich durch die gereizte Stimmung, die zwischen den Schwestern herrscht, nicht irre machen lassen, auf irgend eine Art in diese Angelegenheiten einzugreifen. Ich habe dazu die Vollmacht des Herzens und der auf mich vererbten, väterlichen Sorgfalt des braven Wäsämskoi und der Autorität der alten Baronin von Osteggen, die ein Juwel von einer Mutter war.

Rudhard gerieth über diese seine eigenen Worte so in Feuer, daß er innehalten mußte, um sich zu erholen.

Siegbert fühlte, wie groß das Vertrauen war, das ihm dieser sonst so besonnene, strenge Mann, dem selbst seine Scherze nicht ganz harmlos entglitten, schenkte. Er wollte, ohnehin gedrückt und fast unfähig nachzudenken noch von innerem Schmerze, es nicht misbrauchen und fing von dem Garten an, der zwar nicht sehr kunstvoll und sorgsam angelegt, doch von manchen Naturreizen verschönert war. Ein Gärtner war schon in Thätigkeit, Manches zu verbessern. Es wurde gepflanzt und gesäet, um für die Zukunft noch mehr Bereicherungen der Gartenzier zu gewinnen.

Unter einem Spalier von Weinreben hinschreitend, das von zwei Seiten her zu einem gewölbten Dache zusammengezogen werden sollte, begann Rudhard von dem Plane, [1064] den Kindern eine systematische Erziehung zu geben, in der auch Musik und Malerei nicht fehlen dürften ...

Reiten, schießen, schwimmen können wir, sagte er, selbst Olga reitet wie eine Amazone! Heute erst wieder soll sie gegen mein Wissen auf einer Manège tolle Streiche gemacht haben. Aber die Hauptsache muß jetzt kommen, die edlere Bildung.

Siegbert wurde dann von ihm förmlich angegangen, ob er nicht den Zeichnenunterricht selbst übernehmen wollte. Wie er noch darüber nachsann, ob er wol Geduld genug besäße, so tief zu den untern Elementen seiner Kunst hinabzusteigen, wandten die beiden Spaziergänger in einen Gang, der sich in einem Blumenrunde endete, das der Mittelpunkt mehrerer strahlenförmig hierher geführter Wege war. Noch die Schwierigkeiten solcher Unternehmungen erörternd, trafen sie in dem Blumenrunde an einem hohen Rosenstrauche von weißen Rosen wiederum Olga, die ihnen den Rücken kehrte und sie doch zu erwarten schien ... Sie hatte sie kommen sehen, sich dann an den Rosenstrauch gestellt und beugte die Blumen zu sich herab, als hätte sie in ihren Kelchen etwas zu suchen und zu forschen ...

Wie Rudhard an ihr vorüberging, strich er nur leise mit der Hand über die festangezogenen Scheitel ihres schwarzen Haares und sagte, ohne sich weiter aufzuhalten, nichts als:

Olga, suchst du aus Langerweile Marienwürmchen? Oder Was?

[1065] Olga sagte nichts auf dies scharfe, absichtliche Wort, blickte auch nicht um sich.. erst als beide Männer vorüber waren, bemerkte Siegbert durch einen Seitenblick, daß sie sich umwandte und ihm nachsah. Kaum begegnete sein Blick dem ihrigen, als sie wahrscheinlich in einem plötzlichen Anfall kindischer Verlegenheit so behend, wie ein flüchtiges Reh, auf und davon rannte ...

Das Fliegen der langen Zöpfe bot einen fast komischen Anblick.

Das ist ein eigenes Wesen! sagte Siegbert ...

Eine Träumerin, bemerkte Rudhard lächelnd. Und wenn ich nicht wüßte, daß sie an dem traurigen Übel junger Mädchen, der Bleichsucht, litte, würd' ich fast in Angst gerathen, sie hätte mir zu viel Ähnlichkeit mit ihrer Tante d'Azimont. Nur das schmiegsame, zärtliche, liebevolle Wesen Helenen's, ich möchte sagen, ihre deutsche Natur hat sie nicht. Das ist eine Russin! Das Ebenbild ihres Vaters! Eine fast immer ruhige Gemüthlichkeit, ohne die angenehmen Worte dafür zu haben, und plötzlich doch, wenn etwas gerade ihrem Sinne widerstrebt, eine Wildheit, daß man das stille Mädchen nicht wieder erkennt. Sie sollten Sie zu Pferde sehen! Wenn es ihr einfällt, sich auf das Dach des Hauses zu setzen, so klettert sie hinauf und ebenso langmüthig und geduldig vollzieht sie wieder Alles, was man ihr aufträgt. In Rurik und Paulowna herrscht Überlegung, in Olga nur der Instinct. Wohin sich noch ihre ganze Art werfen wird, ist jetzt schwer zu sagen. Sie ist in der Entwickelungszeit und [1066] muß geschont werden. Von Lernen, festem Einprägen, Nachdenken ist nicht viel die Rede. Was sie weiß, muß sie sich selbst auffinden oder durch eine Art connexer innerer Anschauung gewinnen. Doch hat sie Anlage für mechanische Fertigkeiten und gern hätt' ich's, wenn Sie das kleine Talent zum Zeichnen, das sie schon verrieth, vervollkommneten. Ein Jahr lang geht Das wol noch ohne Gefahr für zwei so junge Herzen, wie in Ihnen schlagen ... Nicht wahr?

Siegbert wurde fast roth über diese Äußerung und konnte jetzt vollends zu keinem Entschlusse kommen. Glücklicherweise schnitten die kleineren Geschwister seine Verlegenheit durch die im vollen Galopp überbrachte Aufforderung ab, die Herren sollten doch Beide zum Thee kommen.

Sollen kommen? rief Rudhard.

Dürften! schrie Rurik.

Müßten! verbesserte Paulowna.

Weder dürften, noch müßten, noch sollten! sagte Rudhard. Ihr habt in uns keine Leibeigenen vor Euch und auch Denen würde man sagen, sie möchten kommen, wenn's ihnen gefällig wäre. Verstanden? So wird es wol auch die Mutter ausgerichtet haben.

Sollten! Dürften! Müßten! Möchten! rief der humoristische Rurik und faßte mit Paulowna Siegberten an beiden Armen und Beide zogen ihn so fort, daß er fast nur laufend ihnen folgen konnte.

Die Fürstin, die sich bei ihrer Annäherung freundlich [1067] erhob, begrüßte den fremden jungen Mann mit den leisen Worten, die sie in der eigenthümlichen kurländischen Betonung sprach:

Sie sehen schon da, mein Herr, wie gern Sie aufgenommen sind!

Die Gräfin Altenwyl warf einen flüchtigen strengprüfenden, aber nicht unfreundlichen Blick auf Siegbert und den nach ihm an die wilde Rebenwand tretenden Rudhard ...

Die Oberhofmeisterin der Königin, Gräfin von Altenwyl, schien im Sitzen eine Gestalt mittleren Wuchses. Sie hatte durch ihre etwas runden Formen und eine leichte Corpulenz etwas frauenhaft Wohlwollendes. Im Auge aber lag viel Zurückhaltung und ein leiser Anflug von Mistrauen, das wol durch ihre schwierige Stellung entschuldigt war. Sie war in reichen Stoffen, aber durchaus wie unscheinbar gekleidet. Graue Farben waren fast wie absichtlich gewählt. Der durchbrochene Hut war mit dem unkleidsamsten dunkelbraunen Seidenband durchzogen. Sie wollte einfach, höchst einfach und nur einfach sein.

Während ein Bedienter Thee darbot, konnte Siegbert die Fürstin genauer betrachten, als vorhin bei der flüchtigen Begrüßung ...

Sie hatte die Züge ihrer jüngsten Kinder, war von mittlerer Gestalt und nicht eben auffallend durch irgend eine hervorstechende Schönheit. Sie schien noch außerordentlich vom Todesfall ihres Mannes und der Reise angegriffen und sprach mit sehr gedämpfter Stimme. Ihre [1068] Augen verriethen nicht gerade Geist. Auch ihr Wohlwollen schien mehr eine Art beflissener Geschäftigkeit, als der starke Drang eines vollen, überquellenden Herzens ...

Man sprach von unbedeutenden Dingen, von dem Residenzleben, dieser Ansiedelung, der Furcht vor dem Winter.. erst die Kinder brachten durch ihre Naivetät Frische, Rudhard durch seine trockenen Bemerkungen Gedanken in das Gespräch.

Die Gräfin Altenwyl, dieser von Pauline von Harder so gefürchtete Erzengel Michael mit dem flammenden Hüterschwert am Eingang der »kleinen Cirkel«, blieb fast immer still, wie eine Frau, die sich nicht ausläßt, wo sie sich nicht auf sicherem Terrain weiß. Sie forschte zuweilen flüchtig im Auge Siegbert's, zuweilen warf sie einen Blick auf Rudhard hinüber, dessen Stellung im Hause ihr nicht ganz in der Ordnung zu sein schien. Sie verrieth, daß sie an einen passenden Moment dachte, sich zu empfehlen.

Ein schlimmer Beobachter, wie etwa Leidenfrost oder Pauline von Harder hätte gewiß gesagt: Die da ist das ganze Prinzip unseres Hofes, nämlich so viel Null wie möglich zu sein!

Man begriff hier den Schmerz Paulinen's, unmöglich in jene kleinen Cirkel zu dringen, die von so negativen, forschenden und immer nur ablehnenden Naturen, wie diese Altenwyl, gehütet wurden ...

Rudhard brachte sogleich die Malerei und die Kunst auf das Tapet ...

[1069] Auch die Fürstin Adèle malte, Blumen wenigstens und Käfer, wie sie sagte ...

Siegbert's Äußerung, daß sie dann glücklicherweise ganz in derjenigen Malerei sich übe, welche, wie er gehört hätte, in Rußland neben dem Portrait und der Landschaft am meisten getrieben würde ... Genre und Historie wären ja wol von Obenher nicht einmal gern gesehen ... Diese Äußerung war eigentlich in solchem Kreise furchtbar gewagt und von unserm guten jungen Freunde fast ein wenig taktlos ...

Siegbert fühlte auch sogleich an dem Eindruck, den sie hervorrief, daß er in solcher Umgebung einen gewaltigen Schnitzer gegen die Schicklichkeit begangen hätte.

Daß die Fürstin schwieg, daß die Oberhofmeisterin ihn jetzt noch schärfer und strenger mit ihren stummen Blicken examinirte, war ihm begreiflich. Daß aber auch Rudhard etwas die Stirn runzelte und dieser klare, durchgebildete Mann der Anwalt russischer Regierungsmaximen sein konnte, erfüllte ihn mit Befremden. Indessen sammelte er sich rasch und lenkte auf einige russische Bilder ein, die er sehr rühmte, besonders einige gewaltige Städteprospecte, die in Mondscheinbeleuchtung Alles wiedergäben, was man nur von einem Zweige der Malerei, der freilich zu sehr an die Decorationsmalerei der Panoramen erinnerte, erwarten könne.

Die Oberhofmeisterin wußte auch sogleich den Namen jenes russischen Künstlers zu nennen, auf den Siegbert anspielte.

[1070] Sein höfliches: Ganz recht! erwärmte ein wenig wieder die gestörte reciproque Stimmung ...

Die Altenwyl hatte nun etwas gewußt und glaubte, daß Dies ein richtiger Moment war, der sich zum Abschiednehmen eignete und von ihr eine gute Wirkung zurückließ.

Schon hatte sie sich erhoben, als der Bediente eintrat und einen eben angefahrenen ferneren Besuch meldete:

Frau Landräthin von Harder! hieß es.

Von Harder? Harder? sagte die Fürstin.

Wie die Oberhofmeisterin diesen Namen hörte, sagte sie:

Doch nicht Pauline von Harder?

Die Schwiegertochter des Obertribunalpräsidenten, eine geborene Marschalk. Meine Mutter hat einst Viel von ihr gesprochen. Ich bin sehr erfreut!

Der Bediente ging nach diesen Worten der Fürstin, die sich besonnen hatte.

Die Oberhofmeisterin gerieth in große Unruhe.

Ja, ja, sagte sie, beide Harders sind Schwiegertöchter – aber – ich hoffe ... die Landräthin von Harder! hieß es.

O, wenn es jene Harder wäre, fuhr die Altenwyl fort, jene Harder, die jetzt in Tempelheide wohnt, nicht die Geheimräthin Pauline von Harder, so wäre sie zu lebhaft gespannt. Sie hätte des Schönsten und Gediegensten so Vieles von dieser Anna von Harder gehört, daß sie bleiben müsse, um sie endlich einmal von Angesicht zu sehen. Sie würde mit dieser »Entrerevue« dem Hofe und den [1071] kleinen Cirkeln ja die größte, unverhoffteste Freude machen ...

Die Fürstin war wahrhaft glücklich, Veranlassung einer so nützlichen Begegnung zu sein, bei deren Wiedererzählung doch am Hofe schon vor der Vorstellung ihrer in Güte gedacht werden müsse ...

Siegbert fühlte wol, daß er nun hätte gehen müssen, aber der Gedanke: Das ist ja sicher die gute liebe Dame, die dir vor noch nicht acht Tagen den Becher mit Wein zur Erquickung in der heißen Sonnenhitze schickte, die Dame, die dich mit Hackert zusammenführte und heut' Abend noch die Veranlassung seiner Erklärungen sein wird ... fesselte ihn.

Er war nun schlau genug, sich den Kindern nothwendig zu machen und sich durch diese zum Bleiben gleichsam nöthigen und zwingen zu lassen. Zu dem kleinen Cirkel, der durch das dampfende Theecomfort, den inzwischen gedeckten Tisch, die Bedienung, endlich die Kinder etwas gar Wohnliches und Trauliches bekommen hatte, trat jetzt die angemeldete Dame.

[1072]
15. Capitel. Ein Äolsharfenton
Funfzehntes Capitel
Ein Äolsharfenton

Würde der Frauen! Du lehrst die ewige Schönheit der Seele und die tiefe Wahrheit eines reinen kindlichen Herzens! Vergänglicher Reiz äußerer Formen.. Dauernd verdunkeln dich das fleckenlose reine Gemüth – Liebe, Entsagung und das unverdrossene treue Walten der Mühe!

Die Mühe! Ach! Das ist der Schauplatz der kleinen Kammer, wo ein gutes Frauenherz sich ewige Kronen erwirbt. Die Mühe, nicht die Gesinnung allein nur adelt ihre Seele. Die Mühe! Von dem ersten Liebesdienst einer Schwester, gewidmet der Sorge und Pflege ihrer jüngeren Brüder und Schwestern, von dem ersten Pflegamte bei einem kranken Vater, einer leidenden Mutter ... welche Stufenleiter edler Mühewaltung und schmerzverklärter Frauenwürde!

Mühe! Diese Freudigkeit des Gebens, des Entsagens, des Opferns! Dies volle, nicht überströmende, nicht darbende, sondern gerade richtige Maß der erfüllten Herzenspflicht! Wo umstrahlt ein edles Weib die reinste Glorie ihrer Bestimmung, als in der engen Klause, wo ein Mutterherz die ersten Pflichten seiner göttlichen Sendung [1073] an ihrem Kind erfüllt? Hülflos liegt der Säugling in ihrem Arm; die stille Nacht hallt von dem Schmerzensschrei des seit wenig Wochen erst geborenen Kindes; die Ungeduld der Umgebungen, selbst die schnell ermüdete Liebe des Vaters weiß nicht zu helfen ... Die Mutter aber harrt aus, vergißt den Schlaf, versucht alle Beschwichtigungen der Schmerzen des noch mit seinem Pflanzenleben ringenden kleinen Wurmes; der Mutter ist dieser Wurm ein Hälmchen, das mit dem Sonnenschein der Liebe aufwachsen wird zum Allgemeinen und Ganzen; sie sieht schon Bewußtsein in dieser kleinen unreifen Bildung, sie hört schon eine Sprache in diesen Wehklagen, sie gibt diesem glimmenden Fünkchen den ganzen Hauch ihres eignen nach Freude doch so begierigen, aber nun entsagenden jungen Lebens, um ihn anzufachen zu einem flackernden starken Lichte ...

Und wenn es erlischt! Diese Prüfung traf Tausende und an keinem Weibe ging in dieser oder anderer Form ganz die Mahnung ihres Berufes vorüber ... aber die verklärende Abendsonne des Schmerzes blieb doch nur bei Wenigen im vollen Glanze abgedrückt! Wie bald erkennst du Die heraus aus dem Haufen, die ihr Leid für die Welt bald begruben und wieder fröhlich wurden! Wie schwer Die, die es ewig leben ließen in ihrem Herzen! Sanfte Seelen, die ihr wol noch lächelt, wol noch unter den Menschen wandelt, noch die Pflichten eures Berufes erfüllt und doch wie in den Lüften schwebt und uns erscheint, wie die Sendboten der Ewigen!

[1074] Anna von Harder war eine Gestalt.. mehr groß, als selbst Mittelfigur ...

Die Züge des Antlitzes waren sicher einst schön, jetzt waren sie verfallen, von Leid durchfurcht; in den Augen lag etwas Bittendes, etwas Wehmüthiges. Dennoch war ein schönes Lächeln diesen ernsten Zügen geblieben. Die unversehrten, blendendsten Zähne mit dem ihre Gesundheit bezeugenden leichten gelblichen Schimmer, hoben dann die lächelnden Mienen und ließen sie noch anmuthig erscheinen, wobei sie weit entfernt war von dem Fehler derjenigen Menschen, denen die Natur den schönsten Schmuck, Zähne von Elfenbein, gab, daß sie mehr lächelte, als es in der Welt zu lächeln gibt. Sie brauchte diese Wirkung der Schönheit, die Andere immer brauchen, fast zu selten. Wenn Anna von Harder lächelte, war es, als fühlte sie sich von der Wirkung ihres schönen Mundes überrascht und als thäte sie es ungern. Sie lächelte aus Milde und Wohlwollen, nie, weil sie wußte, daß es ihr schön stand.

Die edle Frau war auch in Haltung und Toilette nicht von jener Einfachheit, die im Einfachen etwas sucht, wie die Altenwyl, bei der durch ihre grauen und braunen Farben auf schweren Kleiderstoffen ein anspruchsvolles Prinzip ausgedrückt wurde. Sie drückte durch ihr Äußeres nichts aus als ihr einfaches Bedürfniß und ihren natürlichen Geschmack. Nicht einmal mit einer grauen Locke, deren sie die Fülle hatte, that sie schön, wie so manche junge Matrone, die ihr graues Haar so nahe an ihr noch [1075] heißes Auge bringt, daß man vor den »Flammen im Schnee« erschrecken möchte. Anna von Harder hätte recht gern noch einen natürlichen schwarzen Scheitel auf der Stirn getragen und versteckte lieber ihre grauen Locken durch den niedergedrückten und innen besetzten Hut!.. Warum seinen Winter zeigen in einer Welt, die des Frühlings bedarf, um weltglücklich zu sein! Es gibt eine Diskretion des Alters gegen die Jugend, die nur ganz zarten Naturen eigen ist.

Was auch die Altenwyl von einem bescheidenen und doch bedeutenden Eindruck erwartete, sie konnte nicht getäuscht sein. Anna von Harder war eine Erscheinung, die eben dadurch wirkte, daß sie von ihrem Effekte keinen Vortheil zog und sich gab in der völligen Unschuld einer reinen Seele.

Sie umarmte die ihr ganz unbekannte und nur durch ihre Mutter nahegerückte Fürstin und drückte sie zärtlich an ihr Herz.

Daß ihr eine Thräne in's Auge trat, während die Augen der Altenwyl trocken geblieben waren, als sie die Tochter der Baronin Osteggen sah, die mit ihr einst so viele Briefe gewechselt hatte, wer verdachte es ihr, wenn man wußte, daß sie ihre einzige Tochter durch ein sonderbares Schicksal so gut, wie für immer, verloren und nie wieder gesehen hatte ...

Mit stummer Rührung nahm sie auch die beiden Kinder – Olga hatte sich während aller dieser Scenen entfernt – und drückte einen Kuß auf ihre Stirnen. Sie hatte ihren [1076] Vater nicht gekannt, aber gleichviel, es war ein Vater, der den Kleinen gestorben war!

Von Ihnen weiß ich schon, sagte sie zu Rudhard, ihm die Hand reichend. Die Baronin schrieb Viel von Ihnen. Sie besaßen ihr Vertrauen und sind nun wirklich der Vater dieser Kleinen geworden. Nicht wahr? Sie sind Rudhard?

Rudhard dankte für diese freundliche Bewillkommnung und erzählte, wie warm die Mutter Adelen's der Landräthin Anna von Harder zu gedenken pflegte.

Eine Vorstellung der andern Personen fand nicht statt, doch kannte Anna sogleich von Ansehen die Oberhofmeisterin, der sie sich ehrerbietig verneigte.

Auf Siegbert aber warf sie einen Blick, als wollte sie sagen:

Ei! Du blonder junger Mann mit dem schüchternen, ehrlichen Antlitz! Wo hab' ich denn dich schon gesehen?

Man hatte nun Manches auszutauschen, was zu gegenseitiger Annäherung diente.. Siegbert war ein wenig auf Kohlen, wie das Gespräch so gar persönlich wurde und auf eine Menge Erinnerungen zurückging, bei denen Anna vertraulich die Hand der Fürstin hielt, ihr in's Auge sah und aus ihm die alte Zeit, die Mutter und die Vorstellung von dem Vater dieser Kinder hervorsuchen wollte. Er dankte recht der lustigen Paulowna, die allerhand Späße mit ihm trieb und ihn wol nicht hätte gehen lassen, wenn er nun auch aufgestanden wäre..

Auch Rudhard erzählte vom Vergangenen, während die [1077] Altenwyl schweigsam lauschte und fast lauerte, wie sich Anna von Harder entwickeln würde, was sich ihr wol abmerken ließe und worin sie wol so eigenthümlich wäre, wie man sagte. Und sonderbar! Ihr Eigenthümliches war eben Das, daß sie ganz einfach war und immer nur ein gütiges Ja! und Nein! sagte, wo man vielleicht eine geistreiche Entgegnung hätte anbringen können. Zehnmal entfuhr ihr ein beistimmendes herzliches So! Zehnmal ein verwundertes Ach! Ganz einfach, wie jedem natürlichen Menschen, dessen Ohr und Herz dem Herzen Dessen folgt, der mit ihm spricht ...

Vielleicht waren aber auch diese einfachen Zustimmungen ein klein wenig der Ausdruck eines inneren Grübelns, wo sie Siegbert hinbringen sollte ...

Endlich fand sie es ...

Nach einer Pause, wo die Mittheilungen an die gefährliche Grenze der Erwähnung Paulinen's von Harder und der Gräfin d'Azimont angekommen waren und man über die betrübende Ähnlichkeit in den Verhältnissen zweier sich entfremdeter Geschwisterpaare mit verlegenem Stocken innehielt, sagte Anna von Harder, die jedoch über Helene d'Azimont mit Güte sprach, über ihre Schwester völlig schwieg, halb zu Siegbert, halb zu den Kindern die freundlichen Worte:

Die kleine Paulowna bindet da an den Finger Ringe von Blumenstengeln und weiß doch hoffentlich, daß sie die Hand eines Malers schmückt?

Siegbert angenehm überrascht, richtete sich jetzt auf [1078] und verbeugte sich, als machte er eigentlich nun erst die Begrüßung, die er nicht gewagt hatte.

Sie kennen – sagte die Fürstin fragend ...

Rudhard hörte mit Aufmerksamkeit und sichtlicher Freude, daß Siegbert so bekannt war..

Ich habe damals, erläuterte Anna freundlich, ich habe damals nicht gewußt, als ich dem fleißigen Zeichner in Tempelheide für das Interesse, das er an unsrer alten Kirche zeigte, in der schrecklichen Hitze einen Becher Weins zur Erfrischung anzubieten wagte, daß ich den gefeierten Maler des Jakob Molay so dürftig bewirthet hatte. Frau von Trompetta und Fräulein von Flottwitz machten mir eine Stunde darauf diese angenehme Entdeckung.

Siegbert dankte für die schmeichelhafte Erinnerung und lehnte das ihm gespendete Lob in aufrichtiger Bescheidenheit ab.

Anmuthig und herzlich erzählte Anna den uns bekannten Vorfall und verschwieg auch den Raben, verschwieg auch den alten Schwiegervater, ja selbst die vom Bedienten gemeldete Theilung mit einem Landstreicher nicht, wie sie doch wol etwas zu schnell dem um den Becher geängstigten Diener das Urtheil über Hackert nachsprach.

Siegbert hielt eine Berichtigung und Milderung dieses Urtheils für zu weitläufig, sagte aber doch:

Ihn dürstete, wie mich. Wir haben uns Beide erquickt ...

[1079] Frau von Trompetta, fuhr Anna von Harder fort, während die Altenwyl immer horchte und sich gleichsam wörtlich einprägte, was sie von diesen Begegnungen heut in den kleinen Cirkeln berichten konnte, Frau von Trompetta ist glücklich über das Albumsblatt, das Sie ihr schenken werden. Wer Ihren Molay bewundert hat, kann nur etwas Schönes erwarten. Ich freue mich, daß der Kunstverein so klug war, ihn anzukaufen und würde noch glücklicher sein, wenn ich ihn mit meinen armen drei Loosen gewänne ...

Siegbert wuchs bei diesen Worten ordentlich in den Augen der ganzen Umgebung. Die Fürstin fixirte ihn mit erhöhtem Interesse. Während er sich wie eine Schnecke in ihr Gehäuse hätte zurückziehen mögen, beobachteten ihn die Andern mit ehrfurchtsvollen Blicken, die Altenwyl besonders, die in ihrer Stellung doch angewiesen war, jedem im öffentlichen Leben des Staates und der Gesellschaft nur irgend hervortretenden Ereignisse oder Individuum eine gewisse huldvolle Aufmerksamkeit zuzuwenden ...

Die Majestäten, sagte sie auch mit einer herablassenden Wendung ihrer sitzenden Stellung, die Majestäten haben dies Bild mit vielem Wohlgefallen betrachtet und nicht begreifen können, warum der Propst, der den Cicerone machte, soviel daran zu mäkeln fand.. Man wird doch oft ganz irr an diesem Mann!

Ein feiner Kopf konnte aus dieser Äußerung viel entnehmen.

[1080] Hätte sie Gelbsattel gehört, er würde gezittert haben. Denn sie bewies, daß man bei Hofe anfing, gegen ihn eingenommen zu sein.

Solche schlaue Barometermesser fehlten hier aber. Nur Siegbert erröthete und sagte achselzuckend:

Der Propst! Ich verkenne die Fehler meines Bildes nicht! Allein die Kritik der Dilettanten ist wirklich unser Kreuz. Wir leiden mehr unter ihr als unter der der wahren Kenner, die doch oft viel strenger sind.

Rudhard hielt sich nicht und schnitt der Oberhofmeisterin, die in der Furcht, fast zu viel gesagt zu haben, wieder durch ein Lob des Propstes das Gleichgewicht herstellen wollte, fast die Rede ab.

Ist das Propst Gelbsattel? sagte er. Mein ehemaliger Schüler, der Zeltgenosse Ihres Vaters! Tadelt das Bild von dem Sohn eines Schulkameraden, jubelt nicht, so etwas begrüßen, empfehlen zu können? Das ist garstig! Garstig! Es war immer ein schlimmer Patron.

Portensis! ergänzte Rurik, fast beleidigend für alle Schulpförtner.

Siegbert lachte über die Weisheit des Knaben und die Damen wollten wissen, was dieser neue Charakter des Propsts zu bedeuten hätte?

Rudhard erklärte es. Während Anna von Harder dabei dies Kleeblatt dreier Freunde sehr lieblich fand, ergänzte Paulowna, die auch etwas wissen wollte, die Namen Wildungen, Gelbsattel und ...

Bei dem dritten Namen stockte sie ....

[1081] Rodewald, sagte Rudhard und lobte das Gedächtniß der Kleinen.

Wer? sagte Anna betroffen ....

Rodewald! wiederholte die Kleine, der Alles bedeutend geworden war, was mit dem lieben neuen Freunde, Siegbert, in Beziehung stand.

Bei dem Namen Rodewald aber erblaßte Anna von Harder. Ohne daß Einer in der Gesellschaft begreifen konnte, wie sie diesen Namen sich mehremale wiederholen lassen und fragen konnte, wann und wo Das war? versank sie in eine Stimmung, deren Ernst gegen die durch die Scherze der Kinder angeregte Heiterkeit so abstach, daß Siegbert, der Dies bemerkte, nicht zu sagen wagte, daß dieser Rodewald sein Oheim wäre.

Die Altenwyl aber bemerkte die Veränderung nicht und nahm nur Gelegenheit auszurufen:

Schulpforte! O diese alten Stifte! Diese alten Klosterschulen! Die Majestäten lieben diese alten Stifte und Klosterschulen so sehr, daß schon längst eine Rundreise auf ihnen im Werke ist ...

Damit aber kam die Oberhofmeisterin trotz ihrer hohen Stellung bei Rudhard schlimm an. Der wußte eine solche Menge von Misbräuchen in diesen alten Stiften und Klosterschulen aufzudecken, daß er fast pedantisch wurde und die Damen mit Rügen unterhielt, die viel zu streng wissenschaftlich waren.

Die Altenwyl nahm auch Veranlassung, ein einfaches, etwas kaltes: Meinen Sie? fast wegwerfend zu äußern und [1082] dann sogleich auf das Album der eben erwähnten Frau von Trompetta überzugehen. Mit sonderbarer Gelassenheit und nicht ganz ohne Ironie äußerte sie:

Also Frau von Trompetta sammelt wieder ein Album! Weiß man denn schon für welchen Zweck? Glücklicherweise sind wir in diesem Frühjahr von Überschwemmungen verschont geblieben. Ich hörte kürzlich, sie will jetzt die armen Weber bedenken!

Arme Weber sind allerdings zeitgemäßer! sagte Siegbert etwas ironisch.

O, Sie schlimmer Spötter, rief Anna von Harder, die sich von dem Eindruck, den der Name Rodewald auf sie gemacht, jetzt allmälig gesammelt hatte, Sie dürfen mir nichts gegen Frau von Trompetta sagen. Ich fürchte, es finden sich der Thränen genug, die man mit dem Ertrage dieses neuen Albums trocknen kann! Nur der Titel, den die gute Trompetta diesmal gewählt hat, ist etwas zu –.. wie soll ich sagen? Sie nennt es Gethsemane.

Gethsemane! sagte Rudhard und schlug die Hände zusammen ...

Ja, bemerkte die Altenwyl, die es merkwürdigerweise auf die Trompetta abgesehen hatte, es ist in der That ....

Ach! fiel Anna durchaus entschuldigend ein. Es ist ihre Idee. Es klingt nur ein wenig doch zu ...

Muckerisch! brach Rudhard rund und kurzweg heraus.

Die Wirkung dieser rationalistischen Derbheit war aber schlimm berechnet.

[1083] Muckerisch! riefen die Kinder und machten lustige Wortspiele.

O so nicht! sagte Anna fast verletzt.

Die Altenwyl wandte gleichfalls ihr Haupt entrüstet zu dem alten Herrn hinüber, der denn nun auch von der Fürstin einen Wink bekam, fast, als wollte sie sagen, es wäre vielleicht besser, du gingest in den Garten oder auf dein Zimmer, alter Bär, oder schwiegest ...

Auch dieser Gegenstand konnte also nicht fortgesetzt werden.

Anna von Harder griff, da Siegbert diskret geschwiegen hatte, wieder den Feuertod des Molay auf und sagte zu ihm gewandt:

Sollten Sie glauben, lieber Herr Wildungen, daß dies Süjet sogar meinen guten alten Schwiegerpapa, den neunzigjährigen Greis, interessirt hat? Ich mußte ihm ja Ihre Auffassung wörtlich erzählen. Er nahm großen Antheil und lobte Alles, was ich ihm mittheilte. Mit einer einzigen Ausnahme! Zürnen Sie mir nicht, wenn ich Ihnen seine Rüge wiederhole?

Siegbert bat um volle Offenheit ... Eine Äußerung von diesem würdigen Greise könnte ihm nur lehrreich sein ...

Anna, fast in Verlegenheit, dem jungen Manne weh zu thun, begleitete die folgenden Worte mit einem außerordentlich milden und versöhnenden Ausdruck:

Er sprach, sagte sie, von der über den Rauchwolken des Scheiterhaufens schwebenden Taube, die mir so außerordentlich [1084] als die Idee der höheren Versöhnung und der gerechteren Zukunft gefallen hat.

Die Idee ist einer Sage über Hussens Feuertod entlehnt – ergänzte Siegbert.

Gleichviel! Mein alter Papa meinte, fuhr Anna schüchtern und mit großer Spannung für die auf jede ihrer kleinsten Äußerungen merkende Altenwyl fort, Papa meinte, man könnte die in Paris verbrannten Templer nicht als Zeugen der christlichen Wahrheit oder irgend eines geistigen Fortschrittes verehren, sie hätten im Gegentheil weit eher ein unheimliches Symbol, eine Eule oder einen Raben, verdient.

Wie so? fragte Rudhard wieder barsch und kurzweg.

Die Templer, fuhr Anna fast erschreckend über dies rauhe Wie so? fort, die Templer haben nach des alten Herrn Meinung sich sehr in die Geheimnisse jener Länder verloren, wo sie für die christliche Lehre streiten sollten, öfter aber vorzogen, mit den Einheimischen in friedlichem Verkehr zu leben, wie wol jeder Feind, den man sich in der Ferne gehässig und abscheulich vorstellt, in der Nähe von seinen schlimmen Farben verliert und uns würdiger erscheinen kann, belehrt, als bekämpft zu werden ...

Diese Meinung macht dem alten Mann Ehre! sagte Rudhard. Aber die Templer.. die Templer.. Eulen und Raben?

Ei! Ei! fiel forschend und lächelnd die Oberhofmeisterin ein, es wird Dies doch nicht derselbe Rabe sein, den der alte Herr Präsident immer neben sich sitzen hat und mit [1085] dem er sich, wie die Majestäten dem General Voland von der Hahnenfeder noch gestern bei Tafel nicht glauben wollten, über die schwierigsten juristischen Fälle unterhalten soll?

Sie lächelte forschend und Anna erröthete fast.

Das gibt ja etwas für die Kinder, fiel jetzt die schweigsame Fürstin, die nichts von solchen ernsten Dingen, mit denen General Voland von der Hahnenfeder den Kopf zu »fasciniren« wußte, kannte, lachend ein. Solche Märchen haben Sie um sich, liebe Landräthin?

Ja, ja, Ihr lieben Kleinen, sagte Frau von Harder, die auf den Scherz einging, wenn Ihr mich besucht, und ich hoffe, daß Dies bald geschieht, werdet Ihr glauben, in der Arche Noäh zu kommen, wo noch die Thiere alle fromm und friedlich beisammen wohnten.

Ein Männlein und ein Fräulein! brummte Rudhard, der unverbesserliche Rationalist, dazwischen.

Ja! Ja! Bei uns werdet Ihr Hunde sehen, die sich mit den Katzen vertragen, Katzen, die nicht naschen, Raben, die nicht stehlen, ja kleine Mäuse werdet Ihr fangen können, mit denen die Katzen spielen, ohne sie zu speisen ...

Und glaubt der alte Herr wirklich an die Seelenwanderung? fragte jetzt die Gräfin ungemein neugierig, fast zudringlich.

O gnädige Frau!

Das war Alles, was Anna fast verletzt darauf antwortete.

Die Oberhofmeisterin erschrak. Der General Voland [1086] von der Hahnenfeder hatte bei Tafel doch gestern ausdrücklich gesagt, die alte Excellenz schiene ihm an die Seelenwanderung zu glauben, und der berühmte eingeladene Professor, der Egypten bereist hatte, bekam noch ausdrücklich vom Könige beim ersten Ragout das Wort über die Pyramiden, sodaß General Voland fast eifersüchtig wurde, wie Jemand bei königlicher Tafel länger als zwischen zwei Schüsseln allein reden könne und beim Fisch nicht ruhte, auch das Wort über die Pyramiden zu ergreifen, über die er sich, wie über Alles, zum Staunen der Herrschaften, als Kenner erwies.

Nun, wenn nicht die Seelenwanderung, so möchte man aber doch glauben, Sie wohnten bei einem Hexenmeister? bemerkte Rudhard.

Ja! Bei einem Zauberer! fiel die Fürstin verbessernd ein.

Die Kinder wollten von den kleinen Mäusen mehr erfahren.

Erzählen Sie doch! Erzählen Sie doch!

Ihr lieben Kleinen, sagte Anna fast verlegen, da ist nichts weiter zu erzählen. Da ist nur zu lernen und zu spielen, wenn Ihr zu uns kommt und hübsch versprecht, unsern Thieren nichts zu geben, was sie etwa naschen sollen. Der alte Großpapa ist strenge und nur mit seiner Art zu füttern und der Entfernung alles Naschens bringt er es eben dahin, diese Thiere untereinander zu versöhnen. Das solltet Ihr sehen, wenn die Stunde der Fütterung kommt! Wie da die Hühner krähen, die Enten schnattern, die [1087] Eichhörnchen springen und an ihren Drahtgitterchen kratzen! Aber Großväterchen gibt nur Dem, der geschickt war, und Alle wissen recht gut, ob sie ihr Futter verdienten. Wer etwas verbrochen hat, winselt dann und bittet so demüthig, bis man Mitleid bekommt. Wenn man nun Gnade für Recht ergehen läßt, dann hüpft das wilde Völkchen und ist so lustig und so dankbar, daß es Einem die Hände küssen möchte! Aber die Katze muß immer nur neben dem Hunde essen und die Dohlen bekommen ihre Körner vom blanken Silber, damit sie Silber nicht für Futter halten und es stehlen ...

Als die Herrschaft über diese scherzhafte Mittheilung sich sehr unterhalten fühlte, meinte Rudhard, ob der Herr Tribunalpräsident nicht schon versucht hätte, auch in den Gefängnissen solche Zähmungen mit den Verbrechern anzustellen und wohin der Thierbändiger denn eigentlich mit diesen Experimenten hinauswolle?

Die andern Frauen schienen ärgerlich über diese Frage, die ihnen ganz unnütz vorkam. Ihnen genügte das Factum. Die Oberhofmeisterin schwelgte im Entzücken über die Thatsachen, die sie dem auf alles Aparte so begierigen und vom General Voland nur für Exclusives angeregten Herrscherpaare würde zu erzählen haben. Anna von Harder aber nahm Rudhard's Frage auf.

Ganz einfach zielt Großpapa auf die Ergründung der Thierseele, sagte sie. Es ist rührend anzusehen, wie dieser alte Herr, der ganz außer seiner Zeit lebt, sich nur mit zwei Dingen in seinen Mußestunden beschäftigt, [1088] mit der Freimaurerei und den Untersuchungen über die seelischen Regungen in der Thierwelt. In diesem Sinne kommt er mir oft allerdings wie ein Zauberer vor. Die Maurerei und ihre Geheimnisse kenn' ich nicht, aber er behauptet, sie hingen gewissermaßen mit seinen zoologischen Studien zusammen.

Alles war über dies Wort erstaunt.

Selbst Rudhard, der sich als Maurer bekannte und gestand, er wäre nicht im Stande, hier ein Bindeglied anzugeben ...

Es muß doch eins sein, sagte Anna von Harder. Und wenn ich mich nicht ganz täusche, glaub' ich den Schleier damals etwas gelüftet gesehen zu haben, als der gute Greis kopfschüttelnd wegen Ihres Bildes, Herr Wildungen, immer die Worte wiederholte: Keine Taube! Keine Taube! Ein Rabe! Ein Rabe! Die Templer nannte er keine Christen. Ich sollte nur Acht geben, sagte er, an unserer Kirche, die Sie, Herr Wildungen, damals zeichneten, da wären in den Verzierungen der Fenster Vögel und orientalische Thiere sichtbar und die von den Tempelherren an die Johanniter übergegangenen Häuser, wie sich deren mehre in unsrer Stadt befinden und eins sogar an der Stelle stand, wo später meine eigene Familie ein Haus besaß, alle diese Häuser hätten eine Architekturverzierung, die sich nur auf den Orient, den Tempel Salomonis, die alten geistlichen Ritterschaften, die Geheimnisse der Baugilden zurückführen ließe. Und ich gestehe, ich höre den alten Mann gern sprechen, wenn er nicht von diesen [1089] dunkeln Sachen, wohl aber von der gebundenen Thierseele spricht, von den wunderlichen Trieben zu einer eigenthümlichen Moral in den Instincten, von der Vereinzelung oder der Paarung, von der Treue der Thiere und ihrer Innigkeit in geschlechtlichen Beziehungen ebenso wie von ihrer Gedankenlosigkeit. An einem Tage, wo ich über eine Trennung, die mein Innerstes traf, keinen Trost finden konnte, sprach er von den Zugvögeln und ihrer Wiederkehr, von der Gewöhnung der Taube und der traulichen Anhänglichkeit der auch von Shakespeare so innig geschilderten Mauerschwalbe so rührend, daß ich recht erkannt habe, wie doch Alles, was wir von Gott sagen und lehren, nicht ausreicht, wenn wir nicht in jedem Dinge sagen und lehren: Er ist die Liebe!

Diese Worte brachten eine große, aber nicht gesuchte Wirkung hervor ...

Rudhard hatte die Maurerei wol nur in seiner frühesten Zeit getrieben und vollends in Rußland, wo sie nicht geduldet ist, alle Verbindungsfäden mit ihren verschiedenen Sekten und Auffassungen verloren. In seiner Art witterte er auch in dem Allen, was sich hier so wunderlich zu erkennen gab, nur Mystik, die er haßte ... Er schwieg.

Die Gräfin Altenwyl aber war tief ergriffen. Sie hatte eine solche reiche Ernte heute für den Hof nicht erwartet. Die Thierseele ... die Templer ... die alten Johanniterstifte ... die Zugvögel ... Shakespeare und das Alles verbunden und verquickt durch das Eine: Gott ist die Liebe! Was konnte es heute Befruchtenderes, Anregenderes, [1090] Schlagenderes für die »kleinen Cirkel« und jenen eigenthümlichen Geist der Romantik geben, der die Schicksale dieses Staates und durch ihn einen Theil Deutschlands regierte!

Anfangs versuchte die allgewaltige Dame zu Siegbert's größter Spannung, das Gespräch auf die schwebende Johanniterverlassenschaftsfrage zu lenken; da aber Niemand darüber unterrichtet schien und Siegbert von seinem Bruder damals im Pelikan doch noch viel zu wenig darüber erfahren hatte, wie sehr er selbst daran betheiligt war, so ging die Oberhofmeisterin, um das Gespräch zu einem endlichen Schlusse zu führen, zu einem allgemeinen staatspolitischen Seufzer über, des Inhalts:

O eine Idee, die die ganze Welt erquickt! Nur ein Wort des Friedens in diesen Haß und diesen Hader! Wer wird dies Evangelium bringen, das allem Kampf der Parteien ein Ende machte und die Erde in einen Wohnplatz von Menschen umwandelt, die nur dem erlaubten Genuß der irdischen Güter und der Bildung ihres Herzens als Vorbereitung künftiger Seligkeit leben! Sie glauben nicht, meine Liebe, (sie wandte sich an Anna), wie man bei Hofe nach Erlösung von diesem Jammer, der über unsere Erde verhängt scheint, schmachtet! Wo man auch nur in seinem redlichsten Eifer etwas unternimmt, was jetzt dem Werthe des Ganzen dienen soll, sogleich muß man bei jedem Schritt, den man wagt, um zu einem guten Ziele zu kommen, hören, daß man Andre verletzt hätte! Ach, nicht vor- und nicht rückwärts ist ein Weg mehr zu finden.

[1091] Glauben Sie mir, liebe Frau von Harder, daß die Menschen wol glücklich sind, die die Seele in den Blumen oder in den Thieren suchen! Ach! Auch Sie haben ja viel gelitten.. Liebe!

Frau Gräfin! war Alles, was Anna von Harder fast ablehnend und die Augen niederschlagend auf diese etwas zudringliche Freundschaftsanerbietung erwiderte ...

Die Königin, sagte die Altenwyl, nimmt so vielen Antheil an Ihnen! Gibt es nichts, was Sie der hohen Frau näher führen könnte? O sie hat ein treues Herz. Kennte die Nation nur alle diese Menschen da oben!

Gnädigste Gräfin! sagte Anna. Mein Leben ist zu dürftig für den Glanz des Hofes. Was soll ich dort! Ich pflege meinen alten Zauberer von Tempelheide, lese ihm aus Büchern, wie er sie liebt, vor, sticke, wenn es mein Auge erlaubt, und treibe etwas Musik. In der Musik hab' ich Alles hinübergeleitet, was in mir noch sich regen, aussprechen, ja auch sich hingeben möchte. In der Musik lach' ich, in der Musik wein' ich. Auf den Tönen Gluck's und Händel's schweb' ich da und dorthin, wo ich am liebsten sein möchte; es sind ferne Länder, ferne Haine und Wälder und ich weiß nicht, gehören sie noch dieser Erde an oder sind es schon Jenseitsahnungen.. Mit meiner Musik bin ich leider egoistisch. Ich fördere sie nur für mich. Die Trompetta hat mich oft gedrängt, Vorstellungen in geschlossenen Kreisen zu geben. Wir würden es wagen dürfen, mit manchem älteren Werke hervorzutreten, wir kleinen Dilettanten, die wir uns zur classischen Musik [1092] verbunden haben. Wir haben einige gute Solistinnen. Die Flottwitz singt edel und rein. Ich sträube mich aber dagegen. Ich entziehe damit, ich weiß es, eine Einnahme, eine Unterstützung guten Zwecken, aber ich kann mich nicht entschließen, Andere durch unsere Versuche belästigen zu wollen. Ich weiß, ich bin egoistisch. Die Trompetta flammt für die innere Mission. Daß ich mich den Werken derselben zu wenig widme, werf' ich mir oft bitter vor. Aber ich bin eine Einsiedlerin und träge, träge, liebe Gräfin.. Zu nichts zu bringen, am wenigsten zum Hofe ...

Gräfin Altenwyl war über diese bescheidenen Äußerungen etwas verstimmt.

Anna hatte eine Huld, eine Gabe, die sie ihr verschaffen wollte, geradezu zurückgewiesen. Die Königin hatte sie kennen lernen wollen und das nahm Anna so auf!

Dennoch ließ sich die Altenwyl nichts von ihrer Verstimmung merken, sie lächelte nur und sagte, indem sie sich erhob, um zu gehen, Anna fast in's Ohr:

Sie sind ein Engel!

Nun noch eine halbe Umarmung mit der Fürstin, ein freundliches Nicken zu den Kindern, ein flüchtiges Ignoriren der Herren ... und die einflußreiche, kluge, aber vom Geschmack ihrer Umgebung ganz beherrschte Frau war dann endlich verschwunden. Siegbert hatte sich nur noch der flüchtigsten Notiznahme, Rudhard fast gar keiner mehr zu erfreuen gehabt.

Man athmete auf.

[1093] Anna, erlöst von einem Druck, umarmte jetzt erst noch einmal die Tochter ihrer Freundin..

Was wird die Brust leicht, sagte sie, wenn man nach einer zufälligen Annäherung an diese Hofatmosphäre wieder frei athmen kann! Und doch meint es die Frau so gut! Sie, liebe Fürstin, Sie müssen am Hofe als milder Stern aufgehen! Sie sind jung und schön! Ihnen wird diese Welt allerdings keinen Trost gewähren, aber doch Zerstreuung. Wenn Sie sich vorstellen lassen, schreiben Sie mir's ja! Ich komme dann, erst Ihre Toilette zu bewundern. Darf ich mich darauf verlassen?

Die Fürstin sah lächelnd zu Rudhard hinüber, als wollte sie von ihm eine Ermuthigung zu irgend einer Antwort abwarten.

Sie sind ein treuer, dankbarer Zögling, äußerte Anna sogleich diese Unentschlossenheit bemerkend. Sie hören noch jetzt auf Ihren Lehrer. Und Das dürfen Sie! Vertrauen Sie dem erprobten Rudhard recht, wenn er auch Unrecht hatte, mir das Gethsemane der Trompetta gleich so rundweg mit dem garstigen Worte zu verurtheilen ...

Rudhard kehrte sich nicht viel an diese gemüthliche Rüge, sondern meinte in seiner Art:

In dieser Stadt, meine Liebe, muß man auf seiner Hut sein. Wir sind schlichte Naturkinder, kommen aus den Steppen und Haiden des Ostens und wollen uns recht gründlich hier Alles ansehen und erst prüfen, was sich uns zum Kaufe anbietet. Das Glänzende wird uns reizen, aber nicht bestechen. Die Wahrheit, die wir für's Leben [1094] eintauschen wollen, muß probehaltig sein ... Und wenn mein Freund da, Herr Wildungen, eine noch so schöne Zeichnung in das Gethsemane liefert, ich wittere in dem Album doch Das, was man Muckerei nennt.

Er blieb dabei, wie Justus der Heidekrüger bei seinem Refrain über den Reubund.

Die Kinder lachten über das komische Wort und die Frauen errötheten über den doch allzuderben, allzunüchternen Verstandesmenschen, der sich mit Anna, die ihm doch entgegenkam, nicht einmal über ein Wort versöhnen konnte ...

Siegbert fühlte, daß es nun Zeit wurde, zu gehen. Er fürchtete ohnehin schon zu lange verweilt und Erörterungen beigewohnt zu haben, die für einen ersten Besuch bereits zu vertraut waren ... Die Sonne sank an dem Rand des Horizontes herab ... Er hatte es acht Uhr schlagen hören und gedachte seiner Verpflichtung, sich in der Brandgasse an der bezeichneten Stelle einzufinden.

Die Fürstin forderte ihn mit größerer Wärme, als sie bisher gezeigt hatte, auf, sie bald wieder zu besuchen ...

Anna von Harder aber wünschte ihm die Gunst aller Musen und die frohesten Stimmungen.

Sie sprach dies Wort unendlich wohlwollend und gütig.

Es lag Siegberten in dem Abschied von dieser Frau etwas, was ihm zu sagen schien: Wir sehen uns gewiß wieder und werden unsern gegenseitigen Werth noch besser kennen lernen!

Anna blieb. Siegbert trennte sich fast schwer von ihr.

[1095] Die Kinder und Rudhard gaben ihm bis draußen das Geleite ...

An dem Spalier der Seitenfront des Hauses, an dem man vorüber mußte, um in den Vorgarten zu kommen, stand der alte Bediente von Tempelheide mit einem Shawl auf dem Arm und wartete seiner Herrin.. Vor dem Thorweg stand die alte Kutsche, die Hackert so verspottet und eine Karrete genannt hatte ...

Nun, sagte Siegbert zu dem Alten in gelb und blauer Livrée – es war derselbe, der ihm den Wein gereicht – nun, es fehlte doch vor acht Tagen nichts an dem Silberzeug auf dem Tische in Tempelheide?

Der Alte horchte hoch auf und verstand nicht gleich.

Als Sie mir den Wein gebracht hatten! Wissen Sie noch? sagte Siegbert mit Nachdruck, um das Gedächtniß des Alten zu stärken.

Ah! jetzt verstand der und sagte:

Nein, nein, Alles ist richtig gewesen! Bitte! bitte!

Siegbert ging nach dieser ihm und Hackerten gewordenen Genugthuung wohlgemuth vorüber ...

Wie er eben an der Ecke der Seitenfront war, fiel von oben aus einem Fenster eine Hand voll frischester Blumen über ihn her..

Sie kamen von Jemand, den man nicht sah.

Die Kinder riefen: Olga! ohne daß diese sichtbar wurde..

Siegbert raffte sich eine weiße Rose von den Blumen auf und sah empor, um zu danken ...

[1096] Es war aber Niemand da, den er dankend noch grüßen konnte ....

An der Pforte versicherte er Rudhard, daß er sich ihm außerordentlich verpflichtet fühle für die Einführung in diesen interessanten Kreis, morgen schon hoffe er mit seinem Bruder verständigt zu sein, um ihm, wenn es ginge, das Geheimniß des Bildes einzuhändigen.

Welches Bildes? fragten die Kinder.

Das Ihr bei Herrn Wildungen zeichnen lernen sollt! sagte Rudhard und während die Kinder darüber ihre Freude aussprachen, setzte dieser hinzu:

Ich hoffe, daß wir uns auch über diesen Unterricht verständigen werden.

Siegbert mochte nicht widersprechen.

Seine Rose betrachtend, antwortete er lächelnd, um nur der Erörterung auszuweichen:

Freundlicher kann man, um wiederzukommen, doch wol nicht gemahnt werden?

Mit diesen Worten zog er die Pforte zu und trat mit beschleunigten Schritten seinen Rückweg in die Stadt an ...

Vor einem, ungeachtet es erst dämmerte, doch glänzend erleuchteten Hause – dem der Schwester Anna's – hätte er unter vielen glänzenden Wagen, die vor dem gußeisernen Gitter auf der Chaussee warteten, auch einen, der dem Justizrath Schlurck gehörte, leicht heraus erkennen müssen; doch war er zu bewegt, um jetzt auf Dinge zu achten, die um ihn her vorgingen..

[1097] Gerade durch die sich mühsam ausweichenden zur großen Soirée beim Intendanten heranrollenden, eleganten Wagen mußte er hindurch ...

Hätte er aufgeblickt, würd' er bekannte Menschen genug wahrgenommen haben, die alle zu Paulinen's Festabend fuhren ... Auch Melanie!

Er sah aber nicht auf. Er sah auf die weiße Rose, die eben erst frisch gebrochen schien, denn noch war sie feucht von der Abendluft oder durch die erquickende Hand des Gärtners, der die Beete Abends netzte ... Er gedachte der andern Blumen, die er auf dem kleinen Rasen am Hause hatte liegen lassen, er hätte fast umkehren und sie sich noch holen mögen.

Was Blumen! sagte er aber zu sich selbst und raffte sich gewaltsam aus seinen Träumen auf.

Es war die höchste Zeit, zur rechten Stunde in die entlegene, verrufene Brandgasse und dort das Haus Nr. 9 zu kommen, wo ihn das Wiedersehen des Bruders und die erneute Bekanntschaft Fritz Hackert's erwartete.


Ende des dritten Buches. [1098]

Viertes Buch

1. Capitel. Zwei unverstandene Seelen
Erstes Capitel
Zwei unverstandene Seelen

Nicht hundert Schritte von der bescheidenen ländlichen Wohnung der Fürstin Adele Wäsämskoi entfernt lag die uns schon bekannte reizende Villa der Geheimräthin Pauline von Harder zu Harderstein.

Gegen die stille, gemüthliche Abendunterhaltung, der Siegbert Wildungen wie durch die seltsamste Überraschung des Zufalls in jenem von Rudhard etwas despotisch beherrschten Kreise beigewohnt hatte, bildete den auffallendsten Gegensatz die Vorbereitung der glänzenden Soirée, die Pauline von Harder in aller Eile noch für den Abend »improvisirt« hatte ...

Die Geheimräthin verfügte über einen gewissen Kreis, den sie zu jeder Stunde des Tages, wie es in ihrer raschen Sprache hieß, »zusammentrommeln« konnte.

Ein Besuch wie der der d'Azimont, eine Bekanntschaft wie die der gefeierten allgemein bewunderten Schönheit Melanie Schlurck, mußte ihre nothwendige »Staffage« haben und soviel sie auch veranlaßt war, beide Frauen nur allein zu genießen, die kleinen »Etablissements« fehlten in ihren Sälen nicht, um mitten im rauschenden [1101] Gewühle sich ungestört allein zu fühlen und sich »auszusprechen«.

Der Eifer, mit dem die Geheimräthin, unterstützt von der Gesellschaftliebenden und für ihr Alter sehr zerstreuungssüchtigen alten Charlotte Ludmer, diesen Abend in aller Eile »arrangirt« hatte, wurde noch angespornt durch ein Billet des Justizrathes ...

Franz Schlurck schrieb nicht nur, daß seine Tochter sich hochgeehrt fühlen müsse, in die Nähe einer so vornehmen Dame dringen zu dürfen, sondern fügte noch hinzu, daß er im Stande sein würde ihr recht angenehme Dinge mitzutheilen und sie sich darauf verlassen könnte, schon am morgenden Tage im Besitz des verlorenen Bildes zu sein, dessen Spuren er entdeckt und auch gefunden hätte, daß es mit diesem Bilde eine geheimnißvolle Bewandtniß haben müsse. Er fühle, daß es Zeit zum »Handeln« würde ...

Dieses Billet kam freilich gerade mitten in eine sehr verdrießliche häusliche Scene hereingebrochen, die sie und die Ludmer mit der Excellenz aufführten ...

Die »junge Excellenz« hatte sich in der That erst gegen Mittagszeit eingefunden und verrieth so sehr alle Kennzeichen eines bösen Gewissens, daß die beiden Frauen (denn auch die Ludmer nahm sich von selbst die Freiheiten heraus, die Pauline durch ihre Stellung behaupten durfte) in einen grimmen Zornge riethen und ihm »kindische Streiche« vorwarfen, über die er beichten sollte.

[1102] Der Geheimrath machte eine sehr verblüffte Miene. Er legte sich aufs Leugnen und blieb bei den Versicherungen seines Diensteifers und der in dem Möbelwagen deshalb absichtlich zugebrachten Nacht mit aller Hartnäckigkeit eines Schulknaben, der den alten Satz der Jesuiten: Si fecisti, nega! mit einer solchen Sicherheit durchführt, daß die Lehrer selber an ihm irre werden und von seiner Unschuld aufs vollkommenste überzeugt sein müssen.

Excellenz gestanden den Verlust des Bildes ein, bekannten sich aber für völlig »unschuldig« und drohten mit einer Untersuchung, die sie schon auf's Nachdrücklichste gegen den Hohenberg'schen Justizdirector von Zeisel hätten einleiten lassen. Kurt Henning Detlev Harder zu Harderstein vertröstete die Frauen damit, daß sie ohne Zweifel bald sehr klar sehen würden ... Wie gesagt, da die Geheimräthin den Brief von Schlurck empfing, so ließ sie die »Bétisen« ihres Gatten so »hingehen« und schenkte ihm nach dem scharfen Verhör, in dessen Klemme er mit Zittern gesteckt hatte, mit dem Bedeuten, er sollte die nähere Unterhandlung mit Herrn von Zeisel ihr nur allein überlassen – Pauline war diese Weisung, die ihrem Gemahl genug auffiel, der Fürbitte schuldig, die Schlurck für seinen Freund von Zeisel am Morgen erhoben hatte – endlich die Freiheit.

Bei Tische wurde wenig gesprochen. Pauline hatte der Gedanken zu viele zu verarbeiten und Alles, was Herr von Harder etwa Neues brachte, z.B. das allgemeine Aufsehen, das die Erkrankung des Prinzen Egon machte, die [1103] Ankunft der d'Azimont, die Aussicht auf ihre Beziehungen zur Fürstin Wäsämskoi, die Schwankungen des Ministeriums, die Wahlen, der Reubund, die drohenden Zerwürfnisse zwischen der Stadt und der Regierung und das schlimme Beispiel, das daraus für die Provinzen entstehen würde, alle diese Anspielungen, in denen sich Excellenz, die sonst nur von ihren Schlössern und Gartenanlagen, den Dienstvergehen der Castellane und Inspectoren, den Angebereien der Subalternen und ihren Ersparnissen in der Verwaltung ihres »Ressorts« sprachen, heute wahrhaft erschöpften, um seine Gemahlin heiter zu stimmen und zu versöhnen, diente nur dazu, in ihr Gemüth Stacheln und Dornen zu drücken. Sie sah da ja, daß so Vieles sich ereignete, was ohne sie Bestand hatte, ohne sie sich angelegt hatte und historisch entwickelte!

Ernst und Franz hätten ihr nach Tisch beinahe auch einen unerwarteten Ärger bereitet. Denn eben wollte sie sich vor ihrer Toilette noch im grünen Boudoir ein wenig durch leichten Schlummer stärken, als diese beide an sie herantraten und um die Erlaubniß baten, heute Nacht den großen Fortunaball mitmachen zu dürfen. Sie schmähte sehr gegen diese Vergnügungssucht ihrer Leute, tadelte den Ort, wo man Bediente ihrer Stellung nicht antreffen sollte und konnte sich erst für halb und halb einverstanden erklären, als Franz mit schlauer Miene sagte:

Excellenz, es wird ein großer Ball. Tausend Billets sind verkauft. Man macht Bekanntschaften. Die Wandstabler's kommen auch ...

[1104] Schon oft hatten die Leute der Geheimräthin von diesen drei Geschwistern Wandstablers erzählt, die sich auf den Volksbällen für die Zurückhaltung schadlos hielten, die sie bei aller Freiheit doch im Hotel des Fürsten von Hohenberg beobachten mußten.

Auf diese Erinnerung hin, sagte Pauline von Harder, wolle sie den Abend noch einmal auf die Sache zurückkommen ...

Damit legte sie sich ein wenig zur Ruhe, ohne indessen wahre Stärkung in einem kurzen Schlafe zu finden. Sie träumte zu lebhaft. Nadasdi, der Held ihres unglücklichen Romans, erschien ihr in dem verhängnißvollen Schlafrock, in dem dieser weichherzige Magyar soviel Thränen vergossen haben sollte! Jedesmal, wenn ein großes Ereigniß sie beschäftigte, erschien ihr Nadasdi in seinem Schlafrock ... Sie nahm ein kleines homöopathisches Streukügelchen zur Beruhigung und war froh, daß sie auch für den Abend Herrn Sanitätsrath Drommeldey geladen hatte ... Sie bedurfte, wenn Schlurck nicht etwas sehr Entscheidendes brachte, wirklich der ärztlichen Berathung.

Gegen sechs Uhr begann dann die Toilette und heute gewählter, als seit lange ... Während die Ludmer die oberen Salons hatte öffnen, mit frischen Blumen garniren lassen, die Kerzen auf den Kronleuchtern untersuchen, vervollständigen, die Wandlampen schon am hellen Tage zur Probe anbrennen ließ, nebenbei den Thee, das Eis und die Confitüren nach der Ordnung des Servirens angab, die ihr für heute die zweckmäßigere schien, schmückte sich [1105] die Geheimräthin mit den frischesten Farben. Sie wählte heute einen leichten Seidenstoff, weiß und roth gestreift. Ihrem stolzen Semiramishaupte gab sie etwas von ihrer eigenen und Heinrichson's Erfindung, eine Art biblischen Turbans, wie man sich etwa Rebecka denken mochte bei Eliezer's Gruße am Brunnen. Dies weiße Kashemirgewinde, stolz und frei getragen, stand ihr gar stattlich. Das eine Ende des Bundes, mit goldenen Fransen, hing schwer über die rechte Schulter herab, die natürlich, wie die ganze Büste, sehr stark weiß geschminkt wurde, um durch eine große umständliche »Florgeschichte«, die wiederum ganz patriarchalisch, jedoch mehr im Stile der Hagar, als sie mit Ismael in die Wüste zog, um Nacken und Hals geschlungen wurde, blendend hindurchzuschimmern. Die magern Arme hatten sich derselben Prozedur des Puderns zu unterwerfen. Sie waren, ein seltenes Wagniß, heute ganz frei und wurden mit den schwersten Armbändern behängt. Wenn sie mit einer leichten, wellenförmig gerundeten Bewegung des rechten Oberarmes ganz wie in Gedanken einmal an das hängende Ende ihres Turbans fuhr und die goldenen Troddeln, schwerer wiegend, hin- und herschwankten, so gab das einen ganz hübschen Effect, den der elegante Maler Heinrichson oft bewundert und erklärt hatte, ihn sich für ein Bild zu merken, das er noch einst von dem Antonius und der Cleopatra malen wollte.

In dieser Tracht, die ihr wirklich viele »Frais« verursachte, nämlich die Mühe der Überlegung und die moralische [1106] Mühe einer ihr gar nicht mehr »geläufigen« Eitelkeit, stieg denn gegen sieben Uhr Frau von Harder in ihre oberen Zimmer ...

Sie durchmusterte sie und fand sie noch nicht gelüftet genug. Es war ihr heiß in dem sommerlichen Abend geworden. Der Maraboutfächer mußte die Glut ihrer Stirn kühlen, die leider zu roth, zu roth, ach zu roth war ... Sie haßte eigentlich diese oberen Appartements, der Überzahl ihrer Spiegel wegen. Welche Verschwendung, sagte sie oft, an dieser verleumderischen indiscreten Composition! Und noch an jedem Spiegel waren zwei Wandleuchter und jeder Wandleuchter mit mindestens drei Kerzen angebohrt! Aber sie mußte diese Zimmer und nicht den Gartensalon wählen; denn hier nur gab es Nischen zu traulichem Zwiegespräch, zeltartig drapirte Alkoven mit Tapetenthüren zu kleinen Cabineten mit Divans, die unter Blumen versteckt waren. In einem dieser Zelte, das später von einer herabhängenden Ampel matt erleuchtet werden konnte, prüfte sie, wie wol ihr Anzug gegen den Hintergrund abstechen würde ... Pauline war geschmackvoll von Natur und nur durch ihre üppige Phantasie manchmal etwas zu überladen. Aber darin zeigte sie sich als Virtuosin, daß sie niemals in großer Gesellschaft erschien, ohne nicht ihre Toilette nach dem Farbenton der Zimmer einzurichten, in welchen sie erscheinen sollte. Sie besann sich regelmäßig, wenn sie eingeladen war, in welchem Zimmer die Gesellschaft sie begrüßen würde und wählte darnach die Farbe [1107] ihrer Kleider. Es war ihr schon geschehen, daß sie bei der Trompetta, die einmal nach Vollendung eines Albums, das sie für arme Überschwemmte herausgegeben hatte, alle Dichter einlud, deren Beiträge das Album füllten, ein neues wunderschönes grünes Kleid nur unter der Bedingung anzog, daß sie der Trompetta erst ein Sopha mit ceriserothem Sammet überzogen schicken durfte. Die Trompetta hatte nämlich nur dunkle Möbel und sträubte sich sehr, besonders vor einigen frommen Lyrikern, sich auch auf ceriserothen Sammetmöbeln betreffen zu lassen. Die Geheimräthin kam aber nur unter dieser Bedingung, daß sie ihr grünes Kleid auf rothem Sammet zeigen durfte. Si non e vero ... man erzählte es wenigstens.

Eben noch prüfte Pauline den Effect ihres hellen biblischen Costüms gegen das dunkelblau mit Gold drapirte Zeltgemach und erfreute sich des wirkungsvollsten Abhubes ihrer Figur von der dunklen Umgebung, als ein Wagen vorfuhr und durch das offenstehende Portal gleich in das Haus einlenkte. Daß eine Dame leicht und behend vom schnell herabgelassenen Tritte herunter und auf die Strohdecken sprang, die unter dem Unterbau des Hauses vor der Eingangspforte ausgelegt waren, sah Pauline nicht; sie sah nur das Einlenken des Wagens in die geöffnete Gartenthür, ahnte aber wer es war, ließ sich nicht erst anmelden, wer kam, sondern ging der Kommenden entgegen. Sie war vollkommen darauf vorbereitet, daß sich ihr die Gräfin d'Azimont mit einem Strom von Thränen an die Brust warf ...

[1108] Welch ein Gegensatz zwischen zwei Geschwisterpaaren! Drüben die ruhige, fast phlegmatische Adele Wäsämskoi im Kreise ihrer Kinder, geregelt und bevormundet von einem einfachen, strengen, mathematisch geordneten, praktisch bürgerlichen deutschen Verstandesmenschen; hier diese wilde leidenschaftliche Halbpariserin, die schon auf der Treppe so laut schluchzte, daß die Ludmer die erstaunten Bedienten entfernen mußte! ... Drüben die weiche, sanftmüthige Anna von Harder, die ihren Lebensberuf in der Pflege eines wunderlichen Greises, in milden Werken der Liebe und der prunklosen Ausübung der Musik fand und noch in diesem Augenblicke die bescheidene Sorgfalt ihres Herzens gegen ihr fast ganz fremde Menschen walten ließ; hier ihre Schwester, im blendendsten Schmuck, ebenso leidenschaftlich, nur äußerlich kälter, wie ihr Besuch, den sie nicht am kleinen Theetisch, am dampfenden Comfort, unter einem Akazienbaum, an einer Wand beschattet von wildem Weine empfing, sondern in das blau- und golddrapirte Zelt führte, auf einen Divan, hinter Camelien und rankenden Gewächsen, die sich um die schweren bronzenen Stäbe des Zeltes und die herabhängenden goldenen Quasten ringelten.

Helene d'Azimont war klein und zart. Woher sie schöner war, als ihre ältere Schwester, konnte man kaum begreifen, wenn man fast denselben Schnitt des Gesichtes entdeckte. Es war dieselbe Bildung der Formen und doch von unendlich verschiedener Wirkung. Das Ensemble an [1109] der Gräfin war reizend, die Linien unendlich harmonischer, ihre Verbindung belebt und voll Anmuth. Sie ließ sich, obgleich der Fürstin ganz ähnlich, doch mit dieser kaum vergleichen. Jede Bewegung der Helene d'Azimont war Leben. Die langen Augenwimpern zitterten, der schöne kirschrothe Mund bebte, die wie Emaille glänzenden Zähne zeigten sich unwillkürlich, wenn die Lippen wie vom Schmerze offen standen. Die Form des Halses, des Nackens, die Wölbung der Hüften, Alles war zwar klein, zwar zierlich, aber doch schlank und von regelmäßiger Harmonie und voll und fleischig, trotz des Kummers, der doch an ihr nagte. Das Auge blau und im Nu so groß geöffnet, daß es unter den schwarzen Wimpern wie eine leuchtende Krystallkugel aufzugehen schien. Die ganze Schwärmerei einer italienischen Sternennacht lag in diesem Auge, wenn es sich öffnend starr den Blick festhielt und den Gegenstand, auf den es fiel, fast in sich aufsaugend verzehrte. Das schwarze Haar lag im einfachen Scheitel dicht und glänzend über der kleinen Stirn. Wäre diese Stirn ein wenig größer gewesen, man hätte das Bild einer religiösen Denkerin, einer entzückten Schwärmerin gehabt. Da sie aber klein, von dem Scheitel beschattet war, so versinnlichte sie nur das Gemüth, die Leidenschaft, die gleichsam völlige Abwesenheit alles Nachdenkens. Die Liebe schien der Glaube dieser Frau zu sein; die Zärtlichkeit das einzige Bekenntniß ihres Herzens.

Wir wissen, daß Helene d'Azimont dreißig Jahre zählt. Eine gewisse schwellende Rundung ihrer Formen war die [1110] einzige Bestätigung dieses Alters. Sonst glaubte man ein Kind vor sich zu haben, eine zum ersten Male ins Leben tretende Jungfrau, voll Vertrauen, Dreistigkeit, angeborener Sicherheit. Wie dies Auge rollte! Wie diese Brust wallte! Pauline konnte sie ohne Hemmniß an die Flordraperie ihres Halses drücken, denn Helene war so einfach gekleidet! Sie war schwarz vom Kopf bis zur Sohle. Man sah, daß es nicht ihre Absicht war, heute bis zur Gesellschaft zu bleiben. Und doch blendete die Weiße ihrer Haut unter den schwarzen Flören wie der schönste Schmuck! Sie trug an dem runden, vollen Arme lange schwarze Florethandschuhe. Um den Hals funkelte wol ein Collier von Brillanten, aber dies schwarze Florchiffü über dem Flechtenneste und halb dem Scheitel der Haare, dieser Kopfputz mit den einfach in den Nacken herabhängenden Spitzenzipfeln war so wenig auf gesellschaftlichen Reiz berechnet, daß man an die Ächtheit der Thränen glauben mußte, unter denen sie ausrief:

Da haben Sie mich denn, Pauline! So komm' ich von Paris, so sehen Sie in mir die Verzweifelnde, die Sterbende um einen Sterbenden!

Helene, ist die Gefahr so groß? fragte Pauline halb wie zitternd.

Egon stirbt! Egon wird dieser Erde nicht mehr angehören!

Ich bitte Sie, Freundin! Ein junger, kräftiger Mann! Wir haben keine Epidemieen. Ärzte umstehen sein Lager. Sie selbst –

[1111] Ich, Pauline? Ich? ... Ihr wißt es ja Alle! Wo ich hinblicke, hat ja die Welt kein Mitleid für mich, nur lachende boshafte Augen! Die Menschen, die Bäume, die Vögel in der Luft lachen! Verstoßene, verlorene Helene, ruft mir ja jedes Atom, jedes Stäubchen zu, über das ich ohnmächtig hinschwebe! Zwei Jahre des seligsten Glückes sind ja vernichtet, geschändet – o was sag' ich geschändet! Egon! Was du thust ist wohlgethan. Tritt mich mit deinen Füßen, verstoße mich, morde mein Herz! Nur stirb mir nicht! Lebe! Lebe! Lebe!

Helene lag schluchzend auf dem Sopha ...

Pauline mußte sich, selbst wenn sie der kältesten Fassung fähig war, von einem solchen Ausbruch wildester Verzweiflung erschüttert fühlen. Sie hatte seit einiger Zeit in einer Welt gelebt, die sich um sie her immer mehr erstarrte; sie hatte früher in dieser Weise selbst geliebt, selbst empfunden. Aber jetzt nach so vielen Verknöcherungen und Versteinerungen ihrer nächsten Lebensbedingungen war ihr diese Scene fast wie Traum aus ihrer frühesten Jugendzeit. Die fünfundzwanzig Jahre, die sie mindestens vor der jungen verzweifelnden Frau voraus hatte, fühlte sie einen Augenblick nicht; sie konnte das Zittern ihrer Hand nicht unterdrücken, konnte nicht von ihren Lippen wegwischen, daß sie einen Augenblick bebten. Sie dachte an Heinrich Rodewald und ihre Jugend ...

Helene, sagte sie nach einer Pause allmäliger Sammlung, Helene, Sie sehen mich voll gerührtester Theilnahme, [1112] aber auch voll Überraschung. Ich weiß so wenig von Dem, was Sie betrifft. Ich hoffte dieser Tage durch einen Besuch bei Ihrer Schwester –

Schweigen Sie von dieser Schwester! rief Helene, und in die zarte Erscheinung fuhr plötzlich eine so elastische Beweglichkeit, eine so aufschnellende zornige Erregung, daß man die in Liebe zerflossene Weiblichkeit kaum wiedererkannte. Der Mund und das Kinn traten entschlossen hervor und die Augen blitzten von einem wilden, trotzigen Feuer.

Schweigen Sie, rief sie, von dieser Heuchlerin, dieser lieblosen Moralistin! Für die glühendsten Schilderungen meines Glückes, die ich ihr nach Odessa schrieb, hat sie mir im Tone einer Predigt geantwortet. Wenn sie mich tadelte, daß ich für Belcotti schwärmte, mit Addington tändelte, die Leiden des polnischen Volkes mit dem jungen lithauischen Flüchtling Bardansky verwechselte, o, alle diese Vorwürfe waren gerecht und ich nahm sie mit schwesterlicher Liebe hin. Aber endlich schrieb ich ihr, ich trenne mich von d'Azimont, ich liebe, ich liebe zum ersten male, ich liebe, wie ein Weib lieben soll, ein Weib, das fühlt, ein Weib, das da ahnt, in ihr ruhe das Geheimniß der Schöpfung. Als ich ihr schrieb: Der, den ich liebe, ist ein Gott und seinen Namen nennen die Irdischen Egon Prinz von Hohenberg, und als sie mir auch darauf Moral, ewig Moral und immer Moral predigte, sehen Sie Pauline, ich habe geschworen, wer mir das Kleinod meines Lebens beschmutzt, mir die Sonne verdunkeln will, die ich anbete [1113] und mögen alle Priester der Erde sagen, die Anbetung der Sonne wäre Heidenthum ... ich könnte den Dolch erheben und jeden Lästerer meiner Religion durchbohren, sei's ein Bruder, sei's eine Schwester und diese Schwester existirt nicht mehr für mich.

Pauline gedachte der Zeiten, wo sie auch mit Dolchen spielte! Wäre sie eine Philosophin geworden, so hätte sie gelächelt; aber sie lächelte nicht. So wild war zwar nicht ihr Haß gegen Anna, wie Helenens Haß gegen die Fürstin Wäsämskoi, aber sie erwärmte sich daran, doch wieder einmal auf dem Bereiche der Herzensgeltendmachungen etwas Kraftvolles, etwas Titanisches zu erleben. Sie jubelte, jene halb wahnwitzige Sittenlogik anerkannt zu sehen, in der sie früher selbst gedacht, dann geschrieben hatte und in deren ohnmächtigen letzten Trümmern sie sich absterbend verzehrte. O sie stand auf! Sie hielt diese Sprache der Liebe nicht aus, ohne dafür mehr zu haben als bloße einfache Zustimmung! Sie wurde jung, indem sie auf-und abschritt und Helene, selig über Paulinens Erschütterung, umschlang sie und zog sie zu sich unter die Camelien und fuhr, ihre Hand festhaltend, fort:

Nichts von Adelen, Pauline! Sie wohnt hier in der Nähe, ich weiß es. Ich kenne sie nicht. Ich schrieb es soeben schon an d'Azimont nach Paris. Er wird meine Meinung billigen; er ist sehr gut und was an ihm das Beste ist, er liebt, wie ich, den Charakter!

Wie geht es denn Desiré? fragte Pauline.

[1114] Recht übel! bemerkte Helene.

Desiré d'Azimont war ihr kränkelnder Gatte.

Wie lange ist es her, daß wir zum letzten male hier waren? fuhr Helene fort.

Vor drei Jahren; sagte Pauline. Haben sich seine Übel verschlimmert?

Desiré ist recht krank. Man fürchtet für ihn. Seine Corpulenz wird beunruhigend. Die Mutter gibt ihn auf und Sie wissen, böse Augen sehen weiter, als die Augen guter Menschen.

Keine Veränderung in den alten Verhältnissen?

Nur noch gesteigerter! Die Mama ist förmlich eine Megäre und foltert mich. Desiré's himmlische Güte schützt mich allein. Sie will die Scheidung vor Desiré's Tode und Desiré, der Egon wahrhaft liebt –

In der That?

O Desiré bleibt sich gleich. Desiré ist ein Philosoph. Er gefällt sich darin, wie Seneca zu sterben. Ich weiß nicht, ob ich ihn für größer halten soll als ...

Warum stocken Sie?

Darf ich denn unbefangen über Desiré sprechen?

Helene!

Sie liebten ihn, Pauline, und waren glücklich, als er mich wählte. Sie drückten mich vor elf Jahren an Ihr Herz und nannten mich Schwester!

Ich dächte, mein Kind nannt' ich Sie, Helene!

O Sie sind gut, Pauline! Sie blieben mir die treueste Freundin trotzdem, daß es Ihnen wehe that, das Band, das [1115] Sie an den guten Desiré fesselte, getrennt zu sehen. Aber wie bewundert man Sie auch Beide in Paris ...

O Helene!

Ja, alle Cirkel sind noch jetzt von Ihnen voll. Balzac hat mir versprochen, über uns alle einen Roman zu schreiben. Ich verbot es ihm, weil ich nach dem Nadasdi nichts mehr von Ihnen angezeigt fand.

Deshalb? Warum Nadasdi –

Ich vermuthete, daß Sie selbst dieses Sujet behandeln würden. Sie haben so lange geschwiegen? Warum erscheint nichts von Ihnen?

O! ... antwortete Pauline ablehnend.

Wie lieb' ich Alles, was Sie schreiben, fuhr die gute, kritiklose Helene fort, die gar nicht ahnte, welche wunde Stellen sie berührte und wie sie eigentlich hinter dem Gegenwärtigen zurück war. In Amarantha erkannt' ich Ihr Herz, in Nadasdi Ihre vorgeschrittene Kunst. Wäre ich nicht durch Egon um meine Besinnung gekommen, ich hätte ein Capitel von Nadasdi unter dem Titel: Moeurs hongrois ... übersetzt. Welche Phantasie haben Sie! Hier dieses Zelt, Ihr Costüme, Pauline! Sie sollten in Paris leben. Man würde Sie aufsuchen wie eine Priesterin des Geschmackes, eine Velleda, eine Druidin der Inspiration. Wir haben es jetzt sehr mit den Velleden und Druidinnen! Ach, was bleibt uns auch nach dem Schmerze noch übrig als die Weissagung! Auf unsern Trümmern wird man uns entweder zerschmettert finden, oder wenn wir uns erheben können, so ist es nur in der Mission der Prophetie!

[1116] O meine liebe Pauline, was erlebt' ich seitdem! Sähen Sie in Alles hinein bis auf den Grund, wie würden Sie, wenn Sie's beschreiben wollten, die Menschen rühren, während denen freilich, deren Herz Sie sicher vertheidigen würden, es bräche!

Pauline war über alle diese Bemerkungen überglücklich. Es waren ihr Das nicht die Phraseologieen der neuromantischen Schule, sondern wirkliche Ergüsse reinster Aufrichtigkeit und Hingebung, ohne die Idee einer Ironie! Das Lob, das sie so oft für ihre Feder empfangen hatte, war meist satirisch gemeint gewesen. Sie war weltklug und in einem gewissen Punkte nicht eitel genug, um auf diesem Bereiche Wahres und Falsches nicht sogleich zu unterscheiden. Aber diese Huldigungen der d'Azimont, das wußte sie, die waren ganz naiv und aufrichtig gemeint. Auch die förmlich auf den Kopf gestellte Moral der beiden Frauen war zwischen ihnen chose convenue.

Als ich von Odessa kam, sagte Helene, ich unerfahrenes dummes Ding, was wußt' ich von der Welt! Desiré gestand mir, daß Ihr Beide Euch geliebt hattet und ich fand Das edel und gut von Ihnen, denn Desiré verdient, daß man ihm wohl will. Sie drückten mich vor elf Jahren an Ihr Herz und die Thränen, die Sie weinten, als Sie die kleine Comtesse d'Azimont zum ersten male sahen, werd' ich Ihnen ewig gedenken. Wie oft fand ich diese Thränen in dem Nadasdi und der Amarantha wieder! Sie entsagten und förderten mein Glück. Ihre Liebe, Ihre Freundschaft [1117] hat mich erst die Welt kennen gelehrt; denn o Himmel, was war ich? Was wußt' ich? Sylvester Rafflard in Osteggen war ebenso ein Ignorant, wie er jetzt ein Bösewicht ist und aus Rache, daß wir ihn, einem deutschen Pedanten zu Liebe, verabschiedeten, mich noch jetzt verfolgt. Er ist der treueste Rathgeber meiner Schwiegermutter geworden, dieser bösen Frau, die trotz ihres Strebens, kanonisirt zu werden, mein Unglück will.

Rafflard? sagte Pauline. Ich fand den Namen kürzlich in den Blättern angezeigt. Ein Name dieses Klanges, scheint mir, ist ... hier angekommen?

Der Himmel gebe, daß Sie sich irren! rief Helene entsetzt. Ich haß' ihn trotz seiner Freundlichkeit und alle Welt sagt, es ist ein Jesuit.

Ich entsinne mich, Rafflard! Professor Rafflard reist, um die Gefängnisse zu studiren –

Das ist er! Rafflard ist hier?

In den Zeitungen las ich, daß er einer Gesellschaft angehört, die es sich zur Aufgabe macht, das Loos der Gefangenen zu mildern ...

Lug und Trug! Es ist ein Jesuit, wie nur irgend einer in der Rue Jean Jaques Rousseau gebacken wird! Er verließ die reformirte Religion nach den schlimmsten Streichen, die er sich in Genf erlaubte und muß durch den boshaftesten Zufall von der Welt der Rathgeber meiner Schwiegermutter werden! Nach Egon's Abreise flog ich dem Geliebten nach und glauben Sie mir, nicht die Gefangenen sind es, die ihn herführen. Ich bin es! Ich, die [1118] er wie eine Schlange umringelt hält, um mich von Egon loszureißen ...

Die Gräfin theilt nicht die Toleranz ihres Sohnes?

Sie betreibt eine Scheidung. Sie will das Vermögen, das nach Desiré's liebevoller Anordnung mir allein anheimfällt, sich, der Kirche, dem Beichtstuhl, den Jesuiten erhalten. Rafflard hier! Auch Das noch? O ich bin sehr, sehr unglücklich, Pauline.

Damit flossen Helenens Thränen, wie die eines Kindes, dem alle seine liebsten Hoffnungen von der unerbittlichen Strenge eines Lehrers oder einer weisen Mutter zerstört werden.

Pauline suchte Helenen zu trösten und versprach ihr Rath und Beistand. Nur sammeln Sie sich, sagte sie und vertrauen Sie mir! Wie kommen Sie denn nur zu dieser verzehrenden Flamme, zu dem Prinzen Egon?

Ach! Als wir uns vor drei Jahren wiedersahen, Pauline, begann Helene mit schwacher Stimme, da war ich im Begriff, aus Verzweiflung über dies Erdenleben irgend eine Thorheit zu begehen. War' ich katholisch, wer weiß, ob ich nicht die Mauern eines Klosters aufgesucht und in der Liebe zum Christ (Helene brauchte diese französische Wendung) in der Liebe zum Christ meine unverstandenen Schmerzen gesammelt hätte! O eine so dürstende Seele wie die meine und nichts als das schale Wasser des Alltäglichen zur Erquickung! Belcotti, Addington, Bardanski ... ich schäme mich! Abscheulich! Es waren Flämmchen auf diesem Sumpfe gewesen, den ich Leben nannte. Ich[1119] hatte den Einen gern singen, den Andern gern wetten, den Dritten gern raisonniren hören und mit allen gern zu vier Händen die Capricen Chopins und Liszt's gespielt ... Pauline! Das war Alles. Ich kann sagen, ich hatte in diesen Flammen nur die Flügel verbrannt. Sie wuchsen wieder, als ich diese Menschen verachtete. Ich wollte mich Desiré widmen. Desiré war gut, o gut! Er fühlte sich krank und sagte mir oft: Helene, werde etwas philosophischer! Wenn ich todt sein werde, kannst du ein neues Leben beginnen! Eine Witwe von dreißig Jahren im Besitz einer Million und mit einem Herzen voll Poesie und unerschöpfter Hingebung ist die Königin der Erde! Ich gelobte ihm,sage zu sein und ich war es, bis meine Stunde schlug. Wir ziehen aufs Land. Desiré hatte eine wunderschöne Villa am See von Enghien gekauft, sie ausbauen, sie verschönern lassen. Ich lebte nur dieser Villa, auf die mich die Eisenbahn von St.-Germain in zehn Minuten führte. O diese Villa ist so reizend, Pauline! Man sagt, Rousseau habe sie einst bewohnt und dort einige Capitel der neuen Heloise geschrieben. Ach, Sie wissen, wie ich die neue Heloise und Rousseau liebe. Ich war glücklich! An unserm Schlößchen plätschert der See von Enghien und die lieblichsten malerischen Partieen sind durch die Eisenbahn recht der Magnet derjenigen Pariser geworden, die idyllische Freuden lieben. Es war im Juni. Ich wohnte erst vier Wochen in meinem kleinen Paradiese, malte, zeichnete, componirte, wollte dichten, ich versuchte Alles, ich las, ich lachte, ich weinte. Desiré war glücklich, wenn ein Sterbender [1120] noch einige Zeit glücklich sein kann. Ich dachte sogar an Aussöhnung mit meiner Familie und schrieb bogenlange Briefe nach Odessa, die ich mit einem Kurier unserer Gesandtschaft über Constantinopel expedirte. Da ereignete es sich, daß eine muntere Gesellschaft, Handwerker wie es schien, auf dem See an meinem Garten eine Partie machte. Sie kamen vom jenseitigen Ufer und wollten die Runde fahren und die Besitzer der Gärten necken, die an den Ufern die Kühle des Gewässers athmeten. Da schlug das Boot der fröhlichen Gesellschaft um, während ich an einem Tische sitze und gedankenvoll auf die schäkernde, übermüthige, junge Welt hinausblicke. Ich schreie, springe auf und stürze die steinernen Stufen hinab, die am See bespült werden von den Wogen, in denen sich unsere angekettete Gondel schaukelt. Ich springe in die Gondel und wie meine Empfindung eine reine, eine natürliche war, so entfuhr mir auch das deutsche Wort: Hilfe!

Sie starke Seele! sagte Pauline bewundernd. Eine jede andere an Ihrer Stelle wäre in Ohnmacht gefallen und hätte nichts gethan.

In Ohnmacht gefallen? rief Helene mit flammender, guter, schöner Erregung. In Ohnmacht, wo Menschen ihren Tod in den Wellen finden? Ha! Retten konnt' ich nicht, aber ein junger Mann nahm mir die Verpflichtung ab, das Äußerste zu wagen. Es war ein schöner Jüngling, der zur Gesellschaft gehörte, sich in die Wogen stürzte und mit kräftigem Arme ein junges Mädchen emporhielt, [1121] das er in den Wellen ergriffen hatte. Er schwamm mit seiner glücklich Geretteten an unsern Garten. Ach! Sie können denken, Pauline, wie ich glücklich war, als man mir zurief, nur das junge Mädchen hätte das Übergewicht verloren und wäre, nach Wasserlinsen haschend, über den Rand des Nachens gestürzt, mit dem man scherzhafter Weise schaukelte. Meine Diener kommen. Wir tragen das junge Mädchen in's Haus, der junge Mann, der mein deutsches Wort: Hilfe! vernommen hatte, sprach deutsch mit mir. Wie erstaunt' ich über den gebildeten Fremdling! Er war groß und schlank, von schwärmerischem Auge und sprach so geistreich, daß ich auf der Hut sein mußte, ihm die richtigen Antworten zu geben. Das Mädchen, ein zartes, etwas verblühtes Kind, eine echte Französin, erholte sich bald. Ich gab ihr Kleider, ließ ihnen Thee vorsetzen; aber sei es, daß ihr Geliebter deutsch mit mir sprach oder was war es, sie wollte fort. Sie schien mir hektisch, krankhaft aufgeregt und beherrschte den jungen Mann mit einem einzigen Blicke. Gegen Abend fuhr der ganze Train nach Paris auf der Eisenbahn zurück. Am Tage darauf hatt' ich die Kleider wieder. Der junge Deutsche brachte sie selbst. Vergeben Sie mir, Pauline, wenn ich Ihnen gestehe, daß ich ihn schon liebte. Ich erfuhr, daß ein wunderliches Incognito ihn umspann, ich lüftete das mysteriöse Dunkel, in das er sich zu verbergen suchte, ich entdeckte, daß dies jener vielbesprochene, seiner Familie, seinem Stande abtrünnig gewordene Egon von Hohenberg ist. Ein Fürst! Solche Überraschung! Pauline, ich schildere [1122] Ihnen die Anstrengungen nicht, deren ich bedurfte, um Egon von seinen communistischen Thorheiten zu heilen. Die Begeisterung für all das Romantische, was ihn umgab, lieh mir die Kraft, ihn wieder zu uns zurückzuführen, denn weil ich seine Hingebung an die Sphäre des Volkes schön fand, weil ich ihm Beweise gab, daß ich ihn verstand, ihn begreifen konnte, widersprach er mir nicht, als ich ihn allmälig doch von seinen Kameraden, von armen Handwerkern und Grisetten trennte.

Vortrefflich! Vortrefflich! Wie psychologisch! Sie sind eine Weise geworden, unterbrach die Geheimräthin.

Helene d'Azimont fuhr fort:

Egon wurde mein! Ich durfte ihn mein nennen, denn ich hatte ihn mir erobert. Er kehrte zurück in die Welt, die für ihn bestimmt war und wie glänzte er in ihr! Pauline, welch ein Triumph, den Mann zu lieben, der Alle blendete! Wenn er in die Salons trat in seinem edlen Wuchs, mit dem fast lockigen Haar, dem sanften blauen Auge, dem lächelnden Mund, um den ein gewisser Schmerz die ganze Seele verkündete – o Pauline, ist es denn möglich, daß Das war! Daß ich ihn zwei ganzer, voller, wie eine göttliche Minute dahingerauschter Jahre mein nennen konnte. Mein, mein – und dann – dann –!

Sie regen sich auf Helene! Lassen Sie Das! Erzählen Sie nicht! Une rupture! Das sagt ja Alles! Ich kenn' es ...

O, in dieser Form nicht! Pauline, in dieser Form nicht! sagte Helene dumpf. Das war ja nichts, was Menschen ertragen können! Das war ja nichts von dem Jammer aller [1123] Derer, die schon vor uns am gebrochenen Herzen starben – Pauline und wenn ein Messer vor meiner Brust zückte und Jemand sagte: Ich laß dich leben, aber du hast Das erlebt, so würde ich antworten: Laß mich sterben; nur nicht das erlebt! Da, da saß ich auf einem Sopha, es war dasselbe, auf dem einst jenes Mädchen sich erholt hatte ... sein Arm war um meinen Nacken geschlungen, ich sog die Küsse der Liebe von seinen Lippen ... da tritt ein Handwerker ein, den ich seit einiger Zeit angenommen hatte, um meine Villa schöner zu schmücken. Desiré war in Paris. Ich wohnte in Enghien ... Egon in der Nähe. Meine Phantasie hatte ein Spiegelzimmer erfunden, mit dem ich ihn überraschen wollte. Ach! Egon bewunderte meine Phantasie im Erfinden! O, sagte er oft, Helene, du bist die Göttin des Erfindens! Du bist eine Schöpferin, eine Künstlerin des Lebens! Deine Phantasie ist orientalisch! Man sieht, daß du eine Nachbarin der Cirkassierinnen warst ... O Pauline ... der unglücklichste Zufall führte mich auf einen gewissen Louis Armand, den Bruder jenes Mädchens, in deren intriguantem Netze der arme Egon Jahre lang geschmachtet hatte. Louison hieß dies Mädchen. Schon von Lyon aus hatte sie den aus der Pension in Genf entflohenen halb unreifen Knaben zu all' den Thorheiten verleitet, die hier und in Paris das Gelächter der großen Welt machten. Egon wußte nichts von den geheimnißvollen Arbeiten dieses Armand, nichts von den Malereien eines deutschen Malers, Reichmeyer, der mir heute aufwarten wollte und den ich zu Ihnen [1124] beschied ... Vergeben Sie mir – die Maler haben ja Zutritt bei Ihnen ... ich sehe Niemanden – Niemanden – Sind Sie nicht bös?

Pauline schaltete ein: Bitte! Er soll mir willkommen sein! und freute sich zugleich über die Aussicht, daß die Gräfin trotz ihrer furchtbaren Aufregung für den Abend vielleicht nun bleiben würde ...

Helene fuhr fort:

Einige Tage war Armand nicht gekommen. Unwillig hatt' ich ihm geschrieben und meinen Leuten gesagt, ich wollte ihn selbst sprechen, um ihn für seine Nachlässigkeit zu zanken. Da tritt er ein, schwarzgekleidet. Egon springt auf: Louis! ruft er. Ich ahne, daß er ihn kennt. Ohne auf Egon zu merken, antwortet der Handwerker: Madame la Comtesse, ... Sie haben Recht, meine Verzögerung zu tadeln, aber Sie werden entschuldigen, daß ein Bruder am Sterbebette seiner Schwester ... seine Pflichten als Arbeiter vergißt. Ich bin im Begriff, sie heute zu begraben und kam selbst nach Enghien, nur um mich auch für heute noch zu entschuldigen ...

Das ist ja entsetzlich! rief Pauline. Das war Louison? Und Egon?

Egon, fuhr Helene in fieberhafter Aufregung fort, Egon hört diese dumpfen Worte meines Mörders, stößt mich zurück, mich Helene, die sich ermannen und den Störenfried entfernen wollte, ruft: Louison ist todt! und reißt sich von mir los und den Bruder mit sich fort. Meine Leute hielten mich, denn was lag denn mir daran, daß man mich [1125] für eine Rasende hielt! Ich sah, daß Egon nach Paris zurückwollte, ich ahnete, daß er sich von mir trennen konnte; denn furchtbar war, was er mir von der Macht dieses Armand über sich geschildert hatte. Ich sah Alles vor mir, hielt ihn krampfhaft mit den Armen, warf mich auf die Schwelle vor die Thür des Hauses und schrie: Tritt mich Egon, ehe du mich verlässest, mich die Lebende um die Todte! Mein Haar war aufgelöst, meine eiskalten Hände bebten, meine Zähne klapperten vor Fieberfrost ... Und Egon – Egon schritt über mich hinweg ... schritt über mich hinweg!

Ha, er flog an den Bahnhof – schon war zufällig das zweite Zeichen gegeben worden. Als ich aus meiner Betäubung erwachte, ein Pfiff, er war davon, ich allein. Er hatte mich zurückgestoßen, mich, die ihn liebte und ihn noch liebte, als er sie verließ! Ich fuhr nach Paris, ach! und konnte seine Spur nicht entdecken. Nur auf dem Kirchhofe des Boulevard Montmartre draußen bei den Batignolles wollte man einen jungen Mann bei dem Leichenbegängniß der Louison Armand gesehen haben, der dort die Öffnung des Sargdeckels verlangte und die Leiche mit seinen Küssen bedeckte. Man warf dann die Erde über den Sarg und der junge Mann, sagte man, soll bis in die Nacht auf dem Hügel geweint haben, einige Gräber weiter davon hätte der Bruder der Todten gesessen, stumm die Hand auf das Haupt gestützt. Dann wäre der Bruder zu jenem herangetreten und versöhnt wären sie Beide von dannen gegangen ...

[1126] O, mein Kind! Das ist ja ein Roman! sagte Pauline erschüttert. Das ist ja furchtbar, entsetzlich! Ich sehe Das vor mir! Ein Bild, von dem man zu den Künstlern reden möchte ...

Und Sie sind parteiisch, Pauline? Denken Sie nicht an mich?

Helene!

Ich erhielt einen Brief von Egon, worin er von mir Abschied nimmt und mir schreibt, er müsse mich fliehen und die Mission seiner höheren Pflichten beginnen. Er reise in die Heimat. Ha! Pauline ... ich ihn ziehen lassen? Nein! Ich stürzte zu Desiré, der mein einziger Trost, mein einziger Freund war. Der Gute gab mir Geld und zeichnete mir selbst auf der Landkarte den kürzesten Weg vor, um den Geliebten einzuholen. Ich kam zu spät. Hier bewacht ihn jetzt der Tod und Armand – der fürchterliche Rächer seiner Schwester. Ich habe Egon nicht wieder gesehen und wenn er stirbt, sind meine Stunden gezählt.

Erschöpft von dieser aufregenden Erzählung sank Helene Gräfin d'Azimont in die Kissen des Divans zurück.

Pauline suchte sie zu trösten. Sie verwies ihr die übergroße Heftigkeit und den Sturm ihrer Empfindungen. Sie würde den Freund damit nur erkälten, sagte sie. Sie schilderte ihr, wie sie ihre Pläne mit Besonnenheit anlegen möchte. Sie pries das Glück, in solchen Dingen von einem guten Gatten nicht behindert zu sein, ja sie wies selbst auf die Möglichkeit hin, daß Rafflard hier zu einer Ausgleichung führen könne, da er den jungen Fürsten von [1127] Genf her kennen müsse. Sie bat sie ferner, diesen Schmerz ums Himmelswillen nicht zu sehr zur Schau zu tragen. Sie lebe nicht in Paris. Die Maximen der Gesellschaft hätten seit kurzem einen merkwürdigen Umschwung erlitten. Sie würde sich und alle ihre Freunde compromittiren, wenn sie diesen Roman hier so fortsetzte, wie sie ihn in Paris begonnen hätte. Der Hof wäre in solchen Dingen von einer unglaublichen Empfindlichkeit. Sie könnte sich den abscheulichsten Demüthigungen aussetzen ...

Helene blickte auf und sagte stutzend:

Das Alles sind die Antworten einer Freundin? Einer Dichterin?

Pauline raffte den letzten Rest von Schwärmerei, der ihr zu Gebote stand, zusammen, warf das verlöschende Licht ihrer Augen noch einmal empor, daß das Weiße einen blitzenden Schimmer von sich gab, und sagte:

Helene! Ach, ich verstehe Sie ganz. Aber ...

Helene schluchzte.

Pauline hielt sie tröstend, aber auch seufzend, an ihrem »mitfühlenden Herzen«.

[1128]
2. Capitel. Begegnungen
Zweites Capitel
Begegnungen

Als sich Helene etwas erholt hatte, begann die junge schöne Frau mit leidender Stimme:

Ich hörte die gute, kluge Freundin, ich schätze Ihren Rath, aber um Egon kann ich Alles dulden. Wie oft schon hat er in Zornausbrüchen mich in meiner Liebe gekränkt; ich fühle die Bitterkeit seiner Worte wohl und jammere, aber lieben muß ich ihn doch.

Machen Sie nur mich zu Ihrer Vertrauten; ich beschwöre Sie! Niemanden sonst! sagte Pauline dringend.

Ich versprech' es Ihnen, antwortete Helene. Ach, Sie sind glücklich. Ja! Sie sind Dichterin. Wenn Sie aus allen Adern bluten und Sie die Wunden, die Ihnen die grausame Welt schlug, dem Tode nahe bringen, dann kommt die Muse als Trösterin und Sie können sich wenigstens Ihre eigene Grabschrift schreiben. Ich habe keine Kunst, die mich rechtfertigt; kein Talent, das mich tröstet. Musik! Ein wenig Musik! Aber nur im Tanze könnt' ich mich eigentlich aussprechen, im rasendsten Tanze. Wie ein indischer Shamane möcht' ich mich so lange um mich selbst drehen, bis ich rasend werde und todt niedersinke ...

[1129]

Sprechen Sie von der Kunst nicht, liebe Helene, sagte Pauline und legte die fröstelnde Hand auf Helenens heiße Stirn. Die Zeit der Kunst ist vorüber. Ich bin die nicht mehr, die Sie vor drei Jahren kannten, Helene. Die starken Gefühle sind einer frostigen, prüden Analyse erlegen. Nur die Unschuld noch wird bewundert und das Naive groß genannt. Tändelnde Kinder drückt man wie zarte Lämmer mit rothen Bändchen und Silberglöckchen an's Herz. Die liebenden und aufopfernden Ehegattinnen sind die einzigen, die man von unserm Geschlechte noch anerkennt. Die Politik soll, wie man sagt, eine Art Reinigung der Gemüther geworden sein. Ich weiß Das nicht, aber es ist so; es soll so sein. Man muß sich vor den allgemeinen Thatsachen demüthigen.

Es ist auch in Paris so, sagte Helene. Wenn aber eine gewisse Stabilität wieder hergestellt sein wird, wird sich auch diese Verirrung legen.

Sie sagen: »Verirrung?« ... bemerkte Pauline lächelnd und fuhr fort:

Glauben Sie daran! Sie sind noch jung, Sie vermögen noch alle diese Erscheinungen mit einem liebebedürftigen Herzen abzuwarten. Für uns aber, liebe Helene, lassen Sie uns besonnen sein. Sie werden hier bleiben, bis Egon wiederhergestellt ist. Auch ich nehme an Allem, was die Hohenbergs betrifft, den lebhaftesten Antheil. Sprach Egon niemals von mir, nie von den Harders überhaupt?

Egon war ein Franzose geworden. Er kannte Deutschland nicht mehr; antwortete Helene.

[1130] Ließ er sich niemals auf das Leben seiner Mutter ein? bemerkte Pauline lauernd.

Ich weiß von ihr nicht mehr, als was ich von Ihnen erfuhr, sagte Helene aufrichtig und offen. Wer Amarantha bewundert, kann nur erschrecken, daß Egon Amaranthens Sohn sein soll! Lassen Sie! Lassen Sie! Ja! Ja! Man sagte mir Das. Was thut Das? Ich lebte der Gegenwart und Zukunft. Egon selbst sprach ungern vom Vergangenen. Gerade zur Zeit, als seine Mutter starb, waren wir Beide die glücklichsten Geschöpfe der Erde.

Sie sind auch darin so gut, Helene, sagte Pauline aufathmend, daß Sie für Ihre Freunde Partei nehmen und für Das, was Sie einmal warm und treu ergriffen haben, Farbe halten. Schließen Sie sich mir an! Ich bin zwar manchen Stürmen preisgegeben gewesen. Aber noch wurzl' ich in festem Boden. Bleiben Sie eine Viertelstunde in der kleinen Gesellschaft, die ich heute um mich habe. Beobachten Sie flüchtig! Sie werden mit der Schärfe Ihrer Intuition bald bemerken, was jetzt die Menschen hier beschäftigt und beschäftigen darf. Versprechen Sie mir, besonnen zu sein? Besonnen um meinetwillen?

Ich verspreche es, sagte Helene und reichte ihre weiße schwarzbeflorte Hand der auf Melanie, die jetzige Rivalin Helenens gespannten Freundin, die schon auf Wagen im gekieselten Fahrwege lauschte und mit Helenen an ein von der Abendsonne beschienenes Fenster der vorderen schon erleuchteten Salons trat.

[1131] Sie wissen doch, daß Adele Wäsämskoi dort drüben wohnt? fragte Pauline.

Und noch ehe sie Helenens Antwort abgewartet hatte, brach sie schon in den lebhaftesten Ausdruck ihres Erstaunens aus, die königlichen Livreen vor dem Hause zu erblicken ...

Sehen Sie! rief sie. Die Fürstin ist eine tugendhafte trauernde Gattin, eine zärtliche Mutter! Da steht schon der Wagen der Oberhofmeisterin vor ihrer Einfahrt!

Meine Schwester scheint gefeiert zu sein; sagte Helene verächtlich. Der zweite daneben haltende Wagen scheint ihr ebenfalls Besuch zugeführt zu haben.

Was seh' ich! rief Pauline. Das ist ja der alte Rumpelwagen meiner Schwester? Anna mit der Altenwyl zusammen? Ludmer! Ludmer! Wo ist die Ludmer? Anna hat ein Rendezvous mit der Altenwyl!

Die alte Charlotte Ludmer hatte sich schon längst in der Nähe gehalten und bestätigte, was sie schon ausspionirt hatte, daß bei der Fürstin drüben, so wurde übertrieben »ein Wagen nach dem andern« vorführe, und eben wären Anna von Harder und die Gräfin Altenwyl dort zusammen ...

Helene begriff nicht, was Pauline darin so Außerordentliches finden konnte und hörte befremdet zu, als Pauline in die Worte ausbrach:

So müssen sich denn die schönen Geister wirklich schon begegnen! O ich sehe es, wie sie aufeinander lauschen, aneinander sich entzünden und entflammen! Dort [1132] die Tugend, da die Tugend und überall die Tugend! Ha! Ha! Ha! Ludmer, was wettest Du, Anna wird morgen in die kleinen Cirkel eingeführt! Was wird die Königin sie an ihr Herz drücken und ihr eingestehen, wie sehr sie nach dem Umgang mit solchen Naturen geschmachtet hätte! Pfui! Lächerliche Welt! Helene, was sind die Männer zu beneiden! Die Männer können Das, was sie verachten, zu stürzen sich verschwören! Sie können Stirn gegen Stirn ihren Widerwärtigkeiten entgegentreten. Wir Frauen müssen unsere Ideen, wenn wir welche haben, niederkämpfen und nach Gebetbüchern greifen, um nur nicht die Thorheit zu begehen, einmal eine That zu versuchen ...

Ich erstaune, sagte Helene, daß man hier so vom Hofe abhängt! Noch vor drei Jahren ...

Alles ist anders geworden, unterbrach die aufgeregte Pauline. Wissen Sie, Helene! Hier treiben die Frauen jetzt nichts mehr als Werke der Liebe, der christlichen Liebe ...

Oeuvres de charité! Wie in Paris! sagte Helene lächelnd.

Wer liest noch ein Buch! fuhr Pauline fort. Wer spricht noch von einem Roman! Verachtet ist jetzt jede Frau, von der man mehr weiß, als daß sie ihre Kinder selbst wäscht, selbst anzieht und die Zeit, die ihr sonst übrig bleibt, mit Kirchenmusik und Colportage von Loosen für die Ausspielungen der Frauenvereine zubringt. Man nennt Das die innere Mission! Man spricht von Krankenpflege, von Wärterinnen in den Hospitälern, von der Armuth und den [1133] unehelichen Kindern, von den Skropheln und Kartoffeln, von den Gefangenen und ihrer Besserung ...

Wie Rafflard und meine Schwiegermutter in Paris!

O, es mag vortreffliche gutmüthige Leute darunter geben, die sich gern damit beschäftigen, Charpie zu zupfen und die Warteschulen zu besuchen, aber ich kann es nicht. Ich fühle mich zu schwach für diese Tugenden ...

Pauline von Harder konnte nicht ausreden; denn die Thür öffnete sich und einige Gäste traten schon herein ...

Es waren zwei. Erstens der Hofmaler Lüders, eine schleichende höfliche Figur, ein Mann, der sein schönes Talent früh gelernt hatte an den Meistbietenden loszuschlagen, und Sanitätsrath Drommeldey.

Ganz gegen die Abrede mit Paulinen stürzte Helene gleich auf diesen Letztern zu und fragte nach Egon, den er mit mehren andern Ärzten behandelte ...

Drommeldey erwiderte mit einem eigenthümlich gekniffenen, lauschenden Blicke seines scharfen Auges, daß der junge Fürst sich durch mancherlei Aufregungen ein Nervenfieber zugezogen hätte, dem er deshalb den glücklichsten Ausgang vorhersage, weil es sogleich im ersten Stadium in ganzer Heftigkeit ausgebrochen wäre und den ganzen Organismus ergriffen hätte. Wenn es eine schleichende, unausgesprochene Form angenommen hätte, sagte er, würde er besorgt sein. Allein eine so gewaltige Erschütterung und der schnelle Ausbruch des Phantasirens erzeugt rasche und gute Krisen. Wir haben ein Nervenfieber, nicht den Typhus.

[1134] Phantasirt Egon und was? wollte Helene in ihrer leidenschaftlichen Theilnahme eben fragen; aber Pauline zog sie fort und flüsterte ihr zu:

Mäßigung!

Drommeldey mußte sich nun mit Paulinen beschäftigen, mit ihrem Pulse, den er zu aufgeregt fand, mit ihrem Appetit, den sie für gering erklärte ...

Sie haben keine Badereise gemacht, sagte Drommeldey, Sie grübeln zuviel, Sie nehmen das Leben zu ernst.

Als Pauline diese »Kur durch Leichtsinn« ablehnte, vertiefte sie sich mit Drommeldey in homöopathische Gespräche, die ihr den Genuß verschafften, mit sich selber zu theoretisiren und eine Art von autodidaktischer Quacksalberei zu treiben ...

Sanitätsrath Drommeldey war der gesuchteste Arzt der vornehmen Welt. Er mischte das allopathische Princip mit dem homöopathischen und praktizirte auf diese Art à deux mains. Wer an das Eine nicht glaubte, dem half vielleicht das Andere. Besonders behauptete der kleine, feine, magere, starkgeröthete Herr mit den stechenden listigen Augen, daß die Seele des Patienten ein Hauptaugenmerk des sorgenden Arztes sein müsse. Er hatte durch dies Zauberwort alle vornehmen Frauen gewonnen. Denn eine verstimmte Seele wollen sie alle haben und mehr durch das Gemüth und seine Anregungen, als durch die Pharmakopöe kurirt werden. Drommeldey führte ein Buch über seine Patienten, eine förmliche Chronik ihres ganzen Lebens. Man kann sich denken, wie ihm [1135] die Gläubigen anhingen. Die Malades imaginaires behandelte er homöopathisch und ließ sie aus ihren kleinen portativen Apotheken sich die unschädlichsten Dinge selbst dispensiren; die wirklichen Kranken griff er aber mit vielem Geschick allopathisch an. Er galt nicht nur bei Hofe, sondern mit gleicher Autorität in einem ganzen Bezirk von zwanzig bis dreißig Meilen bei allen Reichen und Vornehmen. Er war fast in jedem Monat einmal auf einer größeren Reise begriffen. Ihm ganz besonders kamen die Eisenbahnen zu statten, denn sie gaben ihm eine Universalpraxis. Im Übrigen war er keineswegs so kopfhängerisch, wie man nach seiner Verehrung vor der Homöopathie und der medizinischen Wichtigkeit, die er der Seele zuschrieb, hätte glauben sollen. Er liebte ein Glas herben Ungarweins und stritt oft mit dem Justizrath Schlurck, ob die englischen oder holsteinischen Austern nahrhafter wären. Seine Philosophie war so ziemlich die des vorigen Jahrhunderts. Er liebte Anekdoten von Voltaire, Friedrich dem Großen und der Kaiserin Katharina. Ein bon mot stand ihm höher als eine Abhandlung. Sein Wissen wurde besonders von den jungern Ärzten sehr bezweifelt; allein darum hätt' er es doch längst zu einem höhern Titel als dem eines Sanitätsrathes – was in der medizinischen Welt soviel wie ein Commerzienrath in der bureaukratischen ist – gebracht, wenn er nicht als halber Homöopath gewissermaßen außerhalb der offiziellen Medizinalverfassung des Landes stand. Die Homöopathie war noch nicht akademisch vertreten. Er [1136] verzichtete auf Ehrenämter, begnügte sich mit seinen Orden und den Dukaten, die ihm von allen Seiten zuströmten.

Die Säle füllten sich ... Offiziere, Beamte, Künstler kamen, manche nicht ohne Ruf. Es kann nicht unsre Absicht sein, sie Alle zu katalogisiren ...

Es war da die stehende Garde der Geheimräthin zu gegen. Sie bildete den Stamm ihrer Gesellschaften und konnte recht verletzt werden, wenn sie bei irgend einem größern Mittage oder Abende fehlte. Alle gehörten sie der Richtung an, die noch bis vor kurzem von Pauline von Harder leidenschaftlich vertreten war. Da es ihr nicht möglich wurde, sich nach der Krisis, in der ihre ästhetische Lebensauffassung zu Grunde ging, auf die Werke der Liebe, die Frauenvereine, die Institute der inneren Mission zu werfen, eine »graue Schwester«, Diakonissin oder Schwanenjungfrau zu werden, so hatte sie es leidenschaftlich mit der Politik und dem conservativen Systeme. Alle diese Anhänger ihrer Fahne waren Beamte, Adlige, Offiziere, auf's beflissenste damit beschäftigt, die alte Ordnung der Dinge wiederherzustellen und das demokratische Princip zu bekämpfen. Einige von ihnen sahen in diesem Princip nur die rohen und gemeinen Straßenausbrüche der Demokratie, Andere waren gerechter und gestanden zu, daß die Demokratie das Unglück hatte, in ihren ersten Bildungsformationen eine Menge Schlacken involviren zu müssen; doch auch das reinere Metall erschien ihnen verderblich und gefährlich. Der [1137] Unschuldigste dieser Conservativen war noch der alte Graf Franken, den nichts in seinem Hochtorysmus berührte, an dem Alles abglitt und der erst seit kurzem wieder dauernd die Gnade gehabt hatte, in der Residenz zu wohnen. Viel schroffer schon war der Kammerherr von Ried, ein Schwager Paulinens aus erster Ehe, ein sehr reicher Gutsbesitzer, der zu verarmen fürchtete, wenn die progressive Einkommensteuer und die neue Grundzinsgesetzgebung in Kraft blieb. Die Gespenster des Communismus ließen diesen Mann nicht schlafen. Er hatte eine große Korn-Ligue gestiftet zwischen allen Grundbesitzern des Landes, um den Ministern und Kammern die Spitze zu bieten, ein Unternehmen, über das der Hof nicht wußte, sollte er Freude oder Schrecken empfinden. Kammerherr von Ried organisirte Bauernvereine, die die Gesellschaften der Demokraten bei passenden Gelegenheiten überfielen und Jeden halbtodt prügelten, der sich nicht bereit erklärte, auf der Stelle eine gewisse Landeshymne zu singen. Diese patriotischen Banden wurden fast in der ganzen Monarchie organisirt und von Gendarmen oder eben ausgedienten Soldaten, die zwar den Bauernkittel wieder anzogen, aber nicht viel Lust zum Arbeiten hatten, geleitet. In großen Städten wurden von Sackfiedern, Lastträgern, Karrenschiebern solche Kraft-Vereine gebildet. Der Kriegsrath Wisperling, der zugegen war, gehörte zu den schleichenden Naturen, die es verstanden, unter Kanalarbeitern und Schiffsablädern mit einer gefüllten Börse Mannschaften zu werben zu solchen loyalen [1138] knüttelhaften Demonstrationen. Er mischte sich auf naive, kindliche Weise unter Brücken- und Bauarbeiter, scherzte, späßelte, theilte Viergroschenstücke aus und veranlaßte eine Zeit lang jeden Sonnabend spät in der Dunkelheit einen Überfall der Clubs und einige halbtodt geschlagene Opfer dieser unzurechnungsfähigen Loyalitätswuth. Einige Sendapostel der Enthaltsamkeitsvereine unterstützten darin diesen sanft flüsternden, immer liebevoll lauernden Kriegsrath Wisperling. Dafür, daß er bei seinen Sonnabend-Abends-Werbungen manchmal irre ging und an die unrechten Elemente im Volke kam und fürchterlich oft schon selbst geschlagen wurde, hatte ihn das Bedauern, das Lob und manche Gratification seiner Vorgesetzten schadlos gehalten. Er wußte, daß er auf der Liste stand, bei nächstens thatkräftigerem Durchbruch der Reaction für dieses eigenthümliche Rekrutiren Geheimer Kriegsrath zu werden. Auch einer dieser Sendapostel war zugegen, Baron von Held. Er reiste für die Ausrottung der sogenannten Alkohol-Vergiftung und gehörte zu den gewandtesten »Colporteuren« der innern Mission, die ja die politische Krankheit der Völker auch scharf genug in's Auge gefaßt hat und sie als Teufelswerk auszurotten sucht. Das christliche Werben gibt sich da zum Deckmantel einer ganz weltlichen Industrie, für eine Menge Bücher, Zeitschriften, Gesellschaften u.s.w. her, warum nicht auch für das reactionäre Wühlen? Einen der kecksten Agitatoren lernen wir in dem anwesenden Grafen Brenzler kennen. Dieser hatte, um Conflikte herbeizuführen, [1139] sich nicht gescheut, schon an den Straßenecken oft zum Bau von Barrikaden aufzufordern und durch geschickte Manöver in solcher Art gleichsam den Feind herauszulocken, um ihn besser auf's Haupt schlagen zu können. Graf Brenzler, noch jung, war ein förmlicher Flibustier seiner Partei und lag in einem fortwährenden bald listigen bald offenen Kampfe mit seinen demokratischen Gegnern.

Auch einige politisch sehr fanatische Frauen waren schon zugegen. Sie gehörten zu den wildesten Parteigängern, unter denen man Erscheinungen in neuerer Zeit getroffen hat, die die grausamere Natur der Frauen in ein entsetzliches Licht stellen. Für die Aussicht, ihre Männer könnten jährlich hundert Thaler weniger Gehalt beziehen, waren manche vom schönen Geschlecht Furien geworden. Von denen, die um einen bei dem Lärm der Aufstände flatternden Kanarienvogel, um einen winselnden Schooshund wüthen konnten, will ich nicht reden; auch die wollen wir bemitleiden, die auf der Straße von einem betrunkenen Arbeiter übel angeredet, nach Hause kommen und in Ohnmacht fallen und die Welt mit Feuer und Schwert vertilgt wissen wollen. Aber die Damen waren entsetzlich, die die Besteuerung der Pensionen fürchteten, die, die etwas von den Abzügen der hohen Gehalte gehört hatten. Diese glichen Mänaden und hätten ruhig neben Karl IX. in der Bartholomäusnacht ausgehalten, als dieser mit der Flinte an einem Fenster des Louvre stand und immer schrie:

Tuez! Tuez! Tuez!

[1140] Begrüßen wir nun Diejenigen in Paulinens Salon, die wir schon einmal nennen hörten oder genauer kennen.

Vor allen ist die Excellenz selbst zu nennen. Kurt Henning Detlev von Harder zu Harderstein kam mit dem Großkreuz auf der Brust, sehr gewählt toilettirt, die Perücke frisch gebrannt und neu gelockt. Seine Haltung verlieh ihm Würde. Er belächelte Jeden sehr gnädig und war gegen Helene d'Azimont in dem Zelte sogar herzlich. Diese fand ihn, als er in dem blauen Zelte sich neben sie setzte, außerordentlich vergnügt. Sie gestand ihm, daß ein gewisses Etwas in ihm läge, was man kaum anders nennen könnte als Unternehmungsgeist ...

Finden Sie Das?

Unverkennbar. O! O! Sie haben etwas!

Die Reisen auf die königlichen Schlösser bekommen mir gut.

Man athmet dort eine so gesunde Luft ...

Das ist es.

Auch die Zeit regt an.

Die Zeit? Wie so, Frau Gräfin? Die Zeit ... Ach! abscheulich! Sie thun, als wenn ich ein Greis wäre!

Bitte! Ich spreche von der Zeit, nicht vom Alter.

Ach so! ... Werden Sie Papa nicht besuchen?

Papa? Wer ist Papa?

Meinen Papa in Tempelheide ...

Dies Gespräch wurde für die erschöpfte Helene schon zu angreifend. Es war ihr drückend, leidlich heiter sein zu sollen. Sie machte Miene, sich doch zu entfernen, während [1141] außerhalb des Zeltes Pauline empfing. Der Geheimrath hielt sie aber mit Schmeicheleien auf. Er fand sie bewunderungswürdig. Verdrüßlich antwortete sie:

Wovon sprachen wir?

Von Papa, Comtesse! Papa!

Nein, nein, nein! Ihr Papa? Es muß Ihr Großvater sein! Sie sind zu schalkhaft, zu jung, um nur noch einen Vater zu haben. Treibt er immer noch Zoologie, der alte Herr? Gehen Sie zu ihm, Excellenz! Er muß Sie noch zähmen, Sie blicken heut so wild! Und dabei ist nicht einmal Ihre Cravatte fest geschnürt!

Cravatte? Trägt man in Paris Cravatten? Der Graf versprach mir Moden zu schicken ...

Recepte!

Recepte? O!

Ach, Excellenz, fuhr Helene seufzend fort, so lang ich hier bin ... Schicken Sie mir denn auch manchmal, wie sonst, Blumen aus Monplaisir und Sansregret?

Wenn ich sicher bin, nicht durch die Eifersucht eines gewissen –

Sprechen Sie von Blumen, Excellenz! Ich will Solitüde besuchen ... Sie haben dort Treibhäuser. Was gibt es Neues in Solitüde?

Ich habe eine neue Methode des Bewässerns erfunden ...

In der That? Erfinden Sie?

Eine Gießkanne, Comtesse, die aus verschiedenen Schläuchen besteht –

[1142] Eine Feuerspritze –! Excellenz, das ist nichts Neues.

Doch! doch! Comtesse ... Die Majestäten waren entzückt davon. Die Gießkanne ruht auf zwei Rädern; statt des einen Halses gehen zwei Schläuche, etwa in der Länge von – erlauben Sie, daß ich Ihnen Das genauer vormache! Hier steht die Gießkanne ...

In dieser wissenschaftlichen Auseinandersetzung, die das Element des Intendanten der königlichen Schlösser war, wurde er aber durch seine Gattin gestört, die mit den Malern Heinrichson und Reichmeyer in das blaue Zelt trat und Helenen in Letzterem einen alten Bekannten aus Paris zuführte.

Helene empfing den Maler ihrer Villa von Enghien sehr freudig und tiefbewegt. Sie rückte sogleich so, daß Reichmeyer die eben von Excellenz verlassene Stelle des Divans einnehmen mußte. Noch mit dem Worte: Gießkanne! auf den Lippen stand Herr von Harder einige Sekunden schwebend und ließ sich dann mit Heinrichson in eine weitere Auseinandersetzung über diesen Gegenstand ein. Harder gehörte zu jenen Menschen, deren Ideenarmuth es mit sich bringt, daß sie einen einmal gefaßten Gedanken nicht wieder fallen lassen können. Ganz unbekümmert darüber, ob Heinrichson, der besondere Schützling seiner Gattin, ein Interesse haben konnte, die Construction einer neuen Gießmaschine kennen zu lernen, setzte er diesem doch jene durch den Mechanismus des Denkens einmal in ihm aufgezogene Einrichtung des neuen Bewässerungswerkzeuges auseinander. [1143] Heinrichson, der an Alles dachte, nur nicht an die Annehmlichkeit, mit der Excellenz in ein hydraulisches Gespräch verwickelt zu werden, mußte ausharren. Mit den Bücken hier und dorthin forschend, die Gräfin d'Azimont mit seinen heißen, sprechenden Augen fast verschlingend, dann einmal wieder auch pflichtschuldigst mit einer gewissen Schwärmerei nach dem biblischen Turban Paulinens blickend, unterbrach er die Auseinandersetzungen des Geheimrathes, ohne ihrer im Mindesten zu achten, fortwährend mit den näselnden Worten: Ah! Sehr wohl! Sehr schön! Sehr praktisch! Aha! ... Und Excellenz waren entzückt über die Gelegenheit des Beweises, wie sehr das Vertrauen Sr. Majestät gerechtfertigt war, als man ihm, dem altgewordenen Kammerherrn und ehemaligen Reisemarschall des Hofes, die Intendanz der königlichen Gärten und Schlösser überließ.

Kaum war Heinrichson hierauf zu Paulinen geschritten und hatte sein Amt angetreten, das eben darin bestand, ihr den ganzen Abend eine gewisse »Assiduität« zu widmen, das heißt: eine gewisse beflissene Emsigkeit des Aufmerkens und ein scheinbares leidenschaftliches Drängen, immer in ihrer Nähe sein zu dürfen, als die unvermeidliche Trompetta mit ihrer ebenso unzertrennlichen Begleiterin, der blonden Friederike Wilhelmine von Flottwitz eintrat.

Man nannte sie die Inseparables, falls sich, wie Heinrichson boshaft hinzusetzte, naturhistorisch nachweisen [1144] läßt, daß alte Kakadus sich mit jungen Kanarienvögeln paaren ...

Wie dem sei, die Trompetta brachte Leben in jede Gesellschaft. Die kleine kugelrunde Frau rollte sich bald da, bald dorthin und schied von keinem Cirkel, in dem sie nicht mehrfach jedem Einzelnen à part einen guten Abend gewünscht hatte. Während Helene glücklich war, mit Reichmeyer allein von Paris, vom See zu Enghien und ihrem Spiegelzimmer reden zu dürfen, zu dem er einige enkaustische Wachsmalereien geliefert hatte, wußte die Trompetta, die ihrer noch nicht ansichtig geworden war, sogleich eine Fülle von Thatsachen über die Zeit und die Menschen anzubringen, die Alle anregte und unterhielt. Da sie Jedes im Tone der Liebe und des herzlichsten Antheils vorbrachte, auch jede Verleumdung, auch jede Nachrede eines schlimmen Gerüchtes, so war es recht boshaft von Heinrichson, daß er zu Paulinen sagte:

Da hat man schon wieder die gute Dame aus Sheridan's Lästerschule, die nur deshalb die böse Lästerung der Andern tadelt, um wiederholen zu können, was über diese Menschen gelästert wird.

Die Flottwitz aber war sogleich von einigen Militairs umgeben, die mit ihr über den neuen Achilles, den Prinzen Ottokar sprachen und ihr Manches im Vertrauen mitzutheilen wußten, was sich auf der nächsten Avancementsliste bestätigen würde. Sie erzählte dafür ihrerseits, daß im weiblichen Reubunde wäre beschlossen worden, für Weihnachten in jedem Kasernenzimmer der ganzen [1145] Monarchie einen Weihnachtsbaum anzuzünden, jedem Krieger für die bewährte Treue Äpfel, Nüsse und einen Pfefferkuchen zu bescheeren, der wahrscheinlich den allgeliebten Prinzen Ottokar darstellen würde, falls es nicht schicklicher wäre, den König selbst in dieser Form seinen Landeskindern zum liebevoll flüchtigen Andenken zu übergeben. Das junge schwärmerische Mädchen war so demokratenfeindlich, daß sie mit großer Begeisterung auch von einigen neuen Verhaftnahmen sprach und die guten Aussichten für die nächsten Wahlen lobte.

Frau von Trompetta musterte die Anwesenden und fand sogleich heraus, daß sie nur dem politischen Kreise der Geheimräthin angehörten. Pauline hatte sich also noch immer nicht entschließen können, die christlich soziale Richtung der Gräfin von Mäuseburg einzuschlagen, mit der sie die Trompetta in ihrer Weise schon vor einiger Zeit glaubte liirt, richtiger verkuppelt zu haben. Pauline hatte wirklich einmal schon einen schwachen Versuch in der »Krankenpflege« gemacht, es aber nicht sehr weit bringen können in so schweren, den ganzen Menschen und seine Eitelkeit in Versuchung bringenden Aufgaben. Die Trompetta fand also nur politische Elemente ... Ihr war Das ganz gleich, der betriebsamen Frau. Sie plätscherte ja wie ein Meerufer-Fisch in beiden Elementen, im Süßwasser der sozialen Richtung, wie im Salzwasser der Politik. War sie doch auch schon zu der Erkenntniß gekommen, daß eine Frau, die etwas auf sich hält, in Gemeinzwecken nicht ganz zu Grunde gehen dürfe! Sie hatte ihre [1146] aparten Liebhabereien. Sie veröffentlichte Bücher, Bildersammlungen, Stickereien durch wohlthätige Lotterieen. Dies war eine Agitation, die sie ganz auf eigene Hand betrieb und bei der sie sich eine gewisse Selbstständigkeit ihres Namens sicherte. Sie fühlte sich gehobener, bedeutsamer durch die Bitten der Vereine, doch ihrer eingedenk zu bleiben und für sie zu wirken. Denn wenn die Trompetta wirkte, so bekam ein Magdalenenstift, eine Diakonissenanstalt, ein Blindenasyl, ein rauhes Haus für verwahrloste Kinder u.s.w. gleich eine sehr bedeutende Summe. Mit den schweren Liebesdiensten der christlich sozialen Richtung selbst gab sie sich nicht ab. Dazu war sie zu flüchtig, zu eitel, zu vergnügungssüchtig. Und oft sagte sie so laut, daß es ihre intimsten Freundinnen, Pauline von Harder und die Flottwitz, hören konnten: Was thut denn auch die Gräfin Mäuseburg anders, als daß sie jeden Morgen die Rapporte von einer alten Kammerjungfer und von ein paar alten Nähterinnen anhört, die statt ihrer zu den armen Wöchnerinnen, zu den Kranken und Hilflosen gehen und ihr die Thatsachen mittheilen, denen sie durch die disponiblen Fonds der Kassen auf ihrem Sopha eine andere Wendung gibt! Sie notirt sich die Fälle in ihren Büchern und setzt daraus die Statistik zusammen, die sie dem großen Centralausschusse vorlegt!

Besonders wegen der lieben Flottwitz sah die Trompetta heute mit Vergnügen, daß im Salon der Geheimräthin die politischen Elemente überwogen. Die Flottwitz und die Trompetta gehörten zwar zu den musikalischen [1147] Akademieen der feindlichen Schwester in Tempelheide, allein Pauline hatte gerade gern eine Verbindung mit dem jenseitigen Feldlager. Die Trompetta sagte oft zu ihr:

Pauline, brauchen Sie mich bei der guten Anna als versöhnenden Parlementär! Aber Pauline schüttelte den Kopf und sagte lächelnd, wie zum Scherz, aber sie meinte es ernstlich: Nein, ma chêre, als Spion! – Pfui! Pfui! hatte zwar die Trompetta darauf erwidert, aber sie besaß ein merkwürdiges Talent, in Form harmloser spielender Berichte gleichsam nur wie beispielsweise und ohne alle Absicht die ganze Chronik der großen Welt in Umlauf zu bringen. Sie entzweite und verband, wie es kam. Junge Mädchen, die ein Herz schon gefunden hatten, mußten sich vor ihr in Acht nehmen. Sie hatte die Leidenschaft, »unpassende Parthieen« zu hintertreiben und blinder Liebe bei Zeiten den »Staar zu stechen«. Denen aber, die noch nichts gefunden hatten, hielt sie gern immer ein ganzes Register vortrefflicher Parthieen entgegen, die sie allenfalls »vermitteln« konnte. So der Flottwitz. Friederike Wilhelmine dachte, bei ihrem Verkehr mit Offizieren, nur an das Wohl der Monarchie und die unbefleckte Ehre und Treue des Kriegsheeres, nicht an eine prosaische Heirath; aber die Trompetta schob ihr immer doch diese kleinlichen Gedanken an Liebe und Ehe unter. Die Augen der älteren Freundin kuppelten fortwährend für die jüngere und noch vorm Eintreten in den Salon der Geheimräthin hatte sie auf der Treppe zur Flottwitz gesagt:

Wenn wir unter den Malern, die bei Paulinen sich versammeln, [1148] heute einmal den Siegbert Wildungen wiederfänden! Sie waren zwar schon auf dem Wege nach Tempelheide verletzt, liebe Friederike Wilhelmine, durch seine demokratischen Äußerungen, wie ich durch seine Blasphemieen; allein es ist doch ein hübscher, artiger, recht idealischer Mann ...

Die Flottwitz hatte darauf nichts erwidert, sondern nur noch beim flüchtigen Vorüberstreichen an einem von Oleandern versteckten Spiegel ihre langen blonden Tirebouchons geordnet. Aber als zu Aller Erstaunen jetzt ihre Antipathie, Fräulein Melanie Schlurck, mit einem alten Herrn eintrat, warf sie doch der gleichfalls überraschten Trompetta einen Blick zu, der etwa sagen sollte: Das da ist ja der Gegenstand, für den dieser junge staatsgefährliche Künstler entflammt ist!

In dies Geschwirre und Gesumse rauschte wirklich gegen neun Uhr, als man schon die verschiedenen Sorbette herumreichte, Melanie Schlurck, geführt von ihrem Vater.

[1149]
3. Capitel. Meisterin und Schülerin
Drittes Capitel
Meisterin und Schülerin

Melanie Schlurck hatte sich heute ganz weiß gekleidet und glich Aphroditen, wie sie dem Meeresschaume entstieg. Man konnte ihre Toilette einfach nennen, wenn nicht hinter der gänzlichen Entfernung jedes Prunkes und jedes auffallenden Behanges die Absicht durchschimmerte, sich nur ganz allein, ganz selbst zu geben. Die Taille hielten die einfachsten langen weißseidenen Bänder zusammen. Der Nacken war unverhüllt. Das Haar in griechischer Einfachheit, ohne den geringsten andern Schmuck, als den natürlichen der in den Nacken zusammengewundenen starken Flechten, die von einigen Locken durchzogen waren. Ein Fächer war das Einzige, was wie ein besonderer tändelnder Schmuck erscheinen konnte.

Franz Schlurck trug einen neuen grünen Frack mit goldenen Knöpfen. Er liebte das todtengräberische, leichenbittende Schwarz nicht und hatte sich von den Gesetzen der Etikette hinlänglich freigemacht, um in solchen Dingen seinen eigenen Eingebungen zu folgen. Er war wieder ganz frisch, ganz aufgeregt. Die niederdrückenden Erfahrungen des Vormittags waren von dem leichtsinnigen [1150] Manne vergessen und die unmittelbare Nähe seines geliebten Kindes elektrisirte ihn immer.

Pauline empfing Melanie mit großer Auszeichnung.

Machte Melanie schon durch sich selbst den siegreichsten Eindruck, so mußte sie der Mittelpunkt des Abends umsomehr werden, als ihr die Geheimräthin entgegenkam, sie mit unbeschreiblicher Holdseligkeit auf die Stirne küßte und sie auf das Hauptsopha des Salons zu sich niederzog, sie mit Liebkosungen und steter Bewunderung ihrer Schönheit fast überschüttend.

Dieser Moment des Triumphes wurde nur leider zu früh dadurch abgebrochen, daß die Trompetta in ihrer Wanderung von Person zu Person und der Flottwitz wegen Melanie vermeidend eben ins blaue Zelt gerathen war und dort hinter den Camelien die Gräfin d'Azimont entdeckt hatte. Dieser Moment! Dieses laute Geräusch des Staunens! Dieses – was konnte man von der Trompetta anders erwarten – exaltirte, förmliche Geschrei! Helene mußte vortreten und ein Gemurmel der Begrüßung ging durch den ganzen Saal.

Helene lächelte und sagte, während sie näher kam:

Liebe Frau von Trompetta! Ich sehe, Sie sind wohl! Ich begrüße Sie von Herzen. Aber Begrüßung und Abschied in demselben Augenblick! In einem Besuche bei meiner lieben Pauline überrascht mich diese glänzende Gesellschaft, für die ich nicht vorbereitet bin.

Damit kam sie voll Grazie auf Paulinen zu, um von ihr für heute Abschied zu nehmen.

[1151] Pauline, die in der linken Hand fast noch den zarten weißen Handschuh der rechten Hand von Melanie fühlte, gab ihr ihre Rechte und zog sie zu sich nieder und wollte von der frühen Trennung nichts wissen. Sie hatte ja jetzt ihre bestimmten Absichten mit den beiden Frauen, die sie umgaben. Zwar war sie durch den Eindruck, den Melanie machte – für so schön hatte sie dies vielbesprochene Mädchen nicht gehalten! – in der Meinung, durch die d'Azimont sie zu »eklipsiren«, ganz irr geworden. Doch sah sie eben, daß auch Helene ihren Reiz hatte. Ein so zartes sanftes Auge, wie Helene in schüchternen Momenten aufschlagen konnte, besaß Melanie nicht, bei der das Auge im Grunde doch nur schelmisch irrend und fast nichtssagend war. Helene erschien geistig, seelenvoll, Melanie vielleicht nur schön, vielleicht fast kalt, nur eitel. Trotzdem, daß Schlurck Paulinen die Versicherung gegeben hatte, die Gefahr, in die sie durch Egon's Kenntnißnahme von Enthüllungen seiner Mutter in der Gesellschaft auf den Rest ihres Lebens gerathen könne, ließe sich noch abwenden, fühlte sie doch die Nothwendigkeit, sich auf alle Fälle mit Egon auf einen sichern Fuß zu stellen und noch glaubte sie mit begründetem Rechte, daß auf jener Rückreise Melanie die siegende Rivalin Helenens geworden war. Sie träumte von Vertraulichkeiten zwischen den beiden Reisegefährten von Hohenberg, von Complotten und allen möglichen bösen Dingen, die Melanie durch Bekanntschaft mit dem Inhalte des Bildes schon über sie könnte in Erfahrung gebracht oder befördert haben.

[1152] Das befremdete Erstaunen des jungen Mädchens über die Gräfin d'Azimont entging ihr nicht. Sie konnte nicht ahnen, wie es in ihr rief: Das ist nun die schöne Frau von Paris, mit der du einen Mann im Schloßgarten von Hohenberg geneckt hast, der dich täuschte!

Helene nahm an Melanie, die ihr flüchtig vorgestellt wurde, wenig Interesse. Sie war ohne Neid. Sie duldete jeden andern Vorzug. Sie konnte sich freuen, wenn Andere schön und glücklich waren. Diese im Grunde gute Natur gab Helenen etwas außerordentlich Sicheres und einen gewaltigen Vorsprung vor einem Wesen wie Melanie, das von einer fortwährenden Unruhe und allen nagenden Bedrängnissen der Gefallsucht gepeinigt wurde. Helene war aus einer völlig andern Form weiblicher Schönheit geprägt. Sie zählte zehn Jahre mehr als Melanie, aber da sie klein, zart gebaut, von rundlichen Formen war, so that ihr die Zeit nicht so viel Abbruch, wie sie größeren, schlankeren, spitzeren Formen zu thun pflegt. In Helenen lag der Zauber des rein Weiblichen, den Melanie nicht besaß. Diese konnte sinnlich blenden, aber kaum so das Bedürfniß der höheren Liebe reizen, wie die weichen Formen der d'Azimont.

Melanie ihrerseits fühlte das mit gewaltigem Eindruck. Sie hatte doch irgend eine geheimnißvolle Beziehung zum Fürsten Egon, das wußte sie, wenn sie auch schmerzlich darunter litt, daß der männliche, herausfordernde, kecke Dankmar der Fürst nicht gewesen war. Wie hatte sie diesen mit der d'Azimont geneckt! Purpurglut der Scham [1153] und jede Wallung des Zornes überkam sie, wenn sie daran dachte, daß Dankmar ihr ja immer die reinste Wahrheit gesagt und nur ihre eigene tolle Verblendung, ihre eigene dem Höchsten nachstrebende Verkehrtheit diese Wahrheit nicht hatte hören wollen. Das war nun die d'Azimont, mit der sie den vermeintlichen Prinzen »aufgezogen« hatte! Das jene schöne elegante Pariserin, auf die sie einem Schattenbilde, einer Täuschung zu Liebe, Eifersucht gefühlt hatte! Pauline bemerkte wohl, welchen forschenden Blick sie auf Helenen richtete. Das ist der Blick einer Rivalin! sagte sie sich und beobachtete und verglich Beide von ihrem Standpunkte.

Auf die Ströme von Fragen, in denen die Trompetta auf Helenen sich ergoß, antwortete diese lächelnd mit einer ihr sehr angenehm stehenden schmerzlichen Resignation.

Wäre sie mager, flüsterte Heinrichson Reichmeyern in's Ohr, ich würde etwas von der Madonna des Murillo in ihr finden. Der Blick ist vollkommen der des Spaniers.

Eine Spanierin, ja! sagte Reichmeyer. Aber es ist noch mehr die heilige Therese, die leidenschaftliche Äbtissin der unbeschuhten Karmeliterinnen. Ich glaube, daß sie alle Mysterien der irdischen Liebe kennt, wie die heilige Therese die der himmlischen.

Helene hielt solchen Kritiken und Vergleichungen nicht zu lange Stand. Sie foderte die Trompetta auf, ihr die Stunde zu sagen, wo man sie sprechen könne. Diese antwortete, sie wäre zu viel in Bewegung, um eine feste Zeit [1154] einhalten zu können, aber schon morgen käme sie selbst zu ihr.

Helene nickte graziös und erhob sich dann wirklich, um zu gehen.

Pauline begleitete sie. Wie die Kleine in ihrer einfachen schwarzen Tracht neben der phantastisch aufgeputzten jugendlichen Matrone über das Parkett schritt, hatte sie den ganzen Zauber reinster und natürlichster Menschlichkeit für sich. Sie war von Dem, was sie heute Alles erlebt hatte, erschöpft. Man sah ihr die Abspannung an. In dem Vorzimmer umarmte Pauline sie noch einmal und sagte:

Helene, Sie sind groß! Sie haben sich wie eine Heldin bewährt! Sie beherrschten sich. Es wird Aufsehen machen.

Als die Gräfin statt aller Antwort die Augen gen Himmel aufschlug, in denen eine Thräne glänzte, drückte sie die Geheimräthin noch einmal an's Herz.

Morgen seh' ich Sie, sagte Pauline, und ich hoffe, Helene, ich bringe Trost und finde Fassung.

Bringen Sie Mitleid! sagte Helene mit leiser Stimme, drückte Paulinen die Hand und ging ruhig über die glänzend erleuchtete, blumenbesetzte, unter den Teppichen knarrende Stiege hinab.

Ihr Bedienter folgte mit einem Shawl, den sie umschlug, als sie in den Wagen stieg ...

Natürlich wurde im Salon jetzt über nichts, als über die Gräfin d'Azimont, über Egon und über die Fürstin [1155] Wäsämskoi gesprochen ... Ein Körnchen Wahrheit, breitgeschlagen, wie unter der Hand des Goldschlägers, der aus einem Körnchen Metall endlosen Goldschaum fertigt. Da wir die Verhältnisse genauer kennen, überlassen wir die Erfindung den Uneingeweihten und beobachten nur Paulinen, die sich frei genug fühlte, jetzt ganz ihren nächsten Unternehmungen zu leben. Auf einen Blick sah sie sogleich, daß zwischen Melanie und ihrem Manne eine Neckerei stattfand. Melanie hatte ihm einen zu komischen Gruß gegeben und er ihn zu verblüfft, fast schmollend erwidert. Melanie erschien ihr sogleich wie die verdächtigste Kokette. Ruhig den linken Arm in die Ecke des Sophas stützend und sich in die Rückenkissen überlehnend, in der rechten Hand mit dem Fächer spielend, sah Melanie den Gruppen zu, die sich im Salon gebildet hatten und gab Jedem Gehör, der sich ihr näherte und sie in ein Gespräch zu intriguiren suchte.

Die Trompetta brannte vor Verlangen, Melanie über ihre Reise auszuforschen; aber seit der letzten Störung in der Singakademie zu Tempelheide mußte sie der Flottwitz zu Liebe Farbe halten. Die Flottwitz ignorirte nämlich Melanie mit consequenter Verachtung und sprach unausgesetzt und auf das lebhafteste mit dem Grafen Brenzler über eine neue Art beweglicher Barrikaden, mit welchen die Truppen bei künftigen Revolutionen gegen etwaige Empörer besser zu operiren lernen möchten; sie sprach so laut, daß sie Melanien sogar etwas von der ihr allgemein gewidmeten Aufmerksamkeit entzog.

[1156] Sr. Excellenz der Intendant benutzte diese Pause, trat an die Sophalehne und flüsterte zu Melanie halblaut:

Guter Gedanke von meiner Frau, Sie bei uns einzuführen, Fräulein ...

Bitte Excellenz, beschämen Sie mich nicht. Es ist doch nur Ihr Gedanke gewesen ...

Doch nicht! Bin Ihnen ja bös – recht bös – Das wissen Sie doch schon ... Sie ...

Excellenz! Bös? Mir? Warum?

Sind recht listig, recht gefährlich – Ja, ja, ich schmolle ...

Wie so? Sie? Welche Ursache hätten Sie?

Werden es schon wissen – Sie kleine Abscheuliche!

Sie haben einen Katarrh, Excellenz! War es kalt im Möbelwagen?

O Pfui! Pfui! Sie spotten – Recht lieblos! In der That! Recht lieblos!

Ich ohne Liebe? Ich, die deshalb im Heidekrug verzweifelte, weil dort so viel Katzen herumstreichen, die ich nicht leiden kann?

Und bestohlen bin ich auch geworden! Habe einen schönen Auftritt gehabt mit meiner Frau! Fräulein ...

Ich seh' es Excellenz! Die kleinen Ohren glühen ... Das bedeutet Blutandrang ... Kummer ...

O über Sie! O! o, Sie sind nicht gekommen! En vérité! Sie haben mich gefoppt. Sie sind nicht gekommen!

Excellenz! Welch ein Wort! Gefoppt! Ich versichere Sie! Die Katzen sind ganz allein Schuld – Sie schliefen [1157] doch recht sanft in der kleinen transportablen Hütte? Die Götter der Liebe wachten doch über Sie? O Sie machen mich recht unglücklich, daß Sie sagen können, ich hätte Sie gefoppt, Excellenz!

Ah! Bah! Bah! Ich trau' Ihnen nicht mehr. Sie sind schlimm! Recht schlimm!

Und die Menschen nennen mich alle so gut. Nur vor Katzen fürcht' ich mich, Excellenz. Und es war so finster und so naß und die Gensdarmen fluchten so laut und Ihre Bedienten tranken so viel – aber Sie hatten doch Ihr gesticktes Nachtmützchen auf, Excellenz, als Sie in das Hüttchen schlichen? Was? Ihr Schlafrock steht Ihnen auch gar zu schön! O Hohenberg, Hohenberg! Unvergeßliche Stunden, die wir dort erlebten und ich gefoltert wurde von meinem vis à vis, das mich anfangs nicht verstand, nicht verstehen wollte ... denn nur im Mützchen und im seidenen Schlafrock erschienen Sie anfangs am Fenster!

Hätt' ich ahnen können –

Daß diese kleinen Ohren mich entzücken würden! Excellenz Sie sind heute zu liebenswürdig! Gehen Sie! Gehen Sie! Oder ich komme heute doch noch in den Möbelwagen ...

Pauline trat bei diesen boshaften Worten hinzu. Sie hatte die letzten Worte halb und halb verstanden und fragte, durch galante Herablassung ihr Erstaunen mildernd:

Wovon sprechen Sie? Sie flüstern mit meinem Gatten?

[1158] Ei, ei, die schöne Melanie beunruhigt den Frieden meines Hauses! Henning ist von Hohenberg zurück gekehrt wie ein neugeschaffener Mensch!

Wir sprachen vom Heidekrug, gnädige Frau, sagte Melanie mit einem so zärtlichen Blicke auf Harder, daß Pauline lachen mußte. Es sind so viel Katzen dort, sagte Excellenz und ich gestehe, vor Katzen hab' ich allen Respekt. Nicht wahr, liebe Flottwitz? Sie wissen, was mich von unsern Maccabäern und dem Stamme Judä verscheucht hat!

Die Trompetta und die Flottwitz waren nämlich eben nur so lauschend vorübergegangen; Diese noch ganz erhitzt von den Auseinandersetzungen über die fliegenden Barrikaden und überall nur todte und verwundete Insurgenten erblickend, Jene auf eine Gelegenheit lauernd, doch mit der ihr ganz sympathischen Melanie anzubinden.

Ah! rief die Trompetta erlöst wie von einer großen Spannung. Nun schüttete sie ihre ganze Freude und Wonne des Wiedersehens und ihrer Überraschung aus, während Friederike Wilhelmine ernst und hoheitsvoll lächelte ...

Das war ein Begrüßen, ein Fragen, ein Forschen! Aber Melanie kehrte sogleich auf die Worte zurück, mit denen sie, um den armen Henning von Harder von weiteren Inquisitionen zu erlösen, der Unterhaltung eine andere Wendung hatte geben wollen.

Es ist nur gut, süßes Kind, begann darauf erwidernd [1159] Frau von Trompetta mit künstlichem Schmollen, daß Sie Ihr Unrecht einsehen und von selbst auf diesen Gegenstand kommen. Sie haben diesen schönen Concerten für lange den Todesstoß gegeben, Sie böses Kind!

Wie so? fragte Melanie. Durch meine Antipathie gegen die Thiere oder meine geringen Gesangsmittel?

Pauline wünschte zu wissen, wovon die Rede war.

Frau von Trompetta ergriff, mit aller in diesem Falle wegen Anna's von Harder zu beobachtenden Discretion, das Wort und erzählte von den musikalischen Akademieen ihrer Schwester, den Zerwürfnissen der verschiedenen Singstimmen und dem Austritte des Fräuleins Schlurck ...

Seitdem haben wir erlebt, schloß Frau von Trompetta, daß die Zahl der Tenöre und Bässe sich auffallend lichtete. Ein Assessor, zwei Referendare und drei Lieutenants sind gleich nach dem Fräulein fortgeblieben. Sie können sich denken, welche Lücke Das gibt! Die gute Anna ist in Verzweiflung und unsere Absicht, nun den Paulus von Mendelssohn-Bartholdy zu versuchen, müssen wir geradezu aufgeben.

Melanie stellte die Gefahren, die sie dem Paulus gebracht hätte, ganz in Abrede. Der Assessor wäre versetzt worden, die beiden Referendare wären in einem großen Prozesse beschäftigt, den die Regierung mit der Stadt führe und was die drei Lieutenants anlange, so hieße das gradezu für Fräulein von Flottwitz das Empfindlichste sagen, da es nur eines Wortes aus ihrem schönen Munde [1160] bedürfe, um sie wieder unter die rechtmäßige Fahne zurückzubringen.

Friederike Wilhelmine von Flottwitz entgegnete hierauf mit vieler Ruhe und der vollen Wucht ihres schönen klangvollen Organs:

Es ist besser, Fräulein, die Akademieen bleiben einige Zeit ausgesetzt, bis die Wahlen vorüber und die ersten Sitzungen der neuen Kammern so geordnet sind, daß man weiß, ob die gute Sache keine Gefahr zu befürchten hat. Es lebt ja Alles unter dem Druck der ungewissesten Zukunft. Die Demokraten wühlen mit unerhörter Dreistigkeit.

Der Kriegsrath Wisperling unterbrach die Sprecherin mit den unterthänigsten Worten:

Wie uns Fräulein von Flottwitz eben von ihrem Herrn Bruder erzählt hat ... Schauderhaft!

Wer kann singen, wollte die Flottwitz fortfahren, wer kann singen, wenn ...

Ihr Herr Bruder? fragte Kammerherr von Ried. Was ist denn Neues? Was ist denn schon wieder schauderhaft?

O es ist unerhört! meinte Wisperling und spannte noch mehr die Neugier des reichen Herrn von Ried, der wieder ein neues Attentat auf die besitzenden Klassen vermuthete.

Man wünschte Aufklärung, was mit dem Bruder des Fräuleins geschehen wäre.

Mein Bruder Wilhelm Friedrich, begann das Fräulein ...

[1161] Der Lieutenant? unterbrach sie Melanie.

Nein der Cadett –

Der zweite Cadett?

Der dritte –

Ihr fünfter Bruder?

Der vierte –

Sie meinen doch Friedrich Heinrich Wilhelm –

Nein, Wilhelm Friedrich –

Ah, der, dem sich jetzt die Stimme setzt? Richtig! Nun?

Wilhelm Friedrich ging gestern über die rasende Rolandsbrücke. Da trat ein Demokrat geradezu auf ihn ein, schlug ihm vertraulich auf die Schulter und fragte: Nun Herr General! Wie viel kostet denn die Schachtel von Ihrer Sorte?

Ah! rief fast Alles mit höchster Entrüstung.

Man trat näher, man bat diesen Vorfall noch einmal zu erzählen, man war außer sich. Fräulein von Flottwitz erzählte ihn noch einmal mit erhöhterer Glut, als schon das erste und zweite Mal. Ihre zarte, durchsichtige Haut färbte sich, die hellblauen Augen schienen Funken zu sprühen, ihre blonden Locken strich sie mit einer raschen Handbewegung zurück und setzte, als sie geendet, hinzu:

Im weiblichen Reubund hat der Vorfall allgemeine Theilnahme gefunden! Welche Verwilderung, wenn die heiligsten Besitzthümer des Vaterlandes, die Bürgschaften unserer Kraft und Stärke vor dem innern und dem äußern Feinde, nicht mehr sicher sind! Mein Bruder [1162] Wilhelm ist von dem Vorfall krank geworden und liegt zu Bett ...

Die Trompetta fügte ergänzend hinzu:

Ja! Der empörende Vorfall hat Gelegenheit zu einer sinnigen Demonstration gegeben. Die Baronin von Astern und die Hoflieferantin Herold schlugen im Reubund wie aus einem Munde vor, dem Cadetten von Flottwitz eine Säbeltasche zu sticken, die wir ihm aufbewahren werden, wenn er einst zu den grünen Husaren abgeht.

O Das ist schön! O Das ist charmant! rief wiederum fast Alles einstimmig. Nur eine männliche Stimme, die bisher nicht vernommen war, legte zum allgemeinen Erstaunen folgenden Widerspruch ein:

Um dem kleinen erschrockenen Cadetten von Flottwitz III. thut mir's leid. Aber wir leben ja nun einmal im gegenseitigen Kriege. Unsere Offiziere verhöhnen jeden Bart, jeden grauen Hut; so verhöhnen die Bärte und grauen Hüte wieder unsre kleinen Spielereien. Wenn man die Cadettenhäuser aufhöbe, würde man jedenfalls den Federungen unsrer Zeit am besten entsprechen. Alle Achtung für Ihren kleinen Bruder, (denn ich wünsche, daß er die unverdiente Säbeltasche bei den grünen Husaren einst mit Ehre trage), aber solche Conflikte sind nicht zu vermeiden, wenn der König diese kleinen Repräsentanten des alten soldatischen Kastengeistes noch so herumlaufen läßt. Die Zeit der Cadetten in dem alten Sinne ist vorüber.

Der Sprecher dieser mit lautlosem Befremden aufgenommenen, [1163] bittern Worte war selbst Militär. Eine hagere Figur, mehr groß, als mittel. Sein Haupthaar war in sonderbarem Widerspruch zu der Jugendlichkeit seiner Züge grau, ebenso der Bart; die starken Augenbrauen jedoch waren ganz schwarz und gaben dem scharfen, habichtartigen Blicke eine Kraft, die niederschmetternd wirkte. Beim Sprechen entdeckte man in dem schönen Munde die weißesten Zähne. Stirn und Schläfe waren edel und klar. Nur um den Mund lag eine gewisse Bitterkeit, die den Zügen des Antlitzes manchmal einen mephistophelischen Ausdruck gab, ohne ihn jedoch unheimlich oder beängstigend erscheinen zu lassen. Er trug eine Infanterieoffiziersuniform, die auf der Brust nach unten zu halb gelüftet war und ein Gilet von weißem Piquet sehen ließ, und Epaulettes.

Es war dies jener uns schon bekannte Major von Werdeck, ein Offizier, der früher nur seinem militärischen Berufe und mancherlei Studien gelebt hatte, seit dem neueren Umschwunge der Zeit aber vielfach in politischen Kreisen gesehen wurde und durch manche scharfe Äußerung, die man von einem Manne seiner Stellung nicht erwarten wollte, hier und da schon aufgefallen war. In neuester Zeit war auch er in den Reubund getreten, wie Viele versicherten mit der bestimmten Absicht, ihn zu sprengen. Dies unerhörte Attentat auf einen Verein, der es sich zur Aufgabe gestellt hatte, alle die von dem Throne gegebenen Concessionen zurückzugeben und gleichsam ihre Ertheilung zu bereuen, hatte ihn fast isolirt. Auffallend[1164] genug war es daher, daß er im Salon einer früher sehr eifrigen Reubündlerin, Pauline von Hader, erschien. Pauline hatte ihn aber ausdrücklich ersucht zu kommen; denn sie war jener Ultra-Partei müde und längst auf den Gedanken gerathen, eine gewisse Opposition gegen das Allgemeine gäbe ihr doch wol am Ende mehr Relief als das ewige Huldigen und Anerkennen.

Major von Werdeck kam ohne seine Gemahlin, die, eine geborne Kaminska, zu den lebhaftesten Opponentinnen der Gesellschaft gehörte. Man hatte schon vielfach an dieser Frau Anstoß genommen, ihr aber als einer Polin die extremen Äußerungen hingehen lassen. Dem Gemahl aber, von dem man anfangs erwartete, er würde ganz in seinem militärischen Bereiche verbleiben und diese häusliche »Wühlerei« nicht auf sich wirken lassen, galt im Geheimen schon die allgemeinste Entrüstung der Kreise, in denen diese beiden Gatten lebten. Es erregte eine offenbar beklemmende Stimmung, als Major von Werdeck hier so unbefangen eingetreten war und sich gleich als Opponent gegen die gemeinschaftliche Empfindung äußerte.

Als ihn Pauline begrüßte und ihm gedankt hatte für die Annahme ihrer Einladung, antwortete er, seine Frau entschuldigend, mit feinem Lächeln, er würde sich nicht haben entschließen können, heute Abend eine Vorlesung auf der Universität – Major von Werdeck schrieb sich dort alle Vorlesungen nach, die er hörte – zu versäumen, wenn er auf dem Zettel der Einladungen nicht auch Herrn [1165] Justizrath Schlurck bemerkt hätte – er grüßte diesen – er hätte ihn dringend zu sprechen ...

Schlurck verbeugte sich überrascht ...

Doch bitt' ich, sagte der Major, meine Privatangelegenheiten sollen die Erörterung wichtiger Dinge, z.B. die Cadettenfrage, nicht stören. Sie wollten etwas sagen, Fräulein?

Die Flottwitz bemerkte kühn und voll Verachtung vor diesem Offizier:

Längst, weiß man es, Herr Major, daß die Demokraten Sie zum künftigen Generalfeldmarschall auserkoren haben. Die neuesten Schwankungen des Reubundes sind Ihr Werk! Sie haben darauf angetragen, ich weiß nicht, ob im Ernst oder aus Ironie, daß Jeder von dem Bunde der Reue ausgeschlossen wird, der eine Tochter zu verheirathen hat!

Natürlich wurde über diese Bemerkung, trotz des Abscheus gegen Werdeck, gelächelt ...

Major von Werdeck wählte sich eben aus einer Schüssel von Riz glacé aux confitures einige eingemachte Kirschen und erwiderte, ohne aufzublicken, ganz ruhig, aber sehr scharf:

Mein verehrtes, gnädiges Fräulein von Flottwitz! Sie sind bekannt für eine Schwärmerin! Sie glühen wirklich für den Thron, dem Ihre Väter so viele Orden verdanken! Die Andern sind aber leider nicht so uneigennützig. Die Andern denken größtentheils nur an ihr irdisches Wohl und würden auch den Kosacken Weihnachtsbäumchen [1166] anstecken, wenn ihnen die Kosacken stilles Familienglück, eine Pension und gute Schwiegersöhne garantiren. Es gibt Menschen, denen unbedingt verboten werden müßte, politische Meinungen zu haben oder wenigstens sie zu äußern. Ich rechne mehr Gattungen dazu, als ich in diesem Augenblick aufzählen darf; aber unbedingt sollten von allen politischen Demonstrationen diejenigen Väter ausgeschlossen werden, die mehr als drei Töchter zu verheirathen haben ...

Diese Bemerkung schien auch gegen politisirende Frauen gerichtet und endete vorläufig den unerquicklichen Streit.

Werdeck sah sich nach Schlurck um, der ihm freundlich entgegenkam und an ein Fenster tretend Rede stehen wollte ...

In demselben Augenblick aber schlüpfte auch der Arm der Geheimräthin unter den des Justizrathes und Schlurck wurde in das türkische Zelt gezogen.

Es hat Zeit! sagte Werdeck und verbeugte sich sehr artig gegen die Wirthin. Er sprach inzwischen mit den Malern und erkundigte sich angelegentlich nach Leidenfrost, der ihm, wie wir wissen, Siegbert Wildungen zum Malen eines Porträts seiner Frau empfohlen hatte ...

Schlurck führte indessen die Geheimräthin in das türkische Zelt und begann:

Meine theuerste Gönnerin! Endlich ein ruhiger Augenblick ...

Ich brenne vor Ungeduld, daß Sie endlich sprechen, [1167] sagte Pauline. Welchen tröstenden Brief haben Sie mir geschrieben! Was gibt es Günstiges?

Ihr Scharfsinn hat manches Richtige geahnt; ... sagte Schlurck und spielte mit seiner Dose. Meine Tochter beichtet aber nicht und da Sie das kleine Ding nun heute gesehen haben, was denken Sie selbst aus ihr ergründen zu können?

O dies wunderbare Mädchen hat einen Willen! Ich sehe, daß ich da auf Alles verzichten muß ...

Dennoch erfuhr ich soviel, daß wirklich jenes Bild dem Prinzen von Werth ist und von einem jungen Mann, Dankmar Wildungen, der ihm befreundet scheint, ohne Zweifel in seinem Auftrage und durch Melanie's Vermittelung in einen Besitz genommen ist, dem man ihm nicht bestreiten kann. Denn die Familienbilder bleiben den Hohenbergs.

Durch Melanie's Vermittelung? sagte Pauline überrascht. Gestand sie Ihnen Das? Dankmar Wildungen? Wer ist Das?

Ich durfte sie nicht examiniren, antwortete Schlurck, sich nach seiner Tochter umsehend. Sie ist aufgeregt! Ich konnte nur Aussagen Anderer zusammenstellen, die meiner Frau, die Beobachtungen Bartuschs: genug, wenn Sie noch an dem Bilde hangen –

Um Alles in der Welt!

Ihre Freundin, diese liebenswürdige d'Azimont, sichert Ihnen ja Amandens Sohn. Was fürchten Sie?

Glauben Sie Das? Sie irren sehr! Egon und Helene haben gebrochen ...

[1168] Eine so schöne einnehmende Frau wird den Genesenden leicht versöhnen. Sie erhalten dann die Denkwürdigkeiten in aller Güte von ihm. Bis dahin verachten Sie die Welt um so mehr, als Sie ja Ihrer politischen Rolle eine neue Diversion geben und zur Opposition zu gehen scheinen! Ich sehe schon, wie die Trompetta und das loyale Wunderkind da diese Beziehung zu dem neuen Catilina, dem Major von Werdeck, verbreiten wird. Die Thür der »kleinen Cirkel« öffnet sich, wenn nicht aus Liebe zu Ihnen, doch nun aus Furcht ...

Um so mehr muß die Vergangenheit beseitigt sein – antwortete Pauline, des Spottes gar nicht gewahr werdend.

Man möchte glauben, Sie hätten einen Mord begangen.

Wer weiß! sagte Pauline lächelnd.

Schlurck sah Paulinen groß an und zog die goldne Brille in die Höhe. Da er aber an Paulinens Auge abnahm, daß sie, wenn auch gewaltsam, doch scherzte, zog er die Brille wieder herab und langte auf's neue seine Dose aus der Tasche.

Was foltr' ich Sie? sagte er. Sie überhörten vorhin einen Namen: Dankmar Wildungen. Morgen früh stellt die Polizei in der Wohnung zweier Brüder Siegbert und Dankmar Wildungen eine Recherche an. Der Obercommissär Pax, der Schützling Ihrer guten Madame Ludmer, deren Empfänglichkeit für die neuen Fortschritte der Kochkunst ich immer geschätzt habe, mußte mit in unser Geheimniß gezogen werden.

[1169] Welches Geheimniß? Wer sind denn diese Wildungen?

Schlurck nahm Anstand, seiner Alliirten das Misverständniß auseinanderzusetzen, das er durch seinen Geldermann-Deutz zuerst im Heidekrug veranlaßt hatte. Er begnügte sich zu wiederholen:

Sie erinnern sich von heute früh, gnädige Frau, daß ich vom Prinzen Egon wunderliche Dinge über seinen Antheil an der Johannitererbschaft und Ähnliches sprach. Alle diese Voraussetzungen haben eine andre Wendung bekommen, seitdem sich herausgestellt hat, daß ein gewisser Dankmar Wildungen es gewesen ist, den man in Hohenberg für den Prinzen Egon nahm. Dankmar Wildungen ist ein Verbündeter des Prinzen. Ihm gelang es, – wie Melanie daran betheiligt ist, weiß ich nicht, – das Bild der Fürstin Amanda sich anzueignen. Er besitzt es ... Wir aber entnehmen es von seinem Zimmer morgen in aller Frühe ...

Pauline erschrak über diese Eröffnung, erschrak über den Schein der Gewaltthat.

Sie fürchten das Aufsehen? fragte Schlurck.

Ich glaube, Sie wollen mich verderben, meinte Pauline. In dieser Zeit! Bei solchen Wirren dergleichen extreme Schritte?

Ist Das mein Dank, daß Sie mich für beschränkt halten? antwortete Schlurck in seiner ganzen Behaglichkeit. Die Recherche hat einen völlig gesetzmäßigen Zweck. Dankmar Wildungen hat sich in der Stadt Angerode eine eigenmächtige [1170] Gewaltthat erlaubt, eine Aneignung öffentlicher Dokumente. Glücklicherweise sind sie in die Hände der Gerichte gefallen; allein, da anzunehmen steht, daß er sich mit Dem, was man wiederfand, nicht begnügte, so werden die Betheiligten Sorge tragen, um so mehr noch eine Haussuchung bei ihm vorzunehmen, als sich des kecken jungen Mannes Spur seit einigen Tagen verloren hat – Verstehen Sie nun?

Sehr gut! Man nimmt bei dieser Gelegenheit auch jenes Porträt, wenn es sich findet?

Es findet sich – Egon ist seiner Krankheit wegen unzugänglich. Was bei ihm abgegeben wird, geht durch die Hände der Wandstablers ...

Ist jene Angelegenheit, die Grund zu der Recherche abgeben muß, bedeutend genug, um für sich allein eine so gewaltsame Handlung zu entschuldigen?

Es ist die Angelegenheit wegen der Johannitererbschaft.

Wie kommt aber jener verschmitzte junge Freund des Prinzen in so verwickelte Verhältnisse?

Das interessirt mich selbst. Vorläufig frag' ich: Mach' ich es recht?

Sie sind ein Zauberer! antwortete Pauline holdselig und ihre Brust athmete wie erlöst und neu belebt.

Das sagen Sie dem schönen eleganten Herrn dort, der eifersüchtig zu uns herüberschielt ...

Schlurck zeigte auf Heinrichson, der die Methode, ältere Damen zu verwirren, sehr wohl verstand und nur [1171] herübersah, um sich gleichsam eifersüchtig zu zeigen, was er nicht im mindesten war.

Mich aber entschuldigen Sie, liebe Freundin, daß ich mich nun heimlich nach einigen Worten mit dem höchst vernünftigen, aber unbesonnenen Major von Werdeck empfehle und Melanie allein zurücklasse. Der Wagen wartet auf sie. Sie bedarf meiner nicht.

Was haben Sie denn noch? Man servirt ja jetzt den Liebhabern erst gefrorenen Champagner. Sie Vortrefflichster aller Vortrefflichen! Wir bleiben nun erst recht beisammen, hören Sie doch! Die Flottwitz singt!

Lassen Sie mich mit der Flottwitz und mit dem Gesang! Um den Champagner thut es mir leid. Ich muß in die Loge. Propst Gelbsattel will heute einen Fremden einführen. Ich habe viel heute erlebt, viel Widerwärtiges, viel Störendes. Ich will den Tag fromm beschließen und recht andächtig heut Nacht zu Tisch gehen. Schade, daß man viel Französisch wird parliren müssen! Ich hätte Lust, heute nun nichts mehr anzustrengen als nur noch meine Zähne, was mir leider Mühe genug kostet, da es zwischen Zunge und Gaumen bei mir wie in Herkulanum und Pompeji aussieht. Adieu! In aller Stille! In aller Stille! Ich nehme jetzt schon französischen Abschied.

Französisch, sagen Sie? Wer ist denn der eingeführte Bruder?

Ein gewisser Sylvester Rafflard. Er reist um die Gefängnisse kennen zu lernen. Ein Menschenfreund. Wir werden viel Phrasen zu hören bekommen.

[1172]

Rafflard? Rafflard?

Kennen Sie ihn?

Rafflard? Wissen Sie, wer Das ist? Ich warne Sie, Das ist ein Jesuit.

Ah!

Ich gebe Ihnen mein Wort. Rafflard? Richtig. Rafflard! Ja, lieber Schlurck, erwerben Sie sich ein Verdienst um die Loge und warnen Sie sie! Es ist ein Jesuit.

Ich danke Ihnen! Nicht wegen der Loge. Warnen? Warnen? Das gesteh' ich Ihnen aufrichtig, der Loge wünscht' ich, es käme einmal wirklich ein recht gescheuter Jesuit über sie! Jesuiten haben wir genug, aber nur offene, nur sichtbare! Das ist so schlimm. Diese Esel verrathen sich gleich. Aber ein geheimer Jesuit, einer, der da reist, um die Gefangenen und ihr Loos zu – o Das ist prächtig! Geheimräthin, der Mann macht mir Appetit, sogar auf seine Phrasen. Woher wissen Sie Das nur? Er wird also über die Menschenliebe sprechen und dabei wahrscheinlich ganz auf etwas Anderes zielen! Das reizt meinen Verstand! Das unterhält mich! Warum? Sie denken vielleicht, ich gönne nicht meinen Schurzfell-Collegen einmal ein Abenteuer, das sie belehrt? Fällt mir nicht ein. Es ist ja unterhaltend zu sehen, wie eine Spinne mit Honigfüßen die Fliegen fängt! Merci! Merci, Madame! Die Jesuiten sind die einzigen Menschen auf dieser Viehweide, welche man die Erde nennt, die den Namen Mensch verdienen. Woher haben Sie Das?

Ich weiß es.

[1173] Dafür küss' ich Ihnen die Hand und wünsche Ihnen ganz in der Stille einen guten Abend und für morgen früh einen heitern glücklichen Tag! Die Polizei besucht die Wildungens um vier Uhr Morgens, nimmt das Bild, Oberkommissär Pax bringt es Ihnen um fünf, sechs, wann Sie wollen und ich will wünschen, daß es den Inhalt, den Sie ahnen, noch verschlossen enthält ...

Mit diesen Worten wollte sich Schlurck aus dem blauen Zelte zurückziehen, als ihm Werdeck artig entgegentrat und bei Seite zog.

Sie mußten flüstern.

Pauline deutete auf den Salon, wo die Flottwitz eben am Piano sang ...

Das enthusiastische Mädchen sang sehr ausdrucksvoll mit einer sonoren, vollen Stimme ein neues Lied von der Majestät, das sich fünfzehn Componisten bemüht hatten in Musik zu setzen und deren Melodieen sie alle auswendig wußte. Sie wollte die Gesellschaft veranlassen, ihre Meinung über diejenige Melodie abzugeben, die ihr die gelungenste schien.

Die Geheimräthin hörte erst in ihrer glückseligen Beruhigung theilnehmend zu, unterbrach aber zuletzt doch die an sich so löbliche, aber wenig amüsante Absicht der Flottwitz, indem sie ein allgemeines Thema zur Unterhaltung angab und dafür Sorge trug, daß Melanie, Heinrichson und Reichmeyer, dem sie sehr artig war, am meisten in den Vordergrund traten. Es wurde viel erörtert, viel Kluges und noch mehr Beschränktes mit Redseligkeit [1174] vorgetragen. Pauline war über die Maßen angeregt. Sie hatte eine Fülle von Thatsachen, in denen sie sich plötzlich wieder bewegen konnte. An Melanie, die ihr etwas Gleichartiges zu haben schien, richtete sie die meisten ihrer Apropos und hielt diese dadurch mehr wach, als heute in ihrem Charakter zu liegen schien. Heinrichson und Reichmeyer waren Melanie vom Atelier nicht neu, die politische Debatte erschien ihr zu schroff, der kleine Roman mit dem Geheimrath ermüdete sie; es war unter den zwölf bis zwanzig, selbst jüngern Männern nicht Einer, der ihr den Gedanken an den männlichen, feurigen, thatbewußten Dankmar hätte verscheuchen können.

Sie lieben! flüsterte ihr Pauline, als sich wieder Gruppen gebildet hatten, flüchtig in's Ohr ...

Melanie erröthete.

Sehen Sie! fuhr Pauline fort und Sie lieben erst seit kurzem.

Gnädige Frau, sagte Melanie schalkhaft und doch nicht ohne Ernst; ich möchte wol von Ihnen erfahren, wie ich es mit meinem Herzen halten soll. Wie ein Mann sein muß, um ihn zu lieben, weiß ich. Wie er aber sein muß, um ihn zu heirathen, Das bitt' ich, sagen Sie mir!

Pauline lächelte, sammelte sich einen Augenblick und entgegnete:

Nehmen Sie Den, der Sie entweder ganz zur Sklavin oder ganz zur Herrscherin macht!

Melanie überlegte sich diese Antwort und fuhr fort:

Sklavin könnt' ich einem Mann gegenüber nur dann [1175] sein, wenn ich ihn liebte oder das Gefühl einer unaussprechlichen, unverletzbaren Schuld in mir trüge. Schuld! Schuld! ... Über Was setzt sich wol ein Liebender Alles hinweg?

Wenn er Sie wahrhaft liebt, über den Mangel an Schönheit. Wenn er Sie wahrhaft liebt, über den Mangel an Geist. Aber die Tugend, Melanie, ist wie der Dichter sagt, kein leerer Wahn. Über die setzen sich nur die Männer hinweg, denen Sie eine Herrscherin sind! Allen diesen Schlüssen zufolge dürfen Sie also entweder nur einen Bettler heirathen oder einen Fürsten. Ein Fürst würde Sie nämlich schon gar nicht nehmen, würde durch Ihre Heirath von der gewöhnlichen Ordnung des Herkommens gar nicht abweichen, wenn er Ihnen nicht eben auch Alles vergäbe ...

Melanie verfiel in ein ernstes Sinnen. Es war ihr, als riefe in ihr eine teuflische hohnlachende Stimme:

Entweder also Hackert oder Egon! Dazwischen gibt es nichts ...

Pauline sah auf das türkische Zelt, wo noch immer Werdeck und Schlurck flüsterten ...

Der Sanitätsrath sprach gerade am lautesten. Er unterhielt die Gesellschaft durch manche Mittheilungen aus den höhern Kreisen, in denen er sich bewegte und die er ohne indiscret zu sein wiederholen konnte. Dem größeren Theile der Anwesenden hatte aber der Major Werdeck die Unbefangenheit genommen; man glaubte, in keinem reinen Wasser mehr zu sein. Hier stritt man nicht gern, [1176] sondern handelte. Die Enragirtesten scharten sich zur Trompetta und Flottwitz und sprachen oft so leise, daß der Geheimrath glaubte, es fehlte wol irgend an etwas und die Bedienten rief. Harder's Anblick war es dann, der Melanie's erschreckte Lebensgeister weder schürte und ihr Gelegenheit gab, eine leidliche Unbefangenheit zu sammeln, um sich mit dem hinterlassenen Eindrucke, daß sie dem Rufe ihrer Liebenswürdigkeit vollkommen entspräche, vielleicht bald zu entfernen. Pauline, die diese Absicht merkte, hielt sie aber fest und schien sie veranlassen zu wollen, nach dem türkischen Zelte zu folgen.

Was hat der Justizrath nur mit dem Major? sagte sie lauschend.

Man hörte die abgerissenen Worte aus dem leisen Gespräche:

Kaminska ... Sibirien ... Kloster zum Herzen Jesu ... Frankreich ... Schwester Jagellona ... Vermögensvertheilung ... Certificate ... Leidenfrost ... Depositalgelder ...

Geschäftssachen! sagte Melanie. Der arme Vater ist geplagt! Selbst hieher verfolgt ihn die stündliche Mühe und Sorge!

Pauline wußte aber nicht, daß sie nur das Wort Leidenfrost verscheuchte – weil sie durch diesen Namen an ein Bild erinnert wurde, das ihr die schmerzlichsten Empfindungen weckte ...

Melanie ging im Saal auf und ab. Als sie zurückkehrte, war ihr Vater verschwunden, Werdeck im Gespräche mit Paulinen ...

[1177] Sie mußte Heinrichson und Reichmeyern Rede stehen, die von ihrer Reise hören wollten, von ihren Plänen, die Malerei fortzusetzen, von ihren Aussichten für die Geselligkeit des Winters ...

Sie antwortete zerstreut, nicht in gewohnter Laune. Es war ihr zu geräuschvoll geworden, sie war nicht mehr der Mittelpunkt des Cirkels, die Zudringlichkeit des Geheimraths verhinderte ihre Triumphe und sie fühlte plötzlich, daß eine ungeheure Last sie drückte. Es drängte sie mit tausend Stimmen, die innerlich riefen: Fort! Fort!

Sie ergriff die Hand der Geheimräthin.

Gute Nacht, Excellenz! sagte sie.

Keine Förmlichkeiten, meine Liebe! Aber Sie wollen wirklich gehen?

Pauline erklärte, sie hätte noch auf ein tête a tête am Schluß des Abends mit ihr gehofft ...

Ich bin noch von der Reise ermüdet ... sagte Melanie.

Ich rechnete auf eine vertrauliche Annäherung ...

Sie sind zu gnädig ... Erhalten Sie mir diese Gesinnung!

Nun denn, sagte Pauline und zog das ihr räthselhafte Mädchen noch einen Augenblick bei Seite; soviel ich Sie heute kennen gelernt habe, liebe Melanie, gehören Sie zu den Unruhigen und Strebenden! Sie haben ein Herz und fürchten, von ihm getäuscht zu werden. Die Philosophie Ihres geistreichen Vaters, den ich so hoch verehre und der mir täglich neue Beweise seiner Anhänglichkeit gibt, hat Ihnen zu früh schon den Blütenstaub vom Leben gestreift: überall fürchten Sie Illusionen! Fürchten Sie nicht [1178] zu lange, wagen Sie! Illusionen sind dazu da, daß man sie überwindet und sich in seinem Charakter stärkt. Es hilft nichts, Sie müssen schon einmal sich entschließen, einem Schmerze die Brust darzureichen, nicht ihm aus dem Wege zu gehen. Vertrauen Sie manchmal einem Freunde, einer Freundin! Wählen Sie mich dazu! Ich bin so eine alte Wetterfahne, die schon lange im Sturme des Lebens steht und andern Menschen zeigen kann, woher der Wind und die Lüfte kommen und die – nicht selbst mehr an ihren Sitz gelangt. Ich weiß, wie es in jungen Knospen wogt und stürmt und wie die holden Blätter, die zu schlummern scheinen, im Aufruhr sind! Mein Leben ist Erinnerung. Nutzen Sie manchmal diese stille Arbeit meines Kopfes und Herzens. Sie finden eine Mildthätige, die nicht für sich, auch für die Andern sammelte.

Diese ungemein weich und fast lieblich vorgetragenen Worte erschütterten Melanie. Dennoch konnte sie nicht umhin, während Pauline so sprach, einen lächelnden Seitenblick auf den jungen Adonis Heinrichson hinüberzuwerfen. Ach, auch Pauline verstand dies Lächeln und erwiderte es mit einem gewissen schwärmerisch gelassenen Blicke, als wollte sie sagen: Der Schatz der Liebe ist ja unergründlich! ... Auch der Ludmer erwies Melanie, die ihre Stellung kannte, viel Artigkeit und Pauline konnte, als das junge Mädchen endlich verschwunden war, nicht läugnen daß Helene d'Azimont einen großen Kampf würde zu bestehen haben, wenn wirklich Melanie entweder unmittelbar mit Egon oder durch jenen räthselhaften [1179] Freund, Dankmar Wildungen, mit ihm in Verbindung stand.

Die Gesellschaft löste sich nun auf. Werdeck's Rückkehr aus dem türkischen Zelte brachte nur Zündstoff zu Hader und Streit. Seine kaustische, scharfe Art verwundete nach allen Seiten und die Flottwitz stritt mit einer Heftigkeit, daß die Grazien flohen. Drommeldey war längst schon zu Egon's Krankenbett ins Hohenberg'sche Palais gefahren, Graf Franken in die »kleinen Cirkel«. Graf Brenzler, Baron von Ried hielten nicht mehr Stand gegen die scharfe Logik des Majors. Endlich ging auch dieser, nachdem er Paulinen viel Artiges gesagt und die universale Geschäftsthätigkeit des Justizraths bewundert hatte, der ihm einen Kopf wie ein Repositorium mit tausend Fächern zu haben schien.

Was wollen Sie mit ihm? Doch kein Prozeß? fragte Pauline.

Angelegenheiten meiner Frau ...

Wie geht es ihr?

Sie sollten uns besuchen! Sie sollten ihr Bild sehen. Sie läßt sich für eine alte Gönnerin ihrer Familie in einem polnischen Kloster malen.

Von Ihrem Protégé, dem bizarren Leidenfrost?

Von einem jungen talentvollen Maler, Namens Wildungen! Sehen Sie sich ja das Bild an! Es wird vortrefflich! Gute Nacht, liebe Geheimräthin!

Damit ging der Major und ließ Paulinen in Erstaunen zurück, hier wieder den Namen Wildungen zu hören ...

[1180] Die Trompetta und die Flottwitz hätten jetzt gern das Feld allein behauptet und noch mit der Geheimräthin über Wahlen und mancherlei Demonstrationen, besonders über den »Bazar« zum Besten der verwundeten Krieger, ja schon über die große vorbereitete Weihnachtsbescherung in den Kasernen gesprochen ...

Allein sie sagte ganz kurz und schroff:

Laßt mich heute mit Eurem dummen Zeug in Ruhe! Gute Nacht!

Die beiden Inseparables gingen verdrüßlich. Doch hatten sie im Wagen der Trompetta reichlichen Stoff zur Erörterung aller Vorkommnisse dieses Abends. Sie glossirten auch darüber, daß der einzige und letzte von Allen, der zurückblieb, wirklich der Maler Heinrichson war ...

Heinrichson mußte jeden Abend bei solchen Gelegenheiten die Schlußsentenz, gleichsam die Moral des Abends, aussprechen ...

Wie ist Ihnen, Pauline? fragte er auch heute.

Still und bewegt! antwortete sie mit Goethe und reichte dem Freunde die Hand zum Kusse und zum Abschied.

Melanie aber war unten von ihrem Bedienten empfangen und in den Wagen geleitet worden, auf dem Neumann inzwischen wohl geschlafen hatte ...

Es mochte fast zehn Uhr sein.

Die Luft war, man fühlte es an den geöffneten Fenstern der Villa, linde und mild. Zitternd bebten in ihrem Glanz am dunkelblauen reinen Himmel die Sterne; nur da und dort zog über sie her ein Nebelschleier, der vielleicht nur [1181] der Widerschein von unzähligen unsichtbaren Sternen war.

Noch einen flüchtigen Blick warf Melanie durch den Vorgarten fliehend auf die hellerleuchteten Fenster des oberen Stockes, bewunderte die elegante Einrichtung des Vorbaus, die sorgsame Pflege der Beete ...

Fliehend, sagten wir. Denn der jungen Excellenz, die ihr schon auf der Treppe nachgetrippelt kam und durchaus noch mit ihr sprechen wollte, mochte sie nicht Rede stehen.

Als sie im Wagen saß und dieser langsam durch die andern, die auf ihre Herrschaften warteten, sich durchwand, ergriff sie Mismuth und Schmerz.

Sie hatte die leidenschaftlichsten Eingebungen ihres Ehrgeizes niederzukämpfen und fühlte aus Gründen, die ihr selbst nicht klar waren, einen unaussprechlichen Neid gegen Helene d'Azimont, in der sie etwas entdeckt hatte, was sie selbst nicht besaß ... Seelen-Poesie.

Sie mußte sich gestehen, daß es Menschen gibt, die um sich her, selbst wenn sie stumm und dem Allgemeinen abgewandt scheinen, einen Zauber verbreiten, mit dem die vergängliche und noch so blendende Wirkung der Schönheit keinen Vergleich aushält.

Melanie war besonnen genug, sich zu sagen, daß sie sich diesen geheimnißvollen Reiz nicht geben konnte. Sie wurde geliebt von Menschen, die sie nicht wieder lieben konnte. Selbst diese heutige Scene mit Siegbert Wildungen! Dies war nicht jener unternehmende, starke, sie [1182] bändigende, sie in Asche verwandelnde Geist! Dem gegenüber war sie nicht Sklavin und auch nicht Fürstin! Sklavin an sich nicht, aber auch eine Herrscherin nicht. Sie hätte ihren Sklaven geringschätzen müssen und Das konnte sie wiederum mit Siegbert nicht. Dankmar aber! Dankmar! Das war ein Sehnsuchtston, der durch ihr Inneres wehklagend rief. Wie gewann Dankmar wieder, wenn sie ihn verglich mit den Männern, die sie eben im Salon der Geheimräthin gesehen hatte! Dieser Reichmeyer, dieser Heinrichson! Wie verächtlich erschien ihr diese Gattung von Salonmenschen, die ihr Glück durch eine Lüge machen und die Petitmaitres vornehmer Launen sind! Selbst Lasally, der sie liebte und dabei offen gestand, daß er durch ihr Vermögen doch nur sich und seine Pferde retten wollte, selbst der war ihr bedeutender und erschien ihr liebenswürdiger ... Lasally log doch nicht! Es war ein blasirter, desparater, mürrischer, junger Mann; aber er kam von allen Männern, die sich ihrem Herzen eingeprägt hatten, Dankmarn in der That am nächsten!

In diesem Augenblicke gedachte sie auch Hackert's ... Kaum hatte sie mit Grauen der Worte sich erinnert, die Pauline sprach, daß den Mangel an Tugend ihr nur ein Bettler verzeihen würde oder ein Fürst, als ihr etwas Entsetzliches geschah ...

Sich allein im Wagen glaubend, rollte sie durch die sternenhelle Nacht, drückte die Augen zu, hüllte sich in ihren Shawl und glaubte sich nur von dem kühlenden Lufthauche [1183] belauscht, der durch die herabgelassenen Fenster des geschlossenen Wagens strömte ...

Da fühlt sie sich plötzlich von einem kräftigen Männerarme umfangen und ein stürmischer Kuß brennt auf ihren Wangen ...

Der Todesschreck hinderte ihren Aufschrei.

Sie fuhr in dem niedrigen Raume empor ...

Der aber, der sie mit gewaltigem Arme niederdrückte und mit glühendem Tone das Wort: Melanie! Bist ruhig! flüsterte, ... war Hackert.

Sie sah's! Sie fühlt' es! ... Sie wollte schreien.

Aber halb ohnmächtig, willenlos, elend, zum blassen Tod entsetzt sank sie auf die Kissen des Wagens zurück, der funkenstiebend, donnernd in die Stadt rollte.

[1184]
4. Capitel. Brandgasse: Nummer Neun
Viertes Capitel
Brandgasse: Nummer Neun

Das Viertel, das zwei Stunden früher Siegbert Wildungen aufsuchte, ist das älteste in der Stadt.

Die Brandgasse selbst ist so schmal, daß in ihr kaum zwei Wägen sich begegnen können, ohne bis dicht an die Häuser auszuweichen. Diese Häuser sind hoch und mit überhängenden Stockwerken so gebaut, daß sie sich von oben mehr nähern als von unten. Alle diese Häuser, aus altem Sandstein und dicken geschwärzten Eichenbalken gebaut, haben eine ungewöhnliche Tiefe und werden meistens noch durch Höfe verlängert, von denen einige neuer sind als die Vorderhäuser, da zu verschiedenen Zeiten in diesem alten Stadtviertel Feuersbrünste wütheten. Ungeachtet der Name dieser Straße daher entstanden sein mochte, daß die Flammen sie öfter heimsuchten als andere; ungeachtet eine allgemeine durchgreifende Zerstörung zum Besten des gesunderen Luftzuges vielleicht für die Stadt selbst zu wünschen wäre, so schreckte man doch bei dem Gedanken zurück, welche große Anzahl ärmster Familien dabei in Lebensgefahr gerathen würde, denn keine Straße war volkreicher als diese Brandgasse.

[1185]

Der Verlust an Hab' und Gut würde vielleicht durch die Mildthätigkeit ersetzt worden sein, obgleich doch selbst in diesen dunklen alten Wohnungen mit den Giebeln und Galerien sich mancher stille Sparer versteckt hielt und sich durch weiße Gardinen, Blumenstöcke und Vogelkäfige an seinen kleinen, mit Blei zusammengelötheten Fensterscheiben als ein Wohlhabender verrieth. Freilich alle Blumen und Vogelkäfige vor den kleinen Fenstern in der Gasse selbst und den Hinterhöfen konnte man nicht für ein Zeichen des freundlicheren Lebenslooses halten, denn diejenige Armuth wenigstens, die sich geistig nicht ganz verwahrlost, schmückt sich gern mit Blumen und gibt selbst einem Vogel im Käfig von ihres Daseins spärlichen Brocken ab.

Mehre der ältesten dieser Häuser in der Brandgasse waren mit jenem Angeroder Kreuze der Ritter von St.-Johannes geziert. Doch sah man nur die drei Blätter des Kleeblattes an den Ecken des heiligen Symbols, zum Zeichen, daß diese Bauten noch über den Zeitpunkt hinausreichten, wo die größere Anzahl der Ritter dieses Ordens in den Schooß der evangelischen Kirche überging.

Aber auch diese Häuser gehörten zu jener Verlassenschaft, die man damals dem Ritter Hugo von Wildungen angewiesen, als die unrechtmäßigste und dreisteste Besitzergreifung von der Welt durch die allgemeinen Wirren damaliger Zeit zugelassen und stillschweigend anerkannt wurde. Auch diese Häuser wurden von Sehlurck für die Commune verwaltet und oft genug sah man Bartusch in [1186] seinem grauen Rock hier Trepp auf Trepp ab schleichen und die gerichtliche Execution den Miethern androhen, die ihm von den sogenannten Vizewirthen als saumselige Zahler bezeichnet wurden.

Diese Vizewirthe bewohnten oft die unsauberste Spelunke von allen; aber sie zahlten keine Miethe. Nur mußten sie sich als fleißige, zuverlässige Männer in der Hut des Hauses bewähren und die einzelnen Wochengroschen, die sie von den Bewohnern sammelten, pünktlich in der großen Schreiberei des Notars und Administrators Justizraths Schlurck abliefern.

Der Vizewirth des Hauses Brandgasse Nr. 9 war ursprünglich ein Schlosser, dann aber durch seine Frau halb ein Flickschuster, halb durch seine eigene Brauchbarkeit Polizeidiener. Dieser vielseitige Mann hieß Mullrich. Die Flickereien alter Schuhe und Stiefel – neue zu liefern übernahm Mullrich nicht – besorgte seine Frau, die diese Arbeiten in Pech und Leder von ihrem ersten seligen Gatten gelernt hatte. Der zweite gab die Schlosserei auf, da er in die Lage kam, dem Staate, dem Gerichts- und Polizeiwesen in treuen Funktionen zu dienen, zu deren äußerer Unterstützung sein mürrisches, brummiges Gebahren ihm sehr zu Statten kam. Die Vergünstigung, Vizewirth in diesem Communalhause der Brandgasse zu sein, verdankte er seiner polizeilichen Stellung; denn was gab es hier nicht in diesen Spelunken, in diesen Höhlen des Jammers und Verbrechens zu beobachten! Der ehemalige Schlosser war ein Dietrich der Polizei geworden.

[1187] Seine Freiwohnung bestand aus zwei Stuben, nebst einem Kamin auf einem dunklen Vorplatze, Alles im tiefsten Kellergeschosse des Hauses Brandgasse Nr. 9. Man behauptete, die kinderlosen Mullrichs hätten durchaus nicht nöthig gehabt, in einem Souterrain zu wohnen, das bei den Frühjahrsüberschwemmungen oft unter Wasser gerieth und bei dieser Gelegenheit mit Glück die höhere Rattenjagd zu betreiben erlaubte; allein man nannte dieses würdige Ehepaar geizig, eine Meinung, die wir durch das Wohnenbleiben in diesem Freilogis doch kaum bestätigt finden möchten. Ein Freilogis ist für jeden Stand eine so unschätzbare »Gabe Gottes«, daß sich Frau Mullrich, von der wir diesen Ausdruck entlehnen, hätte der Sünden schämen müssen, wenn sie es aufgegeben hätte; zu geschweigen, daß die Einnahme von ihrem Verdienste als Flickschusterin noch durch die günstige Lage des Ortes und jene Superiorität unterstützt wurde, die der Vizewirth dieses Hauses nicht nur über einige leidlich respectable Einwohner des Vorderhauses, sondern über das ganze Gewimmel von drei großen Hinterhöfen behaupten durfte. Auch in polizeilicher Hinsicht hatte Mullrich durch dies Freilogis, das er im Frühjahr mit den Überschwemmungen und dem Hervortreten des Grundwassers und in allen Jahreszeiten mit den Ratten zu theilen hatte, doch so viele Annehmlichkeiten, daß er die Gelegenheit, hinter manche Diebshehlerei zu kommen und sich in seinem Spionirberufe preiswürdig zu bethätigen, nicht gern aufgab. Frau Mullrich war eine Dame, die die [1188] emsigste Thätigkeit liebte. Wer weiß, ob sie in einem bessern Quartier hätte auf ihrem Schuster-Dreibein sitzen und zugleich durch ein kleines Schiebfenster, das durch die dunkle Hausflur und durch das Kellerfenster, das auf die nicht viel hellere Straße ging, soviel ihre Spürkraft Anregendes entdecken können. Mullrich ohnehin war den ganzen Tag unterwegs und hatte Gelegenheit genug, auf den schönsten Promenaden, wo es Taschendiebe zu beobachten und Steckbriefe zu vergleichen gab, frische Luft zu schöpfen.

In der Regel kam er, wenn es nicht außerordentliche Fänge gab, um acht Uhr Abends nach Hause, verzehrte dann sein Käs und Brot, trank ein hohes Glas des besten, schäumendsten Dünnbieres und legte sich zeitig zur Ruhe, während seine Frau nun erst aufpaßte, wer zu spät nach Hause kam und für das Öffnen der Hausthür einen Pfennig oder Dreier zahlen mußte. Dem Nachtwächter, der eigentlich dies Privilegium des Hausöffnens für die Spätlinge beanspruchte, hatte sie glücklich diese nach Jahresschluß selbst bei den Armen nicht unergiebige Quelle des Erwerbes abzuringen gewußt. Einige Diebstähle, befördert durch den gutwillig hergegebenen Hausschlüssel des Nachtwächters, hatten ihre desfallsigen Auseinandersetzungen vor dem grauen Bartusch unterstützt. Rechnet man nun noch hinzu, daß die vermögenden Einwohner des Hauses Brandgasse Nr. 9 und seiner drei Hinterhöfe einen Hausschlüssel von ihr, für monatlich drei Groschen, miethen konnten und in der That vierzehn [1189] solcher Hausschlüssel im Gange waren, so ergab dies eine Summe, die, wenn man einige unvermeidliche Ausfälle dabei mit in Anschlag brachte, sich immer jährlich auf das stattliche Capital von etwa funfzehn Thalern belief. Die Pfennige aber oder die von Betrunkenen in der Zerstreuung gegriffenen Groschen – manchmal freilich auch zinnerne Knöpfe! – brachten jährlich mindestens eben soviel ein und da war es wohl zu begreifen, wie Frau Mullrich, vor zwölf, ein Uhr nicht zu Bett ging und des Morgens noch schlief, während ihr Gatte schon »aus den Federn« kroch, Feuer anmachte und Sommers und Winters den Kaffee oder ein dem Kaffee nicht unähnliches Surrogat selbst kochte für die erste innere Erwärmung des innersten Menschen.

Es war nach sieben Uhr, als Mullrich seinen heutigen Abendimbiß, der nicht aus Käse, sondern einmal zur Abwechselung aus drei geschlagenen oder gerührten Eiern und Butter und Brot bestand, verzehrte und ruhig die Rapporte seiner Frau anhörte.

Die Pinnen sind all, sagte Frau Mullrich und meinte unter Pinnen gewisse kleine Nägel, die unter die Schuhe geklopft werden.

So? war Mullrichs bedeutungsvolle Antwort. Er wußte, daß es sich um eine finanzielle Erörterung handelte.

Nummer 76 will uns welche verkaufen, das Schock zu fünf Pfennige –

Der alte Nagelschmiedgesell sieht ja ganz reputirlich aus. Stiehlt denn der Kerl? sagte Mullrich phlegmatisch.

[1190] Bewahre! antwortete die Ehehälfte. Er muß sie wol verkaufen. Ist ja sein Lohn! Jeden Sonnabend bringt er einen Sack Nägel mit. Baar Geld hat so ein Meister nicht.

Drum! Drum! meinte Mullrich. Dacht' ich doch neulich, der Nagelschmied bettelte. Vorm Thor sah ich ihn so scheu immer in die Häuser gehen, aus einem heraus und in's andere hinein – und die Rocktaschen ganz voll und ganz schwer. Dacht' ich nicht, er holte sich so Brot zusammen? Waren Das die Nägel! ... Fünf Pfennige für's Schock? Nimm sie! Er läßt sie Einem auch für viere! Wenn du zwei Dutzend Schock nimmst, gibt er noch eine eiserne Kramme zu für den alten Spiegel, den die Mamsell Nr. 17 dagelassen hat. Das lange Windspiel hat uns doch richtig betrogen. Brennt uns mit 14 Wochen Miethe durch, macht vier Thaler und geht bei Nacht und Nebel davon. Sollen uns an die Sachen halten! Ein alter zerbrochener Spiegel und eine Bettstelle –! Die Betten und das Waschlavoir nimmt sie mit und was sie zum Anziehen hat trägt sie auf dem Leibe. Sie ist nach Hamburg und es ist eine Schande, daß man nun so Was nicht gleich mit dem Telegraphen hinterher melden kann! Wozu sind nur die Dinger!

Frau Mullrich berichtigte hier mehrfache Irrthümer ihres Mannes. Erstens tadelte sie ihn bei dieser Gelegenheit, daß er sich gerührte Eier für die Nacht bestellt hätte, was eine zu hitzige Speise wäre; dann aber sagte sie:

Eine Kramme noch für ihren Spiegel? Und die Bettstelle auch behalten? Da könnte Einer dabei bestehen!

[1191] Heute gegen Uhrer viere war der alte Graue hier und ich sagt's ihm gleich: Die Mamsell Nr. 17 ist durchgegangen, die Miethe ist nicht gezahlt, macht vier Thaler und der Spiegel und die Bettstelle macht einen Thaler, ist für Auslagen, die sie mir schuldig geblieben ist, Seife und Licht und zwei Hausschlüssel ... bleibt immer vier Thaler!

Zwei Hausschlüssel? Wie denn so zwei Hausschlüssel?

Ha! Ha! Wie ich von zwei Hausschlüsseln sprach, drehte sich der alte Sünder um und wollte sich nicht in dem Spiegel sehen lassen – weil er ganz roth wurde.

Roth? Warum denn roth und zwei Hausschlüssel?

Ach! Schon vor elf Wochen! Wie ich ihm da gesagt hatte – Herr Bartusch, sagte ich, die Mamsell Nr. 17 zahlt keine Miethe, da wurde er dazumal grob, wie immer, und kletterte selbst zu ihr hinauf. Schon zwei Wochen nicht! rief ich ihm nach. Nach einer halben Stunde kam er wieder und mit einer ganz jämmerlichen Miene. Armes Mädchen! sagt' er. Muß sich von ihrer Hände Arbeit ernähren – hat keine Eltern – und wie er dann thun kann, als wenn er ein Erbarmen im Leibe hätte wie die ewige Güte – kaum ist er damals fort – das sind nun elf Wochen – kommt die Lange herunter und will noch einen Hausschlüssel für einen Freund. Aha! dachte ich, für einen Freund! Ich gab ihr den Hausschlüssel. Kostet drei Groschen monatlich, Mamsell, sagt' ich. Wird Alles bezahlt werden, und so ging sie schnippisch davon, als wenn sie einen Ehemann gekobert hätte. Und richtig, ich hab' ihn [1192] wohl erkannt, wie er dann am nächsten Abend ankam nach zehn Uhr, in einem großen Mantel –

Herr Bartusch! sagte Mullrich erstaunend, über die »Enthüllungen« seiner Frau.

Schleich du nur, dacht' ich, fuhr seine Ehehälfte fort. Wer sind Sie Herr? Wo wollen Sie hier hin? rief ich. Nummer 17! piepte es und rasch in den Hof, wie eine Katze, so genau fand er sich zurecht. Und das dreimal! Nachher ging's ja mit Mann und Maus auf das Schloß von dem alten Fürsten und richtig! Mein Männchen kommt auch nicht wieder und den Hausschlüssel hat er bei sich behalten. Die Mamsell zahlt keine Miethe, zahlt keinen Hausschlüssel, der Freund ist fort und eines Abends sie auch, bis auf ihr Mobiliar, ihren Spiegel und ihre Bettstelle. An die halten wir uns. Männchen mag nun sehen, wo er die Miethe kriegt. Wer weiß, wo die Lange steckt! Es hat schon oft einmal geheißen: Hamburg, und hernach war's blos die Hamburger Straße.

Diese harten Verleumdungen über Bartusch, den eigentlichen Regenten dieser Häuser, wurden von Passanten unterbrochen, die an dem Schaufenster des Kellergeschosses von der dunklen Hausflur aus sich niederbeugten und in die noch »schummrige« Stube des Vizewirths hinuntersprachen.

Es waren dies zuvörderst Drehorgelspieler, die wegen eines Hausschlüssels parlementirten. Sie hatten heute einige Tanzorte mit ihren melodischen Klängen zu bedienen, wo sie lange auszubleiben gedachten ...

[1193] Er wurde ihnen leihweise für einen Dreier und nur für diese Nacht bewilligt mit vielen Mahnungen, ihn zu schonen, nicht zu verlieren, Mahnungen, die sich mit einem höflichen Übergange in zweckentsprechende Drohungen verliefen.

Es war nach sieben. Die Handwerker und Arbeitsleute, die im Hause wohnten, kamen nun von der Arbeit. Kinder, Frauen, Mädchen, Männer, rüstig und hinfällig, bunt durcheinander ...

Frau Mullrich ließ sie Alle mit scharfprüfenden Augen die Revue passiren. Bei Jedem, der ihr fremd schien, öffnete sie das kleine Schaufenster und sah mit ihrer langen Spitznase hinterher ...

Hat die Klapperfuß wieder einen Neuen? fragte sie, aufmerksam auf einige ihr unbekannte Passanten.

Gemeldet ist keiner, sagte Mullrich und wies auf ein schmuziges Buch, in dem die ganze Bewohnerschaft verzeichnet stand.

Es gehen heute so viel fremde Gesichter aus und ein ...

Bei Nr. 40 ist viel Verkehr ...

Nein, Mannspersonen mein' ich! Mannspersonen! Da geht ja die Klapperfuß! Sieh den Staat! Guten Abend, Madame Klapperfuß! Und die Mamsell Tochter! Mullrich, ich glaube, da ist's schon wieder ...

Nicht richtig! Das wäre das Fünfte?

Diese Menschen! Den frommen Herrn, der sie neulich über ihr Sündenleben ermahnen wollte, haben sie fast zur Treppe hinunter geworfen ...

[1194] War lange keiner vom Verein da? Die Bibeln sind ja bald all ... Nur noch zwei auf'm Lager ... Der Buchbinder in der Schulstraße hat erst neulich gefragt: Herr Mullrich, keine neuen englischen Bibeln?

Der Nagelschmiedgesell, dem wir eine anboten, ist recht fromm und will sie behalten ... meinte Frau Mullrich, geschmeichelt von der Artigkeit des geschäftsfreundlichen Buchbinders.

Aber Nr. 25 ließ uns doch eine an Zahlungsstatt ... Wir müssen einmal bei dem Verein anklopfen; es ist doch immer ein gutes Geschäft.

Sei vorsichtig, Mullrich! Die durchtriebene Person, die Louise Eisold, hat uns erst neulich gedroht, sie wollte den ganzen Commersch mit den Bibeln anzeigen.

Mullrich schwieg erschrocken.

Zum Verständniß dieser aphoristischen Abendunterhaltungen des Herrn und der Frau Vizewirthin wollen wir aus der reichen Chronik dieses Hauses nur einige kleine Personal- und Sittennotizen geben.

Die mehrerwähnte Madame Klapperfuß z.B. beherbergte im ersten Hinterhofe auf vier Zimmern eine Anzahl von Gesellen, die sie kasernenartig in »Schlafstelle« hatte. Die Zahl schwankte meist zwischen achtzehn bis zwanzig. Sie schliefen je zwei und zwei in einem Bett und hatten für Waschwasser, Handtuch, Bett- und Leibwäsche und Frühstück eine Summe in Bausch und Bogen zu zahlen, die jeden Sonnabend berichtigt werden mußte. Madame Klapperfuß verdankte der Präcision, mit der sie [1195] dies Schlafstellengeschäft betrieb, die Mittel, sich auf Volksbällen und Pikeniks der Vorstadt durch Garderobe und Appetit auszuzeichnen. Ihre Begleiterin vorhin war ihre Tochter Demoiselle Klapperfuß, die von verschiedenen, gerade nicht sehr stabilen, sondern ab- und zugehenden Vätern eine Anzahl Kinder aufzuweisen hatte, die jedoch von der Großmutter mit ebenso vieler Zärtlichkeit behandelt wurden, als wären sie der legitimsten Ehe entsprossen.

Die Vereine zur Bekämpfung der Unsittlichkeit des Volkes hatten hier in der Brandgasse Nr. 9 ein weites Feld. Allein die Treppen waren sehr steil, die Thüren sehr eng. Den Missionären dieser braven Institute geschah zuweilen das Widerwärtige, daß die verstockten frechen Sünder sie alle Unannehmlichkeiten der Lokalität empfinden ließen. Demoiselle Klapperfuß hatte z.B. einen Abgesandten der Kirche, der der am nächsten Sonntag stattfindenden Taufe ihres vierten unehelichen Kindes eine strenge Rüge, ja ein, freilich katholisch klingendes Wort, von Kirchenbuße züchtigend vorhergehen lassen wollte, jene schnöde Abfertigung angedeihen lassen, die Frau Mullrich vorhin andeutete.

Überhaupt konnten die Vereine ohne Mullrich's Autorität und Unterstützung hier nicht viel rein Moralisches und Lehr-Strenges zu Stande bringen. Nur das baare Geld wurde mit Artigkeit und Dank begrüßt. Ein- für allemal lag auch bei Mullrich eine Anzahl Bibeln deponirt, die er jedem sich der geistlichen Erweckung zugänglich [1196] Erklärenden übergeben sollte. Mullrich war zu gewissenhaft, diesen Auftrag unvollzogen zu lassen. Er bot die Bibeln in der That allen diesen Armen und Elenden an. Sie nahmen sie auch, verwertheten sie aber sogleich an der besten Quelle, die sich ihnen in Mullrich selbst darbot. Mullrich behielt das Buch der Bücher gleich an Zahlungsstatt für Miethe oder verfallenen Versatz – denn auch auf Pfänder lieh die Frau Vizewirthin in aller Stille – oder für Hausschlüssel oder Feuerung, die sie im Winter verkaufte oder Kartoffeln, deren sie große Vorräthe anschaffte, und Mullrich hatte dann in der Schulstraße einen Buchbinder, der die Exemplare unter Verhältnissen kaufte, bei denen Mullrich nur der Commissionär, der Bevollmächtigte der richtigen Empfänger jener Bibeln war und per Stück immer zwei Groschen Vortheil zog, was bei einem jährlichen Umsatze von etwa funfzig Exemplaren immer eine Einnahme war.

Freilich fanden sich denn doch auch manche trostsuchende, leidensmüde Seelen, wie jener arme Nagelschmiedgesell, der die Bibel behielt und nicht für die Miethe angab. Dieser Ärmste las sich Trost aus ihr, wenn er am Tage mit seinem armen Meister Nägel geschmiedet hatte und mit ihnen Abends und Sonntags früh in der Stille selbst hausiren gehen mußte und seine Kinder gingen mit hausiren und liefen auf die Dörfer barfuß und boten den Leuten Nägel an und ihre Mutter wanderte sonst oft meilenweit mit, um Nägel zu verkaufen; aber mit den letzten Nägeln, die sie an einen Schreiner verkauft [1197] hatte, ward ihr auch schon der Sarg gezimmert ... sie war todt.

Ach! welche Fülle des Elends! Wieviel körperlicher und sittlicher Jammer ist da zusammengedrängt, Ergebung in sein Loos neben der Verzweiflung, es gewaltsam zu ändern. Armuth und Verbrechen und zwischen beiden alle Laster der Sinne. Hundert Nummern waren in diesem Hause allein an Bewohner ausgetheilt und jedes Zimmer bot ein andres Bild des Elendes und Jammers. Da ein Kranker, dort ein Sterbender, hier nebenan das kreischende Lachen einer unsittlichen Dirne oder der tobsüchtige Ausbruch eines Trunkenbolds, der seinem Weibe das Wenige, was sie besaßen, in Scherben an den Kopf wirft. Arme Käsemaden, menschliche Infusorien, die sich noch im Tod einander selbst verfolgen, mit Gier verschlucken, einer von des andern Armuth zehren, mit ihr wuchern wollen. Wer das Geheimniß des Lebens studiren will, gehe hieher und beantworte die Frage: Warum sind wir? Was sind wir? Was werden wir?

In dem schmuzigen Buche, das die Bewohner nach ihren Nummern anführt, sind an vielen Namen Kreuze gemalt. Das sind Observaten. Sie kamen aus dem Zuchthause und stehen nun unter polizeilicher Aufsicht. Sie haben einen leidlichen Erwerbszweig ergriffen und vermeiden vielleicht ihre alten Genossen, bis sie von ihnen doch wieder heimgesucht werden. Mancher von diesen sie dann Versuchenden und wieder Verführenden ist nur ein verkappter Verführer. Die Polizei gewann ihn zum Spion.

[1198] Wohl Dem, der seine Zunge wahrt und nicht von Wiederaufnahme alter Anschläge spricht oder sie ausführt! In diesem Hause selbst wohnen Spione genug. Mullrich ist der erste unter ihnen. Im dritten Hofe wohnt ein Schreiber Namens Schmelzing – ein früherer Arbeiter bei Schlurck – auch er rapportirt an den Oberkommissär Pax. Hütet Euch, ihr Nachbarn! Seht Ihr nicht, wie rasch manchmal einer aus Eurer Mitte verschwindet? Da hüpfte noch vor kurzem ein keckes Bürschchen die Stufen der engen Treppen hinauf, scherzte mit den Nähterinnen und Fabrikmädchen, die bis unter das Dach wohnen, und heute führen ihn die Häscher davon. Ein Bündel Wäsche unter'm Arm geht er wol auf zehn Jahre in's Zuchthaus. Wer ahnte, daß er eingebrochen hatte und zu einer Diebsbande gehört? Wer nicht thätig ist erregt Verdacht. Nur thätig, und sammelte man Glasscherben, wie die alte Frau auf Nr. 43, oder ernährte man sich vom Scheeren der Pudelhunde, was ein alter Mann im zweiten Hinterhofe parterre auf Nr. 67 ausführt, der mit der Brille auf der Nase im Hofe sitzt und die Pudel scheert, deren Wolle er sammt den Flöhen an Tapezirer verkauft. Harfenspieler, Tambourinschläger üben sich Morgens Gesänge ein, die sie Abends in den Schenken ableiern und die Leierkastenbesitzer .... nein -Leiher sparen, um sich den musikalischen Brotbringer allmälig zu kaufen oder von dem Mechanikus, der ihn verleiht, die Stifte zu einem neuen zeitgemäßen Liede sich umsetzen zu lassen. Da taumelt ein Bierhaussänger daher, der in seinen jungen Jahren auf den Bühnen[1199] Buffopartieen sang und jetzt so herabgekommen ist, daß er in den Gambrinushallen zur Guitarre mit allerhand Lazzis und in Scenen gesetzten Faxen singt. Ein Violinspieler begleitet ihn, der in seiner Jugend ein Paganini zu werden versprach und durch den Trunk so herab ist, daß er mit jenem Sänger abwechselt und auf der Violine mit Strohfäden, angezündeten Fidibus statt des Bogens spielt. Halb und halb sind beide Improvisatoren geworden und wissen durch geschickt angebrachte Zweideutigkeiten in einer von Tabacksqualm rauchenden Bierhalle ihr Publikum zum wiehernden Lachen zu bringen, während ihre »Zuhälterinnen« in einer Cigarrenaschen-Schale das Honorar ansammeln und ihre Kinder von Tisch zu Tisch Strohblumengeflechte anbieten, die von einer alten Frau auf Nr. 55 gemacht werden. Diese alte Frau wohnt bei Madame Schlimpanzer zur Miethe, von der man nicht weiß, durch welche Talente sie wiederum ihrerseits einen gichtischen rückenkranken Mann ernährt. Madame Schlimpanzer und Fräulein Klapperfuß sind sich an Jahren gleich und hassen sich und lieben sich, jenachdem sie sich Nachts auf den letzten Bällen gegenseitig nicht geschadet und in ihren Wirkungskreisen beeinträchtigt haben. Ach, die Polizei weiß hier Alles! Lacht, was Ihr wollt, Sonntags früh, ihr zwanzig Gesellen bei Mutter Klapperfuß, wenn sie »ihrer Betten wegen« darauf dringt, daß Ihr Euch von Kopf bis zum Fuß gründlich wascht; man weiß doch, daß Eure Vorgänger vor einigen Monaten heimlich des Nachts Kugeln gossen und Patronen wickelten! [1200] Sie wurden alle eines Sonntags früh aufgehoben und mit allen ihren Kugelformen und zinnernen alten Löffeln und bleiernen Fensterverlöthungen über die Brandgasse hin in's Profoßenamt geführt, von wo aus sie dann in's Zuchthaus wanderten! Welch ein Kommen und Gehen in diesem Chaos! Auch die Geburt und der Tod, die Hebamme und der Leichenträger, sind immer und immer zugleich auf Besuch hier. Der Tod tritt gleich sicher auf. Er nimmt mit fester Hand. Die Geburten sind zaghafter, mit scheuem Gewissen, mit wenig Freude. Manches Kind, eben gekommen, erhält gleich die Nothtaufe, wozu die Wöchnerinnen, da meist die Väter fehlen, den Vizewirth hinaufrufen oder den Alten, der die Pudel scheert, oder den silbergrauen Uhrmacher Eisold vom dritten Hofe, der noch sein Zöpfchen trägt und mit philosophischer Ehrwürdigkeit in den Häusern altmodische Uhren reparirt.

Ganze Tragödien spinnen sich da an und enden, ohne daß sie ihren Dichter anders finden, als höchstens bei Jahrmärkten die Bänkelsänger. In den Criminalakten stehen die einzelnen Rollen geschrieben. Da heißt's: Aus Brandgasse Nr. 9 ein Observat ... lernte im Zuchthause eine Diebin kennen ... sie hat Kinder aus früherer Bekanntschaft ... sie schließen, frei gelassen, auch eine wilde Ehe ... er kehrt die Gassen und reinigt des Nachts Cloaken ... sie verdingt sich zu jeder groben Hanthierung ... die erwachsene Tochter der Frau ... natürlich unehelich ... geht in eine Fabrik ... ein junger Arbeiter, ihr Liebhaber, zieht zu ihnen ... die Mutter gefällt ihm wie die Tochter ...

[1201] wild geht das durcheinander ... der Trunk erhitzt den Zorn ... Eifersucht und blinde Wuth ... der Gassenkehrer schlägt den Arbeiter ... die Tochter würgt fast die Mutter ... Und dieses Gemetzel noch nicht so schlimm, wie die spätere Versöhnung ... die Beruhigung bei dieser Verwirrung ... Trinkgelage, lustiges Lachen ... die Tochter verläßt die Fabrik und treibt sich auf den Gassen umher ... der Vater zweischlächtiger Bastarde erhält seine Arbeiterstellen gekündigt ... dennoch fließen Mittel ... Woher? ... Heute Morgen wurde das ganze Nest ausgehoben, Jung und Alt davon geführt ... der Gassenkehrer, die Mutter, die Tochter, der Liebhaber ... Die übrig gebliebenen kleinen Kinder holt die Besserungsanstalt.

Frau Mullrich erzählte diese tragischen Begegnisse, die in der Brandgasse gäng und gäbe waren, so leicht, so obenhin, wie wir etwa eine sogenannte Müchler'sche Anekdote von Friedrich dem Großen erzählen würden.

... Mullrich, der Vizewirth, hatte sein Nachtessen beendigt und kehrte auf seinen nächst dem Oberkommissär Pax wichtigsten Vorgesetzten Herrn Bartusch zurück.

Hat der Alte nicht nach 86 gefragt?

Und das ordentlich und gezankt hat er, warum wir ihm nichts mehr über 86 meldeten! sagte Frau Mullrich und klagte dann, daß die Tage schon so kurz würden.

War ja zehnmal da in der Kanzlei und hab's sagen wollen: 86 ist einmal wieder heidi! Wie ich das elfte mal kam, ging ich zum Justizrath selber, der eben von Hohenberg [1202] zurück war und da hieß es: Danke, Mullrich, ich weiß es schon. Er gab mir einen halben Thaler.

Wenn der Bartusch das Herz hätte von dem guten Manne, dem Justizrath! Er war heute ganz wild der Graue.

Warum denn? Gewiß weil Nr. 17 ausgeflogen war. Nicht? Ha, ha! Das wird's sein, der alte Schleicher! Wenn nur 'mal die Justizräthin dahinter käme, die –

Pst! Stille! Mullrich! Weß' Brot ich eß' ... Laß ihn auf Nr. 17 gehen und rede von solchen Sachen nicht. Nr. 17 taugte nur nichts, sonst hätte sie ihr Glück machen können, wie die Jule Spieß ...

Jule Spieß! Die Frau Amtsdienerin? Ah! So, wie Nr. 17 hat sich doch die Jule nicht aufgeführt ...

Ach! Ach! antwortete Frau Mullrich, die tiefer zu sehen, als ihr Mann, immer das Privilegium hatte. Ach, Ach, das war eine Feine! Die wußte es subtiler anzufassen. Wie oft hab' ich zu Nr. 17 gesagt: Guste, hab' ich gesagt, Sie haben anständige Verwandte, Sie sind schön, wie ein Bild, Sie haben Freunde, die vornehme Gönner haben: nehmen Sie die Mamsell Jule, die Frau Rathsdienerin Spieß geworden ist, und damit stichelte ich auf den Bartusch, der doch die Jule Spieß zur Rathsdienerin gemacht hat ... durch einen Rathsdiener und Executor, der sich nichts daraus macht, daß Bartusch seiner Frau noch jetzt Jaconnetkleider schenkt.

Da gab Dir aber wol Nr. 17 eine Ohrfeige, die Auguste? Was?

[1203] Ihre zerbrochene Kaffeekanne wollte sie mir über den Kopf gießen. Das ist ein Satan! Und doch war der Alte ganz zornig, als er hörte, Nr. 17 ist ausgeflogen und hat uns blos die zerbrochene Kaffeekanne, den Spiegel und die Bettstelle zurückgelassen.

Ich bin froh, daß sie fort ist; tröstete sich Mullrich, der hier noch von einer defekten Kaffeekanne hörte; ich bin froh; durch die Person wäre noch einmal Feuer ausgekommen. Mit Nr. 86 haben wir so schon unsere Noth, daß der nicht einmal die Häuser ansteckt, wenn er die Nacht auf die Dächer ...

Sei still von Dem, Mullrich. Sei still! Es ist mir immer ängstlich mit Dem! unterbrach seine Ehehälfte und schüttelte sich, als fröstelte sie's.

Mit diesen vorsorglichen, fast erschrockenen Worten wollte sie überhaupt dies Gespräch abbrechen, aber der Diensteifer und die Dankbarkeit für den Justizrath Schlurck war für den Viezewirth zu anregend. Er fuhr fort:

Ich möchte nur wissen, was die Justizraths mit 86 eigentlich haben. So ein grober, impertinenter, rothköpfiger Schlingel! Schreiben kann er schön! Das ist wahr. Er hat mir manchmal was ins Buch hier geschrieben wie gestochen. Aber seine Krankheit abgerechnet –

Er hat's ja nicht mehr. Sei doch still! Sei still!

Mullrich ließ sich nicht irre machen und fuhr um so mehr fort, als er wußte, daß seine Gattin sich nur zum Schein gegen Schauerliches stemmte. Sie hörte gerade [1204] um so lieber von Dingen, die ihr über den Rücken liefen, je mehr sie sie abzuwehren suchte. Mullrich fuhr fort:

Der Justizrath sagte gerade, er hat die Krankheit noch. Erst neulich hätt' ers gesehen. Und so herzensgut ist der brave Mann, daß er mir sagte: Mullrich, sagte Herr Schlurck, der arme Mensch ist zu bedauern! Er hat für seinen Stand viel gelernt, weiß Manches und hat Kopf. Er hat mein ganzes Herz gehabt, aber aus dem Hause mußt' er! Er stiehlt nicht, er ist ehrlich, Mullrich, sagte er, aber geizig und verschwenderisch, zänkisch, boshaft, je nachdem's kommt. Seine Krankheit ist sein Unglück. Sind die eisernen Stäbe auch noch in Ordnung, Mullrich? sagte er. Ja, Herr Justizrath, sagte ich; vier Stangen vor jedem Fenster! Und ganz traurig wurde er, als ich ihm erzählte, wie wir sie ihm eingesetzt hatten auf Herrn Justizraths Kosten und was er für eine Miene gemacht hätte, als er eines Abends nach Hause gekommen wäre und hätte die Fenster vergittert gefunden. Da weint' er fast, der Herr Justizrath. Ich ging zu ihm hinauf, sagt' ich, Herr Justizrath, ich ging zu ihm hin auf und sagte: Musje Hackert, nehmen Sie's nicht übel, Musje Hackert, aber Sie sind ja vorgestern ordentlich auf dem Dach herum spazieren gegangen. Ein Freund von Ihnen wünscht Das nicht, daß Sie sich da mal den Hals brechen und hat Ihnen da einen kleinen Denkzettel einmauern lassen, wenn Sie's vielleicht vergessen sollten, daß Das die Fenster sind! Er sah mich grimmig an. Ich hatte aber Muth. Lieber Gott! sagte ich, auf dem Dach ist's kalt, und wenn Sie auch noch so schön [1205] klettern können, Herr Musje Hackert, es bricht Einer doch mal den Hals. Was sagte er denn da? fragte mich der Justizrath. Herr Justizrath, sagt' ich, es ist ein recht tückischer, glup'scher Kerl! Nicht ein Wort hat er gesagt, hat auch nicht gefragt, wer dieser edle Freund wäre und nicht ein Wort hat er geantwortet über's Dachherumklettern und seine Krankheit. Aber wie gesagt, Herr Justizrath war ganz gerührt und wie gesagt, einen halben Thaler hat er mir geschenkt.

Nun muß es aber doch anders sein, unterbrach Frau Mullrich diese etwas weitschichtige Erzählung und deckte den Tisch ab, wie auch das Bett, in das sich ihr von den gerührten Eiern angeregter Gemahl bald zu legen gesonnen war.

Wie so anders?

Wegen der Anfrage von Bartusch. Der hat ja so grimmig über ihn hergezogen und hat doch gesagt:

Ein Jahr Zuchthaus wär' ihm nun gewiß!

Ei was? Zuchthaus?

Es sind schlimme Sachen von ihm herausgekommen, hat Bartusch gesagt.

Von Nr. 86?

Wenn er sich nicht selbst davonmacht, könnt's ihm übel ankommen und er wollte ihm im Ernst rathen, daß er nun Paschol mache und am liebsten gleich weit!

War ich doch auf dem Criminalamte ... habe doch nichts

gehört ...

Ob er zu Hause wäre, frug Bartusch. Nein, sagt' ich. Bis [1206] Mittag war Das. Da war ein Herr mit ihm gekommen, ein feiner, eleganter Herr –

Mit Nr. 86?

Ich sage Dir, ein ganz feiner, schöner, junger Mann. Wie ein Baron! Die kleine Riekel Eisold hat erzählt, daß sich der Herr zwei Stunden oben zu ihm hingesetzt hat und immer geschrieben –

Curios!

Dem Grauen hab' ich den Mann beschreiben müssen. Er schüttelte dann den Kopf und sagte: Hackert muß fort! Wann glauben Sie wol, daß ich ihn treffe, Frau Mullrich! Das ist schwer zu sagen, Herr Bartusch, sagt' ich. Aber seit die Eisolds oben Waisen sind, hat er den Hausschlüssel abgegeben, er wollte eigentlich um neun Uhr jeden Abend zu Hause sein. Ein paar Wochen ging's so, Herr Bartusch, sagt' ich, bis er vor fünf bis sechs Tagen gar nicht mehr nach Hause kam und nun erst seit gestern ist er wieder da und so unruhig, daß ich nicht glaube, er kommt vor neun. Es wäre nicht das erste mal, daß er die ganze Nacht bis Morgens drei und vier ausbleibt.

Ein Jahr Zuchthaus! wiederholte erstaunt Mullrich, sich ausziehend und die Nachtmütze aufsetzend. Gewiß falsche Schreibereien. Er kann wie in Kupfer gestochen schreiben.

Es soll mich gar nicht wundern, vermuthete seine Gattin, wenn Herr Bartusch noch in der Nacht kommt. Er hatt' es zu eilig gehabt. Klopft es nicht draußen?

In der That hatte es an jener Thür gepocht, die von der [1207] Hausflur erst in einen Vorplatz führte, dem ein Kamin das Aussehen einer Küche gab. Mullrich, eben im Begriff in sein Bett zu steigen, sagte: Mach erst die Thür zu. Ich will schlafen gehen!

Indem pochte es wieder.

Die Frau Vizewirthin lehnte die Thür an, die aus ihrer Schusterwerkstatt in die Schlafkammer führte. Mit den Worten: Es wird wol der arme Nagelschmied mit den Pinnen sein! Er hatt' es mit dem Gelde nöthig! ging sie hinaus und stieg die Treppe hinauf, die zu der Hausthürflur führte.

Wie unangenehm überrascht war aber Herr Mullrich, als er sich eben im Bett behäbig dehnte und seine Rühreier in alter Bequemlichkeit verdauen wollte, als seine Ehehälfte nach einigen Augenblicken rasch die Thür aufriß und mit erschrockener Hast und Eile und höchst ehrerbietig ihm zurief:

Mullrich! Mullrich! Es ist der Herr Oberkommissär!

[1208]
5. Capitel. Die Lauscherin
Fünftes Capitel
Die Lauscherin

O weh, dachte Mullrich, das raubt dir die Nachtruhe. Da soll etwas ausgeführt werden!

Indem hörte er schon die freundlichen und complaisanten Wendungen seiner Frau gegen den Herrn Oberkommissär Pax, den sie zu unterhalten suchte, bis Mullrich sich leidlich angezogen hatte, eintrat und kleinlaut grüßte:

Guten Abend, Herr Oberkommissär.

Guten Abend Mullrich!

Es gibt wol noch etwas?

Der Oberkommissär Pax, ein militairisch sicher auftretender Mann, mit starker Baßstimme, sagte:

Mullrich, ja! Aber Sie können ein paar Stunden schlafen.

Herr Pax, morgen früh um fünf Uhr hab' ich schon Was ...

Mit Kümmerlein die Untersuchung bei der Schievelbein in der Neustraße? Weiß ich schon. Aber es ist heute Nacht großes Gartenfest in der Fortuna. Da gibt's allerlei Leute zu beobachten, die mir soeben signalisirt sind. Es hilft nichts. Sie können zwei Stunden schlafen. Um zwölf [1209] müssen Sie aber in die Fortuna, wo's bis zum Morgen hergeht. Dann machen Sie gleich mit Kümmerlein die Recherche bei den beiden Miethsleuten der Schievelbein und dann können Sie sich den ganzen Vormittag zur Ruhe legen. Hier sind ein paar Signalements, auf die in der Fortuna gepaßt werden soll. Ich werde selbst in der Nähe sein, aber incognito ...

Mullrich nickte etwas verdrießlich und nahm einige dargebotene Papiere an sich, während seine Ehehälfte die Aufträge des Herrn Oberkommissärs mit den ergebensten Interjectionen als: Schön! Sehr schön! Sehr wohl! angenehm ausschmückte.

Der Oberkommissär Pax war der gewandteste Agent der Residenz und ein seltener Glücksjäger in dem Gebiete der praktischen Polizei. In jüngern Jahren Wachtmeister der Cavalerie, dann in gleicher Eigenschaft bei den Gendarmen, hatte er Veranlassung gehabt, der vor zehn Jahren noch weltlustigen alten Charlotte Ludmer jene Aufmerksamkeit zu erweisen, die Heinrichson jetzt ihrer Gebieterin widmete. Aus ihrem Pflegling und Schützling war Pax eine Zeit lang der Anbeter der unternehmenden und unbefangenen Frau geworden; jetzt galt der vierzigjährige, sehr stattliche Mann für ihren Neffen und künftigen Erben. Ihr verdankte er seine Anstellung, ihr eine sehr behagliche Existenz, die ihn jedoch nicht hinderte, seinen Obliegenheiten mit seltener Pünktlichkeit nachzukommen.

Er war der Ludmer und ihren Gönnern anhänglich und [1210] treu. Die Aussicht, einmal die aufgehäuften Ersparnisse der gefährlichen Matrone zu erben, spornte seinen Diensteifer ... Schon hatte ihn Schlurck im Interesse der Geheimräthin unterrichtet, wie er es mit der Haussuchung bei den Wildungens halten sollte.

Aber es gab noch manche andere Gelegenheit, sich seinen Gönnern dienstwillig zu erweisen. Wir haben davon sogleich einen Beweis in der Frage, die er an Frau Mullrich richtete:

Also die Maler-Guste ist ausgeflogen?

Nr. 17 meinen der Herr Oberkommissär? fragte die Alte.

Auguste Ludmer ...

Richtig! Ha! Ha! Die Maler-Guste! Hat sie den Namen? Hier nannten sie die Leute die Brennnessel ... weil ihr Keiner zu nahe kommen durfte. Ja, Herr Oberkommissär, vier Thaler, zehn Groschen und einen alten zerbrochenen Spiegel und einen ...

Sie ist aber nicht nach Hamburg, sie ist hier ... Mullrich ...

Mullrich war etwas schläfrig im Zuhören.

Ja, Herr Oberkommissär, sagte er apathisch ...

Seine Gemahlin griff helfend seine Antwort auf.

Ja? sagte sie. Die Maler-Guste? Nummer 17? Hörst du denn nicht?

Passen Sie in der Fortuna auch auf die Maler-Guste ... Sie soll auf ganz neue Sprünge gekommen sein ... bemerkte Herr Pax.

[1211] Sie wird doch noch einmal ans Spinnrad müssen! meinte Mullrich, nun sich sammelnd.

Seine Gemahlin schwieg jetzt. Sie kannte den Haß des Oberkommissärs gegen ein Mädchen, das mit vollem Rechte behaupten konnte, die Nichte der Madame Ludmer zu sein, während der Herr Oberkommissär, der sich den Neffen derselben nannte, nicht die mindeste Verwandtschaft mit jener tollen und wilden Maler-Guste in Anspruch nehmen durfte. Früher, als dies bildschöne Mädchen den Künstlern Modell stand und sich eines »soliden« Rufes erfreute, konnte ihr der Oberkommissär wenig anhaben; seitdem sie aber aus mancherlei Ursachen immer mehr gesunken war, hatte er Grund, eine unausgesetzte Hetzjagd auf sie anzustellen, wodurch sie zuletzt veranlaßt wurde, in diese dunkle, abgelegene Brandgasse, in diese armseligen Familienhäuser zu ziehen, wo es ihr schlecht genug ergangen sein mußte, trotzdem, daß sich Bartusch für ihre noch immer nicht ganz zu Grunde gerichtete Schönheit interessirte.

Auguste Ludmer war durch eigenthümliche Schicksale, die wir noch näher werden kennen lernen, ein Beispiel jener jammervollen Versunkenheit geworden, in die die haltlose Irrfahrt durch unser Leben und seine Bedrängnisse ein ursprünglich nicht schlechtes weibliches Wesen führen kann ...

Der Oberkommissär schärfte Mullrich ein, ein »fixes« Auge auf die Maler-Guste zu haben ... sie behielt diesen Namen, obgleich sie schon seit langer Zeit der Künstlerwelt [1212] entrückt war und ihr nur noch in einigen üppigen Bildern angehörte, zu denen sie früher die Anschauung ihrer schönen Formen geliefert hatte ...

Es war schon völlig dunkel geworden, aber das scharfe Auge des Oberkommissärs entdeckte durch das Schaufenster die Beine eines Mannes, mit dem er in ziemlich naher Verbindung stand ...

Ist Das nicht? ... sagte er.

Herr Schmelzing! Soll ich rufen? Herr Schmelzing!

Der Oberkommissär schärfte noch einmal die Signalements dem bewährten Vizewirthe ein und wandte sich zum Gehen mit den Worten ...

Teufel, steckt doch hier Licht an! Man bricht sich ja den Hals bei Euch!

Frau Mullrich führte den Herrn Oberkommissär an ihrer eigenen pechschwarzen Hand durch die pechschwarze Finsterniß der Treppe, die aus dem Keller aufwärts führte, während ein grinsendes Gesicht von einer sich bückenden Gestalt auf der Hausflur in die Wohnung des Vizewirthes fragend niederschaute ...

Mullrich hörte oben den Schreiber Schmelzing dem Herrn Oberkommissär die Honneurs machen.

Beide verschwanden.

Mullrich wollte, als seine Gattin zurückkehrte, nun seufzend und wehklagend in sein Bett zurückkehren und holte nur noch seine Brieftasche aus dem Rocke, um die wichtigen Signalements hineinzulegen.

Die verdammte Tänzerei da in der Fortuna! brummte [1213] er zornig. Alle Welt schreit über Noth und Elend und auf so ein Gartenfest gehen sie und jubeln, als wenn es Tresorscheine geregnet hätte. Leg' mir nur den guten Leibrock heraus! Im Staat soll man auch erscheinen, damit man nicht gleich die Zuchthausschlüssel bei Unsereinem rasseln hört.

Das Elysium ist bankrott, sagte seine Gemahlin tröstend, die Fortuna wird auch nicht lange machen. Wo nur der Hitzreuter wieder das Geld her hat! Das soll ja eine Pracht in der Fortuna sein ... Der Kümmerlein erzählt ja die blauen Wunder davon!

Mullrich schwieg.

Seine Gemahlin war etwas eifersüchtig und hörte ungern, daß es in der Fortuna so wild und zügellos herging, ungern, daß dort Alles von Krystall und Bronze, gemalt und von Gaslicht erleuchtet sein sollte ... Mullrichs lustiger College, Kümmerlein, hatte ihr schon die verfänglichsten Sachen von der Fortuna erzählt.

Mullrich wollte schlafen und antwortete nicht.

Die Gemahlin, die zwar von ihrem Gatten voraussetzte, daß er sehr tugendhaft war, von Kümmerlein aber oft gehört hatte, daß dieser die vielen delikaten Begegnungen seiner sittenbefördernden Praxis zu manchen unerlaubten Abenteuern und Abirrungen auszubeuten wußte, fragte:

Was ist denn Das für eine Frau Schievelbein in der Neustraße?

Während Mullrich nun von einer Vermietherin brummte, [1214] von einer Haussuchung bei einem Maler oder Referendar, von Beschlagnahme von Bildern und ähnlichen ihm gegebenen Winken, schlug seine plötzlich etwas gereizte Ehehälfte Licht an und wollte eben die kleinen Läden der Kellerfenster schließen, als sie auf einen Tritt hinaufsteigend, überrascht äußerte:

Sieh! sieh! Da steht ja wieder der junge Herr von heute Vormittag auf der Straße und lauert. Der paßt auf 86 oder 87. Ich komme dahinter. 87 ist nicht ganz ohne. Das schlägt die Augen nieder und trübt kein Wasser und dem Riekel hab' ich gleich angesehen, daß die Thür zwischen 86 und 87 aufgewesen ist. Wenn ich doch einmal dahinter käme – aber! Du, Mullrich! Du, Mullrich! Schläfst du schon? Schläft der schon! Schnarcht schon wie ein Ratz! Jetzt kann ich nicht hinauf zu ihr ... Schlaf du und noch Einer! Hör'! Wie er sägt! Die Eier machen ihn immer schläfrig. Er soll auch nicht so starkes Bier haben, wie seit ein paar Tagen. In der Fortuna mag ich ihn gar nicht. Bei dem verdammten Hitzreuter gibt's Punsch und Kuchen. Und so traktirt werden die Polizeidiener da, daß ihnen zu Hause nichts mehr schmeckt. Kümmerlein ist verdorben genug ...

Und so fort und fort plauderte Frau Mullrich mit sich selbst, indem sie ihr Dreierlicht ausputzte und sich anschickte, ein paar alte vom Trödel gekaufte Pantoffeln durch hintern Ansatz von Leder wieder in ein paar Schuhe umzuwandeln. Sie setzte für diese einem ihrer Miethsleute bestimmte Arbeit eine Brille auf, nahm ihr Dreierlicht [1215] und stellte es hinter eine Glaskugel, die mit Wasser gefüllt war und an einem Riemen auf einer pyramidenförmigen Erhöhung einer Schusterbank stand. Das Lampenlicht fiel durch diese Kugel rund und klar auf den in einen neuen Schuh zurückzuverwandelnden alten Pantoffel. Dabei richtete sie durch das halb offengelassene Bret der Fensterlade unverwandt auf den draußen wartenden Herrn den Blick. Dieser stand mit einem leichten Spazierstöckchen und schien seine Ungeduld durch ein Liedchen wegzupfeifen, wenn er nicht alle die Menschen musterte, die in der geräuschvollen, menschenüberfüllten Straße an ihm vorübergingen oder in Nr. 9 selbst eintraten. Frau Mullrich achtete schon auf diese letzteren nicht mehr. Erst um 10 Uhr, wenn sie das Haus schloß und die Pfennige bezahlt werden mußten, fing eigentlich ihr großes Controlegeschäft an.

Heute aber fesselte sie doch von den Passanten ein kleines Paar, dem sie, von ihrem Schemel aufspringend, durch das Fensterchen, das zur Hausflur führte, nachrief:

Heda! Line! Willem!

Ein Knabe von zwölf Jahren in einer Blouse und ein kleines Mädchen von etwa acht Jahren wandten sich um und blickten niederwärts zu dem kleinen Schaufenster der gefürchteten Vizewirthin, vor dem man in diesem Hause gern rasch vorüberschlüpfte.

Da steht er ja vor der Thür ... sagte die Alte.

Wer? fragten die Kinder.

[1216] Der Herr, der zu Eurer Louise wollte!

Zu Louisen? fragte Wilhelm und ging etwas nach vorn, um einen solchen Herrn, der zu seiner Schwester Louise wollte, sich erst anzusehen.

Der junge Mann war etwas weiter gegangen und schlenderte in einiger Entfernung auf und ab.

Zu Louisen kommt kein Herr! sagte Wilhelm fast verächtlich zu Frau Mullrich und ging weiter in den Hof.

Linchen! Linchen! rief aber die neugierige Vizewirthin mit verstärkter Stimme und reckte den gelben magern Hals durch das Schaufenster ...

Linchen, wie Mädchen, neugieriger, blieb stehen und folgte nicht so rasch dem Bruder.

Linchen komm' mal her! Kennst du den Herrn nicht? rief die Alte.

Linchen blieb unbeweglich.

Er war wol bei Euerm Fritz? Was? Komm doch, Kindchen!

Linchen sagte immer noch nichts.

Er will wol auch zu Eurem Fritz? Was? Ist denn die Küchenthür bei Euch auf jetzt, die in Fritzens Kammer führt? ...

Linchen war diskret und schwieg, blieb aber doch stehen.

Na, der Herr will wol zu Fritzen. Komm doch ein Bischen näher, Kind! Zeig doch 'mal deinen Korb! Was hast du denn heute schon verdient?

Nun wollte Linchen rasch davonlaufen. Es war dem [1217] kleinen achtjährigen Kinde schon zu oft geschehen, daß die Mullrich ihr den Verdienst an der Thür abgenommen hatte und sich selbst für kleine Schulden aus Nr. 87 bezahlt machte. Die Kleine fürchtete, daß ihr heute dies Schicksal wieder begegnen würde und lief davon.

Bleibst du Range! kreischte aber die Alte jetzt aus dem Fenster, mit voller Kraft ihrer hektischen Lungen. Ihr lag daran, Bartusch etwas über Fritz Hackert berichten zu können. Bleibst du! Willst du her? Soll ich –

Dies Soll ich? – begleitete ein rascher Griff nach ihren eigenen Pantoffeln, von denen der des linken Fußes schon drohend zum Schaufenster hinauslangte.

Linchen war wie vor Todesschreck im Hofe still gestanden und wandte sich halb neugierig, halb ängstlich um, als sie die Worte aus der Alten Munde ihr nachgekreischt hörte:

Willst du her! Hier sind ja zwei Groschen für den alten Mann. Da! zwei Groschen! Nimm!

Zwei Groschen für den alten Mann? Das waren freilich verlockende Worte für das Kind.

Linchen kam etwas näher.

Komm, Linchen! Komm! Bist ja so hübsch gekämmt! Macht dir Louischen die Locken? Komm, Hinkelchen. Der alte Mann hat zwei Groschen zu Gute für die Uhr, die er mir gestern ausgeblasen hat. Da!

Linchen kam nun näher und hielt die Hand hin.

Während die Alte unter ihre Schürze griff, an der sie eine Geldtasche befestigt hatte und mit dem Gelde klapperte, [1218] sprach sie auf dem Tritt, der zu dem Fensterchen führte und zu der Hausflur hinaus:

Großväterchen hat mir die Uhr ausgeblasen – zwei Groschen – warte nur, ich suche sie eben – Sag' einmal, kennst du den Herrn draußen?

Das Kind sah auf die Straße und schüttelte den Kopf.

Zwei Groschen, fuhr die Alte immer suchend fort; er hat die Uhr schlagen lassen, sie blieb immer stehen – sag's mir, es ist Louischens neuer Liebhaber? Was? Der ist schön! Nicht wahr, der rothe Fritze gibt ihm wol den Hausschlüssel von Schmelzing ... Was?

Das Kind langte nach den zwei Groschen und antwortete nichts.

Ja, ja, die Uhr – sie ist ein Familienstück; aber im Keller ist's zu feucht, sagte der Alte mit dem Zopf ... Wo war denn Fritze dieser Tage? Vier Tage nicht zu Hause gewesen ... Klettert er denn noch manchmal bei Nacht? Was?

Linchen Eisold blieb diskret ...

Ich schenke dir zwei Pfennige, Linchen, wenn du mir sagst, wer der Herr ist ...

O Armuth! Was ist dein Loos! Zwei Pfennige! Wer widerstünde da und thäte, was nicht gerade Unrecht scheint!

Ich kenn' ihn ja nicht, Frau Mullrichen! sagte das Kind nun beredtsam mit einem durch zwei Pfennige geöffneten Munde. Aber als ich heute das Essen für Karl'n holte, [1219] sagte mir Riekchen, es wäre bei Fritzen ein schöner Herr zwei Stunden gewesen und er hätte auch unsere Louise gesehen und am Abend wollt' er wieder kommen, um uns Alle zu besuchen und noch einen andern schönen, jungen Herrn mitbringen. Wie ich's Karl'n sagte, war der recht neugierig und meinte, er hält Nichts von den Herren, die der Fritz Hackert kennt.

Sieh 'mal an! Sagt' er Das? He? Höre Linchen! Wenn der Herr zu Euch kommt und ... Der andere auch; erzählst mir doch morgen, was sie gesprochen haben. Willst du?

Da schwieg nun Linchen wieder.

Ich wollte dir ja zwei Groschen für den Großvater geben! ...

Und zwei Pfennige! sagte das Kind, das seinen Vortheil festhielt.

Und zwei Pfennige – Willst du mir morgen Alles sagen, was die Herren oben angegeben haben?

Linchen schwieg.

Noch einen Pfennig geb' ich dir, Linchen! Was? Willst du?

Linchen lachte nun ... aber sie schüttelte doch den Kopf, daß die Alte ungebehrdig wurde und schrie:

Wetter! Range! Mach, daß du fortkommst! Was hältst du mich hier auf?

Mit diesen zornigen Worten schlug die Alte das Fenster zu, hörte mit dem Geldklappern auf und stieg den Tritt hinab an ihren Schusterplatz.

[1220] Linchen, die sich gefreut hatte, außer ihrem heutigen Verdienst, ihrem Großvater noch zwei Groschen zu bringen, blieb traurig stehen.

Was willst du? schrie die Alte, die jetzt für Bartusch's späten Abendbesuch schon Klatschgift genug hatte und sah wieder hinaus.

Linchen zögerte noch immer ...

Willst du nun gehen! rief Frau Mullrich und sprang zum Schustersitze, um einen in der Arbeit begriffenen Pantoffel zu holen ...

Was ist denn? Was soll's denn? sagte in diesem kritischen Augenblicke eine energische Stimme auf der Hausflur. Sind wir Ihnen etwas schuldig?

Nein bewahre, Musje Eisold! antwortete die Alte demüthig und schlug rasch das schon geöffnete Fenster zu. Bitte! Bitte!

Frau Mullrich hatte große Furcht vor dem jungen stämmigen Manne von kaum funfzehn Jahren, der seine Schwester an der Hand faßte und mit ihr in die hintern Höfe ging.

Es war dies der junge Maschinenarbeiter Karl Eisold, der älteste Bruder der mehrerwähnten Louise Eisold, ein hübscher, frischer, aber von seiner schweren Arbeit etwas ermüdeter junger Mann.

Frau Mullrich hatte doch einige gute Thatsachen erfahren und war in der größten Spannung, als in der That zu dem Herrn auf der Straße sich ein zweiter gesellte, diesem herzlichst, ja überschwänglich die Hand schüttelte und [1221] ihn dann in die Hausflur zog. Ein rasselnder Wagen schien sie zu bestimmen, in dies Obdach zu treten.

Als Frau Mullrich nun gar merkte, daß unter der Hausflur diese schönen, jungen Herren laut zu sprechen anfingen, blies sie rasch ihr Licht hinter der Wasserkugel aus, schlich auf den Fenstertritt und lauschte geduckt, was diese mit Nr. 86 und 87 verkehrenden Menschen da im Dunkeln nun besprechen würden.

[1222]
6. Capitel. Nummer Sechs- und Nummer Siebenundachtzig
Sechstes Capitel
Nummer Sechs- und Nummer Siebenundachtzig

Als Siegbert Wildungen sich endlich gegen neun Uhr dem Stadttheile genähert hatte, wo er den Bruder erwarten sollte, wurden alle seine gemischten Rückerinnerungen auf Melanie, Rudhard, Olga Wäsämskoi und besonders jenen tiefen Akkord: Anna von Harder durch die Sorge unterbrochen, sich in dieser verworrenen, dunkeln, menschenüberfüllten Gegend zurechtzufinden. Die weiße Rose, die er von dem ihm nachgeworfenen Blumenstrauße bei der Fürstin Wäsämskoi mitgenommen hatte, war in dem Gedränge sogleich vom Stiele gebrochen und noch ehe er sie hatte retten können, von den Vorübergehenden zertreten, vom Straßenkoth beschmuzt. Er mußte sie aufgeben. Er mußte jetzt nur noch nach den Straßenecken sehen, auf denen die Namen derselben kaum noch zu lesen waren, trotz der nicht gesparten Beleuchtung dieses Viertels. Endlich entdeckte er die Brandgasse und zählte sich das neunte Haus ab. Eben hatte er es gefunden, als er zur Höhe blickend einen Schlag auf die Schulter erhielt.

[1223] Er kam von Dankmar, der ihn erwartete.

Um nicht vom Gedräng gestört zu werden, traten sie sogleich in die Hausflur, die ihnen ein gesicherter und ruhiger Begrüßungsort schien.

Nun, da bin ich! sagte Siegbert, voll Freude und voll Rührung. Abenteuerlicher Mensch! Wohin verlockst du mich? Ich brauchte einen freien Platz, wo ich geschützt vom Dunkel der Bäume dir um den Hals fallen wollte, um mein Herz zu erleichtern, und hier in dem Wagengerassel, in dem Tumult der Menschen, hier auf der Hausflur dieser alten Räuberhöhle, was soll ich da?

Ganz gut! Ganz gut! sagte Dankmar lachend und gefaßt, aber voll Wärme. Ganz gut, daß uns die Umgebungen jede rührende Scene abschneiden. Was ich heute früh fühlte, als du mit dem Geständnisse deines Glückes mir meine eigenen Träume zerstörtest, Das hab' ich dir in meinem Briefe gesagt. Ich schrieb dir, weil ich dir nicht mündlich verrathen mochte, daß mir die Trennung von einem so fesselnden Gedanken doch die schmerzlichste Überwindung kostete! Zu Grün's hätt' ich nicht kommen können; es hat mir wirklich diesen ganzen Tag gekostet, mich zu sammeln und zurechtzufinden! ... Die wichtigsten Dinge mußt' ich aufschieben und hättest du mich noch vor wenigen Stunden gesehen, würdest du gesagt haben, ich gehörte jetzt zu den Träumern, während ich doch nicht einmal heute zu den Schläfrigen gehöre.

Du hast dich von einer Quelle des Glückes losgerissen, sagte Siegbert, die mir doch nie geflossen wäre. Heute [1224] Mittag sprach ich Melanie und wohl sah' ich, daß ich ewig würde vergebens gehofft haben.

Du sahst sie? Und sprach sie von mir?

Sie sprach von dir.

Nun ...?

Ich entdeckte und erlebte ohne dich heute so Manches, daß ich dir in geeigneter Umgebung ausführlich davon reden muß. Soviel aber beobachtete ich doch fast, daß du nicht nöthig gehabt hättest, weil mir jene Quelle nicht rinnen wird, dir sie selbst zu trüben.

Zu trüben Bruder? Doch! Recht umgewühlt hab' ich sie! Recht das Unterste zu oberst gebracht! Es muß so sein. Trinke nun daraus, wer mag!

Siegbert seufzte und fuhr, sich im Dunkeln umsehend, fort:

Was thun wir hier? Was sollen wir bei Hackert, den du mich so zu verabscheuen gelehrt hast? Glücklicherweise habe ich sein Geld bei mir!

Pst! sagte Dankmar und sah' sich um, als hätte er bei Erwähnung des Geldes etwas wispern hören.

Dann fuhr er fort:

Ich bin diesem zweideutigen Menschen heute doch näher gerückt und hab' ihn zu meiner Freude in einer guten, mir aus Interesse an der menschlichen Seele doppelt werthen Stunde gefunden. Bei ihm schrieb ich den Brief an dich. Den Nachmittag verwandte ich dar auf, Lasally zu bewegen, von einer Klage gegen Hackert abzustehen, worüber ich diesem heute Abend denn meinen [1225] Bericht abstatten wollte. Da ich zugleich die Gelegenheit benutzen mochte, dich in eine rührende, deinem Geschmacke entsprechende Familienscene einblicken zu lassen, so beschied' ich dich um neun Uhr selbst hierher. Wir finden im dritten Hof, drei Treppen hoch, Hackert, dem ich leider keine gute Nachricht über Lasally bringen kann. Hoffentlich fühlt er sich aber dadurch nicht zu verstimmt, mir sein Leben zu erzählen, was er mir heute früh versprochen hat. Also du hast sein Geld bei dir?

Ich hab' es, sagte Siegbert leiser, sah sich um und faßte an seine Brust; denn die verdächtigsten Gestalten drängten sich jetzt durch die enge Hausflur an ihnen vorüber: Bettler und Arbeiter der niedrigsten Klassen, die unheimlichsten Figuren ...

Bruder! sagte Siegbert flüsternd. Hier scheinen alle Sträflinge, die heute Abend entlassen wurden, ihr Quartier zu suchen. Welche Dünste in dieser Straße! Und hier der Gang fast zum Ersticken so schwül!

Das eben war es, was ich dir zeigen wollte und ich weiß, für einen Blick in das Innere dieser alten räucherigen Wände wirst du mir dankbar sein. Komm, wir wollen jetzt versuchen, ohne uns den Hals zu brechen, in Hackert's Wohnung zu gelangen.

Damit schritten die beiden jungen Männer einem Abendlichtschimmer zu, der aus dem ersten Hofe noch spärlich auf das äußerste Ende dieses Ganges hereinbrach ...

Frau Mullrich erhob jetzt ihr mumienartig getrocknetes [1226] Haupt. Sie hatte zwar sehr viel Worte gehört, sehr viel Namen deutlichst verstanden, mußte sich aber doch gestehen, daß diese Unterredung etwas hoch war, etwas zu schwunghaft für ihren niedrigen Kellerhorizont. Dennoch hatte sie Namen, wie Melanie, Hackert, Grün's, Lasally ganz deutlich behalten, sogar von Geld etwas unwiderruflich vernommen und auf Bartusch's nähere Angabe der Fährte, auf die er sie bringen konnte, hoffte sie schon, sich noch weiterer Dinge zu entsinnen aus diesem Dialoge, den sie für sich hoch, näher bezeichnet »studirt« nannte. Sie zündete wieder ihr Dreierlicht an, dessen rasches Ausblasen einen abscheulichen Gestank verbreitet hatte, kehrte zu dem in einen Schuh zu verwandelnden Pantoffel zurück und dachte: Wenn es nur erst zehn Uhr schlägt, dann hab' ich Alles in der Falle und Keiner kommt heraus oder herein, der hier nicht Stand, Namen und sein Anliegen zu sagen weiß.

Die beiden Brüder hatten nun inzwischen schon glücklich die beiden ersten Höfe hinter sich und tappten im dritten eine schmale, finstere Stiege hinauf, die unmittelbar von dem Hofe in die obern Wohnungen führte. Bei dem ersten Absatz zeigte Dankmar seinem Bruder die hier beobachtete architektonische Einrichtung. Von der Treppe links hinaus ging immer ein langer dunkler Corridor um zwei Schenkel des Vierecks herum, das den Hof bildete und alle Zimmer lagen mit ihren Thüren auf diesen Corridor hinaus, mit den Fenstern in den Hof. Daß und wie die Zimmer numerirt waren, konnte man der [1227] Dunkelheit wegen nicht mehr erkennen. Rechts von der Treppe ging eine offene Galerie hinaus um die beiden andern Seiten jenes Vierecks, das den Hof bildete. Hier auf dieser zerbrechlichen Galerie sah man wiederum eine Menge Thüren, die alle zu abgesonderten, meist nur aus einem Zimmer bestehenden Wohnungen führten, deren Fenster größtentheils auf die Galerie hinausgingen. Dieselbe Einrichtung wiederholte sich auf der zweiten Treppe.

Schade, sagte Dankmar, daß die Furcht vor Diebstahl alle Lumpen, alle Wäsche, Betten und Geräthschaften von den Galerien für den Abend entfernt hat. Am Tage war Das heute ein schönes Durcheinander! Jetzt ist Alles ängstlich hineingenommen, da hier wol kein Nachbar dem andern traut.

Wie Siegbert nun dem Bruder in den dritten Stock nachkletterte und er an einem dicken, durch das viele Angreifen seifenglatt gewordenen Tau sich mehr schwankend hinaufwinden mußte, als sicher gehen konnte, wurde ihm die Erinnerung an einen Men schen, der hier wohnte, in diesen Höhlen des Elends, und ein Packet von hundert Thalerscheinen auf die Straße hatte werfen können, so unglaublich, daß er Dankmar'n darüber flüsternd sein Befremden ausdrückte.

Still! wisperte dieser. Nichts von Geld hier gesprochen! Wenn du ihm seine Summe einhändigst, thu' es stillschweigend. Die Nachbarschaft nach links von ihm ist ehrlich, aber die nach rechts soll nichts taugen, obgleich [1228] sie sich für Hackert's Freund ausgibt und die Veranlassung ist, warum er hier wohnt.

Indem waren die Brüder oben. Dies Stockwerk, sahen sie wohl in der Dämmerung, war nicht so vollständig wie die andern. Links von der Treppe lagen wol noch dieselben Zimmer wie unten, aber schon Dachzimmer, rechts ging die Galerie nur halb in den Hof hinaus. Die andere Seite war ein Dach. Die Fenster gingen hier auf diese Galerie alle selbst hinaus und wie sie ihre morschen, durchsichtigen Bretter betraten, fiel Siegberten eine mit einer Zahl bezeichnete Thür auf, die mit zwei mit Eisenstäben vergitterten Fenstern zu einem einzigen Zimmer zu gehören schien.

Hier ist ja ein Gefängniß, sagte Siegbert.

Nein, antwortete Dankmar leise, das ist Hackert's Wohnung ... Aber, ich sehe kein Licht. Sitzt der im Dunkeln oder hält er nicht Wort?

Indem klopfte Dankmar an diese Thür, die Nr. 86 bezeichnet war, und klinkte am Drücker. Das Zimmer war verschlossen.

Da haben wir eine beschwerliche Wanderung umsonst gemacht! bemerkte Siegbert, dem dieser Schluß eines so aufgeregten Tages fast humoristisch vorkam.

Vielleicht könnte man gleich bei Nr. 87 vorsprechen, flüsterte Dankmar und auch ohne Hackert die Scene erleben, die ich dir eigentlich bescheren wollte.

Du machst mich neugierig, sagte Siegbert. Vielleicht öffnet sich eine dieser Thüren und wie in »Tausend und [1229] eine Nacht« sind wir statt in einer Höhle plötzlich in einem wunderschönen Feenpalast.

Romantiker! sagte Dankmar lächelnd und pochte jetzt so nachdrücklich an Hackert's Thür, daß aus Nr. 85 ein spitznasiger, bebrillter Kopf herausschoß, ein wahres Original zur Carricatur eines Schreibers.

Ah, Herr Schmelzing! grüßte ihn Dankmar. Ich störe Sie doch nicht schon im Schlafe? Herr Hackert nicht zu Hause?

Herr Schmelzing war eben auch erst wieder nach Hause gekommen, voll vom Herrn Oberkommissär, der ihm sein besonderes Vertrauen schenkte und stand in Hemdärmeln. Rasch fuhr er wieder in sein Zimmer zurück und kam nach einer Secunde in einer grünen Jacke mit einem großen grauen befestigten Dintenärmel am rechten Arm heraus. Er hielt ein Licht, das seine Glotzaugen, seine stumpfe kleine Nase, den zahnlosen Mund, die endlose Stirn, das thierische Kinn noch mehr illustrirte.

Ganz gehorsamster Diener, meine Herren – Herr Hackert? Ei ich meine doch –

Damit drückte Herr Schmelzing auf die Klinke der Thür seines Nachbars.

Nein, sagte er dann erstaunt und überrascht von diesem späten Besuche seines Nachbars, Herr Hackert sind nicht zu Hause; kommen manchmal etwas spät. Wünschen Sie vielleicht zu warten, meine Herren! Woher hab' ich die Ehre Ihrer Bekanntschaft, meine Herren?

[1230] Die saubere Aufschrift Ihrer Thür, Herr Schmelzing, die ich heut' früh schon gelesen habe: Herr Schmelzing, Privatschreiber; nicht so?

Schmelzing stand als wenn er diese Worte nicht verstanden hätte.

Dankmar unterstützte sie durch einen Fingerzeig auf die Thür.

Schmelzing wandte sich nun erst an seine eigene Thür Nr. 85 und las den Zettel, gleichsam als wenn er ihm unbekannt wäre.

Ja wol! Privatschreiber! Aber auch Herr Hackert sind ein Meister in diesem Fache. Wünschen Sie vielleicht unsere Dienste im Kalligraphischen? Ich schreibe für viele der Herren Advocaten – auch dichterische Erzeugnisse -Rollen für die Herren vom Theater – wünschen Sie vielleicht einen Auftrag ausgeführt?

Während Schmelzing seine Dienste unterwürfigst anbot, hatte sich aber schon die Scene verändert.

Hier und da trieb die Neugier über das späte Lautsprechen auf der Galerie des dritten Stockes jene Gesichter zum Vorschein, die schon an der Eingangspforte Siegberten so unheimlich erschienen waren. Auch Frauen in Hauben oder aufgelösten Haaren fehlten nicht. Letztere mehr hexen- als lurleiartig. Die angenehmste Vermehrung der Gesellschaft war aber aus Nr. 87 ein kleines Mädchen, das wir schon kennen, Linchen Eisold, zu der sich sogleich auch Wilhelm, ihr kleiner Bruder, gesellte. Dieser war schon ziemlich verschlafen und gähnte so laut, [1231] daß es fast auf der Galerie ein Echo gab. Jene aber knixte gar anmuthig und sagte gewandt und höflich, ob die Herren nicht näher treten wollten; Herr Hackert würde gewiß gleich kommen.

Das ist nun gerade, was ich dir gönnen wollte! flüsterte Dankmar und schob Siegberten eine Thür weiter.

Gute Nacht, Herr Schmelzing, rief er dann sehr laut (denn er hatte schon weg, daß Herr Schmelzing wol etwas taub war), entschuldigen Sie die Störung!

Dieser mit halb geöffnetem Munde und dem nachdrücklichsten und höflichsten: Bitte, keine Ursache! das ihm aber doch vor Neugier zwischen den fahlen Lippen halb stecken blieb, sah den jungen Männern kopfschüttelnd nach, wie sie unter der Thür Nr. 87 sich bückend verschwanden. Alle Augenblicke machte er sich später auf der Galerie etwas zu schaffen, um zu hören, was in Nr. 87 vorging, einer Wohnung, die jedoch nur eine kleine Küche mit einem Fenster auf die Galerie hinausgehend hatte. Des Hauptzimmers Aussicht ging hinterwärts in ganz andere Höfe hinüber.

Der Raum, den Siegbert und Dankmar anfangs in Nr. 87 um sich hatten, war nicht größer, als daß er für etwa acht Menschen, die dicht nebeneinander standen, ausgereicht hätte und doch stand hier erstens ein Feuerherd, zweitens ein Küchenschrank, drittens ein Bett mit einer Menge geringfügiger Gegenstände, die alle Platz haben wollten. Eine Thür links führte zu Hackert's Zimmer; doch stand zum Zeichen, daß sie ignorirt wurde, [1232] ein Besen, ein Zuber, ein Eimer und eine Waschbank davor und eine Thür rechts führte in das große Wohnzimmer.

Dies große Zimmer war nun allerdings sehr geräumig und mußte es sein; denn nicht weniger als acht Menschen waren darauf angewiesen, hier zu wohnen und theilweise auch zu schlafen. Das Zimmer hatte drei Fenster, von welchem zwei geöffnet waren und die kühlende Abendluft der hintern Aussicht herein ließen, eins aber war verhängt und durch eine Schirmlampe beleuchtet. Hier war Nacht, an den beiden andern kleinen Fenstern noch leidlicher Tag.

An dem beleuchteten Fenster saß ein alter Mann, der auf einem Tische vor sich zwei oder drei alte Uhren, in der Weise der Schwarzwälder Uhren, aber viel größere und unförmlichere, stehen hatte, in denen er mit einer Fahne von einer Feder die Gänge und Triebräder vom Staube rein kehrte und dann und wann die Uhren schlagen ließ. Ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren stand hinter ihm auf einem Fußschemelchen und löste ihm einen kleinen weißgelben Zopf auseinander.

Der nach dem uralten, wie abgestorben scheinenden Greise älteste männliche Bewohner dieses Raumes, ein junger Mann von vielleicht funfzehn Jahren, saß neben ihm und benutzte das ihm zuschimmernde Lampenlicht, um in einem mit mathematischen Zeichnungen ausgestatteten Buche zu lesen. Kaum blickte er zu den Besuchern, die er ungern zu sehen schien, empor.

[1233] Auf einem Tisch am zweiten Fenster standen mehrere, wie es schien eben geleerte Näpfe, in denen Suppe gewesen schien; denn noch stand ein Rest davon in einer großen irdenen Schüssel in der Mitte des Tisches. Ein Laib groben Brotes mit einigen blankgeputzten Messern lag daneben. Eben streute sich ein winziges Bübchen von vielleicht drei Jahren auf ein Stück Brot aus einem Salzfasse dicke Körner Salz, um es mit dieser Delikatesse schmackhafter zu machen.

Am dritten Fenster sah man einen großmächtigen aufgespannten Stickrahmen, der auf zwei Stühlen lag. Daneben ein Tischchen mit allerhand bunter Wolle, Schachteln mit weißer Baumwolle, Zeichnen- und Stickmuster und kleine violette englische Quadrat-Papiere mit feinen Nähnadeln.

Außer dem alten Uhrmacher mit dem Zopfe bezeugten alle Anwesenden den eintretenden Herren eine Art Aufmerksamkeit, bei der jedoch die Überraschung und Schüchternheit die Höflichkeit milderte. Das freundliche Guten Abend! der Brüder wurde nur von einer einzigen wohltönenden unsichtbaren Stimme erwidert, die hinter einem Bettschirme hörbar wurde, der in einer Ecke des Zimmers stand.

Ich wundere mich, lauteten die angenehmen Worte vom Bettschirme her, ich wundere mich, daß Herr Hackert noch nicht zu Hause ist. Er wollte doch präzis um neun Uhr da sein. Es muß doch schon halb zehn geschlagen haben.

[1234] Dabei schlug es an einer der drei Uhren, die der alte Eisold reparirte, mit zwei Schlägen ... Bim! Bim!

Es thut uns leid, sagte Dankmar, Sie zu stören, während Sie wahrscheinlich schon Alle an's Schlafen gehen denken.

Ich noch nicht, sagte die Unsichtbare und die Großen auch noch nicht. Großvater geht zu Bett! Die Kleinen haben auch schon den Sandmann im Auge.

Gewiß bringen Sie da hinten Ihr kleines Hannchen zur Ruhe.

Ach, das schläft schon mit den Vögelchen ein, aber es ist recht unruhig heute, wacht leicht auf und da hab' ich's einwiegen müssen und ihm ein paar Löffel warmer Milch gegeben ...

Darf man denn wol einmal hinter dem Vorhang die Bescherung sich ansehen? Ich bringe meinen Bruder mit! Der malt gern die kleinen Engelsköpfe ...

Nicht Engelsköpfe, sagte die Stimme bedenklich. Kinder soll man nicht Engel nennen, sonst sterben sie ja.

Sind Sie so abergläubisch, fragte Dankmar, während die Uhren einen dreifachen Refrain gaben: Bim! Bim! Bim!

Wo der Aberglaube nützlich ist und wie hier vor Eitelkeit schützt ... lautete die Antwort.

Darf ich näher? sagte Dankmar.

Nein, nein! hieß es hinter dem Schirme; dies ist eigentlich ein Zimmer ganz für sich. Der Kreidestrich da gilt für die Thür. O wenn wir's genau nehmen, haben wir eine zwar recht hohe, aber doch ganz vornehme Wohnung. Freilich geht der Eingang durch die Küche! Aber wir haben eine [1235] Küche, die auch zugleich Schlafzimmer ist, hier hinter dem Bettschirm ist mein, Großvaters und meines kleinen Hannchens Schlafzimmer, hinter dem dunkeln Fenster ist Großvaters Werkstatt, am zweiten Fenster unser Eßzimmer, am dritten mein Arbeitszimmer. An der Thür, wo Sie stehen, müssen wir leider unsere Besuche annehmen, das ist unser Besuchzimmer und dabei sind wir so im Überfluß an Raum, daß wir doch noch an Herrn Hackert und Herrn Schmelzing zwei Zimmer vermiethet haben. Was sagen Sie zu all' dem Reichthum?

Die Uhren schlugen zusammen, als wenn ein Dirigent gerufen hätte:Tutti!

Die Sprecherin kam zum Vorschein. Mit beiden Armen hielt sie die Öffnung zwischen der Mauer und dem einen Ende des Schirmes zu; denn Dankmar wollte eben dennoch Siegberten an die Wiege führen.

Als sie aber im Dämmerlichte bemerkten, daß hier noch zwei Betten und ein sehr weißes und sauberes stand, das wol schon für die Sprecherin selber aufgedeckt war, zogen sie sich zurück und beobachteten nun bei halbem Sternen- und halbem Lampenlicht das junge Mädchen, das die Mutter aller dieser Kinder schien, aber in Wahrheit nur die ältere Schwester war.

Louise Eisold mochte nicht viel über achtzehn Jahre zählen. Es war eine blasse, wie verklärte Erscheinung, der man sogleich ansah, daß ihr diese heitere Plauderei nicht ganz natürlich kam. Die Züge waren von einer in solchem Stande seltenen Feinheit und Regelmäßigkeit.

[1236] Nase, Kinn, mehr spitz als rund, aber so anmuthig, daß den Lippen mehr Frische, dem Auge mehr unternehmendes Feuer, dem blonden Haare eine etwas dunklere Färbung zu wünschen gewesen wäre, um die Wirkung dieser gefälligen Erscheinung noch blendender hervortreten zu lassen. Ein leichtes Kattunkleid, bis oben geschlossen, umgab die im Widerspruch mit dem zarten, wol etwas abgehärmten und erschöpften Gesicht stehenden volleren und runden Formen des Körpers. Das volle, hellblonde Haar war in einen einfachen Scheitel gekämmt und trug nur den einzigen Schmuck eines schwarzen Sammetbandes, mit dem hinten die Flechten zusammengehalten waren. Dies Band erschien fast wie ein letzter Rest von äußerer Trauer, die in der That diese sieben Kinder erst vor wenigen Monaten abgelegt hatten. Die böse Seuche der Cholera hatte ihnen in Zeit von wenig Stunden Vater und Mutter geraubt, die Enkel des alten Uhrmachers, der demnach eigentlich der Urgroßvater dieser armen Waisen war.

Aber wo werden denn all' die übrigen Geschwister schlafen? fragte Siegbert, den der Einblick in diese Welt der Entbehrung rührte.

Da werden Sie erstaunen, sagte Louise und räumte in Eile die Näpfe und die Schüssel und Teller vom Tisch, bedeutete auch im Vorbeigehen dem kleinen Heinrich, daß er viel zu viel Brot auf die Nacht äße und sich's gegen ihre Erlaubniß schon wieder selbst genommen hätte ... Es ist nicht wegen des Brots, aber er schneidet sich noch [1237] einmal in die Finger, der kleine Nimmersatt! sagte sie, im Gegensatz zu dem Arzte, der sich hier doch wol der Skrophelkrankheit wegen würde umgekehrt ausgedrückt haben.

Dabei zog Louise Eisold aus einem alten Sopha, das der Thür ziemlich nahe stand, eine untere Schublade hervor und siehe! diese enthielt ein vollständiges Bett. Dann ergriff sie nacheinander vier Stühle und stellte sie in der Mitte des Zimmers so auf, daß für den Besuch nicht mehr viel Raum übrig blieb. Nun hüpfte sie hinter ihren Bettschirm, brachte einen großen Strohsack geschleppt, bei dessen Transport sie jede Hilfe – weil sonst nur etwas könnte irgendwo gestoßen werden, sagte sie – ablehnte und zwei Breter. Die Breter legte sie auf die vier Stühle, auf diese Unterlage warf sie den Strohsack, legte eine leinene Decke darüber, ein breites Kopfkissen, eine Decke, und hatte somit wieder für zwei Personen gesorgt. In der Küche schläft, sagte sie, mein ältester Bruder dort, der unhöfliche Mensch, der über seinen Büchern Artigkeit und Schlaf vergißt. Hier hinten Großpapa, ich, Linchen und Hannchen; sind fünf. In der Bettlade da Heinrich und Wilhelm; sind sieben. Hier auf den Stühlen Riekchen, die die müdeste ist mit Wilhelm, dem armen Läufer und daher auch ein Bett für sich allein hat. Sind unserer acht, wie uns der liebe Gott wunderbar zusammengelassen hat, als Vater und Mutter an der schrecklichen Seuche vor fast einem Jahr hinübergingen.

Der alte Eisold schlug wieder an auf einer seiner Uhren [1238] und da er wol halb zuhörte, gab er auch acht Schläge und seufzte ... Sein Zopf war nun ausgelassen ... Riekchen stieg vom Schemel herab und ließ offen das ehrwürdige weißgelbe Haar des alten Mannes sehen, der jetzt halbtaumelnd aufstand, von Karl geführt wurde und ohne sich im mindesten um seine Umgebung zu kümmern, hinter dem Bettschirm verschwand.

Siegbert gedachte beim Schlagen der Uhr jenes Sensenmannes bei Rudhard und fühlte an einem Schauer, der ihn überlief, daß der Tod hier nahe sein mußte ...

Daß Ihr Beruf der eines Engels ist, der über Geschwistern wacht, sagte Dankmar zu Louisen, sehen wir wohl! Aber was treibt denn der fleißige Leser dort, der den Großpapa zu Bette bringt und die Uhren da an den Riegel henkt und wovon ist Wilhelm so ermüdet?

O, antwortete Louise, die Betten auflockernd und ausglättend, schon wieder Engel! Ich kann die Ehre und Gnade, ein Engel zu sein, noch nicht annehmen. Die Engel im Himmel, nicht wahr, Heinerchen (sie zog den kleinen Heinrich aus) das wissen wir schon, die haben hier genug herum zu fliegen mit ihren goldenen Flügelchen und uns auf das nächste Christbäumchen zu vertrösten, das wir uns trotz unserer Armuth doch nicht entgehen lassen. Wir müssen arbeiten. Da sehen Sie meine Tapisserie am Fenster! Aber es ist zu dunkel. Ich nehme, wenn Großvater zu Bett ist, seine Lampe und sticke noch bis zwölf Uhr. Die Arbeit drängt ... Sie ist für eine Braut.

Die Vergleichung mit einem Engel hatte ihre Überlegung [1239] so in Anspruch genommen, daß sie Dankmar's eigentliche Frage überhörte.

Siegbert aber gedachte des Gedichtes, das er für Louis Armand übersetzt hatte, und der letzten Strophe:


Des Volkes Tochter, arme Bettlerin!
Juwelen hast du und die Tugend noch!
Kannst deine feuchten Perlen fallen sehn
Auf's Kleid der Braut, das deine Finger nähn!
Bist reich wie sie – o Gott, nun weinst du doch!

Wie, dacht' er, wenn dies das Mädchen wäre, dem Louis Armand das Gedicht gewidmet hatte und Max Leidenfrost, der mich auf sie aufmerksam machte, Nichts von dieser Bekanntschaft wüßte! Aber er hätte nicht einmal gewünscht, daß Armand's greller schmerzlicher Seufzer in der Brust dieses in ihrer Entbehrung glücklichen Mädchens niedergelegt wurde, das in der unbefangensten Stimmung, als er schon die Frage nach Max Leidenfrost auf den Lippen hatte, fortfuhr:

Der Großvater, der eigentlich unser Urgroßvater ist, was wir aber nicht sagen, weil ihn die andern Leute schon den Uhrengroßvater nennen ... ja er ist auch wirklich der Pflegevater von all den Uhren, die noch nach dem alten Schlage hier und da von den Leuten gehalten werden. Von Jahr zu Jahr nahmen die alten Wanduhren ab; aber seit kurzem werden sie wieder Mode. Die reichen Herrschaften kaufen sie auf dem Trödel und lassen sie schön aufputzen und so ist's auch dem alten Väterchen da [1240] geschehen, daß sein Zöpfchen wieder seit einigen Jahren Mode wird und er manche Kunden hat, denen er alle drei Monate einmal in's Uhrgehäuse blasen darf und die Räder mit Öl gätter machen. Das bringt Holz und Licht. Die Miethe rechn' ich durch Hackert und Herrn Schmelzing. Essen und Trinken ist die Sorge meiner Hände und daß die nicht klein ist, sehen Sie wol an den acht gesunden Mägen, denn auch Großväterchen hat noch Gott sei Dank Appetit trotz seiner zwei und achtzig. Kleider, Miethsabgaben, Schulgeld das verdienen die Andern. Karl, der da in dem Buch studirt, ist Maschinenarbeiterlehrling in der Willing'schen Maschinenfabrik. Das Buch da hat er wol aus dem Handwerkerverein von heute mitgebracht. Nicht so, Karl?

Von Herrn Leidenfrost hab' ich's, sagte Karl Eisold etwas artiger als bisher.

Siegbert blickte ihm über die Schulter in's Buch und fand, daß es ein Lehrbuch der Mechanik mit Abbildungen war.

Herr Leidenfrost besucht uns manchmal Sonntags, sagte Louise zur Erklärung und Ablehnung jeder Voraussetzung einer nähern Bekanntschaft mit studirten Herren.

Siegbert ergänzte, daß er ihn kenne, worüber Louise eine aufrichtige Freude empfand, da ihr Bruder Karl sich seines besonderen Schutzes erfreue und Herr Leidenfrost bei Herrn Willing Alles vermöge ...

Nun, unterbrach Dankmar, Sie sind aber noch nicht [1241] fertig in Ihrem Staatshaushalt. Miethe, Holz, Licht, Essen, Trinken ist da ... aber ... da bleibt noch Manches übrig.

Die Kleinen da verdienen auch schon; sagte Louise. Wilhelm und Karoline gehen Vormittags in die Schule, essen dann rasch und von zwei Uhr verdienen sie.

Womit? Wenn wir fragen dürfen?

Sie sind in einer Druckerei beschäftigt, die große Zeitungen druckt. Bis sechs Uhr legen sie die frisch gedruckten Zeitungen und bis neun Uhr Abends tragen sie sie aus. Im Winter, wenn der Schnee die Posten aufhält, müssen sie oft noch um elf Uhr herumtrollen, die armen Tröpfe, aber was hilft's! Die Kaufleute und die Gelehrten wollen wissen, wie's in der Welt aussieht und wenn sie noch so verschneit ist. Die drei Jüngsten endlich verdienen auch ihren Theil ...

Was? riefen die Brüder erschrocken.

Louise lachte und sagte:

Ja! Ja! Riekchen verdient, wenn sie mir Garn wickelt, Heinrich, wenn er hübsch artig ist und Hannchen, das dreizehn Monate alte kleine Schwesterchen, das ich nach dem Tode der Mutter mit Milch aufziehe, durch sein gutes Gedeihen und frohes Lächeln. Auch Das muß mit arbeiten. In Freude und Sonnenschein gedeiht ja Alles besser. Aber ... Vergeben Sie mir! Herr Hackert! Wo bleibt er nur! Und ich kann Ihnen keinen Stuhl mehr anbieten, außer den da vom Karl! Steh doch auf, Karl!

Lassen Sie, liebe Louise, sagte Dankmar. Wir sehen, Sie [1242] wollen Alle zur Ruhe gehen. Hackert hat nicht Wort gehalten. Wir gehen und wünschen Ihnen eine gesunde, stärkende gute Nacht!

Nein, nein, begann Louise mit Ängstlichkeit, Das darf ich nicht; ich kann Sie nicht fortlassen. Herr Hackert kommt sicher sogleich. Sie glauben nicht, wie er sich auf Sie und den Herrn Bruder heute freute. Ach, es ist mir, als wenn ihm ein Unglück droht, das Sie vielleicht abwenden können! Wie Sie heute bei ihm drinnen schrieben und er so ruhig neben Ihnen auf dem alten harten Sopha lag, das wir ihm doch noch hineinstellen konnten, da war ich recht froh, daß ein guter Geist über ihn gekommen schien ...

Nehmen Sie denn so warmen Antheil an Ihrem Miether? fragte Siegbert.

Sollte es nicht jede Seele, die ein Herz in der Brust hat? war die Antwort. Gibt es unglücklichere Menschen, als die in der Nacht wandeln.

Siegbert sah Dankmarn erstaunt an.

Hackert ist somnambul! sagte Dankmar zum Bruder. Die eisernen Stäbe, die dir auffielen, sind nicht ohne Absicht vor seinen Fenstern.

Siegbert konnte sich kaum über diese Mittheilung zurechtfinden. Er fragte voll innigster Theilnahme, wie lange Hackert an diesem Übel litte, wann man es zuerst bemerkt hätte, wie und wo? Der lebendige Antheil, den er seit dem Nachmittag in Tempelheide an Hackert nahm und den nur die Mittheilung Dankmar's von heute früh, [1243] Hackert verdiene seine gute Meinung nicht, etwas wankend gemacht hatte, gab sich in so lebhaften Fragen wieder kund, daß Dankmar ihn an die Nothwendigkeit erinnern mußte, diese des Schlummers bedürftige große und kleine Welt sich nun allein zu überlassen.

Louise aber widerstand seiner Absicht zu gehen auf's bestimmteste. Sie verrieth dabei einen Antheil an Hackert, der über das allgemeine Mitleid wegen seines körperlichen Zustandes hinauszugehen schien.

Sie haben Recht, sagte sie, lassen Sie diese schlummern! Aber ich mache Ihnen den Vorschlag, treten Sie in sein Zimmer selbst so lange ein, bis er kommt.

Es ist verschlossen; sagte Dankmar.

Wohl, auch von dieser Seite da ... antwortete Louise.

Sie öffnete die Thür und zeigte auf die durch allerhand Küchengeräthschaften verstellte Nebenthür, die zu Hackert's Zimmer führte ...

Allein ich habe den Schlüssel zu dieser Nebenthür! fuhr sie fort. Treten Sie hier ein! Ich bringe Licht und Sie warten noch einige Augenblicke.

Die Brüder wurden so von des Mädchens bestimmtem Willen geleitet, so von den kleinen Geschwistern, die gähnend aber auch neugierig sie umstanden, gedrängt, daß sie sich gefallen lassen mußten, zu bleiben. Man räumte Alles von der Verbindungsthür fort und schloß sie auf. Louise sagte den Kindern, sie sollten den Herren Gute Nacht! sagen. Dies geschah und einige Sekunden darauf waren die Brüder in Hackert's dunklem vergitterten [1244] Zimmer ganz allein ... Louise rief von der Küche, sie käme sogleich nach mit Licht ...

Karl Eisold, der älteste Bruder, bewegte sich bei allen diesen Unternehmungen seiner Schwester nicht im geringsten. Nur als sie einen zu lebhaften Antheil an Hackert verrieth, schlug er das Buch, in dem er gelesen hatte, fast heftig zu und ging hinter die Tapetenwand. Er schien mit seiner Schwester über irgend etwas gespannt zu sein ...

Nun, hatt' ich Recht, begann Dankmar, als die Brüder in Hackert's Zimmer in der Dunkelheit allein waren, hatt' ich Recht, dir die Bekanntschaft dieser eigenthümlichen, häuslichen Existenz deines Schützlings zu verschaffen? Was das Gemälde, das du hier beobachtetest, doppelt anziehend macht, ist die Beziehung auf Hackert, der, sprach ich auch heute in der Frühe gegen ihn, dein erstes Gefühl nicht getäuscht hat und wol mehr bemitleidenswerth als zu fürchten ist. Fast möcht' ich glauben, daß ihn dieses edle Mädchen, das sich dem Wohle ihrer Geschwister opfert, liebt ...

Sprich nicht so laut, flüsterte Siegbert, hier nebenan horcht der Schreiber Schmelzing ...

Es war so finster in dem, wie Siegbert wohl merkte, engen Zimmer, daß sie ungeduldig das Licht erwarteten, mit dem Louise zurückkehren wollte ...

Indem fiel ein Lichtschimmer von der Galerie her durch die vergitterten Fenster. Man hörte ein Rascheln, wie von Jemanden, der sich an dem Stricke der Treppe hinaufwand; [1245] denn mehr sich daran hängend, als mit freiem Tritt auf den schmalen Stufen, konnte man hinauf.

Sollte Dies endlich Hackert sein? flüsterte Dankmar. Es wäre Zeit. Ich glaube nicht, daß man bis nach zehn Uhr gut in diesen Häusern bleiben kann ...

St! flüsterte Dankmar und horchte.

Der Ankommende hustete und bewegte sich sehr schwer. Er hatte ein Mützchen auf, das ziemlich weit über den Kopf ging und stützte sich auf einen Stock, den man vielleicht gut that, in diesen Räumen immer bei sich zu führen. Die Laterne, die den Lichtschimmer verbreitete, hielt ein altes Weib, das die Brüder nicht kannten ... Es war die Vizewirthin Frau Mullrich.

Da ist Nr. 86 flüsterte die Alte. Herr Hackert muß doch zu Hause sein; die Herren sind nicht wieder gekommen.

Der Mann in der Mütze klopfte an die Thür des Zimmers, in dem Siegbert und Dankmar noch im Dunkeln standen. Sie hielten sich zwischen dem Pfeiler der beiden Fenster, um durch den von der Galerie hereinfallenden Lichtschimmer nicht bemerkt zu werden.

Der Mann in der Mütze klopfte wiederholt.

Ei, ei, rief Frau Mullrich jetzt laut, Herr Hackert nicht zu Hause? Ei, ei! Ei! Ei!

Sie münzte dieses Ei! Ei! auf die beiden Herren, die, wenn Hackert nicht anwesend war, sicher zu Louise Eisold gegangen waren ...

Klopfen Sie doch stärker, fuhr sie boshaft fort. Herr Hackert schlafen vielleicht schon.

[1246] Ich glaube den alten Störenfried zu kennen, flüsterte Dankmar seinem Bruder zu. Irr' ich nicht, so ist es der Geschäftsführer des Justizraths Schlurck, der auch von diesen alten Häusern die Verwaltung besitzt ... Du weißt noch gar nicht, welches Interesse wir an diesen Häusern haben müssen ...

Noch hatte er seine Rede kaum ausgesprochen, als sich beide Brüder von einer weichen Hand ergriffen fühlten und einen warmen Athem dicht an ihrem Ohre fühlten ...

Halten Sie sich ruhig! Der Alte ist Hackert's Feind! Er kann nichts Gutes bringen. Wir sagen, er ist nicht zu Hause.

Es war Louise, die leise hereingeschlichen war und ihnen diese Verhaltungsmaßregel zuflüsterte.

Kommen Sie, Herr Bartusch! Kommen Sie! Die beiden Herren sind bei Fräulein Louise! Ich irrte mich! Herr Hackert sind noch nicht zu Hause!

Diese laut betonten, recht absichtlich hervorgekrächzten, boshaften Worte der Frau Mullrich machten, daß die Brüder das plötzliche Kaltwerden der Hände des Mädchens fühlten, von denen jeder von ihnen eine in der seinen hatte.

Wie? flüsterte Dankmar; die Alte wäre frech genug, anzunehmen, daß wir ...? Lassen Sie uns sagen, daß wir in Hackert's Zimmer sind!

Nein, nein, bedeutete Louise ...

Aber selbst die beste Absicht Dankmar's, für ihre Ehre einzutreten, war nicht mehr rasch auszuführen; denn [1247] schon hatte sich Bartusch brummend wieder zum Ausgang der Galerie gewandt und mit einem lauten zweideutigen Husten und Räuspern den Rückweg angetreten.

Frau Mullrich leuchtete ihm und kicherte so grell und höhnisch, daß es Louisen schauderte.

Wie können Sie nur zugeben, sagte Siegbert, als sie wieder im Dunkeln waren, daß diese Menschen sich in der Meinung entfernen, wir wären bei Ihnen?

Louise strich an einem Feuerzeuge und zündete nun ein Talglicht auf einem blechernen Leuchter an ...

Sie sprechen so leise, sagte sie lächelnd, daß ich Sie kaum verstehe.

Werden wir hier nicht belauscht von Schmelzing?

Der ist sehr neugierig und boshaft genug, aber der glücklichste Zufall wollte, daß er schwer hört. Ich bin überzeugt, er hat sich den alten Kleiderschrank, der hier an der Thür steht, weggerückt und horcht jetzt. Aber wenn Sie nicht zu laut sprechen, bleibt ihm Alles unverständlich.

Während sich Siegbert nun in Hackert's Zimmer umsah und eine gewisse Ordnung an dem niedrigen Bett, dem schwarzbezogenen Sopha, dem Schreibtische, einem mit einem Vorhange bedeckten Kleiderriegel, eine Waschbank mit Schüssel und Seifennäpfchen, ja sogar einen kleinen Spiegel anerkennen mußte, tadelte Dankmar wiederholt, daß sich Louise den falschen Schein gegeben hätte, als wären sie bei ihr.

Nehmen Sie doch Das nicht so genau! antwortete[1248] Louise. Mir ist die Freude, daß dieser alte Schleicher Hackerten nicht getroffen hat, viel mehr werth als der falsche Schein für meine Person. Wir Mädchen aus den armen Ständen sind, was wir sind. Unser ganzes Leben ist dem Verdachte preisgegeben. Nur die, die in Wahrheit etwas zu verbergen haben, ereifern sich, wenn sie einmal in einem falschen Lichte erscheinen. Und dieser Alte weiß wohl, daß ich mehr für mich habe als den bloßen Schein.

Wie so? fragte Siegbert. Kennen Sie ihn?

Ich kenne ihn und er kennt mich. Hackert zog zu uns auf Empfehlung dieses Nachbars, des Schreibers Schmelzing, der viel bei dem Justizrath arbeitete. Auch entsann sich Hackert des alten Großvaters, der sonst bei Schlurcks gearbeitet hatte, als noch die schöne Melanie nicht regierte und alles Altmodische wegjagte und wegräumte. Seitdem ist dieser Bartusch, Bartusch heißt er, oft hier gewesen. Er kennt jeden Winkel dieser Häuser und wuchert und preßt der Armuth ihre Thränen in Geld ab. Mich wundert, wie er sich so spät Abends noch in diesen dritten Hof wagt, wo Manche wohnen, die ihm das Schlimmste geschworen haben ...

Weiter ließ sie sich in Erörterungen nicht ein, bat sie nun, ihr Gehen zu entschuldigen und ersuchte sie dringend, doch nur noch eine Viertelstunde zu warten. Hackert wäre gewiß ohne seine Schuld verspätet. Er käme sicher. Er hätte sich zu lebhaft gefreut auf diesen Abend. Ja sie müsse ihnen sogar gestehen, daß sie selbst heute ausgegangen wäre und Thee, gute Butter und Braten [1249] gekauft hätte, für den erwarteten hohen Besuch. Ob sie denn in der Küche nicht den siedenden Kessel mit heißem Wasser bemerkt hätten?

Die Brüder gewannen jetzt erst die volle Übersicht des Zimmers, in dem sie sich befanden und entdeckten in einer dunkleren Ecke ein Tischchen mit Tassen, einer Theekanne und einem gehäuften Teller mit Braten. Daneben ein großes feines Brot und Butter und Zucker und Messer ...

O sagte Louise, das ist zwar Alles sehr einfach und nicht besser, als es meine armen Ältern hinterließen, die beide in der Willing'schen Fabrik arbeiteten und doch nur wenig erübrigten, um neben dem Nöthigen auch für den Luxus zu sorgen. Für uns ist eine Theekanne Luxus. Und doch ist sie da und ich wünschte, da sie vielleicht nie gebraucht wurde, sie käme heute noch an die Reihe, eingeweiht zu werden und Sie säßen mit Hackerten bis in die tiefe Nacht. Bis zwölf Uhr kann man aus und ein ... und auch später noch. St! Hören Sie nichts? Ich glaube, man kommt.

Damit hüpfte Louise wie ein raschelndes Mäuschen davon ...

Es war aber nur eine List, daß sie Jemanden zu hören glaubte; sie hatte nur die Absicht, die beiden jungen Männer festzuhalten.

Ihr Bruder Karl schien aber damit nicht einverstanden. Er empfing, wie die Brüder hörten, Louisen mit Vorwürfen über ihr Rumoren, ihr Spektakeln, ihre Tollheiten ...

[1250] Sie erwiderte gereizt und trumpfte ihn ab.

Denk' an Danebrand! sagte der Bruder mit zorniger, lauter, fast donnernder Stimme ...

Darauf war Alles ruhig ... todtenstill ...

Danebrand? Die Brüder flüsterten sich den Namen zu und sahen sich erstaunt an. Danebrand war, wie Siegbert sich erinnerte, der Name eines Maschinenarbeiters ... Ihre Situation kam ihnen, in dem spärlich erleuchteten Zimmer, hinter den Eisenstäben des Fensters, in der Nähe des zornigen jungen Karl Eisold, vor diesem kleinen Tisch mit Eßwaaren und der plötzlichen Ruhe nebenan vor, wie die Verzauberung eines Märchens.

[1251]
7. Capitel. Caliban
Siebentes Capitel
Caliban

Dankmar schwieg verstimmt über Hackert's nicht gehaltenes Wort.

Siegbert aber hatte, als sie sich auf das verbrauchte, harte Sopha niederließen, so viel Humor, daß er anfing:

Es scheint, lieber Bruder, als wenn wir jetzt erst an unser Grün'sches Diner kommen! Ich habe Hunger und gestehe dir: Ich bin geneigt, dem Braten da zuzusprechen, auch ohne Thee und ohne Hackert. Aber deine Aufklärungen würden dabei das bescheidene Mahl würzen. Bin ich satt, so werd' ich auch dir noch manches Seltsame vorzutischen haben.

Iß, Siegbert! Greif zu! sagte Dankmar. Ich kann mir denken, daß dich der Herzensjammer heute von aller Befriedigung deines thierischen Menschen fern gehalten hat und nun rächt sich die verstoßene Mutter Natur und kommt von selbst, ohne gerufen zu sein ...

Siegbert begann wirklich das Brot mit einem etwas stumpfen Messer zu »zersäbeln« und dem Braten zuzusprechen, zu dem selbst das Salz nicht fehlte ... Mit Butter war er sehr delikat. Er mußte die Menschen schon sehr genau kennen, ehe er ihre Butter aß.

[1252]

Dankmar begleitete seinen Appetit mit der Bemerkung:

Ich muß mir meine Hohenberger Reisebeschreibung auf günstigere Zeit aufsparen. Wozu nützt sie auch? Ist doch mit dem Namen Melanie des ganzen Witzes Spitze abgebrochen! Kommen wir darauf für's Erste nicht zurück!

Was trieb dich nur heute früh in diese Spelunke, wo wir, wenn wir's genau nehmen, auf die gemüthlichste Art im Handumdrehen verschwinden können? Da nebenan jetzt ganz still ein Riegel vorgeschoben und wir sind in der Falle.

Als ich mich heute früh von dir entfernte, begann Dankmar, hatte mir der Name deiner Angebeteten einen Schlag vor den Kopf gegeben. Du weißt, was mich drängt und treibt! Du hast hundertmal gehört, daß ich einem Besitze nachjage, der unserer Familie auf die rechtmäßigste Weise von der Welt gehört –

Auch dieser prächtige Palast hier ist ja wol in gewissem Sinne der unserige? sagte Siegbert spottend.

Spotte nur! Du hast ein Recht darauf! Denn aus Mismuth, eine so wichtige Angelegenheit, wie die der Reclamation meines Schreins, von heute auf morgen zu verschieben, das ist nur möglich, wenn man der Romantik etwas zu tief in die verschwommenen Augen geblickt hat und sich recht gründlich über die Nothwendigkeit ärgerte, einem Gedanken so verführerischer Art, wie dem an Melanie, Laufpaß geben zu müssen. Ich saß [1253] eben am Paradeplatz wie ein recht lächerlicher Herzenskranker –

Bruder! Ich kann das Selbstironisiren seiner Gefühle nicht leiden – sagte Siegbert und legte das Messer fort.

Nun iß nur! Schone die Küche deines Proletariers nicht..! Ich will ernst sein. Wie ich am Paradeplatz endlich mit einem vernünftigen Entschlusse mich erhob und wegen meines Schreines zu Schlurck gehen wollte, glaubt' ich in einer Straße einen Fremden zu entdecken, der mit seinem Sohne in Hohenberg mich außerordentlich gefesselt hatte. Ich eile jener Straße zu und finde im Gedränge zwar den Fremden nicht, sehe aber plötzlich Hackerten. Du mußt wissen, daß ich ihn mit der Bezeichnung: Schurke oder Schuft oder einer ähnlichen Liebkosung verlassen hatte.

Und der Androhung einer Klage, die ihm Lasally anhängen wollte ...

Richtig! Wegen Pferdemordes!

Pferdemordes? Du willst mir den Appetit verderben –

Wegen drei verdorbener Pferde!..

Da, Bruder, willst du den Rest dieses Bratens? Ich esse nicht mehr.

Dankmar erzählte aber im Ernst mit kurzen Umrissen diese Begebenheit und Hackert's so gut wie erwiesenen Antheil daran.

Bruder, sagte nun Siegbert wirklich erschreckt. Ich erlebe, die Thür rechts und links geht hier auf und wir werden von Männern mit langen Messern begrüßt. Die [1254] Mondsucht ist nur ein reiner Vorwand für diese eisernen Gitter ...

Doch nicht! Daß Hackert im Monde wandelt, sah ich auf dem Heidekrug mit eignen Augen, es war ein Anblick, der mich und den Vater unserer Melanie tief erschütterte. Genug, die Liebkosungen Schurke und Schuft, mit denen ich Hackerten später verlassen hatte, hinderten nicht, daß ich ihm heute früh zurief, wo jener Fremde, Ackermann und sein Knabe, eben verschwunden wären? Erst gab er mir keine Antwort und wollte mich nicht kennen. Ich fing dann von seinem dir übergebenen Pfande von hundert Thalern an, gratulirte ihm zu dem Sieg über sein Gelüst, auch das vierte Pferd dem Lasally zu morden und gerieth darüber mit ihm in ein anfangs sehr hitziges Gespräch. Er führte mich bei Seite –

Bruder! Brauch nicht so aufregende Wendungen! Bei Seite führen – bei Seite bringen – ich möchte gern, mein Appetit käme wieder.

Gedulde dich ein wenig; er kommt ...

Hackert? sagte Siegbert und sprang halb scherzend, halb ernst auf.

Nein, nein, dein Appetit ...

Dankmar freute sich, seinen Bruder trotz Melanie und der Entsagung so scherzend angeregt zu finden.

Ich wandte mich, fuhr er fort, mit dem Pferdemörder in eine entlegenere, stille Gegend der Stadt und da erzählte er mir, daß er mit jenem Fremden und dem Knaben die Rückreise von Hohenberg gemacht. Sie hätten ihn [1255] freundlich aufgenommen und ihm Gutes gethan. Gutes? fragt' ich. Was meinen Sie damit? Mich milde getragen, wie ich bin und Nachsicht gehabt mit meinen Fehlern.

Siegbert unterbrach und sagte:

Was willst du mehr, ist Das nicht eine Sprache, die sich hören läßt?

Ich kam dann, fuhr Dankmar zustimmend fort, auf die unglückliche Krankheit des Nachtwandelns. Er wich mir aus. Doch als ich ihm erzählte, wie ich ihn auf dem Heidekrug selbst in diesem Zustande beobachtet hätte, sagte er: Auf dem Heidekrug müsse Magnet in der Erde sein; dort hätte es ihn wieder getroffen, gerade in dem Augenblick, als man mir das Bild brachte. Das Bild? fragt' ich erstaunt. Denn ich muß dir gestehen, dies Bild ist mir auf die seltsamste Weise in die Hand gekommen. Darauf hin ergab sich denn jene Erzählung, die ich dir im Bilde von der Eidechse und der Katze brieflich niederschrieb. Melanie hat mir einen großen und anerkennenswerthen Dienst erwiesen, aber dabei so viel Rücksichten geopfert, daß ich ihr statt dankbar, gram wurde. Wenn du meine Hohenberger Abenteuer erfährst, wirst du klarer sehen und mir vergeben, daß ich aus Liebe zu dir und zu mir selbst beschloß, diesen Gedanken ganz an der Wurzel aus unserem Herzen zu reißen und Hohenberg für einen Traum zu nehmen ....

Dankmar erwartete eine Antwort, doch schwieg Siegbert und stützte den Arm auf die harte Holzlehne des Sophas.

[1256] Nach Allem, was ich mehr gewaltsam aus Hackert herauslocken mußte, als freiwillig erzählt bekam, fuhr Dankmar fort, hatt' ich mir auch eine eigenthümliche Beziehung Hackert's zu Melanie zusammensetzen müssen. Er war in Schlurck's Hause erzogen. Er ist plötzlich von dort entfernt worden. Man fürchtete seine Nähe und sorgte doch für ihn. Lasally, der um Melanie's Hand wirbt, mishandelt ihn. Er rächt sich durch eine scheußliche Gewaltthat an seinen Pferden. Wie ich alle diese Dinge Hackerten vorhalte und mit der etwas groben Logik, die uns Juristen eigen ist, ihm auf den Kopf meine Vermuthungen zuspreche, milderte sich sein trotziger Ton, legte sich fast sogar das struppige rothe Haar und mit weicher Stimme beginnt er: O, wenn Sie in mein Leben sähen! Wenn Sie Ihr Bruder wären, was wollt' ich nicht Alles sagen und meinen Kummer vergessen! Diese Worte rührten mich und herzlich sprach ich ihm zu, doch auch mir zu vertrauen. Mit großem Blicke sah er mich darauf an und schwieg. Wie leben Sie? Wo wohnen Sie? Was sind Sie? fragt' ich. Indem waren wir in unsern Gesprächen in diese Gegend gekommen, und wie von einem guten Gedanken ergriffen, sagte er: Wollen Sie meine Wohnung sehen? Kommen Sie! Ich bin Ihrer Theilnahme nicht ganz unwerth. Ich folgte ihm und er führte mich hierher.

Ich werde eifersüchtig werden, daß du mir einen Freund abwendig machst! sagte Siegbert, die eigne Rührung nur hinter Scherz verbergend.

Hier lernt' ich nun diese Schwester, fuhr Dankmar fort, [1257] die sechs jüngeren Geschwister, Kinder zweier vor einem Jahre an der Cholera gestorbener Ältern kennen, den alten Uhrmacher, und so viel Bescheidenes, so viel Einfaches, Gutes, Sittliches, daß ich Hackerten aufforderte, mir dasselbe Vertrauen zu schenken wie dir. Er lächelte ungläubig und sagte: Sie werden gegen mich zeugen und ein Jahr Zuchthaus ist mir wol gewiß.

Er stellt sein Verbrechen nicht in Abrede?

Leider nein! Ja, im Gegentheil äußerte er: Es ist gut, daß ich dorthin komme. Wer weiß, ob ich Lasally nicht noch einmal selbst umbringe, wie seine Pferde. Meine Fragen um den genaueren Zusammenhang seiner Feindschaft gegen diesen Mann ließ er unbeantwortet. Um Zeit zu gewinnen, daß er zu mir Vertrauen fasse, bat ich ihn, auf diesem Tische da am Fenster einen Brief schreiben zu dürfen. Er rückte mir Alles hin und schien ein Wohlgefallen daran zu finden, mir die Ordnung seiner Schreibmaterialien zu zeigen. Während er hier auf dem Sopha ausgestreckt lag und eine Cigarre nach der andern halb anrauchte und dann zerknittert wegwarf, schrieb ich dort den Brief an dich. Als ich ihn zusammengelegt hatte, fing er an: Und wär' es vielleicht besser, ich ginge nicht in's Zuchthaus? Muß denn Lasally Recht behalten? Ich antwortete ihm: Hackert, wie können Sie glauben, daß ich mit Jemanden zehn Minuten unter einem Dache zubringen, an seinem Tische sitzen und nicht Alles aufbieten würde, um ein solches Unglück abzuwenden? Wollen Sie Das? sagte er, immer noch mistrauisch. Es ist nicht um mich, mir [1258] möcht' es doch wol am dienlichsten sein, aber diese Menschen hier nebenan lieben mich. Die Louise macht ihren Bruder Karl auf mich zornig. Sie soll einem Andern gehören. Ich kann sie nie lieben und hasse die Weiber, fliehe wenigstens die guten; aber diese Louise liebt an mir Das, was leidlich und wenigstens besser als mein übriges Schlimmes ist. Sie will aus mir einen braven Kerl in ihrem Sinne machen, wozu ich Talent hätte, wenn ich wüßte, wozu? Ein braver Kerl! Es ist das Langweiligste von der Welt! Für mich so viel, wie Ihnen vielleicht das Wort: ein guter Bürger in's Ohr klingt. Gott verdamm' mich! Ich wünschte, ich wäre etwas Rechtes – nein, nein, lassen Sie nur! Bezeugen Sie die Kugeln! Ich will in's Zuchthaus. Eine Bahn muß der Mensch haben. Menschen, die unglücklich lieben, sind Narren ... Tollhaus oder Zuchthaus!

Unglücklich lieben? Wen liebt er denn?

Er nannte seinen Gegenstand nicht. Aber was hindert mich, anzunehmen, daß es Melanie ist?

Siegbert horchte ungläubig auf ...

Erkenne auch darin einen Grund zu den bestimmten Äußerungen und Abmahnungen meines Briefes; fuhr Dankmar fort. Diese Melanie ist mit ihm erzogen worden ... Unvorsichtig genug galten Beide so lange für Geschwister, bis sie eines Tages merkten, daß sie es nicht sind. Wenn ich aus dunklen Andeutungen mir eine Idee zusammensetzen darf, so glaub' ich, daß Hackert nur um Melanie aus dem Hause Schlurck's entfernt wurde und [1259] mit seiner verzehrenden, krankhaften Liebe für seine ehemalige Gespielin der Familie eine Last und Qual ist.

Ich erstaune! Das hebt mir Hackerten! sagte Siegbert.

Melanie aber setzt es herab, antwortete Dankmar. Das wirst du eingestehen?

Ich fühle so etwas!

Und ich freue mich, daß du meinen Brief nicht mehr für grausam hältst. Endlich drang ich in Hackert, mir die volle Wahrheit zu sagen. Ich verspreche ihm, sogleich zu Lasally zu gehen und Alles aufzubieten, ihn von einer weitern Verfolgung dieser Angelegenheit zurückzubringen. Barmherzigkeit von diesem Schurken? rief er. Sehen Sie das Maal hier an der Stirn! Fühlen Sie diese Ritze in der Kopfhaut! Denken Sie sich diesen Kopf mit Blut besudelt! Wollen Sie meinen Rücken sehen? Soll ich ihn entblößen? Wollen Sie die Sporen erkennen, die mir der Unmensch und seine Knechte in die Hüfte traten?

Um Gotteswillen –

Ich erschrak wie du über die furchtbare Heftigkeit der Erinnerung an eine Brutalität, die man sich mit dem kranken Menschen erlaubt hatte ... Ich begriff seine Rache. Seine Stimme war so grell, so kreischend geworden, daß Louise, nicht durch diese Thür, sondern von der Galerie hereinstürzte und in allen Mienen eine Besorgniß aussprach, die sich mir sehr bald als eine solche verrieth, die von ähnlichen Wuthausbrüchen nicht überrascht sein konnte, da sie häufig vorkamen. Ich gehe, Hackert, sagt' ich. Mäßigen Sie sich! Ich spreche mit Lasally. Wann kann [1260] ich Sie heute noch sehen? Er schwieg und stützte den Kopf auf. Drinnen schlugen die Uhren des alten Mechanikers. Bim! Bim! wiederholte er die Schläge und zählte weit über zwölf hinaus. Wo ist Riekchen? fragte er wie abwesend. Als ihm Louise sagte: Sie wickelt mir Wolle, frug er: Und Hannchen? Die schläft! sagte Louise. Kommen Sie doch hinüber! flüsterte er dann mit schwacher Stimme und zog mich in das Zimmer, wo wir waren, den Weg, den wir selbst vorhin nahmen. Da sah ich denn diese Armuth, diese Beschränkung und als ich von sechs Geschwistern hörte und daß die alle hier des Nachts Platz hätten, sagt' ich zweifelnd, dann komme ich heute Abend um neun Uhr. Das muß ich sehen. Ich bringe den Bruder mit. Ich öffnete dann den Brief noch einmal und schrieb dir dieses Rendezvous. Er versprach mir nicht ausdrücklich hier zu sein. Aber Louise winkte, ich sollte nur kommen. Er würde nicht fehlen. In solchen Stimmungen der Wehmuth kenne sie ihn ...

Und doch hat sich das arme Mädchen geirrt! Hörst du drinnen die Uhren schlagen? Es ist zehn ... Er ist nicht da ... Hast du denn bei Lasally etwas ausgerichtet?

Leider nein! antwortete Dankmar. Als ich den Brief bei Grün's abgegeben und selbst in der Eile gegessen hatte, ging ich auf die Reitbahn und widmete mich dieser Angelegenheit mit einem Eifer, der mich alle meine wichtigen eigenen Interessen vergessen ließ.. Es war zwei Uhr. Ich hörte, Lasally wäre bei Schlurck's zu Tisch. Anfangs wollt' ich ihn erwarten. Der alte Levi, Lasally's [1261] Factotum, erzählte mir, was ich schon wußte: Die Entdeckung des Urhebers eines an drei Pferden verübten Frevels –

Durch Kugeln, die ihnen Hackert in die Ohren gleiten ließ? wiederholte Siegbert, was ihm Dankmar erzählt hatte. Das ist ja entsetzlich!

Siegbert sah das Bild dieser Scene als Maler vor sich. Er stand auf und ging, von seiner Phantasie gefoltert, hin und her ...

Komm! Komm! rief er. Ich kann mich mit Hackert nicht mehr aussöhnen. Ich sehe diese gemordeten edlen Thiere immer vor mir! Ich denke mir eine wilde Jagd von Gerippen und Hackert auf diesen Gerippen ... geschleift von ihnen! Komm! Komm!

Beruhige dich! sagte Dankmar. Denke nicht mehr an diese Scene! Mach' es wie ich in Lasally's Reitschule ... Mich amüsirten die Reitstudien einiger Hypochonder, die ihren Unterleib erschüttern wollten und einigemale kopfüber ihr Gehirn erschütterten. Junge Stutzer kamen mit silbernen Sporen und den elegantesten Reitgerten; sie setzten sich auf und im Nu war aller Pli, alle Haltung, aller Übermuth hin; der Mund stand ihnen ängstlich offen und zimperlicher waren sie als zwei allerliebste russische Kinder, die sich in Begleitung eines Bedienten auf den Pferden tummelten.

Russische Kinder? fragte Siegbert.

Ein junges Mädchen besonders, in Amazonentracht, war so keck, so gewandt, daß sie sich auf einem gar nicht [1262] überzahmen Pferde tummelte und während des Galoppirens auf der Bahn wie eine Kunstreiterin erhob und die halbe Bahn entlang an dem Zügel sich schwenkte und im Stehen sich aufrecht erhalten konnte. Man nannte sie Olga, die Tochter einer Fürstin Wäsämskoi.

Siegbert voll stillen Erstaunens lächelte bedeutsam ...

Warum lachst du? fragte Dankmar. Mir wurde himmelangst über das halsbrechende Manöver.

Weil ich die Kleine kenne und Rurik, ihren Bruder ... Aber fahre fort!

Ich bin mit meiner Odyssee zu Ende; sagte Dankmar. Die kleine Russin interessirte mich so lange, bis ich merkte, die Kokette könnte sich, um ihre Reitkünste zu zeigen, mir zu Liebe den Hals brechen. Da ging ich wieder in den Stall, wo mich mehre alte Bekannte, Lieutnant Aldenhoven, Rittmeister von Astern und Andre veranlaßten, mit ihnen auszureiten. Ich ließ bei Levi die Bitte an Lasally zurück, ihn noch heute sprechen zu können und ritt mit den Offizieren. Die Erholung war angenehm, was den Ritt und die Natur, lästig, was die Gespräche betraf. Die politische Reizbarkeit dieser Menschen nimmt in einem Grade zu, daß man mit ihnen nicht mehr verkehren kann. Die Entrüstung, die man über Major Werdeck, der uns heute früh begegnete und den sie an uns vorbeireitend kaum grüßten, weil er für liberal gilt, äußerte, führte fast zu Conflikten mit mir selbst. Doch beherrschte ich mich, da ich der mich drückenden Sorgen genug habe und keine neuen Verwickelungen wünschen kann. Wir verspäteten [1263] uns bis gegen acht Uhr. Im Vorbeireiten vor Egon's Palais vernahmen wir leider die Nachricht von der traurigsten Verschlimmerung seiner Krankheit, und von Lasally, den ich in seiner Reitbahn fand, mußt' ich denn eben jetzt auch hören, daß er von seinem Vorhaben gegen Hackert nicht abstehen würde. Die Familie Schlurck, wisse er wohl, wolle alles Aufsehen vermeiden, er wisse wohl, daß sie Hackert schonen möchte, aber er sähe nicht ein, warum er Anstand nähme, daß gewisse Dinge an's Tageslicht kämen. Er war dabei so empfindlich, so gereizt gegen Melanie, daß ich fürchten mußte, mit ihm selbst mich zu überwerfen. Seine Bemerkungen über eine gewisse zweideutige Rolle, die ich in Hohenberg gespielt hätte, streiften nahe an's Verletzende. So kam ich denn her, um Hackerten zu veranlassen, mit Hülfe seiner hundert Thaler diese Gegend rasch zu verlassen oder mir durch ein aufrichtiges Geständniß aller der Umstände, die sich auf seine Verhältnisse zur Schlurck'schen Familie beziehen, die Mittel an die Hand zu geben, als Rechtsbeistand für ihn aufzutreten.

Kaum hatte Dankmar diese, wie das ganze Gespräch geführt wurde, im halblauten Tone gesprochenen Worte beendet, als sich plötzlich von unten her ein lautes, heftiges Lärmen vernehmen ließ, das von einem Zanke in den vorderen Höfen herzukommen schien.

Die Brüder horchten auf.

Einige abgerissene Worte konnten wol verstanden werden, aber der Zusammenhang des Streites war nicht gut [1264] aus dem Lärm zu errathen. Soviel vernahm man wol, daß es nur eine einzige Stimme war, die allein das vorherrschende Wort zu führen schien und von den Andern mehr beschwichtigt wurde, als in gleicher Heftigkeit erwidert bekam.

Indem riß Louise die Thür auf und rief:

Um's Himmelswillen! Das ist Hackert!

Glauben Sie? Diese schreiende, gellende Stimme?

So tobt er im Zorn! Was ist ihm nur?

Das ist kein Zorn! Das ist Übermuth! Hören Sie, er lacht! ... Er singt!

Die Brüder und das besorgte Mädchen horchten.

Der Lärm kam näher. Schon nahmen andere Hausbewohner an ihm Theil. Schon hörte man Ausrufungen, wie:

Da hat ihn Einer! Packt ihn fest! Laßt ihn nicht los! So ist's recht! Fallen Sie nicht, Herr Mieths-Fraß! Alte, dir geschäh' es auch nach Verdienst, wenn er dir deinen Zopf ausrisse! Ha, ha, die Hausschlüssel wer den wohlfeiler! Setz' Sie doch den Preis herab; ein Hausschlüssel kann auch einmal anderswohin, als auf Nr. 17 führen. Rutsch! Vorwärts!

Es ist Bartusch! sagte Louise beruhigter.

Nein! Auch Hackert! ergänzte Dankmar.

Ja! Hackert, der mit Bartusch in Streit gerathen ist, sagte Louise.

Der Lärm kam näher ...

Jetzt war Hackert mit Bartusch, denn dieser zog ihn [1265] wirklich hinter sich her, auf der obersten Galerie und die Mullrich mit der Laterne folgte schimpfend und mit ihrem Manne drohend, der leider schlafen müsse ...

Schämen Sie sich in nachtschlafender Zeit einen solchen Lärmen zu verführen, Herr Hackert! sagte Frau Mullrich. Was haben Sie sich denn zu beklagen, wenn Andre ihren Spaß haben!

Spaß, alter Cerberus? rief Hackert. Lach' du, wenn du deine Pfennige zählst und recht viel Stiefeln zu flicken bekommst. Aber grinse nicht über Besuche, die in Nr. 87 auf Nr. 86 warten. Wart', ich will Euch subtrahiren lehren.

Hackert, Sie sind im Rausch – schämen Sie sich, wenn ein Freund zu Ihnen kommt – lauteten Bartusch's beschwichtigende Worte.

Im Rausche bin ich, Gevatter, rief Hackert. Im Rausche! Lustig, morgen ist Hochzeit! Willst du Pathe sein? Übermorgen ist Kindtaufe. Du alter Grauschimmel sollst mir zeigen, wo hier Nr. 17 ist. Schurke, was steht hier an der Thür, die ich jetzt aufschließe? Steht da Nr. 17? Werden hier Besuche empfangen, die nicht mir gelten!

Sie sehen doch, daß Licht in Ihrem Zimmer ist? sagte Bartusch zitternd, während es im ganzen aufgeregten Hause aus allen Fenstern und Thüren scholl:

Nummer Siebzehn! Nummer Siebzehn ist ausgezogen!

Man sah, daß Bartusch's nächtliche Wanderungen zur Maler-Guste kein Geheimniß waren ...

Festgehalten von Hackert, gezerrt am Rockkragen, geschüttelt wie ein Flederwisch, konnte Bartusch hier jetzt [1266] vielleicht das Ende seiner Tage erwarten; denn die ganze Bewohnerschaft nicht nur von Brandgasse Nr. 9, sondern auch von den übrigen nachbarlichen Communalhäusern haßte ihn und hatte sich an dem strengen Eintreiber der Miethen, der bei jedem Auszug die Miethe für den Nachfolger steigerte, oft genug schon thätlich vergriffen.

Bartusch hoffte auf Rettung und Beistand durch die beiden Herren, die bei Louise Eisold warten sollten und ihm nach Dem, was Frau Mullrich von ihrem Gespräch an der Hausthür behalten hatte, nicht unbekannt sein konnten.

Licht in meinem Zimmer?.. sagte Hackert. Licht in Eurem Kopf würde Euch besser sein! Heut' soll noch ganz anders illuminirt werden – meine Haare müssen heut' noch in Feuer aufgehen, wie Ihr's mir längst gedroht habt. Die Laterne her, Cerberus!

Mit diesen der Mullrich zugerufenen Worten schloß Hackert die Thür von der Galerieseite auf und im aufgeregten, vielleicht halbtrunkenen Zustande, trat der überhitzte, glühende, exaltirte junge Mensch herein.

Bartusch und die Mullrich blieben im Schimmer der Laterne lieber auf der Galerie.

Louise hatte sich schon vorher entfernt und die Stubenthür rasch verriegelt.

Her, Ratte du! schrie Hackert, als er die beiden Brüder auf dem Sopha sitzend fand, wo ist hier Hochzeit? Ist Das Nr. 17? Kommst her, altes Fell, oder ich zieh's dir über die [1267] Ohren, Maulwurf? Hast falsch gehorcht! Falsch spionirt, Spitzbube? Was?

Draußen aus allen Zimmern wurden diese Worte mit lautem Lachen und Hohn aufgenommen, sodaß Bartusch nicht anders konnte, als sich auf's Bitten legen:

Hackert, ich beschwöre Sie, so schweigen Sie doch endlich still, sagte er flehentlich. Ist Das der Dank für die Wohlthaten, die ich Ihnen eben zu erweisen gedachte ... Guten Abend, meine Herren! Ach, lieber Himmel!.. Was seh' ich? Irr' ich nicht, so hatt' ich das Vergnügen –

Ja, Herr Bartusch, begann Dankmar, ich bin Ihr Reisegefährte von Hohenberg. Ich erstaune, Sie in einer solchen Situation wiederzusehen. Dies ist mein Bruder! Wie kommen Sie nur zu dem ärgerlichen Auftritt?

Bartusch, der bereits in Erfahrung gebracht hatte, daß das während der ganzen Hohenberger Rückreise auf Dankmar ausgebreitet gewesene Dunkel sich insoweit gelichtet hatte, als er in der That der Eigenthümer jenes Schreines war, über welchen ihm der Justizrath, der ihn in so subtile Sachen nicht einblicken ließ, keine nähere Auskunft gegeben hatte, aber nicht im entferntesten Prinz Egon war; Bartusch, der von Seiten Schlurck's ein Inserat in die Zeitung besorgt hatte, der Eigenthümer jenes Schreins sollte sich melden, hielt es für durchaus unverfänglich und nützlich, Dankmarn mit den für Diesen erfreulichen Worten anzureden:

Jede Stunde haben wir Sie erwartet, Herr Wildungen!

[1268] Der Schrein ist in der That vom Justizrath aufgefunden worden und steht ja zu Ihrer Verfügung. Ach, ach! Diese Hohenberger Reise!

Dankmar fiel ein Stein vom Herzen und ein natürliches Gefühl der Dankbarkeit war es, daß er Hackerten, der ihm etwas zudringlich und unverschämt Cigarren anbot und dabei in der That wie ein Trunkener grüßend sich gebehrdete, unsanft abwies und ihm sein Geschrei und Poltern rügend vorhielt.

Entschuldigen Sie nur, Herr Maler, wandte sich Hackert etwas beschämt statt aller Antwort zu Siegbert; Ihr Herr Bruder ist mein Freund nicht und wird mein Freund nicht und in die Schule geh' ich nicht mehr. Excusez! He, Bartusch! Kommen Sie auf den Fortunaball? Was? Alle zusammen, meine Herren? Vier ist vier – Mensch ist Thier – und auf Vieren mein Plaisir!

O Gott! O Gott! rief die Mullrich, die mit der Laterne in der noch offenen Thür stand. Was soll daraus werden!

Und sich zu den neugierigen Horchern des Hauses zurückwendend, rief sie:

Was steckt Ihr die Nasen aus der Thür? Ist's das erste mal, daß einer in der Brandgasse Nr. 9 in solchem Zustand nach Hause kommt?

Zustand? Flickschusterin, stell' Sie die Laterne dahin! schnaubte Hackert. Was für ein Zustand? Ist Das ein Zustand, wenn man nach Hause kommt voll Amüsement und solche Ratten springen gleich an Einen heran und grunzen: Oben bei Louise Eisold sitzen zwei Herren? Ist [1269] Das ein Zustand, wenn man dann so eine alte Vettel beim Wickel nimmt und den Freund von Nr. 17 und von Mutter Justizräthin mit dazu –?

Hackert! Hackert! Ich beschwöre Sie! Was reden Sie! sagte Bartusch, der sich wieder am Rockkragen gepackt fühlte; undankbarer Mensch! Wissen Sie, daß ich hier bin, Ihnen einen neuen Beweis der langmüthigen Geduld und Liebe dieser Justizräthin zu geben; wissen Sie, daß ich hier bin, um Ihnen ...

Er zog sein Portefeuille ...

Kein Geld! sagte Hackert und warf sich in die Brust. Wir brauchen nichts! Nicht wahr, Maler? Wir haben Freunde, die einen Becher Weins mit uns theilen? Kommen Sie mit auf den Fortunaball, meine Herren! Was?

Siegbert, statt aller Antwort, tief abgestoßen von dieser wilden, thierischen Zügellosigkeit, griff in die Seitentasche und überreichte dem verwahrlosten, ihm eine ganze Classe der zwischen dem Volk und der Bildung schwankenden Mittelschichten großer Städte darstellenden jungen Menschen sein Packet mit hundert Thalerscheinen.

Sie haben alle Ursache vergnügt zu sein, bemerkte dabei Siegbert bitter enttäuscht. Wem die Hülfsmittel so zuströmen ...

Und hier die gewissen drei Thaler, bemerkte Dankmar voll Entrüstung. Da die drei Thaler für den Kutscher!

Dankmar zog die Börse, aus der er drei harte Thaler nahm und auf den Tisch legte.

[1270] Sie wissen, was wir bedungen haben, im Walde hinter Tempelheide ...

Hackert stieß die drei Silberthaler von dem Tisch, daß sie auf den Boden hinrollten und katzenartig von der Mullrich unter dem Ausruf: O die Sünde! Die Sünde! aufgesucht wurden.

Geben Sie mir, wenn ich etwas verdient habe, setzte Hackert mit dumpfer Stimme hinzu, geben Sie mir ...

Nun, sagte Dankmar, ist's nicht so?

Geben Sie mir – knirschte Hackert und stockte doch ...

Sie waren mein Kutscher, Herr Hackert! Entsinnen Sie sich nicht, drei Thaler Accord –

Herr! schrie Hackert und stellte sich vor Dankmar mit einer Miene grimmigsten Zornes.

Nun? antwortete Dankmar, so entschlossen vortretend, daß ihn Siegbert halten mußte.

Geben Sie mir ... Papier! sagte Hackert dumpf und fast in sich hinein und wandte sich an's Fenster, an das er trommelte.

Als Dankmar über diese Äußerung, als eine Frechheit, noch mehr in Zorn gerieth, sagte Bartusch mit gekniffenem Lächeln:

Bitte! Sie wissen also noch nicht, Herr Wildungen, daß unser guter Herr Hackert eine Aversion vor gemünztem Gelde hat? Man sollt's nicht glauben! Alle Welt jammert über das Papiergeld und ächzt und stöhnt, daß man kein baares Silber mehr zu sehen und zu hören bekommt. Und für Herrn Hackert ist das Papiergeld ganz wie erfunden.

[1271] Er kann's Silber und Gold nicht vertragen. Aber Papier bekommt ihm. Das hört er gern knistern. Da Hackert'chen, da ist ein Fünfzigthalerschein! Justizrath läßt Ihnen etwas sagen, was ich Ihnen nur in's Ohr wiederholen kann ... Komm, Fritzchen! Komm, Fritzchen! Sei doch ruhig und gib dich!

Aus allen diesen abgerissenen Reden stellte sich fast heraus, daß Hackert eigentlich in dieser Umgebung, wie sehr er eben auch gewaltthätig und wild verfahren war, wie ein Kranker behandelt wurde. Er hatte die Hände in den Rocktaschen, die Cigarre, ausgegangen, im Munde und stierte mit weißen Augen auf die Thür, die zu den Eisolds führte und hinter der Louise verschwunden war ...

Sagen Sie's nur laut, begann er dumpf und unheimlich, ich weiß es schon, Bartusch, was der Alte will! Fort soll ich! Was? Von wegen der Reitpeitschen und was damit zusammenhängt! Nicht? Aber das Zuchthaus geht selbst für die Spitzbuben nicht so rasch auf, wie die ehrlichen Leute meinen. Erst gibt's Vorkämmerchen, wo inquirirt, geplaudert und aufgeschrieben wird. Protokoll Nr. 8, Nr. 9 oder Nr. 17, wenn's Ihnen süßer klingt – Fascikel sechse: Beklagter erzählt die Gründe, warum ihn der Justizrath aus dem Hause geworfen hat. Was?

Bartusch wandte sich zu Dankmar, der über diesen Typus absoluter Gemüthlosigkeit starr war, während Siegbert sich in die abgerissene ganze Scene nicht finden konnte und die Mullrich immer noch behauptete, Einen von den drei Thalern .... könne sie nicht finden ...

[1272] Sagen Sie selbst, werther Herr, richtete Bartusch das Wort an Dankmar, ob Herr Hackert Recht thut, den Zorn Lasally's und der Reichmeyer'schen Familie abzuwarten? Sie kennen ja das Alles von unsrer Reise her. Er will die menschenfreundliche Absicht nicht nachempfinden, die mich hierher führte, daß man ihm die Mittel gibt – liebe Mullrich, haben Sie den Thaler gefunden? Gehen Sie nur jetzt! ... Sie verstehen mich, was ich meine, Herr Wildungen! Nicht wahr?

Vollkommen, sagte Dankmar, und ich stimme ganz dafür, daß Herr Hackert sich bei Zeiten aufmacht und zu allen Teufeln schert.

Menschenfreunde! bemerkte Hackert bitter. Barmherzige Samariter! Edle Seelen, die Jeden verwerfen, der in ihre Modelle nicht paßt!

Aber noch bittrer fiel ihm Dankmar in's Wort:

Menschenfreunde? Wenigstens Thierfreunde sind wir! Abscheulicher! Spotten Sie nicht über Dinge, die Andern heilig sein können. Ich finde den Vorschlag des Justizraths edel und lobenswerth und wenn ich Ihnen leider sagen muß, daß es mir nicht gelungen ist, Lasally von seinem Vorhaben abzubringen – was bleibt Ihnen anders übrig als –

Dankmar sprach gedämpft ... Plötzlich unterbrach ihn Hackert mit einem donnernden:

Ruhe hier!

Und mit diesen Worten sprang Hackert auf Dankmar wie eine Katze zu ...

[1273] Die Cigarre schleuderte er von sich.

Die Hände schlug er auf den Tisch, daß die Theetassen klirrten ...

Ruhe hier! schrie Hackert. Das ist meine Wohnung und ich bin Herr hier! Lasally ist ein Hund! Wer sagt Ihnen denn, daß ich vom Hunde einen Knochen haben will! Zuchthaus will ich. Wissen Sie, daß Lasally nicht daran denkt, meinetwegen mit den Gerichten auch nur einen Schreiberbogen à drei Groschen zu wechseln? Herr, es ist nun genug. Nimm deinen Funfzigthalerschein, graue Ratte! Geben Sie mir für die drei harten Thaler Papier, Herr Prinz von Hohenberg! Ja, ich habe die drei Thaler verdient – aber Papier! Papier gibt bessern Fidibus – Und wenn Sie wissen wollen, warum ich lieber mein Vermögen immer in Papier bei mir habe? Wenn Einer ins Wasser fällt oder selbst hineinspringt, macht Papier nicht, daß man so schnell untergeht, wie mit Courant. Man behält noch Zeit, diesem elenden Leben zu fluchen! Adieu!

Voll Unwillen und Abscheu vor einer so katzenartigen Natur, wie Hackert eben offenbarte, sprang Siegbert jetzt auf und drängte zum Gehen.

Komm, sagte er zu dem erschütterten Bruder, wenn irgend etwas davon wahr ist, was du mir von Hackert's Reue und besserm Gefühl erzähltest, und an des Bruders Worten zu zweifeln, hab' ich keinen Grund, so ist unter solchen Umständen doch unsere längere Anwesenheit hier überflüssig ...

[1274] Hackert wandte sich dem Fenster zu und sah durch die Gitterstangen auf die Galerie hinaus ...

Dankmar nahm seinen Hut und bemerkte in einer sich selbst bekämpfenden Ruhe:

Wird Sie Lasally verklagen?

Nein! sagte Hackert dumpf, aber fest.

Woher wissen Sie Das?

Ich weiß es ... seit einer halben Stunde weiß ich es.

Und nun bin ich Ihnen überflüssig?

Hackert schwieg.

Dankmar faßte sich und sprach voll bitterster Verachtung zu Siegbert:

Ich kann nicht leugnen, lieber Bruder, daß dein eigenes Interesse, das du an diesem starren und lieblosen Manne nahmst, mich verführte, ihm gleichfalls meine Liebe und Theilnahme zuzuwenden. Ich erkenne an, wie Herr Hackert nicht begehrt hat, daß wir uns in seine Angelegenheiten mischen. Wir sind von Lauschern umgeben, wir revoltiren dies ganze Haus; ich sage nichts von der Schuld, die sich Herr Hackert vorzuwerfen hat; der gebietende Herr dieser vier Pfähle mag sich darüber mit seinem Gewissen abfinden. Gelang es ihm, die Gefahr, die ihm drohte, selbst abzuwenden, so kann er von Glück sagen. Ich finde Das ganz in der Ordnung, daß man nun seine Freude nicht etwa mit einem Geldbeutel am Halse im nächsten Sumpfe, sondern mit geschenkten Tresorscheinen auf dem Fortunaball austobt. Gehen wir, um Herrn Hackert nicht in seiner Toilette zu stören.

[1275] Als Dankmar nun wirklich Bartuschen fortziehen wollte und Hackert unbeweglich zum Fenster hinausstarrte und die Mullrich durch die eingetretene, criminalische Stille veranlaßt wurde, lieber den längst gefundenen dritten Thaler auf den Tisch zu legen, als sich einer Untersuchung ihrer Schürzentasche preiszugeben, blieb Bartusch noch stehen. Er machte die Thür zu und gebot der Mullrich, mit der Laterne draußen auf der Galerie ihn zu erwarten.

Hackert, sagte er, die Thür noch einmal andrückend und mit kläglich flehender, weinerlicher Stimme. Fritzchen, ich darf nicht diese Schwelle verlassen, ehe ich nicht Gewißheit habe, daß diese verdrüßlichen Störungen der Schlurck'schen Familie aufhören. Lasally mag ein Amüsement darin finden, Ihre eben nicht artige Behandlungsweise seiner Pferde auch deshalb öffentlich zu machen, damit eine Familie compromittirt wird, die sich nicht entschließen kann, ihn als Eidam anzunehmen. Machen Sie ein Ende mit diesen Abscheulichkeiten! Woher wissen Sie, daß Lasally nicht gegen Sie klagen wird?

Wie Bartusch geredet hatte, schlugen bei der Eisold'schen Familie drei Uhren durcheinander elf ...

Hackert horchte gespannt auf und sprach dann die Worte fast für sich hin:

Neun – zehn – elf! ... Das Gewicht ist zu schwer ... Alter! Die zweite keucht ja ...! Zuviel Gewicht! ... Eisoldchen! ... Zuviel Gewicht! Nimm eine Kugel heraus!

Die drei Männer schwiegen über dieses sonderbare Intermezzo ...

[1276] Warum hängen Kugeln in den ledernen Beuteln, die deine Gewichte ziehen? fuhr Hackert still für sich fort. Deine Weiser sagen, was die Räder und der lederne Beutel wollen ... Das Herz ist so ein lederner Beutel, die Räder sind das Gehirn und dann schneide nur Einer auf dem Weiser die Fratzen, die die Welt schön nennt! Ha, ha! Hurrah! – Da nicken sie schon wieder die Pferdeköpfe! Die dummen Thiere wiehern, als wollten sie mit mir sprechen! Hurrah! Hussah!

Hackert, sprechen Sie vielmehr, fuhr Bartusch heraus, dem es in den entscheidenden Momenten gar nicht an Muth fehlte; was wissen Sie von Lasally?

Vögelchen, liebt die Justizräthin die graue Farbe? sagte Hackert mit unheimlicher gemäßigter Stimme. Die Ohren eines Esels liebkosen kann nur Die, der Grau ihre Leibfarbe ist. Aber die Katzen können sie Alle nicht leiden. Laß sie nur! Laß die Justizräthin! Sorgt Euch nicht, die Mäuse nehmen überhand, aber noch fressen sie Euch nicht! Tanzen wollen sie! Lachen! Fidelbogen streicht den Kummer weg! Wer geht mit auf den Fortunaball und läßt seine Mäuse im Kopf tanzen?

Diese Worte wurden so gesprochen, als wüßte Hackert nicht mehr, wer zugegen war. Er suchte im Zimmer und sah sich die drei gegenwärtigen Personen wie Fremde an.

Hackert, ich weiß sehr wohl, sagte Bartusch jetzt ängstlicher zurückweichend, während ihm Hackert fast dicht in die Augen sah, Hackert, ich weiß sehr wohl, daß [1277] Sie kleinmüthig im Unglück sind. Ihr Jubel ist nicht der der Verzweiflung – was murmeln Sie da so! Sie wollen uns nur schrecken!

Nein, du schwärmerisches Einmaleins! rief Hackert laut lachend, als hätte er durch seine sonderbaren Geberden wirklich den grauen Aktuar nur ängstigen wollen. Es ist keine Verzweiflung. Es ist Glück. Meine Herren! Sie kennen diesen meinen väterlichen Freund noch gar nicht. Sehen Sie, mein Haar ist roth, aber echt. Dem seines ist schwarz, aber ...

Er griff nach Bartusch's Perücke.

Hackert! rief Bartusch und hielt seine Perücke fest.

Dankmar schleuderte Hackerten mit den Worten zurück:

Machen Sie ein Ende mit Herrn Bartusch ... Sie sehen, der Mann meint es besser mit Ihnen, als Sie's verdienen ...

Prinz! antwortete Hackert bedeutsam, stemmte die Arme ein und stellte sich vor ihn; moralisiren Sie nicht! Kommen Sie mit auf den Fortunaball, Durchlaucht! Die Clarinette soll klingen. Zum Teufel mit Euern Pferdegerippen! Was haltet Ihr mir vor, daß Menschen wahnsinnig sein können? Soll ich um nickende und wiehernde Pferdegerippe kummervolle Nächte haben und nicht mehr fühlen, was eine weiche Hand, eine volle Brust, ein Mund wie der der Göttinnen auf ein armes zerrissenes Herz für Balsam träufeln kann? Bartusch, stecken Sie Ihre funfzig Thaler ein oder ich mache heute Fidibus [1278] für meine Cigarre daraus. Lasally klagt nicht. Das ist abgemacht. Ich habe bessere Verbindungen als Sie Alle. Und nun Guten Abend, meine Herren! Die funfzig Thaler, Bartusch! Sagen Sie ja dem Alten, daß ich sie nicht genommen hätte! Hören Sie, daß Sie mir keine falschen Quittungen schreiben! Sie verstehen Das!

Sie sind heute toll und Ihr Elend wird im Narrenhaus enden! antwortete Bartusch verbissen und schickte sich an zum Gehen.

Leucht' ihm, Hausdrache! fuhr Hackert fort, indem er die Thür öffnete. Haltet den Strick fest, daß er ihm nicht um den Hals geht! Paßt auf Nr. 17, Frau Mullrich! Daß er nicht von Ungefähr hineintappt in die Maler-Guste! Wer noch Miethe schuldig ist, heraus, ihr Lämmer, der Miethswolf ist da! Zahlt! Zahlt! Aber schlagt ihn nicht todt! Großes Ungeziefer muß da sein, um das kleine zu vertilgen! Schlaft nicht, Frau Mullrich. Wir müssen heute noch hinaus auf den Fortunaball ...

So wollen wir Sie nicht stören, fiel Dankmar ein, flehentlich gezerrt von Bartusch, der nun ging und sich fürchtete, allein zu gehen ...

Sie brechen sich den Hals, bleiben Sie, rief Hackert und hielt Dankmar zurück, ich führe Sie nachher –

Ich bitte, ich flehe, meine Herren, kommen Sie jetzt mit mir! winselte Bartusch. Wir regen das ganze Haus auf ...

Hackert hielt aber Siegberten zurück.

Maler! Noch ein Wort! Sie bleiben, meine Herren!

[1279] Es war jetzt den Brüdern fast, als hätte Hackert nur vor Bartusch Komödie gespielt und als wollte er ihnen nun erst sein wahres Gesicht allein zeigen ...

Meine Herren, es ist elf Uhr! Kommen Sie! flehte Bartusch dringender.

Frau Mullrich gedachte ihres Gatten, den sie wecken mußte. Sie gedachte der späten Ankömmlinge, die möglicherweise vor dem Hause standen und Einlaß begehrten und dann auf einmal eindrangen. Es entgingen ihr zuviel Pfennige durch längeres Warten.

Da es im Hause wirklich stiller geworden war, zog sie Bartuschen mit den Worten: Haben Sie doch keine Bange, Herr Bartusch! an die Treppe und gab ihm den Strick in die Hand und leuchtete ihm mit der Laterne an die Füße, um ihm die erste Stufe zu zeigen ...

Bartusch ging schleichend, auf den Zehenspitzen, von dannen, immer noch in der Hoffnung, die Herren würden folgen.

Sie wollen wirklich noch so spät auf den verrufenen Fortunaball gehen? begann jetzt Siegbert, der sich mit Betrübniß auch in die Stimmung der sicher lauschenden Louise Eisold versetzte und jetzt, da sie allein waren, von Hackert ein Abwerfen seiner Maske erwartete.

Meine Herren, sagte Hackert und warf sich erschöpft aufs Sopha, während die Gebrüder Wildungen gespannt erwarteten, was er nun für eine Miene zeigen würde. Meine Herren, es stecken zwei Menschen in mir, ein Bettler und ein König. Sie kennen nun den Bettler! Kommen [1280] Sie mit auf den Fortunaball. Sie sollen den König kennen lernen.

Wir gestehen Ihnen Beide, sagte Dankmar, daß uns Ihre Bettlerstimmung von heute früh mehr Vertrauen abgewann. Ich brachte den Bruder mit, weil ich glaubte, Sie würden in der warmen Hingebung, die Sie mir heute zeigten, unser Vertrauen zu würdigen wissen und die Hand, die wir Ihnen schon oft darboten, nicht so übermüthig von sich stoßen!

Sagen Sie mir Das morgen, erwiderte Hackert, und ich weine vielleicht wie ein Kind. Morgen hängen mir vielleicht die Flügel matt und schlaff. Ich jammere um meine Zukunft, ich geize und laure auf Erwerb, ich bin ein Hund, den man mit Füßen treten kann, Notabene morgen! Heute bin ich berauscht – nicht von Wein! Ich trinke wenig Wein; nein vom Glück. Jubeln, jauchzen, lachen möcht' ich, weil ich einen Becher wieder an meinen Lippen fühlte mit dem köstlichsten Rebenblute des Glücks. Glück macht mich toll. Sie nicht?

Wir bemitleiden Sie! sagte Dankmar und wollte gehen.

O Ihr habt mich gut bemitleiden! antwortete Hackert. Euch sang eine Mutter an der Wiege und geregelt gingt Ihr Euren Lebensweg. Wenn ich Dem nachdenken wollte, raucht' ich keine Cigarre, dann läg' ich hier zusammengekrümmt auf dem Sopha und ächzte und würde reif, betteln zu gehen, wie neulich in Tempelheide, als ich im Korne lag. Dann geht mir einmal wieder die Pforte des Paradieses auf und ich klirre mit meinen Ketten, verlache meinen [1281] Jammer, tummle mich wie ein Mensch und fühle mich dem Stärksten gleich. Ich kann Ihnen heute Nichts von meinem Leben vorwinseln; die nächste Gefahr ist vorüber. Lasally wird schweigen und mein Blut ist in Wallung. Kommen Sie mit oder lassen Sie mich allein, bis Sie mich einmal todt oder so lebend wieder sehen, daß Ihre Theilnahme für mich nicht von der Übereinstimmung mit Ihrem eigenen Herzen abhängt.

Während dieser Worte war Hackert aufgestanden und hatte sich unter dem Vorhang am Kleiderriegel einen Frack, eine Weste, einen Hut hervorgeholt und zog alle diese Gegenstände ohne Rücksicht auf seinen Besuch rasch und wie elektrisirt an.

Karl! schläfst du schon? rief er dann an die Nebenthür.

Eine feine Frauenstimme fragte mit leidendem Tone:

Was wünschen Sie, Herr Hackert?

Ich lasse das Licht brennen, Fräulein! Löschen Sie es aus. Gute Nacht!

Die Brüder sahen sich an und schüttelten den Kopf.

Sie wandten sich zum Gehen, ohne noch ein Wort zu sprechen. Dieser ungeregelten Natur fühlten sie sich zu sehr entfremdet ...

Hackert folgte.

Als er aus seiner Thür Nr. 86 trat, kam aus dem auf gleiche Nummer laufenden Zimmer Herr Schmelzing hervorgeschossen und leuchtete.

Schläfst du noch nicht, altes Tintenfaß? sagte Hackert und ging voran, um den Weg zu zeigen.

[1282] Bei so lebendiger Conversation! hustete Schmelzing höflich und schwänzelnd.

Die du hoffentlich nicht stenographirt hast? antwortete Hackert herabsteigend. Geh! Geh! Ich kenne den Weg. Mach' daß du deine Rollen fertig schreibst für die Hoftragödie! Vergiß die Stichwörter nicht! Nimm immer sechs Worte statt drei zum Stichwort, damit du viel Bogen zusammenbringst und die Schauspieler besser lernen! Verwelsche die Fremdwörter nicht! Sei nicht gelehrter als die Dichter und verbessere nicht ihre Verse! Hörst du?

Schmelzing, ganz frappirt von Hackert's elegantem Aufzug, wünschte den Herren eine höfliche gute Nacht. Die Brüder kletterten in der Dunkelheit den Weg nach, den ihnen der plötzlich wie verwandelte ehemalige Schreiber des Justizraths Schlurck angab. Nach langem Tasten, manchem Anrennen an Geräthschaften, die dem Wege in den Höfen zu nahe lagen, kamen sie an die Thür, die auf die Brandgasse führte.

Hier klopfte Hackert stark und trommelte, sich niederbückend, an das Fenster der Vizewirthin.

Schon aber kam Frau Mullrich mit dem großen Hausschlüssel.

Aber noch ehe sie aufschloß, sagte sie mit einer schlauen Verbeugung:

Macht drei Pfennige!

Siegbert gab, was er in der Eile griff. Frau Mullrich schloß nun erst auf und die Männer traten auf die Straße ...

[1283] Ob sie ihrer drei zusammenbleiben werden? ...

Wie Frau Mullrich wieder die große schwere Thür zuwarf, trat Bartusch hinter der Thür hervor, die aus ihrem Keller auf die Hausflur führte.

Es ist mir unbegreiflich, was mit dem Taugenichts vor sich gegangen ist! sagte er. Er geht auf den Fortunaball!

Wie schade, Herr Bartusch, antwortete die Mullrich, daß Sie nun selbst nicht hin können! Sie wollten doch da die Maler-Guste finden.

Reden Sie auch solche Sachen? sagte Bartusch, der gründlich ärgerlich schien, daß sich während seiner Hohenberger Abwesenheit in der Brandgasse Nr. 9 so viel verändert hatte.

Und doch ist sie gewiß dort, sagte die Mullrich, Alles rennt ja hin – schon Sechs hab' ich heute aus unserer hiesigen Armuth allein hinausgelassen – mein Mann muß um zwölf auch hinaus und wenn Sie nicht –

Lassen Sie mich durch Ihren Mann wissen, ob Nr. 17 dort zu finden war.

Verlassen Sie sich darauf! Aber, wie blaß sehen Sie aus!

Der Ärger mit diesem bösen Schlingel!

Sagen Sie mir nur – was hat er denn in des Heilands Namen bei den Schlurck's für eine Greuelthat mit –

Gute Nacht, Frau Mullrich! war die seufzende Antwort.

Bartusch schnitt jedes weitere Forschen der Frau Mullrich ab, die heute so viel erlebt, so viel gehört und beobachtet hatte, daß sie eines sehr weitläuftigen Commentars bedurft hätte, um trotz ihres Scharfsinns sich [1284] alle geheimen Verbindungsfäden dieser Thatsachen zusammenzustricken.

Eben war Bartusch verdrüßlich und sogar ohne Trinkgeld auf die Straße getreten und noch glaubte Frau Mullrich seinen Tritt draußen schallen zu hören, als sie von der eben geschlossenen Thür sich entfernend durch eine weibliche zarte Hand aufgehalten wurde ...

Frau Mullrich war im Finstern. Denn bei dem Zufallen der Thür war ihr durch den Zugwind die Lampe ausgegangen ...

Ei, wer ist – fragte sie erschrocken.

Machen Sie auf! wisperte es.

Wer? Wer ist da?

Machen sie auf!

Ach, wohl, Nr. 46, Fräulein Klapperfuß?

Da! da! Machen Sie auf!

Frau Mullrich fühlte einen Groschen in der Hand.

Auch auf den Fortunaball? Aha! Aha! Nr. 35? Nicht wahr? Madame Hannemann? Schläft denn auch Ihr Mann fest genug? Hi! Hi! Ei so lassen Sie doch sehen!

Da ist ja der Groschen! Machen Sie nur auf!

Ich will doch erst die Lampe –

So enden Sie doch!

Nun! Nun! Nun! Wie hastig! Sie wollen den ersten Walzer nicht versäumen! Sa, Sa, ein Walzer! Wenn der hübsche Feldwebel wartet – nicht wahr, Madame Drucker! Um vier kommen Sie doch wieder? Nicht wahr, Madame Schlimpanzer? Ihr Männchen steht ja wol schon [1285] um fünf Uhr auf. Verspäten Sie sich nicht, wenn er's nicht weiß, Madame Trübensee! Er frug mich neulich nach dem Feldwebel –

Indem ging doch die Thür auf ...

Eine verhüllte Gestalt huschte hinaus. Um den Hut hatte sie, um ihn wahrscheinlich unkenntlich zu machen, ein Tuch gebunden. Aber den Mantel!

Der Mantel verrieth sie! Frau Mullrich kannte alle Mäntel des Vorderhauses und der drei Hinterhöfe.

Ist's die Möglichkeit? Mamsell Nr. 87! rief sie.

Und in der unerschütterlichen, durch den karrirten Mantel über alle Zweifel sichern Gewißheit, daß Louise Eisold nur den beiden jungen Herren folgen könne, kroch sie boshaft lachend und den Kopf schüttelnd, in ihre Kellerhöhle zurück, zündete die Lampe wieder an, leuchtete nach der Uhr und bemerkte, daß es die höchste Zeit war, nun ihren Gatten zur Erfüllung seiner polizeilichen Pflichten zu wecken. Auf den Anruf: Männchen, du mußt ja auf den Fortunaball! raffte sich dieser aus seinen süßesten Träumen empor, zog sich verschlafen, fast taumelnd die beste seiner Staatslivreen an und hörte dabei nur halb, was ihm seine holde Gemahlin über die mannichfaltigen denkwürdigen Vorfallenheiten dieses Abends erzählte.

[1286]
8. Capitel. Der Fortunaball
Achtes Capitel
Der Fortunaball

Nachdem sich die Brüder Wildungen vor der Thür der Brandgasse Nr. 9 von Hackert kurz und kalt getrennt hatten und sie in einer andern Richtung den Weg nach ihrer Wohnung einschlugen, begann Dankmar sein Bedauern auszusprechen, daß dieser Abend so ganz anders enden mußte, als er ihn sich vorgestellt hatte.

Welche Vorwürfe mach' ich mir, sagte er, in dir wieder das Interesse für diesen deinen »Proletarier« geweckt zu haben! Gibt es einen erbärmlicheren, jämmerlicheren Gesellen! Und um eine solche verwahrloste, unsittliche, tollgewordene Natur führ' ich dich in diese Höhlen des Jammers und zeige dir, daß hier nicht blos Elend, sondern auch Lüge, Verstellung, Geiz, Schlemmerei, Nichtswürdigkeit und jedes Laster wohnt, wie wir es nur bei den Reichen und Gebildeten vorauszusetzen gewohnt sind.

Siegbert fühlte, daß ihm Dankmar seine Abneigung gegen die sogenannte »soziale Frage« zu verstehen geben wollte ...

Das Bild des armen Mädchens mit ihren Geschwistern war aber doch rein und ungetrübt! sagte er, um sich des [1287] Dranges, dem Bruder beistimmen zu müssen, einigermaßen zu erwehren.

Ich weiß nicht, antwortete Dankmar. Auch diese Farben werden mir vor den Augen grau. Wir gingen gewiß nicht ohne Grund von der Voraussetzung aus, daß Louise für diesen Miethsbewohner ein warmes, menschliches Interesse hegt und wenn sie an einer solchen bizarren, krampfhaften und lieblosen Persönlichkeit Gefallen findet, so vermiss' ich dabei Alles, was mir diese Empfindung achtbar und ehrenwerth erscheinen läßt.

Wir gingen vielleicht schon darin zu weit, eine solche Beziehung vorauszusetzen, sagte Siegbert. Von Hackert's Seite schien irgend eine Rücksicht auf seine Nachbarin gar nicht angenommen zu werden, und es war mehr sein Übermuth und seine Spottlust, daß er der Verdächtigung des Mädchens durch den alten hämisch schleichenden Bartusch, wie du ihn nennst, die Strafe auferlegte, uns in seinem Zimmer zu finden. Auch hatte ihm dieser eine Mittheilung im Vertrauen zu machen, wodurch mir seine Herbeiführung des Alten in ganz anderm Lichte erscheint, als wenn ich annehmen müßte, er hätte für die Ehre seiner Nachbarin eintreten wollen.

Bei alledem bin ich erstaunt, sagte Dankmar, indem sie die Brandgasse verließen, wie Hackert Lasally's so gewiß sein kann! Wer hat ihm die Versicherung gegeben, daß keine Anklage stattfinden wird? Noch vor wenig Stunden fand ich jenen Mann auf's Äußerste erbittert.

Wenn du eingestehst, daß hier etwas räthselhaft ist, [1288] bemerkte Siegbert, so möcht' ich noch, um den fatalen Eindruck der eben erlebten Scene zu mildern, hinzufügen, daß sie uns doch wol nur als eine neue Bestätigung der Wahrheit dienen kann, wie im Grunde jeder Mensch nach seinem eignen Standpunkte beurtheilt werden muß. Wir haben uns über diesen Hackert in so vielerlei, theilweise sich sogar widersprechende Empfindungen hineinraisonnirt, daß wir gleichsam mit Gewalt verlangen, sein Charakter müsse nun auch allen Voraussetzungen, die wir von ihm haben, entsprechen. Wir dachten uns nach den Prämissen des Vormittags am Abend eine rührende Scene. Ein unglücklicher Nachtwandler, in Gefahr, für eine böse, rachsüchtige Handlung, die er längst zu bereuen scheint, bestraft zu werden, wird uns seine Geschichte erzählen. Man ist auf diesen Empfang vorbereitet.. Da stehen Tassen und siedendes Theewasser, ich esse schon im voraus den für diese gemüthliche Scene bestimmten Braten und nun kommt der Hauptheld, ein völlig anderer, alle unsere Ideen durch den tollsten Rückfall in eine uns nicht homogene Natur durchkreuzend! An wem liegt da mehr die Schuld? An unserer Kurzsichtigkeit oder an dem wunderlichen Charakter, dessen rechten Schwerpunkt, dessen eigentlichen Schlüssel wir noch nicht entdeckt haben?

Dein milder Sinn ist auf dem bestem Wege, sich diesem Taugenichts unterzuordnen, sagte Dankmar. Dieser Hallunk weiß, daß wir die Absicht hatten, zu ihm zu kommen und benimmt sich wie ein Gentleman, der sich nicht einmal entschuldigt, wenn Andere auf ihn warten –

[1289] Der Thee und der Braten waren leider nur eine Idee des Mädchens –

Gut! sagte Dankmar. Ich werfe den Unglücklichen zu jenen immer nur als halbfertig erscheinenden Menschen, die im Unglück feige winseln und im Glücke sich hochfahrend übernehmen. Es fehlt ihm die Herrschaft des Geistes über sich selbst. Es ist der Mensch des thierischen Instinktes. Und ist Hackert nicht eigentlich der Ausdruck des Volkes selbst? Jammervoll genug, daß man eingestehen muß, wir malen uns den Charakter der Massen ganz anders, als sie sind! Nimm den Bauer; wie tückisch, wie hämisch, wie kurzsichtig, wie verschlagen! Nimm die halbe Bildung; wie eitel, wie prahlerisch, wie lügnerisch, wie falsch! Wir pinseln uns etwas vor vom Volke. Es ist nicht so, wie es die Touristen und Genremaler geben wollen. Die treueste Magd, die ganz Liebe und Hingebung für ihre Herrschaft scheint, pruhstet wie eine Katze auf, wenn ihr »Weihnachten« zu gering ausfällt. Egoismus regiert Alle und ich stelle mir eigentlich als Politiker die Aufgabe, Hackerten für das schwankende, unreife, halbfertige, oft großartige, dann wieder kleinliche, bald herausfordernde, bald feige, bald rührende, bald abstoßende, bald poetische, bald prosaische, nachtwandelnde, ahnungsvolle und am Tage geistig verschlafene Volk zu nehmen und mir zu sagen: Wie bändigt man das? Wie bessert man das? Doch sprechen wir nicht mehr von ihm.

Die Brüder waren eben im Begriff, am Schlurck'schen Hause vorüber zu gehen, an dem man Alles still und [1290] dunkel sah mit Ausnahme eines einzigen kleinen Fensters im dritten Stock ...

Es war vielleicht Melanie's Schlafzimmer ...

Und wenn sie sich täuschten – eher mochte es das Zimmer Bartusch's sein, wo auf dessen Rückkehr eine brennende Lampe wartete – sie blieben doch einige Augenblicke voll Wehmuth stehen und gedachten aller Täuschungen ihres heute so mannichfach geprüften Herzens ...

Dann gingen sie seufzend weiter.

Bei alledem, sagte Dankmar nach einer Weile, während sie die schon leeren Straßen durchschritten, ist es mir lieb, von diesem Graurock die Bestätigung jener Angabe über meinen Schrein zu hören, die ich dem Prinzen Egon verdanke – Morgen in aller Frühe geh' ich – doch ich rede von Dingen, die ich dir nun mittheilen sollte, wüßte ich nur an der rechten Stelle anzufangen –

Bleib bei dem Prinzen Egon, sagte Siegbert. Denn auch ich habe eine Beziehung zu ihm. Sie betrifft das Bild, das du mir zu sorgsamerer Obhut empfohlen hast ...

Das Bild – und du? antwortete Dankmar erstaunt.

Während die Brüder über die stillen Straßen gingen, erzählte Siegbert seine Berührung mit Rudhard, dessen Anliegen und eigenthümliche Ansprüche auf jenes Bild, über das sich Siegbert hütete nach seinen eignen Entdeckungen zu sprechen. Denn da ihm doch daran lag, seinem innern Triebe zu folgen und die Übergabe des Bildes an Egon's Lehrer und Erzieher wirklich zu vermitteln, so [1291] nahm er sich wohl in Acht, seinen in solchen Fragen nicht wie er besonders bedenklichen Bruder darauf aufmerksam zu machen, daß er das Geheimniß wirklich entdeckt, ja sogar Enthüllungen über ihre eigene Familie gefunden hätte. Verräthst du davon etwas, dachte er, so wird Dankmar Anstand nehmen, durch freiwilliges Herausgeben Das wieder gut zu machen, was Rudhard in seinen Ansprüchen auf jene Prüfung und Mitwissenschaft eigentlich doch wol verscherzt hat.

Vor dem Egon'schen Palais stand ein kleiner Einspänner. Dankmar noch ganz erfüllt von der sonderbaren Wendung, die das Schicksal jenes Bildes plötzlich nehmen sollte, fragte den Kutscher, ob er nichts von dem Befinden des jungen Prinzen melden könnte.

Dieser gab die kurze Antwort, er stünde hier nur, um zwei Damen auf den Fortunaball zu fahren ...

Der Blick auf die Wäsämskoi'sche Familie, auf die Ankunft der d'Azimont, Alles, was Siegbert über Rudhard, über Anna von Harder erzählen konnte, regte Dankmarn so auf, daß er statt heiter eher verdrüßlich wurde.

Welche Last, rief er halb scherzhaft, halb wirklich unwillig aus, welches Bleigewicht bindet uns das Schicksal an die Füße und hindert uns im eigenen Gehen! Ich wüßte nur zwei Dinge, die mich wahrhaft erfreuen und beschäftigen sollten, meine Angeroder Papiere zurückzufordern und jenen Amerikaner und seinen Knaben aufzusuchen, die, ich weiß es, an mir das wärmste Interesse nehmen und von allen diesen Vorsätzen, die meinem Herzen am [1292] nächsten liegen, ziehen mich die starken Seile immer neuer Verwickelungen ab! Wie froh bin ich, daß ich in vergangener Nacht so eisern geschlafen habe! Denn die Aussicht, morgen jenen Rudhard zu begrüßen, von dem ich des Guten soviel erfuhr, ihm getrost jenes Bild zu überlassen, an das sich mir das hoffentlich in kurzer Zeit mögliche Wiedersehen des unstreitig ächten aber mit den fabelhaftesten Räthseln umsponnenen Prinzen knüpfen wird, das Alles läßt mir keine Ruhe und ich sehe, ich werde mich unschlüssig und innerlichst gepeinigt auf dem Lager hin- und herwerfen. Wie verwünsch' ich diesen Hackert! Wie ein Irrlicht hat er mich heute von meinem vorgezeichneten Wege verlockt, und wenn ich ihm auch verdanke, daß ich über die Nacht im Heidekruge einiges Licht erhielt –

Sei still, Bruder! unterbrach ihn Siegbert scherzend. Aus dem einen Irrlicht werden hundert! Ich glaube nicht, daß wir dem bunten Schimmer da unten in der neuen Feldstraße werden ausweichen können. Sieh nur, wie die Menschen dort hinströmen und die Wagen fahren! Das ist die Fortuna, bunt erleuchtet mit chinesischen Ballons! Ich erlebe, daß wir mit in den Strudel gerathen, uns am Eingang des Gartens ein Billet kaufen und das venetianische Maskenfest, wie es an allen Straßenecken angekündigt ist, auf eine Viertelstunde näher mit in Augenschein nehmen.

Dankmar konnte in der That nicht umhin, den verlockenden Reiz dieses bunten nächtlichen Prospektes am [1293] noch weit entlegenen Ende der neuen Feldstraße anzuerkennen ...

Diese vergnügungssüchtige Bevölkerung! schmähte er. Sie werfen den Sommer in den Winter und den Winter in den Sommer! Die Politik hatte alle Meinungen gespalten und ein erfinderischer Unternehmer weiß sie alle wieder um bunte Lampen und die Polkaklänge der Blechmusik zu versammeln. Pfui! Sieh diese kichernden Mädchen, die ihre Larven in den Händen tragen! Wollt Ihr auch auf der Kugel der Fortuna tanzen, Ihr Schmetterlinge! Der Tanz auf einer Kugel ist schwer –

Immer rund – rund – rund! antwortete ein Trupp von einem halben Dutzend »Nähterinnen«, die ihre luftigen Röcke höher gebunden hatten, damit sie nicht den Staub der Straße fegten ...

Der Umweg zu unserer Frau Schievelbein, die seit einiger Zeit mein Schwärmen gewohnt ist, sagte Siegbert, wird nicht zu groß sein. Sehen wir wenigstens einmal von außen diesen Tempel der Freude an und finden wir einen Ruheplatz, so schüttest du vielleicht endlich dein Herz aus und erzählst mir die Hohenberger Reise!

Die Brüder lenkten seitwärts in die neue Feldgasse ein, die sich fast unabsehbar in die Länge zog und am äußersten Ende, dicht beim Thore schon, die besuchtesten Vergnügungsörter der Stadt enthielt.

Die Fortuna war das neueste und größte Etablissement dieser Art. Der Schein-Besitzer desselben, ein bankrotter Kaufmann, war ein anschlägiger Kopf, der den Charakter [1294] der genußsüchtigen Bevölkerung zu treffen wußte und mit bunten Straßenplacaten und den wunderlichsten Namen für seine Festivitäten die Vergnügungslust immer in Athem erhielt. Seine neue Anlage, die Fortuna, war nach englischem Muster gebaut. Hier fanden sich Gärten und Säle, Galerieen, Logen, von denen man in die Säle hinabblickte, Tunnels, Schaukeln, Carrousels, Rutschberge, kurz eine ganze kleine Welt, die, so lange kein anderes Etablissement dieses neue verdrängte, in der Vogue war.

Das für heute angesagte große venetianische Maskenfest im Freien fand trotz der allgemeinen Klage über die bedrängten Zeiten und die Unsicherheit der Zustände den lebhaftesten Zuspruch. Eine Menge von Wagen standen vor dem Eingang, den helle Gasflammen magisch erleuchteten. Die goldene Kugel, die auf der Fortuna über dem Eingange schwebte, schimmerte im blendendsten Lichte. Von etwa aussteigenden Charaktermasken war keine Rede. Ein Jeder kam in seiner üblichen Toilette. Nur die Spekulation des Wirthes verband mit dem niedrigen Eintrittspreise noch die Nothwendigkeit, daß sich Jeder eine Maske kaufen mußte. Bis zwölf Uhr sollte Jeder maskirt sein, worauf jedoch nur an der zweiten Einlaßthür festbestanden wurde. Jeder Unmaskirte mußte zurück oder sich mindestens eine Wange oder eine Nase kaufen. Der Polizei war mit dieser Verordnung wie überhaupt mit den Fortunabällen sehr gedient. Sie lockte alle Gauner aus ihren Spelunken. Da sie maskirt kommen durften, blieben [1295] die, die ihr Signalement fürchteten, nicht zurück. Wenn die Vergnügungslust nicht schon von selbst die Fallen aufstellte, wo die meisten Verdächtigen gefangen wurden, sie hätten müssen vom Staate im Interesse der öffentlichen Sicherheit aufgestellt werden. Ohne die Unmoralität soll leider die Moral nicht bestehen können.

Das Gewirre der Wägen vor der Pforte, das Geschwirre der luftigen Vögel, die unter Fortunens goldner Kugel in die bunterleuchteten Gärten einzogen, das Schreien der Jungen, die die Wägen öffneten, die schmetternden Trompeten und die Paukenwirbel der Ballmusik, alles Das gab so sehr ein den Begriff der Nacht und das Bedürfniß nächtlicher Ruhe verscheuchendes Durcheinander, daß die Brüder fast willenlos mit in die allgemeine Strömung geriethen und an der Kasse ein Billet, in der Garderobe zwei Stirnen und Nasen mit großen schwarzen Schnurrbärten kauften und beschlossen, sich einen stillen Gartenplatz zu suchen. Der Frack war hier keine Nothwendigkeit und die Glacéehandschuhe mußten schon der drückenden Hitze weichen.

Ah bah! Holen wir unser Grün'sches Diner nach! sagte Dankmar heiter erregt. Was plagen wir uns!Vive la bagatelle! Ich erzähle dir meine Hohenberger Abenteuer.

Siegbert dagegen fühlte sich in dem Menschenstrom beengt und lächelte etwas zaghaft, was ihm, wie Dankmar ihm sehr glaubwürdig versicherte, unter der gewaltigen Nase mit den schwarzen Pferdehaaren philisterhaft komisch stand.

[1296]

Eine so neue Gartenanlage konnte natürlich nur sehr dürftig sein. Die Beete boten verwelkte Blumen und zertretenes Gras. Wo die Bäume hätten schatten sollen, waren leinene Zeltdächer aufgespannt. Aber die schimmernden, grünen, rothen, gelben Ballons gaben aller Dürftigkeit ein freundlicheres Ansehen. Eine Grotte von Blumen, berieselt von einem Wasserfall und erleuchtet von einer großen Sonne aus einigen hundert Lampen, machte in der That einen grandiosen Effekt und verdiente das Staunen, das sich auf den Rembrandtisch erleuchteten Gesichtern, die herumstanden, rings zu erkennen gab. Rechts und links führte der Garten in dunklere Partien, die nicht minder belebt waren und wie man hörte, im zweiten Theile des Festes ganz besonders gesucht sein sollten. Geradeaus führten Stufen, die links und rechts von Candelabern erleuchtet waren, zu einem wirklich im Lichte schwimmenden brillanten gewaltigen Tanzsaale, wo sich Hundert von Paaren schon in wildem Galopp tummelten und die rauschendste Blechmusik schmetternd von den Wänden widerhallte.

Hierher also zog es Hackerten! sagte Siegbert, indem er auf den ersten Blick gleich nach ihm suchte. Kein Wunder, daß es ihm hier mehr gefällt als im vergitterten Galeriezimmer des dritten Hofes Brandgasse Nr. 9, neben einer Stube schnarchender Kinder und den gespenstischen Uhrschlägen, die an die schnellverrinnende Zeit und an den Tod erinnern.

Auch Dankmar hatte Hackerten noch nicht gesehen.

[1297] Hier und dort fesselte ihn eine Bekanntschaft; da ein Offizier in Civil, hier ein junger Advokat, dort sogar ein junger Gelehrter, der durch die Brille mit zusammengekniffenen Augen lächelnd über die wilden Massen objektiv philosophirte. Siegbert fand einige Maler, die da behaupteten, Modelle zu suchen. Die Mehrzahl aber gehörte der dienenden und arbeitenden Klasse an. Hier war die Frage vom Proletariat zwar nicht gelöst oder widerlegt, aber doch eine Weile suspendirt.

Was dein Franzose Louis Armand wol über einen solchen Ball sagte? flüsterte Dankmar dem Bruder zu. Ich fürchte, er sieht in diesen Polkas und Cotillons die bloße Desperation der arbeitenden Klassen.

Siegbert, statt darauf zu antworten, zeigte dem Bruder die geschmackvolle pompejanische Malerei des Saales, die hübsche Einrichtung der Logen, durch die man durch versteckte Hintertreppen gelangte, das wirklich Gefällige und Kunstgerechte, das sich heutiges Tages bis in die gewöhnlichsten Bauten erstreckt und den, freilich auch bedenklichen Schönheitssinn der Massen nur entwickeln kann.

Die Hitze war indessen hier trotz der geöffneten Thüren und Fenster so erstickend, daß die Brüder wieder in den Garten zurückkehrten und sich ernstlich nach einem Plätzchen umsahen, wo sie einigermaßen ungestört sich unterhalten konnten. Sie fanden ein solches, wenn auch ziemlich entlegen, in jenen unheimlichen düstern Regionen, wo nur die Liebenden sich wohlbefanden. Die [1298] Trompeten und Pauken dröhnten hier nicht mehr so ohrenerschütternd herüber. Es war ein einfacher Tisch, den sie fanden, mit zwei Stühlen an einem vielleicht erst vor einigen Monaten eingesetzten Apfelbaum, der vielleicht noch nicht zwei Blüten getragen hatte, aber ein

Stachelbeerstrauch bot doch eine Art Rückwand und vor allen Dingen man konnte hier sein eigenes Wort verstehen.

Wollte Siegbert eben die Bemerkung machen, es käme ihm hier vor wie an der Kegelbahn im Pelikan, so mußte Dankmar's Zustimmung zu dieser Vergleichung um so treffender sein, als die Brüder zu ihrem größten Erstaunen in dem Kellner, den sie anriefen, ihnen Wein und die Speisekarte zu bringen, Niemanden anders erkannten als den leiblichen Ehegatten der Kathrine Bollweiler aus dem Pelikan, den Angeroder Fuhrmann Peters!

Aber Peters, ist es denn möglich, Sie hier? riefen die Brüder.

Ach, du mein Himmel! war Peters' ganze auf den Lippen ersterbende Antwort.

Sie hier in der kurzen Kellnerjacke? Was ist Das? sagte Dankmar lachend.

Ja! Ja! stammelte Peters. Was ist Das? So heißt's immer auf die zehn Gebote. Und die zehn Gebote hab' ich immer perfekt gekonnt; aber beim Was ist Das? Da hab' ich immer gestockt. Ja, ja! Was ist Das?

Peters, Sie sind melancholisch? Freuen Sie sich denn nicht, daß ich da bin? Sagte Ihnen denn Hitzreuter, der [1299] dicke Pelikanwirth, daß Alles in Ordnung ist? Wo waren Sie denn gestern?

Gestern wo ich heute bin!

Sie sind Kellner in der Fortuna geworden! Ist es möglich! Wie hängt Das zusammen? Haben Sie denn den Bello noch erkannt?

Lahm ist lahm und hier soll Einer flink sein ...

Peters Aufwärter auf dem Fortunaball! Aber wo ist denn die Kathrine?

Unten im Tunnel!

Im Tunnel? Peters, ich glaube wir träumen oder den Pelikan hat man hier in die Fortuna verlegt ...

Der Pelikan ist ein Thier, das sich die Brust aufreißt für seine Jungen, fiel Siegbert ein. Sie haben ja keine Kinder, Peters! Wie kommen Sie ...

Der Pelikan vorm Tempelheider Thor hat sich auch die Brust aufgerissen, aber für seinen Bruder ... sagte Peters mit einer sonderbaren Melancholie.

Aufklärung, Peters! Das ist uns zu gelehrt! Zuviel Fuhrmannslatein!

Mein Dicker hat das Geld hergeliehen für einen neuen dummen Streich, den sein Bruder macht – erklärte Peters.

Ist Hitzreuter der Bruder des Hitz – Ah! Richtig! – Sind die Hitzreuter's Brüder?

Das sehen Sie ja! Wo soll das Geld herkommen für die Fortuna? Der Pelikan hat auf die goldene Kugel da vorn eine Hypothek von fünftausend Thalern.

[1300] Und auf dieser Kugel rollte auch die Kathrine in den Tunnel und Peters –

In die Marqueurjacke! sagte Peters tiefaufseufzend mit einem schmerzzerrissenen Blick zum Sternenhimmel.

Aber das scheint Ihnen nicht zu behagen, Peters? Kein Wort über Bello? Nichts von dem Schrein? Keine Frage nach Euren ehrlichen Zeck's? Peters, was habt Ihr?

Was ich habe, ist Alles eins; aber Sie haben den Schrein und dafür bin ich auf die Knie gefallen und habe Gott und allen himmlischen Heerscharen gedankt.

Ja, Peters, wir wissen wenigstens, wer den Schrein gefunden hat. Der Justizrath Schlurck hat ihn gefunden und morgen am Tage wird er in unser Palais gefahren.

Hört' ich Alles schon vom Hitzreuter; aber wie der Justizrath ihn hat finden können –

Ist Euch nicht klar, Peters? Auch mir noch nicht. Aber gesteht nur, eine Achse, die Einem vor der Nase bricht und ein Rad, das Einem auf den Kopf fällt, nimmt die Sinne – Ihr hattet sie alle fünf verloren.

Mag wol! Ich war elend und mocht's nicht sagen. Es war meine letzte Fahrt.. Angerode seh' ich nicht wieder und Das muß ein Glück sein. Fortuna ist ja wol die Glückshexe – was?

Richtig verdeutscht! Nicht mehr und nicht weniger. Aber zum Glück macht man kein so saures Gesicht wie Ihr?

Und Siegbert, der wohl verstand, was den Armen in der [1301] Jacke drückte und dem als Maler die Poesie des deutschen Fuhrmannslebens gegenwärtig war, setzte zu diesen Worten Dankmar's hinzu:

Ihr wäret lieber Fuhrmann geblieben? Das seh' ich, Peters.

Das möcht's wol sein, entgegnete Peters mit einem sichtlichen Ausdruck von verbissenem Kummer. O die liebe Zeit! Ich schäme mich! ...

Nach einem aus tiefster Brust gezogenen Seufzer fragte er die Herren, was sie denn nun »schafften«? und zog dabei mit einer Art von stiller Wehmuth langsam und wie verstohlen den Speisezettel aus der Brusttasche.

Dankmar fand dies Bild sehr komisch.

Peters, begann er, wenn Sie diesen Beruf wider Ihren Willen ergriffen haben – setzen Sie sich doch! Sagen Sie uns doch –

Du mein Himmel, ich setzen? Wie darf ich mich unterstehen und mich hierher setzen?

Seit wann treiben Sie denn dies Ihren Wünschen nichtentsprechende Metier?

Erst seit drei Tagen. Die Fuhren zwischen hier und Angerode hören auf! Die Ausspannung im Pelikan ist nicht mehr der Rede werth; der dicke Hitzreuter hat Das so mit seinem Bruder abgemacht und wenn ich's auch nicht wollte, die Kathrine will's.

Die Kathrine! Die will's? Peters, Ihr ein Fuhrmann, ein Freiherr der Landstraße, Besitzer einer sechssträhnigen Peitsche – und die Kathrine will's?

[1302] Das ist wahr! Freiherr war ich! Wenn ich mit meinen Gäulen auf der Landstraße fuhr, die Dörfer schon von fern mit meiner Peitsche grüßte, wenn der Schmied schielend und prüfend auf meine Räder sah und ich mit dem Schellengeklingel der Pferde, die mit ihren ledernen Kummten ordentlich den Kopf schüttelten und Nichts! sagten, ich auch Nichts! sagte und Alles stolz und solid und im besten Geschirr war –

Bis einmal eine Achse brach und ein gewisser Schrein gestohlen wurde – fuhr Dankmar humoristisch fort.

Ja, Das war meine letzte Fahrt! Ich wußt' es nicht, aber keine Schraube war mehr in Ordnung: am Wagen nicht und im Kopf nicht. Ich wußte nicht, was ich hinfort nun noch im Leben soll und hätt' ich ahnen können, daß mir mein Gevatter Hitzreuter diese Jacke anziehen würde, wer weiß –

Aber bester Freund, sagte Dankmar, Ihr Ehrgeiz ist höchst achtungswerth, theilt ihn denn Ihre Frau nicht?

Meine Frau! sagte Peters ergrimmt ... Heute Vormittag wollt' ich Sie ja einmal besuchen ...

Schön! ergänzte Siegbert, die Schievelbein sagte mir's! Es thut uns wahrhaft leid – Sie haben Kummer und beklagen sich über Ihr Weib. Was ist Das?

Was ist Das? Immer was ist Das? So heißt's immer hinter den zehn Geboten! Die konnt' ich, aber was ist Das? nicht. Ich komme noch zu Ihnen derohalben ... für heute, sagen Sie mir, was Sie anschaffen? Der Rindsbraten [1303] soll gut sein und vom französischen Wein sind alle gangbaren Sorten da. Die Namen kann ich nicht lesen, aber wenn Sie recht deutlich Ihre Worte sagen, behalt' ich sie schon –

Wohlan! Eine Chateau Margeaux –

Schatten Margo ... wiederholte Peters mit großer Unsicherheit; und Rindsbraten – Was? Nicht wahr?

Gut behalten ... Peters macht sich!

Bleiben Sie aber ja hier – damit ich mich zurecht finde! Seit den drei Tagen hier in der Fortuna wird meine Grütze im Kopf immer dünner. Das halt' Einer aus hier in dem Sündenspektakel!

Peters ging, schwerfällig wie seine Gäule.

Dankmar mußte herzlich lachen, während Siegbert wahrhaftes Mitleid mit dem armen neubackenen Kellner empfand.

Ich hätte nie gedacht, daß dieser Mensch ein solcher Esel ist, sagte Dankmar und doch bin ich nun fast gewiß, daß ihn die durchtriebenen Zeck's in Plessen gefoppt haben.

Du urtheilst zu scharf! sagte Siegbert. Solche Menschen haben nur den Verstand, der auf ihrer gewohnten, seit Jahren gefahrenen Straße liegt. Aus ihrem Beruf heraus, sind sie um alle Besinnung. Ich begreife dies ganze Verhältniß im Pelikan nicht.

Es liegt auf der Hand. Dieser alte Ausspänner Hitzreuter hat Geld und gibt seinem Bruder Luftig die Mittel zu einem Etablissement, das besuchter ist als die Straße [1304] nach Angerode. Ich bin überzeugt, die Kathrine regiert unten den Tunnel und die Fortuna, wie den Pelikan und benimmt sich dabei geschickter als ihr Mann, dem die Kellnerei eine ungewohnte Sphäre ist. Wenn ich die spitzbübischen Zeck's –

Wer sind denn die Zeck's?

Nun so höre!

Hier begann denn nun Dankmar endlich die Mittheilung des seinem Bruder versprochenen Reiseberichts. Die Behaglichkeit dazu gab die fröhliche Umgebung, der milde Himmel, der Sternenschein, das Flimmern der Lampen, vor allen Dingen aber der Rindsbraten nebst dem »Schatten-Margo«, den sich Peters ausdrücklich vom Besten erbeten hatte, weshalb er auch einen halben Thaler – mehr kostete, als die Brüder ihn bestellt hatten.

Eine weitre Anknüpfung des Gesprächs mit dem stillen Dulder in der Kellnerjacke war nicht möglich; denn schon riefen ihn andre Gäste.

Mit einem schmerzlichen Seufzer und einem traurigen Blick zum bestirnten Himmel empor, folgte Peters den Pflichten seines neuen Berufes, während die Brüder durch den Wein und die trauliche Mittheilung sich jene behagliche Stimmung nachträglich in der Nacht schufen, die sie sich unter freilich viel comfortableren Verhältnissen für den Mittag vergebens geträumt hatten.

Indem wir sie diesem Austausch uns bekannter Thatsachen überlassen, folgen wir in dem Gewühl der Menschen, die wir gern für unsre Charakteristik festhielten, [1305] vorläufig nur zwei ganz bescheiden auftretenden Männern, die ohne Masken in das Innere der Gärten auf ihr wohlbekanntes Antlitz freien Eintritt haben. Es sind Dies Kümmerlein und Mullrich, die beiden Diener der Gerechtigkeit.

[1306]
9. Capitel. Die Signalements
Neuntes Capitel
Die Signalements

Nun, Das geht ja hoch her! begann Mullrich. Um solchen Heidenspektakel muß Eins aus seiner Nachtruhe heraus! Bekanntes Gesindel wo man hinsieht, und Alles in Sammt und Seide! Gott ist recht langmüthig geworden ...

Kümmerlein, Mullrich's College, trug den garstigen und allgemein kenntlichen Dreimaster der Polizeiagenten etwas über's Ohr, denn der kleinere, spitznasige, scharfäugige Agent liebte Fröhlichkeit und Weiber und Musik und verließ diese Festlichkeiten nie, ohne sich vom Wirth und den sogenannten Observaten, den unter Aufsicht stehenden ehemaligen Verbrechern, regaliren zu lassen.

Mullrich, sagte er, Sie werden je älter, je gottesfürchtiger. Das macht Ihr Reichthum ...

Reichthum, Kümmerlein? Von meiner früheren Schlosserei, meinen Sie? Wie so?

Wer wie Sie, zwei, drei Geschäfte betreibt, der braucht sich den Kopf nicht zu illuminiren; der ist still lustig für sich.

[1307] Kümmerlein, Sie sind noch jung –

Ach, Mullrich ... Sie drückt auch nichts als blos Ihr Geldsack!

Meine Frau hat mir erst eine lange Predigt gehalten, eh' sie mir den Dreidecker aufsetzte – ich glaube, wenn ich hier oft in die Fortuna müßte, sie wäre im Stande, meinen Abschied zu fodern ...

Thun Sie Das, Mullrich! Machen Sie ärmeren Leuten Platz!

Was? Einen Knochen fallen lassen, den man im Munde hat, weil Einem der im Wasser größer däucht? Nein, Kümmerlein! Die Vizewirthschaft wird doch wol am längsten gedauert haben.

Wie so?

Wissen Sie denn nicht, daß die alten Häuser nun all an die Regierung kommen und diese Posten, die ein paar Groschen einbringen, verauktionirt werden, verpachtet oder sonst etwas?

Da bieten Sie denn selbst für Ihren Keller! Dreihundert Thaler zum Ersten – was?

Dreihundert Thaler? Freund, auf die geht eine halbe Million Pfennige – Wo denken Sie hin!

Nun ich parire, Mullrich, daß Sie monatlich ... lassen Sie 'mal rechnen ...

Diese Ergüsse einer, wie Hegel sagt, rein »auf sich selbst bezogenen Reflexion« unterbrach ein Herr in eleganter feiner Kleidung mit einem großen Schnurrbarte.

Wir kennen ihn bereits, würden ihn aber jetzt für einen [1308] reichen Rittergutsbesitzer haben halten müssen, der die Sitten der Hauptstadt studiren wollte, wenn nicht die dicken waschledernen Handschuhe ihm doch etwas mehr Derbes und Militärisches gegeben hätten.

Es war Dies der Oberkommissär Herr Pax.

Bleiben Sie nicht zu lange auf einem Punkt! sagte der imposante Herr. Sehen Sie sich um! Es sind zwar viele von dem Schutzamt hier, wie Sie beobachten werden, aber auch die Zahl der Vigilanden ist groß. Wo man hinsieht, alte Bekannte. Nehmen Sie Ihre Stellung in der reservirten Loge Nr. 18 und beobachten Sie von da aus den Ballsaal ...

Nr. 18! Schön, Herr Oberkommissär!

Haben Sie Ihre Signalements bereits verglichen? Nr. 1 ist nur einfach zu beobachten; Nr. 2 aber sogleich festzunehmen. Es ist Polizei genug da, um auf den Pfiff unterstützt zu werden. Sehen Sie sich auch die Frauenzimmer recht an! ... Die Maler-Guste nirgend entdeckt?

Nein, Herr Oberkommissär! lautete die unisone Antwort. Auch Kümmerlein wußte gleich, wer die Maler-Guste war.

Der Oberkommissär ging, wie ein stiller Beobachter, die Arme auf den Rücken verschränkt, weiter. Er war trotz des lauen Abends bis zum Halse zugeknöpft und drückte den Hut bis tief über die Stirn.

Das ist das Beste, begann der kleine Kümmerlein, daß wir auf die Frauenzimmer sehen sollen! Es ist hübsches Volk darunter, die schiefe Male hat doch Augen, die [1309] Einem gleich unter die Weste brennen. Guten Abend, Male!

Die schiefe Male lachte, schoß aber in Privatangelegenheiten rasch vorüber ...

Kommen Sie, Kümmerlein, und lassen Sie uns lieber hier an der Laterne einmal die Signalements vergleichen! sagte der dienstbeflissenere Mullrich. Wie viel haben Sie denn?

Ein ganzes Zuchthaus voll! Meine Brieftasche ist dick wattirt damit ...

Ich habe aber nur zwei.

Die von heute Mittag?

Lesen Sie mir 'mal vor! Weiß der Henker, ich kann immer aus Paxens seiner Schreiberei nicht recht klug werden ... meinte Mullrich.

Halten Sie 'mal meinen Stock! antwortete gravitätisch der mit Schulkenntnissen begabtere Kümmerlein.

Die beiden Polizeidiener hatten einen stillen Ort gefunden, wo sie ziemlich unbemerkt die beiden Signalements lesen konnten, die ihnen der Oberkommissär als sehr dringend bezeichnet hatte ...

Ein Franzose ... begann Kümmerlein; fünf Fuß, acht ... Zoll, schwarzes ... Haar, blasse ... Gesichtsfarbe, Mund ... mittel, Augen ... braun, Nase ... gewöhnlich, trägt ... einen ... Schnurrbart, 28 ... Jahre. Spricht gutes ... Deutsch mit ... französischem ...

Kümmerlein buchstabirte das folgende Wort:

A-c-c-e-n-t.

[1310] Französischem Azent – Richtig. Deutsch mit französischem Azent – das heißt, man hört's ihm nicht an, daß er kein Franzose ist – Oder vielmehr ...

Grade! Man hört's ihm an ...

Aha! Also man muß französisch ...

Ein Bischen muß man – Können Sie französisch? Kümmerlein?

Kümmerlein behauptete, als ehemaliger Klempnergesell in Frankreich gewandert zu sein; er wiederholte aber, daß ja der Franzose deutsch spräche ...

Richtig, sagte Mullrich; aber ... Azent!

Kümmerlein war etwas verlegen über die Auskunft, die er geben sollte und las deshalb kleinlauter im Papiere weiter:

Hier steht's wie er heißt ... Louis ... Armand ... besondere ... Bemerkung: Man hat ihn im ... Umgange mit ... Handwerkern, besonders ... Willing'schen Maschinenarbeitern ... aha! ... zu beobachten –

Ah so!

Das ist politisch!

Französische Aufwiegelei! Deutsch mit 'nem Azent! Da wollen wir doch aufpassen; denn das Politische –

Pst! Stille! bedeutete Mullrich und sah sich rasch um ...

Eine maskirte Gestalt huschte an den beiden Lesern vorüber und warf aus einer grünen gemalten Brille über der gewaltigen Nase einen scharfen Blick auf die beiden in ihren Charakterstudien vertieften Polizeiagenten, [1311] indem sie eine Secunde etwas hustend stehen blieb ...

Wünschen Sie etwas? fragte Kümmerlein.

Pardon! war die Antwort und die Maske mit der grünen Brille huschte rasch wieder in's Dunkel und verschwand mit ihrem etwas röchelnden Husten hinter den Büschen.

Pardon? riefen die beiden Collegen ...

Pardon? Das war ja –

Französisch –

Mit'm Azent –

Kommen Sie doch! sagte Kümmerlein, ich glaube, der echappirte auf den Saal zu und überhaupt sollen wir auf Loge Nr. 18 vigiliren. Eine grüne Brille? Merken wir uns Das, Mullrich! Es war ein Franzose!

Mullrich konnte diese Bezeichnung Nr. 18 nicht hören, ohne gleich an die Thüren seines Familienhauses zu denken und bei Nr. 18 fiel ihm Nr. 17 ein.

Indem er sich die Möglichkeit dachte, daß diese abgefeimte Nr. 17, die Maler-Guste, doch wol nicht nach Hamburg gegangen und mit ihrer Schuld an seine Ehegattin leicht auf dem Fortunaball auftauchen konnte, folgte er Kümmerlein, der durch das Gedränge dem Saale zu sich Bahn machte und von dem Anblick der Lichter, die aus den Saalfenstern schimmerten und manche Mädchen, die ihn lachend grüßten, so verblendet war, daß er die Spur der grünen Brille bald aus dem Auge verlor und Mullrichen erinnerte, daß sie ja noch das zweite Signalement zu lesen hätten.

[1312] Um auf Nr. 18 zu kommen, durfte man jedoch nicht durch den Tanzsaal, auch nicht durch die eleganten Restaurationszimmer gehen, sondern diese kleine Loge war eigends in dem Bauplane des Unternehmers, des Kaufmanns Hitzreuter, von der Polizeibehörde vorgeschrieben worden. Diese kleine versteckte Loge hatte einen eignen Aufgang vom Tunnel aus und machte eine dauernde Beziehung zwischen der Beobachtung des Tanzsaales und der Beobachtung des Tunnels möglich. »Verbotener Eingang« lautete die Aufschrift der Treppe im Tunnel, die zu dieser Loge führte. Es wurde diese kleine Loge Nr. 18 in der kecken Sprache dieser zweideutigen Sphäre die Sternwarte genannt. Hier »vigilirte« man. Von diesem Punkte aus sollten sich heute Mullrich und Kümmerlein eine Übersicht über den Saal erhalten. Da sie in Amtstracht waren, so hatte der kluge Pax wol nur im Sinn, bei den zweideutigen Besuchern des Fortunaballes die Idee zu erwecken, die Beobachtung wäre ganz allein auf die »Sternwarte« beschränkt, während die wahren beobachtenden Füchse gerade da schlichen und witterten, wo man sie am wenigsten vermuthete.

Das zweite Signalement zu lesen, war es die höchste Zeit.

Im Tunnel wurde man zuvörderst von einem undurchdringlichen Rauche empfangen. Hier standen drei grünbezogene Billards und einige kindische Glücksspiele, die aber gerade um so besuchter waren, je weniger sie Nachdenken kosteten; denn mit den großen Geistern haben es [1313] die kleinen gemein, daß sie, wenn sie spielen, nicht denken wollen.

Hier im Tunnel wurden die feineren Observanzen der oberen Räume nicht beobachtet. Hier sah man den eigentlichen Stamm der Besucher solcher Festlichkeiten, leichtsinnige, meist junge Geschäftsmenschen, die das Vergnügen lieben. Während oben die im Tanze rasten, die vielleicht erst auf dem Wege zum Verbrechen waren, hielten sich hier unten Manche auf, die, dem Arme der Gerechtigkeit schon einmal verfallen, sich zu bessern suchten und einmal gewöhnt an Nachtschwärmerei, hier unten einen Schein bürgerlicher Solidität fanden, in dessen Ausstrahlungen sie den Vigilanten bessergeworden erschienen.

Nun so rasch? rief eine Stimme vom Büffet, wo man Getränke verabreichte, den auf die Thür: Verbotener Eingang zuschreitenden scharfsichtigen, spähenden Dreimastern zu.

Sie wandten sich um und traten näher.

Man wich ihnen aus, so besetzt auch das Büffet war. Auf dem Fortunaball fand sich jene Demokratie nicht ein, die im ewigen Hader mit den Dienern der Gerechtigkeit lebte. Mancher scheue, trotzige Blick begrüßte sie freilich auch hier; aber Zusammenrottungen, Verhöhnungen äußerer Amtszeichen fanden nicht statt, umsoweniger, als sich der Ex-Kaufmann Hitzreuter als einer jener outrirten Royalisten gebehrdete, die bei jeder Gelegenheit sich mit ihrer Gesinnung vordrängten und aus Dankbarkeit, daß man [1314] ihm sogar von Seiten des Hofes eine Summe für seinen Bau geliehen hatte, in den Reubund getreten war und mit diesen Fortunafestlichkeiten zuweilen auch patriotische Zwecke verband, überall royalistische Embleme anbrachte, die Landesfarben und die Landeszeichen, und in seinen Räumen auf loyale Ordnung sah.

Ei, Frau Peters, sagte Mullrich, wie kommen Sie denn daher?

Es war Kathrine Bollweiler aus Angerode, die Vielgewandte, die Anschlägige.

Ja, sagte die kleine hinter dem Tische Getränke einschenkende und Geld einnehmende Frau, die sich mit unglaublicher Behendigkeit und Naivetät in ihre neue Position zu finden wußte; so sieht man sich wieder, wenn man einmal den Pelikan seit Jahr und Tag nicht besucht hat!

Eben nicht sehr zarte Anmerkungen, die sich Kümmerlein über die geheimen Pelikanzustände hier erlaubte und vielerlei sich daran knüpfende Scherze mögen wir um so mehr unterdrücken, als in diesem Augenblicke Peters herantrat und wieder einen »Schatten Margo« verlangte –

Oben, oben, Männchen, oben! rief die Frau etwas ungeduldig.

Es ist ja für die Thüringer – die zweite Fuhre!

Sieh! Sieh! sagte Kathrine. Meine Thüringer Jungen haben Durst. Kommen sie denn nicht einmal hier herunter?

Statt die Antwort abzuwarten, ging Kathrine in die[1315] innern Gemächer des Büffets, wo sie diese ausnahmsweise hier unten effectuirte Bestellung besorgte, weil Peters die Garantie haben wollte, für die beiden jungen Thüringer auch das Beste und Unverfälschteste zu bekommen ...

Kathrine stieg durch eine kleine Nebentreppe selbst in das obere Büffet hinauf. Sie hatte, so zweideutig uns auch die Stellung dieser runden kleinen Frau erscheinen mag, doch ihre Anhänglichkeit an die abenteuergesegneten beiden Pfarrerssöhne von Thaldüren nicht aufgegeben. Sie gehörte zu den leichten, aber hätschelnden Frauennaturen, die eigentlich etwas un endlich Wohlthuendes im weiblichen Charakter repräsentiren, wie gering auch sonst ihr innerer moralischer Werth erscheinen mag.

Sie sind hier noch nicht lange Kellner? begann Kümmerlein, indem er den in seiner Jacke jämmerlich dastehenden und auf die zweite Fuhre »Schatten-Margo« harrenden Peters betrachtete.

Wie so? fragte Peters nicht ohne Empfindlichkeit.

Weil Sie die Weine am unrechten Fasse zapfen. Hier ist ja der Keller oben, sagte Kümmerlein.

Die verkehrte Welt! brummte Peters.

Der ist kurz angebunden! wandte sich Kümmerlein zu Mullrich, der eins der immer schon eingeschenkt dastehenden Gläser Bier ergriffen hatte und es mit raschem Zuge leerte, indem er langsam den Beutel zog und noch langsamer aufknöpfte.

[1316] Kurze Stränge, fährt sich besser! sagte Peters.

Der ist grob wie ein Fuhrmann, antwortete Mullrich.

Und Euer Geldbeutel weit wie ein Bettelsack.

Ein Gelächter der dicht Umstehenden begleitete diesen kurzen epigrammatischen Dialog. Kümmerlein, eben im Begriff sich in seiner Würde zu zeigen und von Mullrich unterstützt, der einen gewissen strategischen Bogen, den er sehr in der Gewalt hatte, um den rebellischen Kellner zu ziehen anfing, wurde in dem Beginn thatsächlicher Feindseligkeiten von Frau Kathrine unterbrochen, die mit dem Schatten-Margo noch zur rechten Zeit herunter kam, um eine schwierigere Verwickelung durch ihre Holdseligkeit und politische Mäßigung abzubrechen.

Eben war wenigstens der durch Kathrinen's Zuhalten seiner Börse beschwichtigte Mullrich im Begriff, beiläufig nach den beiden »Thüringern« zu fragen, die vorhin so theilnehmend erwähnt und hier offenbar vor allen Gästen bevorzugt wurden, als Kümmerlein seinen Kameraden anstieß und diesen verhinderte, etwas Näheres über jene beiden jungen Männer zu hören (bei zwei »Thüringern« sollten sie ja zwischen vier und fünf eine Recherche vornehmen) ...

Pst! Sehen Sie da! Der Franzose!

In der That stand die grüne Brille vor der kleinen Thür, die auf die Sternwarte führte und schien die Inschrift zu lesen.

Die beiden Häscher schlichen näher.

Die grüne Brille schien sich erkältet zu haben. Sie hatte [1317] einen rheumatischen Husten. Eben wollte sie die Thür aufklinkend die kleine Treppe besteigen, als die Häscher herantraten und Kümmerlein von der eben genommenen Herzstärkung noch resoluter geworden die Maske, weil es in Französisch mit deutschem »Azent« nicht recht gehen wollte, einstweilen in Deutsch mit französischem »Azent« so anredete:

Erlauben Sie, Musje, da steht geschrieben: hier nix Passage!

Ah Merci! sagte die grüne Brille und war mit der Gewandtheit eines Aales den beiden verblüfften Agenten plötzlich entschlüpft. Nur in der Ferne noch hörte man sie hüsteln.

Verblüfft war nämlich Mullrich besonders auch darüber, daß Kümmerlein französisch konnte und Kümmerlein wiederum seinerseits erstaunte, daß sein gewagter Versuch, diese fremde Sprache wenigstens in Anklängen zu reden, ihm wirklich so schön gelungen war. Staunend über diese neuen Entdeckungen, die sie darauf sich gegenseitig machten, verloren sie zwar die Spur des plötzlich wie verschwundenen flüchtigen Fremden, aber sie sagten doch:

Nun, den kriegen wir heute Abend schon! Auch sollen wir ihn ja nur beobachten –

Vigiliren! meinte Mullrich und freute sich des auch ihm geläufigen Fremdwortes.

Mit dem Worte Vigiliren stiegen sie auf die Sternwarte hinauf, indem Mullrich seinen Collegen wiederholt [1318] erinnerte, sie hätten nun dringend Nr. 2 zu lesen oder wie Kümmerlein sagte, zu collationiren, was ein ihm geläufiger Ausdruck vom Polizei-Büreau war.

Da es auf der engen Treppe sehr dunkel war, so vertröstete Kümmerlein für dies wissenschaftliche Geschäft auf die brillante Beleuchtung von Nr. 18, in die der ganze Lichtstrom aller Gasflammen des Saales fiel.

[1319]
10. Capitel. Die grüne Brille
Zehntes Capitel
Die grüne Brille

Die aalglatt entschlüpfte Maske hatte inzwischen den Tunnel verlassen.

Sie bewegte sich, dann und wann von einem eigenthümlichen asthmatischen Husten unterbrochen, mit großer Behendigkeit, aber auch in jener unsteten Emsigkeit, die gewissen langen Würmern eigen ist, welche auf einer ebenen Fläche bald hier- bald dorthin schießen und sich umwenden, man weiß nicht warum, und sich alle Augenblicke zu erschrecken scheinen, man weiß nicht wovor.

Die Behauptung, daß diese grüne Brille deshalb, weil sie zwei französische Worte: Pardon! undMerci! gesprochen, auch sogleich ein Franzose und Monsieur Louis Armand war, kann uns nur übereilt bedünken.

Noch weniger aber schien das von den Polizeidienern verlesene Signalement zu passen.

Unter der großen Brille, der Nase und dem gewaltigen Schnurrbarte steckte zwar ein glattes Antlitz, aber dem Haare unter dem feinen Kastorhute ging alle natürliche Frische ab. Es war jedenfalls eine sehr kunstvolle Perücke.

[1320]

Wir, die wir Louis Armand kennen, und bedauern müssen, daß der junge Franzose, der eben mit so liebevoller Aufopferung an dem Krankenbette seines Freundes und Gönners, des Fürsten Egon von Hohenberg, wachte, schon den Sicherheitsbehörden wahrscheinlich als ein communistischer pariser Agent erschien, wir würden für Louis Armand gutsagen, daß es ihm unmöglich wäre, wie diese grüne Brille so unter den Schatten der Bäume herumzuschießen, jede weibliche Erscheinung mit einer Lorgnette zu fixiren und dem zwecklosesten Flaniren sich in einer Weise zu ergeben, die uns über Zweck und Ziel dieser Persönlichkeit völlig im Unklaren läßt.

Besonders schienen es zwei weibliche Gestalten, denen die grüne Brille eben eine sehr aufmerksame Verfolgung zugedacht hatte.

Es waren schlanke, gefällige Wesen, die eine sehr sorgfältige Toilette gemacht hatten und deren Auftreten zwar von ziemlich kecken Manieren, aber auch einer gewissen Wohlhabenheit zeugte.

Der zudringliche Ton der lustig und zweideutig hier herumflatternden Wesen war ihnen nicht eigen, doch forderten auch sie heraus. An Verfolgern fehlte es umsoweniger, als ihre Art, sich aneinander zu hängen und ohne zu verweilen bald da, bald dort zu erscheinen, auffallend genug war.

Zum Tanze schienen sie sich erst später entschließen zu wollen.

Die grüne Brille hatte die Gewohnheit, jedesmal, wenn [1321] sie an diesen, durch weiße zierliche Halbmasken noch unkenntlichen Damen vorbeischoß, ein Compliment hinzuwerfen, das immer mit einem gewissen Kichern aufgenommen wurde; ja als eins seiner rasch hinfallenden französischen Worte sogar einmal durch ein: Bon soir, Monsieur! erwidert wurde, wäre er ohne Zweifel in ein näheres Gespräch verwickelt gewesen, wenn nicht zwei elegante Herren unablässig bemüht gewesen wären, ihn von den beiden Weißmasken zu entfernen.

Auch diese durch große Schnurrbärte und Nasen unkenntlich gemachten eleganten Herren hielten sich unter den Armen aneinander fest. Sie waren fein gekleidet, in schwarzen Fracks mit weißen Piquéewesten, weißen Handschuhen, weißen Halsbinden. Man mußte sie für gewandte Erscheinungen der Salonwelt halten, hätte ihre Sprechart nicht auf einen geringeren Ursprung hingewiesen.

Wie sich die grüne Brille einige mal durch diese beiden Herren gewaltsam von den beiden Weißmasken abgedrückt fühlte, schlich er diesen vorsichtig nach und hörte auf einem Seitenwege an den Hecken hin, daß die eleganten Männer folgende Worte in gemeinstem Dialekt wechselten:

Sie sind's!

Glaubst du?

Die mit der Rose im Haar ist die ältere –

Doch nicht die älteste –

Bewahre! Die mittlere! Sieh! Sie sehen sich um –

[1322] Wenn sie uns erkennen, werden sie nicht mit uns tanzen.

Glaubst du, daß sie so stolz sind?

Um uns zu heirathen, nicht. Aber so für einen Ball sind wir ihnen zu gering.

Man kennt uns nicht. Wir haben die feinste Garderobe ...

Die Ludmer hat's gleich bemerkt, daß wir auf fremde Unkosten hergingen ... Sie wollte uns nachsehen, gut, daß wir ausrissen ...

Mein Frack ist mir doch zu eng ...

Bewahre! Nach der Mode muß er eng sein ...

Nun dann trifft sich's gut, daß der Alte so hager wie eine Spinne ist ...

Wenn er uns hier begegnete!

Es wäre das erste mal nicht, daß ich ihn in seinen eigenen Kleidern foppte! Aber er ist zu müd von seinen Strapazen.

Vom Möbelwagen!

Den hat die schöne Hexe, die Melanie, recht bei der Nase herumgeführt. Wie mag der Satan Das angefangen haben, den alten langen Storch in das Nest zu locken?

Wo Weiber Sprenkel legen, bleiben wir Alle sitzen.

Weißt du, was ich vorhin für eine Idee hatte?

Wegen Punsch?

Richtig! Das lust'ge Ding – die Jeannette –

Von Schlurck's?

Die ist hier –

[1323] Wo? Wo?

Dann sollt' es amüsant werden – Wir suchen sie –

Wo sahst du sie –?

Wenn sie's ist – ich glaube aber mit Neumann –

Neumann ist ihr Bräutigam –

Dem plumpen Tolpatsch wird sie hier nicht die Vorderhand geben – die Jeannette stieß und stumpfte ihn zurecht, daß er einen ordentlichen Chapeau machen sollte –

Wenn sie's nur war –

Ich möchte darauf schwören! Nur ein Bischen fuchswild schien sie –

Das kann sie sein.

Wahrhaftig! Das ist sie wieder –

Hier schienen die beiden jungen Stutzer, deren Incognito wir sehr leicht erkennen, da wir wissen, daß wir die vortrefflichen Bedienten Franz und Ernst aus dem Hause der Geheimräthin von Harder in der Garderobe der Excellenz vor uns haben, zu bemerken, daß die grüne, von ihrem asthmatischen Husten geplagte Brille sie belauscht hatte. Sie verschwanden in einer Gruppe von Neuankommenden und drängten dem Saale zu, wo auch die beiden Weißmasken hin verschwunden waren.

Die grüne Brille war scharfsinnig genug, zu errathen, daß sie sich hier unter dienendem Personale bewegte und schnitt unter ihrer Nase und dem Schnurrbarte einige sardonische Gesichter.

Dennoch mußte sie gestehen, daß die Weißmasken etwas Graziöses hatten und eine gewisse herausfordernde [1324] Leichtfertigkeit, die ihr zu pikant erschien, um die Verfolgung aufzugeben.

Indem sie sich anschickte, gleichfalls dem Saale zuzuschreiten, der eigentlich von der grünen Brille vermieden wurde, hörte sie neben sich die Worte flüstern:

Komm! Komm! Die Weißmasken sind die Wandstablers – die Lore und die Flore! Laß uns fort.

Die grüne Brille wandte sich auf den Namen der Wandstablers um.

Ihr schien dieser Name bekannt zu sein.

Die Wandstablers? verhauchte es auf den fahlen Lippen der schleichenden Person, als sie sich umgewandt hatte zu hören, wer ihr diese angenehme Aufklärung gegeben hatte.

Wie erstaunte der hustende Schleicher, als er geradezu das Eleganteste entdeckte, was er bisher auf dem Fortunaball angetroffen hatte!

Zwei leichte, sylphidenartige Gestalten schlüpften behend, wie Elfen im Mondschein, vor ihm her. Sie hatten die Tracht der sogenannten Fledermäuse, aber angewandt vom winterlichen Carneval auf die laue, liebliche Sommernacht.

Die eine größere weibliche Gestalt war ganz von einem leichten Rosastoff umwallt und hatte eine weiße Kapuze auf. Die andere, ebenfalls mit einer weißen Kapuze, trug die kostbarste Umhüllung von demselben leichten Stoffe in Himmelblau.

Die Kapuzen entstanden aus weißen Überwürfen, die [1325] frei und lose bis über den Kopf gezogen waren und nichts von ihm sehen ließen als die maskirte Vorderseite, deren die grüne Brille, so sehr sie sich mühte, nicht ansichtig werden konnte.

Denn die beiden Damen eilten wie auf geflügelten Sohlen und schnitten dadurch jeden Versuch der Männerwelt, ihnen zu folgen, ab.

Die grüne Brille hatte das Wort: Es sind die Wandstablers! nicht vergebens gehört. Sie mußte ein zu lebhaftes Interesse an diesem Namen haben und folgte bis in die Dunkelheit, wo ihr die Blaue und die Rothe nicht mehr sichtbar waren.

Etwas erschöpft von diesen Anstrengungen setzte sich die grüne Brille hustend auf eine zufällig unbesetzte Gartenbank, lüftete auch, da es überall dunkel war, einen Augenblick ihre Maskirung und sammelte wieder Kraft zur Fortsetzung ihrer Anstrengungen, die aus der Absicht, sich nur zu vergnügen, nicht ganz allein hervorzugehen schienen.

Ein leises Lüftchen, das über die Gärten und Wiesen herwehte, mußte dem Erschöpften wohl thun. Die rauschenden Klänge aus dem Tanzsaale tönten hierher nur noch matt und verhallend. Man befand sich hier am äußersten Gitter der ganzen Einfassung dieser neuen Anlage. Im Sternenlicht konnte man in nächster Nähe nur eine kleine Wiese, dann aber ein großes festungartiges Bauwesen erblicken. Die ungeheuren in die Höhe ragenden Schornsteine ließen dort eine große Fabrik vermuthen.

[1326] Es war hier in der That ganz in der Nähe die große Willing'sche Maschinenfabrik, an welcher, um die Glut der Öfen nicht für das Tagewerk erkalten zu lassen, auch in der Nacht aus den langen Essen heller Schein und glühende Feuerfunken knisterten.

Wie die grüne Brille sich auf der kleinen Bank ruhte, mit der einen Hand ein seidenes ostindisches Taschentuch nach dem Gesicht führte, um sich den Schweiß zu trocknen, mit der andern an der weißen Farbe der frischgestrichenen Bank fühlte, ob sie nicht etwa noch abfärbte, dann aber eine Bonbonnière hervorzog und einige Pastillen in den Mund steckte, hörte sie hinter sich, wo sie Niemanden vermuthete und selbst durch die Wirkung der Pastillen und den aufhörenden Husten unsichtbar war, zwei Männer in einem ernsten, mit der heitern Regsamkeit des Abends in keinem Zusammenhang stehenden Tone sich unterhalten.

Die Männer nahmen mit ihm Rücken gegen Rücken auf einer jenseit des trennenden Gebüsches in einem andern Gange stehenden Bank Platz und ließen sich nur dann zuweilen unterbrechen, wenn von einem Vorübergehenden eine Störung stattfand.

Sie sind ein Thor, sagte der Eine ziemlich rauh und hart, daß Sie Ihr junges Leben so unnütz verzetteln und nicht endlich einmal Anstalt machen, für Ihre Zukunft einen dauernden Grund zu legen. Was soll aus Ihnen werden? Sie haben Talent, Kenntnisse, freilich keine geregelte Erziehung, aber dazu bedürfte es einer nur kurzen [1327] Zeit und Sie würden Vieles nachholen, was Ihnen noch fehlt. Nur müßten Sie dies Träumen und Lungern aufgeben und etwas Solides anfangen. Es ist die höchste Zeit oder Sie sind verloren!

Der Andere antwortete mit einer schwächeren, aber sanften und hochklingenden Stimme:

Ich bin krank. Mein Leben ist verpfuscht. Noch einige Jahre und ich breche mir einmal den Hals durch Zufall oder mit Absicht. Das wird das Ende sein ...

Gehen Sie weg! Sie sind ein Thor! sagte der Andere. Freilich müssen Sie sich ruiniren, wenn Sie heute einmal im Felde schlafen, morgen eine ganze Nacht so durchrasen, wie ich Sie vorhin im Saale bemerkt habe. Sehen Sie! Wie erhitzt Sie sind! Wie Ihre Brust keucht! Wie Ihre Hände glühen! Sie sind auf dem besten Wege zur Schwindsucht!

Das ist der Tanz nicht, sagte der Andere. Das ist mein Glück, meine Freude, die an mir zehrt.

Haben Sie Glück, Sie Freude? Ein Mensch, der im dritten Hofe eines erbärmlichen Hauses wohnt, drei Treppen hoch, links und rechts von Armuth und Elend umgeben? Ich weiß, daß Sie nicht darben. Der Justizrath liebt Sie väterlich, liebt Sie wie einen Sohn. Und wissen Sie, manchmal kommt es mir vor –

Halt! Mir ist schon Vieles vorgekommen ...

Als wäre der Justizrath selbst Ihr Vater.

Daß Sie der Teufel hole! Das wäre mir nicht lieb! antwortete der Andere rasch.

[1328] Warum nicht?

Mein Vater? Sagen Sie Das nicht wieder!

Was wäre da? Sie sind ein Waisen-, ein Findelkind! Sie führen den Namen Hackert von dem Pathen, den man Ihnen im Waisenhause gab. Es war ein Kaufmann, der dem Waisenhause gerade gegenüber wohnt und nichts dagegen hatte, Ihnen seinen Namen zu geben, weil er vom Waisenhause lebt. Durch welche Teufelei, wenn mich doch der Teufel holen soll, kamen Sie an den Justizrath?

Das weiß ich nicht – aber mein Vater! Nein, Das wäre eine weinerliche Komödie, wie ich sie einmal für zehn Silbergroschen im Theater sah. Gehen Sie weg, Herr Oberkommissär! Sie haben Muße Romane zu lesen. Pfui Teufel! Kommen Sie; Das könnte mich rasend machen! Lassen Sie mich tanzen! Hören Sie: Polkatöne! Komme doch! Komme doch, holde Schöne!

Aha! Ich merke, Sie können meine Vermuthung nicht ertragen, weil Sie nun merken, warum Schlurck –

Der Andre pfiff.

Sie aus dem Hause geworfen hat.

Lassen Sie mich los! Die Polka fängt an ...

Sie tanzen nicht! Sie sollen vernünftig sein! Wissen wir nicht Alle, daß Sie mit dem schönen, kecken Mädchen, mit der Melanie ...

Stille! Erst: Wir? Wer sind die Wir?

Die, die scharfe Augen und nebenbei mit Schlurck, Bartusch und andern Stützen der Gerechtigkeit mancherlei [1329] zu thun haben. Auch Dienstmädchen plaudern – Eben sprach ich Jeannetten –

Sie ist hier?

Die Schlurck's müssen toll sein. Sie werfen alle Leute zum Hause hinaus und bilden sich ein, wenn man auf den Mund fällt, wächst er Einem zu.

Was ist mit Jeannette –?

Der Kutscher Neumann brachte sie her. Sie wüthet. Ihr Fräulein hat ihr heute Abend vor zwei Stunden den Dienst gekündigt.

Sie tanzt aus Zorn – ich aus Freude! Ein andermal umgekehrt. Es werden mir noch manche folgen.

Reden Sie vernünftig! Diese Jeannette ist bös; und wenn Sie Melanie lieben –

Meine Schwester?

Wirklich? Glauben Sie's nun?

Nimmermehr!

Oder ob nicht – Sie schweigen doch wenigstens. Obgleich Sie viel verrückte Streiche machen, schweigen Sie doch. Ich schätze an Ihnen Ihre Diskretion und Ihre schöne Handschrift, Hackert. Jeannette wird aber nicht schweigen. Sie rast, sie droht ... Das Fräulein wäre heute Abend von Harder's nach Hause gekommen, hätte getobt und gelärmt, geweint, geschrieen, die Hände gerungen, einen Brief geschrieben –

An Lasally ...

Sie scheinen das Alles zu wissen?

Dann? Dann? Fahren Sie fort!

[1330] Dann wäre sie in's Schlafzimmer gegangen, hätte sich ausgezogen, das Licht eben auslöschen wollen und mit der Lichtputze in der Hand –

Kennen Sie keinen Geschwindmaler? Ich wünschte, man könnte das Leben stenographiren.

Mit der Lichtputze in der Hand ihr gesagt: Jeannette, deine Plauderei in Hohenberg, dein Zusammenstecken mit Hackert, deine gottlose Zunge mit den Knechten Lasally's, dein Punschtrinken mit den Bedienten der Geheimräthin, deine angeberischen Schändlichkeiten, daß ich den Prinzen Egon von Hohenberg in einem fremden Abenteurer vermuthet hätte, alles Das macht dein Maß voll. Morgen früh will ich dich nicht mehr sehen. Damit drängte sie Jeannetten zur Thür hinaus, riegelte zu, löschte das Licht aus ...

Und schläft und träumt ... von ihrem Bruder? Wo ist der Geschwindmaler?

Bester! Sie spotten doch nur! Aber Jeannette ist viel schlimmer als Sie ... die sagt rein heraus ...

Man schneidet ihr die Zunge aus.

Dann spricht sie in Zeichen, die so deutlich sind, daß ...

Man sie würgt ...

Sie, glaub' ich, könnten schneiden und würgen ohne Messer und Stricke, Sie haben den Verstand dazu – deshalb komm' ich auf meine Vorschläge zurück – wählen Sie sich einen Beruf, zu dem Sie Talent haben –

Die Jeannette! Die verläßt auch das Haus?

Die Zeit wird immer verwickelter. Sie braucht Köpfe –

[1331] Bläst das Licht aus und schläft ...

Sie haben das wunderbare Talent einer Handschrift, in der Ihnen der erste Schreibmeister der Akademie nicht gleichkommt ... Schmelzing ist ein Stümper gegen Sie ...

Bläst das Licht aus und schläft – ...

Geben Sie mir die Hand! Schlagen Sie ein! Sie werden von Morgen an, im Einverständniß des Polizeipräsidenten, bei mir ...

Hackert stand wie abwesend, gab die Hand und Pax wollte eben mit seinen Anträgen deutlicher hervortreten, als die grüne Brille die Worte rufen hörte:

Maske vor! Getanzt! Getanzt!

Dieser Ausruf kam nicht von dem Andern, überhaupt nicht von den beiden Sprechern, sondern aus einem dritten und weiblichen Munde.

Die grüne Brille hatte sich leise umgedreht und erblickte mit Erstaunen, daß zwischen die beiden Sprecher eben die blaue und die rothe Maske gefahren waren.

Die Rothe hatte den wenig Widerstrebenden, der auf die Vorschläge des Andern halb schon einging, leidenschaftlich in dem Moment des Handeinschlagens ergriffen und ihn mit den Worten: Getanzt! Getanzt! von der Bank auf- und fortgerissen.

Die kleine Blaue hüpfte nach. Mit einem Fluche war der Andere, der stattliche Herr Oberkommissär, aufgestanden, während die drei wie flatternde Vögel davonschwirrten ...

Hackert, denn dieser war der so plötzlich aus den[1332] Schlingen des Oberkommissärs Pax Entführte, Hackert wußte nicht, wie ihm geschah ...

Die rothe elegante Dame war ihm völlig unbekannt. Ebenso wenig wußte er, wer die an seiner linken Hand nachhüpfende Blaue war.

Rasch durchflog er die Reihe seiner Bekanntschaften. Er hatte deren hier unendlich viele. Denn wir sagten schon, daß er zu den leichtsinnigsten jungen Männern gehörte und so wenig ihn sein Äußeres, besonders aber das röthliche Haar empfahl, so unfähig er war, dauernde Verbindungen zu schließen, so konnte es wol ein Act alter Anhänglichkeit sein, daß ihn hier ein schwärmender Nachtvogel entdeckte und zur Erinnerung alter Stunden zum Tanze, in dem er ein kunstvoller Meister war, entführte.

Dennoch kam er von dieser Vermuthung bald zurück.

Der Anzug war so neu, so elegant, der Kopfputz so geschmackvoll und nach eigner Idee ausgeführt, die Ähnlichkeit der beiden Damen so auffallend und wie im Einverständnis angelegt, daß er hin- und herrieth, aber von seiner Begleiterin immer auf jeden Namen nur ein Kopfschütteln erhalten konnte ...

Es war nicht möglich so rasch in den Saal zu dringen. Er hatte Zeit ein Gespräch anzuknüpfen. Erfragte rechts die Rothe, links die Blaue. Mit verstellten Stimmen wichen sie ihm aus und spannten seine Neugier nur immer mehr auf die Folter.

[1333] Endlich waren sie im Saale und die rothe Dame, die sich im blendenden Schein des Gaslichtes nur noch anziehender ausnahm und die größte Begier erregen mußte, ihre schwarze Maske gelüftet zu sehen, trat mit Hackert zum Tanze an. Aber die blaue, die nun allein stand, blieb jetzt auch nicht ohne Tänzer. Ohne lange Wahl war sie in die Reihen mit hineingerissen und tanzte mit einem ihr völlig unbekannten jungen Militair, der unter seiner Uniform eine feine elegante Piquéweste trug und an dem goldenen Streifen seiner Uniform zeigte, daß er schon einen höheren Grad erreicht hatte.

Das Gewühl war zu stark. Man konnte nur einmal herumtanzen und mußte dann eine Weile auf frische Lücken warten ...

Hackert aber ließ sich nicht hindern, im Tanzen fortzufahren, es war ein gewandter, wilder, allgemein bewunderter Tänzer, – wobei er aber statt röther, nur immer blässer wurde ...

Während die blaue Dame so neben dem jungen Militair stand und sich gefallen lassen mußte, daß sie trotz ihrer Eleganz hier von Denen zum Tanze aufgefordert wurde, die das Lokal einmal besuchten, hörte sie hinter sich die Worte flüstern:

Quelle aimable danseuse!

Die Wirkung dieser französischen Anrede auf die kleine blaue Dame war unglaublich.

Sie wandte sich um, sah, daß die grüne Brille unter dem Barte ihr zulächelte und gerieth darüber so in Verwirrung, [1334] daß sie sich von dem jungen, hübschen Soldaten losriß, um Entschuldigung bat und davonstürzte ...

Dieser glaubte, sie wäre krank und wollte ihr folgen.

Nein! Nein! antwortete sie und hielt ihn zurück.

Fast beschämt wurde der junge Krieger, als er glaubte, er hätte wol Unrecht gethan, eine so elegante Dame aufzufordern und traurig zog er sich an die Wand zurück, um denen Platz zu machen, die ihren Tänzern nicht nach der ersten Tour so spröde davongingen.

Die grüne Brille irrte sich durchaus nicht, wenn sie annahm, daß ihrer französischen Anrede wegen die Himmelblaue aus dem Saale eilte und ihren Tänzer stehen ließ.

Sie benutzte die Wahrnehmung und ging ihr hüstelnd nach.

Die kleine Dame sah sich ängstlich um und floh förmlich.

Mais, ma belle – rief die grüne Brille und wagte es den Arm der kleinen Dame zu ergreifen.

Dieser zitterte ...

O lassen Sie mich! Ich schäme mich! waren die Worte, die an das Ohr der grünen Brille drangen und darauf hin versuchte der Asthmatische ein deutsches Gespräch anzuknüpfen, dessen gebrochene Töne auf die kleine Blaue nur noch erschreckender wirkten.

Sind Sie's denn? O Gott, was werden Sie von mir denken? rief sie, als sie Beide mehr in der entlegenen Partie des Gartens waren.

Daß Sie sind ein kleiner Engel – eine von den drei[1335] Grazien, die verstehen zu tanzen à merveille. Machen Sie doch auf Ihre Maske, kleiner Engel!

Die Blaue schien nach diesen Worten zu begreifen, daß sie sich doch wol geirrt haben mochte und viele Menschen in Frankreich wohnen, die gerade hier in Deutschland anwesend sein konnten, nicht blos der Eine Einzige, von dem sie sich zu ihrem Todesschrecken angeredet glaubte ...

Dennoch vertraute sie noch nicht ganz ihrer Täuschung, sondern sagte mit großer Naivetät:

Es ist mir nicht im Traum eingefallen, auf diesen Ball zu gehen, aber meine Freundin hat mich überredet und ihren Bitten konnt' ich's nicht abschlagen –

Diese rothe Tänzerin, sagte die grüne Brille, hat sehr viel Geist zu Unternehmungen und hat mich entzückt durch ihre Hardiesse ...

Hardiesse? fragte die Blaue. Ist Das ...

Die grüne Brille lachte über die Verlegenheit des Kindes und sagte:

Sie kleiner Engel haben nicht so viel von Hardiesse ...

Der blaue Domino glaubte, die grüne Brille spräche von einem Gegenstande der Garderobe und sagte in aller Unschuld, ob Das eine Mode wäre?

Ha! Ha! Hardiesse ist eine große Mode aller Damen, sagte der Franzose, für die, welche besuchen die Bälle der großen Oper. Ich bewundere Ihre Costümes! Es sind Costümes der Phantasie!

Von Flor, berichtigte die Kleine. Es sind Ballkleider, die [1336] nicht für uns gemacht wurden. Wie wir sie werden bezahlen können, mag Gott wissen!

Auf diese Äußerung hin mußte die grüne Brille laut lachen.

Die Naivetät dieser deutschen »Grisette« die sogleich eingestand, daß sie hier mit unbezahlten Kleidern auf dem Balle war, machte die grüne Brille soviel Vergnügen, daß sie überdreist, ja widerlich wurde und auf eine volle Börse deutete.

Mein kleines Herz, sagte der Fremde, komm! Wir werden uns amüsiren! Wir wollen eine kleine Loge nehmen und speisen zusammen zu Nacht. Und morgen früh werd' ich deine Kleider bezahlen ...

Als die Blaue diese Zumuthung hörte und nun ihren vollen Irrthum erkannte, schien sie in eine Verzweiflung zu gerathen, die nicht künstlich war.

Die grüne Brille hielt sie aber für künstlich, schlang den Arm um die schlanke Hüfte der gewaltsam Widerstrebenden und zerrte sie in die dunkleren Bosketts, indem er sich beugte, um das halb weinende Mädchen zu küssen ...

Lassen Sie mich! Ich rufe um Hilfe! stöhnte das kleine Mädchen unter den gewaltsamen Umarmungen des schleichenden Lüstlings.

In diesem Augenblicke aber fühlte er statt eines Kusses, den er auf der rechten Wange erwartete, auf der linken eine gewaltige Ohrfeige.

Der rosa-rothe Domino hatte ihn in dieser vertraulichen Form ihre weißen Handschuhe fühlen lassen.

[1337] Lachend zog die Rosarothe die beängstete kleine Blaue aus des Erschrockenen Armen und verschwand mit ihr hinter den Hecken.

Die grüne Brille stand von dieser Störung sehr unangenehm überrascht da.

Es entging ihr nicht, daß diese Scene Zeugen gefunden hatte. Man umschlich ihn. Er glaubte sogar jenen Oberkommissär zu erkennen, der vorhin mit Hackert gesprochen hatte und der ihn mit sonderbarem Blinzeln betrachtete, während er die rechte Hand in die Brusttasche steckte.

Eine lustig daherkommende Gesellschaft, Arm in Arm verschränkt, befreite die grüne Brille zu ihrem Glück von einer unangenehmen ferneren Beaufsichtigung; denn sie mischte sich, wie zu ihnen gehörend, unter die jubelnden Sänger, die auch seinen erwachenden Husten deckten.

Hurrah! riefen diese, ihre Hüte schwenkend und zogen mit kleinen chinesischen Traglampen unter den Bäumen vorüber. Unter ihnen Mädchen, leicht und behend. Hinterher schwerer Tretende in Reitstiefeln, die entweder wirklich ihr übliches Costüme angelassen hatten oder dies nur trugen, um Das zu scheinen, was sie vielleicht nicht waren. Dabei wurden Flaschen, Gläser, Hüte geschwenkt und Lieder halb angestimmt, halb wieder mit rauhen Dissonanzen abgebrochen ...

Oberkommissär Pax fragte eine neben ihm stehende gleichfalls sehr zugeknöpfte Person:

[1338] Ah! guten Abend. Herr Assessor Müller ... Sehen Sie sich auch dies Treiben an? Wer sind diese?

Der Angeredete, der nicht blos zum Vergnügen anwesend war, antwortete:

Der sogenannte Jockeyklub!

Aus der Schloßstraße doch nicht?

Nein, nein, die wirklichen Jockeys, die sich wie ihre Herren auch zu einem Verein gebildet haben.

Die wüsten Bursche – Ich kannte Einige – von Lasally – nicht wahr?

Die mit den kleinen Reitgerten. Eingebildete Schlingel, die sich in ihren kurzen Jacken und Schnüren für schön halten! In Schnurjacken durften sie natürlich nicht kommen: aber Sporen und Reitgerten haben sie doch an den Füßen. Zu tanzen ist ihnen mit Sporen verboten worden. Deshalb lärmen sie hier herum.

Wer mögen nur die eleganten Herren sein, die mit den Wandstablers dort angebunden haben?

Kann ich nicht sagen. Sie sind schon lange mit ihnen im Gespräch ...

Die koketten Mädchen wollen heirathen, deshalb tanzen sie nicht und binden lieber solide Verhältnisse an ...

Müssen sie denn aus dem Hohenberg'schen Palais? fragte der Assessor Müller, der auf der Polizei die ersten Verhöre führte und von Hackert, wie wir uns entsinnen werden, auf der Landstraße in der Blouse des Prinzen Egon vermuthet wurde.

Wenn der Prinz wieder gesund wird, gewiß; sagte[1339] Pax. Jede neue Regierung stürzt die Creaturen der alten.

Ich habe die Wandstablers gefragt, der communistische Franzose ist wirklich nur des Prinzen wegen von Paris gekommen ... Wenn der Prinz gesund wird, werden wir schöne Sachen erleben. Der Polizeipräsident schüttelte den Kopf über diese Verbindung ...

Auf Bällen und bei den Arbeitern sieht man den Franzosen noch nicht – darin waren die pariser Berichte falsch.

Angekündigt ist Herr Armand im Maschinenbauverein, sagte der unterrichtete Assessor Müller. Ich glaubte, vorhin ihn sogar hier zu entdecken. Aber es ist ein Andrer. Wer mag nur hinter der grünen Brille stecken?

Es scheint ein Mädchenjäger zu sein. Politik treibt der nicht. Auch paßt das Signalement nicht.

Hat man von Nr. 2 noch nichts beobachtet, ein Signalement, das uns durch gesandtschaftliche Vermittelung über England so dringend anempfohlen wurde?

Von der schwarzen Binde? Noch nichts ...

Sie kommt her, – behalten Sie ja das Signalement vor Augen – Kümmerlein und Mullrich auf der Sternwarte sollen alle Tänzer fixiren –

Sechs und fünfzig Jahre und noch tanzen, Herr Assessor?

Wer sich so mit Gewalt jung macht? So seine Züge versteckt? So sich an die Weiber hängt? Friseur Schmidt behauptet, er hätte einen kahlen Schädel ...

[1340] Begierig bin ich, für wen er beim Juwelier Israëli die vielen Ketten und Brochen gekauft hat!

Ein Engländer ist's nicht und wenn er zehnmal Murray heißt und amerikanische Piaster ausgibt.

Pst, Herr Assessor! treten Sie gefälligst zur Seite! Es kommt da Einer! Mit Dem hab' ich zu sprechen.

Hackert! sagte der Assessor Müller lachend. Angeln Sie immer noch nach ihm? Der Narr soll in Güte kommen, daß man ihn nicht einmal mit Gewalt holt!

Der Assessor entfernte sich und der Oberkommissär trat auf Hackert zu, der in großer Aufregung suchend, umsichblickend daherkam.

Nun, sagte Pax, wen suchen Sie denn? Ihre Rothe? Was ist denn Das für ein Paradiesvogel?

Das frag' ich Sie! So bin ich nie geneckt worden! sagte Hackert athemlos. Mitten im Tanz ist sie von mir fort: dem Soldaten, der mit der Blauen tanzte, ging's ebenso. Der sucht die Blaue, ich die Rothe – verdammte Fledermäuse!

Schonen Sie sich, Hackert! Sie lassen einmal recht wieder die Zügel schießen. Vor zwei Jahren waren Sie durch Ihre Tanzwuth der Schwindsucht nahe und noch geb' ich nichts auf Ihre Brust ...

Und doch soll ich schreiben – immer schreiben – das niederträchtigste Metier, das nur für die alten Mönche einmal gepaßt hat, die ihren Bäuchen von Herzen die Schwindsucht wünschten!

Und manchmal schließen Sie sich doch ab, als wollten [1341] Sie in's Kloster. Die Welt ist Ihr Schauplatz, aber Sie hören nicht auf die Stimme Ihres wahren Berufes.

Ich höre schon, wenn Sie mir nur nicht wieder einen Vater geben, den ich nicht mag –

Und eine Schwester, die Sie heirathen wollen oder schon geheirathet –

Pax! Ich würge Sie ... oder ich rufe nur Ihren Namen noch einmal und alle Observaten schlagen den Oberkommissär nach 12 Uhr selbst todt.

Die Rothe ist Melanie, Hackert ... Das erste Mal wär' es nicht, daß Sie Fräulein Schlurck tiefmaskirt auf die Bälle führten. Nachts schlief Alles im Hause und Melanie schlüpfte mit Ihnen auf einen Tanzsaal, den das Mädchen nur sehen wollte, nur hören wollte. Das Abenteuerliche lockte sie ... Nicht wahr?

Hackert schwieg. Der Oberkommissär wußte zuviel von seiner Jugend, als daß er hätte läugnen können.

Jeannette, sagte er bitter, Jeannette wird Ihrer Wißbegier viel erzählen müssen, Herr Pax ...

Da wurd' es freilich schon anders, als die kam, fuhr Pax fort. Das Mädchen bekam Begriffe von Schicklichkeit und die Augen der Ältern setzten Brillen auf. Aus Liebe wurde ja wol sogar Haß? Nicht? ... Aha! Sie schweigen! Werden Sie vernünftig! Geben Sie Das auf! Schlurck's haben Engelseelen, daß sie Ihnen noch heute wie ihrem Kinde gut sind. Aber Melanie geht hoch hinaus. Jeannette spricht von Fürsten. Warum nicht? Sie ist das schönste Mädchen in der Monarchie glaub' ich. Aber Sie sollten Ihre [1342] Träumereien in den Schornstein hängen oder vielleicht Etwas werden, was sie hebt vor Schlurck's, Ihnen einen Charakter gibt. Verstehen Sie? Dann könnten Sie hintreten und sagen: Melanie, ich bin jetzt ...

Was?

Das findet sich! Raffen Sie sich zusammen – kommen Sie morgen mit mir zum Polizeipräsidenten – er hat etwas für Sie – Wollen Sie? Schlagen Sie ein!

Eben wollte der Oberkommissär aussprechen, wodurch Hackert's Genie sich eine Bahn brechen könnte, eben reichte dieser mechanisch und träumerisch seine Hand hin, als sie wiederum von der jungen, rothen, eleganten Tänzerin ergriffen und dem drängenden Werber zu seinem größten eigenen Erstaunen entführt wurde ...

Der blaue Domino hing schon halb widerstrebend am Arme des jungen hübschen Soldaten ...

Der Oberkommissär, von der Keckheit jener Unterbrechungen jetzt selbst unangenehm berührt, folgte den zum Saale fliegenden beiden eleganten Tänzerinnen nun mit beschleunigten und, wie zu irgend etwas entschlossenen Schritten.

[1343]
11. Capitel. Der rothe Domino
Elftes Capitel
Der rothe Domino

Welch' ein Gegensatz zu jenem rauschenden Gewühl der Sinnenlust, der Vergnügungswuth und des gedankenlosen Übermaßes der Freude die dicht daneben befindliche große Willing'sche Maschinenfabrik!

Am Tage rauscht es, lärmt es und tobt es auch hier.

Da steigen schwarze Wolken aus zehn thurmhohen Schornsteinen, die Eisenhämmer dröhnen aus den gewaltigen Werkstätten, in den Glühöfen siedet es, der große Ventilator, mit dem gegen hundert Schmiedefeuer zu immer lichterloher Gluth geblasen werden, stößt ächzende, singende Töne aus und zu dieser Musik der menschlichen Arbeit und des die Materie bewältigenden Gedankens wiehern die Rosse, die achtspännig die hier gebauten Locomotiven in die entferntesten Gegenden führen, um Kunde zu geben von der gewaltigen Thätigkeit vereinter Menschenhände und der gefesselten Naturkräfte.

Aber auch ein schlafender Riese schnarcht nicht wie ein gewöhnlicher Mensch.

Die Hämmer wurden zwar jetzt um zwölf Uhr in der Nacht nicht geschwungen, die furchtbaren Raspeln dröhnten [1344] nicht markerschütternd in den Werkstätten, der helle Metallklang der hohlen Cylinder erscholl nicht dazwischen, vielleicht wohllautend für das abgestumpfte Ohr, und doch war der Riese in seiner gewohnten Thätigkeit nicht ganz erstorben. Er schlummerte nur, um neue Kraft zu sammeln. Auch im Schlummer hielt er seine starke Hand geballt und zuckte zuweilen mit den Augenliedern, als träumt' er von neuen Heldenthaten. Sein Schnarchen war wie das lebendige Athmen gewöhnlicher Menschen.

In den Schmelzöfen ging die Gluth die ganze Nacht nicht aus. Die langen Schornsteine durften nicht kalt werden. Die große Dampfmaschine, die das Gebläse zu den Cupolöfen der Eisengießerei trieb, ruhte nicht. In langsam feierlicher Bewegung gingen ihre Hebel und Stempel auf- und abwärts und hielten jene furchtbare Kraft gleichsam in gelindem Athem, die in der Frühe um sechs Uhr wieder gewaltig ausholen und wie mit vollen Lungen vereint die Kraft von tausend Menschen ersetzen sollte. Die Nachtarbeiter lösten sich ab. Bei den Vorräthen der Coaks, der Steinkohlen, der Holzkohlen fanden sich Wächter ebenso wie in der angrenzenden Gasanstalt, durch deren unterirdische Röhren die ganze Fabrik in Winterabenden durch tausend Gasflammen erhellt war und auch im Sommer für die Nächte die Bewachung erleichtern mußten. In den Schmelzöfen und an dem Druckwerk des großen Ventilators ... überall kauert sich ein Wächter, der gelinde und langsam das Tagewerk vorbereitet [1345] und die gewaltigen Kräfte nicht zu völliger Ruhe kommen läßt.

Dicht an einem riesigen Krahnen vorbei, an einem Brunnen, der aus einem großen viereckigen Thurme, dem großen Wasserbehälter, fließt und nur ein Zeichen der vielen Wasserarme ist, die hier unterirdisch in alle Werkstätten fließen und überall nur durch einen umgedrehten Hahn jeder einzelnen Thätigkeit dies immer nothwendige Element zuführen, erhebt sich ein freundliches Gebäude mit großen, bis zur Erde herabgehenden Fenstern.

Hier im Mittelpunkt des Ganzen ist das Comptoir, wo die Bestellungen angenommen, die Bücher geführt, die Zahlungen geleistet werden.

Durch die großen Glasfenster kann man von allen Seiten die gewaltige Anlage übersehen. Hier liegen nur die Glühöfen in der Nähe, nicht die Werkstätten, wo das Eisen seine tausendfachen Formen empfängt und der Lärm zu groß gewesen sein würde, um nicht die Arbeit der Feder, die die Arbeit der Hand und des Dampfes hier zu controliren hatte, zu stören. Hier war der Unternehmer Willing von Technikern und Buchführern umgeben und beherrschte durch eine einfache, freundliche, besonnene, nicht im Mindesten diktatorische oder sich in die Brust werfende und doch mächtige Persönlichkeit das große vulkanische Reich.

Auch in dieser Nacht, während in der Fortuna die Trompete schmetterte und die Pauke ihre Wirbel schlug, [1346] war es zwar ruhig auf den vom Sternenlicht matt erhellten großen Höfen der Fabrik, aber im Innern heute lebendiger als sonst in der Nacht.

In jenem Comptoir, beschienen von dem blutrothen Abglanz der danebenstehenden in Thätigkeit erhaltenen Esse sitzt eine Anzahl Männer in verschiedenen Gruppen zusammen.

Es ist ein Uhr Nachts und zwei Gasflammen brennen noch so rein und hell auf einem grünen Tisch, daß sie die Vorstellung etwaigen baldigen Erlöschens nicht erwecken.

Einige Flaschen Wein, von denen zwei geleert, stehen auf dem Tisch, auch Braten, auch Brot, auch feineres Gebäck, als hätte sich ein Leckermund hierher verirrt.

In einem Nebenzimmer, dem abgeschlossenen Cabinet des Herrn Willing brennt gleichfalls eine Gasflamme über einem großen grünbezogenen Stehpult, vor dem eben Herr Willing selbst auf einem emporgeschraubten Drehsessel jetzt sitzt, um sich nicht zu übermüden.

Er raucht eine Cigarre nach der andern, während er rechnet und von einer Menge vor ihm ausgebreiteter Zeichnungen bald diese, bald jene genauer betrachtet und in ihrem Kostenanschlage zu taxiren scheint.

In dem großen Raume vorher sitzen an dem grünen Tische bei dem einfachen Nachtimbiß zwei Männer, der Eine jünger als der Andre, und sind in einem warmen, angeregten Gespräche begriffen.

Auch der Jüngere raucht. Der Ältere aber, ein hoher [1347] stattlicher Mann, spielt mit einem silbernen Crayon, das er aus einer neben ihm liegenden Brieftasche gezogen zu haben scheint. Noch liegen viele Zeichnungen, auch einige englische Bücher mit eingedruckten Kupfern neben ihm ...

In einem Winkel liegen drei schwarzrußige Feuerarbeiter auf dem Boden und sind vom halben Schlafe befangen. In einer Stunde schon werden sie wohl aufspringen und ihre Kameraden an dem Glühofen ablösen müssen, dessen Schein lebhaft ihr Lager auf Matratzen erhellt und einen andern dunkeln Winkel des großen Zimmers, wo auf einem Sopha ein Knabe eingeschlummert liegt, mit dem wie magisch vom Hofe hereinbrechenden Lichte überglüht.

Am Eingange der großen Glasthür steht ein einspänniger ziemlich bepackter Wagen mit aufgerichteter Gabel, ohne Pferd.

Der jüngere Mann, der eben aus der dritten Flasche einschenkt und von der Cigarre die Asche am Stuhlrande abdrückt, blickt aus einem scharf geschnittenen, sarkastischen, zusammengetrockneten Antlitz mit Augen, die so hell blitzen, daß es uns gar nicht wundern würde, wenn er nach einer wie es scheint jetzt vollbrachten späten Arbeit noch auf den Fortunaball ginge. Er strich sich sein struppiges, etwas langes Haar und den großen, blonden Knebelbart, den er bis zu einer solchen Länge trug, daß er ihn leicht hätte in Knoten schürzen können. Es war dies der Maler Max Leidenfrost.

[1348] Sein Gegenüber, der noch immer sinnend und nachdenklich seinen silbernen Crayon wiegt und zuweilen nach dem schlummernden Knaben auf dem rotherleuchteten Sopha blickt, ist Ackermann ... Selmar hatte in jenem Winkel dem Schlafe nicht widerstehen können.

Das hat lange gedauert! sagte Ackermann. Ich glaubte nicht, daß uns die Garret'sche Hebelsäemaschine so lange aufhalten würde.

In die hab' ich mich leichter gefunden, sagte Leidenfrost, als in Ihren tollen Cincinnatipflug. Mit dem müssen Sie ja in die Erde hineinschneiden wie mit einem Rasirmesser in frische Butter ...

Es kommt auf den Boden an, sagte Ackermann. Überall würde er nicht zu gebrauchen sein, wie denn überhaupt die Landwirthe darin fehlen, daß sie theoretische Verbesserungen für überall anwendbar halten. Der Cincinnatipflug soll mir auf moorigem Grunde vortreffliche Dienste thun, während ich für kalkige Gegenden mit der Zeichnung 14 besser fortkomme.

Darf ich Ihnen einschenken, Herr Ackermann?

Ich danke! Wenn ich in geistiger Anregung bin, ist mir eigentlich das Element des Wassers lieber ...

Sie sprechen über die Bestimmung dieser Maschinen, die Ihnen Freund Willing liefern soll, so feierlich, daß auf ihnen ein Segen ruhen muß. Gebe der Himmel, daß Sie sich nicht täuschen!

Leidenfrost schüttete ein Glas hinunter.

Amen! sagte Ackermann.

[1349] Mir hat es immer einen wehmüthigen Eindruck gemacht, fuhr Leidenfrost fort, wenn ich eine Maschine fertig sah und mir ihre Anwendung dachte. Sie kommt an den Ort ihrer Bestimmung. Macht sie Menschenhände brotlos, so wird sie betrachtet wie ein ruchloser Eindringling. Mit tausend Flüchen beladen geht sie an ihre Thätigkeit und leider haben wir die Erfahrung gemacht, je geistvoller sie zusammengesetzt ist, je größer die Vortheile sind, die sie zu versprechen schien, desto mislicher die Enttäuschung. Man sollte große Werkstätten, sei's nun im Ackerbau oder in der Technologie, von Staatswegen nur deshalb anlegen, damit auf allgemeine Kosten vorher untersucht wird, ob ein solcher theoretischer Traum sich auch der Anwendung lohnt und bewährt. Ich gestehe Ihnen, wenn ich mir denke, daß alles Das oder nur ein Theil von Dem, was Sie so wahrhaft neu und erfinderisch uns heute hier angegeben haben, sich nicht nach Ihren Wünschen machte, mir Das wahrhaft leid thun würde. Denn Sie sehen an der späten Nachtstunde, mit welchem Vergnügen ich Ihren gedankenreichen Angaben gefolgt bin.

Was verlangen Sie da vom Staat! sagte Ackermann. Selbst erforschen auf eigne Gefahr und Kosten, was Andern schädlich oder nützlich sein könnte? O mein Gott –

Geschieht Das nicht wenigstens in Amerika?

Auch da nicht! Das Leben ist uns Menschen gegeben wie ein roher Block, den wir auf eigene Gefahr zu formen und zu gestalten haben! Wer seine Wünsche erreicht, wohl [1350] ihm! Wer an ihrer Erfüllung scheitert – sein Beispiel ist belehrend für Den, der auf seinen Trümmern weiter baut!

Gräßlich ist's doch!

Das ist's.

Ließ' es sich bessern?

Annähernd.

Warum nicht ganz?

Weil alle unsre Staaten egoistisch sind. Die eingefleischtesten Ich-Staaten sind erst die asiatischen. Nach ihnen kommen die europäischen und ich weiß nicht, ob nicht noch in Asien mehr Garantie des allgemeinen Wohles vorhanden ist! Denn die Dynastieen morden sich da und können die Staaten nicht auf die Dauer für ihr Eigenthum in Anspruch nehmen.

Aber Amerika?

Da ist man wenigstens verschont von dem Glauben, daß die Staaten die Emanationen irdischer Fürstenerscheinungen, die nothwendigen Existenzbedingungen noch nothwendigerer Dynastieen sind. Aber jede Gesellschaft, wenn sie auch auf das Interesse der allgemeinsten Wohlfahrt begründet wäre, bekommt auf die Länge ihre Traditionen, ihre besonderen Überlieferungen, die sich festsetzen, Form und Gestalt gewinnen und Gesetze aufstellen, die mit der Zeit mächtiger werden als das allgemeine Bedürfniß. Das schaffende Individuum vollends wird sich immer erst seinen Weg bahnen müssen und durch seine eigenen Unglücksfälle weise werden. Ist's im Moralischen nicht auch so?

[1351] Sie haben eine trübe Lebensauffassung! bemerkte Leidenfrost.

Ich erheitre sie mir durch die Natur und die Arbeit ...

Ihrem Knaben werden Sie zuviel Philosophie mit auf den Weg geben. Man liebt als Kind die Väter sehr, die zu leiden scheinen, aber sie fördern uns nicht. In's praktische Leben damit! Mir ist's so gegangen. Ich habe nicht gewußt, was Vater und Mutter ist. Ich bin in einem polnischen Nonnenkloster erzogen, obgleich ich gar nicht katholisch bin. Da wurde ich anfangs wol verhätschelt und verzärtelt. Dann gab man mich in Warschau in ein Priestercollegium, ich sollte convertiren, Mönch werden. Ich brachte mit Nichtsthun, mit Beten, Singen, Lesen, Schreiben, Administriren beim Hochdienst (obgleich ich evangelisch war) bis in mein fünfzehntes Jahr zu. Da sollt' ich zu den Weihen vorbereitet werden.. es war in Warschau.. ich entfloh, ward erst Bedienter bei einem reichen russischen Diplomaten, einem gewissen Otto von Dystra, einem geistreichen, buckligen Mann, der mich nur aus Lust an dem Abenteuer und um die Mönche um eine Seele zu prellen mitnahm ... dann ...

Otto von Dystra, sagte Ackermann ... er ist jetzt russischer Consul in Amerika?

Sie kennen ihn ...

Von Washington her ...

Nun wohl! Wir reisten damals von Warschau bei Nacht und Nebel davon. Hier angekommen, sagte er: Mein lieber Max, hier hast du hundert Louisd'ors! Zum Mönch bist du [1352] zu verschmitzt, zum Bedienten zu dumm, lerne etwas und tummle dich! Als Kind schon hatt' ich Heilige geschnitzt und den Erlöser aus Brotkrumen gedreht ... ich ging also bei einem Drechsler in die Lehre. Bald macht' ich einiges Aufsehen durch meine Bildhauerarbeiten von Holz.. ich war damals so geschmacklos, sie zu bemalen ... Aber weil die protestantisch- und ästhetischgesinnten Leute hier sie nun nicht mehr mochten, glaubt' ich, es läge an mei ner Unkenntniß der Farbe.. so wurd' ich Maler.. die Malerei hab' ich dann mit Leidenschaft erfaßt ... bin aber doch Alles durcheinander und ich kann wol mit einigem Stolz sagen ... in keinem Dinge, das ich ergreife, ein ganzer Pfuscher. Die Erziehung soll uns das Rüstzeug für gute und schlechte Zeiten geben. Ich besitze durch fremde Güte und Liebe einiges Vermögen ... ich lasse es stehen, wo es steht ... ich will es erst in Anspruch nehmen, wenn diese Hände lahm, diese Füße müde sind.

Ich danke Ihnen für diese interessante Biographie! sagte Ackermann voll Theilnahme und gab Leidenfrost die Hand. Sie meinen, daß ich melancholisch bin, weil ich so wenig Wein trinke? Darauf schenken Sie ein und stoßen an. Es lebe ... das Leben!

Das Leben! Das bunte Leben! Die Schule des Lebens! sagte Leidenfrost und ergriff die Flasche, um Ackermann's Glas bis an den Rand zu füllen.

Als sie angeklungen hatten, erhob sich Leidenfrost, der sehr aufgeregt war und ging zu Willing hinein, der zu ihm, ohne aufzublicken, lachend sagte:

[1353] Da bist du nun schön angekommen! Wärst sicher lieber auf dem Fortunaball drüben und mußt hier Zeichnungen machen und meine Calcüls vergleichen bis nach Mitternacht!

Ein wunderlicher Mensch, dieser Amerikaner, sagte Leidenfrost mit gedämpfter Stimme; aber so seltsam wie ein Prophet. Er hat mich gefesselt und ich bleibe so lange, bis du zusammengerechnet hast, was alle diese Angaben etwa kosten würden. Ich will seine Miene sehen, wenn du eine Garantie verlangst ...

Wär' ich reich, sagte Willing und müßt' ich nicht mit fremdem Gelde arbeiten und soviel arbeiten, um nur arbeiten zu lassen, ich könnte mich entschließen, ihm auch auf Treu und Glauben diese Maschinen auszuführen. Der Verlust brächte immer noch den reichen Gewinn der Belehrung für meine Techniker. Wie er in dem Einspänner vorfuhr und mit der ruhigen Haltung eines Ministers fragte, ob ich Zeit hätte, ihm Maschinen zu bauen, und ich Ja! sagte, Zeit genug, wenn es keine Locomotiven und nur kleine Sachen sind! ... Wie er dann sagte: Ob ich ihm den Abend schenken wollte, um seine Pläne anzuhören und ich dann antwortete: Gern, aber ich muß zu meinem besten Zeichner schicken –

Leidenfrost wollte eben das ihm gespendete Lob ablehnen, als Ackermann näher trat. Er hatte einen kurzen Gang durch das große Zimmer gemacht, einen theilnehmenden Blick auf seinen schlummernden Selmar geworfen und stellte sich, die Hände auf den Rücken gelehnt, an [1354] die Eingangsthür, die in das kleine Cabinet des Fabrikanten führte.

Es läuft wol hoch hinauf? sagte er gespannt, als Leidenfrost schwieg und er ein Gespräch nicht zu stören glaubte.

Es ist nicht leicht, sich jeden Anschlag ganz zu vergegenwärtigen, antwortete Willing. Wenn Sie noch eine halbe Stunde Zeit haben –

Ich raube Ihnen die Nacht. Ich schäme mich, Ihnen zudringlich zu erscheinen.

Wenn Sie sagen, daß Sie Eile haben – und noch diese Nacht reisen wollen ... Bestellungen, die auf mehr als tausend Thaler gehen, nimmt man auch bei Nacht an.

Während Willing fortrechnete und sich Ackermann und Leidenfrost vom Cabinet entfernten, sagte der vielseitige Maler:

Warum eilen Sie so? Bietet Ihnen die Hauptstadt Ihres Vaterlandes, nach so langer Trennung, nicht mehr Zerstreuung, nicht mehr Gelegenheit, das inzwischen entstandene Neue zu besichtigen? Und wenn Sie nicht für sich bleiben, bleiben Sie für Ihren Jungen da!

Ich habe gleich bei meiner Ankunft, sagte Ackermann bewegt, einen für mich sehr empfindlichen Schmerz angetroffen, die Krankheit eines mir sehr theuren Menschen, des jungen Prinzen Egon – kennen Sie ihn?

Er ist seit kurzem von Paris angekommen.. Ich kenne ihn nicht ...

Er liegt am Nervenfieber so heftig darnieder, fuhr[1355] Ackermann fort, daß ich die fernere Entwickelung dieses Leidens nicht abwarten mag. Seine Güter gerade sind es, die ich in Pacht genommen habe und auf denen ich meine Erfahrungen geltend zu machen hoffe. Nichts ist unterwühlender, als von der Pein einer ängstlichen Spannung täglich gefoltert zu werden. Gefaßt auf das Äußerste, unvermögend zu helfen, geh' ich. Auch weiß ich nicht, ob Sie mich darin verstehen. Wenn Jemand jahrelang von der Heimat abwesend war und er sieht sie in der Absicht wieder, sich nicht blos der Erinnerung gefangen zu geben, sondern auf ihrem Boden auch zu wirken und zu schaffen, so soll man der Erregung des Gemüthes keine zu lange Herrschaft einräumen. Ich brauche meine Vorsätze. Sie sind meine Stütze. Ich brauche meine Lebensauffassungen, wie ich sie mir nun einmal gebildet habe. Sie sind meine feste Anlehnung. Soll ich nun hier all' den Menschen begegnen, die ich von früher kenne ... ja liebe, achte ... aber ... ich fürchte, mich an sie und sie an mich zu verlieren. Such' ich den Einen, so wär' es lieblos, nicht auch den Andern zu suchen. Thät' ich nun Das, so fänd' ich kein Ende und von meinen ernsten Aufgaben käm' ich ganz ab. Deshalb hab' ich mich entschlossen, dies Wiedersehen und Wiederbegrüßen, dies Erinnern und Gedenken, auf eine Zeit aufzusparen, wo ich mich schon wieder fester in dieser alten Welt eingewurzelt fühle. Ich will rasch, ohne Zögern, an die Aufgabe gehen, die mir für's Erste die wichtigste ist.Leidenfrost konnte nicht umhin, diese Absich vollkommen[1356] zu billigen und zu erklären, daß er im gleichen Falle ganz ebenso handeln würde.

Sie sind also Maler, hör' ich mit Erstaunen, bemerkte Ackermann, als sie sich wieder gesetzt hatten..

Daß Sie aber auch mehr als Ökonom sind, glaub' ich gleichfalls errathen zu können, antwortete Leidenfrost.

Allerdings, sagte Ackermann; ich bin meines Zeichens ein Stubengelehrter, ein gelernter Jurist, dann Philosoph, Politiker – ich habe Vieles, wie Sie, durcheinander studirt, bis ich von allen meinen idealen Flügen auf die alte Muttererde zurückkam. Allein zu allen Zeiten bin ich doch immer nur sozusagen Eins gewesen. Sie arbeiten aber à deux mains..

Doch nicht! sagte Leidenfrost. Ich war immer Künstler, wie Sie vielleicht immer Denker. Ich habe, als ich im Kloster unter den Nonnen war, schon Häuser von Pappe gebaut, Kästchen für die kleinen zierlichen Ostereier, die die Damen vom Herzen Jesu mit Seide umspannen und mit Goldfäden ausschmückten. Dann gab mich Äbtissin Sibylle, damit ich ein Pole und ein Katholik würde, nach Warschau in ein Mönchskloster, wo ich Musik trieb und die alten Gebetbücher abschreiben lernte, wobei ich zuerst mein Zeichnentalent in den bunten geschnörkelten Initialen zu erkennen gab. Bei gewissen geistlichen Passionen, die wir in der Charwoche und zur Weihnachtszeit aufführten, war ich Schauspieler. Die Zeit, wo ich Dichter war, überspring' ich. Es ist die Zeit einer hoffnungslosen Liebe. Auch meine Bedientenrolle bei Otto von Dystra [1357] war eine Kunstaufgabe. Ich wollte nur aus Polen entfliehen, unbekannt sein und meine Verzweiflung im Elend ersticken. Der bucklige Baron war ein Sonderling ...

Er ist es noch ... sagte Ackermann.

Er liebte alle möglichen Raritäten, für die er ein ungeheures Geld verschwendete. Damals hatte er es mit der vor funfzehn Jahren etwa zum ersten male auftauchenden Phrenologie zu thun. Wo er einen interessanten Schädel entdeckte, hätt' er am liebsten den Kopf gleich abgeschlagen und mitgenommen ...

Wie er in Niniveh die alten Tempeltrümmer mitnahm.. ergänzte Ackermann, der diesen berühmten Reisenden Otto von Dystra genau zu kennen schien.

Da sich diese Scharfrichterei aber nicht gut ausführen ließ, fuhr Leidenfrost fort, so formt' ich ihm die Köpfe rasch aus Thon. Er gab mir die hundert Louisdors, um Bildhauer zu werden; ich war bescheiden und wurde erst Drechsler, bis sich der gährende, brausende Künstlerdrang nicht mehr halten ließ und ich plötzlich Bildhauer, Maler, Architekt, Mechaniker war. Die Maschinenbaukunde verträgt sich vollkommen mit meiner Natur, die in der Kunst nichts Träumerisches, sondern etwas Reelles sieht ... Wir haben zu vielen Dingen zu gleicher Zeit Talent. Der Mensch hat viel mehr, als an jeder Hand nur fünf Finger; er sieht sie nur nicht alle.

Das ist wahr; antwortete Ackermann sehr befriedigt von dieser Bemerkung. Es juckt uns oft in Fingern, die wir nicht haben und wenn ich schlechte Musik hörte, [1358] kribbelte es mir in allen Nerven, bessere zu machen, obgleich ich nur etwas Klavier spiele und auf einer italienischen Reise Guitarre klimperte. Jedoch die mechanische Fertigkeit der fünf Finger, das ist etwas Anderes. Das läßt sich doch nur an diesen allein üben und deshalb erstaun' ich, daß Sie Maler und zugleich Techniker sind.

Ich besuche Sie einmal auf Ihren Dörfern und wenn die Maschinen anschlagen und es abwerfen, bau' ich Ihnen noch eine Villa nach meinem Geschmack ...

Ich halte Sie beim Wort! sagte Ackermann erfreut. Allein Eins nimmt mich doch Wunder. Wie machen Sie es bei solcher Vielseitigkeit mit Ihrem Horizonte? Die Anschauung eines Kunstateliers ist doch auch für's Leben eine andere, als die einer Maschinenfabrik.

Glauben Sie Das nicht! sagte Leidenfrost. Unsere Maler sind nur meist so toll, sich einen ganz kleinen Horizont abzuzirkeln, zu dem sie aufblicken. Den nennen sie das Ideal. Woher käme denn anders die eunuchenhafte Erfindungslosigkeit unserer Schulen, wenn die jungen Bursche, die Leinwand vollklexen, nicht mit Gewalt in eine kleine Treibhauswelt eingepfercht würden, wo sie immer vom Schönen, vom Schönen sprechen und es nur in ein paar Begriffen finden?

Die Bibel z.B. ist doch ein großer Begriff ... sagte Ackermann.

O ja! die Begriffswelt dieser Maler ist sogar noch ein klein wenig größer: denn zur Bibel kommt noch bei ihnen ein deutsches Legendenbuch, ein paar Volksbücher, die [1359] Nibelungen, Petiskus' Mythologie –voilà tout! Ist Das nun wirklich das Leben?

Gut, erwiderte Ackermann, sagen Sie, daß dieser Horizont klein ist, aber er ist rein, er ist edel, ungeschwärzt! Nicht die Weite der Anschauungen ist es, die den Künstler beglückt, sondern ihre Durchsichtigkeit und Klarheit. Sind Sie nun z.B. in dem Qualm einer Feueresse derselbe Mensch, der Sie mit der Palette in der Hand sein sollten?

Ich heize ja hier nicht die Öfen ... meinte Leidenfrost lachend.

Sie zeichnen hier nur! Aber Sie haben mathematische Anschauungen. Geht denn die trockene Mathematik in den Kopf eines Malers?

Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer waren große Mathematiker und wohl dem Maler, dem man ansieht, daß er weiß, was wage- und lothrecht ist.

Nun wohl! sagte Ackermann und bot Leidenfrost die Hand; ich streite nur, um zu streiten. Ich fühle mich vollkommen hinein in Das, was Sie denken. Ich habe Deutschland zu einer Zeit verlassen, wo die Romantik alle unsere Anschauungen mit einer Art Heiligenschein umgab. England und Amerika boten mir dagegen so viel Realismus, so viel Ernüchterung, daß ich manchmal den Versuch machte, in meinen alten romantischen Verklärungsdämmer wieder zurückzukommen. Es ist aber wahr, man kann bei gesundem Sinne nicht zu lange in ihm verweilen ...

Indem schlug es bereits ein Uhr an einer im großen Wasserthurme angebrachten Uhr.

[1360] Die Thür, die vom Hofe führte, öffnete sich nun und drei rußige, kräftige Gestalten traten mit einem sehr frühen: Guten Morgen! herein, während die Drei, die auf der Matratze geschlafen hatten, sich anschickten, statt der Angekommenen hinauszugehen.

Es war eine Ablösung der Wachen.

Einen Trunk erst! rief Leidenfrost und schenkte den abgehenden Männern ein.

Diese leerten Jeder ein Glas und empfahlen sich freundlich ohne Kriecherei und unverdrossen.

Nun Alberti, sagte Leidenfrost zu einem der Neuangekommenen, der sich eben etwas zu ruhen ausstreckte, es macht wol verdammt heiß bei den Coaks? Soll morgen viel in die Schmelze?

Funfzehn Centner Roheisen – antwortete der Angeredete. Aber ich wette, fuhr er scherzend fort, drüben in dem großen Saale der Fortuna haben sie's fast eben so heiß. Zwei Tausend Menschen sollen da den Spektakel heute mitmachen.

Sind wol aus der Fabrik welche drüben? fragte Leidenfrost.

Glaub' ich doch nicht.. sagte Alberti.

Es hat einen Grund – setzte lachend der Zweite hinzu.

Nun, Heusrück, welchen denn? fragte Leidenfrost.

Übermorgen ist erst Zahltag!

Deswegen nur? erwiderte Alberti. Welcher brave Maschinenarbeiter wird solche Narrenspossen mitmachen?

[1361] Wer Zeit hat des Abends, geht in den Verein. Die alten Tanz- und Juchhei-Zeiten sind vorbei ...

Das wollt' ich auch meinen ... sagte der Dritte, eine große, wunderlich geformte Gestalt, ganz ärgerlich über Heusrück's Annahme, daß Maschinenarbeiter auf den Fortunaball gingen. Da mögen Bediente, Pferdeknechte, Schneider, Lohnlakaien und Stiefelputzer hingehen. Selbst die Barbiere sind aufgeklärter und wollen sich von den Friseuren unterscheiden. Wenigstens darf mir keiner an den Hals, der von einer durchtanzten Nacht das Zittern in der Hand hat.

Ei, Danebrand, sagte Leidenfrost, das ist ja löblich! Glatter Bart und moralische Grundsätze! Aber wie kommt's denn, daß Ihr so lange nicht im Verein war't?

Kann ja nicht! antwortete der seltsame Mensch, der zu groß war, um ihn nur breitschulterig und stämmig zu nennen, aber bei seinem schlanken Wuchse doch unverhältnißmäßig hohe Schultern hatte. Muß ja so lange für den Eisold einstehen, bis sein Karl heran ist und die Stelle des Vaters einnehmen kann ...

Braves Haus, das Ihr seid, Danebrand! fiel Leidenfrost ein und wandte sich zu Ackermann, der zuhörte. Dieser gute Danebrand, sagte er so laut, daß Danebrand es hören konnte, ein Schleswiger, wie Sie nach seiner sanften, flötenden Lispelsprache vernommen haben werden, dieser brave Junge mit dem Simsonskörper und dem zarten Stimmchen, das ihm auch in seinen zu hohen Schultern sitzen geblieben scheint, ist die Menschenliebe [1362] selbst. Er arbeitet erstens für sich und Das muß nicht wenig sein, wenn Sie bedenken, daß Freund Danebrand einem schleswigschen Stiere den Appetit streitig macht. Zweitens arbeitet er noch in Gemeinschaft mit einem jungen Lehrling, Namens Eisold, so viel, als früher zusammen der verstorbene Vater des jungen Eisold allein arbeitete.

Warum thut er Das? fragte Ackermann freundlich zu Danebrand hinüber blickend.

Weil er dem jungen Eisold die Stelle des Vaters offen halten will, bis er sie allein ausfüllen kann. Arbeitete er nicht für den todten Vater mit, so würde man schon jetzt die Stelle des Verstorbenen besetzen. Das wird vielleicht Eure Schultern schmaler machen, Danebrand! Ihr werdet viel schanzen müssen.

Alberti und Heusrück lachten. Danebrand aber streckte sich auf die Matratze an der Erde und sagte, den riesenhaften, blondhaarigen Kopf zur Ruhe auf die Arme legend, die, wie die ganze Gestalt mit Ruß und Dampf geschwärzt waren – auch das Gesicht ließ sich vor Kohlenschwärze nicht erkennen –:

Was wird der Herr von mir denken? Er wird mich für einen Narren halten, wenn Sie ihm nicht sagen, warum ich Das für den Karl Eisold thue?

Nun, weil er sechs Geschwister hat! antwortete Leidenfrost, der von den Verhältnissen dieser Arbeiter wie ihr Freund unterrichtet war.

Liebe Zeit, sagte Danebrand, es gibt der Arbeiter, die [1363] an der Cholera gestorben sind und sieben Kinder hinterließen, die nun betteln müssen, genug ...

Aber es gibt gewiß nur einen Danebrand! sagte Ackermann, den die Bescheidenheit des misgestalteten Feuerarbeiters rührte.

O Herr, antwortete dieser mit seinem spitzen schleswigschen Stimmchen, ablehnend, das ist ja ganz natürlich. Das war vor anderthalb Jahren, als ein großes Dampf-Pochwerk probirt werden sollte. Die Maschine ist schon im Gange und ich weiß es nicht ... Der Dampf steigt aus dem Kessel und das Ding fängt zu arbeiten an, ehe ich mir's versehe. Donner! ich liege unten an den Stempeln und will sie blos nur noch blanker putzen. Jesus! schreien die Leute, Danebrand! Schon neigt sich von oben der furchtbare Hammer von zwanzig Pferdekraft nieder – so muß einem Menschen zu Muthe sein, über dem ein Berg zusammenbricht – Alle schreien und nur Einer springt hinzu und reißt das Ventil auf. Zischend fährt der Dampf heraus wie ein Ungewitter: der Hammer bleibt an der Spitze meiner Haare stehen und der Arbeiter, der das Ventil aufgerissen hatte, war selbst dabei gefallen und hatte sich eine Sehne zerrissen, daß er sechs Wochen nicht gehen konnte. Das war Eisold, der vor soviel Monaten mit seiner Frau an der Cholera gestorben ist. So arbeit' ich nun so lange für ihn mit, bis sein Karl so weit ist wie der Vater ...

Gott segne Sie für diese dankbare Aufopferung! sagte Ackermann gerührt und zu Leidenfrost's Freude, dem der [1364] wohlthuende Eindruck, den die Erzählung auf den Fremden machte, gefiel. Doch war er zu sehr Humorist, um eine Rührung zu lange andauern zu lassen. Er wandte die Sache gleich in's Scherzhafte und sagte:

Wetter, wenn der Danebrand sich immer so weiß waschen könnte, wie er's eben gethan hat und sein Barbier ihn rasirte, auf dem Fortunaball liefen ihm alle Mädchen nach. Die Wahrheit hat er erzählt. Der Hammer war eben im Begriff, ihm von den Schultern das große Stück herunterzuklopfen, das er zuviel hat. Aber geflunkert hat er doch! Was Heusrück, Alberti, hat er nicht geflunkert?

Freilich hat er geflunkert, sagte Heusrück. Er hat was ausgelassen ...

Was hat er denn ausgelassen? fragte Ackermann mit freundlicher Theilnahme.

Daß er seit Eisold's zerrissener Sehne in seine Tochter bis über die Ohren verliebt ist; ergänzte Alberti.

Danebrand brummte etwas und warf sich auf die andere Seite.

Ist es nicht wahr, Danebrand? rief Leidenfrost. Jetzt thut er, als wenn er schlafen wollte. Danebrand, ein Glas Wein! Hier auf Louise Eisold! Was! Was? Thut Ihr nicht Bescheid auf Louise Eisold?

Indem hatte Leidenfrost eingeschenkt.

Als Danebrand zögerte, trank Alberti das Glas.

Als es Leidenfrost noch einmal gefüllt hatte und Danebrand wieder zögerte, trank es Heusrück ...

[1365] Und als Danebrand auch das dritte Glas ausschlug, war Leidenfrosten fast der Muth entsunken, ihn zu fragen, was er gegen Louise Eisold hätte?

Danebrand schien so verdrießlich, so mißmuthig über diese Erinnerung, daß er aufstand und sagte, er müsse drüben noch etwas am Ofen nachsehen.

Damit ging er hinaus.

Als die Andern der gewaltigen, kolossalen Figur, die aber in den Schultern wirklich etwas von einem Buckligen hatte und mit dem ungeheuren Kopfe tief im Nacken saß, nachsahen, fragte Leidenfrost, was Das denn mit dem Danebrand wäre. Er fänd' ihn überhaupt seit einiger Zeit verändert. Liegt ihm sein meerumschlungenes Vaterland am Herzen? Überarbeitet er sich? Was hat er? fragte Leidenfrost die beiden andern Arbeiter.

Er ist unglücklich aus Liebe, sagte Heusrück lachend.

Das ist nicht zum Lachen; bemerkte Ackermann mit freundlichem Vorwurf.

Wie so denn aus Liebe? fragte Leidenfrost.

Ei, erklärte Alberti, Louise Eisold ist ein feines und sehr gebildetes Mädchen, erst neunzehn Jahr alt. Seitdem Danebrand bei den Verbänden, die sie am Fuße ihres Vaters machte, sie sah, hat er den Muth gehabt, um sie anzuhalten. Er ist gar nicht ohne Mittel, hat wohlhabende Bauern zu Eltern und wäre längst weiter gewandert, wenn ihn Louise nicht »gefesselt« hätte, wie man zu sagen pflegt. Sie gab ihm kein Versprechen, denn bei Gott, so ein braver Kerl er ist ...

[1366]

Zum Lieben ist er nicht gegossen – sagte Heusrück.

Warum? entgegnete Ackermann. Die Liebe hat seltsame Augen und ein treues Gemüth macht Jeden schön.

Leidenfrost blickte bei dieser Bemerkung nachdenklich nieder und seufzte ...

Es schien auch so eine Zeit lang, fuhr Alberti fort. Sie gingen Sonntags mit einander, wenn die Eltern dabei waren und Danebrand kann ganz charmant sein, trotzdem, daß ein tanzender Bär mehr zum Lachen, als zum Lieben ist. Da starben die Eltern. Nun glaubte Danebrand Louischen die Hand anbieten zu müssen und zu dürfen, aber sie schlug's ihm rund ab. Sie bat ihn mit Thränen um Verzeihung, aber es kam dann bald heraus, daß ihr etwas Anderes im Herzen spukt –

Ist Das wirklich wahr? fiel Leidenfrost ein; was man von einem Menschen erzählt, der bei ihr wohnt? Ich war neulich dort, um den Karl Eisold zu sprechen, dem ich Bücher gebe, sich mehr zu bilden ...

O Das nicht! entgegnete Alberti –

Wohnt der Schreiber nicht etwa bei ihr? fiel Heusrück ein.

Bei ihr? Nun ja! Er wohnt bei ihnen Allen! Sie haben zwei Zimmer vermiethet, und den Einen, einen schlimmen Burschen wie man sagt, soll sie gern haben und da hat uns noch neulich Einer, der in dem selben Hause wohnt, erzählt, daß es ihr mit dem so geht wie dem Danebrand mit ihr.

[1367] Er mag sie nicht? fragte Leidenfrost auf Alberti's freundliche Vertheidigung.

Während sich Heusrück eben anschickte, das Verhältniß noch anders zu erzählen, bemerkte Alberti und Leidenfrost, daß Ackermann sich plötzlich umgewandt hatte und in einiger Unruhe schien. Er sah bald auf den Tisch, bald unter den Stuhl, wo er gesessen; er schlug an seine Taschen und schien etwas zu vermissen.

Leidenfrost trat näher.

Suchen Sie etwas? fragte er.

Mein Portefeuille! antwortete Ackermann. Noch vor wenig Minuten sah ich es auf dem Tische –

Als ich einschenkte, fehlte es nicht –

Es muß sich finden –

Mein Himmel; es wird kostbare Papiere enthalten?

Geld, und manches Werthvolle ...

Es fehlt seit – Danebrand?

Eben wollten die Arbeiter, erschrocken über diesen entsetzlichen Verdacht, aufspringen, als aus der dunklen Ecke, wo Selmar schlief, eine zarte Stimme rief:

Vater! Hier!

Es war Selmar selbst, der die Brieftasche emporhielt.

Kind, sagte Ackermann, was machst du für Streiche.

Ei, warum gebt Ihr nicht Acht? antwortete Selmar und sprang vom Sopha auf. Während Ihr da im wärmsten Gespräch waret, hab' ich geträumt, die Locke wäre fort und in meiner Angst steh' ich auf, ihr seht und hört nichts, und habe nachgeschaut, ob die Locke noch da ist.

[1368] Indem trat Danebrand ein.

Ruhig und still ging er zu seinen Kameraden und legte sich auf das harte Lager.

Es lag eine gewisse Feierlichkeit in diesem Momente der Rechtfertigung eines edlen Menschen ... der erste Verdacht war gleich gegen ihn gerichtet gewesen, er stand in der Möglichkeit eines schlimmen Unternehmens da und wie er nach dem sofort entdeckten Irrthume ruhig durch die Glasthür trat, lag auf ihm, trotz seines schmuzigen Aussehens und seiner misgeformten Gestalt, fast der Schimmer einer Verklärung.

Die beiden Arbeiter fühlten Dies auch mit wahrem Stolz und Ackermann und Leidenfrost mit Beschämung.

Das Gespräch über Louise Eisold war ohnedies abgebrochen und Ackermann begann gegen Selmar einige ernstliche Verweise auszusprechen.

Vater, vertheidigte sich dieser, ich weiß ja kaum wie mir Das geschah! Ich lag und träumte von unserer Locke. Bald war sie eine Schlange geworden mit einer funkelnden Krone auf dem Haupte. Bald sah ich ein anderes Ungethüm, das Härchen für Härchen an der schönen Ringellocke zerzauste. In der Angst um unser liebes Angedenken an den armen leidenden Freund wacht' ich auf, tastete noch wie halb träumend nach den Lichtern hin, trug die Brieftasche fort, wie in der Furcht, die Locke könnte uns doch noch gestohlen werden!

Und wahrscheinlich einige Tausend Bankzettel dazu, sagte Leidenfrost scherzend, um wieder die frühere Heiterkeit [1369] herzustellen und des Vaters plötzlichen düstern Ernst zu mildern. Aber in der That, hier hat man nur etwa die Metallgeister zu fürchten, nicht die Diebe. Unsere Willing'schen Arbeiter sind die gediegensten von der Welt und sind nicht nur ehrlich aus Instinkt, sondern auch ehrlich mit Bewußtsein, was ich höher stelle. Der politische Miscredit, in dem sie stehen, zwingt sie dazu, über ihre Tugenden nachzudenken.

Ackermann war von der Erwähnung der Locke mehr verstimmt als erfreut. Sie erinnerte ihn ja an den vermeintlichen Egon, an dessen Leiden er ein so tiefes Interesse nahm. Er hatte das Portefeuille eingesteckt und sah ungeduldig zu Willing hinüber, der noch immer mit dem Anschlag nicht fertig war. Selmar aber schien übermäßig ermüdet. Er schmiegte sich an den Vater so innig an, als wollte er in seinem Arme schlummern.

Eine Studie für mich! rief Leidenfrost. Lear trägt Cordelien im Arm! Das möcht' ich zeichnen! Halt! Halt!

Damit wollte er ein Blatt aus seiner Mappe nehmen.

Erschein' ich Ihnen so alt? fragte Ackermann mit freundlichem Scherz.

Die langen im Winde flatternden weißen Locken denk' ich mir hinzu – Selmar ist Cordelia – dazu bedarf es nur eines andern Costümes – aber der Ausdruck Ihres Antlitzes, Ihr Auge – man möchte glauben ... Aber was habt Ihr? Herr, das Kind schläft ja nur, ist ja nicht todt – lassen Sie's doch gut sein, ich zeichne Sie nicht ... Herr Ackermann!

[1370] Der Amerikaner hatte wirklich mit einem Ausdruck dagestanden, wie Lear, indem er von seinem »todten Vögelchen« spricht und die Menschen auffodert, mit ihm zu weinen ...

Nehmen Sie wie König Lear eine leichte Flocke, sagte Leidenfrost scherzend, einen Federflaum und halten Sie ihn unter dem Athem des Kindes – es schläft ja nur, Bester!

Ackermann setzte sich erschöpft und sprach mit leiser Stimme:

Schon die Vorstellung, ein theures Kind zu verlieren, kann so überwältigen.

Selmar aber, im Halbschlafe Leidenfrost's Anspielung auf die Federflocke, wie sie Lear bei Cordelien anwendet, misverstehend, fuhr empor und fragte:

Du hast sie doch? Hast du sie?

Kind! Kind! beruhige dich – und mich! sagte Ackermann, Selmar damit zum Schweigen verweisend.

Leidenfrost aber meinte, ob es unbescheiden wäre, nach dieser theuren so ängstlich bewachten Locke zu fragen?

O, sagte Ackermann mit einer Art Selbstbekämpfung, weniger die Locke hat für uns Werth, als die sonderbare Art, wie ich zu ihr kam. Vor einigen Tagen kehrt' ich unterwegs in einem Wirthshause ein, wo mir die Leute mit sonderbarer Angst von einem jungen Manne sprachen, der sich auf der Reise zu uns gesellt hatte. Der Nachtwandler! riefen sie so deutlich, daß ich ihr Grauen bemerken mußte. Bei genauerer Erkundigung hört' ich, [1371] daß der junge Mensch, der sich uns zutraulich und doch scheu angeschlossen hatte, an dieser traurigen Krankheit leide. Es ließ uns die ganze Nacht keine Ruhe. Als ich gegen Mitternacht Geräusch zu hören glaubte, stand ich, halb angekleidet, auf und finde eine sonderbare Scene. Ein junges, wunderschönes Mädchen zeigt bald entsetzt auf den in der Ferne stehenden Nachtwandler, den die helle Mondnacht hinausgelockt hatte. Sie läßt ein Bild aus der Hand fallen, zeigt stumm und starr auf eine Thür und verschwindet voll Entsetzen. Ich hebe das Bild auf und gehe auf den Nachtwandler zu, der aber bei voller Besinnung war, mich anlachte, mir die Besorgung des Bildes empfahl und mit einem sonderbaren Ausdruck Gute Nacht wünschend, in sein Zimmer mehr entfloh als mit gutem Gewissen ging. Ich glaubte mich nicht zu täuschen, wenn ich annahm, daß ich hier einen sehr zweideutigen Menschen kennen gelernt hatte, der sich das Ansehen eines Nachtwandlers gab und vielleicht nur damit einen Vorwand für manchen schlimmen Zweck herauszukehren wußte. Als er später bis hierher mit uns fuhr, war mein Vertrauen vollends gewichen und froh war ich, als wir von seiner peinlichen Gegenwart befreit waren.

Und die Locke? fragte Leidenfrost. Ich hätte gewünscht, jener Nachtwandler hätte Sie nicht getäuscht. Ich hätte gewünscht, er wäre wirklich somnambül gewesen. Ich glaube an elektrische Leiter. Von wem nahmen Sie die Locke?

Vom Haupte eines jungen Mannes, der in dem Zimmer [1372] schlief, wo ich im Auftrag der erschrockenen Dame das Bild abgab. Es sollte ... Aber, wie sagen Sie, ein elektrischer Leiter?

Sie müssen nun schon Alles berichten. Ich will sehen, ob hier eine magnetische Strömung stattfand ...

Der Lockenraub sollte ... eine Strafe sein für Menschen, die schlafen, ohne ihre Thür zu verschließen.

Schade! Schade! Nur eine Strafe? Und daß jener Mensch nicht wirklich nachtwandelte!

Erklären Sie sich deutlicher! Warum wirklich? Warum nicht Strafe?

Denken Sie sich diesen elektrischen Strom! sagte Leidenfrost. Nacht ... Mondenschein ... eine erschreckte junge Dame ... also Schrecken ... ein Sie überraschender Auftrag ... also wieder Schrecken ... ein Nachtwandler ... das Ihnen fremde Zimmer ... der Schlafende ... die Locke! Wenn das Alles so zugetroffen hätte, müßte die Locke mit Ihnen in einem Rapporte stehen, daß diesem Menschen, dem die Locke gehört, jeder Kuß auf sie angenehme Gefühle erweckte und wäre er hundert Meilen weit von Ihnen entfernt.

Selmar wurde blutroth vor Erstaunen über diese Auseinandersetzung, die der Vater mit einem lächelnden:

Glauben Sie an so etwas? aufnahm.

Schade! Schade! wiederholte aber Leidenfrost, daß dieser Mensch ein Spitzbube war! Zweifel, Lüge, Unglaube, Strafe stört die Kette! Die Berechnungen des Verstandes dürfen den Strom der Gefühle nicht aufhalten.

[1373] Nun, lenkte Ackermann mit ernster Miene ein, dann könnte ja noch der Fall eintreten, daß mich vielleicht das Bild selbst furchtbar überraschte –

Auch Das noch? sagte Leidenfrost. Kannten Sie es?

Ich erkannte es. Ich war auf den Tod erschüttert ... Und nicht von Ahnung; nein, es war Gewißheit. Was ich in dem elektrischen Zuge durch die Enttäuschung über den Nachtwandler an Kraft verlor, die Verstandesreflexion, die meine Nervenströmung aufhielt und dämpfte, wurde hundertfach ersetzt durch das Staunen über jenes Bild;

mein ganzer Mensch war ergriffen und so schnitt ich die Locke zur Erinnerung –

Zur Erinnerung? Sie sagten vorhin ... Zur Strafe für den unvorsichtigen Schläfer; Strafe ist Verstandesreflexion, Erinnerung wäre besser. Erinnerung ist Gefühl. Alles gut, Alles gut; aber in die Kette der Überraschungen kam im Momente des Zweifels eine Verstandesthätigkeit, die die glühende Nervenströmung aus den vier lebenden Wesen erkältete –

Der falsche Nachtwandler also?

Schade! schade, daß der Nachtwandler ein Betrüger war!

Es war kein Betrüger! rief in diesem Augenblick eine entfernte Stimme.

Ackermann und Leidenfrost sahen sich um, während Selmar, die Brieftasche an die Brust und die Herzgrube drückend, wirklich wie im magnetischen Schlafe zu liegen schien.

[1374] Der Sprecher war Danebrand, der sich aufgerichtet und zugehört hatte.

Wenn Das auf dem Heidekrug war – sagte er fragend.

Ja! antwortete Ackermann. Es war auf dem Heidekrug.

Wenn der Nachtwandler Hackert hieß –

Er hieß Hackert. Sehr richtig!

So war's ein echter Nachtwandler. Er kann aufgewacht sein, als Sie kamen. Aber es ist ein rechter Nachtwandler ... Das möcht' ich nun wol von Ihnen hören, ob das Nachtwandeln vom Himmel oder von der Hölle kommt?

Während noch Ackermann betroffen von dieser Unterbrechung schwieg, sagte Leidenfrost:

Das sollt Ihr gleich hören, Danebrand! Die Nachtwandler treibt der Teufel aus dem Bett und jagt sie auf die Dächer, aber ein Engel vom Himmel kommt und führt sie so, daß sie sich kein Haar krümmen. Es müssen denn Menschen so weise sein wollen und den Namen rufen ...

Eben wollte Danebrand aufstehen, näher kommen und sich vollständiger über die gespenstige Natur seines glücklicheren Nebenbuhlers unterrichten lassen, als aus seinem Cabinet Willing hereintrat.

Da ist mein Überschlag, sagte der Fabrikherr auf die in seiner Hand befindlichen Papiere zeigend; so gut sich dergleichen im voraus bestimmen läßt, glaub' ich etwa fünftausend Thaler als die Summe bezeichnen zu müssen, die alle diese Geräthschaften kosten würden.

[1375] Ackermann wurde jetzt Geschäftsmann. Er verglich die einzelnen Ansätze, fand sie billig und erbot sich zu einer Anzahlung.

Als Willing bedauerte, diese annehmen zu müssen und Ackermann seinerseits als feste Ablieferungszeit den ersten Januar bedingte, kamen sie zu einer Vorausbezahlung von fünfzehnhundert Thalern überein.

Ackermann nahm Selmarn das Portefeuille aus der Hand, öffnete es und legte diese Summe in Papieren auf den Tisch.

Während darüber die Empfangscheine ausgefertigt und überhaupt Geschäfte verhandelt wurden, zog sich Danebrand auf sein Lager zurück, nicht wenig aufgeregt von den Worten, die Leidenfrost über die Nachtwandler gesprochen hatte.

Selmar hielt sich jetzt mit Entschlossenheit wach.

Der zarte Knabe fühlte, daß er nun seinem Geschlechte Ehre machen, an den Wagen, an das Pferd denken müßte.

Leidenfrost veranlaßte Alberti nach dem Pferde zu sehen, das im großen Stalle der Fabrik so lange untergebracht war.

Alberti unterzog sich diesem Auftrage mit Freuden.

Während dieser Zurüstungen und nach abgeschlossenem Vertrage trat Willing mit Ackermann aus dem kleinen Cabinet heraus und wiederholte dasselbe Befremden, das vorher Leidenfrost über diese außerordentliche Beschleunigung des viel zu kurzen Aufenthaltes in der Residenz ausgesprochen hatte.

[1376] Ackermann wiederholte dieselben Entschuldigungsgründe, indem er noch hinzusetzte:

Ich hoffe nach einem Jahre alle die Lebenden lebend zu finden, auf die ich mich freue; hab' ich doch heute sogar einen wirklichen Todten hier lebend zu finden geglaubt. Nicht wahr, Selmar?

Morton meinst du? sagte der Knabe und nannte einen Namen, den wir schon einmal in Plessen an der Zeck'schen Schmiede von ihm gehört haben.

Ja, denken Sie sich, fuhr Ackermann, der sich zur Abreise rüstete, fort. Ich nehme in New-York von einem Deutschen Abschied, der sich in Amerika Morton nannte. Ich hatte ihn dann und wann in der Union gesehen und als Sonderling schätzen gelernt, obgleich er ein wunderlicher und abstoßender Mensch war. Noch während ich in New-York bin und mich zur Abreise rüste, erfahre ich, daß er sich in einem Anfall von Melancholie, an der er schon immer litt, das Leben nahm. Man fand seine Kleider am Hudson, seine Leiche war ohne Zweifel in's Meer geschwommen. Daß er sich das Leben nehmen wollte, war aus einem Testamente ersichtlich, das sich für mich vor fand und worin er mir aufträgt, seinen Verwandten in Deutschland einige nicht ganz unansehnliche Summen auszuzahlen und seinen jammervollen Tod nicht zu verschweigen, er könnte ihnen als Lehre dienen ...

Das nenn' ich Spleen! sagte Willing, seine Papiere zusammenpackend und verschließend.

[1377] Aber sind wir nicht zu Tod erschrocken, als wir ihn heute auf der Straße zu sehen glaubten?

Er war es nicht, Vater, sagte Selmar. Die große, schwarze Binde am Auge –

Kind, die könnte sehr leicht eine spätere Zugabe sein ... doch glaub' ich wol, daß der alte Grämling im kühlen Meeresgrunde schlummert. Aber ich sage drum, hier würd' ich jetzt mit Todten und Lebendigen zu thun haben und das spar' ich mir auf, bis ich einmal Zeit habe zu einer vollständigen Musterung.

Eine große, schwarze Binde? sagte Leidenfrost. Das ist doch nicht ein Engländer, der – wie nannten Sie ihn?

Morton.

Nein, Murray, besinn' ich mich, hieß der Alte, von dem mir Reichmeyer erzählt. Heut' Nachmittag um sechs Uhr etwa war ein alter hinfälliger Engländer mit einem bekannten, zweideutigen Frauenzimmer zu ihm gekommen und hätte verlangt, er sollte ihm diese anstößige Dame ....

Leidenfrost stockte, weil er nach Selmar sich umsah.

Dieser aber hatte die Thür geöffnet, daß der volle Strom der rauschenden Musikklänge von dem Fortunaball hereindrang.

Nicht aber diese Musik beschäftigte ihn so sehr, an die er in London sich gewöhnt hatte, als das Einspannen des Pferdes, das Alberti aus dem Stalle brachte.

Leidenfrost fuhr also unbekümmert fort:

[1378] Dieser Murray hatte eine große, schwarze Binde über dem einen Auge –

Und? fragte Ackermann gespannt.

Verlangte, Reichmeyer, der ein rascher Portraitmaler ist, sollte ihm morgen in einer einzigen Sitzung, diese mit Gold und Juwelen behangene, große, schöne, aber sehr bekannte Person als Brustbild malen. Als Reichmeyer erklärte, Das könnte er nicht, hätt' er ihm sechszig Guineen geboten .... und Reichmeyer will nun doch wirklich daran. Er ist ein Luca fa presto.

Da bin ich über die Auferstehung meines Todten beruhigt, sagte Ackermann. Dieser Murray mit der schwarzen Binde ist mein alter geiziger Morton nicht. Der Arme liegt im feuchten Meeresschooß! Wer weiß, welche Mühlsteine ihn niederzogen!

Eben schüttelten Willing und Ackermann sich zum Abschied die Hände, eben griff Leidenfrost nach seinem grauen Hut, um auf dem Wägelchen mit in die Stadt zurückzufahren, eben erhoben sich die Arbeiter, um ihre schwarzen Hände darzureichen und Selmar hatte schon die Peitsche ergriffen, die auf das halbe Stündchen der Rückfahrt Leidenfrost führen wollte, als vom Hofe her ein gellender Schrei: Hülfe! Hülfe! ertönte.

Alles sprang erschrocken an die Thür.

Im Sternenlicht sah man eine helle Erscheinung über die von Kohlenschutt geschwärzten Höfe daher fliegen.

Dem Lichte, das aus den Gasflammen durch die Fenster des Comtoirs auf die nächste Umgebung fiel, näher [1379] kommend, entwickelte sich die Hülferufende als ein Weib, das in flatternden Ballkleidern und fast aufgelöstem wirren Haare Rettung vor einer Gefahr suchte, die Niemand erblickte.

Die Klänge der Musik auf dem Ball schwiegen gerade. Von dorther mußte die Schreiende kommen. Wie sie Menschen sah, stürzte sie auf sie zu und wiederholte den Ruf:

Hülfe! Hülfe!

Alberti stand, mit dem Pferde beschäftigt, am nächsten und glaubte sie zu erkennen.

Danebrand! rief er.

Ist Danebrand da? Gott sei gelobt, ächzte die Hülfesuchende und flog in die geöffnete Thür.

Ein junges Mädchen im sonderbarsten Aufzuge stand vor den Männern. Über den armseligsten Anzug, ein nicht gerade verwildertes, aber doch dem Äußern nicht entsprechendes Haar, waren ein glänzendes rothes Ballkleid und eine Florkapuze von gleicher Farbe geworfen. Eine schwarze Maske hielt sie in der linken, in der rechten Hand die Florbehänge, die ihr wild vom Kopfe geglitten waren.

Louise Eisold! sagte Danebrand mit erstarrten Lippen.

Dann sich ihr näher wendend, flüsterte er mit heftigstem Schreck:

Was wollen Sie?

Danebrand! Ich beschwöre Sie um Gottes Willen! Sie schlagen ihn heute todt! Kommen Sie! rief das Mädchen, das jetzt auch Willing erkannte.

Louise Eisold! rief der Fabrikherr mit Entrüstung.

[1380] Ist Das Ihre Armuth, daß Sie den Fortunaball besuchen? Schämen Sie sich!

Verurtheilen Sie mich, Herr Willing! rief das Mädchen, verachten Sie mich, nur Hülfe! Hülfe, Danebrand! Hackert's Leben ist in Gefahr. Ich habe Alles gehört. Lasally's Knechte, den Neumann vom Justizrath Schlurck und eine Horde andrer Bösewichter hat diese teuflische Jeannette aufgehetzt. Hackerten soll sie verdanken, daß sie heute um den Dienst beim Justizrath gekommen ist und Neumann wollte sie heirathen, wenn sie bliebe – was weiß' ich! Gott, was weiß ich! Aber den Unglücklichen – sie schlagen ihn todt. Herr Willing, es ist Alles abgemacht ... Danebrand! Eine von den Wandstablers soll ihn in den dunkeln Garten locken! Jesus! Danebrand! Alberti – Sie Herr Heusrück – helfen Sie!

Der Fabrikherr war im größten Zorn.

Welche Zumuthung, elende Dirne! rief er. Dieser brave Danebrand arbeitet für dich und deine Geschwister! Und du schändest das Andenken deiner Ältern, auf diesen Ball zu gehen? Und für wen soll Danebrand sein Leben einsetzen, für den Burschen, den du seiner treuen Liebe vorziehst? Weißt du, wem sein Leben gehört? Dem Schwur, den er deinen Ältern that, deiner Mutter, als sie im letzten Todesjammer beruhigt auf seine treuen Augen sah! Hinaus Dirne! diese Stelle ist zu rein für dich und deine Schande!

Mit einem Schrei der Verzweiflung sank Louise zurück ...

[1381] Wo sind die Kleider her, die du trägst? riefWilling, nach ihnen langend und die entfallene Maske mit den Füßen von sich stoßend.

Louise antwortete nicht ...

Lumpen unter gestohlnem Flitter! sagte Willing. Ja gestohlen, gestohlen deinen Geschwistern! Elende, wer sorgt für das lallende Kind neben deinem Lager, wenn du in den Nächten deine Gesundheit im Tanze verrasest? Hörst du das Kind um Hülfe schreien – der alte Großvater stirbt vielleicht in diesem Augenblicke ... und wir sollen hören, wenn du Hülfe rufst für einen jämmerlichen Liebhaber? Pfui! Hinweg von diesem Hause!

Furchtbar tobte der Schmerz in des Mädchens Brust. Ihr todtenblasses Antlitz zuckte und ihre Hand faßte nach dem Herzen ...

Das Kind – schläft – stöhnte sie. Gott schützt es -morden Sie mich nicht! Hackert ist elend. Ich lernte ihn kennen, als er schon einmal für todt in unsre Wohnung getragen wurde ... Danebrand – ich verdien' es nicht um Sie – aber retten Sie! Steigen Sie über den Zaun! Noch eine Minute und es ist zu spät!

Willing wandte sich mit der ganzen Strenge ab, die er behaupten mußte, wenn er in einem solchen Arbeiterstaate der Herrscher bleiben wollte.

Von uns hier steigt Niemand über fremde Zäune! rief er. Hinaus hier!

Danebrand aber ging nun zu Herrn Willing näher heran und sagte:

[1382] Herr Willing ... ich habe ... Herr Willing ... ich habe im Buckel einige Knochen zu viel, ... ich will ihr helfen. Was?

Danebrand! rief Louise freudig und sprang wie neubelebt empor von einem Sessel, den ihr die Arbeiter näher gerückt hatten.

Willing sah auf Danebrand, der ihn treuherzig an blickte, voll Zorn ...

Danebrand fuhr getrost fort:

Nicht einmal um dich, Louise! Deine Thorheit zerreißt mir das Herz. Aber unser guter Maler, der hat gesagt, wer in der Nacht wandelt, den treibt der Teufel auf die Dächer, aber ein Engel kommt vom Himmel und hält seine Hand über ihn, daß er nicht falle ...

Damit griff er langsam und wie verstohlen hinterrücks nach einer eisernen Stange, die in der Nähe stand, und sie plötzlich mit der ganzen Gewalt seiner Muskelkraft über'm Haupte schwingend, rief er:

Wer will uns was?

Dann aber, wieder wie bittend sprach er:

Herr Willing!

Willing wandte sich ab.

Nun stürzte Danebrand zur Thür hinaus, über den Hof und rannte wie ein Besessener davon.

Louise folgte ihm, wie ein Blitzstrahl so rasch ihn überholend, um ihm den Weg zu zeigen ...

Willing schüttelte den Kopf und sagte seine Erschütterung verbergend den Andern Gute Nacht!

Ackermann, Selmar und Leidenfrost, bewegt von der [1383] aufregenden, unerwarteten Scene, setzten sich auf den Wagen und fuhren hinaus in die Nacht und mit dem aufrichtigen Wunsche, daß Danebrand's edle Selbstbeherrschung umsomehr von einem glücklichen Erfolge belohnt sein möchte, als das allerdings in ziemlich zweideutigem Lichte hier auftretende Mädchen ohne Zweifel durch Zärtlichkeit und Mitleid an Hackert gebunden war und nicht so aussah, als würde sie ihr Herz einem Manne schenken, der nicht noch die Bürgschaft einer besseren Entwickelung bot.

Alberti aber und Heusrück legten sich nieder auf die Matratze.

Als sie gesehen hatten, daß Herr Willing, nachdem er noch Geld und Papiere in ein Portefeuille gesteckt, es dann mit sich genommen hatte und in einem entlegenen Wohngebäude das Licht eines kleinen Fensterchens ausgelöscht, sich also zur Ruhe begeben hatte, schlichen sie hurtig, sich auch mit Eisenstangen bewaffnend, ihrem Kameraden an den hintern leicht zu übersteigenden Zaun der Fortuna nach.

Nicht um den Nachtwandler ist's! sagte Alberti. Aber um den guten Schleswiger wär's doch Schade, wenn es zum Kampf käme und er ohne Hülfe bliebe!

[1384]
12. Capitel. Jeannette
Zwölftes Capitel
Jeannette

Louise Eisold hatte Danebrand alle die Zeichen mehrmals wiederholt, die sie ihm geben wollte, wenn die drohende Gefahr wirklich herangekommen wäre.

Danebrand kauerte inzwischen, ohne Vorwurf, aber auch ohne ein weiteres Wort zu sprechen, mit seiner Waffe am Rande des Fortunagartens, wo ein niedriger Schuppen leichter zu ersteigen war als das Einfassungsstacket.

Dann flog Louise triumphirend und fast lachend vor Schmerz und doch innerster Befriedigung mit Windeseile an den vorden durch mehre Gäßchen abgesperrten Eingang der Fortuna zurück und reichte – unterwegs ihr Costüm wiederherstellend – an der Kasse die empfangene Contremarke hin.

Sie hatte Hackert, der sie noch immer nicht kannte, nicht wieder aus dem Saale, wo er mit Andern in toller Raserei und mit den kunstfertigsten Schwenkungen und Figuren tanzte, herausbringen können. So sehr sie sich dagegen sträubte, ihm eine Theilnahme und Liebe zu verrathen, die er selbst nur geringschätzte, hätte sie sich ihm dann doch vielleicht entdeckt. Hackert war ihr freundlich [1385] zugethan, hatte ihr oft Beweise von Dankbarkeit und Neigung gegeben, herzte sogar in stillen und ergebenen Momenten ihre kleineren Geschwister, aber im Übrigen waren seine Gedanken so weit von dem stillen, beschränkten Leben seiner Wirthsfamilie entfernt, daß er sich unter der rothen Dame jede andere seiner frühern Bekanntschaften dachte, nur nicht seine Wirthin und sittsame Nachbarin.

Als er die blaue Begleiterin am Arme des Soldaten erblickte, mochte er glauben, die ihn neckende rothe Freundin derselben hätte sich entfernt ...

Der junge Militair war ein freundlicher, gefälliger Mann. Er sagte seiner ängstlichen und noch immer vor der grünen Brille, die sie wie die Schlange umzirkelte, wie ein Vögelchen zitternden Begleiterin, daß er Heinrich Sandrart heiße, aus dem Ullagrunde bei Plessen und heute zum Sergeanten befördert wäre. Die Gewohnheit eines dann bewilligten freien Tages hätte er einmal, nachdem er drei Jahre lang nicht getanzt, zu seinem Vergnügen, nicht zum Trinkgelage mit seinen Kameraden benutzen wollen.

Die kleine Blaue hörte mit Interesse zu, konnte sich aber nicht entschließen, ihre weiße Maske anders, als in der Dunkelheit des Gartens abzunehmen.

Heinrich Sandrart war in den Fragen nach den Ursachen ihrer Ängstlichkeit zwar nicht zurückhaltend, denn der Anblick der schönen Augen und der reizen den Jugendfrische des kleinen Mädchens zog ihn nur noch mehr [1386] an; allein in dem Verlangen nach Gunstbezeugungen gab er sich so sittsam und wohlerzogen, daß die kleine Blaue ihn zu ihrem Schutze gern am Arme duldete und sich nur mit Ängstlichkeit nach der plötzlich verschwundenen Louise Eisold umsah, durch die sie veranlaßt worden war, diesen gefährlichen Boden zu betreten und die sie nun verlassen hatte ...

Im Saale wollte Heinrich Sandrart, die kleine Blaue am Arm, noch einmal versuchen, ob man nicht die rothe Freundin entdecken könnte.

Es war gerade eine Pause im Tanze eingetreten. Man besprengte den Fußboden, um den immer lästiger gewordenen Staub niederzuhalten. Während sich das Orchester selber ruhte, gingen die Paare Arm in Arm in der Runde da spazieren, wo sie der Strahl des wassersprengenden Dieners nicht treffen konnte. Dabei wurden die Spiegel an den Wänden zu flüchtigen Musterungen der dérangirten Toiletten benutzt, tafftne Blumen am Haar wieder in Ordnung gebracht, aufgegangene Schleifen auf's neue gebunden. Viele auch verloren sich in den Nebensälen, um Herrn Hitzreuter's vielversprechende Speisekarte auf die Probe zu stellen.

Eben erzählte Heinrich Sandrart seiner im Saale wieder maskirten Freundin, daß er der Sohn eines wohlhabenden Bauern aus jenem Ullagrunde bei Plessen im Hohenbergischen wäre, einen guten Schulunterricht genossen hätte, die Landwirthschaft aus dem Grunde verstände, lieber aber im Waffendienste bleiben wolle, zumal [1387] wenn man unter einem so trefflichen Offizier stände, wie sein Bataillon, das der Major von Werdeck befehlige, als ein Schwarm junger, eleganter Cavaliere ihnen begegnete ...

Sandrart gerieth etwas in Verlegenheit, als er unter ihnen den Leutnant von Aldenhoven, den Rittmeister von Asten, einen Herrn von Thielo, von Konnewitz und viele andre Offiziere in Civil erkannte, von denen wenigstens der Erste, da er zu Werdeck's Bataillon gehörte, ihn genau kannte.

Guten Abend, Sandrart, redete ihn dieser an. Blitz, was hast du da für einen verschleierten blauen Nachtschmetterling?

Herr Leutnant von Aldenhoven, sagte Sandrart mit einigem gereizten Nachdruck, ich bin heute Sergeant geworden.

Es hatte ihn vor seiner Begleiterin gekränkt, noch mit einem »du« angeredet zu werden, das man selbst als Gefreiter von seinem nächsten Vorgesetzten nicht gern hört, so »vertraulich« es klingen mag.

Ah! gratulire Ihnen! war Aldenhoven's etwas hämische Antwort, der den Stich wohl verstand.

Nun fing aber Rittmeister von Asten, Leutnant von Salza und andre der jungen von Champagnerlaune montirten Cavaliere an, der blauen Begleiterin des Unteroffiziers, die so elegant gekleidet war, zuzumuthen, sie müsse die Maske abnehmen. Wer schön sei, verrathe es auch. Sie wollten die künftige Frau Sergeantin sehen und [1388] schon zerrten sie an des armen geängstigten Mädchens Maske, als Sandrart seine Schutzbefohlene zurückriß und sich vor sie stellte, um jede weitere Gewaltthat zu verhindern.

Meine Herren, rief er, aufgereizt, wir sind nicht im Dienst!

Ah! Sandrart, sagte Aldenhoven. Sie sind auch Demokrat und wollen keinen Gehorsam außer dem Dienst! Bei Major Werdeck nicht anders zu erwarten ...

Es lag in diesen Worten allerdings nur flüchtiger Scherz; auch daß alle andern Militairs lachend sagten:

Was? Ein Demokrat? und dabei den Ton auf Das Wort:

»Gehorsam außer Dienst« legten, auch das war mehr aus heitrer Laune; allein wenn einmal im menschlichen Gemüthe eine Saite verstimmt ist, so kann sie ohne Gefahr auch nicht einmal im Scherze berührt werden. Sandrart rief, als Aldenhoven dennoch nach der Maske seiner Begleiterin greifen wollte, mit festem und gebildetem Tone:

Ich verbiete Ihnen, Herr Leutnant, diese Dame zu demaskiren!

Unter solchen Umständen mußte man wol von Glück sagen, daß ein zweiter eben vorüberziehender Zug diese Verwirrung auf heitre Art löste.

Ein junges übermüthiges Mädchen, das in der einen Hand ein Champagnerglas hielt, griff im Vorübergehen lachend mit der andern nach der Maske der kleinen Blauen und während noch die Offiziere sich auf den kecken Ton Heinrich Sandrart's ansahen und eben entschlossen [1389] schienen, mit ihm eine andere Sprache zu reden, machte der Ausruf des Erstaunens: Fränzchen Heunisch! der Spannung ein Ende.

Jeannette war es, Melanien's heut' Abend entlassenes Mädchen. Sie hatte Fränzchen Heunisch's Maske in der Hand und die kleine Blaue, unsers guten und auf die Sittlichkeit seiner Nichte so tief vertrauenden Försters von Hohenberg ganze Hoffnung, bis hundert Klafter tief unter die Erde beschämt.

Das Erröthen, die Verzweiflung Fränzchens half da aber nichts. Jeannette führte sie an einem Arm, Sandrart am andern und der lust'ge Zug, mit dem jene gekommen war, sprengte die ganze Gruppe auseinander. Die Offiziere fanden die Kleine allerliebst, schienen aber die Keckheit des Sergeanten nicht weiter beachten zu wollen, da inzwischen schon wieder neue Gegenstände ihre Aufmerksamkeit fesselten. Nur Aldenhoven sah ihm lange nach und sprach mit Thielo und Konnewitz über das Thema der Disciplin und die »Mannschaften« des Majors Werdeck, die sie »demoralisirt« nannten.

Aber du Duckmäuserin! rief jetzt Jeannette, in der der Geist des Tanzes, der Musik und des Zorns wirbelte. Du frommes Mutterlämmchen, wie kommst du Sünderin denn hierher?

Fränzchen Heunisch machte hundert Gebehrden, um sie zu bewegen, stille zu sein; sie wollte die Maske zurückhaben, um sich zu verbergen ...

Dummes Zeug! sagte Jeannette; wer kein Gesicht von [1390] Tannenzapfen hat, glatt und hübsch ist, wie wir, der soll sich zeigen allen Leuten zur Lust; nicht wahr Ernst?

Ernst von »Geheimraths« bestätigte diese Meinung und erklärte auf ein eifersüchtiges Befragen der Lore Wandstabler, daß er das junge Mädchen nicht kenne ...

Die Wandstablers aber, die in die Falle gegangen waren, die beiden Bedienten als Begleiter angenommen hatten und nach mehrmaliger Trennung von ihnen, in der Hoffnung andere Gesellschafter zu finden, doch auf sie zurückkommen mußten; die Wandstablers kannten Fränzchen, ihre Cousine, sehr wohl ... Sie kicherten, ohne sich sogleich dem armen Täubchen, das sie einmal so heftig erschreckt hatten, zuzuwenden.

Die Fränz! Die Fränz! sagten sie und steckten verwundert die Köpfe zusammen.

Ja, ja, schäme dich nur, begann die durchtriebene Jeannette zur Nähterin, die heute früh noch so schwärmerisch über die Tugend philosophirt hatte, jetzt kommen wir hinter deine Schliche, du Tugendspiegel! Hier Herr Sergeant, festgehalten! Drinnen steht unser Tisch -runde Tafel – Couvert zehn neue Groschen – holen Sie nur Ihre Mutterpfennige hervor, Landsmann! Fränzchen muß trinken lernen!

Und dabei flüsterte sie der Zitternden zu:

Dein Franzose ist ja nicht hier! Sei doch lustig! Ich verrathe nichts.

Fränzchen ließ Alles willenlos geschehen. Sie hätte in die Erde sinken mögen. Sie konnte nicht Widerstand [1391] leisten, daß man sie und Sandrart in die Restauration zog und ihr einen Platz an einem mit Tellern und Gläsern besetzten Tische gab, wo sie noch Manchen antraf, der zur Gesellschaft gehörte, unter Andern den Kutscher Neumann, einen mürrischen, widerlichen Menschen mit fuchsigem, fast bis in's Auge gezogenen Backenbart, Ringen im Ohr und ein paar ungeschlachten rothen Händen. Sie wußte, daß Jeannette überall Liebschaften, aber Neumann als wirklichen Verlobten für die künftige Ehe hatte.

Hier, Herr Sergeant, Sie rechts, sagte Jeannette und placirte die Neuangekommenen; du hübscher Fratz, links bei deiner Cousine Dore? Oder willst du lieber bei der Lore? Die Flore ist nicht da, obgleich dich Die am liebsten hatte und bei der Durchlaucht dein Glück wollte, Närrchen; hier hergesetzt und sich ausgesöhnt mit den Fräuleins Wandstabler!

Und dabei flüsterte sie ihr in's Ohr:

Halt' dich tapfer! Die haben schon deinen Franzosen auf dem Strich.

Dieser Wink machte in der That, daß Fränzchen aufschreckend etwas wieder von Besinnung und Geistesgegenwart gewann. Wußte sie doch nur zu gut, daß die schlimmen Cousinen das Glück hatten, jetzt täglich mit Louis Armand in Einem Hause, vielleicht in Einem Zimmer zu sein, und wie die Liebe Jedem, auch dem schwächsten Wesen, eine gewisse Kraft und einen muthigen Aufschwung verleiht, so gewann nun auch Fränzchen eine kräftigere Haltung über sich und warf ihren Cousinen [1392] einen dreisten, fast schnippischen Gruß zu, der Fränzchens Reiz in den Augen des von seinem Rencontre mit den Offizieren noch sehr bewegten Heinrich Sandrart nur noch mehr hob.

Franziska, stoß an! sagte die mittelste Wandstabler, die Lore, deren magere Gesichtsformen sich durch die Glut des Tanzes und der Atmosphäre gefüllt, ja ganz angenehm gerundet hatten.

Fränzchen stieß mit dem Glase ihrer Cousine an und nippte ein wenig von einem Getränke, das viel leicht ein helles Bier, vielleicht künstlicher Champagner war, sie wußte es nicht ... bis der Sergeant aus dem Seitenfutter seiner Uniform ein kleines Portemonnaie zog und sich, wie es schien, nicht ohne eine gewisse Überlegung, entschloß, zwei Papierthaler an eine wirkliche Flasche Champagner zu wagen. Er mochte fühlen, daß er sein Avancement etwas kostbar feierte ... aber er bestellte echten Champagner!

Die Wirkung dieses Momentes war groß. Alles um den runden Tisch blickte staunend und voll Bewunderung auf diesen jungen militairischen Rothschild! Echter Zwei-Thaler-Champagner! Dies hob oder setzte tief herab, je nachdem der Schwung der Phantasie sich für das Große berufen hielt oder sich keiner solchen Flügel bewußt war. Man schwieg eine Weile und blickte feierlich um sich her, als hätte man für diese Standeserhöhung Zeugen gewünscht.

Die Wandstablers beschlossen jetzt, mit Fränzchen, die [1393] einen solchen Liebhaber aufweisen konnte, sich auszusöhnen.

Dorette, die Jüngste, mit der es Franz von »Geheimraths« sehr geschäftig hatte, war blässer, als ihre Schwester, auch etwas verstimmter. Sie hatte Ideen, die höher hinauf stiegen als die Sphäre, in der sie sich hier bewegte und die eigentlich Jeannette so gewaltsam improvisirt hatte.

Guten Abend, Fränzchen! sagte sie und reichte ihrer kleinen Cousine jetzt erst die Hand. Muß es denn erst so kommen, daß uns ein solcher Abend wieder einmal zusammenführt?

Ein solcher Abend? fragte Heinrich Sandrart fast verletzt, der seine zwei Thaler los war, nun aber dafür auch lustig sein wollte. Kann man traulicher und vergnügter beisammen sitzen?

Dabei wollte er Fränzchens Hand ergreifen und sie an sich drücken. Aber die kleine, braunäugige Spröde litt schrecklich, auch über die Kosten, die sie ihm verursachte, und zog die Hand zurück.

Fräulein Dorette schmachtet nach stiller Einsamkeit, sagte die nicht ganz ungebildete, aber zügellose Jeannette parodirend, sie liebt! Sie liebt einen Franzosen, stolz und feurig; o seit ich weiß, daß man diesem Franzosen so edle Vorsätze verdanken kann, selbst den Fortunaball nicht zu gering für Liebende zu finden, biet' ich mich ihm für die Rückreise nach Paris als Gouvernante an; ich arme conditionslose Person –

[1394] Fränzchen war in der That von Eifersucht nicht frei. Sie sah ihre Cousine Dorette starr an und mußte sogleich fühlen, daß diese wirklich bei dem Balle nicht anwesend schien.

Lorette aber, die Mittlere, sagte leise zu ihr:

Du Glückliche! Herr Louis Armand hör' ich, soll dir Blumen schenken und ich wette auch Gedichte macht er auf dich. Heute las er Floretten eins vor, das er gewiß auf dich gemacht hat!

Fränzchen erröthete. Sie wußte wohl von den Blumen, aber nichts von dem Gedichte, das ohne Zweifel ihr gelten sollte und Siegbert Wildungen erst übersetzt und noch in seinem Portefeuille hatte.

Indem knallte Sandrart's Champagnerkork und in einem der hingestellten Spitzgläser zischte vor ihr der perlende Wein, dessen Güte wir nicht zu bestimmen wagen, da wir über den Fortunawirth noch nicht wissen, ob er der Ehrlichkeit seines Bruders, des Pelikanwirthes, entsprechen wird ....

Kaum am Rande ihres Glases nippend, fragte sie jetzt Jeannetten, was diese Übermüthige von conditionslos gesprochen hätte?

Ja, Schatz, sagte diese, Das haben wir uns heute früh nicht träumen lassen, als wir Falbalas nähten, von der Tugend sprachen und die Fortunabälle kaum dem Namen nach kannten. Melanie kommt um zehn Uhr nach Hause, fordert mich wie vor's Tribunal, hält mir eine lange Predigt Salomonis, will in's Kloster gehen und [1395] schickt mich vorläufig von Morgen früh an zu allen Teufeln.

Jeannette! Du hast den Dienst verloren? Das ist ja unglaublich – sagte Fränz voll kindlicher Theilnahme.

Unglaublich? Seit ich dich hier Champagner trinken sehe neben einem so liebenswürdigen Sergeanten, ist Alles möglich. Neumann, erkläre du ihr's!

Dieser, die bebuschten Augenbrauen zusammenkneifend, grunzte etwas hin, was etwa soviel sagen sollte, als:

Die Aufklärung wird bald hörbar werden. Habt Ihr ihn auf's Korn genommen?

Das sagte er zu einigen jungen Burschen, Lasally'schen Reitknechten, die eben eintraten.

Macht's gnädig! meinte Jeannette flüsternd. Er hat's zwar um uns verdient, aber wenn er noch einmal so traktirt wird wie damals, erleben wir, daß ihn das Fräulein aus Mitleid heirathet ....

Wo sie ihn nur gesprochen hat! bemerkte der Bediente Franz flüsternd. Ich gab ihr doch noch den Shawl um, die Excellenz war dabei und wir gingen fast bis an den Wagen mit.

Ich fuhr sie – sagte Neumann.

Und kaum steigt sie aus, ergänzte Jeannette, so kam die Bescheerung. Diese Verräther! schrie sie. Elende Menschen, die sie verkauften, umgäben sie. In Hohenberg hätt' ich sie verrathen. Jeder bilde sich ein, ihr gefallen zu können – und damit zerriß sie ihre Kleider, weil sie nicht rasch genug vom Leib wollten, und sagte mir auf.

[1396] Das Fräulein dir, Jeannette! Ich kann mich noch gar nicht finden ...

Mir! Ja! Ja! Fränzchen! Das wäre nun ein Plätzchen für dich! Aber du bist ihr nicht mehr tugendhaft genug. Seit heute früh hast du einen schrecklichen Fehler angenommen. Du bist heimlich, gehst maskirt auf die Bälle in Garderobe wie eine Königin – jetzt besinn' ich mich – du kamst ja mit einer Rothen. Wer war denn Die?

Ja, stimmten die Wandstablers neugierig ein, wer war die Rothe?

Der junge Soldat schenkte ein, erschrak aber über die bekannte Erfahrung, daß eine Flasche dieses tückischen Schaumweines sehr bald consumirt ist.

Man wartete gespannt auf Fränzchens Antwort, die sich aber nicht herbeiließ eine Aufklärung zu geben ...

Halt! rief Jeannette. Sie tanzte nur mit Hackert, rannte Dem nur nach, immer nur Dem ... es war Melanie!

Ah ... hieß es bei den Harder'schen Bedienten und sonst herum; die Schlurck!

Alle waren aufgestanden und sahen durch die Glasfenster, die den Saal von der Restauration trennten. Es war ihnen, als wenn sie nun aufstehen und die Räthselhafte verfolgen sollten.

Hackert schreibt schön und tanzt schön ... fügte Jeannette diesem Tumulte boshaft hinzu; es wäre nicht das erste mal, daß Schlag zwölf Uhr der Thorweg leise aufknarrt [1397] und gewisse Leute in die Redoute gehen. Mach' uns keine Lügen vor, Fränzchen! Sage, wer war die Rothe?

Sandrart bot Jeannetten ein Glas mit den Worten:

Lüge, mein Fräulein! Das ist Beleidigung! Sie müssen sich mit mir duelliren!

Man setzte sich lachend nieder.

Jeannette nahm das Glas, verneigte ihr niedliches, geröthetes, stumpfnäsiges Gesichtchen, den Typus der Verschmitztheit und jener flüchtigen Kammerzofenschönheit, die bei dunkler Beleuchtung mehr verspricht, als sich bei hellerer motivirt findet, und sagte:

Sehr artig, Herr Sergeant!

Mit einem wohlgefälligen, herausfordernden Blick auf den jungen Krieger, der ihr seit den Unterfutter-Geheimnissen seiner Uniform doppelt zu gefallen schien, trank sie das Glas.

Fränzchen aber mochte den falschen Schein des Leichtsinnes und der Heuchelei nicht länger auf sich sitzen lassen, sondern nahm das Wort:

Wie ich hierher gekommen bin, sagte sie, ist mir wie im Traume geschehen. Es war zehn Uhr. Eben wollt' ich zu Bett gehen und legte die Kleider, die ich von der Putzmacherin auf dem alten Markte, der Florentine, zu besetzen hatte, sauber zusammen. Ich war müde. Da klingelt es heftig im Vorderhause. Die alten Märtens schlafen schon. Ich denke, obgleich unser neuer Miether –

Der feine gelehrte Franzos; lachte Jeannette.

[1398] Ein Franzos? sagte Heinrich Sandrart, angeregt und eifersüchtig.

Nicht jung! Nicht hübsch! Nein, ein Alter mit einer Perrücke!

Jeannette, die bei all ihrem Leichtsinn einige Gutmüthigkeit besaß, sagte diese Worte mit Beziehung.

Nicht wahr, ein Alter? Sowie der da!

Damit zeigte sie in den gegenüberstehenden Spiegel ....

Man wandte sich theils um, theils zum Spiegel hin und bemerkte einen schleichenden hüstelnden Herrn mit einer großen Nase und einem dicken schwarzen Schnurrbart, in dem wir die grüne Brille wieder erkennen.

Schon lange hatte sie lauernd den runden Tisch umschlichen und lüsterne Blicke zu dem demaskirten allerliebsten und rosig strahlenden Fränzchen hinüber geworfen. Seine Zudringlichkeiten schienen aber so allgemein gewesen zu sein, daß auch Jeannette schon die grüne Brille kannte.

Guten Abend! sagte ein Unisono des ganzen Tisches fast höhnisch zu dem indiskreten Lauscher.

Als dieser erschreckend merkte, daß er Gegenstand der Aufmerksamkeit eines ganzen Tisches wurde, entschlüpfte er mit aalglatter Behendigkeit und nahm das allgemeine ihn verfolgende Gelächter für eine Warnung, sich solchen Gesellschaften sobald nicht wieder zu nähern.

Sandrart schenkte aufs neue die letzten Reste seines Excesses ein und rief:

[1399] Also der alte Franzose klingelte ....

Nein, nein, sagte Fränzchen Heunisch, nicht der!

Ein Andrer –? fiel der Sergeant ein und rückte näher und legte ermuthigt den Arm auf die Stuhllehne Fränzchens, indem er ihr weingeröthet in die braunen brennenden Augen sah.

Genug, genug! unterbrach ihn Jeannette, die schon merkte, daß der Sergeant mit Fränzchens Verhältnissen völlig unbekannt war und vielleicht nicht einmal wußte, wo sie wohnte; es klingelte also Wallstraße Nr. 14, wo ich künftig auch wohnen werde ...

Du? fragte Fränzchen, erstaunt über diese scharfbetonten Worte.

Ja, Fränzchen, antwortete Jeannette, ich werde Gelegenheit nehmen, so lange bei meiner Freundin Franziska Heunisch, Wallstraße Nr. 14 zu wohnen, bis meine Angelegenheiten geordnet sind –

Diese Erklärung, in scharfen Worten vorgetragen, erregte allgemeines Erstaunen und bei Niemandem mehr als bei Fränzchen ...

Dein Zimmer ist klein, – schadet nichts – ein Bett stellt sich schon noch hin und –

Aber Jeannette ...

Mein voller Ernst ... ich spreche mit den Märtens Wallstraße Nr. 14 ...

Fränzchen konnte sich nicht fassen, so überrumpelte sie dieses verschmitzte Mädchen, dem sie sich von früher gewohnt war, gehorsam unterzuordnen.

[1400] Aber die Rothe! Die Rothe! hieß es. Wer ist's?

Sandrart merkte sich, mit einem dankbaren Blick auf die wilde Jeannette, die Adresse des Mädchens, in das er wie verloren war und dem zu Liebe er, ein wohlhabender Bauernsohn, zu rechnen anfing, ob er wol noch zwei Thaler aus dem Unterfutter hervorziehen sollte ... Die Menschen sprechen vom Verschwenden! Die Gerechtigkeit zwingt uns aber einzugestehen, daß sich alle Dinge in der Welt, selbst die bösen, nicht immer sogleich ganz böse machen.

Ja, sagte Fränzchen kleinlaut über die schreckliche Aussicht, an diese Jeannette in ihrer bisherigen bescheidenen Existenz geknüpft zu werden, ja es klingelte. Ich dachte, es wäre – unser Miether. Ich ziehe mich an und gehe hinunter. Wen find' ich? Eine Freundin, die ich nicht nennen kann. Sie machte sonst Putz mit mir auf dem alten Markt bei der Florentine. Franziska, du mußt mit mir auf den Fortunaball gehen, rief sie. Komm nur! Komm nur! Ich weiß, du kannst helfen. Damit zog sie mich durch den Hof, an der Werkstatt vorbei, in mein Kämmerchen hinauf, das sehr eng ist, sehr eng, liebe Jeannette –

O man richtet sich ein – ich will nur bei soliden Leuten wohnen. Wallstraße Nr. 14, im Hofe zwei Treppen hoch!

Damit sah Jeannette wieder Sandrarten scharf an -dieser nickte glühend, er hatte schon dem Kellner zugeflüstert, eine zweite Flasche zu bringen; Fränzchen fuhr fort:

[1401] Wie wir oben waren, weinte sie und jammerte. Sie müsse auf den Fortunaball, schrie sie. Sie müsse wegen eines Menschen da sein, der ...

Wegen Hackert? fragten Einige durcheinander, die am Tische saßen und immer noch an Fräulein Melanie dachten.

Fränzchen, Fränzchen, halt' dich an die Wahrheit, sagte Jeannette, es war Melanie – Neumann weiß es ganz genau! Neumann war im Hofe und fand da etwas nicht in Ordnung. Der Thorweg ging einmal leise von innen auf. Es schlich sich Jemand vom Hofe fort ....

Jeannette! Schäme dich! rief Fränzchen; das vornehme Fräulein! Abscheulich! Wie kann man so verleumden!

Hm! hm! hm! ... sagte Jeannette mit Bosheit. Sie ist jetzt verschwunden die Rothe, seit sie mich entdeckt hat.

Nein, fuhr Fränzchen entrüstet fort, meine Freundin heißt Louise und Der, den sie suchte, den kenn' ich nicht. Fränzchen, sagte sie, ich bin arm und du bist es, wir haben keine Kleider, um auf den Fortunaball zu gehen. Aber unsre Armuth kommt auch daher, daß Die, die von uns leben, uns nicht bezahlen. Ich wußte, daß du diese kostbaren Kleider für die Florentine nähst. Ich sah selbst, daß Florentine sie dir zum Besetzen einhändigte, als ich bei ihr war und das aufgeblasene, abscheuliche Weib, die mit fremdem Gelde ein Geschäft etablirt, um die mir nun seit drei Jahren schuldigen fünfzehn Thaler mahnte. Sie zahlt nie. Diese Kleider sind für den Verkauf in ihrem Laden bestimmt. Ich verlange sie von dir! Hier ist Florentinen's [1402] Schuldschein und nun Muth, Franziska, mein ist dieser rothe und dein ist dieser blaue Anzug!

Bravo! rief die ganze Gesellschaft, ohnehin entzückt von der zweiten Flasche, die inzwischen ankam, und klatschte in die Hände. Der Spaß, so zu einer Garderobe zu kommen, gefiel allgemein.

Das nenn' ich resolut –

So muß man Schulden eintreiben!

Louise soll leben!

Holt die Rothe! Sie muß Champagner trinken!

Sandrart sogar, der sonst gesetzte und ruhige Sergeant, rief in seinem Wirbel und alle Bedenklichkeiten seines sonst sittsamen und vor dem strengen Vater im Ullagrunde sich fürchtenden Gewissens hinunterspülend:

So commandirt ein General, wenn er sich in aller Kürze in schwieriger Position zu helfen sucht! Napoleon sagte:

En avant! Und diesem Manöver verdanken wir unser liebenswürdiges Fränzchen Heunisch Wallstraße Nr. 14 auf dem Fortunaball! Hurrah!

Jeannette blinzelte dem gebildeten Sergeanten, der eben französisch gesprochen hatte und sagte ihm augenzwinkernd, als er ihr einschenken wollte:

Comment vous portez vous, Musje?

Sie können sich wol denken, fuhr Fränzchen unbekümmert um diese ihr ganz ungeläufigen Koketterieen einer doch mechanten Nebenbuhlerin fort, Sie können sich wol denken, wie ich mich geweigert habe. Aber es half nichts. Eh' ich mich versah, waren mir diese Kleider über meine [1403] gewöhnlichen kattunenen – wie Sie Alle sehen können -übergezogen – das Haar verdeckte die Kapuze. Sie selbst nahm den rothen Anzug – und so huschten wir über den Hof, nahmen einen Fiaker und hier kauften wir die Masken. So bin ich hergekommen und denke mit Schrecken an Mamsell Florentinen auf dem alten Markt, die wegen ihrer Kleider zur Polizei gehen wird.

Sie soll ihre Schulden bezahlen! sagte Heinrich Sandrart und schlug mit dem Glase auf den Tisch, daß es fast zerbrach, zog wieder sein Portemonnaie und wollte nun auch all' das Essen bezahlen, das immer während des Trinkens und Erzählens genossen wurde. Jeannette aber litt diese Großmuth nicht. Sie warf Neumann einen Wink zu, der sich dann in die Brust warf und sich den Wirth der Gesellschaft nannte. Indem er aufstand und etwas langsam berechnete, während der Sergeant schon zahlte, kamen die Jockeys und flüsterten dem Kutscher etwas in's Ohr.

Jetzt dran! sagte er mit brutalem Ton.

Was ist? fragte der junge Soldat ...

Wir wollen die Rothe suchen, sagte Jeannette, die die geheimen Zeichen verstand. Steht auf, Kinder, der Tanz fängt wieder an. Es schlägt drei. Bis fünf bleiben wir da, nicht wahr, Fränzchen? Siehst du, daß die Welt viel lustiger ist, als du dir's in deinem Hinterhof eingebildet hast, Närrchen. Gieb mir einen Kuß und ängstige dich nicht um mein Bett ... ich ziehe nicht zu dir!

Damit wußte die Schlaue es so zu wenden, daß sie zwischen das sich plötzlich erleichtert fühlende Fränzchen [1404] und Heinrich Sandrart kam und diesem ihren linken Arm zugeschoben hatte, er wußte nicht wie. Sie hatte Fränzchen am rechten Arm. Da es beim Eintritt in den Saal wieder sehr eng wurde, war sie des Sergeanten Tänzerin zu seinem eignen Erstaunen und, wie es schien, unangenehmstem Befremden.

Noch merkte man nicht, daß sich die zum Tanze antretenden Paare lichteten. Der Garten mochte leerer sein, aber hier unter den drei mächtigen Kronenleuchtern und oben in den überfüllten Logen ringsum, wo die feinere Gesellschaft tafelte, verrieth nichts die Annäherung des Morgens, der sich mit einer sanften Röthe in Osten schon ankündigte.

Fränzchen hatte nach einer Tour in der Runde wieder Sandrart am Arm. Jeannette huschte in den Garten ...

Oben auf der »Sternwarte« ließ sich das neuerdings wieder zusammenströmende Gewühl nun am besten unterscheiden.

Dort saßen Mullrich und Kümmerlein auf kleinen Sesseln und schauten schlaftrunken in den Saal hinab.

Zuweilen kam Pax, um Neues, besonders über Signalement Nr. 2, die schwarze Binde, wie er sie nannte, zu hören. Dann wieder schickte Frau Katharina Peters aus ihren unerschöpflichen Bier- und Punschvorräthen eine Stärkung hinauf, die ihnen einmal sogar Peters selber bringen mußte. Sie wollte durchaus, daß er sich in seine neue Laufbahn fände und sich mit so wichtigen Personen befreunde, die er sehr oft auf ihr antreffen mußte.

[1405] Was machen denn Ihre Thüringer? sagte Kümmerlein etwas spitz. Man sieht ja Herrn Peters jetzt immer nur drüben in Loge Nr. 13 unter den Offizieren; sind die Landsleute doch im Garten nicht vergessen?

Peters antwortete gleich lieber gar nicht, um nicht ausfallend zu werden. Soviel konnte er aber doch nicht hinunterschlucken, daß er die Bemerkung hätte verschweigen sollen:

Lieber schon wär' mirs, es ginge diese verfluchte Treppe nicht erst in den Tunnel und ich könnte gleich in Nr. 13 von hier hinüber, wo meine Thüringer mit den Offizieren sitzen.

Die Agenten, die um fünf Uhr etwas mit Thüringern vorhatten, lehnten sich über die Brüstung und versuchten in Nr. 13 zu sehen. In der That waren Dankmar und Siegbert nach ihrem langen, stillen und traulichen Zwiegespräch, wo der Ältere über die Abenteuer des Jüngern fast sprachlos staunen mußte, eben, wie sie nach Hause gehen wollten, von den neuankommenden Offizieren und vielen andern Bekannten, zu denen jetzt auch Reichmeyer und Heinrichson gehörte, so zu sagen aufgegriffen und in die Loge Nr. 13, die geräumigste und comfortabelste, zu einem dort veranstalteten Bankett fast gewaltsam entführt worden.

Erst waren sie auf der Gartenbank, trotz des sie umgebenden Geschwirres von Dankmar's Erinnerung an Hohenberg so gefesselt, daß ihnen Stunde auf Stunde verlief. Nun wollten sie, doch leidlich getröstet über das viele [1406] Widerwärtige, was sie an diesem Tage und Abende verlebt hatten, sich zur Ruhe begeben und nun zwang sie Heinrichson, der den höchst Gefälligen, höchst Liebenswürdigen machte, zu bleiben und in den scheinbar genialen Ton, den er anstimmte, mit einzustimmen. Sie thaten ihm den Gefallen, aber widerstrebend. Ihre Anwesenheit hatte jedoch in der Loge schon den Erfolg, daß bei der Abstimmung über die Frage, ob man die hübschesten Mädchen aus dem Tanzsaale in die Loge mit hinaufnehmen wollte, die Minorität zur Majorität erhoben und mit 15 gegen 13 Stimmen den von Aldenhoven und Heinrichson beantragten Vorschlag eines sabinischen Mädchenraubes oder einer Razzia, wie Aldenhoven sagte, zur Niederlage brachten. Das Gespräch beschäftigte sich also mit dem einzigen Thema, das sich hier verhandeln ließ:

Frauen und Politik, ohne daß die Ersteren daran Theil nahmen. Aber es wäre doch vielleicht besser gewesen, sie zuzulassen; denn der Streit über die zweite würde dann weniger heftig geworden sein. Es flogen die spitzesten Pfeile, wie immer, hin und her. Die politische Aufregung des Tages war so entzündlich, daß es im kleinsten Cirkel die schroffsten Gegensätze gab. Es ging oft unter den jungen Männern, Juristen, Malern, Offizieren so heftig lärmend her, daß Herr Hitzreuter, der Fortunawirth, sich zuweilen in dieser Loge aufmerkend sehen ließ. Der allerdings gewandte Mann machte nur in den gewählteren Kreisen die Honneurs. Groß und stattlich von Figur, mit einem viel pfiffigeren Zuge, als sein in pekuniärer Hinsicht[1407] rangirterer Bruder, der Pelikanwirth, trug er durch seine diplomatische Vermittlung, besonders aber durch eine Dose, die er herumreichte, Vieles zur Milderung der sich etwas schroff gegenüberstehenden Ansichten bei. Schon, daß er so überaus schwärmerisch für Alles, was zur Landesfarbe und zum »uralt« Bestehenden gehörte, sich aussprach, erzeugte Einigkeit. Denn man mußte ein solches Entzücken für die Reaction doch komisch finden ...

Den Austausch dieser Ansichten schildern wir nicht. Nennt diese Streitenden Söhne der Zeit, nennt sie Dioskuren auf den weißen Lichtrossen der Legitimität, nennt sie die gefesselten Titanen der Opposition; sie erörterten nur Das, was wir vorziehen, durch die Hebel des Volkes und an ihm selbst zu schildern durch eine allmälige Entwickelung von Persönlichkeiten, deren Bedeutung für den modernen Volksgeist im späteren Verlaufe sichtbarer hervortreten wird.

Es ist aber doch einzig, sagte Kümmerlein auf der Sternwarte, wir haben jetzt bald drei Uhr und von der schwarzen Binde sieht man nichts.

Sie haben wol nicht richtig gelesen, erwiderte Mullrich;

steht wirklich was von einer schwarzen Binde auf dem Signalement?

Wie ich gelesen habe ...

Lesen Sie doch lieber noch einmal, Kümmerlein!

Kümmerlein breitete sein Papier noch einmal aus einander und las wiederholt das Signalement Nr. 2.

[1408]
13. Capitel. Die schwarze Binde
Dreizehntes Capitel
Die schwarze Binde

Murray, ein Engländer oder Amerikaner, las Kümmerlein; mittlerer Figur, schwarze Perrücke, eine seidene schwarze Binde über dem einen Auge, Mund fast zahnlos, Kleidung: abwechselnd, ganz ärmlich, bald ganz elegant. Geht etwas gebückt an einem Bambusrohr mit goldenem Knopfe. Selbst bei ärmlicher Kleidung sieht man zuweilen goldene Ketten an der Weste und Ringe am Finger. Alter:

etwa sechzig Jahre, obgleich er bei eleganter Kleidung viel jünger aussieht. Im Falle zweideutigen Umganges zu verhaften.

Als Kümmerlein geendet hatte, mußte Mullrich bestätigen, daß Dies – er sagte es wenigstens – auch ganz ebenso auf seinem Papiere stünde, allein darin kamen sie überein, daß eine schwarze Binde am Auge ein gutes Gewissen verrathe ...

Denn, sagte Mullrich, einen bunten Hund kennt Jeder. Die den beiden Gerechtigkeitsdienern auf den Lippen schwebenden kleinen Rügen über Paxen's übermäßige Feinheit und seine Leidenschaft, es einem gewissen großen Polizeimanne, den sie nannten, gleich zu thun, verhallten [1409] im Lärmen des Saales. Denn als sie auf ihren Uhren drei anrücken sahen, begann wieder die Musik des Orchesters und das Rauschen des Tanzes.

Die große im Saale befindliche Uhr zeigte zwar die Stunde, schlug aber erst von vier Uhr an. Dies war eine eigenthümliche Speculation des Herrn Hitzreuter im Einverständnisse mit der Kapelle. Schlug es nämlich zwölf, eins, zwei, drei, so wurden die Besucher der Fortunabälle, die absichtlich nach der Uhr nicht sahen, doch in ihrem Taumel immer stutzig; sie fühlten sich gemahnt, zeitiger sich zu entfernen, als dem Besitzer lieb war. Von vier Uhr an aber wünschten Herr Hitzreuter und die Kapelle selbst, daß man ging. Daher wurde das Schlagen von zwölf, eins, zwei, drei verhindert. Mit vier aber fingen die Mahnungen zur Entfernung an und sogar die Angaben der Viertel dienten gewissermaßen als leise winkender Kehraus.

Eben wollten sich Mullrich und Kümmerlein wieder auf ihrer Sternwarte in die Sessel strecken, die eben nicht sehr bequem waren, und ein bischen »dämmern«, wie sie den diensterlaubten Halbschlaf nannten, als plötzlich an den Ausgangsthüren ein Drängen entstand ...

Manche Paare hielten im Tanze inne und Mullrich fragte Kümmerlein:

Kümmerlein, heda! Hören Sie nicht schreien?

Schon aber hatten alle Tänzer, die den Saalthüren nahe standen, sich nach draußen gewandt. Denn ein so lauter Lärm, ein solches Rufen und Wehklagen konnte man vom [1410] Garten her vernehmen, daß die allgemeinste Neugierde geweckt wurde und diese sich allmälig Allen, auch den in den Logen befindlichen Zechern und Schmausern, mittheilte ...

Mullrich kletterte die enge schmale Treppe hinunter, gefolgt von Kümmerlein, dem eine Einmischung in handgreifliche Händel immer unwillkommen war.

Setzen Sie sich nicht aus, rief er Mullrich nach, Sie wissen, daß wir nach Vier eine Recherche haben ...

Mullrich ärgerte sich über den Umweg durch den Tunnel, der schon leerer geworden war. Denn Die, welche nicht tanzten, hielten sich nicht bis in den frühen Morgen auf. Sogar Frau Kathrine war zu Bett gegangen und hatte ihre Functionen einer andern weiblichen Bedienung überlassen und Peters war oben in den Logen beschäftigt.

Die Polizeidiener fanden im Garten ihr Einschreiten nicht mehr nöthig; denn schon hatten sich mehre ihrer Kameraden ihres Incognitos begeben und halfen einen jämmerlich zugerichteten Mann daher tragen, für den um einen Wagen gerufen wurde. Einige jüngere Leute gingen schreiend und fluchend neben ihm her, während eine Frauenstimme wehklagte und den Fortunabällen, wenn sie von Mördern überfallen werden könnten, den Untergang prophezeite.

Man erzählte dann, daß eine Anzahl junger Leute mit diesem Schwerverwundeten und Halberschlagenen einem Andern aufgelauert hätte, um ihn für irgend ein Vergehen [1411] zu züchtigen. Auf das Hülfegeschrei einer Frau aber wären über den Zaun, an dem Holzschuppen rechter Hand – man zeigte in dem aufgehenden Tageslichte nach jener Stelle – eine Menge Vermummter mit Stangen und Eisen erschienen, hätten jenen Bedrängten befreit, aber den wildesten seiner Gegner auch in dem Grade kampfunfähig gemacht, daß dieser schwerlich wieder aufkommen würde ...

Den Verwundeten erkannte Mullrich sogleich.

Es war Dies der Kutscher des Justizraths Schlurck, Neumann mit dem Backenbart und den goldnen Ohrringen.

Die wildaufgeregte, schreiende Anklage kam von Jeannetten, die im Augenblick der Gefahr ihre Tändeleien nicht mehr durchführte und sich wohl vergegenwärtigte, wie ihre fast dreißig Jahre es ihr zur Pflicht machten, eine so solide Anhänglichkeit, wie die des Neumann, werth zu halten. Sie verwünschte bald die Feigheit der Reitknechte Lasally's, die wohl Jemanden überfallen, aber sich nicht vertheidigen könnten, wenn sie auf gefaßte Gegner stießen. Sie schwur der Rothen Rache, die Hackerten diesen Schutz hatte herbeizaubern können und war im ersten Zorn so heftig über Fränzchen Heunisch, die von ihrem Tänzer geführt wurde, hergefallen, daß diese vorzog, zu flüchten und sich umsomehr bald von Sandrart nach Hause begleiten zu lassen, als Louise Eisold und Hackert verschwunden schienen.

Der Oberkommissär Pax verschaffte sich, während man [1412] Neumann mit Wasser besprengte und in den Wagen trug, alle nur zu ermöglichenden näheren Angaben über die Begebenheit, war aber insofern schon völlig im Klaren, daß er den Angreifern sagte, ihnen wäre Recht geschehen. Seine Theilnahme für Hackert gab sich dabei vollkommen zu erkennen. Und von den sogenannten Vermummten hatte er die Überzeugung, daß Dies Maschinenarbeiter von Willing's Fabrik gewesen wären, am Zaune gelauscht und die Gewaltthat eben so gewaltthätig verhindert hätten. Auch er sah sich nach Hackert um, der ebenso wie der mehrfach erwähnte und ihm selbst aufgefallene, noch immer nicht demaskirte rothe Domino, verschwunden war.

Als die gleichfalls herbeigeeilten Kapellisten wieder an ihre Notenpulte lachend zurückkehrten und der Tanz aufs neue nun gerade erst bachanalischer als bisher begann, wollten auch die beiden Polizeidiener Mullrich und Kümmerlein wieder auf die Sternwarte. Pax aber rief ihnen nach und fragte wieder bei Seite:

Noch immer nichts von Nr. 2 gesehen?

Nicht ein Haar, Herr Oberkommissär.

Keine schwarze Binde überm Auge?

Nirgends; aber ein Franzose war da, Herr Oberkommissär. Nichts Verdächtiges an ihm bemerkt, als daß er französisch spricht.

Eine grüne Brille –?

Ein schwarzer Schnurrbart –

Es ist der Franzose nicht, der beobachtet werden sollte [1413] und doch hätt' ich gern erfahren, was hinter der grünen Brille steckt ...

Herr Oberkommissär, sagte Kümmerlein, der suchte nichts als die Frauenzimmer!

Schien mir auch so, antwortete Pax lächelnd. Als ich ihm einige Male nachgegangen war und ein Gespräch anknüpfen wollte, verschwand er. Ganz geheuer ist es mit dieser grünen Brille nicht. Er schlich dem Sergeanten und dem blauen Mädchen nach. Aber die schwarze Binde! Man versicherte uns, sie ginge auf den Fortunaball ... Nun gute Nacht! Ich gehe. Sie bleiben wol bis zu Ihrer Recherche?

Es geht nun in Einem hin!

Vergessen Sie nicht, die Gebrüder Wildungen aus Thüringen! Drei Treppen bei Frau Schievelbein.

Neustraße –

Was wir finden, geht mit ...

Besonders ein Bild ...

Abzuliefern an?

An Frau Ludmer, Kammerfrau der Geheimräthin von Harder.

Gut! Besorgen Sie das Alles mit der größten Pünktlichkeit! Nun, gute Nacht!

Damit verließ Oberkommissär Pax den Garten der Fortuna und seine getreuen Organe kehrten auf ihren früheren Standpunkt, die Sternwarte, zurück ...

Wie sonderbar gleicht aber das Schicksal aus! Was dem Einen Quell der Leiden ist, wird dem Andern zum Quell [1414] der Freude! Wenn irgend etwas die Größe jener unparteiischen Gewalt, die unsichtbar über unsern Schicksalen thront, vergegenwärtigt, so ist es dieser vollkommene Widerspruch in Dem, was dem Einen nützt und zugleich dem Andern schadet, ein Widerspruch für uns, der aber für jene ewige Gewalt die eigentliche Seele ihrer Harmonie sein muß ...

Eine solche Ahnung, nur nicht philosophisch ausgedrückt, lag im Auge des Kellners Peters, der in der großen Loge bediente und seinen Thüringern, die bei dem Lärmen zu spät gekommen waren, mit vertraulicher Miene zuraunte:

Eben ist der Kutscher des Justizraths Schlurck halbtodt vom Platze getragen worden. Vor sechs Wochen kommt der nicht wieder auf, wenn er je wieder eine Leine führen kann. Was meinen Sie, wenn ich mich morgen bei dem Justizrath melde – blos, daß ich diese gottverdammte Schürze und kurze Jacke ablegen darf?

Freier Phaethon, edler Sonnenlenker, thue Das! rief Siegbert, der sonderbarer Weise von dem Tumulte dieses Festes und Dankmar's Reiseerzählung mehr gesteigert war als der nachdenkliche Dankmar, den grade in diesem Tumulte Wehmuth und die ernste Mahnung an die Lösung einer großen Aufgabe, die er sich für eine edlere Welt gestellt hatte, still für sich überfiel.

Wirf sie ab, rief Siegbert und strich das blonde Haar aus dem erhitzten, schönen Antlitz, wirf sie ab die Tracht des dienenden Heloten! Werde wieder Freiherr von der [1415] Peitsche, Baron vom Sternenaufblick, Ritter zum Schellengeklingel! Schleudere sie hin den Hitzreuters die Speisekarte, die deines edlen Busens nicht würdig ist, Landsmann! Schatten Margo zu apportiren lasse Denen, die pudelhafter ihre Seele von einem Weibe verkaufen lassen! Pegasus im Joche, schwing' dich in die Lüfte und werde wieder, was du eher warst, ehe du wurdest, was du bist!

Peters machte Dankmarn ein Zeichen, als wollte er sagen, dem Bruder Maler hätte wol der Schatten Margo ...

Zu viel Licht gegeben? Nein! antwortete Dankmar zur Ehrenrettung seines Bruders; es ist seine wirkliche Überzeugung! Wir bemitleiden dich, Peters! Morgen früh um neun Uhr klingl' ich an Schlurck's Hausthür. Wartet da auf mich! Hört Ihr! Wir bringen dann alle unsere Angelegenheiten in's Reine.

Herr Dankmar, wirklich – meinen Sie?

Er ist reich, – er kann sich ohne Kutscher nicht behelfen –

Dann bring' ich aber den Bello auch mit.

Bring' auch den Bello mit! Gegen vier brechen wir auf. Vier Stunden Schlaf ist genug für einen so tollen Tag wie den heutigen, auf den drei Nächte gehören, wenn man die verlornen Ruhestunden wett machen wollte! Wir wollten verdorbenes Volksleben studiren, Schmerzen in uns selber tödten! Für einmal und nicht wieder! Also um neun Uhr –

Mit Bello beim Justizrath!

[1416] Abgemacht! Wenn du Anwartschaft auf den Posten bekommst, Peters, trägst du mir den Schrein nach Haus? Nicht wahr? Oder wird er zu schwer auf deinen Schultern drücken ...

Nein! Mein Gewissen erleichtern, sagte Peters fast mit verklärtem Blick und sah mit Ungeduld auf die Uhr, die nicht fortrücken wollte und trotzdem, daß schon der lichte Sommertag durch die Fenster graute, auf halb vier Uhr stand ...

Die Zahl der tanzenden Paare hatte sich sehr gelichtet. Kümmerlein und Mullrich gähnten und schliefen halb und halb wieder auf ihren Stühlen ein ...

Kaum mochten sie zehn Minuten »gedämmert« haben, als bei dem geringeren Toben der Menge es Mullrichen war, als wenn er an der Wand, die die Sternwarte von einer kleinen Loge dicht neben ihr trennte, ein Gespräch hörte, das laut, ja zankend war ...

Sich sammelnd und aufrichtend horchte er und hörte leider nur den wilden Galopp, den jedoch kaum noch dreißig Paare tanzten. Er hätte sich gern umgebeugt und in die Loge eingesehen, allein der kluge Erbauer des Fortunasaales hatte es so eingerichtet, daß Niemand aus einer Loge in die andere lauschen konnte. Sehr geschmackvolle Stukkaturen und Bronzearbeiten waren an den Verbindungswänden zur Zierde des Saales angebracht. Man hätte sich weit über die Brüstung lehnen müssen, wenn man um die Karyatiden herumsehen wollte, die die Logen von einander trennten. Von der vollends [1417] etwas zurückgebauten »Sternwarte« war dies mit der zunächst anstoßenden sehr kleinen Loge durchaus nicht möglich.

Kaum hatte sich Mullrich wieder an die Verbindungswand gelehnt, als er ein jetzt plötzlich gar lautes und aufgeregtes Gespräch zu hören glaubte, jedoch nur von zwei streitenden Personen.

Er weckte Kümmerlein und machte, als sich dieser gesammelt hatte, ihm Gebehrden, auf die Wand zu merken.

Was ist denn? fragte dieser.

Hören Sie nur! Hier!

Beide legten ihr Ohr an die Verbindungswand, die die Sternwarte von der kleinen, ganz unbeachteten Loge trennte.

Was sie vernahmen, war ein grämliches Zanken zwischen einem wie es schien älteren Manne und einer jüngeren aber heiseren und tiefliegenden Frauenstimme.

Schweig, Maulwurf! sagte die Frauenstimme, was hab' ich von dem Glanz, wenn ich ihn nicht zeigen darf?

Eine fast grunzende, mürrische Stimme grämelte irgend etwas dagegen, was man nicht verstehen konnte.

Gold und Juwelen, fuhr die Frauenstimme maliciös fort, und in einem Käfig sitzen? Nein, lieber Wasser und Brot, aber Polka tanzen! Ich hab's satt – morgen gehst du oder ich.

Die Stimme des Alten murmelte oder brummte wieder etwas Unverständliches.

[1418] Fünf Tage, nicht drei! sagte die Frauenstimme, hörst du? Fünf, nicht drei! Dann thu' ichs! Was sind drei Tage? Oder nimm drei Tage, aber zwischen jedem einen von deinen mageren Tagen dazwischen? Hörst du? Nicht drei fette Tage hinter einander –

Hintereinander! war die jetzt verständliche, deutliche, entschiedene Antwort des alten Mannes.

Dann bleiben wir nicht zusammen, fuhr die Frauenstimme zornig fort. Drei Tage im Monate, hast du mir versprochen, mir so zu schenken, daß ich alle meine Vergnügungen und Wünsche befriedigen kann. Nun ja; ich habe gestern prächtige seidne Kleider bekommen, heute Juwelen und Gold und morgen soll ich mein wahres, mein echtes Bild haben, das ich wirklich bin und keine Andere ...

Und gab ich heute nicht schon mehr? sagte jetzt deutlicher und mit gehobener Stimme der Mann, als du begehrtest? Ist dieser tolle Nachtschmaus, wo man sich vor dem anbrechenden Tageslichte schämen muß, nicht eine Zugabe zu den Juwelen und dem Golde? Ich sah überall in die Logen dieses Saales. Diese kleine, stille, verborgene ist die schönste. Hier sind Spiegel und weiche Polster! Hier duften Blumen und da hängen reizende Bilder! Du hast Fasanen gegessen, Champagner getrunken! Aber du weißt nichts zu würdigen. Im gierigen Genusse schlingst Du Alles hinunter und hast wie die Heißhungrigen erst dann einen Reiz dazu, wenn du es schon verzehrt hast ...

Nun gut! sagte lachend die Frauenstimme. Diesen Fortunaball [1419] schenktest du mir auf den zweiten Tag als Zugabe; aber ich will tanzen, tanzen! Ich trinke hier Champagner, esse Eis und verzehre mich vor Gier, hinunter in den Saal zu dürfen. Sieh, Alter! Überall da unten sind meine Tänzer! Sieh den kleinen mit den feurigen Augenerkennst du mich wohl – wenn ich – he Junge! He! He!

Willst du – bleibst du wol zurück! Tritt nicht leichtsinnig mit Füßen, was ein Freund liebevoll heute über dich häufte – –

Man hörte fast, daß die Hand des männlichen Sprechers die des weiblichen packte und zurückriß ...

So komm mit! Ich will mit dir tanzen; Alter ... mit dir! Ha, ha, ha, Komm –

Laß mich! Schäme dich!

So will ich nur einmal an deinem Arme durch den Saal schlendern. Sieh, es ist gleich drei Viertel auf vier. Um vier Uhr hast du den Wagen bestellt. Komm, schlendre mit mir durch den Saal, Brummbär!

Das Alles ist wider die Abrede, antwortete die Männerstimme. Diese Fortunabälle werden sich oft wiederholen. Es werden andere Feste kommen, wenn die Jahreszeit unfreundlicher wird und man die geselligen Vergnügungen sucht. Du hast dann wieder drei Tage des Glücks und der Verschwendung –

Und siebenundzwanzig der Armuth und Langenweile, der schrecklichsten Folter. Nein, Männchen, such' dir eine andere Närrin für deine Possen, ich kann arm sein, aber Langeweile haben und nicht – nein! nein!

[1420] Und nicht lieben, willst du sagen?

Ich sagt' es nicht!

Und doch ist es Das! Nur Männer, die dich küssen, willst du um dich.

Ich will nicht Männer, die mich küssen ...

Du sagtest mir Das vor vierzehn Tagen, als ich dich im Elend, in der verworfensten Schande antraf, die Tochter eines Mannes, dem ich ewig verpflichtet bin. Hättest du mir gesagt, ich muß lieben, muß küssen und leichtsinnig sein, ich kann die Tugend nicht üben, so hätt' ich für dich gebetet – so aber sagtest du ...

Ich habe nicht gelogen.

Nun denn, wenn du die Freude, das Vergnügen, die Pracht und die Trägheit liebst, warum siehst du nach dem kleinen Schwarzkopf mit den feurigen Augen –?

Er tanzt und du nicht! Komm, wenigstens durch den Saal müssen wir schlendern. Es ist gleich vier.

Wir sind ja nicht gebunden. Die Pferde warten ...

Sie sind um vier Uhr bestellt ...

Andre Wagen warten genug unten.. wir bezahlen beide ...

Das kostet zuviel ...

Was kümmert dich's, ob's an den drei Tagen deines Glückes mich etwas mehr kostet oder weniger?

Hier schwieg die Frauenstimme einen Augenblick.

Ihre heiseren Töne waren plötzlich sanfter geworden.

Mullrich machte Zeichen des größten Erstaunens und der unglaublichsten Überraschung.

[1421] Nun? fragte Kümmerlein flüsternd ...

Da verwett' ich meinen Kopf ...

Worauf denn?

Das ist Nr. 17!

Wo Nr. 17?

Nr. 17 aus unserm Hause ... Die Maler-Guste ...

Die nach Hamburg wollte?

Die und Hamburg! Horch ... Wart'! Du sollst uns mit dem alten Spiegel und mit der Bettstelle und dem Waschlavoir-St! Stille!

Die ältere männliche Stimme begann wieder:

Sonderbar! sagte sie. Schon die ersten drei Tage sorgst du ja für mich, Mädchen! Bedenkst ja meine Kasse! Sieh! Sieh! Wirst ja häuslich, wirthschaftlich ...

Ha, ha, ha, lachte spöttisch das Mädchen, bilde dir nichts ein, Männchen ...

Ich wette, du lernst noch mit der Zeit dich in Manches fügen –

Die Zeit wird dir doch zu lang werden, Alter!

Glaub's nicht ...

Wollen wir wetten? Ich wette gern ...

Heute hast du eine Broche, zwei Armbänder, Ohrringe bekommen, ich schenkte dir ein Souper im Fortunaball als freiwillige Zugabe. Eine Wette spar' dir auf deine nächsten drei fetten Tage im September.

Die erleb' ich nicht mehr. In den siebenundzwanzig magern lauf' ich dir davon oder sterbe!

Bedenke, im Februar sind es nur fünfundzwanzig,[1422] wo du dich bezähmen und mit mir Erdäpfel essen sollst!

Nie! Nie! Ich gehe nach Hamburg!

Hier sprang Mullrich auf und sagte halblaut für sich:

Satan! Du bist's! Juwelen und Gold und Fasanen und sich malen lassen und mir läß'st du einen zerbrochenen Spiegel, eine lahme Bettstelle und ein Waschlavoir für drei Monate Hausschlüssel und alles Übrige? Kröte du!

Mit diesem kräftigen Worte, das alle seine Empfindungen und auch das systematische Bestreben, reich zu werden, wie Kümmerlein gesagt hatte, ausdrückte, faßte er Kümmerlein's Hand, um von diesem einen localkundigen Rath, irgend einen strategischen Angriffsplan auf die Nachbarloge zu hören.

Kümmerlein aber winkte ihm mit spähend aufgerissenen Augen und zeigte stumm auf die Wand, wo noch folgende Worte hörbar wurden:

Hör' Alter, sagte die Frauenstimme, wenn die drei fetten Tage im September kommen und ich sage an einem davon, wir gehen auf den Fortunaball und du mußt tanzen ... so mußt du's auch. Das erfordert unser Contract.

So werd' ich tanzen, antwortete der Alte.

Ha, ha! Das lassen wir für Geld sehen ...

Gelernt hab' ich's ...

Das möcht' ich sehen; aber mit mir nicht! Man lacht uns aus ...

Man lacht dich nicht aus, wenn du schöne Kleider trägst, von denen sie Alle wissen, daß ich sie dir schenkte ...

[1423] O Das muß lustig sein, dich da unten hinken zu sehen. Komm! Es rückt auf vier. Thu' mir wenigstens den Gefallen und mach' noch einmal im Saale mit mir die Runde ...

Um fünf!

Nein, wir fahren jetzt ...

Warum jetzt schon ...

Was die Stunde kostet, daß der Kutscher hält, dafür ... dafür trink' ich morgen Chokolade.

Mädchen, weil du zu sparen anfängst, sagte der Alte lachend, will ich dir den Gefallen thun und einen Gang durch den Saal machen. Glücklicherweise sind die Logen fast leer und von den Tänzern nur noch ein paar Wilde da, die sich nicht zur Ruhe geben wollen! Führe mich, Auguste! Ich kann nicht gut sehen. Komm, Auguste!

Auguste! sagte Mullrich triumphirend.

Ich kann nicht gut sehen? fiel Kümmerlein ein.

Wer?

Der da!

Nun?

Nichts begriffen?

Es ist die Auguste, die mir für vier Monate ...

Zum Henker, ja! Aber der Andre ...

Was denn?

Kommen Sie, sagte Kümmerlein kopfschüttelnd über die Beschränktheit seines Collegen. Rasch! Der verdammte Tunnel! Es muß von hier noch eine Treppe gerade in den Saal hinunter gemacht werden. Wir machen einen [1424] Capitalfang. Ziehen Sie die Pfeife heraus, wenn Succurs nöthig ist ...

Mullrich, der immer nur an Nr. 17 und die ihm schuldigen vier Thaler dachte, folgte verwundert dem klügern, an die schwarze Binde denkenden Kümmerlein ...

Gerade aber fünf Minuten vor dem vollen Glockenschlag Vier begab sich unten im Saale der Fortuna folgende seltsame Scene:

Es war eben ein stürmischer Galopp, den man den Tarantelstich nannte, beendigt; die nur noch spärlichen Paare traten zurück und Manches rüstete sich, der tiefernsten, sittlicherhabenen Mahnung des durch die großen Fenster hereinschimmernden Tageslichtes zu folgen und nun still niederblickend heimzugehen. Die Kraft des zuströmenden Gases ließ in den Kronenleuchtern nach, ein unheimliches, gespenstisches Helldunkel verbreitete sich in dem staubigen Raume. Die vorhin noch so freundlich schimmernden Toiletten wurden plötzlich fahl und erschienen zerknittert, die Gesichter, eben noch prahlerisch, machten sich häßlich, alt, ja als ein Kronenleuchter plötzlich ganz verlöschte, war es, als spräche eine Geisterstimme plötzlich ein schauerliches Wort, das dem Feste noch vor der Zeit ein Ende zu machen schien.

In diesem Augenblicke stoben, vor einem seltsamen Anblick, entsetzt, die Tänzer auseinander.

Die wenigen Tänzerinnen, die eben eiligst ihre Shawls und Hüte suchten, stießen ein ängstliches unterdrücktes Ach! aus.

[1425] Alles sah mit dem Ausdrucke des fragenden, unsichern Erstaunens nach einer Erscheinung hin, die, durch die große Hauptthür eintretend, erst Wenigen auffiel, dann Alle in Furcht und Schrecken versetzte.

Ein Tänzer, den Alle kannten, weil er sich als der Gewandteste, Witzigste, Ausgelassenste in ihren Reihen getummelt hatte, kam in zerrissenem Anzuge, verwilderten Kleidern, zerschlagenem Hute über dem röthlichen Haar, Staub und Gras an den Kleidern und Stiefeln, mit einem jener Lichter, wie man sie unter Glasglocken, die die Flamme schützen, in öffentlichen Gärten aufstellt, herein, feierlich schreitend, gespenstisch, mit geschlossenen Augen.

Hinter ihm die rothe Dame, die Allen aufgefallen war und noch immer ihre Maske trug.

Ängstlich besorgt folgte sie dem Wandelnden und hielt Alle, die von dem Anblick überrascht erst lachend, dann entsetzt stillstanden, zurück, den Finger auf den Mund legend und förmlich mit den Händen um Schonung und Mitleid flehend.

Die Musik begann nicht wieder.

Die Tänzer flohen von jeder Seite weg, wo der gespenstische Wanderer mit dem großen Windlichte daherkam.

Auch zu den wenigen noch besetzten Logen hinauf zischte man und erzwang Ruhe und allgemeine ängstliche Aufmerksamkeit.

Ein Nachtwandler! ging es mit flüsterndem Grauen[1426] durch die Reihen aller Anwesenden, die beklommen den Athem anhielten und nicht wußten, ob sie bestürzt sich entfernen oder das Ende dieses Zustandes und seine mögliche Entwickelung abwarten sollten.

Manche waren freilich so frivol gespannt, daß es ihnen das Liebste gewesen wäre, der Unglückliche hätte irgend ein gefährliches Unternehmen begonnen und eine Thatsache ihnen bestätigt, von der man allgemein wol viel erfährt, aber selten so günstige Gelegenheit findet, selbst von ihr etwas in Erfahrung zu bringen.

In diesem Augenblick schlug es voll vier ...

Der Nachtwandler horchte auf und lächelte ...

Er blieb stehen ...

Seine schützende Begleiterin war in Verzweiflung, weil sie nicht wußte, was sie thun, was unterlassen sollte.

Indem setzt der Nachtwandler seinen großen Leuchter auf einen Tisch, sieht sich nach der Uhr um, schlägt, als wenn er die acht Klänge der Uhr wiederholte, acht mal mit der Hand langsam in die Luft und beugt sich bald nach rechts, bald nach links, als suchte er etwas.

Dabei lächelt er ...

Dann nimmt er den Leuchter und gleichsam, als wenn er sich über Schlafende beugte, leuchtete er hin ... bald hier, bald dort ...

Die Begleiterin riß sich jetzt die Larve vom Gesicht;

denn die Thränen rannen ihr aus dem Auge ...

Alle starrten nach ihr hin ...

Niemand kannte sie ...

[1427] Dies Rathen und Forschen mehrte die Ängstlichkeit der Scene ...

Was thut er? Was bedeuten diese Bewegungen der Hände, als wenn er ein Kind schaukelte ...?

So sprachen die stummen Mienen der Umstehenden und forschten leise die weinende Fremde aus.

Diese verstand sehr wohl, daß der Unglückliche durch das Schlagen der Uhr an den alten Großvater Eisold in der Brandgasse und an dessen Urenkel, die Kinder, erinnert wurde und daß diese Gebehrde, die er in seinem träumenden Zustande machte, Scenen vorstellte, die sie oft zu ihrer innigen Freude erlebt hatte, wo der Bemitleidenswerthe auf milder, weicher und ihr zugewandter besserer Stimmung Abends kam, zu den schlafenden Kindern auf ihre Lagerstätten niederleuchtete und diesen eine gute von Engeln behütete Nacht wünschte.

Der Nachtwandler hielt das Licht und leuchtete auf den Boden und lächelte und die Flamme des Lichtes faßte bereits sengend seine eigenen zerfetzten Kleider ...

Hackert! rief die Fremde jetzt vor Schreck und der Gefahr des Verbrennens und in ihrem überwältigten Gefühle stürzte sie auf diesen zu, dem aber schon ein muthigerer Zuschauer die Lampe aus der Hand riß und auf den Tisch stellte und ihn selbst auffangen wollte, wie er eben in Louisens Arme sank und sich schaudernd besann auf Das, was ihm eben geschehen war und noch geschah ...

Alles kam näher; Alles wollte fragen, die Pein war furchtbar für Louise und Hackert, der sich in diesem[1428] Aufzuge unter allen diesen Menschen und in seinem Zustande sah ...

Glücklicherweise dauerte diese Folterqual für Hackert und Louise nur eine Sekunde.

Denn im Nu erscholl ein gellender markdurchbohrender Pfiff.

Man sah sich um.

Die Polizei umringte eben jenen Mann, der Hackerten mit raschem Entschlusse das Licht aus der Hand gerissen hatte.

Es war Dies ein gebeugter, älterer Mann, sehr fein gekleidet, mit dunkler Perrücke und einer großen schwarzen Binde über dem rechten aufstarrenden Auge.

Auch ein junges, allgemein gekanntes Mädchen, Namens Auguste Ludmer, wurde mit ihm zugleich verhaftet. Die große, bildschöne, schlanke Figur war so reich gekleidet, so mit Gold und Edelsteinen geschmückt, daß Alle starrten. Der Grund dieses überraschenden Zwischenfalls konnte Niemandem auffallen. Der Mann mit der schwarzen Binde hatte auf Kümmerlein's einfache Frage: Sie sind Murray? einfach geantwortet:

Ich bin Murray.

Ruhig hatte er sich in sein Schicksal ergeben, während Auguste Ludmer, genannt die Maler-Guste, sich wie verrückt gebehrdete, halb wüthete, halb lachte und Mullrich mit den Worten anredete:

War Das ein Pfiff auf einem von deinen Hausschlüsseln? Pechdraht du! Diebsschlosser!

[1429] Das Sträuben des schönen, üppig geformten, an die Statüen der Griechinnen aus dem Zeitalter des Alexander erinnernden Mädchens half ihr aber nichts. Zwei Agenten, die Mullrich und Kümmerlein zu Hülfe gekommen waren, führten sie fort.

Mullrich aber und Kümmerlein nahmen den Mann mit der schwarzen Binde, der sich Murray nannte, in die Mitte.

Er ging ruhig lächelnd.

Hackert schlich am Arme des armen Mädchens, Louise Eisold, die die entstandene Aufregung benutzte um Hackerten fortzuziehen. Sie ging still und unscheinbar. Sie hatte den seidnen rothen Mantel über dem Arm, die Maske in der Hand.

Die Tänzer, die Flöten, die Geigen, die Posaunen folgten.

Die Gaslichter erloschen.

Der Fortunaball hatte ein Ende.

[1430]
14. Capitel. Eine Morgenstunde
Vierzehntes Capitel
Eine Morgenstunde

Es war sieben Uhr Morgens, als Justizrath Schlurck mit seinem »guten Hannchen« am Kaffeetische saß und das Frühstück verzehrte.

Franz Schlurck war im seidenen, leichten Schlafrock, Johanna Schlurck in einer leichten Morgenrobe, über dem Haupte eine Dormeuse alten Geschmackes, jedoch neuester Mode. Die Spitzen lagen bis tief über die Stirn der klugen und besonnenen Frau, die heute den Kaffee lobte, weil – ihn Jeannette nicht gemacht hatte. Auch die Aufmerksamkeit des zweiten Mädchens, frische Blumen, die gestern Abend geschnitten, aber frisch benetzt heute früh schon um sechs Uhr auf dem Markte gekauft wurden, neben den Zwieback in einer Vase auf den Kaffeetisch zu stellen, lobte Hannchen Schlurck ausnehmend und stellte dadurch die Ruhe des Justizraths wieder her, die von der Nachricht, Melanie hätte eben der Mutter aus ihrem Schlafzimmer zugerufen, Jeannette wäre von ihr verabschiedet, etwas gestört schien.

Auch die Mutter hatte diese Nachricht ungern vernommen. Sie haßte alles Gewaltsame, alles Extreme.

[1431] Da aber Melanie einmal darauf bestand, mußte diese Anordnung so bleiben wie sie war.

Auf des Justizraths Einrede, daß solch verletztes Volk viel Gift und Galle verspritze, viel klatsche und austrüge, erwiderte seine Gattin, die ebenso gedacht, daß man wol, wenn Melanie's Zorn vorüberwäre, Jeannetten diesen oder jenen Beweis freundlicher Gesinnung geben könne, was Schlurck um so natürlicher fand, als er sich auch noch damit trösten zu können glaubte, daß Neumann mit der Zeit doch wol die Jeannette heirathen würde.

Jetzt wartete aber bereits eine andere unangenehme Nachricht. Man hatte Neumann, wie die Frau Justizräthin heute in aller Frühe schon erfahren, halbtodt von einem nächtlichen Balle heimgebracht und während noch die bedächtige Frau darüber nachsann, ob sie oder Bartusch dies neue unangenehme Ereigniß dem durch solche Bedrängnisse der nächsten Umgebung überaus leicht zu verstimmenden Gatten vortragen sollte, wollte dieser denn doch ein wenig genauer wissen, worüber die Jeannette nach dreijährigem Dienst so über Hals und Kopf aus dem Hause fort müsse? Er hoffe, sagte er, daß sie noch auf ihrem Zimmer wäre und nur verboten erhalten hätte, zum Serviren des Frühstücks herunter zu kommen ...

Sie ist boshaft, gefährlich und fügt sich nicht in Melaniens jetzt recht empfindlichen Charakter! sagte die Mutter.

Ja, ja, setzte Schlurck hinzu, Melanie ist seit kurzem wirblich und wunderlich geworden! Ich glaube, daß es [1432] Zeit ist, sie entschließt sich zu irgend einer Partie. Diese Tändeleien und kleinen Romane stumpfen das Interesse für ein Mädchen ab. Man muß nicht zu lange gefallen wollen und Alle blenden. Das Auftauchen einer hübschen Erscheinung sei wie das kurze Leben eines Schmetterlings! Weibliche Liebenswürdigkeit muß ein Ziel haben, die Ehe. Hernach kann sie sich ja noch einmal entpuppen und sehen, wie es sich in dieser Welt in anderer Form leben läßt. Die Ehe gibt ja erst die wahre Freiheit. Ich wünsche um so mehr ein Ende, als es Zeit ist, auch einmal über ihre Mitgift nachzudenken, die nicht groß sein wird.

Nicht groß? versetzte die Mutter etwas befremdet. Was verstehst du unter groß?

Ich habe Verluste gehabt, sagte Schlurck verdrüßlich, und werde deren noch mehr haben. Die Verwaltung der Hohenbergischen Güter ist in andere Hände übergegangen, die Administration der Johanniterhäuser wird mir auch noch genommen werden –

In Folge des Prozesses?

So wie so! Bei der Stadt bleiben diese Güter und Häuser nun schwerlich länger und der Staat würde ihre Nutzung ganz anders ausbeuten, als wir bisher. Man wird alle die milden Stiftungen, die auf sie angewiesen sind, wie früher unterstützen, aber den Ertrag wird man zu erhöhen, die Kosten der Verwaltung zu vereinfachen suchen. Brechen damit zwei meiner Hauptstützen zusammen, so wird die Wendung unseres Gerichtsverfahrens [1433] mir nicht einmal mehr den alten Credit als Sachwalter lassen; denn bei Einführung des mündlichen Verfahrens kann es nur den Rednern gelingen, sich einen Namen zu erwerben und ich bin kein Redner. Das Bischen Politik, das ich, angestachelt von den conservativen Vereinen und besonders dem verdammten Reubunde, getrieben habe, hat mich bereits mit allen meinen Arbeiten in Rückstand gebracht.

Das sind ja traurige Aussichten! Wir wollen uns einschränken ... sagte die Justizräthin seufzend.

Sprich das Wort nicht aus! antwortete Schlurck. Einschränken! So wie mich Mangel oder Sorge begrüßt, ist mein Lebensende da. Etwas entbehren, etwas gehabt haben und sich's nun versagen müssen, nein, liebes Kind, Das wäre mein Tod!

Du sprichst wie ein Verschwender, Schlurck ...

Der ich doch nicht bin, willst du sagen? Herz, wir haben keine Übersicht über Das, was wir besitzen und brauchen. Wir geben aus und geben, weil wir einnehmen. Plötzlich sich nun einrichten müssen, die Reflexion bei sich zu Tische sehen und mit der Weisheit soupiren, das Alles würde vielleicht äußerlich gehen, aber du würdest erleben, daß ich innerlich anfinge recht zusammen zu fallen und an einem stillen Herzweh hinzusiechen. Ich würde lachen, scheinbar heiter sein, aber den Ruck hätt' ich doch weg und eines Tages bliese mich ein kühler Abendwind von dieser schönen Erde weg.

Franz! Franz! Welche düstere Gedanken!

[1434] Frau Schlurck weinte fast.

Sie hatte ihren Franz lieb, als Charakter, als Gemüthsmenschen, wenn auch die Sage ging, daß der vorurtheilslosen Frau Bartusch näher stehen sollte. Weltmann, wie Schlurck war, ignorirte er alle Mysterien und hielt sich an das Offene, an das Nothwendige und Schickliche. Auch ihm war sein Weib so nöthig wie er ihr. Er hatte in ihr die mildeste Richterin und die bequemste Freundin. Sie duldete alle seine großen und kleinen Schwächen, nahm sie für gegebene Thatsachen und quälte ihn nie mit etwaigen Zumuthungen, sich zu ändern, in sich zu gehen oder dergleichen angewandter Moral, die er um so mehr ablehnte, als er oft sagte: Kind, es gibt ein Dutzend moralischer Systeme! Welches ist das rechte? Er liebte im Vollen zu leben, und sie rechnete nie, da sie reichlich von ihm empfing. Sie schonte selbst seine geheimen, kleinen Neigungen, von denen er nicht frei war. Gern hatte sie dabei freilich, daß er sich unter seiner Sphäre hielt. Der kleine Roman mit der Justizdirektorin von Zeisel, geborenen Nutzholz-Dünkerke, der sich unter ihren Augen in Hohenberg entsponnen hatte, überraschte sie unangenehm und doch hatte sie sich auch bereits in diesen gefunden.

Du hast gestern Nachmittag nach Plessen geschrieben? sagte sie, um ihm einen Beweis ihrer Güte zu geben.

Ja, antwortete Schlurck etwas verlegen; ich habe dem Justizdirektor eiligst angezeigt, daß Prinz Egon die Verwaltung der Güter selbst antritt. Ich habe ihm gesagt, [1435] er möchte auf seiner Hut sein vor dem neuen Generalpächter, einem gewissen Ackermann, der aus Amerika gekommen ist, um seine Dollars in allerlei agronomischen Experimenten zu verpuffen. Bis er völlig zu Grunde gerichtet ist, wird dieser anmaßende Sonderling viel Menschen zusammenhetzen und recht quälen können.

Du hast doch Frau von Zeisel gegrüßt? sagte die Justizräthin mit mildem und versöhntem Ton. Sie ist eine gute und liebe Frau, die uns wol einmal besuchen könnte? Meinst du nicht, Franz?

Schlurck war über solche Beweise von Güte leicht gerührt. Schwach, charakterlos wie er war, hatte er wirklich ein weiches Herz und fühlte nie unzart. Er sah scharf genug, daß ihn seine Frau mit ihrer frivolen Philosophie trösten und erheitern wollte ...

Du bist wehmüthig gestimmt über unsere finanzielle Lage, sagte er. Noch läßt sie sich aber ertragen. Wir nahmen viel ein, aber leider wir sparten nicht. Dennoch werd' ich Melanie, wenn sie endlich sich verheirathet, funfzehntausend Thaler sogleich baar mitgeben können und mich gern verpflichten, meinem Schwiegersohn jede Erleichterung zu gewähren. Viel größer, liebes Kind, ist nämlich nicht mein baares Geld, das durch den Fall der Papiere um die Hälfte im Werthe sank. Deine Zukunft, liebes Hannchen, sichert dir eine in dem Londoner »Janus« eingeschriebene Rente und die Gothaer Bank ...

Ich werde sie nie benutzen ... antwortete Madame Schlurck, die sich lange nicht von ihrem Manne mit liebes [1436] Hannchen angeredet gehört hatte und auch darin ein ominöses Zeichen sah ...

Nie! Nie! wiederholte sie gerührt und weinerlich.

Das wäre schlimm, Herz! sagte Schlurck jetzt wieder mit seinem gewöhnlichen Humor; soll ich London und Gotha reich machen, jährlich Gelder einzahlen in Kassen, die mir dann nicht einmal solvent würden? Nein, Kind, den Gefallen thu' ich ihnen nicht ... ich sterbe vor dir.

Frau Schlurck brach diese Gedankenreihe, die zu trüb' war und zu dem comfortablen Frühstück, der hellen Morgensonne und den Blumen in den Porzellanvasen nicht paßte, ab und knüpfte eine andere an.

Fünfzehntausend Thaler! sagte sie. Wer gibt auch jetzt mehr von seinem baaren Gelde einer Tochter mit? Bei den reichsten Familien erstaunt man über die geringen Summen, die die Schwiegersöhne baar in die Hand bekommen, und so viel weiß ich doch auch, daß der Credit jede baare Summe im Geschäftsverkehr verdoppelt.

Ganz Recht! Machte nur Melanie endlich Anstalten! rief Schlurck halb zufrieden, halb ärgerlich und sah dabei auf einige alte Papiere, die er unter den Zeitungen neben sich liegen hatte ...

Sie hat heute in aller Frühe schon geschrieben; antwortete die Mutter und legte die Papiere so, daß ihr alterthümliches Aussehen nicht die schöne Symmetrie und die Wäsche ihres Frühstückstisches störte; um fünf Uhr war sie auf und hier in den Zimmern. Um sechs schon mußte Johann einen Brief forttragen. Sie sagte mir nicht [1437] an wen? Aber Johann zeigte mir die Adresse: An Lasally.

An Lasally! Hm!

Ich glaube fast, daß sie sich entschließt, dem wirklich treuen Bewerber nun zuzusagen. Zwar in Hohenberg, wo sie sich einbildete, den Prinzen erobert zu haben, hat sie ihn kalt, fast zurückstoßend behandelt, allein Das ist noch kein Beweis. Die Parthie hatte nie deinen Beifall ...

Schlurck zog die Achseln.

Ein junger Mann, sagte er; von sehr reichen Ältern, zurückgekommen, aber im Reichthum erzogen, mismüthig, verstimmt, verlebt, halb bankerutt, ein Israelit ... ich muß gestehen, etwas Seltsameres konnte uns nicht begegnen. Aber aus dem ganzen Leben weiß' ich, nichts kommt so wunderbar wie ein Schwiegersohn. Man träumt von einem Gelehrten und es ist ein Soldat, von einem Pfarrer und es ist ein Schauspieler. Das menschliche Herz!

Die Mutter suchte mancherlei Günstiges für Lasally vorzubringen. Er wäre längst getauft, wäre gutmüthig, gefällig, oft edel denkend, nur etwas verwildert und ohne Erziehung. Auch sie begreife nicht, wie ihnen Das geschehen mußte, ihr schönes, gefeiertes, liebenswürdiges Kind gerade zu solcher Parthie hergeben zu sollen, aber ein nachdrücklicher Bewerber stellte sich sonderbarer Weise ja nicht ein. Was wäre da zu thun? Man würde Lasally's Finanzen verbessern und dann vielleicht die Gewißheit haben, daß gerade Melanie in dem lebhaften Treiben seines Berufes sich gefallen würde ...

[1438] Schlurck schüttelte ungläubig, verdrießlich den Kopf.

Sonderbar, sagte er, ich liebe Vieles, was gefährlich ist, nur nicht die Öffentlichkeit, und auch du bist bescheiden und zurückhaltend und dies unser Kind nimmt den Lasally vielleicht nur, um immer gesehen zu werden, immer von Männern umringt zu sein, sich auffallend tragen zu können, auf allen Parthieen und Corsos in der ersten Reihe zu stehen, zu Wagen, zu Pferde, wie eine Komödiantin ... ich begreife nicht, welche Geheimnisse in der Natur liegen und manchmal glaub' ich doch, daß es mit den Sternen etwas Eigenes auf sich hat. Wer weiß z.B., ob ich nicht da etwas in der Hand habe, was uns doch von der Nothwendigkeit, aus Melanien die Frau Stallmeisterin Lasally zu machen, vielleicht befreit?

In der Hand? Diese alten Papiere?

Die Sterne bringen mich drauf. Es gibt mondhelle Nächte, Hannchen, in denen die Geister geschäftiger sind als sonst. So könnt' ich fast den Wallenstein parodirend sagen. Du hast mir von der Verwechselung des Prinzen mit einem jungen, hübschen Manne, Namens Dankmar Wildungen, gesprochen; Bartusch erzählte mir Wunderdinge über Melanie's Gefallen an diesem Fremden ...

So lange sie ihn für den Prinzen hielt ... ergänzte die Mutter mit achselzuckender Bitterkeit.

Es wäre möglich, daß dieser junge Mann in die Lage kommen könnte, mit dem Prinzen Hohenberg nicht zu tauschen.

Wie? fragte die Justizräthin erstaunt ...

[1439] In seltsamer Aufregung war Schlurck aufgestanden, die alten vergilbten Papiere in der Hand, die er als die wichtigsten Dokumente aus dem im untern Studirzimmer befindlichen Schrein mit dem Kreuze zu sich hin auf genommen hatte ... Eben wollte er sich anschicken, seiner Frau eine interessante Auseinandersetzung zu machen, als ein Wagen an sein Haus rollte und er durch's Fenster blickte.

Was? rief er. Das ist ja Drommeldey's Wagen. Er steigt aus. Was will denn Drommeldey bei uns so früh? Ist Jemand im Hause krank?

Die Justizräthin errieth, daß der Sanitätsrath eben kam, um Neumann's ihm gemeldeten Zustand zu untersuchen. Einen nahegelegenen, gewöhnlichen Wundarzt hatte man schon in der Nacht gerufen ... Sie verwünschte den unangenehmen Zufall, daß ihr Mann nun doch etwas erfuhr, was man ihm verschweigen wollte. Da er aber diese Absicht sogleich merkte, drang er auf Wahrheit und ängstigte sich schon, es möchte Melanien selbst etwas begegnet sein, da sie zu lange ausbliebe. Nun mußte ihm seine Frau erzählen, was die Nacht geschehen war. Es berührte ihn das Alles höchst unangenehm. Die Nothwendigkeit, einen andern Diener für seine Pferde zu dingen, wenn auch nur für einige Zeit, ja auch einen Kranken im Hause zu haben, das Alles, sagte er, griffe seine Nerven an. Auch von moralischer Seite zeigte er sich heute empfindlicher als sonst. Er fand dies heimliche Auslaufen auf Bälle und auf nächtliche Vergnügungen [1440] abscheulich und als gar auf Hackert die Rede kam und die Mutter sagte: Neumann wäre eigentlich Recht geschehen, da es wieder Hackerten hätte gelten sollen! brach er in heftige Verwünschungen gegen alle Welt und die Seinigen insbesondere aus und polterte sich in diese Stimmung so hinein, daß Madame Schlurck bedacht war, sie rasch auf Hackert allein zu lenken und sagte:

Bartusch ist auch unverrichteter Sache aus der Brandgasse wiedergekommen. Fritz will Lasally's Prozeß abwarten und nicht von hier fort gehen.

Diese Worte hatte die eben eintretende Melanie gehört.

Melanie war im weißen Morgenkleide mit einem langen Kragen, der von den reizenden Schultern fiel. Obschon sie ihr Haar bereits geordnet hatte, mußte doch etwas Überwachtes, Gestörtes an ihr auffallen. Sie schien sehr erschöpft, fast hinfällig, fast leidend. In aller Ruhe bot sie den Anwesenden einen guten Morgen und setzte sich zum Frühstück.

Die Ältern waren erstaunt. War Das ihre heitre Melanie, die immer so sorgenlos hereinhüpfte? War Das der Schalk, der dem Väterchen um den Hals fiel und ihn herzlich küßte? Sprachlos sahen die Ältern auf diese feierliche Umwandlung und hörten mit seltsamem Befremden, daß Melanie, den Zwieback sich in ihren Milchkaffee brockend, ganz kurz äußerte:

Lasally läßt den Prozeß fallen. Das wird ja nun abgemacht sein.

[1441]

Schlurck näherte sich auf diese Worte. Sein Unmuth war vorüber. Voll Zärtlichkeit setzte er sich an die Seite seiner Tochter, faßte ihren Arm, von dem die weißen seidenschnurbesetzten Oberärmel herabglitten und fragte:

Mein Herzblättchen, was hast du denn nur?

Spracht Ihr nicht eben ... sagte sie stockend.

Von Hackert, leider von dem ewigen Thema unsres Hauses, antwortete Schlurck.

Eure Besorgnisse werden nicht mehr nöthig sein, fiel Melanie ruhig ein. Weiß der Himmel, es ist eine große Plage, die auf uns ruht; aber sie wird ein Ende nehmen. Lasally wird nicht so boshaft sein, diesen Gegenstand öffentlich zu machen. Ich habe ihm geschrieben und ihm bei Allem, was ihn noch an uns bindet, gebeten, die Vergangenheit ruhen zu lassen ...

Kind, du hast ihm doch keine Versprechungen gegeben? fragte Schlurck besorgt.

Warum? Werden diese Dinge nicht damit enden müssen, daß ich mich unter einen sichern Schutz und in ein festes Schicksal flüchte? Wessen Schuld ich so hart büßen muß, ... ich weiß nicht, ob es ganz die meine ist!

Diese Worte sprach Melanie mit großer schmerzlicher Bitterkeit.

Du wirfst mir vor, daß wir Hackert schonen? sagte Schlurck. Ich schone ihn, weil er gefährlich ist, Schlurck sprach Dies mit einer Miene, die es verrieth, daß er nicht [1442] im rechten Ernste sprach; – ich schone ihn, weil er in meinem Geschäftsgange manches Durcheinander beobachtet hat.

Melanie lachte höchst bitter auf.

Du bist erregt, sagte die Mutter zu ihr, ungemein besorgt. Schweig, Franz, wir wollen nicht mehr davon sprechen ...

Immer nicht sprechen, rief Melanie; immer nicht die Wunde berühren! Allmächtiger Gott, was bin ich doch unglücklich!

Damit stürzten ihr die Thränen aus den Augen ... Melanie weinte ... Sie, die die Thränen haßte, vergoß Thränen und ihre Ältern ... verstanden diese Thränen.

Nach einer langen, ängstlichen Pause sagte der Justizrath:

Die Schuld ist unser! Ich nahm ein Kind aus dem Waisenhause, weil ich Kinder liebe – und keins hatte. Ich wählte ein Findelkind aus Mitleid und erzog es wie mein eignes. Da schenkt mir die Mutter dich! Das Findelkind wird eine Stufe herabgesetzt. Ich erzieh' es für mein Bureau. Es ist anschlägig, aber voll schlimmer Eigenschaften. Wir achten ihrer nicht, weil wir das Vergnügen lieben und das Leben genießen wollen. Melanie und Fritz wachsen auf wie Geschwister und sind es nicht. Was dann später gekommen sein mag, was der schlimme, leidenschaftliche Bursche gethan hat ...

O! Franz! rief die Mutter vorwurfsvoll.

Melanie sah in die Tasse und stützte das schöne Haupt [1443] auf den linken Arm; der rechte spielte mit dem Löffel. Schlurck aber seufzte und sprach in sich hinein:

Es ist unsre Schuld ... und unser Kind muß uns vergeben.

Melanie war da gewiß nicht ohne Gefühl, wo es ihr nächstes eignes Empfinden berührte. Sie liebte ihren Vater, sie stürzte auf ihn zu, sie weinte und bedeckte ihn mit ihren Küssen.

Von diesem Augenblicke an schwiegen alle drei und ließen die sonst so stolzen Fittiche hängen ...

Endlich begann die Mutter:

Du wolltest von jenen Papieren sprechen?

Schlurck sammelte sich.

Er hätte gern ein Thema angeregt, das ihn oft beschäftigte, ob nicht eine bessere Entwickelung Hackert's eine Heirath zwischen ihm und Melanie möglich machte. Er wußte, daß er jedesmal mit Entrüstung abgewiesen wurde, er wußte, daß Melanie zitterte, wenn sie nur den Namen Hackert's nennen hörte. Er hatte vielfache Forschungen nach seinem wahren Ursprunge angestellt. Er hatte sogar einige Resultate, die er gern erzählte. Er zeigte gern den zerbrochenen Ring, der bei Hackert in dem Korbe, in dem man ihn am Waisenhause ausgesetzt hatte, gefunden worden war ... er schickte Bartusch oft in das Rathsarchiv, um in den hier gesammelten Registern der Gebornen und Getauften von der Stadt und der nächsten Umgegend zu suchen ... er hatte eine Vermuthung von einer heimlichen Geburt, die einmal unter sonderbaren [1444] Umständen einige Meilen weit von der Stadt vorgekommen war und betrieb längst unter dem Deckmantel der größten Behutsamkeit Nachforschungen aller Art, selbst in den höchsten Kreisen; ... aber er kannte den Widerstand der Frauen, die einmal glaubten, ein Vorhang müßte diese Vergangenheit für immer bedecken. Er liebte Hackerten, weil er anschlägig, talentvoll und so bizarr war, wie er selbst zuweilen sein konnte. Selbst daß der unerzogne Knabe von Leidenschaft für das ihm sorglos zur Gespielin gegebene Mädchen entbrannt war, fand er menschlich und ganz in seinem Geschmack. Er hatte wohl, als er erfuhr, daß Hackert Melanie als Kind zu den wildesten Streichen, zu Männertrachten, zu nächtlichen Spaziergängen, Maskeraden überredet hatte, im wildesten Zornausbruche ihn schon öfters aus dem Hause geworfen und fast mit Füßen getreten. Allein er nahm ihn immer wieder auf. Sah er doch, wie Hackert die Herrschaft im Hause hatte, wie er Melanie und die Mutter tyrannisirte, ja Allen nothwendig war! Später aber kam Ärgeres. Da Melanie heranwuchs, durfte er ihn nicht mehr dulden. Aber auch nun rührte es ihn, als er hörte, daß die dämonische, kranke Anlage des Knaben sich bis zum Nachtwandeln da steigerte, als Melanie in wachsender, jungfräulicher, kälterer Überlegung sich von ihm abwandte, ihn haßte und verabscheute und er dennoch nächtlich an ihre Thür schlich und vor ihrer verriegelten Schwelle auf dem nackten Erdboden schlief, ganze Nächte ihrer Rückkehr aus Gesellschaften wartete und sich in Sehnsucht [1445] um seine Halbschwester verzehrte ... er war gerecht genug, so etwas wie thatsächlich, ohne Einmischung persönlichen Mismuthes, zu beurtheilen und hätte sein eignes Lebensglück hingegeben, wenn er die leichtsinnigste Erziehung von der Welt durch feinere Ausbildung Dessen, der ihm so vielen Kummer machte, hätte wieder berichtigen und zu seiner eigenen Herzenserleichterung schließen können. Vergebens! Die Frauen sträubten sich immer dagegen und glaubten, alle diese Schwierigkeiten würden sich befriedigend lösen lassen, bis dann wieder die leidenschaftliche Liebe des verstoßenen, kranken, sich mishandelt fühlenden Pfleglings alle ihre Berechnungen durchkreuzte und Gewaltthätigkeiten veranlaßte, wie jener gestrige Überfall im Wagen war, dessen glückliches Gelingen an dem Übermaß gesteigerter Lebenskraft und entflammter, toller Freude, die wir bei Hackert beobachteten, wohl sich abnehmen läßt.

Gern hätte Schlurck diese höchst schwierige Angelegenheit in gewohnter Weise zur Sprache gebracht, aber seine Frau duldete es nicht.

Sie drängte nun um Das, was er aus jenen Papieren, die er auf den Tisch hingelegt hatte, für Melanie's Zukunft entnehmen wollte.

Was ist's mit den Sternen? sagte sie fast frivol; du schlimmer Patron, was soll's mit den Mondnächten?

Schlurck zog seine Brille auf die Stirn und sah in die Papiere ...

Ja, fing er an, wenn sich Alles so fügte, wie man hoffen [1446] möchte ... Melanie müßte die Frau eines Millionärs werden.

Laß Das Vater, sagte Melanie ruhig und gefaßt; Eure Millionärs kosten gewöhnlich ein Leben. Ich rüste mich in aller Duldsamkeit darauf, daß Lasally als Lohn für meine Bitte meine Hand begehrt und ich gebe sie ihm.

Ich beschwöre dich, sagte die Mutter; nur keine Übereilung!

Ich gebe sie ihm. Lasally ist der einzige Mann, mit dem ich mich über meine Vergangenheit und Zukunft verständigen kann. Er hat klare und vorurtheilslose Anschauungen. Er bedarf mich, er liebt mich, Das seh' ich aus seinem Schmerz, daß er mich nicht nehmen könnte, wenn ich kein Vermögen hätte. Nicht alle Männer sind darum nur Spekulanten, weil sie nach Vermögen heirathen. Das macht ihn in meinen Augen nicht geringer.

Aber Herzlieb! sagte Schlurck schmeichlerisch und tätschelnd. Was wird denn aus jenem jungen Mann in Hohenberg! Jener prächtige Dankmar Wildungen! Ich entsinne mich ja seiner – ei, ich sah ihn ja auf dem Heidekrug bei Justus dem Gerechten! Er ist ja schön, geistreich, unternehmend; Himmel, ein Gott von einem Mann!

Vater!

Kind! Wenn dieser Mensch mir sagt: Ich liebe Ihre Melanie, so sag' ich: Herr, ich wiege Ihnen das Wort mit einer Million auf! Diese Papiere lagen in dem Schrein, den der [1447] tolle Bursch sich anzueignen wußte und den ich auffinden sollte. Weiß er sie zu benutzen, Kinder, so bringen sie ihm alle die Güter und Häuser und Liegenschaften, um die jetzt der große Proceß zwischen dem Staate schwebt und der Stadt ...

Die Frauen waren im höchsten Grade erstaunt und Schlurck setzte ihnen den Zusammenhang auseinander.

Natürlich war die Wirkung eine außerordentliche. Melanie liebte Dankmar als Persönlichkeit, vergab ihm zwar nicht, daß er ein unendlich Geringerer war, als sie vermuthet hatte; vergab ihm nicht, daß sie ihm lächerlich erschienen war; vergab ihm nicht, daß er nicht kam und selbst um Verzeihung bat. Sie hätte ihn, aus Wuth über sich selbst, mit kaltem Blute »morden« können ... sie sagte das so hin zur Mutter, aber ... glaubte sie es selbst? Es war ein Act von Verzweiflung, wenn sie vorzog, Lasally's Gattin zu werden ... Dankmar hatte das Bild empfangen, der Amerikaner hatte ihr es gestern in diesem Hause gesagt, wie pünktlich er ihren stummen Auftrag vollzogen, als sie Hackert's Anblick unfähig machte, es selbst in das offene Zimmer Dankmar's hineinzureichen ... Zerrissen von der Vorstellung, nur misbraucht zu sein, nur getäuscht von den abscheulichen Männern, entrüstet darüber, daß man ihr gestern nicht zu Füßen sank, Niemand sich zeigte und sie wie eine Göttin anbetete, ewig und ewig der schaudervollen Möglichkeit ausgesetzt, von Hackerten gefoltert zu werden, wollte sie, wenn auch verzweifelnd, selbst das Äußerste wagen, um wenigstens [1448] von diesem frei zu werden, und Lasally nun erhören, wenn er auf die Bedingung bestand ... aber ihre Liebe gehörte Dankmarn.

Der Justizrath ließ sich vollständig über seine Beziehung zu Dankmar Wildungen aus, auch das Bild kam zur Sprache. Die Art, wie Melanie es gewonnen hatte, verbreitete, da sie nichts verschwieg, sogleich wieder die heiterste Stimmung. Als Melanie dabei nicht umhin konnte, erröthend zu gestehen, wie sie sich vielleicht entschließen könnte, ihren Zorn gegen Dankmar Wildungen zu mäßigen, wenn ...

Wenn er dir gesteht, daß er dich feurig liebt! unterbrach sie Schlurck. Und dir den Schein des Irrthums ersparte? Den Schein, dich lächerlich gemacht zu haben, als du ihn für einen Prinzen nahmst?

Das wird er nicht! Er wird mich ewig verspotten, sagte Melanie. Ich werde das Gelächter aller jungen Männer der Residenz werden.

Ah bah! antwortete Schlurck. Es kommt auf einen Versuch an. Wie die Dinge jetzt stehen, sind zwei Fälle möglich, entweder dieser Wildungen ist unser Freund oder unser Feind. Ein unternehmender, kecker Mann muß es sein. Kann ich Hand in Hand mit ihm gehen, so wird es einer kurzen Verständigung zur Freundschaft bedürfen. Dem, der um meine Tochter wirbt, Dem, der eingesteht, daß er mein Sohn werden könnte, geb' ich freudig die Mittel an die Hand, eine Million zu erwerben. Hat er aber Melanien's Freundlichkeit nur misbraucht, gehört er zu [1449] dem räthselhaften Complot, das sich mit der Zurückkunft des Prinzen Egon von Paris gegen mich zusammenzuziehen scheint, so zeig' ich ihm meine Stirn und einen Ernst, den er schon heute früh kennen gelernt haben wird ...

Man brachte dem Justizrath in diesem Augenblick ein kleines zierliches Billet.

Die Frauen wollten von diesem Kennenlernen seines Ernstes etwas wissen.

Aber Schlurck erbrach das Billet.

Es kam von der Geheimenräthin von Harder und lautete:

»Himmlischer Justizrath! Theuerste Freudesseele! Mit Zittern führe ich die Feder und danke Ihnen aus innigstem Herzen für Ihre Güte! Das Bild ist da und das Geheimniß von mir endlich entdeckt. Ich lese – die Memoiren der Fürstin Amanda von Hohenberg! Jeder Nerv meines Daseins zittert. Fühlen Sie es diesen Buchstaben nach, wie ich bebe! Aber auch der Dank meines Herzens ist ohne Schilderung. Sie braver, guter, herrlicher, edler Freund! Um sechs Uhr hatt' ich das Bild! Gott! Welch ein Moment. Das Äußere des Bildes geht zu den übrigen Geräthschaften, die heute noch, mit Ausnahme der Ihnen und dem Prinzen gehörenden Familienportraits, an den Hof abgeliefert werden. Verschweigen Sie Alles Ihrer Tochter, die höchst, höchst liebenswürdig war, Alles bezaubert hat und ein wahrer Engel, das Idol meiner Zärtlichkeit werden soll. Einen Kuß auf diese edle Götterstirn!

[1450] Wann seh' ich Sie? Bester! Bester! Dank! Dank! -Ihre Pauline.«

Schlurck, von den Frauen beobachtet, lächelte und runzelte doch wieder die Stirn.

Er fühlte, wie ernst das Alles wurde, wie furchtbar seine Verantwortlichkeit stieg.

Man drängte in ihn, etwas von diesem Brief zu er fahren, seine Geheimnisse zu durchschauen ...

Er wich aus.

Die Geheimräthin ist von deinem Erscheinen entzückt! sagte er.

Melanie wollte Das selbst lesen ...

Er bog den Brief um und zeigte ihr die Stelle, die ihr natürlich viel Freude machte.

Und das Übrige? fragte sie.

Geschäftssachen ...

Frau Justizräthin schüttelte den Kopf und seufzte leise.

Es schien ihr fast, als wenn auch hier das stark pulsirende, aber flüchtige Herz des Gatten mit im Spiele wäre. Sie wollte scherzen, aber Bartusch trat ein ...

Bartusch berichtete über Neumann, der wol ein Vierteljahr liegen könne, wie Drommeldey gesagt hätte, über Jeannette, die die Nacht bei ihm gewacht und ganz die Kokette verläugnet hätte und auf diese Art auch wol nicht aus dem Hause käme; zugleich auch über einen Kutscher, Namens Peters, der sich melde, um für Neumann einzutreten und unten warte ...

Schlurck's Erstaunen, wie doch auf jeden Verlust sich [1451] in diesem grausamen Menschenleben gleich ein Ersatz dränge, seine weitern Betrachtungen über Wiege und Grab und ähnliche Philosopheme, zu denen der sehr aufgeregte Justizrath geneigt war überzugehen, unterbrach Bartusch durch die trockene Äußerung:

Auch Herr Dankmar Wildungen ist unten. Es ist wirklich der junge Mann von Hohenberg, den wir für den Prinzen Egon hielten. Er fodert den Schrein mit dem Kreuz und scheint in einer sehr entschiedenen Stimmung zu kommen.

Schlurck mußte sich zusammennehmen.

Er wurde blaß und die Papiere zitterten in seiner Hand.

Die Frauen baten ihn, sich nicht aufzuregen.

Schalkhaft aber drohte er doch seiner Tochter mit dem Finger und sagte:

Wart', Hänschen, wart'! Wenn er nun sagte: Herr, Sie haben wie gegen einen Spitzbuben gegen mich verfahren! und ich antworte: Spitzbube du selbst! Du hast mir mein Töchterchen gestohlen! Was?

Vater, ich beschwöre dich! rief Melanie. Welcher Einfall! Was würd' er denken über einen solchen plumpen Antrag ...

Hm! Wenn ich aber nicht plump, sondern fein in meinem Antrage wäre – und der Trotzkopf sagte: Herr Justizrath, die Welt um Melanie!

Nie sagt' er Das!

So wie ich, sagt er's nicht! Nein, er sagt es schöner, inniger, als meine fahlen Lippen Das malen können ...

[1452] und ich böte ihm dann die Rechte und sagte: Schlagen Sie ein! Hinfort gehen wir, ausgerüstet mit diesen hochwichtigen Papieren da, Hand in Hand, junger Mann!

Melanie fing hier in einer Weise an zu lachen, daß man wohl sah, ein Herzenskrampf mußte sich Luft machen.

Sie lachte so anhaltend, so ängstlich, daß die Mutter in Sorge gerieth.

Melanie nahm die Blumen, zerzauste sie, tanzte im Zimmer, klatschte mit den Händen und riß, um sich nur helfen zu können, das Fenster auf und lehnte, Allen den Rücken kehrend, sich hinaus in die freie frische Luft, deren ihr krankhaft erregter Zustand wirklich bedurfte.

Schlurck, ergriffen von diesem Ausbruche der wahnsinnigsten Liebe, die Melanie für Dankmar gefaßt hatte, ließ die wichtigen Papiere in der Zerstreuung liegen und ging gefaßt nach jenem hintern Zimmer, von dem die Wendeltreppe hinunter zu seinen Arbeitsräumen führte.

Die Frauen aber und Bartusch, als sie Schlurck's seidenen Schlafrock nicht mehr rauschen hörten, folgten ihm behutsam, um von oben zu horchen, was man unten verhandeln würde.

[1453]
15. Capitel. Der Schrein
Funfzehntes Capitel
Der Schrein

Die Lauschenden vernahmen erst das Kläffen eines Hundes, das jedoch nicht aus dem Zimmer des Justizrathes selbst emporscholl, sondern aus dem vor ihm befindlichen und auf die Hausflur hinausgehenden Wartezimmer.

Dann hörten sie, daß der Justizrath Etwas zu rücken schien ...

St! sagte Bartusch. Er versteckt den Schrein mit dem Kreuze! Das eigentliche Mark, den Kern, die Blume hab' ich doch wol hier in Händen!

Er zeigte auf die alten Papiere, die er in der Hand hielt. Schlurck hatte sie liegen lassen.

Wieder bellte der Hund. Wieder brummte der Papa etwas Unverständliches, dann rückte er an den Stühlen, schloß das Fenster, stellte die Klingel auf dem Bureau zurecht und schloß nun erst von innen die Thür auf, um aus dem Vorzimmer die Besuche hereinzulassen ...

Ein noch gewaltigeres Kläffen war jetzt vernehmbar.

Bello, zurück! hörte man scharf sprechen und ein lautes Schreien des Hundes ließ annehmen, daß sein Besitzer [1454] oder sonst Wer ihn vielleicht beim Hals gepackt und in das Vorzimmer zurückgeworfen hatte.

Das ist das lahme Thierchen! sagte Melanie flüsternd;

weißt du, das ihm nachgefahren wurde. Es war nicht sein. Er pflegte es wie ein krankes Kind ...

St! sagte die Mutter. Er spricht!

Ja, er ist's, wisperte Melanie, es war seine Stimme!

Ihr Herz bebte ...

Ruhig, Fräulein! flüsterte Bartusch höflich, daß man hören kann, ... wenn's erlaubt ist.

Bartusch war in dem Grade mit den Angelegenheiten des Hauses vertraut, daß seine Anwesenheit hier eher gewünscht wurde, als hinderte.

Herr Justizrath! erscholl jetzt Dankmar's volle tönende Stimme, wollen Sie erst diesen braven Mann abfertigen, der sich melden will, für Ihren kranken Kutscher einzutreten?

Das hat Zeit, antwortete Schlurck sehr verbindlich, höchst geschmeidig und liebenswürdig. Was steht zu Diensten, mein Herr! Ich erkenne ja mit Vergnügen in Ihnen den jungen Mann wieder, den ich im Heidekrug so frei und treffend über die Politik reden hörte.

Umsomehr, Herr Justizrath, begann Dankmar mit plötzlich ziemlich starkem Nachdruck, umsomehr muß ich auf's Höchste entrüstet sein, daß ich in Ihrer Vorstellung für nicht viel mehr oder weniger als ein Spitzbube gelte ...

O! Urtheilen Sie nicht so rasch, mein junger Freund –

[1455] nicht wahr, Herr Dankmar Wildungen? sagte Schlurck sich zusammennehmend.

Dankmar und Siegbert heißen die beiden Brüder, fuhr Dankmar fort, die heute früh von einem Ball, auf den sie der Zufall verschlagen mußte, nach Hause kommen und sich unglücklicherweise von den singenden Vögeln, dem frischen, anmuthigen Anbruch des Tages, dem goldenen Lichte der Morgensonne verlocken ließen, statt um vier, erst um halb sechs Uhr ihre Schwelle zu betreten, die inzwischen von dem schändlichsten Attentate entweiht worden war ...

Ei, ei, ei, ei!

Zwei Hallunken, von denen ich nicht glauben kann, daß sie mit einer gesetzlichen Vollmacht erschienen, untersuchten unterdessen unsere Wohnung, erbrachen unsere Schränke, öffneten unsere Commoden und stahlen wie die Raben hinweg, was mit der Angelegenheit, wegen der sie zu kommen vorgaben, nicht in der geringsten Verbindung stehen kann ...

Was Sie in diesem Falle wieder bekommen werden, mein Lieber! Es ist unglaublich, was eine solche gerichtliche Requisition rasch geht. Sie waren gar nicht zu Hause, meine Herren? Sie sahen die Sonne aufgehen?

Schlurck that, als wär' er voll innigster Theilnahme und reizte dadurch Dankmarn nur noch mehr.

Ich stürzte, sagte Dankmar, in meinem gerechten Zorn über dieses Attentat zum Oberkommissär Pax und hörte dort zu meinem Erstaunen, daß Sie selbst, Herr Justizrath [1456] Schlurck, Sie, den ein glücklicher Zufall zum Finder eines mir zugehörigen Schreins machte, Sie, der Sie mich in den Zeitungen auffordern, mich zu melden, Befehl gegeben haben, gegen mich auf so abscheuliche, ehrverletzende Art einzuschreiten. Mein Herr, wie kommen Sie zu dieser Gewaltthat?

Bitte! Bitte! Nicht zu rasch! Sie verwechseln die Momente ...

Die Momente? Welche Momente? Zum Henker, Herr -Herr Wildungen – Ich – ich ersuche Sie, leiser zu sprechen, wär's auch nur des Hundes draußen wegen, der sich von Ihrem Lärm zu einem unaufhörlichen Accompagnement ermuthigt fühlt ...

Schlurck konnte sich nicht ganz bemeistern. Denn in der That Bello gab keine Ruhe. Das Thier schien außer sich, kratzte an der Thür und gebehrdete sich so unmanierlich, daß sich Dankmar selbst unterbrach und die Thür öffnen wollte, um Peters zu bedeuten, seinen Hund besser in Obacht zu halten ...

Ums Himmelswillen nicht, schrie Schlurck, machen Sie nicht auf! Die Bestie springt herein. Ich fürchte sehr, daß ich einen Kutscher, der so zudringliche Hunde hat, nicht brauchen kann.

Und an die Thür gehend, rief er in der Gegend des Schlüsselloches:

Gehen Sie, bester Mann, die Stelle ist schon vergeben! O! Herr Justizrath, sagte Dankmar gemäßigter, wie kann Das möglich sein? Im Gegentheil, ich ersuche Sie [1457] selbst, diesen Kutscher zu nehmen. Er ist brav, sehr ehrlich und Sie haben Etwas an ihm gut zu machen.

Wie so? Was? Ich gutmachen?

Es ist Dies jener arme Fuhrmann, der so unglücklich war, mir den Schrein zu verlieren, den Sie so glücklich waren zu finden. Ich gestehe Ihnen, nach diesem abscheulichen Attentat auf meine Wohnung, von dem wir später sprechen wollen, bin ich in der That begierig, zu hören, auf welche Art Sie zu meinem Eigenthum gekommen sind?

Eigenthum? sagte Schlurck lächelnd, aber schon mit ganz abgestorbener Stimme.

Die Anwesenheit jenes verunglückten Fuhrmanns von der Plessener Schmiede und des ihm nun plötzlich erinnerlichen Hundes war ihm, verbunden mit dem heftigen Tone des jungen Mannes, fast wie ein Überfall, und es gereichte ihm sehr zur Beruhigung, als er merkte, daß seine Leute vielleicht oben über der Wendeltreppe lauschten.

Mein verehrter Herr Wildungen, sagte Schlurck nach einer Pause der Sammlung und während auch Bello schwieg – man konnte annehmen, daß sich Peters mit ihm entfernt hatte – lassen Sie mich zuvörderst Etwas zu meiner Vertheidigung sagen. Sie kennen den Prozeß über die St.-Johannes-Güter ...

Ich arbeite selbst in ihm, sagte Dankmar.

Weiß ich jetzt. Um so mehr! ... Ich bin der Advokat der Stadt. Man schreibt mir, als ich in Hohenberg bin, auf dem alten Tempelhause in Angerode wäre von einem jungen [1458] Rechtsgelehrten ein Archiv entdeckt worden mit wichtigen Papieren. Herr Dankmar Wildungen, statt den Behörden davon Anzeige zu machen, eignet sich seinen Fund selber zu, läßt einen Schrein durch einen bereits gerichtlich vernommenen Schlosser erbrechen und reist mit seiner widerrechtlichen Aneignung in die Residenz. Der Schlosser gibt eine Beschreibung des Schreins. Selbst Ihre Mutter, die Witwe des Predigers Wildungen, kann nichts gegen diese Entdeckung den städtischen Behörden einwenden. Da macht mich der Zufall zum Zeugen jenes Unglücksfalles an der Schmiede zu Plessen. Ich sah einen zusammengestürzten Frachtwagen, dessen lose gepackte Güter abgeladen werden müssen, um den Wagen wieder herstellen zu können. Ich finde jenen Schrein, erkenne das genau angegebene Signalement, das Zeichen des Kreuzes mit dem vierblättrigen Kleeblatt, das Sie auch auf diesem Hause erkannt haben werden – ich lege Beschlag auf den Schrein, weil ich wußte ...

Gerichtlichen Beschlag?

Eine weitläuftige Prozedur war im Augenblick nicht möglich; denn am Morgen nach dieser Entdeckung fuhr ich von Hohenberg ab ... Verteufelter Hund! Gibt das Thier wol Ruhe?

Dankmar trat an die Thür und rief zum Schlüsselloch hinaus:

Peters, gehen Sie zum Teufel mit Ihrer Bestie! Sie stört uns! Der Justizrath wird Sie behalten, er muß es thun. Der Justizrath fühlt zu edel, um nicht zu begreifen, wie [1459] grausam er gegen Sie gehandelt hat. Er fand Ihren Verlust, freute sich des gelungenen Werkes und ließ Sie jammern, verzweifeln, blieb taub bei Ihren Klagen; arme Seele, er wird Sie schadlos halten. Gehen Sie auf die Hausflur hinaus und machen Sie dem Gekläff der Satansbestie ein Ende!

Darauf wurde es still.

Der Justizrath blieb in seinem künstlichen Humor und seiner erzwungenen Selbstbeherrschung.

Das muß ich gestehen! rief er. Sie wissen die Menschen in Angriff zu nehmen. Sie disponiren vortrefflich über mich! Entschädigung für die arme verletzte Seele eines Fuhrmanns! Wenn Sie darauf bestehen? Warum nicht? Ei! Sie gefallen mir ... Bravo! Bravo!

Sie aber, Herr Justizrath! sagte Dankmar mit schwächerer und wenn auch scherzender, doch sehr entschiedener Stimme; Sie gefallen mir noch gar nicht. Ich will Ihnen die glücklich bestandene Probe eines polizeilichen Entdeckungstalentes in Plessen an einer gewissen Schmiede verzeihen. Was geschieht nun, da Sie hier ankommen? Schickten Sie zu dem rechtmäßigen Besitzer Ihres Fundes? Oder hatten Sie den Namen vergessen, den Sie schon in Hohenberg wollen gewußt haben?

In der That hatt' ich Das! Ich ließ Sie in der Zeitung auffordern, sich zu melden ...

Zwölf Stunden vor dem Attentat auf meine Wohnung? Die Anzeige sollte eine Falle sein?

Die Anzeige war in der Frühe des gestrigen Tages in [1460] die Zeitungsbureaux gesandt worden. Inzwischen kamen von Seiten meiner Vollmachtgeber die ärgsten Anklagen gegen Sie und die erneuerte Nennung Ihres Namens. Sie arbeiteten selbst in diesem Prozeß! Sie kannten die Geschichte desselben und eignen sich durch Einbruch die Urkunden des alten Tempelhauses an!

Zum Henker, Herr, dies alte Tempelhaus ist die Wohnung meiner Eltern gewesen. Welches Gericht will mir verwehren, in meinen eignen vier Pfählen eine hohlklingende Wand zu untersuchen?

Hör' ich da den Juristen sprechen? Unmöglich! Gestehen Sie, daß Sie sich von dem Interesse, das Ihre Person, Ihre Familie an diesen Urkunden nehmen muß, haben verleiten lassen, eine unerlaubte Handlung zu begehen!

Meine Person? Meine Familie? Was wissen Sie –

Glauben Sie, daß ich den Inhalt des Schreines nicht kenne?

Sie haben ihn –

Wieder öffnen lassen, wie billig. War ich als Anwalt der Stadt nicht in meinem Rechte? Sie haben wahrscheinlich noch mehr entwandt ... dies Mehr mußte bei Ihnen gesucht werden ...

Dankmar schwieg, weil ihm die furchtbarste Aufregung die Worte raubte.

Der Justizrath setzte ruhig hinzu:

Die in Angerode gelegenen Besitzthümer der protestantisch gewordenen Johanniter sind eine Dependenz der hiesigen St.-Johanniskirche. Der Schrein mit dem[1461] Kreuz gehört zu unserm Archiv und wird in unserm Prozeß eine Rolle zu spielen haben.

Das hoff' ich! sagte Dankmar mit großem Nachdruck. Ich begreife nun vollkommen, daß man mir, einem Hülfsarbeiter dieses Prozesses, zugetraut hat, ich hätte mir eigenmächtige Eingriffe in den Gang desselben erlauben wollen ...

So ist es, Herr Referendar ...

Man gibt mir vielleicht Schuld, ich hätte im Interesse des Staates, dem ich diene, gegen die Stadt Etwas unternehmen wollen ...

Sie treffen das Richtige!

Aber Sie haben in den Papieren gelesen?

Geblättert ...

Entdeckten Sie meinen Namen?

Wildungen? Er ist seit dreihundert Jahren oft genug in diesem Prozesse genannt worden.

Fanden Sie nicht Urkunden, die Ihnen auf den ersten Anblick zeigten, daß ich ein sehr begründetes, persönliches Recht für meine Familie an diesen Akten gefunden habe?

Daß ich ... nicht wüßte ... stammelte unentschlossen Schlurck.

Nun, Herr Justizrath, ich hoffe Ihnen noch in Zukunft beweisen zu können, daß ich die entschiedenste Absicht hatte, nichts von meinen Entdeckungen zu unterschlagen, sondern sie zu einer ganz neuen Diversion der großen Streitfrage zwischen dem Fiskus und der Stadt-Kämmerei, [1462] zwischen dem Fürsten und den Bürgern, öffentlich zu benutzen!

Sie überraschen mich ...

Ihr Mistrauen, das Mistrauen Ihrer Clienten hat Sie zu weit geführt. Sie haben geglaubt, noch mehr Eroberungen aus dem Archiv von Angerode bei mir anzutreffen –

Allerdings ...

Ich fehlte darin, daß ich wußte, Sie haben meinen Schrein gefunden und nicht gestern schon bei Ihnen vorsprach –

Es erweckte Verdacht ...

Nun wohlan! So bitt' ich jetzt um zwei Dinge. Erstens –

Nehmen Sie doch Platz! Regen Sie sich doch nicht so auf, mein Verehrtester!

Erstens: Die Diener der hier so sonderbar eiligen Hermandad haben sich ein Bild, ein mir und andern Personen sehr theures Bild angeeignet ...

Das zum Angeroder Archiv gehörte?

Die Dummköpfe müssen Das geglaubt haben ...

Oder Ihre Instruction war zu allgemein. Was ist das für ein Bild?

Ein Bild, das einer Person gehört, die Ihnen selbst sehr theuer sein sollte, dem Prinzen Egon von Hohenberg.

Wie kommen Sie ...

Ich brachte es von Hohenberg ...

Ei! ei! Ein Bild! Geheimrath von Harder wird das vermissen. Sie wissen doch, daß ihm die Verlassenschaft der Fürstin Amanda nach der Residenz zu führen aufgetragen [1463] war. Doch thut Das nichts. Die Familienportraits, wenn es eins derselben war, bin ich beauftragt, dem Prinzen zurückzustellen.

Der Oberkommissär Pax, bei dem ich eben war, behauptet auch in der That, in dem Bilde eine Reclamation des Geheimraths von Harder entdeckt zu haben und schickte es Diesem zur Recognition ...

Es ist der kürzeste Weg, es in meine Hand und dann in die des leider erkrankten Prinzen Egon von Hohenberg zu bringen.

Aber Sie wissen nicht, daß sich an dieses Bild Geheimnisse knüpfen, die das Interesse der ganzen Hohenbergischen Familie betreffen. Sie sind der natürliche Anwalt dieser Interessen ...

Sie überraschen mich ...

Wenn eine unberufene Hand ...

Geheimnisse? Ein Bild? Fürchten Sie doch nichts!

Alles! Alles! Auf dies Bild hat im Auftrage der seligen Fürstin Amanda nur Ein Mensch auf Erden die gerechtesten Ansprüche, der ehemalige Erzieher des Prinzen Egon, der frühere Pfarrer Rudhard ...

Pfarrer Rudhard? Ich kenne ihn. Ich weiß, daß er hier ist, mit der Fürstin Wäsämskoi! Aber ich staune ... Der? Welche Ansprüche? Was ist damit?

O Gott! Jede Minute der Verzögerung, jeder Augenblick, wo dies theure Bild in den Händen einer Pauline von Harder ist, kann die Quelle ewigen Leidens für den Prinzen Egon werden ...

[1464] Ich zittere. Bester Freund, wie dank' ich Ihnen! Da soll eiligst – Aber geben Sie mir Aufklärung!

Rudhard soll sie Ihnen geben. Schicken Sie so gleich zu Herrn von Harder, fordern Sie alle Familienbilder zurück! Sie wissen nicht, welcher unsägliche Aufwand von Schalkheit, List und Charakter angewandt wurde, um dahin zu gelangen, wo wir jetzt uns befinden, an der Gefahr, eingestehen zu müssen, daß Alles vergebens war!

So schick' ich sogleich zum Geheimenrath! Warten Sie einen Augenblick!

Schlurck schellte.

Es kam ein Diener seines Bureaus. Er schrieb, während oben die drei Lauscher sich bedeutsam und hoffnungsvoll anlächelten, einige Zeilen an den Geheimenrath, siegelte sie, nachdem er sie Dankmarn hatte lesen lassen. Dieser war, eben so von der verlorenen Nacht, wie von den gewaltigen Eindrücken des Morgens, erschöpft und saß fast abgespannt im Sessel ... Schlurck wurde immer freundlicher und zuthunlicher. Seine Geistesgegenwart verließ ihn keinen Augenblick. Als der Diener sich entfernt hatte und Melanie durch die eingetretene Stille und die Erwähnung des Bildes, an dem sie so ernstlich betheiligt war, sich auf eine gemüthlichere und wärmere Wendung des Gespräches gefaßt machte, begann Schlurck:

Und nun: Ihr gefälliges Zweitens? Sie sprachen doch von –

Zweitens, sagte Dankmar, ich wünschte nun zu wissen, wo ich den nur mir gehörenden, in der Wohnung meiner [1465] Eltern gefundenen Schrein mit dem Kreuze und seinem wichtigen Inhalte wiederfinde? Wo ist er? Ich muß ihn haben ...

Der Justizrath machte hier eine große Pause.

Deutlich hörte man, daß er auf die Dose klopfte und sich zu einem vertraulicheren Gespräche rüstete.

Bello war still.

Melanie, die Mutter und Bartusch hielten den Athem zurück.

Lieber Herr Wildungen, sagte Schlurck, erholen Sie sich. Sie haben die Nacht durchwacht. Sie sind erschüttert von den Erlebnissen des Morgens. Ich gestehe, daß ich ungern dem Drängen meiner Clienten nachgab. Sie glauben nicht, wie reizbar über diese Angelegenheit die ganze Commune ist und wie leidenschaftlich sich einige der eifrigsten und hitzigsten Verfechter ihrer Interessen über die Angeroder Archiventdeckung und Ihr, läugnen Sie es nicht, eigenmächtiges Verfahren ausgesprochen haben. Sie frühstückten noch nicht, lieber Herr Wildungen, darf ich–?

Bitte! Bitte!

Ich freue mich wahrhaft, Sie wiederzusehen. Ahnte Das nicht im Heidekrug, als Justus so wohlbehäbig sein dummes Juste-Milieu auftischte und der kecke Handwerksgesell am Fenster schnarchte! Ahnte auch nicht, daß Sie meiner Familie so viel Liebenswürdigkeit erwiesen ...

O Herr Justizrath! Sie kehren die Rolle um. Ich bin der [1466] verpflichtete Theil. Man war sehr liebenswürdig gegen mich.

Nein! Meine Frau hat mir nicht genug erzählen können von Ihrer Artigkeit, Ihrer Zuvorkommenheit ...

Es ist sehr komisch, ja! Man war höchst charmant gegen mich. Nur Schade, man hielt mich für den Prinzen Egon.

Schlurck lachte überlaut.

Mein altes Faktotum, sagte er und griff in seine Dose, mein alter Bartusch will immer schlau sein und von dem vielen Ohrenspitzen wachsen die Ohren auch manchmal zu hoch und aus einem Fuchs wird ein Esel.

Bartusch zuckte oben, als er diese Anzüglichkeit hören mußte, mitleidig die Achseln.

Sie verwundete ihn nicht im geringsten, so laut sie auch Schlurck hervorhob, um sie ihm anzuhören zu geben.

Schlurck wußte, daß oben gelauscht wurde.

Ich hätte schon gestern Ihren Damen meine Aufwartung machen sollen, sagte Dankmar gelassener. Ich bitte, mich bei Ihnen zu entschuldigen. Sie waren sehr gütig gegen – gegen den Prinzen Egon.

Melanie biß sich auf die Lippen, was ihr immer ein sehr leidenschaftliches Ansehen gab.

Essen Sie heute bei mir! Was? Hm? Was? Wollen Sie? schmunzelte der Vater.

Ich danke ... war Dankmar's kalte Antwort.

Meiner Frau haben Sie's angethan, Herr Wildungen ...

[1467] und Melanie ... nun, Das werden Sie besser beurtheilen können. Sie haben Menschenkenntniß, Mann!

Worin?

Schlurck blinzelte mit den Augen.

Nun, sagte er mit künstlichem Lachen, ich versichere Ihnen, meine Frauen sind fast verletzt, daß Sie gestern nicht schon kamen. Ich lebe in zu dürftigem Zusammenhange mit den Meinigen – Hätt' ich Sie schon gestern wiedergesehen, wie leicht würde man sich verständigt haben! Ihr Feuer, Ihre Offenheit, das sind unwiderstehliche Sieger, die sich den Eingang zu jedem Herzen zu bahnen wissen.

Der Justizrath war dem jungen Manne, den er zu seinem Schwiegersohn haben wollte, so nahe gerückt, daß er ihm mit Vertraulichkeit auf die Kniee klopfen konnte.

Dankmar rückte seinen Sessel zurück und stand auf.

Herr Schlurck, sagte er, ich bedaure, daß ich nun für's Erste aufbrechen muß, um meinen Bruder zu beruhigen, der zu Rudhard geeilt ist. Wollen Sie mir nun nicht sagen –

Sitzen Sie doch noch! Ei was, zu den Geschäften ist noch immer Zeit. Referendar? Hm! Hm! Ein Bruder? Rudhard? Wie alt sind Sie denn, Herr Wildungen?

Vierundzwanzig Jahre, Herr Schlurck.

Vierundzwanzig Jahre! Hören Sie, da war ich noch nicht halb so weit wie Sie! Das heißt, an Witz und Verstand. Im Avancement freilich – Wollen Sie denn die Richtercarrière –

[1468] Bin noch unentschlossen, wozu ich mich ... doch genug, ich ...

Das geht so. In diesen Zeiten! Ja, ja, Politik, Das wäre ein Feld für Sie! Nur schlimm, daß man zuviel einsetzt, wenn man freimüthig sein will, und die Zeit ist nicht reif für uns; ein freimüthiger junger Beamter ist bald abgenutzt. Und dem loyalen geht's kaum anders. Man belohnt ihn mit dem Bewußtsein seiner erfüllten Pflicht. Der Teufel auch! Wär' ich jung, ich hielte mich immer links und nur Einmal paßt' ich auf den rechten Moment, um nach Rechts zu springen. Wetter! Warum lassen Sie sich denn nicht wählen? Von vierundzwanzig Jahren kann man jetzt ein Perikles sein und ich glaube, Pitt und Fox waren noch jünger, als sie in's Parlament kamen ...

Es gibt bessere Kräfte als die meinigen!

Also auch bescheiden! Bravo! Bravo! Wissen Sie, daß ich den Vorfall von heute früh recht bereue? Aber diese Fanatiker des Egoismus! Was haben sie mich gequält! In den Ohren lagen sie mir wie die Verzweifelnden. Ja! ja! Sie sollen bei den Gerichten in dieser Sache recusirt werden. Man will Sie entfernt wissen aus der zweiten Abtheilung des Obergerichts. Ja, ja! Das Alles geht vor ... Wissen Sie's schon?

Da ich bald selbst Partei in diesem Prozesse sein werde, so kann ich natürlich für eine andre nicht mehr arbeiten -ich finde Das in der Ordnung.

Selbst Partei? Wie so? fragte Schlurck gespannt.

[1469] Herr Justizrath, ich muß aufbrechen. Wollen Sie mir also nun nicht –

Ei, sitzen Sie doch! Ein Glas Champagner? Was? Sie waren auf einem Ball: da will der Magen eine Anregung. Es ist heiß. Dieser Hundstagssommer! Ich klingle – na? Ein Glas Madeira? Portwein?

Sie sind zu gütig, Herr Justizrath! Auch meine Nerven laufen nicht zum Feinde über. Sie bleiben mir treu und sagen: Danke!

O sehr fein! Sehr schlau! O ich wußte es ja! Melanie war entzückt von Ihnen ... Ja, Sie Tausendsasa! ... Meine Tochter zum ersten Male gesehen?

Zum ersten Male, Herr Schlurck. Ich sprach schon im Heidekrug bedauernd davon, daß ich nicht früher die Ehre hatte.

Im Heidekrug? War etwas verwirrt im Heidekrug! Ja! Ja! Ich besinne mich. Was war's doch?

Sie erwähnten Egmont ...

Aha! »Freudvoll und leidvoll«?

Nein! »Du wirst sie nicht verachten, weil sie mein war!«

Richtig! Geldermann-Deutz! Reubund! Nun weiß ich Alles ... Was doch Ideen-Association thut! Ja, ja, mein Töchterlein ... Etwas keck, wild, nicht wahr? Sie ist hübsch, sagt man. Sie hat's von der Mutter! Die schlanke Taille ist von mir; ich bin mager, spindeldürr. Aber eine Taille muß sein wie bei einer Wespe. Die Neigung zu compakteren Formen kommt erst in spätern Jahren, junger Mann! Wie sagt Heinrich Heine? »Kolossale Gliedermassen« ... [1470] oder wie? Ah! Es gab eine Zeit, wo ich meinen Heine auswendig konnte. Ein gutes Mädchen, besser als sie sich gibt, meine Melanie. Haben Sie sie reiten sehen?

Sie wollten im Heidekrug nicht, daß Ich von Fräulein Melanie als einer Amazone sprach.

Ah, ja! Ah, ja! Ich entsinne mich – Richtig! ... Nun, wissen Sie ...

Wahrscheinlich dachten Sie an Herrn Lasally ...

Das war's! Sehen Sie, Sie kennen meine Empfindungen ... Ja, dieser Lasally! Das ist auch so ein Thema, wo der Mensch ...

Mein Bruder bewundert Ihr Fräulein Tochter, wie ich es that, wie Alle!

Ihr Herr Bruder? Haben einen Bruder? Ja, ja, ich besinne mich; aber hören Sie, nicht Alle! Wozu Alle? Einer und der Rechte, der die Zügel kurz zu fassen versteht. Das wäre mir lieber ... ein Mann! Ein Eroberer! Ein rechter Held!

Herr Lasally! sagte Dankmar boshaft. Der versteht sich auf kurze Zügel.

Als Melanie diese Äußerung hörte, war es ihr, als drehte sich ihr das innerste Leben um.

Sie fühlte einen Schmerz zum Aufschreien.

Mit einem erstickten Ah! ließ sie die beiden andern Lauscher stehen und schlich sich halbohnmächtig hinweg.

Dieses letzte Wort war zu grausam gewesen. Schon die kalten Antworten, die Dankmar vorher gab, durchrieselten [1471] sie; aber dies letzte: »Herr Lasally! Der versteht sich auf kurze Zügel!« ging über das Maß Dessen, was ihr Stolz, ihre unleugbare Liebe ertragen konnte, hinaus.

Schlurck hörte oben eine Thür gehen und verstand, daß einer der Lauscher sich entfernt hatte ... wer anders, als der wichtigste, ihm wie sein Leben liebste ...

Sie gibt die Partie auf! sagte er zu sich selbst mit Schmerz; hier ist keine Freundschaft möglich, hier ist kein Bundsgenosse für mich!

Noch einmal versuchte er noch, an Dankmar's Herz zu klopfen. Noch einmal sagte er:

Heirathen Sie nur nicht zu früh! Ein junger Mann, der eine bedeutende Zukunft erstrebt, darf nicht in die Knäuel der Strickstrümpfe gerathen ...

Ich danke Ihnen, Herr Schlurck, antwortete Dankmar kalt, für diese Rathschläge, die ganz mit meinen eigenen Empfindungen zusammenstimmen. Mein Herz ist glücklicherweise derjenige Muskel meines Körpers, dem ich seit frühester Jugend, vielleicht durch zeitige Übung, eine große Kraft verlieh. Dieser Muskel besitzt viel Elastizität und ich habe ihn darin mit einem guten Magen auf eine Linie gestellt, ich fühl' ihn nicht zu lebhaft.

Ein Weiberfeind?

Geist und Schönheit können mich fesseln ... doch nur vorübergehend ... flüchtig.

Und diese Erfahrung machen Sie überall?

Bis jetzt überall! Ich habe einen zu kalten Verstand. Ich durchschaue zu bald die Eitelkeit und die Schwäche der [1472] Frauen, und wenn mich etwas entzückt hat und ich sehe dann, daß Das, was mich blendete, doch nur ein flüchtiger Schimmer ist und keine Grundsätze, keine Bürgschaften für die Zukunft geboten werden, und ich nun erst selbst, als Mann, ich Schwankender, ich Egoistischer, ich Grausamer, nur auf mich und meine Eitelkeit ohnehin Bedachter ... doch was verschwend' ich die Zeit! Der kleine Kläffer, Bello, mahnt schon wieder, daß wir ein Ende ma chen ...

Damit stand Dankmar auf und Schlurck wußte nun entschieden, daß er für Melanie nichts zu hoffen hatte.

Er wurde ernst und nahm sich zusammen und fiel in seinem Zorn erst auf Bello.

Sie haben Recht, das Thier ist unerträglich, sagte er, und schien zu erwarten, daß sich Dankmar empfahl.

Nun – sagte aber dieser staunend ... und der Schrein? Die Dokumente?

Schlurck antwortete kalt:

Sind im städtischen Archiv. Die Papiere werden bei den Akten figuriren.

In der That! Wirklich? O, Das ist seltsam!

Schreiben Sie diese Unannehmlichkeiten dem Ihnen wohlbekannten Gange der Gesetze zu!

Wer hat die Aufsicht des städtischen Archivs!

Einer unserer gefeiertsten Alterthümler, dem wir die treffliche Abhandlung über die allmäligen Veränderungen unseres Stadtwappens verdanken ... Propst Gelbsattel!

Dankmar stampfte zornig mit dem Fuße auf.

[1473] Er fühlte sich zu unglücklich über diese ihm unerwartete Wendung der Dinge.

Er sah den Schrein im Geiste geöffnet, die Dokumente, die für ihn und seine Familie sprachen, vernichtet. Wer konnte ihn schützen?

Sie sahen die Papiere nicht? rief er. Wissen nicht, daß ich in der Lage bin, Das, was etwa fehlen sollte, mit Aufopferung meines Blutes zurückzuverlangen und daß ich beschwören würde, Die, die etwa gewisse Papiere unterschlagen hätten, gehörten als Schurken und Bösewichter an denselben Pranger, der an der Ecke dieses Rathhauses durch eine eiserne Kette bezeichnet wird?

Ich weiß nichts, was Veranlassung zu so gewaltsamen Reflexionen gäbe; antwortete Schlurck kalt.

In furchtbarer Aufregung und wie von dem raschen Entschlusse, zu Gelbsattel zu eilen, getrieben, öffnete Dankmar die Thür, ohne ein Wort des Abschieds.

Bello, der längst schon mehre Mal wieder an die Thür des Vorzimmers gekratzt und sich nicht hatte beruhigen lassen, sprang nun wie wüthend in das Zimmer und faßte, ungehindert durch sein lahmes Bein, in grimmiger Verbissenheit die Zipfel von Schlurck's seidenem Schlafrocke, zerrte und kratzte an ihnen herum, daß der geängstete Justizrath im Zorn den in der Thür stehenden und die Mütze bescheiden in der Hand haltenden Peters anfuhr:

Die Bestie fort! Zum Haus hinaus! Zum Haus hinaus! Ihr Gesindel!

[1474] Dankmar stutzte, biß die Zähne zusammen und sagte zu dem verdutzten Peters:

Der Schrein ist verloren!

Bello aber, das treue, wachsame Thier, hatte eine andre Fährte, als dem menschlichen Organe möglich war. Schon zehn Jahre war das kleine Thier ein treuer Wächter auf den Güter-Wägen seines Herrn gewesen. Es schien den Duft von Angerode, ja den Duft des Strohes zu erkennen, mit dem man in Thüringen die Frachtgüter verpackt. Winselnd und wie lustig und ausgelassen kläffend war es in eine Nische des dunklen, nur von einem Hoffenster erleuchteten Zimmers gesprungen, hatte eine Tapetenwand fast umgeworfen und Peters schrie schon lachend:

Nichts verloren! Da ist das Kreuz!

Bello, ist's möglich? Rief Dankmar.

Aufgeladen! sagte Peters, der den vorigen ganzen Streit gehört hatte, zu sich selbst, und in demselben Augenblicke schon hatte der treue Fuhrmann sich gebückt, den Schrein gepackt, und war im Begriff, das gefundene Gut auf die Schulter zu heben.

Das war zuviel für den Justizrath. Er stand todtenbleich, hatte aber doch noch den Muth, rasch die Hand des Fuhrmanns zu halten ...

Dankmar sprang hinzu, riß den Deckel auf, griff in den Schrein, fühlte, daß er voller Schriften war, fühlte die Siegel der Pergamente und im Triumphe faßte er an, schleuderte den Justizrath zurück und hob den eroberten Schatz auf Peters' markige Schultern.

[1475] Schlurck war einer Ohnmacht nahe ....

Er klingelte. Bartusch fühlte, daß es Zeit war, ihm beizuspringen.

Er gab die allein wichtigen Papiere, die er in den Händen hatte, rasch der Mutter, die von Alledem nichts begriff und nur zu Melanie eilte, um ihr zuzuschreien: Schließ die Papiere ein! ... und stieg polternd die Wendeltreppe hinab ...

Ah! rief der Justizrath und athmete auf. Bartusch, Sie werden eine neue eigenmächtige Handlung des Herrn Wildungen bezeugen. Mein junger Mann, ich warne Sie ernstlich! Sie werden Ihre Vermessenheiten bitter bereuen!

Und Sie Ihre Lügen, Ihre Verstellungen, Ihre Heucheleien, Ihre Sittenlosigkeit! rief Dankmar, als Peters schon vorausschritt und mit der rechten, freien Hand seinen Bello liebkoste.

Welche freche Stirn! antwortete Schlurck, der die verletzenden Erfahrungen von gestern in seinem eignen Hause nicht wieder erleben wollte.

Die Stunde wird schlagen, sagte Dankmar noch im Vorzimmer sich umwendend, für Vieles, was schlummerte! Die Zeugen gegen Ihr Haus mehren sich! Die, die auf dem Krankenlager liegen, werden genesen! Die, die bei der Nacht wandeln, werden noch auf andre Namen, als den Namen »Fritz Hackert« erwachen. Das geweihte Kreuz auf dieser Truhe wird reinen Händen den Muth zu einem Kampfe geben, dessen Schlachten mehr erschüttern sollen als nur die Ruhe eines gewissenlosen Notars!

[1476] Damit ging Dankmar und suchte die Luft der Straße, um seine furchtbar klopfende Brust zu erleichtern.

Bartusch aber flüsterte rasch dem entfärbt und erschöpft in seinen Voltaire-Sessel sinkenden Justizrath zu:

Beruhigen Sie sich! Die Papiere, die doch der Rahm an der Sache scheinen, liegen ja oben!

O wären sie mit ihm gegangen! sagte Schlurck vernichtet. Wären sie in dem Schrein geblieben! Ich fühle mich nicht stark, solche Scenen zu ertragen! Ich bin kein Schurke! Ich bin kein Dieb! Weg von mir Bartusch! Weg! Weg! Ihr Alle seid mein Verderben! Meine Schwäche ist mein Elend! Ihr treibt mich auf schlimme Wege, die mir fremd sind. Ihr treibt mich in die Schande! Tragen Sie ihm die Dokumente nach! Fort! Fort!

Nimmermehr! rief Bartusch. Justizrath! Besonnenheit, Muth! Bedenken Sie, was der Propst sagen würde! Mann! Warum haben Sie Heimlichkeiten vor mir, vor Ihrem treuesten Anhänger, vor Ihrer linken Hand, wenn Ihnen die rechte zu müde wird, ja vor Ihrer rechten, wenn Sie mich schalten ließen und Farbe halten könnten! Justizrath! Justizrath! Wir unterschlagen diese Papiere! Wir vernichten, wir ver brennen sie!

Schlurck schwieg. Er war seiner selbst nicht mehr bewußt. Ein Bild stand vor ihm, das grauenhafteste, das Bild seiner Schande!

In Todesangst griff er nach seiner kalten Stirn und flüsterte:

Welche Bahn wandl' ich!

[1477] ... Ein guter Genius fügte nun aber Folgendes:

Peters öffnet schon das Thor und tritt mit dem Schrein auf die Straße. Dankmar liebkost den auf seinem lahmen Beine tänzelnden Bello und wirft im Gehen einen flüchtigen Blick auf die mit Bildern gezierte Treppe, die hinaufführte zu Melanie, zur Tochter eines solchen Vaters, zu ihr, der süßen, himmlischen Melanie; zu ihr, die im Mondenschein in seinem Arme lag! Zu ihr, die ihn noch in diesem Augenblicke wie ein Zauber umstrickte, trotzdem, daß sein sittliches Gefühl sie verläugnen mußte!

Da hört' er Geräusch, wie von einer leicht von einem Felsen herunter springenden Gazelle.

Er erstarrt ... Es ist Melanie!

Freundlich und holdselig, wie in Hohenberg, ruft sie ihm von den letzten Stufen, von denen sie sich herabbeugte, zu:

Sie böser, undankbarer Mann! Das Bild, das ich Ihnen mit so vieler Mühe erobert habe, ließen Sie sich wieder rauben. Ist Das wahr?

Melanie! sagte Dankmar stammelnd und sprachlos.

Hier, fuhr sie fort, hier, was ich Ihnen jetzt bringe, halten Sie Das fester. Gehört es nicht Ihnen?

Dankmar nahm, was sie ihm darreichte ...

Es waren, auf flüchtigen Blick sah er's, diejenigen Papiere, auf die in seiner Angelegenheit Alles, Alles ankam, die einzigen wichtigen, die entscheidenden Papiere!

Sein Schreck über die Möglichkeit, ohne sie gegangen zu sein, die Überraschung, Melanie nun wiederum als eine [1478] treue, aufopfernde, hingebende Freundin zu erkennen, wirkten so mächtig auf ihn, daß er sich nicht sammeln konnte und in ihrem Anblick verloren dastand ...

Nun, sagte Melanie harmlos, es sind doch die Ihrigen, Wildungen?

Wohl! Wohl! Wie soll ich Ihnen danken! stammelte Dankmar und griff nach ihren Händen, um sie beide zugleich zu küssen.

O! sagte sie, sich leise entziehend; lassen Sie's, sehen Sie diese Hände! Voller Staub! Voller Moder! Es ist meine Schuld nicht, daß Sie mir immer solche tolle Aufträge mit alten Bildern und Papieren geben. Sie! Lassen Sie!

O Melanie, wie tief beschämen Sie mich! rief Dankmar und gab die Hände nicht her, er küßte sie und drückte sie an sein Herz wie ein Verzückter.

Was wollen Sie denn? fragte sie mit Lippen, die ihr furchtbares Beben durch scherzhafte Laune vergebens zu beherrschen suchten. Grüßen Sie Ihren blonden Bruder! Lassen Sie sich nichts von ihm vorreden, was ich ihm für Sie aufgetragen hätte! Er ist nur eifersüchtig auf mich, weil ich den alten Professor Berg mit den schönen, weißen Locken mehr liebe als ihn und Alle – Euch Alle!

Melanie! rief Dankmar, mußte Das so kommen? Nach jener Nacht in Hohenberg? Die wenigen Tage sind wie Monden.

Er konnte sich nicht trennen.

[1479] Hüten Sie die Papiere besser wie das Bild! sagte Melanie. Was wird nun mit dem Portrait, das der schönen d'Azimont ähnlich sieht? Ja, die ist schön. Kennen Sie sie? Die sollten Sie sehen! Die würde Sie bezaubern ...

Ein, ein Bild nur, das Ihrige, Melanie, lebt in meinem Herzen! rief Dankmar und sah tief in die zitternden, braunen Augen des Mädchens.

Die Mutter sagte mir, Sie hätten dem Vater böse Dinge gesagt, fuhr sie fort. Versprechen Sie mir, ihm einige Zeilen zu schreiben und ihn um Verzeihung zu bitten? Wollen Sie Das? ... Sie zögern? ... Selbst Das nicht? Wildungen?

Melanie, ich will zu ihm zurück, ich will ihm zu Füßen fallen, ihm danken ...

Das nicht! Das nicht! Jetzt nicht! Sie schreiben ihm und bitten um Verzeihung? Thun Sie's meinem Kindesherzen zu Liebe! Ja? Weiter nichts! Nur Achtung, Schonung, nur ein Wort der Bitte um Verzeihung!

Ich thue es ... Melanie! rief Dankmar willenlos. Sie gehen? Sie bleiben nicht? Melanie? Sie steigen die Stufen hinauf ... Sie fliehen ... Immer eine Staffel weniger zu meinem Glücke und meine Seele folgt Ihnen? Melanie?

... Dankmar stand noch eine Weile, sich besinnend auf Das, was er erlebt hatte.

Melanie war verschwunden.

Tief erschüttert steckte er nun die wahren Beglaubigungen [1480] der Ansprüche seiner Familie zu sich und gab Peters, der am Thorwege wartete, ein stummes Zeichen, voranzugehen.

Er folgte schwankend. Er stand still ...

Er wagte aber nicht, noch einmal aufzusehen zu den Fenstern, wo diese Zauberin wohnte, die ihn so mächtig überrascht, so plötzlich auf's neue in den Bann ihrer Liebenswürdigkeit und Schönheit eingeschlossen hatte. Er bedurfte des ganzen Hinblickes auf die große Aufgabe, die er sich gestellt hatte, auf die neue und eigenthümliche Anwendung, die er im Interesse seines Vaterlandes und des ringenden Geistes der Freiheit und der Menschheitserlösung von dem gehofften glücklichen Erfolge seiner geltend gemachten Ansprüche auf ein großes Besitzthum versuchen wollte, um sich von diesen rasch aufeinander folgenden Schlägen des Schreckens und der Freude zu einem klaren Bewußtsein und der ihm eignen ruhigen Selbstbeherrschung wieder zu sammeln.

Schlurck aber, der sich mühsam die Wendeltreppe zu den Seinigen hinaufgeschlichen hatte und von der zornfunkelnden Mutter, von dem die Hände entrüstet zusammenschlagenden Bartusch, dann von Melanie selbst hören mußte, daß sein Kind soeben dem »abscheulichen« jungen Manne die Papiere übergeben hatte, deren ihm höchstwahrscheinliche Entscheidung ihm auch den zweiten Anhalt seiner heitern, bisher so sorglos gewesenen Existenz rauben mußte.. Schlurck zürnte nicht ... nein, er umarmte sein Kind, drückte es wie seinen Rettungsengel an's Herz, [1481] war sprachlos, zitterte vor Freude und konnte sich vor Wehmuth nicht mehr fassen ...

Die Mutter wollte verzweifeln, Bartusch wollte zanken ...

Melanie aber sagte:

Seid doch ruhig! Es ist noch nichts verloren ... Seht, der Vater weint!


Ende des vierten Buches. [1482]

Fünftes Buch

1. Capitel. Genesung
Erstes Capitel
Genesung

Einem regnerischen, unfreundlichen Spätsommer folgte ein milder, klarer, sonniger Herbst.

Die Septembertage ersetzten, was man vom August gehofft hatte, gemäßigte Witterung, linde Tage, erquickende Nächte.

Es hatte gestürmt wie im April. Nun war es fast, als ginge noch einmal der Mai über die Erde und das kalte, steinerne Thor des Winters würde sich noch lange, lange nicht öffnen. Man führte nun doch noch die fast aufgegebenen Reisepläne aus, man flüchtete wieder auf's Land zurück, man begrüßte die Gärten, die sich durch all die Regenschauer nur erfrischt hatten und noch aus Florens Blumenhorne reiche, bunte Spenden boten.

Sechs Wochen nach den auf den voranstehenden Blättern geschilderten Ereignissen, an einem Morgen dieser holden Septembertage, schritt eine schlanke, männliche Gestalt, blaß und hinfällig, am Arme eines andern jungen Mannes, durch die Gänge eines kleinen Parkes, durch dessen hie und da schon gelbes Laubwerk die Sonne mit der ganzen Wärme jenes Strahles brannte, an dem in [1485] gesegneteren Gegenden, als die, wo wir uns befinden, die Traube auf den Bergen ihre letzte Glut und Reife empfängt.

Kein Lüftchen regte sich. Käfer, die im feuchten August erstarrt schienen, erhoben sich zu neuem Leben. Selbst noch ein dunkelfarbiger Schmetterling hüpfte von einer der vollen Blumenglocken der schlanken Malve zur andern; denn in einer Seitenbiegung kam man aus dem kleinen Parke in einen Blumengarten. Hier und da stand ein Obstbaum und verbreitete den vollen würzigen Duft der reifenden Äpfel, den milderen, weicheren von Birnen, ja an der Einfassungsmauer der ganzen Anlage blickte aus dem dunkeln großblätterigen Grün eines Rebenspaliers sogar manche Traube, die für eine Pflege und Wartung lohnen und danken wollte, die das Spalier in diesem Jahre nur spärlich empfangen zu haben schien.

Der am Arme des Andern langsam schleichende junge Mann deutete erschöpft auf eine verwitterte steinerne Bank, die an der Grenzscheide des Parkes und des Gartens stand.

Hier mochte lange kein ruhiger Freund der Natur, kein so dankbarer Anbeter der Herrlichkeit Gottes in stillergebener Betrachtung verweilt haben.

Die Bank von einer Steinlehne bequem begrenzt, mit einem in diese Lehne gehauenen Wappen im Rücken geziert, war verwittert, vom Regen zerbröckelt, Moos überschimmelte sie wie eine flache Felswand. In der den Rücken zierenden Krone und ihren durchbrochenen Henkeln, [1486] wenn man wie Richard II. bei Shakespeare die Krone einem Eimer vergleichen wollte, stand noch Wasser, das die Luft oder der Stein so rasch aufzusaugen nicht die Kraft gehabt hatte. Der Gefährte des blassen Spaziergängers war auf diese Unbequemlichkeit gerüstet. Er trug ein großes Polster, das er nicht der Länge nach, sondern so in die Quere auf die Steinbank legte, daß der Ermüdete sich auch zugleich durch eine weiche Rücklehne erfreut fand, als er erschöpft vom Arme des Gefährten abließ und auf das Polster niedersank.

Ah, Das thut wohl! sagte der Leidende. Das ist kein Gefühl des Schmerzes mehr in den schweren Gliedern; Das ist die Lust und Wonne der Genesung!

Und zu seinem Gefährten sich wendend, setzte er in französischer Sprache hinzu:

Aber Louis – der Stein ist kalt für dich und hart ... Wir hätten das Kissen in die Länge legen sollen.

Damit wollte er aufstehen, stemmte sich schon an die Seitenlehne und hob sich mühsam in die Höhe.

Nein, nein, sagte der Andere in derselben fremden Sprache und hielt ihn nieder, während er sich neben ihn setzte; diese Steinbank ist für Gesunde, wie ich es bin. Ja und die kleine Erhöhung über uns, die Wappenkrone, ist ein Symbol, daß nun bald die Rücksichten der Gesellschaft an die Stelle der Freiheiten des Krankenzimmers treten werden. Laß es nur so!

Der Genesene ließ die großen, noch schweren Augen liebevoll auf seinem Gefährten ruhen, legte ihm die noch [1487] heißen Hände, in denen ein leises Zittern bebte, in die seinen und sagte, die blassen Lippen des schöngeformten Mundes mäßig öffnend:

O nie! Nie, mein Freund!

Sieh nur, betonte lebhafter der Andere, wie uns diese Krone auf der Rückwand trennt!

Es ist noch Regen in ihr, erwiderte der Leidende mit scherzender, aber mehr wehmüthig gemilderter Miene, sie schwimmt fort! Laß sie dahintanzen auf den Wellen des Lebens! Sinkt sie unter, ich lohnte dem Taucher nicht, der sie mir wiederbringt.

Sprich nicht zuviel, Egon! bemerkte sorgend der Gefährte. Genieße die linde Luft! Ziehe sie in deine Brust mit tiefem Athem ein! Sie wird dich stärken.

Egon gehorchte. Er war in jener gehorsamen Schwäche, die dem Genesenden so rührend steht ... Der Kranke widerstrebt. Lange währt es, bis er sich den Anordnungen Derer fügt, die aus Liebe zu ihm streng sind. Endlich schwindet in seiner gebrochenen Kraft das Bewußtsein, die Macht des Widerstrebens läßt nach, er muß sich gefallen lassen, was besorgt mit ihm geschieht; denn er weiß nicht mehr, was die Welt um ihn her bedeutet, seine Sinne schwinden. Endlich aber bricht der Lichtstrahl des Bewußtseins wieder durch die Nacht des schon drohenden Todes, das Leben faßt mit starkem Arme den Wiedergewonnenen und drückt ihn an's Herz und der Genesende wird ein Kind, ein neugeborenes, schwaches, hülfloses Kind, gehorsam und ergeben, sanft und duldsam, wie [1488] umgewandelt, wie neuerschaffen, jedes Gebot vollziehend, jeder Weisung gehorchend und gerührt ... über sich selbst!

Egon sah auf die Blumenbeete hinüber. Die Zeit der Rosen und Nelken war hin. Die Düfte hatten nicht mehr die süße Würze des Juli. Aber es waren noch Farben, die seinem Auge wohlthaten und durch allzu lebhaftes Colorit es nicht reizten. Er sog sich förmlich hinein in dies sichere, feste Leben der gesunden Natur. Jeder Luftzug berührte ihn wie die magische Gewalt eines Kusses, der alle Lebenskräfte des Menschen elastisch weckt. Die Sinne gewannen Kraft, das Gegenwärtige festzuhalten und von ihm auf die Vergangenheit zurück-, auf die Zukunft hinauszuschließen ... Welch ein Chaos! Welche unbekannte Länder, über die erst allmälig wieder ein heimatliches Licht fällt! Was ist da Alles gewesen! Was hat man erlebt oder nur geträumt? Was ist Erinnerung, was nur Phantasie? Die Kräfte des Geistes halten diese Thätigkeit noch nicht aus. Ermattet sinken die Schwingen wieder nieder und es ist dem Gedanken, als müßt' er sich auf die Flügeldecken eines Käfers setzen und nur, um sich erhalten zu können, mit Käfern, nur mit Bienen so fortsummen, als gehörte man, ein Nichts, in's große Ganze und könnte nur leben im zitternden Sonnenstrahl.

Es ist mir so, Louis, sagte Egon, als hätt' ich eines Abends mit einem Kopfschmerz, der mir das Bewußtsein raubte, an jenem Fenster dort gestanden – er zeigte auf das Palais – und dich ein Lied singen hören als Frage, [1489] ob ich daheim wäre? Du wolltest mich begrüßen, wie in Lyon, wenn du von Paris kamst und ich aus Louison's Armen auffuhr, horchend dem fernen Liede und der wohlbekannten Stimme des Bruders! Oder war's nicht das Gondellied, das wir damals auf dem See von Enghien sangen?

Die muthwillige Barcarole! antwortete Louis Armand. Ich glaubte nicht, als ich mir die verborgene kleine Thür dort aufschloß, deine Gestalt erblickte, das Liedchen anstimmte, dich erkannte und zu dir hinaufsprang über die kleine versteckte Treppe, daß ich dich fast bewußtlos antreffen würde und Alles wecken mußte und die Hülfe grade der Menschen ansprechen, die du von dir entfernen wolltest ...

Sind wir also wirklich doch in meiner Heimat? sagte Egon. Ja, ja, Das ist das Schloß meines Vaters – Das ist der Pavillon, über den ich gesprochen habe – wo? zu wem? O Gott ... wie schwer das Erinnern, wenn man sich fürchtet vor dem Vergangenen! Louis, mir ist so schwach, daß ich noch am Grabe Louison's zu liegen glaube. Ich suche die Kreuze und Immortellenkränze des Cimetière Montmartre. Führe mich dahin! Es wird mir schwer dies Erinnern!

Mein geliebter Freund, sagte Louis Armand und faßte Egon's Hand. Beruhige dich! Die Todten ziehen Niemanden nach! ... Sie gönnen uns das Glück dieser Erde, damit wir seine geringe Vollkommenheit erkennen und sehnsuchtsvoller einst dem Tode von selbst in's Auge blicken.

[1490] Sie ziehen uns nicht nach ... wiederholte Egon und schwieg eine Weile. Dann fuhr er sich mit streichelnder Hand über sein leidendes edles Antlitz und hielt lächelnd einige Haare hin, die ihm dabei in der Hand geblieben waren.

Immer mehr, immer mehr! sagte er schmerzlich. Auf der Stirn sieht es herbstlicher aus als unter diesen Bäumen und Blumen. Sieh, wieviel Laub wieder in der Hand geblieben! Da! Noch mehr! Noch mehr! Ich sah mich gestern im Spiegel ... Ich habe Mitleid mit mir selbst und könnte um mich weinen.

Ein Nervenfieber, sagte Louis, nimmt viel vom alten Menschen mit und gibt dafür einen neuen wieder. Selbst wenn deine Stirn so hochgewölbt bliebe, würde sie jetzt erst recht die Stirn eines Denkers scheinen. Allein die gütige Natur nimmt nur die Zeugen deines Leidens mit und gibt dir bald die Begleiter neuer Freuden.

Und wenn sie nicht kämen? fragte Egon lächelnd, doch besorgt um sein Äußeres, das man bisher schön genannt hatte ...

Sie kommen, sie kommen! tröstete Louis. Freilich ... wer weiß, ob Alle, die dich lieb haben, auch gerade die Stirn des Denkers an dir lieben.

Louis sprach diese Worte ernst und voll Kummer.

Egon seufzte. Er verstand sie wohl. Sie bezogen sich auf Helene d'Azimont, deren Charakter man nur halb würde begriffen haben, wenn man hätte glauben können, daß diese stürmische, liebeglühende Seele es ertragen [1491] hätte, so ganz von Egon's wiedererwachtem Bewußtsein ausgeschlossen zu bleiben ...

In der ersten raschen Entwickelung der mit großer Regelmäßigkeit vorübergegangenen Krankheit hielten die vereinten Anstrengungen der Ärzte und des treuen Wächters Louis Armand Helene d'Azimont fern; bald aber, mit den ersten in das freiwillige gesellschaftliche Exil, das sie sich auferlegte, hereinbrechenden Hoffnungsstrahlen ruhte sie nicht länger und bot jede List, jede Berechnung auf, um sich Egon zu nähern, sogar sein Krankenbett zu erstürmen und sich die Sorge für sein Leben ausschließlich anzueignen. Das Letztere mislang ihr freilich. Louis hütete den Fieberkranken mit der Treue eines Hundes. Er schlief auf einer Matratze zu seinen Füßen, ließ nichts in Egon's Hände kommen, was nicht vorher von ihm untersucht war, und wurde darin von den strengern Ärzten unterstützt ...

Drommeldey, der ärztliche Rathgeber der vornehmen Stände, hatte wol sonst eine mildere Ansicht. Man hatte auch Sorge getragen, ihn mit der d'Azimont sogleich bekannt zu machen; allein so rührend sie zu bitten verstand, bis zu einem gewissen Zeitraum, der seinen Anordnungen zufolge erst heute eintreten sollte, duldete auch Drommeldey keine Aufregung seines Patienten. So blieb Helenen nichts übrig, als sich jenem Rafflard anzuvertrauen, dessen Ankunft in dieser Stadt sie mit so vielem Misvergnügen bei Paulinen von Harder vernommen hatte ... Wahrhaft erstaunt mußte sie sein, als dieser vertraute [1492] Freund ihrer Schwiegermutter sich ihr selbst näherte und ihr die innigste Theilnahme für ihr Leiden zu erkennen gab. Von einer Prüfung seiner Absichten war keine Rede; denn er nahm ihren Schmerz für vollkommen begründet hin und weinte selbst über ihre Thränen. Sie faßte zitternd seine Hand. Rafflard, der geheime Jesuit, küßte die ihrige und sogleich war er mit in das Complot gezogen, das ihre vereinten Geisteskräfte geschmiedet hatten, um Egon nun zuvörderst die Nähe der Geliebten zu verrathen. Rafflard bot ihr darin jeden Vorschub. Man bestach alle Diener des Hauses. Rafflard setzte sich vorzugsweise mit den Wandstab ler's in Verbindung und so war denn bald einmal eine Blume auf die grünseidene Decke von Egon's Bett geworfen, die seine Gedanken verwirrte, bald ertönte in den entlegenen Zimmern des Palais der Klang einer Harfe, die Helene mit einiger Virtuosität zu spielen verstand. Egon erfuhr zuletzt von Louis Armand selbst die Anwesenheit jener schönen Frau, aus deren Armen er sich in diesem Frühjahr auf der reizenden Villa von Enghien gewaltsam losgerissen hatte. Er seufzte. Das Übermaß ihrer Liebe schien ihn nicht zu beglücken. Es kamen Briefe mit einer unverfänglichen, geschäftlichen Außenseite ... man erbrach sie harmlos; sie waren von Helenen. Als sie die Überzeugung gewann, daß diese Briefe gelesen wurden, gab sie jeden Morgen ihrem Geliebten das Tagebuch ihrer Sehnsucht und Beobachtung des kalten steinernen Palastes, der ihr so grausam noch den Angebeteten entzog.

[1493] Ein solches Blatt überreichte Louis seinem Freunde auch heute.

Egon nahm es mit gelassener Miene. Er hielt das aus der Enveloppe genommene zierlich duftende Papier mit feinen Arabesken und der gemalten Krone und den silbernen Buchstaben H.d'A. lange in der Hand, ehe er sich entschließen konnte, es zu lesen.

Wenn ich dem Leben erhalten bleibe, sagte er nach einer Pause ernster Betrachtung, wie soll ich mich mit diesem Verhältnisse zurecht finden!

Geliebt zu werden, sagte Louis, ist wol nur dann eine Last, wenn man nicht wieder liebt.

Wie soll ich das Gefühl nennen, das mich an diese Frau fesselte! fuhr Egon fort. Seit dem Tage am See von Enghien, wo Louison ihren Tod, wenn er einmal beschlossen war, glücklicher gefunden hätte als nach meiner Untreue; welche Umwälzungen meines Innern! Ich floh, um meinen Erinnerungen zu entrinnen und sie überholen mich und lassen mich nicht wieder los. Das sind die Erinnyen der Fabel.

Man muß, sagte Louis mit Fassung und ohne die geringste Zurückhaltung zu Nutzen seiner eignen Ansprüche auf Egon, man muß den Lauf der Natur in seiner Bahn nicht unterbrechen. Mismuth über eine verkehrte Erziehungsmethode, die angedrohte Rache eines frühern Lehrers treibt dich von Genf abenteuerlich in die Welt hinaus ...

Glaubst du, unterbrach ihn Egon, daß ich Rafflard's [1494] Bosheit fürchtete, der sich bei meinem zweiten Aufenthalte erinnerte, daß er wegen meiner und eines heimlich mir zugesteckten Casanova die Anstalt des Herrn Monnard verlassen mußte? Deshalb, weil ich ihn an der offnen Tafel des Syndicus Lhardy einen heimlichen Jesuiten genannt hatte, deshalb allein wäre mir der Aufenthalt in dem kleingeistigen, beschränkten, spießbürgerlichen Genf unerträglich geworden? Ach nein! Es war der Zug nach einem kräftigen Wettkampfe mit dem Schicksal, der mich auf die Wanderschaft, hinauf zu den blauen Höhen des Jura trieb..

Ich schließe mich auf der Landstraße, ergänzte Armand, dem Wanderer in der Blouse an, heimkehrend von einem Ankauf von Nußbaumhölzern in Poncin, und nehme dich als Zeltkameraden in meine bescheidene Hütte, wo meine Großältern, meine Ältern, Verwandte, erinnerungsreiche Menschen, eine Schwester mit mir leben! Du ergreifst die Axt, die Säge, ja führst sogar mit deiner zarten Hand den Hobel und ich glaube, daß du der Sohn eines Kaufmanns in Deutschland bist, verfolgt als politischer Verbrecher. Wie hab' ich dich, eingedenk meiner Großältern und ihrer Schicksale, verborgen gehalten! Wie gezittert, die feige Politik unsrer Regierungen würde dir eins der heiligsten Menschenrechte, das Recht des Asyls, versagen! Wie glücklich war ich, daß du wie wir die Einsamkeit liebtest, die kleinen Freuden der Armuth theiltest, so vollendet dich auf französische Sitte und Sprache verstandest, daß das argwöhnische Auge der [1495] Polizei dich nicht entdeckte und dich für einen Schweizer nahm ...

Und dennoch ...

Nein, nein, klage dich nicht an! Ich habe dich gehaßt, Egon, als Franz Rudhard, wie du dich nanntest, die Liebe meiner Schwester, seine eignen Schwüre vergessen hatte. Franz Rudhard, so standest du vor meinen Augen! Den rauhen Namen hattest du dir von deinem ersten Erzieher gegeben, den du liebtest..

Franz Rudhard! sagte Egon lächelnd, leise das gebeugte Haupt schüttelnd ...

Louis, der mit den Gebrüdern Wildungen während seiner Wacht an dem Krankenlager nur in geringe Beziehung hatte kommen können, wußte wol kaum davon, daß Egon's alter Lehrer, von dem er in Lyon den Namen geborgt hatte, ihnen inzwischen wieder so nahe gerückt war.

Der Alte lebt noch in Odessa! fuhr Egon fort. Ich nahm diesen Namen, weil er in meiner Erinnerung mit einem stillen, häuslichen und bescheidenen Frieden der Familie im Zusammenhange stand. Als ich in euer Haus trat ... der verfallene Thorweg ... das niedrige Dach ... die Blumenterrasse ... die Ziege, die eben auf ein Bruchstück alter Römermauer geklettert war ... und Louison, die ihr nachkletterte und sie mit keckem Griff an den Hörnern herunterlenkte ... fort von ihren jungen Kürbissen und Melonen, die sie auf der Mauer pflegte und zog ... der freundliche Gruß des Vaters, der im Hofe arbeitete ... das [1496] prüfende mistrauische Grüßen der alten sarmatischen Großmutter, der Jagellona, einer gebildeten, noch aus Kosziuszko's Zeiten stammenden Polin.. sie thronte wie eine Zauberin unter dem Dache eines Feigenbaums, der eure Wohnung umwand, auf einer steinernen Erhöhung und klöppelte mit der alten Tante, einer Deutschen, ihrer Schwägerin, Teppiche ... von dieser wunderbaren Familie ergriffen, gehalten von deiner Freundschaft, geblendet von Louison, nehm' ich für die Nacht vorlieb auf einem Sack von Maisstroh als Lager ... es ist ein Sonnabend ... am Sonntag begleit' ich Louison schon in die Kirche ... Sie zeigt mir in der Frühe den Reliquienschrein der heiligen Märtyrer in der Kathedrale ... am Abend holen die Nachbarinnen sie ab und wir wandern nach der Croix-Rousse auf die Chaumière ... schon am zweiten Sonntag hatt' ich einen Blumenstrauß von ihrem Hut gewonnen ... am dritten lohnte sie mich nicht mehr für meine Liebe, sondern nur noch für meinen Fleiß ... wir müssen uns beherrschen, sagte sie, arbeiten, Glück verdienen ... ich arbeitete, um den ersten Kuß zu verdienen ... ich arbeitete, um drei Küsse zu verdienen ... ich arbeitete ...

Bis du sie ganz gewannst und sie ohne des Priesters Segen dein Weib war, fiel Louis ein.

Beide schwiegen erschüttert ... Ein schwarzer verspäteter Schmetterling, den die Knaben am liebsten haschen, obgleich er der Trauermantel heißt, setzte sich eben auf das Papier in Egon's Hand.

Als der bunte Sommervogel zu den Blumen entschwebte, [1497] war es ihnen, als hätte sie die verwandelte Seele Louison's begrüßt ...

Ich klage dich nicht mehr an, mein Freund, sagte Louis. Du hattest uns getäuscht, aber auch dich selbst. Schon als wir von Lyon zur Erweiterung unsres Geschäftes nach Paris zogen und von Jagellona, der Tante, ja den Ältern selbst die Grabeshügel zurücklassen mußten, war die Erkenntniß über dich gekommen, daß dir die Kraft fehlen würde, diese Rolle länger fortzuspielen ...

Keine Rolle! rief Egon. Nie, nie hab' ich daran gedacht, daß ich jenen arkadischen Schäfern von Navarra nachahmen wollte, die sich in Schäfer nur verkleideten. Ich war so mit mir einig, als Franz Rudhard in Paris zu wirken, meinen deutschen Beziehungen zu entsagen, daß ich es der Mutter kurz vor ihrem Tode nach Hohenberg schrieb und für immer von meinem vergangenen Leben mich lossagte.

Eine Schwärmerei, sagte Armand, von der dich die Fahrt auf dem See von Enghien heilte! Jene weichen Arme der Liebe öffneten sich, für die du geboren bist! Damals, als ich noch glaubte, dein Name wäre Franz Rudhard, hätt' ich dich morden können, daß du die Schwester verließest, die dir Alles geopfert hatte. Sie hielt mich zurück, sie hoffte auf deine Wiederkehr. Sie hoffte, bis der Thau der Nächte ausblieb und die Blume keine Thränen mehr hatte. Sie verwelkte. Ich erhalte einen Auftrag für eine Villa in Enghien, ich soll zu einem Tempel der Freude und des Glückes den Schmuck, die Vergoldungen [1498] und Spiegel zaubern, ich komme in das Boudoir jener Frau, wo Louison einst in deinen Armen sich von dem Unglück einer Wasserfahrt erholte ...

Schweige, Louis, schweige! rief Egon.

Und Louis, erschreckend über sich selbst, fiel rasch ein:

Vergebung! Vergebung! Was beginn' ich mit einem Kranken! Der Schmetterling auf diesem Papiere war das Bild der Versöhnung und ich hatte dir ja auch nur zu sagen, Egon, daß ich um Egon's willen Franz vergab. Schon als du uns verlassen hattest, ahnten wir deinen höhern gesellschaftlichen Ursprung, aber als ich auf dem frischgeschaufelten Grabe Louison's erfuhr, daß du ein Prinz bist, Sprößling eines vornehmen Hauses, daß du aus Liebe zu dieser Todten, aus Liebe zu dem bescheidenen Leben der Armuth, aus Hingebung an die große Sache der Arbeit, deinem Stande, deinen Titeln, allen Vortheilen deiner Geburt drei Jahre entsagen lernen, arbeiten konntest ... o, Egon, und wenn die Grabeshügel der Ältern auf den Tod meiner Schwester erst gefolgt wären, statt daß sie ihr vorangegangen, wenn das Herz des zu seiner Sphäre zurückkehrenden Jünglings mir das Leben der eignen Geliebten geraubt hätte ... wer weiß, ob ich nicht vergeben hätte um dieses heroischen Entschlusses willen, um eine That, so einzig und groß, daß ich alle eigenen Schmerzen vergaß und dein blieb, Egon, um der Sache des Volkes und der Menschheit willen!

Und ich verspreche dir, sagte Egon feierlich, daß diese von Patschouli duftende Verlockung – er zeigte dabei auf [1499] das noch ungelesene Papier – mich nicht aus der Bahn entfernen wird, auf der wir uns wieder begegneten und dein reines Herz meiner elenden Schwäche vergeben hat!

Geliebt zu werden ist süß! warf Louis ein, um die Selbstanklage Egon's zu mildern.

Ich sehe rathlos, fuhr Egon fort, auf die schmeichelnden Worte, die ich nun seit acht Tagen von dieser Unbesonnenen erhalte, die mir von dem Herzen Frankreichs hierher nachreist und an eine Trennung unserer Wege nicht zu denken scheint! Ich zittre vor dem Wiedersehen. Es ist etwas in mir, das mir sagt: Louison's Schatten verlangt die Sühne der Trennung von Helenen ...

Nein, nein, fiel Louis ein, Louison's Schatten ist gesühnt durch unsere Versöhnung an ihrem Grabe. Hätte sie geahnt, was du ihr zum Opfer brachtest, wer weiß, ob die Vernunft nicht Trostgründe geboten hätte, die heilend wirkten. Man soll nicht Liebe von sich stoßen; nie! nie! Das Leben ist zu arm daran. Wenn ich nur nicht fürchten müßte ...

Louis stockte und blickte zufällig auf den Pavillon ...

Egon foderte ihn auf zu reden.

Lies diesen Brief! sagte Louis, um noch auszuweichen ...

Egon entfaltete das duftende Papier und las, was ihm Helene d'Azimont mit ihrer zierlichen kleinen Hand geschrieben hatte.

[1500]
2. Capitel. Der Pavillon
Zweites Capitel
Der Pavillon

Helene schrieb Egon in deutscher Sprache:

»Heute, mein geliebter Egon, sind sechs Wochen vorüber, als ich vor deinen Fenstern im Wagen hielt, mitten in der Nacht, eben von der Reise gekommen. Ich konnte nichts von dir entdecken als den Schimmer eines Lichts, das vielleicht vor deinem Lager stand, als du schon die Annäherung dieser schrecklichen Krankheit, die dich niederwerfen sollte, fühltest. O welches rauschende Leben glaubt' ich zu finden, einen belebten Palast, auf- und abschwirrende Diener, hellerleuchtete Fenster, Wagengerassel ... und ich fand ein fast ausgestorbenes Haus, in dem nur mein Egon lebte, nur sein Pulsschlag mir hörbar erschien. Wie hab' ich seitdem die Schläge meines Herzens gezählt! Wie mich mit dem Ohr auf die Erde gelegt, um etwas von dir zu vernehmen! O Gott, Das ertragen zu sollen! Wenn ich zurück denke und mir noch einmal vorstelle, daß ich in einer Stadt mit dir leben und dich nicht sehen sollte, ich begriffe nicht, was einem Herzen möglich ist, das dulden kann und hofft. Aber nun öffnen sich auch die Himmel und die Genien der Liebe reichen [1501] mir den Kranz der Bewährung und des seligsten Lohnes! Egon, ich werde dich wiedersehen, dir in's Auge blicken, den Kuß deiner Lippen fühlen. Ich zähle die Minuten, ich begreife nicht, wie mich die Vorsehung mit dieser Langmuth ausstattete, ich erkenne mich nicht. Mein geliebter Egon! Wie konntest du fliehen? Fliehen vor einem Herzen, das ohne dich brechen muß? Laß mich leben! Leben in deiner wiedergewonnenen Liebe! Ich habe unter den Erinnerungsblättern an unser Glück heute das letzte angefangen, eine kleine Zeichnung des Tempels, den ich unserer Liebe auf meiner Villa in Enghien bauen wollte. Alle diese Skizzen, die ich nur mit ungeübter Hand entwerfen konnte, sind mein einziger Trost in dieser Einsamkeit gewesen. Der See, die Terrasse, der alte Eichbaum auf der Höhe des Waldrückens, die große Ebene mit dem Bahnhofe, meine kleine Veranda, die du so liebtest und so zierlich schmücken halfst, alle diese Blättchen hab' ich im Vertrauen auf die Macht der Liebe, die auch die Schwingen des Talents kräftiger heben lehrt, als sie von Natur fliegen würden, mit zitterndem Bleistift hingeworfen. Ich suche einen Maler, der mir würdig scheint, sie auszuführen; dann überrasch' ich dich mit den Erinnerungen an schöne Tage. O sie werden wiederkommen! Egon, hast du denn nicht Mitleid mit mir? Nur ein Wort der Erquickung für meine zehrende Sehnsucht! O laß mich bald an deinem Herzen ruhen, mein Geliebter, mein einziger, einziger Egon!«

Es war Dies eine Apostrophe, wie sie Egon seit vierzehn [1502] Tagen in immer gleichen Lauten der Verzweiflung, der Liebe und der ohne Weiteres vorausgesetzten Wiedervereinigung erhielt. Als er das Papier gelesen hatte, summten ihm im Gedächtniß die Shakespeare'schen Verse:


Wenn Ihr Euch meiner nicht erbarmt, mein Lieber,
Baut' ich an Eurer Thür' ein Weidenhüttchen
Und riefe meiner Seel' im Hause zu,
Schrieb' fromme Lieder der verschmähten Liebe,
Und sänge laut sie durch die stille Nacht,
Ließ' Eure Namen an die Hügel hallen,
Daß die vertraute Schwätzerin der Luft
Olivia! riefe! O ihr solltet mir
Nicht Ruh' genießen zwischen Erd' und Himmel,
Bevor Ihr Euch erbarmet!

Beide Freunde schwiegen ...

Was ist da zu thun? begann Egon nach längerm schmerzlichem Nachdenken.

Nur zu wachen, sagte Louis ernst, daß diese Liebe männlich bleibt, deine Gedanken nicht verweichlicht, deine Entschlüsse nicht lähmt.

Ah! sagte Egon, diese Liebe ist doch ein Unglück.

Damit richtete er sich auf.

Das Gespräch hatte ihn nicht erschöpft. Die Sprossen auf der Leiter der Gedanken, die er langsam wieder zu erklimmen versuchte, brachen nicht. Er fand sich in seinen Erinnerungen zurecht und aus der wiedergewonnenen Kraft des Geistes theilte sich, stärkend, eine Belebung des [1503] ganzen Körpers mit. Er faßte Louis' Arm und wandelte zwischen den Blumenbeeten.

Sie kamen in die Gegend jenes Pavillons, dessen Inneres Künstlerhände für die lebhafte und bequeme Phantasie des alten Fürsten Waldemar, des Generalfeldmarschalls, geschmückt hatten.

Egon kannte dies Innere und betrachtete nachdenklich die angelehnten grünen Jalousieen. Er besann sich, ob er nicht einst Jemanden eingeladen hatte, sich in diesem Saale, unter Spiegeln, Blumen und kerzenstrahlenden Lüstres die Geschichte seiner Liebe erzählen zu lassen ... noch wollten aber solche Gedanken nicht haften. Nur wie auf flüchtigen Sommerfäden zogen sie an ihm dämmernd vorüber und streiften sein Gedächtniß ...

Sie traten dem Pavillon näher. Egon besann sich schmerzlich lächelnd auf dessen Bestimmung und öffnete leise eine der Jalousieen.

Kaum war Louis, der sich eben, weil die Gartenthür ging, umgewandt hatte, von ihm veranlaßt worden, gleichfalls einen Blick auf diese üppige Einrichtung zu werfen, als er die Jalousie auch sogleich fallen ließ.

Träum' ich? rief Egon oder sah' ich ...

Louis bemerkte seinen Schrecken und trat näher.

Als auch er die Jalousie fallen ließ, schüttelte er den Kopf und schien nicht begreifen zu können, warum er noch staunte.

Es war ein Spiegelbild Helenens! sagte Egon.

Wol muß es die Gräfin d'Azimont sein, erklärte Louis.

[1504] Irgendwo wird sie in dem Pavillon verweilen. Der Spiegel fing sie von dieser Seite her wie ein lebendes Bild auf.

Sie schlief? sagte Egon.

Sie schien zu schlafen ... sie ruhte nur.

Der Spiegel empfängt seinen Reflex von jener Seite her, wo das Badezimmer meines Vaters ... Komm, Louis! Komm!

Damit wollte Egon stürmisch zu jenem Fenster hin, wo die magische rothe Beleuchtung einer Kuppel auf eine zierliche Rotunde fiel, deren Bilder, Statuen, Vasen wir bereits oberflächlich kennen und erst später gründlicher betrachten werden.

Auch Louis begriff nicht, wie die Gräfin dorthin gelangen, dort auf einem Divan in beinahe phantastischer Kleidung schlummern konnte. Er glaubte an den Reflex eines dort aufgehängten Bildes ... Er schickte sich an, dem Prinzen zu folgen, der den Eingang nur vom Hofe aus gewinnen konnte und in stürmischer Eile mit trunkenen Sinnen, wie elektrisirt, das schöne verführerische Ziel suchte.

Doch in diesem Augenblick hielt sie Sanitätsrath Drommeldey auf.

Ei, ei, wohin so rasch? rief der Arzt und schlug Egon auf die Schulter.

Dieser wandte sich, unangenehm überrascht, und hätte sich gern von dem Arzte losgemacht.

Aber der Gehorsam eines Genesenden hinderte ihn. Der Arzt hatte schon den Puls in der Hand und behauptete, [1505] daß Egon zu lange im Garten verweilt hätte. Er müßte hinauf ...

Nein, nein, sagte Egon, es ist nur eine augenblickliche Aufregung ... und so wollte er zu dem Eingang des Pavillons hin.

Der Arzt hielt ihn aber sehr entschieden zurück und sagte:

Ich statuire keine Aufregungen. Sie bleiben hübsch an meiner Seite, Durchlaucht!

Damit faßte er Egon's Arm und lenkte in eine Allee des kleinen Parkes ein, die der Thür, die zum Hofe führte, zunächst lag.

Er machte mancherlei Vorschriften und endete damit, daß er sagte:

Unter diesen Bäumen ist es zu schwül und unter den Blumen dort lauern noch immer die bösen Geister des Fiebers. Sie müssen sich an frischer reiner Waldluft stärken. Ich schreibe Ihnen für heute Folgendes vor: Nachmittag vier Uhr nehmen Ew. Durchlaucht einen Wagen und fahren mit Herrn Louis und sonst einem Freunde auf das königliche Schloß Solitüde. Dort kommen Sie um punkt dreiviertel auf fünf, ich sage punkt dreiviertel fünf – der Sonne wegen – an, steigen aus, durchwandern die noch sonnenwarmen Boskette, einige Gänge des Parks und setzen sich auf dem kleinen Hügel, wo man die berühmte Aussicht auf die Felder und den dort so mächtig sich ausdehnenden Fluß genießt, eine Viertelstunde in der Sonne nieder; dann lassen Sie den Wagen an der Südpforte vorfahren, [1506] sind mit fünfzig Schritten wieder auf Ihren Polstern und kommen einige Minuten nach sechs Uhr wieder in Ihrem Zimmer an, wo Sie sich etwas vorlesen lassen, eine Suppe essen und um acht Uhr zu Bett gehen. Wird Das befolgt werden?

Egon hatte nur halb zugehört. Er war zu bewegt, zu elektrisirt von dem Gedanken, daß Helene so in der Nähe war, so auf ihn lauschte, so vielleicht in jenem Pavillon auf seinen Anblick gewartet hatte und darüber entschlummert war ...

Louis aber, der aufmerksam zugehört hatte, antwortete statt seiner:

Pünktlich! Herr Sanitätsrath!

Nun begleit' ich Sie auf Ihr Zimmer, sagte Drommeldey, einer kleinen Tisane wegen, die Sie doch noch nehmen sollen und die ich verschreiben muß. Kommen Sie, Durchlaucht! Bald besuch' ich Sie nur, um Ihnen von der Welt zu erzählen und mir von Ihnen Pariser Anekdoten auszubitten.

Mit feiner weltmännischer Gewandtheit faßte der diesmal allopathisch gestimmte Arzt den träumenden, erschütterten Egon unterm Arm und führte ihn durch den Hof in die vordere Fronte.

Louis aber folgte in einiger Entfernung.

Zum Pavillon zu gehen und sich in den Cabineten zu überzeugen, ob dort die Gräfin d'Azimont wirklich auf einem Divan schlief, wie er in jenem Spiegel gesehen hatte, dazu konnt' er sich nicht überwinden; aber Doretten [1507] Wandstabler, die im Hofe sich tief knixend vor dem Prinzen verbeugte und nicht ohne Gefallsucht zur Feier der Wiedergenesung des jungen schönen Herrn eine gewählte Toilette gemacht hatte und recht auffällig mit einem ungeheuren Bunde Schlüssel klingelte, Doretten Wandstabler hielt er an und sagte energisch:

Sie haben die Gräfin d'Azimont in den Pavillon gelassen ...?

Vergeben Sie! sagte Dorette schon etwas trotzig. Der Herr Sanitätsrath haben es selbst befohlen.

Wie? Der Arzt wußte ...?

Sie wollte in den Garten stürzen und den Prinzen ....

Ein Arrangement! sagte Louis vor sich hin, voller Entrüstung und die weitern Worte der Beschließerin überhörend. Dann fragte er laut:

War die Gräfin allein?

Herr Professor begleiteten sie ... Hören Sie ihn nicht husten?

Herr Professor? Wer hustet?

Dorette erröthete, daß sie von einem Manne wie von einem gewöhnlichen Besucher sprach, den sie doch gegen Louis Armand bisher verheimlicht hatte. Jetzt aber, wo der Arzt selbst für das Complot gewonnen war, glaubte sie sich nicht mehr so ängstlich zurückhalten zu müssen und ergänzte ihre Aussage dahin, daß sie den Professor Rafflard meine.

Louis wollte reden; aber Egon sah sich nach ihm um.

[1508] Er folgte dem Prinzen, der nun auf Louis gestützt, zum ersten male wieder die große Treppe bestieg und mit völliger Abwesenheit des Geistes den materialistischen Auseinandersetzungen zuhörte, mit denen Drommeldey gewohnt war, die Psyche seiner Reconvalescenten neu zu beleben und ihnen die letzte Tisane zu verschreiben.

Egon schritt die große Treppe empor. In seinen Erinnerungen setzte sich die Vergangenheit Steinchen an Steinchen wieder musivisch zusammen. Die von der Sonne erhellten Zimmer thaten ihm außerordentlich wohl. Er fühlte sich so kräftig, daß er, als der Sanitätsrath sich empfohlen und die Nachmittagsfahrt nach dem königlichen Schlosse Solitüde ausdrücklich noch einmal bis auf die kleinsten Punkte eingeschärft hatte, Louis fast im Begriff war, zu bitten, er möchte ihn über den Pavillon, über Helene aufklären, ja wenn es nicht Louis gewesen wäre, der seine Befehle erst an die Diener überbrachte, wer weiß, ob er nicht augenblicklich das Wiedersehen mit einem Wesen gefeiert hätte, das durch eine einzige kurze Phantasmagorie seine ganze Einbildungskraft wieder beherrschte.

Es ist die Gräfin gewesen, sagte ihm Louis aufrichtig. Sie harrte vielleicht des Augenblickes, wo du im Garten dich zeigen solltest und entschlief oder träumte wachend von dem Glück, dir nahe zu sein.

Es war nicht ganz wahr, als Egon darauf erwiderte:

Ich kann sie noch nicht sehen. Ich fühle mich noch nicht stark genug, ihre Freude zu ertragen.

[1509] Indem fiel sein Auge auf eine in seinem künftigen Arbeitszimmer auf einem großen grün verhangenen Tische aufgestellte kleine Galerie alter Brustbilder mit schwarzen oder verblaßten goldnen Rahmen.

Was sollen diese Bilder? fragte er erstaunt.

Schon lange, antwortete Louis, harrt diese kleine Galerie des Augenblicks, wo du in ihnen die letzten Reste des Andenkens an deine Mutter begrüßen würdest, mein Freund ...

Und mit diesem Anblick, mit diesen erläuternden Worten fiel es wie Schuppen von Egon's Geiste.

Gott im Himmel! rief er, diese Bilder ... da ist ... träum' ich? Wach' ich? Ja, ja, – Das war's, worauf ich in der Nacht des Fiebers schon einmal fiel ... da, da ist es ja – dies runde Pastellgemälde ... Es ist ja das Bild, das vielersehnte Bild meiner Mutter!

Louis erzählte, was er von der Übergabe dieses von Egon mit Leidenschaft aufgehobenen und von allen Seiten betrachteten Bildes durch Schlurck wußte. Auch von dem Geheimniß dieses Pastellbildes hatte er ja schon früher etwas vernommen, war aber über die ferneren Schicksale desselben im Unklaren geblieben ...

An diesem Bilde, Freund, ist ein Geheimniß! bestätigte Egon, kaum Louis' Worten folgend. Ich fasse nun Alles – ich finde mich zurecht – Louis sieh, sieh her ... findest du etwas an dem Rahmen dieses Bildes ... es ist schwerer, als es dem äußern Anschein nach sein könnte – es muß eine geheime Feder haben – ich beschwöre dich –

[1510] erfinde, rathe, hilf! Ich bin fast unvermögend, meine Überraschung auszubeuten ...

Louis sah mit Beklommenheit, daß Egon aus den Aufregungen nun nicht mehr herauskam. Er bereute fast, daß er es so mit dieser Galerie angeordnet hatte. Nach dem Spaziergange im Garten sollten ihn die Bilder erfreuen. Den Zwischenfall mit dem Pavillon hatte er nicht berechnet. Er bat den Freund, sich in Alles gelassener zu finden und von dem Bilde gleich abzustehen ...

O ich fühle mich stark, rief Egon. Wo war ich? Gerechter Gott, das Alles verschwamm in Nebel! Ich muß wieder Menschen sehen, ich muß hören, sprechen, anknüpfen an das Leben ... Führe mich in die Welt, Louis!

Louis sagte mit Zögern, daß er gehofft hätte, ihm heute einige Personen, die schon öfters nach ihm gefragt hätten, vorzuführen ... es stünden mehre im Vorzimmer ... aber er wage nicht ... in dieser Aufregung, in diesem steten Wechsel der Eindrücke ...

Führe sie herein! rief Egon. Wer will mich sprechen? Wer ist da? Ich muß Menschen sehen! Menschen umarmen ...

Damit legte er das so werthvolle, abenteuerliche Bild auf die grüne Decke, ging selbst an eine Seitenthür und öffnete.

Herein! herein! rief er muthig und kraftvoll. Ich lebe wieder! Kommt! Ich habe das Licht der Sonne empfunden, ich habe den Duft der Blumen eingesogen. Kommt, Menschen! Kommt! Ich bin genesen.

[1511]
3. Capitel. Alte Bekannte
Drittes Capitel
Alte Bekannte

Egon suchte aber die Menschen nur, weil er den Moment, nun wirklich das von ihm mit so vielen Abenteuern gesuchte Bild zu besitzen, nicht ertragen konnte. Das Bild öffnen, nach seinem Inhalte forschen, er hätte es jetzt nicht vermocht. Er bedurfte eines Anhaltes an etwas, was ihm erst Beruhigung bot. Er glich in diesem Augenblicke jenen Menschen, die nicht im Stande sind, ein Gefühl mächtig und voll auf sich wirken zu lassen; Menschen, die weinen, wo sie lachen, lachen, wo sie weinen sollten; Menschen, die einen geliebten Freund, das Theuerste auf Erden, das ihnen lange entrissen war, nicht sofort wieder zu sehen vermögen, sondern in einen Winkel flüchten, wenn Alles dem Ersehnten schon in den Armen liegt, ihn herzt und küßt; in dem Winkel still für sich weinen, weil ihr Herz nicht im Stande ist, eine so furchtbare Erschütterung wie ein der menschlichen Kraft Mögliches zu erleben und das Unglaubliche wie wirklich zu ertragen.

Nur um sich von dem Schrecken, das Bild zu sehen, es wirklich überschwer zu finden, das Geheimniß seiner [1512] Mutter nun, er wußte nicht wie, in Händen zu haben, zu sammeln, riß Egon die Thür auf und rief:

Wer begehrt nach mir?

Der Erste, der eintrat, war ein schlichter gesundblickender, heiterer, frischer Naturmensch. Aus diesem Auge strömte Waldluft, strömte Erkräftigung. Freude und Treuherzigkeit, die sich zwar mit einer gewissen Überwachung mischte, lachten Egon an und mußten dem kranken, jungen Fürsten innig wohlthun.

Wir erkennen an seinem gesunden, vollen Gesicht, dem fuchsblonden Barte und der ruhigen Treuherzigkeit seines zahmen Löwengesichtes den Förster Heunisch aus Hohenberg.

Ich kenne Euch, Heunisch, sagte Egon, als der Förster seinen Namen genannt hatte und die lebendigste Erinnerung ihn an das Bild und was mit ihm zusammenhing jetzt fast folterte; ich hab' Euch gesehen. Bringt mich nur auf die Spur; wo? Wo?

Durchlaucht, vor Allem meinen herzlichsten Glückwunsch zu Ihrer Genesung! sagte etwas zaghaft der Förster, schlug aber mit waidmännischer Biederkeit seine mit weißen waschledernen Handschuhen zierlich geschmückte kräftige Hand in die magere des Prinzen.

Jetzt weiß ich, Heunisch, wo wir uns gesehen haben! rief Egon, rieb sich jedoch noch zweifelnd die Stirn ...

Heunisch lachte, kratzte sich hinter'm Ohr und sagte:

Der Tausend! Wohl haben wir uns schon gesehen,[1513] Durchlaucht ... aber ... mein Seel', Der sind Sie doch nicht, Durchlaucht, der ich gemeint habe, daß ...

Daß ich wäre? Wer denn? Wer bin ich denn?

Sieh! sieh! ... fing Heunisch zu grübeln an und blinzelte mit seinem scharfen Auge unter den langen, weißen Augenwimpern prüfend zum Fürsten hinüber.

Er trennte sich offenbar von der Vorstellung, die sich auch ihm eingeprägt hatte, daß Dankmar Wildungen Prinz Egon gewesen wäre, mit großer Mühe. Noch lag ihm im Ohre, was im Gelben Hirsch der junge, gefällige Mann ihm über das Anlegen des Zeck'schen Goldes gesagt hatte, und nun fand er einen Andern, den er aber auch zu kennen glaubte.

Halt! sagte er. Wär' es nur möglich!

Ja, ja, Heunisch ... Ihr seid der Jäger –

Welcher Jäger?

An dem Vormittag ...

Ei wie könnt' ich denn die Dreistigkeit haben, Durchlaucht, zu glauben, daß ...

Ja, ja, habt sie nur ...

Der Handwerksbursche? Im Gelben Hirsch?

Der! Der bin ich –

Durchlaucht machen Eins confus!

Der Handwerksbursche bin ich!

Der mich gefragt hat, wo der Weg nach Plessen geht und in der Sägemühle übernachten wollte?

Der aber auf dem Kirchhof schlief am Grabe seiner Mutter, die Ihr hier in dem Bilde seht ...

[1514] O weh! rief Heunisch und schlug sich mit den Händen an den Kopf und gedachte sogleich seiner gewagten Anekdoten über die Fürstin Amanda.

Damals, sagte Egon, botet Ihr mir von Eurem Imbiß an und heute müßt' Ihr nun bei mir vorlieb nehmen. Louis, ein Glas Madeira! Ein Frühstück! Allons donc!

Durchlaucht, ich habe gefrühstückt! sagte Heunisch aufrichtig, ohne verbergen zu können, daß ihm ein solcher Empfang neuen Appetit machte.

Louis war schon auf dem Sprunge gewesen, fast noch ehe Egon den Befehl gab, eine solche Idee auszuführen. Er klingelte und lief selbst; halb Herr, halb Diener. Er wollte, daß man ihm schon auf halbem Wege entgegenkam. Wie froh war er, jetzt bessere Menschen zu sehen, die zu des alten Fürsten Verlassenschaft gehörten und denen er seinen Freund zurückließ, wenn er nach Frankreich wieder heimkehrte! Wie gefiel ihm dieser treuherzige Förster im grünen Leibrock mit goldenen Knöpfen und mit den waschledernen Handschuhen! Vor Vergnügen war er nahe daran, für sich hin ein polnisches Liedchen zu trällern, das er von der alten Jagellona oft hatte summen hören ...

Nun setzt Euch, Heunisch, sagte Egon, nehmt Platz! Ja ich bin der Handwerksbursch vom Gelben Hirsch! Ich wollte Hohenberg sehen, wie die Gauner dort wirthschaften! Legt den Hut ab, Heunisch! Setzt Euch! Man bringt uns zu frühstücken. So war's bei meiner Mutter auch, wenn der grimmige Marzahn kam. Sacre bleu! Der war [1515] schlimm! Der hatte Zähne wie ein wilder Eber, aber er fing sie auch am Messer auf ... aus freier Hand, ein Teufelskerl!

Können wir auch, Durchlaucht; aber die Eber kommen nicht mehr.

Aha! So ist gewirthschaftet worden?.. Jetzt, bester Freund, sagt mir doch einmal ...

Hier unterbrach der Förster plötzlich den glückseligen Egon, der aber schon über seine eigene Gemüthlichkeit innerlich lächelte und sie den vielen Freuden und Überraschungen des Morgens zuschrieb.

Durchlaucht, sagte er mit leiser Stimme und zeigte auf die Nebenthür, nehmen Sie's nicht übel, aber es wartet da draußen noch Jemand ...

Wer denn?

In Egon erwachte die lebendigste Erinnerung an Dankmar. Schon hoffte er, der Förster würde diesen Namen aussprechen, als er sagte:

Der Herr Pfarrer aus Plessen, Herr Stromer ...

Der Pfarrer aus Plessen? wiederholte Egon und besann sich auch auf diesen. Aha! sagte er vor sich hin. Stromer ... der fromme Stromer?

Na – fromm! – meinte Heunisch und kratzte sich hinter'm Ohr ...

Der die Blumen band – sprach Egon für sich hin.

Als die selige Fürstin eingegangen war zu ihres Herrn Freude, da ...

Als sich der Zank erhoben hatte Abends ...

[1516] Einer hörte jetzt auf den Andern nicht. Heunisch brach seine einmal aufgezogene Gedankenreihe nicht leicht ab. Das Denken hüpft bei solchen Menschen nicht so behend hin und her wie bei den Dialektikern der Bildung und der Lüge.

Er sagte, fuhr er fort, ich sollte nur vorerst gehen. Ich würde doch gleich absolvirt werden und da wolle er lieber nach mir kommen. Und nun, Sapperlot, nun – fangen wir hier ordentlich zu frühstücken an. Was wird der Pfarrer denken!

Die Thüren gingen auf.

Zwei Bediente sprangen hinzu und deckten.

Der alte Wandstabler leitete diese Unternehmung wie eine große Staatsaufgabe. Er wackelte vor Seligkeit, daß nun etwas kam, was an die alten Zeiten erinnerte, setzte die Stühle und warf so schmachtende, thränenverklärte Blicke auf den jungen Fürsten, daß diesem himmelangst wurde über den Umstand wegen eines kleinen Frühstücks! Das lärmende Bedienen hatte er nie geliebt. Doch blieb er bei guter Laune und sagte zu Heunisch:

Der süße Schleicher, der so rasch von Eurem kurzen Empfang urtheilte, soll nun gerade warten und hören, wie hier die Teller und die Messer und Gabeln und Gläser klingen.

Ach! Durchlaucht, entgegnete Heunisch ängstlich und mit bittender Gebehrde. Ne ... ne! Das nicht! Lassen Sie den Herrn Pfarrer doch lieber auch gleich hereinkommen. Geheimnisse hab' ich Ihnen keine zu erzählen und der [1517] Herr Pfarrer möchte gar meinen, der Förster Heunisch erlaubte sich etwas Despectirliches, wenn Der hier wie in Abraham's Schooß sitzen wollte.

Auf Euer Fürwort will ich ihm diese schmeichelhafte Vergleichung ersparen, sagte Egon und rief:

He, Wandstabler!

Der Haushofmeister und Vater der drei Huldgöttinnen des Hohenberg'schen Palais wußte nicht, wie ihm geschah. Angerufen von der jungen Durchlaucht! Berücksichtigt! Geduldet! Wandstabler gerufen aus seinem eigenen gnädigsten Munde!

Kaum noch hatte er sich umgewandt, die starke, schnurrbärtig gewichste Figur auf dünnen beschuhten Beinchen, um die Befehle zu vernehmen, als Egon schon sagte:

Vier Couverts!

Vier Couverts! keuchte der Haushofmeister und schnurrte dabei, wie wenn seine Sprachwerkzeuge an einer innern Rolle abliefen, asthmatisch oder zu einem Kropf disponirt. Vier Couverts! Mit dieser Losung schwankte Wandstabler aus der Thür und umarmte fast seine lauernde älteste Tochter, die schon in voller Thätigkeit war, sämmtliche Schränke, alle Weißzeugkisten öffnete, Gläser, Messer zählte, doppelt für jeden Gang, und die Bedienten in Galopp brachte ... Wandstabler! Vier Couverts! ... Mit dem Vollgewicht dieser ersten errungenen Berücksichtigung mußte sich der Haushofmeister an der großen Treppe über den Strohdecken auf einen der [1518] dort befindlichen Wartesessel niedersetzen und seinen glänzendgewichsten Schnurrbart mit einer Thräne anfeuchten, die das in einem ewigen, wie man es in der Volkssprache nannte, »Thran« schwimmende, gedunsene Weinund Liqueurgesicht immer bereit hatte.

Egon aber öffnete nun die Thür und ließ den zweiten Besuch auch herein. Er war dabei in seinen nun mit ganzer Macht hereingebrochenen Erinnerungen an Dankmar und in seinem mit Gewalt niedergekämpften Gelüsten nach dem Bilde so ergriffen, daß es ihm war, als spränge ihm der Kopf ...

Hätte Louis ahnen können, was Alles jetzt mit wunderbarer Gewalt auf seinen so gütig herablassenden Freund eindrängte, er würde nicht so schüchtern bei Seite getreten sein und wol das gemüthliche, Wichtigeres verdrängende, weitläuftige Frühstück mit den Hohenberger Gästen hintertrieben haben. Er vergaß, daß Egon Reconvalescent war, der Schonung bedurfte, und von Egon selbst galt die Erfahrung: Was muthet sich nicht Alles der Mensch an Kraft zu, wenn sein Herz bewegt ist!

Der höfliche und mit vielen Verbeugungen Eintretende war in der That Guido Stromer, der Pfarrer von Plessen.

Guido Stromer mit dem zurückgestrichenen graublond-gelben Haare, der hohen Stirn, dem aufgerissenen Auge, der zwar hervorspringenden doch etwas stumpfen Nase und dem ganzen unruhigen, gespannten, überreizten Wesen, war gewählt gekleidet, trug schwarzen Frack, schwarze Beinkleider, Kamaschen an den Schuhen, eine [1519] weiße Piquéeweste und Halsbinde und die feinsten Glacéehandschuhe. Das lange Haar war nicht so sorgfältig gehalten, wie ohne Zweifel zu Zeiten der Fürstin Amanda oder wenn seine Gattin für die Ordnung dieses schon in's Graue spielenden blondgelben Wulstes sorgte. Es war nur von der hohen, breiten Stirn mit einer leichten genialen Tournüre zurückgestrichen. Man glaubte einen Dichter, einen Künstler, eine inspirirte Persönlichkeit zu sehen, die sich mit Wohlgefallen in die leichte Form der Mode geworfen hatte, ohne indessen den starken Geist ganz unter ihre strengen Gesetze beugen zu können. Ein kleines weißes Bändchen, das hinten am Halse vorguckte, verrieth, daß dieser jedenfalls vor einem Spiegel gemachten Toilette doch die letzte weibliche Revision fehlte. Es war eine übertünchte Eleganz, in welcher Eitelkeit, Dorftournüre und wirklich geniale Formverachtung zu einem sonderbaren Gemisch zusammenliefen.

Zwei Boten aus Hohenberg! rief Egon dem Eintretenden entgegen, und auf den durch den Pfarrer nun gedrückten Heunisch deutend setzte er hinzu: der Wald und die Kirche grüßen mich!

Und dem Schöpfer, der in Beiden wohnt, fiel Guido Stromer sogleich mit der ihm eigenen Geistesgegenwart und Wortfülle ein, danken wir die Genesung unsres geliebten, jungen, uns doppelt neugeschenkten Fürsten und Herrn.

Da sich Louis sehr zurückgezogen hatte, stellte ihn Egon anfangs nicht vor.

Nehmen Sie Platz, Herr Pfarrer, sagte Egon. Wir wollten [1520] eben den Göttern ein Opfer bringen, eine Libation des Dankes und hoffentlich auch allenfalls einen Hahn, den man jawol im Alterthum opferte, wenn man von einer Krankheit genas ... nicht wahr?

Stromer erwog den Ton, den Vortrag, sozusagen die Tonart, aus der der junge räthselhafte, nun endlich entschleierte Fürst zu ihm sprach und setzte mit seiner leise bedeutsamen Art, in dem Streben, einen Accord zu erzeugen, forschend und fast lauernd ein:

Sokrates befahl einen Hahn zu opfern als er den Todesbecher trank. Er verstand darunter eine andere Genesung, deren bittern Kelch die Götter uns erspart haben; denn Ew. Durchlaucht leben!

Egon schwieg, erschreckt von der Manier des Pfarrers ... Aber Heunisch, der auch sein Wort darein geben wollte, sagte:

Götter, Herr Pfarrer? Götter?

Guido Stromer wandte sich mit gehobenen Nasenflügeln um und sah den Sprecher von oben bis unten an.

Heunisch biß sich auf die Lippen, wie Einer, der zu sich spricht: Herr Gott, was hast du da gesagt!

Egon vermittelte mit freundlicher Bonhommie die beiden ungleichen Gesellschaftsstellungen seiner Gäste und meinte, der Herr Pfarrer könnte sich freuen, ein Beichtkind zu haben, das so fest an dem Gebote hielte: Du sollst nicht andre Götter haben neben mir!

Beim Beichtkind vollends klappte Heunisch wieder mit den Fingern, als wollte er sagen:

[1521] Ach, liebe Zeit, Beichtkind!

Richtig, sagte Egon, diese Ablehnung wohl verstehend. Jetzt besinn' ich mich vom Gelben Hirsch, daß Ihr ja ein recht schlimmer Heide seid, Heunisch! Meine gute Mutter und der Herr Pfarrer waren Euch viel zu heilig.

Heunisch wurde vor Verlegenheit blutroth. Er gedachte der vielen argen Spottreden, die er in Gegenwart des Handwerkers in der Blouse gesprochen hatte. Stromer aber horchte hoch auf und begriff nicht, was »zuvörderst« die Erwähnung des Gelben Hirsches sollte?

Zu schweigen aber und lange eine Antwort schuldig zu bleiben, war seine Sache nicht.

Mein guter Heunisch, sagte er, sein Staunen über den Gelben Hirsch unterdrückend, hat schon, wie ich einzutreten die Ehre hatte, vernehmen können, daß ich der Kirche den Wald an die Seite stelle. Die Gottheit wohnt nicht, predigte ich oft, in Tempeln, von Menschenhänden gemacht. Das Rauschen der Blätter im Waldesgrün ist auch eine Offenbarung. Wohl Dem, der sie versteht! Mein guter Nachbar Heunisch machte sich diese Wahrheit immer zu Nutz. Er gehörte nie zu meinen fleißigeren Kirchenbesuchern.

Heunisch konnte nichts dagegen einwenden, schüttelte aber den Kopf und brummte erst das kostbare, sylbengezählte, in Tonschwingungen vorgetragene Wort »fleißigeren« nach und sagte dann:

Es ist doch wahr! Sieh! Es ist doch wahr!

[1522] Was ist denn wahr? fragte Egon, der zwischen den beiden Männern nicht klar sah ...

Die Gottheit! Die Gottheit! betonte Heunisch.

Nun, Heunisch, meinte Egon, was haben Sie denn gegen die Gottheit? Sind Sie ein Atheist geworden?

Atheist? Was ist Das, Durchlaucht ... ich meine nur:

Gottheit! Wissen Sie, Herr Pfarrer, vor neun Jahren ... es war Reformationsfest ... vor neun Jahren war ich einmal bei Ihnen in der Kirche und da ging's recht über die Gottheit her. Wissen Sie? Sie sagten, Herr Pfarrer: Eine Gottheit gäb's gar nicht, sondern blos einen allmächtigen Herrn des Himmels und der Erde, der da heiße: Herr, Herr Seligmacher und Friedensfürst! Fürstin Durchlaucht ... Lieber Heiland, da steht ihr Bild ... zweimal, dreimal ... das ist sie auch; ja, ja! Tausendmal steht sie da drinnen in unsern Herzen! ... Fürstin Durchlaucht nickten Ihnen sehr gnädig aus dem vergitterten Stuhl oben, quer über's Schiff weg, auf die Kanzel zu, als Sie sagten: Es gäbe blos einen Gott, Namens Seligmacher und Friedensfürst, aber keine Gottheit! Wie?

Stromer lächelte.

Anschauungen, die auf einem bestimmten Standpunkte ihre Wahrheit haben! sagte er und nahm nun von den inzwischen aufgetragenen Speisen ein halbes kaltes Rebhuhn auf seinen Teller, während Egon Louis herbeirief und ihm, während er selbst nichts genoß, den vierten Teller anbot und Heunischen selbst vorlegte.

Herr Louis Armand, sagte Egon dabei, ein Freund aus [1523] Paris, er versteht hoffentlich sehr gut, was deutsche Rebhühner sind. Iß, lieber Freund!

Egon machte sehr gefällig den Wirth und schenkte aus Krystallflaschen Madeira ein, ohne selbst davon zu genießen.

Louis setzte sich zögernd und verbeugte sich vor den beiden Andern.

Ziehen Sie doch Ihre Handschuhe aus, Herr Pfarrer, sagte Egon, nicht merkend, daß der Pfarrer von überwundenen Standpunkten sprechen wollte, und erzählen Sie uns, was Sie herführt, und auch Heunisch soll sagen, was ihn gerade jetzt von seinem Walde trieb, wo es: Hab' acht! heißt. Ich hoffe, ein Jeder von Ihnen bringt mir noch einige Nachrichten, wie es in Plessen, Randhartingen, Schönau aussieht.

Stromer merkte hier wirklich, daß man noch nicht mit der Art bekannt war, wie er sich bei Auseinandersetzungen zu ergehen pflegte. Man hatte kein Ohr für dieses stille Aufschnurren seiner Gedanken, sprach in seine Vorbereitungen zu einer Rede ohne Weiteres hinein und hätte sich eigentlich sagen müssen, daß er in Plessen die Zeisel's, die Sänger's, die Sengebusch's, die Bensheim's und andere Herrschaften schon ganz anders zum Cultus seines Genius abgerichtet hatte.

Ja, ja, ergriff Heunisch das Wort; Das wäre nun wol mit Verlaub des Herrn Pfarrers die Hauptsache ...

Hat Schlurck schon die Ernte eingetrieben? fragte Egon mit einer Miene, die sich etwas verdüsterte.

[1524] Schlurck? sagten beide Gäste einstimmig und blickten verwundert auf.

Sie vergessen Prinz, sagte Louis mit höflichem und sich völlig unterordnendem Ton, daß sich alle diese Dinge geändert haben.

O, o –! fiel Egon ein und bezog seine ablehnende Ausrufung auf die Rolle, die Louis plötzlich in Gegenwart der Andern wechselte ...

Doch fuhr dieser sogleich fort:

Kurz vor dem vollen Ausbruch Ihrer Krankheit besaßen Sie noch die ganze Kraft des Geistes, einen Befehl zu ertheilen, dessen Vollziehung die besten Folgen für Ihre Besitzungen gehabt hat.

Durchlaucht, sagte Heunisch, wir sind glücklich, daß wir in unserm alten Verhältnisse bleiben und nicht an die Wucherer und die Juden kommen. Der Herr Ackermann fängt das Ding im Großen an. Das ist ein Hexenmeister und muß den Teufel im Bunde haben. Entschuldigung, Herr Pfarrer! ...

Allerdings, setzte Stromer hinzu, allerdings hat das Auftreten dieses Herrn Ackermann etwas Zauberhaftes. Dem gemeinen Manne erscheint er in der That wie ein Hexenmeister, der Gebildete muß ihn für einen Adepten seltener agronomischer Kenntnisse nehmen. Wenn Ackermann in dieser Weise fortfährt, die Bedingungen des Bodens und die Fortschritte der neuen Landwirthschaftstheorieen zur Grundlage seiner Verwaltung zu machen, wird man über den Aufschwung, den Ew.

[1525] Durchlaucht Besitzungen nehmen werden, allgemein erstaunen.

O, sagte Heunisch, jetzt ist das Alles blos noch das erste Buch der Chronika! Von Neujahr an wird Das ganz anders kommen, wenn Ackermann's Maschinen erst da sind!

Ackermann? Ackermann? sprach Egon vor sich hin. Er besann sich jetzt auf Alles, was in diesem Betracht vor seiner Krankheit geschehen war; und Eins trat so lebendig aus dem Andern wie ein plötzlich entwickeltes Nebelbild hervor, daß ihm schwindelte und er Louis statt seiner reden ließ, der, ohne zu thun, als wenn Egon über diese Veränderung noch nicht völlig unterrichtet wäre, die näheren Veranlassungen derselben deutlicher angab.

Da hab' ich mich auch, fuhr Heunisch fort, den die freundliche Aufnahme seines Gutsherrn und der Wein ermunterte, gar nicht lange besonnen und Herrn Ackermann gebeten, die zweihundert Louisdors, die er uns selbst ... die ich für Jemanden Anders aufzubewahren und gut anzulegen den Auftrag hatte, ihm anzubieten. Er mochte sie nicht nehmen; aber aus Gefälligkeit that er's und die Zinsen legte er gleich von dem Capital zurück.

So golden geht es jetzt auf meinen Gütern zu? rief Egon mit einem mehr künstlichen als natürlichen Erstaunen. Denn sein Befremden galt jetzt weit mehr seiner nun völlig geweckten Erinnerung, als diesem einzelnen Falle.

Man spricht, fuhr Stromer fort, von Verbesserungen der Cultur, von Entdeckung neuer, bisher unbekannt [1526] gebliebener Braunkohlenlager, von Entwässerungen und Anderem.

In den Wald, sagte Heunisch, muß eine ganz neue Ordnung kommen. Es thut ihm noth, denn noch vor kurzem, als Herr Bartusch schon wieder drei Morgen halbwüchsiges junges Holz schlagen ließ, glaubt' ich, daß wir nun bald werden roden, säen und ernten können, wo sonst Buchen und Eichen standen.

Trinkt doch, Heunisch, sagte Egon zu dem gegen Stromer gehalten zaghaften und zurückhaltenden Jäger; erzählt uns, was Euch hergeführt hat. Herr Pfarrer, wirklich, Sie kommen dem Geflügel nicht gut bei, wenn Sie Ihre Handschuhe schonen ...

Egon suchte jede Schranke, die ihn von Stromern trennte, wegzuräumen, freilich aber auch jede, die Stromern von Heunisch trennte. Sie sollten sich als seine Angehörigen, Sendboten von seinen Gütern fühlen. Stromer vermochte nicht, sich ganz naiv und unbefangen in diese Situation hineinzudenken. Er blickte um sich, musterte die Statuen, wog die silbernen Gabeln, maß seine Worte, kurz er wollte den bedeutenden Moment, jetzt mit dem so vielfach abenteuerlich genannten Sohne seiner weiland Gebieterin zusammenzusein, auch in aller Schwere und thatsächlichen Wucht genießen.

Heunisch merkte, daß er, wenigstens den Pfarrer, störte.

Nachdem er einige Gläser getrunken, beim Geflügel seine Tranchirkunst zuletzt mit den Fingern unterstützt [1527] und sich den Mund abgewischt hatte, sagte er aufstehend:

Durchlaucht, es ist doch zuviel, was sich Unsereins hier herausnimmt. Ich glaubte, Das sollte ein Gläschen auf Ihre Gesundheit werden, und nun wird's ordentlich eine Mahlzeit ... und ich vergesse ganz, daß mir's eigentlich gar nicht appetitlich zu Muthe sein sollte.

Guido Stromer hob die Augen scharf auf den unbefangenen Waldsohn und schien ihn in der Absicht, sich zu entfernen, bestärken zu wollen.

Habt Ihr einen Verlust gehabt? fragte Egon. Ich hoffe, eine gute Sache hat Euch in die Residenz geführt ...

Nein, Durchlaucht! antwortete Heunisch, verbesserte sich aber sogleich und sagte:

Das heißt, wenn ich wegen unsers jungen, schönen Herrn gekommen wäre, aber, glauben Sie's nicht, Durchlaucht ...

Was soll ich nicht glauben?

Daß ich wegen Ihrer und von wegen der Nachfrage nach Ihrem Befinden hergekommen bin.

Sehr naiv! bemerkte Guido Stromer halb für sich mit einem vertraulichen Blinzeln auf Egon und Louis, da Beide lachen mußten.

Nun warum! Es wäre doch eine Lüge! sagte der ehrliche Förster. Der Herr Pfarrer sind vielleicht deshalb hier, der Justizdirector von Zeisel und die gnädige Frau Justizdirectorin sind bestimmt auch deswegen hier ...

Auch Herr von Zeisel ist hier? fragte Egon lächelnd und [1528] seines Verhörs, noch mehr seiner Wohnung im Thurme gedenkend.

Wird bald aufzuwarten die Ehre haben! fügte Stromer bei.

Sehen Sie Durchlaucht! fuhr Heunisch fort, dem der Wein etwas in den Kopf gestiegen schien und der deshalb nun ernstlich sich zum Gehen entschloß. Das war ein Stich vom Herrn Pfarrer, der soviel sagen sollte als: Heunisch, macht, daß Ihr Euch Eurer Wege schert!

Heunisch verrieth, daß er, wie alle Naturmenschen, angetrunken, etwas händelsüchtig wurde ...

Bewahre, bester Freund, versicherte ihn Egon. Herr Pfarrer freut sich wie ich, daß ich mich einmal im Schooße der Meinigen fühlen kann. Kann ich Euch nur in Etwas dienen, Heunisch? Wie lange bleibt Ihr? Sucht Ihr hier Etwas?

Ich wünscht', es könnte mir Einer helfen! meinte Heunisch und kraute sich in den Haaren. Aber ... Frauenzimmertücke! ...

Eine weibliche Angelegenheit also?

Herr Heunisch, sagte Guido Stromer, der diese Fährte als die rechte vermuthete. Es wäre Zeit, daß Sie dem Junggesellenstande entsagten ...

Wandstabler, der Haushofmeister, leitete inzwischen einen zweiten Gang des Frühstücks ein, indem er gewissermaßen die Honneurs einer Omelette aux confitures machte, die man eben in einer großen silbernen Schüssel hereinbrachte.

[1529] Guido Stromer verstummte über den behaglichen Anblick und sah mit erwärmterem Antheil seinen mit Knöchelchen belegten Teller verschwinden und einen neuen an dessen Stelle schweben ...

Heunisch aber hielt seine Gedankenreihe fest und schüttelte den Kopf.

Herr Pfarrer, sagte er, an mir verdienen Sie keine Copulationsgebühren. Nein, da kommt aus Schönau der reiche Bauer Sandrart zu mir – Durchlaucht kennen wol die Namen Ihrer getreuen Unterthanen nicht – der reiche Bauer Sandrart aus dem Ullagrunde –

Sandrart? sagte Egon. Wohl! Wohl! Er ist aus dem Ullagrund und hat einen Sohn, der hier beim Militair steht und vor sechs Wochen zum Sergeanten avancirte.

Heunisch erstaunte über diese genaue Kenntniß der nächsten Beziehungen seiner Bauern, die er hier bei dem jungen, in der Heimat doch wildfremden jungen Fürsten antraf.

Aber auch Stromer und Louis Armand fanden die Antwort überraschend.

Das muß ich sagen! rief Heunisch. Da wird Segen über unser Ländchen kommen –

Beim Worte: Ländchen, warf Stromer dem Jäger einen bedeutenden Blick zu, den Egon wohl verstand, aber Heunisch noch nicht.

Recht so, Heunisch! sagte Egon. Ein Ländchen ist gerade Das, was sich gut übersehen läßt. Aber den Sandrart kenn' ich durch Zufall.

[1530] Und den Sohn auch? bemerkte Heunisch gedehnt, der noch nicht verstanden hatte, was eigentlich der strafende Blick des mächtig kauenden Stromer hatte bedeuten sollen ...

Und den Sohn auch! fuhr Egon fort. Ein lieber, heiterer Gesell! Ja, ja, der Alte hat Batzen; aber der Junge bringt sie ihm auch gewiß an. Ein Glück, daß er Soldat sein muß und unter Raison steht.

Heunisch gab das Grübeln über die blitzenden Augen des Pfarrers auf und rief voll Verwunderung:

Aber Das muß ich sagen! Grade wie's ist! Nicht um eine Linie vom Schwarzen! Mitten in die Scheibe!

Während selbst Armand aufmerksam war, ob diese Bekanntschaft nicht etwa mit Egon's Rückreise zusammenhing, und er gespannt wartete, ob der Freund sich über jene Reise überhaupt jetzt genauer auslassen würde, fuhr Heunisch fort:

Kommt der Sandrart zu mir und sagt: Heunisch, sagt er, ich hab' einen Jungen, Ihr kennt ihn..? Ja, sag' ich, Sandrart, er ist jetzt Sergeant, ich kenn' ihn. Sagt' er drauf: Ihr habt in der Stadt eine Nichte? Meiner Geschwister Kind, sag' ich, Fränzchen Heunisch, Wallstraße Nr. 14 im Hofe eine Treppe hoch, links bei Tischler Märtens.

Ohne Heunisch zu stören und den Andern aufzufallen, horchte jetzt Louis, dem der Dialekt des Försters etwas schwer zu verstehen wurde, an dieser Stelle hoch auf. Soviel begriff er, daß hier plötzlich von Franchette Heunisch die Rede war ...

[1531] Heunisch fuhr fort:

Nun, Heunisch, sagte Sandrart, ich wünschte, Eure Nichte wäre ein Bischen saubrer als sie ist. Das ist eine Mamsell ... Fahr' ich auf und sage: Sandrart, hier steht der Tisch zwischen uns, redet mir nichts Unebenes von meiner Geschwister Kind. Sie macht Putz, das ist wahr, aber darum ist sie die sauberste Person von der Welt, und eine Mamsell werd' ich nie in meine Försterswohnung nehmen, denn Das ist mein Wille, daß sie mir die Wirthschaft führt, wenn es mit der alten Ursula Marzahn zu Ende geht. Nun, sagte Sandrart tückisch – er kann tückisch sein! Er hat Geld! – nun, Heunisch, sagt' er dann, macht denn nur bald, daß Ihr sie in den Wald hineinnehmt, denn sie läuft jetzt bei Nacht auf die Bälle und hat's auf zweierlei Tuch abgesehen. Mein Sohn Heinrich Sandrart, der Sergeant, will sie heirathen.

Der Eindruck dieser Erzählung auf Louis stieg, ohne daß die Übrigen seine Aufregung bemerkten.

Fränzchen Heunisch, sag' ich, auf die Bälle? Fränzchen Heunisch zweierlei Tuch? Das ist nicht wahr, antwort' ich und schlage auf den Tisch, daß er knackt und die Ursula ihr altes Lachen kriegt. Sie ist närrisch die Ursula und lacht, wenn sie sich ängstigt ...

Psychologisch interessant! bemerkte Guido Stromer etwas ungeduldig über die breite Art, wie sich dieser Förster eine fürstliche Audienz fast nur für sich selbst nutzbar machte und dabei die Kenntniß von Namen voraussetzte, die dem Prinzen ja völlig unbekannt sein mußten ...

[1532] Ich habe Beweise davon, bemerkte Egon, daß Sandrart grob sein kann ...

Heunisch wurde bei aller Aufregung neugierig, antwortete aber nur:

Ja, ja, er kann's! Er hat Geld!

Fahrt nur fort, Heunisch! erwiderte Egon und bemerkte nichts von der Spannung seines französischen Freundes.

Mein Sandrart aber ärgert mich mit seiner Ballläuferei und dem zweierlei Tuch so, daß ich mich ganz vergesse und das Fränzchen so lobe, daß die alte Ursula immer noch mehr lacht, aber auch nach Feuer, Wasser, Erde ruft, um sich begraben zu lassen. Ich höre nicht auf ihre Hexerei – sie meint es gut mit mir die Alte – und sage dem Bauer, was ich von Fränzchen Heunisch denke und was sie mir werden soll, die Stütze und die Pflege meiner alten Tage. Da sagt' er denn, sein Sohn, der Sergeant, der Herr Sergeant – der Alte trägt den Kopf höher als der Junge die neuen silbernen Litzen – der wollte das Fränzchen heirathen und er sollte eigentlich bei mir um sie anhalten und ich ihr befehlen, daß sie ihn nimmt. Allein aber – Durchlaucht; das war Alles Hohn! Der Alte denkt nicht daran, daß sein Sohn, der Sergeant, so eine Partie macht ...

Aber das Mädchen, die Franziska? fragte Egon und flößte dem Pfarrer, der sich inzwischen in gelassener Geduld die Omelette schmecken ließ, Bewunderung über seine Leutseligkeit ein, während Louis Armand mit dem [1533] lebendigsten Interesse jedes Wort aus des Jägers Mund aufgriff und seine ihm schmerzlichen Mittheilungen mehr errieth als verstand.

Egon's Frage elektrisirte ihn.

Ja, Das ist's ja, sagte Heunisch. Die Fränz will ja den Sergeanten gar nicht. Ich mache mich stantâ pê gleich auf den Weg und hierher – und sehe die Bescherung. Da krieg' ich einen schönen Spaß zu hören. Meine Fränz läuft wirklich auf die Bälle und hält's mit einem alten Franzosen, der sie besucht ... ja, ja, sollte man's denken, einem so jungen blutjungen Ding läuft ein alter Franzose nach, von dem sie vorgibt, französische Lectionen zu nehmen ... Auch Das sagte mir der alte Sandrart schon im Walde und da sagt' ich schon, ich wollte doch hier einmal sehen, wieviel Vokabeln die Mamsell von dem Franzosen schon gelernt hat ... Donnerwetter! ... Vergeben Sie, Herr ...

Diese höfliche Milderung seines Zornes und erschrockene Rücksichtnahme war an Louis gerichtet, der unruhig und bewegt genug die vielen bedauerlichen Nachrichten über ein junges Mädchen gehört hatte, das ihm seines bescheidenen und lieblichen Wesens wegen so theuer geworden war. Seitdem er ihr Siegbert's Übersetzung seines Gedichtes geschickt, hatte er nichts mehr von ihr vernommen. Und nun diese Entdeckungen über Soldaten, alte Franzosen, Bälle, Heirathen, Vokabeln! Es brannte ihm der Boden unter den Füßen. Er hätte aufspringen und fortstürzen mögen und nur mit Mühe und dem Glauben, er selbst würde wol jener Franzose sein, bezwang [1534] er sich zu der Antwort auf Heunisch's an ihn gerichtete Rede:

Wenn die Tochter Ihrer Schwester französisch lernt, so ist es wol nur die Eifersucht des jungen Sergeanten, die in dem Lehrer gleich einen Liebhaber vermuthet.

Das dacht' ich auch, fiel Heunisch seinen Zorn über das Französischlernen aus Rücksicht auf Louis Armand's gebrochenes Deutsch mildernd ein, und sagte dann der Ursula Lebewohl. Ist sie noch zu retten, bring' ich sie mit, du wirst alt, du mußt eine Stütze haben. Es war der Ursula recht. Verbrennen und ertrinken, sagte sie, kann man überall. Gut! Läuft sie nicht auf die Bälle, so kann der Sergeant, wenn er ausgedient hat, hier um sie anhalten, als: in meinem Wald. So bin ich hergekommen, und da ich doch einmal da war und ich hörte, Durchlaucht sind durch Gottes Schutz am Leben erhalten, so hab' ich's gewagt, auch bei Ew. Durchlaucht anzuklopfen und nun fahr' ich morgen in aller Frühe in Gottes Namen wieder heim. Das ist's! Und Das war's! Und nun Adieu, Durchlaucht, und kommen Sie bald einmal sechsspännig nach Hohenberg, daß man ein paar Büchsen in die Luft knallen und wieder ordentlichen Staat mit seiner Herrschaft machen kann.

Damit wollte Heunisch gehen. Aber Egon hielt ihn fest und sagte:

Ja! So wollt Ihr fort? Mit der besten Spannung unserer Neugier? Das geht nicht! Erst meldet uns von Fränzchen und vom Sergeanten!

Guido Stromer seufzte hier etwas überlaut. Da er aber [1535] die rege Geschäftigkeit der Bedienung bemerkte und einen dritten Gang ahnte, stillte er seine Ungeduld. Wandstabler, der Haushofmeister, eröffnete in der That noch einen dritten Frühstücksakt, der zwar nur in einer Scene, aus einem Dessert von Obst bestand, allein die Vasen und durchbrochenen Porzellankörbe, in denen die Birnen, Nüsse, Weintrauben, malerisch geordnet, dargereicht wurden, fesselten doch seine Neugier. Er glaubte vielleicht auf Spuren von Entbehrung zu stoßen, er hätte sich sagen müssen, daß ein Frühstück von kalten Rebhühnern, einer Omelette aux confitures, Obst und etwas Schweizerkäse mit Madeira mit den Frühstücken der Madame Schlurck sich nicht vergleichen ließ, allein die Art des Servirens hatte doch etwas für ihn höchst Imposantes. Der Haushofmeister, der jede Abwechselung gleichsam wie ein Herold mit geräuschvoll stummem Blicke ankündigte, die beiden Bedienten, die seine bedeutsamen Winke und augengeblinzelten Befehle mit stiller Sicherheit ausführten, das Silberzeug, das Porzellan, die Malerei der Teller, das Wappen, die weißen wollenen Handschuhe der Bedienten, die Art des Einschenkens, hinterwärts, unversehens, das Alles erfüllte seine Phantasie mit angenehmer Behaglichkeit und hob seinen, die Plessener Pfarrexistenz wie eine Fessel abstreifenden idealen Sinn um so mehr, als er bei der Liebenswürdigkeit, die Egon zeigte, hoffen durfte, mit einem Anliegen, das ihm auf dem Herzen lag, keine Fehlbitte zu thun.

Egon, dem das Arrangement des Frühstücks, dessen [1536] eigentliche Seele, Dorette Wandstabler, hinter den Coulissen waltete, ein eigenthümliches Interesse bot – war es doch die erste Benutzung seiner eignen Situation, das erste Festhalten seiner neuen heimatlichen Existenz! – Egon ermunterte Heunischen, nun auch noch den Rest zu sagen.

Der ist ganz kurz, antwortete Heunisch. Ich komme an, höre und sehe, daß mein Fränzchen die Unschuld ist wie sonst. Mit dem Ball und dem alten Franzosen hat's freilich eine kuriose Ursache, aber sie will ihm den Abschied geben. Und den Heinrich Sandrart mag sie wirklich nicht, obgleich den stattlichen, braven Jungen zu sehen eine Freude ist. Was sie auf dem Herzen hat, weiß ich nicht. Sie weint und in den Wald bei Hohenberg will sie auch nicht. Da hab' ich ihr gesagt: Kannst du's nicht, so laß es: wer weiß, ob die alte Ursula nicht einmal ein brennend Scheit Holz nimmt und zu guter Letzt mein Dach illuminirt und dann verbrennen wir Alle im stillen Wald und das letzte Wild rennt mit hinein in's Feuer, oder wir löschen auch ohnedem wie die Lichtlein aus ... Da wollte sie dann mitgehen. Aber wie sie mir zuviel weinte, mocht' ich's nicht und so gehe ich morgen in der Frühe allein. Nun aber ... Gott erhalt' Ew. Durchlaucht! Adjes, Herr Franzose! Nichts für ungut wegen der Vokabeln! Adjes, Herr Pfarrer! Kommen Sie bald nach, sonst schließen Ihnen die Bauern die Kanzel zu und machen den Ackermann zum Pfarrer. Wer Den sieht, denkt gleich, der muß auch gut predigen können ...

[1537] Wäre Heunisch, der die schärfsten Sinne für die Thiere, aber nicht die geringste Kenntniß der Menschen hatte, ein besserer Beobachter gewesen; so hätte er sehen müssen, daß der junge Franzose in einer auffallenden Erregung mit ihm zugleich aufstand. Louis mußte sich gewaltsam beherrschen, nicht loszubrechen und dem Oheim des jungen Mädchens zu gestehen, daß er Franziska Heunisch als ein gutes, ihren Pflichten treuergebenes, engelreines Kind hätte kennen lernen. So aber brach Heunisch rasch ab und ließ ihn in der aufgeregtesten Spannung zurück. Da Stromer Miene machte, sein Alleinsein mit Egon nun gründlich zu seinem Besten auszubeuten, so zog sich Louis Armand in aller Stille zurück, um sich zum Ausgehen anzukleiden. Es hielt ihn nun nicht länger, er mußte seine alte Wohnung, den Tischler Märtens, seinen eigenen Wirkungskreis und Franziska Heunisch wiedersehen.

Die Bedienten trugen das Frühstück ab. Wandstabler erwartete fernere Befehle und entfernte sich, als er diese nicht empfing, mit der letzten Serviette unterm Arm, gerührt, fast dankend emporblickend.

Egon war durch einige Tropfen des starken Weines, den er versucht hatte, angeregt und ermüdete nicht, nun auf Guido Stromer und die etwas umständliche Art, wie sich dieser Mann in Scene setzte, einzugehen, ja selbst noch zu wagen, den Gerichtsdirektor von Zeisel zu sprechen, falls dieser sich noch sollte anmelden lassen.

Guido Stromer, gesättigt, vom Weine mächtig gehoben, mit rollenden blitzenden Augen, entfesselt wie ein alter [1538] Bursch, der mit seinen Universitätsgenossen nach zwanzig Jahren sich zu einer Reminiscenz eines Commersches vereinigt, brannte vor Verlangen, mit dem Anliegen, das ihn hergeführt hatte, nun hervorzutreten.

[1539]
4. Capitel. Der Luxus des Geistes
Viertes Capitel
Der Luxus des Geistes

Sie sind schon länger hier? fragte Egon, als der gute Heunisch gegangen war und beide Zurückgebliebenen an einem Fenster Platz genommen hatten.

Durchlaucht, begann Guido Stromer mit einiger Feierlichkeit und den letzten Wohlgeschmack des Gaumens mit der Zunge überstreifend, Durchlaucht, ich gestehe, daß die Veranlassung meiner Reise mit der Anhänglichkeit, die ich an Sie, Ihr Haus, Ihre edle Mutter haben sollte, in keinem vollkommenen Einklang zu stehen scheint.

Sie sind wahr, wie Heunisch! sagte Egon. Das freut mich, Herr Pfarrer!

Ich sehe da das Bild der theuren Frau! Ihre herrliche Mutter! fuhr Stromer fort. Mag sie mir vergeben, wenn ich dem Sohne, den ich nun so stattlich, so geistesreif, so anschauungsklar vor mir erblicke, wie ich es vor einer Reihe von Jahren schon aus des Knaben Briefen ahnte, die alte Treue nicht halte und vor ihm nicht im günstigen Lichte der Dankbarkeit erscheine.

Sie wollen sich doch nicht verändern, Herr Pfarrer? sagte Egon, der nun plötzlich mitten in seine kleinen[1540] Regierungssorgen eintrat. Aber freilich, wer verdenkt Ihnen Das? Sie haben Ansprüche auf eine bessere Pfarre. Sie sind übergangen, vielleicht zurückgesetzt worden. Sie werden nicht erleben, daß ich Ihnen zürne, wenn Sie Ihre Lage verbessern können..

Durchlaucht sprechen Das, was ich auf dem Herzen habe, nur zum Theil aus, antwortete Stromer. Ich will von meiner bisherigen Stellung nicht ganz ausscheiden. Ich will mir den sichern Rückzug auf ein festbegründetes Leben nicht ganz abschneiden. Ich habe ein Weib. Ich habe fünf Kinder. Allein ...

Was möchten Sie?

Wenn Ew. Durchlaucht die Gnade hätten zu gestatten, daß ich meine Pfarre von einem Verweser besorgen lasse, einem jungen, erprobten Candidaten, den ich schon gefunden habe ...

Und Sie selbst?

Ich selbst, Durchlaucht, kann einem welterfahrenen Denker wie Sie wol aufrichtig eingestehen, ich selbst bin in einer eigenthümlichen Krisis befangen. Ich möchte, staunen Sie nicht, ich möchte noch einmal den Versuch wagen, dem Leben eine andre Seite abzugewinnen, als sie sich mir bisher in meinem Wirken am Fuße des Schlosses Hohenberg darbot ...

Sie wollten ...

Ich bin ein Geistlicher, der ...

Stromer stockte. Egon half ihm nach mit den Worten:

Ein Geistlicher von einer sehr strengen Auffassung[1541] des Christenthums. Ich weiß Das. Meine gute Mutter schenkte Ihnen ihr ganzes Vertrauen ...

Ich war so glücklich, in meiner früheren Seelenstimmung mit der edlen Verklärten auf einen Ton zu erklingen. Wir ergänzten uns. Wir genügten uns gegenseitig ...

Es war eine Seelenfreundschaft; ich weiß es ...

Die reinste und edelste von der Welt! Diesen Bund schloß die himmlische Liebe.

Und Sie sind mir darum doppelt werth, Herr Pfarrer. Soll ich Sie wirklich missen?

Ein Geständniß, Durchlaucht! Ich finde, daß ich zu früh abgeschlossen habe. Ich stehe im Anfange meiner vierziger Lebensjahre und bin in einen so nagenden Zweifel über meine bisherigen Auffassungen der Welt und der göttlichen Ordnung gerathen, daß ich der unglücklichste Mensch sein würde, sollt' ich auf meiner Pfarre in der Ergebung in mein früheres Denken und Glauben zu Grunde gehen.

Doch kein Apostat?

Kein Apostat, Durchlaucht! Ich stehe noch immer auf meinen bessern alten Standpunkten und glaube, daß dieses Leben eine Vorbereitung himmlischer Freuden oder ewiger Verdammniß ist. Christus ist noch mein Mittler. Aber ich fühle, daß ich nicht durch den rechten Zweifel zum Glauben gekommen bin. Ich fühle, daß ich zu rasch überwand. Den Feind umging ich, ich bekämpfte ihn nicht. Ich fand das gläubige Gemüth Ihrer verklärten Mutter. Die edle Frau war glücklich in den Anschauungen, die ihr [1542] als die letzten, die besten, die dauerndsten nach vielen Irrthümern und Gaukelbildern der Phantasie und des Herzens geblieben waren. Ich nahm diese Anschauungen ungeprüft an, weil sie für eine vortreffliche Frau von unumstößlicher Wahrheit waren. Ich war glücklich, mit einer reinen Seele mich auf einen Accord stimmen zu können, und glaubte rein zu klingen, weil ich wie sie klang. Sie starb und die gleichgestimmte Terz fehlt nun. Die Harmonie ist hin und ich bin nicht glücklich.

Guido Stromer sprach diese Worte nicht ohne Bewegung und Egon hörte sie voller Theilnahme. Er hatte in der Schweiz Gelegenheit genug gehabt, zu sehen, wie frömmelnde Richtungen sich oft weltlich entpuppten, hatte Rafflard's charakterlose Metamorphosen erlebt und hier zeigte sich eine Umwandlung, die eine wirklich reine, eine geistige schien. Stromer's Auge blitzte; es lag ein zehrendes Feuer in den Blicken, die seine Worte begleiteten. Es war unfehlbar doch ein Denker, der mit ihm redete.

Mein Herr Pfarrer, sagte Egon, wenn Sie es vor Ihrer Familie verantworten können und einen geschickten, würdigen Ersatz aufzuweisen haben, so würde es sehr eigensinnig von mir sein, in Ihre innere Entwickelung eingreifen zu wollen. Ich wünsche, daß Sie recht zur Klarheit über sich selbst kommen mögen, wenn Ihnen nicht dieser Wunsch im Munde eines jüngeren Mannes vorlaut scheinen sollte.

Durchlaucht sind sehr gnädig, sagte Stromer, sichtbar [1543] erleichtert von der freundlichen Aufnahme seiner Wünsche bei dem neuen Kirchenpatrone, vor dem er, in Erinnerung alter Irrungen, Beklommenheit genug gefühlt hatte ...

Sie werden also in der Residenz bleiben wollen? fragte Egon.

Sie selbst haben sich in der Welt getummelt. Sie kennen das Leben vielleicht mehr als ich ... sagte Stromer verlegen.

Sie wollen beobachten? Oder ziehen Sie vor zu reisen?

Zu einer Reise fehlen die Mittel ... Ich werde ohnehin schon Mühe haben, eine doppelte Existenz zu bestreiten. Ich denke also hier zu bleiben. Manches Haus hat sich mir bereits erschlossen. Manche bedeutende und einflußreiche Persönlichkeit ist mir zuvorkommend schon entgegengetreten. Ich habe mit Erstaunen bemerkt, daß die Erscheinung eines Menschen, der nur lernen, nur auffassen, richtig beurtheilen will, etwas Neues in der Gesellschaft ist.

Wenigstens Der, sagte Egon, der eine solche Absicht von sich offen eingesteht.

Die Menschen finden es sonderbar, fuhr Stromer ermuthigter fort, daß man nicht mit ihnen streitet und darum doch nicht ganz ihrer Ansicht ist. Ich finde, daß die Sucht, Alles in Parteien zu zerklüften, uns den Kern der Dinge raubt und nur die Schale läßt. Sie bewundern zuviel, sagte man mir schon. Sie geben jedem Irrthum [1544] eine zu gefällige Entschuldigung! O welche Unduldsamkeit! Der Geist wirft durch das Prisma des Lebens alle Farben des Regenbogens. Wie kann ich eine Mischung der Strahlen über die andre setzen?

Guido Stromer sprach diese Worte mit einer gewissen schmiegsamen Grazie.

Da können Sie ja der Verkünder eines neuen Evangeliums werden, sagte Egon lächelnd und theilnehmend. Das alte, auch das christliche, ist sehr exclusiv.

Doch nicht! sagte Guido Stromer. Auch die Christuslehre will keine objective Wahrheit. Sie will nur eine persönliche Wahrheit. Warum ist der Herr für uns gestorben? Warum sollen im Leib seines Lebens und Blut seines Todes unsre Herzen leben? Der allmächtige Zauber der ergriffenen Persönlichkeit, heißt Das, ist die Gewalt, die selig macht; der todte Buchstabe, die objectiv sein wollende Wahrheit ist es nicht.

O Das ist ja herrlich, Herr Pfarrer! rief Egon in seiner nach allen Seiten hin heute so glücklichen Anregung und dabei immer gespannt das Bild im Auge behaltend, auch manchmal wie auf Helene d'Azimont's Nähe lauschend. Predigen Sie doch ja hier überall diese Lehre! Sie thut der ganzen Welt so noth, daß ich gern ertrage, wenn Sie sie noch einige Zeit den Bewohnern von Plessen vorenthalten! Wie lange wollen Sie, daß ein Vikar dort für Sie eintritt?

Gestatten Sie mir ein Jahr, Durchlaucht! sagte Stromer bestimmt.

[1545] Sprechen Sie mit dem Justizdirektor darüber! Haben Sie schon Ihren Ersatzmann?

Propst Gelbsattel, in dem ich einen Freund und Förderer gefunden habe, wird mir einige Vorschläge machen. Ein gewisser Oleander, ein sanftes, dichterisches Gemüth, von Rechtgläubigkeit und nicht unerfahren im Schulfach, möglicher Schwiegersohn des Propstes, gefiel mir ...

Gut! Aber Ihre Familie? Wäre es nicht besser, wenn Ihnen diese ...

Nachzöge? meinte Stromer gedehnt. Ich kann es nicht wünschen. Ich habe mir eine nicht geringe Aufgabe gestellt und gerade Das, was sie allein lösen kann, ist die Freiheit meiner Person. Es mag Manchem bedenklich erscheinen, wie ich so Weib und Kind von mir gleichsam abschüttele, aber ich werde später, wenn ich mein Ziel erreicht habe, sie um so inniger an ein stärker gewordenes Herz ziehen.

Egon nahm keinen Anstand seinen Beifall zu geben, gestattete ohne Weiteres, jenen Oleander zu wählen und sagte nur noch:

Um dieses Ziel? Welches ist es, Herr Pfarrer?

Stromer gerieth in einige Verlegenheit. Er schien mehr gesagt zu haben, als er wollte. Egon nahm daher Veranlassung, sich noch lebhafter in seine Gedankenreihe zu versetzen und äußerte rasch:

Fast merk' ich etwas. Sie werden vielleicht weder nach Plessen, noch je überhaupt auf eine Kanzel zurückkehren [1546] wollen? Sie suchen einen ganz neuen, eigenthümlichen Lebensweg. Nicht wahr?

Durchlaucht, daß ich es offen gestehe, fuhr Stromer, nun ganz mit der Sprache herausgehend, fort. Ich kann mich in dieser doppelten Existenz nicht behaupten, wenn ich nicht an eine neue Erwerbsquelle denke. Meine Art zu urtheilen fiel in einigen Salons auf und Propst Gelbsattel war es vorzugsweise, der mich ermuntert hat, die Feder zu ergreifen. Ich werde schreiben ...

Ah! Das war für Egon eine ganz neue Perspective. Er hatte also einen werdenden Autor vor sich! In diesem Augenblick verstand er Guido Stromer's Weise, seine Sprechart, sein Äußeres, seine hohe Stirn, seine zurückgestrichenen Haare, die weit geöffneten Augen, dieses eigenthümliche Etwas, das über des Mannes ganzer Erscheinung lag. Und weit entfernt, ihn wegen dieses Geständnisses für geringer zu achten, schenkte er seinem Besuch eine im Gegentheil sich steigernde Hochachtung. Nur eine Art beklommener Scheu kam jetzt doch über den jungen Fürsten, eine gewisse Verlegenheit, ja wenn er ganz aufrichtig sagen wollte, was ihm geschah, so mußte er eingestehen, ein gewisses Mistrauen regte sich in ihm, und ein wenig auf dem Stuhle rückend, gleichsam als wollte er abbrechen, sagte er:

Und nach welchem Gesichtspunkte denken Sie zu wirken?

Die Gährung des Geistes, sagte Stromer, diese nur so hingeworfene Frage festhaltend, kündigt sich nach allen [1547] Richtungen an. Kein Feld des menschlichen Wissens, wo nicht ein alter Glaube neuer Prüfung unterworfen ist. Das religiöse, mir verwandteste Gebiet ist mit der Weltlichkeit in eine bisher ungeahnte Beziehung getreten. Wie fordern die vielen kirchlichen Regungen nicht selbst die Politik der Staaten heraus, und wie nahe tritt die Religion überhaupt jetzt wieder dem Leben, dem täglichen Zusammenhange unseres Ichs mit dem Nächsten, dem Natürlichsten, was unsere Existenz bedingt! Weit entfernt, darin eine Entweihung des Gottesgedankens zu finden, sollen wir die Möglichkeit eines neuen Triumphes für ihn anerkennen. Alles will neugeboren werden, in einem neuen Lichte wandeln, die Taufe des Geistes empfangen, die Feuertaufe der freien Überzeugung. Nun wohlan! Da mag geirrt, blindlings getastet, das nächste Endliche und Oberflächliche zu schnell als Beantwortung einer tiefen Menschheitsfrage genommen werden; aber es ist doch ein Drang, ein Streben, eine mächtig wirkende Wahrheit des Gemüthes da. Ich sehe hier ein Chaos von Principien, ein wildes, sich bäumendes Trotzen auf seine Endlichkeit, ein Prahlen sogar mit seiner Verzweiflung an der Unmöglichkeit, über die Schranken des Diesseits hinauszublicken; allein selbst im Extrem, selbst in der Caricatur muß ein Denker staunen, wie doch der Sinn der Menschheit an Idealität zugenommen hat. Ich habe hier sogenannte freie Gemeinden besucht, deutschkatholische Zusammenkünfte, ich war unter jungen Philosophen, die etwas wild und zügellos das Nichts ihres Geldbeutels auf [1548] das Nichts des großen Alls bezogen, ich stehe staunend und verwundere mich über die Vermessenheit der Ohnmacht, und doch hat dies Sehnen und Schmachten der Creatur nach Freiheit und Erkenntniß einen unendlichen Reiz für mich, einen größeren, als früher mein allzuschroffes Verdammen jeder Richtung, die nicht zu meinem nächsten Ziele führte. Man sagte mir, daß meine Analyse dieser Erscheinungen neu sei und deshalb will ich anfangen zu schreiben, so alt ich schon geworden bin.

Und Ihr eigentliches Princip? fragte drängender Egon, den die Zuversichtlichkeit dieses Tones bei der großen Unsicherheit über Das, was man jetzt für Wahrheit nehmen soll, fast erschreckte.

Ich gestehe fast, sagte Stromer, daß ich gegen diese Forderung eines Principes überhaupt bin. Man soll nicht mehr fragen, was ist Wahrheit? Man soll den Menschen allein nehmen und die Wahrheit individuell nur auf ihn allein beziehen. Gott, diese Fülle der Erscheinungen ist ja so interessant! Wie lieblich ist der Trieb zur Schönheit, wie himmlisch, wie göttlich das Schwelgen in äußerer Form, in der Harmonie der Theile, im Belauschen der Feiermomente der Natur! Andererseits acht' ich, ehr' ich den einsamen Denker, der beim Lampenlichte mit dem grünen Schirm auf dem blöden Auge ein zweiter Faust aus pergamentnen Schriften Erkenntniß sucht. Jede Freude an der Erscheinungswelt, auch wenn sie mich ganz erfüllt, ganz entzückt hat, wie lange dauert sie denn? Da kommen die Humboldt's und zerstören mir alle [1549] Märchen der Schöpfungsgeschichte; da lösen die Liebig's alles Feste und Majestätische in Wahn und kleine Täuschung auf, und die Mechanik, ist die vollends nicht ein ungeschlachter Riese, der mit der furchtbaren Keule seiner mathematischen Gesetze Alles zertrümmert und fast die Erde aus den Angeln ihrer bisherigen Vorstellung über ihre Kräfte gehoben hat? Ja, Durchlaucht, was ist da Wahrheit? Der Mensch ist die einzige Wahrheit, die wir begreifen können; der Mensch in seinem Sehnen, Bedürfen, der Mensch in seinem Haß und seiner Liebe, der Mensch in seiner Größe und seiner Ohnmacht, und wenn der Schriftsteller jetzt einen Beruf hat, so ist es der, die Ästhetik der Wahrheit zu lehren, d.h. das Fühlen und Empfinden, das Zittern und Jauchzen, das Verzweifeln und das Triumphiren des denkenden Ichs. Ästhetische Weltanschauung, Durchlaucht, diese wird uns zur Vermittelung der Extreme führen. In diesem Sinne hoff' ich, wenn die Feder mir den Dienst nicht versagt, segensreich zu wirken.

Egon, der auf Principien katonisch strenge hielt, ja etwas Stoisches in seinen Überzeugungen bewahrte, erschrak fast über diese vague, flimmernde Erklärung, obgleich er nicht im Stande war, sogleich die Gefahr zu erkennen, die aus einer zu üppig wuchernden Beweglichkeit des Geistes für den Charakter und die Reinheit aller Meinungskämpfe entstehen konnte. Dennoch sagte er nicht ohne Ironie:

Da will ich nur nicht wünschen, Herr Pfarrer, daß Sie [1550] der Sultan kommen läßt, Ihnen den Sonnenorden umhängt und den Auftrag ertheilt, über Muhamed's göttliche Sendung zu schreiben!

Guido Stromer war auch sogleich von der Vorstellung des Orients, von dem Sonnenorden und den Anschauungen des west-östlichen Divans so in seiner beweglichen Phantasie geblendet, daß er nichts erwiderte, sondern die Augen gewaltsam und mächtig aufschlug, als würde ihm eine neue verlockende Gedankenreihe eröffnet, eine Perspective in die Gärten von Schiras und Damaskus. Er blickte wie ein von Opium Berauschter und flüsterte nur:

Sonnenorden? Muhamed's göttliche Sendung?

Also Schriftsteller! unterbrach Egon sein Träumen, das sich noch im Echo seiner langen Rede zu wiegen schien. O da wünsch' ich von Herzen Glück! Sieh! Sieh! Wie überraschend Das ist! Herr Stromer, lassen Sie mich bald von sich hören! Schicken Sie mir das Erste, was Sie veröffentlichen! Wie begierig bin ich! Wie gespannt! Besuchen Sie mich oft und die nähere Einleitung Ihrer Wünsche treffen Sie mit dem Justizdirektor!

Diese Worte waren denn wohl einer Entlassung gleich.

Stromer, fast erstaunt, daß der junge Fürst eine solche Mittheilung über sein künftiges Wirken sichtlich doch etwas verlegen, ja ängstlich aufnahm, verbeugte sich. Es schien über sein bewegliches Antlitz der Gedanke zu fahren: Der arme junge Mann! Ich hab' ihn in Verlegenheit gesetzt! Ich bin ihm plötzlich zu hoch gewachsen, zu bedeutend überragte ich ihn!

[1551] Stromer ging mit vieler Förmlichkeit und dankte für die ihm widerfahrene Gnade.

Nicht ohne eine gewisse gemachte Empfindsamkeit warf er, als er schon die Thür in der Hand hatte, noch einen Blick auf die in einer Ecke des Zimmers aufgestellten mehrfachen Bilder der Fürstin Amanda.

Als sich Egon nach Louis umsah, trat dieser ausgerüstet mit Hut und leichtem Stocke herein, um auszugehen.

Es ist gut, sagte er, daß du nicht zugegen warst, lieber Freund. Eben hab' ich mich so albern benommen, daß man von meinen geistigen Kräften bald eine sehr geringe Meinung in Umlauf gesetzt hören wird. Dieser Mann, Geistlicher auf meinen Gütern, erklärt mir eben, daß er die Absicht hätte, die Feder zu ergreifen und unsere Literatur zu bereichern. Und statt dies Geständniß freudig zu begrüßen, statt ihn über die Pläne, die er auszuarbeiten gedenkt, zu befragen, gebehrd' ich mich wie ein Mensch, dessen Weisheit einem Schriftsteller gegenüber zu Ende geht.

Oder vielleicht wie ein geborener Aristokrat! sagte Louis und suchte es trotz seiner Aufregung noch über sich zu gewinnen, den scherzenden Ton beizubehalten. So oft ich mit einem Maler zu einem reichen oder vornehmen Manne kam, merkt' ich immer, daß man die Schaffenden doch ängstlich und befangen behandelt. Ein Maler, der mich hier in meinem kleinen Comptoir besuchte, er heißt Leidenfrost, sagte mir, als ich diese Bemerkung machte: Mein guter Freund, Das geschieht, weil zwischen dem [1552] Genie und der Prärogative der Abstand so groß ist, daß die Reichen und Vornehmen ihn meist nur durch Insolenz glauben ausfüllen zu können. Das paßt natürlich auf meinen Freund Egon nicht, wohl aber auf viele Vornehme und vielleicht immer auf das Schicksal der Schriftsteller.

Wenn ich aristokratisch erscheine, sagte Egon, so ist nur mein Freund Louis Armand Schuld. Wer heißt dich denn in fremder Gegenwart mir die lächerlichen Ehren meines Standes anthun, mir Lüstre geben, sich zum Schemel meiner Würde machen?

Louis, der eben einen schwarzen Handschuh zuknöpfte, sah den jungen Fürsten mit einem von unten emporblickenden Auge voll Rührung an. Er sagte nichts, aber es lag in seinem fragenden Blick der ganze Schmerz ausgedrückt, daß dies seltene Verhältniß, das der sonderbarste Zufall und die Laune eines eigenthümlichen Charakters so gefügt hatte, nun wol nicht mehr lange in dieser Form bestehen würde.

Louis, sagte aber Egon gerührt, könntest du je an meiner Treue, an meiner ewigen Freundschaft zweifeln?

Louis schwieg und sah zur Erde.

Du bist gerettet, sagte er nach einer Weile, Louison's Schatten möge dich schützen! Ich bin nun dein Wächter nicht mehr, nicht der Pfleger des jungen Fürsten, den Alle verehren, Manche fürchten und nur Wenige wahrhaft lieben werden. Ich kehre nun zurück zu meinem kleinen Comptoir. Ich bin Louis Armand wieder, der Kunsttischler und Vergolder.

[1553] Egon drückte ihn gerührt an's Herz.

Mein Bruder! Mein Freund! sagte der junge Fürst. Ich danke dir mein Leben! Wenn ich je vergessen könnte ...

Erinnere dich unserer glücklichen Zeit, sagte Louis bewegt, und habe nie umsonst gelebt im Schooße des Volkes! Einige Tage noch und du bist in die Herrlichkeit deines Standes so wieder eingeführt, daß du davon überflutet sein wirst. Die Sorge um dein Eigenthum hat dir ein kundiger, braver Mann in Hohenberg abgenommen! Du hast das Bild, dessen Geheimniß dir bald gelöst sein wird! Du hast die feurige Liebe wieder, in deren Umarmungen du die Poesie finden wirst, die eher für dich paßt als einst die Lyoner Idylle unter unsern alten Nußbäumen ...

Nein, nein, Louis! Ich wollte, ich hätte mich getäuscht und diese Briefe wären von einer fremden Hand geschrieben, nicht von Helenen's.

Wir haben schon gesagt, Freund, unsere Zeit ist nicht darnach, Liebe von sich zu stoßen. Laß sie dein Glück sein, aber auch deine Zierde, dein Stolz, deine Erhebung!

Das kann sie nicht! sagte Egon düster. Eine solche Liebe, Louis, bleibt egoistisch. Sie klammert sich wie die zärtliche Umarmung der Schlingpflanze an uns an, will erst nur lieben, nur dienen, nur gehorchen und bald ist uns das Mark der Seele, das Wachsthum unserer Zweige ausgesogen, wir verdorren und sind nur noch der Schatten unserer selbst!

O möge diese Erfahrung nie kommen, mein Egon! sagte Louis besorgt.

[1554] Egon schwieg nachdenklich. Dann umarmte er mit stummer Rührung noch einmal den bescheidenen Fremdling, mit dem er schon so viel Frohes und Trübes erlebt hatte und der eben von ihm schied mit dem Gefühle, das er sich wol eingestehen durfte: Ich habe dich vom Tode gerettet! Wer weiß, ob mir noch länger dein Leben gehören wird.

Egon rief Louis noch nach, ja nicht bei Tisch zu fehlen und durchaus der heutigen Fahrt nach Solitüde sich anzuschließen.

Ich muß noch einen Arm haben, sagte er, der mich stützt, einen Fuß, der mit mir geht, einen Kopf, der für mich denkt, Louis! Glaube mir, es wird mir Alles schwer und ich denke, ich bedarf deiner wol für den ganzen Weg meines Lebens!

Darunter würd' ich selbst leiden! antwortete Louis künstlich lächelnd und suchte die schmerzliche Stimmung durch Scherz zu erleichtern. Du siehst, daß ich auch meine Wege habe und recht geheime, was du später hören sollst. Leb' wohl! Du bist erschöpft. Nimm keine Besuche mehr an! Ruhe dich auf diesen weichen Ottomanen des Nebenzimmers aus und träume!

Ich will es versuchen, sagte Egon, als Louis schon die Thür in der Hand hatte. Ich sah an diesem Guido Stromer, daß man des Geistes zuviel in sich fühlen kann; ich habe das Bedürfniß, jetzt arm daran zu sein. Ich will nicht denken. Ich will vegetiren. Mein Zustand erfordert es.

[1555] Eine Weile warf sich Egon, als er allein war, nun auf ein weiches, schwellendes Polster.

Er war furchtbar erschöpft.

Stromer's wühlerische, grübelnde, ziellose, weichliche Dialektik hatte ihm vollends die Nerven angegriffen. Er sank in die Polster, halb ohnmächtig ...

Nach einer Weile fiel sein Blick, der erst langsam wieder Kraft gewann, auf das räthselhafte Bild ... er sehnte sich nach Dankmar Wildungen ...

Aber nur flüchtig ... Er stieß mit Gewalt den Reichthum von Eindrücken, der ihn plötzlich überströmte, von sich ...

Das war Alles so überwältigend, so voll, so mächtig! Helene, Dankmar, das wirklich eroberte räthselhafte Bild dort ... das Testament seiner Mutter ...

Er schloß die Augen.

Seine Knabenzeit überschlich ihn. Dies waren die Zimmer, die ihm einst verschlossen waren. Hierher ließ ihn der Vater niemals. Es waren die Zimmer des alten Fürsten, die Teppiche, die Statuen ... wie geschmackvoll, wie weich, wie sanft, die Seele einlullend, den Sinnen sich einschmeichelnd!

Seine fürstliche Geburt hatte er noch wenig empfunden. In Hohenberg herrschte kein Luxus und vor den Entbehrungen in Lyon und Paris kannte er nur die bescheidene Bequemlichkeit des Pensionats in Genf.

Nur das mit Helenen verlebte Jahr hatte ihn verwöhnt und weichlich gemacht und vorbereitet, dies Palais seines Vaters doch schön zu finden ...

[1556] Aber es hielt ihn nicht lange in dieser ausgestreckten Lage auf den Polstern, den Blick so auf die Bilder und die Blumen gewandt, die ihm der Aufseher des Gartens, um sich zu empfehlen, in die Zimmer zur Feier der Genesung gestellt hatte.

Er betrachtete die Züge seiner Mutter und wollte eben auf das Pastellgemälde nun zuschreiten, als ihm das Billet Helenen's zur Erde fiel. Da erschrak er. Er fühlte, daß er ihr in das Hotel, wo sie wohnte, jetzt endlich ein Wort des Grußes schicken mußte. Er öffnete, rasch sich ermannend, einen sauber ausgelegten Schrank, zog eine practicable Schreibplatte hervor und warf rasch die Anrede hin:

»Meine gute, liebe Helene!«

In diesem Augenblicke wurde ihm aber der Justizdirektor von Zeisel gemeldet ... und der Referendarius ...

Er sagte, die zweite Meldung überhörend:

Ein Andermal!

Dann sich besinnend:

Morgen!

Wie der Bediente ging, dachte er, daß doch sein erster Beamter die nächsten Ansprüche an ihn hätte und rief:

Ich bitte Herrn von Zeisel heute die Suppe bei mir zu essen, um zwei, weil ich ausfahren muß! Jetzt nicht! Fort! Fort!

Der Bediente meldete aber noch den zweiten Besuch durch die überreichte Visitenkarte.

Herr Referendarius Dankmar Wildungen! sagte er.

Eine Karte gab den vollen und richtigen Namen.

[1557] Da sprang denn Egon freilich von seinem Sessel empor, stieß das Papier rasch in die Schublade des Schreibtisches und ging mit dem Rufe: Das ist etwas Anderes! O! Endlich! Endlich! ... freudig erregt beiden Angemeldeten entgegen.

[1558]
5. Capitel. Verständigungen
Fünftes Capitel
Verständigungen

In diesen sechs Wochen hatte Dankmar Wildungen nur der gesetzlichen Einleitung seines großen Unternehmens gelebt.

Die gewaltsame Untersuchung seiner Wohnung erzeugte einen gerichtlichen Schriftwechsel, dessen Folge allerdings die Auslieferung der Papiere sein mußte, die sich Dankmar erlaubt hatte, aus dem von ihm entdeckten Archive im Tempelhause von Angerode sich anzueignen. Doch gab er sie gern hin, nachdem er und Siegbert Tage und Nächte damit zugebracht hatten, Abschriften zu nehmen und diese gerichtlich beglaubigen zu lassen.

Die Angelegenheit wegen des Bildes konnte er nicht weiter verfolgen. Siegbert hütete sich wohl, ihm zu entdecken, daß er in der Rückwand desselben Schriften gesehen, die Bezug auf ihre eigenen Anverwandten hatten. Er fürchtete, das leicht erregte Gemüth des Bruders nur zu neuen Unternehmungen, deren Ende und Gefahr nicht abzusehen war, zu entflammen, und besprach sich mit Rudhard, dem die Verwickelung seiner ihm in dieser Sache noch kurz vorher möglich geschienenen Mission [1559] außerordentlich schmerzhaft war, ein anderes Auskunftsmittel zu finden, das den Verdacht des Prinzen über die stattgefundene Unterschlagung ablenken sollte ... Denn darin waren sie einig, daß eine verwegene, böse Handlung hier im Spiele war, eine Intrigue, die sie Alle getäuscht hatte. Als Schlurck die Bilder ablieferte, wußten sie es mit Louis Armand's Beihülfe während der Krankheit des Prinzen dahin zu bringen, daß Egon, im Fall er das Geheimniß der Öffnung des Medaillons entdeckte, sich nicht ganz getäuscht fühlen konnte. Alle diese Unternehmungen aber schwanden vor der Größe der Aufgabe, die sich Dankmar dadurch stellte, daß er gleichsam dem Staate und der am meisten bei der Johannitererbschaft betheiligten Kirche den Fehdehandschuh hinwarf und für die einzige freie Persönlichkeit einer Familie eine Überlieferung der Jahrhunderte in Anspruch nahm. Verjährt konnten seine Ansprüche nicht genannt werden. Denn der Staat hatte durch Proteste, die sich von Menschenalter zu Menschenalter wiederholten, diese Entscheidung als eine offene aufrecht erhalten. Er fand keine Narbe, sondern eine Wunde vor. Der Staat, von welchem wir reden, war einer von denen, die sich ohne Umwälzungen in einer ruhigen Entwickelung allmäliger Vergrößerung und leidlich rechtlicher Begriffe gebildet hatten. Hier konnte ein Proceß vom siebzehnten Jahrhundert her noch unentschieden sein, wie Friedrich der Große im Jahre 1740 einen alten Proceß des Dreißigjährigen Krieges aufnahm und Schlesien eroberte. Da aber die Berechtigung des [1560] Streites zugestanden war und für die Commune immer nur der Titel des Besitzes gegolten hatte, so war die Mitbewerbung eines Dritten zwar ein unvorhergesehenes, aber völlig begründetes Ereigniß. Es kam nur darauf an, daß die Unparteilichkeit der Richter die Ansprüche der Familie Wildungen auf Grund jener Urkunden anerkannte.

Das Aufsehen, das diese merkwürdige Wendung eines vom großen Publikum bisher nur gleichgültig beobachteten Streites machte, war nicht gering. Einige nur in der Gesellschaft, nur in kleinem künstlerischem Kreise bisher genannte Namen kamen plötzlich in Aller Mund. Jedermann sprach von den beiden Söhnen einer armen Predigerwitwe in Angerode, die in der Lage waren, Besitzer eines, wie dies natürlich sogleich geschah, übertriebenen Vermögens zu werden. Man vergrößerte nicht nur die Summen, um die es sich handelte, sondern auch die Rechtsgründe, deren schlagende Triftigkeit doch erst zu erweisen war. Man nahm Partei, erst für das Wunderbare in dieser Sache an sich und gab Denen unbedingt Recht, denen das hier auf dem Spiele stehende Glück gleichsam aus den Wolken in den Schooß fiel. Bald aber zertheilte sich die erste günstige Meinung. Bedenken, Zweifel wurden laut und wo die gründliche Prüfung schwieg, stellte sich das verletzte Interesse ein. Besonders war es die städtische Kirche, die in Zorn und Eifer gerieth. Hatte sie schon gefürchtet, in die Botmäßigkeit des Staates zu kommen und der patriarchalischen [1561] Verwaltung ihrer Pfründen und Institute entkleidet zu werden, so hatte sie jetzt nicht nur das schöne, noch dazu zeitgemäß stutzbare Princip der »Selbstregierung« zu verlieren, sondern sah auch der völligen Einbuße ihrer reicheren Dotation entgegen, wenn die Häuser, die alten Grundgerechtsame und Zinse der St.-Johanniterverlassenschaft in die Hände jener Familie kamen. Dem Zorne und Poltern der verletzten Interessen folgte, wie dies immer in solchem Falle zu geschehen pflegt, auch bald das Aufstellen scheinbar parteiloser und doch nur im Interesse der Parteien gemodelter Principien. Der Eine verlangte die Verjährung, der Andere räumte nur dem Staate und nur ihm als Universalerben jedes verjährten Rechtes den Besitz ein. Freimüthige Seelen und solche, die am Neuen und Seltenen Gefallen fanden, stellten dem Staate und der Gemeinde die Persönlichkeit gegenüber und ihr ewiges unverjährliches Recht, fanden in dieser materiellen, handgreiflichen und nur mit Geld und Gut auszudrückenden Verhandlung eine höhere Symbolik und erklärten, diese durch zwei Jahrhunderte herrenlos gebliebene, nur dem Stärkeren anheim gefallene Hinterlassenschaft eines geistlichen Ritterordens wäre ja ein Bild der Verwirrung unserer Zeit überhaupt, die auch so das Unrecht und die Gewalt in den Alleinbesitz der großen Verwaltung des Menschheitideales gebracht, überkommen hätte und sich jetzt entschließen müsse, diesen Alleinbesitz an das ursprüngliche Menschenrecht umsomehr wiederherauszugeben, als die an dem unrechtmäßig [1562] erworbenen Eigenthum haftenden Pflichten des heiligen Streites für jenes Ideal, das dem Mittelalter das Land war, wo der Erlöser wandelte, und der neuen Zeit das Ideal eines höhern Tempels der Freiheit und der Glückseligkeit ist, von diesen gewaltthätigen und eigenmächtigen Usurpatoren nur zu sehr hintangesetzt würden.

So ungefähr wurde die erste Nachricht von dem Proceß der Gebrüder Wildungen aufgenommen; denn eine weitere Parteinahme, als für das erste, blendende Gerücht, war noch nicht möglich. Erst vor vierzehn Tagen hatte Dankmar seine selbstverfaßte Schrift eingereicht. Aber nicht nur die Kunde der Thatsache selbst, sondern auch das nicht ungünstige Vor-Urtheil des Gerichtshofes über die mit großem Verstande und seltner Rechtskenntniß abgefaßte Schrift verbreiteten sich so rasch, daß Dankmar und Siegbert, von dem Andrang der Theilnahme, die sie so plötzlich über sich hereinbrechen sahen, fast erdrückt wurden. Da wollte Jeder Glück wünschen, Jeder staunen, guten Rath geben und im günstigen Falle wol auch Theil haben an dem großen Erfolg. Wo die Brüder früher nur durch ihr Talent, ihre liebenswürdige Persönlichkeit sich geltend machen konnten, waren sie jetzt so gesucht, so gepriesen, daß sie Noth hatten, sich vor dem allgemeinen Sturme der Liebe und Freundschaft nur selbst zu bewahren. Weise und sich selbst beherrschend, wie diese Jünglinge früh erzogen waren, begnügten sie sich mit den Beziehungen, von denen sie ahnten, daß sie ihnen auch ohne den gehofften Sieg treu bleiben würden, [1563] und beschränkten sich im Übrigen fast noch mehr auf sich selbst als früher. Sie mußten Dies schon darum thun, weil der Proceß bedeutende Geldmittel erforderte, von denen sie kaum voraussahen, woher sie ihnen zufließen sollten. Vorläufig glaubten sie bestens das Ihrige zu thun, wenn sie fleißig und redlich arbeiteten, um neben ihrem Unterhalte auch noch die Mittel für ihren Proceß zu erübrigen. Siegbert sah sich in der ihm unangenehmen Lage, nachdem das Bild der Majorin Werdeck sehr gefallen hatte, viel zu portraitiren, und Dankmar, der sich in eine andere Abtheilung des Obergerichts hatte versetzen lassen, arbeitete auf Diäten, schrieb auch unter fingirtem Namen juristische Compendien, die nur Erinnerungen seiner eigenen Kenntnisse waren, in Eile geschrieben nichts Neues bringen konnten, aber als gangbare Artikel bezahlt wurden.

Eben erst im Beginn dieser nun neu von ihm angelegten Thätigkeit hatte Dankmar alle seine früheren Verwickelungen mit Personen und fremden Verhältnissen von sich abzustreifen gesucht. Er hatte dem Justizrath Schlurck die von Melanie gewünschte Entschuldigung über das Vorgefallene geschrieben, aber den so heißen Drang, Melanie ganz für sich zu gewinnen, doch wieder mit jener stoischen Selbstüberwindung, die jungen Gemüthern so leicht möglich wird, bezwungen. Er hörte auch, daß sich Melanie mit dem Stallmeister verlobt hätte. Freunde versicherten ihm, daß sie in der Umgegend der Stadt reite, fahre, immer umgeben von einem Schwarm von Verehrern. [1564] Er bekämpfte sein Herz. Der Ernst seines jungen Lebens erfüllte ihn zu sehr und was er immer gesagt hatte, Melanie wäre von den Frauen Eine, die man nur liebe, wenn man sie sähe, bestätigte sich vollkommen an ihm selbst. Er wurde gegen Frauen um so schroffer, als bei der ersten Nachricht von der ihm und seinem Bruder lachenden Möglichkeit einer glänzenden Zukunft sogleich ein ihnen widerliches Drängen bemerkbar wurde, gerade das weibliche Geschlecht in ihre Nähe zu bringen. Von mancher Familie, wo die Absicht zu grell hervorstach, zogen sie sich wie in ihren zartesten Fühlfäden verletzt zurück.

Während sich Siegbert fast ganz und ausschließlich auf sein Atelier, die nähere Beziehung zu dem anregungsreichen Leidenfrost und die ihm plötzlich fast seine zweite Häuslichkeit gewordene Familie der Fürstin Wäsämskoi beschränkte, lebte Dankmar noch zurückgezogener. Der sonst lebensfrohe, überall sichtbare junge Mann war ein Einsiedler geworden. Er las, er studirte mehr denn je. Sein kleines Stübchen bei der Frau Schievelbein, die bescheidene kleine Aula, war jetzt für ihn heimischer und traulicher als die Kaffeehäuser, in denen er früher mehr als in seinen vier Wänden lebte. Stöße von Akten lagen um ihn her. Bücher las er bis in die späte Nacht. Besonders hatte er auf Philosophie und Geschichte sein Augenmerk gerichtet. Sogar die Politik, die er früher leidenschaftlich trieb, war ihm durch ihre Monotonie, die Unfruchtbarkeit der Debatte und die geringe Bedeutung der meisten [1565] elenden, nichtssagenden Persönlichkeiten, die sie in den Vordergrund der Tagesgespräche drängte, zum Ekel geworden. Der neue Reichstag sollte nun abgehalten werden, die Wahlen waren im Sinne des schroffsten Gegensatzes der Parteien ausgefallen und als er auch den Heidekrüger und Deputirten Justus eines Tages als eben angekommen und bereits als Mittelpunkt einer »Fraction« angegeben fand, mußte er auflachen, warf die Zeitung weg und beschloß nur noch solche politische Schriften zu lesen, die von Köpfen herrührten, die der Menschheit neue Gedanken brachten. Er las Macchiavell, Montesquieu, Hume, die Briefe des Junius, Leibnitz, Herder und vertiefte sich mit ernstem Nachdenken in die neueren staatsökonomischen und socialistischen Schriften, aus denen er sich manche Stelle auszog und manchen befruchtenden Gedanken merkte, wenn er auch für die Ideen neuer Gesellschaftsformen nicht wie Siegbert gewonnen werden konnte und überhaupt fern war aller modernen Geniehascherei, aller auf den Universitäten und in den Residenzen jetzt grassirenden Titanenhaftigkeit, allem übermäßigen Anpreisen einer neuen Zeit, die erst ihre Neuheit zu beweisen hatte, aller Anbetung eines vaguen, leeren, wie Kraft sich gebahrenden Schreiens und Tobens, in Schrift und Sprache, in Prosa und Poesie allem gesuchten und manierirten Treiben, in welchem sich talentlose Menschen wie Fauste gebehrden und noch nicht einmal reif sind, bei einem rechten Faust ein Wagner zu sein.

[1566] Eine Dankmarn wahrhaft tröstliche und erquickliche Aussicht war die der ersten Begrüßung des Prinzen Egon von Hohenberg.

Daß sein Gefangener im Thurme von Plessen der Prinz war, unterlag keinem Zweifel mehr, und doch will der Mensch auch das Gewisseste und durch Gründe Erwiesenste zuletzt erst durch ein handgreifliches Erfassen, durch die Berührung der Nägelmale, wie bei jenen Jüngern des Herrn, bestätigt haben. Die Frage: Wie werd' ich den dort so schnell gewonnenen Freund nun wiederfinden? Wie ist er aus dem Thurm entkommen? Wie verschweig' ich ihm alle die Wirren, die sich an das Bild knüpften, das wir gut thun werden, ihm als etwas Unverfängliches und Überschätztes darzustellen? Diese Fragen gingen immer wieder in das Ende über: Und wird es wirklich Prinz Egon sein..? Siegbert war einmal bei Louis Armand im Palais gewesen und hatte sich einigermaßen mit ihm über das Bild verständigt. Sonst war noch keine weitere nähere Annäherung und Nachfrage erfolgt. Es befremdete ihn fast, daß Egon nicht seiner längst selbst gedachte und es war wirklich nur Zufall, daß ihm der Förster Heunisch, eben von Egon kommend, staunend über seinen Irrthum, begegnete und von einer so weit vorgeschrittenen Genesung des Prinzen, für den er Dankmarn gehalten, unterrichtete, daß er sich entschloß, sogleich zu ihm zu gehen. Er eilte nach einigem Geplauder mit Heunisch nach Hause, kleidete sich flüchtig so, wie er glaubte, einer so hochgestellten Persönlichkeit aufwarten [1567] zu müssen und betrat in einer sonderbaren, aber ihm doch wohlthuenden Erwartung und Spannung das Palais des Prinzen ... Wie er hier die stolze Treppe, die Statuen, die bronzenen Candelaber, die Teppiche und Malereien mit dem neben seinem Einspänner einherwandernden Blousenmann und dessen Wiedersehen in dem vergitterten kleinen Thurmgemache zu Plessen verglich, kam ihm eine wahrhaft befremdliche, abenteuerliche, ja durch die schon in ihm verklungenen Erinnerungen an jene romantische Reise elegische Stimmung. So ungleichartig der elektrische Leiter seiner Erinnerungen war, auf diesen steinernen Stufen, wo das Echo seiner Schritte an den marmorirten Wänden widerhallte, war's ihm plötzlich, als schlüge die Nachtigall in der Mondnacht im Schloßgarten von Hohenberg, als hörte er das Rauschen des Waldes, den er an Selmar's Seite durchwandert war, und als stünde er unter jener Eiche wieder, unter deren gezackten Wipfeln er durch Ackermann veranlaßt wurde, über ein schöneres Walten auf dieser Erde und einen lebendigeren Zusammenhang der guten und reinen Geister zu träumen.

Im Vorzimmer fand er den Justizdirektor von Zeisel, den er vom Thurme her und seinem Verhöre sogleich wieder erkannte.

Die lange hagere zerstreute Figur entsann sich seiner offenbar nur dunkel, stellte sich aber als kluger Weltmann, den die lange Abgeschiedenheit und Isolirung des Landlebens in gewissen Höflichkeitsgesetzen nur noch ängstlicher und übertriebener gemacht hatte, über Dankmar [1568] vollkommen orientirt. Er kam in bänglicher Erwartung. Schlurck war seiner früheren Functionen enthoben, ein neuer Administrator mit großen Vollmachten hatte das Ruder der Verwaltung ergriffen, die Aussicht, vom Patrimonialverhältnisse in die allgemeine Landesgerichtsverwaltung in gleichem Rang, gleicher Besoldung wie bisher aufgenommen zu werden, verdüsterte sich und er wäre gern in seinem früheren bequemen Verhältnisse geblieben. Mit großer Besorgniß dachte er an die Resultate dieser ersten Begegnung mit dem Sohne des alten Fürsten, der ihn einst hatte schalten und walten lassen wie er wollte. Seine Frau, die bei Schlurck's seine Rückkehr erwartete, hatte ihm Muth zugesprochen. Eine Reihe von Vorstellungen und dienstlichen Nachweisungen war wie an der Schnur in seinem Haupte aufgezogen. Er hoffte, daß der junge Fürst diese Schnur anziehen, er selbst aber sich bei dieser Vorstellung gut behaupten würde, selbst einem so sonderbaren Manne wie Egon gegenüber, von dem man so Vieles zu erzählen, so Unglaubliches zu fabeln wußte!

Brachte den Justizdirektor nun schon Dankmar in Verwirrung und lenkte sein Gedächtniß auf eine Begegnung, die außerhalb der Administrationsgrundsätze über das Fürstenthum Hohenberg und jener Schnur lagen, so mußte er vollends das Gleichgewicht seiner Geltung verlieren, als nach der Meldung beider Namen Egon die Thür aufriß und mit der liebenswürdigsten Freundlichkeit von der Welt rief:

[1569] Ist es denn möglich, mein Großinquisitor und mein Posa, zu gleicher Zeit? Willkommen! Willkommen, Ihr Beide!

Wie der Justizdirektor sah, daß der Prinz dem jungen Manne, der sich Dankmar Wildungen nannte, eine stürmische Umarmung zum Gruße, ihm dann bieder die Hand bot und Dankmar dem freundlichen Empfänger lachend folgte und dabei immer rief: Doch! Doch! Ich glaubte nicht daran! Doch! Doch! ... da schwindelten ihm förmlich alle Sinne und er fragte verlegen:

Durchlaucht haben mich schon gesehen? Wo hätt' ich die Gnade gehabt ...

Gibt es denn soviel Verbrecher in meinem Ländchen, Justizdirektor, rief Egon, daß Sie unter der Menge nicht eine Physiognomie behalten können, die Ihnen den Thurm, aber auch ihre glückliche Befreiung verdankt?

Und während der Justizdirektor starrte und sich nun umständlich besinnen konnte, umarmte Egon Dankmarn nochmals und zog ihn auf eine Ottomane neben sich nieder, während der Justizdirektor sich nach einem Stuhle umsehen sollte und umsehen mußte, um sich aufrecht zu erhalten.

Wildungen! rief Egon. Ich bin's! Vom Tode erstanden durch jenen Freund, den ich in Lyon fand ... Du entsinnst dich meiner Erzählung?

Dankmar aber, der nicht gleich in den vertraulichen Ton hinein konnte, sagte:

Wir wissen Alles, Prinz, wir kennen Ihre ganze Geschichte, [1570] die Stadt kennt sie, wir wissen, wer Louis Armand ist, und unter dem gewissen Kronenleuchter im Pavillon Ihres Vaters würd' es sich ergeben, daß ich schon orientirt bin; aber daß Sie im Thurme zu Plessen saßen, als ein Handwerksgesell, den die Bedienten des Geheimraths von Harder für einen Dieb erklärten ...

Durchlaucht? fragte Herr von Zeisel erstarrt und schlug sich vor den Kopf. Sie wirklich Der, Der ... den ...? Herr von ...

Ja, ja, Herr von Zeisel, ich! Ich! Aber ich habe mich überzeugt, Sie üben milde Justiz. Sie entlassen die Gefangenen wie Sie sie aufnehmen und geben ihnen nichts mit, als höchstens das Todesurtheil durch ein Nervenfieber, das man von seiner Alteration und der abscheulichen Hitze in dem eisernen Käfig davonträgt.

Zeisel konnte sich nur allmälig fassen. Er war sprachlos. Er dachte: O Gott, warum hat deine Frau diesen Fall für die Schnur nicht vorausgesehen! Du bist auf ein Verhör über Finanzreductionen gefaßt und sollst über ein exceptionelles Abenteuer Auskunft geben, bei dem du ohnehin noch die Rolle eines bequemen und willkürlichen Rechtsverschleuderers im alten spanischen Komödienstyle spielst!

Sagen Sie mir nun aber um's Himmelswillen, Prinz, fragte Dankmar, wie sind Sie frei gekommen?

Egon rückte einige Schritte zurück, ließ die Arme von Dankmar's Schulter, die er umschlungen hielt, sinken und sagte:

[1571] Kein Wort weiter! Ein undurchdringlicher Schleier falle über das Vergangene, wenn mein theurer Freund Dankmar Wildungen in diesem Ceremoniel fortfährt! Wildungen, war denn Das nur ein Traum, daß ich einen herrlichen, lieben Menschen auf dem Heidekruge mit Schlurck reden hörte, auf der Landstraße und im Walde einen herablassenden Gefährten, einen treuen Tröster im Thurme, ein mitfühlendes Echo meiner Klagen fand, als ich mein Leben erzählte bis zu dem Augenblick, wo ich versprach, unter leuchtenden Blumen und Flammen einst von einer gewissen elften Stunde zu sprechen, wo mir ein theures Herz brach, ein unvergeßliches ... Nein, nein, Wildungen, das Wechselwort der Liebe, das ich dir damals anbot, bleibt! Bleibt? Nicht wahr?

Dankmar konnte zur Antwort auf diese liebenswürdige, herzliche Anrede nichts Anderes thun als gerührt schweigen und seine Hand in die Hand Egon's von Hohenberg, wie eines Bruders, legen.

Schlagen Sie unsere Hände durch, Justizdirektor, rief Egon, zum Zeichen, daß sie ewig verbunden sind! Sie haben mir diesen Freund gegeben, Sie milder Richter Sie! Sagen Sie mir aber nun doch, warum ließen Sie mich plötzlich frei? Kam ein höherer Gedanke über Sie oder ein Befehl? Ich suchte, wie mir angegeben wurde, auf der Stelle das Weite und durfte nicht erst lange fragen, wem ich meine Rettung verdanke.

Durchlaucht, sagte endlich Herr von Zeisel, die gute Laune des Fürsten benutzend und sich in dem Falle, auf [1572] den er sich jetzt erst besann, zurechtfindend. Durchlaucht, Sie verdanken sie – meiner Frau!

Bin ich das Schooßkind der Damen! Ihrer Frau?

Das hängt so zusammen, Durchlaucht! sagte Herr von Zeisel. Frau von Zeisel ist eine sehr charmante Person. Dreizehn Jahre macht sie das Glück meiner Ehe aus, aber wenn ich – wir sind unter uns – durch Geduld und Sanftmuth vielerlei kleine Mucken in ihrem lebhaften Temperamente überwunden habe, so steckt doch ein Übel unausrottbar in ihrem so höchst soliden Charakter: der Ehrgeiz, Durchlaucht. In wilder Überrumpelung zwang man mich, den eigenen Herrn und geliebten Erben, den Alle voll Sehnsucht erwarteten, in den Thurm zu werfen. Dies Versteckspiel des tollsten Zufalls, seh' ich nun wohl, ist irgend einem bösen Kobolde, der uns zuweilen im Leben neckt, gelungen. Aber daß Sie frei wurden und Ihr Freund, der Herr da, wahrscheinlich vergebens die Leiter an das Thurmfenster stellte, die wir später fanden –

Wildungen, ist es wahr?

Die Eisenstäbe hätten uns doch Mühe gemacht, sagte Dankmar, den Vogel aus seinem Käfig zu befreien. Daß es also leichter geschah, Herr Justizdirektor –

War die Folge eines Ärgers meiner Frau, sagte Herr von Zeisel jovial. Meine Gattin ist eine geborene von Nutzholz-Dünkerke, seelengut, ein braves Weib, aber etwas reizbar im Punkte der Ehre. Zwei Nutzholz-Dünkerke's sind bereits aus Point d'honneur im Duell gefallen. Mein gutes Weib fand sich etwas zurückgesetzt durch die [1573] Behandlung der Frau Justizräthin. Man lud sie an jenem verhängnißvollen Tage nicht mit der Förmlichkeit ein, die sie durch ihre Geburt gewohnt ist. Und als vollends Herr von Harder, der mit einem Nutzholz-Dünkerke in die Schule gegangen ist, sich auf dem Schlosse wie der König selbst gebehrdete, kaum einem Menschen das Unschuldigste, nämlich einen guten Tag gewährte, und an dem Tage, wo das beklagenswerthe Misverständniß mit Ew. Durchlaucht vorfiel, die einzige auf's Schloß geladene Hauptperson schien und allen andern Bekannten, die sonst der Frau Justizräthin gut genug waren, fast angedeutet wurde, sie möchten sich heute nicht auf's Schloß incommodiren, da stellte mir meine ahnungsvolle, aber höchst zornige Gattin vor, wie wenig begründet Ihre Gefangenschaft wäre und ...

Bravo, Justizdirektor, rief Egon lachend, ce que veut une femme ...

Ce que veut une femme, Durchlaucht ...

Par dépit ...

Par dépit... um zu zeigen, daß wir nicht die Untergebenen der jetzigen Schloßbewohner sind und ...

Die Nutzholz-Dünkerke's schon vor einem Jahrhunderte mehr galten als die Harder's ...

Sie treffen es Durchlaucht! Ha! Ha! Par dépit wurden Sie in Ermangelung triftiger Indicien freigelassen und nur bedeutet, augenblicklich das Fürstlich Hohenbergische Gebiet zu verlassen!

Ein Glück, daß Herr Pfannenstiel, mein Wächter, ein [1574] gutes Herz hatte und mich am Abend noch auf die Sägemühle führte, wo ich übernachtete. Von da wollt' ich, obgleich ich mich krank, von der Hitze im Thurm erschöpft und übermüdet fühlte, mich über Schönau zu Fuß auf die Reise begeben, war aber so angegriffen, fühlte mich so elend, daß ich auf der Landstraße einen Bauer ansprach, der mit einem Soldaten an mir vorüberfuhr und übermüthig in seine starken Gäule hieb. Auf Fürbitte des Soldaten nahm mich der grobe Bauer, er hieß Sandrart, auf und hinten im Korbe des Wagens streckt' ich mich müd' und matt auf ein Bund Stroh neben den mit Eßwaaren überfüllten Kobern. Der Vater fuhr seinen zum Sergeanten beförderten Sohn selbst in die Residenz zurück, wo dieser bei der Garde steht. Gegen Abend kam ein Regen, der mich bis auf die Haut durchnäßte. Schon schlief ich in einer Herberge halb im Fieber. Mühsam schleppt' ich mich am frühen Morgen wieder auf den Korbwagen und kam halb todt gegen Abend hier am Thore an. Ich stieg ab, dankte dem Bauer und seinem Sohn und schlich mich still in mein väterliches Haus. Das ganze Abenteuer schien misglückt und die Folge war, daß ich in ein elendes Nervenfieber verfiel, von dem ich erst seit einigen Tagen zum lichten Bewußtsein zurückgekehrt bin.

Der Justizdirektor erschöpfte sich in Betheuerungen seines innigsten, freudigsten Antheils und fragte, ob man den Bauer Sandrart so glücklich machen könne, ihm zu sagen, wem er so hülfreich sich erwiesen hätte.

Vielleicht besser, sagte Egon, der Grobe erfährt es[1575] nicht. Er hat mir wol zehnmal zugerufen, ich sollte seine Schinken und Eier unberührt lassen, auf die ich in der That keinen Appetit hatte ...

Es ist einzig! sagte Herr von Zeisel künstlich humoristisch. Diese Menschen! Der Schornstein hängt ihnen voller Würste und Speck, das Geld lacht aus allen Truhen und grob, grob sind sie und so unterdrückerisch ... meine Frau sagte oft, so schlimm könnten die Nutzholz-Dünkerke's nicht im Mittelalter gehaust haben, wie sich solche reiche Freibauern gebehrden. Der Sohn ist ein charmanter Mensch ...

Er wird das Geld seines Vaters unter die Grisetten bringen ...

Es entspannen sich nun zwischen dem Justizdirektor und Egon einige nähere Verständigungen über Gegenwart und Zukunft des Fürstenthums Hohenberg. Wegen letzterer war Herr von Zeisel hier. Egon versprach in diesen Tagen ihm über Alles genauere Auskunft zu geben. Vorläufig wäre er umsomehr entschlossen, das väterliche Erbe wirklich anzutreten und trotz der großen Schuldenlast nichts zu veräußern, als er ja in dem amerikanischen Agronomen Ackermann einen so gerühmten und alles Vertrauens würdigen Verwalter gefunden hätte.

Ja, wandte er sich zu Dankmar, jener Amerikaner, von dem du mir im Thurm erzählt hattest und dessen Namen ich auf meinem Krankenbett im größten Drang meines Elends wohlbehalten hatte, der erhielt auf sein Ersuchen die Verwaltung meiner Güter.

[1576] Ich erfuhr diese angenehme Wendung leider zu spät, sagte Dankmar, und bedauerte, vor der schnellen Abreise des trefflichen Mannes und seines Sohnes nicht noch einmal ihn begrüßen zu können.

Seines Sohnes? fiel Herr von Zeisel ein und lächelte fein, sogar gereizt. Sie wissen also nicht, daß dieser allerdings sehr ehrenwerthe Ökonom, der mit großen Plänen und excentrischen Entwürfen seine Aufgabe angetreten hat, damit anfing, uns in Betreff seiner Umgebung Alle zu täuschen?

Täuschen? Herr von Zeisel, Ackermann scheint mir zu Täuschungen nicht fähig zu sein, sagte Dankmar.

Vergebung für den Ausdruck! Sie schätzen diesen Mann nicht höher als ich selbst. Zwar sind die Meinungen über ihn getheilt. Die Mehrzahl hängt ihm gläubig und voll Verehrung an. Die Minderzahl, die wol an dem Fehler zu strenger Prüfung und ungläubiger Zweifelsucht leidet, fürchtet, sein leicht entzündetes Gemüth möchte zu sehr jenen Luftgebilden nachjagen, die wie Feuerwerke schön blenden, aber auch im Nu verprasseln ...

Glauben Sie Das nicht, sagte Dankmar erregt. Aus wenigen Worten, die ich mit diesem Ökonomen wechselte, weiß ich, daß dieser Edle den Ernst des Lebens tief erfahren hat und nicht umsonst in Amerika die Schule der Selbstbestimmung seiner Schicksale durchmachte ...

Ich wünsche nichts sehnlicher, sagte Herr von Zeisel mit einem furchtsamen Blicke auf Egon, als daß sich alle Versprechungen dieses Amerikaners erfüllen mögen ...

[1577] Man muß ihm vor allen Dingen Zeit lassen und volle Freiheit gewähren, meinte Egon und sprach dies entschieden.

Volle Freiheit!

Herr von Zeisel war geschlagen und schwieg.

Aber die Täuschung, Herr Justizdirektor, welche wäre denn das? fragte Egon.

Das ist spaßhaft! war Herrn von Zeisel's einlenkende Antwort. Wir Alle sahen Herrn Ackermann nach Plessen, Randhartingen, Schönau – im Ullagrunde auf Sandrart's neuer Anlage wird er wohnen – zurückkehren und besannen uns, daß man diesen Mann, als er früher sich beobachtend und wahrscheinlich den Boden und die Verhältnisse erkundschaftend daselbst aufgehalten, gesehen, wie er ein liebes Söhnlein bei sich führte, ein Bürschchen mit zierlichem Mützchen, Handschuhen und leichtem Röckchen. Dies Söhnchen hat er nicht mitgebracht, wohl aber ein Töchterlein ...

Dankmar hörte gespannt zu und verwünschte Herrn von Zeisel's humoristisch feinsollende naive Darstellung.

Und nicht etwa ein zweites Kind des Herrn Ackermann, sagte dieser, ist diese holde kleine Begleiterin, sondern ...

Selmar wär' es selbst? unterbrach ihn Dankmar im wärmsten Antheil.

Selmar! so hieß die Kleine früher. Nun ist es eine Selma! Entpuppt und umgekleidet! Selma Ackermann, ein allerliebstes Wesen! Sie thut viel, um die etwas rauhe und abstoßende Außenseite ihres Herrn Vaters zu mildern.

[1578] Selma! sprach Dankmar vor sich hin und verglich seine Erinnerungen an jene ihm so liebe Begegnung mit dem Eindrucke, den ihm jetzt diese Metamorphose machte. Hatte ihm schon der Knabe ein so großes Wohlgefallen, eine brüderliche Empfindung erregt, wie mußte sich seine Theilnahme für die nun verwandelte liebliche Erscheinung steigern, wenn er sich jener, ihm immer noch räthselhaften Mondnacht auf dem Heidekruge erinnerte, wo nicht etwa Ackermann als Traum, als ein Bild seiner erregten Phantasie vor ihm mit dem Portrait, das er küßte, erschien, sondern dieser wirklich das Portefeuille öffnete, wirklich eine Locke von seinem Haupte schnitt ... denn die Locke fehlte ihm! Und wie er noch so saß, mit Theilnahme von Egon betrachtet, der an seinem Interesse selbst sich interessirte, fiel Dankmar's Blick jetzt eben auch auf das Pastellbild der Fürstin Amanda, das er, seitdem es ihm durch ein »Misverständniß« genommen war, nicht wiedergesehen hatte. Da stand das goldene Vließ seines abenteuerlichen Argonautenrückzuges! Er gedachte der Medea-Melanie! Da der Prinz! Und Selmar Selma!

Der Erläuterungen des Justizdirektors über diese Metamorphose bedurfte es eigentlich nicht.

Dieser erzählte etwas von der Nothwendigkeit, ein junges Mädchen auf einer so weiten Reise von Amerika über England nach Deutschland allein schützen zu sollen, von der raschen Gewöhnung an die neue Tracht, von den wunderbar schnell angenommenen Manieren des Knaben, von der Beruhigung, die der Vater gehabt hätte, mit [1579] seinem Kinde vor jeder Verlegenheit und Nachstellung in den Gasthäusern sicher zu sein, von seiner endlich aber doch nun eingesehenen Pflicht, daß das Kind seinem Geschlechte zurückgegeben werden müßte ...

Für Dankmar waren alle diese Erläuterungen nicht nöthig. Er bedurfte keines Wortes, um zu fühlen, daß Ackermann sehr weise gehandelt hatte. Aber er bedurfte noch weniger einer Erläuterung, weil sein Gefühl ihm sagte: Selmar mußte sich dir so enthüllen! Das war eine Aufklärung, die sich von selbst verstand! Wie konnte Selmar etwas Anderes sein als Selma!

Als Egon des neuen Freundes innere Erregung bemerkte und den Blick beobachtete, den Dankmar voll getheilter Überraschung auf das plötzlich von ihm entdeckte Bild gerichtet hatte, ließ er es sich angelegen sein, durch irgend eine geschickte und nicht verletzende Wendung den Justizdirektor zu entfernen. Es gelang ihm mit aller Gewandtheit. Herr von Zeisel war glücklich, seinem jungen Patrone schon unter so abenteuerlichen Verhältnissen nützlich gewesen zu sein. Er bat, ob er denn diese merkwürdige Geschichte und die wahre Aufklärung der plötzlichen Erkrankung, Alles, Alles, was er in dieser gnädigen Audienz gehört hätte, der Welt erzählen dürfe ....

Wenn Sie nicht fürchten, sagte Egon mit feiner Betonung, daß man Ihre Justizverwaltung ein wenig zu patriarchalisch nennen wird!

Durchlaucht, rief Herr von Zeisel und drückte Egon's [1580] Hand, die er lebhaft ergriff, mit komischem Enthusiasmus an die Brust, Durchlaucht, Sie mögen nun vom Justizrath Schlurck urtheilen was Sie wollen! Dafür hab' ich ihm gestern gedankt, daß er mich in die Komödie schickte, um mir seine Lieblingswahrheit von einem vortrefflichen Schauspieler sagen zu lassen: »Wenn man das Leben auch gar zu ernsthaft nimmt, was ist dann d'ran?«

Amüsiren Sie sich noch ferner mit ihm! sagte Egon übereinstimmend und begleitete den zutraulich sich Empfehlenden an die Thür; ich denke, wir sprechen uns noch und Sie werden im besten Einverständniß mit meinen ferneren Verwaltungsmaximen nach Plessen zurückreisen ...

Dies Wort war eigenthümlich, verfänglich fast ... Zeisel stockte ... Aber die Thür ging zu und er mußte diese Schlußworte unterwegs überlegen und so, wie sie gefallen waren, mit sich nehmen.

Dankmar und Egon waren nun allein.

Jener stand vor dem Bilde ...

Ja, da ist es nun! Und ich zittre vor seinem Inhalte, sagte Egon. Hat es auch nichts bis jetzt zu Tage gefördert als unsere Freundschaft, Wildungen, so wollen wir zufrieden sein.

Noch einmal umarmte er den Freund.

Dankmar drückte ihm die Hand und erzählte alle seine Bemühungen, des auffallend schweren Bildes habhaft zu werden, verschwieg aber Melanie und jeden Umstand, der in Egon Verdacht erwecken konnte. Rudhard, Siegbert, [1581] Louis und er hatten sich das Wort gegeben, um den Prinzen nicht wieder zu beunruhigen, von dem Schicksal dieses Gemäldes nichts zu erzählen, als daß es durch Dankmar auf dem Schlosse noch rechtzeitig gerettet worden wäre und daß Schlurck ohne alles Befremden die andern Familienbilder so freiwillig übergeben hätte. Er wußte auch, daß man auf den Fall einer Öffnung der Hinterwand einen Gegenstand dort finden konnte, der ihn vollkommen beruhigen durfte.

Und das Geheimniß? fragte er.

Fand ich noch nicht! Ich wagte nicht zu jäh mein Räthsel zu lösen. Ich gehöre zu den Menschen, die ihre empfangenen Briefe dreifach genießen, erst im Empfangen, zuletzt im Lesen, in der Mitte aber in einem längeren Liegenlassen und erst allmäligen Eröffnen.

Dankmar nahm das Gemälde und wandte es von allen Seiten ohne auf das Glas zu drücken.

Es enthält etwas, ich fühl' es an der Schwere des Bildes ... sagte er.

Er spielte die Rolle, die ihm die Sorgfalt der Freunde des Prinzen übertragen hatte. Er stellte sich neugierig, drückte, schüttelte, schob und klopfte an dem Bilde. Endlich – siehe da, es sprang auf!

Egon beklommen, mit der ganzen lastenden Schwere seiner Erinnerungen an die Mutter, an seine Erziehung, seine Jugend, griff erstaunt nach dem Inhalt.

Hier am Glase lag der Pfiff, sagte Dankmar so treuherzig, als wär' er selbst überrascht worden, zufällig[1582] streift mein Finger über diese Stelle, ich halte das Bild an ihr fest und es springt auf ...

Egon langte aus der Kapsel ein Buch hervor. Es war schwarz eingebunden, mit in Gold gepreßtem Deckel und Rücken und mit Goldschnitt verziert.

Er öffnete das Buch und las:

Thomas a Kempis vier Bücher von der Nachfolge Christi ...

[1583]
6. Capitel. Welt und Zeit
Sechstes Capitel
Welt und Zeit

Gute Mutter, sagte Egon nach einer Pause schmerzlichen Lächelns und wehmüthig gen Himmel blickend, ja in seiner bitter getäuschten Erwartung sich zu bekämpfen suchend; gute Mutter, dieses Testamentes hätt' es nicht bedurft, um mich in deine Nähe zu rufen! Das heißt in der That um Christi Willen leiden und sterben! Dies Bild hätte mich, wenn ich von der Krankheit nicht erstanden wäre, mein Leben kosten können.

Dankmar schwieg voll tiefen Mitleids über den getäuschten, von bösen Feinden betrogenen Prinzen ...

Wir sind denn also, sagte er nach einer Weile ruhig, da wieder angelangt, Prinz, wo wir im Thurme standen! Ein neuer Moment ist in dein Leben nicht eingetreten. Es bleibt bei den alten Voraussetzungen und so wird es wol auch bei den alten Entschließungen bleiben müssen. Du fühlst dich stark durch dich selbst! Laß die Vergangenheit und beherrsche die Zukunft!

Da, wo wir im Thurme standen! wiederholte Egon. Dann bin ich dir noch viel zu beichten schuldig.

Ich ahne, was ich noch erfahren sollte, antwortete Dankmar ablehnend. Dein Leben ist nicht ohne Beobachtung [1584] geblieben. Solche Sterne, die einen leuchtenden Namen tragen, schon wenn sie auf die Welt ziehen, verbergen sich niemals ganz, auch wenn die dunkelsten Nebel über sie fallen.

Worauf deutet diese Schmeichelei, Wildungen? fragte Egon.

Die Erwähnung eines Unglücks ist keine Schmeichelei. Und ein Unglück nenn' ich, wenn ich so hoch stehe, daß ich mich nicht einmal mit meinen Thränen verbergen kann. Soll ich dir sagen, was ich Alles von dir weiß, ohne daß ich unter den Spiegeln deines Pavillons saß und dich um die elfte Stunde erzählen hörte?

Also die Welt erfindet über mich? fragte Egon.

Dankmar antwortete, er wolle hören, ob folgende Verhältnisse Erfindungen wären?

Und nun begann er genau und ausführlich zu erzählen, was sich in dem öffentlichen Gespräch über den Prinzen schon festgestellt hatte. Er erzählte ihm seine Geschichte von Lyon an bis zu seiner Ankunft in dieser Residenz. Er nannte ihm Namen und Thatsachen, Louis Armand und Helene d'Azimont, Alles, Alles, selbst daß Louison um die elfte Stunde gestorben war ...

Nichts war der Welt entgangen und wie ein Roman lag es vor Aller Augen.

Als Dankmar geendet hatte, erwiderte Egon nichts. Es hatte ihn tief erschüttert, so offen vor der Welt wie ein aufgeschlagenes Buch dazuliegen und er dankte dem neuen Freunde, daß er aufrichtig und wahr gewesen ...

[1585] Da hab' ich nichts an Thatsachen zu erzählen! sagte er schmerzlich. Die Menschen kennen alle Blätter meines Lebens, was die Summarien anlangt. Die Capitel und die Überschriften sind richtig ... Die innere Verknüpfung aber, der Pragmatismus, ja der Text selbst steht nur in meiner Brust und im Buche des Lebens verzeichnet.

Und doch fühlt die Welt deinen Pragmatismus nach, sagte Dankmar. Freilich Louis Armand ist und bleibt ein unverständliches Capitel

Weil er schwieg, weil er an meinem Krankenlager stand! Aber die d'Azimont redete! Die zeugte also schon für sich in der Sprache ihrer Thränen, in der Beredtsamkeit ihrer Litaneien. Dies Capitel versteht man; denn aus Allem, was ich von dir gehört habe, entnehm' ich die Darstellung der Salons, den blendenden Styl der sogenannten Rechtfertigungen! Rechtfertigungen! Die Thatsachen sind wahr, aber ihre Verknüpfung haben Frauenhände gestrickt.

Mein Freund, sagte Dankmar in einem ernsten Tone, der ihm seit einiger Zeit zur andern Natur geworden war; mein Freund, wenn der Mann liebt, verfällt er dem Urtheil Derer, denen die Liebe ihr ganzer Lebensberuf ist. Wir können über Auffassungen unserer Herzensangelegenheiten streiten, wie viel wir wollen; die Frauen lassen sich ihr Urtheil nicht nehmen und bleiben bei dem gemeinsamen Interesse, das sie alle verbindet. Ich habe diesem Urtheil nachgesprochen. Man bricht den Stab über dich und deinen Glauben und deine Irrthümer. Ganz so wie [1586] man urtheilt, gab ich dir den Bericht. Ich halte Das für das erste Erforderniß eines Freundes, der den Namen verdient.

Und ich danke dir dafür, wie schmerzlich es mir auch ist, mich nicht der Welt nach meiner Auffassung zu zeigen.

Das wirst du für die Zukunft in deiner Hand haben. Du bist nun hergestellt, die Welt erwartet dich; ich sagte dir offen, wie der Boden aussieht, auf den du trittst. Dies sind die Thatsachen, die man von deinem früheren Leben glaubt bestätigt zu finden. Willst du sie wahrmachen? Willst du sie gelten lassen oder verändern? Das steht in deiner Macht.

Was urtheilt man über die d'Azimont? fragte Egon und stützte den Kopf auf und blätterte in dem Thomas a Kempis mit einer Resignation, als erschien' er sich bestimmt, nur zu leiden und sich zu täuschen.

Man findet sie so liebenswürdig, antwortete Dankmar, daß alle Welt wünscht, sie trennte sich von ihrem Gemahl und Euer Verhältniß würde ein legitimes.

Wünscht man Das wirklich? sagte Egon lächelnd.

Noch mehr! Man fürchtet, daß Louis Armand diese Vereinigung hindert und dich in Richtungen treiben wird, die mit deinen hiesigen Lebensbedingungen im grellsten Widerspruche stehen.

Fürchtet man Das? Wünschen! Fürchten!

Ich habe Männer von hoher Stellung folgendermaßen reden hören: Dieser Prinz Egon von Hohenberg ist nun gesund und wird bald in die Gesellschaft treten und sich [1587] ohne Zweifel an der Lösung unserer Wirren betheiligen. Schlimm, wenn er sie vielleicht noch vermehren sollte! Es fehlte uns nur noch, daß ein so hochgestellter junger Adliger mit diesem Namen, mit diesen glorreichen Familienerinnerungen, nachdem schon einige junge Adlige und Fürsten uns Verwirrung genug gebracht haben, in Deutschland als Communist auftritt!

Entsinnst du dich denn nicht unserer Gespräche auf der Reise? warf Egon hin.

Die Gräfin d'Azimont, fuhr Dankmar nichtachtend fort, wird für deinen guten Genius gehalten. Man hebt hervor, daß sie eine Aristokratin auch der Gesinnung nach ist. So sehr Eure Beziehung gegen die Grundsätze verstößt, die jetzt in unserer Gesellschaft vertreten werden, so wird man sie doch dulden, anerkennen und ihr Ziel, die eheliche Vereinigung, befördern, wenn sie es durchführt, dich von deinen französischen Bahnen zu trennen. Man nennt dich schon ehrgeizig: man behauptet, du strebtest nach Popularität. Man fürchtet, du würdest durch Aufstellung eines neuen Parteiprincipes die Verwirrung vermehren, die so schon an dem Grundbau und dem Fachwerke unseres Staates mehr rüttelt und ihn dem Sturze näher gebracht hat, als es äußerlich beobachtet werden kann.

Dankmar gab diese Fingerzeige so ruhig, so maßvoll, so bei aller Strenge duldsam, daß Egon statt der Antwort auf diese Thatsachen selbst sich nur an Den hielt, der sie ihm mittheilte.

Ich bewundere ... sagte er und stockte.

[1588] Was? fragte Dankmar.

Nichts, als dich, dich selbst, Wildungen! Wie verschmitzt du bist! Wie fein zugespitzt du das Alles vorträgst! Man glaubt einen König der Salons zu hören oder einen Diplomaten.

Statt dieses etwas zweideutigen Lobes, antwortete Dankmar lächelnd, möcht' ich lieber hören, was wol Prinz Egon zur Widerlegung aller dieser nur fraubasenhaften Befürchtungen thun wird?

Vor allen Dingen, mein Freund, sagte Egon, werd' ich mich inniger und wärmer denn je an meine Lieben anschließen. Ich habe einen neuen mir ebenbürtigen Freund in dir gewonnen und in Louis Armand besitz' ich etwas, was du mir nicht einmal sein kannst. Ich bin hier so gut wie fremd. Meine Angelegenheiten treff' in der größten Unordnung. Ackermann erstrebt das Beste, aber ich kenne die Chimärensucht der neuen theoretischen Ökonomen aus meinen englischen Studien. Nur die großen englischen Grundbesitzer sind im Stande, von der alten überlieferten Weise, die Erde zu bebauen, manchmal abzuweichen und mit Maschinen Versuche anzustellen. Das Zehnte bewährt sich nicht. Die Einigkeit zwischen Ackermann und Herrn von Zeisel, dem nominellen Verwalter des Ganzen, so zu sagen das alte Ministerium, scheint nicht die größte zu sein. Schlurck, mir längst verhaßt, ist abgeschüttelt, aber er hielt die Ansprüche der Gläubiger meines Vaters zurück: ich fürchte, sie werden nun zudringlicher und begehrlicher als je werden. In dieser [1589] schwierigen Stellung ist mir eine solche uneigennützige, zwischen Freund und Diener schwankende Hingebung, wie die meines Louis, Goldes werth, denn der gute Mensch ist ohne Ansprüche und fügt sich in jede Rolle und wäre es die des Lakaien. Ich kann ihn nicht entbehren, Wildungen. Ich theile seine communistischen Grundsätze nicht, aber ich ehre viele seiner Principien und werde für sie insoweit zu wirken streben, als ich, wie ich dir schon auf unserer Reise sagte, für eine größere Heilighaltung der Arbeit bin.

Wenn ich den Prinzen kenne, hab' ich oft den Leuten gesagt, so ist er ein Aristokrat, wie Ihr es nur selber seid! ...

Dankmar warf diese Bemerkung leicht, doch nicht ohne einen forschenden Blick hin.

Ich bin kein Aristokrat! wallte Egon fast vorwurfsvoll auf. Ich will, daß Gedanken herrschen, nicht Überlieferungen. Die Politik, wie sie in Frankreich getrieben wird, gefällt mir nicht im mindesten. Aber auch die deutsche ist mir verhaßt, die zumal, die hier bisher das Ruder führte. Säß' ich in einer Kammer, ich würde, wie jetzt die Dinge stehen, zur Opposition gehören.

Vergib mir, sagte Dankmar, als er bemerkte, daß Egon zu lebhaft wurde und sich über sein Antlitz eine plötzliche Röthe zog; vergib mir, daß ich die Schonung des erst Genesenden vergessen habe. Diese Dinge sind wichtig, aber aufregend.

Doch nicht! Doch nicht, Wildungen! sagte Egon und bat [1590] nur den Freund, ihm zu gestatten, daß er sich auf ein Kanapé streckte. Er forderte ihn auf zu rauchen. Er bot ihm türkische Cigarren an und erstaunte selbst, daß Louis Armand Alles so hergerichtet hatte, wie er es zu seinem nächsten Bedürfniß stündlich nur wünschen konnte.

Wie sieht es denn in der Welt aus? sagte er. Sind die Kammern zusammengetreten? Steht das Ministerium noch?

Es wird, sagte Dankmar, die Cigarre ablehnend, mit den Kammern fallen, die sich eben versammeln. Man macht ein neues Ministerium aus der Kammermajorität. Dies regiert vierzehn Tage. Dann kommen einige Forderungen, die die Krone stellen wird. Das Ministerium wagt sie nicht an die Kammer zu bringen und dankt theilweise ab. Einige, die mehr Muth haben, bleiben und verstärken sich durch Offiziere, Chefpräsidenten, Bankiers ... Man wird dies Ministerium das Ministerium der Thaten nennen. Man fordert jetzt, was die Krone anfangs nur wünschte. Die Kammern, doppelt durchwühlt an sich und vollends noch durch den Ärger der abgetretenen Minister, verwerfen diese Forderungen. Sie werden aufgelöst; alle Freiheiten werden für unbestimmte Zeiten suspendirt und man wird regieren, wie es eben geht und so lange es geht, bis der Cirkel durch eine neue Kammerwahl wieder von vorn anfängt oder ein großes politisches Ereigniß dazwischen tritt. Jede tiefer eingreifende Unternehmung für den Handel, die Gewerbe, für das moralische Leben, für Kunst und Wissenschaft ist dabei suspendirt, [1591] wenn nur die Steuern eingehen und die Beamten ihre Besoldung erhalten.

Mir aus der Seele geschildert! rief Egon. Und nur zu wahr, zu wahr! Welch' ein Zustand in diesem gegenwärtigen Europa! Die Völker preisgegeben, wie im Mittelalter, den zufälligsten Persönlichkeiten! Welch' ein Versteckspiel mit diesen Constitutionen, die nur dazu da sind, eine Überwucherung von Ehrgeiz in den dilettirenden Staatsmännern zu wecken! Dies Heer von Advokaten, Journalisten, Beamten, Geistlichen, Soldaten, die sich, weil sie einmal gewählt und genannt wurden, als Volksvertreter, Volksführer, nun sich einbilden, zeitlebens unentbehrlich zu sein, von Ministerportefeuilles träumen und nicht ruhen, bis die Reihe der Schicksalsgunst immer wieder an sie kommt! Das ist wieder das alte Faustrecht in vollkommener Ähnlichkeit, nur daß die Waffen die des dienenden, biegsamen Geistes wurden, die der Feder, des Wortes; es ist der Krieg Aller gegen Alle, den ein furchtbarer, türkischer Despotismus einst beendigen wird, wenn die Guten nicht zusammentreten und selbst die ewigen Güter der Menschheit von den Gefahren befreien, die diese bei solchem Spiele laufen müssen.

Also wo liegt die Schuld? Oben oder Unten?

Überall!

Und die Besserung?

Darüber denk' ich täglich nach, sagte Dankmar. Bald möcht' ich diesen ganzen Bau zertrümmern und ihn neu errichten, bald seh' ich mich nach einem minder radikalen [1592] Heilmittel um. Ich finde keins, das in den Verhältnissen und in den Dingen liegt. Jeden klugen Einfall überbietet gleich ein noch klügerer. Alles, was Weisheit scheint, ist sogleich schon List. Ich suche einen Ausweg und finde ihn nur in dem Menschen und seiner eigenen freien Beschränkung. Geb' uns Einer die und gesegnet sei sein Name in Ewigkeit!

Amen! Amen! fiel Egon eben so feierlich ein. Der Thomas a Kempis hier neben uns thut schon seine Wirkung. Wir blicken gen Himmel und verlangen Wunder. Die Menschen! Eigene freie Beschränkung! Großer Gott! Wildungen, ist dir's noch nie klar geworden, daß die Menschen Bestien sind? Nur wer gearbeitet hat und sich dann ausruhen will, ist gutmüthig. Der fleißige Mensch ist ein Kind. Wenn ich Sonntags auf der Chaumière mit Louison und ihren Freundinnen tanzte, dünkten wir uns Götter, und alle Die hatten Theil an diesem bescheidenen irdischen Himmel, die ihre sechs Tage Arbeit hinter sich hatten. Die aber, die in die Clubs liefen und Zeitungen lasen, saßen mürrisch und tranken mehr Wein, als sie bezahlen konnten. Louis Armand sagt zwar, die Verfassung der Erde müsse nur auf die halbe Pflichterfüllung begründet werden, sonst wäre dies Dasein eine Hölle. Das bestreit' ich ihm und verweis' ihm oft, wenn er statt zu arbeiten Verse macht und Aufsätze über das Loos der arbeitenden Klassen schreibt und mehr träumt als er sollte.

Ist Das nicht aber auch eine Arbeit, dies nothwendige [1593] Träumen? fragte Dankmar, der die Verse: Des Volkes Tochter, arme Bettlerin! von seinem Bruder kannte.

Die man nicht überwuchern lassen darf! antwortete Egon. Alles drängt sich jetzt nach geistiger Arbeit und behauptet, die wäre eben so schwer und anstrengend wie die materielle. Aber ich frage: Wenn Alle Buch führen wollen, wer wird die Werthe erzeugen, die die Feder verrechnet? Nein, Wildungen, sage Denen, die meine Freundschaft für Louis Armand fürchten, ich bin kein Communist! Aber auch die hier übliche Landespolitik veracht' ich, und wenn mir Gelegenheit geboten würde, Das zu sagen, was ich denke, würd' ich allerdings den Adel und seine Aufgabe anders bestimmen, als es diese trägen Drohnen der Gesellschaft thun.

Ich darf nicht fortfahren, bemerkte jetzt Dankmar. Ich sehe, wie dich der Gegenstand ergreift. Glücklich werd' ich sein, mit einem Manne von deiner wunderbaren Lebenserfahrung einen dauernden geistigen Verkehr zu unterhalten. Aber für heute geh' ich ... Ich bin es dir schuldig.

Du hast mich angeregt, nicht aufgeregt, sagte Egon liebevoll. Du wolltest mir die Aufgabe meines Lebens zeigen und mich auf den Empfang der Welt vorbereiten. Ich danke dir herzlich dafür.

Wann wird Helene d'Azimont erlauben, daß ich dich wiedersehe? fragte Dankmar den Hut ergreifend und eine Menge schöner Dinge über die Reize dieser Dame, ihre Bildung, ihre Liebenswürdigkeit wiederholend.

[1594] Helene? Hat sie etwas zu erlauben? unterbrach ihn Egon ... Heut' um vier Uhr, bitt' ich dich, sei an dieser Stelle! Ich soll auf Schloß Solitüde fahren. Begleite mich mit Louis, wenn dir der Handwerker nicht anstößig ist.

O, Freund!, sagte Dankmar, Der, den du liebst, den liebe auch ich. Willst du aber nicht noch einen andern Menschen, der viel besser ist als ich, in unsern Bund aufnehmen? Es ist mein Bruder Siegbert, älter als ich, edler, tüchtiger, schwärmerischer, ganz deiner Liebe werth, und wenn er einmal die Gräfin oder dich selbst malt, wirst du sein Talent schätzen lernen.

Dein Bruder! Seid mir Beide willkommen! rief Egon. Oder denkst du wieder: Wenn es Helene erlaubt? Welch' ein Wort war Das? Menschen, spottet meiner nicht, sondern habt Mitleid, daß uns die schwachen Augenblicke in solche Bahnen führen!

Paradiesesbahnen! ergänzte Dankmar. Ich sah sie flüchtig und war bezaubert ...

Sie ist schön! lauteten Egon's langsam und nachdenklich bestätigenden, empfundenen, aber doch kargen Worte.

Schönheit, wenn sie dauernd zu fesseln im Stande ist, kann nicht ohne Herz sein; sagte Dankmar und erwartete eine Antwort.

Egon schwieg aber. Er umarmte noch einmal den Freund, begleitete ihn mit den Worten: Habt mich lieb! Ich bedarf es! an die Thür und rief ihm, als Dankmar schon ging, noch nach:

[1595] Um vier nach Solitüde mit dem Bruder!

Dankmar nickte. Als er auf der Straße im Freien war und den Weg zur Fürstin Wäsämskoi einschlug, wo sein Bruder seit einiger Zeit fast täglich zu Mittag speiste, sammelte er alle die Eindrücke, die ihn da in so rascher Aufeinanderfolge bestürmt hatten.

Von seiner eigenen Angelegenheit hatte er nicht reden können und noch nicht mögen.

Er war es also! sagte er sich. Es ist der Freund aus dem Thurme von Plessen, der dich seinen Posa, sich meinen Carlos nannte! Es ist der Egon, um den du mit Melanie Versteck spieltest und dich selbst auf's Spiel setztest! Es ist Egon von Hohenberg, der Fürst, der Flüchtling oder Schwärmer, der Aristokrat in seiner modernsten Fassung! Umwoben von Poesie, auf die Höhe der Zeit sich stellend, fühlend mit dem Volke, für das Volk und doch ... Aristokrat?

Dankmar gestand sich, daß Egon einer der liebenswürdigsten Menschen war, die er je gesehen hatte, und doch war ihm ein fremdes Element in die Erinnerung an den Thurm von Plessen gedrungen. Er suchte nach einer Formel, die diesen Charakter bezeichnen sollte und fand sie nicht. Schon daß er dem weiteren Nachforschen entsagen und um Frieden zu gewinnen sich ganz an jenen Ackermann und die Vorstellung, wie wohl Selma in weiblicher Verklärung vor ihm stehen würde, verlieren konnte, schien ihm, als er so zu den Wäsämskoi's hinwanderte, ein ernstes mahnendes Zeichen ...

[1596] Egon aber, auch in sich etwas erkältet, erbittert durch die Enttäuschung über das Bild und daß er um ein Phantom so prasselnd wie ein Strohfeuer mit seiner Phantasie hatte vor fremden Menschen auflodern, ja um dieses Nichts, um diese Qual mit der bigotten Lebensauffassung seiner Mutter, Alles, Ehre und Leben, hatte auf's Spiel setzen können, Egon, jetzt glühend nur durchlodert von Helenen d'Azimont, jetzt nur erfüllt von der ganzen auf das Herz stürmenden Macht männlicher Sehnsucht, warf, dem Leben und seiner Vergangenheit wiedergegeben, alle Fragen, alle Skrupel, alle lästigen Empfindungen von sich und schrieb auf das schon angefangene Blättchen:

»Weißt du einen Platz, Helene, wo der ermüdete Flüchtling sein Haupt an ein warmes Herz legen kann, o so nenn' ihn mir! Soll ich mit schwankendem Tritt dich selbst aufsuchen, so erwarte mich heute noch nicht, ich bedarf fremder Hände, die mich führen. Willst du aber selber kommen, so wirst du das wehmüthige, vom Schmerz halbgebrochene Auge des Freundes finden, wirst Liebe finden, wenn die Menschen lieben können, die zum Strome sagen: Führe mich wohin du willst, ob zum Tode, ob zum Leben, nur führe mich zur Ruhe! Dein Egon!«

Diesen Brief sollte der Bediente, der mit seiner Besorgung beauftragt wurde, erst gegen vier Uhr abgeben, wenn der Wagen vorrollte, der Egon und die Freunde nach dem Lustschlosse des Königs, Solitüde, fahren sollte.

[1597] Bis dahin bedurfte Egon ernstlich der endlichen Erholung von den Eindrücken, die für seinen Zustand schon zu lebhaft auf ihn eingestürmt waren.

Er sank todtmatt auf sein Lager in dem noch dunkeln mit Teppichen belegten Hinterzimmer und verbot jetzt unter allen Bedingungen, ihn durch irgend etwas bis um drei Uhr zu wecken.

[1598]
7. Capitel. Ein Stillleben
Siebentes Capitel
Ein Stillleben

In dem Hinterhofe des Hauses Wallstraße No. 14 begegnet Dem, der sich daselbst nur eine Weile umsieht, sogleich der freundliche, saubere Sinn des kleinen Mittelstandes.

Den vordern Hof konnte man herrschaftlich nennen .... Da gab es schmuzige Wasserrinnen, lang an den Wänden herabtriefend, einen Pferdestall, ein ewig feuchtes Pflaster. Durch ein Zwischenhäuschen, in welchem der alte Tischler Märtens seine geräumige und immer von vier bis fünf Gesellen in Thätigkeit erhaltene Werkstatt hatte, kam man, wenn man einen großen mit Latten und Bretern überfüllten Thorweg durchschritt, in einen kleinern Hof, dessen Nebengebäude zwar nur in Holzfachwerk, feuergefährlich genug, aufgeführt dastanden, die aber gar freundlich angestrichen und mit blumenbesetzten Fenstern geziert waren. Das Viereck dieses Raumes war zu klein, um viel Licht aufzufangen. Dafür rückte Jedes, was hier von armen, meist arbeitenden Leuten wohnte, mit seinem ganzen Leben dicht an's Fenster und hob die wohnliche Traulichkeit dieses kleinbürgerlichen Hinterhofes [1599] zu einem Hause, das nach vornehin sehr stattlich und eben »herrschaftlich« aussah.

Sowie man aus dem großen, lehmgedielten Thorwege trat, ging gleich links, an der Tischlerwerkstatt, eine Stiege in die Höhe und führte in die Wohnung des alten Christian Märtens. Erst kam ein Breterverschlag für die Küche, die eigentlich nur ein eingezäunter Kamin war, dann eine sehr geräumige Stube, wo die alten Tischlersleute wohnten und dann erst eine große Kammer, in der Fränzchen Heunisch wie eine Taube auf einem Giebel saß.

Die auf dem Fortunaball ihr von Jeannetten gemachte wenig erfreuliche Aussicht, sie als Schlafgenossin in diesen engen Raum aufzunehmen, war glücklicherweise nicht in Erfüllung gegangen. Jeannette war bei dem verwundeten Neumann geblieben und hatte sich unter dem Vorwande der Pflege ihres Bräutigams im Schlurck'schen Hause gewaltsam festgesetzt. Sie kannte die Nachgiebigkeit der Ältern, die sie gern duldeten. Nur Melanie konnte sich vorläufig noch nicht entschließen, sie wieder in ihre Nähe zu lassen.

Fränzchen Heunisch wohnte allein und war seit einigen Wochen mehr daheim als sonst. Melanie, bei der sie wöchentlich oft vier Tage hatte arbeiten müssen, ließ sie nicht mehr so oft kommen wie sonst. Seitdem man sagte, Fräulein Schlurck wäre mit dem Stallmeister Lasally verlobt, schien sie weniger die Gesellschaften zu besuchen und schränkte sich auf die Toilette ein, die sie schon besaß. So blieben dem jungen, überall gern gesehenen, [1600] bescheidenen Kinde nur noch einige wenige Herrschaften, die sie mit ihrer Eitelkeit ernährten aber auch plagten und wie gewöhnlich nichts nach Wunsch bekommen konnten. Am meisten war sie daheim und arbeitete still für sich an den ihr gegebenen Aufträgen.

Friede und Stille umgab sie. Die Thür des Nebenzimmers war fast immer geöffnet; die alte Frau Tischlermeisterin wirthschaftete in der Küche oder las geistliche Bücher, die Zeitungen, Pfennigmagazine, oder was sonst von Colporteuren wohlfeil in diese kleinen Hütten bescheidener Lebensansprüche getragen wurde und bei dieser Frau eine etwas konfuse Bildung erzeugt hatte. Der alte Meister arbeitete noch rüstig in der Werkstätte. In ihrem Kämmerchen hatte Fränzchen gern das Fenster auf und saß anmuthig wie ein Blumengeist mit ihrem zarten, feinen Köpfchen unter den Levkoyen und dem Goldlack, der in Töpfen um sie her stand. In einem kleinen erdgefüllten Kasten wurde sogar Kresse gezogen, die sich jetzt im Spätsommer am Bindfaden schon hoch zum Giebel des Fensters hinaufrankte. Ein Kanarienvogel, leider nur in einem hölzernen Bauer, (Fränzchen's Wunsch ging für ihren gelben kleinen Bibi sehr auf einen drahtgeflochtenen!) hing fast über ihr, wenn sie gedankenvoll, halb vegetirend saß und nähte. Manches Hanfkorn fiel von dem hüpfenden Bibi auf die zarten Wollbesätze und Puffen und Volants, die sie nähte. Vor ihr stand ein Nähtischchen, das ihr der alte Märtens zu monatlichen Abschlagszahlungen einmal auf Weihnachten verehrt hatte [1601] in Anerkennung ihrer nun schon über vier Jahre fleißig gezahlten Miethe und ihres sittlichen lobenswürdigen Verhaltens. Da waren in der aufgezogenen Schublade Kästchen an Kästchen und soviel bunte Seide, soviel weißer, feiner Twist lag vorräthig, daß sie mit Ruhe jeder neuen Bestellung entgegensehen konnte, ob sie nun von Vornehmen kam oder nur darin bestand, daß sie für Dienstmädchen des Hauses und der Nachbarschaft ein Häubchen zu stutzen oder einen Halskragen zusammenzusetzen übernahm. Auch einiger Vorrath bunter seidner Bänder lag in zierlichen Rollen in jenem Tischchen verborgen. Im Hintergrunde des Zimmers stand ein reinliches Bett auf der einen Seite, auf der andern eine alte geschweifte Kommode und neben einem alten eisernen Windofen, der für eine Kammer ein großer Reichthum, fast eine Überraschung war, stand noch ein Waschtisch, geschmückt mit kleinen unschuldigen Mitteln zur Pflege einer Schönheit, die eigentlich das frische, klare Quellwasser nur als seinen schönsten kosmetischen Beistand nöthig hatte. Aber ein junges Mädchen ist nicht so einfach, daß es sich nicht auch den Luxus einiger Seifen, eines guten Zahnpulvers und einiger Hülfsmittel zur Pflege des Haares gestatten sollte.

Das Leben eines solchen kleinen Hofes ist, wenn auch keine Geßner'sche, doch eine Idylle. Unten hörte man das Sägen und Hobeln aus der Werkstatt. Gegenüber klopfte ein Schuhmacher auf sein Kniebret; ein armer Flickschneider, der mit kreuzweis geschlossenen Beinen [1602] wie ein Türke auf hohem Tisch vor einem offenen Fenster saß, sang sich oder pfiff zuweilen ein schnurriges Lied oder sprach, während er seine Fäden wichste, zu andern Fenstern hinüber oder in die Tischlerwerkstatt hinunter. Eine Katze, die einmal irgendwo an einem Fenstersims oder am Dachrande ein equilibristisches Kunststück versuchte, war ein Ereigniß für den ganzen Hof. Man lachte, lockte, pfiff dem Thier und benützte die Unterbrechung, um die Köpfe aus dem Fenster hinauszustecken und sein Zusammenleben manchmal harmonischer zu fühlen. Zuweilen kamen auch Verkäufer von der lauten, wagenrasselnden Straße herein und schrien Besen, Sand, Lebensmittel aus, die zuweilen einen lauten Handel zur Folge hatten. Fränzchen konnte da von einigen erprobten und resoluten Hausfrauen die Kunst des Feilschens lernen. Oft erschrak sie, wenn die Verkäufer geradezu nur die Hälfte ihres Vorschlags geboten erhielten und traurig genug konnte sie sein, wenn die Waare auch wirklich dafür gelassen wurde, noch trauriger, wenn der Verkäufer abzog und beim besten Willen für so wenige Pfennige seine Waare nicht lassen konnte. Spielleute, die auch hereinzogen, fanden zwar viel Anerkennung und lachenden Dank, aber selten Geld. Kam dagegen eine Frau und sang im Vorderhofe ein geistliches Lied und wurde von den Bedienten, die aus den Hinterfenstern neben den Seifenwassergossen lungerten, ausgespöttelt, so durfte sie nur getrost in den Hinterhof gehen. Ein: Wer nur den lieben Gott läßt walten! öffnete hier alle Fenster der Armen und [1603] Jeder gab der Sängerin, was er noch glaubte entbehren zu können.

Eine solche Sängerin hatte eben den Hof verlassen und mit dem letzten Verse des Liedes: Befiehl du deine Wege! Fränzchen's ohnehin thränenvolles Gemüth gerührt ... Es gibt einen Zustand der Seele, wo schon jede leiseste Berührung einer wunden Stelle ein Überfließen zur Folge hat, wie bei einem übervollen Gefäße ... Fränzchen hatte der Sängerin einige Pfennige gegeben. Sie untersuchte nicht, wie mechanisch und geläufig schon jener Bettlerin dieser religiöse Gesang sein mochte, sie empfand ihn wie eine unmittelbare Eingebung gerade nur zur Lösung ihrer eigenen gepreßten Stimmung. Wie einige große, schwere Thränen auf ein Häubchen fielen, das sie der Frau Meisterin richtete für den nächsten Sonntagskirchgang zu Propst Gelbsattel – Frau Märtens liebte erhabene Anregung – zog sie die Schublade ihres Nähtischchens noch weiter heraus, hob einen gelbgebeizten kleinen Deckel auf und zog zwei Papiere hervor, die sie neben sich hinlegte. Das eine enthielt, von Siegbert auch in deutschen Lettern niedergeschrieben, seine Übersetzung des französischen Gedichtes von Louis Armand, das andere ein zweites Gedicht, das ihr Heinrich Sandrart, der junge Sergeant, verehrt hatte.

Das französische Gedicht hatte sie Anfangs, als eine Huldigung des Mannes, den sie mit so hoher Verehrung liebte, überrascht, dann aber bei mehrmaligem Lesen war es ihr befremdlich geworden. Sie hatte wochenlang nichts [1604] mehr von Louis vernommen, die vielen Bestellungen, die für seine Bilderrahmen und Spiegelformen einliefen, wurden vorn von dem verschlossenen Comptoir hierher an den Tischler Märtens verwiesen und auf eine große Schiefertafel für die Zeit verzeichnet, wo endlich zu hoffen stand, daß Louis Armand aus dem stolzen Palaste seines hohen Gönners zurückkehren würde. Wie wuchs da des armen Mädchens Verlangen, doch irgend etwas von diesem einschmeichelnden, sanften und so zarten jungen Fremdling zu vernehmen und nun erschrak sie regelmäßig, daß ihr sein Gedicht so wenig verständlich war! Da waren Wendungen, so schrill, so schneidend, daß es ein unschuldiges deutsches Mädchen kalt überlaufen mußte und doch entzückte sie wieder das stolze: »Nur weine nicht«, mit dem jeder Vers trotz seines schlimmen und fast höhnischen Inhaltes schloß ...

Heinrich Sandrart dagegen, der seit dem Fortunaball sich an sie geklettet hatte wie mit einer wahren Toggenburg-Treue, der junge Sergeant hatte in seinen Versen sogleich das Beste, das Höchste, das Schmeichelhafteste von ihr gesagt. Er redete sie mit so glänzenden, so wohlthuenden Bezeichnungen an, nannte sie seines Lebens Sonne und seiner Hoffnung Wonne, sprach vom lichten Schimmer ihrer Augen, dem Kelch, aus dem er Liebe wollte saugen, und sah die Jugend und die Tugend in ihr treugepaart und nannte sie einen Edelstein unübertrefflich in seiner Art. Das Alles klang, besonders von Frau Märtens schmelzend vorgetragen, gar lieblich und [1605] schmiegsam und war bis jetzt das Einzige, was für Heinrich Sandrart bei ihr sprach. Wie oft hatte sie ihn gebeten, ihr nicht mehr des Abends da, wo sie gearbeitet hatte, aufzupassen und sie nach Hause zu begleiten! Wie zürnte sie ihm, daß er offen und frei mit den alten Märtens sprach, seine edelsten Absichten diesen Leuten zu erkennen gab und diese umsomehr für sich gewann, als er sich in der Eigenschaft eines reichen Bauernsohnes genügend ausweisen konnte! Wie litt sie unter den Vorwürfen der Frau Tischlermeisterin, die ihr wegen ihrer Sprödigkeit gegen den hübschen jungen Sergeanten in gewählter Sprache gemacht wurden! Dieser kam nie ohne eine Aufmerksamkeit, nie ohne ein kleines Geschenk. Einen Blumenstrauß, eine kleine Näscherei, ein Bildchen führte er fast immer bei sich, wenn er sich sehen ließ. Aus den Rockschößen seiner feinen Patentuniform langte er das feinste Obst hervor und hielt sich Abends und Morgens, wo er nur Zeit fand, stundenlang, wenn nicht an Fränzchen's Seite selbst, doch bei den alten Märtens auf, die gern mit ihm plauderten, weil er gemüthlich und noch über das Pfennigmagazin hinaus unterrichtet war. Fränzchen war nicht etwa kokett oder schnippisch gegen ihn. Gerade, weil sie ihn nicht lieben konnte, war sie einfach und duldsam gegen seine Besuche und fand nichts darin, daß er ihr oft, während sie arbeitete, einen Kuß von der Hand stahl, die im Nähen sich nicht verstecken konnte. Sie trug gern kurze Ärmel in der guten Jahreszeit, mußte nun aber ihr bestes, schönes, blaues Kleid tragen, nur um durch lange [1606] Ärmel zu verhindern, daß Heinrich Sandrart stundenlang auf ihre zarten weißen runden Arme blickte, gierig sich mit seinen liebesirren Blicken an der feinen Haut weidete und ehe sie sich's versah in die weichen Formen einen brennenden Kuß drückte. Ihn mit Gewalt von sich zu weisen, hatte sie den Muth nicht. Wer gab ihr ein Recht, an Louis Armand wie an eine Hoffnung zu denken! Hatte er sie nicht in diesen letzten Wochen ganz vernachlässigt? War ihr mehr von ihm noch geblieben, als daß sie manchmal mit zitternder Hand auf die Schiefertafel für seine kunstvollen Arbeiten Bestellungen schreiben konnte, die nach seinen Thonformen schon einige Gesellen des alten Märtens auszuführen versuchten? Dann kam es wol, daß sie denn doch immer und immer Louis' Gedicht vor sich nahm und es mit Heinrich's verglich und trotz der schönen und freundlichen Wendungen des letzteren an jenen herben und schroffen Worten einen Gefallen fand, über das sie sich keine andere Rechenschaft geben konnte, als daß unglückliche Liebe doch wol auch herb und bitter mache.

Zur Vermehrung ihres Leides war nun sogar der Onkel Heunisch angekommen und hatte in rascher Weise mit allen ihren Bedenklichkeiten Kehraus machen wollen. Da wurden im Bunde mit Madame Märtens Heinrich's Glücksumstände gepriesen und als sie immer darauf bestand, sie wollte noch nicht heirathen, hieß es, so möchte sie in das Forsthaus nach Hohenberg mitkommen und dem Onkel die Wirthschaft führen. Die Ursula sträube [1607] sich zwar dagegen, aber der Onkel, dem das Heirathen so vergällt worden, müsse eine Stütze für sein Alter haben. Heinrich würde dann seinen Ernst beweisen können. Nähme er seinen Abschied, käme er nach dem Ullagrunde, der nur zwei Stunden vom Forsthause läge und halte er dann noch um die Franziska an, so würde sich das Übrige finden. Dann wollte er schon, wenn entweder auch noch die Ursula Marzahn um ihn herumspuke oder schon jenseits wirthschafte, sich allein zurechtfinden, wisse er doch, im Ullagrunde bei dem reichen Bauer Sandrart wohne ein Paar, das ihn lieb hätte und wo er öfter verweilen würde als auf dem Gelben Hirsch, ginge auch der Weg nach dem Ullagrunde über einen Ort vorbei, den er gern miede, über das Kreuz am Strudel und die Sägemühle.

Fränzchen hatte, selbst wenn ihr nicht Louis Armand im Sinne gelegen wäre, ein Grauen vor dem Forsthause. Sie war in ihrer Kindheit, als ihre Ältern, die sie mit den Wandstabler's verwandt machten, gestorben waren, einige Wochen beim Onkel Heunisch, bei ihrem Vaterbruder, gewesen (ihre Mutter war eine Schwester des Wachtmeisters und Haushofmeisters Wandstabler); allein die Ursula Marzahn hatte diesen Besuch offenbar mit scheelem Auge angesehen und hinter zuthunliche Freundlichkeiten manche schlimme Absicht versteckt. Wie oft hatte sie nicht das kleine Mädchen an einen mit schönen gelben Blumen überwucherten Sumpf geführt und ihr gesagt: Hol' einmal ein Büschel Blumen, Fränzchen, ich weiß ein Kunststück und sage dir, wer dein Mann wird!

[1608] War das kleine Kind dann in den Sumpf bis an die Knie gesunken, so lachte sie und wollte sie nicht wieder herausziehen. Weinte sie dann über ihre beschmuzten Strümpfe, so bot ihr die Alte zwar große Brotschnitte mit Zwetschenmuß und ganz feinem weißen Zucker aus ihrem Geheimschranke darauf, aber einmal, daß sie davon gegessen hatte, war sie so elend krank geworden, daß sie die Schnitte mit dem Zwetschenmuß und dem weißen Zucker aus ihrem Geheimschranke nicht wieder nehmen wollte. Heunisch, der sich überzeugte, daß das Kind in seinem Walde nicht viel lernen und unter der Wunderlichkeit der damals noch rüstigen Ursula leiden würde, nahm sie damals fort und gab sie in die Stadt zu den Wandstabler's, die es freilich so arg mit dem jetzt herangewachsenen Mädchen vorhatten, daß es eines Tages aus dem Pavillon, wo der alte Fürst badete, mit Schaudern entfloh und sich bei den Tischlermeisters Märtens, die ihre Ältern gekannt hatten, einmiethete, um hinfort von ihrer Hände Arbeit zu leben. Heunisch sagte nun zwar, die Ursula wäre alt und zahm und ganz kindisch, aber es graute ihr doch vor dem Gedanken in das Forsthaus zurückzukehren, und als der Onkel gar hören mußte: In deinem Walde, Onkel, sterb' ich! da brach er lieber vorläufig von seinen Vorstellungen ab und beschloß betrübten Herzens und unverrichteter Sache, aber mit Hoffnung auf den Sergeanten nach Hause wieder heimzukehren.

Den Hochmuthsteufel, sagte er sich zum Trost, hab' ich ihr doch vertrieben! Dies Zeugniß, das er sich als[1609] Belohnung für seine Reise geben zu dürfen glaubte, bezog sich auf den Fortunaball, über den sich Fränzchen, ihrer Freundin Louise Eisold wegen, nicht völlig zu rechtfertigen wagte und es nun auch nicht mehr nöthig hatte, da Heinrich Sandrart sie eben dort kennen lernte. Noch mehr Hochmuthsteufel lag Heunischen in einem Luxus, der in seinen Augen sehr überflüssig war, in der Erlernung der französischen Sprache. Am Tage nach dem Fortunaball nämlich, wo sie im Gewühl, das nach der gewaltthätigen Scene im Garten entstand, mit Heinrich Sandrart wieder zusammengerieth und endlich nach vier Uhr erst, als Louise den Nachtwandler auffing, mit dieser in einem Wagen nach Hause entkam, den Sandrart bezahlte, war jener Franzose, dessen grüne Brille, großer Schnurrbart, lästiger Husten, auf dem Fortunaballe allgemein aufgefallen war, in ihre Wohnung gekommen und hatte sich als einen Professor Monsieur Sylvester zu erkennen gegeben. Dieser alte Geck war anfangs von einer so auffallenden Zudringlichkeit, daß das junge Mädchen ihm verbot, sich wieder bei ihr sehen zu lassen und Madame Märtens unterstützte diese Weisung ihrerseits mit feinstylisirten Drohungen, die er in seinem gebrochenen Deutsch vergebens zu beschwichtigen suchte. Monsieur Sylvester war bejahrt, verbarg diese Thatsache aber durch Perrücke und mancherlei nur in der Nähe sichtbare Toilettenkünste. Er hatte eine sehr glatte, aber fast leblose Haut. Wenn er mit den scharfen grauen Augen blinzelte, sah man an den Schläfen hundert Falten, die [1610] sich bis an die Augenwinkel zogen. Die hervorstehenden Zähne waren offenbar nicht ächt. Seine feine Kleidung verrieth den Mann von Welt und an einschmeichelnden, gewandten Manieren fehlte es ihm sowenig, daß er es wiederholt wagte, sich bei dem jungen hübschen Mädchen, das inzwischen schon von Heinrich Sandrart die ersten Huldigungen empfing, dennoch einzuführen. Er gab vor, eine Bestellung für den Vergolder Louis Armand zu haben und ließ genau von Franziska, die vor ihm zitterte wie vor einem giftigen Basilisken, seine Adresse aufschreiben: Monsieur Sylvester, Königsstraße Nr. 13 im dritten Stock. Er behauptete, bei Armand Aufträge für eine große Herrschaft zu haben. Franziska mochte ihn nicht ansehen, wandte ihm selbst den Rücken, aber sie wurde roth, als Herr Sylvester anfing von Louis Armand zu sprechen und einen langen forschenden Blick auf sie richtete. Ja als er sogar von Armand's Äußerm, seinen Verdiensten und Vorzügen sprach, sogar behauptete, ihn von Ansehen zu kennen und Fränzchens Verlegenheit wuchs, hätte sie im Spiegel bemerken können, daß er eine eigenthümlich überraschte pfiffige Miene machte. Als er gegangen war, fand die Frau Tischlermeisterin den gelehrten Mann doch so übel nicht. Fränzchen aber riß das Fenster auf und meinte, er hätte eine Atmosphäre hinterlassen, daß sie frische Luft schöpfen müsse. Dennoch setzte sie sich an ihren Nähtisch und dachte dem Lobe nach, das Herr Sylvester seinem Landsmann Louis Armand gespendet hatte. Der widerliche Mann erschien ihr bei längerm [1611] Nachdenken jetzt schon minder abschreckend und eines Abends, als der »Zufall« wollte, daß Sylvester ihr, wie sie gerade von der Arbeit kam, wieder in den Weg trat, war er so artig, so manierlich, so zuvorkommend, daß sie zwar Anfangs im Gehen nicht inne hielt, nicht unter ihrem zierlichen Strohhütchen, dem ein blaues Band sehr gefällig stand, aufblickte, aber doch zuhörte, was er, wenn ihn der asthmatische Husten nicht plagte, so neben ihr, in seinem gebrochenen Deutsch, hinplauderte. Er erwähnte wieder die großen Talente des jungen Armand, sprach von vielen unverfänglichen Dingen und empfahl sich an der Thür ihres Hauses mit so viel Artigkeit und so wenig aufdringlich, daß sie ihm wenigstens das eine wenn auch kalte Wort: Ich wünsch' Ihnen einen guten Abend gönnte. Mehr hatte sie ihn nicht gesprochen ... Oben in ihrem Stübchen fand sie damals einen Brief von Louis. Er schickte ihr jenes Gedicht und bat sie, seiner zu gedenken, so lange ihn ernste Pflichten fern hielten ... »Derselbe junge Mann, sagte er in dem Briefe, der schon einmal so freundlich war, an den guten Herrn Märtens einen Auftrag auszurichten, hat mir das beifolgende Gedicht übersetzt, das ich Ihnen widme, meine liebe Franziska! Möge es Ihnen den Trost in Ihrer Einsamkeit gewähren, daß wir Parias der Gesellschaft doch einen stillen Bund geschlossen haben, indem wir für unsere Empfindungen einen gemeinsamen Cultus hegen. Die Reichen und Vornehmen sind nicht so glücklich, sie hassen sich. Wir Armen können uns lieben.«

[1612] Das letzte Wort in diesem Briefe entzückte Fränzchen; aber Paria in der Gesellschaft und Cultus? ... Das waren zwei Worte, die Franziska selbst mit Hülfe mehrer Jahrgänge des Pfennigmagazins, der ganzen Belesenheit der Tischlerin und selbst mit einer Anfrage bei dem gegenübersitzenden Schneider nicht entziffern konnte und ihr unverständlich waren, wie das Gedicht selbst. Sie empfand nun plötzlich das Bedürfniß einer höheren Bildung. Wer sollte ihr sagen, was ein Paria der Gesellschaft und der Cultus ist? In ihrer nächsten Gedankenreihe fühlte sie, daß es gewiß ein großes Glück wäre, wenn man französisch gelernt hätte und sonderbar! Von dem Augenblicke an bildete sich ihr der Gedanke: Herr Sylvester hat sich so lange nicht sehen lassen, ich möchte ihm wol einmal wieder begegnen! Dies geschah zwei Tage später. Herr Sylvester begegnete ihr nicht nur, sondern er wagte sich sogar noch einmal zur alten Frau Märtens an einem Sonntage, wo er vielleicht wußte, daß diese strengen Sittenrichter in die Kirche gegangen waren. Heinrich Sandrart hatte Parade und Fränzchen that dem Sergeanten nicht den Gefallen in die große Allee zu gehen, wo er stolz mit seiner Gardecompagnie unter Befehl des ihm seit dem Fortunaball nicht besonders gewogenen Lieutenants von Aldenhoven, vor sich einen Flottwitz und hinter sich einen Flottwitz, in dem Bataillon des Majors von Werdeck marschirte ... Vergebens sah sich der Sergeant rechts und links um, ob unter den Zuschauern nicht Fränzchens Strohhut mit dem blauen Bande sichtbar wurde.

[1613] Vergebens hörte er den Lieutenant von Aldenhoven ihm zuraunen: Was gaffen Sie denn, Sandrart? ... Der Zorn trieb ihm das Blut in's Gesicht ... aber Fränzchen war zu Hause, kümmerte sich nicht um die Parade, nicht um Heinrich Sandrart's goldene Litzen, sie saß unter ihrem gelben kleinen Bibi und knusperte mit ihren weißen Zähnen an den Hanfkörnchen, die der Verschwender über ihr niederfallen ließ. Da trat Herr Sylvester ein, sehr elegant, sehr fein, wie ein vornehmer Herr, der sicher heute noch bei einem Minister speiste. Herr Sylvester sagte, er wollte sich erkundigen, wie es mit seiner Bestellung wäre, der reiche Herr drängte um die Einrahmung seiner Bilder, die große Meisterwerke wären und glänzende Ausstattung verdienten. Fränzchen bedauerte Louis' Abwesenheit, erzählte, daß er sich der Pflege des kranken Fürsten Egon widme, den er von Paris kenne und zeigte sich so im Zuge, so angeregt über Alles, was Louis betraf, daß Herr Sylvester Muth faßte, sich umzusehen und sich sehr beherrschte, nicht wieder in den lüsternen Ton zu fallen, den er, häßlich und widerlich genug, nach dem Fortunaball angestimmt hatte. Das Gespräch kam auf die französische Sprache und Fränzchen erkundigte sich, was ein Paria der Gesellschaft und der Cultus wäre? Cultus, sagte Herr Sylvester und lächelte so stark, daß man an seinen eingesetzten Zähnen fast die feinen Drähte und das künstliche Zahnfleisch sah, Cultus ist die Verehrung, die Liebe ist ein Cultus, meine liebe Franziska, und die Parias sind eine unglückliche Kaste von Menschen in Indien, die [1614] arm, elend, verstoßen sind und bleiben, weil sie arm, elend, verstoßen geboren wurden und nichts lernen können. Sind Das einige Erinnerungen aus den Gesprächen mit Louis Armand? Fränzchen erröthete und die Folge der weiteren Forschungen und Schmeicheleien des Herrn Sylvester war die, daß sich der feine Mann erbot, ihr französischen Unterricht zu geben. Als sie, halb erschrocken, halb doch innerlichst erfreut, Anstand nahm und mit lächelndem Scherz auf ihre leere Kasse deutete, wies Herr Sylvester jede Zumuthung an die Voraussetzung eines materiellen Interesses zurück und drängte so lange und so artig, so wirklich gefällig in Franziska, daß es dieser vorkam, als wenn sich die grüne Brille des Fortunaballes niemals in so abschreckender Gestalt, fast wie eine Schlange, ihr offenbart hätte. Sie fand ihn leidlich und ging auf die Vorschläge ein, bei ihm wöchentlich drei Stunden zu nehmen. Sie sagte, sie wollte ihm dafür nähen, was er wünschte; auch Namen zeichnen in Taschentücher oder was er begehre, sie wollte sich ihm dankbar zeigen. Ich will Sie nur gelehrig sehen! sagte Herr Sylvester und schlug vor, die Stunden bei ihm zu nehmen. In der Königsstraße Nr. 13? sagte sie, nein, Das geht nicht! Er wiederholte vergeßlich: Königsstraße? ... Sind Sie ausgezogen! fragte sie. Er schien in Verlegenheit und antwortete: Ja wohl, ja wohl! Königsstraße! Franziska meinte nun, die Mühe, zu ihr zu kommen, müsse er sich nicht verdrießen lassen, sonst dürfte sie den Unterricht nicht nehmen. Er versprach diese Bemühung, fürchtete aber, [1615] die Wirthsleute seines Zöglings möchten Einsprache thun. Das soll meine Sorge sein! sagte Fränzchen, und richtig, sie wußte den alten Leuten, als sie aus der Kirche kamen und von der Parade noch die Schlußmusik gehört hatten, das Glück der Bildung und geistigen Vervollkommnung so klar und besonders der Tischlermeisterin anschaulich zu machen, daß die Stunden ihren Anfang nahmen. Zwar hatte Fränzchen mit Herrn Sylvester viel auszustehen. Anfangs wollte er durchaus die Verbindungsthür zwischen beiden Zimmern geschlossen wissen, dann, als ihm Fränzchen dies abschlug, wurde er nichtsdestoweniger oft hinter den schützenden Blumen und der rankenden Kresse wieder so unartig wie nach dem Fortunaball. Aber auf ein ernstes: Herr Professor! sammelte er sich und Fränzchen lernte so geschwind ihre Vokabeln, übte sich so fleißig in den Präparationen, daß sie sichtbare Fortschritte machte. Das dauerte vier Wochen, bis Onkel Heunisch kam. Ärgerlich über die Weigerung seiner Nichte, den jungen, hübschen und reichen Sandrart zu heirathen, kam er gerade mit einem Besuche des Herrn Sylvester zusammen, maß diesen Mann von oben bis unten und von unten bis oben, ließ sich Dies und Jenes erzählen, hörte Heinrich's Klagen, daß Fränz zu hoch hinaus wolle, und daß sie mit diesem Sprachmeister in's Gerede komme, und erklärte ihr, als die Stunde vorbei war, daß dies die letzte gewesen wäre. Wie? sagte Fränzchen entrüstet. Heunisch antwortete ruhig: Er dulde diese Ausschweifungen nicht länger! Sie wäre armer Ältern Kind und müsse ihr Brot [1616] von anderer Leute Gnade essen ... Punktum! Der alte Kerl dürfte hier nicht mehr über die Schwelle kommen.

Franziska war erst fast ergrimmt. Dann aber fügte sie sich und war zuletzt mit diesem Entschluß umso mehr zufrieden, als sie doch von Louis Armand, dem all ihr Mühen und Lernen galt, vergessen zu sein schien. Louis Armand ließ nichts mehr von sich hören. Herr Sylvester kam sehr unregelmäßig, blieb oft nur eine Viertelstunde, und nur, wenn Niemand, außer Fränzchen, zu Hause war, konnte sie ihn nicht wieder fort bringen. Er spottete so boshaft, er wußte so viel zweideutige Anekdoten, er blieb so wenig bei der Sache, daß sie in der That das nächste mal zwar mit einer gewissen Befangenheit, aber doch entschlossen erwiderte, dem Onkel seinen Willen zu thun und ihm sagen zu wollen: Herr Sylvester, ich fühle, daß ich für meine Verhältnisse zu viel Zeit auf eine Sprache verwende, zu deren Benutzung mir mein künftiges Leben keine Gelegenheit bieten wird!

So saß Fränzchen an ihrem Fenster, las in der wehmüthigen Stimmung, die das Lied der armen Frau angeregt hatte, die beiden Gedichte wieder durch und nahm das Einerlei ihrer Arbeit vor ...

Der Flickschneider von drüben machte manchmal einen Scherz mit ihr.

Bon jour, Mamselle! rief er nach einiger Zeit. Parlez vous français?

Dabei lachte er, ohne es jedoch so bös mit seinem Spotte zu meinen, wie ihn die alte Märtens, die nebenan eben die [1617] Zeitung laut buchstabirte, nahm und sich unterbrach mit den Worten:

Portugal ... Dem Heiland sei Dank, daß die Menschen bald nicht mehr solche schändliche Reden hinter uns ehrlichen Leuten werden sagen können! ... Schon wieder ein Erdbeben gewesen ... Ich begreife nicht, wie Eins dies so lange hat dulden können! ... Fünf Häuser sind eingefallen.

Während Fränzchen diese harten von einem portugiesischen Erdbeben unterbrochenen Worte überdachte, verfloß wol eine Viertelstunde und wieder rief der Flickschneider – nach einer Viertelstunde – über den Hof:

Habe ja die Flöduse so lange nicht gehört. Guter Mond du gehst so stille ... das ist mein Leibstück, Mamsell!

Frau Märtens mußte wol nebenan durch's Fenster ihm eine Miene des traurigsten Achselzuckens machen; denn ganz laut hörte Fränzchen den Seufzer, der mehr jene Gebehrde begleitete, als den Vorfall, daß in Mexiko eine Bergwerksgrube eingestürzt war und dreizehn Indianer verschüttet hatte.

Die Flöte aber blies Heinrich Sandrart, wenn der junge Soldat von Fränzchen nicht beachtet wurde und wol eine Stunde neben ihr gesessen und kaum ein Wörtlein von ihr vernommen hatte. Dann ging er traurig nebenan und langte sich eine Flöte her, die er bei der Frau Märtens auf der Commode unter den darauf prangenden, großen bunten und vergoldeten Jahr markts-Deckelgläsern und einigen lehrreichen Schriften liegen hatte und blies dann so still für sich, aber zur Freude des ganzen Hinterhofes, [1618] einfache Volksmelodieen, wie er sie gerade auswendig konnte oder im Ullagrunde von den Knechten seines reichen Vaters hatte singen und jodeln hören.

Die drückende Schwere des Herzens, die Fränzchen durch die halb politischen, halb privaten Seufzer der alten Tischlermeisterin nur noch mehr beängstigte, löste ein Besuch, der rasch und eilig die schmale Treppe fast herauf stürmte. Man hörte das Küchengatter draußen heftig öffnen und noch heftiger zufallen.

Ist Fränzchen zu Hause? rief eine weibliche Stimme im Eintreten und schon war der Besuch durch die größere Stube hindurch in Fränzchens Kammer getreten.

Es war Louise Eisold.

[1619]
8. Capitel. Volksahnungen
Achtes Capitel
Volksahnungen

Die Trauerkleidung, in der Louise Eisold über die Straße ging, konnte der durch diesen Besuch angenehm überraschten Franziska nicht auffallen.

War doch in der Nacht, als beide Freundinnen den Fortunaball besucht hatten, zur tiefsten Betrübniß und zu einem ewig nagenden Vorwurfe für Louisen der alte Urgroßvater mitten unter seinen Urenkeln still entschlummert!

Einmal nur hatte Franziska Louisen seither gesehen. Zwei Tage nach dem Ball kam sie wegen der Kleider, über deren Benutzung Mademoiselle Florentine, die Putzmacherin, furchtbaren Lärm schlug und mit allen Gerichten der Welt drohte. Louise nahm diese Nachricht ruhig auf und wehklagte nur über den Tod des Alten, der so einsam, so verlassen, so lieblos hatte dahingehen müssen! Die Kinder hatten alle geschlafen, so wie sie sie verlassen hatte, das Jüngste hatte sich nicht geregt, die Uhren gingen wie sie aufgezogen waren, sie war leise und still mit der Morgendämmerung in ihr Zimmer zurückgekehrt, selbst Karl, der früh auf die Arbeit mußte, schlief noch[1620] gegen fünf Uhr. Nur ein Blick auf den Alten zeigte ihr, daß Das kein lebendiger Schlaf mehr war, der so den Körper streckt, so die Züge des eingeschrumpften trocknen Gesichtes spitz hervortreten läßt! ... Sie fühlt auf die Stirn, sie fühlt den Puls, sie betastet die Hände, die Füße, der alte Mann war entschlummert, vielleicht von einem Lungenschlag getroffen. Mit einem Schrei, der ihrem ohnehin bebenden und gepreßten Herzen Luft machte, weckte sie alle Geschwister. Diese fuhren empor. Großvater ist todt! Alle Kinder schrien und weinten. Nur Louise konnte vor innerm Schauder nicht zu Thränen kommen. Sie verurtheilte sich selbst. Sie sah den Alten sich nach ihr noch einmal umblicken, sie hörte ihn rufen, sie glaubte an seinen Uhren zu bemerken, daß er noch einmal aufgestanden war. Sie täuschte sich wol, aber ihre Phantasie malte ihr, daß er Allen vielleicht noch ein Lebewohl sagte, aber sie fehlte, Sie, die die Hüterin, der Schutzengel dieser Räume sein sollte! Erst als die Kinder alle auf ihre Arbeit gegangen waren und die ganz Kleinen ihr ihren wahren Kummer nicht ausfragen konnten, machte sie ihrem Herzen durch Thränen Luft ... Und dann die Sorge des Begräbnisses! Glücklicherweise gehörte der Greis zu einer sogenannten Todtenbrüderschaft, bei der man sich durch Jahresbeiträge ein anständiges Begräbniß sichert. Einige schwarzgekleidete Männer nahmen ihr die Sorge der Beerdigung ab. Mit den schwarzen Kleidern angethan, die sie erst vor kurzem nach beendigter Trauer um die Ältern abgelegt hatte, folgte sie dem Sarge mit ihren [1621] Geschwistern. Jedermann erstaunte, wie sie vor der aufgeschütteten Erde so trostlos weinen konnte. Man glaubte doch, daß ihr eine Last vom Schicksal abgenommen war. Niemand kannte ihren nagenden innern Vorwurf, ihre bittere Reue ... die Vizewirthin Mullrich ausgenommen, die recht hämisch den Kopf schüttelte, als der Sarg durch die schmale Thür auf den vor ihrem Kellerfenster stehenden Leichenwagen gehoben wurde. Ihr Mann, der gerade von der Unternehmung bei der Schievelbein heimkam, hatte wohl gesehen, daß Louise Eisold damals an der untern Ecke der Brandgasse aus einem Fiaker stieg, in dem noch ein andres geputztes Frauenzimmer und ein Soldat saßen ...

Louise, die in allen Dingen entschlossen handelte und Umstände nicht liebte, machte ohne Weiteres die Kammerthür zu, umarmte Fränzchen, nahm sich einen Stuhl und setzte, erschöpft von ihrem raschen Gange, zu ihrer Freundin sich nieder.

Ich habe mir ein paar Augenblicke abgestohlen, sagte sie, und bin froh, dich zu Hause zu finden. Du wirst nicht gewußt haben, wo ich so lange geblieben bin.

Auch ich hatte viel zu thun, sagte Franziska.

Laß dich nicht stören! Arbeite fort! Was wird Das?

Ein Häubchen für eine Nachbarin.

Wie hübsch die Spitzen! Kind, ich komme von Florentinen.

Ach!

Ich denke, die Gefahr ist vorüber. Ich hab' ihr zum[1622] letzten male meine Meinung gesagt und nun sind wir einverstanden.

Gott sei Dank!

Ich sagte ihr: Wenn wir nicht so ehrlich wären, hätte sie's nie zu erfahren brauchen, daß wir mit diesen Kleidern auf dem Fortunaball waren.

Wir hatten sie so gut erhalten!

Aber betrügen wollten wir sie nicht. Die fünfzehn Thaler, die sie mir seit Jahren schuldet und die ich doch nie wieder bekomme, würden den Flitterstaat vollkommen bezahlen, allein was sollen wir damit? Ich gehe sobald auf keinen Ball wieder ... Und du?

Erinnere mich nicht –!

Genug, sie nimmt die Kleider wieder, ja kaum hatt' ich sie hingeschickt, so hängen sie schon prächtig wie das Allerneueste in ihrem Magazin und zwei vornehme Damen sah ich, die sie sehr bewunderten, sich Blumen als Besatz bestellten und die Überwürfe zu förmlichen Kapuzen umnähen lassen. Ich sah dem Handel ruhig zu und schüttelte für mich den Kopf, welch' ein Ausbund die Florentine ist! Du hättest sie reden hören sollen! Das Neuste, das Schönste, Sie werden reizend aussehen, meine Gnädige, wie ein Engel, ach, wie ein Engel ...! Wie die Damen fort waren, lachte sie und machte hinter ihnen eine lange Nase. Auf meiner Rechnung strich sie doch fünf Thaler als bezahlt aus!

Fünf Thaler!

Sie verkaufte beide Toiletten für dreißig Thaler.

[1623] Und doch fünf Thaler für dich? Das heißt zwei ein halb für dich und zwei und ein halb ...

Wo denkst du hin!

Ich kann es Louise! Mein Onkel der Förster ist hier, er hat mir einen Louisdor geschenkt. Das sind noch über fünf Thaler.

Meine Rechnung bekäm' ich von der Florentine doch nie bezahlt. Laß! Laß! Laß!

Um so mehr! Sieh, da ist das schöne Goldstück!

Fränzchen zog ihr Nähkästchen auf, wo neben den beiden Gedichten ihr bescheidenes Geldbeutelchen lag.

Louise wollte aber nichts nehmen ...

Louise, begann Fränzchen, was war Das nur in jener Schreckensnacht? Die Lichter erlöschten, der Tag schien in den Saal, mich hatte der Sergeant am Arm, du hieltest den Unglücklichen, der dich den ganzen Abend allein beschäftigte und den Alle einen Nachtwandler nannten ... der Vorfall mit der Auguste Ludmer, wie das geputzte Mädchen heißen soll, die Polizei, der Mann mit der schwarzen Binde ... ach, ich kann dir nicht sagen, wie mir Das noch heute Alles im Kopf wirbelt und summt! Vorher der Lärm im Garten, das Geschrei, das Jammern, die drei schwarzen, berußten Menschen, die mit eisernen Stangen am Zaune lagen, der Große, mit den hohen Schultern, – einen solchen Buckligen hab' ich mein Lebtag nicht gesehen ... wäre Der ausgewachsen, das hätte einen Riesen gegeben ... ein Glück, daß der liebe Gott auf Den die Hand legte und ihm sagte: Duck' dich! Nein, Louise, es ist mir [1624] über diese Nacht noch heute so wüst im Kopf, daß ich ordentlich den Verstand verliere, wenn ich zu lange daran denke.

Liebes Kind, manchmal hab' ich ihn schon verloren und rede wahnwitzig ...

Louise! Was sprichst du?

Mein Elend ist grenzenlos; sagte Louise. Und nicht weinen dürfen! Warum nicht weinen? Die Stickereien könnten leiden, wenn sie feucht werden. Ha, ha, Fränzchen, Das ist eine schöne Welt!

Spotte nicht, Louise! Glaubst du nicht an Gott und eine Bestimmung?

Louise blickte düster und grübelnd vor sich hin. Sie faltete ihre Hände mit den schwarzen Handschuhen und legte sie gedankenvoll in den Schooß. Die beiden Locken, die sie hinterm Ohr trug, glitten herab über die Brust, die sich mit schwerem Seufzer hob. Die edle Stirn, die feine Nase, die Lippen konnten für ein Marmorbild gelten. So steinern und starr war ihr Ausdruck. Dann wie von innerer Glut erhitzt, sprang sie auf, riß den mit schwarzem Bande besetzten Strohhut vom Kopfe, eine schwarze seidene Echarpe von den Schultern, warf Beides auf das Bett, gleichgültig, ob die Gegenstände so oder so fielen und stützte das bleiche Haupt mit dem Arm auf die Lehne des Stuhles, in den sie sich niederwarf.

Louise! sagte Fränzchen mit Vorwurf über diese Heftigkeit, legte ihre Arbeit auf den Tisch, glättete die Echarpe aus und legte sie sauber aufs Bett und daneben [1625] den Hut, den sie gerade bog und seine Bänder durch die Finger gleiten ließ ...

Manchmal, begann Louise nach einer Weile, manchmal bringen mein Wilhelm und Karoline von den Zeitungen, die sie nicht haben verkaufen können, einige Blätter mit und ich lese darin, bis sie Morgens wieder in die Druckerei müssen abgeliefert werden. Gestern Abend, Alle schliefen, da schrieb ich mir doch eine Stelle auf, die in einem Winkel der großen neuen Zeitung: »Das Jahrhundert« stand. »Das verschlossene Jenseits«, hieß es da, »entriegelt der Tod Derer, die uns schon vorangingen. Strahlender öffnen sich die dunkeln Pforten der Zukunft, wenn uns die abgeschiedenen Geister unserer Lieben winken und heimlich und leise wie im Abendwinde rufen: Ach folge doch nach!« Der Name des Mannes, der unter diesen Worten stand, wird mir ewig theuer bleiben, Guido Stromer!

Damit wiederholte sie noch einmal jene kurze Sentenz, in der wir einen der ersten schriftstellerischen Versuche unsres Guido Stromer kennen lernen.

Die, die gestorben sind, Louise, schalt sie Franziska, rufen dir nicht: Folge nach! Sie sagen dir: Bleibe! Sorge für die Nachgelassenen! Erziehe sie! Sei ihnen Mutter!

Louise lächelte bitter. Ihr ganzes Wesen verrieth Schmerz und Verzweiflung.

»Heimlich und leise«, sagte sie träumerisch, »wie im Abendwinde: Ach! folge doch nach!«

[1626] Du denkst an deine Ältern, an den alten Großvater, der dir in der Nacht starb, wo du nicht an seinem Lager stehen konntest ...

Warum ist man leidlich tugendhaft? sagte Louise bitter und hörte nicht auf Fränzchens Einreden. Warum hat man ein Gewissen? Wie ich dann erst das Kind glücklich und gesund neben meinem Bette schlafend fand, mocht' ich auf die Kniee fallen, so dankt' ich Gott! Jeden Schläfer sah ich an und betete. Die Gardinen zog ich zurück, damit der erste Sonnenstrahl auf jedes ruhig schlummernde Antlitz fiel! Da steh' ich bei dem alten Mann. Er sieht so bleich, so starr, ich berühre ihn. Er ist todt! Warum belog ich mich nicht und sagte: Fataler Zufall! Ich las noch eine andere schöne Stelle von diesem herrlichen Guido Stromer. Er sagt: »Es läßt sich leider nachweisen, daß nur Die Menschen eine ewige Größe erschwangen, die auf der Leiter ihrer Thaten selten zurücksehen und in ihr Inneres nie.« O, Das ist dunkel! Aber ich verstehe es schon! Man ist und wird nichts, wenn man so dumm ist gut zu sein!

Du verwirrest dich, Louise! Warum liest du solche schreckliche Sachen! Ergib dich deinem Schicksal! tröstete Fränzchen.

Ich trag' es ja! sagte Louise kopfschüttelnd. Aber manchmal kommt ein Geist über mich, den ich gar nicht nennen und fassen kann. Da ist's mir, als sollt' ich an einer Säule rütteln, so groß und stark wie sie am Schloß stehen. Ich möchte das Haar aufbinden und über die Straße rennen [1627] und den Untergang der Welt oder den Anfang einer neuen ausrufen!

Die Last deiner Sorgen drückt dich und du liebst unglücklich, Louise.

Louise erschrak. Dann aber raffte sie sich auf und sprach leiser:

Wer sagt Das?

Ist es dankbar von dem kranken Mann, antwortete Fränzchen, dem du soviel Sorgfalt schenktest, daß er dich verläßt? Ich habe dich nicht fragen mögen, Louise! Du bist heimlich und dein Zorn erschreckt mich oft. Ich weiß nicht einmal, ob dieser Hackert es um dich verdient. Im Hause des Justizraths Schlurck ist er nicht gut angeschrieben; das weiß ich von Jeannetten ...

Weil sie ihn gequält, gefoltert haben, fiel Louise ein. Diesen Menschen behandelten sie erst wie einen Sohn und erzogen ihn. Wer verdenkt es ihm, als diese hoffärtige, stolze, kalte Tochter in ihrer ersten Gefallsucht ihn ausfrägt, was Liebe ist, daß er's ihr sagt und an seinem eigenen Beispiel betheuert? Sie kommt zum Bewußtsein, trägt den Kopf hoch, darf ihn hoch tragen, aber will nun nichts mehr wahr haben, was sonst zwischen ihnen gegolten hat. Er vergrämte sich und wachte die Nächte, wenn sie von den Bällen heimkam; er will ihr nur das Licht vortragen. Sie erinnert sich aber auf Nichts mehr. Sie will nicht hören, daß sie mit ihm Versteck spielte und in ihrer Wildheit Nachts mit ihm durch die Straßen lief in Knabenkleidern. Weil sie jetzt Offiziere, schöne Cavaliere [1628] zu Dutzenden um sich hat, ist ihr der Mensch, den sie gefragt hat: Fritz, sag mir, was Liebe ist? ein Gegenstand des Abscheues und des Schreckens geworden. Längst hätte man ihn aus dem Hause geworfen, wenn ihn der Vater nicht liebte, als guten Arbeiter, klugen, gewandten Kopf, vielleicht fürchtete als verteufelten Pfiffikus, der seine niederträchtigen Schliche durchschaut! Ha! Hackert hat mehr Witz im kleinen Finger als mancher Professor im Kopf, und wenn man gewollt hätte, wäre mehr aus ihm geworden als ein unglücklicher Mensch. Wie schreibt Der schön! Wie kann Der lustig sein! Wie toll sind seine Scherze! Ja, sein Haar ist roth, er ist einer von den Gezeichneten. Sind die alle so schlimm? Du nennst Danebrand, der ihn auf dem Fortunaball herausschlug ...

War Das Danebrand? Der gute Schleswiger, der für Euch arbeitete? Den du deinen Ältern zu heirathen gelobtest, weil er ihnen versprochen hatte, für Karl so lange die Stelle des Vaters offen zu halten?

Nun, was sagt' ich, daß ich gelesen habe: »Nur Die kommen auf, die auf der Leiter ihrer Thaten selten zurücksehen und in ihr Inneres nie.«

Franziska Heunisch vergegenwärtigte sich aus ihren eigenen Empfindungen vollkommen diejenigen, die Louise Eisold haben mußte. Das Unglück, einem so unschönen Manne wie Danebrand durch Älternwille und Dankbarkeit gehören zu sollen, mußte sie für ein junges, gefälliges Mädchen als eine große Aufgabe anerkennen, doch da sie selbst, freilich unendlich lieblicher und reizender als die [1629] ernste, bleiche Louise, in der Lage war, zwischen zwei schönen und gefälligen Männern mit ihrem Herzen in der Mitte zu stehen, so begriff sie doch nicht, wie das wenig Anziehende in Hackert's äußerer Erscheinung für Louisen Veranlassung einer unglücklichen Leidenschaft sein konnte. Sie deutete Dies mit großer Schonung auch ihrer Freundin in den zartesten Worten an.

Fränzchen verstand eben Louisen nicht.

Louise Eisold war eine seltene Erscheinung. In diesem Mädchen zitterten alle Regungen des neueren Volksbewußtseins. Ihr Herz war von dem Hauche der Zeit bewegt wie eine zitternde Silberpappel. Ach, und nur die weiße Seite der Blätter kam immer zum Vorschein, wenn sie bebten, der Schmerz und eine gewisse todesfreudige Ahnung. Louise Eisold gehörte zu den Armen, für die recht ein neuer Christus hätte kommen müssen, wie Jesus sagte: Den Armen wird das Evangelium gepredigt! Ihre Seele hatte Schwingen, aber sie stieg mit ihnen nicht empor; sie fühlte nur die gewaltige Schwungkraft dieser Fittiche, die Luft lag zu schwer auf ihnen, sie konnte, den Vögeln der Wüste gleich, nicht aufwärts. Über die Sitte, die Religion, den Staat zuckte es in ihr an Gedanken krampfhaft. Sie darbte sich die Pfennige ab, um alle Jahre einige male auf der obersten Galerie das Theater besuchen zu dürfen. Wie zehrte sie von dem empfangenen Eindruck! Wie wählte sie, wenn die Groschen beisammen waren, bis ein solches Stück gegeben wurde, wo ihre Nerven hoffen durften zu zittern, ihr Herz sich zu dehnen, [1630] ihre geheimsten Ahnungen von leidenschaftlich bewegten Künstlern ausgesprochen zu werden! Schon ihre Ältern hatten, da sie gemischter Ehe waren und von der katholischen Pfarrei der Residenz viel Behelligung erfuhren, sich an die deutschkatholische Richtung angeschlossen. Louise Eisold, die nicht einmal in dieser Richtung ihre volle Befriedigung fand, las und hörte nur von freien Gemeinden, so war sie auch schon darauf bedacht, ihre Versammlungen aufzusuchen und sich mit ihren Geschwistern in ihre Register einschreiben zu lassen. Sie fand hier etwas, was sie erregte, erschütterte, über das Gemeine erhob. Sie durfte da nicht nur lieben, sie wurde auch ermuthigt zu hassen. Ja der Haß, Das linderte! Dies volle Ausströmen eines zornentflammten Gemüthes, Das war ihr Bedürfniß! Was sich in Euch längst verwischt hat durch die Bildung, die historische Kritik, die bei Euch längst eine ruhige Reflexion geworden ist, Das war bei Louise Eisold noch in lodernder Flamme. Der Papst, Rom, die Hierarchie und im Politischen die gleichen Traditionen des monarchischen Principes waren ihr im Grunde der Seele so verhaßt, wie wir in unserm Egoismus nur Das hassen, was sich unserm nächsten Vortheil entgegenstemmt. Louise Eisold hatte in den Tagen der Revolution in der Nähe der Barrikaden gestanden. Ihr Enthusiasmus veredelte den Rausch gemeinerer Naturen, die sie zum Kampfe anfeuerte. Sie trug Steine, sie rettete Verwundete, sie half, wo ihre durch den Moment dreifach gesteigerte Kraft zur Hülfe ausreichte. Eine theatralische [1631] Eitelkeit war ihr dabei fern. Sich in Männerkleider zu werfen, mit einem befiederten Hute zu kokettiren, die Amazone zu spielen, Das würde ihr elend erschienen sein. In ihr lebte nur die Sache. Die Liebe zum Volke, dem sie angehörte, hob ihre Brust, sie war die eigenthümliche Verklärung alles Dessen, was unklar, unsicher und doch so tief geahnt und tief gefühlt in dem modernen Bewußtsein der Volksmassen schlummert.

Da sagte sie nun auch über Hackert:

Ach, Fränz, was ist äußere Schönheit! Und wär' ich reizend wie du, wär' ich so schön wie Melanie Schlurck, die Kalte, die Hoffärtige, ich liebte nur einen Mann von starkem Geist. Was läge mir an Danebrand's Gestalt? Aber er hat nur die körperliche Kraft und ein gutes Herz und das ist Alles.

Und das ist Alles, Louise? Nur ein gutes Herz? fragte Franz, fast geängstet.

Das allein kann ich nicht lieben, Franziska! fuhr Louise bitter fort. Ich weiß es nicht, ob Hackert gutmüthig ist, manchmal zeigt er ein Herz. Aber er ist wahr, er ist wild, struppig, wie sein Haar. Kaum daß er ein Wort redet. Er wirft sich auf's Sopha, springt wieder auf und stampft mit dem Fuß und wettert. Er hat mich kaum beachtet. Als man die Eisenstäbe vor sein Fenster schlug, sah er mich zum ersten male an und weinte. Geh' ich noch immer um? fragte er mit zitternder Stimme. Ich erzählte ihm, wie man ihn noch kürzlich getroffen hätte, am Rande der Galerie, die auf ein Dach führt. Es ist mein ruheloser Geist!

[1632] sagte er und schluchzte fast. Er wurde wie ein Kind und erzählte mir, wie ihm Das gekommen wäre und wen er liebe. Und wenn ich sie einst sähe, sagte er, und sie in meinem Arme mir nur eingestehen wollte: Ja Fritz, es ist wahr, du warst es, der mich küssen lehrte! Dann wollt' ich alle Fesseln sprengen. Alle Kronen der Welt aus Himmelshand schlüg' ich aus, wenn ich Das nur hörte; Licht und Glanz fiele in mein Leben, ich würde rasen, jubeln und mich in den Strom der Freude werfen. Nehmt mich! Bindet mich! Macht aus mir was Ihr wollt! Ich will falsches Geld münzen, will stehlen, lügen, mit jedem ehrlichen Manne oder auch einem Gauner Freundschaft trinken und endlich einmal etwas ergreifen auf dieser Welt, das mich hält, wenn sie nur sagte: Fritz, ich war die Melanie, die ... – Ach, Franziska, dieser Augenblick mußte damals gekommen sein, als ich dich auf den Fortunaball holte. Am Morgen war er sanft und demüthig, freundlich gegen gute Menschen, die sein Bestes wollten, und am Abend kam er nach Hause in einer Aufregung, so stolz, so spöttisch, so tückisch, als gehörte die Erde sein. So lange er bei uns wohnte, lebte er wie ein scheues Wild, das vor den Menschen flieht. Er sagte, er fliehe die Höhlen des Verbrechens, er fühle sich nicht stark, mit seinem Vortheil einen moralischen Zank anzubinden. Er wisse noch nicht, wohin er umschlagen sollte. Wenn man die Menschen hasse, könne man nicht suchen, ihnen durch Tugend zu gefallen. Oft erzählte er mir von den Bällen, wohin ihn zweideutige Menschen einlüden, und Das wußt' ich, daß [1633] er einmal nach irgend einer glücklichen Begegnung mit Melanien das Leben von der leichtesten Seite wieder nehmen würde. Da kommt er an jenem Abend, stößt Liebe und Güte von sich und antwortet fast wie Einer, der auf jede vernünftige Rede unvernünftig genug sagt: Laßt mich, ich muß tanzen! Da hielt es mich nicht. Ich mußte ihm folgen und Gott sei gedankt, ich rettete ihm sein Leben.

Ganz gut, gut, sagte Fränzchen, aber wie kann man nur so wilde Feinde haben! Sie sagte Das mit Anspielung auf den Überfall und als wenn Hackert diese Feinde verdiente.

Kluge und ungewöhnliche Menschen müssen Feinde haben, antwortete Louise. Sie finden aber auch Freunde.

Danebrand war edel genug, Den zu schützen, den du liebst, und Hackert war so undankbar, dich zu verlassen ... sagte Fränzchen sich erhitzend, da sie die Neigungen ihrer Freundin nicht theilte.

Er hatte Recht, antwortete Louise nach längerem schmerzlichen Sinnen, mein Loos ist geworfen. Am Morgen nach dem Fortunaball, wie ich an der Leiche stand, kam er und sah mich weinen. Er war eben erst gekommen und erfuhr's schon im Hause unten, was geschehen war. Louise, sagte er, ich verlasse Sie! Sie haben mir große Freundschaft erwiesen! Sie haben mich heute vielleicht vom Tode gerettet. Aber der Rausch, der mich gestern wahnsinnig machte, ist heute vorüber. Ich besinne mich auf meine Pflichten und will den Versuch machen, [1634] ein anderes Leben zu beginnen. Ich schwieg; ich fühlte selbst, daß ich mehr gethan hatte, als mich ihm achtbar erscheinen ließ. Fränzchen, es gibt Beweise der Liebe, die zu viel sagen, und so war mir's um's Herz. Ich saß auf dem Bett des Todten und weinte. Hackert reichte mir seine Hand und dankte für alle meine ... Güte, wie er's nannte. Er wollte mir beistehen bei dem Leichenbegängniß. Ich sagte: Ich danke Ihnen, Hackert, ich habe Brüder und Danebrand. Auf den Namen Danebrand sagte Hackert: Ich schäme mich dieser Nacht und verdiene Ihre Theilnahme so wenig, daß ich anfangen will, an meine Besserung zu denken. Es hat mir Jemand Verwendung und Thätigkeit versprochen. Ich will sehen, wie lange sich mit den Menschen gehen läßt, ohne sich selbst zuwider zu werden. Ich fragte: Doch um Gottes willen nicht Pax? Doch nicht die Polizei? Er schwieg und sagte: Lassen Sie mir nur meinen Weg! Die Miethe zahl' ich so lange fort, bis sich ein Anderer für mich gefunden hat. Ich sagte wie der: Hackert, lassen Sie Das! Nein, Louise, Sie sind arm und Ihr Alle bedürft es! antwortete er, gab mir dann Geld, dann die Hand und ging ruhig aus der Thür. Am meisten wußt' ich wohl, daß er sich seines kranken Zustandes wegen, der auf dem Balle sich wieder gezeigt hatte, schämte ... Ich hatte den Todten, Hackert zog in der Stille aus und Danebrand kommt wieder ... weil ich ihm nun doppelt danken muß.

Das ist zu traurig, sagte Franziska und hielt die Hand ihrer bitterlich weinenden Freundin, die ihren neuen [1635] Kummer, daß Hackert vielleicht gar in die Hände der Polizei gerathen war, noch einmal aussprach.

Schmelzing, fuhr sie dann fort, Schmelzing zog dann auch aus. Ich war froh, ihn los zu sein, den neugierigen Schleicher, der, obgleich taub, nur horchte. Nach einigen Tagen kam ein Miether, über den ich anfangs erschrocken bin. Erinnerst du dich vom Fortunaball des Mannes mit der schwarzen Binde?

Den die Polizei festnahm? sagte Fränzchen erschrocken.

Mit dem frechen, goldbehangenen Mädchen?

Die sind doch nicht ... bei dir eingezogen?

Nur er, antwortete Louise. Er hatte acht Tage gesessen, sagte er, ganz unschuldig, wie er versicherte ...

Louise! Solche Menschen nähm' ich nicht in meine Nähe! rief Fränzchen und ließ vor Schreck fast den Mund offen, daß die weißen Zähne glänzten.

Es ist ein feiner, artiger alter Mann, sagte Louise rasch, in dem sich die elende Polizei doch wol geirrt hat.

Wenn schon! Aber das Frauenzimmer!

Sie heißt Auguste Ludmer und ist eine Tochter eines ehemaligen Beschließers im Gefangenhause zu Bielau, sagte Louise. Ein verwildertes Mädchen, das früher in unserm Hause Nr. 17 wohnte und keinen guten Leumund hat. Sie ist schon am Tage nach dem Fortunaball sogleich freigelassen. Was sie mit dem Engländer – er heißt Murray – vorhatte, weiß ich nicht. Er ist entweder geizig oder sparsam; darüber bin ich nicht im Reinen. Als ich ihn an [1636] das Mädchen erinnerte, seufzte er. Ich erklärte ihm, daß ich wohl ihn, aber diese Person nicht aufnehmen würde. Er blickte dabei scharf unter seiner Binde hervor und antwortete: Sie haben da zwei Kammern! Seh' ich aus wie ein Mann, der noch auf schlimmen Wegen Frauenliebe sucht? Wenn das Mädchen bei mir ist, steh' ich für ihre Tugend. Er sah mich dabei so fest, so streng an, Fränz, daß ich den Blick niederschlug. Es war mir fast, als hört' ich die Worte aus der Bibel: Wer unter Euch sich rein dünkt, werfe den ersten Stein auf sie! Er verlangte, wenn das Mädchen zu ihm zurückkäme, daß ich ihr Schmelzing's Kammer gab. Da ich noch keinen rechten Muth dazu hatte, sagte er: Soll die Schmach der Sünde denn ewig sein, ein Verbrechen nie vergessen werden? Franziska, wie mich der Mann darauf angesehen hat, werd' ich in meinem Leben nicht vergessen. Er wurde größer an Figur. Durch die schwarze Florbinde schimmerte das eine Auge durch, als wollt' er mich durchbohren. Aber nicht voll Wuth war der Blick, sondern voll Schmerz. Wissen Sie, mein Kind, fuhr er fort, daß ich die Polizei nicht habe überzeugen können, warum ich arm leben will und eine von Gold behangene Buhlerin am Arme hatte; wissen Sie, daß ich gezwungen wurde, ein Haus als Wohnung zu wählen, wo ich unter den Augen einer heimlichen Aufsicht stehe? Man nannte mir dieses. Ich protestirte wegen Augusten, die bei mir bleiben und tugendhaft leben wollte. Man lachte mich aus. Je mehr ich gegen dies Haus sprach, desto kürzer war der Bescheid, ich wäre für einige Zeit ein[1637] Observat und müßte hier wohnen. Dies Haus ist bewacht. Hier nebenan wohnte noch vor kurzem ein Spion, Namens Schmelzing. So bin ich hergezogen. Nehmen Sie mich also nur, mein Kind, und wenn jenes unglückliche Mädchen kommen sollte, so verstoßen Sie sie nicht. Ich muß sie für verloren halten, aber käme sie zu mir zurück, so hätte sie viel überwunden. Sie würde am Orte ihrer Schande arm und sehr, sehr gering leben müssen.

Und nun? fragte Fränzchen fast zitternd über die Gefahren ihrer Freundin und bei sich überlegend, ob sie nun wol jemals wagen könnte, sie zu besuchen.

Murray wohnt bei uns, sagte Louise, das Mädchen ist aber nicht gekommen.

Und vor einem solchen Nachbar fürchtest du dich nicht?

Er ist am Tage nicht viel zu Hause, liest des Nachts, schläft bis späten Morgen und lebt still und einsam..

Ich könnte des Nachts nicht ruhig schlafen, meinte Franziska.

Warum? Ich halte ihn für einen weisen Mann. Er sprach mit solchen Worten, wie sie mich immer erschüttern. Er kennt ganz das Elend der Menschen und weiß, wie nahe das Unglück an den Rand des Verbrechens führt.

Franziska gedachte jetzt plötzlich der Verse Louis Armand's. Jetzt verstand sie sie schon besser. Jetzt, erregt von der höheren Begeisterung und thatkräftigen Schwärmerei, die in Louisens Augen lagen, konnte sie nicht umhin, die Worte vor sich laut hin zu sprechen:


[1638]
Des Volkes Tochter! Arme Bettlerin,
Du bist nicht arm, was auch dein Elend spricht!
Die Nachbarin ließ ihre Truhe auf,
Greif zu! Zum Bagno geht dein Lebenslauf –
Und wenn zum Tod – nur stolz! Und weine nicht.

Was? rief Louise. Was summst du da?

Wie Louise diese Worte hörte, horchte sie hoch auf. Erschüttert und ergriffen fragte sie, was Das für ein Lied wäre? Und Fränzchen, voll Wehmuth und durch die warme Hingebung der unglücklichen Freundin innerlichst selbst erschüttert, zog ihr Nähkästchen auf und wollte ihr das Gedicht des Handwerkers geben. Sie vergriff sich aber und gab ihr Heinrich's Verse. Louise las davon eine halbe Strophe.

Nein, rief sie, Das ist Wasser, Das sind die Feuerworte nicht! Wo hast du die?

Fränzchen sah nach und verbesserte rasch ihren Misgriff, indem sie die rechten Verse aufschlug.

Ah! rief Louise, las und sprang auf; Das sind Worte des Lebens, die vom Himmel kommen!

Und mit zitternder Stimme, bebend vor innerer, das ganze Herz umwühlender Bewegung, las sie die Verse mit steigendem Affekte auch im Vortrage laut und nachdrucksvoll und steigerte sich in ihrer grenzenlosen Nichtbefriedigung in eine so schwindelnde Höhe der Leidenschaftlichkeit, daß sie vor Wehmuth laut zu schluchzen anfing und gerade die Absicht des Dichters erreichte, der [1639] der Proletarierin verbieten wollte, zu weinen, während sie dennoch weinte.

Franziska hatte auf der Zunge einzugestehen, wie sie in den Besitz dieses Gedichtes gekommen wäre. Auch sie hatte das Bedürfniß, sich in die theilnehmende Brust einer so gefühlsstarken Freundin auszuschütten. Diese aber, da eine Thurmuhr gerade laut in der Nähe schlug, sagte:

Franziska, ich muß nun gehen und für unser Mittagessen sorgen. Seit dem Fortunaball ist mein Karl finster gegen mich. Er hat bei Willing's zuviel Schlimmes über mich hören müssen! Ach, auch darum muß ich Danebrand freundlich sein! Erzähl' mir, was du auf dem Herzen hast, am nächsten Sonntag. Wir wollen in's Feld gehen. Ich thu's der Kleinen wegen und auch Line und Wilhelm haben am Sonntag keine Zeitungen auszutragen. Ich trage das Kleine. Du nimmst Heinrich und Riekchen an der Hand. Danebrand trägt in einem Ranzen, was wir im Walde verzehren können. Oder ist dir Das zu arm, Fränzchen? Du bist vornehm! Wie schöne Kleider du hast und wie schön du bist!

O Louise, sagte Fränzchen erröthend, was sprichst du! Ach, ich will schon glücklich sein, mit dir gehen zu können.

Willst du? Nächsten Sonntag?

Ich hole dich ab ...

Nein, nein, nicht in unser schlimmes Haus! Wir kommen um zwei Uhr am nächsten Sonntag dich hier abzuholen. Und bringe mit, wen du lieb hast! Den Sergeanten, nicht wahr?

[1640] Nein! sagte Franziska entschieden und bestimmt.

Von Dem sind die feurigen Verse nicht! Wo hast du sie her? Willst du mir versprechen, mir sie abzuschreiben?

Ich schreibe sie dir ab!

Ach, Fränzchen, sonst las ich solche Flammenworte einmal über und sie hatten sich mir gleich eingeprägt, wie in Erz gebrannt. Jetzt drückt auf meine Gedanken soviel, mein Kopf geht so wirr, daß ich das Leichteste nicht behalten kann. Und dann muß ich's Abends lesen, wenn Alles um mich still ist, die Kinder schlafen, die paar Uhren picken, die ich noch immer aufziehe – ich will Die verkaufen, die noch da sind und die dem Großvater gehörten, die andern haben die Leute zurückgeholt ... ach, es ist mir oft, als wenn der alte Mann im Zimmer huschelt und kein Weiser rückt an, ohne daß ich nicht denke: Den hat er mit seiner todten Hand eben gerückt und nun wird er gleich schlagen lassen! Und immer ist's mir, als schlüg' es vier. Ich sehe Hackerten die Kinder schlafen bringen und höre nicht, wie der Alte ruft: Louise komm doch und drück' mir nur die müden Augen zu!

Beide Mädchen weinten ...

Als Louise aufstand, den Hut und die Echarpe holte und zum Abschied sich rüstete, griff Fränzchen ganz verstohlen in ihr Tischchen, holte das Goldstück und wollte es mit bittender Miene, ohne ein Wort zu sagen, in Louisen's schwarze Handschuhe gleiten lassen, deren einen sie in der Aufregung sich ausgezogen hatte und eben wieder anzog. Louise lehnte aber lächelnd diesen Beweis von [1641] geräuschloser, mit einem einzigen stummen Blick der Bitte ausgesprochenen Herzensgüte ab.

Ich bin glücklich, sagte sie, daß ich dir anzeigen konnte, wir haben die Bosheit der Florentine abgeschüttelt. Es geht jetzt so leidlich! Lieber Himmel, von den Begräbnißgeldern des Alten haben wir ja noch gerade soviel übrig behalten, als ich an Florentinen verliere. Gott ist in großen Dingen, wo wir Hülfe von ihm erwarten und denken, es müsse durchaus nach unserm Wunsche und Willen gehen, fast immer hart und unerbittlich, und in kleinen Dingen, wo er Verlust durch Gewinn wie durch einen Zufall ausgleicht, ist er wieder so grundgütig, daß wir uns beschämt fühlen und unsern Kleinmuth bereuen. Bis Sonntag schreibst du mir das göttliche Gedicht ab und wenn du was recht Gescheutes anstellen willst, so bringe Den mit, der es gemacht hat, und wär's ein Student!

Mit dieser, unter Thränen hervorblitzenden Schelmerei schied das aufgeregte Mädchen. Sie umarmte Franziska und ging ohne viel Rücksicht auf die hinter ihr herbrummende, durch dies Ignoriren verletzte Frau Tischlermeisterin Märtens durch deren Zimmer rasch davon. Man hörte, wie sie das Gitter der Küche zufallen ließ und unverweilt die Treppe hinuntersprang.

Für Fränzchen hatte dieser Besuch die wohlthätige Folge, daß er ihr Kraft gab, fest auf ihrem Gefühle zu beharren.

Hatte sie geschwankt, ob sie nicht den Onkel, der so gut [1642] war und nichts Unangenehmes im Leben leiden mochte, beim Abschied durch die Bereitwilligkeit erfreuen sollte, Heinrich Sandrart's Bewerbung sich gefallen zu lassen, so war ihr von Louisen's heldenmüthigem Wesen eine wunderbare Kraft zugeströmt. Lag nicht in Allem, was dies Mädchen ihr erzählt und von ihren stillen Herzenskämpfen mitgetheilt hatte, das volle, große, gewaltige Geständniß, daß sie ein unaussprechliches Bedürfniß einer großen und feurigen Liebe hatte? Sie vergegenwärtigte sich, wie oft ihr diese arme Arbeiterin, die vor einem Übermaß von Pflichten kaum zu sich selber kommen konnte, gestanden hatte, daß in ihr ein nicht zu bewältigender Drang der Liebe läge! Sie hatte früher dies Geständniß nicht fassen können, jetzt fühlte sie den übermächtig stärkenden Hauch einer reinen, dem Herzen befehlenden Willenskraft. Daß Louise jemals dem Danebrand gehören würde, glaubte sie nicht. Sie sah in Allem, was der Freundin seit dem Fortunaball geschehen war, nur eine Art Sühne für das Unrecht, das sie bei ihrem tugendhaften Pflichtgefühle begangen zu haben glaubte. Aber Das wußte sie auch, ganz würde sich dies starke Herz niemals unter das Joch der Rücksichten beugen. Das ist nur, sagte sie, eine Zeit der Trauer, die sich Louise auferlegt hat, aber unwahr gegen sich selbst wird sie niemals werden. Die lügt nicht, wie ich nicht lügen will!

So fand sie nach einiger Zeit, während Frau Märtens brummte und über das abscheuliche, »keinem« Menschen »ästimirende« unhöfliche »Subjekt«, die Louise Eisold, [1643] polterte, die »die ganze Suppe« mit dem »Sprachmaitre« und Herrn Sandrart und der Reise nach Hohenberg nicht etwa eingebrockt, sondern »eingefädelt« hätte, der Onkel Heimisch.

[1644]
9. Capitel. Stilles Leid und stille Schuld
Neuntes Capitel
Stilles Leid und stille Schuld

Der so gern nur wohlgemuthe Jäger Leberecht Heunisch kam in rosenrothester Laune von seinem Prinzen Egon.

Er, der so gewohnt war, nicht viel auf seinen Schultern zu tragen und der selbst von dem Nächsten, was um ihn her sich ereignete, nicht viel sehen und wissen mochte, hatte eine Menge lästiger Drangsale von seinem Gemüthe abgeworfen.

Gleich wie er von seinem genesenen, zum erstenmale ordentlich gesehenen hohen Patrone kam, begegnete ihm Dankmar Wildungen, den er seit dem Abschied vom Gelben Hirsch für den Prinzen selbst gehalten hatte.

Nun wußte er doch, wo er auch diesen Freund und Gönner hinbringen sollte. Es war ein »Bekannter« des Prinzen! Diese Thatsache nahm ihm, als er Dankmarn rasch eilen sah, um Egon zu begrüßen, alle Skrupel. Es lag wieder das helle, goldne, klare Nichts vor seinen Augen; der ganze blaue Himmel schien in seine blauen treuherzigen Augen zurück und nur Heinrich Sandrart, der Sergeant, und das Fränzchen und der alte französische Sprachmaitre ... Die waren noch ein paar lästige Wölkchen für seine Behaglichkeit.

[1645] Er war von Egon und von dem frohen Wiedersehen des guten Rathgebers Dankmar in die Kaserne gegangen, um den Sergeanten abzuholen ...

In seiner Patentuniform, wie er sie immer trug, kam der Sergeant mit dem Förster mit, nicht ohne Hoffnung, Fränzchen würde doch wol vielleicht dem Onkel zum Abschied eine für ihn tröstlichere Erklärung geben.

Der junge Krieger hatte eine freundliche Zusprache nöthig, denn seit dem Fortunaball geschah Vieles, um seinen sonst so fröhlichen leichten Sinn zu kränken.

Sein rundes volles Gesicht, dem ein Bärtchen an der Oberlippe und ein damals noch erlaubter demokratischer Kinnbart gar männlich stand, war seit einiger Zeit nicht aus Liebeskummer allein entfärbt.

Der Lieutnant von Aldenhoven hatte ihm die Äußerung: Wir sind hier nicht im Dienst, Herr Lieutnant! sehr übel genommen ...

Man fand Heinrich Sandrart schon lange nicht von der ordonnanzmäßigen Botmäßigkeit, die die Gesetze der Disciplin in ihrer soldatesken Übertreibung mit sich brachte. Gerade, daß ihn gegen mancherlei Anklagen, die man bis zum Major seines Bataillons gegen ihn vorbrachte, dieser in letzter Instanz in Schutz nahm, ihn entschuldigte, eine brave Haut nannte, die man nicht kopfscheu machen müsse, gerade darin lag ein Grund mehr für einige Offiziere, ihm das offenste Unrecht anzuthun. Man konnte ihm zwar nicht nachsagen, daß er wie einige vorlaute und schon mehrfach bestrafte Krieger von den neuen Ideen [1646] angesteckt war, er besuchte keine verbotenen Gesellschaften, er war harmlos, gutmüthig und liebte nur das Vergnügen und die Frauen, man wußte, daß er um einer spröden Liebe halber schmachtete und zog ihn damit auf. Allein schon einige junge Krieger der Garnison waren, ohne zu den absichtlichen Wühlern zu gehören, dadurch, daß sie etwas Apartes für sich in Anspruch nahmen, aus dem Verbande der großen disciplinarischen Kette, die das ganze Institut der stehenden Heere aufrecht erhält, herausgeglitten und hatten in den Theorieen jener bald stilleren, bald lauteren Wortführer einen Anhalt für rein persönliche Misstimmungen gefunden. Dem Major von Werdeck sagte man ja etwas Ähnliches nach! Er sollte früher nie über Politik nachgedacht, ja sogar so ruhig, so loyal sich immer verhalten haben, daß man ihn anfangs an der Spitze einer Compagnie älter werden ließ, als es sein Wunsch sein konnte. Später erhielt er Beförderung; aber wie lange ließ man ihn warten, weil er immer zu den Geduldigen gehört hatte! Plötzlich wurde er verdrießlich. Man wollte ihn in eine entfernte Garnison zur Linie schicken, er schlug die Stellung aus und zog die alte geringere vor. Er las Zeitungen, bildete sich ein Urtheil und machte mit Niemanden Partei. Jedes Ding, jede Frage wollte er gewissenhaft prüfen und durch das Prüfen kam er vom politischen Köhlerglauben, den man Loyalität, Treue nannte, zum Zweifel, den man Liberalismus, demokratische Gesinnungslosigkeit schalt. Erst einmal in der Minorität, ging es dem Major wie jedem rechtschaffenen [1647] Manne. Er fand seine Ehre darin, einem eigenen Nachdenken seine Überzeugungen zu verdanken und sonderte sich immer mehr von den Andersgesinnten ab. Längst würde er seinen Abschied genommen haben, wenn ihn nicht zwei Dinge daran verhinderten. Einmal galt es von dem Staate, dem er angehörte, für angenommen und feierlich beschworen, daß ein neuer, volksthümlicher Geist die Seele des Ganzen werden sollte. Anderntheils sagte er sich, daß, wenn auf einem schwierigen, mit Kampf verbundenen Posten Jeder immer sogleich weichen wollte, man sich nicht wundern dürfte, wenn das Gute überall unterliege. Seine Untergebenen hielten mit leidenschaftlicher Vorliebe an ihm fest, so streng er auch sein konnte und so hoch er auch seinerseits die Nothwendigkeit der Disciplin anschlug. Er wiederholte oft den Schiller'schen Spruch: »Ein freies Leben ist ein paar sklavischer Augenblicke wol werth«. Daß Soldaten wählen sollten, daß man den Geist der Parteiung in die geschlossenen Glieder einer Armee verpflanzte, war ihm ein Gräuel. Die muthige Art, mit der er kurz und bündig manchem Parteihaupte gegenüber einen solchen Satz aussprach, hatte immer wieder zur Folge, daß die ihn umwühlende Intrigue sich etwas zurückzog und vorsichtiger zu Werke ging. Aber seine sogenannte Wiederherstellung in dem Vertrauen seiner Kameraden hatte nicht lange Dauer. Er verstieß nur zubald wieder gegen das System, das nun einmal in diesen Reihen gelten und die Kluft zwischen dem Alten und Neuen immer mehr erweitern sollte. Was man von ihm [1648] selbst nicht wußte, setzte man endlich bei der offen zur Schau getragenen Gesinnung seiner Frau über ihn voraus.

Die Besatzung wurde gerade jetzt viel mit Exerciren gequält. Schon am frühen Morgen war der Major auf einer großen Ebene vor der Stadt gewesen und hatte die schon tausendmal gemachten Manövres wiederholen lassen. Sein schmerzliches: Guten Morgen, Kinder! als Alles vorbei, hatten die Soldaten wohl verstanden. Es war eilf Uhr und Sandrart war schon übermüdet. Dies hinderte ihn aber nicht, sich rasch anzukleiden und mit dem Förster Heunisch, der, auch einst Soldat, die ewige Fuchserei (namentlich »in dieser Zeit«!) nicht begreifen konnte, zu Fränzchen zu gehen.

Onkel Heunisch war sehr angeregt. Der freundliche Empfang des jungen Fürsten hatte ihm wohlgethan. Auch dem Madeira hatte er lebhaft zugesprochen. Er war etwas zum polternden Zank aufgelegt und wiederholte alle die schlimmen und ärgerlichklingenden Reden, die er schon mehrmals gegen Fränzchen ausgesprochen hatte.

Diese war ruhig und reizte ihn dadurch doch noch etwas mehr als nur zum Scherz. Endlich mußte sich sogar Sandrart in's Mittel legen und ihn besänftigen. Brummend setzte sich der Jäger in einen Lehnsessel, ließ sich, um seinen brennenden Durst zu stillen, von einem Burschen der Werkstatt leichtes Bier kommen, steckte eine Pfeife an, rauchte eine Weile, trank nun und entschlief. Sandrart nahm seine Flöte und blies: Ach, wenn du wärst mein eigen! Madame Märtens klemmte die Brille auf die Nase [1649] und studirte mit Wißbegier das neueste Hellerblatt, das sie mit dem Schneider drüben zusammenhielt. Dieser nickte, dankbar für die Flöte, herüber. Fränzchen nähte und malte sich hinter ihren Blumen aus, wie es wol am nächsten Sonntag sein müßte, wenn es ihr recht, recht gefallen sollte ...

Plötzlich ließ sie zitternd die Arbeit sinken. Sie hatte Jemanden kommen hören, sie vernahm eine Stimme, die Flöte schwieg, der Onkel schnarchte leiser, die alte Märtens sprach über den Hof hinüber. Sie hätte aufschreien mögen, als sie hörte, daß drinnen im Zimmer die Alte aus dem Fenster erschrocken rief: Hat mir's doch geschwant! ... Sie sah hinaus ... Eben kam Louis Armand.

Eine Minute darauf war Louis Armand im Zimmer.

In bewegtester Spannung von Freude und Furcht erregt, wartete Fränzchen, ob Louis nach ihr fragen und zu ihr eintreten würde.

Wie peinlich war dem armen Kinde die Anwesenheit Sandrart's! Sie hätte ihn heißen mögen mit seiner Flöte zum Kuckuk gehen und nie wieder kommen!

Vor Unruhe, vor Verzweiflung, daß sich dies Wiedersehen so fügen, unter so ihre Neigung in den Schatten stellenden Verhältnissen begeben mußte, konnte sie nicht sitzen bleiben. Sie stand auf, pflückte unruhig am Fenster welke Blätter von den Blumen und zerknitterte sie in der Hand. Sie nahm die Scheere und bohrte ein wenig in dem Sande der Töpfe und raufte einige verwelkte Blüten aus dem Kressenkasten.

[1650] Louis Armand sprach von seinem langen Ausbleiben, von seinem genesenen Freunde und Gönner, von den Bestellungen, die er auf der Schiefertafel verzeichnet fand und etwas mühsam, mit Hülfe der gelehrten Frau Tischlermeisterin entzifferte.

Wenn Fränzchen an die Möglichkeit seiner Liebe hätte glauben können, so würde sie gefunden haben, daß seine Stimme bewegt war und bei dem Anblick des jungen Soldaten sogar wehmüthig.

Aber wie konnte sie an seine noch ihr erhaltene Theilnahme glauben, da er kein Wort von ihr sprach, sich nicht nach ihr erkundigte!

Endlich mochte sie diesen Zustand nicht mehr aushalten. So sehr ihr Stolz widerstrebte, das liebekranke Herz zwang sie, ein Zeichen ihrer Anwesenheit zu geben. Noch wußte sie nicht, sollte sie thun, als hätte sie an ihrem Bett oder der Kommode etwas zu schaffen und rasch, ganz wie von ungefähr, an der geöffneten Thür vorüberschlüpfen, oder sollte sie etwas fallen lassen, das etwa soviel sagte, als: Hörst du denn gar nicht? Hier ist ja auch Jemand, dem sein Herz wie ein Hammer klopft und der dir am liebsten gleich um den Hals fallen möchte, wenn so etwas in dieser schrecklich anständigen Welt möglich sein dürfte!

Aus vielen Rücksichten und besonders deshalb, weil sie beim Vorüberhuschen an der Thür fürchten mußte, zu ihm hinein zu müssen, gedrängt von ihrem Gefühl, entschloß sie sich, etwas fallen zu lassen und nun fragte sich nur, was? Die Scheere gab nicht Klang genug, obgleich die [1651] auseinanderfallenden beiden Schenkel der Scheere gleich sagen mußten: Das kann nur Franziska sein! ... Ein Nadelkissen mit Sägespähnen gestopft gab keinen Klang. Der Fingerhut war auch zu winzig. Da dachte sie an eine Zwirnrolle. Diese bot den Vortheil, daß sie fiel und gleich weit umher lief. Sie durfte ihr nachspringen und sich beim Suchen bücken, verwickeln. Und wenn sie sich bückte, war sie sogar nicht sicher, in das Nebenzimmer mit Gewalt hineingezogen zu werden.

Die Rolle fiel also und richtig! Man kam.

Aber leider gleich ihrer Zwei.

Louis Armand kam und Heinrich Sandrart.

Das hatte sie nicht bedacht, daß auch der junge Sergeant das Ohr spitzte und auf Alles lauschte, was sich nebenan begab.

Doch war es gut, daß sich Heinrich Sandrart fast am emsigsten bückte und Louis ungehindert war, Fränzchen die Hand zu bieten und ihr die Freude auszudrücken, sie wiederzusehen.

Ei! Leben Sie denn auch noch, Herr Armand? fragte sie. Wir glaubten schon, daß Sie nicht mehr an uns denken!

Louis warf einen theilnehmenden Blick auf Sandrart, der die Zwirnrolle zurückgab und dem beim Suchen das Blut in die Wangen geschossen war.

Es ist viel von Ihnen gesprochen worden, Herr Armand, sagte Sandrart mit einer Art Eifersucht, um sich in das Gespräch mischen zu dürfen.

Fränzchen wollte schon sagen: Doch mit Ihnen wol [1652] nicht? Sie unterdrückte aber die Bemerkung, weil sie ihr selbst zu schnippisch vorkam.

Louis sprach manches Freundliche, aber Unerhebliche, mit großer Ruhe. Er prüfte Franziska, er sah Sandrart an. Endlich erwähnte er den französischen Unterricht.

Woher wissen Sie ...

Der schlafende Onkel da im Stuhle erzählte dem Prinzen Egon Alles, was ihn glücklich und traurig macht.

Franziska sah zu dem schlafenden Förster, den der Madeira überwunden hatte. Jetzt konnte sie sich denken, was Louis Alles von ihr gehört hatte ...

Haben Sie den Onkel gesprochen? ... sagte sie mit gezogenen Worten und sehr kleinlaut.

Wie heißt denn Ihr Lehrer?

Herr Sylvester.

Sylvester? Das ist ein Vorname!

Ich kenn' ihn nur bei diesem Namen ...

Heinrich Sandrart wollte nun auch gesprächig, launig sein, sich in einem günstigen Lichte zeigen. Er fing an, Herrn Sylvester zu schildern ...

Doch hörte Louis nicht viel darauf. Er war zu bewegt, den niedergeschlagenen Blick des jungen hocherglühenden Mädchens zu beobachten. Der Gedanke, daß sie Bälle besuchte und vielleicht von ihrer alten sittsamen Bahn gewichen war, drückte ihn peinlich.

Ein näher forschendes Gespräch war nicht möglich. Denn auch der alte Märtens kam nun von unten aus der Werkstatt herauf und jetzt gab es ein Begrüßen, ein [1653] Fragen, ein Erkundigen, ein Dolmetschen und Vermitteln durch Frau Märtens, das endlos zu werden schien, aber den festen gesunden Schlaf des Försters nicht störte.

Auf diesen endlich Rücksicht zu nehmen, schien Louis eine nothwendige Pflicht des Anstandes. Er ergriff seine Schiefertafel und wollte nach vorn gehen.

Frau Märtens sprach von den Wirthsleuten im Vorderhause. Wie er es mit seiner »Servirung« halten wolle? Ob er jetzt immer wieder »präsent« bliebe?

Ich denke wol, sagte Louis Armand. Ich bedarf wenig. Mein Zimmer, wo ich die Proben meiner schwachen Talente ausgelegt habe, sieht wie der Eingang zu einem vornehmen Herrn aus. Nebenan hab' ich eine Kammer, ein leichtes Bett, einen Riegel für meine Kleider und bin zufrieden, wenn mir die Leute vorn täglich nur frisches Wasser bringen.

Wenn Sie etwas rekommandiren, sagte die alte Märtens, Herr Armand, so sagen Sie's nur.

Und ihr minder gelehrter Gatte setzte hinzu:

Ich glaubte, unsre Sachen sollten nun recht Hand in Hand gehen.

Mit aller Macht! antwortete Armand. Ich nehme meinen alten Plan mit Freuden wieder auf! Ich bleibe noch in dieser schönen Stadt, die ich nun erst kennen lernen will und gearbeitet muß nun werden nach Wohlgefallen.

Die Tischlermeisterin, die trotz ihrer Pfennigblätter nach beschränkter Leute Art auf einem und demselben Gegenstande lange verweilte, sagte:

[1654] Es sind ganz accurate Menschen, die die Appartements vorne logiren. Heute nahm die kleine Frau das Intelligenzzettel von der Hausthür und sagte wie ich gerade vom Markt komme: Gott sei Dank, nun ist Alles vermiethet! Es ist eine reinliche Frau. Ihr Mann war – was begleitete er doch, Märtens?

Armand konnte die Abneigung des alten Märtens, auf ein so weitläufiges, wenn auch gebildetes Gespräch einzugehen, nur theilen. Franziska bot er die Hand. Diese gab ihm die ihrige. Da ihr das Blut zum Herzen drängte, war die Hand eiskalt. Er drückte sie theilnehmend und sah ihr fragend und forschend in's dunkle Auge, das sie zitternd und bewegt niederschlug. Heinrich Sandrart grüßte er leicht. So ging er.

Unglücklich Liebende sehen schwarz. Sie verdächtigen Alles, auch das Unschuldigste. Wer will dem jungen Sergeanten verdenken, wenn wie ein Blitzstrahl in den ohnehin gehäuften Zündstoff seines Mistrauens der Gedanke fiel, daß Fränzchen diesen Franzosen lieber haben möchte als ihn? Über diese Vermuthung in Vorwürfen sich Luft zu machen, hatte er kein Recht. So blieb ihm nichts übrig, als sich noch einmal an Franziska voll Liebe und Theilnahme zu wenden.

Fränzchen, sagte er, gehen Sie heut Abend mit dem Onkel und mir in's Theater! Der Hauptmann gibt mir frei bis zehn Uhr. Es wird die Leonore gegeben, ein so schönes Stück für Soldaten und für Mädchen, die einen Soldaten gern haben können ...

[1655] Fränzchen aber, statt der Antwort, zeigte auf den Onkel, der plötzlich sehr unruhig schlief, kirschroth wurde und sich im Schlafe krümmend bewegte ...

Er träumt schwer! sagte Frau Märtens, die eben den Tisch zum Mittagessen deckte. Es drückt ihn doch nicht die Alpe?

Wirklich entfuhren dem Förster allerlei Ausrufungen, die einen lebhaften, drückenden Traum verriethen.

Fort! Fort! sagte er. Urschel fort! Urschel, sie soll! ... – Feuer! Feuer! Es brennt –! Sie soll ...

Damit riß er sich, unterstützt von der Tischlermeisterin, die von dem Druck der »Alpen« Schreckliches zu erzählen wußte, auf und erwachte.

Wird schon gegessen? sagte er rasch orientirt, hab' ich geschlafen?

Damit zog er die Uhr mit einem schönen Horngehäuse. Schon halb eins! sagte er.

Sandrart stand stumm und still. Er holte rasch seine Dienstmütze. Er hatte sich in seinem Flötenspiel und der Eifersucht auf den jungen, gewandten Franzosen verspätet. In der Angst, schon wieder eine Rüge »zu besehen«, wie er's nannte, lief er davon. Fränzchen hatte ihm ohnehin schon durch ein Kopfschütteln den Besuch des schönen Soldatenstückes abgeschlagen.

Die Alte gab ihm das Zeugniß hinterher:

Ein guter, aber »drömerischer« Mensch!

Die Unterhaltung beim Mittagsmahle war eben so spärlich wie das bescheidene Mahl selbst ... Die beiden alten [1656] Leute aßen wenig, Fränzchen fast gar nichts und Heunisch hatte zu gut gefrühstückt und einen garstigen Traum gehabt.

Seine ersten Worte mußten der Frau Tischlermeisterin und ihrer Bildung eine sehr schmeichelhafte Anerkennung zu Wege bringen.

Immer, sagte er, wenn ich von der Schneidemühle und vom Feuer träume, schmeckt's mir den ganzen Tag nicht. Dann liegt mir's ordentlich wie ein Alp auf der Brust. Wenn nur die Marzahn nicht einmal das Haus ansteckt! Jede Nacht steht sie auf und leuchtet mir mit der Lampe in alle Winkel. Ich kann von Glück sagen, daß ich die Hunde zu Hause ließ. Erst wollt' ich den Packan und die Jette mitnehmen, die sind die wachsamsten und schlagen gleich an. Ja sie sind Gott sei Dank vernünftiger als die Alte! Seit sie von einem Bruder, der in Amerika gestorben ist, das Geld gekriegt hat, sieht sie alle Nacht Gespenster! Ei, Muttersche, sagt' ich ihr erst vor ein paar Tagen ganz fuchswild: Muttersche, Muttersche, ist sie toll? Ich schieße 'mal drauf los, wenn sie wieder sagt: Da geht der Herr Baron über die Wiese und sucht unter der Eberesche seinen Erstgebornen!

Mann! Mann! sagte Madam Märtens und rückte ihrem Gatten das gekochte Rindfleisch hin zum Zerschneiden; schweigen Sie still, Onkel! So etwas kommt Einem die Nacht vor, daß man nicht schlafen kann!

Sie erzählte darauf eine lange Gespenstergeschichte.

Als sie zu Ende war, sagte Heunisch bedenklich, wenn [1657] sie noch so fortmacht, seine Alte, so glaube er doch noch, es gäbe Hexen.

Wie sie hörte, ich wollte hierher und die Fränz holen da mit ihrem Seidenhaar und dem starren, tückischen Sinn, kam sie mir in der Nacht, eh' ich fortmachte, an's Bett ...

Jesus! sagte die alte Märtens. Da hätt' ich den lebendigen Tod gehabt!

Die Courage muß man zusammen nehmen! Heunisch, sagte sie, wenn er an's Wasser kommt, weiß er, wo das Waisenhaus liegt, dann sagt doch: die Kinder sollten im Waisenhaus nicht so schreien!

Der alte Tischler lachte und schenkte von dem Dünn-Bier ein, das einer seiner Lehrburschen, die des Gastes wegen nicht mit aßen, auf den Tisch stellte.

Was für Kinder? fragte die alte Märtens voll Interesse mit dem Beisatze:

Diese Ursula ist wol nicht recht gescheut?

Was für Kinder! antwortete Heunisch. So muß man da gar nicht fragen! Urschel, sagt' ich, schreien sie denn so die Kinder, daß du nicht schlafen kannst? Ach, sagte sie, ich kann wol schlafen, Heunisch; aber der Baron kommt und sagt: Schwester, was schreien denn die Jungen so? Die Gräfin will's nicht hören ...

Die Gräfin! fragte wieder verwundert Madame Märtens.

Heute ist's eine Gräfin, morgen der Baron, dann das Nantchen von der Sägemühle und auch einmal die Line vom Gelben Hirsch. Das geht Alles da durcheinander und [1658] wenn mir's zu bunt wird, ruf' ich: Jette! – Das ist mein Windspiel – Jette! Eins, zwei – die Jette unterm Bett hervor ... angeschlagen ... ihr an die Strümpfe ein Bischen gekitzelt ... Dann schimpft sie über die Hunde und geht mit allen ihren Dummheiten zu Bett.

Die Tischlermeisterin starrte.

Heunisch, sagte aber ihr Mann und schenkte von dem Bier ein, das dem Onkel nicht munden wollte, daß Sie Das da im Wald so allein aushalten! Und schon die vielen Jahre!

Es erbarmt sich ja Keiner eines so alten Hundes wie ich bin! sagte der Förster mit einem scharfen Seitenblick auf seine Nichte, die kaum hörte und für sich träumte.

Frau Märtens besann sich jetzt von ihrem Schreck. Sie wollte das ihr nicht angenehme Thema der Mitreise nach dem Forsthause nicht wieder anregen lassen, sondern setzte auf den Schrecken dieser Erzählung noch die Schrecken einer ihr bekannten wirklichen Hexengeschichte.

Als sie zu Ende war, konnte Heunisch von seiner Ursula Marzahn desto unbefangener fortfahren:

In der Nacht, eh' ich abreiste, kommt sie mir wieder mit dem Wasser und dem Waisenhaus an. Und weil ich gerade vor Unruhe, wie immer, wenn ich was vorhabe, nicht schlafen konnte, so ließ ich sie heute 'mal reden und rief nicht gleich die Jette. Von wem Urschel, sagt' ich, soll ich denn ein Compliment in's Waisenhaus sagen und die Jungens möchten ruhig sein? Von der Gräfin! sagte sie und [1659] blinzelte mit ihren kohlschwarzen Augen. Und der Baron will wol auch nicht gern das Kindergeschrei? sagt' ich. Da lachte sie. Es können viele Menschen das Kinderschreien nicht leiden, meint' ich. Wem muß ich denn sagen, die Kinder sollten nicht so laut schreien? Ich dächte, fuhr ich so im Spaß fort, ich sagt' es lieber gleich dem König. Was, Alte? Aber Das machte sie nun erst ganz verdreht. Was dabei der König sollte, verstand sie nicht und ganz ruhig geworden ging sie fort, wie ein bellender Hund, wenn man einen Stein von der Erde nimmt. Wenn Einer verrückt ist, muß man nur so thun, als wenn er ganz Recht hätte und dann geht er gleich in sich.

Der Tischler glaubte keine Wunder, als die in der Bibel stehen, seine Gemahlin schüttelte aber den Kopf und ermuthigte den Förster, fortzufahren:

Gleich darauf kommt sie wieder und sagt: Heunisch, sagt sie, er muß das Geld mitnehmen. Schön! sagt' ich, Urschel. Wie viel denn? Alles? Alles? Urschel gut!

Die Erbschaft von dem Bruder aus Amerika? warf Frau Märtens, die über diese schon unterrichtet war, dazwischen.

Die Erbschaft von dem Bruder aus Amerika! Das Geld, sagte sie, nimm mit und schlag's nur in eine Windel; und leg' er's auch noch in einen Korb und dann geh' er an die Brücke, wo das Waisenhaus liegt! Gut, sag' ich, Urschel, ich gehe an die Brücke, wo das Waisenhaus liegt. Husch, schrie sie dann, in's Wasser! In's Wasser? Donnerwetter, sagt' ich, Urschel, Geld wirft kein Mensch in's Wasser. Was [1660] sollen denn die zweihundert Louisdors in's Wasser? Da schwieg sie, weil ich sie so wieder auf meine Art gefangen hatte.

Märtens lachte über die Klugheit des Jägers, seine Frau tadelte aber die rationelle Auffassung solcher dunkelen Dinge und sie meinte:

Man hat doch schon Exempel statuirt ...

Wo soll ich denn den Korb mit dem Geld hinsetzen, Urschel, fragt' ich, nun? Wol mitten auf die Brücke? Sie schüttelte den Kopf. Dann drüben an's Waisenhaus? Da nickte sie. Wo denn? Nun sah sie sich ängstlich um und flüsterte: Komm, es ist Alles still. Sie sehen's nicht. Hast du den Korb? Pst! Da steht eine Schildwacht. Hier bei der Laterne. So! Da! An dem Brunnen da liegt's! Husch! Mach nun fort! Fort! Fort!

Und das Alles können Sie bei nachtschlafender Zeit mit der Frau so zusammen diskuriren? fragte Madame Märtens und schüttelte sich.

Also da soll ich das Geld hinlegen, Ursula? sagt' ich, fuhr Heunisch unbekümmert um diese Frage fort. Sie nickte. Will's der Baron? Sie meinte: Ja! Will's auch die Gräfin? Sie nickte wieder. Gut, Ursula, sagt' ich, ich will mir's überlegen. Da lachte sie zufrieden, nahm ihr Licht und ging. Und nun rathen Sie 'mal was Neues?

Ach mein Himmel, was denn? erschrak ordentlich Frau Märtens, als käme nun etwas Unerhörtes.

Wie ich hierher komme, hatt' ich gestern bei einem Kaufmann, der sich gutes Schießmaterial hält, er heißt [1661] Hackert, etwas Vorrath für den Herbst einkaufen wollen. Such' ich den auf und finde ihn gerade gegenüber dem Waisenhaus. Da ist die Brücke, da steht ein Schilderhaus, da ist die Laterne, da ist der Brunnen. Nun sag' ich doch, die Ursula war vor etwa zwanzig Jahren, ehe sie den Marzahn heirathete, wol einmal einige Zeit in der Stadt, aber seitdem nicht wieder und sie hat's beschrieben, just wie's war, ganz deutlich; es war mir, als säh' ich den Korb dastehen an der Laterne, neben dem Brunnen, mit den Windeln und die zweihundert Louisdors darin und die Kinder schrieen im Waisenhaus ...

Hören Sie auf! winkte die Tischlermeisterin, der es nun eisig überrieselte. Das Bild von Kindern, die im Waisenhaus vielleicht nach ihren Vätern schrieen, war ihr zu schauerlich.

Bei alledem ist die Ursula, schloß Heunisch, die beste Seele von der Welt. Sie sorgt für mich armen einsamen Kerl und meinen Nachmittagsschlaf – den – den hab' ich ihr auch – den hab' ich ihr auch ... zu verdanken ... und die Stube hält sie im Winter warm ... und reinlich ist sie auch ... und ihr Schrank ... ihr Schrank, den mag sie ... ihr Schrank ...

Diese Worte brachte Heunisch schon gähnend und wieder halb schlafend hervor. Er hatte wenig gegessen und nur mit beständigem Gähnen unterbrochen sich und den Tischgenossen durch seine Erzählung die Zeit vertreiben wollen. Der Rollsessel, auf dem er saß, war ein Großvaterstuhl, der mit einem Ruck sich vom Tische fortbewegte [1662] und ihn in Schlummer sanft in die Nähe des noch nicht gefeuerten Ofens geführt hätte, wenn seine letzte Besinnung ihn nicht auf einen höflichen Gedanken an den alten Märtens gebracht hätte, der auch gern seinen Nachmittagsschlaf hielt. Er erhob sich also rasch, sagte: Gesegnete Mahlzeit! und warf sich ohne viel Umstände in der Kammer auf Fränzchens Bett, wo er in einer Minute entschlummert war; der alte Märtens, unfähig sich von Gewohnheiten zu trennen, schnarchte im Großvaterstuhl. Seine Gattin nickte etwas am Fenster, frei-schwebend, auf einem einfachen Stuhl mit hoher Lehne.

Fränzchen aber deckte, während Alles schlief, ab. Die Reste kamen in die Werkstatt zu den Lehrjungen.

Den Tisch stellte sie wieder aus der Mitte des Zimmers an die Wand und ihr Bett schützte sie denn doch vor des Onkels staubigen Stiefeln durch ein altes Tuch, das sie ihm behutsam unterschob. Dann begann sie, die um sie waltende Stille wahrnehmend, einen Gedanken auszuführen, der einigermaßen Das, was sie bedrückte, erleichtern sollte. Sie entschloß sich, an Herrn Sylvester einen Brief zu schreiben.

[1663]
10. Capitel. Geschichte eines Briefes
Zehntes Capitel
Geschichte eines Briefes

Fränzchen Heunisch hatte schon drei Tage auf Herrn Sylvester gewartet.

Dieser sonderbare Mann war nicht mehr gekommen.

Die wohlüberlegte Erklärung, die sie ihm hatte geben wollen, der in ihrem Sinne artig gewandte Dank war ihr gleichsam auf der Zunge liegen geblieben; sie war ihn nicht los geworden.

Jeden Augenblick konnte Herr Sylvester sich nun wieder sehen lassen. Wie leicht möglich, daß er mit Armand zusammentraf!

Erschrocken über diese Möglichkeit entschloß sie sich, ihm zu schreiben. Wußte sie auch seine gegenwärtige Wohnung nicht, so kannte sie doch genau seine frühere, Königsstraße Nr. 13. Sie hoffte dort schon erfahren zu können, wo sie den Brief würde abzugeben haben.

Einen Brief! Einen Brief schreiben Menschen, die wie Franziska Heunisch in beengten Verhältnissen leben, nicht so schnell wie Leute, die sich die Welt, in der sie leben, früh mit dem Gänsekiel erweitern. Nicht etwa wegen der Gedanken. Die lagen ganz klar und wohlgeformt [1664] schon im Kopfe des jungen, sich immer mehr entwickelnden Mädchens. Aber die Schreibmaterialien! Der ganze Umstand dabei! Was fehlte nicht Alles!

Sie nahm rasch ihren Hut, schlug ein leichtes Flortüchelchen um den Hals, klinkte die Thür leise auf und schlich die Treppe hinunter, um eine geschnittene Feder, Oblaten und Papier zu kaufen. Mit diesem Reichthum sprang sie in ihren Hinterhof zurück, nicht ohne einen Blick zu dem goldnen »Louis Armand, Vergolder« hinaufzuwerfen, nicht ohne einen sonderbaren Schreck, den sie hatte, als neben dem mit Gardinen verhangenen Fenster ihres angebeteten Freundes aus einem andern Fenster ein Kopf rasch sich zurückzog, bei dem es ihr doch fast war, als hätte sie ausrufen müssen: Himmel, Das ist ja Herr Sylvester!

In der Hausflur blieb sie eine Weile ganz betroffen stehen. Bald entdeckte sie aber in ihrer Erinnerung an diese plötzliche Erscheinung ein verschiedenes Haar und manches andere von Herrn Sylvester Abweichende. Sie mußte sich oben sagen: Du bist so lebhaft mit der Vorstellung an deinen Brief beschäftigt, daß du nichts hörst und siehst als Die Menschen, die dich armes Kind wie einen Spielball hin- und herwerfen!

Als sie wieder oben war, fand sie Alles so still und schlummernd, wie sie die kleinen Zimmer verlassen. Sie erschrak, daß sie ihr Nähtischchen nicht verschlossen hatte, doch fand sie Alles unversehrt. Sie hatte jenes Gefühl, das uns in solchen Augenblicken sagt: Ohne Leben [1665] war es inzwischen in dem stillen Raume doch wol nicht! Kleine Geister huschten gewiß auf und ab, lasen, was sie nicht sollten, kramten, wo sie nicht durften, legten aber Alles ganz wieder so unversehrt hin, als wäre nichts geschehen!

Jetzt wollte sie schreiben und erschrak, daß sie die Tinte vergessen hatte. Es war ein Gefäß dafür da, es stand immer in der Ofenröhre, aber es war eingetrocknet ... Sie goß Wasser dazu und rührte mit einem Spahn den schwarzen Brei um. Er gab hinlängliche Flüssigkeit, um einen kurzen und bündigen Brief zu schreiben.

Als sie fertig war, schloß sie das Geschriebene mit einer von den neugekauften Oblaten. Sie hatte, so oft sie in ihrem Leben schon Briefe geschrieben und mit bunten Oblaten gesiegelt hatte, immer solche Farben für diesen Zweck gewählt, wie sie dem Verhältnisse, an das sie schrieb, zukamen. Fröhlichen Menschen und Freunden leichter Art, dem Onkel nach Plessen, siegelte sie mit rothen Oblaten; Treuen, Beständigen mit blau; an Louis Armand hätte sie gewiß eine grüne Oblate, die Farbe der Hoffnung gewählt. Für den Professor Sylvester wählte sie eine gelbe.

Glücklicherweise erwachte jetzt die alte Märtens. Fränzchen konnte also ihrem Drange sogleich folgen und den fertigen Brief in die Königsstraße Nr. 13 tragen. Sie ordnete das Band an ihrem Hute, ihr Haar, sie legte sich einen hübschen gestickten Kragen um den schönen, etwas brauninkarnirten Hals, nahm die weiße Florecharpe gar [1666] zierlich über Schulter und Arme, zog sich ein paar alte, aber sehr gepflegte dunkle Handschuhe an, verbarg den Brief in einem Taschentuche und machte sich mit der Erklärung, sie käme in einer kleinen halben Stunde wieder, auf den Weg. Die Trau Tischlermeisterin hatte es gern, wenn das junge Mädchen, dem sie im Ganzen sehr zugethan war, sich nach Tische etwas »Motion« machte. Sie nannte sie »versessener« als sie sein sollte.

Franziska war es als brennte der Boden unter ihr. Sie fühlte, da sie nun den geliebten Freund wiedergesehen und er sie mit fragendem theilnehmendem Schmerze betrachtet hatte, daß sie Alles aus dem Wege räumen müsse, was sie möglicherweise von Louis' Vertrauen trennen konnte. Auch mit Heinrich Sandrart gedachte die kleine Schönheit kurzen Prozeß zu machen und überlegte sich schon den Brief, den sie auch an diesen gleich nach des Onkels Abreise schreiben wollte. Von einer Mitreise nach dem unheimlichen Forsthause, in den engen Wald, wo die gelben Blumen auf dem Sumpfe und die weißen Zuckerkügelchen auf den gestrichenen Zwetschenbroten ihr eine grauenvolle Erinnerung boten, war jetzt, wo ihr Louise Eisold den »Muth des Herzens« eingeflößt hatte, keine Rede.

Fränzchen kam in die lange geräuschvolle Königsstraße und suchte nach der Hausnummer. Sie fand sie bald. Es war ein großes stattliches Haus mit vielen Stockwerken und mit einer großen Anzahl von Fenstern. Ein Hinterhaus war nicht sichtbar. Sie hatte geglaubt, die erste [1667] Anfrage schon würde ihr die Klingel zeigen, wo sie ihr Briefchen abgeben könnte. Unten waren nur Läden, im ersten Stocke wohnten die Besitzer derselben. Im zweiten verwies man sie in den dritten. Niemand kannte einen Professor Sylvester. Niemals hatte ein französischer Sprachlehrer dieses Namens hier gewohnt. Der Gedanke, daß sie von diesem zweideutigen Manne, der »grünen Brille«, könnte getäuscht sein, kam ihr sowenig ein, daß sie, als man ihr im dritten Stocke sogar kurzweg die Thüren vor der Nase zuschlug und ein impertinentes »Wohnt hier nicht« zurief, auch noch über eine dunkle, schmuzige, steinerne Stiege in den vierten Stock stieg. Hier sah sie schon die Dächer der Nachbarhäuser. Sollte Herr Sylvester hier gewohnt haben? Die Klingelschilder, die sie fand, konnte sie in der Dunkelheit kaum lesen. Keins zeigte Den Namen, den sie suchte.

Wie sie voller Betrübniß so stand und sich deutlich zurückrief, wie ihr Herr Sylvester anfangs dieses Haus, und nur dieses, das sie im Vorübergehen oft darauf angesehen hatte, als seine frühere Wohnung genannt, war sie unentschlossen, ob sie nun hier doch noch klingeln sollte ...

In dem Augenblick hörte sie einen lebhaften Wortwechsel, der hinter einer dieser schon schwarzen, verräucherten Thüren geführt wurde.

Schämen Sie sich, sagte eine alte keifende Stimme; Sie bringen's noch so weit, daß Sie bald Ihr festes Quartier angewiesen kriegen!

[1668] Eine andere hellere weibliche Stimme lachte laut auf.

Lachen Sie nur, sagte die ältere Stimme wieder, seit dem letzten male, wo Sie gefaßt wurden, ist dem Oberkommissär schon die Geduld gerissen. Er läßt das Vögelchen nicht wieder fliegen, wenn er's nun beim Fittich hat!

Nur höhnischer Spott von der Andern war die Antwort.

Wann bekomm' ich meine vier Thaler? Machen Sie ein Ende oder ... Wesen, ich rathe dir!

Verklagen Sie mich! war die Antwort auf diese wilde, dreifach gesteigerte Apostrophe. Die Gerichte werden Ihnen anstreichen, Miethe für Hausschlüssel zu fodern. Haben Sie einen Gewerbschein auf Hausschlüssel?

Die Alte dämpfte jetzt die Stimme und sprach etwas, was Fränzchen nicht verstand.

Mag ihn nicht! sagte übermüthig lachend die Junge. Wenn ich einen Alten nehmen soll, weiß ich Einen, der viel flotter ist ...

Fränzchen wollte auf solche Äußerungen, vor denen ihr sittliches Gefühl schauderte, gehen, aber die Erwähnung eines Alten fesselte sie doch. Sie dachte, sollte Das wol der französische Sprachlehrer sein?

Die Alte sprach wieder etwas leiser ...

Die Junge antwortete mit derselben höhnischen Zurückweisung wie vorhin:

Daß Bartusch mir nicht hierher kommt! Ich werf' ihn die vier Treppen hinunter, daß er nicht wissen soll, ob er fliegt oder stolpert.

Die Stimme der Alten wurde etwas hörbarer.

[1669] Was kann Ihnen denn, sagte sie, Gold und Juwelen helfen, wenn Ihnen die Polizei die Sächelchen öffentlich abreißt und Ihnen einen Namen als Diebshehlerin anklext! Der Alte, den Sie meinen, wohnt jetzt auch bei uns, hinter den Eisenstangen, wo der Mondsüchtige gewohnt hat. Wir wissen ja, was Pax von ihm hält! Alles paßt ihm auf. Schrecklich, jede drei Tage wird angefragt, was Der mit der schwarzen Binde treibt!

Die Stimme der Jüngern sprach jetzt schwächer.

Fränzchen konnte sie nicht verstehen. Die Erwähnung von dem Manne mit der schwarzen Binde fesselte sie. Es war Der, der bei Louise Eisold eingezogen war!.. In dem Glauben, doch noch vielleicht etwas vom Herrn Sylvester zu hören, blieb sie stehen, unschlüssig, ob sie klopfen sollte.

Sie hörte wohl, daß beide Frauen fortsprachen, aber sie konnte nichts Deutliches mehr unterscheiden.

Leute dieser Gattung streiten sich oft, dann scheint es plötzlich, als wenn sie sich versöhnten, sie lachen sogar und ehe man sich's versieht, bricht wieder die alte Wuth hervor.

So kreischte jetzt eine Stimme auf. Es war die Jüngere ...

Meine Ohrringe! schrie sie. Alte, ich bringe dich um.

Nun lachte die Alte. Sie hatte sich ohne Zweifel für die Schuld, die sie bei der Jüngeren beanspruchte, selbst pfänden wollen.

Hinaus! schrie die Jüngere. Spitzbübin! Du hast die [1670] Perle abgerissen! Flickschusterin, hinaus, Drache! Wo liegt meine Perle?

Nun, nun, sagte die Alte sie beruhigend und ängstlich, ich will suchen helfen ...

Nicht unterstanden! Keinen Griff auf die Erde! Stehen geblieben! Die Hände hergezeigt! Schändliches Weib, meine Perle! Wo liegt meine Perle?

Glasperle! Zwei Dreier an Werth! lachte die Alte. Der Plundermatz verkauft welche für vier Pfennige.

Es dauerte eine Weile, bis wieder gesprochen wurde ... Wahrscheinlich suchte die Jüngere auf der Erde, während die Alte tückisch lachte und sich nicht rühren durfte, damit sie unter dem Schein zu suchen nichts einsteckte. Wir kennen dies Talent der Frau Mullrich von den drei Thalern her, die sie für Hackert suchen half.

Da ist sie ja! rief sie aber doch zuletzt. Und nun hab' ich keine Geduld mehr! setzte sie ärgerlich und giftig polternd, angeschwollen von ihrer bewiesenen Ehrlichkeit hinzu: Dem Grauen schließt sie die Thür, meine vier Thaler gibt sie mir auch nicht! Sie denkt wol, ich weiß nicht, mit wem sie sich herumzieht? Für wen sie jetzt thut, als hätte sie niemals auf Nr. 17 bei mir gewohnt? Sie denkt wol, Der mit den Nankingkamaschen wird nicht bald dahinter kommen, daß sie ...

Weiter sprach die Stimme nicht. Ihre nächste Äußerung war ein furchtbares plötzliches Krächzen und Würgen. Mühsam preßte eine am Ersticken nahe Kehle die Worte hervor:

[1671] Hülfe! Hülfe! Sie würgt mich!

Franziska Heimisch wußte nicht, was sie nun thun sollte. Schon war sie im Begriff gewesen zu gehen, schon zitterte sie jetzt vor Angst, ob sie nicht Hülfe rufen sollte, als die Stubenthür von innen aufgestoßen wurde und ein junges, schlankes, schöngebautes Frauenzimmer eine Alte mit einem einzigen athletischen Wurfe über die Schwelle schleuderte und scheinbar kalt, aber zornglühend, sogleich die Thür wieder zu schlug und von Innen mit den Worten verriegelte:

Das ist für Den mit den Nankingkamaschen!

Daß hier Herr Sylvester nicht wohnen konnte, sah Fränzchen nun wohl und wollte entfliehen.

Die Alte aber schrie ihr nach:

Mamsell! Fräulein! Hören Sie! Warten Sie!

Und während sich Franziska nur umsah, hatte die Alte sie schon mit ihren schwarzen Pechkrallen gepackt und überschüttete sie unter lautem Geschrei mit den Worten:

Sie hat mir eine Rippe zerbrochen – Sie müssen's bezeugen – Mamsell, Sie haben's gesehen!

Liebe Frau, lassen Sie mich – bat Fränzchen flehentlich.

Sie hat mich morden wollen – Sie haben's gesehen – Sie müssen's beschwören!

Bitte, ich bin hier fremd – ich suche nur ... ich hatte einen Brief hier –

Ich reiß' Ihnen den Brief weg, wenn Sie mir nicht sagen, wer Sie sind!

[1672] Fränzchen versteckte ihren Brief mit Blitzesschnelle und rief:

Um Gotteswillen, was wollen Sie denn von mir, liebe Frau?

Die Alte packte Fränzchen und krächzte:

Bezeugen sollen Sie's, beschwören müssen Sie's, daß sie mich hat würgen wollen! Die Kehle hat sie mir zugeschnürt mit ihren Diebsfingern! Da sind noch die Krallen in meinem ehrlichen Halse! Wie heißen Sie? Gott! Sie hat mir eine Rippe zerbrochen ... Ich habe den Tod weg ...

Fränzchen wurde jetzt mitleidig und schickte sich schon an, ihren Namen zu sagen, als wieder die Alte sie packte und rief:

Wo wohnen Sie? Wer sind Sie? Sagen Sie's oder Mamsell, ich lasse Sie nicht los und sollten die Straßen zusammenlaufen. Ach! Ach! Mir wird schwach ...

Herr Gott! Was ist Ihnen? Soll ich Sie nach Hause fahren lassen? Wohin denn?

Wer sind Sie?

Die ängstlichen Fragen der von einem merkwürdigen schauspielerischen Talente der Flickschusterin getäuschten Fränz, mit wem denn sie die Ehre hätte, beantwortete diese:

Ich bin die Mullrich, Vizewirthin von der Brandgasse Nr. 9. Mein Mann ist von Profession ein Schlosser, von Gewerbeschein ein Schuster, steht aber bei der Polizei als Offiziant und ich bin die Vizewirthin. Diese Mörderin [1673] heißt Auguste Ludmer! Das bringt sie auf zehn Jahre in's Criminal! Wie heißen Sie, Mamsell?

Wenn es Sie beruhigen kann, ich heiße Franziska Heunisch ...

Franziska Heunisch! Und Ihre Wohnung?

Wallstraße Nr. 14. Beim Tischler Märtens.

Beim Tischler Märtens! Ach du mein Heiland ... Das will ich mir merken. Ach ich sterbe ... Da hab' ich doch meine Satisfaction! O, o, diese Creatur! Sie haben's gehört, daß ich Hülfe geschrien habe? Sie haben's gehört?

Leider! Leider!

Sie haben's gesehen, daß sie mich mit Füßen getreten hat ...

Mit Füßen getreten? sagte Fränzchen, erschrocken über die Abweichung von der Wahrheit.

Mit Füßen getreten, geschunden, gekratzt hat sie mich!

Damit heulte die Vizewirthin aufs neue.

Fränzchen wollte entgegnen, die Lebhaftigkeit der Phantasie dieser Frau berichtigen, allein der Lärm hatte alle Dienstmädchen des Hauses, alle Comptoirdiener der untern Läden zusammengerufen und in der verzweifeltsten Beschämung, sich hier in eine so widerwärtige Begebenheit verwickelt zu sehen, gab sie Alles zu, um nur fortzukommen.

Glücklicherweise gelang ihr Dies. Während Frau Mullrich den Umstehenden ihre Schicksale mit diesem »abscheulichen Frauenzimmer oben« ausführlich und übertrieben [1674] erzählte, fand sie eine günstige Gelegenheit, davonzuschlüpfen .... Die Königsstraße ist so lebhaft, daß sie bald unter den Menschen verschwand und von ihrer Verfolgerin, deren Krallen sie noch immer im Nacken fühlte, nicht mehr entdeckt wurde. Ihren Namen, hoffte sie, würde sie vergessen haben. Sie entsann sich, daß dies der wachende Hausdrache bei Louise Eisold gewesen war, und bedauerte nur, wie sie nun wol kaum jemals wieder würde versuchen können, jenes Haus zu betreten! Wie schöpfte sie mit angstbefreiter Brust Athem, als sie wieder frische Luft und Sonne und Sicherheit um sich hatte!

Anfangs fühlte Fränzchen, erlöst von der eben überstandenen Pein, nur im geringeren Grade die unangenehme Täuschung, die sich Herr Sylvester mit ihr erlaubt hatte. Als sie sich aber wieder ihrer Wohnung näherte, ärgerte sie es denn doch empfindlich, daß dieser ihr jetzt vollends abscheuliche Mann sich vielleicht einer falschen Adresse bedient hatte. Sie konnte nicht glauben, daß er da gewohnt hatte, wo jener Zank vorgefallen war ...

Das entschlossene zweideutige junge Frauenzimmer hatte sie wohl erkannt! Es war jene schmuckbehangene Auguste Ludmer vom Fortunaball gewesen, die mit dem Glockenschlage vier von den Agenten der Polizei mit jenem älteren Manne verhaftet wurde, den sie nun schon unter dem Namen eines Engländers Murray kannte ... Wie überlief es sie kalt bei dem Gedanken, daß sie [1675] mit solchen Menschen vor Gericht treten sollte, Zeugniß ablegen, ja nur mit ihnen zu sammen genannt werden!

In dieser Qual, vor Louis Armand's Augen immer tiefer sich in einen falschen Schein zu stellen, immer mehr sich in ungünstige, ohne ihre Schuld, gegen sie sprechende Beziehungen zu verwickeln, betrat sie die Wallstraße. Da sah sie wieder ihr Haus, Armand's leuchtendes Schild und jenes Fenster, wo es ihr vor noch nicht viel über eine Stunde gewesen war, als hätte sie an ihm etwas entdeckt, was Herrn Sylvester's Kopfe so ähnlich geschienen, daß sie im ersten Augenblicke dachte: Da ist Herr Sylvester bei Louis Armand selbst zum Besuche! Sie sprechen über die Bestellungen für jene Gräfin, über dich! Louis verurtheilt dich, ohne dich gehört zu haben!

Was thut es, dachte sie, als sie in die Hausflur trat, du klopfst oben bei der Frau an, die so glücklich ist, alle ihre Zimmer nun vermiethet zu haben, du frägst, wer neben Louis Armand jetzt wohne ... Ohne weiter zu zögern, stieg sie die Treppe hinauf. In dem Augenblicke hörte sie oben eine Thür zuschließen. Sie wandte den Kopf, sah hinauf; es war Louis, der eben im Begriff schien auszugehen. Sie zögerte. Sie war so erschrocken, daß sie umwenden wollte. Indem hatte sie aber Louis schon bemerkt.

Ah, Mademoiselle, rief er angenehm überrascht und über die ernsten Gesichtszüge, mit denen er seinen Zettel an der Thür, der jede Bestellung während seiner Abwesenheit [1676] an den Tischler Märtens im Hinterhofe verwies, flüchtig übersah, flog ein Strahl sanfter Freude. Wie kommen Sie hierher, Mademoiselle?

Fränzchen stotterte etwas, sah auf ihren Brief und wußte vor Verlegenheit nicht, welche Ausrede sie finden sollte.

Louis blickte auf den Brief und war erstaunt eine französische Adresse zu lesen: A Monsieur Monsieur le Professeur Sylvestre de Paris ...

Die Worte waren ganz orthographisch geschrieben.

Haben Sie Das geschrieben, Franchette? fragte Armand.

Ja, antwortete Fränzchen schüchtern. Der Herr ist in dieser Zeit mein Lehrer gewesen. Ich wollte ihm schreiben, daß ich kein Talent für Sprachen habe und ihn bäte, nicht mehr zu kommen.

Nicht mehr zu kommen? Warum, liebe Franchette? Kein Talent?

Fränzchen hatte jetzt keine Antwort. Sie blickte verlegen bald auf die Stufen, auf denen sie noch stand, bald über das Geländer hinüber an die Thür, welche Louis eben verschlossen hatte und die Nebenthür.

Wer wohnt da? fragte sie. Ich sehe eine Karte an der Thür.

Kommen Sie, wir wollen lesen, liebe Franchette!

Fränzchen stieg die Treppe nun ganz hinauf und hörte, daß Louis schon sagte:

Ein Italiäner ist mein neuer Nachbar! Lesen Sie!

[1677] Fränzchen sah auf die angeheftete Visitenkarte und fand die einfachen Worte:

Signor Barberini.

Signor Barberini! wiederholte sie und sprach für sich: Der ist es nicht.

Es konnte Louis nicht entgehen, daß Fränzchen in Verlegenheit und einer gewissen Aufregung war .... Er wollte zu Egon, um mit ihm zu speisen, da hatte er wohl noch eine halbe Stunde Zeit, um die Gelegenheit zu benutzen, einige Worte mit einem Mädchen zu wechseln, zu dem er sich so innig hingezogen fühlte und das ihm durch diese lange, von ihm nicht verschuldete Trennung auf eine sein Inneres beklemmende Weise entrückt war.

Ohne lange zu zögern, schloß er die Thür seiner Wohnung auf und schlug Franziska vor, einen Augenblick bei ihm einzutreten.

Sie sah ihn mit großen Augen an, als wollte sie sagen: Ist Das erlaubt? Darf ich Das? Und wenn ich es wagte, weil ich dich liebe, würd' es mich denn auch bei dir nicht herabsetzen?

So viel Gedanken und Empfindungen in einem einzigen Augenblicke ausgesprochen, müssen einem großen, braunen, von schwarzen Wimpern beschatteten, mit schwarzen Brauen umrandeten Auge wol einen mächtigen Zauber geben. Wie diese beiden kleinen krystallenen Kugeln so zitternd und wie lebendig gewordene Worte auf Louis ruhten, fühlte sich dieser feurig bewegt, schlug leise seinen Arm über des Mädchens Schulter und sagte:

[1678] Meine liebe Freundin! Sechs Wochen Trennung! Sie haben mich vergessen!

In diesem Augenblick stand die Thür schon auf und Fränzchen wurde geblendet von dem schönen Anblick. Das elegante, weißtapezirte Zimmer hatte keine andern Möbel als rings an den Wänden einige mit rothem Plüsch überzogene Divans und einige Tabourets von gleichem Zeuge. An den Fenstern hingen weiße großgeblumte Gardinen mit goldbronzenen Haltern. An den Wänden sah man Spiegel mit goldenen Rahmen und große Cartons mit Rahmenmustern in den geschmackvollsten Formen. Auf einem großen Tische in der Mitte des Zimmers lagen Zeichnungen, Goldleisten und die zierlichsten Holzschnitzereien.

Und dennoch würde sich Fränzchen von dem schönen Anblick nicht haben sogleich blenden lassen und eingetreten seien, wenn sie nicht plötzlich im Nebenzimmer ein gewisses Husten gehört hätte. Dies Husten erinnerte sie schreckhaft an den Professor Sylvester. Er behauptete, sich seit dem Fortunaball einen unausrottbaren Katarrh geholt zu haben, schmähte über das Klima dieser wilden Gegenden des Nordens und hustete oft so ununterbrochen, daß er, um sich zu erholen, aufstehen und einen Gang durch's Zimmer machen mußte. Ganz diesem Husten ähnlich klang es jetzt von der dünnen Wand her, die dies Geschäftszimmer des jungen Franzosen von der Wohnung des Signor Barberini trennte. Darüber betroffen nachgrübelnd folgte sie fast willenlos der Aufforderung ihres[1679] ernsten und so liebevoll bittenden Gönners, daß sie zuletzt in seinem Zimmer war, sie wußte nicht wie. Mit welcher Pein sank sie auf eins der zierlichen rothen Tabourets nieder! Wie bebte sie, wenn sie sich dachte, die Thür, die Louis eingeklinkt hatte, könnte aufgehen und irgend Jemand, an dessen guter Meinung von ihr ihr etwas gelegen sein müßte, träte ein! Daß Der, an dessen Urtheil ihr selbst am meisten gelegen war, sie selbst hier hatte eintreten lassen, tröstete sie und die erste Beklemmung wich bald einem froheren Gefühle.

Franziska, begann Louis Armand mit bescheidener Zurückhaltung und ohne den mindesten Anschein, als könnte er die gewagte Situation zu seinem Vortheile benutzen wollen, Franziska, haben Sie meine kleinen Verse erhalten?

Ich wollte Ihnen dafür danken, sagte Fränzchen schüchtern, aber ich fand nichts, was Ihrem Geschenk würdig antwortete.

Das kleine Gedicht ist in der Theilnahme gedacht worden, die ich für ein weibliches Gemüth empfinde, das sich vom Schicksal auf die große Aufgabe angewiesen sieht, unter Entbehrungen die Tugend zu lieben. Ich bin betrübt gewesen, Franziska, daß Sie die Gefahren selbst aufsuchen, denen nicht jedes Herz zu trotzen im Stande ist!

Fränzchen schlug erröthend die Augen nieder.

Sie besuchen die nächtlichen Bälle –

Herr Armand ... war Alles, was Fränzchen stottern konnte.

[1680] Sie haben auf einem Ball, der bis tief in die Nacht währte, jenen Landsmann von mir kennen gelernt, der, wenn er Ihnen den Unterricht, den Sie von ihm empfingen, ganz ohne Entschädigung gab, sehr von der Natur meiner Nation abweichen muß.

Ohne Entschädigung? Wie meinen Sie Das, Herr Armand?

Der junge Soldat, den ich heute bei Ihnen traf, ist, ich weiß es, unglücklich, daß er den Platz, den er in Ihrem Herzen sucht, von Herrn Sylvester besetzt findet.

Fränzchen hätte über diese Worte weinen mögen. Sie fühlte nun, wie sie Louis Armand erscheinen mußte. Sie erkannte, wie unvorsichtig sie sich dem Urtheile der Welt ausgesetzt hatte; wer wußte denn, warum sie Herrn Sylvester's Besuche geduldet hatte!

Statt aller Antwort riß sie das Billet auf und gab es Louis zu lesen.

Dieser sah sie voll Zärtlichkeit an und lehnte es entschieden ab, in ihre Geheimnisse zu dringen.

Meine liebe Franchette, sagte er mit dem sanften Tone wieder, der dem deutschen Mädchen einst so wohlgethan hatte, weil die Deutschen in der Sphäre, wo sie lebte, noch nicht jene Weichheit und graziöse Zurückhaltung besitzen, die in Frankreich bei den Arbeitern schon die Folge der großen gesellschaftlichen Umwälzungen geworden ist. Liebe Franziska, wie darf ich ...

Lesen Sie! sagte Franziska entschieden.

Als Louis zögernd gelesen hatte, sagte er:

[1681] Sie lehnen den ferneren Unterricht dankbar ab. Ihre Zeit, Ihre geringen Talente, sagen Sie, verhinderten Sie daran ...

Drinnen hustete es jetzt so stark, daß Franziska hätte aufspringen mögen und sagen: Das ist ja Herr Sylvester!

Wenn Sie der Sprache meines Landes die Ehre anthun wollen, sagte Louis lächelnd, sie zu erlernen, so würd' ich mich gern zur Fortsetzung des Unterrichts erbieten; allein Sie haben Ursache, den jungen Sergeanten, der Sie auf einem nächtlichen Balle kennen lernte, zu schonen ...

In diesen ruhig gesprochenen Worten lag doch eine Bitterkeit, die Franziska so verwundete, daß sie hätte aufschreien mögen. Mit Leidenschaft für sich das Wort zu ergreifen, war sie aber nicht im Stande. So blieb ihr nichts übrig, als zu weinen.

Sie verkennen mich! sagte sie mit erstickter Stimme.

Louis sah zur Erde nieder. Aufzuspringen, sie zu umarmen, ihr zu Füßen zu fallen, wagte er nicht. Was konnte er ihr bieten? Eine Trennung von der Heimat. Ein ungewisses Loos auf fremdem Boden, wo sie allen neuen Lebensbedingungen vielleicht erlegen wäre? Ihn selber band es an Egon's künftigen Lebenslauf. Wußte er, wohin ihn dieser noch einst führen konnte! Er traute auch seiner Theilnahme für das junge Mädchen nicht. War es Liebe, war es Mitgefühl für ihr Wesen, das er bisher so still und sittsam erkannt hatte? Er gehörte, das hatte er oft schon [1682] hören müssen, zu jenen, jetzt so vielfach anzutreffenden Menschen, die in der Reflexion heimischer sind als in der Welt der That. Jede Sphäre, auch die unterste, hat ihre Hamlet's aufzuweisen und die französische Nation hat sich seit dreißig Jahren völlig verändert.

Da Louis nichts that, die peinliche Situation zu erleichtern, so fühlte sich Franziska sittlich gezwungen und durch die Wahrheit ermuntert, für sich das Wort zu ergreifen. Sie erzählte ihm denn in der Kürze so viel, als nöthig war, um die Veranlassung, die sie auf einen der berüchtigten Fortunabälle geführt hatte, in einem für ihre Moralität günstigeren Lichte erscheinen zu lassen. Sie konnte die ganze Wahrheit nicht sagen, daran verhinderte sie die Rücksicht auf Louise Eisold. Aber auch die Umstände, die sie erwähnen zu dürfen glaubte, reichten hin, in Louis jeden Verdacht niederzuschlagen. Er reichte ihr in freudiger Bewegung seine Hand und bat sie um Verzeihung.

Warum sind Sie aber nur so streng gegen mich? sagte sie lächelnd, als er die Hand in der seinen hielt.

Louis konnte der Liebenswürdigkeit dieses Blickes, dieser Frage, dieses Lächelns nicht widerstehen. Ohne sich jedoch fortreißen, von seiner aufwallenden Leidenschaft bewältigen zu lassen, nahm er Fränzchen's Hand, streifte den Ärmel ihres Kleides etwas zurück und drückte einen innigen Kuß auf die Stelle, die der Handschuh dort frei ließ.

Fränzchen wurde es dabei so wunderlich, so selig war [1683] ihr zu Muthe, daß sie nun nicht anders als laut lachen konnte. Es war die herzlichste, innigste Freude, die in ihrer Brust überwallte, und wenn sie nicht eine so hohe Verehrung vor Louis Armand und so ängstliche Begriffe von Schicklichkeit gehabt hätte, Das mußte sie sich sagen ... eigentlich hätte sie den pedantischen jungen Mann nehmen, sein krauses Haar ihm von der Stirn wegstreichen und diese edle weiße Stirn küssen mögen.

Natürlich geschah Das nicht und auch der selbstquälerische Louis bekämpfte sich und legte auf seine Empfindung die Dämpfer seiner eigenthümlichen, melancholischen und krankhaften Lebensauffassung, die er mit einer ganzen Schicht unserer arbeitenden Stände von jetzt gemein hat ... Wie Louis Armand gibt es in allen großen Werkstätten, wo mehr als ein Dutzend Arbeiter zusammen wirken, gewiß immer einen unter ihnen, der eine Art Propheten abgibt. Einer von ihnen trinkt nicht, zankt nicht, spielt nicht, tanzt nicht, sondern liest und schreibt sogar, dichtet oder singt, wird zuweilen ausgelacht, meist aber geliebt und bewundert. Er ist sozusagen der Traumdeuter der Werkstatt, der Hohepriester und Schriftgelehrte, dessen Traumauslegungen aber noch träumerischer sind als die Träume der Andern. In jeder großen Werkstatt gibt es einen Rabulisten, einen Possenreißer und einen Philosophen.

Ihr Onkel, sagte der selbstquälerische, zurückhaltende Armand, ist recht unglücklich, daß Sie den jungen Sergeanten foltern, liebe Franchette! Er sagte dem Prinzen, [1684] daß dieser junge Krieger der Sohn eines reichen Landmanns ist. Ich fand ihn fein und artig. Auch sein Spiel auf der Flöte verrieth mir, daß er ein Herz hat. Und Liebe! Liebe, die sich auch bewährt in der Demüthigung, daß man sie nicht erhört! Die Welt ist sehr arm an solcher Liebe, die nicht liebt, um wieder geliebt zu werden, liebe Franchette!

Ich mag ihn nicht! war Fränzchen's ganze kurze, runde deutsche Antwort. Sie verstand die eigenthümliche leidende und entsagende moderne Philosophie ihres Gönners nicht.

Er ist reich – fuhr Dieser, wie ein Stoiker, fort.

Wenn auch!

Der Onkel will eine Beruhigung für sein Alter. Er freut sich darauf, irgendwo gut aufgenommen und von Herzen geliebt zu sein ...

Ich weiß, es ist recht lieblos von mir ... aber es geht nun doch nicht!

Sie sollen mit ihm in den Wald!

Fränzchen schüttelte den Kopf.

Sie bleiben?

Fränzchen nickte.

Ah! sagte Louis, dem sich die Brust doch erweiterte, dafür dank' ich Ihnen! Wenn Sie gingen, wüßt' ich doch nicht, ob ich noch in Deutschland bliebe.

Bedurft' es mehr, um zu sagen: Franziska, hier schlägt dir ein Herz voll Liebe und ewiger Treue?

Aber theils des Nachbars Husten, theils die eigene[1685] Befangenheit und Unentschlossenheit Armand's hinderte, daß es trotz der zärtlichsten Wendung des Gesprächs zu einer förmlichen Erklärung kam.

Louis hielt Fränzchen's Hand, küßte und drückte sie, sah ihr in's Auge voll Güte und wiedergewonnenen Vertrauens, aber einer stürmischen Leidenschaft war seine melancholische krankhafte moderne Volks-Philosophie nicht fähig.

Fränzchen hatte so viel Verehrung vor ihrem Freunde, daß sie sich auch eine andere Annäherung an ihn als diese zarte und zurückhaltende vorläufig nicht möglich dachte. Er fascinirte sie, wie ein Zauberer ... Durch seine Huldigung hatte sie vorläufig nur so viel Muth gewonnen, daß sie jetzt sagte:

Sie sollten mir und meiner Freundin Louise einen Gefallen thun ...

Einen Gefallen? Mit Freuden!

Nächsten Sonntag, plauderte Fränzchen, um zwei Uhr kommt Louise mit allen ihren Geschwistern und einem ungeschlachten, aber braven Menschen, der sie gern heirathen möchte, und holt mich ab, in's Wäldchen zu gehen. Wissen Sie, das ist eine Stunde von hier! Man geht von der Landstraße ab, über Wiesen, dem Strome zu ...

An dem das Schloß des Königs, Solitüde, liegt?

Richtig da! Rechts ist die Solitüde und links am Flusse das Wäldchen. Im Grase lagern sich da die frohen Menschen, dürfen an eingemauerten kleinen Herden Feuer machen, scherzen, jagen sich, spielen im Grünen unter den [1686] alten Eichen, daß es eine Lust und Freude ist. Gehen Sie mit?

Louis nickte stumm ...

Sie thun's nicht gern! Es ist Ihnen nicht vornehm genug!

O meine gute Franchette! sagte Louis.

Aber Sie geben Ihr »Ja« so betrübt ...

Ach, ich denke an mein Vaterland, ich denke an die kleinen Freuden, die die Armen auch in Lyon und Paris genießen. Wie hab' ich diese Sonntage geliebt! Die theure Schwester, die nun die Erde deckt, war die Königin dieser kleinen Feste ...

Wenn es Sie aber traurig macht ....

Nicht traurig! Nicht um die Vergangenheit bin ich gerührt. Die ist begraben. Es bewegt mich, daß Ihr in diesem Lande gerade so denkt und fühlt wie wir! Eine Kette ist es doch, die uns Alle umschließt in Nord und Süd. Ob Ihr nun in dumpfen Höhlen bei der Lampe arbeitet oder wir an den niedergelassenen großen Fensterladen unserer luftigen Häuser ... Ihr versammelt Euch am Tage der Ruhe zur Freude wie wir. Wir tanzen unter Nußbäumen; Ihr vielleicht unter Eichen; wir verwechseln im Verwechsel-Spiele Ahornbäume, Ihr vielleicht Tannen; Ihr kränzt Euer Haupt mit Kornblumen, wir kränzen uns mit Weinlaub und wildwachsenden Blumen, die bei Euch nur in Treibhäusern gedeihen; aber die Freude ist dieselbe, der Trost ist derselbe, die Pause ist dieselbe, wo sich die Arbeit erholt und in ihren Hoffnungen neuen [1687] Athem schöpft ... Ja, meine Freundin, ich werde kommen.

Fränzchen war über diese dichterische und, wenn wir ironisch sein wollen, wie eine Einleitung zu Proudhon's socialer Lehre vom Eigenthum klingende Erklärung sehr glücklich.

Sie glaubte nun aufstehen zu müssen.

Louis drückte sie mit einer flüchtigen Bewegung seines linken Armes leise an die Brust. Sie widerstrebte nicht, sondern ließ die warme klopfende Fülle ihres Busens an seinem Herzen eine Weile ruhen und sah dabei verschämt zur Erde. Louis lehnte sie sanft zurück und sprach:

Ich danke Ihnen, Françoise, für das Vertrauen, das Sie mir schenkten und daß ich Sie nun wieder wie sonst verehren kann – ach! unterbrach er sich selbst, Sie zu lieben, hatt' ich nie aufgehört! Am Sonntag also im Wäldchen!

Fränzchen dankte ihm mit einem glänzenden Blick ihrer Augen und stand schon an der Thür. War sie doch selig, daß endlich auch einmal das Wort Liebe gefallen war!

Und die Stunden in meiner Sprache nehmen Sie bei mir! sagte er.

Wenn es Sie erfreut ... antwortete sie ...

Und der Sergeant ... Wissen Sie, Franziska, daß ich Mitleid mit ihm habe? Wenn er uns in den Wald begleitete mit seiner Flöte?

Fränzchen schüttelte den Kopf ...

Wir werden tanzen wollen ... Es wäre doch gut ...

[1688]

Wir singen, wenn wir tanzen wollen, und Violinen und Harfen hört man unter den Eichen genug ...

Der arme Heinrich Sandrart! bat Armand. Wie gut und tröstend ist es dem Krieger, sich unter seine Kameraden, die Bürger und Proletarier der Arbeit, mischen zu dürfen! Sind diese Proletarier des Müssiggangs nicht unsere Brüder? Lebt in ihrer Seele nicht etwas, was sie von dem schlechten Geiste des Trotzes gegen die übrige Gesellschaft, den die Offiziere nähren, abzieht und in unsere fröhlicheren Reihen zurückführen möchte?

Er wird nicht mitgehen wollen ... antwortete Fränzchen, die weder von der Flöte, noch von der socialen Stellung Heinrich Sandrart's irgendwie gerührt war und nur einen lästigen Liebhaber sah, den sie nicht mochte.

Bieten Sie es ihm an, Franziska, wiederholte Louis.

Fränzchen blieb aber bei ihrem Sinne. Sie lachte, schüttelte den Kopf, öffnete die Thür und hüpfte davon. Noch auf der Treppe warf sie einmal den Kopf zurück, nickte voll Innigkeit und huschte in glückseligster Stimmung in ihren Hinterhof ... Der Husten des Italieners Signor Barberini verfolgte sie zwar wie das giftige Zischeln einer Schlange, die die Gestalt des Herrn Sylvester oder der grünen Brille annahm, aber nun, da sie sich gerechtfertigt hatte vor Louis Armand, da sie wieder so viel zärtliche, sanfte Worte von diesem elegischen Schwärmer vernommen, waren ihr alle Gefahren, alle Beziehungen zu andern anspruchsvollen Menschen gleichgültig, sie zerriß ihren Brief, sagte sich, Er mag kommen oder nicht! Ich habe [1689] keine Furcht mehr, ihm mündlich seinen Abschied zu geben! Es war ihr, wie sie einst Melanie Schlurck gesagt hatte, als käme sie von einem Priester, dem sie gebeichtet.

Indem wir Fränzchen den letzten Verständigungen mit ihrem Onkel überlassen und uns freuen müssen, daß sie durch ein gütiges Schicksal vor mancher dunkeln Gefahr auf dem Forsthause im Plessener Walde bewahrt blieb, begleiten wir den glücklichen Louis Armand zu seinem Gönner und Freunde, dem Prinzen Egon von Hohenberg.

Er fand ihn unruhig und besorgt darüber, daß ihn Louis so lange allein ließ.

[1690]
11. Capitel. Thomas a Kempis
Eilftes Capitel
Thomas a Kempis

Wie kann ich mich ohne dich zurecht finden, Freund, sagte Egon auf's zuvorkommendste und von einem Halbschlafe gestärkt. Wie diese Menschen, die mich hier umgeben, alle so gierig lauern auf meine Winke! Die kleinste Arbeit vergrößern sie durch die Umständlichkeit ihrer Art, sie anzufassen; Alles ist bei ihnen spielendes Riesenwerk. Jeder will seine Nothwendigkeit bezeugen und geht laut, statt leise, klappert mit einem Teller, statt ihn ruhig hinzusetzen, frägt zehnmal über eine Auskunft, die er sich bei gesunder Vernunft selbst geben kann. Der Alte mit dem gewichsten Schnurrbart ist geradezu ein Hanswurst! Es thut mir seines Alters und der Erinnerung an meinen Vater wegen leid, daß ich ihn so lächerlich finden muß. Schon drängte sich die älteste seiner Töchter an mich und will die Befehle über meine Wäsche in Empfang nehmen. Wie ich sagte, ich liebte Dies oder Jenes zur Hand zu haben und mich selber zu bedienen, verspricht sie, in meinem gewöhnlichen Zimmer sogleich diese Anordnungen selbst zu treffen. Ich lese etwas aus den Blättern in den aufgehäuften Zeitungen. Kaum seh' ich auf, so ist die älteste Schwester mit den beiden jüngeren beschäftigt, [1691] an den Schubkästen zu poltern und zu ordnen. Ich sehe hin. Sie thun, als merkten sie's nicht. So dienend, so unterwürfig gebehrden sie sich! Die zweite gefällt mir mehr als die jüngste. Diese ist zwar hübscher, jene hat jedoch pikantere Augen. Ich habe das Fenster geöffnet, um nicht nach diesen Geschöpfen sehen zu müssen. Kaum lehn' ich mich da hinaus, so nimmt das Verbeugen und Grüßen kein Ende. Koch und Stallknecht, Küchenmagd und Kehrfrau, Alle machen sich zehnmal auf der Straße zu thun, nur um knixen und grüßen zu können ... Von Vorübergehenden werd' ich angestaunt. Ich schlage das Fenster zu. Da ekeln mich aus den Zeitungen, die ich mir allerdings selbst bestellte, diese dummen politischen Verwickelungen an. Ich bin die Herrschaft der Phrasen so müde, daß ich lieber eine Abhandlung über den Dünger lesen möchte, als diese Verhandlungen des Ehrgeizes und der Intrigue. Ich werde mich über Grund und Boden zu unterrichten suchen und dann nach Hohenberg gehen, dort wohnen, dort mit Ackermann Ökonomie treiben.

Louis antwortete nicht auf diesen Erguß der Langenweile und des erwachenden Lebensreizes. Er sah auf dem Tisch zwei Gegenstände, die ihm wichtiger schienen als diese polternden Ausbrüche der Ungeduld eines Kranken, der, endlich genesen, sich in das Geräusch der Welt zurücksehnt und von Einsamkeit spricht! Er sah den für die Gräfin d'Azimont bestimmten Brief und das schwarze Büchlein von der Nachfolge Christi, das durch seine Mithülfe in das Bild der Mutter gekommen war.

[1692] Über Letzteres sprach sich Egon, während man in dem Zimmer nebenan das Serviren der Mittagstafel hörte, umständlich und weitläuftig aus.

Was ich bis jetzt in diesem wunderlichen Testamente meiner bemitleidenswerthen Mutter gelesen habe, sagte er, misfällt mir durchaus nicht. Dieser alte Mönch Thomas a Kempis war ein feiner Kopf und hat etwas Vornehmes, das ihn der Bildung zugänglicher macht, als die gewöhnliche ascetische Phraseologie. Er schreibt vortrefflich. Seine Sätze sind kurz und in Antithesen gefaßt, wie bei Montaigne. Er scheut sich nicht, zuweilen einen alten Heiden zu citiren und weiß ihn zweckmäßig mit einer christlichen Vorschrift in Einklang zu bringen. Dabei hat er etwas Weltkluges, ja sogar Etwas, was an den Spruch erinnert: Schicket euch in die Zeit; denn es ist böse Zeit! Oder wol gar an den andern: Seid klug wie die Schlangen und ohne Falsch wie die Tauben! Ich lese seine Vorschriften mit Vergnügen. Nicht etwa, daß ich dem Willen meiner Mutter gemäß daran denken könnte, nach ihnen zu leben, sie verlangen eine unmögliche Entsagung und mönchische Christlichkeit. Aber sie sind ein System, das an sich nichts Geschmackloses hat. Es liegt eine so gefällige Abrundung in dieser Auffassung des Lebens. Sie ist dabei nicht ohne Heiterkeit und muß es sein, da sie den Namen des Heilandes so leicht, so ohne viel Aufhebens bekennt, wie wir etwa in unserer Zeit von der Vernunft oder, wenn man noch richtiger urtheilen will, von einem großen Genius sprechen, von Schiller und Goethe. Ich kann mir [1693] den beispiellosen Erfolg dieses Buches erklären. Es ist in alle gebildete Sprachen übersetzt und vieltausendmal gedruckt worden. Es ist so klar, so rein wie die Luft. Es lehrt die Weisheit, die Demuth und die Bescheidenheit. Man erstaunt freilich, daß darin die Unwissenheit gepriesen wird im Gegensatz dünkelhafter und nur die Zweifelsucht regemachender Gelehrsamkeit. Aber man läßt sich diese Polemik gegen die Bildung schon gefallen, da es doch selbst ein so feiner, gebildeter Geist ist, der mit uns spricht. Dieses Buch, richtig aufgefaßt, müßte kindlich reine Gemüther bilden, besonnene frohe Weltweise voll Demuth und Vertrauen. Leider liegt darin auch ausgesprochen, daß dies Buch ein glänzendes Aushängeschild der Heuchelei und jener vornehmen religiösen Abspannung werden mußte, die man Frömmigkeit und Erleuchtung nennt. Und zuletzt noch Dies: Der Verfasser dieses Buches war ein Communist, lieber Louis!

Ein Communist? fragte Louis erstaunt.

Wohl! sagte Egon lächelnd. Er gehörte einer jener halbgeistlichen Brüderschaften an, die sich im Mittelalter auch unter den Laien bildeten. Thomas aus Kempen, einer holländischen Stadt, war selbst ein Mönch in einem kölner Convicte, aber man kann ihn umsomehr einen mittelalterlichen Communisten nennen, als er außerdem zu einem Vereine gehörte, der sich die Brüderschaft vom gemeinsamen Leben nannte.

Vom gemeinsamen Leben? wiederholte Louis noch überraschter.

[1694] Nicht wahr? Das ist ja eure vollkommene Commünauté?

Man sollt' es fast glauben, sagte Louis erröthend. Aber ich begreife wohl, daß darunter nur das gemeinsame Leben in Gott und dem Heilande zu verstehen ist ...

Das ist's! sagte Egon. Aber wer sich vom Laienstande ihr anschloß, mußte doch wol die Ansprüche seiner weltlichen Titel und Würden aufgeben, und wenn man sich in eine Art von Phalanstère begab, das man im Mittelalter Convict oder Kloster nannte, so geschah es doch fast unter solchen Bedingungen, wie Ihr communistischen Ikarier es Euch denkt! Man aß aus einer Schüssel, hoffentlich mit mehren Löffeln.Allons donc, Monsieur! Nous sommes servis!

Damit setzte sich der junge Prinz mit Louis zu Tisch.

Er hatte die letzten für Louis so bedeutsamen Worte sehr heiter ausgesprochen. Egon war kein reiner Anhänger der communistischen Ideen seines Freundes und gerieth jedesmal, wenn dies Thema in Anregung kam, mit ihm in einen oft sehr lebhaften Hader. Auch heute bei Tische wurde diese Saite wieder berührt; jedoch viel mäßiger und mit fröhlicheren Tönen als sonst in Paris oder Lyon, wo diese Saite trotz aller Freundschaft oft auch recht brummende Töne von sich gab. Egon hatte, wie wir schon aus seiner Reise mit Dankmar wissen, selbstgewonnene Begriffe vom Staatsleben und der Gesellschaft, und wenn seine Ideen, die er mit vielem Scharfsinn zu entwickeln wußte, auch nahe an gewisse demokratische[1695] Lieblingsvorstellungen der Zeit streiften, so war er doch nichts weniger als Communist.

Das Mahl war lange nicht so einfach, als es für Egon's noch mannichfach zu schonenden Körperzustand hätte sein sollen. Auch eine gewisse ihm eigene Sparsamkeit billigte diese Überzahl von Schüsseln nicht. Er gab sehr ernste Verweise über die gemachte Auswahl und erklärte rundweg, er würde künftig jeden Abend vorher sagen, was er morgen essen wolle ... Wandstabler verneigte sich bis tief zur Erde und schielte zu Louis hinüber, den er auch in diesem Punkte als einen wahren Dorn im fürstlichen Fleische, als den Störenfried aller standesmäßigen Etikette und gehofften Wiederherstellung der alten herrschaftlichen Zustände betrachtete ... und eigentlich mit Unrecht.

Nach dem Essen ruhte Egon ein wenig aus und Louis las im Thomas a Kempis, der ihm plötzlich bedeutsam geworden war ... Louis hatte es sehr weit im deutschen Sprechen und Verstehen gebracht. Er mußte ja seinen Ursprung halb von Deutschland und Polen und nur halb von Frankreich herleiten ... Thaddäus Kaminski war im Jahre 1794 in der polnischen Insurrection bei Maciejowice verwundet worden. Glücklicher als sein Bruder Stanislaus Kaminski, der in Gefangenschaft fiel und nach Sibirien geschleppt wurde, rettete er sich, in der Flucht von seiner Schwester Jagellona unterstützt, mit Kosciuszko erst nach Deutschland, wo er im Württembergischen Pflege und ein Weib fand, eine Deutsche, Namens Anna Oleander. [1696] Verfolgt von dem Einflusse Rußlands floh Thaddäus Kaminski nach Frankreich und ließ sich mit seiner Schwester Jagellona und seinem Weibe in Lyon nieder. Ihr Loos war Armuth. Früh starb Thaddäus an seiner Wunde. Die Schwester Jagellona heirathete einen Industriellen, bei dem sie gastfreundliche Aufnahme gefunden hatten, Namens Armand. Jagellona war nicht mehr jung, als sie, eine gebildete Polin, der Dankbarkeit dies Opfer brachte und weit unter ihrem Stande sich vermählte. Die Revolution hatte die Standesunterschiede hier nicht so sehr verwischt wie das Gefühl der Erkenntlichkeit für den Schutz und die Pflege, den die armen polnischen Flüchtlinge bei den Lyoner Freunden fanden. Jagellona's Sohn hieß, ihrem in Sibirien schmachtenden Bruder zu Ehren, Stanislaus. Stanislaus Armand heirathete die Mutter unsres Louis, eine Französin, und gebar ihrem Gatten diesen Sohn im Jahre 1825, die Tochter Louison ein Jahr später. Diese aus so kosmopolitischen Mischungen zusammengesetzte Familie – gälische, germanische, slawische Elemente begegneten sich hier – stand unter dem patriarchalischen Einflusse der uralten Polin Jagellona Kaminski und der deutschen, ihren Gatten lange überlebenden Großtante Anna Oleander, einer Schwäbin aus dem weiland württembergischen Gebiete der Grafschaft Mömpelgard oder Montbelliard. Die polnische Sprache war in diesem Kreise verschwunden, aber aus Rücksicht auf die Großtante, die des heldenmüthigen Thaddäus Kaminski wegen tief verehrt wurde, hatte sich neben der französischen [1697] die deutsche erhalten, die auch Jagellona, wenngleich mit polnischem Accente sprach. Louis Armand, der einzige noch lebende Enkel dieser nun ausgestorbenen Familie, verbesserte sein halbangeborenes Deutsch durch den Umgang mit Egon. Aber mit den deutschen Buchstaben hatte Louis Armand, den neben der Liebe für Egon auch der Trieb nach Anknüpfungen an seinen deutschen und polnischen Ursprung hierhergeführt hatte, mit diesem Druck hatte er seine Noth. Diese kleinen gothischen Buchstaben unsrer Schrift, im Geschriebenen und Gedruckten, waren ihm peinlich. Es wurde ihm schwer, in dem frommen Buche weit zu kommen und zu forschen, ob sich wirklich schon damals ein Anklang der modernen Commünauté, eine mehr als nur geistige Brüderschaft vom gemeinsamen Leben, darin finden lasse ...

Gegen vier Uhr hörte er aus dem Hofe den eleganten Landau des Prinzen an die große Aufgangstreppe der untern Flur anrollen und die Bedienten meldeten die beiden andern Theilnehmer nach Solitüde, die Brüder Wildungen ...

Louis wollte Egon's Schlummer nicht stören und empfing die Angemeldeten. Siegbert hatte er seit Wochen nicht gesehen, Dankmar war ihm eine ganz neue Erscheinung ...

Das Bild, das aufgeschlagene Buch gaben sogleich eine Anknüpfung vertraulicherer Verständigung. Dankmar hatte schon lange ein Vorurtheil, das er anfangs gegen Louis Armand hegte, abgelegt und freute sich seinerseits [1698] schon, wie sehr es ihn befriedigen würde, wenn Siegbert an dem Fürsten soviel Gefallen finden würde, wie er schon an Louis gefunden hatte..

Siegbert war auffallend gewählt und fein gekleidet. Beide Brüder gingen in schwarzem Frack, weißen Westen, jenem Costüme, das die Mode erfunden hat, um einem Höheren zu huldigen; weiße Halsbinden, helle Handschuhe fehlten nicht. Ihr guter Takt hatte durchaus nicht die Absicht, in der Vertraulichkeit, die ihnen der junge Fürst gestattete, irgend etwas von jenen Rücksichten aus dem Auge zu lassen, die man unter so nahen Verhältnissen dem geringer in der Welt Gestellten gern erläßt, aber doch immer anerkennt, wenn man sie nicht vergißt ... Dankmar war ohnehin mistrauisch. Er konnte sich noch nicht in Egon's aufrichtige Meinung finden. War hier etwas Zufälliges oder Nothwendiges zu so eigenthümlicher Erscheinung gekommen? Er prüfte und legte manchen Dämpfer auf Siegbert's glühende Erwartung.

Denn Siegbert hatte gleich das vollste Vertrauen. Sein gutes Herz ging immer mit ihm durch. Wir kennen ihn genug, um uns zu vergegenwärtigen, was Siegbert empfand, als Dankmar zur Fürstin Wäsämskoi kam und den Bruder aus einem der sonderbarentêtes-à-têtes aufschreckte, die er seit einiger Zeit zwischen der Fürstin und der immer reizender sich entwickelnden Olga beobachten mußte ... Siegbert Wildungen war seit jenem Abende, wo er zum ersten male im Garten sich der Fürstin Adele hatte vorstellen lassen, der tägliche Freund jenes Hauses. Sonderbar[1699] genug! Anfangs war die Fürstin so kalt, so theilnahmlos gewesen, daß ihr Rudhard darüber sogar einige mürrische Vorwürfe gemacht hatte. Später trat nun das Gegentheil ein und weckte sogar Rudhard's Besorgnisse. Der strenge Richter sah scharf. Gleich am Abend, als Olga die Blumen auf Siegbert niedergeworfen hatte, kam das Kind wie verändert in den Garten zurück. Sie hatte jene halbe Knabentracht abgeworfen, die sie bisher trug, und verlangte in einer ihr eigenen kurzen und fast schneidenden Art eine neue Garderobe. Alle ihre Kleider wären ihr zu kurz. Sie schäme sich so zu gehen, wie sie sich heute in der Reitbahn gezeigt hätte. Sie wolle nicht nur ein langes Reitkleid, wie alle Damen zu Pferde, tragen, sondern auch für das Haus und die Gesellschaft die Tracht der andern jungen Mädchen. Schon hatte sie sich ihre langen Zöpfe zu einer sonderbaren, phantastischen Tracht aufgebunden, die das Gelächter ihrer Mutter und den Spott ihrer Geschwister erregte. Sie hatte die Zöpfe mehrmals wie Ammonshörner oder Schneckengehäuse gewunden und sie halb im Nacken, halb hinterm Ohr festgesteckt. Rudhard fand die Idee allerliebst und geschmackvoll, die Mutter aber abscheulich. Mit einem verächtlichen Blicke, den Olga auf die Mutter warf, als wollte sie sagen: Du bist nur neidisch, daß ich so schöne Haare habe! wollte sie in's Haus gehen. Die Kinder lachten hinter der Schwester her. Da ergriff diese eine Scheere, die von den weiblichen Handarbeiten der Mutter auf dem Gartentische lag, faßte den einen aufgewundenen Zopf und war schon im [1700] Begriff ihn herunterzuschneiden, wenn ihr Rudhard nicht den Arm ergriffen, die Scheere entwunden und die heftige und übereilte Zerstörung eines so schönen Schmuckes verhindert hätte. Am folgenden Tage mußten Schneider und Modisten kommen und aus Olga ein andres Wesen formen. Rudhard billigte diese Metamorphose vollkommen, nur die Mutter gerieth darüber in eine eigenthümliche Reizbarkeit. Diese sonst passive Frau schien von der plötzlichen Emancipation ihres Kindes zu einem jungen blühenden Mädchen und den dabei vorkommenden Beweisen eines plötzlich gewachsenen Selbstgefühles so gereizt, daß sie in einen Zustand gerieth, den sie selbst nicht erklären konnte. Sie wurde unruhig, das Kleinste verdroß sie und weder Rudhard's ruhige Beschwichtigung, noch die Anerkennung, die doch ihr Kind bei jedem der zahlreichen Besuche, die sie empfing, erntete, konnte die Mutter zur Selbstbeherrschung bringen. Nur Siegbert's Eintreten in den Familienkreis that ihr wohl ... Dieser hatte mit Rudhard gleich am Morgen nach der Beschlagnahme des Bildes und der Untersuchung ihrer Wohnung mit dem darüber höchlichst erstaunten Manne eine lebhafte Unterhaltung. Man berieth Mittel und Wege, um sich vor ferneren Gewaltthaten dieser Art zu schützen. Man kam auf bedenkliche Vermuthungen, erwog die Verlegenheit und das Befremden Egon's, wenn das Bild ihm würde übergeben werden und Dinge enthielte, die ihn vielleicht nur aufregten und störten. Erst zwei Tage später kam man zu der Entdeckung, daß das von Schlurck [1701] übergebene Bild die Papiere gar nicht mehr enthielt! Gesteigertes Erstaunen. Hier war ein Geheimniß, eine Intrigue. Rudhard gab sich die größte Mühe, hinter Entdeckung einer bösen Absicht zu kommen. Er hatte Anzeichen, die ihn auf eine sicher scheinende Erklärung führten. Er gelobte sich, sie streng zu verfolgen. Einstweilen rieth er zum Ersatze durch den Thomas a Kempis .... Der Eifer bei allen diesen Verhandlungen nicht nur, sondern auch die Theilnahme, die Siegbert den künstlerischen Studien der Mutter und Olga's schenken sollte, veranlaßte, daß er täglich im Hause war. Und nun ergab sich dadurch eine neue Spannung in dem Gemüthe der Fürstin. Siegbert war ihr nothwendig geworden. Sie lebte zurückgezogen, nicht aus Princip, sondern aus Bequemlichkeit. Sie wollte ihre Schwester vermeiden, von der sie wußte, daß sie überall die schlimmsten Dinge von ihrer Bildung, ihrem Verstande, ihrem Herzen sagte. Die Trauer gebot ihr, sich von der Gesellschaft fern zu halten. Rudhard war streng, einsilbig, oft mürrisch, pedantisch sogar und durch sein sicheres Auftreten ihr fast unbequem. Siegbert Wildungen aber, der gefeierte junge Künstler, Das war eine ideale Vermittelung mit der Welt! Wenn er kam, bot er den süßen Reiz der Gewohnheit. Wenn er ging, ließ er eine Lücke zurück. Er war so ruhig bewegt, so still glühend, so schweigend beredtsam, er wirkte so angenehm; es strömte, wenn er sprach, ein solcher Wohllaut von seinen Lippen; jede Idee, die er äußerte, schmeichelte sich schon durch den Vortrag ein und wenn er eine Meinung [1702] aussprach, so verband er die sicherste Männlichkeit und die Wärme der Überzeugung mit liebevoller Duldung und Schonung der Andersdenkenden. Ganz abweichend von Rudhard, der sogleich verurtheilte, keinen Irrthum anders entschuldigte als durch das verletzte Interesse oder die mangelnde Bildung Derer, die ihn hegten, von Rudhard, der das Gemüth wol einen Edelstein nannte, der aber nur klar und durchsichtig sein müsse, nichts Trübes und Unklares enthalten dürfe ... Siegbert hatte ihn bei der Fürstin vollkommen verdrängt. Rudhard merkte es wohl, war aber ohne Empfindlichkeit darüber. Er wünschte sich Glück, einen jungen Mann von so heilsamer Wirkung für diesen kleinen Familienkreis gefunden zu haben und war nur bedacht, daß in Olga keine gefährliche Regung entstand und in Siegbert nichts, was diese Regung nährte. Darüber kamen ihm denn nun freilich Zweifel. Nicht, daß etwa Siegbert Veranlassung zur Verletzung der Convenienz gab. Rudhard mußte vielmehr sich selbst sagen: Was kann der junge Mann dafür, daß er mit einer fast überirdischen Anbetung hier still verehrt wird! Siegbert that nichts, als er gab sich selbst. Um seine Herrschaft über diese beiden Frauengemüther zu entkräften – von dem eigenthümlichen Verhältniß, das sich hier zwischen Mutter und Tochter ergab, hatte Rudhard schon eine besorgte Ahnung – um einen Versuch zu machen, ob denn nicht das Eintreten eines andern Elementes in diesen Kreis der drohenden Einseitigkeit dieser Herzen – Liebe nannte Rudhard eine Einseitigkeit der Herzen – steuern [1703] konnte, veranlaßte er Siegbert, Freunde einzuführen, vor allen Dingen seinen Bruder Dankmar. Dankmar wurde eingeladen. Er kam auch. Olga erinnerte sich seiner von der Lasally'schen Reitbahn. Aber es war fast, als hätte sie ihr Ideal in dem lebhaften, feurigen Dankmar nur vorgeahnt und es in Siegbert verschmolzen mit alle Dem, was dem kecken Dankmar doch zu fehlen schien, wiedergefunden. Auch die Mutter fand Dankmarn interessant, unterhielt sich, da überhaupt ein neuer reger Geist über sie Alle gekommen war, außerordentlich lebhaft mit ihm, aber wenn man an die Ausströmungen des Magnetismus im innigeren Verkehr der Gemüther glauben darf, so wirkte Dankmar's feuermagnetische Kraft fast schmerzhaft auf diese lebhaften Naturen, die wiederum selber, um musikalisch zu sprechen, mehr in Dur als in Moll gesetzt waren. Siegbert führte auch Max Leidenfrost ein. Der unterhielt sie Alle, belustigte die Kleinen, interessirte die Großen; aber es blieb bei den Frauen für die Phantasie kein Eindruck zurück, von Reichmeyer und Anderen ganz zu schweigen. Nur Heinrichson hatte etwas Glattes, das für ihn einnahm. Seine Tournüre, sein Witz, seine große Welterfahrung blendete. Da aber die Fürstin gehört hatte, daß Heinrichson bei ihrer Schwester eingeführt war und dieser bei Zeichnungen, die sie in ihrer, wie die Fürstin es nannte, koquetten und frivolen Trauer um den Prinzen Egon, entwarf, behülflich war, so lud sie ihn nicht wieder ein. Siegbert blieb demnach das waltende, regierende Princip und da Rudhard im Stillen sich freute, daß bei [1704] dieser Neigung in der Fürstin doch auch ihr rein sittliches Princip im Spiele war und durch Siegbert's edle, taktvolle Natur nicht gefährdet wurde, so ließ er zur Zeit noch diese Dinge gewähren und versparte sich nur eine Rücksprache mit Siegbert auf günstige Gelegenheit ... Siegbert war täglich in jenem Gartenhause und arbeitete sogar dort. Die Welt sagte vorläufig, daß er ein Freund des Predigers Rudhard war. Dankmar aber zog den Bruder täglich auf, nannte ihn Heinrich Frauenlob, den Sänger, den Frauen zu Grabe trugen, den im Venusberge gefangenen Tannhäuser und scherzte nicht wenig darüber, als er die Verlegenheit der Fürstin und den Ärger der kleinen Olga, die ihm selbst hätte gefallen können, bemerkte, als es sich darum handelte, ihnen für heute Nachmittag ihren getreuen Siegbert zu entführen. Komisch schien es ihm, als Rudhard den Vermittelungsweg einschlug, beide Brüder wenigstens zum Diner dazubehalten, denn auch dieser Vorschlag hatte für die beiden Rivalinnen doch immer die Folge, daß Siegbert ihnen nicht ganz gehörte und die Unterhaltungen über den Prinzen Egon, an dem Rudhard soviel gelegen war, mochten sie vollends nicht leiden. Die Fürstin und Olga, Beide unterstützten Rudhard's Vorschlag nur unter der Bedingung, daß sie erst um dreiviertel auf vier Uhr mit dem Wagen, den sie anspannen lassen wollten, abfahren und von dem Prinzen nicht reden durften, auf dessen Bekanntschaft sich Siegbert für sie viel zu sehr freute! Sie lehnten diesen Vorschlag ihrer Toilette wegen ab, gossen aber damit nur Öl in's Feuer. Olga [1705] war sogar auf die Idee schon eifersüchtig, daß sich die Brüder für den Prinzen Egon, der ein so abscheulicher Mensch sein sollte, nur überhaupt prächtig ankleiden wollten. Zu uns, sagte sie, kommt Ihr, wie es Euch gerade einfällt! Wer ist denn dieser Prinz, daß Ihr Euch um seinetwillen in kostbare Kleider werfen wollt, in denen wir Euch nie gesehen haben! In der Art, wie Olga zankte und, als beide Brüder wirklich nicht wenigstens zum Essen blieben, sondern um zwei Uhr sich entfernten, weinte, während die Fürstin ihre gleiche Empfindung unter Lächeln und den heftigsten Vorwürfen gegen die Narrheiten Olga's versteckte, sah Dankmar denn doch, daß dies Mädchen mit dem bleichen Teint und den schwarzen Flechten trotz ihrer glühenden Augen noch ein halbes Kind war und ließ diese wirren Dinge umsomehr gelten, als sich sein guter Siegbert in dieser träumerischen Existenz zu gefallen schien ... Zu Hause hatten Beide dann noch einen herzlichen lieben Brief von der Mutter gefunden, die über Dankmar's Projekte erklärte in einer ewig fieberhaften Aufregung zu leben, und so waren sie nach einem bescheidenen Mittagstische bei einem Restaurant an die sorgfältige Wahl ihrer Kleidung und zuletzt in's Hotel des jungen Prinzen gegangen.

Louis öffnete die Thür, weckte Egon von einem leichten Halbschlummer und führte ihn den Freunden entgegen.

Siegbert und Egon gefielen sich auf die erste Begrüßung und waren bald so vertraut wie alte Bekannte.

Ist der Wagen vorgefahren? hieß es.

[1706] Man bejahte.

Also nach dem Schlosse Solitüde!

Man rollte durch die Straßen, durch die Plätze. Man kam an die Thore.

In dem Wirrsal der Meinungen, bei dem immer mehr beengten Gebiete der materiellen Begründung seines Daseins, ist die wahre Freude unter den Menschen der Civilisation ein seltener Gast geworden. Einige Stunden so glücklicher Anregung, wie sie die eigenthümlich zusammengesetzte Gesellschaft, die da eben im Wagen aus dem großen Portale des Palais fuhr, zu genießen hoffte, gehören zu den Weihemomenten, wie sie dem in seine Pflichten so eingepferchten Menschen des neunzehnten Jahrhunderts selten geboten werden. Ein junger Fürst, ein Rechtsgelehrter, ein Künstler, ein Handwerker saßen hier auf den weißseidenen, großgeblümten weichen Polstern, Egon und Siegbert im Fond, Dankmar und Louis auf dem Rücksitze. Sie konnten in ihrer Lebensstellung nicht verschiedener sein. Aber Alle fesselte das Band gemeinsamen Vertrauens und jeder Einzelne war froh gestimmt. Egon durch die erfrischende Luft und das Vollgefühl der Genesung, ja im Stillen, ohne sich es merken zu lassen, auch durch die Spannung auf das Wiedersehen Helenen's, die, er mußte es sich leider gestehen, gerade auf das wiedererwachte Gesundheitsgefühl und die erhöhte Glut seiner Phantasie durch ihre hingebende Liebe bezaubernd wirkte. Dankmar erregt von seinem vielleicht sich günstig wendenden Processe, Siegbert von den gleichen Hoffnungen, [1707] die den Bruder belebten und von der angenehmen Befriedigung seines nach Liebe und Anlehnung schmachtenden Gemüthes in der Wäsämskoi'schen Familie; Louis endlich sehr glücklich gestimmt, sowol durch die Aussöhnung seines Glaubens an das liebreizende Fränzchen Heunisch, wie durch die Erinnerung an seine Selbstbeherrschung in der Scene auf seinem Zimmer. Hätte er sich stürmisch erklärt gehabt, Hoffnungen geboten, die er sich mühen mußte, zu erfüllen, er würde nur mit Beklommenheit an die glückliche Mittagsstunde zurückgedacht haben.

Zu gleicher Zeit mit dem Wagen ging ein Bedienter aus dem Portal des Palais, um den kleinen Brief zu der Gräfin d'Azimont zu tragen ... Egon verfolgte ihn, so lange er konnte.

Es war ein Donnerstag. Das Wetter so einladend. Die Luft stärkend. Die Sonne goldgelb. Der Himmel tiefblau. Einige Wolken in weiter Ferne konnten Regen bringen. Sie waren noch nicht da. Man ahnte das drohende Herannahen des entblätternden Herbstes. Noch hatte ihm aber die Natur den Eintritt nicht gestattet, nicht in den Wald, nicht auf die Wiesenflur.

Anfangs, innerhalb der Stadt, sprach man über mancherlei Unwesentliches. Es war nothwendig, daß diese vier Genossen erst den Ton der gegenseitigen Stimmung erkannten. Wer ist der Sprecher, der Zweifler, der Schweigende, der Witzige, der Praktische, der z.B. den hinten aufstehenden Bedienten diesen oder jenen Wink gibt, der [1708] Geographische, der gern von der Gegend spricht ... Das Alles stellt sich erst im Verlaufe der Unterhaltung zurecht. Von dem Vergangenen wurde noch Dieses und Jenes erörtert und bestaunt und belacht ... Dankmar's Verhältnisse kannte Egon noch nicht klarer und nahm sie, wie sie sich ihm an den beiden strebsamen Brüdern von selbst boten. Auch Louis wußte nichts von dem Proceß, über den sich Dankmar gern ausgesprochen hätte ... Egon aber war der Redner. Egon führte fast allein das Wort oder bestimmte wenigstens die Gegenstände der Unterhaltung. Dies lag weniger in seinem Naturell, als in seiner Stellung und in dem glücklichen Gefühle, sich genesen zu wissen, dem Leben wieder gegeben, von Augenblick zu Augenblick sich stärker fühlend.

Draußen vorm Thore, wo man, und zwar nicht zu rasch, unter einer Allee von vollen, schwertragenden hier und da gestützten Äpfelbäumen hinfuhr, kam durch eine zufällige Wendung das Gespräch wieder auf den Thomas a Kempis zurück.

Bei der Nennung dieses Namens wurde der schüchterne und Wahrheit liebende Siegbert blutroth ... Dankmar spielte mit seinem leichten Stöckchen und kniff es zuweilen oben am Knaufe zwischen seine blendenden Zähne. Er konnte ganz meisterhaft die Miene der Gleichgültigkeit annehmen ... Louis dachte schon gar nicht mehr an die Art, wie das berühmte Buch von der Nachfolge Christi in Egon's Hände gekommen war. Seine Gedanken waren mit der »Brüderschaft vom gemeinsamen Leben« beschäftigt.

[1709] Egon hatte in der Allee zwischen den würzig duftenden Äpfelbäumen gesagt:

Vor einigen Stunden las ich in dem Testamente meiner Mutter – du weißt, lieber Wildungen, daß ich die Mausgeburt des kreisenden Berges, den Thomas a Kempis, meine – und fühle nun recht, daß Das eine Lectüre für Menschen ist, die nur zu Fuß wanderten, selten über ihren Klostergarten hinaus kamen und alle ihre Anschauungen durch die vier Wände ihrer Zelle und den an ihnen aufgehängten Heiland regelten. Wäre ein solcher Bußprediger rasch im Wagen gefahren, hätte er eine Ahnung von der windschnellen Bewegung einer Eisenbahn gehabt, dies trübsinnige Kleben an den mageren und kahlen Bedingungen des Lebens würde ihm nie möglich gewesen sein.

Dankmar erinnerte den Prinzen an Das, was er ihm im Plessener Thurm über die Bigotterie der reformirten Erziehung in der französischen Schweiz gesagt hatte. Da wären doch die Gouvernanten, Bonnen, Erzieher, Geistlichen immer unterwegs und durch ganz Europa zerstreut und überall trügen sie doch die eigentümliche Auffassung ihres Le Bon Dieu, wie sie ihn nennen, mit sich herum ...

Weil dies Heuchler sind, lieber Dankmar! sagte Egon. Ein Thomas a Kempis war ehrlich und liebte die Welt nur in dem düstern Nebelkleide, das er über das Schöne, Frische, Lachende zog. Diese Erzieher aber, die mit wenigen Ausnahmen von ihrer Einseitigkeit ein Geschäft [1710] machen, verschließen absichtlich ihr Auge jedem Dinge, das Farbe hat, und jedem Dinge, das angenehm tönt, absichtlich ihr Ohr. O welche Heuchler! Ich erinnere nur an jenen Rafflard, von dem ich dir so oft sprach, Louis ...

Rafflard, wiederholten die beiden Brüder. Doch nicht Sylvester Rafflard? setzte Dankmar hinzu.

Sylvester Rafflard! Ganz recht! sagte Egon.

Der ist hier, fiel Dankmar ein.

Hier? Wieder in Deutschland? Und in welcher Eigenschaft? fragte Egon.

Er bereist die Gefängnisse, sagte Dankmar und verstand den Wink nicht, den ihm Siegbert zuwarf ... Siegbert war nämlich durch Rudhard davon unterrichtet, daß Rafflard in manche Verwickelung mit Egon's früheren und späteren Begegnissen gerathen war. Louis kannte ihn durch Egon als einen Jesuiten und hatte Siegbert schon erzählt, daß er ihn auf seiner Herreise an der Eisenbahn, die vom Rheine abführt, erkannt hätte. Der Name Sylvester fiel ihm nicht weiter auf.

Er bereist die Gefängnisse? fragte Egon erstaunt und lachte über die Unverschämtheit eines Mannes, den er zu gut kannte, um ihn nicht auch in dieser Mission als einen Heuchler zu nehmen.

Im Auftrag einer philanthropischen Gesellschaft in Paris, sagte Dankmar, die sich die Verbesserung des Looses der Gefangenen zum gemeinschaftlichen Zwecke gewählt hat. Man rühmt ihn in allen Blättern.

Egon lachte und schüttelte ungläubig den Kopf.

[1711] Glaubt doch Das nicht! sagte er. Ich kenne diese Gesellschaft, sie ist sehr ehrenwerth; ich kenne aber auch Rafflard und weiß, daß er von ihr kein Mandat empfing.

Er besucht die Gefängnisse, bestätigte Dankmar. Ich bin ihm selbst begegnet, wie er von unserm Criminaldirektor höchst gewissenhaft umhergeführt wurde und sich die sorgfältigsten Notizen machte, vor denen die Beamten zitterten.

Das muß ich gestehen! sagte Egon lachend. Dieser Rafflard ist aus Meudon im Canton Lausanne gebürtig, war erst reformirter Geistlicher, spricht Deutsch und Französisch und übernahm eine Erzieherstelle in unsern östlichen Provinzen, wo er im Hause einer Baronin von Osteggen sich ziemlich lange zu behaupten wußte.

Siegbert blickte bei Nennung dieses Namens nieder, weil ihn Dankmar spottend ansah.

Von da, fuhr Egon fort, vertrieb ihn mein früherer Erzieher, ein braver Mann, Namens Rudhard, der jetzt entweder an den Ufern des Schwarzen Meeres lebt oder verschollen ist oder todt ...

Egon's Begleiter wandten sich ab, um zu verbergen, daß sie wohl wußten, wo Rudhard war. Sie wür den gern von ihm gesprochen haben, wenn ihnen nicht bekannt gewesen wäre, daß Rudhard wegen der Gräfin d'Azimont seinem Zögling zürnte und aus Achtung vor der Wäsämskoi'schen Familie eine Wiederanknüpfung mit ihm nicht, zu eifrig suchte.

Von Rudhard, fuhr Egon fort, aus der Nähe der Familie [1712] Osteggen vertrieben, kam Rafflard wieder zu meiner Mutter nach Hohenberg. Dort zwar freundlich aufgenommen, fand er die Stellung, die er zu erschleichen suchte, besetzt. Der neue Pfarrer Guido Stromer übte schon einen großen Einfluß auf die Entschließungen meiner Mutter und Rafflard's Pläne mislangen. Er kehrte in die Schweiz zurück, benutzte aber von da aus die Bekanntschaft meiner Mutter zu einer sehr lebhaften Correspondenz, deren Endziel die glänzend vorgespiegelte Möglichkeit war, mir am Genfersee eine Erziehung zu geben, die ihres Gleichen suchte. So kam ich in das Institut des Herrn Monnard, bei dem Rafflard Lehrer war, und Rafflard wurde mein Specialerzieher. Während die äußeren Formen der geistigen Appretur, die man mir zu geben trachtete, streng kirchlich blieben, spekulirte Rafflard anders. Er dachte, die reifere Natur eines höher gestellten Adeligen wirft doch wol mit der Zeit diese künstliche Hülle eines orthodoxen Mechanismus ab, und weit besser ist es für deine Zukunft, du wirst der Vertraute, als der Richter deines Zöglings! ... Er buhlte auf die widerlichste Art um meine Freundschaft, hob mich weit über meinen Bildungsgrad empor, verspottete im vertrauten Umgange Das, was er öffentlich vor den andern Mitschülern gelehrt, gutgeheißen, empfohlen hatte. Anfangs glaubt' ich armer befangener, an Gewissensskrupeln leidender Knabe, diese Methode des Professors Rafflard, meines Specialerziehers, sollte mich nur prüfen. Ich lächelte über ihn, ich schauderte, ich erschrak. Aber immer sicherer machte er mich und trug mir [1713] völlige Freundschaft an, ein Mann von damals wol fast vierzig Jahren einem Knaben von funfzehn oder sechszehn! Als diese Schändlichkeiten den höchsten Grad erreicht und fast mein sittliches Gefühl untergraben hatten, wurden sie entdeckt. Man fand einen Band des Casanova in meinem Bett und ich gestand, daß ihn Rafflard mir geliehen. Er wurde sogleich aus der Anstalt entfernt und mußte Genf meiden. Von Annecy schrieb er mir einen zärtlichen Brief, worin er mir Vorwürfe machte, daß ich die Pflichten der Freundschaft verletzt hätte. Dieser Brief machte mir großen Kummer, doch wagte ich nicht, ihn zu beantworten. Später schien Rafflard verschollen. Ich hörte, daß er nach Turin gegangen war. Manche behaupteten schon da, er wäre katholisch geworden. Ich verließ Genf, studirte in Bonn, Göttingen und führte ein sehr verkehrtes Leben, bis es mich nach dem schönen Genfersee zurückzog. Ein Vierteljahr mocht' ich in Genf gelebt haben, als nach einer wol vierjährigen Abwesenheit Rafflard wieder auftauchte. Er behauptete, mit reichen Engländern in Italien als Hauslehrer gereist zu sein, wollte Rom, Neapel und sogar den Berg Athos in Griechenland gesehen haben. Andere behaupteten aber, er hätte in dem Jesuitenstifte zu Turin alle Weihen empfangen und sich einer langen Vorbereitung auf eine künftige Wirksamkeit unterworfen. Sogleich suchte er mich auf und weinte über das Vorangegangene ... Es ist die katzenartigste Natur, die ich je in meinem Leben gekannt habe. Denkt Euch, wie gefährlich ein solcher Mensch ist, wenn er wirklich jenem [1714] Bunde dient, woran kaum ein Zweifel! Er spricht vollkommen drei Sprachen, kann überall wirken, in Deutschland, Frankreich und in Italien. Er kennt alle Länder nach ihren Sitten und geographischen Bedingungen. Die Gründe, warum er aus Monnard's Anstalt entfernt war, kannte man nicht. Es lag zu sehr im Interesse eines solchen in allen Ländern bekannten Pensionats, daß über die inneren Vorgänge das größte Geheimniß obwaltete. So konnte Rafflard wagen, in Genf wieder aufzutreten. Der alte Monnard, ein schwacher, pedantischer Mann, war gestorben. Rafflard lebte wie ein reformirter Heiliger, besuchte alle Kirchen und mischte sich in alle religiöse und politische Streitigkeiten des kleinen Freistaates. Doch erregte er überall Mistrauen und stand so wenig sicher, daß er gleich nach einem Streite, in den ich mit ihm an der Mittagstafel des Syndikus Lhardy verwickelt wurde, sich nicht mehr länger zu behaupten wagte. Ich hatte nämlich vor seiner Tartüfferie den größten Abscheu und lehnte alle seine Vertraulichkeiten ab. Als an jener Tafel das Gespräch auf den alten Monnard kam und er die Frechheit hatte, die reine reformirte Gesinnung des Verstorbenen in Zweifel zu ziehen, brach ich mit der Äußerung hervor: Es ist freilich sehr wenig rechtgläubig von dem alten Monnard gewesen, daß er einen Lehrer aus der Anstalt entfernte, der seinen Zöglingen den Casanova zu lesen gab! Ich hatte viel von dem guten Côte d'or des Syndikus getrunken, das rothe Traubenblut war mir in den Kopf gestiegen und so entfuhr mir die Äußerung, die plötzlich [1715] auf die ganze zweideutige Erscheinung des Professors Rafflard ein erläuterndes Licht warf. Rafflard schoß mir einen Blick wie ein Basilisk zu und verschwand bald. Ich ging, überdrüssig meiner leeren, nichtssagenden und mannichfach gehemmten Existenz, nach Lyon, kam von da nach Paris und habe Rafflard dann im Hause der Gräfin d'Azimont, seiner früheren Schülerin, wiedergetroffen. Er wurde aber auch von dort entfernt, weil er sich in die Familienangelegenheiten mischte. Nur die alte Gräfin d'Azimont, eine hochfahrende und den Jesuiten ganz ergebene Dame, behielt ihn für sich und intriguirt mit ihm gemeinschaftlich nach allen nur möglichen Richtungen hin. Wenn er hier ist, sollte es mich gar nicht wundern, daß er den Auftrag hat, mich und die Gräfin d'Azimont zu beobachten, zu trennen, zu entzweien, sie nach Paris zurückzuführen, mich zu umspioniren, mir in meinen Freunden wehzuthun, mir zu schaden wo er kann. Wenn er vorgibt, die Gefängnisse zu studiren, so ist Das eine Maske für andere Pläne. In Paris hält man ihn für einen Jesuiten und ich kann wohl begreifen, daß dem Orden die Verwickelungen und Wirren im Herzen Europas auf unserer deutschen Erde keineswegs gleichgültig sind!

Als Egon geendet hatte, fuhr der Wagen gerade über den Einschnitt einer Eisenbahn und bog zur Seite ab, einer Gegend zu, die immer anmuthiger und gefälliger wurde. Es war ein Thal, das sich dem in der Ferne blitzenden Strome zu abwärts senkte und an seinen äußersten Grenzen, über den Strom hinaus, wieder von der [1716] blauen Erhöhung eines Bergrandes geschlossen wurde. Links und rechts weideten Heerden auf den gemähten Stoppelfeldern und dem noch üppigen, lachenden Grün der Wiesen, die in ein schimmerndes Birkengehölz sich verloren. Dies Vorgehölz ging zuletzt allmälig in eine dunklere Waldung über. Der Charakter der Gegend war einfach, aber außerordentlich belebend und anregend.

Louis fühlte über die leichte Art, wie Egon von der d'Azimont sprach, einen tiefen Schmerz ... Siegbert ergriff diese Erzählung Egon's als Mittel, um sich über des Prinzen Charakter klarer zu werden. Auch er kannte die Geschichte Louison's und konnte es vor seinem Herzen nicht ganz gerechtfertigt finden, daß Egon etwas leicht über so schwierige und delikate Beziehungen hinwegging ... Dankmar aber haftete an einer andern Gedankenreihe fest, die sich bei ihm durch die einfachen, vor sich hingesprochenen Worte kundgab:

Diese Jesuiten!

Ja, die Jesuiten! wiederholte Egon und zu Armand sich wendend, sagte er:

Ja Das sind die rechten Brüder vom gemeinsamen Leben, von denen wir heute sprachen, Louis, und zu denen Thomas a Kempis auch gehörte.

Thomas a Kempis ein Jesuit? sagte Louis verwundert und verrieth nun einmal auch ein wenig stark seine historischen Mängel.

Nein, Louis! antwortete Egon lachend. Ich kenne, da ich in Genf viel mit der Kirchengeschichte geplagt wurde, [1717] sehr gründlich manche Dinge, die mir später von geringem Werthe wurden. Thomas a Kempis gehörte zu einer Brüderschaft vom gemeinsamen Leben. Mein guter Louis erklärte ihn darauf frischweg schon für einen Communisten ...

Lachen mochten die Brüder nicht, weil sie fürchteten, den wenig unterrichteten, ihnen aber ehrenwerthen Handwerker zu verletzen.

Es gab, fuhr Egon fort, im Mittelalter eine Menge von halbgeistlichen, halbweltlichen Genossenschaften, die den Mönchs- und Ritterorden nachgebildet waren. Sie hatten oft so eigenthümliche Formen, daß sie in den Ruf der Ketzerei kamen. Da waren die Beguinen, die Begharden, die Brüder und Schwestern vom freien Geiste, die Apostelbrüder, die Brüder und Schwestern vom gemeinsamen Leben. Sie gehörten Alle der Welt an, vereinigten sich aber zuweilen zu ausschließlich religiösen Übungen. Ihr innerer Zusammenhang war der der gegenseitigen Unterstützung, der Wohlthätigkeit. Manche vereinigten sogar offenbar politische Zwecke mit ihrem nächsten Berufe. Sie unterstützten die öffentliche Sicherheit. Wie es in Deutschland einen Vehmbund gab, der die Gerechtigkeitspflege in bekannter eigner Art förderte, so gab es in Spanien ähnliche Brüderschaften, die dort aus freien Stücken und Fanatismus leider der Inquisition dienten und förmlich deren Handlanger waren. Die Gewerke traten zusammen und schützten sich wechselseitig gegen die Gefahren der Gesellschaft. Die Bauhütten, aus denen der [1718] Freimaurerbund entstanden sein soll, hatten kaum einen andern Zweck; denn gerade die Maurer, Zimmerleute, Steinmetzen reisten damals von Ort zu Ort, um bei den großen Bauten des Mittelalters mitzuwirken, und bedurften einer solchen auf gemeinschaftliche Erkennungszeichen begründeten Erleichterung einer überall leicht aufzuschlagenden Heimat. Dieser Trieb zur Vereinigung ging soweit, daß die Kalandsbrüder fast nur zur Erheiterung und gesteigerten Geselligkeit zusammentraten und auch bei einer so reinweltlichen Bestimmung vom Papste keine Bestätigung mehr fanden. Es ist dies ganze Wesen der Anfang der Freimaurerei und des Jesuitenordens, der beiden größten Genossenschaften, die sich in ähnlicher Art in unserer Zeit erhalten haben.

Siegbert bewunderte diese reichen Kenntnisse ...

O, sagte Egon, mein Gedächtniß ist mit vielem alten Wust beschwert und ich freue mich, daß man Gelegenheit findet, so etwas manchmal doch an passender Stelle loszuwerden.

Louis behauptete, daß die Gütergemeinschaft von den Aposteln selbst wäre gepredigt worden, mußte sich aber gefallen lassen, daß Egon ihm scharf entgegnete.

Mein lieber Freund, sagte er, es ist ein Unterschied, wenn eine kleine christliche Gemeinde, die in der großen, unermeßlichen Römerwelt sich bildete, sich entschließt, um ein gleiches Interesse und gegenseitige Unterstützung zu haben, zusammenzutreten und aus einem Topf zu essen, als wenn diese unermeßliche Römerwelt selbst [1719] damals ihr Eigenthum hätte zusammenbringen und mit Durchführung der langweiligsten Art zu rechnen und zu leben die Besitzquote des Einzelnen verwalten wollen. Wenn Das Communismus sein soll, daß drei arme Familien sich entschließen, statt auf drei Heerden Feuer zu machen, es nur an einem zu thun, so bin ich sehr für den Communismus. Und in diesem Sinne bin ich überzeugt, hatten die Brüder vom gemeinsamen Leben einen sehr respektablen Mittagstisch und Thomas a Kempis war ein Communist, der es sich sehr gut konnte schmecken lassen.

Egon, der immer wieder zu der eigenthümlichen Sicherheit und unvertilgbaren aristokratischen Haltung emporwuchs, die Dankmarn auf der gemeinschaftlichen Reise nach Hohenberg schon aufgefallen war, gab darauf Louis die Hand und bat ihm seinen Spott ab.

Ich liebe das Volk und die Arbeit, sagte nach einer Pause der unterrichtete, denkgewandte Fürst. Aber die falschen Lehrer sind, um im biblischen Stile zu bleiben, die wahren Versucher, die ihre Teufelsgestalt ablegen, um uns zuzumuthen, man könnte ganz Jerusalem gewinnen, wenn man niederfällt und sie anbetet oder sich einbildet, Steine könnten in Brot verwandelt werden ... He! Louis, was grübelst du?

Daß ich morgen anfangen werde zu arbeiten! sagte dieser ruhig.

Und ich werde gleichfalls irgend etwas ergreifen, sagte Egon, um das Recht zu haben, so sprechen zu dürfen.

Siegbert kannte die Gedankengänge seines Bruders [1720] und ermunterte ihn, sich doch einem so klaren und unterrichteten Kopfe, wie diesem jungen Fürsten Egon gegenüber, der ihnen zu einer immer bedeutenderen Erscheinung heranwuchs, über seine Idee von einer eigenthümlichen Abkürzung unserer Geisteskämpfe auszusprechen.

Mein Bruder, sagte er, beneidet sehr oft die Jesuiten um ihre Organisation. Er behauptet, der Jesuitenorden in seiner Form, aber mit einem edlen Inhalte, könnte die Welt erlösen.

Egon und Louis horchten auf.

Ich meine, sagte Dankmar, daß denn doch aus allen Beispielen, die uns unser Freund Egon da von vergangenen Tagen angeführt hat, ein tiefes und altes Bedürfniß der Menschheit sich ergibt, sich von den zufälligen Bedingungen der Existenz, in der ein Jeder leben muß, zu befreien. Wir sind hineingeschleudert in diese Welt ohne Schutz, ohne Führer. Wir müssen ringen, auf eigene Hand unsern Antheil an, ich will nicht sagen Glück und Lebensfreude, sondern nur an der Möglichkeit zu existiren, zu gewinnen. Wir sind wie hungrige wilde Thiere, fallen ohne Schonung über die Beute her, die wir erreichen können und mäßigen uns nur durch jenes Quantum von Religion, Sittlichkeit, Gewissenhaftigkeit und gemüthlichem Temperamente, das wir entweder schon bei unserer Geburt mitbekommen haben oder in der Luft, in die wir versetzt wurden, gewinnen konnten. Ein Mensch zu sein, ist das große allgemeine Band, das uns umschließt; aber gewährt [1721] uns dieses Menschenthum irgend einen andern Vortheil als den der Race, den der veredelten Potenz des Thieres? Wo hab' ich denn Brüder, die stolz sind, in mir sich selber wiederzufinden? Wo liegt denn irgend eine Bürgschaft, daß wir die großen Zwecke des Lebens auf die einfachste, sicherste, kürzeste und glückliche Weise erreichen? Da ist es nicht zu verwundern, daß die Menschen zu allen Zeiten gedacht haben, sie müßten sich durch Verabredung und Gesinnung noch in eine zweite moralische Welt einkaufen, die enger, umgrenzter ist als die große sichtbare, aber die Ihrigen auch liebevoller und wärmer hegt und beschützt. Die Religion, das Christenthum vor allen Dingen, sollte einst diese zweite Welt sein, wo wir als Glieder einer unsichtbaren Kirche uns zu lieben haben. Aber die unsichtbare Kirche wurde leider zu früh eine sichtbare und ihr großer Bau wurde wieder die Welt selbst, die Niemanden schützt. Es sonderten sich nun Stiftungen, Klöster, Orden von ihr ab; Confessionen zerbröckelten diesen riesigen Tempel. Er ist Denen nur noch eine Heimat, die irgendwo einen kleinen von verfallenen Säulenschaften eingefriedigten, mit dunklem Gebüsch überwucherten Seitenhof in ihm finden, wo sie in ihrer Weise Christen sind und im Abendschimmer, von Nachtgevögel erschreckt, zu dem Geist, der in diesen Trümmern lebte, beten. Der Staat ist kein Bund der Menschheit, die Gesellschaft ist grausam und lieblos, die Fürsten behandeln die Völker wie ererbtes Eigenthum, wie ich meinen ererbten Garten behandeln würde, ich säe und ernte auf ihm und lass' ihn mir wohlgefallen.

[1722] Das Leben ist eine große Gefahr! Wie schützt man sich anders vor ihr, als daß man zusammentritt, sich verabredet und durch gemeinschaftliche Kraft die Kraft des Einzelnen stärkt? Ein jeder Bund dieser Art sollte die Aufgabe haben, einst der Bund der ganzen Menschheit zu werden. Ich sehe keine Möglichkeit, daß die Hebel der Geschichte, die jetzt im Großen und Offenen wirken, das Glück der Erde fördern können. Wohin sollen diese Staatenumwälzungen, diese Intriguen der Parteien, diese Leidenschaften führen? Nirgends eine Verständigung über das Princip des Streites, nirgends eine freie, freudige Unterordnung des Einzelnen unter das Allgemeine. Ich sehe nicht ab, was uns anders retten kann, als gerade mitten in dieser Epoche der breitesten Verallgemeinerung, wo Alles erkaltet auseinanderfällt, das enge, die behaglichste Lebenswärme ausströmende Isoliren.

Das hast du vortrefflich gemacht, Dankmar, sagte Egon, als Dankmar mit seiner begeisterten Rede zu Ende war. Ja, ja, so ist's! Aber da müßte ein neuer Messias kommen!

Ein einzelner Mensch kann in unsern Tagen nicht mehr ein Messias sein, sagte Dankmar. Die Ideen sind es, die jetzt als Erlöser und Propheten auftreten. Die Menschheit selbst muß sich Messias sein. Die Menschheit als Menschheit ist verloren, sie kann nur durch einen Bund wieder sich selbst gerettet werden.

Einen Geheimbund? fragte der Fürst zweifelnd.

Durch einen Geheimbund! sagte Dankmar.

[1723] In der Form des Jesuitenordens? rief Egon. Nein, nein! Ich hasse Alles an den Jesuiten, ihr Inneres und ihr Äußeres. Doch sag' uns, was du denkst.

Louis und Siegbert hörten mit großer Spannung.

Dankmar rüstete sich seine ganze Meinung zu sagen.

[1724]
12. Capitel. Die Ritter vom Geiste
Zwölftes Capitel
Die Ritter vom Geiste

Ich denke, begann Dankmar, daß man etwas erfinden muß, um den großen Proceß des Zeitalters abzukürzen. Welche verlorenen Worte! Welche geopferten Anstrengungen! Alles rennt durcheinander, Alles leidet an der schon unmöglichen nächsten Verständigung! Die Einzigen, die da wissen, was sie wollen, sind die Jesuiten und die Freimaurer. Jene verfolgen in ruhiger Consequenz, unbekümmert um die jeweiligen Störungen ihres sichren Friedens, das Ziel, die Menschheit in den Fesseln kirchlicher Abhängigkeit zu erhalten. Diese, ihr schnurgerades Widerspiel, sind nicht ganz so friedfertig und still, wie sie sich das Ansehen geben. Wo sie nur können, suchen auch sie ihrem Ziele den Weg zu bahnen und dies Ziel wird wol die Freiheit des Menschen von jeder positiven Bevormundung und die Ausbildung einer reinen Humanität sein. Ohne Zweifel ist diese letztere Aufgabe eine brave, aber viel zu allgemeine. Wenn man immer und immer von der Menschheit spricht, verliert man den Menschen selbst aus dem Auge, und wenn man sagt, die Besserung der Welt finge damit an, daß man sich selbst bessere, so artet [1725] eine solche Lehre noth wendig in Trägheit, Sorglosigkeit, Genußsucht aus, die ja bekanntlich auch längst der zerstörende Schwamm an den unsichtbaren Bauten der Freimaurer ist. Nimmer auch werden wir zu einem Ziele gelangen, das wir uns, ich will nur sagen, etwa über die Lage Europas willkürlich ausdenken. Wer kann die Bürgschaft geben, daß diese oder jene Form der staatlichen, kirchlichen, gesellschaftlichen Gestaltung die allgemein genügende und Jeden beglückende sein werde? Auf eine zukünftige Schöpfung hin kann kein Bund zusammentreten, wohl aber bedarf die Zeit einen Bund für den Geist dieser Schöpfung. Der Geist ist dies allgemeine flimmernde Sonnenlicht, das über unserm Zeitalter unsichrer zittert als jemals über einer Epoche. Das christliche Zeitalter, die mittlere Zeit, die Reformation wußten, wofür die Herzen erglühten. Wir aber gehen in der Irre und benutzen die Waffen des Geistes zu jedem Kampf gegen ihn. Der Kampf der Finsterniß gegen das Licht wird mit Waffen des Geistes geführt. Les't nur, was so viele poetische Köpfe für die politische und kirchliche Abhängigkeit des Menschen geschrieben haben! Die Tobsucht der Massen, die Wuth des Umsturzes wird von Waffen des Geistes unterstützt. Nichts ist jetzt dienender als der Geist, und die Entscheidung soll nur noch von der Materie kommen! Darüber wird die sittliche Welt zu Grunde gehen; denn die allgemeine Anarchie, das Chaos der Bildungslosigkeit, die Tyrannei der Bildungsverachtung nenn' ich den Untergang der Welt. In einer solchen [1726] Gefahr für die Scheinwahrheit der katholischen Kirche trat einst Ignatius Loyola auf und predigte den nach innen gewandten Kreuzzug, stiftete einen geistlichen Ritterbund für die innere Mission, machte das Wort, den Glauben zur Waffe; mancher Jesuit unterstützte seine stumpfen Gründe durch die Schärfe des Dolches. Es war ursprünglich so schlimm mit Gift und Dolch nicht gemeint. Man wollte nur einen Bund des katholischen Geistes gegen die Ketzerei stiften. Wohlan! So stifte man einen Bund des allgemeinen Menschengeistes gegen den Misbrauch der physischen Gewalt! Wo seh' ich nicht die physische Gewalt? Überall! Das Recht des Besitzes soll das Recht des Eigenthums sein. Der Eine bewaffnet sich mit stehenden Heeren, der Andre mit der Brandfackel des Aufruhrs. Wo seh' ich Menschen, die, ich will nicht sagen, wie die Jesuiten sagen, daß sie glauben, nicht, wie die Freimaurer sagen, Menschen, die sich lieben; nein, wo seh' ich Menschen, die nur denken? Es gibt eine kleine Leiter von Begriffen, die so einfach, so tief in der Menschenbrust begründet sind, daß sie die einfachste Intelligenz erklimmen kann. Auf diese Begriffe hin reiche sich die Menschheit die Hand, beschwöre sie und erkläre feierlich, auf diesen Schwur hin, nur noch leben und sterben zu wollen! Ein solcher Bund des freien Geistes nur funfzig Jahre in Wirksamkeit und die Streitfragen werden vereinfacht, die alten, wie Schlinggewächs wuchernden Unbilden werden von selbst verdorrt und zusammengefallen sein.

Egon schwieg nachdenklich.

[1727] Louis Armand aber und Siegbert waren ergriffen und schenkten diesem Gedanken ihre volle, laute Zustimmung.

Nur das Eine erlaubte sich Louis zu bemerken:

Werden Sie uns dadurch nicht eine neue Aristokratie stiften? Die Aristokratie des Geistes, die vielleicht nicht so schlimm wie die der Geburt, aber doch sicher eben so lästig werden kann wie schon die des Geldes ist?

Dankmar lehnte diese Befürchtung ab.

Der befreiende, erlösende, verständigende Geist, sagte er, wird niemals der der Gelehrsamkeit sein. Die Brüder des neuen Bundes beschwören gewisse Begriffe, für die sie wirken müssen. Diese Begriffe sind einfach wie das Licht der Sonne. Sie sollen keinen andern Beweis für sich haben, als daß sie erhellen und erwärmen. Sie sollen die Möglichkeit erleichtern, daß gleiche Gesinnungen sich durcheinander stärken. Sie sollen dem großen Kampfe der Zeit den starken unüberwindlichen Phalanx der Übereinstimmung geben. Sie sollen die Fahne aufstecken, unter der sich die Gleichgesinnten rasch und ohne langes Ergründen und furchtsames Ausforschen versammeln. Warum erkennen sich denn überall die Jesuiten? Warum müssen es die Freimaurer? Warum sollen sich nicht auch rasch die Männer von gleicher Denkungsart über die wahre Aufgabe unsrer Epoche erkennen? Ich weiß, daß sich Lüge und Verstellung auch in meinen Bund schleichen wird. Allein unter den Mördern, die Jesuiten gedungen haben, hat der Jesuitenorden bei den gläubig [1728] Katholischen selbst nichts gelitten; unter vielen herumziehenden Lumpen und Bettlern leidet die Maurerei an sich ebenfalls nicht: was können Verräther da thun, wo es sich nicht um verabredete Unternehmungen, verabredete Thaten, sondern lediglich um eine feste, ihre Aufgabe von selbst begreifende Gesinnung handelt?

Ich wäre schon einverstanden, sagte Egon, wenn der Bund, von dem du wirklich sprichst, als wäre er schon gestiftet, nur kein Geheimbund wäre.

O wohl, lieber Egon, rief Dankmar in hoher Erregung, wohl, er ist schon gestiftet; denn alle Welt sehnt sich nach diesem Bunde. Nur die gesinnungslosen Menschen und die Tyrannen haben nicht das Bedürfniß, sich durch die Übereinstimmung mit den Gleichgesinnten zu stärken. Wer in dieser Welt lebt und denkt, wer da fühlt, daß er, um sein Theuerstes zu sichern, nicht der materiellen Mittel allein bedürfen möchte, der steht schon an der Pforte meines neuen Tempels und begehrt Einlaß. Und Geheimes haben wir nichts, wenn wir auch geheim uns halten wollen. Wir werden einen Ritus der Aufnahme haben, uns aber nur auf Wahrheiten verpflichten, die allgemein bekannt sein dürfen. Das Kleinod liegt eine Zeitlang in einem Schrein und wird herausgenommen, offen zur Schau getragen, Allen gezeigt, wenn es Zeit ist. Nachdem es glänzte, geht es in seinen Schrein zurück. Die Natur jedes polemischen Gedankens, der sich durch Gleichgesinnte stärken soll, bedingt die geheime Bewahrung. War das Christenthum nicht anfangs eine Lehre, [1729] die bei geschlossenen Thüren bekannt wurde? Wohl uns, wenn unsere Geheimnisse so große Zeugnisse für uns ablegen, daß der Bund immer größer, immer umfassender wird und endlich alle Menschen aufnimmt. Einer verwilderten Menschheit kann nicht anders geholfen werden, als daß Die, die das Bessere wollen, bei Seite treten und dem großen Haufen zurufen: Sondere sich ab, wer wie wir fühlt und denkt!

Und noch Eins, fiel Egon ein, der noch immer ungläubig blieb, überlegst du wohl, lieber Freund, woher die Jesuiten und, soviel ich weiß, auch die Freimaurer, ihre eigentliche Kraft nehmen? Aus dem Gelde! Freimaurer sind nur wohlhabende Leute und die Jesuiten sind an Gütern so reich ausgestattet und werden noch täglich so reich damit gesegnet, daß die Gedanken dort auch ermunternde und nachhelfende materielle Hebel haben. Diese alten Brüderschaften des Mittelalters waren unglaublich reich. Sie hatten gut entsagen und die christliche Commünauté lobpreisen! Die Brüder und Schwestern vom freien Geiste lebten nicht vom Geist allein, sondern ihr Geist war so frei, sich es auch an irdischer Speise nicht fehlen zu lassen. Die Kalandsbrüder, die ich nannte, diese mittelalterlichen Freimaurer, die an jedem Kalandstage, dem ersten des Kalenders, monatlich zusammenkamen, um unter religiösen Formen gut zu essen und noch besser zu trinken, hatten Häuser, Liegenschaften, Zollgefälle. Die große Elbbrücke in Dresden warf ein Jahrhundert lang den grauen oder Kalandsbrüdern auf der dortigen Brüdergasse [1730] den Brückenzoll ab. Von den großen Reichthümern der geistlichen Ritterorden zu schweigen! Die Templer waren so reich, daß sie ihre große Aufgabe unter Schwelgereien vergaßen und von Philipp von Frankreich, der ihre Güter besitzen wollte, mit Feuer und Schwert vertilgt wurden. Die St.-Johanniter und Deutschherren haben noch einen Überfluß von Gütern und Liegenschaften und Sinekuren ....

Sinekuren! unterbrach ihn Dankmar lächelnd. Das ist das rechte Wort! Will mein Bund sich erhalten, so haben wir durch diese Parallele wenigstens schon Das gewonnen, daß wir nicht zuviel Geld haben dürfen, nicht so viel, um sine cura für die Hauptsache sein zu dürfen.

Nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig! sagte Egon.

Gerade so viel, als man für den Anfang braucht! erwiderte Dankmar lächelnd mit einer eigenthümlichen Bestimmtheit.

Bester Freund, wo käme aber auch das Wenige her? Die Männer von Gesinnung sind arm!

Richtig! Deshalb brauchen wir etwas Geld. Etwas! Nicht viel, aber auch nicht zu wenig!

Egon lachte über Dankmar's sonderbare finanzielle Ruhe ...

Das ist komisch, sagte er, ein Bund für die Freiheit, gestützt auf Actien, escomptirt vielleicht an der Börse?

Das Geld wird sich finden, muß sich finden! behauptete Dankmar.

Für einen Juristen bist du sehr Idealist! sagte Egon[1731] fast gereizt. Geld findet sich niemals, bester Freund! Alles findet sich, aber niemals Geld.

Doch! Doch! Es findet sich! wiederholte Dankmar, und durch den Ton nicht allein, in dem er die Erneuerung dieser Hoffnung vortrug, sondern auch durch eine überraschende Entdeckung, die die Freunde machten, war dies Gespräch vorläufig abgebrochen ... Sie waren nämlich schon längst in jenen anmuthigen, schattigen Park, in dem das Lustschloß Solitüde lag, eingefahren, als sie in der Ferne langsam unter der großen Hauptallee, die zum Schlosse hinaufführte, mehre sechs- und vierspännige königliche Wagen fahren sahen ... Die Anwesenheit des Hofes auf Solitüde hinderte zwar nicht im geringsten die dort erlaubte freie Bewegung des Publikums, aber die sich dem Anstand von selbst darbietenden Rücksichten machten es oft unmöglich, dann die einzelnen schönen Punkte des Schloßgartens so zu genießen, wie sie es ihrer Lage, frischen Luft und angenehmen Aussicht wegen verdienten ... Egon vollends, der eine Beziehung zum Hofe nicht suchen mochte, gerieth in Verlegenheit und wäre gern umgekehrt. Dankmar und Siegbert wagten kaum ihm zuzureden; denn, sagten sie, wer bürgt dafür, daß der junge Fürst nicht erkannt oder wenigstens mit der höheren Hofbedienung in ein Gespräch verwickelt wird! Und Dankmar setzte sogar hinzu:

»Wer schützt dich, wenn du durchaus die Begegnung noch vermeiden willst, vor einem Akte der Herablassung? Die königlichen jungen Herrschaften machen es sich zur [1732] Aufgabe, wo sie können, sich in Gespräche und Anreden zu verlieren. Es wird ihnen sehr schwer; denn sie sind schüchtern und beklommen, allein die Oberhofmeisterin von Altenwyl, sagt man, dringt immer darauf und der regierende Fürst selbst hat einen Reiz dazu, sich volksthümlich zu machen, seitdem sein Bruder Ottokar so allseitige Huldigungen empfängt. Der ältere Bruder ist ohne Zweifel sehr unterrichtet und für Alles interessirt, aber zurückhaltend und sogar mistrauisch. Nur der größere Muth seiner Frau ermuntert ihn. Dann wirft er sich so gewaltsam in den Drang, sich Erfolge zu machen, daß es beängstigend wird und man aus einer solchen Begegnung mit dem Gefühle scheidet, wie man hier nur zu einem kalten Rechnenexempel der theoretischen Monarchie eine dumme und armselige Zahl abgegeben hat. Ein erwärmtes Gefühl, eine gesteigerte Hingabe an diese nicht sehr glücklichen, einsam stehenden Menschen bleibt kaum zurück.

Wie es nun aber bei solchen Bedenklichkeiten zu gehen pflegt, man spricht sie aus und thut doch gerade Das, was man vermeiden wollte.

Die Bedienten hatten den Schlag geöffnet, das große gußeiserne Portal des Schloßgartens stand geöffnet, sie traten in die saubergehaltenen Wege und die trotz der vorgerückten Jahreszeit noch bunt und mannichfach belebten Bosquetts ein.

Siegbert erbot sich zum Führer. Er kannte hier alle verschlungenen Pfade, die an die große berühmte Terrasse [1733] führten, und auch die, welche erst die noch geöffneten Treibhäuser und einen kleinen See mit Schwänen, eine Volière mit anmuthigem Gevögel, das eine ausgestopfte Eule umschwirrte, eine andere Umzäunung sehen ließ, in welcher einige Rehe hausten, die mit ihren sanften weiblichen Augen durch die Gittersprossen lugten ...

Man entschied sich dafür, den kürzesten Weg zu wählen. Nach einer der Anmuth des Gartens gespendeten Anerkennung und einigen Vergleichen, die Egon und Louis mit Versailles, besonders aber dem natürlicheren und parkähnlich gepflegten St.-Cloud zogen, kam das Gespräch auf den Hof, die Politik, den Geheimbund zurück und Egon ergriff die Gelegenheit, sich über seine künftige Stellung zu der Gesellschaft und zu diesem Staate selbst, in dem er einen so glänzenden Namen führte, auszusprechen. Dankmar's Verzweiflung an allem Gegebenen schien er, sich auf Louis im Gehen stützend und in dem gekieselten Sande seine noch etwas müden Füße nachziehend, nicht zu theilen.

Ich werde nicht ganz zurückgezogen leben! sagte Egon. Die große Sorge um meine ruinirten Besitzungen hat mir einstweilen ihr Pächter, dein amerikanischer Landwirth Ackermann, abgenommen. Ich will sehen, wie lange ich mich mit den Hoffnungen auf eine mögliche Wiederherstellung dieser traurigen Verwüstung beruhigen kann. Inzwischen soll mein Hauswesen vereinfacht werden. Es sind zu viel Menschen um mich. Wozu zwei Diener, die da hinter uns schleichen und aufpassen, daß doch Einer von [1734] uns ja sein Taschentuch verlieren möchte, nur um sich durch dessen geräuschvolles Aufheben nothwendig zu machen? Wozu die vielen Frauen in meinem Hause? Den alten Haushofmeister pensionirt man. Ich habe acht Pferde und kann mich mit vier begnügen. Mein Mittagstisch war heute überladen. In allen diesen Dingen hab' ich die einfache Ordnung der Natur kennen gelernt und Louis wird mir beistehen, sie auch hier innerhalb der Grenzen, in denen ich nun einmal leben muß, einzuführen. Dann will ich suchen Bekanntschaften zu machen, die mir von Nutzen sein müssen, sonst vermeid' ich sie, denn sie kosten nur Zeit. Und zuletzt – hab' ich einen Lieblingsplan, den ich aus Paris mitbrachte ...

Egon sah Louis an, der beifällig nickte. Die Andern hörten gespannt.

Auch ich will einen Verein stiften, sagte Egon. Aber keinen geheimen, lieber Wildungen, und keinen, der sich auf das Wandelbarste im Menschen, auf die Gesinnung stützt. Ich denke an einen Verein zum wechselseitigen Schutze der Arbeit. Ich habe nicht umsonst mein Stemmeisen und den Hobel geführt. Ich kenne die Bedürfnisse der Arbeit, ich achte den Handwerker und fühle mit ihm. Es muß viel, viel geschehen, um ihn besser zu stellen, als dies bisher der Fall war. Aber höher noch, als der Arbeiter, steht mir die Arbeit selbst. Die wird nicht genug geehrt, die nicht heilig genug gesprochen. Und was anders kann uns von unserm Elend wahrhaft erlösen als die Arbeit? Die Arbeit, bester Dankmar, die in ihre Rechte, in[1735] ihre Würde eingesetzt, und das hohle Treiben der Leidenschaften hört auf. Ich bin streng, ich habe die Theorie nicht der Menschenrechte, sondern der Menschenpflichten. Alles will mit der Geburt Ansprüche erworben haben auf ein Utopien von Glück und Freiheit. Niemand lehrt, daß uns die Geburt darauf anwies, das Recht, ein Mensch zu sein, durch die Arbeit zu verdienen. Ist diese Lehre erst allgemein, dann wird auch die Gelegenheit, die uns wurde, geboren zu werden, als eine Quelle des Glückes und der Freude erkannt werden. Freilich fühl' ich, daß ich mit dieser Lehre allein stehen würde, wenn ich nicht versuchte, mit ihr in die großen Debatten unserer Zeit mit einzugreifen. Schriftliche Darstellung gelingt mir nicht, die mündliche müßte eine Tribüne haben. Ich glaube, daß ich, von einem Gegenstande gedrängt, ein Redner sein könnte. Ein übervolles Herz ist ja das erste Bedürfniß eines Redners, und ich glaube, ein solches übervolles, zum Sprechen drängendes Herz besitze ich –

Die Tribüne ist da, sagte Dankmar, als Egon stockte. Laß' dich in eine unserer deutschen Kammern wählen! In die hiesige!

Daß ich noch mehr in der Welt Gegenstand des Spottes würde? bemerkte Egon zögernd.

Der Gegenstand des Spottes? wiederholte Siegbert und begriff diese Zaghaftigkeit nicht.

Die Welt kennt meine Geschichte, sagte Egon. Ich bin auf manche Bosheit gerüstet, die mir die Gesellschaft in den Weg legen wird.

[1736] Siegbert lehnte eine solche Besorgniß gänzlich ab. Man kenne, sagte er, des Prinzen abenteuerlichen Lebenslauf und fände ihn allgemein so interessant, daß man ihn nur mit der größten Aufmerksamkeit begrüßen würde.

O, sagte Egon, da haben Sie doch die exclusive Gesellschaft noch nicht weg. Ich habe ein Attentat gegen die Aristokratie der Geburt begangen. Schon längst nennt man mich vielleicht einen Communisten. Ich fühle vollkommen das Lächerliche, das meine Vergangenheit vor der Blasirtheit dieser Stände haben wird ....

Nein, sagte Siegbert mit großer Wärme, Das muß ich unbedingt bestreiten. Ich bewege mich in dieser Sphäre und kann wohl sagen, die Zeiten haben sich auch hier gewaltig geändert. Es ist ein Drang auch im Adel entstanden, seine Nothwendigkeit durch ein ideelles Eingreifen in die Zeit zu beweisen. Er hat sich längst entschlossen, die Sprache der Zeit zu reden und die Besten im Adel stellen sich, unabhängig von den Thronen, zwischen Fürst und Volk als die Vertreter nicht blos des Dauer-Berechtigten, sondern des nothwendig umzugestaltenden Alten. Ja sogar die große Masse der exclusiven Gesellschaft ist von der wilden Zeit so eingeschüchtert, daß man von ihr wohl sagen kann, Noth lehrt sie beten. Man schmachtet förmlich in dieser Sphäre nach Ideen! Ich kann Ihnen sagen, Prinz, daß Ihr Auftreten in dieser Gesellschaft mit einer Spannung erwartet wird, die Sie kaum ahnen.

[1737] Ah! Wie wäre Das? antwortete Egon ablehnend und doch nicht ganz ohne eine angenehme Erregung ...

Glauben Sie mir, sagte Siegbert und entfernte sich fast von Dankmarn und Louis, die für sich langsamer gingen, glauben Sie mir, in dieser Sphäre hat sich das Meiste überlebt. Rathlos tastet das Experiment dahin und dorthin. Die alten Künste sind ohne Wirkung geblieben und wahrhaft sehnsüchtige Blicke wirft der Hof, der denkende Adel, der besonnene Beamtenkreis auf irgend ein Zauberwort, das da helfen soll in der allgemeinen Noth und Verwirrung. Nein, ich gebe Ihnen mein Wort, man lacht nicht mehr über einen jungen deutschen Fürsten, der in Frankreich die Blouse trug und die Lage der arbeitenden Klassen studirte, indem er selbst arbeitete. Die süffisantesten adeligen Bursche aus dem Jockeyclub fühlen das allgemeine Leiden ihrer Kaste nach und ziehen den Hut vor Jedem, der ihrer Kaste Ehre macht. Wenn Sie reden, Prinz, wird man horchen. Wenn Sie Unterstützung und Mitwirkung verlangen, wird man Ihnen mit tausend Armen beispringen, und wenn man Pistolen abschießt, ich sage Das der Duelle wegen, die Sie als nothwendig anzudeuten scheinen, so wird es vor Freude sein, daß einmal aus der Sphäre der exclusiven Gesellschaft ein Gedanke, eine Thatsache sich entwickelt, wie sie sonst nur von daher zu kommen pflegt, wo man hinter dem Fortschritt gleich das Überstürzen, hinter der Reform die Revolution fürchtet.

Während dieser Ermuthigungen, deren Fortsetzung[1738] und weitere Ausführung Egon mit großer Aufmerksamkeit vernahm, waren Louis und Dankmar etwas langsamer gegangen und zurückgeblieben ...

Louis Armand ergriff sogleich diese günstige Gelegenheit, auf Dankmar's Vorschlag von einer Bundsgenossenschaft des Geistes zurückzukommen und sehr ernst darüber zu sprechen.

Dankmar lehnte diesen Ernst noch ab und sagte, daß solche Gedanken oft nur in der Debatte zu entstehen pflegten und ebenso wieder in der Debatte wie Seifenblasen platzten ...

O Das wäre nicht gut! fiel aber Louis ein.

Ich stoße mich, sagte Dankmar, den Egon's Kühle jetzt gegen sich selber mistrauisch gemacht hatte, ich stoße mich an der Nothwendigkeit, für einen solchen Geheimbund einen äußern Apparat, den man die Symbolik desselben nennt, zu erfinden. Da hat es der Prinz leichter!

Er knüpft an gegebene Zustände an.

Und wird, wie Sie vielleicht nur für die Gelehrten, so seinerseits nur für die Besitzenden etwas Gutes stiften! antwortete Louis.

Das fürchten Sie? entgegnete Dankmar. Und man vermuthet allgemein, der Prinz und Sie hätten doch eine gleiche Lehre von der Gesellschaft ...

Keineswegs! war Louis' Antwort.

Ich höre es an Allem, was ich nun von ihm über öffentliche Dinge vernommen, daß er zu den Aristokraten gehört, die eigentlich die gefährlichsten sind, zu jenen [1739] nämlich, die in ihr Wappen auch einige Symbole neuer Ideen aufnehmen.

Sie sprechen, antwortete Louis, eine Besorgniß aus, die mich selbst bekümmert. Er war in Lyon nicht so. Er kam dort an, wie ein Kind, unreif, zwar überfüllt mit Wissen –

In der That, ich bewundere seine Gelehrsamkeit.

Glauben Sie mir! Egon ist ein seltener Mensch und berufen, eine große Rolle zu spielen.

Sie wollten von Lyon sprechen ...

Nun wohl! Er kam zu uns unreif und doch schon blasirt. Er hatte das Leben zur Hälfte schon ausgekostet. Nicht alle Verführungen waren so wie die des Herrn Rafflard von ihm abgeglitten und doch war sein Herz unschuldig. Es war der Zorn über seine Familie, über die geringen Mittel, die man ihm für seine Existenz schickte, der ihn veranlaßte, seinem Stande zu entsagen und seine Angehörigen zu reizen, zu verletzen, ich will sagen, zu bestrafen. Ein junger Mensch, der seine Ältern bestrafen will! Das trieb ihn in jenes Extrem, dessen Durchführung ihm meine eigenthümlich zusammengesetzte, nicht ungebildete Familie, besonders aber ein sanftes, heitres Mädchen, meine Schwester, angenehm und dadurch allein möglich machte. Er hielt lange aus, oder sagen Sie, meine Schwester war so glücklich ihn lange zu fesseln. Wir siedelten nach Paris über. Meine Spezialität in vergoldetem Schnitzwerk hatte in der Stadt des Luxus mehr Gelegenheit, sich ergiebig zu machen. So zogen wir nach Paris. Man weiß, wie uns Egon dort verloren ging. Ich glaubte, [1740] ihn am Grabe meiner Schwester ganz wiedergefunden zu haben. Aber es war, ich fürchte mich es einzugestehen, vielleicht nur eine neue Abspannung, die ihn aus den Armen der schönen Gräfin d'Azimont an das Grab Louison's führte. Jetzt, da die Gräfin hier ist, da er sich gesund, thatkräftig, unternehmend fühlt, ist kein Augenmerk zu versäumen, ihn den Ideen zu erhalten, die er einst im Umgang mit den Armen einsog. Ich bürge für seinen besten, seinen redlichsten Willen – aber eine Helene d'Azimont, ein Rafflard, die Prärogative seines Standes, die Schmeicheleien seiner Stellung ...

Besorgen Sie nichts, lieber Louis! sagte Dankmar. Dieser Aristokrat ist, trotz der guten Meinung meines Bruders von dem gebesserten Stolze des Adels, so himmelweit von der üblichen Bildung unserer exclusiven Stände entfernt, daß ich glaube, er wird mit seinem Vereine zum Schutz und Schirm der Arbeit bei ihnen allein schon genugsam anstoßen. Es käme nur ... auf Etwas an ...

Dankmar regte mit diesen zögernd gesprochenen Worten die Unruhe des Handwerkers nur noch mehr auf.

Worauf? sagte er. Sie sehen, wie ich vor Sehnsucht zittere, dem Volke ein treues Herz zu erhalten!

Dankmar war von der bebenden Stimme, mit der diese Worte gesprochen wurden, gerührt und bot Louis Armand die Hand.

Edler, lieber Fremdling! sagte er. Wie warm fühlen Sie für die gute Sache des Jahrhunderts!

[1741] O mein Herr, rief Louis, ich höre Sie schon viel lieber von unsern Pflichten sprechen, als meinen verlornen Egon von unsern Rechten.

Geben Sie ihn nicht auf, Louis! antwortete Dankmar, angenehm erregt von der traulichen Art, wie Egon am Arme seines Bruders sich stützte und unter den hohen Lindenbäumen vor ihnen schritt. Ich verspreche mir viel von dem Plane, diesen jungen Fürsten in unsre Kammer zu bringen. Er hat das Alter. Und über die Möglichkeit, ihn irgendwo in der Wahl durchzusetzen, hab' ich schon nachgedacht. Die Tribüne ist ein sonderbarer Ort! Menschen, die nie eine Meinung hatten, haben auf der Tribüne eine Meinung bekommen. Wie man in der Physik das Gewicht der Stoffe nicht auf der Wagschale absolut, sondern nach einer Vergleichung mit andern Werthbestimmungen specifisch ermittelt, so wird Egon über seine Gesinnung sich erst klar werden den Gesinnungen Andrer gegenüber. Und wie wenig wol auch zu erwarten steht, daß ihn unsre Radikalen für sich gewinnen, so dürfte es doch ebenso lange währen, bis sich Egon in der ihm völlig fremden, zu Allem schmiegsam ergebenen Kanzleigesinnung des Beamtenthums zurecht fände. Erst auf der Tribüne wird sich sein wahrer Werth sichtbar ausscheiden.

Haben Sie schon über die Möglichkeit einer Wahl nachgedacht? fragte Louis Armand.

Ich erwarte, sagte Dankmar, in diesen Tagen einen Deputirten, dem es gelungen ist, dreimal gewählt zu werden. Es ist ein einfacher Landwirth, aber ein vielgerühmter [1742] Politikus, Namens Justus. Extreme Richtungen können ihn nicht gehoben haben, und so glaub' ich fast gewiß zu sein, daß es nur seiner Empfehlung bedarf, um da, wo er die Wahl ablehnt, Jeden, den er als Ersatzmann vorschlägt, durchzubringen.

Unter diesen Erörterungen hatten sich Louis und Dankmar wieder den beiden Vorausschreitenden genähert und theilten die angenehme Überraschung, die ihnen jetzt die freundliche Aussicht bot. Welch ein gefälliges Gemälde! ... Sie hatten alle vier jene Terrasse erstiegen, deren Rückwand dichte gestutzte Bosquets, Grotten und Lauben bildeten, deren Vorderseite ein Gitter, über das hinweg man unten einen Wiesengrund, über diesen hinaus aber den Fluß, Wald und Berge sah. Alle Wege des Schloßparks sammelten sich auf diesem künstlich aufgedämmten, aber von der Natur überholten Berge. Zur Linken führte eine verschlossene Thür auf eine Verlängerung der Terrasse bis unmittelbar an die Fenster des Schlosses, dessen Stil älteren Zeiten angehörte. Diese mit Orangerie geschmückte Verlängerung, die dem Publikum geschlossen war, blieb der einzige kleine Raum, den sich der Hof für seine eigene Erholung vorbehielt. Sonst war Schloß und Park Solitüde allen Besuchern zugänglich und auch heute ging es auf dieser Terrasse lebhaft genug her. Kinder spielten im Kieselsande. Müßige Soldaten mit ihren Mädchen saßen in den Grotten. Manche Gruppe feinerer Gesellschaft lehnte sich an die eiserne Balüstrade und genoß das anmuthige hier ausgebreitete Landschaftsbild.

[1743] Egon fühlte sich vom Steigen ermüdet und suchte eine Ruhebank. Man fand sie breit genug auch für seine drei Begleiter. Sie nahmen neben Egon Platz und theilten sich die Punkte mit, die Jedem an der Landschaft lieblich schienen. Louis hörte sogleich mit großer Freude, daß der links, diesseit und jenseit des Flusses liegende Wald der Schauplatz sonntäglicher Freuden des Volks war. Er trennte sich schon im Geist von der Gesellschaft, die hier neben ihm saß, und genoß die für den nächsten Sonntag gehoffte Fröhlichkeit unter jenen Tannen und jungen Eichen, auf einer Wiese, wo er in der Ferne Schaukeln und Kletterstangen unterscheiden konnte. Es sah Fränzchen's zierliche Gestalt über den Rasen hüpfen, bewunderte schon die kleinen Erfindungen ihres Geschmackes, die sie an ihrer Sonntagstoilette zum Vorschein bringen würde und betrübte sich nur über die von Siegbert ausgesprochene Vermuthung, daß dies schöne Wetter nicht mehr lange halten würde. Siegbert fing von den Wolken an, Louis wollte sich aber auch auf ihre Bildung verstehen. Siegbert zeigte auf einige Nebelschleier im Westen, die gerade über einem weiß aus dem Grünen hervorschimmernden und in der Sonne blitzenden Meierhof hingen und wollte eben jene kleinen Lämmerchen am Himmel Wölfe in Schafskleidern nennen, als seine Hand von zwei lieben jubelnden Kindern gehalten wurde.

Es waren Paulowna und Rurik Wäsämskoi.

Siegbert und Dankmar blickten erstaunt, wo die Kinder herkamen.

[1744] Das rathet einmal! riefen sie und klatschten jubelnd in die Hände.

Von einer vernünftigen Erzählung war da keine Rede. Rurik zog Siegberten von der Bank auf und wollte ihm schon eine große kostbare von ihm entdeckte Blume zeigen, Paulowna verlangte, daß er mit ihr zu den Rehen ging. Er sollte Brot kaufen; am Eingang des Schloßgartens säße eine Frau mit weißem Brote. Dabei zogen sie und zerrten ihn und wollten von schöner Aussicht und der Terrasse nichts wissen. Indem grüßte Dankmar sehr artig und Siegbert, der sich gelegentlich einmal umsehen konnte, wurde eben glühendroth.

Egon fand ein junges Mädchen, dem ein Gruß von Siegbert galt, sehr anziehend. Sie war klein, aber außerordentlich zierlich. Ein Bedienter trug ihr Sonnenschirmchen. Sie selbst hatte eine Art Negligéüberwurf an, ein leichtes nankinggelbes Zeug mit einem großen herabfallenden Kragen von gleichem Stoffe. Wenn der Rock vorn aufschlug, sah man ein weißes Unterkleid mit einem goldnen Gürtel. Die schwarzen eng an die rundgewölbte Stirn gestrichenen Haare waren von einem sehr kleinen durchbrochenen, goldgelben italienischen Strohhut bedeckt. Tändelnd hatte das junge Mädchen ein Taschentuch in der Hand und schlug damit in die Luft, wie mit einer Reitgerte. Es war eine Bewegung, die die größte innere Ungeduld verrieth. Mit einer sehr gefälligen, fast vertraulichen Miene grüßte sie Dankmarn. Es war, als wollte sie ein laut hervorbrechendes [1745] Lachen unterdrücken, als sie so stolz, so graziös vorüberschwebte. Sie warf auch mit einer leichten Bewegung ihr gesticktes Battisttuch so, daß ein Zipfel in den Mund kam und sie auf ihm ihre Erregung gleichsam ausbeißen konnte. Dieser kindische Einfall, verbunden mit dem entschiedenen, fast herausfordernden Wesen, das in der übrigen Art des Mädchens lag, verräth uns, daß es wirklich Olga Wäsämskoi war, die vor der Ruhebank dahinschwebte und mit einem Bedienten sogleich verschwand.

Paulowna und Rurik erzählten, daß die Mutter von dieser Fahrt gar nichts wisse. Daß sie die »Tante« von Harder in Tempelheide hätten besuchen sollen und daß Olga dem neuen Kutscher, der sehr gut und rasch fahren könne, geboten hätte: Rechts um, nach Solitüde! ... Dankmar verzog die Lippen und hatte alle kleinen Teufel des Spottes und der Ironie in seinen Mienen, während Siegbert in die größte Verlegenheit gerieth und schon ahnen konnte, welche schlimme Scene diese eigenmächtige Idee Olga's bei ihrer Mutter zur Folge haben würde.

Wer ist denn von Euch der Prinz Egon? fragte Paulowna mit ungezwungener Dreistigkeit.

Der bin ich, mein kleiner Engel! sagte Egon und wollte sie auf den Schoos nehmen. Und wer bist du denn? fragte er.

Geh! sagte Rurik und riß die Schwester wieder zu sich heran.

[1746] Oho! Das nenn' ich einen sittsamen Bruder, sagte Egon lachend und wollte aufstehen, um Paulowna zu haschen.

Diese zog sich aber zurück und sagte mehr stolz als naiv:

Mein Vater war auch ein Prinz.

Daran zweifl' ich gar nicht, antwortete Egon lachend. Welche Länder gehörten ihm denn?

Siegbert fühlte die ganze Pein dieser unerwarteten Begegnung. Wie gern hätte er die Kinder entfernt!

Aber Rurik stellte sich keck vor seine Schwester und meinte:

Er hieß Wäsämskoi! Aber Onkel Rudhard sagt, daß du schlimm bist. Und wir mögen dich gar nicht.

Damit rannte aber Rurik, in einiger Entfernung über seine gelungene Impertinenz laut spottend, davon ... Paulowna flog ihm nach und Siegbert sah wohl ein, daß er Olga ihr ganzes Abenteuer verderben würde, wenn er nun nicht sogleich aufstünde, ihr nacheilte und den ganzen Ausbruch ihres Jubels über dieses kühne Beginnen entgegen nähme. Er sprang geduldig den Kindern nach und holte am Fuße der Terrasse Olga ein, die dort, von den Andern ungesehen, schon auf ihn gewartet hatte und ihn, wie er so verblüfft und verlegen herunterkam, mit einem Spott und Frohlocken empfing, das zwar unendlich lieblich und bezaubernd war, ihn aber in nicht geringe Verlegenheit setzte.

Inzwischen konnte sich aber Egon von seinem Erstaunen [1747] über den Namen Wäsämskoi und Rudhard kaum erholen.

Dankmar ergriff daher das Wort, bat ihn, sich wieder zu setzen und gab ihm mit kurzen Worten eine Erläuterung.

[1748]
13. Capitel. Der König und die Königin
Dreizehntes Capitel
Der König und die Königin

Mein verehrter Freund, sagte Dankmar; du siehst, wie viel sich während deiner Krankheit um dich her neu begeben hat. Jede Stunde bringt dir eine neue Aufklärung. Helene d'Azimont, das Bild, Rafflard, Ackermann, der Thurm, alles Das tritt wie aus einem Nebelbilde wieder vor deine gestärkten Sinne. So wisse denn auch, daß von den Ufern des Schwarzen Meeres die verwitwete Schwester der Gräfin d'Azimont hier angekommen ist mit ihren drei Kindern, diesen beiden vorlauten kleinen Schwätzern da und jener älteren Olga, der mein Bruder, der bei der Fürstin die ästhetischen Honneurs macht, sogleich wie ein treues Windspiel nachgesprungen ist.

Aber Rudhard? Rudhard? rief Egon und drängte um Aufklärung über diesen ihm theuern Namen, den er in Lyon einst selbst geführt hatte.

Daß Rudhard in die Familie Osteggen eingetreten war, schien dir nicht unbekannt? sagte Dankmar.

Nein! Er hatte Helenen und ihre Schwester Adele erzogen. Sie kamen durch die Heirath mit dem Fürsten Wäsämskoi nach Odessa. Helene heirathete den Attaché [1749] Grafen d'Azimont und ist mit ihrer Familie gespannt. Der Fürst Wäsämskoi starb. Das weiß ich.

Rudhard begleitete die Familie, um die Kinder besser auszubilden, hieher.

Rudhard hier!

Wir fürchteten Alle den zu lebhaften Eindruck, den diese Entdeckung auf dich machen würde –

Um so mehr, als Ihr Alle Rudhard's Urtheil über mich kennt! Aus dem Munde dieser Kinder hab' ich's ja vernommen!

Egon blickte voll Betrübniß.

Ich kann nicht läugnen, suchte Dankmar die Wahrheit zu mildern, daß Rudhard streng über dich urtheilt, und unter der Stellung, in welcher du dich zu einer ihm theuern Familie befindest, doppelt leidet. Die Gräfin und die Fürstin sind so verfeindet, daß sie sich noch bis zur Stunde vermieden haben. Rudhard, ein etwas trockener Pedant, ist unglücklich, daß er dem Zuge seines Herzens nicht folgen kann, wie er möchte. Denn was ich ihm auch von deiner Liebe zu ihm, von deiner Dankbarkeit, von deiner Verehrung vor seinen Grundsätzen erzählen konnte – im Thurme von Plessen hattest du ihn gerühmt, wie er es allerdings verdiente – es hat ihn doch nicht bewegen können, sich schon jetzt mit dir auszusöhnen ....

Es ist ein Spartaner! sagte Egon. Ich kenne diese rauhe Tugend und wenn ich sie einst nicht ertragen konnte, jetzt fühl' ich, wie ehrwürdig sie ist.

Armand's Augen verriethen neue Hoffnung. Er konnte [1750] sich nicht überwinden, in der Stille, unbemerkt von Egon, Dankmar's Hand zu drücken. So wollte er den Prinzen! Gehoben von sittlicher Würde! Beherrscht durch sich selbst und ein edles Beispiel!

Hätte sich Egon jetzt aussprechen mögen, er würde kaum die Fülle seiner Empfindungen haben bewältigen können. Er begann auch zuweilen, wollte von der d'Azimont reden, von ihrer Schwester, von Rudhard, von Vergangenheit und Zukunft; aber er kam über einen kurz ausgestoßenen Seufzer, über ein schmerzliches Lächeln, über ein ungläubiges Schütteln des Kopfes nicht hinaus. Nur die kindischen, vorlauten Worte: »Onkel Rudhard sagt, daß du recht schlimm bist! Wir mögen dich nicht!« wiederholte er zuweilen und knüpfte, um seinen Unmuth zu verbergen, einige spottende Reden daran, deren Aufrichtigkeit man bezweifeln mußte.

Dankmar nahm alle diese Begegnungen leichter und erzählte manches Drollige von den Kindern und ihrer unveränderlichen russischen Natur. Olga, die Mutter schilderte er sehr treffend und auch von Rudhard konnte er nicht umhin zu sagen:

Bester Freund, die Vergangenheit und Erinnerung verklärt Vieles. Mein Bruder, der, wie gesagt, das Factotum des Hauses ist, rühmt die pädagogischen Grundsätze des alten Pfarrers sehr. Aber wie es mir scheint, hat auch er die Erfahrung gemacht, daß sich gegen die Natur nichts ausrichten läßt. Diese Kinder wachsen halbwild auf, biegen sich wie Weidengerten wol so und so, nach seinem [1751] Willen, schlagen aber doch immer wieder in die Lage zurück, die ihnen die bequemste ist. Rudhard hat sich sogar an das Czarenthum akklimatisirt. Ich finde den Fond von Poesie, den ich in dem Erzieher meiner Kinder voraussetzen möchte, nicht sehr reich bei ihm, und wenn du ihn einen Spartaner nennst, so denk' ich ihn mir als Director einer Cadettenanstalt ganz an seinem Platze.

Und doch muß ich ihn sehen! erwiderte Egon. Der Zerfahrenheit meiner späteren Erzieher, der Lüge, der Bosheit dieser Heuchler gegenüber, die eine jugendliche Seele verderben können, steht er in meiner Erinnerung großartig da. Ein Erzieher soll immerhin wie ein hölzerner Stecken sein, an dem die Blume des kindlichen Gemüthes sich aufrankt. Ich dagegen wurde von Schlingpflanzen umwachsen und mit ihnen emporgezogen zu einem künstlichen Gedeihen, das mich zwar schneller dem Sonnenlichte näher brachte, aber auch die Kraft der Wurzeln aussog.

Eine Weile hatte Egon in trüber Stimmung vor sich hin geblickt und das Haupt auf die Lehne der Bank gestützt, als eine muntere, helle Stimme ihn anredete:

Was? Durchlaucht? So sitzen Sie hier auf der Terrasse von Solitüde? Bewegung! Bewegung!

Egon blickte auf.

Es war der Sanitätsrath Drommeldey, der in seiner immer gewählten Kleidung, wie ein eben zum Bau gehender Tänzer, vor ihm stand, die Herren neben Egon mit zusammengekniffenen, forschenden Augen prüfte und sich [1752] über sein plötzliches Erscheinen an dieser Stelle dahin erklärte, daß er sich richtig hätte überzeugen wollen, ob sein Reconvalescent auch die ärztlichen Vorschriften pünktlich befolgte.

Das ist sehr liebenswürdig von Ihnen, Doctor ... sagte Egon und bat ihn, Platz zu nehmen.

Nein! Sie müssen lustwandeln! Sich Bewegung machen, Durchlaucht. Was sitzen Sie da, das Haupt aufgestemmt und suchen sich einen Watteau, einen Claude Lorrain aus diesem Fernblick zusammen! Sehen Sie nur die königlichen Herrschaften, die machen es anders ... da kommt die ganze Suite her – Aber warum eilen Sie denn? Bleiben Sie doch! Hier! hier! Es läuft ja Alles aus dem Parke hierher – was wollen wir uns denn entfernen?

In der That hatte sich die Scene eigenthümlich verändert. Alles was nur im Garten von Besuchern zerstreut war, lief aus allen Wegen auf die Terrasse. Auch Paulowna und Rurik mit ihren Bedienten kamen zurückgerannt, aber ohne Siegbert und Olga. Die überall sichtbare hintere Façade des Schlosses hatte offenbar allgemein bemerken lassen, daß sich aus den auf die Erde gehenden Fenstern eine Anzahl Offiziere und mit Orden geschmückter Herren auf die Terrasse begab ... Ihnen folgte das Königspaar ... Frau von Altenwyl die Oberhofmeisterin, Herr von Harder der Intendant der königlichen Schlösser und Gärten, viele Damen und Herren, die sich durch die kleine Allee von Orangenbäumen gerade dahin begaben, wo das Gitter bereits von einigen Lakaien geöffnet wurde ...

[1753] Alles stellte sich in einer Kette theils an den Hecken, theils an dem Gitter auf, um den Zug vorbei zu lassen. Nur Egon mochte nicht bleiben und mußte von Drommeldey fast gewaltsam zurückgehalten werden; wenigstens bewogen ihn nur Äußerungen, wie die: Man hat Sie gesehen, man beobachtet Sie, ich bitte Sie um Alles, was wird man denken? zum Bleiben. Egon stellte sich, als der Hof näher kam, an die eiserne Balustrade ... Drommeldey neben ihn. Etwas entfernter, da sie bei der Absicht gehen zu wollen, einen Vorsprung gewonnen hatten, stellten sich Armand und Dankmar ... Die Bedienten Egon's, die sich immer in einiger Entfernung gehalten hatten, waren richtig im übergrößten Eifer hinzugesprungen, um ihm sein Taschentuch zu bringen, das er auf der Bank hatte liegen lassen und standen nun gleichfalls neben ihm ...

Das eiserne niedere Gitter der Verbindungsthür der Schloßterrasse mit der allgemeinen für das Publikum bestimmten Hälfte der Terrasse war schon aufgegangen. Die Herrschaften kamen schon näher, grüßten die Umstehenden freundlich ... die junge Königin mit einer ganz besonders beflissenen Huld ... Den König schien die Aussicht auf die friedliche Landschaft zu erfreuen. Er lenkte sogleich wieder nach dem Gitter zu, blieb aber stehen, als die Oberhofmeisterin etwas überlaut sprach ... Die Gräfin Altenwyl stellte der Königin die beiden kleinen Wäsämskoi's vor ... Diese beiden Wildfänge waren nicht im geringsten blöde. Sie selbst erkannten sogleich die alte Dame, die in dem Garten ihrer Mutter sie besucht und sie [1754] mit so viel anstandsmäßiger Liebe geherzt und geküßt hatte. Da dachten sie, kann uns kein König der Welt verwehren, daß wir auf diese Dame zugehen und ihr sagen: Tante, wir sind auch hier! Gräfin Altenwyl, die den Bedienten erblickte, sah wohl, daß dies gar sauber gekleidete Mädchen und der kleine dreiste Junge in seiner Strohmütze und dem blauen Sammetkittel »hoffähige« Kinder waren. Um sich zu orientiren, rief sie den Bedienten näher und brauchte nur das Eine: Fürstin Wäsämskoi! zu hören, als sie schon in eine herzliche Bewillkommnung ausbrach und die kleinen Russen der Königin vorstellte ... Diese schlanke junge Dame, der zu ihrem zweifelhaften Glücke, eine Königin zu sein, nur das wirkliche Glück, Kinder zu besitzen, fehlte, beugte sich sogleich gar liebevoll zu den Kleinen herab und küßte ihnen die Stirn. Die Mutter hatte sich ja bereits bei Hofe vorstellen lassen und so war auch der königliche Gemahl über die Beziehung dieser improvisirten Kinder-Cour im Freien völlig au fait und hatte heute Anregung, Lust und Laune genug, sogar einige russische Worte mit den kleinen Moskowitern zu wechseln. Die Königin war besonders glücklich über diese Idee ihres sonst an naiven Einfällen nicht reichen Gemahls. Sie erkundigte sich daher nur um so herzlicher nach der lieben Mutter und trug den Kindern auf, sie von der Königin zu grüßen, zu großer Freude des Bedienten, der auf diese Art einigermaßen die schlimmen Folgen der eigenmächtig gewagten Spazierfahrt nach Schloß Solitüde abzuwenden hoffte.

[1755] Inzwischen kamen die königlichen Herrschaften dem Gitter näher und entdeckten Drommeldey.

Louis und Armand beobachteten in der Ferne mit großer Spannung die folgende Scene ...

Drommeldey, der bei Hofe wohlbekannte, der fashionable Arzt der großen Welt, hatte die leichtesten Formen, spielte wie jeder Sohn des Äskulap nicht viel mit der Etikette und fand es, sie beobachteten Das deutlich, ganz in der Ordnung, dem Hofe seinen Reconvalescenten, den Prinzen Egon von Hohenberg, vorzustellen ... Wie erstaunten sie, als die ganze Suite näher trat und Egon förmlich von ihr umringt war. Der Einzige, der Intendant von Harder, blieb zurück und wandte ihnen das volle Antlitz zu, auf welchem die glänzendste Genugthuung ausgesprochen lag, daß diese Natur, diese Terrasse, diese Aussicht hier gleichsam doch nur für sein eigenes Werk gelten durfte! Bäume, Blumen, Weg und Steg, das Alles beherrschte die Excellenz mit einem Blick, als wären sie die Bundesgenossen seiner gewaltigen Kraft und die dienenden Stützen seines auf Thatsachen sich gründenden Einflusses. Die andern Cavaliere, ja, die hatten hier gut zusehen, die mochten sich ärgern, wie er heute in seinem Lüstre glänzte! Wo hatten diese Kammerherren eine Terrasse, eine Aussicht, einen Park wie diesen den königlichen Herrschaften zum Genusse anzubieten? Henning von Harder hatte dieses Schloß zwar nicht gebaut, diese Orangenbäume nicht gepflanzt, dieses Gitter so zu sagen war alt und die Hecken nicht mehr im neuesten [1756] Geschmack, aber es war doch Alles grün, die Luft war doch blau, die Wege waren doch buschig und schön geharkt, die Vögel zwitscherten, die sich senkende Sonne blitzte so golden; nun ... das mache einmal Einer von Euch Kammerherren mir dem Geheimrath und Intendanten von Harder nach! Wenn ein Ball am Hofe ist, nun wohl, dann mag der Intendant der Musik stolz sein! Wenn man auf die Jagd geht, tummle sich der Oberjägermeister! Aber hier, hier herrscht die Excellenz Kurt Henning Detlev von Harder zu Hardenstein! Hier darf ich allein, ich ganz allein die Mücken verjagen und auch die neue freilich von meinem Inspektor Mangold erfundene Methode auseinandersetzen, die Mücken durch feine Luftspritzungen und kaum sichtbare Staubregengüsse zu tilgen!

Dankmar, der vom Geheimrath, der ein ungemein kurzes Gedächtniß hatte und jetzt nur ganz in der lauschenden Aufmerksamkeit auf die Herrschaften lebte, nicht wieder erkannt wurde, traute seinen Augen kaum, als die Suite sich plötzlich mit Egon und dem Sanitätsrath Drommeldey nach der Schloßterrasse zurückbegab.

Was ist Das? raunte ihm Louis zu.

Man entführt ihn förmlich! sagte Dankmar.

Sehen Sie, wie freundlich die Königin mit ihm spricht!

Und die Oberhofmeisterin mit dem Sanitätsrath ...

O mein Herr, sagte Louis Armand, ich ahne ...

Eine Verabredung? Es scheint fast so. Aber was könnte man mit ihm vorhaben?

Dieser Arzt hat ein leichtes Gewissen, sagte Louis. Ich [1757] muß ihm dankbar sein für Egon's Wiederherstellung, aber seit einigen Tagen zeigt er ein Lächeln, so frivol, er gefällt sich in Scherzen, so leicht, er debütirt Anekdoten, so veraltet ... o wenn doch diese Ärzte sich nur um uns bekümmern wollten, wenn wir krank sind, und uns nicht auch sagen wollten, auf welche Art man gesund sein müsse!

Das ist eine Bemerkung, antwortete Dankmar lachend, deren nähere Erörterung uns für den Ärger trösten muß, daß man uns armselige Geschöpfe hier so ohne Weiteres allein stehen ließ. Ich bin begierig, was uns Egon von dieser sonderbaren Überraschung erzählen wird. Einstweilen gehen wir!

Die Suite mit Egon war im Schlosse verschwunden. Paulowna und Rurik sprangen herbei und faßten Dankmar's Hand, um sich von ihm führen zu lassen. Dieser gab Egon's Bedienten die Weisung, sie sollten dem Fürsten, wenn er wiederkäme, als gemeinschaftliches Rendezvous das Ausgangsportal des Gartens bezeichnen.

Als Dankmar und Louis mit den Kindern den Weg einschlugen, wo sie hoffen konnten, Siegbert und Olga wiederzufinden, geschah ihnen eine seltsame Begegnung.

Ein sonderbares Paar, das sich in dem Eifer, die königlichen Herrschaften zu sehen, verspätet zu haben schien, rannte, man kann wohl sagen wie besessen, auf sie zu ...

Voran, keuchend, glühend vor Erhitzung, eine elegante dicke kleine Frau mit ceriserothem Shawl. Hinter ihr in gemesseneren, aber doch ebenso beflügelten Schritten ein [1758] junges Mädchen mit langen blonden Locken und einer von den Landesfarben gemischten Toilette.

Dankmar kannte beide Damen nicht, aber die Kinder sagten, sie hätten unten am Teiche, wo die Schwäne wären, schon mit Siegbert und Olga gesprochen und sie kennten sie Beide wohl, da sie auch zur Mutter kämen. Den Namen wußten die Kinder nicht, sprachen aber von einem großen wunderschönen Buche, das die eine Dame, die so schrecklich lief, einmal mitgebracht und ihnen die darin enthaltenen herrlichen Bilder gezeigt hätte. Es wäre ganz in Gold eingebunden gewesen, sagte Rurik und Paulowna fügte noch Sammet und Seide hinzu. Und die herrlichen Bilder! Aber das schönste hätte doch Siegbert gemacht!

Dankmar lächelnd und erfreut über die schöne Parteilichkeit der Liebe, sagte sich:

Sollte Das vielleicht Frau von Trompetta gewesen sein?

Er sah sich noch einmal nach den beiden Damen um. Er konnte noch deutlich bemerken, wie sie an dem von den Lakaien wieder geschlossenen Gitter standen und wahrhaft schmachteten und sich verzweifelnd den Schweiß trockneten und tiefbekümmerte Blicke nach dem Schlosse hinüberwarfen. Es schien ihnen zuviel entgangen zu sein! Aber auch zuviel! Sie hatten etwas versäumt, was ihnen unwiederbringlich vorkommen mußte.

An den lebhaften Gestikulationen mit Egon's Bedienten sah Dankmar, wie schrecklich Frau von Trompetta, wenn sie es war, unter dieser Versäumniß litt. Die von der [1759] Erhitzung rosig angeglühte Blondine zuckte hoheitsvoller die Achseln und schien sich mit einer gewissen imposanten Ruhe zu ergeben.

Die Kinder zeigten inzwischen auf den Lichtschimmer, der das Ende einer dunklen hochgewölbten Allee, die sie einschlugen, begrenzte. Dort läge, wie die Dame im rothen Shawl gesagt hätte, der Schwanenteich.

Springt nur vorauf! erinnerte Dankmar die Kinder. Wir kommen nach!

Louis kam, da die Kinder liefen, als ging' es um die Wette, auf das wunderlich eben Erlebte zurück. Dies Zusammentreffen mit dem Hofe schien ihm so gefährlich, daß er in seiner ohnehin schon angeregten Besorgniß davon die schlimmsten Folgen erwartete.

Dankmar stellte seine Befürchtungen in Abrede. Ich wette, sagte er, der Fürst wird uns, wenn wir noch vor einem Unwetter nach Hause fahren, Unterhaltendes erzählen.

Unwillkürlich schlugen die beiden Wanderer, um mehr nach dem drohenden Himmel sehen zu können, einen weniger grün beschatteten Seitenweg ein. Jetzt bemerkten sie erst, welche gewaltige Menge von Wagen fern an der Pforte hielt. Die königlichen Sechsspänner waren höher hinauf dem Schlosse zugefahren, aber außer dem ihrigen stand nun noch der des Sanitätsrathes, der der Fürstin Wäsämskoi und der Frau von Trompetta an der Pforte. Wie einer dieser Kutscher von fern Dankmarn eifrigst grüßte, konnte er sich kaum besinnen, warum der betreßte [1760] Mann in seiner Ehrerbietung so eifrig war. So zerstreut war Dankmar, daß er fast vergessen hatte, wie der Kutscher der Fürstin Wäsämskoi Niemand anders als sein alter Freund Peters sein konnte. Peters, den er selbst nach dem vergeblichen Versuche bei Schlurck durch seinen Bruder bei der Fürstin Wäsämskoi empfohlen hatte, Peters erschien ihm heute zum ersten male in seiner geschmacklos überladenen Livree, und des Bellens eines ihm wohlbekannten Hundes bedurfte es wirklich, um aus jenem geputzten Pagoden seinen alten Freund Peters, den Vertrödler seines Schreins, den unglücklichen Kellner vom Fortunaball herauszufinden.

Ei, Bello! rief Dankmar sich bald orientirend schon in der Ferne, thronst du da oben wie ein gnädiger Pascha von zwei Roßschweifen, an denen du wieder deine Freude hast! Guten Tag, Peters! Guten Tag, Bello! Ihr seid da! Im Staat! So in Gold und Silber und wohlgenährt, daß Ihr ganz stolz ausseht und Einer vor Euch und Euren Pferden Respekt haben muß.

Peters warf sich in der That ganz behaglich in die Brust.

Machen wir Ihnen denn nun Ehre? sagte er. Sie und der Herr Bruder haben ja für uns Beide gutgesagt.

Wie ein Kartenkönig haltet Ihr Euch Peters! lachte Dankmar. Und dem Bello, dem fehlt nur noch ein rothes Halsband und man hält ihn für einen verwunschenen Kammerherrn oder den Schooshund einer holländischen Millionairin.

Und doch haben wir wieder was Schlimmes begangen!

[1761] sagte Peters und schüttelte bedenklich den Kopf, was ihm bei der neuen Tresse seines Halskragens etwas schwer wurde. Das Teufelsmädchen Das!

Wie so denn? Wer denn? Teufelsmädchen? Die kleine Comtesse oder Prinzeß, was sie ist – die Olga!

Nicht wahr? Das ist ein Geniestreich, daß Ihr hier seid?

Sie mag's verantworten, sagte Peters. Wir sollten nach Tempelheide zu dem alten Methusalem – Sie kennen ihn ja –

Dem Präsidenten –

Und zu Frau von Harder, seiner Schwiegertochter – aber kaum bin ich am Pelikan und grüße den alten Hitzreuter, dem die Fortuna seinen Bauch etwas schmaler macht –

Und die Kathrine –

Nein, die ist ja nun ganz auf der Fortuna geblieben! ... Ja die dreht da die Kugel, daß sie immer im Gange ist –

He! Ihr verliert ja die Leine!

Just am Pelikan, heißt's ... Peters, umkehren! Nach Tempelheide umkehren? fragt' ich. Nach Solitüde fahren wir. Was? Nach Tempelheide! Da springt ja das Mädchen auf und reißt mir von hinten die Peitsche aus der Hand. Ich drehe mich um und die beiden Augenräder, die ich da vor mir sah, werd' ich in meinem Leben nicht vergessen. Nach Solitüde also ... Und weil sie mir die Peitsche nicht wiedergab und die Leute in der Vorstadt stillstanden und lachten, mußt' ich schon umwenden und hierher machen –

[1762] Sie wird's verantworten. Gegen Gewalt richtet die Vernunft nichts aus.

Wie steht's denn mit dem Proceß, Herr Wildungen? fragte Peters, diese Gelegenheit zu einem Schnak benutzend. Alle Leute sprechen davon. Den Herrn Siegbert seh' ich oft bei unserer Herrschaft, aber es schickt sich nicht recht, daß ich vor den Herrschaften bekannt mit ihm thue ...

Louis Armand hatte sich inzwischen an die Eingangsthür, die Dankmar schon überschritten hatte, auf eine Bank gesetzt und plauderte bald mit der Frau, die dort Lebensmittel feil hielt, theils sah er nach dem Wetter, theils und am nachdenklichsten nach dem Schlosse hinauf.

An meinem Zank mit dem Justizrath Schlurck, sagte Dankmar, habt Ihr wol gemerkt, daß das Alles langsam gehen wird.

Ein paar Millionen ziehen sich schwer, meinte Peters und machte die übrigen hier haltenden Wagenführer aufmerksam.

Und wenn's auch nur Eine ist, Peters, von dem Bock müßt Ihr dann herunter!

Peters schüttelte den Kopf und meinte:

Sie vertrau'n mir nichts mehr an.

Warum nicht? sagte Dankmar. Seit Eurem Unglück an der Plessener Schmiede hab' ich soviel Abenteuer gehabt, soviel Bekanntschaften gemacht, daß Ihr eigentlich die Veranlassung eines ganz neuen Lebens für mich geworden seid.

[1763] Peters fuchtelte nachdenklich mit der Peitsche ein wenig hin und her und meinte dann nach einigem bedeutsamen Schweigen:

Bello bedankt sich.

Bello? Warum Bello? fragte Dankmar.

In der Bibel steht, sagte Peters: Saul suchte einen verirrten Esel und fand ein Königreich. Daß der Esel durchging, lag doch wol an dem schlechten Hund, der ihn bewachen sollte.

Das nenn' ich Schriftauslegung, Peters, meinte Dankmar lachend. Wahrhaftig, Ihr war't nicht zum Fortunakellner geboren. Was sagt denn nun Kathrine zu dem schönen Tressenkragen da?

Peters zuckte die Achseln.

Peters! Peters! fiel Dankmar ein. Zwischen Euch und Kathrine, zwischen Bello, zwischen dem alten Pelikan-Hitzreuter und dem Fortuna-Hitzreuter, da steckt mir was dazwischen, was so ist, wie's nicht sein soll.

Peters warf die Lippen nachdenklich auf und ließ die Peitsche tänzeln.

Meine Mutter hat in Angerode darüber mehr gehört, als wir damals an der Kegelbahn im Pelikan und dann unten im Tunnel und oben in der Loge Nr. 14 geahnt haben. Ihr spielt Mariage à troîs! Schämt Euch!

Was ist Das für ein Spiel? fragte Peters und hob sich etwas aus seinen Tressen heraus.

Ein Kartenspiel, das bei vornehmen Leuten sehr beliebt ist, erklärte Dankmar. Ihr liegt auf der Landstraße, [1764] die Frau führt im Pelikan die Wirthschaft und im Theater kann man zuweilen ein Stück sehen, wo ein tonnendicker Kerl in Steifleinen vorkommt, der sehr verliebt sein kann ...

Peters hob sich fast vor Zorn und innerster schmerzlicher Erregung auf seinem Bocke empor und rief:

Der aber Geld hat! Der hergeben kann, während den armen Fuhrmann die Eisenbahnen zu Grunde richten?

Sieh! Sieh! sagte Dankmar, die Wirkung seiner Vermuthung auf den armen Peters wohl bemerkend. Kathrinchen ist also eine rechte Frau Quickly: ich will sagen, die Unruhe selbst ... Lustig, namentlich in Alles schicklich ...

Ja! Ja!

Lärm muß um sie her sein ... Trompeten, Pauken ... da ein Zweigroschenstück, hier ein Thaler ... gewechselt ... gelacht ... Charmante Dienerin – Leben und leben lassen ...

Mord und Todtschlag! rief Peters und hieb mit der Peitsche vor Zorn auf die Pferde, als wenn sie und nicht seine Frau die Mucken hätten.

Hab' ich Das damals bei dem Eierkuchen wohl geahnt, daß sie Nachts in die Fortuna läuft und an dem Schenktisch präsidirt! Aber sanftmüthig, Peters! Sanftmüthig! Ihr les't die Bibel! Schickt Euch in die Welt!

Die Bibel! Wegen Saul's Esel meinen Sie? Der ist mir nur noch so in der Erinnerung geblieben, wenn ich manchmal in der Irre ging und nicht wußte, wozu ich noch auf [1765] der Welt bin. Thun Sie mir den Gefallen, gewinnen Sie Ihren Proceß, Herr Wildungen!

Ich thue mein Möglichstes ... Warum aber?

Dann sagen Sie: Peters, ich vergebe dir die Dummheiten, die du noch alle machen wirst. Ich behalte dich für's Leben und für die Scheidungsgebühren verlang' ich nichts ...

Scheidungsgebühren, Peters?

Herr, an dem Tage, wo Kathrine sagte: Peters, hier ziehst du die grüne Marqueurjacke an und steckst die Speisekarte in die Brusttasche, da war's mit uns kopfüber. Ich sagte nichts, aber es war mir doch, als wenn wir wieder am Altar von der Johanniterkirche in Angerode ständen und der eine große Posaunenengel unter der Orgel blies: Hallelujah! Aus Euch wird im Leben nichts!

Wahrhaftig, Peters?

Ich sage wie David sagt: Sela!

Peters, ich glaube Ihr werdet fromm?

Aus Desperation. Ja, ich lese manchmal Abends die Bibel, ich will's nur gestehen; aber ich verstehe sie zu wenig. Ich will einmal unsern Pastor angehen, der zu Hause Alles lenkt und in's Geschick bringt, den Herrn Rudhard ...

Wenn Ihr Das thut, Peters, müßt Ihr mir sagen, was Euch Rudhard geantwortet hat. Übrigens wenn ich Euch und die Kathrine auseinandersägen soll, zu Der Zimmermannsarbeit bin ich erbötig, auch ohne die Million. Wollt Ihr Euch wirklich von Kathrinen separiren lassen?

[1766] Peters schwieg eine Weile und sagte dann feierlich:

Ich bin jetzt beim Buche Chronika in der Bibel. Wenn ich das durch habe und dann das zweite Buch der Könige, dann sprech' ich 'mal mit Ihnen.

Dankmar mochte nicht fortfahren. Die andern Kutscher horchten ... er mußte innerlichst lachen, ohne es zeigen zu können.

Wie leid that ihm der arme Schelm da auf dem Bock! Seine Melancholie hatte etwas rührend Komisches. Er sah in den Wald ganz tiefsinnig hinaus und suchte offenbar in der Religion einen Trost für sein zerknirschtes Gemüth und eine Ablenkung für sein von Eifersucht vielleicht zu Gewaltthätigkeiten geneigtes Herz ... Armer treuer Peters ... Dankmar gelobte sich, nur deshalb einmal wieder auf die Fortuna zu gehen, um der Kathrine Bollweiler mit Nachdruck in's Gewissen zu reden.

Dankmar wollte sich eben zu Louis Armand zurückwenden, der mit einem, wie es schien, hier angestellten Gärtner oder Inspektor sprach, als ihm Peters noch einmal zurief.

O, sagte er, sehen Sie sich doch einmal da den Menschen in Nankingkamaschen an!

Welchen Menschen? fragte Dankmar.

Den, der da mit dem Andern spricht ...

Mit meinem Begleiter? Wer ist Das?

Ja, Das möcht' ich wol auch wissen ...

Was fällt Euch denn an ihm auf?

Wie Sie kamen vorhin und wie Sie ausstiegen ...

[1767] Da ...

War't Ihr denn da schon hier?

Freilich! Wir standen nur drüben da im Walde und paßten so lange auf, bis Sie ankommen sollten mit dem Prinzen Egon von Hohenberg ...

Sollten? Sieh! Sieh! Nun –?

Wie Sie ausstiegen, standen die beiden Bedienten des Herrn von Harder an dem Portal ...

Ich kenne sie! Zwei Hallunken ... Was ist mit ihnen?

Wie Sie, alle vier Herren zusammen, ausstiegen, gaben die beiden Schlingel dem Menschen da ein Zeichen, als wollten sie sagen: Es sind die rechten!

Ein Zeichen?

Wie ich's Ihnen erzähle ... Die Fräuleins und der kleine drollige Junge, der Rurik, haben's mit angesehen ...

Und dann?

Dann lief der Mensch da ganz eiligst ins Schloß hinauf, als gleichsam, als wenn er sagen wollte: Sie sind nun da!

Wunderlich!

Und nun steht er wieder unten und spricht da mit dem Herrn, der bei Ihnen ist –

Es scheint ein Angehöriger des Hofes ...

Es ist ein feiner Mensch und wegen Mancherlei möcht' ich doch wissen, was der Mann eigentlich ist oder was er treibt oder wo ihn Einer hinbringen soll ...

Dankmar's natürliche Regung war die, zu Louis zu gehen und ihm zu sagen: Sie haben Recht! Hier war[1768] ein Arrangement! Wir sind in der That hierher gelockt worden! ... Er betrachtete sich den bezeichneten Mann genauer. Er hatte nur durch einen Streifen an der Mütze ein Zeichen, das auf eine Beziehung zum königlichen Dienst deutete. Sonst war er einfach in einen leichten grünen Überrock von Sommerzeug gekleidet, in weißer Halsbinde, leichten, weiten, gelben Pantalons und Schuhen mit gelben Nankingkamaschen. Der Ausdruck des Gesichts war ruhig und sehr angenehm. Die Farbe sehr blühend, sonnenverbrannt und gesund, der starke Bart blond. Das Kopfhaar, wie es schien, etwas spärlicher. Dieser Mann konnte leicht schon vierzig Jahre zählen und machte einen so wohlthuenden Eindruck, daß es Dankmarn befremdete, ihn mit den schon sattsam genannten Bedienten des Herrn von Harder zusammengenannt zu hören. Er fragte auch deshalb Peters, welches denn die Gründe wären, die ihn bestimmten, sich für diesen Mann, der hier unstreitig ein Garteninspektor oder etwas Ähnliches vorstellte, zu interessiren?

Möchte nicht Einer glauben, sagte Peters, daß dieser Mann etwas Feines und Anständiges ist?

Warum sollt' er das Gegentheil sein?

Es sollte mir Leid thun, wenn ich dem Mann Unrecht thäte. Ich wundre mich des Todes, Den hier zu sehen.

Ihr irrt Euch vielleicht?

Er ist's! Die beiden Bedienten sind Zeugen genug. Mit denen hat sich dieser Mann noch vor drei Wochen in der Fortuna ganz gemein gemacht ...

[1769] Peters, in die Fortuna verirren sich auch respektable Leute!

Mit der Auguste Ludmer und solchen Springerchen?

Auguste Ludmer? Springerchen? Was sind denn Das in der Fuhrmannssprache für Irrwische?

Dieser respektable Mann kommt auf den Ball mit der wilden Person. Kennen Sie diese Auguste Ludmer nicht?

Inwiefern gehört diese mir unbekannte Auguste Ludmer zu den Springerchen?

Die sagt zu Jedem, der sie ansieht, auch wenn sie ihn nicht kennt: Guten Tag! Wie geht's Ihnen?

Gute Definition! Mir ist's aber, als könnt' es Dem da drüben nicht schaden, daß ihn eine lebendig macht. Man möchte glauben, daß Das ein Professor ist. Er demonstrirt da an den Pflanzen ... Spricht wahrscheinlich eben Latein und zeigt auf die Stäbchen, die an den Bäumen ihre Namen nennen.

Wenn Das wäre, Herr Dankmar, und das Frauenzimmer ... Auf der Fortuna hab' ich sie nur zweimal gesehen ... aber hernach bald hier, bald dort ... gestern Abend beim Spazierenfahren ... wieder auf den Anlagen ... Wenn der Mann nicht wissen sollte, wen er am Arme führt –!

Dankmar nahm Interesse an dieser Mittheilung und glaubte hier vielleicht ein gutes Werk stiften zu können.

Steht's denn mit der Auguste, wie heißt sie? Ludmer ... so schlimm? fragte er.

[1770] O, sagte Peters mit einer ablehnenden Bewegung, wer darf den ersten Stein aufheben und Gottes Gnade ist groß!

Peters! Peters! Was für Sprüche!

Langmüthig ist doch der Herr und dunkel sind seine Wege ... Aber wenn Eins so auf die Tanzböden läuft, solchen Heidenlärm schlägt, die Polizei in Trab bringt, nicht arbeitet, singt und jubelt, wie Die ...

Dankmar griff die Gelegenheit auf, vielleicht ein gutes Werk zu stiften.

Ehe noch Peters seinen ferneren Abscheu vor einem Charakter, wie ihn diese Auguste Ludmer zur Schau trug, beendet hatte, war er schon mit drei Schritten am Portal, in der Nähe Armand's und des Mannes mit den gelben Nankingkamaschen.

Ohne sich in seinen Auseinandersetzungen – es waren botanische – stören zu lassen, lüftete dieser Fremde artig sein Mützchen mit dem farbigen Streifen ... es war ein schlanker, kräftiger Mann, gewiß doch schon hoch in den Vierzigen – in der Nähe ließen sich die kleinen Furchen des Antlitzes besser unterscheiden – die weißen Zähne, die großen hellblauen Augen gaben ihm etwas Freundliches und Gefälliges. Er wandte sich in seiner Auseinandersetzung über die Pflege der Georginen, die gerade die Blumen dieses Monats waren, gleicherweise bald vertraut auch an Dankmar wie an Louis und sprach gerade über die eigenthümliche Kunst, die Georginen durch Stoffe, die man der Erde, in der sie wachsen, beimische, [1771] z.B. Asche, nach Belieben zu färben. Es lag in seinen Äußerungen eine gewisse Kindlichkeit.

Sie sind gewiß der Herr Schloßgärtner? fragte Dankmar, ohne sich dabei den geringsten Schein von Indiskretion zu geben.

Wollen Sie mich so nennen, immerhin, sagte der Angeredete und lüftete bescheiden seine Mütze. Ich habe nach Titeln nie gestrebt, lebe nun schon dreißig Jahre so mit der Natur zusammen und wenn man mich Herr Garteninspektor ruft, so hör' ich manchmal weniger darauf, als auf meinen einfachen Namen Mangold!

Was? Sie sind der berühmte Parkologe Mangold? fragte Dankmar erstaunt.

Parkologe? Berühmt? sagte Mangold. Du lieber Himmel!

Weiß man nicht, daß Sie die rechte Hand des Geheimraths von Harder sind, Alles schaffen, Alles hervorzaubern, wofür er den Namen hergibt und die Anerkennung einkassirt?

Das ist einmal so der Dienstbrauch! Das ist in der großen Welt so wie in der kleinen; sagte Mangold lachend.

Sie haben am Rhein das Schloß Buchau hergestellt, sagte Dankmar. Sie waren im Gebirge und haben Selkenthal zu einem Paradies umgeschaffen; Alles was in den königlichen Schlössern Schönes und Geschmackvolles sich findet, ist das Werk Ihrer Erfahrungen, die Sie in den Parkanlagen Englands sammelten ...

Ganz Recht! Englands! Da hab' ich meine paar Brocken [1772] aufgeschnappt, bin dann erst in die Dienste des alten Präsidenten von Harder getreten, hab' ihm Tempelheide für ihn und seine wilden und zahmen Mitbewohner, wie eben Tannen sich ziehen lassen, eingerichtet und ging dann durch den Sohn, als er Intendant der königlichen Schlösser und Gärten wurde, in Staatsdienste. Aber wenn ich Ehre und Ruhm genieße, so weiß ich's nicht. Wo sollte ich Das wissen? Ich lebe nur auf diesen einsamen Schlössern, bald hier, bald da in der Stille. In den Gartenzeitungen ... o ja, die halt' ich mir! ... Da werd' ich genannt und manche Herrschaft hat mich verschrieben, um Schatten und Licht in einen Wald zu bringen – aber Das, dacht' ich, geht doch so in der Stille hin und ich bin froh, wenn mich meine Blumen und Bäume loben. Komm' ich des Morgens in der ersten Frühe auf meine Wiesen und der Thau glänzt mich freundlich in der Sonne an, so hab' ich Glanz genug.

Louis Armand hatte nur nicht den Muth, sonst würd' er diesem einfachen, so still begeisterten Manne die Hand geboten haben.

Dankmar aber, der Das, was er von Peters über Auguste Ludmer gehört, nun mit dem Eindruck, den er hier empfing, in der That nicht vereinigen konnte, wagte jetzt einige Fragen, die allerdings zudringlich erscheinen konnten:

Bleiben Sie auch den Winter auf Solitüde? fragte er.

Nein, sagte Mangold, ich soll ja ganz von hier fort und wieder an den Rhein. Ich bekomme den Titel als Ober-Garteninspektor und werde in Buchau bleiben.

[1773] Auf die Glückwünsche zu seiner Beförderung kam Mangold allmälig in das Geständniß, daß er erst noch ein Weib nehmen würde ...

Ich bin nun, sagte er, sieben und vierzig! Ein alter Knabe! Hab' immer in Gärten und Schlössern gelebt, fern von den Städten, fast wie ein Einsiedler. Die Leute lachen, wenn sie einen ledigen Junggesellen von sieben und vierzig Jahren sehen! Aber wie find' ich Bekanntschaft? Amtsrathstöchter dünken sich hoch, Gärtnerstöchter standen mir zu tief. Wo man befehlen soll, muß man nicht schmeicheln müssen. Da war ich neulich bei unserer Excellenz, dem Intendanten, und sehe ein charmantes Mädchen über den Hof gehen. Prächtiger Wuchs, eine Staatsjungfer! Die könnte mir schon gefallen, sagt' ich zur Frau Geheimräthin, als sie mich neckte, daß ich noch immer keine Anstalt machte. Und wie ich in ihrem Garten eine Wasserleitung revidirt hatte und komme zurück und will mich empfehlen, sagt die alte Dame, die schon viele Jahre bei der Geheimräthin Alles in Allem ist: Mangold, das hübsche Mädchen ist meine Nichte! Wenn sie Ihnen gefällt – dabei zog ich die Mütze und sagte: Madame Ludmer, die nähm' ich gleich mit nach Buchau, aber man muß sie doch sprechen und rasch müßt' es auch gehen, ich habe bis zum siebenundvierzigsten Jahre gewartet und nun aber kein langes Besinnen mehr! Da warf sie einen Blick auf die Geheimräthin, so einen von ihren Blicken, die mehr sagen, als man gleich verstehen kann. Die Geheimräthin zog die Lippen ein Bischen verächtlich [1774] und lachte. Das ärgerte mich fast und ich sagte: Ist sie zu jung für mich? Nein, nein, sagte die schwarzäugige Alte, die Ludmer. Wenn es Ihr Ernst ist, Mongold, muß man Das nur richtig anfassen – zweckmäßig – arrangiren .... Gut, sagt' ich, arrangiren Sie's. Und da sah ich das Mädchen auf einem Ball – die Bedienten der Geheimräthin führten mich immer um sie herum ... sie war auch nur wegen meiner da – ging auch gleich fort, das war Alles abgemacht – vorher besprochen ... ich sah sie wieder ... ich sprach mich dann aus – sie lachte zwar, sie war schnöde und schnippisch – sie wollte von dem Buchau nichts wissen – will auch noch nicht heran und spottet und neckt – aber sie gefällt mir ... ich schenkte ihr Dies und Jenes – ich denke doch, wenn nichts dazwischen kommt – und die Tante noch einmal recht vernünftig mit ihr spräche – so –

Heirathen Sie diese – ...

Der Name erstarb Dankmarn auf den Lippen ... Himmel! dachte er während der Erzählung des unschuldigen immer von den Städten entfernt lebenden Mannes, welche Intrigue steckt hinter dieser abscheulichen Täuschung! Und eben wollte er offen mit seiner Warnung hervortreten, den einfachen, harmlosen Mann bei Seite nehmen, schildern, welchen Gefahren er seine Ehre aussetze, als Louis, der der Erzählung nicht den gleichen Antheil gewidmet hatte, weil er unverwandt die Augen auf das Schloß richtete, rief:

Da kommt Egon!

[1775] Dankmar wandte sich und erblickte Drommeldey mit Egon und den Bedienten niedersteigen. Auch Siegbert kam mit Olga und den Kindern ... Es war Dankmarn jetzt nicht möglich, das Gespräch mit Mangold fortzusetzen. Nur noch die Worte rief er ihm, als er bei Seite trat, zu:

Können Sie mir keinen Gruß an Ihre Braut auftragen?

Braut? So weit ist's noch nicht! Aber ich danke Ihnen, sagte Mangold herzlich. Heut Abend komm' ich noch in die Stadt. Wenn Einer sein letztes Feuer noch einmal zusammennimmt, gibt's einen Brand. Ich gehe gern auf das Café Richter. Kennen Sie Das? In der Königsstraße?

Gewiß! Gewiß! sagte Dankmar. Ich komme dahin.

In der bestimmten Absicht, Alles aufzubieten, was Mangold über die Gefahr, in die er sich sorglos begab, aufklären konnte, trat Dankmar dem Prinzen entgegen, voll Spannung, was dieser über seine Erlebnisse im Schlosse würde zu erzählen haben ...

Es schlug nun eben sechs Uhr vom Schloß Solitüde, als sich an der großen Eingangspforte des Gartens ein Gewirr und Durcheinander von Menschen, Rossen und Wagen verwickelte. Von der aufwärtssteigenden verlängerten Allée kamen vom Schlosse herab erst einige zweispännige, dann vierspännige Wagen, zuletzt ein sechsspänniges Gefährt mit den königlichen Herrschaften selbst. Alles, was bisher im Park zerstreut gewesen war, lief und drängte sich zu der Hauptpforte, um noch diese [1776] Abfahrt mit anzusehen. Auch die kleine runde Dame, die sich hier beinahe schon wieder verspätet hätte, kam spornstreichs von der Terrasse gelaufen, in einiger Entfernung von der jungen Begleiterin mit den blonden Locken, die nur in raschen Schritten ging, nicht lief. Ob die freundliche Verbeugung der jungen Königin diesen huldigungsbeflissenen Damen vorzugsweise galt, ist schwer zu sagen. Die Damen hielten mitten in ihrer Eile auf und verneigten sich tief mit holdseligen Gebehrden, indem sie mit einer Hand gleichsam eine die andere näher heranziehen und dem Hofe mit der andern sagen wollten: Wir sind Beide da! Endlich waren die Herrschaften abgefahren und die kleine runde Dame, in der Sanitätsrath Drommeldey sogleich Frau von Trompetta erkannte, hatte nun Gelegenheit, die minder bedeutenden Menschenkinder zu betrachten, die sie hier versammelt fand. Drommeldey lobte ihre rasche Beweglichkeit, tadelte sie aber an Fräulein von Flottwitz.

Ihnen, liebe Trompetta, sagte er, kann ein solcher Wettlauf mit sechs Pferden einmal nichts schaden; aber Sie, mein liebes Fräulein, bedürfen Schonung und verlangen keine Amazonenkur.

Die Trompetta sprach nur von ihrem unglücklichen »Guignon« auf der Terrasse ...

Wollten Sie, sagte Drommeldey, die Herrschaften an Ihr Gethsemane erinnern?

Ach, antwortete die Trompetta, es liegt allerdings noch auf dem Nähtische der Königin! Man blättert darin [1777] und kann sich nicht entschließen, eine Summe daran zu wagen, die mich der Weitläufigkeiten einer Lotterie überhebt.

Ich bin für die Lotterie, Frau von Trompetta, sagte Drommeldey schon im Einsteigen.

Warum sind Sie für die Lotterie, heidnischer Sanitätsrath? Geben Sie mir doch Ihren Rath! Warum?

Weil Ihnen das Anbringen der Loose von einer vortheilhaften diätetischen Wirksamkeit sein wird. Wenn der Hof das Gethsemane nicht ankauft, ersparen Sie eine Badereise.

Frau von Trompetta hielt den allo-homöopathischen Sanitätsrath fest.

Es ist eine Intrigue gegen mich im Werke – sagte sie, ich weiß es – die Altenwyl – gestehen Sie mir's, Drommeldey!

O behüte, kein Mensch intriguirt, als ich, sagte dieser. Beruhigen Sie sich, Frau von Trompetta! Sie haben den Titel Gethsemane ganz in meinem Sinne gewählt. Es sind in dem Ölgarten Thränen geflossen und von der Angst der Jünger ist viel daselbst gewehklagt worden. Das Schweißtuch der heiligen Veronika muß Ihre nächste Sammlung heißen. Aus diätetischen Gründen und zur Beruhigung für Ihre Freunde dürfen diese Lotterien und die Mühen des Absatzes der Loose für Sie nicht aufhören. Adieu, liebe Missionairin!

Mit diesen für Frau von Trompetta mannichfach verletzenden Worten fuhr Sanitätsrath Drommeldey, ein [1778] kluger Mann, der sich vortrefflich in seine Welt zu schicken wußte und nicht Jeden nach seiner eigenen materialistischen Seelenstimmung behandelte (doch von Frau von Trompetta wußte er, daß ihr der Ärger und Streit über ihre erheuchelte Religiosität von größerem physischen Nutzen war), mit einer freundlichen Handbewegung zu Prinz Egon, rasch davon.

Frau von Trompetta hörte glücklicherweise diesen Spottreden auch schon nur halb zu. Ihre kleinen neugierigen Augen verschlangen den Prinzen Egon und Dankmar Wildungen. Einer von beiden war Prinz Egon und einer Dankmar Wildungen, der Bruder Siegbert Wildungen's ... Das hatte sie schon durch die Bedienten herausgebracht – Aber welcher war der Eine und welcher der Andere? Der Fürst war – Fürst, und Dankmar ein Referendar, der seines Processes wegen das allgemeine Gespräch der Stadt, die Aufmerksamkeit aller Mütter und jungen Mädchen geworden war ... Friederike Wilhelmine von Flottwitz entschied sich für Dankmar und hielt Dankmar für den Prinzen, die Trompetta meinte Dasselbe, drückte Dies aber so aus, daß sie den Prinzen für Dankmar hielt. Sie flüsterten sich, indem sie sehr umständlich in ihren Wagen stiegen, ihre gegenseitigen Vermuthungen mit lebhaften Gestikulationen zu und befahlen dem Kutscher zu halten, als er eben abfahren wollte und sie Siegbert bemerkten, der mit den Wäsämskoi's eben aus der Allee heraustrat. Das war ein Nicken, war ein Grüßen und Winken mit der Hand! Die muthigen oder vielleicht [1779] nur ungeduldigen Rosse wollten weiter, aber die Trompetta richtete sich im Wagen hoch auf und gerieth so in ein taumelndes Schwanken, daß die Flottwitz sie halten mußte. Siegbert, artig wie immer, sprang hinzu, um vielleicht noch einen Befehl zu vernehmen.

Adieu! Adieu! Adieu! rief sie und als Siegbert am Wagenschlage stand, flüsterte sie:

Welches ist denn der Prinz?

Und Ihr Herr Bruder? ließ sich sogar die Flottwitz herab, zu forschen.

Egon und Dankmar standen nahe genug am Wagen, um näher zu treten. Sie hatten die neugierige Frage fast gehört, den nach ihnen schielenden Blick bemerkt, sie ließen sich vorstellen.

Frau von Trompetta –

Prinz Egon von Hohenberg –

Fräulein von Flottwitz –

Mein Bruder Dankmar –

Durchlaucht, o Durchlaucht – begann die Trompetta und weinte fast.

Gnädige Frau – sagte Egon betroffen.

Ach! Ach! Ach! Ich kannte Ihre Mutter – sie war ein Engel; sie war meine Freundin! Wissen Sie denn Das nicht ... Wie liebt' ich sie! Und diese Ähnlichkeit, Durchlaucht! Zum Erstaunen und dem Generalfeldmarschall wie aus den Augen geschnitten! Die königlichen Herrschaften hatten die Huld, Sie nach Ihrer Genesung zu begrüßen! Das Auge der Königin ...

[1780] Arme Trompetta! Die Ungeduld deiner Pferde brach dies rührende Waldgespräch gerade an solcher Stelle ab! Die Füchse waren wie ihre Herrin von den Sechsspännern angesteckt und liefen ihnen ohne Aufhaltens nach, mitten in einem Dankgebete, das die Sammlerin des Gethsemane eben unter den grünen Wipfeln der Eichen für Egon's Genesung anstimmen wollte – und nun kein Wort an Olga Wäsämskoi, kein Gruß, keine Frage mehr an Siegbert, und da jener Dankmar – und das Alles abgebrochen durch die wilden Rosse!

Es war geschehen, die Pferde zogen an und der ärgerliche Kutscher ließ sie laufen. Von Wilhelminen von Flottwitz blieb ein Blick an Dankmarn hängen, der Manches sagen konnte. Die rasche Wendung war der Wirkung dieses Blickes außerordentlich günstig gewesen. Weil er ganz links zur Seite ging, bekam dieser Blick eine Kraft, so zu sagen eine Emaille, die ihm so blendend in die Augen widerblitzte, daß er lachend sagte:

Himmel! War denn das Die? Sie? Die? die Retterin des Vaterlandes! Sie ... die Eine, Einzige!

Und als Siegbert sagte: Die vielbesprochene Flottwitz! rief er:


»Es blieb an mir nur noch ihr Abschiedsblick,
Ein Sommerfaden an der Trauerweide hängen!«

Die wilden jungen Männer empfahlen sich den jungen Wäsämskoi's. Olga, entzückt von dieser Männerwelt, schlug den blauen Schleier ihres Hutes so dicht vor ihr [1781] Antlitz, daß man nichts von ihr sehen konnte als die zierliche Gestalt. Sie schien mit Siegbert zwar etwas zu schmollen, kehrte Allen den Rücken, beantwortete keine Höflichkeit Dankmar's, wich jeder Absicht Egon's, sich ihr vorstellen zu lassen, aus, saß aber im Wagen so sicher, so fertig, als wäre sie schon neunzehn Jahre, während sie doch nur fünfzehn zählte.

Was hat denn Olga? sagte Dankmar. Sie weinte ja vorhin ... Sie soll heirathen? Nicht wahr?

O nein, sie weint, daß ich nicht in ihrem Wagen zurückfahre ...

Heilige Thränen der Liebe! spottete Dankmar. Ist doch auch dein Taschentuch deshalb feucht?

Egon aber, gleichfalls angeregt, scherzte noch mit Paulowna und Rurik.

Wenn ich auch noch so schlimm bin, sagte er, so hilft das dem Papa Rudhard Alles nichts. Morgen ganz in der Frühe hol' ich Euch Kinder aus dem Bett und lasse entweder mir oder Euch für unsere Unarten vom Papa Rudhard die Ruthe geben. Wollt Ihr ihm Das sagen?

Dieser drohende Humor schien den Kindern doch zu bedenklich ... Sie setzten sich zur älteren Schwester. Siegbert half ihnen in den Wagen. Dankmar und Egon zogen, als auch dieser Wagen abfuhr, den Hut und grüßten Olga. Diese beugte mit großer Sicherheit und vornehmer Grazie etwas den Oberkörper und blieb mit zusammengeschlagenen Armen, ein Taschentuch in der Hand, in der Ecke ihres Wagens sitzen. Peters jagte davon.

[1782] Nun wollte Egon einsteigen und sah sich nach seinem Freunde um. Louis Armand, der Tischler, stand ganz in der Ferne ... fast eingeschüchtert.

Egon verstand, was ihn drückte. Mit Herzlichkeit ging er auf ihn zu und sprach in französischen Worten zu ihm:

Aber, Louis –

Louis Armand sah zur Erde und folgte langsam und beklommen seiner Aufforderung, einzusteigen.

Dankmar sah sich noch nach Mangold um. Er war verschwunden. Siegbert schien zerstreut. Er wußte nichts von Dem, was auf der Terrasse vorgefallen war. Die Kinder hatten zwar erzählt, daß sie den König und die Königin gesprochen, aber Egon's Begegnung mit den hohen Herrschaften war ihm so neu, daß er, als davon nun endlich erörternd und erzählend die Rede kam, ausrief:

Sagt' ich es nicht, daß die große Welt die Zeit nicht erwarten kann, Sie im Vorgrunde zu erblicken?

Egon begann nun zu erzählen.

Noch einmal sah er kopfschüttelnd auf das Schloß zurück, das von einigen Sonnenstrahlen, die sich durch die vom Winde heraufgetriebenen Wolken drängen konnten, glühend erleuchtet war. Die hohen Kronen der Bäume der Allee schwankten. Es wehte ein kühler Zug. Der Abend schien nicht so freundlich den Tag zu enden, wie er begonnen hatte. Egon knöpfte seinen Frack zu, ließ seinen Mantel über sich breiten und begann nun folgende Mittheilung:

Was mir soeben widerfahren ist, sagte er kopfschüttelnd, [1783] muß ich eine merkwürdige, überraschende Ehre nennen. Es ist aber eine Ehre gewesen, die eigentlich nicht mir, sondern meinem Namen, der Erinnerung an meinen Vater galt, und in diesem Sinne, gesteh' ich, hat mir das Erlebte auch einen ganz wohlthuenden Eindruck gemacht. Ich bin kein Aristokrat, habe aber gefühlt, wie ernst, wie bedeutungsvoll der Beruf des Adels ist, wenn er seine Aufgabe nur recht verstehen wollte.

Louis Armand wandte sich und sah nach den sie verfolgenden Wolken.

Ja, ja, Louis! Ich bin nun durch und durch Aristokrat geworden! Ihr sprecht von einer Genossenschaft des Geistes! Ich bin ein Paladin der Tafelrunde geworden. Der Adel ist ja schon ein solcher Bund, wie ihn Dankmar bezweckt, und stellt ihn schon von Natur dar. Wenn man, um vollkommner Mensch zu sein, sich von den Menschen, wie sie gewöhnlich sind, abzusondern haben soll, so hat hier die Geschichte eine solche Absonderung schon von selbst erzielt. Richtig verstanden muß der Adel eine Aufforderung sein, sich ganz besonders auszuzeichnen ...

Wo man weiß, fiel Siegbert ein, daß man die Ehre eines gefeierten Namens gleichsam wie ein Fideikommiß zu verwalten hat, wird man sein persönliches Verdienst nur in der Beförderung eines gleichsam anvertrauten objektiven Gutes finden. Man wird sich blindlings in Gefahren stürzen, weiß man doch, daß die Gattung, zu der man gehört, erhalten bleibt! Man wird eine Linie der Thaten [1784] und Auszeichnungen schon bei seiner Geburt vorfinden, der man nur nachzugehen hat, um zu bedeutenden Zielen zu gelangen. Hätte der Adel das Bewußtsein seines wahren Werthes immer nur darin gefunden, der geborene Vorkämpfer der Volksrechte zu sein, wir würden ein solches geschichtliches Institut segnen, statt ihm für seine Anmaßung und die ausschließliche Bundesgenossenschaft mit den Unterdrückern zu fluchen.

Gott sei Dank, sagte Dankmar, der ganz erstaunt zugehört hatte, daß dein aristokratischer Rebus diese Pointe hatte! Ich glaubte schon, das berühmte Fräulein von Flottwitz hätt' es dir mit einem ihrer Blicke links um die Ecke angethan ...

Wer war das blonde Fräulein? fragte Egon.

Das Mitglied einer sehr achtbaren Kriegerfamilie, sagte Dankmar. Die Flottwitz datiren sich auf die ersten ruhmwürdigen Entfaltungen unserer Fahnen zurück und bevölkern die Cadettenhäuser auch schon für unsere zukünftige Glorie ... Das blonde Fräulein hat den weiblichen Reubund gestiftet und steht an der Spitze der großen Demonstrationen mit wollenen Socken und patriotischer Hingebung. Sie ist eine Schwärmerin, wie nur je eine unter dem Drudenbaume saß und in einem Anfalle von landeserrettender Verzückung ausrief: Mein ist der Tzako, mir gehört er zu! Sie vertritt die Principien der politischen Stabilität, wie die quecksilberne Frau von Trompetta die der religiösen. Und doch gesteh' ich, in dem Blick des blonden Mädchens lagen trotz der siegreichen [1785] Reaction noch so viele höhere unbefriedigte Triebe, daß ich wohl einmal an diese weißen zarten Formen anklopfen und fragen möchte: Erlaubst du wohl, daß ich die innere Organisation deines merkwürdigen Gehirnes studire und mich überzeuge, wie man phrenologisch gebaut sein muß, um die Demokratie so gründlich zu hassen, wie es dies Mädchen bis zum Fanatismus treiben soll!

Und Egon fiel ein:

Was sich in dieser Stadt nicht Alles zusammenfindet!

Was hier nicht Alles auf Unsterblichkeit oder das Narrenhaus spekulirt!

Indeß theilte er Cigarren aus und gebot dem Kutscher, trotz des sich verdüsternden Himmels, langsam zu fahren und begann wieder:

Wie ich mich rückwärts an das Gitter der Terrasse lehne, treten die königlichen Herrschaften auf Drommeldey zu, den sie sehr huldvoll grüßen. Ew. Majestäten erstaunen, einen Arzt auf der Terrasse von Solitüde die reinste Luft der Monarchie schöpfen zu sehen, sagte er ... Hier mein Patient, Fürst Egon von Hohenberg, ist Schuld, daß ich ein so seltenes Glück genieße. Ich mußte mich natürlich jetzt tief verbeugen und meine Zurückgezogenheit entschuldigen. Mit großer Güte spricht die Königin von meiner Krankheit, an der jeder Fühlende theilgenommen. Der König erinnert sich allergnädigst, daß ich zuweilen bei ländlichen Festen mit ihm spielen durfte und zeigte mir an der Stirn die Narbe eines Steines, von dem er behauptete, daß ich die unschuldige Veranlassung [1786] davon gewesen wäre. Er begrüßte mich herzlich wie einen alten Kameraden und die Königin ihrerseits war nun erst recht erfreut, den hohen Gemahl so angeregt und von seinen Erinnerungen an die Jugend und die Narbe ergriffen zu sehen. Da ich etwas verlegen und einsylbig antwortete, so glaubte eine alte Hofdame, die der Königin sehr nahe stand, ich wäre vielleicht in der französischen Sprache heimischer und wußte es so geschickt einzufädeln, daß plötzlich die Conversation vom Deutschen in's Französische übersprang und mehre Herren, Militairs und Civilisten, Theil nahmen. Daß ich wie das sonderbarste Wunder der Welt betrachtet wurde, sah ich wohl und fühlte die Nothwendigkeit, mich nicht zu zaghaft, zu schüchtern zu gebehrden. Ich trat mit den Reminiscenzen meiner früheren, vorgenferischen Zeit mit möglichstem Nachdruck hervor. Dadurch ergab sich wie von selbst, daß sich der Zug in eine halb stehende, halb gehende Bewegung setzte, und wir unter die Orangenbäume zu wandeln kamen. Der König, der eine sehr deutsche Gesinnung prononcirte, begann auf's neue in den vaterländischen Lauten und Alles schien erfreut, zu bemerken, daß der Sohn des alten Generalfeldmarschalls, der so vortrefflich Deutsch, wenn nicht zu sprechen, doch zu fluchen verstand, nicht ganz aus der heimatlichen Art geschlagen war. Unter solchen, mehr oder weniger abgerissenen kürzeren oder längeren Bemerkungen standen wir plötzlich vor den geöffneten großen Fensterthüren der untern Säle des Schlosses. Mon prince, sagte die Königin mit vieler Anmuth, finden Sie [1787] hier nicht einige Erinnerungen an Ihre Kindheit? Was wiederhol' ich ihre Worte! Sie bedeutete mich, einen Blick in die Säle zu werfen und nachzusehen, ob dort nicht angenehmere Erinnerungen für mich wären, als die an einen Stein, den ich einmal unglücklicherweise an die Stirn Sr. Majestät geworfen hätte. Ich war befangen, wußte nicht, was sie meinte und trat einem der Säle näher. Die Herrschaften gingen voraus und ich erblickte ein Ameublement von größtentheils schwarzem gothischem Hausrath, der dem ohnehin der Sonne abgewandten Zimmer etwas ungemein Düsteres gab. Noch besann ich mich, was man meinen mochte, als eine kleine Uhr einen Choral zu spielen begann. Nun besann ich mich. Ich war auf Hohenberg, in den Zimmern meiner Mutter, die Erinnerungen der Knabenzeit tauchten zauberhaft in meinem Gedächtnisse auf, und ich gestehe Euch, war es die Rückwirkung meiner noch physischen Schwäche, war es die Macht der kindlichen Erinnerung, wie die kleine Uhr auf einer schwarzen Console mit weißen Marmorfüßen den frommen Choral spielte, dem ich als Knabe oft so neugierig gelauscht hatte, trat mir eine Thräne in die Augen und kaum erblickte man meine Rührung, als sich auch die Königin und alle Damen abwandten, um zu weinen. Der König ergriff zuerst gesammelt das Wort und sagte: Mein lieber Fürst, es war ein Lieblingswunsch der Königin, auf einem unserer Schlösser die Einrichtung der Fürstin Amanda von Hohenberg, von der man so viel Geschmackvolles und Sinniges gehört hatte, zu besitzen. Jetzt kennt [1788] die Königin aber kein angenehmeres Gefühl, als dem Sohne, dem schon die frommen Klänge dieser Uhr die ganze unersetzbare Seligkeit der Jugendzeit zurückrufen, die Freude zu bereiten, die Ausschmückung dieser Zimmer da wieder hin zu verpflanzen, von wo eine allzugroße Indiskretion und Übereilung unserer Seits sie vor einiger Zeit entführte, ehe noch der Befehl dazu gegeben war. Die Bewegung, die diese schönen, gar zarten und rücksichtsvollen Worte im Saale hervorriefen, war um so mehr echt, als ich bemerke, daß sie auch auf Euch einen Eindruck machen. Meine Situation, gesteh' ich, war etwas peinlich. Sire, sagt' ich, mich fassend, mein guter Vater war so ein braver Patriot und hat in seiner Weise dem Vaterlande und Ihrem Hause so ruhmwürdige Dienste geleistet, daß es die Güte Ihres Herzens zu sehr in Anspruch nehmen hieße, wenn ich zugeben wollte, daß Sie die kleinen Schattenseiten seines Charakters, die alle Welt gekannt hat, mit dem Mantel der Liebe bedecken wollten. Wenn dieses Zimmer Ihnen die Erinnerung an einen alten Krieger zurückruft, der ... Nein, nein! unterbrach die Königin meine Ablehnung des sinnigen Rückgeschenkes. Ich würde mir ewige Vorwürfe machen, Prinz, wenn ich die stille Geisterspraehe, die durch diese scheinbar todten Geräthschaften eine Mutter mit ihrem Sohne reden kann, stören oder unterbrechen wollte. Nein, nein, Prinz, zur Feier Ihrer Genesung gestatten Sie uns, da wir hören, daß Sie Ihre Güter unverändert behalten haben, diese Einrichtung dort wieder aufstellen zu lassen, von wo aus [1789] sie ein übergroßer Eifer, der uns Alle erschreckt hat, zu rasch, zu verletzend für uns Alle entfernte. Dabei fiel der Blick der Königin auf eine lange hagere wie angedonnert dastehende Figur ...

Dankmar sagte ganz für sich:

O weh!

Egon fuhr fort:

Auf einen hagern sterngeschmückten Mann, der bisher eine außerordentlich selbstzufriedene Rolle gespielt hatte und wahrscheinlich der Intendant der Schlösser und Gärten, mein schlimmer Freund, Herr von Harder, war. Sämmtliche Kammerherren und Offiziere bissen sich auf die Lippen. Es that Allen wohl, nach einem Momente der Rührung sich durch eine kaum unterdrückte Schadenfreude humoristisch zu erholen. Ich nahm nun die Angelegenheit heiter und leicht, erklärte, wenn man die Gnade haben wollte ...

Pst! rief jetzt Dankmar, unterbrach Egon und blinkte mit den Augen nach etwas, was sich hinter ihnen begab und was er, da er mit Louis rückwärts saß, leichter sehen konnte.

Was ist? fragte Siegbert und lehnte sich rückwärts über den Schlag hinaus.

In demselben Augenblicke schoß ein zweispänniger Wagen im vollen Laufe vorüber, mit den bekannten beiden Bedienten Ernst und Franz ... Die Excellenz von Harder! Unmuthig, die schwarzen Augenbrauen tief heruntergezogen, lag sie in dem Wagen, die Arme übereinandergedrückt.

[1790] Auf dem Bocke saß neben dem Kutscher zu Dankmar's Bedauern der Garteninspektor Mangold, der freundlich und heiter seine Mütze zog und die Gesellschaft grüßte, während der mit Mangold's geistigen Kälbern pflügende Hofmann Dankmarn, den er in seinem Glücksrausche auf der Terrasse nicht gesehen hatte, jetzt in seinem Misgeschick vollkommen erkannte und den spöttischen Gruß, den ihm der Entführer des Bildes, der Mitverschworene Melanie's, mit großer Beflissenheit zuwarf, mit einem kaum achtenden Griff an seinen Hut erwiderte.

Die Miene eines Hofmannes, der so ganz allein mit einer langen königlichen Nase in stiller Einsamkeit da vorüberfuhr, war in dem Grade komisch, daß Alle herzlich lachten und sich von der peinlichen Stimmung, die denn doch die Erzählung des jungen Fürsten hervorgerufen hatte, befreit fühlten.

Egon setzte nun noch hinzu:

Nach einigen allgemeinen Bemerkungen bat ich die Majestäten um die Gnade, mich nächstens im Schlosse vorstellen zu dürfen und empfahl mich mit Drommeldey, der mich draußen auf der Terrasse erwartete, unter den herzlichsten Glückwünschen für meine Genesung. Der Schalk hat mir indessen gestanden, daß dies Abenteuer nicht ganz zufällig war.

Die Bedienten, bestätigte Dankmar etwas bitter, die dort eben vorbeifuhren und der Mann in der Mütze auf dem Bocke, ein Garteninspektor, waren im Einverständnisse [1791] und haben zum Schlosse hinauf das Zeichen unsrer Ankunft gegeben.

Das ist mir, sagte Egon, das einzige Verdrießliche an dem Vorfall, der an und für sich mir sehr wohl gethan hat.

Warum wollen Sie diese Verabredung verdrießlich nennen? sagte Siegbert, der sein Mildern, Ausgleichen, Versöhnen nicht lassen konnte. Ich bin kein begeisterter Monarchist, aber ich finde die Aufmerksamkeit sehr artig und bin überzeugt, daß dies Abschütteln einer lästigen Acquisition, des Mobiliars Ihrer Mutter, allgemein die Gesellschaft entzücken wird.

Das Gute daran ist besonders auch die Nase der Excellenz von Harder, sagte Dankmar und zündete sich aufs neue die ausgegangene Cigarre an. Die Bedienten, fuhr er fort, waren wol nicht aufgestellt, weil sie den Gefangenen vom Plessener Thurme, sondern mich, den Begleiter von Melanien, kannten. Jetzt erinnere ich mich der langen Hälse und Zeichen, die diese Schlingel machten, als wir am Portal hielten ...

Wunderliche Welt! sagte Egon kopfschüttelnd. Was sich da Alles wie ein Schneehaufen zusammengeballt hat und nun so einfach am Sonnenstrahl eines königlichen Wortes auseinanderschmilzt! Ich werde dich bitten, lieber Louis, daß du Heunisch veranlassest, seine Rückreise um einen Tag aufzuschieben und die ganze Bescheerung wirklich nach Hohenberg mit zurückzunehmen.

Louis deutete an, daß er Dies gern besorgen wollte.

Ja, ja, Louis, sagte Egon scherzend, nun sind wir im [1792] Netz. Nicht wahr, jetzt werd' ich mich wie Euer Barnave, du kennst die Revolutionsgeschichte besser als ich, für die schönen Augen meiner Königin opfern und mit Blondel singen: O Richard, mon roi, si l'Univers t'abandonne – Das denkst du doch!

Louis machte eine Bewegung, die allenfalls sagen konnte: Allerdings!

Wenn ich auf Drommeldey hören wollte, sagte Egon, so war dieser königliche Gnadenakt auch zugleich wirklich ein Aufruf an meine Loyalität, der etwa soviel heißen wollte: Bester Hohenberg, Sie haben sich in der Welt umgesehen, man beobachtet Sie, man erwartet etwas von Ihnen; wir brauchen Freunde, tummeln Sie sich jetzt, machen Sie keine dummen Streiche, wählen Sie vernünftigen Umgang, verwirren Sie die Debatte nicht durch neue sogenannte Gesichtspunkte und dergleichen Thorheiten mehr ...

Die Ärzte sind Optimisten, sagte Dankmar.

Er gestand mir kürzlich schon am Krankenbett, bestätigte Egon, daß er zum Reubund gehörte und versicherte mich, ich sollte ihn darum nicht für geschmacklos halten. Er sprach wie einst Schlurck im Heidekrug. Es gäbe Zeiten, wo man das Auffallende mitmachen müsse, um nicht selbst aufzufallen. Er ist schlau und deutete an, ich sollte mir eine politische Stellung machen. Daß er, als seine List gelungen war, sie sogleich eingestand, beweist eine gewisse Gutmüthigkeit.

Herr Dankmar glaubt eine Candidatur für den Prinzen [1793] Egon von Hohenberg aufstellen zu können, fiel Louis Armand ein. Wie nun, wenn der junge Staatsmann auf der Tribüne stünde, für die Rechte der Völker sprechen wollte und in demselben Augenblicke fielen ihm die gerührt weinenden Augen seiner Königin ein?

Du regst eine Frage an, lieber Louis, sagte Egon, die durchaus nicht persönlich, sondern principiell ist. Ich halte es allerdings für schwierig, sein Verhältniß zur freisinnigen Erörterung politischer Zustände mit jenem Maße von Achtung in Einklang zu bringen, das man der Monarchie und allen ihren Traditionen persönlich zollen muß. Ist der monarchische Begriff unvollkommen vertreten, hat man es mit schroffen, anmaßenden Fürsten zu thun, so wird uns der Kampf gegen das Übermaß ihrer Prärogative leichter werden. Schmerzlich aber ist es allerdings, mit liebenswürdigen Persönlichkeiten in principiellen Conflikt zu gerathen!

Ein anständiger Republikaner, bestätigte Dankmar etwas ironisch und meinte es doch ernst, ist allerdings zu bedauern. Man will denn doch nicht dastehen, als hätte man seinen Knigge nicht gelesen. Die Henker sogar haben in der Geschichte, ehe sie die traurige Kunst ihres Schwertes zeigten, gewisse Personen selbst vorher um Entschuldigung gebeten.

Siegbert meinte, Das wäre ein sehr großer Fehler der bevorrechteten Stände, daß sie sich keine Politik ohne Misachtung der Personen denken könnten und wiederum wären unsere Zeitgenoasen gerade noch deshalb für die [1794] Politik unreif, weil sie, wenigstens in dem Staate, in dem sie lebten, die Personen ganz und gar mit dem Principe verwechselten. Nehmen Sie diese Flottwitz, sagte er. Tausende sind wie diese! Sie halten sich an die persönliche Erscheinung der Monarchie und wollen wie Wundergläubige die Kraft ihrer Andacht nur durch die Unmittelbarkeit der Berührung stärken.

Oder, sagte Dankmar, der trotz einer gewissen Aufregung durch das Interesse für Mangold und Auguste Ludmer besonders guten Humors war – die Flottwitz und die Nase der Excellenz hatten ihn belustigt – oder sie stärken ihre Andacht durch ein unmittelbares Eingreifen, besonders in die königliche Chatoulle. Ja, Egon, ich gedenke, von dem Heidekrüger Justus, der dreimal gewählt worden, zwei Chancen für dich zu gewinnen und bei dieser Gelegenheit ihn zu fragen, ob der pensionirte Major vom Busche, der in seinem Wahlkreise die großen Adressen für Fürst und Vaterland preßte, jetzt auch noch das Geld für die Noten bekommt, die seine Tochter auf einem vom König ihr geschenkten Pianoforte spielt.

Verkehrte Welt! rief Egon nach Erzählung dieser Anekdote aus. Hier haben wir noch die arkadischen Sitten patriarchalischer Zeiten, dort nagt die Zweifelsucht schon Alles in Millionen zusammenhangloser Atome! Nenne uns Einer das Zauberwort, das neue Menschen schafft, die für die alte Welt passen, oder eine neue Welt, die die alten Menschen nimmt, wie sie einmal sind! Nichts schickt sich mehr in's Andre. Der Stoff, der Jahrtausende lang die [1795] Herzen kittete und band, scheint verbraucht. Die Ecksteine sind verworfen und wo gibt es neue? Das Todesbeil kann kein Leben schaffen. Aus dem Blute der Geopferten steigt die Rache und kein Segen blüht, wo einmal geflucht wurde. Die Menschheit geht nicht die richtige Bahn. Wer greift die Zügel und schleudert das Gefährt auf die Seite, wo keine Abgründe drohen? Ich suche eine Formel, eine Lehre, die größer ist als alle Könige der Welt und vor der die Könige und Bettler zugleich anbeten! Pflicht! Pflicht! Trätest du aus den Wolken und zögest wie eine entschwebende Glorie über die Erde hin, daß Alle die Hände ausstreckten und riefen: Bleibe bei uns! Verspottet mich nicht Freunde, die Scene mit dem Königspaare hat mich doch so aufgeregt, daß ich blutige Thränen weinen möchte, wie Alles doch so verkehrt geordnet, so toll verwirrt, so unauflöslich und unentwirrbar ist.

Dankmar warf seine glühende Cigarre aus dem Wagen, so erschreckte ihn die Art, wie Egon seine Scherze aufnahm ... Er fragte, ob er Egon verletzt, gekränkt hätte.

Nein, sagte dieser bewegt und reichte allen Dreien die Hand; ist es nicht erschütternd, daß wir vier, die wir die Dinge, wie sie jetzt gehen, mit gleicher Aufrichtigkeit hassen, uns doch nicht vereinigen können über den Weg, wohin sie gehen sollen? Da ein Communist, hier ein Radikaler, Freund Siegbert, wie ich schon hörte, als wir auf die Terrasse stiegen, ein idealer Sozialist, und ich ...

In diesem Augenblicke ertönte in der Ferne ein greller Pfiff. Der Kutscher hieb so heftig in die Pferde, daß der [1796] Ruck, den der Wagen dadurch erhielt, Egon's fernere Rede unmöglich machte.

Die Eisenbahn! riefen die Bedienten fast sich überneigend.

Man sah in der merklich vorgeschrittenen Dämmerung den Rauch einer daherbrausenden Lokomotive. Der Kutscher wollte ihr zuvorkommen und den Durchschnitt der Bahn noch gewinnen ... Aber schon fanden sie die Barriere verschlossen und mußten halten.

Wie sie so stillhielten, kam von der andern Seite mit gleicher Schnelligkeit eine Gesellschaft zu Pferde. Auch sie glaubte noch das Schließen der Schranken überholen zu können, kam aber ebenfalls zu spät. In der vom dunkeln mit Wolken gemischten Abendroth widerstrahlenden Beleuchtung nahm sich diese Cavalcade, an deren Spitze eine Dame hielt, außerordentlich malerisch aus. Wenn der Herbst ohnehin so reich an schönen Wolkenmomenten ist, so hatten sich gerade heute dunkelrothe, blaue und gelbe Farben zu einem Hintergrunde gemischt, aus welchem diese Rosse, diese Reiter und diese Amazone sich mit der lebendigsten Wirkung abhoben. Dazu rollte in weiter Ferne ein Donner und ein leichter Blitzschimmer zuckte zuweilen durch das dunkle Gewölk, das jene Reitenden nicht zu achten schienen.

Wie die Amazone in einem schwarzen Sammetrocke mit langherabhängender Schleppe und einem förmlichen Männerhute, der ihr jedoch mehr im Nacken, als auf der Stirn saß, so gewaltsam mit ihren Begleitern heransprengte, [1797] daß im Augenblick, als die Schranken geschlossen wurden, die Pferde fast auf die Kruppe zu stehen kamen, erkannten die Brüder Wildungen Melanie Schlurck.

Egon, der von der Schönheit dieser majestätischen und in der grellen Beleuchtung des farbenreichen Abendhimmels doppelt blendenden Erscheinung mächtig ergriffen wurde, entdeckte sogleich, daß die Brüder die Reiterin kannten. Dankmar, statt ihm zu sagen wer sie war, fragte, ob er sich nicht einer ähnlichen Scene bei Hohenberg im Walde erinnerte?

Wohl, sagte Egon, das ist Dieselbe, die uns in dem Augenblicke begegnete, als uns von unserm Wägelchen der junge, rothhaarige Führer durchging, Schlurck's Schreiber ...

Und dies ist Schlurck's Tochter, die schöne Melanie, wie man sagt die Verlobte jenes jüngern Mannes, der ihr zur Seite reitet, des Stallmeisters Lasally. Ich täusche mich nicht, es sind dieselben Herren wie damals. Der Justizdirektor Herr von Zeisel, und der Banquier von Reichmeyer ... die Andern kenn' ich nicht.

Siegbert grüßte über die Barriere hinüber; nicht minder bewegt, wie Dankmar, der beim Anblick des schönen, ihm zu jeder Stunde so liebevoll und freundlich gewesenen Mädchens seine gewöhnliche Selbstbeherrschung verlor und nicht jede Frage verstand, die Egon an ihn richtete.

Die Lokomotive kommt, sagte Louis, die Dame ist der Barriere zu nahe.

[1798] Und Egon, sich auf den Anblick dieses Mädchens in jener Mondnacht, wo sie im Nachtkleide zum Fenster seines Schlosses in Hohenberg hinausblickte, von neuem wohlbesinnend, ergriffen von der Möglichkeit, daß das Roß des schönen Mädchens scheuen könnte, sprang auf und rief hinüber:

Ich bitte Sie, Fräulein! Reiten Sie zurück!

Reichmeyer und Zeisel zogen unablässig den Hut und schienen ganz die Meinung des Prinzen zu theilen ...

Melanie lehnte sich von ihrem englischen Sattel ein wenig seitwärts, um die donnernd heranbrausende Lokomotive nicht zu sehen und kehrte ruhig lächelnd und für die bewiesene Theilnahme sich leicht verbeugend, als sie vorbei war, wieder in ihre alte Stellung zurück ... Lasally faßte ihre Zügel .... Sie schien es verhindern zu wollen ... In dem Augenblick fuhr der Train mit seinem feurigen Vorspann mit wuchtvoller, centnerschwerer Sicherheit über die Schienen hin ... Als er vorübergedröhnt war, wurden die Schranken geöffnet ... Egon's Pferde zogen an. Melanie mit einer eigenthümlichen Befriedigung auf Dankmar, Siegbert und den ihr bisher nur in einer Blouse bekannt gewordenen, jetzt endlich, endlich sichtbaren wahren Prinzen Egon herabsehend, sprengte nicht ohne Stolz und mit einem eigenen lächelnden Ausdruck an ihnen vorüber ... Die Andern folgten ... außer Herrn von Zeisel, der am Wagenschlage seiner Herrschaft hielt und um die Befehle der Durchlaucht bat, ihm Glück wünschend zu der ersten Ausfahrt.

[1799] Bei diesem Wetter reiten Sie? fragte Egon. Wir werden einen Sturm haben.

Grillen eines schönen liebenswürdigen Mädchens, Durchlaucht! sagte Zeisel etwas verlegen.

Sagen Sie diesem Mädchen, daß sie ein Engel ist! Kommen Sie doch morgen mit Heunisch ganz früh zu mir. Ich habe weitläuftige Aufträge für Sie! Aber jetzt Adieu! Adieu! Grüßen Sie die Amazone! Verspäten Sie sich nicht!

Herr von Zeisel zog den Hut ehrerbietigst und ritt in etwas unfreiwilligem Galopp seiner Gesellschaft nach ...

Egon blieb einen Augenblick aufgerichtet im Wagen ... hielt sich, da die Federn schwankten, an der Rücklehne ... und schaute, trunken vor Interesse.

Vom schwarzdunkelblauen Hintergrunde aus nahmen sich die Reiter wie die Boten des Sturmes aus. Ein Blitzstrahl zuckte über Melanie hin, eben als sie sich noch einmal umwandte. Der Schimmer erleuchtete bläulichweiß ihre edelgeformten Züge, in denen Siegbert, leise zum Ohre des Bruders gewandt, etwas Melancholisches, Kummervolles entdeckt haben wollte, das ihr sonst so fremd war ...

Egon konnte, als sie weiter fuhren, nicht begreifen, wie ihm diese Erinnerung jemals hätte schwinden können!

War es die Sorge um die Störung durch den närrischen Einfall deines Begleiters, sagte er, oder lebten meine Gedanken nur in Dem, was ich auf dem Schlosse meiner Eltern vorhatte, ich erinnere mich wohl, auch schon [1800] damals von dieser blendenden Erscheinung überrascht gewesen zu sein, allein der Eindruck schwand und erst jetzt erneuert er sich in ganzer Frische. Wie sind diese Formen des Halses und der Brust so regelmäßig! Wie vollendet gewölbt ist dieser Rücken, den ich mich nur erinnere, an einer Statue der Venus im Pariser Louvre gesehen zu haben! Und diese Rundungen, die von den freien Schläfen und der klaren Stirn herab sich über die Wangen zum Kinn ziehen, wie weich! Wie Wachs! In dem Munde liegt ja ein ganzes Compendium jener Mimik, die Frauen von einer nicht zu excentrischen Leidenschaft und einer bewußten Wärme ihrer Empfindungen so sehr in der Gewalt haben!

Die Gebrüder Wildungen sahen von ihrer eigenen Liebe getroffen wehmüthig zu Boden ...

Wie es zwischen jungen Männern zu geschehen pflegt, ihre Gespräche beginnen mit dem Universum und hören mit den Frauen auf. Es ist das einzige Thema, wo alle Parteien sich rasch verständigen und über den Begriff der Schönheit soviel Nüancen zulassen, wie nie über einen ideellen andern Gegenstand. Da ist der entgegengesetzteste Geschmack zu vereinigen und es läuft bei den verschiedenartigsten Wesen, die man vergleicht, immer darauf hinaus, daß Dasjenige für wahrhaft schön erklärt wird, was gefällt.

Louis hatte in dieser Unterhaltung, die bei dem raschen Zufahren des Wagens sehr lebhaft geführt werden mußte, um sich verständlich machen zu können, die angenehme [1801] Genugthuung, daß Egon seine Beispiele lieblicher Erscheinungen aus der Frauenwelt von seinen Erinnerungen aus Lyon hernahm und mit einem dem Bruder Louison's gebotenen Handdrucke sagte:

Louison hatte Alles, um zu gefallen. Augen, die nicht unstät umirrten, Augen, die, wenn sie empfand, stillstanden und Den, den sie ansah, ganz in sich aufnahmen, ja hinüberzogen wie in eine träumerische Vergessenheit aller Dinge! Louison hatte die schönsten Zähne und lachte doch nur selten! Wer die Eitelkeit der Frauen kennt, wird begreifen, was es heißt schöne Zähne haben und nicht jedes Wort mit einem Lächeln begleitet sehen. Stieg ihr dann aber auch der Schalk in den Nacken, wie konnte sie ausgelassen sein! Wie schlug sie den Arm um meine Schulter und blies mir, wie ein Kind, dem Stäubchen in's Auge geflogen sind, so von der Stirn jede Wolke des Unmuthes! Da konnte sie sich schmiegen, der zarten lieblichen Gestalt Wendungen geben, wie der Knabe einer Weidengerte. Ja, wenn ich oft zürnte und über Mancherlei schmollte, war's da nicht wie mit der Blume im Topfe, die der Sonne zugewendet blüht? Man dreht den Scherben um, läßt die Blumenkrone in den Schatten sehen und in wenig Stunden langt sie mit ihren Armen doch schon wieder nach der Seite des Lichtes hin! Ich will Louison's Andenken nicht entweihen und von ihrem Kusse sprechen. Aber Das kann ich ihren Zärtlichkeiten nachsagen, Louis, daß sie die Eingebungen des Herzens waren. Was das Raffinement des Verstandes, die kalte Leidenschaft, die gemeine [1802] Erfindung, die Liebe entweihend, an Mysterien der Hingebung nur ergrübeln kann, das kam unsrer armen Louison wie ein Einfall der Schalkhaftigkeit und Laune. Ich behaupte, jede Zärtlichkeit eines Weibes, die nicht der Herzensgüte entstammt, ist ein Gift und rächt sich durch den Überdruß. Ich hasse das stürmische, hastige Naschen vom Baume der Erkenntniß. Aber ekel sieht die Asche der verglühten Leidenschaft aus! Ah, Louison! Du hattest ein Geheimniß, das so Wenige verstehen: Du schwiegst, wenn du liebtest! O wie beredtsam war dies Schweigen! Wie genügte diese ruhige, stille, stundenlange träumerische Umarmung! Dieser einzige Blick, wenn sie zu meinen Füßen saß und nur aufschaute und sagte: Rühr' dich doch nicht! Ich brauche nur deine Augen zu sehen! Und Das that sie stundenlang, hielt meine Hand und schwieg. Und nun schweigt sie für ewig!

Die Einfahrt in die lebhafte Vorstadt, der Hinblick auf die eben aufblitzenden Gasflammen der dunkeln innern Stadt brach diese wehmüthige Wendung des Gespräches ab.

Egon ermannte sich, dankte den Brüdern Wildungen für den freundlichen, ihm bereiteten Tag und bat nur entschuldigen zu wollen, daß er mit seinem Freunde Louis die Ruhe suche. Er fühle sich erschöpft, bedürfe für morgen gestärkter Kräfte und dann zu Louis sich wendend, sagte er:

Mit Heunisch wirst du vielleicht noch heute sprechen, nicht wahr?

[1803] Laß mir jede Sorge, Freund! antwortete Armand.

Ihm und Zeisel übertrage das Delogement der wiedereroberten Andenken an meine Mutter! Ich nehme die Sachen nach Hohenberg. Gnaden und Herablassungen dieser Art muß man so nehmen, wie sie geboten sind, sonst ängstigt man den Geber und läßt ihn glauben, man fühle sich durch seine Güte verletzt oder wisse sie nicht zu schätzen.

Es trat eine Pause ein. Man hatte zuviel erlebt, zuviel Eindrücke führte man mit sich heim ...

Der Wagen rollte pfeilschnell ...

Doch sagte Egon, gleichsam um der Bekanntschaft des ihm so wohlthuenden Siegbert die letzte Weihe zu geben:

Sprechen Sie noch heute die Fürstin Wäsämskoi?

Siegbert bejahte.

Nun, so bereiten Sie mir daselbst für morgen einen günstigeren Empfang vor, als ich nach der schlimmen Meinung der Kinder scheine erwarten zu dürfen. Jedenfalls muß ich Rudhard sehen, dessen Namen ich so verehre, daß ich mich in Frankreich nach ihm nannte. Sagen Sie ihm Das! Ich habe viel von Dem, was meine Mutter ihn so übel empfinden ließ, wieder gut zu machen und sind auch meine Mittel gering, so gehört er, das weiß ich, zu Den Menschen, die sich auch durch Gesinnung belohnt fühlen.

Nahe beim Palais des Prinzen stiegen Dankmar und Siegbert aus und mußten versprechen, morgen bei Egon zu speisen.

[1804] Wir haben auch wegen der Deputirtenwahl zu reden, sagte der Fürst lächelnd.

Wohl, erwiderte Dankmar, diese Angelegenheit kann nicht schnell genug betrieben werden.

Als Louis den Schlag von innen zudrückte, gab ihnen Dankmar, dem Arbeiter wie dem Prinzen, mit gleicher Herzlichkeit die Rechte.

Die Brüder sahen dann dem Wagen nach, wie er rasselnd in das Portal des Palais einfuhr ...

Bist du befriedigt? fragte Dankmar, als sie allein waren.

Vollkommen! erwiderte Siegbert. Dieser Egon besitzt den Stoff zu einer großen Zukunft!

Was ich thun kann, ihn hochzuhalten, soll geschehen und müßt' ich selbst der Schemel dazu sein; sagte Dankmar.

Warum sprachst du nichts von unserm Proceß? fragte der Bruder.

Bei günstigerer Gelegenheit. Wir sind ihm noch zu ideell ... Und nun: Guten Abend, Bruder! Du gehst zu ...

Wohin anders als zu meinen Kranken, sagte Siegbert fast wehmüthig. Denn Das sind diese Wäsämskoi's! Sie bedürfen meiner um zu leben und ich fühle, wie qualvoll die Leiden ... eines Magnetiseurs sein mögen.

Die Kleine ist lieblich, voll Charakter, reif zu einem Roman! sagte Dankmar voll Herzlichkeit, die schmerzliche Wehmuth des Bruders wohlverstehend. Warum weinte sie? Gewiß nicht deshalb, weil du nicht mit ihr fuhrst ...

Sie weinte, sagte Siegbert bebend, weil sie glaubt, daß ich die Mutter liebe ...

[1805] Richtiger, sagte Dankmar ernst und voll Schmerz, weil diese Mutter dich in Wahrheit liebt!

Siegbert schwieg ...

Beide Brüder standen sich so voll innerstem Antheil gegenüber.

Ich gehe nach Haus, sagte Dankmar, um für uns zu lesen, zu schreiben, zu arbeiten. Vielleicht auch noch etwas auf das Café Richter!

Komm' nicht zu spät!

Die Brüder trennten sich mit innigem Händedruck ...

Hätten sie noch einige Minuten gewartet, so würden sie noch Louis getroffen haben, der eben rasch, verstört und in großer Unruhe aus dem Portale trat ...

Was war ihm begegnet?

Nichts, als daß er den Prinzen die Treppe hinaufführte und ein Licht aus einer der dienenden Hände nahm, um Egon in ein schon dunkles Zimmer zu begleiten ... Wie er an das letzte kam, dem Egon, um sich auf seine weichen Polster zu werfen, mit rechtem Verlangen schon näher entgegentrat, hörte er drinnen den jubelnden Ausruf einer weiblichen Stimme: Egon da bist du! ... Er trat ahnend näher, das Licht erlosch, er hörte den feurigen Kuß einer sehnsuchtsvollen, zur rasendsten Ungeduld gesteigerten Begrüßung ... er fühlte eine weiche Hand, die einen elektrischen Schlag auszusprühen schien, die seine ergreifen und ihn mit einer einzigen Bewegung fast an die Thür zurückschleudern ... Er trat von selbst zurück. Die Thür fiel in's Schloß und wurde von innen verriegelt ...

[1806] Louis stand eine Sekunde im Dunkeln, besann sich und suchte mit raschem Entschlusse, weil sein beklommenes Herz zu ersticken fürchtete, das Freie.

Vergebens sah er sich nach den Brüdern um, von denen er nichts mehr entdeckte. Ein ferner Donner rollte und helle Blitze zuckten ... Dennoch langsam und tiefaufseufzend ging er der Wallstraße zu, um Heunisch's Abreise noch um einen Tag zu verhindern und sich durch einen freundlichen, Franziska dargebrachten Abendgruß für seine Befürchtungen über die Aussöhnung zwischen Egon und Helene d'Azimont zu trösten.

[1807]
14. Capitel. Wahre innere Mission
Vierzehntes Capitel
Wahre innere Mission

Als an demselben Tage Mittags Louise Eisold nach Hause gekommen war und sich in ihrem Hinterhofe auf der Brandgasse die steile Treppe an dem glatten Seile hinaufgeleiert hatte, wenn man einen Ausdruck der Mägde am Brunnen auf die Erleichterung des Emporsteigens über eine so halsbrechende Treppe anwenden will, waren ihre Kleinen über den Ausgang, der doch eine Stunde gedauert hatte, ungeduldig genug geworden.

Das Jüngste, die kleine Johanna, wollte sich von Friederike und Heinrich nicht beschwichtigen lassen, und schon auf der Treppe, wo ihr eine Nachbarin, der sie die Aufsicht übertragen hatte, sagte, daß Alles gut stände, hörte Louise doch den kleinen Schreihals, den sie schon auf der Galerie durch laute Schmeichelworte beruhigte, ehe sie noch eintrat und das nach ihr verlangende Kind auf den Arm nahm.

Das einfache Mahl war schon früh Morgens zubereitet und stand bei der warmen Asche auf dem Feuerherd. Der Brei für das weinende Kind war bald gewärmt und mit hundert Liebkosungen und Schmeichelworten, mit [1808] hundert scherzenden Anklagen ihrer selbst, auf ihrem Schooße ihm dargereicht.

Als der letzte Löffel voll verspeist war, that es auf ein paar Strophen vom schwarzen und weißen Schäfchen die Äuglein zu und schlief ein.

Jetzt kamen Riekchen und Heinrich an die Reihe des Speisens. Der kleine Zweijährige lärmte auch und jammerte. Dem gab Louise es aber schon derber mit Anwendung der Strafrechtsprincipien nicht auf sich, sondern den Kleinen selbst. Aber Heinrich beruhigte sich erst, als er die Löffel klappern hörte und Riekchen das Salzfaß brachte, das Louise immer zu vergessen pflegte. Nun fehlten freilich noch Linchen und Wilhelm, aber auf diese kleinen Zeitungsträger war nie sicher zu rechnen. Oft blieben sie über Mittag ganz aus und halfen sich durch Brot und schlechten Kaffee, den sie sich dicht bei der Druckerei in einem Keller geben ließen. Karl, der Älteste, aß draußen in der Willing'schen Maschinenfabrik.

Als Louise gebetet, vorgelegt, Brot geschnitten, sich und die Ihrigen mit der einfachsten Kost gesättigt hatte, deckte sie wieder ab und besorgte die Wiederherstellung der Reinlichkeit in der Küche. Dann lüftete sie das Fenster, um den Eßgeruch zu vertreiben. Hannchen schlief, auch Heinrich streckte sich jeden Mittag noch etwas in dem alten Lehnstuhl des seligen Urgroßvaters. Riekchen hatte im Zimmer keine Geduld, sondern kletterte die Stiege hinunter und hüpfte in dem Hof und auf der Straße [1809] umher. Louise aber ging an ihren Stickrahmen und eilte sich, das Versäumte nachzuholen. Heute nach der Anregung durch Franziska, durch das Gedicht, durch die Erinnerung an Hackert ging die Arbeit ganz besonders flink. Und die Aussicht auf die Waldpartie am nächsten Sonntag machte ihr die Hände vollends noch einmal so rührsam.

Das äußere Leben armer Menschen, die fleißig sind, ist einfach. Eine Viertelstunde in Einem weg das Haupt gebeugt, immer den Rücken gekrümmt, dann einmal ein Blick durch die bleigefugten kleinen Fensterscheiben, ein Blick nur, ein ganz kurzer ... Es gibt immer etwas zu sehen. Ein Spatz fliegt an's Fenster, ein Käfer brummt in den paar bescheidenen Lack- und Resedastöcken draußen auf einem seit langer Zeit verwitternden Blumengerüst. Drüben auf dem Dache klettert behend eine Katze und schleicht mit ihren sammetweichen Pfoten behutsam um den großen Hauslaufknollen herum, der unter einer Dachluke wild hervorgewachsen ist. Bei jedem Blicke, den sich Louise alle Viertelstunden einmal gönnte, blieb immer etwas haften, was sie von der wogenden unruhigen inneren Welt, die in ihr lebte, ein klein wenig tröstend und beschwichtigend abzog und sollt' es nur die Freude über den blauen Himmel sein. Die bösen Wölkchen, die sich von der Terrasse in Solitüde sehen ließen, brauchten lange Zeit bis sie in dem kleinen Gevierte von Himmelsluft, das man von diesem Hinterhofe aus überschauen konnte, gesehen oder auch nur geahnt wurden.

[1810] Ein Besuch fand sich hier oben, seit der alte Urgroßvater in das große Kunstwerk der Weltenuhr blickte und keine irdischen Zeitmesser mehr zu regieren brauchte, selten ein. Bei Herrn Murray nebenan war es so still, wie es bei Hackert gewesen war. Schmelzing, der für Dichter, Schauspieler, Advokaten und die Polizei Copiaturen fertigte, war auch nicht mehr da. Der war oft verliebt zu ihr gekommen und hatte sie mit seinen Zärtlichkeiten belästigen wollen, ihr aber mit seinen Schreiberärmeln nur ihre Arbeiten »verwuschelt.« Einen Gast, der sich auch um die Mittagszeit zuweilen einfand, den grauen Herrn Bartusch, ließ sie kalt und um so spröder an, als sie in ihren spärlichen Finanzen Ordnung hielt und sich vor ihm nicht zu demüthigen brauchte. Gestern erst hatte sie ihm gesagt, er möchte sie mit seinen Besuchen, die immer mit soliden Dingen anfingen und mit versuchten garstigen Zumuthungen endeten, verschonen. Ja sie ging sogar in ihrer jeweiligen kleinen Malice so weit, dem alten unverbesserlichen und von seinem Temperamente wahrhaft geplagten Herrn zu sagen, sie wolle die Maler-Guste, die Frau Rathsdienerin Spieß und ähnliche Favoriten Seiner Gestrengen nicht auf sich eifersüchtig machen. Daß sie ihn bei alledem doch nicht ganz ungern kommen sah, lag darin, daß er Manches über Menschen plauderte, die ihr lieb und werth waren. Von Hackert hatte er ihr zu ihrem Schrecken erzählt, daß er wirklich beim Oberkommissair Pax arbeitete und vielleicht bald in einem »feurigen« Kragen am Rocke einherstolziren würde, was [1811] sein Haar nur noch angenehmer heben würde. Schmelzing unterstütze ihn. Wo Das hinaus solle, wisse noch kein Mensch. Erst vor einigen Tagen wäre er beim Justizrath mit einem fremden Prediger gewesen, der bei einer russischen Herrschaft lebe und hätte den Justizrath wie ein Staatsprokurator über eine alte Bildergeschichte förmlich zu Protokoll genommen. Über Melanie, Lasally, über den Proceß der jungen Thüringer, die er hier bei Hackert an jenem Abende getroffen, über alle diese Gegenstände der Tageschronik plauderte Bartusch bei Louisen immer so lange, bis er die Gelegenheit für günstig hielt, sich für seine unterhaltenden Mittheilungen eine Zuthunlichkeit erlauben zu dürfen. Damit kam er aber denn doch immer übel an, sodaß ihm Louise zur Erkenntlichkeit nicht einmal ihrerseits Rede stand, wenn er von Danebrand, von Murray, von der Auguste Ludmer, die sie nie genauer gekannt hatte, etwas wissen wollte. In der Äußerung, daß sie doch zu beklagen wäre, neben einem so zweideutigen Manne zu wohnen, wie dieser Engländer mit der schwarzen Binde wäre, mußte sie ihm Recht geben, fügte aber hinzu, daß er ihr noch keine Ursache zu irgend einem Verdachte gegeben. Dieser Sonderling wäre ein stiller, gedrückter Mann, der von Morgens bis Abends spazieren ginge, viel englische Bücher lese und sich im Zeichnen übe, das ihm, in Zeiten, wo ihm noch nicht die Hand gezittert hätte, sehr gut von Statten gegangen sein müsse.

Alle diese Gedankenreihen von gestern und heute[1812] durchfliegend, fiel Louisen in einem Glase, das auf der Commode im Eck stand, eine Karte auf.

Sie griff darnach und sah, daß es eine Visitenkarte war, die auf den Namen »Sylvester Rafflard« lautete.

Wo kommt diese Karte her? dachte sie.

Die Karte war so glatt, so frisch, so neu, als hätte sie Jemand eben erst abgegeben.

Sie wird für Murray sein! dachte sie und wollte ihrer »Riekele« rufen, falls die im Hofe war. Sie von der Straße zu rufen, war sehr umständlich und kostete Zeit.

Von der Galerie, dachte sie, werd' ich ja sehen.

Damit ging sie hinaus, die Karte zufällig in der Hand haltend.

Draußen beugte sie sich über die Brüstung der alten baufälligen Galerie, sah Riekchen nicht, hörte aber Jemand mühsam die Treppe heraufsteigen. Sie ging einige Schritte vorwärts und erblickte schon Murray's zerknitterten Hut. Ein großer goldener Siegelring an der weißen zarten Hand des Alten stach sonderbar gegen den Strick ab, an dem sich die zuerst sichtbare Hand hielt.

Ah! sagte der Alte, als er oben war. Das ist steil! Gesegnete Mahlzeit, mein liebes, gutes Kind! Ich weiß schon, was Sie in der Hand haben.

Ich war nicht daheim und finde die Karte. Galt der Besuch Ihnen, Herr Murray?

Das kleine Riekele hat mir's schon unten erzählt. Wer ist's denn –

[1813] Damit war er an seiner Thür, holte Athem, schob seine über einen Draht gezogene Taffetbinde etwas höher und las gegen das Tageslicht, das etwas spärlich auf die dunkle Galerie fiel, jene Karte.

Dabei fuhr er sich über die Stirn und hob die schwarze Perrücke etwas höher.

Wer ist Herr Sylvester Rafflard? sagte er, hielt sich aber mit diesem Forschen nicht auf, sondern schloß schon sein Zimmer auf; Nr. 68 mit den noch immer vergitterten Fenstern.

Kann ich Ihnen etwas helfen, Herr Murray? fragte Louise Eisold. Das Wasser wird nicht frisch sein? Sind Sie mit irgend etwas unzufrieden, so sagen Sie es nur!

Danke! Danke! Mein gutes Kind; antwortete der Alte, immer freundlich und mild. Aber die Miethe ist fällig.

O bitte, Herr Murray ...

Nein, nein, Pünktlichkeit in Geld- und Liebessachen. Nicht wahr, liebes Fräulein?

Geben Sie mir nicht zu hohe Titel, Herr Murray! sagte Louise. Nennen Sie mich schlechtweg, wie ich heiße, Louise Eisold.

Darf ich denn Louischen sagen? fragte Murray, den Hut wegstellend und seine Handschuhe, die er schon ausgezogen hatte, hinlegend.

Wenn's Ihnen bequem ist, Herr Murray! plauderte Louise bei noch halb offener Thür.

Gut, Louischen, kommen Sie her, ich muß Ihnen die Miethe zahlen!

[1814] Dabei zog Murray eine Schublade, die er inzwischen aufgeschlossen hatte, ganz hervor. Sie war zu Louisens Erstaunen so schwer, daß er Mühe hatte, sie nur herauszubekommen.

Louise mochte nicht näher treten und über die gebückten Schultern des Alten hinwegsehen. Aber sie hätte schwören mögen, wenn sie näher träte, müßte sie nichts als große Geldrollen sehen, so wälzte sich Das in der Schublade, und es war ihr auch, als »klingte« etwas wie Gold. Um so auffallender aber der Contrast, als Murray nicht etwa eine große Geldrolle, sondern ein kleines ledernes Beutelchen hervorzog, es langsam öffnete und in lauter kleiner Scheidemünze zwei Thaler auf den Tisch mühsam zusammenzählte ...

Louise zählte nach und fand die Summe richtig. Wie sie sich wandte, bemerkte sie fast erschreckend an den Eisenstäben draußen vor dem Galeriefenster einen inzwischen heraufgeschlichenen Besuch. Es war eine hohe, schlanke, weibliche Figur, die ihr nicht unbekannt schien. Indem sah sie auf Murray und bemerkte die plötzliche Überraschung durch jenes Frauenzimmer, das man nicht hatte kommen hören, auch bei ihm. Der Besuch blickte lachend durch die Fensterscheiben und das Gitter und schien neugierig zu forschen, ob sie nichts von den Schätzen des eben in Geldgeschäften begriffenen Alten entdecken konnte. Rasch stieß Murray die Commode zu und zog den Schlüssel ab.

Das Mädchen, das darüber in lautes Gelächter ausbrach [1815] und die Thür mit dem Fuße zurückstoßend eintrat, war Auguste Ludmer.

Das ist deine Spelunke, Alter! rief sie. Hier haust du jetzt und hast so schöne Nachbarschaft?

Louise erkannte nun vollkommen jenes Mädchen, das in diesen Häusern auf Nr. 17 gewohnt hatte und auf dem Fortunaball mit Murray verhaftet worden war. Betroffen wandte sie sich ab, strich ihr Geld mit der hohlen Hand ein und verließ, ohne ein Wort zu sprechen, das Zimmer. Selbst wenn sie es mit ihrer Würde für vereinbar hätte halten können, zu lauschen, würde sie sich nicht in der Küche länger verweilt haben; denn Murray, das sah sie wohl, öffnete das zweite Zimmer, das, früher, durch einen vorgeschobenen Schrank getrennt, Schmelzing bewohnt hatte, und ersuchte Auguste Ludmer dort einzutreten. Louise legte auf ihrem Zimmer die Miethe in ihre kleine Kasse, notirte sie in einem Büchelchen und setzte sich nieder zur Arbeit, tiefergriffen von dem Nachdenken über die Möglichkeit, wie es weibliche Wesen über sich vermögen, sich so tief sinken zu lassen wie jene Maler-Guste, deren Nähe ihr unheimlich war und den Alten mit seinem schweren Commodenkasten plötzlich wieder genug verdächtigte. Tugendhafte Frauen fliehen Gesunkene wie jene Auguste, aber sie denken viel über sie nach und suchen sie nach den ersten heftigsten Anklagen meist mit einem schmerzlichen Gefühl über das unsichere jammervolle Frauenloos im Allgemeinen tiefaufseufzend zu entschuldigen.

[1816] Da siehst du, Auguste, wie man dich flieht, begann Murray, als er mit dem noch immer lachenden wilden Besuch allein war und die Maler-Guste sich in Schmelzing's ehemaliger Klause umsah.

Papa, rief sie, und warf sich fast der Länge nach auf einen Stuhl hin, daß dieser knackte und wackelte, Papa, die geht auch lieber auf einen Ball, als Sonntag Nachmittags in die Spittelpredigt. Wir haben sie ja in der Fortuna gesehen.

Was bringt dich her, Louise? fragte Murray, nahm einen Stuhl und wollte sich ihr gegenüber setzen.

In quecksilberner Beweglichkeit sprang sie aber sogleich wieder auf und rief:

Erst, Alter, laß mich deinen Palast sehen, wo du deine Schätze vergräbst! Hierher, denkst du, steigen die Spitzbuben nicht nach? Drinnen die Eisenstangen, die haben dich wohl gelockt, oder unterhältst du dir das Mädchen, die sich eben die Hände wäscht von deinen schmuzigen Viergroschenstücken?

Ich gewöhne mich, siehst du, sagte Murray mit scharfer Betonung, an die angenehme Gelegenheit, hinter Schloß und Riegel zu kommen, wenn man sich mit dir öffentlich blicken läßt.

Papa hat Furcht gekriegt. Ha! Ha! Deshalb stand ich immer vergebens an meinem Theetopf in der Königsstraße und dachte, dein Alter kommt nicht ...

Ich zu dir? erhob sich Murray ernster. Du weißt doch, was ich dir sagte, als man uns von Gerichtswegen gehen [1817] hieß und ermahnte, nunmehr anständig und sittlich zu leben? Ich suchte eine Wohnung für uns Beide. Diese war dir zu schlecht und eine bessere ist theurer ...

Geizhals! Ha! Ha! Hier sollt' ich wohnen? Auguste Ludmer, die deine Brillanten trug, in diesem abscheulichen Loche? Heute ist schönes Wetter und hier ist's so dunkel, daß man die Hand kaum vor den Augen sieht ...

Das machen die schönen Gardinen ... Siehst du nicht?

Auguste lachte über diese ironischen Worte und zerrte an einem der roth- und weißgestreiften kattunenen Vorhänge.

Nein, Männchen, sagte sie, so haben wir nicht gewettet. Das sollte ein Bett sein? Das wäre ja um sich Beulen zu liegen ...

Aber reinlich.

Kein Sopha –

Vier Stühle –

Kein Spiegel ...

Murray mit einer eisernen Ruhe und Gelassenheit, seine zarten Hände sich in ihren Flächen reibend, als wollte er Brotkrumen drehen, immer lächelnd und mild, zeigte auf das Fenster.

Auguste nahm einen kleinen Handspiegel vom Fenster und tanzte, sich darin besehend, im Zimmer herum.

Ha! Ha! lachte sie. Der ist für dich! Für Leute, die nur ein Auge haben und ihre Perrücke nicht sehen mögen. Soll ich?

[1818] Sie warf ihn in die Höhe, spielte Fangball damit und drohte das kleine Glas zu zerbrechen.

Murray griff darnach und hing es wieder an das Fenster.

Was willst du, Auguste? fragte er dann mit großer Langmuth und Geduld.

Alter, sagte sie, setzte sich wieder und schlug dabei die Arme und die Beine übereinander, ich habe mich eben schwer geärgert. Ich habe Schulden und kein Geld, sie zu bezahlen. Gib mir Geld!

Murray schüttelte den Kopf.

Alter Geizhals, dein Kopfschütteln hilft dir heute nichts, rief sie, band den Hut ab und warf ihn auf das unbenutzte Bett des Schreibers Schmelzing und rüstete sich zu einer gründlichen Belagerung des Alten. Gib mir die Ringe, die Uhr, die Armbänder, die mir die Polizei abgenommen hat. Wo sind sie? Meine Kleider? Wo ist mein Barègekleid, das Linonkleid? Ich gehe heute nicht von der Stelle hier, bis ich meine Sachen habe.

Damit stampfte sie auf, stemmte beide Arme in die hohen gewölbten Hüften und gab ihrem in der That edelgeformten plastischen Kopfe den Ausdruck des widerwärtigsten Hohnes und Stolzes.

Murray erwiderte in aller Ruhe:

Da kannst du lange warten, mein Kind!

Murrkopf! antwortete Auguste, sich noch zähmend.

Bleib' dann nur lieber gleich hier! Sonst nicht! sagte die schwarze Binde.

[1819] Auguste färbte sich kirschroth. Sie warf die Arme auf den Rücken und trat mit einer so kecken Geberde auf Murray zu, daß dieser einen Augenblick, wie in seinen Nerven erschreckt, beweglich zuckte.

Auguste, ihren Vortheil wahrnehmend, rief:

Wirst du vernünftig sein oder ...

Oder? wiederholte jetzt der Alte ...

Oder – sagte das wilde Frauenzimmer und streckte beide Arme aus, als wollte sie den Alten an der Schulter fassen.

Da aber änderte sich die Stellung. Murray schien sich gefaßt zu haben und während die schönen muskulösen Arme des frechen Mädchens an seiner Schulter zerrten, zog Murray die Schulter in rascher Bewegung zurück und packte die beiden niederfallenden Arme des Mädchens mit einer kräftigen Wendung so an den Handgelenken und drückte diese mit furchtbarer Gewalt so einwärts, daß die Angreiferin mit einem unwillkürlichen Schrei sich bücken und lang vor ihm auf die Knie stürzen mußte.

Da ist dein Platz! sagte Murray zurücktretend, mit bebender und furchtbarer Stimme, und wenn ich mich nicht anders besinne, schließ' ich dich hier ein und lasse nicht Sonne, nicht Mond mehr auf dich scheinen, Elende!

Murray hatte in diesem Augenblick sich wie umgewandelt. Seine Arme verriethen eine jugendliche Kraft. Nichts mehr erinnerte an die Schwäche des Alters. Er schien wie gewachsen. Der gekrümmte Rücken streckte sich empor. Die Perrücke erhob sich und die schwarze [1820] Binde lag nicht mehr auf dem einen Auge, das eben so funkelte wie das andere und nicht den geringsten Fehler zu haben schien.

Auguste erhob sich langsam und ächzend und an ihren Handgelenken reibend, mit einer Scheu, als wenn ein Thier im Käfig plötzlich die Kraft der menschlichen Bändigung gefühlt hätte. Weniger die überraschende physische Kraft des Fremden, als der Blick seiner Augen war es, der sie zähmte. Verwünschungen murmelnd kehrte sie auf ihren hölzernen Sessel zurück und schwieg und stützte die Hand in den wie dreieckigen Schooß, der sich ihr mit dem einen übergeschlagenen Bein bildete.

Du bist so schön, Auguste, begann Murray jetzt ruhiger und setzte sich ihr gegenüber, mit Sanftmuth, wie versöhnt. Auguste, du hast kein schlechtes Herz. Wie würd' ich sonst gehofft haben, den Strahl eines reineren Bewußtseins in deine umnachtete Seele werfen zu können? Aber verwildert bist du und wirst in deinen falschen Begriffen, in dem Mangel aller Erziehung zu Grunde gehen! Haßt' ich nicht dieselben Menschen, die du hassest, ich würde nicht den kleinen Finger rühren, Mädchen, etwas für dich zu thun, weil ich an dem Erfolg doch verzweifeln müßte.

Auguste schwieg, dann warf sie die Lippen etwas auf, blinzelte mit den zugedrückten braunen Augen, schielte von der Seite und sagte schalkhaft und den Ernst des Augenblicks verwischend:

Pah! Gib mir lieber den Ring da an deinen verdammten [1821] Fingern, alter Junge! Das ist gar kein Herrenring. Den hast du irgend einer Dame gestohlen, als du noch jung warst und die Tugend nicht so schrecklich lieben mußtest, wie jetzt, Alter! Schenk' mir den Ring!

Damit hatte sie schon den Finger Murray's ergriffen.

Doch krümmte ihn dieser gleich wieder so gewandt, daß sie loslassen mußte.

Wetter! schrie sie und blies auf ihren gequetschten Finger.

Ich wiederhole dir, was ich dir schon einmal sagte, fuhr Murray fort, ich biete dir Glück und Freude drei Tage im Monat, in den übrigen Entbehrung; aber an meiner Seite ... hier dies harte Lager, diese dunklen Fenster, diesen kleinen Spiegel, diesen Krug Wasser und an der Lampe dort Arbeit für mich, für dich, Arbeit an meiner und deiner Wäsche ... sieh, ich könnte dir drinnen Leinwand zeigen, die ich schon kaufte für meine Hemden, auch für dich Baumwolle, wenn du stricken wolltest. Schäme dich, wie zerrissen sind die Strümpfe, die du trägst ... schäme dich ... nur die Handschuhe da an deiner Hand auszubessern bist du schon zu träge!

Auguste wurde über diese Rüge über und über roth und zornig. Die Regung der Scham aber rasch bekämpfend und wieder in ihren trotzigen Ton fallend, sagte sie:

Alter Narr! Was krächzst du da? Halte erst dein Wort, so werd' ich Nähterinnen haben! Es war nicht gesagt, daß ich dir die Geschenke zurückstellen sollte ... Wo sind meine Sachen?

[1822] Ich behielt sie, sagte Murray, weil noch der dritte Tag deines Glückes fehlte, würde sie aber auch behalten haben am vierten Tage, wenn du nicht siebenundzwanzig Tage an meiner Seite, unter meiner Aufsicht, mit mir entbehrtest und mich erheitertest durch den Anblick deines Fleißes. Ich habe Bücher, ich würde dir vorlesen. Ich zeichne, ich verstehe manche Kunst in Wachs und Thon ... ich wollte dich schon erfreuen, auch außer den drei Jubeltagen, die ich dir versprochen hatte.

Auguste schüttelte den Kopf und schob die Lippen wie zum sarkastischen Spott.

Hast mich also betrogen, Alter! sagte sie. Auch um das Bild, das du von mir wolltest malen lassen. Gib mir das Geld, das es kosten sollte. Hab' ich nicht Ansprüche darauf? Was kann denn ich dafür, daß sich dieser Pinsel von Maler in deine dumme Windbeutelei nicht einließ und das Bild nicht in einem Tage liefern wollte?

Warum nennen sie dich die Maler-Guste? fragte Murray. Warum drängtest du so um dein Bild? Es war nicht Eitelkeit allein. Du wolltest gemalt werden als du selbst, sagtest du, mit deinen Kleidern, deinen Ringen und Brochen, deinen Spitzen und deinem Shawl? Du wolltest, daß dein Name darunter geschrieben würde! Ich bot dreißig Louisdors für die Grille. Aber ... in einem Tage. Sonst nicht! Oder wenn du mir deine siebenundzwanzig Tage der Entbehrung hier in diesem Zimmer schenkest, so bestimmen wir deine nächsten drei fetten Tage für das Bild ... dann wird es schön. Willst du so?

[1823] Bleib' da, Auguste! Laß deine Sachen holen! Ich hole sie selbst.

Auguste Ludmer gab keine Antwort. Starr brütete sie vor sich hin. Dann schüttelte sie den Kopf und sagte:

Ich kann nicht mehr, Alter. Ich kann nicht mehr.

Und gleichsam als drückte sie der zu ernste Gedanke an Das, was Murray Alles anregte, rief sie polternd:

Gib Geld! Ich habe Schulden. Ich werde gequält, verfolgt, beschimpft. Und ich will nicht mehr so scheinen, wie ich war.

Wie du warst, Auguste? fragte Murray. Wie willst du nicht mehr scheinen? Warum nicht? Bist du weise geworden, ohne mich? Gott sei Dank, sage mir, daß du dich geändert hast, ohne mich!

Gäbst du mir dann auf der Stelle hundert Thaler?

Wenn ich Proben sähe ...

Gäbst mir meine Kleider, meine Ringe?

Proben! Proben!

Nicht zwanzig ... nicht zehn Thaler?

Nicht einen! Proben!

Murray! schrie Auguste jetzt und sprang wie ein wüthendes Thier auf, in ihrem Zorne nach etwas suchend, das sie an des Alten Schädel zertrümmern konnte. Sie sah den Wasserkrug ...

Murray trat ihr aber entgegen, griff nach dem Wasserkrug, entriß ihr diesen in dem Augenblicke, wo sie schon nach ihm langen wollte, hielt ihn mit dem markigen Arme fest, hoch in die Höhe, so hoch, daß es fast schien, als wäre [1824] der Alte viel größer als die schlanke Buhlerin, und da sie ihn nicht ergreifen konnte oder sich vor seinen Augen fürchtete, sagte er ruhig:

Gib mir eine kleine Probe und geh' und hole mir in diesem Kruge frisches Wasser! Ich setze einen Thaler drauf.

Auguste weinte vor Wuth. Sie riß an ihrem dunklen, glänzenden Haare, das in den kunstvollsten Flechten aufgebunden war. Das war gewunden wie Spitzenarbeit und duftete und strahlte und von dem zornigen Wühlen der Hand ging dieser Schmuck nun auf und fiel in langen wie durchbrochenen sichelbreiten Flechten über den entblößten Nacken und die Brust, diese an ihr so schön geformten Theile, die aber schon etwas mager waren in Folge der unregelmäßigsten Lebensweise.

Murray betrachtete sie eine Weile, wie sie so erschöpft einer Magdalena gleich sich auf das schmale Bett warf. Er betrachtete sie voll Rührung und sagte nach einer Weile:

Wenn du mir folgen wolltest, würdest du wieder schön werden, Auguste!

Diese Bitterkeit verwundete sie tief, ohne sie zu reizen. Sie fühlte die Wahrheit der Bemerkung und schwieg.

Nach einer Weile blickte sie bittend auf und sagte mit schmeichelnder Stimme:

Murray, gib mir Geld! Gib mir meine neuen Kleider! Du weißt nicht, daß ich Geld und Kleider haben könnte, wenn ich so fortführe, wie ich gewesen bin. Ich will mich bessern, aber so nicht, so dumm nicht, wie du es vorhast!

Mein Kind, sagte Murray ernst, ich verkenne die Pein [1825] nicht, die dir meine Vorschläge machen. Ich habe aber erlebt, die gewöhnliche Art, wie sieh die Menschen bessern sollen, mislingt fast immer. Der Wille allein thut's nicht, die Gelegenheit muß da sein. Die muß den Willen unterstützen. Ich bin ja ganz aufrichtig gegen dich! Ich bin ein Deutscher ... ich habe lange in England gelebt ... und nenne mich Murray ... weil ich englische Sitten und Manieren angenommen habe und ... meine Verwandten nicht wiedersehen mag ... Ich habe dir gesagt, daß ich in meiner Jugend ... unglücklich war ... und ein Verbrechen beging ... zu dem mich ... Hochmuth ... Dünkel ... und die Gelegenheit ... verleitete ... ein Verbrechen, Auguste ...

Ha! Sag' mir nichts weiter! Warum zittert Ihr? Ihr haltet ja die Hand da immer ... Teufel, was soll Das? Geht weg! Greift doch nicht ...

Auguste glaubte unter dem Rocke des Alten eine blitzende Waffe bemerkt zu haben.

Und Murray wußte kaum selbst, daß er während der wenigen Geständnisse, die er Augusten machte, schon vor Aufregung in die Rockbrusttasche gegriffen und ganz allmälig ein Terzerol in der Hand hatte, das er bei jeder neuen Thatsache, die er nun nicht mehr sicher bei sich in seinem Herzen wußte, immer mehr hervorzog. Wie er das Terzerol fast schon aus dem Brustlatz hervorblinken sah, besann er sich schmerzlichlächelnd, steckte es ruhig zurück und bot der erschrockenen Auguste die Hand zur Beruhigung.

Auguste, sagte er, du bist nicht ganz gesunken, dein [1826] Herz ist den bessern Empfindungen zugänglich. Als man uns an jenem grauenhaften Morgen auf der Fortuna ergriff und mich für verdächtig erklären wollte, weil ich dir glänzende Geschenke machte und selbst arm lebte, fürchtete ich, du würdest die schwache Stunde, die ich dir gegenüber mich beschleichen ließ, als ich in dir die Tochter meines Lebensretters, die Nichte jenes Weibes, das ich ...

Murray stockte ...

Sammelt Euch, Vater Murray! sagte Auguste weicher. Ei, habt Euch doch nicht! Ich werde Euch nicht unglücklich machen! Aber undankbar seid Ihr! Papa, komm ... gib mir nun Geld!

Das Pistol, sagte er, dabei lächelnd, ist nicht für dich gewesen ... es ist ... vielleicht für mich!

Die Maler-Guste erschrak über dieses Wort. Ein Erschrecken bei solchen Naturen ist meist mit Zorn über die Ursache des Schrecks verbunden.

Ach was! sagte sie ärgerlich. Du hast da schon zehnmal auf mich angesetzt und drückst das Ding auch nur auf mich los, Satan, wenn du glaubst, dir den Kopf zu sprengen. Geh weg mit dem Ding, alter Heuchler! Genug jetzt!

Sie sprang auf. Sie wollte keine Rührung, keinen Edelmuth mehr.

Ist Das der Dank? sagte sie polternd. Ich hatte dich in der Hand, Alter! Der Oberkommissär setzte mir Daumschrauben. Ich sollte sagen, was ich von dir wüßte! Ob [1827] du wirklich ein Engländer wärest? Wo ich dich kennen gelernt hätte? Ich sagte: Geht! Damals als ich nach Hamburg wollte und mir einen Paß holte, da stand ja der Alte, der den seinigen visiren ließ und eine Aufenthaltskarte löste, neben mir und wie ich meinen Namen genannt hatte und die Herren Anstände nahmen und lauter Schändlichkeiten zu mir sagten und lachten und eine vertrauliche Sprache sich mit mir erlaubten und mich auf morgen beschieden, da folgte mir ja der Alte und knüpfte ein Gespräch an und fragte mich aus ...

Da sagtest du, ich hätte dir verrathen, daß ich deine Ältern, deinen Vater, der Gefängnißwärter in Bielau war, kenne ...

Wo würd' ich denn Das sagen? Pfui Papa!

Nun! Was sagtest du?

Ich sagte: du hättest mir deine Freundschaft angeboten, wie eben ein Alter einem jungen Mädchen seine Freundschaft anbieten kann; du wolltest mir Geschenke machen, aber manchmal müßt' ich wieder mit schlechten Zeiten vorlieb nehmen ...

Hoho! Das war schlimm ausgedrückt, wenn auch gut gemeint, Kind! Das heißt doch bei Denen nur, daß ich ein Spitzbube bin, der zuweilen Glück, zuweilen Malheur hat.

Was ist es denn auch anders, Papa? lachte die Unverbesserliche. Du wirst mir doch nicht weismachen, daß hinter der ganzen Komödie, die du mir vorschlugst, was anders stecken kann als ...

[1828] Pascherglück? sagte Murray und schüttelte den Kopf über die Halsstarrigkeit eines Menschen, der einmal nicht glauben will.

Nein, mein Kind, sagte er zitternd. Du bleibst hartnäckig in deinem Irrthum und wie oft sagt' ich dir ...

Halte nur die Hand da fort!

Wie oft sagt' ich dir, als ich deinen Namen auf dem Paßbureau hörte, ergriff mich Freude. Ich komme vom Meere und du bist das erste Wesen, das mich an meine vielverworrene Vergangenheit erinnert! Wie weh that es mir, als ich an den Mienen der Schreiber sah, wie es mit deinem Rufe steht! Ich erkannte die Züge deines Vaters in dir wieder, dieses edlen Menschen, den ein rauher und jammervoller Lebensberuf nicht zum herzlosen Sklaven und thierischen gehorsamen Knechte fremder Willkür gemacht hatte. Er sollte mein Mörder sein und ward mein Lebensretter ...

Zu seinem Unglück wol; denn ich entsinne mich als Kind, daß es ihm schlecht genug ging.

Ich glaube Das! Er hatte eine Weisung nicht befolgt, die dahin lautete, mich ohne einen Strick oder ein Messer, ohne einen Tropfen Blut zu ermorden ...

Die Maler-Guste stutzte zu dieser Eröffnung. Diese Beziehung Murray's zu sich und ihren Ältern hatte sie nicht erwartet ...

Ja, sagte Murray mit gedämpfter Stimme. Ich war ein Verbrecher, Auguste! Jugendlicher Leichtsinn ließ mich fehlen. Worin? Ich kann es dir nicht sagen. Ich beging [1829] etwas, was nach leichterer Auffassung vielleicht kein Verbrechen, vielleicht Keckheit, nur Leichtsinn und der Beweis einer großen Kunstfertigkeit und Geschicklichkeit ist. Aber der Staat will sich schützen und nennt meine That ein Verbrechen. Ich verfiel einem Urtheil, das mich auf zwanzig Jahre in Schmach und Schande warf. Das ist: auf ewig! Ewig! Und doch war ich noch jung! Ich konnte hoffen, den Rest meines Lebens noch irgendwo jenseit des Meeres in Ehren, in geläuterter Buße, hinzubringen. Denn, Auguste ... ich hatte ein Verbrechen begangen, das nur aus dem Hochmuthe kam. Aber es gab Menschen, die meinen Tod wünschten. Menschen, die mich geliebt hatten, weil ich nicht immer so gebückt schlich, Auguste, wie jetzt. Menschen, die mich geliebt hatten, weil ich Geist, Talent, weltliche Liebenswürdigkeiten aller Art besaß. Und da ich sie betrog – nein, was sag' ich – da sie sich selber betrogen hatten, haßten sie mich. Sie fürchteten meine Auferstehung von der Schande, meine Flucht, mein Ausbrechen aus dem Gefängniß, und wollten sich diesen Augenblick in der Zukunft sichern. Sie befahlen – sie hatten die Mittel dazu – sie befahlen, daß man mir einen gewissen Kerker in Bielau anwies, der so ungesund, so durchgiftet und verpestet war, daß man in kurzer Zeit dahinsiechen, vom Faulfieber verzehrt werden mußte. Neun Monate des Jahres stand in diesem Kerker das Wasser eines schmuzigen Flusses und Jeder, der nur einige von diesen Monaten in ihm zugebracht hatte, war dahingestorben. Ich wurde auf räthselhaften mir aber erklärlichen [1830] Befehl gerade in dies Verließ geschleppt. Nach drei Wochen schon, wo ich auf einem verfaulten Strohlager ruhen sollte, wo ich es, um es vor der aus den Wänden sickernden Feuchtigkeit zu schützen, bald hier-, bald dahin breitete, verfiel ich in Krankheit. Man brachte mich in einen gesunderen Gewahrsam. Ich genas, ich hoffte auf Abführung in eine entfernte, gemeinsame Strafanstalt. Aber nein, wieder der Befehl, mich in jenes unterirdische Gemäuer zu bringen, dessen einzige trockene Stelle eine Nische in der felsendicken Wand war. Warum man mich nicht in der Strafanstalt arbeiten, mich nicht unter die übrigen Gefangenen dieser kleinen Festung mich mischen ließ, war mir wohl begreiflich. Man wollte meinen Tod! Ich erzählte mein Leid deinem Vater, der Gefängnißschließer war, und Schaudern ergriff ihn, als er wohl einsah, daß es Menschen gab, die einen Entehrten, aber Reuevollen, tödten wollten, und er kannte diese Menschen mehr als Andre! Er wußte, was sie im Stande waren; er wußte, was sie ja von ihm selbst verlangten ... Hieß doch dein Vater Ludmer! War er doch der Verwandte ... Doch genug! Auguste! Dein Vater war besser als sein trauriges Amt. Er ließ mir, ob aus Menschenliebe, ob aus Zorn, daß er Ludmer hieß und nur Gefangene hüten mußte, weiß ich nicht, die Mittel, die Nische zu erweitern, zu durchbrechen, zu entfliehen. Er sah nicht, wollte nicht sehen, daß ich an meiner Befreiung in den Nächten arbeitete. Furchtbar stieg für mich die Gefahr. Denn der Kerker stand unter dem Spiegel des Flusses und nur die Nische lag[1831] höher. Ach, zuweilen bei hohem Wasserstande kam die Flut von draußen auch dieser Nische gleich und in einer stürmischen Frühlingsnacht, wo ich die letzten Steine wegrückte, brach der ganze Strahl des Wassers durch die glücklichgewonnene Öffnung! Erschöpft von der Arbeit, zum Tode erschreckt von der nun unmittelbar vor meinen Augen schwebenden Gefahr, sank ich nieder; furchtbar strömte die schmuzige Woge durch die Lücke der Mauer. Da stopfte sie sich durch irgend etwas draußen plötzlich von selbst. Ich langte hinaus, soweit ich über das Wasser noch sehen konnte. Ich faßte etwas Hölzernes, einen Gegenstand wie ein sich vorlegendes Bret. Aber das Bret ließ sich zurückdrücken, es schwankte. Es war ein Kahn, den dein Vater hatte herantreiben lassen, als wäre er etwa losgerissen durch die Frühlingsstürme. Freude und Furcht wirkten gleich entsetzlich auf mich. Denn wie, wenn ich durch die Öffnung hindurch gekommen wäre und hätte zwar den Kahn, aber nur in der Entfernung gesehen! Der Abfluß durch die Öffnung machte gerade, daß der Kahn zu mir herantrieb ... Ich griff hinaus und drückte das eine Bord des Fahrzeuges fast schon mit letzter Anstrengung so herab zur Öffnung, daß eine Weile das Einströmen gestopft war. Dann hielt ich mit dem linken Arme mit Riesenanstrengung das Holz der Planke fest und erweiterte mit der rechten die Öffnung ... immer mächtiger strömt das Wasser ... aber die Öffnung wächst; endlich dränge ich mich durch die Ritze ... sie ist weit genug die Schultern durchzulassen ... schon bin ich mit dem Vorderkörper [1832] in dem Kahne, die beiden blutenden Hände langen nach der Weitung des Fahrzeuges, ich fasse mit letzter Anstrengung die gegenseitige Planke, liege halb über der Höhlung und drücke den Kahn in die Wogen nieder ... aber nur mühsam zieh' ich den ohnmächtigen Körper durch die Mauer ... die Hüften bleiben in der engen Öffnung stecken ... ich brauchte eine halbe Stunde um neue Kraft zu schöpfen ... dabei der Sturm, dabei das Brausen des Flusses, das Niederprasseln von Fensterscheiben, die in dem Wetter zertrümmern, das Rufen der Wachen und Ablösungen, das Schlagen der Uhren aus dem Städtchen unterwärts des Flusses, der verzweifelnde Blick auf das Morgengrauen ... ach, ich dachte zu sterben, denn meine Kräfte drohten gänzlich zu schwinden. Da versuch' ich eine letzte erneuerte Anstrengung. Der Körper zwängt sich durch, ich sinke der Länge nach in den Boden des krampfhaft von mir festgehaltenen Kahnes, der, befreit vom herunterziehenden Druck meiner Hände, aufschnellt und mich in der Dunkelheit der Nacht von dannen führt. Ich schwamm dem Städtchen zu, gerieth unter eine Menge kleiner Schifferbarken, die festgebunden in dem Hafen des kleinen Flusses lagen ... Ich war gerettet, durch Gott, aber auch durch den Verstand, den Vorschub, die Güte deines Vaters. Er hatte meine Arbeiten an der Nische wohl bemerkt, er hatte sie wohl verschwiegen; er hatte mich spitze Instrumente auf einzelnen Erholungsgängen finden lassen. Er hatte die Gefahr des Durchbruches überlegt. Deshalb der Kahn! Ich entfloh und [1833] konnte ihm nichts zurücklassen als die Gefahr der Strafe für ihn selbst. Ich schrieb ihm einige male von Amerika. Ich schickte Geld, erhielt aber nie eine Antwort. Wie wollt' ich ihm danken, jetzt nach meiner Rückkehr aus Amerika! Ich find' ihn todt, sein Weib todt, nur dich, sein Kind, find' ich wieder. Ich finde dich ohne Schutz, ohne Liebe, ohne Halt im Leben, gesunken, elend, Auguste ...

Murray schwieg. Die Hörerin schien gerührt. Doch diese Stimmung währte bei dem abgestumpften Gefühle des Mädchens nicht lange. Bald sagte sie:

So könntet Ihr mir die Mittel geben, bester Murray, daß es mir gut ging. Euer Geld ist nie angekommen.

Nein, Auguste! sagte schmerzbewegt der von seiner Erzählung mehr als Auguste erschütterte Alte; was sind Mittel? Vergängliche kleine Schutzwehren! Womit hätt' ich die Bresche in der Mauer stopfen sollen, daß der Strom mich nicht überflutete! Einen rettenden Kahn trieb der Abfluß der Woge heran. Den packt' ich mit diesen Händen, an dem krallt' ich mich ein und von ihm wurd' ich fortgetragen. Denkst du denn, daß ich in Amerika mich dadurch geändert habe, daß ich auf meinen alten Wegen blieb und mir nur vornahm, nicht glänzend leben zu wollen? O, nein! Die alten Wege mußten ganz und für immer vermieden werden. Eine ganz neue Bahn nur sichert vor den alten Irrwegen. Wer hat die Macht, nach seinem Willen gut zu sein? Wer kann sagen: Ich bekämpfe, zähme, fasse mich! Wenige nur. Nur Die Menschen können's, die schon gut sind und nur noch ganz weise werden wollen.

[1834] Aus Schwarz in Weiß übersetzen wir uns nicht! Und was ist Grau? Ein jämmerlich Mittelding!

Du glaubst, Murray, sagte Auguste, daß ich nicht mehr auf die Bälle gehe, nicht mehr Liebhaber annehme, nicht mehr Schulden mache und Champagner trinke, wenn ich mir drei Freudentage durch siebenundzwanzig Fastentage erkaufe?

Das glaub' ich ...

Du willst durch die drei Tage mich nur reizen, daß ich mir die andern gefallen lasse?

Das dacht' ich ...

Und diese drei Tage sollen die prächtigsten von der Welt sein?

Wie sie keine Tänzerin sich besser wünschen kann, Auguste ...

Auguste schwieg eine Weile und schien sich den Vorschlag Murray's, den sie schon oft erwogen hatte, ja sogar schon einmal eingegangen war und beim ersten Neuheitsreize fast durchgeführt hätte, noch einmal zu überlegen. Sie sah sich das Zimmer an, das Bett, den Wasserkrug ... dann aber schüttelte sie den Kopf und erklärte:

Bester, Das haben wir schon Alles gehabt! Hier in Nr. 17 dieses schändlichen Hauses wohnte ich ein paar Monate und wollte arbeiten ... es ging nicht. Ein Alter, häßlich wie du, aber verliebter, besuchte mich und belog mich mit einer Menge Verheißungen, die er nicht wahr machte. Da brannt' ich hier durch und wollte nach [1835] Hamburg. Dann kamst du. Ich hörte dir gern zu, wenn du von der Besserung sprachst, du klimpertest dabei in der Tasche mit Geld und machtest mir Komplimente, wie ich sie nicht immer höre. Du wolltest meinem Vater dankbar sein. Der Vater ist früh gestorben, die Mutter nach ihm ... ich hörte dich gern von ihm erzählen und die Tante, die mich erziehen sollte, haßtest du, wie ich ... Da freut' ich mich, in ein Ohr, das geduldig zuhörte, mich recht austoben zu können. Ich ging auf deinen Vorschlag aus Zorn ein. Du weißt, wie er schon am Morgen des dritten Tages abgelaufen ist. Ich war erst wüthend auf dich. Ich wollte abwarten, daß du mir deine Geschenke wiederschicktest; sie kamen nicht, du ließest mich einladen, hierherzuziehen und unsere Abrede auszuführen. Ich lachte dich aus. Da ist denn etwas gekommen, was mich ganz von dir abzog ... Ich war neulich bei der Tante ...

Auguste stockte. Murray horchte.

Bei der Ludmer? sagte Murray, und man sah ihm an, wie ihn dieser Name entflammte.

Das Mädchen fuhr fort:

Eines Tages, vor drei Wochen, war ich bei der Tante ...

Du sprachst zur Ludmer von mir, Auguste? Thatst du Das? rief Murray.

Ich spreche zu Niemanden etwas von Dingen, die mir als Geheimniß anvertraut sind, sagte Auguste nicht ohne Stolz.

Was thatest du bei der Tante? forschte Murray sich beruhigend.

[1836] Die Maler-Guste schwieg einen Augenblick, dann fing sie leiser und fast lächelnd an:

Höre mir zu, Alter! Ich will dir jetzt auch eine Geschichte erzählen. Es ist leicht möglich, daß du deine Absicht, meinen Ältern im Grabe eine Freude zu machen, indem du mich auf andere Wege führst, noch erreichst, aber hörst du, Alter, auf andere Art. Jetzt paß Acht!

Ich lerne gern. Ich weiß, Gott hat viele Wege, uns zu bessern. Sprich! sagte Murray, und sein Auge leuchtete mild und voll Hoffnung.

Wie mein Vater starb, erzählte Auguste, und bald nach ihm, wie wir von der Festung hierherzogen, meine Mutter, war ich eine Waise von etwa sechs Jahren. Die Leute, die mich weinen sahen, erkundigten sich nach meinen Angehörigen und sie erfuhren denn, daß ich eine Tante hatte, die Schwester meines Vaters, der seinen Dienst der Gnade verdankte, daß diese stolze, vornehm gewordene Person sich einmal seiner erinnerte. Es war die einzige gewesen. Später aber kam eine Zeit, wo sie besonders wieder freundlich und zuthunlich sein sollte ...

Die Zeit meiner Gefangenschaft ...

Dann zog sie aber wieder ihre Hand zurück ...

Die Zeit meiner Flucht!

Hier, als ich Vater und Mutter verloren hatte, sträubte sie sich mit Gewalt dagegen, etwas für mich zu thun. Ein altes Kleid gab sie zuweilen her, das für mich verschnitten wurde. Eine halbe Bettlerin bekam mich in Obhut und Pflege und erhielt dafür nicht mehr als ein Almosen.

[1837] Wie hieß diese Frau?

Ah, wir nannten sie nur die alte Lene. Sie ging bei der reichen Frau von Harder ab und zu, bettelte, trödelte.

Murray schien auf einen Namen gewartet zu haben, der offenbar nicht mit der alten Lene übereinstimmte.

Auguste fuhr fort:

Der Lene gaben sie mich mit wie einen alten ausgetretenen Schuh. Sie sollte sehen, was aus mir noch zurechtzuflicken war. Wenn ich klagte, daß ich hungerte, wenn ich zur Tante lief und weinte, tröstete sie mich, sie würde mich noch einmal an einen schönen Ort schicken, in einen grünen Wald, zu einem Förster und einer andern Tante, die sie immer ... o wie nannte sie sie?

Ursula? rief Murray und legte die Binde höher auf die Stirn.

Ursula Marzahn! sagte Auguste selbst erstaunt, daß ihr der Name einfiel.

Ursula Marzahn? Und du kamst dorthin? In den Wald? In welchen Wald?

Was weiß ich! Welcher Wald! ... Der Mann der Ursula starb, sie sollte wieder heirathen und der Mann, den sie wollte, mochte sie nicht ...

Sie mußte damals schon den Funfzigen nahe sein.

Ich kenne sie nicht.

Du kennst sie nicht ... Nun ... Fahre fort!

Ich will in das Jägerhaus, sagt' ich oft, wenn die alte Lene mich geschlagen hatte und zum Betteln zwang. Die Tante gab mir dann wol einen Groschen, ließ mich aber [1838] wieder laufen und sorgte nicht für mich. Einstmals, als man mich aufgegriffen hatte, weil ich, als nun schon zwölfjähriges Kind, mit Schwefelhölzern hausiren ging und Auskunft über Die geben sollte, für die ich auf den Straßen und in den Häusern so zudringlich bettelte und die alte Lene genannt hatte, wurde diese festgesetzt. Sie hatte eine förmliche Gesellschaft von Kindern abgerichtet, die alle für ihre Rechnung Schwefelhölzer, Band oder Blumen verkaufen mußten. Jeden Abend um neun Uhr kamen die Kinder in ihre einsame Lehmhütte vor'm Thore, fast im Felde, wo sie wohnte, brachten ihr das eingenommene Geld, empfingen einen kleinen Antheil und bekamen neue Waare. Wer des Tags nichts eingenommen hatte, bekam keine Vorräthe mehr. Wer Geld unterschlagen hatte, wurde von ihr mit einem Besen gestäupt und jämmerlich geschlagen. Sie wohnte so einsam, daß die Nachbarn das Geschrei nicht hören konnten, wenn wir oft wohl an zwanzig Kinder, die da- und dorthin gehörten, mit unseren Körben standen und ihr beim Scheine einer alten Laterne Nachts im Lehmhofe unsre Pfennige vorzählten. Wie zitterten wir vor der Alten, wenn unsere Ernte nicht reich war, oder wir uns hatten beigehen lassen, etwas zu naschen! Sie wurde aber nun eingesteckt, die Kinder, die sie misbraucht hatte, wurden der schärfern Sorgfalt ihrer Angehörigen, wenn sich welche finden ließen, anempfohlen; ich der Tante Ludmer. Diese vor Zorn, daß ich ihr ein polizeiliches Gerede gemacht hatte, schickte mich, da der Herr von Harder Geheimrath und Aufseher aller [1839] königlichen Gärten geworden war, nach Solitüde, wo ich beim Gärtner arbeiten sollte. Eine Zeitlang gefiel mir's da recht wohl. Ich bekam doch zu essen! Ich wurde größer, stärker und entwickelte mich. Vom Lernen war keine Rede und Gott sei's geklagt, ich kann kaum meinen Namen schreiben, Alter!

Könnt' ich dir etwas von meiner schönen Handschrift abgeben! sagte Murray und zeigte auf ein Papier, wo er Einiges notirt hatte, was Auguste nicht verstand, auch in ihrer Aufregung nicht erkannt hätte, wenn sie überhaupt lesen konnte.

Ja, sagte Auguste, du bist ein Tausendkünstler. Und gewiß hast du auch einmal deshalb sitzen sollen, weil du falsche Wechsel machtest? Was?

Etwas Ähnliches, mein Kind! sagte Murray ernst.

Bei dem Schloßgärtner, fuhr Auguste fort, blieb ich zwei Jahre. Er trieb auch Landwesen. Das gefiel mir Alles recht wohl. Ich kann es sagen, daß ich in ein solches Geschäft Lust und Geschick habe. Schon auf den Wald, von dem die Tante immer sprach, hatt' ich mich gefreut! Ich kannte das grüne Feld nur von den Schlägen her, die wir draußen in der Lehmhütte der alten Lene bekamen, Gärten nur von den zusammengemausten Blumen, die wir verkauften. An Solitüde denk' ich gern zurück. Ich war zwei Jahre draußen, freilich nur als gemeine Magd, die das Heu zu mähen, die Kühe zu melken hatte. Auch die Milch trug' ich in die Stadt, wenn eine ältere Magd krank war. Um diese Magd kam ich fort. Sie behauptete, ich hätte [1840] genascht und gestohlen, und ich weiß es nicht, ob es wahr ist. Das Naschen glaub' ich wohl, das Stehlen war aber doch sonst meine Sache nicht, und das Lügen ganz und gar nicht. Genascht, Alter? Ja, ja, sie mag Recht haben. Aber am meisten haßte sie mich, weil ich so allmälig bei guter Kost und tüchtiger Arbeit ein schönes Ding geworden war und allen Männern gefiel. Die Bursche stellten mir schon von dreizehn Jahren nach und einige hatt' ich schon freßlieb. Aber curios! Die ganz jungen mocht' ich nicht. Ich war ein Ding von vierzehn Jahren, als ein Inspektor Namens Mangold auf Solitüde kam und den ganzen Park wie neu umpflanzte. Da wurden Bäume gesägt, Wiesen ausgeschnitten, das Wasser wurde anders geleitet und eine Menge Menschen fanden dabei ihr Unterkommen. Der Gefälligste und Artigste war aber der Inspektor Mangold selbst. Der war nicht mehr ganz jung, aber artig, höflich und ich kann dir nicht sagen, Alter, was Höflichkeit auf mich wirkt. Ich habe die schönsten und vornehmsten Jungen später nicht gemocht, weil sie zu mir kamen, sich auf mein Sopha flegelten, betrunken waren und mich dutzten. Ein schüchterner, manierlicher Mensch aber thut mir's gleich an und wenn er auch arm ist. Der Gärtner und alle seine Gehülfen waren grob und derb, Mangold nicht, und in den waren auch alle Mädchen verliebt, am meisten aber die Magd, die der Gärtner zur Haushälterin und Wirthschafterin genommen hatte. Die paßte mir auf! Die verhetzte mich! Denn ich verrieth mich gleich und sagte ganz laut: Den Inspektor nähm' ich, wenn er auch zehnmal [1841] einen rothen Bart hat und ich nähm' ihn auch ohne lang Heirathen ... Ich muß lachen ...

Über die früh entwickelte Großmuth deines Herzens? sagte Murray bitter lächelnd.

Das sollst du gleich hören, Papa! Damals kam mir der Inspektor schön wie ein Bild vor. Ich verehrte ihn und hätte ihm eigentlich blos mögen immer die Hand küssen. Und weil ich Das einmal sagte und er, als ich ein paar Blumenstöcke richtig gebunden hatte und auf dem Grase kniete, mir auf die zufällig nackten Schultern hinten klopfte und die Wirthschafterin sah's am Fenster, da mußt' ich fort. Ach, was hab' ich geweint! Es half nichts ... Ich kam in eine Fabrik, wo ich zur Predigerlehre angehalten und confirmirt wurde. Die Arbeit in der staubigen Fabrik – man machte wollene Decken und haarige Filze – konnt' ich nicht ertragen. Meine Brust war so an frische Luft gewöhnt ... Ich war auch durch die Feldarbeit schwer in den Gliedern, träge und träumte viel. Die Mädchen, die mit mir arbeiteten, erzählten nichts als Possen und Lüderlichkeit. Alter, da wurd' ich schlimm! Nicht in Wirklichkeit, sondern in Gedanken! In Gedanken küßt' ich jeden Mann, den ich sah und der mir gefiel. Wenn ich schlief, so küßt' ich das Kopfkissen und drückt' es, weil ich dachte: das ist Der oder Der! Mit der Fabrik war's nichts! So kam ich in einen Dienst bei einem berühmten Maler. Ich nahm diesen Dienst lieber als andere, weil das Haus dieses Malers – er heißt Berg – in den schönsten neuen Straßen, unter Gärten und Blumen liegt und ganz herrliche [1842] Bäume in der Nähe hat. Da fand ich aber meinen Untergang, Papa! Ein schöner junger Mann sah mich immer so verliebt, so scharf und schmachtend an, daß ich ihn selber hätte verzehren mögen. Er lernte die Malerei bei meiner Herrschaft. Der junge schöne Maler hieß Heinrichson ... ach, Alter, ich sage nichts mehr. Es lag mir schon in den Augen. Die hatten so einen Zug, so eine Sucht ... Die Blume wollte an die Luft und die Teufelsbilder und das schöne Haus und der Garten und die jungen Männer und mein Blut, alle hatten mir's angethan und ich lag dem schönen Manne im Arm so unversehens wie Einer fällt und nicht weiß, wie er auf die Erde kommt. Das muß so mit den Schlangen sein, denen die Thiere in den Rachen laufen, als wenn es zur Hochzeit ginge! Ich sah und hörte nun, daß es Frauen gab, die sich entschlossen, den Malern für ihre Bilder, wie sie gewachsen sind, zu sitzen. Wie ich Das hörte, Alter, überlief's mich siedendheiß. Der Professor, ein guter Herr, sah mich auch oft so sonderbar an, als wollt' er sagen: dich hat Gott zu etwas Anderem erschaffen, als mir hier die Stube zu kehren und den Ofen einzuheizen! Aber der Meister sagte mir nie etwas von meinem Wuchs. Nur die Schüler und Heinrichson verlockten mich. Aber von den Andern mocht' ich's nicht hören. Ich schämte mich und lief fort, wenn sie davon anfingen, ich sollte ihnen sitzen. Da lockte mich aber Heinrichson einmal auf sein Zimmer ... die Schlange!

Rege dich nicht auf, Auguste! sagte Murray zu dem Mädchen, das zu zittern anfing ...

[1843] In Gedanken, fuhr sie fort, in Gedanken war ich längst gefallen. Seit ich an die Maler dachte, die ihre Bilder nach wirklichen Menschen malen, war mir's am hellen Tage, wo ich ging und stand, als hätt' ich keine Kleider mehr an. Ich wurde roth und wußte nicht worüber. Ich bedeckte mich bis zum Hals und kam mir vor, als müßt' ich mich schämen. Ich sah mich immer, wie mir Heinrichson einmal zugeflüstert hatte, wie er mich so wunderschön malen wolle. Was soll ich sagen? Ich gab ihm doch erst meine Liebe und dann erst meine Scham und Tugend ... Ach, Alter, Das ist ein Teufel!

Er wollte nur deine Schönheit, war herzlos, nachdem er sie gewonnen hatte?

Alter, dem Heinrichson, so toll ich ihn liebte, dem hätt' ich später manchmal das Herz aus der Brust reißen mögen; aber er hat kein Herz! Er nahm mich vom Professor weg, miethete mir eine Wohnung, besuchte mich täglich, zeichnete, malte mich ...

Nicht allein, Auguste? Es kamen Freunde mit ihm ... ihr schwärmtet, ihr tranket ...

Ja! Ja! Murray! Aber das Kind war von ihm ...

Welches Kind? fragte Murray erschrocken.

Es ist todt, sagte Auguste dumpf. Es starb zu rechter Zeit. Als Heinrichson von mir eine Mappe voll Zeichnungen und ich von ihm das Kind unter'm Herzen hatte, verließ er mich ... nein, Murray, ich war nicht untreu. Er, er schickte nur die Freunde, die mich zeichnen sollten! Er wollte, daß ich Allen gehörte, gemeinsam war ... wie ein [1844] Soldat, ein Kunstreiter, ein Trödler mit einem langen Bart, wo sie zusammenschießen und Jeder für seinen Thaler ihm ein Stück vom Leibe abzeichnet. Als ich aber das Kind trug, Alter, so nützte ich Keinem ... Ha, ha, da war ich die Venus nicht mehr, um die sie einen rothen Purpurmantel schlugen und als ich Mutter war ... hieß es ... meine Schönheit hätte den Rest gekriegt ...

Auguste schluchzte ... Ihre Erzählung erstickte ihre Thränen.

Murray schonte ihren Kummer, so sehr er sich auch nur auf das Gefühl der verletzten Eitelkeit zu stützen schien.

Das Kind starb ... sagte er weich und theilnehmend.

Ha, rief Auguste, aber die Mutter wollte leben, leben, aus Rache um diesen Vater leben! Sie lebte auf! Sie fluchte dem Elenden, der gesagt hatte: Deine Formen nehmen ab! Er nur hatt' es gesagt, weil er zu viel Andere lieben mußte und sich nicht theilen konnte. Er nur, der heute bei einer Vornehmen, morgen bei einem Bürgermädchen ein Rendezvous hatte! Der Elende! Sein Kind war todt, aber die Mutter lebte!

Lebte! rief Murray. Nennst du Das Leben, daß du nun einen geistigen Tod starbst? Nennst du Das im Sonnenstrahl aufblühen, daß du nun ein Kind der Nacht wurdest? Den Sonnenstrahl fliehst du, wie er dich auch aufsuchen möge, um dir in's Antlitz zu leuchten und dich an Besinnung und Umkehr zu mahnen! Kehre um, Auguste! Noch stehst du nicht so tief auf der Leiter, die hinunter in den Abgrund führt, daß es sich nicht noch lohnen sollte, wenn [1845] du deine letzte sittliche Kraft zusammennähmest und wieder aufwärts stiegest!

Auguste schwieg. Der Gedanke an ihr Kind, an den Anfang ihrer Irrgänge, an Heinrichson hatte sie zu heftig erschüttert. Sie stieß sich den alten Tisch, der in ihrer Nähe stand, mit dem Fuße heran und stützte den Kopf auf, dessen zierlicher, wie zur Festesfreude aufgebundener Haarschmuck in einem seltsamen Abstich war gegen ihre plötzlich leidenden und schlaffen Züge ...

Nach einer Weile fuhr sie fort:

Papa, höre, ob sich vielleicht noch etwas aus mir machen läßt!

Sprich, Auguste! antwortete Murray voll aufmerkender Theilnahme ...

Die Tante hat in meinem Elend nichts mehr für mich gethan, sagte Auguste. Wie oft fleht' ich sie fast fußfällig an, mich aus dem Jammer herauszureißen! Sie verbot mir, das glänzende Haus des Geheimrathes zu besuchen, ja sie untersagte mir, mich ferner nur ihre Verwandtschaft zu nennen. Der Geiz, der sie brennt und aufzehrt –

Ist sie so geizig, die Ludmer?

Geizig wie du! sagte Auguste ...

Murray lächelte.

Der Geiz und die Sparsamkeit für den Oberkommissair Pax, den sie ihren Vetter nennt – als wenn der mein Bruder wäre! – machte, daß sie mir jede Unterstützung entzog. Heinrichson mocht' ich nicht bitten; den haßte ich. So führte mich das Elend soweit, als du mich angetroffen [1846] hast. Die Tante drohte schon oft, mich gewaltsam von hier wegbringen zu lassen ...

Ist sie so tugendhaft die Ludmer ...

Haha! Wenn sie wie ihre Herrschaft ist!

Wie Pauline?

Heißt die Pauline?

Die Geheimräthin von Harder ...

Die ist alt und häßlich und nimmt doch noch auf, was ich wegwerfe ...

Was du wegwirfst?

Vor Eurer Ankunft, Papa, war mein Elend am höchsten gestiegen. Ich wollte fort, nachdem ich die Tante so auf's Blut gereizt hatte, daß sie in ihrem Zorn ein Bund Schlüssel nach mir warf, die mir fast das Auge ausschlugen.

Sie ist wild!

Da kamst du, Papa ... Dann war es auch mit dir nichts ... Dein Contrakt wurde mir zu schwer und eigentlich ging ich ihn nur ein, weil ich wieder einmal gemalt sein wollte, aber als Auguste Ludmer, als ich selbst, nicht als Venus mit dem rothen Mantel! Aber unsere Sache endete in der Fortuna. Ich mußte sitzen, wie du! Was wirst du dann anfangen, sagte ein Herr, der am dritten Tage, daß ich saß, in mein Gefängniß kam, was wirst du dann anfangen, wenn du frei bist?

Am dritten Tage? ein Herr? Doch nicht ein Franzose?

Ein alter Franzose in feinem Rock mit Orden ...

Einer weißen Weste und einem rothen Notizbuche in der Hand ...

[1847] Der!

Der dieselbe Frage auch an mich richtete: Murray, was werden Sie dann anfangen, wenn Sie frei sind? sagte er zu mir. Was antwortetest du?

Ich sagte: Mein Herr, ich fange nie etwas an, ich lass' es gehen, wie es Gott gefällt! Da lächelte er und ich sah sogleich den Fuchs –

Den Wolf im Schafspelz!

Er wollte meine künftige Wohnung wissen und schielte mich an, als hätt' er mich zu taxiren ...

Du irrst doch wohl, Auguste. Dieser Mann heißt – Murray griff nach der Visitenkarte – Sylvester Rafflard und ist ein Abgesandter fremder Vereine, die sich die Verbesserung des Looses der Gefangenen, die Untersuchung der Gefängnisse, den Einfluß auf die künftigen Schicksale der Verbrecher zur Aufgabe machen. Da ich mich nicht schuldig wußte und traurig war, gab ich ihm wenig Antwort. Ich bin überrascht, daß er mich heute besuchen wollte. Ich fand seine Karte abgegeben.

Zu mir, sagte Auguste, wird er nicht kommen. Ich war so voll Zorn, daß ich ihn mit allen seinen Redensarten von Besserung zur Thür hinauswerfen lassen wollte und ihm einen Kalbskopf über den andern nachschimpfte. In dem Zorn wurd' ich eben frei. Die Kleider und Schmucksachen waren mir genommen und unter Lachen und schlechten Witzen gaben mir die Aktuare gute Lehren. Da rannt' ich zur Tante. Man wollte mich abweisen. Ich ließ mich nicht stören. Es war mir, als hört' ich die Stimme der Alten in[1848] den Zimmern der Geheimräthin. Ich werfe den Bedienten bei Seite, reiße eine Thür nach der andern auf und stehe vor einem wunderschönen Bilde, das ganz frisch, wie eben fertig mit noch halb nassen Farben – ich hab' etwas von dem Handwerk gelernt beim Professor Berg – auf einer Stellage steht. Das bin ich! sagt' ich mir. Das hat Heinrichson gemalt und in dem Augenblick geht die Thür auf und Heinrichson mit der Geheimräthin tritt herein. Ha, ha, ha! fang' ich an zu lachen. Da zu lachen war Verrücktheit. Ich war auch verrückt. Ich weiß noch jetzt nicht, ob ich in dem Augenblick Vernunft gehabt habe. Ich lachte und schluchzte und redete mit Heinrichson, wie er schon längst nicht mehr da war. Heinrich Heinrichson, rief ich, bin ich Das? Sag's deiner Liebsten, das weiße Thier da, der Vogel auf dem Bilde warst du, du tückischer, falscher, heuchlerischer Drache! So kannst du lügen, wie dies Thier da! Sieh, wie's mit dem Schnabel klappert, wie der Held den Schönen spielt und die arme Auguste Ludmer schläft oder macht die Augen zu, um deine Teufelsaugen nicht zu sehen! Beiß mich nicht! sprach ich. Geh! Geh, ich verlange nichts für mein Kind, geh, es ist todt! Und in dieser Art sprach ich meine rasende Wuth vor dem geleckten Menschen aus; seine zierlich gekräuselten, geölten Locken hätt' ich zerzausen mögen. Aber er war fort. Die Geheimräthin zog die Glocke, alle Glocken im Hause schellten. Die Ludmer kam und schleppte mich fast an den Haaren hinaus. Wahnsinnige, schrie sie mich an, du machst, daß ich dich noch in's Tollhaus stecken lasse!

[1849] Schändliche, was willst du hier? Welche Frechheit gegen die Herrschaft, gegen einen fremden, feinen Herrn ... ich war todtblaß, stieß sie zurück und setzte mich auf ein Sopha, um mich zu erholen. Sie wollte mich aufreißen, ich schleuderte sie wieder zurück, daß sie auf einen Sessel sank und ächzte. Du mordest mich noch! stöhnte sie. Ich sagte: Ja, das thu' ich. So saß ich wol zehn Minuten. Ich war zu elend, ich konnte nicht mehr sprechen. Immer dacht' ich auch, die Thür geht auf und Heinrich Heinrichson kommt wieder herein und sagt' dir: Auguste, vergib mir! Ich bereue, daß ich die Ursache deiner Leiden bin! Ich denke täglich an dich, wenn ich in meiner Mappe blättere und diese schönen Bilder male! Vergib mir! Du siehst, ein vornehmes Weib liebt mich! Was kann ich für dich thun? Aber Heinrich Heinrichson kam nicht. Die Tante hatte sich erholt, stellte sich wenigstens so und verlangte, daß ich mit ihr in ihre Wohnung ginge, die in einem Nebengebäude liegt. Ich ging ganz willenlos hinter ihr über den Hof. Ich sage Das ausdrücklich, weil ich wol mag ausgesehen haben wie das Leiden Christi. Wer mich sah, mag gedacht haben: Die schlägt die Augen nieder und ist sittsam wie ein Grabesengel..

Warum erwähnst du Das? Wer sah dich denn?

Im Zimmer der Alten, fuhr Auguste sinnend fort, hielt sie mir eine letzte Strafpredigt und gab mir zwei Thaler. Ich mußte sie nehmen, weil ich nichts zu essen hatte. Vor ihrem Spiegel ordnete ich meine Kleider und ging nun. Ich elendes Geschöpf mag doch gedacht haben: Vielleicht [1850] sieht Heinrichson dir durch's Fenster nach! Ich will doch nicht, daß er hinter mir herspottet und mich auslacht! Ich that also nun, als wär' ich froh und hielt mich recht aufrecht. So kam ich nach Haus. Nach einer Stunde etwa kommt Franz, von der Geheimräthin ein Lakai. Er macht mir einen Vorschlag. Ein Mann in seinen besten Jahren hat mich draußen bei der Tante gesehen und Gefallen an mir gefunden. Ob ich Den heirathen und dann die Gegend verlassen wollte? Habt Ihr irgend einen Gauner bezahlt, rief ich, damit ich nur fortkomme und dem Liebhaber der Geheimräthin nicht die Augen ausreiße? Der Bursch ließ sich auf nichts ein, sondern blieb dabei, daß es richtiger Ernst seiner Herrschaft wäre, den Mann dürfte er nur nicht nennen, ich sollte mit ihm nächster Tage auf einen Fortunaball gehen und da mit ihm anknüpfen, aber sittsam sein und gescheut und dann fort von hier. Es wär' ein Fremder, der von der Stadt nichts wisse, auch nur dann und wann herein käme ... wenn er mich nähme und ich mit ihm davonzöge, würde man mir ein Heirathsgeschenk von zweihundert Thalern machen. Ich lärmte zwar und polterte und drohte, ich steckte doch noch einmal das ganze Haus der Geheimräthin an; allein, wie der Mensch ist, auf den Fortunaball ging ich doch und sah da meinen Freier. Papa, was meinst du nun wohl, wen sie mir ausgesucht haben?

Ich bin begierig ... sagte Murray – schaudernd über das leichte Gewissen dieser ihm wohlbekannt scheinenden vornehmen Menschen.

[1851] Den besten Engel auf der Erde, sagte Auguste lachend, meinen geliebten Freund von Solitüde, der mich einmal gelobt hatte, weil ich Blumen mit Bast an hölzerne Stäbe zu binden verstand und mir auf die Schultern klopfte, als ich im Grase kniete ...

Den Inspektor?

Mangold! Ein Kind von siebenundvierzig Jahren! Nun zwar schon ein bischen von der Sonne getrocknet, aber rüstig und gut wie immer ...

Kannt' er dich?

Wo wird Der mich? Lieber Gott! Der Mann kennt Bäume wieder, die aus dem Samen gezogen sind, den er gesammelt hat ... aber Menschen! Ich mußte ihm in's Gesicht lachen, erst, weil ich den Kopf schütteln mußte, daß ich in den steifen Patron hatte verliebt sein können, und dann, weil er mir zu possirlich den Hof machte und es wirklich ganz ernst nimmt ...

Aber Auguste! rief Murray. Man hat da einen rechtlichen, der Welt unkundigen Mann getäuscht! Du wirst doch nicht ...

Getäuscht?

Auguste, getäuscht! Man hat ihm falsches Gold für echtes gegeben! Falschmünzerei! Ha! Ha! Das sind keine zwanzig Jahre Zuchthaus, die Denen blühen, die schmuzige Seelen für reine in Cours setzen: Die gehen frei aus! Die dürfen nur lachen!

Papa!

Auguste, daß du nur eine Minute diesen redlichen Mann [1852] über dich hast können in Zweifel lassen, Das macht dich zur Hehlerin der Falschmünzerei! Darauf stehen zehn Jahre!

Vater, du bist toll! Mäßige dich, quäle mich nicht! Zehn Jahre? Ich habe Mangold gleich ausgelacht, aber jemehr ich lachte, desto mehr war's ihm Ernst, ich sollte sein Weib werden und ihm auf ein herrschaftliches Schloß folgen, wo er künftig wohnen würde! Das Schloß läge einsam, er müsse nun endlich eine Gefährtin für sein Leben haben, das abwärts ginge. Ich habe mich sittsam benommen, weil Das ein Ehrenmann ist. Aber gelacht hab' ich doch und ihn zitternd vor Wonne abgewiesen und wie ein Kind geneckt. Dennoch will er mich. Alle drei Tage kommt er von Solitüde und geht mit mir Abends einsam spazieren und spricht von einem Schloß, Namens Buchau, weit von hier, wohin ich ihm folgen soll. Ich habe aber, trotzdem daß mein Arm an seinem bebt, soviel Achtung vor ihm, daß ich ihn durch mein Ja! nicht betrügen will und neulich ...

Nun, Auguste ...

Neulich gestand ich ihm meinen ersten Fehltritt ...

Das war brav! Was sagte er? Nicht wahr, es ist nun vorbei?

Auguste schwieg ...

Murray fuhr fort:

Er sprang auf, er riß sich aus deinen Armen los. Und Das führt dich nun her? Du bist unglücklich, verzweifelst ... weil dich Alle verstoßen, Niemand dich mag?

[1853] Aus meinen Armen? sagte Auguste und schüttelte den Kopf. Papa, denk' doch nicht zu schlecht von mir! Ich bebe wie im Wind ein Blatt vor dem Manne, ich glaube nicht, daß er mich schon einmal küßte ...

Was aber sagte er, als du ihm gestandest, daß du nicht mehr so bist, wie du aus der Hand Gottes hervorgingest?

Er sprang auf, wie du sagtest, Papa, er weinte sogar ein bischen, schien mir's, und lief dann auch davon. Er sagte mir Abschied auf immer! und ... nach drei Tagen ...

Nach drei Tagen?

Klopft's wieder an meine Thür ...

Die Vergebung kam?

Die Vergebung!

Auguste! Und Dies zerreißt nicht dein Herz im innersten Busen? Du sankest nicht auf deine Knie und strecktest die Hand zum Allmächtigen empor, der seine Himmel öffnet und schon wieder einen Strahl seiner Gnade zu dir herabsendet? Er vergab dir? Der edle Mann, der nahe seinem funfzigsten Jahre noch auf Liebe und Unschuld hoffte? ...

Ach, Papa, sagte Auguste in der That schmerzzerrissen. Was soll ich nun thun! Das Eine vergab er mir, aber das Andre ... ach, es ist so Vieles!

Erzähle mir, warum er dir vergab und ich sage dir, ob ein Engel des Himmels auch über das Andre hinwegkommt! Warum vergab er dir, daß du eine Gefallene warst, Mutter von einem Kinde?

Weil Buchau weit und einsam wäre, sagte Auguste und [1854] kein Mensch dorthin käme als nur zuweilen der König und die Königin, wenn ihnen die Krone zu schwer würde ... und unter den alten Eichen, wo der Mensch ganz allein sich selber gehörte und nur vor Gott Rechenschaft abzulegen hätte, da vergäße man Vieles und an rechter Stelle nähme sich jeder Baum, auch wenn er schief und krumm gewachsen wäre, angenehm aus, ja an Teichen hätte man es ja gern, wenn die Trauerweiden, die mit ihren langen Hängezweigen hineinlangen, ein bischen gebeugt stünden, und dabei gab er mir die Hand und sagte: Er hätte mich wirklich auch schon als Kind lieb gehabt!

Murray schwieg eine Weile gerührt, dann erklärte er:

Der Teich ist die Buße und die Weiden sind die Reue ... O mein Kind, ich flehe, lache nun nicht mehr! Spotte die Regungen eines bessern Gefühles nicht aus deiner Seele hinweg! Wie ging es denn mir, da dein Vater mich dem Leben zurückgab? Ich trotzte nicht mehr, ich erkannte eine höhere Allmacht und fühlte die starke Himmelshand sichtbar, als wir auf dem Meere von den Stürmen gepeitscht, in den Wellen hin- und hergeschleudert wurden. Ich war noch verstockt, als ich in Hamburg das Schiff bestieg, verstockt, als ich Land sah, die Dünen der Schelde und des Rheins; aber draußen im großen Ocean wurd' ich demüthig und was ich in einem Sturme gelobte, wo eine einzige Welle von dem Schiff fünfzehn Menschen neben mir fortspülte in den Abgrund, Das hab' ich gehalten, habe gearbeitet, gebetet und auf mich selbst gelauscht. Ich [1855] bin kein Frömmler. Aber wenn es mir schlecht ging in Amerika, nahm ich zwölf Bibeln von einem Buchbinder, gab meine letzten Kleider auf einen Tag bei ihm dafür zum Versatz und ging mit meinen zwölf Bibeln in die Häuser. Wo eine Dienstmagd am Brunnen wusch, stellte ich mich zu ihr und bot ihr das Buch der Bücher zum Verkauf. Kein Mensch ist so arm, daß er nicht das erste Ersparniß anwendete, sich eine Bibel zu kaufen. In einem Vormittage schon hatte ich bei den Ärmsten zwölf Bibeln verkauft und mit Vortheil; ich brachte das Geld, bekam meine Kleider und konnte am Nachmittag noch neue zwölf absetzen. Ich machte aber kein Geschäft daraus. Nur immer wenn ich ganz darbte, wenn nichts mir übrig blieb, als betteln zu müssen, dann half ich mir mit den zwölf Bibeln. O, mein Kind, ich frömmle nicht; ich bin nur ein Mensch, der da fühlt, daß er die Welt nicht hat erschaffen können. Wer Das sich sagt, Dem hilft die große Hand, die mit dem Erdball wie mit einem Kreisel spielt! Mädchen, halte sie fest, diese ersten Schauer innerer Einkehr! Wenn sich ein edles Herz fände, das dich erlöste ...

Auguste schien zwar erschüttert, zuckte aber doch schon wieder spöttisch mit den Lippen.

Mädchen, rief Murray erregt. Trotze nicht ewig so gegen dich selbst!

Auguste wollte nun aufstehen.

Nein, Auguste, du bleibst! Hörst meinen Worten! Verflüchtigst die bessere Regung nicht! Gib diesem Hämmern in dir, diesem Klopfen deines Gewissens Gehör!

[1856] Auguste versuchte aber zu trällern und wollte nun fort.

Nieder! rief jetzt Murray und warf die Binde auf die Stirn.

Herr Gott, was willst du, Papa, antwortete das zitternde Mädchen, das gleichsam nur sich selbst entfliehen wollte.

Auguste erschrak vor Murray, fürchtete sich nun fast vor ihm. Er hatte ihre beiden Hände ergriffen. Er drückte sie mit Gewalt auf den Stuhl. Sie, von Furcht gepackt, fast zitternd vor Angst, fast auch über sich selbst, drängte von ihm loszukommen. Er bat, er flehte, sie sollte jetzt eingestehen, daß sie elend, eine Verworfene, eine Sünderin wäre. Sie stieß ihn zurück. Da warf er die Binde ganz von seinen Augen. Flammend und groß brannten zwei mächtige Augenkerzen auf sie nieder. Sie hätte schreien mögen.

Laß mich! flehte sie und wollte fort. Den Hut hatte sie schon in der Hand ...

Murray aber schleuderte den Hut und den schwarzen Flor, den er vorm Auge trug, von sich und rief:

Nieder, Auguste! Nieder! wiederholte Murray und schlug seine beiden Augen so voll und so hell auf, daß sie wie zwei Flammen in der Nacht leuchteten.

Was hast du? Was sollen meine Hände? Was thust du?

Falte die Hände! rief Murray fast wie ein Thierbändiger in einem Käfig einen Panther ergreifen und auf die Erde schmettern würde.

[1857] Du zerbrichst sie ... Laß! Laß! stöhnte Auguste, aber doch schon gedemüthigt von der mächtigen geistigen Gewalt des Alten und auf die Erde sinkend.

Falte die Hände! Bete mir im Geiste nach, was ich laut sprechen werde! Bete! Bete! Auguste!

Auguste ließ das Haupt sinken, hielt die Hände, die auf ihren Schooß wie ohnmächtig und leblos niederglitten, so zusammen, wie sie Murray ihr gefaltet hatte und hob die bebenden Lippen, indem ihre Augen starr und wie irr an den Augen Murray's hingen.

Murray sprach:

Nicht zu dir, Herr des Himmels, red' ich! Denn ich kenne dich nicht und meine Augen sind trübe. Zu mir selbst will ich sprechen! Zu meinem eigenen, eigensten inneren Geiste! In mich selbst will ich blicken, in mein innerstes Herz. Der Gott, der mich geschaffen hat, wird mir zur Seite stehen und mir deuten, was ich jetzt sehe, jetzt fühle. Ich fühle mich elend und ich sagt' es mir nicht! Ich fühle mich in tiefster jammervollster Trostlosigkeit und ich lachte Derer, die mir Erquickung boten. Wer bin ich, Allmächtiger! Ein Haufen Erde, in dem die Würmer wühlen werden, wenn meine Stunde gekommen ist. Ich bin Staub, Asche ... Ein Todtenkopf sieht mich einst an, wenn ich in den Spiegel blicke, und die Lippen, die einst so frevelten, spöttelten, sagen mir jetzt schon: Das ist einst dein Bild! Ach, gibt es eine Schönheit, die unvergänglicher wäre als die eines reinen Herzens? Das fühl' ich doch, wie ein Kind so lieblich und gehorsam in seiner [1858] spielenden Welt lebt, die Freude der Menschen ist, auch Derer, denen es nicht gehört und die es nur sehen, nur wie fremd beobachten! Wie schmückt Jeden unter uns die Zier einer friedfertigen kindlichen Gesinnung! Wie schön steht uns zu dulden und nicht zu murren wider das Geschick! Der Himmel hat mir nie lächeln wollen. Ich weine d'rob! Ich armes Kind, das ich unter Unglücklichen und Bösen aufwuchs, die Ältern nicht kannte und mit ihnen nichts vom Jugendglück. Aber prüfe dich recht, mein Herz! Nahmst du nicht jedes deiner Misgeschicke für eine Entschuldigung deiner Fehler? Sagtest du dir nicht: Wie kann ich auf die Zufriedenheit mit mir selbst bedacht sein, hab' ich doch keine Freude, als die flüchtige der Selbstvergessenheit? Ach, es wird die Stunde kommen, Auguste, wo du an deinem Ohre die Worte hören wirst: Wie war sie schön und wie verblühte sie nun! Du wirst hören, daß man Andre preist und Die, die du am meisten verachtetest, weil du ihre Seele kanntest, die werden sich vor dir brüsten und sich rühmen, daß an ihren Blättern der welkende Herbst erst um einige Tage später erscheint! Ach, dann werd' ich nach ewiger Schönheit suchen und sie nirgend finden, als in Bescheidenheit und treuer Liebe. Treue Liebe! Du süßestes Kleinod des edlen Frauenherzens! Treue Liebe! Du Schmuck der Armen, Du, der einzige Stolz der Geliebten, wie das Kind, selbst ein schwaches und unschönes, doch der beste Schmuck seiner Mutter ist! Treue Liebe! Wer bringt mir deinen Hauch, daß ich ihn in meine Seele ziehe, wie einen Duft [1859] der Opfer, die dem Herrn angenehm sind, daß ich ihn wieder ausströme in ein Herz, das noch Hoffnung zu mir fassen kann! Ach, daß der Gute, Edle, Vergebende sein sanftes Auge auf mir ruhen ließe! Daß ich die letzten gesammelten Reste meiner bessern Natur, die ich doch aus mancher stillen Abendstunde kenne, dem schon früh Geliebten bieten dürfte wie die arme Witwe ihr Erspartes mit der Ärmeren theilt! Weiche nun von mir jede Verstellung! Ich will mein Auge niederschlagen auf der Straße, ich will Dem, der mich frägt, was mir fehle, sagen: Ich bin krank! Ich will Schmach erleiden, will noch einmal, zum letzten male versuchen, ob eine gütige Hand mich aus diesem Dunkel führt. Und wär' es nicht – wäre auf meiner Stirn das Zeichen vergangener Irrthümer zu tief eingebrannt, nimmt er mich nicht hinüber in die Luft, die läutert, an die Quelle, die reinigt ... auch dann, auch dann, Herr des Himmels, soll mich nicht die Verzweiflung fassen, sondern nur ... und nur die Reue. Ich will, mein Gott, in mich sehen, will den Trost der Menschen suchen, die mit mir beten und die ein gleiches Bedürfniß trieb, mit seinem eigensten Herzen zu sprechen und auf die ernsten Fragen der Seele mit Ernst zu antworten. Dies Beten hört ja nur Gott. Der spottet deiner nicht. Der weint mit dir, der freut sich mit dir! Der ist dein Widerhall! Und hörst du den Widerhall, der aus deinem Herzen tönt, dies stille Trösten und diese Ruhe gern, dann ist's Der Gott, der in dir wohnt. Dann ist er dir nahe! Glaube ihm! Vertraue ihm! Hoffe auf ihn! Von nun an in Ewigkeit [1860] und die Zeit deines vielleicht nur kurzen Lebens noch! Amen!

Wie Murray dies Gebet geendet hatte, ergoß sich Auguste in einen Strom der bittersten Thränen. Sie, die seit lange nur noch vor Ungeduld geweint hatte, weinte vor Reue und dem Gedanken an ihre tiefste Hoffnungslosigkeit.

Murray, der mit gefaltenen Händen vor ihr gestanden hatte, griff nun tröstend nach ihrer Hand und zog sie empor. Sie ließ willenlos Alles geschehen, was er mit ihr begann. Er ergriff die Binde wieder, reinigte sie vom Staub und legte sie ruhig über seine Stirn. Dann sagte er:

Wann kommt Mangold?

Heute Abend, aber spät! Er ißt immer erst irgendwo zu Nacht ...

In diesem Gebete und der Übereinstimmung mit Murray's Worten hatte sich die ganze Sehnsucht offenbart, daß Mangold sie von ihrem jetzigen Stande erlösen und an seine reine Brust ziehen möchte.

Du wohnst noch in der Königsstraße? sagte Murray.

Neben dem Café Richter ...

So komm' ich heute, wenn Mangold kommt ...

Auguste stand ermuthigter und gestärkter von diesen Worten, dieser Aussicht auf Trost und Beistand und guten Einfluß auf jenen Edlen von dem Sessel, auf den sie nach dem Gebete gesunken war, auf, zog ihren Shawl über, trocknete ihre Thränen und suchte ihr feuchtes Taschentuch zu verbergen ...

[1861] Sie wollte gehen, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Murray rief sie aber in der Thür noch zurück.

Auguste, sagte er, ich habe Vertrauen! Glück bessert Thorheit, Glück bestärkt die guten Vorsätze! Man muß nicht Alles vom Unglück erwarten. Das Unglück verhärtet, verbittert uns. Du bedarfst nun Glück! Du mußt nun nicht darben! Du hast Schulden! Da! Nimm!

Damit hatte er die Schublade aufgezogen und reichte Augusten nach kurzem Suchen ein Papier hin ...

Es war eine Banknote von funfzig Thalern ...

Auguste gab ihm aber das Papier zurück, schüttelte schweigend den nothdürftig geordneten Kopf und wollte fort. Ihre Augen waren nicht zu dämmen. Es flossen die einmal geöffneten Schleusen des Herzens über. Sie bedurfte der Luft ... sie mußte für sich weinen können. Nur weinen ... Nur fort!

Murray drängte ihr nun fast das Papier auf. Sie nahm es aber nicht, sondern ging. An der Treppe blieb sie stehen und wandte sich nur noch, um die tonlosen, erstickten und heiseren Worte zu sprechen:

Unten der Mullrich ... der Wirthin ... schuld' ich vier Thaler. Sie läßt mich vielleicht nicht durch ... wenn ich durch die Hausthür will ...

Murray gab ihr diese vier Thaler ...

Auguste nahm sie, wickelte sie in ihr Tuch und ging ohne aufzublicken, ohne ein weiteres Wort des Abschiedes, ohne eine Phrase, ohne einen Seufzer, still und tiefbewegt von dannen. Sie hatte keine Stimme, kein äußeres [1862] Leben mehr. Sie ging wie geisterhaft, wie ihrer selbst nicht bewußt ...

Murray kannte diesen Zustand und nannte ihn für sich ... den des gebrochenen Rohres.

Der Auftritt hatte auch ihn erschöpft. Auch er bedurfte frischer Luft zur Stärkung. Es war zu eng um ihn, zu dumpf. Er wollte aus; es dürstete ihn. Er sah nach dem Kruge ... er trank ... das Wasser war matt ... Er gedachte des Anerbietens seiner freundlichen Wirthin. Er ging an die Verbindungsthür der Küche und klopfte ... Louise Eisold wurde hörbar.

Dürft' ich Sie bitten ... sagte er.

Sogleich! war die Antwort und Louise kam über die Galerie an seine offne Thür.

Was wünschen Sie, Herr Murray? fragte sie.

Dürft' ich Sie bitten ... Haben Sie in Ihrer Küche frisches Wasser?

Gewiß! sagte sie und sah nach dem Kruge. Aber das Wasser war auch da matt geworden.

Ein Gewitter liegt in der Luft, bemerkte sie. Ich hol' Ihnen frisches ...

Nein, nein, Mademoiselle!

Warum nicht! sagte sie.

Damit ergriff Louise Eisold den Krug und ging, so gefällig sie angezogen war, selbst hinunter, um im ersten Hofe Wasser zu holen.

Murray lehnte sich und sah über die Galerie und beobachtete das Wetter. Er kehrte in sein Zimmer zurück.

[1863] Er nahm einen alten Regenschirm, setzte den Hut auf, schloß die Thür und zog auf der Galerie alte hellgrüne, waschlederne große Handschuhe an.

In Gedanken versunken ging ihm dies Alles langsam. Er hatte den linken Handschuh an und wollte eben den rechten anziehen, als Louise mit dem Kruge schon wieder da war. Sie nahm ein Glas aus ihrer Küche, schwenkte es und schenkte es aus dem Kruge voll.

Wie Murray so dies freundliche Walten eines gewissensreinen, unbescholtenen Mädchens sah, wie sie ihm das Glas hinhielt, das reine und klare krystallhelle Wasser im reinen klaren krystallhellen Glase von reiner unbescholtener Hand, dargereicht mit klarem Auge und sittlichem Ernst, da sagte er, als er getrunken und sich gestärkt hatte:

Glücklich, wer ein Gewissen hat, das sich nur manchmal so trübt wie ein eben am Brunnen gefülltes Glas, das von den tausend Tropfen krystallreinen Wassers beschlagen wird!

Damit gab er Louisen, deren traurige Trübe bei aller Reinheit diesem Bilde entsprach, das Glas. Sie stellte den Krug zur Erde und wollte ihm das Geleite bis an die Treppe geben ... Wie er nun hinunterstieg und fort war und sie in ihr Zimmer zurückkehrte, hörte Louise im Glase, das sie wegstellen wollte, einen sonderbaren Klang. Der prächtige Ring von Gold und Edelsteinen, den Murray am Finger gehabt hatte, lag auf dem Boden des Glases.

[1864] Seltsam! dachte sie in längeren Pausen. Hat er ihn vergessen? Oder soll Das ein Geschenk sein? Wer ist dieser Mann? So arm! So reich! So niedrig! So groß! So schwach! So stark! So kindlich! So weise! So offen, so räthselhaft!

Wie gelähmt vor Schreck stand sie und betrachtete das funkelnde Geschmeide ... wünschte aber die Nacht herbei, um es dem wunderbaren Nachbar zurückzugeben.

[1865]
15. Capitel. Eine Hexenküche
Funfzehntes Capitel
Eine Hexenküche

Der Vorfall zwischen den königlichen Herrschaften und dem Fürsten Egon von Hohenberg auf Schloß Solitüde hatte allgemeines Aufsehen erregt. Alle Welt sprach von der rührenden Scene, dem Choral und den Thränen der Königin ... Drommeldey hatte eine Anekdote gewonnen, die mit seinem Wagen die Runde bei all den vornehmen Herrschaften machte, die in chronischen Fällen homöopathische, in acuten allopathische Behandlung verlangten ... Die Trompetta war dem Vorfalle so nahe gewesen, daß sich diese Nähe bald im Munde der Wiedererzähler in wirkliche Anwesenheit verwandelte. Hatte sie doch Ursache, vom Hofe eine Entscheidung über ihr Gethsemane zu erwarten! Warum sollte sie nicht dabei gewesen sein, als jene zarte Überraschung eines Sohnes mit den Andenken seiner Mutter vorfiel? Sie gab dem Solitüder Vorfalle erst die mystische Abrundung und Beleuchtung, denn sie war es, die bei ihrer großen Beweglichkeit Hunderte von Urtheilen darüber hörte und diese Urtheile in Thatsachen verwandeln konnte. Man pries das Herz des Monarchen, man bewunderte den Takt seiner Gemahlin. Man stritt [1866] darüber, welchem Gefühle die Scene am wohlthuendsten müsse gewesen sein, und kam darin überein, daß die junge Fürstin wohl die reinste Freude dabei genossen hätte; denn sie war es, sagte man mit der eigenthümlichen Sentimentalität jener Regionen, die den König glücklich sah! Lauschte man doch von allen Seiten in des Königs Umgebung auf Momente, wo eine innere Freude aus seinem durch die Zeitverhältnisse eingeschüchterten Gemüthe drang! Der König hat gelacht! Ein solches Wort flog oft mit Blitzesschnelle bei einer Cour durch den Mund von hundert Menschen und die »kleinen Cirkel« endeten dann noch einmal so gut; denn die Hoffnung auf eine Lösung der Wirren, die die Krone bedrohten, schimmerte dann doch etwas leuchtender. Man hoffte dann wieder auf energische Befreiung von einem Ministerium, das die Noth des Augenblicks dem Regentenhause aufgedrängt hatte. Es war aus entschieden lästigen Bestandtheilen, aus Kaufleuten, Fabrikanten und ähnlichen »Emporkömmlingen« zusammengesetzt. Einige renitente Beamte, besonders aus der Richtersphäre, hatten die Verwirrung, die in den höchsten Kreisen herrschte, nur noch vermehrt. Das Vertrauen auf die alte unbedingte Hingebung der Bureaukratie war auch schon bei Hofe untergraben. Man sah sich da wie auf dem stürmenden Meer nach einem rettenden Ufer, einem Leuchtthurm, einem Lootsen um. Das Drängen um die Ehre des Steuerruders war so groß, daß Keiner es besonders kräftig erfassen konnte. Eine allgemeine Rathlosigkeit lähmte den ganzen [1867] Staatsorganismus, der neue Formen sich aneignen sollte und noch nicht die Seele für diese Formen hatte. Der bevorstehende Landtag, weit entfernt, einen Halt, eine rettende Planke für die Schiffbrüchigen zu bieten, war voraussichtlich nur die Veranlassung neuer Verwirrungen, neuer Stürme. Man konnte schon jetzt mit Bestimmtheit prophezeien, daß sich das so nothwendig sich dünkende Ministerium ihm gegenüber nicht würde behaupten können. Und zu militairischem Druck, zu Gewaltmaßregeln allein, schämte man sich, jetzt schon zu greifen. Man wollte doch so gern den Schein der Gedankenfreiheit behaupten und manche Idee verwirklicht sehen, die ohne Unterstützung der Überzeugungen keine Dauer versprach.

Niemand war von allen diesen Wirren mehr ergriffen als eine vornehme Dame, die wir zwei Tage nach dem im Vorangehenden geschilderten Septemberdonnerstage am Samstag Abend bei trübem und regnerischem Wetter schon um sechs Uhr Abends auf ihrem gelben Sopha bei gedämpfter Beleuchtung einer großen Lampe ausgestreckt, die Füße mit einem Shawl belegt und melancholisch genug erblicken.

Pauline von Harder befand sich in ihrem ostensiblen Boudoir, dem uns bereits bekannten Zimmer Gelb in Blau. Sie schlug die Arme zusammen und sah auf eine Schreibmappe nieder, die mit einer Feder auf ihrem Schooße lag. Das Dintenfaß war in der Schreibmappe selbst angebracht.

[1868] Eine andere Dame, die alte Ludmer, breitete ihr den Shawl auf den Füßen auseinander, damit sie sich des Frostes erwehrte, der sie bei dem trüben und plötzlich sehr herbstlichen Wetter überschauerte. Auch die Ludmer hatte eine Art Schreibanstalt vor sich an dem runden Tische von Mahagony. Auf einem Blättchen notirte sie mit einem Bleistifte.

Wie kalt es ist ... Es ist sechs Uhr und schon finster! seufzte die Geheimräthin.

Der Herbst kommt dies Jahr so früh ... schnarrte die alte Gesellschafterin.

Der Sommer war zu schön und wie wenig hab' ich ihn genossen.

Die Ludmer antwortete mit einer aufrichtigst zustimmenden Geberde.

Ein Bedienter trat eben ein und ließ die Vorhänge nieder. Es war Franz.

Bei den Wäsämskoi's drüben auch schon Licht? sagte Pauline.

Stichdunkel! antwortete Franz.

Hat der alte Herr von drüben wieder unser Haus so oft angeglotzt? fragte die Ludmer.

Franz antwortete:

Heut früh ging er wohl zehnmal vorüber und schien Lust zu haben, zu klingeln. Immer besann er sich wieder und wandte sich dann nach der Stadt ...

Sollt' er die kühle Visite der Fürstin gut machen wollen? fragte die Geheimräthin.

[1869] Was? sagte die Ludmer, die vielleicht jemand Anders im Sinne hatte. Ach, du meinst den alten Hauslehrer?

Franz wußte darauf keine Antwort und ging mit der Bemerkung, der Alte heiße Rudhard, aus dem Zimmer.

Die Ludmer begann jetzt zu plaudern, zu berichten, zu unterhalten. Sie erzählte von dem jungen Maler, der fast den ganzen Tag dort drüben bei Helenen's Schwester und ihren Kindern wie eingebürgert verweile. Sie erzählte von dem stadtbekannt gewordenen Rendezvous in Solitüde, von großen Scenen zwischen der Mutter und Tochter ...

Erinnere mich nicht an diesen Tag! sagte Pauline leidend. So sich in seinem eignen Manne prostituirt zu sehen! Gegenstand des Spottes in dem Menschen, der unser natürlicher Schutz, Beistand, unsre Ehre sein sollte! Ich kann mir denken, daß in allen Gesellschaften nur von Henning's stupider Miene gesprochen wird!

Die Ludmer richtete ihre stechenden Augen auf die Geheimräthin und sagte voll tiefster Besorgniß:

Ja, ja! Zu unserm Dienstag-Diner haben der Oberhofmarschall und Graf Franken absagen lassen ...

Es sollte mich gar nicht wundern, wenn wir in eine förmliche Ungnade fielen, erwiderte Pauline.

Nur wegen der Solitüde? sagte die Ludmer mit schärferem Blicke zu ihrer Freundin und Gebieterin hinüberschielend und ihre Dose anschlagend.

Ich weiß, was du sagen willst, antwortete Pauline. Man erklärt mein Haus jetzt für den Sammelplatz der Opposition.

[1870] Man sagt, ich machte Partei ... Laß sie! Laß sie! Das freut, das ermuthigt mich. Siehst du! Ich thue in der That nichts, gar nichts, was diesen Vorwurf verdiente und man kann von einer intelligenten Frau nichts Schmeichelhafteres sagen, als daß sie intriguire, während sie doch nichts thut. Ihre Intelligenz ist schon Intrigue! Null, Null soll man sein, ja noch unter Null und zu Weihnachten nur für den Frauenverein sticken oder eine Boutike halten. Das ist Alles.

Nichts thut, Beste? sagte die Ludmer und nahm eine Prise. Ist nicht auch Werdeck wieder zum Dienstag eingeladen? Bist du nicht in offener Ausstellung auf dem Kunstverein in Ekstase gerathen über das Bild seiner Frau, und hast diese Person wieder an dich gezogen, trotzdem, daß sie Jedermann flieht und du seit ihrer Spionage in Bielau ihr mistraust ...

Wie kommst du auf diese Zufälligkeit? In Bielau? Spionage? warf die Geheimräthin ein. Welches Interesse könnte diese Frau, die aus Polen stammt und in mir ganz fremden Verhältnissen aufwuchs, veranlassen, sich um unsere Vergangenheit zu bekümmern?

Kind! Du weißt nicht, wie sie dich Alle umschleichen und belauschen! Daß zum Dienstag die Trompetta, die Flottwitz, Niemand vom Bundesrath gebeten ist, gibt sogleich Gerede. Bist du nicht ein Herz und eine Seele mit der d'Azimont, die die zweifelhaften politischen Gesinnungen des Fürsten Egon beherrscht und was ist alles Das gegen ... deine neueste Grille ...

[1871] Pauline lachte mit der Überlegung eines starken Geistes über einen schwächeren.

Du sprichst, sagte sie, von meinem Ankauf eines gelesenen Journals! Wer allein nennt Das Grille, als eine Natur wie die deinige, die sich um öffentliche Dinge nicht kümmert!

Ich dächte, wir hätten an unsern geheimen genug – sagte die Ludmer scharf und sah auf ihr Papier, während sie den Bleistift probirte und aus einem Futteral, das neben ihr lag, eine Brille zog, die keine Bügelbrille, sondern aus alter Gewohnheit ein einfacher sogenannter Nasenquetscher war.

Pauline schwieg eine Weile und kam dann durch eine leicht erklärliche Ideenassociation auf Heinrichson.

Wie selten sich seit einiger Zeit Heinrichson macht! sagte sie seufzend.

Deine Schuld, gutes Kind! antwortete die Ludmer jetzt durch die Brille näselnd. Wie konntest du in dem Grade jugendliche Leidenschaften verrathen, daß du mit ihm eine Scene spieltest, als das abscheuliche Ding, die Auguste, ihn in unsern Zimmern wie rasend anfiel?

Pauline schwieg eine Weile und stützte das Haupt auf.

Ich hatte mein Alter vergessen! sagte sie seufzend. Sonst, wenn ich entdeckte, daß meine Freunde treulos waren und nicht Farbe hielten, hob ich Dolche empor. Wo sind diese Zeiten hin!

Heinrichson ist doch aufmerksam und weiß, was du ihm bist und wie du ihm nützest. Aber mit ihm zu boudiren ...

[1872] Um eine Leda!

Du hast es nun! Er nahm die Scene für Affectation und kommt seltener. Diese Männer wie Heinrichson fürchten sich vor Scenen.

Doch ist er ja wärmer, zärtlicher, als sonst ...

Franz ... hat ganz Recht –

Franz! Lässest du nie dies Spioniren, Charlotte! Franz sieht, was er merkt, was wir gesehen wünschen.

Die Visiten Heinrichson's bei der d'Azimont kann Keiner erfinden!

Verleumdung! Heinrichson arbeitet an ihren Erinnerungsblättern. Soll ich mich vor Helenen fürchten? Dann wäre Treue und Glauben aus der Welt gewichen. Schwelgt sie nicht in dem Entzücken ihrer endlichen Aussöhnung mit Egon! Sie lag heute weinend an meiner Brust! Diese Freudenthränen! Dieser Herzensjubel! Die Glückliche!

Ah! setzte sie nach einigen Augenblicken hinzu, ich will meine Tagebuch-Notizen machen.

Und ich den Speisezettel für Dienstag, ergänzte die Ludmer trocken und schüttelte den Kopf und behielt die Gedanken, von denen sie sah, daß sie keinen Anklang fänden, für sich.

Sonnabend den 20. September, sagte Pauline halblaut und schrieb seufzend Notizen auf, die sie theils wiederholte, theils nur flüsternd für sich hinsprach ... Elf Uhr ... Besuch Helenen's. Glücklich und entzückt ... Rückfahrt von Solitüde ... Überraschung ... Dunkelheit ... Kindliche Hingebung ...

[1873] Die Ludmer sprach aber auch gern etwas laut, wenn sie dachte, und schrieb nachdenklich, als wenn ein Feldherr seinen Operationsplan gegen einen gerüsteten und kriegskundigen Gegner entwirft, über das bevorstehende große Dienstagsdiner folgende Ideen nieder:

Pürée von weißen Rüben mit Filets von Enten und Parmesan-Croutons ...

Egon's Eindruck bei Hofe – fuhr wieder ihrerseits Pauline fort ... Mein Lächeln fällt Helenen auf – Ich lächle über mich – Warum? – Weil ich mir manchmal wie die Sibylle vorkomme, die in einer Höhle sitzt und die Menschen in ihrem Wahne sich durchkreuzen sieht, während ich im Buche ihrer Schicksale lese –

Spanische Pasteten von Rebhühnern, sagte die Ludmer und fügte still für sich, aber mit Nachdruck hinzu, von Rebhühnern en Salbicon –

Wüßten alle Menschen, was ich weiß – wüßten sie, wie ich auf meinem Dreifuß sitze, der Priesterin von Delphi gleich – ich lächle und warte meine Zeit ab –

Die Ludmer in der Hoffnung, den Pflegling ihrer Liebe von diesen quälenden Träumereien und Tagebuchsschmerzen abzubringen, flüsterte:

Rinderbrust, glacé, mit Chalotten ...

Helene fürchtet für die Zukunft ... ließ sich Pauline nicht irre machen ... trotzdem daß sie den Augenblick besitzt. Egon will die politische Carrière beginnen. Nichts ist den Frauen gefährlicher als der Ehrgeiz der Männer. Ein Mann, der den Ruhm liebt, opfert ihm gewöhnlich [1874] zuerst sich selbst und dann auch Alle, die ihn lieben. Helene fürchtet die Umgebungen Egon's und hofft, daß Rafflard sein Versprechen, sie sämmtlich zu entfernen, das ganze Nest aufzuheben, wahr macht.

Die Ludmer hörte etwas hinüber zu den ihr nicht ganz gleichgültigen Thatsachen, die die Geheimräthin niederschrieb – und sagte dann freudiger notirend:

Gänse à la Broche mit farcirten Gurken à la Sauce ...

.. Die Geheimräthin hatte aber trotz ihrer idealen Anschauung gleichfalls nicht unterlassen, auch auf die Ludmer manchmal hinzuhören und zu prüfen, was die erprobte Erfindungsgabe der Freundin zusammensetzte. Sie nahm jetzt das Blättchen und las die schriftstellerischen Produkte der Ludmer. Die Ludmer nahm eine Priese.

Ist Das der erste Gang? fragte Pauline.

Der erste Gang!

Ich vermisse, sagte die Geheimräthin, die gleichfalls gastronomische Phantasieen hatte, eine Kennerin der Tafelfreuden und längst zu der Erkenntniß gekommen war, daß man sich viele und gerade die geistreichsten Menschen dauernd und wahrhaft treu leider nur durch Diners und die sinnige Wahl ihrer Leibgerichte verbindet; ich vermisse, sagte sie, ein Hochepot von Wurzeln à l'Anglaise für meinen guten Justizrath, der seine Frugalität immer drollig genug zu beweisen sucht, daß er nach Gemüsen verlangt und von guter Hausmannskost spricht.

Ist der Justizrath denn eingeladen?

[1875] Schlurck? Ich denke doch? Der Vater und die Tochter! Ich bin sehr undankbar gegen den ehrlichen Menschen und hab' ihm seit seiner edlen Aufopferung für meine Interessen viel zu wenig Aufmerksamkeit erwiesen.

Er war gestern hier, um dich angelegentlichst zu sprechen ...

Wovon man mir nichts sagte? erwiderte die Geheimräthin entrüstet.

Ich mochte nicht ... Der Mann wird alt ... Er zeigte sich ängstlich!

Ängstlich? Worüber? Ein Schlurck ängstlich ... du sprachst ihn also?

Es kämen, sagte er, Anfragen, Vorwürfe wegen der übereilten Haussuchung bei den Gebrüdern Wildungen – man setze ihm mannichfach zu, wolle Auskunft über Dies und Jenes – er quengelte mehr, als ich je von dem Manne erwartet hätte –

Dann lad' ihn nicht ein! erklärte die Geheimräthin entschieden. Furchtsame Menschen stören unsern Lebensmuth. Man wird nie von Paulinen sagen, daß sie ihre Freunde vernachlässige; aber nur keine Entmuthigung da, wo man Stärke erwartet!

Von seiner Tochter sprach Schlurck auch, berichtete die Ludmer.

Sie ist verlobt mit Lasally –

Noch nicht förmlich ... sagte er. Auch bräche sie solche Verhältnisse ab, wie sie sie anknüpfe. Sie wäre vorgestern gleichfalls, wie es scheint die ganze Welt, in Solitüde [1876] gewesen und hätte sich, nach Hause gekommen, so gegen Lasally gebehrdet, daß diese Verbindung jetzt wieder weniger Möglichkeiten für sich hätte als früher ...

Sie hat den Prinzen wieder gesehen, Dankmarn, Siegbert Wildungen – die alten Leidenschaften regen sich – Wir wollen Schlurck und Melanie doch einladen. Vergiß es nicht!

Und Werdeck und die Deputirten?

Werdeck und die Deputirten! Justus vor Allen!

Was? Justus? Den Heide ...

Die Ludmer machte eine Miene, als röche es plötzlich nach Dünger. Sie hatte für Politik wenig Sinn und schüttelte den Kopf und drückte wieder die Brille, die sie beim Sprechen abgenommen hatte, auf die gequetschte Nase, daß sie im Sprechen einen schrecklich schnüffelnden Ton bekam.

Die Deputirten! näselte sie.

Pauline fuhr abbrechend fort in ihren Notizen:

Egon läßt sich wählen – Dankmar Wildungen macht dabei den Vermittler – Helene fürchtet diesen Entschluß, fürchtet die Wildungen, fürchtet Louis Armand's Einfluß – fürchtet Alles, was sie von Egon trennt – Nachrichten aus Paris – d'Azimont wird immer kränker – Egon spricht viel von der Nothwendigkeit und dem Glück legitimer Verhältnisse – sie klagt mir's ...

Die Ludmer hatte eben sehr aufmerksam zugehört und fragte, was legitim wäre?

Pauline lächelte und sagte:

[1877] Legitim, liebe Charlotte, heißt, wenn nicht sittlich, doch gedeckt durch die Sitte. Du guter Egon! Wenn du wüßtest, was sich Alles legitim nennt! Du willst für die legitimen Verhältnisse auftreten! Ärmster! Kenntest du die Memoiren deiner ...

Pst! sagte die Ludmer und schrieb satyrisch grinsend und lachend:

Filet von Seezungen à la maître d'hôtel! Ha! Ha! Ha!

Um zwölf Uhr Rafflard's Besuch – er soll nun doch kein Jesuit sein – seitdem Helene ihn erkannt haben will – sie nimmt ihre Verleumdung zurück – Rafflard soll ein Herz haben, das edelste ... ich finde ihn ergeben, gut aus Erschöpfung, böse zu sein; aber nicht zuverlässig – sein Blick ist nicht offen – er sagte: Madame, der größte Herrscher ist der Schein des Dienens – Eine Reminiscenz, die er wol nicht selbst erdacht hat, aber gut befolgt. – Seine Absichten sind in Dunkel gehüllt – er war bei Hofe – er verkehrt mit Voland von der Hahnenfeder – er verbindet diesen Zauberer mit dem Propste Gelbsattel – er ist überall und nirgends – Rafflard will den Bund sprengen, der den Prinzen Egon von Hohenberg umstrickt hält – er fürchtet viel von einer Annäherung Egon's an jenen Rudhard ... eine Aussöhnung, die Helene noch nicht einmal erfahren hat, weil sie Rudhard haßt und Egon sie wahrscheinlich damit zu kränken fürchtet ... Louis Armand, Egon's böses Princip – Rafflard wird in Egon's Umgebung aufräumen und ihr den Alleinbesitz ihrer [1878] Liebe sichern ... sein dunkles Wühlen ... Pariser Aufträge ... Rafflard scheint mir fähig zu sein, die Rolle selbst eines Banditen ...

Maccaroni à la Bechamelle ... sagte die Ludmer, aber wie in der Zerstreuung, so erschrak sie vor dieser Charakteristik des Herrn Sylvester Rafflard, der die Geheimräthin so interessirte, daß sie im Notiren fortfuhr:

Rafflard hat eine gute französische Aussprache und corrigirt Andere ohne zu verletzen ... Er ist räthselhaft. Um ein Uhr – eine Zumuthung der Flottwitz – abgelehnt – ein Besuch der Trompetta nicht angenommen. Buchhändler Schröpfer besucht mich auf meinen Wunsch und gibt mir Details über das politische Journal: »Das Jahrhundert«, das ich kaufen will ...

Pauline! unterbrach die Ludmer halb vorwurfsvoll diese letzte Tagebuchnotiz, die die Geheimräthin mit einiger Schalkhaftigkeit aussprach, nur prüfend, nur forschend, welchen Eindruck sie auf die Erfinderin ihres nächsten großen Küchenzettels machen würde.

Nun? sagte die Geheimräthin, den Kopf aufrichtend und lächelnd. Schröpfer ... das Jahrhundert ... Guido Stromer ...

Pauline!

Die Ludmer dirigirte einen langen schmerzlichen Blick auf ihre Freundin und langjährige Pflegebefohlene ... und da diese sich nicht irre machen ließ, sondern nur sagte: Nun? Nun? so stieß sie über diesen Rückfall in die ihr verhaßte Literatur einen ihrer tiefsten Seufzer aus und [1879] sagte, indem sie notirte, mit betrübtestem Ausdruck und gen Himmel blickend:

Ach! Kalekut – Hirschziemer – mit Salat – Kirschengratin – Gelée von Citronen und geschlagener Sahne mit Marasquino und Biscuits!

In diesem feierlichen Augenblicke, den nur das schadenfrohe Lächeln der Geheimräthin etwas profanirte, trat Franz herein und übergab der Ludmer einen Brief.

Durch das Gartenamt vom Schloß; sagte Jener. Der Geheimrath hatte ihn vergessen. Er ist schon heute früh abgegeben.

Die Ludmer betrachtete das Siegel und erbrach es. Der Brief war an sie gerichtet.

Die Geheimräthin fragte bei dieser Gelegenheit, wo Excellenz wäre?

Im Theater! hieß es.

Franz, dem dann nichts Weiteres geheißen wurde, ging und die Geheimräthin zog naserümpfend den Mund. Im Theater! sagte sie für sich. Er hat gewiß wieder ein kleines Verhältniß, das mit irgend einer moralischen Niederlage, wie im Möbelwagen, endigen wird! Die gute Lehre, die ihm Melanie gegeben, hat nicht lange gefruchtet. Eine wirkliche Schauspielerin wird es verstehen, ihm noch eine längere Nase zu drehen als diese Dilettantin in der Komödie.

Indem bemerkte Pauline, daß die Ludmer durch die Lectüre des eben empfangenen Briefes in große Aufregung versetzt war.

[1880] Was hast du? fragte sie, als die Ludmer die Brille abnahm und aus ihren schwarzen Augen einen stechenden, erstaunenden Blick auf sie richtete.

Das sind schöne Sachen! sagte die Ludmer. Lies!

Pauline nahm den Brief, dessen Äußeres etwas Unförmliches hatte und fast wie ein Dienstrapport aussah.

Von wem ist er denn? fragte sie.

Sieh nur! Das sind schöne Sachen!

Pauline sah zuerst auf die Unterschrift! Sie lautete »Mangold, königl. Garten-Inspektor«.

Ist Das wegen – fragte sie ...

Wegen Augusten's! sagte die Ludmer und ging schon zornig im Zimmer auf und ab.

Pauline las:

Meine liebe Madame Ludmer! In meiner Jugend hab' ich so unter der Herrschaft meines Blutes gestanden, daß ich auf Vieh und Menschen zuschlug, wenn mir etwas zu tückisch und nicht nach meinem Willen entgegentrat. Für jede Beleidigung hatt' ich sogleich mit fünf Fingern einen Habedank! zur Hand. Das waren meine jungen Zeiten und aus den Händeln kam ich nicht heraus! Wie ich aber einmal eine Frau, die mich auf jede Weise chikanirte, die Frau meines Lehrherrn, eines Gärtners, in einem Zornanfall fast mit Füßen trat und vor der Rache ihres Mannes nicht entfloh, sondern ihn, weil er die böse Frau in Schutz nehmen wollte, mit der Peitsche durchhieb und dabei einem armen unschuldigen Kinde, das in der Nähe stand, ein Auge ausschlug, bin ich in mich gegangen und ein [1881] anderer Mensch geworden. Ich flüchtete jetzt und kam durch allerhand Irrwege nach Holland und England, wo ich die Gärtnerei im Großen studirte, die richtige Art der Parkanlagen, besonders aber Ruhe, Selbstbeherrschung und Mäßigung lernte. Nach meiner frühern Art glaub' ich wohl, daß ich in Ihrer Nähe, liebe Madame Ludmer, jetzt wieder einem Kinde zufällig ein Auge ausgeschlagen hätte; nach meiner jetzigen Art sag' ich Ihnen aber nur, daß es ein Irrthum von Ihrer Seite ist, liebe Madame Ludmer, wenn Sie geglaubt haben, daß ich zu dem verlornen Rufe Ihrer Nichte, Auguste Ludmer, wie zu einem Brunnen den Deckel hätte abgeben können. Ich frage nicht: Wie konnten Sie wagen, Frau, einem ehrlichen, unbescholtenen Manne zuzumuthen, eine Auguste Ludmer zu heirathen? Wie konnten Sie es wagen, auf meine Leichtgläubigkeit, Dummheit und von den Städten zurückgezogen lebende lebendige Einfalt hin, mir eine Partie vorzuschlagen, die ewig meine Ehre würde gebrandmarkt haben? Wie konnten Sie so hinterlistig Veranstaltungen treffen, um mich und meinen guten Namen in diese schändliche Falle zu locken? Ich sage das Alles nicht auf alte Art, weil ich ... möglicherweise ein in der Nähe befindliches Kinderauge fürchte. Lassen Sie sich denn also mit der einfachen Nachricht genügen, daß ich jenes schöne und in vieler Hinsicht angenehme Mädchen vom Grund meiner Seele aus bedaure, daß ich selbst über einen gewissen Beweis menschlicher Schwäche und die Erbärmlichkeit eines gewissen herzlosen großen Künstlers in dummer Einfalt [1882] hinweggekommen wäre, allein die Wahrheiten, die ich sah, als mir ein Ehrenmann, Namens Dankmar Wildlingen, auf dem Café Richter gestern die Schuppen von den Augen nahm; diesen Überfluß der Schande und des Elends kann ich in keinen Wald der Welt mitnehmen, in keinem Sansregret der Welt verbergen, das Laub würde darüber verderben und die Jahreszeiten könnten mir in Unordnung gerathen. Ich hab' es dem Mädchen noch am selben Abend in Ruhe gesagt. Ein alter Verehrer von ihr stand dabei. Eine schwarze Binde an seinem Auge erinnert zwar nicht an Amor, den blinden Gott der Liebe, aber er soll reich sein ... er mag sie trösten! Sie sah mich starr an und lachte.. Da sie nichts erwidern konnte, sagt' ich ihr ein ruhiges Lebewohl und ging – wohin ich vor zwanzig Jahren nicht gegangen wäre, nicht zu Ihnen – sondern nach Hause, in mein Kämmerlein und dankte Gott, daß er mich vor ewiger und zeitlicher Gefahr behütet hat. Leben Sie wohl, Madame Ludmer, und suchen Sie sich andre Deckel für Ihre unsaubern Töpfe aus! Es gibt Viele, die so dumm sind wie ich und nicht sehen was darin ist. Aber es gibt nicht zuviel, die, wenn sie einmal gesehen haben, nicht gern dumm bleiben wollen ... Ihr ergebenster u.s.w.

Madame Ludmer war von diesem Briefe sehr geärgert. Sie zerknitterte ihn, wie sie den Schreiber hätte zerknittern mögen. Ihre Gebieterin lachte fast und nahm die Sache leichter. Sie begriff nicht, warum ihre Führerin und langjährige, auch im Dienen nach Rafflard's Theorie [1883] herrschende Freundin sich über diesen Ausbruch einer gereizten Stimmung so aufregen konnte.

Wer ist nur dieser Alte mit der schwarzen Binde? sagte die Ludmer. Mit ihm ist sie arretirt worden – Rafflard erzählte uns, daß er nach einem Besuche im Gefängnisse diesen Engländer für einen der unternehmendsten und schlauesten Bösewichter halte, die jemals die Aufmerksamkeit der Behörden in Anspruch genommen hätten – wird sie nicht in Gemeinschaft mit einem solchen Beistand Alles unternehmen, um sich für diesen Affront, den ihr Mangold anthut, zu rächen? Seit sie in deinem Verehrer einen Menschen erkannte, den sie haßt, hat sie ja angefangen, uns empfindlicher als je zu quälen. Kann es mir recht sein, daß mein Name von ihr im Schmuz herumgezogen wird? Ist nicht selbst vorauszusehen, daß ihre nach Rache gierige Wuth sich allmälig bis in die Erinnerungen ihrer Kindheit zurückwühlt und mit Hülfe männlichen Beistandes bis zu den Tagen ankommt, wo wir in Bielau, wie du weißt ...

Schweige doch! rief Pauline und richtete sich nun groß und lang auf. Welche düstern Phantasieen! Ist es das Wetter, das dich so aufregt oder was? Ängstigen dich die Kastanien, die im Regen draußen von den Bäumen platzen? Der Brief soll uns nicht gleichgültig sein. Ich erstaune sogar, wieder den Namen Dankmar Wildungen, den jungen Mann, der jetzt soviel Aufsehen erregt, in Angelegenheiten genannt zu sehen, die mich berühren. Ich wünschte, Stromer beruhigte mich über diesen wie es [1884] scheint gefährlichen Charakter, der so sonderbar immer in der Nähe von Dingen ist, die sich auf uns beziehen – Was Stromer lange bleibt! Es ist bald sieben! Laß diese Grillen! Denke, wie glücklich die Angelegenheit mit den Denkwürdigkeiten Amanden's abgelaufen ist. Wir erwarteten Rache, Verleumdung, Wahrheit sogar. Und was fanden wir? Die mächtigste Waffe in der Hand Dessen, der den Muth nicht verliert! Wenn ich einst diese Waffe schwänge – wenn ich diese Memoiren hingäbe und sagte: Da! Les't sie! Ich weiß, es sind Dinge darin, die auch mich vernichten würden, aber ich hätte die triumphirende Genugthuung, daß in meinen Sturz ich eine allgemeine Verwirrung hineinzöge und Die, die mich gedemüthigt glaubten, vielleicht selbst ihr Haupt nie wieder erheben könnten.

In dem Augenblicke meldete Franz Herrn Guido Stromer ... Doktor Stromer, nicht mehr Pfarrer Stromer.

Soll willkommen sein! sagte Pauline.

Die Ludmer hielt Franz zurück ...

Noch ein Wort! Franz ... Sie besann sich und wie einen Entschluß fassend sagte sie: Was ist für Wetter?

Die Bäume triefen wie Regenschirme!

Wie nasse, willst du sagen, meinte die Ludmer. Nimm zwei trockne, Franz, du mußt sogleich in die Stadt ...

Könnte nicht Ernst ... sagte Franz verdrießlich. Der Doktor ist in einer Droschke gekommen.

Ernst oder Franz, polterte die Alte, die wol einmal, aber nie zwei mal schmeichelte; Einer geht sogleich nach der [1885] Königsstraße und erkundigt sich, was sie treibt! Ob sie wieder mit dem Manne in der schwarzen Binde gesehen wird, wie damals auf der Fortuna oder ...

Sie geht mit Mangold –

Mit Mangold ist's nichts mehr! Franz ... geh' selber zu ihr ... Mangold ist dahintergekommen. Sie ist bösartig gegen Euch! Ernst hat nicht Muth genug. Geh' Fränzchen!

Franz, so cajolirt, sagte, er wollte selbst gehen. Die Geheimräthin lobte ihn für seinen Eifer. Die Ludmer knitterte ihren Brief zusammen, nahm den Bleistift und ihre culinarischen Notizen und entfernte sich durch das Schlafzimmer und das hintere Boudoir, um einige Anstalten für den Thee zu treffen ... Diejenigen Bedienten, die sich treu erwiesen, hatten es gut in diesem Hause.

Guido Stromer war seit einigen Wochen schon fast der tägliche Hausfreund der Geheimräthin von Harder. Er verdankte seine Einführung dem Justizrath Schlurck und einem artigen Schutzbriefe, mit dem ihn Melanie selbst empfohlen hatte. Melanie hatte gesagt: Hier ist ein Mann, gnädige Frau, der in die Residenz kommt und nach Geist dürstet! Er hat die Thorheit, diese Quelle in meiner Nähe zu suchen und schöpft und schöpft und schöpft vergebens. Ich hab' ihm gesagt, ich will ihm den rechten Waldgrund zeigen, wo es in der Tiefe mächtig rauscht und siedet und gährt und siehe! so kommt er zu Ihnen.

Seitdem hatten Guido Stromer's Aufsätze im »Jahrhundert«, einer großen, einflußreichen Zeitung, schon Manchem gefallen. Zwar hatte man ihm für seine etwas [1886] verworrenen Anschauungen erst nur noch das untere Stockwerk, das Feuilleton, eingeräumt, allein für andre Leser, wie Pauline, war Dies gerade eine Auszeichnung. Man sprach allgemein davon, ob Guido Stromer nicht steigen, in die politischen Spalten avanciren würde, aber es fehlte ihm noch die Grundlage positiver Thatsachen, wie er's nannte, Kenntnisse, wie Dankmar es genannt haben würde. Er war reich in Principien, arm in praktischen Fingerzeigen. Zufällig waren unter den Eigenthümern des »Jahrhunderts« Differenzen entstanden, die sich am Besten ausgleichen ließen, wenn irgend eine bedeutende politische Macht etwas daran wagen und das Blatt kaufen wollte. Guido Stromer interessirte Paulinen für diese Idee. Ein Blatt zu haben, ohne daß man ihr dies Eigenthum, das auf einen andern Namen geschrieben werden mußte, nachweisen konnte, jeden Morgen eine Parole austheilen, jeden Abend in der Welt seine sichere Wirkung zu haben, abweisen, annehmen, voraussehen, drohen, belohnen, etwas wissen zu können, was Andere nicht wußten ... sie war entzückt von diesem Plane und hatte dafür nur Stromern, Heinrichson und die Ludmer zu Vertrauten. Heinrichson versprach ihr, über die künstlerischen Bestrebungen so viel geheimes Material zu geben, daß sie im Feuilleton unter einem angenommenen Namen selbst als eine feine Kennerin der Kunst auftreten konnte. Sie schwelgte in dem Gedanken, über die öffentliche Meinung eine Herrschaft zu gewinnen, die ihr einen Ersatz für die »kleinen Cirkel« bieten sollte, von[1887] denen sie mit so hartnäckiger Consequenz ausgeschlossen blieb.

Guido Stromer trat ein, wie immer mit dem Bewußtsein, in welchem Goethe seinen Tasso sagen läßt: Und wie der Mensch nur sagen kann: Hier bin ich! Daß Freunde seiner schonend sich erfreun; so kann ich auch nur sagen:

Nimm mich hin!

Er idealisirte sich nämlich von Tage zu Tage mehr. Der Blick seines Auges wurde immer freier und strahlender, die Art, den Kopf auf seinen Schultern zu heben, wurde beweglicher, sein ganzes Wesen erschien wie elektrisirt und im ganzen Gehaben fast überreizt. Eine gewisse Pedanterie war dabei freilich nicht zu vertilgen. Die mangelnde feinere Erziehung, die ihm Fürstin Amanda, die auf den innern geistigen Kern blickte, völlig nachsah, war durch feinere Wäsche und eine wie aus einem Handbuche studirte Eleganz nicht zu verdecken. Die Grazien waren in seiner Nähe, aber sie neckten ihn nur, sie spielten mit ihm Versteckens, sie wohnten nicht in ihm selbst. Dieser feine Kopf aß jetzt an vielen vornehmen Tafeln, aber er wiegte sich so sonderbar in diesen Genüssen, athmete so den Duft seiner Einladungen ein und aus, wiederholte so sehr Alles, was ihm begegnete, in der Erzählung sprach er so geräuschvoll und nachdrücklich, daß das ganze persönliche Interesse, das Pauline an diesem so urplötzlich aufgetauchten Autor genommen hatte, dazu gehörte, um durch ihn in ihren Nerven nicht empfindlich gestört und verletzt zu werden.

[1888] Meine gnädige Frau, sagte Guido Stromer, gleich im Eintreten, während er Paulinen die Hand küßte, ich komme in Sturm und Regen und muß in weiter Ferne von Ihnen bleiben, denn ich bringe eine Atmosphäre mit, die leicht den Katarrh nach sich zieht.

Nun, bester Freund, begrüßte ihn Pauline und bat ihn Platz zu nehmen, wo es seiner diätetischen Sorgfalt für ihre Gesundheit nur beliebe. Was bringen Sie über das »Jahrhundert«?

Vor allen Dingen die heutige Nummer! sagte Stromer, griff in den neuen schwarzen Frack, dessen Hyper-Modernität ihm beinahe komisch stand und breitete das von der Druckerei noch nasse Blatt aus, das Pauline gierig ergriff und durchflog.

Im Büreau war ich nicht, fuhr Stromer fort, nachdem Pauline sich etwas orientirt hatte ... denn zu sprechen, während Jemand etwas vielleicht – von ihm las, dazu war er zu – taktvoll ... Das Büreau ist zu entlegen. Einem kleinen Mädchen kauft' ich es an einer Straßenecke ab. Das Kind stand im Regen da wie der zitternde Strauch auf einsamer Heide ... Ich weiß, Ihr Exemplar kommt erst später.

Schröpfer war da! warf Pauline im Lesen und blätternd fast neckisch und wie zur Anregung hinein.

Ah, gnädige Frau, sagte Stromer, ich wußte es, ich hab' ihn selbst gesprochen. Die Sosier sind keine Freunde der Aktienunternehmungen, welche Zeitungen stiften. Auch die kleinen Buchhändler auf der Straße sollen weggeschnappt [1889] werden. Kind! fragt' ich das kleine Mädchen, das die Blätter feil bot, liest du denn schon und verstehst du auch, was du verkaufest? Meine Schwester erzählt es uns manchmal; sagte das Kind. Hast du eine Schwester, kleine Proletarierin? fragt' ich. Welchen Schriftsteller liebt sie denn am liebsten in dem Blatt, das du da verkaufst? ... Stromer hielt inne; denn die Geheimräthin war so vertieft, daß sie sowol sein Bild von dem auf der Haide im Sturme fröstelnden Strauche, wie seine Unterredung mit der kleinen Line Eisold überhört hatte. Er wartete, bis sie sich gesammelt hatte.

Ah, sagte sie dann und blickte zu Stromer, um ihn zum Weiterreden zu ermuntern.

Denken sie sich, gnädige Frau, fuhr dieser fort, wie man populair wird! Und dein Ruhm wird ertönen auf der lauten Gasse! Jesaias würde mich beneidet haben, wenn er Das gehört hätte. Wohl weiß ich, daß auf der Gasse nicht blos Glocken tönen, sondern auch Schellen klingeln und alte Töpfe krachen, die man in Scherben zerwirft, aber auch ein solcher Polterabendruhm klingt einem Ohre süß, das bestimmt schien, nur im Umkreise eines ländlichen Nachtwächterhornes seinen Namen bekannt zu wissen.

Im Umkreise eines ländlichen Nachtwächterhornes! wiederholte das Bild anerkennend Pauline, indem sie weiter blätterte und nicht ganz bei der Sache war. Wovon sprachen Sie denn?

Diese kleine fliegende Buchhändlerin sagte mir, der [1890] liebste Schriftsteller, von dem ihre Schwester sich etwas abschriebe, wäre ihnen Guido Stromer! Gnädige Frau, Das so zu hören im Sturme eines nassen Herbstabendes, an einer Straßenecke unter Wagengerassel, wie Macbeth sein Schicksal am Wege von den Hexen zugerufen bekommt. Poesie mitten in der Alltäglichkeit!

Nun erst sammelte sich Pauline von Harder. Sie hatte das Blatt durchflogen, sich über den Stand der Parteien orientirt, die neuesten telegraphischen Depeschen gelesen, einige kleine durch Stromer besorgte Notizen von eigener Hand gefunden ... nun erst hörte sie halb, was Guido Stromer sprach und fragte:

Also was sagte Schröpfer? Merkte er unsere Absicht?

Guido Stromer war doch stark betroffen, daß die gnädige Beschützerin seiner Zwischenreden so wenig Acht gehabt hatte. Er hatte in solchen Fällen die Gewohnheit, den Ton ganz leise einzusetzen und mit gezogener Empfindlichkeit und einem gleichsam nur seinem eigenen Genius genugthuenden gelinden Strafverfahren so wie hier zu wiederholen:

Was.. Herr.. Schröpfer.. gesagt ... hat?

Ja, Sie sprachen doch ...

Wohl! sagte Stromer seufzend und gelassen, wie ein angeschmiedeter Prometheus; wohl! Frau von Harder will zur Literatur zurückkehren, sagte der edle Sosier, sie will vielleicht ein Blatt begründen! Aber vom »Jahrhundert« war keine Rede.

Ah! Ich habe mir, begann Pauline die Arme übereinander [1891] schlagend und den einen Fuß auf ihr Sopha legend, ich habe mir Mancherlei von den Einrichtungen einer solchen Unternehmung erzählen lassen, von Druck, Papier, Versendung, Abonnentenzahl und dergleichen mehr. Ich glaube, daß die dreitausend Abnehmer des »Jahrhunderts« ungefähr nach allem Kostenabzuge einem Capitale von 10.000 Thalern gleich kommen.

Höher nicht? fragte Stromer, der wie alle überfliegenden und haltlosen Naturen auch in solchen praktischen Verhältnissen von dem Werthe der eigenen Thätigkeit chimärische Begriffe hatte.

Finden Sie die Summe so unbedeutend?

Das Capital ist bedeutend. Die Rente klein ... antwortete Stromer, und eigentlich müssen wir hinzufügen, daß ihm Capital und Rente neue Begriffe waren, die er nicht ohne einige Genugthuung seinem bisherigen üblichen Sprachgebrauche einverleibt hatte.

Es ist mir nicht um die Rente, sagte Pauline, die in Geldsachen geläufigere Praxis hatte, sondern um den Einfluß, um die Unterhaltung und manchen nützlichen Gedanken, der sich wird fördern lassen. Durch wen besorgen wir nur den Kauf? Wer leiht seinen Namen her, um den unsrigen zu decken?

Ich habe an Herrn Schlurck gedacht ... meinte Stromer.

O sehr gut! Schlurck! Er ist ...

Doch zuverlässig?

Wie Gold! Aber ... seit der Hohenberger neuen Generalpacht scheint er mir etwas en décadence.

[1892] In der That? Man speist doch bei ihm wie bei einem Lucullus.

Seine verlorene Curatel der Hohenbergischen Güter hat ihm in der großen Welt geschadet. Es ist erstaunlich, wie ansteckend das Glück und wie noch ansteckender das Unglück ist. Beim Glücklichen versucht sich Jeder, den Unglücklichen flieht man. Das soll mich aber nicht veranlassen, diese Thorheit mitzumachen. Ich will Schlurck bestimmen, das »Jahrhundert« für meine Rechnung anzukaufen ...

Indem trat die Ludmer ein, hinter ihr folgte sehr bald Ernst mit dem Theeservice ... Stromer hörte das Klappern von Tassen schon seit Jahren außerordentlich gern. Es wurde ihm dann immer so behaglich, daß er sogleich anfing, Streckverse über das Sieden eines Theetopfes, über das Singen eines gebundenen Wassergeistes und den angenehmen Zusammenhang zwischen einem kalten Septemberabend und einer Tasse braunen Peccothees zu jeanpaulisiren, wobei er nicht fürchtete, sich zu wiederholen. Er hatte ähnliche Empfindungen an dieser Stätte schon mehrfach ausgesprochen, sprach sie aber heute wieder aus ...

Die Ludmer hatte seit Jahren ein Zeichen, das ihr sagte, ob sie ein tête-à-tête oder eine größere Gesellschaft der Geheimräthin durch ihre Anwesenheit störte oder nicht. Fand sie das feine battistene Taschentuch Paulinen's in ihrer linken Hand, so durfte sie bleiben; fand sie es in der rechten, so hatte die Gebieterin Ursache, ihre Entfernung [1893] zu wünschen. Da sie das Taschentuch heute in der linken bemerkte, so blieb die Ludmer und sorgte für den Thee, scheinbar dem Gespräche nicht folgend und doch sehr bei ihm interessirt. Denn sie war keine Freundin der literarischen Bestrebungen Paulinen's. Sie fand in dem Umgange mit Schriftstellern nichts ihrer Würdiges. Sie hatte auch Scharfsinn genug, sich zu vergegenwärtigen, daß diese Art von geistiger Thätigkeit zuletzt eine Unsumme von Verlegenheiten bereitet und sie wußte dann, was die nächsten Umgebungen der Geheimräthin zu leiden hatten, wenn die Schwierigkeiten wuchsen und sich alle Ausgänge verstopften und die Rückzüge sich versperrt fanden. Sie bereitete den Thee, schwieg, hörte aber mit scharfem Ohr auf jedes Wort, das hier gesprochen wurde.

Man erörterte die Stellung, die künftig das »Jahrhundert« in den Fragen der Zeit, dem Wirrwarr der Parteien einnehmen sollte. Pauline tadelte die schwankende bisherige Haltung dieses Blattes, das zwar sehr leserliche, aber wenig entschlossene Artikel brächte.

Irgend etwas muß gesagt werden, erklärte sie. Die Artikel müssen auf eine gewisse Pointe zurückkommen. Jeder Gedanke muß seine eigenthümliche Spitze haben. Werdeck müssen Sie versuchen für die Artikel über Militairreform zu gewinnen, Justus, den Heidekrüger, für gutsherrliche und bäuerliche Verhältnisse, Schlurck kennt die Mängel unsres Gerichtsverfahrens, Gelbsattel ist sehr verstimmt, sehr, sehr, der Hof nimmt keine Rücksicht mehr auf die alte Tonangabe, die man ihm in früheren [1894] Zeiten gestattet hatte; das Alles sind Elemente, die Sie gewinnen müssen und woraus man eine Zeitschrift für Misvergnügte bilden kann. Glauben Sie mir, die würde großen Anklang finden!

Stromer nippte an seinem Thee und brockte Zwieback. Wenn er aufrichtig war, mußte er sich gestehen, daß er in keiner Weise für solche Unternehmungen der Mann war. Es fehlte ihm jede Unterordnung unter fremde Denkweise. So sehr er eine Aufgabe daraus machte, alle Menschen in ihrer Art gelten zu lassen, so war es ihm dabei doch nur um eine gewisse Kunst der Charakteristik und den Schein der politischen Milde zu thun. Zu objectiven Wahrheiten vollends wußte er sich nicht zu erheben.

Dürft' ich nicht eine Ansicht äußern, gnädige Frau? sagte er jetzt in seiner alten Art, die wir von Hohenberg kennen, in jenem leisen, vorbereitenden, die Aufmerksamkeit erzwingenden Piano.

Sprechen Sie! sagte die Geheimräthin.

Die Ludmer horchte.

Ich gestehe doch aufrichtig, sagte Stromer, daß ich mir eigentlich gedacht habe, ob man nicht in dem »Jahrhundert« jede Parteiung umgehen könnte. Wo man hinhört, wird der Haß gepredigt. Wenn nun einmal Einer aufstünde und das Evangelium der Liebe predigte? Ich verlange Schonung für jede Ansicht, unter der Bedingung, daß sie sich nur geistig ankündigt.

Ah! Ah! rief Pauline ablehnend. Sie fallen in den Ton [1895] zurück, der meiner guten Freundin, der Fürstin Amanda, so sympathisch war! Unsere Zeit verlangt Farbe.

Sagen Sie Das nicht so entschieden, gnädige Frau! Unsere Zeit verlangt den Regenbogen des Friedens ... Und im Regenbogen sind alle Farben vereinigt.

Gelb und Roth herrschen vor. Krieg! Krieg! Bester Pfarrer!

Für unser Auge, für unsere dunstige Atmosphäre, gelb und roth. Aber an klaren Tagen sieht man mehr das Roth und Grün hervorstechen ...

Ohne eine Partei, ohne eine Gesinnung hält sich keine Zeitung! Nein, nein, Stromer!

O fern sei es von mir, zu sagen, flüsterte Stromer erregter, daß ich keine Gesinnung hätte! Das aber eben ist meine Gesinnung, daß ich die Extreme verabscheue. Nur der Willkür und der Gedankenlosigkeit wollen wir den Krieg erklären, Das aber, was sich in einer Form der Schönheit und einer gewissen individuellen Nothwendigkeit ankündigt, Das müssen wir gelten lassen, wenigstens eine Zeitlang prüfen. Vom Berge Sinai kommt der Bote des Herrn, der Gesetzgeber seines Volkes. Wie er aus den Wolken tritt, siehe da! sein Herz ist bekümmert. Sein Volk tanzt um ein güldenes Kalb. Der Gott, den ihnen Moses aus den Wolken bringen sollte, zögerte ihnen zu lange. Sie zwingen Aaron, ein güldenes Kalb zu gießen, das siefaute de mieux ihren Gott nennen. Moses, voll Entrüstung, nimmt die Tafeln des geschriebenen Gesetzes, das er mit sich herunterbringt, und wirft sie nach dem[1896] Götzenbilde. Die Tafeln zerspringen und alles Volk eilt herbei, die Scherben zu sammeln. Jeder hat nun einen Theil der Wahrheit, Jeder hat nun ein Stück des Gesetzes und jetzt bedarf es der Mäßigung, Ruhe, der Verständigung, um die Scherben wieder aneinander zu setzen und aus den Trümmern wieder des Herrn lebendiges Wort zur Auferstehung zu bringen.

O das ist ein Mythe! rief Pauline. Das ist sehr poetisch, Pfarrer! Ein solches Gleichniß an die Spitze des Jahrhunderts gestellt, als Einleitung des neuen Programmes – als Ankündigung kann Das Glück machen; aber ...

Dennoch fühl' ich, fuhr Stromer fort, daß wir im Vorhofe solcher Allgemeinheiten nicht dürfen stehen bleiben. Ja wir müssen uns an die Thatsachen wagen. Aber noch heute nahm ich Veranlassung, zu Gelbsattel zu sagen: Warum streiten wir nur über die Frage, wer regieren soll? Ist es erhört, daß unsere Zeit den Königen nur das Regieren überhaupt zu- oder abspricht und Niemand denkt mehr daran, wie regiert werden soll? Das Schiff fährt dahin über die Wogen. Der Mann am Steuerruder lenkt seine Bewegung. Er hat doch ein Ziel! Er hat doch entweder nach Kolchis zu segeln, um das goldene Vließ zu holen oder er trägt schon eine Beute und will zurück zu der Heimat Strand. Einst gab es Könige, die nicht an's Regieren überhaupt dachten, sondern nur daran, daß sie gut und groß regierten. Ihr Minister und Volkshäupter streitet über das Regieren. Wer regiert! Ei, so halte dich nicht auf, du Mückenseiher, ei so tummle dich doch in der[1897] Bahn und zanke nicht, wie sie gezogen sein soll! Ich will regieren, sagt der Fürst. Regiere nur! Aber rasch, groß, bedeutsam! Was ist Das für ein Staatenleben, wo es immerdar nur heißt: Wir leben in einer Maschine, wo das Recht des ersten Druckes Dem, das Recht des Gegendruckes Dem gebührt! Ist der Staat ein wiederkäuend Thier, ein jämmerlicher Selbstzweck? Sind die Könige nur da, um Könige zu sein? Mein Seherauge lehrt mich aus meinem Scherben am Fuße des Sinai eine tiefe Wahrheit enträthseln. Ich lese etwas von dem Satze in der ewigen Offenbarung: Die Könige regieren! Aber sie sollen regieren, gut, weise, groß und schaffend! Sie sollen regieren nicht um der Ewigkeit ihres Stammes, sondern um dessen Zeitlichkeit willen! Sie sollen regieren, um die Völker reif zu machen, sich selbst zu regieren! Die Könige sind die einzigen berufenen legitimen Apostel der Republik.

Vortrefflich! rief Pauline und reichte dem geschickten Gedanken-Eskamoteur, diesmal im Style von Hamann, die Hand, daß er sie ergriff und küßte.

So weit ihr Verstand reichte, war ihr Das neu und im Grunde nicht sehr gefährlich. Es nützte allen Parteien.

Was sagte Gelbsattel? fragte sie dringend, zum Entsetzen der alten Ludmer, die über die Art, wie ihre Freundin auf ihre alten Tage da so in der Politik schwamm und plätscherte, in Verzweiflung gerieth und sich nur helfen konnte, indem sie an die Zubereitung der Schüssel: Filet von Seezungen à la maitre d'hotel dachte.

Er ist verdrießlich, antwortete Stromer, Gelbsattel ist [1898] verstimmt, hat häusliches Leid, er mag nichts Neues mehr denken. Der alte Apparat, der so viele Jahre bei ihm gehalten hat, ist ihm zu bequem geworden. Paßt eine neue Denkform nicht in diese alten Modelle seiner Dialektik hinein, so weiß er nicht mehr viel mit ihr anzufangen und hat gleich seine Bezeichnungen wie: Unpraktisch! Mystisch! Naturphilosophisch! zur Hand und glaubt die Sache damit abgethan. Wenn ich noch erwähne, daß ihn der berühmte Proceß wegen der Johannitererbschaft verdrießlich stimmt, so thu' ich Das mit Bedacht, weil ich dadurch veranlaßt werde, noch einer möglichen Verbesserung unseres »Jahrhunderts« zu gedenken. Sie kennen Dankmar Wildungen, gnäd'ge Frau?

Nur dem Namen nach! antwortete Pauline gespannt und die Ludmer horchte auf.

Dieser junge Mann, fuhr Stromer fort, interessirt alle Welt. Wo man ihn sieht, zeigt man nach ihm und Viele wetten, daß er den merkwürdigen Proceß gewinnen wird –

In der That?

Schlurck, Gelbsattel, sind nicht umsonst so verstimmt; das Ministerium verfolgt die Schritte der Gebrüder Wildungen nicht umsonst mit so scharfem Auge – ist doch sogar eine Haussuchung bei ihnen vorgenommen.

Die Ludmer und Pauline schlugen die Augen nieder.

Ich lernte Dankmar, sagte Stromer, in Hohenberg kennen. Man hielt ihn für den Prinzen Egon und durfte es, wenn Unternehmungslust, Feuer, edle Haltung von dem Wesen einer in der Gesellschaft hervorragenden [1899] Erscheinung unzertrennbar sind. Ich nahm schon damals an ihm Interesse und habe kürzlich, vorgestern, an einem öffentlichen Orte, auf's neue seinen Scharfsinn, seine hervorstechende Eigenthümlichkeit bewundert.

Vorgestern? fragte Pauline lächelnd. Im Café Richter?

Woher wissen Sie –

Wir sind allwissend, lieber Stromer.

In der That! Es war acht Uhr. Wildungen sprach lange in einem einsamen entlegenen Zimmer mit einem mir unbekannten Manne ...

Mit röthlichem Bart? In grünen Kleidern?

Wohl! Wohl! Ei!

Fahren Sie fort ...

Ich habe nichts zu sagen, als daß er nach der lebhaften Unterhaltung mit diesem Manne, der sich bieder, doch in großer Aufregung ihm die Hand schüttelnd, bald entfernte, in die besuchteren Zimmer kam und so angeregt war, so sprühend und lebendig sich über die Angelegenheiten des Tages äußerte, daß ich die alte Bekanntschaft mit ihm gern erneuerte und ihn veranlaßte, sich gleichfalls dem neuen Aufschwunge des »Jahrhunderts« zu widmen.

Mein Freund, rief Pauline entzückt. Sie werden praktisch!

Die Ludmer sah auf Pauline bedeutungsvoll ängstlich hinüber, doch nahm diese keine Notiz.

Was antwortete er? fragte sie.

Es gab erst ein Misverständniß. Er sagte, dem Jahrhundert leb' ich wohl und möcht' es aus seinen Angeln [1900] heben; ich fühle alle Schmerzen der Zeit und ringe, sie zu heilen. Da kam die Aufklärung, daß nur von der Zeitung die Rede war. Er lächelte, schien aber völlig bereit, ganz einverstanden und theilte mir offen mit, daß er bis zur Erledigung seines Processes sich durch literarische Arbeiten die Existenz fristen müsse, ohne darum mit Goethe zu sagen: Wer nie sein Brot in Thränen aß ... ich fand einen Charakter, einen Mann in ihm.

Die Ludmer rümpfte die Nase, als wollte sie sagen: Welch' ein Umgang! Nichts als Lumpen!

Die Geheimräthin aber, in dem Zuge, in dem sie nun einmal war und der Tage gedenkend, wo sie einen Heinrich Rodewald liebte, von dem sie oft sagte: Titan, du spielst mit der Weltkugel Fangball! rief:

Fahren Sie fort! Fahren Sie fort!

Und nun, fuhr Stromer fort, kam ein Vorschlag Wildungen's zur Sprache, über den ich doch erst die Ansicht meiner verehrten Gönnerin vernehmen muß. Der junge, leidenschaftliche und von allen Verhältnissen unterrichtete Advokat machte mich darauf aufmerksam, daß der ihm, wie doch auch mir so nahestehende Prinz Egon sicherlich eine bedeutende politische Rolle spielen würde. Der an drei Orten gewählte Volksmann Justus hätte sich sogleich erboten, die Wahl des ihm benachbarten Prinzen für einen der Wahlorte, den er refüsiren müsse, zu beantragen und man könne gewiß sein, daß nun Prinz Egon von Hohenberg in die Kammer träte. Er wäre von einer seltenen politischen Reife, besäße Kenntnisse, [1901] außerordentlich neue und befruchtende Grundgedanken und wenn man ihm noch den Nachdruck gäbe, daß er eine Partei bilden dürfe, daß er eine Zeitung, immerhin das »Jahrhundert«, zur Verfügung bekommen könnte ...

Hier brach Stromer ab, denn die Geheimräthin schien in der größten Aufregung. Schon seitdem Dankmar Wildungen genannt war, fingen ihre Gedankenräder sozusagen zu schnurren an. Die Ludmer hatte dafür ein außerordentlich feines Ohr. Sie kannte Paulinen, wie sie grübelte und kombinirte, wie sie der Zerstreuung, Anlehnung an lebendige Naturen bedurfte, wie sie ihr Ohr an das Sausen und Brausen der Zeit zu legen liebte. Als aber Egon genannt wurde und sie ihr Lächeln, ihre Spannung, ihr Interesse bemerkte, hätte sie mit irgend einem andern Gegenstande das Gespräch unterbrechen mögen und wäre es das Niederwerfen der Tassen gewesen. Eben wollte sie wenigstens in die Verwunderung der Geheimräthin persönlich miteinstimmen, als diese in ihrer Unruhe sich von der kalten, nur horchenden, nur ihre Glut dämpfenden Horcherin so belästigt fühlte, daß sie das Taschentuch mit Entschiedenheit aus der linken in die rechte Hand warf und diese rechte Hand weit über den Tisch streckte. Das war das ominöse Zeichen! Ein Signal, daß sich die Ludmer entfernen sollte! Mit welchem Widerstreben ging sie! Mit welchem durchbohrend warnend Blicke! Nun sollte sie gehen! Jetzt! Jetzt, wo vielleicht eine furchtbare Thorheit eingefädelt wurde, eine Quelle bittrer namenloser Reue angebohrt für eine nur noch kurze Zukunft, jetzt ...

[1902] Aber ... sie ging.

Als die Geheimräthin und Stromer allein waren, sagte jene:

Ich freue mich, Stromer, daß Sie so praktisch wer den und so ernste Anstalten für unsre gemeinschaftliche Sache treffen. Allein mit Prinz Egon hat es seine Bedenklichkeiten. Ich schätze sein Verdienst. Nach Dem, was ihm in Solitüde begegnete, sind Aller Augen auf ihn gerichtet. Aber ich habe keine Beziehung zu ihm, und wenn eine Beziehung, schwerlich eine günstige.

Ich war darauf vorbereitet und habe deshalb Sorge getragen, mich genauer zu unterrichten; antwortete Stromer, der die Verfeindung zwischen Pauline und Egon's Mutter kannte und einst in Hohenberg dem Geheimrath von Harder die Ursachen derselben bitter genug angedeutet hatte.

Sie haben mich doch nicht schon genannt? unterbrach Pauline die etwas verlegen stockende Rede.

Gnädigste! Was denken Sie von mir! Ich bin ein Neuling in dieser papiernen Welt, aber nicht in der wirklichen. Vollends weiß ich, daß Sie mit dem Prinzen gespannt sein müssen ...

Mit ihm? Warum mit ihm? Mit seiner Mutter war ich's. Warum mit ihm?

So rasch gehen Sie über die Empfindungen eines Sohnes hinweg? Ich muß leider der Wahrheit gemäß berichten, daß ich mir selbst manchmal, wenn ich hier bei Ihnen sitze, wie ein Mensch vorkomme, der sich als seinen [1903] eigenen Antipoden fühlt. Die Fürstin würdigte mich derselben Theilnahme wie Sie, gnädige Frau und bei allem milden Sinne Amanden's muß ich gestehen –

Daß sie mich haßte?

Ich kenne die Veranlassungen nicht und fürchte, daß sie die Abneigung auf den Sohn vererbte.

Haben Sie davon Proben?

Da ich vorgestern von Wildungen eine so beachtenswerthe Idee empfing, war ich heute in der Frühe beim Prinzen. Ich wollte discret sein und war es. Er empfing mich nicht freundlich. Er hat seinen alten Lehrer Rudhard wiedergefunden, drüben bei der Fürstin Wäsämskoi ...

Ich kenne den Alten – seine neugierigen Blicke auf mein Fenster belästigen mich genug – nun? Nun?

Die Folge dieses Wiedersehens sind Erinnerungen an die alten Zeiten gewesen. Ich konnte den Prinzen nicht in einen irgend wärmeren Ton gegen mich bringen. Wie sehr muß mich Das bekümmern, wenn ich daran denke, daß mein Urlaub von ihm abhängt, daß er die Wahl eines zeitweiligen Stellvertreters, den ich in einem jungen Manne, Namens Oleander, gefunden zu haben glaube, zu billigen hat! Heute tadelte er die Entfernung von meiner Familie; er verrieth in jedem Worte, daß Rudhard's strenger und unromantischer Rigorismus ihm wieder nahegekommen war. Er fragte dann nach meinem Umgang. Ich nannte aufrichtig Sie, gnäd'ge Frau. Ich wollte hören, was sich da für ein Widerhall von seinem Herzen würde vernehmen lassen. Ich gestehe Ihnen, es war der rauheste!

[1904] Lächeln Sie nicht, gnädige Frau ... er sprach in Drohungen gegen Sie –

Fahren Sie nur fort! antwortete Pauline gespannt und sehr ruhig.

Er sagte mir, er wisse, daß Sie ihm eine Feindin wären, seit er auf der Welt wäre –

Seit er auf der Welt ist? Da hat er Recht! sagte Pauline träumerisch, doch kalt.

Rudhard, fuhr er fort, hätte ihn auf's neue gewarnt ...

Rudhard?

Dem alten Freunde seines Hauses wäre es gelungen, schlimme Dinge zu entdecken, die Sie gegen ihn unternommen hätten –

Ich gegen Egon?

Wohl verschweige ihm sein väterlicher Freund und Führer Manches, was ihm auf dem Herzen läge, aber es käme gewiß zum Vorschein, wenn erst zwischen ihm und diesem Edlen Alles klar und rein gelichtet wäre – noch lägen zuviel der Wolken zwischen ihnen –

Helene d'Azimont eine Wolke? Hoffentlich eine rosige Wolke!

Gnädige Frau, ich war nicht im Stande, die Saite länger zu berühren. Ich ergriff ein auf dem Tische liegendes Exemplar der Nachfolge Christi von Thomas a Kempis. Er sagte mir, daß er dies Buch liebgewonnen hätte, es wäre eine Erbschaft seiner Mutter. Ich entgegnete, um ein harmloses Gespräch zu beginnen: Durchlaucht irren wohl! Ich kenne alle Ausgaben dieses lieblichen Buches, [1905] die die selige Fürstin besaß, alle! Dies Exemplar war aber nie in ihrer Bibliothek! Ich glaub' es wohl, sagte er, daß Sie dies nicht kannten. Es befand sich hinter jenem Bilde! Damit zeigte er auf ein Pastellgemälde der seligen Fürstin in Medaillonform –

Pauline war schon längst erblaßt ... ihre Lippen öffneten sich und blieben starr und unbeweglich stehen. Dann hauchte sie so hin:

In jenem Bilde ...

Befand sich, behauptete der Fürst, fuhr Stromer, dem diese Unruhe und Änderung der Stimmung nicht besonders auffiel, fort, eine Verlassenschaft seiner Mutter, auf die sie ihn kurz vor ihrem Tode aufmerksam gemacht hätte. Er hätte Mittheilungen, Ermahnungen, Denkwürdigkeiten gehofft. Sein ganzes Leben hätte sich auf dieses Bild bezogen. Er hätte seine Ehre, Alles dafür gewagt und jenes Bild hätte dies Buch von der Nachfolge Christi enthalten. Er wollte mich mit Vorwürfen überhäufen, daß ich das Irrlicht seiner Mutter gewesen wäre. Ich drängte auf einen andern Gegenstand. Indem hatt' ich das Exemplar wieder angesehen und mußte ihm sagen – Durchlaucht –

Nun Durchlaucht?

Stromer horchte ...

In dem Augenblicke, als Pauline auf's Äußerste gespannt, auf Stromer's Erzählung harrte, vernahm man einen rasch anfahrenden Wagen, der auf dem vom Regen knirschenden Kieselsande dicht vor dem Portale zu halten schien.

[1906] Sie bekommen Besuch, gnädige Frau? sagte Stromer, sich unterbrechend.

Nein, nein. Was sagten Sie dem Prinzen?

Durchlaucht, sagt' ich, das ist ja ein sonderbarer Vorfall! Diese Ausgabe des Thomas a Kempis ist niemals auch nur berührt worden von der Hand der seligen Fürstin; denn überzeugen Sie sich selbst, hier auf dem Titelblatt –

Aber Sie bekommen Besuch!

An der äußern Glocke wurde eben außerordentlich stark geschellt.

Pauline, von Stromer's Erzählung auf's Äußerste gespannt, jede Unterbrechung verwünschend, war aufgestanden und wollte klingeln, um zu sagen, daß sie Niemanden empfange.

Aber sie war so begierig auf Stromer's Erzählung, daß sie selbst diese Weisung an ihre Diener nicht ausrichten mochte, sondern nur sagte:

Und? Und? Auf dem Titelblatt?

Überzeugen Sie sich, Durchlaucht, sagt' ich, fuhr Stromer, der gleichfalls aufgestanden war, fort; unter diesen Arabesken des Titelblattes steht ja ganz in Perlschrift die Jahreszahl des Druckes. Diese elegante Ausgabe des Thomas a Kempis ist ganz in der Art, wie die Fürstin solche Einbände liebte. Aber dies Exemplar ist erst ein Jahr nach ihrem Tode im Druck erschienen. Wie ich Das sagte –

Indem hörte man draußen Thüren gehen.

Wie Sie Das sagten? drängte Pauline.

[1907] Trat Rudhard ein ... Egon entließ mich in einer mir allerdings erklärlichen Aufregung; denn wie konnte jenes Buch von der Fürstin selbst –

Weiter trug Stromer seinen Bericht nicht vor; denn die Thür wurde aufgerissen, die Ludmer, leichenblaß, stürzte herein und rief mit erstickter Stimme:

Prinz Egon von Hohenberg läßt sich melden!

Wie? sagte Pauline und hielt die Hand krampfhaft an die Sophalehne.

Er selbst! Er läßt sich nicht abweisen. Er will dich sprechen –

Pauline riß sich, wie von einer Natter gebissen auf, stürzte an die Thür und verriegelte sie.

Es war das Werk eines Augenblicks.

Welche Stunde! rief die Ludmer. Ist ein solcher Überfall erhört? Er ist ausgestiegen, dem meldenden Bedienten auf dem Fuße gefolgt – er wartet im Empfangzimmer.

In der Ferne hörte man durch die hallenden Zimmer her eine männliche Stimme sich räuspern und einen kräftigen Schritt auf und abgehen.

Pauline stand eine Weile unschlüssig ... Jetzt war der Augenblick da, wo sie einer »Seherin« gleichen konnte. Sie begriff diesen Moment, richtete sich entschlossen empor und fragte:

Warum soll ich den Prinzen Egon von Hohenberg nicht empfangen?

Die Ludmer verstand einen gewissen Hohn in ihren Mienen, wagte aber nicht zu lächeln.

[1908] Pauline aber mit triumphirender Miene setzte hinzu:

Wohlan! Er mag kommen!

Schon klopfte Ernst an die verschlossene Thür und bat um Verhaltungsmaßregeln ... der Fürst ließe sich nicht abweisen.

Wer sagt denn, daß man ihn abweisen soll? rief die Geheimräthin durch's Schlüsselloch. Ich bitte Durchlaucht einen Augenblick zu verziehen!

Diese Worte sprach sie mit gemachter Süßigkeit, als sollte Egon sie hören.

Adieu, lieber Stromer, sagte sie dann rasch, zitternd wol, aber gefaßt. Auf Morgen! Adieu! Adieu!

Stromer wollte reden, wollte Aufklärung haben, wollte ... wurde aber durch das Schlafzimmer, dann das ächte Boudoir, zuletzt durch die Garderobe von der Ludmer fast gewaltsam hinauseskamotirt. Er war, so fortgezerrt, in diesem Augenblicke ganz so überflüssig geworden, wie Augusten's hochfahrende Tante wünschte.

Mit all' seinem Geist, mit all' seinen Seherblicken vom Berge Sinai, mit all' seinen Jeanpaulismen und deutschen Gedankenüberschwenglichkeiten stolperte er im Dunkeln über mehre Kisten und Koffer, daß er sich fast verletzt hätte ...

Pauline folgte nach einem Moment. Sie gab Befehl, den Empfangssalon durch einige Armleuchter schnell zu erhellen. Mit Blitzesschnelle gab sie ihrer Toilette noch einige kühne Improvisationen und schritt dann fest und entschlossen durch das Zimmer hindurch, das ihr nun [1909] entriegeltes ostensibles Boudoir von dem inzwischen erhellten Empfangszimmer trennte.

Die Ludmer fühlte, daß es nothwendig war, in der Nähe einer so wichtigen und gefahrvollen Begegnung wenn nicht zu horchen, doch behutsam und auf Alles gefaßt zu wachen.

[1910]
16. Capitel. Ein Zauberspiegel
Sechszehntes Capitel
Ein Zauberspiegel

Gnäd'ge Frau, begann Fürst Egon von Hohenberg und erhob sich von dem Sessel, auf dem er Platz genommen hatte; ich hörte, daß Sie wie Jeder, der seine Tagesstunden besser zu verwenden weiß, Abends empfangen! Irr' ich mich?

Pauline bedeutete Egon zuvörderst Platz zu nehmen, setzte sich selbst, nicht ohne einige Befangenheit, in einen der Sessel, die schon für die bald zu erwartende Feuerung am noch geschlossenen Kamine aufgestellt waren ... Die beiden gemalten Sphinxe auf dem bunten Kaminschirme drückten vollkommen ihre Spannung über das Räthsel dieses Besuches aus.

Für Ew. Durchlaucht würd' ich zu jeder Stunde zu sprechen sein. Ein Endlich! Endlich! Ihnen auszusprechen, mußt' es mich wohl drängen.

Endlich? Hatten Sie mich jemals erwarten können, gnäd'ge Frau? fragte Egon voll Bitterkeit.

Den Freund meiner geliebten Helene? Den Erklärten meiner d'Azimont? fiel Pauline mit künstlichem Erstaunen ein.

[1911] Ha! Aber den Sohn der gehaßten Amanda? setzte Egon hinzu und ohne Paulinen's Erwiderung abzuwarten, rückte er mit seinem Sessel ihr etwas näher und sagte:

Gnädige Frau, es sollte mir lieb sein, wenn ich Ursache fände, mich Ihnen enger anzuschließen und die großen Eigenschaften in der Nähe zu bewundern, von deren Lobe die Gräfin d'Azimont überfließt. Einstweilen stell' ich diese Annäherung freilich auf eine starke Probe. Ich stehe vor Ihnen, gnäd'ge Frau, mit dem Ersuchen, mir die Denkwürdigkeiten meiner Mutter auszuliefern.

Pauline war auf diese kalte, kategorische Forderung gefaßt, erstaunte aber über die Hast und das entschlossene Vermeiden aller Präliminarien.

Sie war darauf vorbereitet, daß sie Gegner hatte, die ihren so vorsichtig berechneten Schritten gefolgt waren, der Ablieferung des entleerten Bildes an den Oberkommissair Pax auf der Spur waren und sie entlarven wollten.

Dennoch sagte sie zitternd:

Welche Denkwürdigkeiten, Durchlaucht?

Die Denkwürdigkeiten, gnäd'ge Frau, antwortete Egon mit steigernder Erregung und jene heftigste Wallung nicht mehr verbergend, mit der er hergekommen war; die Denkwürdigkeiten der Fürstin Amanda von Hohenberg, die sie auf ihrem Sterbebette ihrem Sohne bestimmt und unfähig, in ihrer letzten Lebensstunde weitläufige gerichtliche Dispositionen zu treffen, später in einem Bilde verborgen hat, das dem sonderbaren Schicksale verfiel, Ihnen früher in die Hände zu kommen als mir.

[1912] Welches Bild? fragte Pauline nun mit scheinbarer Ruhe, um nur Zeit zu gewinnen.

Egon trug in aller ihm kaum noch möglichen künstlichen Ruhe die Geschichte jenes Bildes vor, wie sie durch übereinstimmende Aussagen Dankmar's, Rudhard's, des Oberkommissairs Pax, der Agenten Mullrich und Kümmerlein sich ergeben hatte. Es war darin mancher Umstand mehr errathen als bewiesen. Allein die Überzeugung, daß Pauline von Harder schon durch die ganze Agitation über den Nachlaß seiner Mutter, die Reise des Intendanten nach Hohenberg und was sich Alles später daran knüpfte, ihm ein Eigenthum entzogen hatte, das ihm von Werth sein durfte und sollte, stand bei ihm fest. Er erzählte auch, wie er durch Stromer's Äußerung über den Thomas a Kempis mistrauisch geworden und Rudhard seinen Verdacht ausgesprochen hätte. Rudhard hätte dann gestockt. Er aber hätte seinem noch zögernden alten Erzieher die Angelegenheit aus der Hand gewunden und führe sie nun gegen dessen Willen, gegen die Ansprüche, die Rudhard selbst auf dies Testament seiner Mutter machen wolle, mit kurzem Processe durch.

Lassen wir, schloß er seine Auseinandersetzung, jede weitere Erörterung und geben Sie mir die Denkwürdigkeiten meiner Mutter, deren Raub ich Ihnen verzeihen will!

Pauline schwieg eine Weile, dann sehlug sie die Arme zusammen, legte die Füße übereinander und sagte:

Ich habe Sie ausreden lassen, Prinz Egon. Erlauben Sie, [1913] daß ich erwidere. Aber versprechen Sie mir, jeden kleinlichen Gesichtspunkt aufzugeben! Ich sage Ihnen, daß ich die Denkwürdigkeiten besitze –

In der That!

Sie müssen mir aber ein aufmerksames Ohr leihen.

Wozu? Weshalb ist Das nöthig? Warum soll ich ... Sie achten? rief Egon voll Zorn und voll geheimer Freude, die fast die Miene des bittersten Übermuthes annahm.

Übermuth war aber für Paulinen zuviel. Sie erhob sich und schleuderte einen durchbohrenden Blick auf den jungen Mann, der jetzt das Recht zu haben glaubte, sie verächtlich zu behandeln.

Ich kenne diese Denkwürdigkeiten, wiederholte sie mit stolzer Miene, aber wie? wenn ich sie vernichtet hätte?

Wenn Sie mit dieser Möglichkeit nur drohen, Madame ... so existiren sie noch! sagte Egon, und ich schwöre Ihnen, ich verlasse Ihr Haus nicht, bis ich nicht weiß, was meine Mutter mir in ihrer letzten Stunde hat berichten, auf meinen Lebensweg zurufen wollen!

Pauline lächelte jetzt verächtlich.

Ich denke nicht an Drohungen, sagte sie, und ich denke nicht an Rechtfertigungen, aber ich will, daß Sie von dieser Frage jeden niedrigen Standpunkt ausschließen. Deshalb beding' ich, daß Sie mich hören!

So reden Sie! sagte Egon und nahm, ihr gegenüber an dem gemalten Kaminvorsetzer, Platz.

Auch Pauline kehrte in ihre frühere Stellung auf dem Sessel zurück. Nach einigen Augenblicken begann sie:

[1914] Amanda von Bury, Anna und Pauline von Marschalk waren drei Freundinnen, innigst verbunden seit ihrer frühesten Kinderzeit. Fast gemeinschaftlich war ihre Erziehung; gemeinschaftlich waren ihre Erholungen. Ich, die Mittlere unter den drei Freundinnen, wurde von Anna und Amanda nur noch inniger geliebt, weil ich plötzlich kränkelte und kein langes Leben versprach. Dennoch gelang es einer guten Kur, mich von oft schrecklichen Anfällen eines Brustkrampfes zu befreien und mich bis in mein achtundzwanzigstes Jahr wiederherzustellen, wo ich auf's neue die Anfälle jener Krämpfe bekam, von denen man damals glaubte, daß ich sie nicht mehr ein Jahr würde aushalten können. Amanda und Anna verheiratheten sich, später als ich, die früher einen Baron von Ried ehelichte. Gerade als Baron von Ried starb, wurde Amanda die Gemahlin jenes berühmten Kriegers, dem unser Fürstenhaus zu ewigem Danke verpflichtet ist. Anna heirathete einen jungen Offizier, der seinen Abschied nahm und eine Landrathsstelle bekleidete, den Sohn des Obertribunalspräsidenten, meinen künftigen Schwager. Durch diese Heirathen statt uns zu einen, trennten wir uns. Es ist so der Gang aller Jugendfreundschaften. Ich begab mich, als Witwe, wieder leidend, wieder meiner Gesundheit wegen, auf Reisen, meine Begleitung und treue Pflege war der Obhut meiner älteren Dienerin anvertraut, die noch jetzt die Führung meines Hauswesens besorgt. Ich war in der Schweiz, in Frankreich, in Italien. Ich habe ein bewegtes Leben in meine [1915] Erinnerungen eingeschlossen und vielfach versucht, das Glück der Erde, das mir nur für kurze Zeit zugemessen schien, wahr und an der Quelle rein zu genießen. Ich reiste selbstständig und war, wenn man mich nach jetzigem Sprachgebrauch und damaliger Sitte nennen will, halb und halb emancipirt. Der Liebe dürstete mein ganzes krampfhaft bewegtes Herz entgegen: ich suchte, ich wurde gesucht, fand aber nur ein Band, das mich ganz fesseln konnte, einen, den ich liebte. Der, den ich anbetete, hieß Heinrich Rodewald, ein junger Mann von seltener Prädestination. Zu jeder Kunst besaß er die Anlage, zu jeder Wissenschaft die Vorkenntnisse. Genial war seine Auffassung des Lebens. Es kommt so etwas nicht wieder in Eurer jüngeren zerstreuten, oberflächlichen Generation! Er hatte erst dem Studium der Rechte obgelegen, war dann in den damaligen heiligen Krieg gezogen, kehrte mit Ehrenzeichen geschmückt heim und wollte zu den Studien zurück. Durch einen Glücksfall erwarb er eine kleine Summe, die er auf eine italienische Reise verwenden wollte. Er bedurfte dieser Anregung, um sein durch die Abenteuer des Krieges in Gährung gerathenes Blut, das nicht am Studirtische ausdauern wollte, einigermaßen zu beruhigen, den Tumult seiner Adern einigermaßen zu bändigen. Er wollte zur Rechtskunde als Lehrer dieser Wissenschaft zurückkehren und gedachte in Italien den alten und manchen eben erst entdeckten Quellen der römischen und mittelalterlichen Rechtssatzungen nachzuforschen. Dabei liebte er Malerei und Plastik und [1916] schwärmte wie damals Alle ... Ach, Ihr kennt in Eurem politischen Hader und Eurer Zeitungsbildung die majestätischen Klänge nicht, die damals durch die Herzen der Jugend tönten – Das war ein Ahnen, ein Sehnen, ein Suchen, ein Erfassen! Das war ein Cultus der Musen, ein Forschen nach Wahrheit ... Heinrich Rodewald lebte nur in Goethe, in Dante, Rafael, in Schelling. Er kannte die Alten, studirte die mittlere Epoche und lebte fast in derselben Entwickelung wie Byron. Er dichtete nicht, aber sein Leben war ein Gedicht. O was preis' ich ihn, da ich ihn doch hassen sollte! Ich begegnete Heinrich Rodewald in dem ahnungsreichen, jugendlichen Rheinthale, das zwischen dem Bodensee und Chur den Anfang der Straße bildet, die durch die Via mala nach Italien hinüber führt. In Ragaz braucht' ich die von Pfäffers an der wilden Tamina hin herabgeleiteten Bäder. O mein Prinz, ich schildere Ihnen diese Erinnerungen nicht, weil ich weiß, daß eine Zeit kommen wird, wo sie Ihnen Werth haben dürften, ich schildere sie Ihnen, um Ihnen zu zeigen, daß zwischen Ihrem Zorn, Ihrem Mistrauen, Ihrem Haß Herzen, Erinnerungen, vergangene Seligkeiten und überwundene Qualen zittern und zu schonen sind. Ich will Sie vom Standpunkte der gemeinen Neugier, der Sie mich vielleicht zeihen, auf einen höheren führen. Denken Sie an die Stunde, wo Sie einst Helenen d'Azimont am See von Enghien zum ersten Male entgegentraten oder der Tage, da Louison Armand an den Ufern der Rhone Sie zum ersten Male sah!

[1917] Egon machte eine Bewegung ... nicht der Rührung, sondern des Unmuthes. Er mochte von Paulinen an Verhältnisse nicht erinnert werden, zu deren Kenntnißnahme sie ihm nicht würdig schien: von Jedem vielleicht, von Paulinen nicht.

Pauline, seine Kälte wohl bemerkend, fuhr fort:

Mein Prinz, seit dem Tage, als ich in dem kleinen Abteigarten von Ragaz mit meiner Führerin, Charlotte Ludmer, lustwandelte und der Blumen mich erfreute, die dem steinigen Boden an einem kleinen Springbrunnen entsprossen, als mir Heinrich Rodewald da zum ersten Male entgegentrat, in seiner hohen, männlichen Schöne, in braunen Locken, in edler, freier Stirn, halb noch etwas Militairisches in seinem Wesen, halb der sinnende Gelehrte ... und ein Ton aus seinem Munde drang, ein Organ, ein Klang, ein Hauch, würdig, die Worte eines Geistes zu tragen, der immer tief, immer lieblich und eigenthümlich in seinen Wendungen war ... werden Sie nicht ungeduldig, Prinz! O, es wird eine Stunde kommen, wo jedes Atom der Erinnerung an Heinrich Rodewald Sie erschüttern wird ...

Ich höre ja! Ich höre ja! sagte Egon ungeduldig; aber was soll mir Heinrich Rodewald? ...

Rodewald, fuhr Pauline scharf und den Ton jetzt desto schärfer auf diesen Namen legend, fort, Rodewald war jünger als ich. Unser Verhältnis war erst Werthschätzung, dann Liebe und als ich Elende von meinen Leiden gefoltert wurde, war ich selbst von der Freundschaft [1918] beseligt, die einer Liebe folgte, deren Band durch eine neue Ehe zu heiligen von manchen Vorurtheilen der Welt verhindert wurde. Ich muß mir leider versagen, Ihnen zu schildern, wie ich mit Rodewald stand, als ich nach neun Jahren des innigsten Zusammenhanges mit ihm, der sich auch nach der Rückkehr aus Italien von Weltvorurtheilen nicht stören ließ, in einem tirolischen Badeorte Landeck, die Freude hatte, mit meiner geliebten Amanda, damaligen Gräfin Hohenberg, zusammenzutreffen. Welche Frau! Wie sanft und gut! Wie weich und zart! Prinz ... werden Sie nicht ungeduldig, es ist Ihre Mutter ... ich darf wohl hinzufügen, daß die Gräfin Hohenberg sehr unglücklich verheirathet war. Ich lasse über diese Saison von Landeck, über die Folgen derselben einen Schleier fallen ...

Warum? Erzählen Sie! Ich kenne das unglückliche Loos meiner Mutter –

Mein Prinz, ich schweige. Sie wissen nichts von dem Allen. Ich will Ihnen nur sagen, daß die Freundschaft zwischen mir und der plötzlich zur Fürstin erhobenen Amanda sich nicht erhalten hat. Ich war von meinen Brustkrämpfen dem Tode oft nahe und glaubte zu sterben. In Ems erwartete ich mein Ende. Meine Schwester Anna kam, sie kam mit ihrer Tochter, einem Engel von sechszehn Jahren, einer halben Waise (der Vater war soeben gestorben) Rodewald stand mir zur Seite ... man erwartete meine Auflösung. Anna hatte sich nur losgerissen, um mich noch einmal zu sehen. Sie mußte zurück zur Ordnung ihrer Erbschaft. Ich bat sie, mir ihr Kind Selma [1919] zur Seite zu lassen. Sie willigte ein. Die Ludmer bedurfte einer Unterstützung in meiner Pflege. Ich starb aber nicht ... ein Jahr lang glaubt' ich, daß jeden Tag mein Ende nahe. Rodewald und Selma sollten, Das war noch mein letzter Wille, noch meine heiligste Lebensaufgabe, sich dauernd vereinigen ... Selma und Rodewald sollten ...

Egon hob sein Haupt und erstaunte über die Verwirrung, die sich Paulinen's plötzlich bemächtigte. Sie war schon längst aufgestanden, athmete laut, machte einen Gang durch's Zimmer, rückte an den Sesseln, warf sich auf ein Canapé, drückte den Kopf auf ein Kissen und bat um eine Minute Zeit, sich zu erholen.

Ist Ihnen nicht wohl, gnäd'ge Frau? fragte er und wollte klingeln.

Nein, nein, stöhnte sie. Ich erhole mich ...

Nach einer Weile fuhr sie fort:

Ich gestehe Ihnen, Fürst, daß ich mir damals einbildete, eine Heroine, ein Engel an Kraft und Entsagung zu sein. Ich wollte Selma und Rodewald verbinden, ich wollte, daß sie einig würden, ich lenkte das Herz des Kindes meiner Nichte mit Gewalt, ich zwang sie, in Heinrich das Alles schon zu finden, was sie vielleicht noch nicht suchte. Ich kann, ich darf Ihnen nicht sagen – Ihnen nicht, Prinz – was mich bestimmte, von der Welt scheidend die Beruhigung mitzunehmen, daß Rodewald und nur Selma sich liebten, keine Andere, keine Andere ...

Warum mir nicht? Warum Ihr Zorn? Ihr neu entflammter Haß? Wen sollte Rodewald nicht lieben..?

[1920] Dringen Sie nicht in mich, Prinz! Ich will nichts erzählen, nichts aufklären, ich will Sie nur auf Wege führen, wo Sie Achtung und Schonung für mich lernen sollen, Prinz! Ja, es mag Rache gewesen sein, daß ich Rodewald und Selma wie die Schlange am Baume des Paradieses verband. Aber der Himmel strafte mich! Strafte mich durch seine Gnade! Ich genas, Prinz! Ich genas! Ein kluger und kundiger Arzt lehrte mich eine Diät, die ich nie gekannt hatte. Die Bäder von Ems linderten den Reiz meiner Nerven. Ich genas, Prinz! Völlig! Völlig! Die Natur hatte sich gefunden. Und als ich froh in's Leben zurückkehrte, nun wieder nach Rodewald dem Geliebten suche, ist er entflohen, mir entflohen. Selma war ein Kind. Sie, dacht' ich, wird von ihrer Leidenschaft bald geheilt sein. Aber mein Freund? Wo ist Rodewald? Er war verschollen. Nicht die Liebe zu Selma, die ihn wohl nie innerlichst ergriffen hatte, hatte ihn fortgetrieben von unsern Wohnungen; Überdruß am ganzen Leben, Ekel, schrieb er mir einst, an Allem, Ekel aber am meisten an dem Weibe, Ekel am Weibe! Vielleicht der Kummer und Unmuth über Erfahrungen, die Sie einst noch entdecken werden ... aber Selma liebte ihn. Ich Thörin hatte die Knospe ja selbst entblättert! Das Kind lebte nur für Den, den ich es gelehrt hatte, als einen menschgewordenen Gott zu verehren. Rodewald, aus Motiven, die ich nur ahnen kann, floh mich, floh alle Welt, er war sich selbst zur Last, zur Qual geworden und mit den Worten: Läuterung! Läuterung! nahm er schriftlichen Abschied nach einer Gegend, wo ich [1921] ihn nicht mehr sehen sollte und wohin er mit Selma, die nicht mehr von ihm lassen wollte, auf immer verschwunden ist.

Aber meine Mutter? bemerkte Egon und verrieth auf's neue die Ungeduld, auf die Bahn ihrer Denkwürdigkeiten einzulenken.

Ihre Mutter? sagte Pauline vor sich hin und machte eine Miene voll Bitterkeit ...

Daß Ihre Schwester Anna von Harder Sie hassen mußte, tödtlich hassen muß, erkenn' ich, sagte Egon. Sie haben die Blüte des jungen Gefühls ihrer Tochter vergiftet – haben, wie Sie, mir unbegreiflich, sagen, aus Rache die Genugthuung haben wollen, daß Rodewald, durch den Tod von Ihnen getrennt, nur Selma liebt ... Sie haben einer Mutter ihr Kind geraubt ... Selma von Harder? Selma ... Wer erinnerte mich einst an eine Selma ...

Egon konnte sich nicht besinnen, daß man ihm von einer Selma Ackermann gesprochen hatte ...

Pauline fuhr fort:

Meine Schwester haßt mich nicht. Sie gehört zu Denen, die überwunden haben. Weiß sie doch, daß unter dem Raube ihres Kindes Niemand furchtbarer litt als ich. Ich hatte das Leben wieder und das Licht meines Lebens war ausgelöscht. Was war mir die Welt ohne Rodewald? Er war dahin, für ewig! Das Gefühl, das mich ergriff, war nicht das der innern Vernichtung, der zerschmetterten Ohnmacht. Wie konnt' ich auch? Ich war ja gesund! War ja dem Leben wiedergegeben! Ich raste. Ich hatte keine [1922] Besinnung mehr. Ich glaubte, im Strudel der Welt meinen innern Schmerz betäuben zu können. Ich warf mich in diesen Strudel und beging Thorheit über Thorheit; denn die Menschen sollten sehen, daß ich lachen konnte. Alle Welt kannte den Vorfall mit Selma, meiner Nichte, die ich zu meiner eigenen Mörderin erzogen hatte. Anna, Witwe, ihres Kindes beraubt, vermied mich und trauert bis diesen Augenblick. Zehn Jahr mocht' ich so gegen mich selbst gewüthet und die Freude gesucht haben, um nur nicht zu hören, daß man lachte und meine Thränen sah ... als ich endlich ermattet niedersank und Einkehr halten wollte. Amanda, Anna, alle meine Freundinnen hatten schon seit Jahren diese Einkehr begonnen. Ach, sie hatten sich Alle Irrthümer vorzuwerfen, Alle waren sie von der damaligen großen wogenden Frühlingszeit ergriffen und das Blut hatte ihnen in den Adern gerollt, wie aus Sympathie mit dem großen Wachsthum der Zeit und der Geister ... Prinz, ich gestehe Ihnen, daß ich die Art von Läuterungen, die damals Sitte waren, nicht begreifen konnte. Beten, hinter gemalten Glasfenstern knieen, das Orgelspielen lernen, das dies irae vierstimmig singen helfen ... diese Läuterungen waren die Wiederkehr der alten Eitelkeit, nur in andern Formen. Ich wurde bitter über die Vergangenheit, über mich, über Andre. Ich heirathete zum zweiten male. Ich schrieb ... Ich schrieb »Amarantha«.

Eine Satyre gegen meine Mutter ...

Sagen Sie nicht, gegen Ihre Mutter! Sagen Sie, eine Satyre – nein, auch Das ist nicht das Wort – eine Anklageschrift, [1923] ein Zorngericht über die Seelen, die Alle, Alle gesündigt haben und durch Heuchelei die Vergebung des Himmels antizipirten ...

Meine Mutter war schwach, aber sie heuchelte nicht! antwortete Egon.

Sie war schwach, Das ist das Wort, Prinz! Schwach – Sie meinen doch wol an Charakter? Aber diese Schwäche an Geist gaben diese Büßerinnen, diese Cantatensängerinnen für Stärke aus; Das forderte mich heraus. Ich warf ihnen den Handschuh hin, »Amarantha«, die Allen galt, nicht nur Ihrer Mutter, auch meiner Schwester, Allen, die empfindsam wurden, weil sie nicht mehr empfinden konnten ...

Egon war zu scharfsichtig, dachte zu klar über seine Mutter, zu klar über Das, was er Alles in Genf erlebt hatte, um Paulinen von Harder nicht im Grunde der Seele Recht zu geben. Er sah da eine leichtsinnige, aber stark-begabte, sehr merkwürdige Frau vor sich, die ihm in dieser aufrichtigen Buße, die sie sich durch ihre Geständnisse auferlegte, sogar schon eine gewisse Achtung abgewann ...

Mein Prinz, fuhr Pauline fort, ich bin zu Ende. Eine andere Zeit ist gekommen, neue Anschauungen haben den Thron der alten umgestürzt. Wer glücklich noch sein will, schließt sich ab und sehnt sich nach Ruhe. Alle Welt sprach von den hinterlassenen Denkwürdigkeiten Ihrer Mutter ... ich wußte, daß sie mich haßte. Ich mochte nicht, daß der letzte Rest meines Lebens, der an Reue und Verdruß [1924] überreich ist, noch verbittert werde durch die Enthüllung und Entweihung des Begrabenen. Zehn Jahre nach Rodewald's Flucht heirathete ich Herrn von Harder, meinen eigenen Schwager. Ich war damals schon vierzig Jahre. Sie sehen, Prinz, wie aufrichtig ich in meiner Biographie bin. Mein Gemahl steht dem Hofe nahe ... es gibt der Rücksichten mancherlei ... ich will Ruhe haben und hasse alle gewaltsamen Erschütterungen ... die Denkwürdigkeiten Ihrer Mutter mußt' ich besitzen. Zeitlebens hab' ich immer dienende Hände gefunden, die gern für mich eintraten ... man hat viel aus Liebe zu mir gethan ... mehr, als ich wollte, mehr, als ich oft mochte, guthieß ... o Gott, es knüpft sich viel an meinen Namen, was nicht ganz aus meiner Seele floß!

Pauline wollte das Haupt senken, aber sie mußte aufhorchen. Es war ihr, als hustete im Nebenzimmer die Ludmer ...

Wir werden gestört, sagte Egon und faßte sich kurz. Ich bin vollkommen auf dem Standpunkt, gnädige Frau, den Sie mir bezeichnet haben. Ich denke nicht kleinlich von Ihnen. Ich bin nicht befugt, der Richter Ihres Lebens zu sein. Einen schlimmen Gebrauch von diesen Denkwürdigkeiten werd' ich nie machen. Besorgen Sie Das nicht! Nie! Ich verspreche Ihnen ...

Sie glauben also, Amanda hätte mich angeklagt ... unterbrach ihn Pauline erschüttert von dem Wort, das ihr so gekommen war: »Es knüpft sich Vieles an meinen Namen, was nicht ganz aus meiner Seele floß!«

[1925] O ich ahne es, Frau von Harder, rief Egon mit aufwallender leichter Rührung. Sie waren tief beschämt, als Sie diese Blätter lasen und nichts, nichts von einem rachedürstenden Herzen fanden ...

Pauline schwieg ...

Räumen Sie Ihrer Feindin die Gerechtigkeit ein! Sagen Sie, daß meine Mutter großmüthig war!

Sie war großmüthig!

Egon wurde ergriffener und sprach still für sich:

Gute Mutter! Vergib deinem Sohne!

Dann wandt' er sich an Pauline:

Geben Sie die Blätter! Noch diese Nacht will ich sie auf meinem Lager mit Thränen netzen.

Prinz, sagte Pauline jetzt mit entschiedener Wendung, diese Blätter! Ich gebe sie Ihnen nicht.

Wie? Das wäre das Ende Ihrer Mittheilungen? rief Egon.

Wenn ich diese Denkwürdigkeiten vernichtet hätte?

Das haben Sie nicht! Nein, nein! Oder doch? Doch? Die großherzige Liebe meiner Mutter beschämte Sie? Sie vernichteten ein Denkmal Ihrer Scham, Ihres Neides? Sprechen Sie!

Die Blätter existiren. Aber sie sollen, Sie dürfen sie nicht lesen!

Welche Ausflüchte!

Überstürzen Sie sich nicht! Ich meine es gut mit Ihnen, Feuerkopf! Die Blätter lesen Sie nicht!

Geben Sie mir das Testament meiner Mutter!

[1926] Sie sind ein Ungestüm!

Endigen Sie diese Ausflüchte, diese Verstellungen ... ha, diese Lügen, Madame! rief Egon jetzt knirschend vor Ärger über solche Weitläuftigkeiten. Sie haben mich zähmen, rühren wollen ...

O mein Gott! stöhnte Pauline. Noch denken Sie niedrig von mir! Ich flehe Sie an! Begehren Sie diese Geständnisse einer Frau nicht, die die Welt verachtete, nur Gott liebte und Niemanden, Niemanden sonst ... nicht einmal Sie!

Nicht ihren Sohn? Nicht mich? Madame! Lüge!

Prinz!

In dem Augenblicke ertönte die Glocke des Hauses.

Ha! athmete Pauline auf. Es war ihr, als wäre sie ganz verlassen gewesen, ganz der Wildheit dieses jungen Mannes, der keine Rücksichten kannte, überlassen.

Ich weiche nicht von dieser Stelle, rief Egon, bis ich diesen Spuk, diesen ewigen Eingriff in mein Leben nicht endlich beseitigt habe. Ich bin vor Ihnen gewarnt. Der Vater, die Mutter bezeichneten mir Ihren Namen als den einer Schlange, die sich um mein Leben ringeln wird, um mir das Herzblut auszusaugen.

Pauline horchte eine Weile, wer kam.

Man hörte die Thüre öffnen.

Vielleicht ist es Franz! dachte sie erleichtert. Es war so still, so dunkel draußen. Sie hörte die Ludmer nicht. Ihre Diener waren nicht alle zugegen. Es regnete draußen in Strömen. Sie war diesem Ungestümen so preisgegeben ...

[1927] Noch sagte sie fest und entschieden zu Egon:

Prinz, wenn Sie diese Blätter lesen, droht Ihnen etwas, was Ihnen nach einem solchen Glauben über mich wirklich die Hölle sein müßte ...

Das wäre?

Die Qual ... mein Freund zu werden!

Egon lachte bitter auf und bat um Aufklärung einer solchen Möglichkeit, die allerdings, wie er grausam hinzufügte, ihr ... Bedenkliches hätte.

Erlassen Sie mir, sagte Pauline tiefverletzt, aber mit immer mehr sich beherrschender Ruhe, die nähere Auseinandersetzung. Genug, Sie würden mein Freund werden, ja vielleicht, setzte sie scharf betonend hinzu – mein Sklave. Also, wohlan! Prinz! Ich verbrenne die Blätter. Gute Nacht!

Damit erhob sie sich, um zu gehen. Egon aber hielt sie mit gewaltsamem Entschluß an der Hand zurück, führte sie an's Fenster und riß dies Fenster auf ... es stürmte, es regnete ... die Bäume krachten ... Pauline bebte ... sie wollte sich losreißen, sie wollte schreien ... da intonirte vor dem Garten eine jugendliche Männerstimme ein kurzes Lied.

Hören Sie diesen Gesang? rief Egon in wilder Aufregung.

Pauline, von der Kälte der Nacht durchschauert, sah ihn mit Entsetzen an und rang sich von seinen Händen los.

Es ist das Zeichen eines Wächters! sprach Egon,[1928] indem er das Fenster schloß. Meine Freunde, drei an der Zahl, sind entschlossen, in dieser Stunde mit mir die Fäden gewaltsam zu zerreißen, die mein Leben umspinnen!

Was bezwecken Sie, Prinz? Um's Himmelswillen! rief Pauline und wollte mit einer raschen Wendung entfliehen.

Egon aber warf sie mit einer Armbewegung zurück und behielt die Thür im Rücken.

Ich dringe mit meinen Freunden, die hier in dies Fenster steigen, in Ihr Arbeitszimmer und verlasse es nicht früher, bis wir besitzen, was mein ist. Ein Wink von mir und ich habe die Freunde, die mich unterstützen, hier zur Seite. In Ihrem geheimsten Zimmer, das ich mir bezeichnen ließ, bleiben wir so lange, bis wir diesen unerträglichen Intriguen ein Ende gemacht haben.

Das war fast zuviel. Ein Attentat auf ihre Häuslichkeit. Wer hätte hier die Untersuchung aller ihrer Schränke hindern sollen? Die feigen Bedienten? Wer hätte beispringen sollen in diesen einsamen Gartenhäusern? Aber Pauline lächelte jetzt ruhig und sagte:

Wohlan, mein Prinz, so kommen Sie! Wir können es auch anders beschließen. Ich gebe Ihnen die letzten Geständnisse Ihrer Mutter.

Damit gab sie Egon das Zeichen voranzugehen. Als er öffnen wollte, war die Thür verriegelt. Aha! sagte Pauline. Ihr Überfall stößt doch schon auf Vorsichtsmaßregeln. Eine Horcherin hat die Gefahr [1929] abwenden wollen und ich bin nicht so verlassen, wie Sie denken! Kommen Sie von dieser Seite, Durchlaucht!

Pauline nahm einen Armleuchter und ging durch eine zweite Thür, durch finstere Zimmer, durch einen Gang ... Egon folgte. Die Ludmer stand auf dem Gange mit Franz und einem Gärtner im Dunkeln wie Gespenster, aber rathlose und selbst furchtsame. Doch erschien ihm diese Ludmer wie eine der Dienerinnen Hekate's bei ihren Zauberkünsten, wie eine der Hexen Macbeth's. Es war ihm, als sollte er in seine Zukunft sehen und jenen Zauberspiegel in die Hand nehmen, der ihm die Geschichte seines Hauses offenbarte.

Pauline ignorirte die zu Tode geängstigte Freundin und führte Egon in ihr zweites Boudoir, das geheime. Sie schloß einen Schrank auf und übergab nach mehrfacher Zögerung und erneuertem Andringen Egon's dem Prinzen endlich die Blätter. Dieser erkannte die Handschrift seiner Mutter, küßte sie und sagte zur Geheimräthin:

Also auf die Gefahr hin ... Ihr Freund zu werden! Gute Nacht!

Die Geheimräthin wiederholte lächelnd:

Auf die für mich angenehmere Gefahr hin ... sogar mein Sklave zu sein! Gute Nacht!

Der Prinz verschwand. Bald hörte man Flüstern von Stimmen vor dem Stacket, das Übersteigen seiner ungeduldigen Freunde, das Bellen angeketteter Hunde, das Sprechen, sich Verständigen Egon's mit den Freunden, [1930] Lachen, Spotten, zuletzt das Rollen seines Wagens im feuchten, knirschenden Kieselsande ...

O, sagte die Ludmer, die erst eintrat, als der Wagen nicht mehr hörbar war, welche Scene! Welche Verblendung, Pauline! Welche Geständnisse! Welche Gefahren! Das Haus war umringt! Wir müssen in die Stadt ziehen. Man könnte uns hier ermorden ...

Laß mich, antwortete Pauline und sank erschöpft auf eine Ottomane.

Nach einer Weile fügte sie hinzu:

Nie traf es sich, daß ich Egon sah. Als ich den ersten Blick auf ihn geworfen hatte ... o Gott! Welche Erinnerungen!

Mehr vermochte sie nicht hervorzubringen. Die Ludmer verstand, was sie sagen wollte und versuchte sie auf andre Gedanken zu bringen.

Ich riegelte zu, als ich Franz kommen hörte, sagte sie. Er war bei Augusten und hat mir Schreckliches erzählt. Er kam dort gerade zur rechten Zeit ...

Ehe das Mädchen am gebrochenen Herzen starb, aus Verzweiflung, sich von einem Ehrenmanne verschmäht zu sehen? sagte Pauline mit einem Ausdruck, der die ganze Schwere der Gedanken bezeichnete, die auf ihrer Brust lasteten und ihr jetzt wirklich etwas Prophetisches gab.

Ehe sie in's Narrenhaus gebracht wurde! sagte die Ludmer ruhig.

Großer Gott! rief Pauline theilnehmend. Charlotte, Charlotte! Wie ruhig du Das sagen kannst!

[1931]

Die Ludmer erzählte, wie Franz gekommen wäre, hätte er schon im Hause gehört, daß vorgestern Abend der Fremde, mit dem Auguste seitdem oft ausgegangen wäre, sehr laut und heftig gezankt und dann sich entfernt hätte. Oben hätte Franz den sogenannten Engländer mit der schwarzen Binde gefunden, um Augusten, die auf dem Bette lag, beschäftigt. Der Engländer wäre sehr ergrimmt gegen Franz gewesen. Auguste hätte aber Franzen nicht gekannt. Franz wäre so gescheut gewesen, sich für einen Andern als Den auszugeben, der sie mit Mangold bekannt gemacht hätte. Als Mangold vorgestern gegangen wäre, erfuhr Franz, hätte Auguste nicht ein Wort gesagt, sondern in einem todähnlichen Starrkrampfe dagelegen, bis nächsten Morgen. Murray wäre nicht von ihrem Bett gewichen. Am Morgen wäre sie etwas aufgestanden und hätte in aller Stille das Fenster geöffnet, um sich, ohne einen Laut von sich zu geben, auf den Hof zu werfen. Murray, von dem plötzlichen Gedanken, den Niemand geahnt hätte, überrascht, hätte sie mit Riesenkraft ergriffen und zurückgehalten. Dann lag sie, erzählte Franz, bis zum Abend wieder im Starrkrampfe. Endlich hätte sie Speisen genommen und einige Worte, aber verworren, gesprochen; sie hätte fortgewollt, man hätte sie gehalten. Murray verließ sie keinen Augenblick. Man hätte den Arzt gerufen und dieser eine Beruhigung verschrieben, nach der sie einschlief. Seit heute früh spräche sie still, aber verwirrt, dann hätte sie geweint, sich gesammelt, aber den ganzen Abend wäre sie so gefährlich [1932] irr gewesen, daß man sich hätte entschließen müssen, sie in das Narrenhaus zu schaffen. Franz wäre gerade angekommen, als man einen Wagen holte und Murray sie mit schönen kostbaren Kleidern, die er irgendwo hätte holen lassen, mit Gold und Silber putzte, in einen Fiaker schaffte und sie selbst begleitete. Er hätte ihr gesagt: Es ginge auf den Fortunaball! Da hätte sie gelacht und mit der Zunge geschnalzt, als ging' es zum Tanze. Ihre Kleider musterte sie lachend im Spiegel, alle die Ringe, die Brochen, die Armbänder, die sie plötzlich vor Wochen trug, wären zum Vorschein gekommen und so wäre sie lachend und als ging' es zum Ball oder zu einer Hochzeit mit Murray in's Irrenhaus gefahren. Franz, schloß die Ludmer, hat mir die Geschichte so erzählt, daß es mich selbst kalt überlief ... und nun hier diese Scene noch, dieser Überfall wie von Räubern und Mördern!

Du bist schauerlich, Charlotte, sagte Pauline entsetzt ... Gute Nacht, Charlotte!

Es ist erst neun Uhr, bemerkte die Ludmer.

Ich gehe zu Bett! Gute Nacht, Charlotte!

Die Ludmer kannte gewisse determinirte Stimmungen ihrer Herrin. Sie versparte alle Erörterungen auf morgen und fragte, ob sie das Kammermädchen rufen sollte.

Pauline schüttelte den Kopf.

Die Ludmer, die jetzt mit einem male die lästige Nichte losgeworden war, mit einem male auch die Spannung zu dem Prinzen Egon sich lösen sah, ging ziemlich erleichtert [1933] zu Franz zurück, der ihr das Vorgefallene wiederholt erzählen sollte ...

Pauline riegelte sich ein, entkleidete sich rasch und warf sich erschöpft auf ihr Lager.

Als sie im Dunkeln war, trat ihr im Halbschlafe Egon's Gestalt entgegen. Sie seufzte auf und hätte ihn an's Herz ziehen mögen, weil er ihr Erinnerungen wachrief, die zu ihren theuersten und schmerzlichsten gehörten. Ihr unruhiges Blut ließ sie nicht schlafen. Sie mußte aufstehen, wieder Licht machen. Zuviel, zuviel der Vergangenheit trat ihr gespenstisch entgegen! Es war ihr, als wenn die alten Brustkrämpfe wiederkämen. Röchelnd erhob sie sich, als läge ein Alp auf ihr. Sie wollte klingeln ... unterließ es aber, da sie hörte, daß man noch im Hause wachte. Der Geheimrath kam aus dem Theater. Sie hörte sogar die Schüsseln seines Nachtessens klappern, das man in sein Zimmer oben hinauftrug. Das beruhigte sie wieder. Sie dachte an Schlaf. Aber er floh sie. Bilder aus Italien, aus der Schweiz traten ihr entgegen. Eben lieblich und schön, dann verzerrt und beängstigend. Eine Gestalt schien sie besonders zu ängstigen. Sie erinnerte sie durch eine seltsame Gedankenreihe an Wasser, an einen übergetretenen, hohen Fluß. Hülfe! Hülfe! glaubte sie gerufen zu haben. Dann fuhr sie auf und sah sich um, fand Alles ruhig und legte sich auf eine andere Seite. Aber nun kam ihr Auguste Ludmer vor die Augen. Sie sah sie im Ballstaate mit geschminkten Wangen – sie sah Kerzen – Kronenleuchter – alle Tanzenden waren wahnsinnig – der Mann [1934] mit der schwarzen Binde, den sie so oft hatte nennen hören, führte Augusten in ihre Nähe, und diese knixte vor ihr und sagte ihr in wahnwitziger Rede: Schöne Dame, gib doch meinem Baron seinen Sohn! Es war dann wieder, als wäre Mangold Der, der dies Mädchen führte ... und ebenso rasch gaukelte ihr ein Bild vor die Augen, wo Auguste zerschmettert auf dem Straßenpflaster lag und Franz mit einem Lichte drüber her leuchtete, und als sie nachsahen, war es eine edle reine Gestalt, die wie ein Engel schlummerte, ganz verklärt, ganz verändert, und sie sagte sich: Das ist ja Selma, aber mit Engelsflügeln! Ach! Sie schläft still und ruht sich von einem Leben aus, das ein ewiges Opfer war!

Dazwischen dann hörte es Pauline deutlich von den Stadtthürmen herüber zehn, elf schlagen. Aber es schlug schon halb zwölf und sie schlief noch nicht ... Sie stand ungeduldig auf, machte wieder Licht, nahm Brausepulver, wollte lesen und kleidete sich an.

Kaum hatte sie eine Weile in das erste naheliegende Buch geblickt, als es heftig an der Thür schellte, die von der Straße in den Vorgarten führte. Die Glocke war groß und es schellte mächtig. Pauline ging an das Fenster und sah einen Mann an der Thür, der eben zum zweiten Male schellte.

Um zu sehen, ob noch ihre Bedienung wach war, zog sie ihre Glocke.

Lange dumpfe Stille ...

Der Mann, den sie durch eine Ritze ihres halbgeöffneten [1935] inneren Fensterladens unterscheiden konnte, schellte zum dritten Male.

Sie zog wieder ihre Glocke.

Endlich regte sich etwas im Hause. Man ging und fragte vom Fenster, was es noch so spät gäbe?

Sie hörte, daß eine fremdartig klingende, das Deutsche etwas gebrochen mit polnischem Accent sprechende Stimme sagte, hier wäre ein Billet vom Prinzen Egon, das man der gnäd'gen Frau morgen ganz in der Frühe beim Erwachen geben sollte.

Wie schlug Paulinen das Herz, als sie diese Worte hörte!

Man nahm das Billet durch das Gitter. Der Fremde, der kein Bedienter war, ging ...

Es wird Louis Armand sein! dachte sie ... Sie kannte von Helenen die Umgebungen Egon's. Es wird der Sänger sein, der dem Prinzen durch seinen Gesang verrieth, daß die Freunde wachten!

Sie schellte wiederholt ...

Franz kam.

Eben wurde ein Brief vom Prinzen Egon abgegeben, sagte sie. Ich will ihn sogleich lesen.

Franz kehrte um und nahm Ernsten erstaunt das eben empfangene Billet ab.

Sie erbrach es hastig, wandte sich von den verschlafenen, zurücktretenden Dienern ab und las:

»Gnädige Frau, erst eine Stunde lang hab' ich in den Blättern meiner Mutter gelesen und den Rest überflogen. Dennoch bin ich schon zu der Überzeugung gekommen, [1936] daß ich Sie morgen in aller Frühe, um neun Uhr, wenn ich darum bitten darf, sprechen muß. Ich erkenne, was Sie sagten: Die Selige liebte nur Gott und sich. Vergeben Sie mir, daß ich so stürmisch, so wahnsinnig war! Ich fühle, daß ich des Rathes einer weisen, vom Schicksal geprüften Frau bedarf, einer Frau, die über den gewöhnlichen Standpunkten des Lebens erhaben ist!«

Pauline nickte, als sie geendet hatte, einige Male voll tiefster Genugthuung mit dem Kopfe.

Fühlst du's nun, Prinz Egon Waldemar von Hohenberg! rief sie, die Bedienten nichtachtend, triumphirend aus. Krümmst du dich nun vor Paulinen von Harder, stolzer Jüngling, den die Schönheit Helenen's nicht so fesseln wird wie hinfort der alten Pauline Geisteskraft? Zittere nicht, Egon! Ich bedarf deiner, so wie du meiner bedarfst, und wenn du weise bist und mir deine starke Hand zur Stütze für den Rest meines Lebens leihst, so will ich dir zeigen, daß ich dich mehr liebe, als Helene d'Azimont, mehr, mehr als selbst Amanda, deine eigne Mutter!

Franz stand in der Ferne und harrte noch auf einen Befehl.

Um sieben Uhr wecken! sagte Pauline, erschreckend, daß sie nicht allein war.

Franz ging.

Pauline aber verriegelte die Thür, las das rasch hingeworfene Billet beseligt noch einmal und noch einmal, entkleidete sich und warf sich heiter, beruhigt, ja lachend [1937] auf ihr Lager. Sie entschlief unter der süßen, reizenden Vorstellung eines neu für sie beginnenden Lebens.

Im Bunde mit Egon und seinen geisteskräftigen Freunden ... was hoffte sie nicht Alles! Was konnte sie nicht Alles wagen und noch vom Schicksal erwarten!


Ende des fünften Buches. [1938]

Sechstes Buch

1. Capitel. Sylvester Rafflard
Erstes Capitel
Sylvester Rafflard

Helene d'Azimont bewohnte in einem sogenannten Hotel garni das erste Stockwerk.

An Beschränkung nie gewöhnt, bedurfte sie nicht nur aus angeborenen Rücksichten ihres Standes, sondern zur Ausdehnung ihrer ganzen überströmenden Natur großer Räumlichkeiten. Diener und Wagen hatte sie mitgebracht, aber diesen »Train« jetzt noch weit über den Bedarf vermehrt. Jede Woche mußten Gärtner die Zimmer mit neuen Blumen schmücken. Ihr Empfangsalon war ein kleiner Dahlien-Flor. Was sie bei Wanderungen durch die Magazine, selbst bei einer flüchtigen Vorüberfahrt an den glänzenden Schaufenstern der Hauptstraßen nur an Vasen, Porzellan, Kunstwerken, Bronzesachen Gefälliges entdeckte, mußte, wenn sie sich davon einen Effect versprach, sogleich, ganz nach Goethe's Theorie vom Besitze des Schönen, angekauft und in ihren Zimmern aufgestellt werden. Wie sie denn in Allem das Weib des unmittelbaren Instinctes schien, die lebendiggewordene Unruhe und Beweglichkeit des nur durch die Liebe aufrechtgehaltenen Frauensinnes, so mußte sie, was ihr gefiel, besitzen, was [1941] sie dachte, aussprechen, was ihr in den Sinn kam, vollenden. Eine Entsagung ohne sofortigen Ersatz würde ihr die größte Qual gewesen sein.

In den sechs Wochen, daß Egon krank war, von Andern gehütet, ihrer Sorge vorenthalten wurde, litt sie unsäglich. Sie hatte das nimmerrastende Bedürfniß der Aufopferung. Sie wäre im Stande gewesen, wie eine in Lohn verdingte Krankenwärterin Egon zu pflegen. Der Mann, der sie erfüllte, war ihr die ganze Welt. Wie konnte sie leben, ohne seinen Athem zu hören, ohne sich in seinen Augen zu spiegeln, selbst wenn diese vom Fieberwahn umschleiert wären und sie nicht erkannt hätten! Von dem Abend an, wo sie bei ihrer Ankunft in später Nacht vor Egon's Fenstern hielt und zu ihnen wie eine Verstoßene sehnsüchtig hinaufblickte und bitter weinte, ruhte sie nicht, sich dem Freunde bemerklich zu machen. Erst als sie erfuhr, daß er ganz krank, dann völlig bewußtlos war, unterließ sie diese nächtlichen Aufblicke zu seinen Fenstern. Aber Blumen schickte sie, Erkundigungen zog sie ein, setzte sich mit der dienenden Umgebung, mit den Ärzten in Verbindung. Sie litt peinliche Tage, in denen sie nur von Paulinen, die durch Amanden's Memoiren wieder Kraft und Fassung errungen hatte, aufrecht erhalten, getröstet wurde. Wie viel Thränen weinte sie an der Brust dieser Freundin, die sich für mitfühlend erklärte, aber ihren Schmerz nur studirte, wie der Künstler an der Armuth vorübergeht, ihr Almosen spendet, aber seiner Phantasie auch die Geberden des Hungers einprägt.

[1942] Pauline gab sich ganz auf die »großen Gefühle« ihrer jungen Freundin gestimmt; aber Helene mit ihrem überflutenden, liebesiechen Herzen, war ihr doch nur eine Studie jener Autorschaft, an die sie zuweilen zurückdachte, seit sie durch Guido Stromer, den vacirenden Pfarrer von Hohenberg, den entpuppten Schmetterling der schönen Phrase und des irren, von Allem geblendeten Idealismus, wieder in literarische Beziehungen kam! Helene, im Jammer um Egon, erkannte Niemanden mehr, der bei Paulinen verkehrte. Ein Blick des Schmerzes und sie wandte sich jeder Begegnung ab. Nur Melanie blieb ihr von dem ersten Abend her in Erinnerung als ein »schönes Mädchen«. Als »schöner Mann« hätte sie Heinrichson fesseln dürfen; allein sie erbat sich nur die Unterstützung seiner kunstgewandten Hand, um Erinnerungsblätter an ihre Egon-Liebe, die sie zeichnete, an ihren egoistischen Egonismus, wie der witzhaschende Heinrichson dies Verhältniß nannte, zu einer größern Vollendung zu bringen.

Kümmerte sich Helene während dieser Trauerwochen um Niemanden, als wer sie aufsuchte, verschloß sie sich jeder Beziehung zu ihrer Schwester Adele Wäsämskoi, die sie ihres kleinen und engen Herzens wegen verachtete, zu Rudhard, der ihr ein lästiger, gefühlstrockener Pedant war, so mußte es auffallen, daß sie Sylvester Rafflard nicht gleich das erste mal, daß er sich bei ihr melden ließ, abwies.

Helene glaubte sonst keinen größern Feind zu haben!

[1943] Von Osteggen, dem Gute ihrer Ältern, war dieser Rafflard plötzlich entlassen worden; in Genf hatte er Ursache, Egon zu hassen, den er später zu Paris in ihren Armen wiedersah. Die alte Gräfin d'Azimont, Helenen's Schwiegermutter, mit ihrem Ehrgeize und ihrer weltverachtenden Bigoterie, hatte die Wahl ihres Sohnes schon damals gemisbilligt, als Graf Desiré am Schwarzen Meere in Helenen eine Protestantin wählte. Welche Clauseln wurden nicht alle in dem mit Paris über Berlin und Petersburg verhandelten Ehecontracte erfunden, um den Folgen dieses Misverhältnisses vorzubeugen! Anfangs nahm die strenge Bewohnerin des Faubourg St.-Germain ihre Tochter mit gnädiger Herablassung auf, bald aber zeigte sich, daß die alte jesuitische Klassizität der Mutter mit der romantischen Ketzerei der Tochter sich nicht vereinigen ließ. Welche Cirkel suchte Helene auf! Welche Menschen fand sie interessant! Wie verworren sah es in ihrem Salon aus! Der »Horreur«, den die Mutter durchweg vor der Tochter empfand, steigerte sich, als Helene die Rücksichten auf ihren kränkelnden, blasirten, überbequemen Gatten völlig aus den Augen ließ und sich mit ihm sogar auf eine Art Freundschaft, auf den Fuß einer gegenseitigen Schonung und Duldung setzte! Der Graf wurde der Vertraute seiner Gattin. Er mußte sorgen, helfen, vermitteln, wenn ihr Herz litt. Und er gab sich dazu mit der ganzen modernen Philosophie, die Sitte und Gesetz auf den Kopf stellt und das Herz zum Gott, dessen Eingebungen zur Offenbarung macht, bereitwilligst her, zum [1944] großen Unmuth der Mutter, die diese neuromantische Ehe mit keinen Kindern gesegnet sah. Durch Zufall war der Neophyt Sylvester Rafflard der alten Gräfin nähergekommen und der Vertraute ihrer Wünsche geworden. Die alte Dame hatte immer einen solchen zuverlässigen Hausfreund nöthig gehabt und hielt sehr treu zu ihm, falls er sich bewährte. Seit einer Reihe von dreißig Jahren waren es Jesuiten gewesen, Priester oder Affiliirte, die ihr nahe standen. Der letzte ihrer Vertrauten, Abbé St.-Dor, ein Priester aus dem Convicte der Gesellschaft Jesu in der Rue Jean Jaques Rousseau, starb und empfahl ihr Sylvester Rafflard, einen Genfer, der in Turin gläubig, aber nicht Priester geworden war und sich nur als ein in weltlichen Dingen dienender Bruder zu den ehrwürdigen Vätern hielt, die ihm seine Existenz machten.

Rafflard war nicht mehr jung, aber von einer unverwüstlichen Regsamkeit seiner fast thierischgebauten Constitution. Der große affenartig gebaute Kopf mit dem gewaltigsten hervorstehenden Unterkiefer saß wie auf dem Nacken eines Stiers. Die Schultern waren breit und rund wie die eines Lastträgers. Die Beine lang und weitausholend, die Arme fast über die Proportion ausgreifend und mit Händen begabt, die sich wie die ausgespreizten Füße eines watschelnden Wasservogels machten. Dieser Mensch verband die Giraffe mit dem Rhinoceros. Die ganze Natur Rafflard's war die Sinnlichkeit nicht nur des Magens und des Herzens, sondern auch die Sinnlichkeit der Augen, der Ohren, der Hände, des ganzen Menschen.

[1945] Sein Wesen war wie das Schnalzen des Fisches. Er war die Aufdringlichkeit selbst. Seine großen Hände reichte er Jedem zum Gruße; er umarmte, er küßte Jeden, er floß in einem Strom von salbungsvollen Liebesworten über und bot Jedem seine Freundschaft an. Er hatte sich von einer gewöhnlichen Herkunft allmälig emporgeschwungen durch das Princip, die ganze Menschheit wäre zu gewinnen durch die Süßigkeit der Vorstellungen, die das Gegentheil unsrer Existenz in Jedem zu wecken pflege. Er näherte sich den jungen Mädchen und sprach mit ihnen von der Ehe; den Frauen und sprach mit ihnen von dem gebundenen Schicksal ihrer unabänderlichen Wahl. Jungen Männern malte er die süßesten Träume des Glücks aus, den Alten spiegelte er den Glauben vor, man hielte sie noch für jung. Jedem aber, den er leiden, unbefriedigt sah, nahte er sich mit der Versicherung, er errathe sein verfehltes Geschick, er ahne seine wahre Bestimmung. Die Frauen gewann er durch die theilnehmende Entdeckung, daß ihr Geist gebunden, gefesselt, an Gemeines entwürdigt wäre. Die Männer belauschte er in der geheimsten Sehnsucht ihres Ehrgeizes und beglückte die Strebenden mit glänzenden Bekanntschaften, die er in der That wie Visitenkarten aus seiner Westentasche zog. Sylvester Rafflard war der lebendige Versucher. Ewig legte er Denen, die er umstricken wollte, die Schätze ganz Jerusalems zu Füßen und verschenkte sie an Den, der sich ihm ergab. Er bot Alles an, Würden, Ämter, Ehrenzeichen, Geldmittel, Erfolge, schöne Frauen, je nachdem [1946] er das weltliche Streben einer Geisteskraft oder das träumerische Sehnen einer Phantasie vor sich fand.

Und wenn man fragen wollte, wozu Sylvester Rafflard sich einer so unermüdlichen Verführung ergab, so ist nicht erwiesen, daß er geradezu schaden wollte. Er würde sich in diesem Falle bei seiner unausgesetzten Betriebsamkeit großen Gefahren ausgesetzt haben. Er wollte nicht einmal verwirren. Er wollte nur existiren, sich behaupten, im großen Stile existiren. Dazu bedurfte er hundert Beziehungen. Er mußte eine Beziehung auf die andre bauen, einen Trumpf gegen den andern ausspielen. Sonst war eigentlich seine geheimste satanische Freude Die, jeden Menschen gleichsam im Zustande der Natürlichkeit zu sehen. Wir wissen, wie Rafflard als Erzieher wirkte, wie es ihn reizte, schon das Gelüsten der ersten Knabenzeit zu beobachten. Wir wissen, daß Egon's früheste Lebensverstimmung, seine Verzweiflung am Dasein, die ihn von Genf nach Lyon, fort von allen Beziehungen seines Standes trieb, eine Folge der Verführung seines eignen Lehrers war. So aber wie Egon wollte Rafflard Jeden auf die Nacktheit seiner natürlichsten Schwäche zurückführen! Da, wo der Mensch klein wird, setzte er den Hebel an; da, wo der größte Mann zuweilen seinen Beruf vergißt, wußt' er ihn sicherlich zu überraschen und hatte ihn dann auch für alle seine Pläne in der Hand. Im gewöhnlichen Verkehr war er liebenswürdig, gefällig und noch immer gern gesehen, wenn man ihm auch seinen asthmatischen Husten vergeben mußte. Diesen tückischen Dämpfer seiner guten [1947] Laune, diesen Störenfried seiner schleichenden Intriguen hatte ihm ein strafendes Geschick seit einigen Jahren mit auf den Weg gegeben. Dieser Katarrh hatte ihm schon, wie Das in der großen Welt geht, viele Freunde entfremdet, ja seinen liebsten Freund, den eignen Magen. Der alte Gourmand kaute stündlich Pastillen und verdarb sich damit eine Verdauung, die sonst thierisch war und seiner herkulischen Natur entsprach.

Ein solcher Charakter, ohne Halt, ein reiner Lebensvirtuose, ein Künstler auf dem schlaffen Tanzseile des gefährlichsten Egoismus, muß durch innere Nothwendigkeit Jesuit werden. Seine Kenntniß der Zeit und der handelnden Personen überraschte Die, die ihn zu diesem Schritte ermunterten. Er hatte Verbindungen wie ein zweiter Graf St.-Germain. Selbst wo man ihm die Thür gewiesen hatte, wagte er wiederzukommen. Er wagte, Manchen sogar an Menschen zu empfehlen, die ihn verachteten. Gelehrte Kenntnisse besaß er nur oberflächlich. Aber vortrefflich sprach er über Sachen, die dem Gelehrtesten oft unentwirrbar blieben, über Lebensverhältnisse, Sitten-, Staatsbeziehungen. Da ihm Deutschland, die Schweiz, selbst Rußland bekannte Terrains waren, so imponirte er in Frankreich. Als Abbé St.-Dor starb, ergriff er mit Freuden die Gelegenheit, seine eigentlich fortwährend bettelnde Existenz zu sichern, die ihm seit seinem asthmatischen Husten vollends Bedenken erregte. Er hatte schwören müssen, die Ideen St.-Dor's zu verwirklichen. Es waren Dies mancherlei Aufgaben größerer [1948] oder geringerer Bedeutung. Eine derselben lautete: die Heirath zwischen Helene von Osteggen und dem Grafen Desiré d'Azimont zu lösen, das bedeutende Vermögen des Grafen zum Rückfall an die Mutter zu bringen und von dieser es somit zuletzt dem Orden zuzuwenden. Dieser Aufgabe unterzog sich Rafflard mit dem ganzen Aufgebot seiner Energie. Es war seine Mission, sein Unterhalt sogar. Die übrigen Einwirkungen, die er da und dort und bei seiner Sprachengewandtheit auch in fernen Ländern auszuführen hatte, kamen zur Lösung dieser Hauptaufgabe ergänzend, aber unwesentlicher hinzu. War Rafflard in Paris und Enghien schon thätig, um Helenen und den Grafen zu entzweien, so setzte er nach der Flucht der jungen Frau diese ihm gestellte Aufgabe mit Gewissenhaftigkeit fort. Egon warnte Helenen vor Rafflard schon in Frankreich. Sie glaubte Spuren zu haben, daß Louis Armand damals in Enghien nicht ohne Vermittelung Rafflard's so grausam störend in ihr Glück eintrat. Sie fuhr schaudernd und ergrimmt auf, als man ihr nach ihrer Ankunft in Deutschland diesen Namen nannte, der in der Residenz anwesend, ohne Zweifel ihr gefolgt war und sie nach allem Vorgefallenen eines Tages zu sprechen wünschen konnte. Wie aber gutmüthige Naturen – und eine solche war Helene bis auf einen gewissen Punkt im höchsten Grade – einmal sind, sie fassen die Menschen immer nach ihrem augenblicklichen Bedürfniß. Klagen sie mit dem Klagenden, so heißt es: Ich habe mich geirrt, er ist gut, er ist wenigstens besser, als ich dachte! Helene [1949] d'Azimont hatte auch noch die Eigenschaft gutmüthiger Charaktere, daß ihr jedes Wiedersehen etwas Verschönerndes bot. Einem Menschen, den man in der Heimat haßte, wird man in der Fremde nicht begegnen, ohne sich zu denken: Wenn er dir hier, unter diesem schönen Himmelsstrich, unter diesen herrlichen Statuen, unter diesen duftenden Gewächsen, die Hand böte, du würdest sie nicht zurückweisen! Bringt er nicht Heimatsluft mit? Geht er nicht wieder dahin, wohin du gern einen solchen Gruß aus lebendem Munde übersenden möchtest! Rafflard benutzte diese Stimmung, die er bei Helenen offen genug vorfand. Er war noch klüger. Er machte gleich reinen Tisch. Er sagte: Gräfin, warum hassen wir uns? Er ergriff damit gleichsam das schillernde Gewand, das seine geheimsten Absichten verbarg, und zog die tausend Falten desselben glatt in eine Fläche, in die Fläche der Aufrichtigkeit und Bonhommie. Er sprach so natürlich, so sich selbst ironisirend, daß Helene schon lächelte. Er verspottete die alte Dame vom Faubourg St.-Germain, er ahmte der Gräfin so treffend nach, daß Helene sie völlig wiedererkannte und mit zu lachen anfing. Seine grauen Augen wurden fast kindlich; ja als ihn sein böser Husten überfiel, griff Helene in die Schubfächer ihres Schreibtisches und bot ihm, mitleidig wie sie war, von der Pate Regnauld aus Orleans an, die er täglich kaute, aber doch kostete, doch als etwas ihm Unbekanntes annahm, nur um dabei über das schöne Paris sentimental werden zu können und Helenen zu rühren. Und vollends umstrickte er Helenen [1950] dann durch das offene Vertrauen, das er ihr zeigte, als sie ihm seine Verbindung mit den Jesuiten vorwarf. Er bekannte ganz offen, mit den ehrwürdigen Vätern in Verbindung zu stehen. Sie sind Priester? hatte sie gesagt. Nein, antwortete er, ich gehöre zu jenem amphibischen Theile des Bundes, der in- und außerhalb der Kirche steht. Ich bin zu weltlichen Zwecken affiliirt. Und Sie gestehen mir Das so offen? hatte Helene erstaunt gefragt. Warum sollt' ich denn verhehlen, was Sie wissen, war seine Antwort gewesen; verhehlen, setzte er hinzu, was Sie verschweigen werden! Die Vorsicht, die ich brauche, daß ich in philanthropischen Zwecken, zur Verbesserung der sittlichen Gefangenenpflege, reise, öffnet mir viele Thüren: selbst die Thüren der Gefängnisse sind nicht unwichtig. Man entdeckt dort oft Menschen, die gewandt und brauchbar sind. Helene wies ihn mit dieser Moral entsetzt zurück; aber er hatte ihr damals in französischer Sprache gesagt:

Liebe Comtesse! Sie müssen diese Welt betrachten wie ein großes Chaos, in das die Vernunft, die Philosophie, die tausendfach verzweigte gute Absicht der Menschen Licht und Frieden bringen wollen. Ich habe früher als Protestant, als Erzieher zu diesem Zwecke der vernünftigen Verständigung mitzuwirken gesucht und meine Überzeugung war zuletzt die, daß ich das Übel zur eignen Qual nur vermehrte. Da lernt' ich Jesuiten kennen und fand eigenthümliche, am Dasein merkwürdig erfreute Menschen. Sie reisten und wandelten da und dort. Hier kannte man sie, dort nicht. Sie hatten Zwecke, deren Nothwendigkeit [1951] sie nicht untersuchten, deren Durchführung sie unterhielt und sie im Zusammenhang mit einer großen geschlossenen Kette kluger Mitverbundener persönlich stärkte und erheiterte. Ich finde in den Jesuiten die Apostel des reinsten Menschenthums. Was wollen sie denn anders, diese Vielverschmähten, als die Menschen von dem Staate, der sie quält, von der Kirche, die sie verdüstert, etwas lockerer und loser lassen? Was wollen sie herstellen? Nur die große, bequeme Ordnung der römischen Religion, die am Ende, wenn man aufrichtig sein will, nichts als ein freundlicher Verkehr zwischen dem Laien und dem Priester und eine Art von Gewissens-Arkadien ist. Arkadien ist überall, wo es keine Gewissensbisse gibt. Die Jesuiten können, was sie bezwecken, kaum sagen. Es sind die eigentlichen Triebkräfte der Welt, die mehr die Freunde des gedrückten Volkes heißen dürfen als alle Demagogen im Purpur und in der Blouse. Was ist denn Das groß für Sklaverei, zum römischen Stuhle zu gehören? Die leichteste, die lindeste ist's! Eine viel lindere, als der weltlichen Obrigkeit ganz und gar verfallen zu sein, wie Dies nun durchaus der Gang der Geschichte werden soll. Gegen diesen Gang allein stemmen wir uns. Wir wollen nicht Rom retten, sondern den Menschen, der Niemanden, nur Gott gehorche! Wir müssen die absolutistischen Ideen der Könige verfolgen, weil sie den Begriff der Theokratie, d.h. der großen Gottes-Republik der Welt vernichten; aber wir müssen auch die Revolution bekämpfen, nicht weil sie den Kömgen schadet, sondern weil sie [1952] ihnen zuviel nützt, weil sie immer und immer auf Centralisation dringt, weil sie die Menschen zu Maschinen eines großen Staatszweckes macht, von dem die Priester, d.h. die Anwälte des reinen Menschenthums ausgeschlossen bleiben. Lieber Himmel, man spricht von Verdummung, die wir beförderten! Wir finden nur, daß die Menschen selbst nicht wissen, was das Salz der Erde ist. Absolute Staatszwecke, ob die der Republiken oder der Monarchieen, sind nicht das Salz der Erde, und wenn wir sagen, von Rom gehen die Adern, dieses Salzlagers aus, so kämpfen wir ja nicht für den Papst, sondern durch den Papst für die ewige Macht Gottes, die größer ist als die der irdischen Gewalten. Unser Orden denkt viel über die Zeit nach. Es gibt in ihm eine rechte und eine linke Seite. Die rechte verdirbt leider viel, was die linke gut gemacht hat. Es ist so schlimm, daß man den Namen Gottes nicht nennen kann, ohne gleich zu sehen, daß die Menschen niederfallen und darunter die Aufforderung zur Bigoterie verstehen. Unsere Bundesgenossin ist leider die fanatische Religiosität, leider die Verfolgung des rationalistischen Lichtes; allein wir verfolgen das Licht nicht um des Lichtes, sondern um des Leuchters willen, auf dem es gemeiniglich steht, und um der Wände willen, die das Licht gemeiniglich erhellen soll. Eine Aufklärung, die uns verderben will, müssen wir verfolgen und wir verfolgen sie nicht um unsertwillen, sondern zu Gunsten der Menschheit, denn alle Aufklärung bringt wieder neue Anmaßungen, neue Fesseln. Das ewig sich Gleichbleibende [1953] ist Rom. Das mildeste Joch, das nur die Menschen tragen können, ist die Theokratie, und ich gebe die Versicherung, wie die Demokratie erst in's Volk griff, als ein römischer Priester, Lamennais, sie im kirchlichen Style populair machte, so wird auch der Socialismus, von dem Sie, liebe Gräfin, die Grundprincipien kennen werden, dann erst siegreich für die jetzige Gesellschaft anbrechen, wenn ein so hohler Commis-Voyageur-Kopf wie der des Herrn Proudhon von Lyon seine Ideen einem Priester abgibt, der über die Menschheit als Seher, nicht als merkantilischer Buchhalter spricht.

Helene hatte nicht umhin können, dieser Äußerung des Jesuiten einigen Beifall zu zollen. Sie war in der Literatur und den Zeitfragen nicht unbewandert. Ihr Salon war in Paris artistisch-literarisch. Ihr Tisch war von aufgeschnittenen und mit Lesezeichen gezierten Schriften nie frei. Weitläufig ließ sie sich aber auf eine Prüfung nicht ein und erwiderte auch hier von dem Standpunkte, der ihr näher lag:

Was wollen Sie denn aber in diesem Norden? Was gibt es denn hier für Sie zu thun?

Rafflard hatte darauf geantwortet:

Wo fände ein Jesuit nicht ein Feld seiner Thätigkeit! Schicken Sie ihn nach Ceylon, nach Tombuktu, er findet Menschen, Priester, Religionen, Staaten. Wo Andere lehren, Andere glauben, hat auch ein Jesuit zu thun. Wir wissen bei jedem Verhältniß sogleich, wo wir Partei zu ergreifen haben, für wen, für was? Deutschland fängt an, [1954] wie im Mittelalter, wieder der Schwerpunkt Europas zu werden. Es ist das Land, wo beide Principien, das römische und das protestantische, sich die Wage halten. Die Verwirrung ist groß. Es will sich das protestantische Princip, das im dreißigjährigen Kriege wenn nicht besiegt, doch erschöpft wurde, aufs neue erheben, nicht rein als Princip der Feindschaft gegen das katholische, aber doch in den eigenthümlichsten Versetzungen mit allerhand andern Stoffen. Unsere Obern sind Politiker und denken weiter als die erbärmlichen Minister, die jetzt bei uns und hier auftauchen, morgen versunken sind und vergessen. Die Fragen der Zeit gehen weiter als bis zur Herstellung einiger trügerischen, constitutionellen Scheinformen. Auch die Jagd auf Demokraten erscheint uns in der Rüe Jean Jaques Rousseau lächerlich; denn Republiken oder Monarchieen sind uns gleichgültig, wenn doch immer die große Frage wegen der Kirche und des Staates, d.h. des freien oder des gebundenen Menschen auftaucht. Unsere Abgesandte greifen hier und da schon in die deutschen Schicksale ein. Von der Schweiz und Belgien aus wird viel gewirkt und geschürt. Hier, im Herzen des Protestantismus, ist vorläufig wenig Anderes zu thun, als mit gleichgestimmten Bedürfnissen nach Kirchlichkeit anzuknüpfen. Wenn auch ketzerische Kirche ist auf irgend einem gewissen Standpunkte Kirche immer Kirche. Wir hatten schon einige Hofprediger in Deutschland, die Jesuiten waren. Ich will nicht sagen, daß auch hier unter ihnen Affiliirte sind, aber kirchliche, wie soll ich sie nennen, [1955] kirchliche Hochtories gibt es auch hier, und Mehreren, die ich nicht nennen will, steh' ich ziemlich nahe. Ich habe sie in einem gewissen Trotz gegen den gegenwärtigen hiesigen Staat bestärkt. Erst schienen sie zwar erschrocken von der Zumuthung einer offenen Opposition; sie besitzen dafür zuviel Servilismus, angeboren und anerzogen, aber wir gewinnen doch, wenn wir die Kirche überall in Europa frei erhalten vom Staate und ihm nicht, wie schon in dem absolutistischen durch und durch verweltlichten Rußland geschehen, noch gar die Kraft des Prophetenthums, die angemaßte Bischofswürde zuführen. Was hindert uns, nach fünfzig Jahren, wenn hier die Zahl der katholischen Kirchen wächst, einen Bischof einzusetzen? Wir können alte Gerechtsame, alte Proteste wieder geltend machen. Es mag der protestantische Staat in seinem absolutistischen oder radikalen Gebahren forttaumeln, die in den tiefsten Wurzeln doch noch immer nach Rom hin sich verzweigende Kirche, auch die ketzerische, gibt ihm nichts von ihrer Kraft ab, wenn wir sie isoliren. Wir sind hier an Allem betheiligt, an jeder Frage des Cabinets und des Staatsrathes, an der Gesetzgebung für die Provinzen, an der Gestaltung der Gesammtform Deutschlands, an der Übertragung der Lehrämter, an der Richtung des Geschmacks und der Wahl der Lektüre, ja wir haben hier zwei Katholiken, von denen der Eine die Stütze des Throns, der Andere die ganze Hoffnung der Demokratie ist und über deren geheimsten, innersten Gedanken noch ein großes Dunkel schwebt.

[1956] Rafflard gab sich völlig unverdeckt. Einer so offenen, auf ihre Diskretion vertrauenden Sprache – Wie konnte Helene ihr widerstehen? Sie hatte zwar keine Neigung zu solcher Bewährung ihrer Geisteskraft wie Pauline, die von dergleichen Enthüllungen elektrisirt worden wäre, aber die Hingebung Rafflard's glaubte sie doch vollständig zu erkennen, und da sie eine edle Natur war und Vertrauen zu schätzen wußte, so ließ sie den schleichenden Weltmann, der die vertraulichen Manieren eines Beichtigers geltend machte und alle Dinge von dem Zugeständniß einmal nicht zu ändernder menschlicher Schwäche auffaßte, gewähren, nahm ihn öfter an, dankte ihm für die Bekanntschaften, die er ihr zuführte, und hielt seine schonende Sprache über Egon und ihre Liebe für den Beweis eines wirklichen Interesses. Und wenn sie nun auch errathen hätte, daß Rafflard nur die Trennung von ihrem Gatten betrieb, was lag ihr daran? Gut und Geld hatten keinen Werth für Helenen. Einiges mütterliche Vermögen besaß sie. Sich um Anderes, was noch fehlen konnte, zu sorgen, lag nicht in ihrer Natur. Wenn sie in ihre Börse griff, hatte es bis jetzt noch an den nothwendigen Mitteln nie gefehlt. Aber sie blickte nicht einmal so weit hinaus! Sie war befriedigt, daß Rafflard einsah, ihre Liebe zu Egon wäre eine Nothwendigkeit, eine vom Gott der Götter, dem allbindenden Eros, vollendete Thatsache. Wenn sie weinte, war Rafflard traurig. Wenn sie hoffte, verklärte sich auch sein Blick. Was sollte sie da grübeln, denken? O Himmel, das Denken, das Vor und Nach war ihr ja [1957] das Peinlichste! Nur fühlen mochte sie, empfinden, verschweben, wie ein Lichtatom in der Sonne ihrer Liebe, und Alles, das Höchste, das Herrschende war ihr der Moment.

So rückte Egon's Genesung heran. Helene jubelte ihr entgegen wie dem erwachenden Frühling. Jeder, der ein grünes Blättchen der Hoffnung ihr vom Palais Hohenberg brachte, wurde königlich belohnt. Die Bedienten, die Wandstabler's alle durften zu ihr geradezu hereintreten, wenn sie nur zu melden hatten, daß der Prinz eine Stunde gut geschlafen, eine Speise mit Appetit verzehrt hatte. Helene fuhr zu den Italienern, um Früchte, zu den Confiseurs, um Näschereien zu kaufen. Sie war so unkundig der wirklichen Gebrechlichkeit des Menschen, daß sie sich einbildete, Ananas, Trauben, Melonen, alles Das müsse erquicken oder die Verdauung stärken. Sie übte in ihrer Weise einen frommen, der Liebe gewidmeten Cultus, der Rafflard, im Geheimen beobachtet, nicht wenig belustigte. Die meeresschaumgeborene Göttin erhörte Helenen's Flehen. Egon genas und sie selbst, die zarte kleine Gestalt mit den weichen runden Formen, den bewegten, langbewimperten Gazellenaugen, dem glänzenden schwarzen Haare, dem anmuthigen Lächeln, erholte sich wieder von der Wachsfarbe des Grams, die ihren zarten Teint überhaucht hatte, zu dessen ganzer blendenden Weiße.

Es war October. Wohl vierzehn Tage waren hingerauscht in den Wonnen des von Drommeldey und Rafflard allmälig vorbereiteten Wiedersehens. Das Wetter war [1958] gleich nach der Partie von Solitüde, auf die Helenen's Glück folgte, rauh, stürmisch, dann regnerisch geworden. Wo weilte man da traulicher als im Arme der Liebe? Wo war es heimischer als hinter geschlossenen Fenstern, in schönen gefälligen Zimmern, in denen schon Abends ein leichtes erwärmendes Feuerchen knisterte? Da wurde gelacht, gescherzt, geschmollt, das Vergangene durchgesprochen. Da wurden Pläne ersonnen von künftigen Vergnügungen, von Reisen, von Villeggiaturen des nächsten Jahres, von Rom, Neapel! Egon und Helene, Helene und Egon! Nur Beide allein auf der Welt, nur selig in der Liebe, nur liebend wie im Paradiese. Die Vergangenheit wurde mit Schleiern bedeckt. Helene sprach von Louison wie von einer todten Schwester, nichts hatte sie verletzt, kein Stachel war zurückgeblieben, die Gegenwart war ihr Eigenthum: warum nicht Großmuth üben? Nur kleine Seelen sind ja auch für das volle überschwengliche Glück der Gegenwart so undankbar, daß sie, immer mäkelnd über Vergangenes, im Genusse mistrauisch sind und sogar schon über die Zukunft grämeln!

Freilich in diesen Kelch der Freude mischten sich zwei große Wermuthstropfen. Der eine hieß: Die Freunde Egon's! Der andre: Der Ehrgeiz des Geliebten! Beide Tropfen flossen aus derselben Schale, die Helene oft in aufgeregter Phantasie wie eine Giftphiole vor sich schweben sah. Diesen Becher wirst du austrinken müssen und sterben! rief es ihr oft wie von Geisterstimmen. Kalt packte sie dann eine Hand mit ten in's Herz. Sie mußte [1959] aufschreien, weinen – Egon wußte nicht, was geschah und mußte lächeln über Befürchtungen, die ihm ganz grundlos schienen. Ja, Louis, Dankmar, Siegbert, Rudhard waren seine Freunde, täglich sahen sie ihn, sie waren fröhlich, die Jüngern mit ihm das Leben genießend. Den Professor Rafflard hatte Egon abgewiesen. Egon gehörte zu den Menschen, die vielleicht nicht consequent in der Liebe, aber consequent im Hasse waren ... eine starke Art von Menschen, schwer zu behandeln, des Größten fähig und kluger Führung bedürftig. Rudharden aber hatte er auf's neue liebgewonnen. Er fühlte, daß er wegen Helenen's nicht wagen konnte, ihn im Kreise der Familie Wäsämskoi oft zu besuchen, desto öfter sah er den alten trocknen Verstandesmenschen bei sich und freute sich, wie tief und nachhaltig doch der Grund war, den der ernste Mann einst in seine Seele gelegt hatte. Er war weit öfter mit Rudhard als mit den andern Freunden einverstanden. Auch Siegbert konnte wegen der Fürstin Adele, wie Rudhard, nicht anders, als jede Beziehung zu Helene d'Azimont vermeiden. Das war Helenen freilich peinlich genug. Sie sah da immer Menschen mit ihrem Geliebten in Berührung, die sie achten mußte und doch nicht für sich hatte. Oft schlug sie gemeinschaftliche Partien vor, man entschuldigte sich durch das Wetter. Sie sprach von Einladungen, von Diners, von Soupers, wie nur sie, sie dergleichen zu veranstalten verstand. Vergebens! Man hatte Abhaltungen. Dankmar vollends, den sie einige male wirklich sah, machte auf sie einen dämonischen Eindruck. Das war eine [1960] Schärfe im Blick, eine Ironie um die Mundwinkel, eine sichere Art des ideell Exclusiven, daß er sie fast reizte. Sie dachte oft darüber nach: Wie gewinnst du dir diese bedeutenden jungen Männer? Du möchtest wol z.B. von Dankmar wissen, ob seine spröde Schale einen zarteren Kern verbirgt? Sie neckte Egon mit Dankmar's Zurückhaltung und fragte ihn, ob der schöne junge Mann absichtlich von ihr ferngehalten würde? Sein Proceß diente zur Entschuldigung und der einzige Grund, warum sich Dankmar zurückzog, lag doch lediglich nur darin, daß er mit den drei andern Freunden Farbe halten wollte. Sie bauten soviel auf Egon und sahen ihn nun umstrickt von einer entnervenden Liebe! Sie wirkten, sie liefen, sie arbeiteten für ihn und wenn sie ihn für die Wahlen, die Kammern, für ihre idealen Pläne plötzlich zu sprechen wünschten, hieß es: Er ist bei der Gräfin, oder: Die Gräfin ist bei ihm! Das nahm besonders Dankmar, der seine Zeit schätzen lernte, gegen Egon ein und Niemanden mehr als Louis, den Helene deshalb auch geradezu für ihren Widerdämon und für Egon's »böses« Princip hielt. Rafflard hatte den Gedanken einer dauernden Vereinigung in ihr Herz gepflanzt und sowenig eigentlich dieser Plan ihrer Natur entsprach, so ungern sie den armen kranken philosophischen Gatten in Paris zu äußersten Entschließungen veranlassen wollte und lieber auf seinen von den Ärzten für gewiß vorausgesagten Tod wartete, so ergriff sie doch diese Idee ohne alle Rücksicht auf ihre Zukunft eben darum so lebendig, um diesen sogenannten Freunden [1961] ihres Freundes als Alleinherrscherin über Egon zu imponiren und sie durch einen Machtspruch entweder als Untergebene sich zu gewinnen oder sie als Fürstin von Hohenberg ganz entfernen zu können.

Diese vier Männer waren es, die in Egon diejenige Flamme schürten, auf die Helene wie auf die Gunstbezeugungen der schönsten Frau der Erde eifersüchtig war, die Flamme des Ehrgeizes. Ein Weib, das unter solchen Verhältnissen liebt wie Helene d'Azimont, wird niemals ertragen können, daß sich der Gegenstand ihrer Liebe theilt. Nur die Liebe, die die Sitte heiligt, erträgt im Mann den Aufblick zu einem großen Berufe und jene getheilte Stimmung, die immer im Gefolge eines Wirkens für die Welt sein wird. Die sittenreine Liebe erfaßt den ganzen Menschen, nicht den sinnlichen nur. Sie wächst mit seinem Wachsthum empor. Sie schmiegt sich wie der Epheu zu den Ästen des Baumes hinan und folgt ihm bis in die Krone seiner Triebkraft. Der Ruhm ist wol eine schöne Zugabe zu jedem Verhältnisse zwischen Mann und Weib. Aber der Ruhm will erworben, will behauptet sein und an die stille Werkstatt des Geistes soll da die Liebe nie zur unrichtigen Stunde pochen! Egon war nicht der Mann, der seinen Ideen entsagt hätte, um einer Liebe willen! Er lächelte wol zu Helenen's Befürchtungen und sagte ihr oft: Du fürchtest nur mein graues Haar, das sich schon durch mein Fieber lichtete, fürchtest die Nachtwachen, denkst an die Staatsmänner, die du kennst, die nach ihrer ersten Rede zehn Jahr jünger und nach der minder gutaufgenommenen [1962] zweiten zehn Jahr älter wurden! Dazu schüttelte Helene den Kopf. Sie sagte, daß Egon immer schön sein würde, aber sie müsse ihn allein haben! Wie litt sie schon jetzt unter diesen Vorbereitungen zur Wahl in die Kammer! Welche Verhandlungen, welche Zeitverluste, welcher Ärger, welche Absorption der Gedanken! Sie wollte Egon nach Italien entführen. Er dachte nicht daran, ihr zu folgen. Er gönnte sich nicht einmal die Zeit, in Hohenberg, wie er gewollt, Ackermann zu besuchen, von dem er soviel Treffliches und Beruhigendes erfahren hatte.

Seit einigen Tagen erlebte sie noch vollends, daß Egon, der schon von den vier Männern genug in Anspruch genommen war, mit Pauline von Harder in eine Beziehung kam, die sie nicht verstand. Rafflard sagte ihr zwar: der Fürst ist nun gewählt, er ist in die Kammer getreten, Pauline von Harder spielt eine neue politische Rolle, es sammeln sich Männer von Ruf und Einfluß in ihrem Salon- Nein, nein, hatte sie ihm geantwortet. Das kann es nicht sein! Sie haßten sich doch! Er nannte sie die Todfeindin seines Hauses und sie beklagte es ewig, daß ich einen Mann liebte, der ihre beste Freundin aus Familieninstinct verfolgen würde! Nun sind sie einig. Jeden Abend haben sie ein tête-à-tête! Was ist Das? ... Ein tête-à-tête, an dem Heinrichson nicht theilnimmt, doch nicht etwa? hatte Rafflard mit Lachen dazwischen geworfen ...

Er wollte damit sagen, daß Heinrichson viel öfter bei Helenen, als noch bei Paulinen war und der Gräfin eine große Aufmerksamkeit widmete ...

[1963] Helene hatte dagegen nichts eingewendet, als daß sie flüchtig von einem jungen Mädchen, einer wahren Schönheit sprach, die seit einiger Zeit von Egon erwähnt würde als Verschönerung der Cirkel der Geheimräthin ... Melanie Schlurck! Rafflard hatte darauf nichts erwidert als den einfachen Vorschlag: Helene sollte, da die Verhältnisse doch nun in der That dringend und schwierig würden, gegen Egon mit offener Sprache heraustreten und von ihm eine Erklärung über ihre beiderseitige Zukunft verlangen! Helene, gereizt durch die Erinnerung an Melanie Schlurck, fand diesen Rath weise, hatte ihn in der That befolgt und harrte nun an einem Octobermorgen, der sich freundlicher anließ als die bisher vorübergegangenen Wochen, auf den Besuch des Vertrauten, dem sie die Ergebnisse einer gestrigen Unterredung mit Egon mittheilen, vielleicht gar den Auftrag zu einer Scheidung geben wollte zwischen ihr und dem Grafen d'Azimont.

[1964]
2. Capitel. Eine Intrigue
Zweites Capitel
Eine Intrigue

Die liebliche junge Frau lag in einem sehr gefälligen Schlafrock von weißem Kaschmir, bunt gefüttert und mit Bordüren besetzt, auf dem Sopha und blätterte in Briefen und Sendungen, die sie von Paris erhalten hatte. Die Herbstsonne hatte sich wieder eingestellt und fiel neubelebend und so erwärmend durch die Fenster, daß man von den Rosetten die Vorhänge lösen mußte, deren gelber Schein dem weißen Teint Helenen's einen zarten orientalischen Überhauch gab. Auf dem Tische vor ihr stand eine Vase mit Blumen, die sie sehr liebte. Mit Ungeduld blickte sie auf eine Pendüle, die über dem geöffneten Schreibbureau stand und schon auf elf zeigte. Sie erwartete Rafflard. Der Bediente brachte bald diese, bald jene Meldung. Die Modistin wurde an ihr Mädchen verwiesen. Concerte, zu denen sie die Billets nahm, ohne sie zu besuchen, wurden rasch bezahlt. So oft sie fühlte, daß der Zeiger der Pendüle doch auch gar zu langsam vorrückte, sprang sie auf, daß die Troddeln und Schnüre ihres Schlafrocks klapperten und setzte sich an ein geöffnetes Piano, das in einer Ecke des Zimmers stand und phantasirte in Tanzrhythmen eine Weile auf und ab. Dann fiel ihr ein, [1965] dieser oder jener neuen Bekanntschaft rasch ein kleines Billet zu schreiben, einen Roman zu schicken, über den gesprochen wurde, oder sie jagte die Diener, Dies und Das zu besorgen. Endlich gaben ihr einige Zeilen von Heinrichson eine veränderte Stimmung. Heinrich Heinrichson schrieb ihr, daß er drei der gemeinschaftlich gearbeiteten Bilder in zierlichen, entsprechenden Rahmen mitbringen würde und schloß seinen Morgengruß mit einigen Worten, die in seinen vielen, an Helenen schon gerichteten Briefen immer Dasselbe sagten, nämlich, daß sie schön, gut und liebenswürdig wie ein Engel wäre, Huldigungen, die jedesmal eine neue Wendung hatten, seine Weltbildung und Esprit verriethen.

Endlich war Rafflard da.

Eilig, wie bei Helenen immer, trat er ein, nachdem ihn sein Husten schon im Vorzimmer angekündigt hatte. Rafflard war es in seinem langen, plumpen, ungeschlachten, tappigen Wuchse. Die weiße Halsbinde um den Hals, der schwarze Frack, die weiße Weste, die weißen Handschuhe milderten etwas die hartknochige und unedle Physiognomie. Von der Seite aus gesehen, würde man ihn, wenn er etwas korpulenter gewesen wäre, leicht für einen verkleideten Kapuziner haben halten können.

Rafflard küßte Helenen die Hand und überreichte ihr einen Strauß von frischgeschnittenen Orangenblüten.

O, rief sie, das haben Sie gut getroffen, Professor! Diese Blüten versetzen mich nach Italien. Den nächsten Carnaval feir' ich in Rom.

[1966] Mit –? fragte Rafflard gedehnt.

Mit? Mit Egon? Sie haben ihn verleumdet, Professor! Er liebt mich wahr und treu und kann mir jedes Opfer bringen. Wie heiter, wie glücklich schloß gestern die Stunde, als ich mich an ihn schmiegte und die schwierige Aufgabe sich vom beklommenen Herzen trennte ... Aber Alles ist erörtert, besprochen, entschieden! Setzen Sie sich, Professor. Trinken Sie Chokolade?

Danke, meine Freundin! Erzählen Sie, sagte Rafflard und spitzte die Ohren.

Ich schelle ... Cacao?

Meine beste Gönnerin, ich habe heute schon einige Gefängnisse besucht und mir die Morgensuppen der Verbrecher zu kosten erlaubt. Sie können sich denken ...

Also Maraschino!

Helenen's Gutmüthigkeit war schon in Bewegung zu schellen. Der Bediente kam. Sie gab ihm einen Wink. Er verstand, was sie sagen wollte. Rafflard lächelte erfreut. Die Verbindung mit Egon war das Werk, das er um jeden Preis zu vollbringen hatte ...

Sie sollen überrascht werden, sagte Helene; ich will nicht, daß Sie einen schlimmen Tausch gemacht haben, als Sie statt mit der Mama mit mir vorliebnehmen mußten ...

Der Bediente brachte ein Kästchen, das sie öffnete. Rafflard war überrascht. Gerade ein solches Kästchen stellte jeden Morgen die alte Gräfin d'Azimont auf ihren Tisch, wenn Rafflard seine erste Visite auf dem Quai d'Orsay machte und sie gemeinschaftlich kleine Pasteten [1967] aßen. Es befand sich darin ein halbes Dutzend Krystallflaschen mit Likören, kleinen Gläschen, einem silbernen Teller, Alles sehr zierlich und höchst portativ eingerichtet.

Rafflard hustete jetzt gerade sehr; dann aber küßte er der jungen Gräfin die Hand und fand diese Idee, einen Comfort der alten Schwiegermama hierher zu verpflanzen, allerliebst. Der Bediente kredenzte. Rafflard stärkte sich an Maraschino und klagte dabei über den verdammten Geschmack, den er von der Gefängnißsuppe noch im Munde hätte. Die Zunahme seines Hustens erklärte er folgendermaßen:

Ich war vorgestern in der benachbarten Festung Bielau in einem Loche, das man vor dreißig Jahren in dieser schon damals doch sehr aufgeklärten Verwaltung ein Gefängniß nannte. Denken Sie sich, meine Gnädige, eine Höhle unter dem Niveau eines übelriechenden Flusses. Man zeigte mir eine jetzt vermauerte Nische, durch die sich ein gefährlicher Verbrecher, der verurtheilt war, in einer solchen Cloake zu leben, in den Fluß durchgebrochen hatte. Er soll, da das Wasser auf ihn hereinströmte, ertrunken sein. Die feuchte Atmosphäre liegt mir noch auf der Brust. Doch, liebe Helene, erzählen Sie nur!

Helene nahm auf ihrem Sopha Platz und schickte sich an, dem ehemaligen Lehrer, dessen vertrauter Ton ihr eine angenehme Erinnerung an die Jugendtage von Osteggen war, von dem gestrigen Abend Bericht zu erstatten.

Ich bin ganz Ohr, sagte Rafflard und nippte an seinem [1968] Maraschino, den er sehr lobte und dabei still vor sich hin sagte:

Echter Zara!

Mein Entschluß, begann Helene, stand gestern fest. Es hatte mich zu tief verletzt, daß mich vorgestern Egon warten ließ, während er zu Paulinen fuhr und dort wie ich höre en petit comité mit ihr und dem schmuzigen Schriftsteller – wie heißt er?

Guido Stromer –

Zu Nacht aß –

Sie vergessen Fräulein Melanie Schlurck.

Helene erröthete, daß Rafflard's Chronik doch auch gar zu gewissenhaft war und unterbrach ihn mit aristokratischer Aufwallung:

Was weiß ich, wer sich Alles mit gemeiner Berührung an den Prinzen klettet! Genug, ich hatte Ihren Rath und meine eigene Eingebung für gestern zusammengenommen und beschloß, ihm den ganzen Zustand meiner Seele offen und treu zu enthüllen. Vormittag war er in der Kammer-Sitzung ...

Nachmittag in dem volkswirthschaftlichen Ausschuß, in dem er einstimmig als Präsident gewählt worden ist ...

Erst um acht Uhr kam er nach Hause, wo ich ihn erwartete. Er kam, begleitet von seinen Freunden, die nicht übel Lust zu haben schienen, zu bleiben. Ich sagte ihm sehr entschieden: Mein lieber Freund, ich bitte dich, sei heute der Meine! Außerordentlich liebenswürdig küßt' er mir die Hand und entließ die Aufdringlichen, Unausstehliehen, [1969] Widerwärtigen! Egon war verstimmt. Egon, sagt' ich, du hast Kummer. Ja, antwortete er. Entdecke dich mir! Was hast du seit acht, seit vierzehn Tagen? Du bist mein Egon nicht mehr. Ich weiß es, daß man mir dich rauben will, Egon? Raubt man dich dir selbst?

Sehr fein! unterbrach Rafflard.

Er lächelte ...

Wie billig über den Ausdruck!

Und reichte mir die Hand ... Ja, Rafflard, glauben Sie mir's, er war dem Weinen nahe.

Egon?

Triumphirend fuhr Helene fort:

Mein Egon sagte: Helene, ich bin nicht glücklich. Denken Sie sich meinen Schmerz über dies Geständniß, Rafflard! Ich sank ihm zu Füßen, ich bedeckte seine Hände mit Küssen. Egon, sagt' ich, du leidest! Warum leidest du? Weil du andre Quellen des Glücks suchest als im Arm deiner Geliebten! Warum diese politische Laufbahn? Sich gleichstellen mit dem Pöbel? Ich habe der ersten Sitzung beigewohnt, habe dich gesehen unter Bauern, Pächtern, Gastwirthen ... ah, mein Freund, welche Verwirrung!

Ich bin gespannt. Sie sind hier aristokratischer, Helene, als Sie es in Paris waren ... unterbrach der Neophyt.

Er gab mir Recht, Rafflard!

In der That? Egon ist Sozialist, denk' ich?

Er sagte: Helene! Ich fühle wie du! Ich bin nun acht Tage in der Kammer. Was ist geschehen? Nichts! Man streitet über die erbärmlichsten Förmlichkeiten. Jeder [1970] ringt nach Einfluß, nach Geltendmachung seiner geringfügigen Persönlichkeit, und so bedeutend manche Intelligenz ist, ich habe gefunden, daß sie in den Schatten tritt gegen Denjenigen, der eine starke Lunge hat und seine Trivialitäten mit einer Stimme, die durchdringt, geltendmachen kann.

Gut! Er kommt zur Erkenntniß –

Ich sagte ihm: Egon, du wirst deine Ruhe, deine Heiterkeit preisgeben, wenn du dich nicht von diesen fruchtlosen Kämpfen losringst. Seit du Paulinen kennst und dich mit ihrem gefährlichen, unternehmenden Geiste ausgesöhnt hast, ist der Friede deiner Seele gewichen. Er seufzte und sah mich schmerzlich an, mit einem Blicke, Rafflard, so voll Rührung und Vernichtung, daß mir die Stimme erstickte und ich alle meine Vorsätze vergaß –

Aber ...

Was verlangst du von mir, Helene? sagte er nachdenkend. Egon, das Erste, was ich verlange, ist, daß du mich liebst! Und dann, fügte ich lächelnd hinzu, daß du dich entschließest diese Stadt zu verlassen, mit mir nach Italien zu gehen und dort, wenn mein Bund mit d'Azimont gelöst ist, unsere Liebe legitimirst.

Ich höre mit hundert Ohren – sagte Rafflard und lauerte auf die entscheidende Antwort des Prinzen, um sie noch heute an den Quai d'Orsay nach Paris zu berichten.

Helene, in völliger Sicherheit sich wiegend und bei Rafflard nur die Theilnahme für ihr Glück voraussetzend, fuhr fort:

[1971] Egon nahm diese Worte nicht stürmisch, aber auch nicht kalt auf, Rafflard, und ich fand dies ermuthigend für mich. Es ist doch, meinen Sie nicht, Professor, es ist doch ein Entschluß für das Leben, den ich von ihm verlangte? Du stellst mir Alternativen? sagte Egon ruhig lächelnd und fügte hinzu: Helene, Das ist doch eigentlich nicht schön von dir und nicht deiner würdig, nicht Helenisch! Lieber Egon, sagt' ich, ich stelle dir keine Alternativen. Ich werde dich lieben, das weißt du, auch wenn du mich mit Füßen trittst. Leider kennst du meine Schwäche. Aber ich will dein eigenes Glück. Ich ehre dein sittliches Gefühl, es quält dich, mich nicht durch die Bande der Ehe an deine theure geliebte Person gekettet zu sehen. Oder willst du die Ehe selbst nicht, laß uns wenigstens nach Italien gehen und unter milderen Voraussetzungen, als die hier üblichen sind, glücklich leben. Dieser Boden kann niemals die Heimat meines Glückes werden – Das fühl' ich, Egon ... Ich konnte nicht weiter; denn Thränen erstickten meine Stimme ...

Sie sind noch jetzt gerührt, Helene! Fassen Sie sich! sprach Rafflard in größter Spannung. Er war Menschenkenner genug, Egon's Antworten keineswegs so beruhigend zu finden, wie sie sich Helene dachte ...

Egon war sehr lieb, sehr gut, Rafflard! Wirklich, er zog mich an sein Herz und sah mir so kindlich in's Auge, so gut, wie in unsern glücklichsten Tagen am See von Enghien. Helene, sagte er, wie ich dich liebe, weißt du! Ich mache mir Vorwürfe, daß mein Herz getheilt ist. Ich bin nicht so [1972] sehr Egoist, daß ich dir nicht nachempfände, wie es dich schmerzen muß, mich in so vielen Beziehungen zu wissen, die in keiner Verbindung mit den zarten Fäden stehen, in denen dein Herz sich einzuspinnen liebt. Auch meine Beziehung zu Paulinen erfreut dich nicht. Ich bin aus mancherlei Rücksichten verpflichtet, wenn nicht die Freundschaft, doch die Schonung dieser Frau zu wünschen. Sie hat sich mir mit großer Hingebung anvertraut ...

Sie wird ihn benutzen, so lange er gilt, schaltete Rafflard ein, um Helenen's Befremden über Das, was sie selbst erzählte, zu mildern; sie wirft ihn weg, wenn er sich überlebt hat, was in unserer Zeit und bei der Gattung von Politik, die jetzt auf dem offnen Schauplatze getrieben wird, das Werk eines halben Jahres ist.

Er selbst, fuhr Helene fort, räumte mir die gleiche Bemerkung, die ich machte, gern ein und verwünschte den Einfluß, unter den er so plötzlich gerathen wäre. Ich sprach nun von seinen Freunden ... mit Energie, mit Zornesworten flammt' ich auf. Ja Rafflard, ich glaube, daß sie anfangen ihm lästig zu werden.

Rafflard horchte ungläubig ...

Doch! Doch! Er sprach von großer Verschiedenheit der Ansichten und von chimärischen Auffassungen, die auf dem Boden der gegebenen Verhältnisse nicht Stand hielten. Er hatte, Sie kennen diese Pläne, sich vorgenommen, fast alle seine Leute zu entlassen, sein Hauswesen bis zur Entsagung eines Diogenes zu vereinfachen. Alle diese Pläne sind aufgegeben. Er wird seinem Stande gemäß [1973] leben und sich sogar nicht scheuen, in Hoffnung auf seinen umsichtigen Generalpächter, Ackermann, mit dem Bankier Reichmeyer ein neues Geldgeschäft zu machen ...

Rafflard hörte nur und hustete ...

Ich gebe Ihnen mein Wort, Rafflard, er sprach so vernünftig, so klar, so seinem Stande angemessen ...

Und die Heirath? unterbrach der Späher ...

Freund, ich mochte doch nun auf dies Thema nicht wieder gewaltsam zurückkommen! Er vermied es nicht. Nein! Aber ich begnügte mich, ihm nur meinen Refrain: Italien! Italien! zu wiederholen. Und da versprach er mir, allen diesen Beziehungen, die ihn hier fesseln, hier zerstreuen, meiner Liebe entziehen, sobald es irgend mit seiner Ehre vereinbar wäre, zu entsagen und mit mir über die Alpen zu ziehen. Ist Das nicht himmlisch?

Rafflard stand auf. Er war mit diesem Ergebniß nicht im Geringsten zufrieden. Er sah, wie leicht die eigenthümliche Natur Helenen's zu täuschen war. Doch hütete er sich wohl, ihren Verdacht zu wecken und seine Zweifel zu laut auszusprechen. Er räusperte sich, hustete und wiederholte nur:

Sehr schön! Sehr schön! Helene wird so glücklich werden, wie sie es verdient. Sehen Sie Italien! Ich wünschte, ich dürfte Sie begleiten und Abends auf dem Corso von Florenz spazieren gehen.

Mit einem raschen Übergang kam Rafflard auf Briefe, die vor Helenen ausgebreitet lagen und Pariser Poststempel trugen. Er wußte schon, daß der Graf todtkrank [1974] war. Seine Mutter hatte ihm geschrieben und die dringendste Eile für die Verbindung Helenen's mit Egon angerathen. So stellte er sich unwissend und fragte, was sie von Paris Neues hätte ...

Desiré ist sehr leidend, sagte Helene. Die Ärzte wollen ihm kein Jahr mehr geben. Ich lese mit Rührung die Scherze, die er mir schreibt. Er ist so gut! Er will mich unterhalten, und hofft, daß ich glücklich bin!

Glücklich? In Italien? Zum Carnaval? Nicht? Desiré hört es vielleicht gern, wenn Sie mit ihm von Egon's politischen Plänen sprechen?

Rafflard warf diese Worte so lauernd und forschend hin, um ihre Wirkung zu beobachten ...

Nein, nein! rief Helene gequält. Die Kammer gefällt Egon wirklich nicht. Er wird die lästigen Freunde abschütteln. Wir sehen keinen deutschen Winter mehr. Ich schreib' es Desiré. Ich sehe Egon in Italien.

Rafflard zog die Augenbrauen in die Höhe und trat nun, da er Helenen zu befangen, zu beherrscht von Egon's gewaltiger Persönlichkeit sah, machtvoll mit der entschiedensten Ungläubigkeit hervor.

Guter Engel! sagte er mit schneidender Schärfe, Sie sind, wie ich Sie immer gekannt habe. Ich habe Ihnen in Osteggen Märchen erzählt von Menschen, die so groß sind, daß sie in einem Fingerhut wie in einem prächtigen Palaste wohnen können, von Riesen wieder, die so groß sind, daß sie über den Arc de l'Etoile hinweg den Tuilerien guten Tag! sagen könnten ... Sie haben an die Zwerge [1975] geglaubt und haben an die Riesen geglaubt. Wissen Sie, daß, so lange Egon in den Händen Paulinen's, Guido Stromer's, Rudhard's, der Gebrüder Wildungen und dieses melancholischen Brutus Louis Armand ist, für Sie keine Hoffnung blüht, kein Glück, keine sichere Stunde der Zärtlichkeit, keine Minute jener phantastischen Idyllen, die jeder empfindenden Frau vom Glücke der Liebe unzertrennlich sind? Egon sagt, die Politik ekle ihn schon an? Ich war einen Augenblick, als ich aus den Gefängnissen kam, auf der Zuhörertribüne der Kammer. Wissen Sie, daß Alles gespannt ist auf eine Rede, die Egon heute oder morgen halten wird? Er ist Berichterstatter des volkswirthschaftlichen Ausschusses und wird über Dinge, die er versteht, seine Meinung sagen. Alles ist Ohr, der Hof wartet mit Sehnsucht, wie sich der von ihm so ausgezeichnete Fürst entwickeln wird. Glauben Sie, daß ihn diese Spannung nicht heben, nicht begeistern wird? Er wird Triumpfe ernten und bald von dem Weihrauche der Parteiengunst so betäubt sein, daß er aus diesen Absorptionen nicht mehr herauskann, wenn er auch wollte. Arme Helene!

Helene d'Azimont verzog ihre Mienen, als hätte sie den Schmerz der Kleopatra gefühlt, als ihr unter Blumen die Schlange in die entblößte Brust stach ...

Sie sind furchtbar! Sie tödten mich! hauchte sie fast wie hinsterbend.

Dann aber regte sich plötzlich die Wallung des Stolzes. Ihre leidenschaftliche Natur empörte sich, sie sprang auf.

[1976] Ihre Brust wogte, ihre Augen funkelten .... So sanft sie sein konnte, wenn ihr Alles nach Wunsche ging, so gläubig sie sich beschwichtigen ließ, so leidenschaftlich konnte ihr Unmuth hervorbrechen, wenn sich ihrem verwöhnten Willen nur das geringste Hinderniß entgegenstelle. Hier nun handelte es sich um Etwas, was ihr die Aufgabe ihres Lebens schien. In tobender Ungeduld, die Briefe, Zeitungen zerknitternd, wegwerfend, im Zimmer auf- und abschreitend, brach sie los und rief, fast wie Norma, dies Ideal der modernen starken Frauen, in der Oper:

Bin ich denn der unglücklichen Priesterinnen des Alterthums Eine, die die Flamme am Altare der Liebe in ewiger Glut erhalten sollen und von Dem, der ihre Sehnsucht ist, ihr Leben, ihr Tod, ihr Verbrechen, ihr Alles, betrogen werden? Ich wüßte keinen Felsen am Meere, der zu hoch wäre, daß ich mich von ihm aus Verzweiflung nicht in die Fluten stürzte! Wehe mir, was hab' ich dieser Liebe nicht geopfert! Losgerissen hab' ich mich vom Sterbebette eines guten Menschen, der in seinen letzten Stunden auf die liebende Sorgfalt meiner pflegenden Hand angewiesen ist; Urtheil, Achtung der Menschen hab' ich in die Schanze geschlagen – was sind sie mir denn Alle, die auf der Erde sind außer dem Einen, den ich liebe, wie meinen Herrn und Gott! Hätte mir der Himmel ein Kind gegeben, ich würde wissen, wohin ich diese Regungen der Liebe und Zärtlichkeit niederlegte, wie an einen Altar! Ich würde es pflegen, an's Herz drücken, über seinem Athem wachen und nur in ihm leben, in seinem Lallen, in seinem lachenden [1977] Auge ... Nun hab' ich aber auf dieser ganzen Gotteserde nur Egon – nur ihn! Egon! Egon! Und Der liebt mich nicht mehr!

Das heftigste Schluchzen unterbrach diese Verzweiflung und erstickte Helenen's Stimme. Die Liebe war stärker als ihr Zorn. Übermannt von ihrer Empfindung warf sie sich auf das Sopha und drückte ihr weinendes Antlitz an die sich feuchtenden Polster ...

Rafflard konnte nichts thun, als sie anfangs sich ruhig dem Ausbruche dieser Empfindungen überlassen und mit scheinbar schmerzlicher Theilnahme laut seufzend ihrer verzweifelten Stimmung Nahrung geben.

Dann aber erhob er sich und bat sie, ihm zuzuhören.

Liebe Gräfin, sagte er, ich muß Sie jetzt tadeln ...

Mich tadeln? Warum? Mich noch tadeln!

Weil Sie von Egon das Unmögliche begehren! Geben Sie die Ideen von einem Alleinbesitz des Geliebten auf! Aufrichtigst! Sie leiden an einer Überfülle von Romanenstoff, dem Sie die Huldigung bringen wollen, ihm nachzuleben! Diese abscheulichen Poeten! Warum können Sie sich nicht Ideale eigener Art erfinden? Sie, mit Ihrem reichen Geiste, mit Ihrer reichen Phantasie –

Ah, unterbrach ihn Helene, ich bin arm. Ich bin nur reich an Liebe.

Und werden reich an Unglück sein, wenn Sie mir nicht folgen. Was wollt Ihr jungen Frauen mit Eurer Manie, auf italienischen Seen zu schwimmen, in Rom an den Wasserfällen von Frascati sich zu umarmen und ein schwelgendes [1978] sybaritisches Leben zu führen? Finden Sie sich doch in Egon's Natur, in Egon's Aufgabe! Ist es denn so unmöglich, daß Sie dieser politischen Laufbahn des Geliebten folgen, sich ihr aufmerkend anschließen? Gehen Sie doch auf seine Pläne des Ehrgeizes ein! Geben Sie doch diese ungeheure Sehnsucht nach romantischem Glücke auf! Ich spreche im Tone des Erziehers ...

Als Jesuit! Als kalter Rechnenmeister, der das Herz immer mit dem Verstande in Einklang zu bringen sucht ...

Damit die Rechnung aufgeht und kein ... Bruch entsteht ...

Bruch?

Helene wiederholte dies Wort, als wenn der falsche Rathgeber das Entsetzlichste gesagt hätte.

Bruch! wiederholte sie und zitterte wie vor einem drohenden Messer und ihre Lippen blieben starr und offen ...

Sie selbst, liebe Helene, fuhr Rafflard ruhig fort, Sie selbst arbeiten auf dies Ende hin. Trauen Sie mir, einem Menschenkenner! Egon ist ehrgeizig, verbinden Sie sich mit dieser seiner Leidenschaft. Werden Sie ihm ein Werkzeug, ein Bundesgenosse seiner Zukunft! Ich sprach Gelbsattel, der scharf beobachtet. Er sagte mir, Egon würde zwar das Ministerium stürzen helfen, aber nicht im Interesse der Demokratie ... er hat mit Guido Stromer gesprochen, der die Fülle conservativer Elemente in Egon bewundere. Gefährlich nur sind für Egon's Entwickelung zum Höchsten seine Umgebungen. Entfernen wir diese, so haben wir ihn und sein Schicksal in der Hand. Ich [1979] möchte doch wohl wissen, ob die Gräfin d'Azimont, Freiin von Osteggen, ich will sagen, wenn es sein muß, geschieden von ihren französischen Verhältnissen, verbunden mit Egon durch das Band der Sitte, der Kirche, nicht im Stande wäre, mit einer Egon's Stande geziemenden Laufbahn gleichen Schritt zu halten! Noch kann Egon nicht daran denken, Sie zu opfern, Helene! Noch liebt er sie zu innig. Jetzt ein rascher Entschluß! Legitimiren Sie dies Verhältniß, geben Sie Italien, Balzac, die Romantik auf, schließen Sie sich Paulinen und seiner politischen Caprice an und Egon bleibt Ihnen und wer weiß nicht wem Allem gerettet!

Rafflard schwieg lauernd. Sein Husten hatte ihn in der Ekstase verlassen ...

Helene schaute voll Wehmuth. Sie versetzen Berge! sagte sie dann leise und doch schon vor Wonne über die Möglichkeit einer solchen Wendung ihres Verhältnisses bebend. Entfernen Sie die lästigen Umgebungen – das thut sich auch so! Sitzen diese Menschen nicht wie die Kletten an ihm? Das sind seine Arme, seine Hände! Mit denen wirkt er; die heben ihn, die tragen ihn! Egon weiß sehr wohl, es gibt heute keine Erfolge ohne Faiseurs, ohne Gallopins! Die müssen für ihn vollbringen, was er nur angibt; die trennen ihn von mir. Wie sind sie zu entfernen? Man muß Scheidekünstler sein! Chemische Dinge erfinden, sagte Rafflard und strich sich die Perrücke über die Stirn, man muß Dinge erfinden, die Egon plötzlich isoliren – er steigt auch ohne diese Menschen.

[1980] Wie wollten Sie nur z.B. den einzigen Rudhard entfernen?

Rudhard fürcht' ich am wenigsten; sagte Rafflard. Rudhard ist conservativ. Warum sollt' ich nicht wünschen, daß Helene Osteggen sich mit der Schwester durch einen Akt des Anstandes aussöhnt?

Helene lachte hierauf bitter und verächtlich, aber doch geschmeichelt von den neuen Möglichkeiten. Mit wiedergewonnener Laune sagte sie:

Die gute Schwester folgte mir vielleicht in der neuen Ehe und ließe sich herab, die Frau eines Malers zu werden.

Diese Beziehung auf Siegbert Wildungen verstand Rafflard sehr wohl. Schmunzelnd sagte er:

Sie sind eifersüchtig auf die gute Adele! Siegbert Wildungen hat etwas, was Sie an den Lago di Como, die Borromäischen Inseln und den Golf von Neapel erinnert! Wenn man es dahin bringen könnte, daß die ganze Wäsämskoi'sche Familie mit dem blonden Siegbert über die Alpen zöge und noch viel früher in Rom wäre, ehe von der Engelsburg die große Girandole aufprasselt ...

Helene empfand den bittersten Neid auf dies Glück.

Sie wollen mich tödten, sagte sie. Sie wären Jesuit genug, mich durch dies Glück einer Andern zu foltern!

Beruhigen Sie sich, Helene, antwortete Rafflard über diese Frau kopfschüttelnd. Rudhard ist für diese Art von Poesie zu sehr im alten klassischen Geschmack. Wir wollen schon zufrieden sein, wenn Siegbert und Dankmar [1981] von Rudhard sich entfernen und ein Zwiespalt unter den Freunden selber eintritt ...

Sylvester Rafflard dämpfte die Stimme und trat mit seinen verschmitzten Absichten deutlicher hervor ...

Rudhard empfängt, sagte er, heute, wo man, wie ich höre, ein kleines Gartenfest bei den Wäsämskoi's feiern wird, wenn sich das Wetter hält, vielleicht um diese gegenwärtige Stunde schon ein Billet, natürlich anonym, und von einer Hand, die er nie enträthselt, worin er aufmerksam gemacht wird, daß die Gesellschaft erstaune über Dinge, die unter seinen Augen zwischen einer Mutter, einer Tochter und einem jungen Maler sich ereigneten ...

Boshaft! fiel Helene ein.

Die nächste Folge dieser Mahnung ...

Wirklich Olga und die Mutter? Ist Dem so, Rafflard?

Die nächste Folge dieser Mahnung ...

Das arme Kind ist so unglücklich, den Gegenstand ihrer Neigung sich von dieser Mutter geraubt zu sehen?

Die nächste Folge dieser Mahnung ...

Diese Olga! Ich möchte sie kennen lernen! Meine Nichte! Was ich von dem Kinde höre, interessirt mich ... ich fühle, daß ich diesem charaktervollen Mädchen eine zärtliche Mutter sein könnte ...

Die nächste Folge dieser Mahnung ist ohne Zweifel eine Scene zwischen Rudhard und der Fürstin oder der Fürstin und Olga oder Olga und Siegbert – enfin, man wird einsehen, daß man sich Opfer zu bringen hätte ... Siegbert [1982] wird sich von Rudhard und den Wäsämskoi's zurückziehen.

Falsch, falsch gerechnet, rief Helene, wenn Olga ihrer Tante gleicht!

Nun, sagte Rafflard, ruhig den ungeschlachten Kopf wiegend, dann entflieht sie! Dann muß ihr Rudhard folgen, der trifft das Mädchen ... wo denken Sie wohl Helene? In der neugebauten Kirche zu Schönau, einem Hohenbergischen kleinen Städtchen, wo Propst Gelbsattel eine große leere, weißgetünchte Wand entdeckt hat, die der Kunstverein beschlossen hat, mit einem Freskobilde zu zieren, dessen Ausführung man Siegbert Wildungen überträgt. Man hat in dem Album der Frau von Trompetta die Skizze des Nikodemus, der bei Nacht zum Herrn kommt, allgemein so schön gefunden, daß Siegbert sein Freskobild ganz nach dieser Zeichnung ausführen kann. Diese Arbeit nimmt ihn den ganzen nächsten Sommer in Anspruch. Einstweilen reist er nach Schönau und besichtigt die Lokalität, bleibt aber, mannichfach gebunden, so lange dort, bis er etwas noch drei oder vier alte im Brande gerettete Bilder restaurirt hat, die bis zum Einweihungstage jener Kirche fertig sein sollen, den man spätestens am Luthertage, Martini, also den 13. November, anzusetzen wünscht ...

Ich erschrecke vor Ihnen, Rafflard, rief Helene erstaunt über dies Durcheinander, aus dem der Plan, den Bund, der sich um Egon gebildet hatte, zu sprengen, deutlich genug hervorschimmerte.

[1983] Dankmar Wildungen zu entfernen, fuhr Rafflard ruhig und in seiner Überlegenheit sich wiegend fort, ist schwieriger. Sein großer Proceß liegt Niemanden schwerer auf dem Herzen als meinem Freunde Gelbsattel. In erster Instanz wird die Zulässigkeit dieses Processes schon heute oder morgen entschieden sein. Wie die Entscheidung auch ausfallen möge, man weiß schon jetzt mit Bestimmtheit, daß die Familientraditionen des kühnen Waghalses werden angezweifelt werden. Vierundzwanzig Stunden nach Mittheilung der Sentenz sitzt Dankmar Wildungen im Dampfwagen und eilt nach dem Harzgebirge, wo er theils in einem Dorfe Namens Thaldüren, theils in der alten Stadt Angerode eine vollständigere Herstellung seines Stammbaumes versuchen wird. Man kann leicht darauf rechnen, daß diese Untersuchung so lange dauert, um bei seiner guten in Angerode lebenden Mutter gleichfalls noch nach deutscher Sitte wenigstens die Martinsgans verspeisen zu können ...

Helene athmete so auf, war so überrascht, so erregt von diesen Berechnungen, daß sich sogar ein ihr sonst nicht eigener Anflug von Humor einstellte und sie ausrief:

Renegat! Wollen Sie Ihren Spott lassen über Dinge, die mir heilig sind. Ich bin eine Lutheranerin! Lassen Sie mir die Martinsgänse ungerupft!

So wäre denn, sagte Rafflard, dem einige kleine Schläge mit einem naheliegenden Fächer von Helenen's Hand so wenig wehe thaten, daß er sich vielmehr gekitzelt duckte und mit faunischer Miene zu der schönen Frau aufblickte, [1984] so wäre denn auch Dankmar Wildungen entfernt. Es früge sich jetzt nur noch, wie ist der schwierigste von Allen zu beseitigen, Louis Armand?

Das ist unmöglich, sagte Helene. Louis ist an Egon gebunden wie sein Schatten. Egon würde ruhelos werden, vielleicht kalt, vielleicht lieblos gegen mich, wenn er jemals zu bereuen hätte, diesen Louis aus seiner Nähe entfernt zu haben ...

Wer sagt, daß er ihn entfernen solle?

Louis selbst läßt nicht von ihm. Er kann nicht einmal von Egon gedemüthigt werden. Denn wenn Egon in der Lage wäre, ihn wie einen Diener zu behandeln, so gibt sich Louis wie einen Diener. Ich hörte, daß Louis hier bleibt, sich eingerichtet hat, Bestellungen annimmt. Dies ist ein Bund, der gerade deshalb, weil er anomal ist und Louis in seiner Sphäre bleibt, nicht zu trennen ist.

Will ich denn, sagte Rafflard, einen Bund trennen? Ich will nur vorläufig für einige Wochen die Kette dieser Vereinigung sprengen. Wenn ich erreichen könnte, daß Louis nur auf einige Wochen, wie Siegbert und Dankmar Wildungen, aus diesem tollen Freundschaftscirkel fern gehalten wird –

In diesem Augenblicke klopfte ein Diener und trat sogleich ein.

Was ist? fragte Helene.

Der Diener meldete, daß ein wunderlicher alter Mann im Vorzimmer stünde und den Herrn Professor zu sprechen wünsche. Er war hierher bestellt ...

[1985] Ah, sagte Rafflard. Er nennt sich –

Murray!

Gestatten Sie, Gräfin, wandte sich Rafflard zu Helenen, gestatten Sie, daß ich drüben in Ihrem Zimmer einen Mann empfange, den ich hierher bestellte, weil er zu unsren Plänen gehört und meine Zeit dermaßen zersplittert ist, daß ich meine Gänge zusammenziehen muß. Doch muß ich ihn allein sprechen ...

Drüben im gelben Zimmer! sagte die Gräfin. Der Diener ging, um Murray in das gelbe Zimmer zu führen.

Als sie allein waren, sagte Rafflard:

Helene, dieser Murray gehört zu dem Experiment, den Ring, der sich um Egon zieht, zu sprengen. Benutzen Sie aber diese Zeit und fassen Sie nun auch einen ernsten Entschluß, um sich vor Qualen, wie die sind, die Sie jetzt foltern, in Zukunft zu sichern. Sammeln Sie sich nun zur endlichen Energie gegen Egon!

Wohlan, sagte Helene, ich will versuchen, ob die Liebe denn so ganz Dasjenige, was man sonst Charakter nennt, ausschließt. Zurücksetzung da, wo man sein ganzes Dasein zur Verfügung hingegeben, Alles geopfert hat, ist der Tod. Ich ertrage diese Halbheit nicht länger. Ist Egon auf diese neue Laufbahn des Ehrgeizes angewiesen, hat Pauline Recht, als sie mir sagte, die alten Zeiten sind vorüber, die Gesetze der freien Selbstbestimmung haben nirgends mehr einen Platz, um neben den Gesetzen der Sitte, die in eisernen Tafeln geschrieben wären, mit goldenen [1986] Buchstaben zu glänzen, soll es eine Ehe sein, so muß ich dem armen Desiré die Hand zum Lebewohl reichen. Was Sie aber auch beginnen, Rafflard, um mich glücklich zu machen, ich kann nichts billigen, was gewaltsam ist oder eine Verantwortlichkeit erfordert. Wollen Sie Zufälligkeiten durch die Gewandtheit Ihrer Erfindung herbeiführen, so lassen Sie mich nichts von der Maschinerie, die dies Alles kostet, mit ansehen. Es ist demüthigend genug, wenn man das Glück der Liebe nicht als ein freies Geschenk, sondern als ein zufälliges Zusammentreffen von Umständen empfängt. Ich kann Ihnen sagen, Rafflard, daß ich sehr unglücklich bin, aber denn doch wirklich Egon behalten will und ihn auf sein Versprechen, in die Ehe zu willigen, noch heute zurückbringe.

Einstweilen werden Sie Toilette machen, sagte Rafflard, ihr die Hand küssend und den nackten runden Arm wiegend, der unter den großen offenen Ärmeln des Schlafrockes selbst für ihn verlockend hervorsah ...

Ich will Toilette machen! sagte Helene traurig und muthlos.

Rafflard aber hustete sich noch einige Augenblicke aus und ging dann durch einen großen mit Blumen geschmückten Salon in das gelbe Zimmer hinüber.

[1987]
3. Capitel. Der Meister des Meisters
Drittes Capitel
Der Meister des Meisters

Als Murray sich an jenem Samstag Abend, den wir von der Erzählung der Harder'schen Diener kennen, überzeugt hatte, daß der traurige Zustand der Tochter seines Wohlthäters, des Gefangenwärters in Bielau, nur durch eine geregelte psychische Behandlung in einem Krankenhause geheilt werden konnte, machte er sich die bittersten Vorwürfe, daß er den Seelenzustand des verzweifelten jungen Mädchens zu heftig geweckt, die Ohnmacht ihres Gewissens zu gewaltig aufgerüttelt hatte ... Auch die Reue bedarf der milden Übergänge. Kein menschliches Herz ist wie ein eisengegossenes Gefäß, daß es bald eiskaltes, bald siedendheißes Wasser in rascher Abwechslung ertragen kann. Es wird immer springen, wenn man es nicht allmälig erkalten, allmälig erwarmen läßt ... Die Kraft des Gebetes hatte Murray schon oft in wunderbarer Macht kennen gelernt. Wie glücklich fühlte er sich, als er hoffen konnte, Auguste in einer fernen Gegend mit einem guten Manne zu einem neuen Leben aufblühen zu sehen! Und wie schmetterte ihn da gleich der Auftritt mit Mangold nieder, zu dem er doch nur schweigen konnte! Er [1988] hoffte, der Starrkrampf, der sich damals auf Augusten's Brust gelegt hatte, würde vorübergehen und ihm Raum geben, sie auch über diese vernichtende Erfahrung zu einer stillen Ergebung zu führen. Umsonst! Das Gefäß ihres Geistes war zersprengt. Es lag in Trümmern. Der Wahnsinn hatte alle seine Hoffnungen vernichtet.

Auguste kannte Murray nicht mehr als den Freund ihrer Seele wieder; sie behielt nur die Vorstellung seines Alters, seiner scheinbaren Schwäche, seiner Freigebigkeit. Sie putzte sich unter den Irren mit jedem Lappen, den sie erhaschen konnte. Stolz, Gefallsucht, Tanzlust, Liebe waren die bösen Geister, die auf dem gesprengten Boden ihres Geistes nun doch das Feld behaupteten. Kein Wort des Zuspruches mehr konnte sie auf andere Gedanken, als die der alten Richtung führen. Murray mußte es aufgeben, in dies Dunkel noch irgend einen Lichtstrahl werfen zu wollen. Er dachte zwar an manches Heilmittel. Er war bei dem Maler Reichmeyer, um den Versuch einer Sitzung der Kranken zu machen, da Auguste immer von ihrem Bilde phantasirte. Er traf dort einen jungen Gentleman, dessen Name, als er sich entfernt hatte, ihm Heinrichson genannt wurde; Reichmeyer selbst versprach auch, sich den Vorschlag zu überlegen. Seither geschah aber nichts Weiteres in diesem Versuch, Auguste Ludmer zur Besinnung zu bringen. Murray empfahl sie der Pflege der Ärzte, bezahlte ihren Unterhalt und kehrte zu der eigenthümlichen, sich widersprechenden Lebensweise zurück, die in ihrem innersten Kerne irgend [1989] einen bedeutenden Gedanken, eine gefahrvolle und ihm doch unendlich nothwendige Unternehmung zu bergen schien.

Als er an jenem Donnerstage nach Hause gekommen war, schlief schon die Eisold'sche Familie. Am Freitage lehnte er den Ring entschieden ab, den ihm Louise wiedergeben wollte. Am Samstag, als sie wiederkam, wurde er, von innerster Theilnahme um Augusten bewegt, fast zornig über die erneuerte Rückgabe. Am Sonntag, als er schon ganz früh ausgegangen war, um zu sehen, wie Auguste in ihrer neuen Lage die erste Nacht zugebracht hatte, war er weicher gestimmt und bat Louisen seine heftigen Worte ab, die auf nichts Anderes hinaus gingen, als daß er ihr zugerufen hatte: Halten Sie mich denn für einen Betrüger? Ich bin ja reich! Ich habe nur meine Ursachen für arm zu gelten! Er setzte sich zu seiner Nachbarin und fragte sie, warum sie traurig wäre? Sie zeigte auf den Regen, der in Strömen an die Fenster schlug und erzählte ihm die getäuschte Hoffnung auf eine ländliche Erholung. Daraus war manches Wort, hinüber und herüber, entstanden. Man hatte Erfahrungen und Ansichten ausgetauscht. Als Louise unter den Theilnehmerinnen der vereitelten Partie auch Franziska Heunisch nannte, war ihm dieser Name aufgefallen und Louise hatte nichts Arges darin gefunden, daß er sich genauer nach den Verhältnissen dieses Mädchens erkundigte. Sie hing mit Heunisch dem Förster, mit dem Jägerhause im Walde von Hohenberg, mit Ursula Marzahn zusammen, und schon [1990] einige male hatte er Louisen gefragt, ob sie niemals von diesem gewiß artigen Kinde einen Besuch empfinge. Louise sagte ihm darauf: Wir Menschen, die wir arm sind und arbeiten müssen, können mit unseren Freunden wenig Anderes thun, als sie recht von Herzen lieb haben und nur nicht vergessen. Die Zeit und Gelegenheit, eine Freundschaft zu hegen und zu pflegen, findet sich selten. Da muß man wissen, Der oder Die denkt an dich, wenn sie arbeiten und plötzlich sieht man sich dann einmal und gibt sich die Hand, gleich als hätte man sich gestern gesehen, oder man umarmt und küßt sich so herzhaft, daß es gleich für ein halbes Jahr wieder genug ist. Und so fleißig las das seltsame Mädchen in dem seit einiger Zeit sich ganz besonders prächtig entfaltenden Journale: »Das Jahrhundert,« das von ihrem Linchen und ihrem Wilhelm colportirt wurde, daß sie von ihrem Lieblingsschriftsteller Guido Stromer sogleich folgende Stelle zu citiren wußte:

O wer kennt die geheimen Wege der wunderbaren Natur, die den kleinen See auf dem Sankt Gotthard doch mit dem großen Weltmeere verbinden! Wer ahnt den Zusammenhang der Geister, die sich niemals sahen und niemals kannten und die doch an dem gemeinsamen Ziele der Menschenerlösung mitarbeiten!

Murray mußte lächeln über die Anwendung dieser Worte auf Louise Eisold und ihre kleinen Verhältnisse. Er erfuhr, wie die Literatur, die Zeit und ihre gährende Richtung in diese bescheidene Wohnung drang und hatte [1991] zunächst das innigste Mitleid mit den Kindern, die im strömenden Regen sich gern bis auf die Haut durchnässen ließen, wenn nur ihre Zeitungen trocken blieben!

Einmal schon war er im Begriff gewesen, sich nun selbst bei Fränzchen Heunisch einzuführen. Er suchte ihre Wohnung auf. Da fiel ihm sein abschreckendes Äußere, seine zweideutige Lage ein. Er fürchtete, das junge Mädchen zu entsetzen und noch mehr sich durch eine zur Schau gestellte Neugier in seinem Zusammenhange mit Dingen zu verrathen, die er tief verschleiern zu wollen schien. Schon stand er an dem Hause, Wallstraße Nr. 14, schon wollte er die Hausflur betreten, als an ihm ein Mann vorüberhuschte, den er sich entsann schon einmal irgendwo gesehen zu haben. Er konnte sich auf diese langgeschenkelte Kreuzspinne nicht besinnen. Es war allerdings jener philanthropische Besucher des Gefängnisses, in dem er acht Tage lang hatte ausharren müssen, und doch war er es wieder nicht. Er erkundigte sich bei einer Magd, die eben aus dem Hause trat und ihm sagte, dieser Herr wäre ein italienischer Sprachlehrer, Namens Barberini, wenig zu Hause und auch im Begriff, binnen einigen Tagen auszuziehen. Um so gespannter war Murray, als er zu Hause ein Billet fand, worin ihm Sylvester Rafflard – so hieß jener Philanthrop, der ihn schon einmal hatte besuchen wollen – schrieb, er nähme an ihm so viel Interesse, daß er ihn auffordere, ihn morgen, am achten October, in der Wohnung der Gräfin d'Azimont, im Hotel garni, am großen Markte, gegen zwölf Uhr zu besuchen. Aus [1992] Neugier, oder richtiger gesagt, aus einem gewissen Fatalismus, der ihn bestimmte, keinem vom Schicksal ihm zugeworfenen Winke aus dem Wege zu gehen, entschloß sich Murray wirklich, das ihm bezeichnete Hotel garni aufzusuchen.

In seiner ruhigen bedächtigen Weise, unter dem Schutze der schwarzen Binde, die ihm erlaubte, von unten herauf scharf zu spähen, folgte er dem Bedienten, der ihn durch den großen Salon rechts in ein geschmackvoll möblirtes gelbes Zimmer führte. Ein gewisses Vorgefühl, eine scharfe Menschenkenntniß sagte ihm, daß auf dem Antlitze jenes Philanthropen Etwas gelegen hatte, was ihm eine große Behutsamkeit zur Bedingung machen mußte. Jedenfalls, sagte er sich, hält dich dieser Menschenfreund für einen Verbrecher. Deine Lage, das Mistrauen der Polizei, dein Äußeres führte ihn darauf. Will er dich beten lehren, bessern, will er deiner Zukunft den guten Weg der Tugend bahnen? Ich bin begierig!

Wie erstaunte Murray nun, als Sylvester Rafflard eintrat und in der That völlig dem Professor Barberini glich, der so windschnell an ihm vorübergeschlüpft war. Weit entfernt, diese Vermuthung, daß beide Personen eine und dieselbe wären, laut auszusprechen, nahm er jetzt nur umsomehr die Miene der größten Harmlosigkeit an und beschloß sogar, einen gewissen Kretinismus zu zeigen, dem gegenüber die Menschen, die sich etwas dünken oder die etwas mit uns vorhaben, immer am offensten ihr wahres Gesicht zeigen.

[1993] Er verbeugte sich höflich und schüchtern und that fast, als wüßte er nicht, in welcher Hand er seinen Hut halten sollte.

Rafflard, durch diese Zaghaftigkeit sogleich ermuntert, bedeutete ihn Platz zu nehmen.

Murray sah sich ängstlich nach einem Stuhle um und zögerte.

Ei, so setzt Euch doch! sagte Rafflard mit ziemlich geläufigem Deutsch und rückte ihm mit dem langgestreckten Fuße einen Sessel hin, während er selbst ihm gegenüber Platz nahm.

Murray nahm den Sessel, putzte ihn sorgfältig ab, zog sein karrirtes Taschentuch, schwenkte es aus und breitete es auf das gelbseidene Polster, das er sich Mühe gab ja nicht verunzieren zu wollen.

Ihr kennt mich? fragte Rafflard.

O Herr, sagte Murray ... von da!

Er machte eine Miene, als wenn seine Arme übereinandergeschlossen wären und deutete das Gefängniß an.

Ihr kennt mich also. Ihr habt mich seitdem nicht wieder gesehen?

Murray schüttelte getrost den Kopf.

Ich war schon einmal bei Euch, Murray ...

Danke, Herr. War nicht zu Hause. Ich weiß es.

Ihr wohnt in einem elenden Käfig. Ich habe Euch eine halbe Stunde suchen müssen.

Danke, Herr!

[1994] Ich wollt' Euch Glück wünschen, daß Ihr so rasch losgekommen seid ...

Danke, Herr!

Das weiß man schon, ein Engländer seit Ihr nicht ...

Nein, Herr! Haha!

Ihr seid ein ehrlicher Deutscher und reis't zu Eurem Vergnügen als Gentleman?

Murray lachte fast stumpfsinnig.

Habt Euch gewiß von Euren Geschäften zurückgezogen und wollt Eure Tage in Ruhe beschließen?

Murray lachte mit gleichem Ausdruck.

Wie kann man, wenn man Incognito leben will, auf Bälle gehen und am Putze seines Frauenzimmers verrathen, daß man viel Gold zu versilbern hat?

Murray that verschämt, als wollte er sagen: Was macht nicht aus dem Menschen die Liebe!

Rafflard hatte so rasch gesprochen, daß er in's Husten gerieth und sich erst ruhen mußte.

Recht schlimmer Husten Das! sagte Murray fast mitleidig.

Katarrhalisch! Die Sumpfluft meines Berufes, die mephitischen Ausdünstungen unsrer lieblosen altmodischen Burgverließe ...

Murray hustete, als läg' es auch ihm auf der Brust.

Auch davon schon viel eingeathmet? fragte Rafflard schlau lauernd.

Murray, sich unschuldig stellend, stöhnte:

Das englische Klima!

[1995] O das ist gut für das Asthma – feuchte Luft ist gut! Freilich solche Kerker wie hier! Unterirdisch, unter dem Niveau einer Kloake, die man einen Fluß nennt –

Murray horchte hoch auf. Wenn sein bedecktes Auge ihn nicht geschützt hätte, würde Rafflard gesehen haben, daß er plötzlich erschrocken war.

Es ist unverantwortlich, sagte Rafflard und nahm eine Prise, was er selten that und hier als Beweis seines behaglichen Vertrauens einschaltete, es ist unverantwortlich, daß man die unglücklichen Opfer schlechter Erziehung, die unsre Gefängnisse bevölkern müssen, weil sie der allgemeinen Sicherheit und Ordnung schädlich sind, nach ihrer Entlassung niemals frägt: Was beginnst du nun? Was thust du nun, um dich mit der Gesellschaft, die dich fürchtet, auszusöhnen? Man stellt die entlassenen Sträflinge unter polizeiliche Aufsicht und lauert nur gleichsam auf den Augenblick, sich so rasch wie möglich wieder ihrer bemächtigen zu können.

Mit einem aufwallenden Gefühl der Übereinstimmung und der innerlichsten Überzeugung sagte Murray:

O Das ist wahr!

Rafflard erschrak fast vor dem eigenthümlichen edlen Ausdruck, mit dem Murray diese Worte, aus tiefster Seele, sprach. Murray bemerkte Dies und überhörte fast die Frage, die nun Rafflard an ihn richtete:

Man hat Euch, Murray, unter Aufsicht gestellt?

Rafflard mußte diese Frage wiederholen.

Murray zog die Achseln, machte eine komisch verlegene [1996] Miene und deutete mit den Händen gleichsam an: Was weiß ich? Das sagt man Einem nicht!

Ich weiß es, Murray, sagte Rafflard, der nun fast gewiß war, einen geheimen, sehr schlauen Verbrecher vor sich zu haben; ich erfuhr es beim Oberkommissär Pax. Ein gewisser Hackert, der bei ihm arbeitet, sagte mir's, als ich nach Euch fragte, daß man Euch für gefährlich hält.

Murray zuckte wieder die Achseln mit gleicher Miene, gleicher Zweideutigkeit ...

Es nahte sich jetzt der schwierige Augenblick, wo Rafflard in der Nothwendigkeit war, durch eine geschickte Wendung den Übergang zu gewinnen, um über Das, was er mit Murray vorhatte, die Maske zu lüften.

Ihr werdet wohl schon gemerkt haben, Meister Murray, sagte er, daß mich reine Menschenliebe, nicht Frömmelei oder sonst ein pedantischer Beweggrund in die Gefängnisse führt. Ich suche dort Menschen, die mir nicht einfällt, in Engel verwandeln zu wollen. Ich kenne unsre Natur. Ich weiß, wieviel dazu gehört, um ein praktischer Mensch zu sein, reell, zuverlässig, gehorsam, verschwiegen. Die Tugenden, die den Engel ausmachen, mag vollends einst der Himmel in uns bilden. Für diese Erde ist schon viel gewonnen, wenn wir z.B. in den gebesserten Verbrechern thätige Menschen wiederbekommen, unschädliche, nützliche Glieder der Gesellschaft, wie sie einmal ist. Seid Ihr nicht meiner Meinung, Murray?

Murray lachte und meinte:

Herr, wenn Einer herauskommt und gleich etwas zu [1997] arbeiten, zu verdienen findet, nimmt er sich wohl in Acht, daß sie ihn sobald wieder bekommen.

Diese Ausdrucksweise ermuthigte Rafflard.

Das ist's, was ich meine, sagte er. Etwas verdienen! Arbeit! Arbeit! Irgend eine Beschäftigung finden, die ihren Mann nährt! Und da will ich Euch etwas sagen, Murray! Glaubt Ihr, daß ich Euch zum Bußepredigen hergerufen habe?

Die Kirchen sind ja Sonntags offen, antwortete Murray trocken.

Sehr wahr! Und nun, Murray, wenn Ihr mir vertrauen wollt, will ich Euch Gelegenheit geben, etwas zu verdienen.

Danke, Herr! Danke!

Ich bin, begann Rafflard mit schlauer Miene, forschend nach dem Eindruck, den er auf sein Gegenüber hervorbringen würde, ich bin in ein sehr schwieriges, sehr wichtiges Familienverhältniß verwickelt. Eine glückliche Lösung desselben wird durch einen abscheulichen, schlimmen Menschen verhindert, der auf jede nur erdenkliche Weise diese Lösung zu unterbrechen sucht. Diesen Menschen aus der Nähe der edlen Wesen, die er nur quält, nur belästigt, zu entfernen, ist mir eine heilige Pflicht. Mit Gewalt ist nichts auszurichten. Aufsehen darf es keins geben und so bin ich von der Nothwendigkeit durchdrungen, die Entfernung dieses schlimmen Menschen auf eine stille, besonnene und doch zum Ziele führende Art zu bewerkstelligen.

[1998] Murray mit unverstellter Spannung horchte hoch auf.

Dieser Mensch, fuhr Rafflard fort –

Wie heißt er, Herr? sagte Murray rasch mit dem Ausdruck der bereitwilligsten Ergebenheit.

Der Name thut vorläufig nichts zur Sache –

Vielleicht kennt ihn Unsereins –

Nein, nein, er ist sehr gefährlich, aber es ist nicht nothwendig, da auf ihn nicht gewirkt werden kann, daß sein Name genannt wird. Dieser gefährliche Mensch, sag' ich, hat ein Mädchen, das er liebt ... nicht eigentlich eine Braut oder Verlobte ... wohl aber ein Wesen, für dessen Wohl und Wehe er sich in einem Grade interessirt, den man seinem bösen Charakter kaum zutrauen möchte. Ich bin der festen Überzeugung, wenn man bewirken könnte ...

Rafflard stockte.

Nun, Herr? ermunterte ihn Murray mit scheinbarer Ungeduld.

Ich bin der Überzeugung, daß dieser Störenfried die angedeuteten edlen Menschen nicht ferner beunruhigen, bis aufs Blut quälen wird, wenn man jenes Mädchen, an dem er leidenschaftlich hängt, plötzlich von hier in aller Stille entfernen könnte ... Versteht Ihr, Murray –

Wohl! Wohl!

Ich bin überzeugt, daß jener schlimme Gesell, auf den nichts wirkt, den keine Drohung von hier fortzubringen im Stande ist, augenblicklich bis an's Ende der Welt reisen würde, wenn es plötzlich hieße: Jenes Mädchen ist nach [1999] Hamburg verschwunden oder man hat seine Spur am Rhein verloren oder man glaubt, daß sie ein gewisser Murray oder ein gewisser Sylvester, wählt jeden beliebigen Namen, nach London entführte! Man glaubt, daß sie dieser Wagehals mit sich zu Schiffe nach Amerika nimmt! Genug, ein solcher Glaube, begründet auf ein Unternehmen, das in dieser Weise nicht einmal braucht ausgeführt zu werden, nur vier Wochen unterhalten, dies Gerücht nur etwa vier Wochen geschürt, würde die einzige Art sein, die edle Familie von dem lästigen Störer gerade beim Abschluß einer wichtigen Verhandlung fernzuhalten. Ein solcher Dienst, mit einer gefüllten Börse belohnt – was sagt Ihr dazu, Murray?

In Murray kochte der Zorn. Alle zurückgehaltene Glut drang ihm in die Brust. Er war nahe daran, aufzuspringen, den Heuchler an der Brust zu packen und ihn zu schütteln mit den Worten: Elender, wofür hältst du mich? ... In seiner ihm fast die Rede erstickenden Aufregung konnte er nichts hervorbringen, als die Frage:

Wer ist das Mädchen?

Eine unbedeutende, arme Nähterin, sagte Rafflard. Ein Mädchen, ohne allen Anhalt, ohne alle Verwandte. Ich kann Euch den Namen sagen und muß es, da Ihr Euch nach ihren Verhältnissen doch erkundigen werdet. Sie heißt Franziska Heunisch.

Franziska Heunisch?

Kennt Ihr sie?

Nein! Nein!

[2000] Aber Murray mußte sich bei diesen Worten bekämpfen. Gerade dies Mädchen war ihm für gewisse geheime Pläne, die er verfolgte, schon längst von Wichtigkeit geworden. Ihr galt die Berechnung eines, wie er schon durchschaute, abscheulichen Planes. Er sollte sie mit Gewalt überfallen, entführen! Und nun galt es die letzte Kraft seiner Verstellung zusammenzuraffen und mit dem Scheine der größten Ruhe und dienstfertigsten Ergebenheit zu sagen:

Herr! Das ist ein Stück Arbeit! Ich will's wagen; aber – wie greif' ich's an?

Das, Murray, müßte eben Eure Sorge sein!

Hm! Hm! simulirte Murray und schlug sich an die Stirn. Meine Fäuste, Herr, sind nicht mehr die stärksten. Wenn es gelten sollte, Einen zu knebeln und mit verbundenem Munde Abends an den Thoren in einen Wagen zu schleppen ...

Ihr müßtet Unterstützung haben.

Das wäre nicht gut, Herr.

Bedenkt, ein schwaches Mädchen!

Ein schwaches Mädchen! Franziska Heunisch ... Wo wohnt sie?

In der Wallstraße Nr. 14 im Hinterhofe.

Darf ich mir's aufschreiben?

Ich rathe Euch Das. Merkt Euch jeden Umstand. Sie wohnt bei einem Tischler, hat Verwandte im kleinen Fürstenthum Hohenberg, einen Förster des Prinzen von Hohenberg ... sie näht, bald hier, bald dort, bald zu Hause, bald auswärts ... verschwände sie plötzlich, so ließe sich, [2001] wenn Ihr Euch auch verborgen hieltet, Murray, die Vermuthung, daß sie nach Hamburg, von da nach England entführt wäre, wohl jenem Menschen mittheilen, der sie augenblicklich verfolgen würde. Man kennt Euren Geschmack, Alter. Auf dem Fortunaball habt Ihr Euch verrathen! Der Kummer, den Ihr empfinden würdet, die Unannehmlichkeit, diese schöne Stadt zu meiden, würde sich leicht verschmerzen lassen und eine große Schuld ladet Ihr nicht auf Euch. In drei Tagen könnt Ihr das Mädchen wieder freigeben, wenn sie nur bewacht, an der Rückkehr, am Schreiben verhindert wird.

Murray hatte das Portefeuille auf seinen Knien und schrieb mit einer Hand, die vor Erregung zitterte.

Als er mit seinen Notizen scheinbar fertig war, fragte Rafflard:

Also Ihr übernehmt es, Murray?

Ich brauche drei Tage, sagte dieser, um mir doch zu überlegen, wie so einem Fange beizukommen ist. Mädchen sind Forellen.

Rafflard fand dies Bild charmant und so gut gewählt, daß er von der größern Bildung, die sich bei dem ihm Anfangs stumpfsinnig erschienenen Murray zu erkennen gab, jetzt nur noch mehr befriedigt wurde. Es lag ihm daran, lieber einen Helfershelfer von Verstand zu finden.

Das ist mir recht, sagte Rafflard, ich brauche ebensoviel Zeit, um die Vorkehrungen zu treffen, daß der Verfolger erst nach Hamburg und von da nach England dirigirt wird.

[2002] Teufel, Herr! Wie stellt Ihr das Alles an?

Durch Freunde, die sich gern geneigt zeigen, eine edle Unternehmung zu unterstützen, sagte Rafflard.

Und wo find' ich Sie wieder, Herr? fragte Murray fast kopfschüttelnd.

Am liebsten sprech' ich Euch hier!

Hier? Fürchtet Ihr für die silbernen Leuchter da nichts, Herr?

Ich denke, Ihr behandelt uns als Gentleman! Besonders wenn wir uns einstweilen gleichfalls als solchen zeigen ...

Damit überreichte Rafflard Murray ein schon vorbereitetes Papier, in welchem Goldstücke in reicher Anzahl hin- und herrutschten.

Murray nahm sie ohne Bedenken mit künstlicher Gier und versprach schon morgen um diese Zeit, an dieser Stelle Bericht zu erstatten.

Rafflard schlug ihm auf die Schulter und begleitete ihn durch den Salon, wartete aber wohlweislich, bis Murray die Thürklinke ergriffen hatte und hinaus war. Dann harrte er noch einige Sekunden, um zu lauschen, ob der halbe Bandit auch wirklich ging und die Drohung mit den silbernen Leuchtern nicht wahr machte. Dann aber wandte er sich, um zur Gräfin zu gehen; denn der Bediente begegnete ihm und sagte, er hätte eben Herrn Heinrichson angemeldet. Heinrichson mußte also im Vorzimmer sein. Unangenehm berührt von diesem Namen, aber unendlich befriedigt von dem glücklichen Erfolg des Kaufes, [2003] den er an dem Entführer eines jungen Mädchens gemacht zu haben glaubte, trat Rafflard wieder zur Gräfin ein ...

Murray aber, noch verwirrt von dem Erlebten, stand eine Weile in dem Vorzimmer. Sollte er doch die Maske fallen lassen und mit hohnlachendem Ingrimm über Sylvester Raffland, den Philanthropen, in ein Strafgericht ausbrechen?

Wie er noch stand, ging ein Herr vorüber, um in den Salon zu treten. Er streifte seine Kleider. Murray blickte auf und erkannte Heinrichson, den er bei dem Maler Reichmeyer angetroffen hatte, als er diesen besuchte, um den Versuch zu machen, ob man nicht durch eine Malersitzung die wahnsinnige Auguste heilen könnte, da Auguste unaufhörlich von ihrem Bilde phantasirte ...

Ha! Ha! rief er mit einem wilden Anfalle bitterster Ironie: Sie hier? Gibt es hier auch Modelle, Herr?

Heinrichson wandte sich und sah zu dem Sprecher verächtlich zurück.

Murray hatte bei Reichmeyer nur seinen Namen erfahren und Heinrichson war gegangen, als er merkte, daß dieser wunderliche alte Mann mit seinem Kunstgenossen allein zu sprechen wünschte. Schön und gefällig wie Heinrichson war, hatte er Murray's Interesse erregt und damals die Frage nach ihm veranlaßt.

Sie kennen mich nicht! sagte Murray. Ich habe die Ehre, Herrn Heinrichson – eine junge Verwandte wollte ich von Ihnen malen lassen. Sie wollte aber nicht sitzen, [2004] als ich Ihren Namen nannte – Auguste Ludmer, Herr Heinrichson!

Heinrichson erschrak über diese Zudringlichkeit und wollte zur Gräfin.

Murray hielt ihn fest und sagte ihm mit einem Tone, der sich durch scheinbaren Scherz selber mäßigte:

Sie sollten sie malen, Herr, wie ich ein Stück in London gesehen habe, als ich im Theater war. Ein tolles Mädchen trat auf, der Einer den Kranz zerrissen hatte, Stroh und Blumen trug sie auf dem Kopf, sang Lieder und war toll ... Malen Sie Das, mein Herr! Auguste Ludmer kann Ihnen dazu im Narrenthurm sitzen. Die Mutter Ihres todten Kindes sitzt im Narrenthurm.

Wovon sprechen Sie denn? Was wollen Sie? stotterte Heinrichson, der zu den Männern gehörte, deren Muth nur bei solchen Gelegenheiten sich bewährt, wo ein witziger Einfall die Stelle einer Handlung vertritt. Wo die ernsten Thatsachen des Lebens sprachen, verlor er jedesmal die Gegenwart seines sonst immer schlagfertigen Geistes.

Wer ist der Mann da? fragte er ungeduldig fortdrängend den Bedienten und riß sich los ...

Ich bin Murray, sagte der Alte und hielt ihn nun zum Schrecken des feigen Bedienten gewaltsam fest, Murray, ein Engländer! Von Auguste Ludmer sprech' ich, die in allen Ihren Bildern die Menschen entzückt hat und jetzt im Tollhause sitzt. Herr, wie hieß die Prinzessin, die ich in London sah? Sagen Sie mir, wie das Mädchen mit einem [2005] Strohkranze um den Kopf, mit Maasliebchen im Haare, geheißen hat?

Ophelia wahrscheinlich! sagte Heinrichson zitternd und riß sich mit letzter Gewalt von dem unheimlichen Manne los, der ihn am Rocke zerrte.

Murray stand und grinzte ihm zornfunkelnd nach.

Der Bediente schien, als Heinrichson zur Gräfin eingetreten war, nicht zu wissen, ob er mit diesem kecken Alten höflich sprechen oder ihn wegen seiner Unverschämtheit zur Thür hinauswerfen sollte. Nur der Gedanke, daß doch Herr Professor Rafflard sich mit ihm so lange unterhalten hatte, mäßigte seine schlimmen Voraussetzungen ...

Bester Freund, sagte Murray mit einem eigenen Ausdruck von verwirrter Ironie, der den innern Zorn verbergen sollte; bester Freund, ja, ja, das Stück hättet Ihr in London sehen sollen. Ein Mädchen kam darin vor, das sich vernünftig stellte und toll war und ein junger Mensch, schwarz von Kopf bis zur Zehe, der sich toll stellte, der aber ganz vernünftig sprach. Freund, der Mann spielte seine Rolle so natürlich, daß man hätte schwören mögen, er käme geraden Weges vom Irrenhaus. Aber ein Spitzbube war's! Ein echter Spitzbube!

Der Bediente warf ärgerlich die Thür hinter dem vorlauten, unheimlichen, wie irr redenden Alten zu.

Murray, Athem schöpfend, seine Brust an der Luft erweiternd, stieg bedächtig die mit Decken belegte, von Gypsstatuen gezierte Treppe hinunter und überlegte sich, ob er da wiederkommen würde oder nicht; ob es besser [2006] wäre, zu einem bösen Anschlage sein falsches Angesicht zu zeigen oder sein wahres ... Als er auf der Straße war und das Gewühl der Menschen sah, die aneinander vorüberrannten, Jeder geschäftig im Bewußtsein seiner eigensten Interessen, da überkam ihn fast die Lust, es mit Sylvester Rafflard auf dem Wege, den dieser eingeschlagen hatte, nun weiter zu versuchen, das ihm gegebene Geld einstweilen zu behalten und Franziska in der That, wenn auch nur scheinbar, zu entführen ...

Übereinstimmung ist der Köder, sagte er sich, mit dem man die Füchse hervorlockt aus ihren Gruben, wenn man sie fangen will! Diese Welt ist nicht für die Ehrlichkeit. Jedes Geheimniß hat seinen eigenen Schlüssel. Die Weisheit soll die Klugheit zu ihrer Dienerin haben. Jene thront, diese regiert. Nur Die sind übel daran, die in ewiger Klugheit immer die Sprache der Menschen reden müssen und darüber die Sprache des Himmels vergessen. Das Flammenschwert der Wahrheit, das auf einmal alle Truggespinnste durchschneidet, darf man nie aus der Hand geben. Aber man soll es auch nicht ewig schwingen, man soll es auch nicht brauchen gegen Jeden. Mit diesem Elenden willst du gehen, bis du ihn entlarvt hast!

Der Jesuit aber verließ bald darauf freudestrahlend die Gräfin, um den Propst Gelbsattel zu besuchen. Sylvester Rafflard war in einer ewigen Bewegung, wie damals, als er auf dem Fortunaball Fränzchen Heunisch umschwirrte, die ihm gefiel und für seine Huldigungen unbefangen genug schien. Sein ganzes Wühlen und Schleichen liegt nun [2007] am Tage. Er hatte Franziska später in ihrer bescheidenen Existenz aufgesucht, sich die Mühe gegeben, scheinbar ihre Sprachstudien zu leiten, aber bald dem Plane entsagt, sie für seine niedrige Sinnlichkeit erobern zu wollen. Dennoch behielt er das schöne Mädchen im Auge, als er bemerkte, wie werth sie jenem Louis Armand geworden war, der über den Prinzen Egon eine Herrschaft übte, die er brechen mußte, um eine Verbindung zwischen Egon und Helenen zu Stande zu bringen. Sein Späheramt, das er auf Louis Armand unter dem Namen eines Italieners, Signor Barberini, ausüben wollte, wurde gestört, da er als Besitzer eines Quartiers, das er nie bewohnte, bald verdächtig werden mußte. Er hatte Louis Armand der Polizei als Communisten angezeigt, doch davon noch keinen Erfolg bemerken können. Die alte Gräfin d'Azimont schrieb Brief auf Brief und hoffte von ihm die baldigste Bestätigung, daß Helene auf eine Scheidung von ihrem Sohne dringe, den sie selbst beerben wollte. So entschloß sich Rafflard zu Gewaltschritten. Dankmar, Siegbert Wildungen schienen ihm schon so gut wie von Egon entfernt. Rudhard, der für die Kinder seiner Pflegebefohlenen, der Fürstin Wäsämskoi, auf Helenen's künftiges Vermögen rechnete, hatte zwar auch das lebhafteste Interesse, diese Scheidung und die neue Heirath mit dem mittellosen Fürsten von Hohenberg zu hindern; aber auch für Rudhard sann der Jesuit auf eine Gelegenheit, ihn unschädlich zu machen. Am liebsten wär' er in den Kreis der Fürstin Adele selbst eingetreten. Doch nahm man ihn dort nicht [2008] an. Er stand der inneren Verwickelung dieser Familie fern und konnte nur durch den Propst Gelbsattel und besonders dessen Töchter erfahren, was sich in jenen Kreisen begab; denn Gelbsattel hatte die alte Schulfreundschaft mit Rudhard, wenn nicht wegen Rudhard, doch wegen einer Fürstin, bei der Rudhard so einflußreich war, wieder angeknüpft.

Rafflard hatte nun den Trost, daß Egon plötzlich allein stehen würde; denn Louis Armand durch einen gefährlichen Anschlag auf Franziska Heunisch mindestens bis London zu jagen, schien ihm nun ein Leichtes.

Er wandte sich der alten Propstei zu, um seinen dortigen Beschützern noch einmal an's Herz zu legen, daß man über Alles, was heute Nachmittag auf einer von der Fürstin Wäsämskoi in ihrem Garten veranstalteten Weinlese sich ereignen würde, ihm den genauesten Bericht erstatten sollte. Auch hatte der Propst dem Jesuiten schon lange versprochen, ihn mit einigen bedeutenden, tonangebenden, außerhalb der Partei stehenden Männern der Residenz näher bekannt zu machen, mit Franz Schlurck, mit Drommeldey, mit Guido Stromer, ja, wenn es irgend ginge, bei zufälliger Begegnung sogar mit dem General Voland von der Hahnenfeder, der schwer zugänglich und stets vom Hofe in Anspruch genommen war. Der Propst hatte ihm gesagt, es müßte Dies an irgend einem dritten Orte geschehen, damit es den Schein der Zufälligkeit gewänne. Die Welt wäre mistrauisch und das Unschuldigste verfiele der Beurtheilung; die Harmlosigkeit der alten Tage wäre [2009] vorüber und selbst die Loge, dies sonst so friedliche Asyl der reinsten Bruderliebe und der duldsamsten Neutralität, böte nicht mehr den alten Schutz, wo denkende Menschen sich unbefangen aussprechen und eine gewisse Universalität der Standpunkte voraussetzen könnten.

So sehen wir einen Menschen mehr aus angeborener Lust am Bösen, als um eigener Vortheile willen die harmlos dahinlebenden, uns liebgewordenen Wesen umwühlen, und außer den Gruben, die sich jede lebhafte Empfindung und starke Willenskraft schon durch ihre eigene Leidenschaft gräbt, ihnen noch neue Gefahren bereiten, unvorhergesehene, unverschuldete, verderbenschwangere.

[2010]
4. Capitel. Mutter und Tochter
Viertes Capitel
Mutter und Tochter

Zur Freude der kleinen Wäsämskoi's hielt sich das Wetter und über Mittag war keine Wolke mehr am Himmel. Das tiefdunkelste Blau überzog den ganzen Horizont. Die hier und da schon halbentlaubten Bäume ließ die letzte Fülle der hochgewachsenen Herbstblumen vergessen. Den gelbgewordenen Schmuck der Gärten entfernte die geschäftige Hand des Gärtners. Man hatte noch Grün, man hatte noch Blumen die Fülle. Niemand konnte glauben, daß es schon zum Winter ging.

Der große Garten, der sich an die auch für den Winter behaltene Wohnung der Fürstin Wäsämskoi lehnte, war an Blumen nicht minder wie an Obst und allen Früchten reich. Das große Rebenspalier mit seinem gewölbten Dache, unter dem man im Sommer kühlenden Schatten, ja Schutz vor dem Regen gefunden hatte, kennen wir schon. Der Gärtner hatte schon im September die reiche Traubenernte für reif zum Abnehmen erklärt und die Kinder hatten ihn in dieser Meinung unterstützt, da sie selbst abbrachen, was sie nur erreichen konnten. Die letzte Hand aber anzulegen, verhinderte das darauf eintretende [2011] Regenwetter. Nun ist's aber Zeit, die Trauben verderben! hieß es. Da mußte man sich entschließen, einen Tag zur Lese zu bestimmen. Die Kinder hatten soviel von der künftigen Lese der Trauben, von den Festlichkeiten, dem Gebäck, dem Feuerwerk hören müssen, daß sie nun auch trotz des Wetters darauf bestanden, daß es Festlichkeiten, Kuchen und Feuerwerk geben sollte. Kein Einwand konnte helfen. Man lud auf einen bestimmten Nachmittag einen Kreis von Freunden des Hauses ein, gleichviel, ob sie drinnen oder draußen dem Jubel der Kinder zusehen wollten. Und nun spannte der Himmel einen sonnigen Baldachin über diese Freude aus, gab Wärme, trocknete die Wege, die Bänke, lachte mit der Freude der Menschen.

Die Fürstin zeigte heute ein gewisses Anordnungstalent. War doch überhaupt ihre Bequemlichkeit, ihr Phlegma schon seit einiger Zeit gewichen! Sie nahm sich der Ordnung des Hauses mehr, als sie sonst gewohnt war, an. Veranlassung genug, mit Olga, die von einem gleichen Drange nach Bethätigung beseelt war, fortwährend dabei in Conflict zu gerathen. Wie lebhaft hatten sie nicht den ganzen Vormittag gestritten über die Anordnungen, die zu dem kleinen Feste getroffen werden sollten! An der Stelle, wo in schöneren Tagen Abends der Thee getrunken wurde, sollte ein großes Parquet von Bretern gelegt werden, um die feuchte Erde den Füßen nicht fühlbar zu machen. Darüber war Mutter und Tochter einig. Nun aber wollte die Fürstin ein Zelt geschlagen wissen, das sich von[2012] diesem Parquet erheben und die Gäste vor jeder Laune der Witterung schützen sollte. Olga protestirte gegen das Zelt und berief sich auf das schöne Wetter und die erquickende Gewalt der freien Luft. Man stritt, ob das Wetter Bestand haben würde. Olga behauptete, es fest verbürgen zu können. Die Mutter fand diese Bürgschaft lächerlich, kindisch; sie erhitzten sich darüber bis Rudhard dazwischen kam und oben von seinem Zimmer hinunterrief, der Sensenmann an seiner Uhr, der lange gestockt hätte, wäre wieder von selbst in Thätigkeit, das bedeute schönes Wetter. Ärgerlich über diese Entscheidung entfernte sich die Fürstin und sagte, sie wolle Olga nun ganz gewähren lassen. Laß du mich nur! sagte diese ruhig und traf ihre Anstalten. Das Parquet war geschlagen und mit Teppichen belegt. An der einen Seite wurde ein Tisch für die Erfrischungen, die genommen werden sollten, aufgestellt. Auf der andern ließ Olga einen großen Fruchttisch errichten. Sie hatte schon gestern den ganzen Tag Blumengehänge flechten und verbinden lassen. Diese wurden an dem Hause und den nächsten Bäumen befestigt und hier und da noch von grünen Stäben unterstützt. So gab das ein freundliches Dach, unter dem sich der große Fruchttisch ganz malerisch ausnahm. Sie hatte ihn mit bunten Decken belegt und mit allen in dem Garten gewonnenen Früchten geziert. In Porzellankörben, in krystallenen Schalen lagen hochaufgethürmt Äpfel, Birnen, Zwetschen, im höheren Centrum Pfirsiche, Aprikosen, und eine Melone bildete den höchsten Mittelpunkt.[2013] Dazwischen lagen Weinblätter, mit denen die Gefäße garnirt waren. Man konnte diesen Tisch kaum mit dem Verlangen betrachten, davon zu essen. Man konnte nur wünschen, daß dies schöne Ensemble unangerührt und ungestört bliebe. Die Mutter würdigte diese ganze Veranstaltung kaum eines Blickes und war doch so eifersüchtig, daß sie Olga anwies, sich nun um das Weitere, was die Weinlese selbst betraf, nicht zu bekümmern. Aber auch da ging es ihrer Autorität schlimm. Die Fürstin verlangte, daß alle gewonnenen Trauben von den Dienern und Mägden auf einem großen Tische, wo Jeder nach Belieben davon nehmen könnte, in der Mitte des Gartens aufgehäuft würden und rückte nun an diesem Tische und ließ ihn da-, dorthin transportiren. Olga fand diese Einrichtung komisch und der Weinlese nicht im mindesten entsprechend. Sie sagte Das in aller Ruhe, reizte aber die Mutter gerade durch diese Ruhe mehr, als durch Heftigkeit. Wie denkst du dir's denn, Olga? fragte Rudhard gelassen. Olga sagte: Es müßte sogleich in die Stadt auf den Markt geschickt und ein Dutzend kleiner Handkörbe gekauft werden und ein Dutzend kleiner Gartenmesser von krummer Gestalt; Messer zum Einschnappen. Diese Körbe und diese Messer müßte dann die Hausfrau jedem Gaste, der helfen wolle, mit höflicher Bitte feierlich überreichen und so müsse zu gleicher Zeit von Allen der Wein geschnitten werden. Rudhard konnte auch diesen Vorschlag nur billigen und der Fürstin, so peinlich es ihm war, wieder Unrecht geben. Diese kopfschüttelnd [2014] rief verdrießlich einem ihrer Diener und schickte ihn in die Stadt, sogleich zwölf kleine längliche Handkörbe und zwölf krumme Messer zu kaufen. Der Diener ging, nachdem er vorher Rudhard einen soeben für ihn von dem Postboten gebrachten Brief überreicht hatte.

Rurik und Paulowna hatten, wie Das unter Kindern bei solchen Anlässen immer ist, eine so überselige Erwartung, daß keine Wirklichkeit ihr hätte gleichkommen können. Bei Tisch entspann sich neuer Zwiespalt zwischen Mutter und Tochter. Man aß ausnahmsweise, weil die Gäste um drei Uhr erwartet wurden, sehr früh. Die Fürstin wollte, daß die Kinder sich wie gewöhnlich satt aßen, damit sie von den spätern Torten, Früchten und dem Eise nicht zu gierig naschten und ihrer Erziehung Schande machten. Olga verlangte gerade im Gegentheil, daß sie wenig aßen und sich nachher desto unschädlicher an den Näschereien erfreuen könnten, die einmal doch nicht unterbleiben würden. Rudhard hörte absichtlich nicht auf den Streit. Er legte mechanisch die Speisen vor. Er schien zerstreut; der Brief, den er empfangen, hatte ihn übellaunig gestimmt. Fast mechanisch, fast gedankenlos gab er zuletzt doch wieder Olga Recht, worüber die Mutter sich so erzürnte, daß sie aufsprang und weinte. Rudhard folgte ihr und bat sie, sich zu beruhigen. Er verwies Olga dies ewige Streiten und Rechthaben. Worauf Olga, ganz kalt, fast trotzend erwiderte: Ja! Es ist sehr Unrecht, Recht zu haben!

[2015] Dieser gereizte Ton zwischen Mutter und Tochter war seit der eigenmächtigen Partie nach Solitüde eingerissen. Die Fürstin hatte damals nicht Worte genug finden können, um ihre Mißbilligung über diesen kecken Einfan zu erkennen zu geben. Nichts von den Erzählungen der Kinder konnte sie beruhigen. Der Gruß der Königin war ihr beklemmend, ja compromittirend, wenn sie sich sagen mußte, daß diese drei Kinder ohne Aufsicht am Schlosse zu Solitüde waren gesehen worden. Olga antwortete keine Sylbe, bis sie plötzlich hinwarf: Hätten wir Siegbert nur nicht getroffen, so würdest du uns ausgelacht haben. Da wir ihn aber trafen, haben wir ein Verbrechen begangen!.. Es lag in dieser scharfen Entgegnung eine Wahrheit, die auf die Fürstin entwaffnend wirkte. Aber ihre Niederlage dauerte nur einen Augenblick. Von Stund' an begann sie fortwährend an Olga zu tadeln, sie eitel, verkehrt, nachlässig zu schelten, während Olga schwieg und sich nur zuweilen durch irgend ein kurz hingeworfenes scharfes Wort gegen die Anklagen ihrer Mutter zu vertheidigen suchte. Rudhard, zu sehr in Anspruch genommen von der wiederangeknüpften Freundschaft für Egon, von der Entdeckung einer mit dem Bilde der Fürstin Amanda vorgenommenen Gewaltthätigkeit, ließ diese Störungen des häuslichen Friedens so hingehen und bemerkte sie kaum, da er wenigstens dann, wenn Siegbert kam, eine Art Waffenstillstand fühlte. Mutter und Tochter schwiegen dann und zeigten sich in dem natürlichen Verhältnisse, daß die Eine befahl, die Andere gehorchte. Es [2016] muß schon eine große Verwilderung in den Sitten einer Familie eingerissen sein, wenn man die Verstimmungen, die im innersten Schooße derselben herrschen, auch vor dem Auge Anderer zeigt. Siegbert gehörte wol schon wie ein Sohn oder ein Bruder zur Wäsämskoi'schen Familie, aber Mutter und Tochter fühlten doch noch eine tiefinnerliche sittliche Veranlassung, sich ihm so zu zeigen, wie es in der Ordnung der Natur und dem feineren Zartgefühle des Herzens eigentlich begründet war. Takt ist die einzige erlaubte Nothlüge der Tugend.

Die Fürstin war ihrer Absicht, zurückgezogen zu leben, treu geblieben. Sie hatte nur wenige Namen der großen Welt besucht und sich auf die Menschen beschränkt, die sich so zu sagen selbst bei ihr einführten. Die Oberhofmeisterin konnte nur selten kommen. Anhänglicher war Anna von Harder, die sich oft die Kinder nach Tempelheide citirte und sie an der Thierwelt des alten Schwiegervaters sich ergötzen ließ. Es lag so etwas Mütterliches in ihrer ganzen Art, daß die Kinder sie Tante Anna nannten und sich freuten, einmal einen ganzen Sonntag oder wol eine Nacht in jenem kleinen Schlosse und bei dem Tannenparke bleiben zu dürfen, in welchem es so viele kleine chinesische, mit Geflügel bevölkerte Pavillons, so viele Ställe und Hürden und bei allem Geblök und Geschnatter so viele melodische Windharfen gab. Anna von Harder hatte versprochen, zur Weinlese zu kommen und kam auch mit einem prächtigen vom Bedienten aus dem alten Wagen nachgetragenen [2017] Kranze von Georginen, den sie nach dem Willen der Kinder sich über die Schulter werfen sollte, aber bescheiden ablehnend auf das Gewinde an den sinnig geordneten Fruchttisch wie eine bescheidene Opferspende zum Feste hängte.

Natürlich fehlte auch die unvermeidliche Frau von Trompetta mit ihrem ebenso unvermeidlichen Inseparable Fräulein von Flottwitz nicht.

Unsere gute Frau von Trompetta war seit einiger Zeit gar verstimmt. Der Hof hatte den Ankauf des Gethsemane abgelehnt und sich nur zu einigen Aktien oder Loosen bereit erklärt. Sie war darüber in eine doppelt begründete Betrübniß verfallen. Einmal schmerzte sie's der nun gehinderten rascheren Beförderung wegen, anderntheils war sie in großer Besorgniß, nicht mehr in der Gunst des Hofes zu stehen. Die Altenwyl, die strenge Richterin der Sitte, sollte, wie ihr »gesteckt« wurde, in den »kleinen Cirkeln« etwas von der »Ruhmsucht der Wohlthätigkeit« gesagt haben. Man hatte, erfuhr sie, viel Anekdoten von ihren Zwangsmaßregeln, um ihre Sammlungen einmal den Künstlern, ein andermal den Dichtern abpressen zu können, erzählt, und wie gern man das herrliche Werk, dies bunte fromme Gethsemane, bei Hofe besessen hätte, man gab sich doch wieder jener besorgten Rücksicht hin, ob nicht an so hoher Stelle eine Unterstützung dieser Zwangs- und Ruhmsuchtswohlthätigkeit ein schlimmes Gerede geben und Anstoß erregen könnte. Die Trompetta fand jedoch ihr Unglück in noch [2018] hundert andern Ursachen. Sie sah Feinde, Verleumdungen, sie projektirte einen Fußfall bei der Königin und wurde vor Kummer und Nachgrübeln über ihr »Malheur« um einige Linien magerer. Sie mistraute ihren besten Freunden. Von Pauline von Harder, die sie schon längst geringschätzig behandelt hatte, glaubte sie sich zuerst zurückziehen zu müssen, was ihr bei der plötzlich so wunderbar gestiegenen Bedeutung jener Frau schwer, fast unmöglich wurde. Für Anna von Harder, die bei Hofe in so hohem Ansehen stand, wurde sie eben deshalb eine unerträgliche Plage. Sie ruhte nicht, bis eine Aufführung des Judas Maccabäus »innerhalb der Gesellschaft« zur Unterstützung einer Kleinkinderbewahranstalt angebahnt war. Sie sang geistlich, wo sie nur konnte, und hatte auch für diesen Weinlesenachmittag einige Oster-Lamentationen aus der römischen Peterskirche mitgebracht. Auch der Flottwitz, ihrem unermüdlichen Trabanten, mistraute sie zuweilen und machte ihr Vorwürfe, daß sie seit dem verunglückten Hinterhalt auf der Terrasse von Solitüde so oft mit Neigung von jenem Dankmar Wildungen spräche, der doch allgemein durch seine Grundsätze sowol, wie seinen vermessenen Proceß, als ein Feind des Staates und der Kirche bekannt wäre. Sie hatte von Gelbsattel, der durch Rudhard's alte »Zeltkameradschaft« von Schulpforte her gleichfalls bei der Fürstin Wäsämskoi eingeführt war und für heute Nachmittag mit seiner Gattin und seinen Töchtern erwartet wurde, die ganze Bedeutung der von den Brüdern Wildungen [2019] erhobenen Ansprüche vernommen und war nicht wenig in Verlegenheit, als sie sich gefaßt machen mußte, ihnen hier Beiden zu begegnen. Vor Siegbert schämte sie sich sogar, ihres Gethsemanes wegen, das der Hof nicht angekauft hatte!

Propst Gelbsattel nahm die Einladung in nicht geringer Spannung an. Hätte er gewußt, daß er seinen scharfen Antagonisten, den demokratischen Maler Max Leidenfrost, gleichfalls finden sollte, wer weiß, ob er gekommen wäre! Leidenfrost aber war recht eigentlich gerade die Hauptperson des Festes; denn er hatte versprochen, es durch Kunstfeuerwerkerei, die er meisterhaft verstand, zu verschönern und auf das Brillanteste zu beschließen. Er war es, der schon am Tage zuvor einen stattlichen kleinen Böller von einigen Arbeitern der Willing'schen Maschinenfabrik, natürlich verdeckt in einem großen Kasten, hatte in den Garten fahren lassen. Er war es, der mit der Dämmerung Heusrück, Alberti und den hochgeschulterten Danebrand erwartete, um mit ihnen gemeinschaftlich unter dem klaren Sternenhimmel des Herbstes Pulver und Arsenik unter den mannichfachsten Formen in Brand zu setzen.

Gegen vier Uhr saß die ganze Gesellschaft beim schönsten Sonnenschein auf dem Gartenparkett in der Runde und schlürfte einen vorzüglichen Mokka. An Süßigkeiten ein Überfluß. Neben den gebetenen waren Bienen und Käfer die ungebetenen Gäste. Alles athmete Luft und Behagen. Es war ein heiterer Anblick, dieser blaue Himmel, [2020] dieser grüne Rasen, die vollen Obstbäume, die Blumen, die festlichen Anordnungen, die geschmückte Gesellschaft. Und die Trompetta führte das Wort! Das war nicht minder lebendig! Auch Anna war sehr angeregt. Die Gute fühlte sich immer glücklich, wenn sie von den Pflichten in Tempelheide, die sie gern übte, doch einmal erlöst war. Gelbsattel gab manche gewichtige Meinung anzuhören ... seine Gattin, die Pröpstin, war freilich stumm. Die drei Töchter aber, sonderbarerweise sitzengebliebene und doch sehr angeregte junge Damen, schossen mitredend auf Alles zu, was nur erörtert und berührt wurde. Leidenfrost, wie man es erwarten konnte, im Überrock ohne alle Festestoilette, mit seinem grauen Hut, ohne Handschuhe, hielt sich glossirend zurückgezogen. Siegbert dagegen machte fast den Wirth, umsomehr, als Rudhard etwas auf dem Herzen hatte und nicht recht aufthauen konnte. Die Flottwitz schien etwas ungeduldig. Dankmar fehlte noch. Sein Bruder entschuldigte ihn durch die vielen Mühen, die ihm der Proceß koste, wobei er einen fast abbittenden Blick auf den Propst warf, der seinerseits das Wort ergriff und sogleich mitten in jene Stimmungen hineinfuhr, die in ihm diese inzwischen immer mehr vorgeschrittene Angelegenheit wecken mußte.

Seine älteste Tochter, Emmy, warf ihm einen verweisenden Blick zu, als er so polterte; er möchte sich mäßigen, die Umgebungen in Anrechnung bringen ...

Allein, noch erwärmt von dem Besuche Sylvester Rafflard's, der eben bei ihm gewesen war, legte der Propst [2021] seinem Redeeifer keinen Zügel an, sondern versetzte alle Anwesende rasch auf den Standpunkt, in dem sich gegenwärtig die merkwürdige Johanniter erbschafts-Angelegenheit befand.

[2022]
5. Capitel. Gegensätze
Fünftes Capitel
Gegensätze

Es ist erstaunlich, begann Gelbsattel, wie tief diese Sache in Fleisch und Blut der wichtigsten Interessen eingreift. Ich will von einigen kleinen Stiftungen nicht sprechen, die selbst in dem Falle, daß der Staat den Proceß gewönne, verloren wären ...

Davon nicht sprechen? unterbrach den Propst sogleich voll Eifers Frau von Trompetta. Von frommen Stiftungen nicht sprechen?

Allerdings, sagte der Propst. Wenigstens solche Stiftungen, die in einem frommen Sinne begründet wurden –

Zu denen du doch, fiel Rudhard ein, nicht etwa die Sonnabendspredigt rechnen wirst, die regelmäßig in der kleinen Dreieinigkeitskapelle ein Candidat zur Judenbekehrung halten muß?

Lieber Freund, antwortete Gelbsattel, ich theile vielleicht ganz dein Bedenken gegen diese hundertjährige Veranstaltung, der es noch nicht gelungen ist, nur einen einzigen Juden zu bekehren, allein es ist die äußere Form eines Stipendiums für einen jungen Candidaten, der sich auf diese Art homiletisch übt und unter dem Schirm eines [2023] christlichen Zweckes die noch christlichere Wirkung einer Wohlthat genießt –

Bester, sagte Rudhard lachend, das ist sehr hübsch gesagt für den Candidaten Oleander, der gegenwärtig diese Predigten hält und dein Schwiegersohn werden soll; allein nimm mir nicht übel, diese Art von Überlieferungen taugt nichts. Geht's nicht mit dem ganzen Christenthum so, daß man es gleichsam für ein Vermächtniß hinnimmt, das Niemand untersucht und das nur für den Schild eines völlig heterogenen, ihm untergelegten Begriffes dient?

Anna von Harder blickte bei Erwähnung des Schwiegersohnes theilnehmend auf Emmy Gelbsattel, die sich verfärbte und über den Namen Oleander in Verlegenheit zu gerathen schien. Anna wollte mit holdem Blicke der ältesten Tochter Gelbsattel's, der sich schon viele Partien zerschlagen hatten, zu dieser Glück wünschen. Aber das nicht mehr junge Mädchen erschien ihr plötzlich keine Braut. Sie unterdrückte ihren guten Willen und wagte es, sich in das Gespräch der Männer zu mischen. Während sie den Kindern Früchte abnahm, die diese ihr verschwenderisch anboten, wagte sie eine bescheidene Äußerung, die sie schüchtern und beklommen genug vortrug.

Ich will die Verstellung nicht in Schutz nehmen, sagte sie, ebensowenig wie eine gleichsam für gültig erklärte Täuschung, aber ist es nicht wirklich mit dem Glauben so, daß sich das angeborene und durch schmerzliche oder dankbar aufgenommene freudige Lebensschicksale in uns entwickelte gläubige Bedürfniß an die Wahrheiten des [2024] Christenthums anschmiegt und ohne viel zu prüfen, was sich davon beweisen läßt, soviel als nur beseligend auf uns einwirkt, in sich aufnimmt?

Natürlich! sagte die Trompetta mit verklärtem aber stolzem und verächtlichem Blick. So ist es! Nicht anders. Schleiermacher hat Das jeden Sonntag gepredigt.

Und gleichsam, als wollte sie fernere vorwitzige Erörterungen heiliger Fragen abschneiden, setzte sie hinzu:

Würden denn auch Witwen und Waisen unter der Entscheidung dieses merkwürdigen Rechtsfalles leiden, Herr Propst?

Das zwar nicht unmittelbar, sagte der Gefragte, seine Tasse mit Würde haltend, allein wo fließen in dieser Welt außergewöhnliche Hülfsquellen, die nicht irgendwie auch mit den Bedürfnissen der Witwen und Waisen zusammenhingen?

Max Leidenfrost verzog die immer sarkastischen Mienen zu einem entschiedenen Lächeln und platzte hervor:

Nun Das muß ich gestehen, ich wollte eben eine Mücke todtschlagen, als mir einfiel, daß sie vielleicht einen alten Vater zu ernähren hat!

Man lachte wohl über dieses Gleichniß, aber Propst Gelbsattel, der das Bild von der Academia della Crusca, das Leidenfrost einst bei Louis Armand mit Anspielung auf Gelbsattel's Kunstansichten angegeben, nicht vergessen hatte, warf einen verächtlichen Blick auf den Sprecher, der sich in dem Bewußtsein, die Gesellschaft heute noch als Pyrotechniker unterhalten zu dürfen, ganz behaglich [2025] auf seinem Gartensessel wiegte und mit den Kindern allerhand Kurzweil trieb, auch Siegberten dadurch neckte, daß er sich stellte, als wenn er nicht wüßte, wie man in solcher Gesellschaft Kaffee tränke und Gebackenes äße. Er faßte den Theelöffel manchmal absichtlich verkehrt oder gab sich die Miene, als wollte er sein Getränk in die Untertasse gießen und aus dieser schlürfen, worüber Siegberten, der gleichsam hier für ihn wie für ein wildes Thier gut stand, ein Schrecken überfiel. Leidenfrost machte, als er seine Tasse auf den Tisch zurück stellte, sogar einmal die Miene, als wenn er den Tassenkopf, wie die Bauern thun, umwenden wollte. Siegbert merkte wohl, daß ihn Leidenfrost nur neckte; aber er dachte sich doch die Möglichkeit, daß ihm der wilde Cyniker wirklich einen solchen Streich vor der Fürstin spielen konnte. Daß er ihm seinen Überrock und den Slowakenhut nicht vorhalten durfte, peinigte ihn schon genug.

Ich habe mich, fuhr Leidenfrost fort, ganz genau nach allen wohlthätigen Dependenzen jener Erbschaft erkundigt. Mein Freund Siegbert ist zu gewissenhaft, Mücken todtzuschlagen, die einen alten Vater ernähren müssen. Er würde, wenn der Familie Wildungen Das wird, was von Gott und Rechtswegen ihr gebührt, sicher Niemanden entgelten lassen, daß das Unrecht früherer Zeiten ihm Wohlthaten spendete, die das Recht der Gegenwart ihm entzöge. Was ist nun da zum Vorschein gekommen? Nichts, was sein Gewissen beunruhigen könnte. Die alten Häuser werden luxuriös verwaltet und verfallen in Trümmer. [2026] Wo man Familienwohnungen für die Armuth hätte bauen sollen, duldet man den Fortbestand von Höhlen des Lasters und des Elends, deren Ertrag zu Zwecken verwendet wird, die keine innere Nothwendigkeit haben. Diese Häuser, diese Liegenschaften und Grundzinsen bringen enorme Summen ein. Wozu werden sie verwendet? Zur Herstellung eines Überflusses neben dem Nothwendigen, für das schon von anderer Seite gesorgt ist. Gründlichen Besitz wagte die Stadt nie von jener Verlassenschaft zu nehmen. Schulen, Witwen und Waisen sind nicht darauf angewiesen, wohl aber frivole, überflüssige Zwecke, als da sind: Judenbekehrungspredigten, Missionsbeiträge, Bibelgesellschaftsunterstützungen und dergleichen Frivoles mehr. Das einzige Praktische sind die bedeutenden Vergrößerungen der Emolumente des hohen Rathes der Stadt, der Geistlichkeit, derjenigen Kirchen, über die der Magistrat das Patronat hat, eine Kutsche für jeden der vier Syndici, eine Kutsche für – ich bedaure es sagen zu müssen – für die Propstei und damit ich nichts verschweige, allerdings der sehr ehrenwerthe Fond für diejenigen Geistlichen, die an den drei Hauptkirchen der Stadt angestellt sind und Töchter haben, um deren Ausstattung sie in Verlegenheit sind. Denn jede Pfarrerstochter, die ein drittes Aufgebot nachweist, bekommt eine Aussteuer von tausend Thalern. An dieser philanthropischen Institution versündigen sich allerdings die Gebrüder Wildungen sehr, wenn sie den Proceß gewinnen sollten.

[2027] Leidenfrost unterbrach sich hier selbst und bat um Entschuldigung, da ihm der Gärtner wegen einiger Vorbereitungen zum Feuerwerk in angemessener Entfernung winkte.

Er erhob sich rasch und ging. Paulowna und Rurik sprangen ihm nach und verließen die Gesellschaft, die über die bittern Worte des schroffen Mannes fast erschrocken war. Es währte einige Zeit, bis sich eine harmlose Stimmung wiederfand. Man wollte das Thema der Erbschaft verlassen, fing über zufällige andere Veranlassungen eines lauten Urtheils zu sprechen an, aber die Trompetta konnte sich nicht mäßigen. Man hatte die ihr heiligsten Dinge, jene Stiftungen, jene Zweckvereine frivol genannt. Da half nichts, sie mußte die Hände zusammenschlagen und mit einem Blick hinter dem in den Gängen des Gartens mit den Kindern verschwindenden Leidenfrost her ausrufen:

Großer Gott! Was man nicht Alles hören muß in dieser Zeit! Die Bibelgesellschaften frivol!

Die Fürstin wollte Leidenfrost seiner Sonderbarkeit wegen entschuldigen. Siegbert sprach von seiner gewöhnlichen rücksichtslosen Art, aber die Trompetta verlangte von den Männern ein Urtheil, ein Verdammungsurtheil, eine entrüstete Äußerung, eine Indignation, ein Anathem!

Gelbsattel wollte da gar nicht recht mit der Farbe hervor. Er pries die Bibel, nannte sie das Buch aller Bücher, rühmte die Thätigkeit der Bibelgesellschaften, gab statistische [2028] Angaben über die Zahl der von England herübergekommenen und vertheilten Exemplare ...

Das war aber Alles nichts. Die Trompetta beruhigte sich nicht und forderte dadurch den etwas unwirschen und verdrießlichen Rudhard heraus zu der Äußerung:

Meine gnädige Frau! Die Bibel ist ein herrliches Buch! Sie ist gar kein Buch, sondern ein Stück von der Geschichte selbst! Sie ist das Leben selbst und wol von Gott eingegeben, wie alle Zeugnisse seiner Größe, seiner Allmacht, wie alle Wunder, wo man die Züge seines Athems zu hören glaubt. Allein, beste gnädige Frau, die Bibel will gelesen, will verstanden sein. Ich bin dieser Tage einmal in den Fall gekommen, einem Menschen, der mich fragte, ob er die Bibel lesen solle, zu sagen: Guter Freund, hier habt Ihr ein Buch! Les't darin! Es ist nicht die Bibel, aber besser für Euch! Es war der Don Quixote.

Großer Gott! schrie die Trompetta auf und auch Anna von Harder fühlte sich doch wie von einer kalten Hand ergriffen.

Die Bibel und der Don Quixote! rief man entsetzt.

Alle Töchter des Propstes waren vor Erstaunen sprachlos.

Das ist ganz einfach, sagte Rudhard sehr gelassen. Unser Kutscher verfiel kürzlich in eine Art Trübsinn und fing in sonderbarster Weise an, über Leben und Sterben zu sprechen. Den Namen Gottes führte er selbst beim Striegeln seiner Pferde im Munde und unterließ alle die herzhaften Flüche, die früher die Thiere von ihm gehört [2029] hatten und an die sie schon gewöhnt waren. Sie zogen nun auch viel schlechter. Peters, fragte ich ihn eines Tages, du bist so trübsinnig, was fehlt dir? Herr Pfarrer, antwortete er, schon lange wollt' ich einmal mit Ihnen sprechen und mein Gemüth stärken. Was hast du, Peters? fragt' ich. Er erzählte mir dann eine traurige Geschichte von seinen häuslichen Leiden. Seine Frau wäre weltlich gesinnt, lebte unter Spöttern und Ehebrechern und es verlange ihn recht die Bibel zu lesen. Warum willst du die Bibel lesen? fragte ich. Um mich vorzubereiten, mich von meiner Frau scheiden zu lassen, sagte er ...

Anna von Harder fand diesen Zug, Rudhard unterbrechend, sehr bedeutungsvoll und nannte eine solche im Volke noch wurzelnde Empfindung eine Seltenheit, da man gerade jetzt auf die leichtsinnigste Art sich verbände und wieder trennte.

Gut, sagte Rudhard, ich hätte auch nichts gegen eine solche Vorbereitung einzuwenden gehabt. Ich erkundigte mich aber genauer nach den Verhältnissen des Mannes, dem Charakter und der gegenwärtigen Handthierung seiner Frau, und da merkt' ich wohl, daß unser guter Peters nur ein Hypochonder war, die unschuldigsten Dinge schwarz sah und auf seinem Kutscherbock Grillen fing. Unter solchen Umständen hielt ich es für besser, ihm statt der Bibel eine heitere Lektüre anzurathen. Wir kauften ihm eine hübsche Ausgabe des Don Quixote mit schönen Bildern. Er hat sich nun in die Heldenthaten des sinnreichen Junkers von La Mancha so verlesen und lacht auf [2030] dem Bocke noch hinterher, wenn ihm plötzlich einfällt, was er Abends in seiner Stallkammer in sich aufgenommen hat, so lustig, daß die Pferde jetzt viel besser ziehen, und ich meine, Das ist ein Resultat, wie wir es durch die Bibel nie gewonnen hätten.

Rudhard endete damit eine Erzählung, die die Unbefangenen, besonders Siegbert befriedigte, nur vorzugsweise Frau von Trompetta nicht. Sie schüttelte den Kopf und fand hier etwas, was nicht nach dem landesüblichen Systeme war.

Der Blick nach dem Kutscher und die Erwähnung des Stallkämmerchens hatte die Augen auf den Eingang des Gartens gelenkt, durch den jetzt eben Dankmar Wildungen eintrat.

Dankmar kam in großer Erregung. Das Erscheinen des anziehenden jungen Mannes, der von Tag zu Tag an Kraft des Willens und edler Männlichkeit gewann, erregte das allgemeinste Interesse. Man fühlte, daß der Kreis erst jetzt vollständig wurde. Die Damen grüßten ihn durch eine leichte Erhebung; die Männer standen auf, um ihm die Hand zu reichen, selbst Propst Gelbsattel übte einen Akt der antiken Heroenzeit; er ehrte sich selbst in seinem Gegner und machte die nähere Bekanntschaft desselben gleichsam so, daß er die Waffen erst zu seiner Begrüßung senkte. Er erwähnte sogleich den Vater der Brüder, die alte Zeltkameradschaft von Schulpforte und spielte nekkend auf das zukünftige Glück der Söhne seines alten »Freundes« an, ohne jedoch die Mutter zu erwähnen, weil[2031] ihn dies Thema in Gegenwart seiner Familie zu weit geführt hätte.

Die meiste Achtung zollte Dankmar der Fürstin, die ihn gar freundlich begrüßte und ihn der neben ihr sitzenden Anna von Harder vorstellte. So sah denn Dankmar endlich auch diese vielbesprochene und ihm selbst so werthvolle Frau zum ersten male in der Nähe! Anna betrachtete den jungen, für unternehmend und charakterfest bekannten Mann mit Wohlgefallen und konnte wol begreifen, daß die Flottwitz über und über erröthete, als ein kurzer, flüchtiger, aber sonderbar herausfordernder Blick aus Dankmar's blitzendem Auge statt aller Begrüßung zu ihr hinüberstreifte. Die Trompetta fragte, ob er sich erst so spät von seinem Freunde, dem Prinzen Egon, losgerissen hätte?

Ich komme soeben, antwortete Dankmar, den Kaffee, den ihm der Bediente bot, rasch niederschlürfend, von Hause, vor zwei Stunden aber aus der Kammer.

Was ist vorgefallen? fragte man gespannt.

Eine eigentliche Herausstellung der Parteien, antwortete Dankmar, wird sich erst heute Abend in der Berathung eines Paragraphen zur Geschäftsordnung ergeben.

Also eine Abendsitzung? schaltete die Trompetta ein und überlegte, ob sie einen Versuch machen sollte, sich ihrerseits an das constitutionelle Leben zu gewöhnen und ob sie den Abend frei hatte ...

Man will das Beispiel einer großen Beflissenheit geben, fuhr Dankmar fort. Man will Abendsitzungen halten und [2032] Niemand trug auf Zeitersparniß und Fleiß eifriger an als der Fürst von Hohenberg.

Im Stillen dachte die Fürstin Wäsämskoi etwas spöttisch: Arme Helene!

Die Gruppen, fuhr Dankmar fort, werden sich erst scheiden bei dem Antrage der Regierung, daß die Minister das Recht haben sollen, zu jeder Stunde, auch nach schon geschlossener Debatte, in der Kammer das Wort zu ergreifen. Es wird sich dabei herausstellen, auf welche Majorität das Ministerium überhaupt rechnen kann. Einstweilen hat die Bildung der Ausschüsse die Thätigkeit der Kammer allein in Anspruch genommen und bei dieser Gelegenheit war es, daß Egon heut' eine Rede hielt, die einen Sturm von Beifall, die Bewunderung des ganzen Saales, den Jubel aller Tribünen und die höchste Spannung selbst des Ministertisches hervorrief.

Erzählen Sie davon! hieß es.

Dankmar, voll innigster Theilnahme, rasch und feurig bewegt, fuhr fort:

Der Fürst war in den industriellen Ausschuß gewählt und trug darauf an, ihn aufzulösen und neuzuwählen. Man opponirte. Er sagte: Ich bin der Berichterstatter des Ausschusses: meine Gründe haben ihn bestimmt, selbst eine Auflösung zu erbitten. Ich referire für ihn. Die Partei der Linken hatte aber das Übergewicht in diesem Ausschusse gehabt und widersetzte sich der Neubildung. Darüber nahm denn Egon Veranlassung, von dem Parteigeiste überhaupt und von der Zerrissenheit der staatsrechtlichen [2033] Principien, gegenüber den wahren Bedürfnissen der Völker, in so ergreifender Weise zu sprechen, daß der Ausschuß neu gebildet und durchaus nur von Männern, die über diese Gegenstände kompetent sind, zusammengesetzt werden wird.

Brav, rief Rudhard. Ich gebe die Versicherung, daß Egon der Begründer einer neuen Politik, der der Unparteilichkeit und alleinigen Geltendmachung des wahren Volkswohls sein wird.

Das wäre eine echte Errungenschaft! rief innigst Antheil nehmend Anna, die in einer solchen vermittelnden Politik eine Bürgschaft des Friedens und der Liebe sah.

Aber die Trompetta, Flottwitz, Gelbsattel verlangten doch noch näheren Aufschluß über die Parteifarbe und wollten ohne Parteifarbe in der gegenwärtigen Zeit nichts gelten lassen. Auch Siegbert blickte den Bruder gespannt an und wollte von ihm hören, wie sich Egon, auf den die jungen Männer so viel Hoffnungen setzten, »gemacht« hätte.

Ich kann, sagte Dankmar, nur berichten, daß Egon sehr gewandt, sehr anziehend sprach. Er vermied jede Verletzung irgend einer Partei. Er bat die Parteien, höhere Gesichtspunkte zu gewinnen. Die Rede floß ihm so gefällig, so gewandt vom Munde, man sah ihm so die lange Beobachtung eines vorzugsweise rednerischen Volks, der Franzosen, an, daß es mir manchmal war, als dächte er Das, was er deutsch sprach, erst französisch. Gewisse Schlagworte, gewisse Antithesen brachte er so wohlangelegt [2034] vor, daß sie ihm stürmische Unterbrechungen seiner Rede zu Wege brachten.

Daß ich Das versäumte! meinte die Trompetta mit Melancholie und stiller Gewöhnung an die Neuzeit.

Man kann sich denken, bemerkte die Fürstin etwas verstimmt über diese lange Apotheose des Freundes ihrer Schwester; man kann sich denken, wie pikant es der Galerie sein muß, sich zu sagen: Dieser Redner trug in Frankreich die Blouse und führte den Hobel eines Tischlers!

Man lächelte über diese Bemerkung; aber Dankmar nahm sie im Ernste auf und äußerte:

Ja, Durchlaucht, Das ist es auch! Als Egon auftrat, murmelte der ganze Saal vor Spannung. Es war als hörte man, wie Jeder den Andern anstieß und flüsterte: Das ist der entartete Sohn des berühmten Kriegers! Das ist der junge Hohenberg, der in Lyon Communist war und als Handwerker auf der Landstraße »fechten« ging. Denn natürlich! Das Gerücht übertreibt sogleich. Ein einziger abenteuerlicher Zug wird sogleich die Veranlassung eines Märchens.

Die unglückliche Amanda! schaltete Anna ein; wenn sie Das sähe! Wenn sie für soviel grausame Schläge, die das Schicksal nach ihrem Herzen führte, diese Mutterfreude erlebt hätte!

Propst Gelbsattel, der wiederum voll Unmuth sah, daß doch so außerordentlich viel in der Welt jetzt geschah, ohne sein Zuthun, ohne eine Anfrage bei ihm, ohne ein Gutachten, wie es sonst in den heterogensten Dingen von [2035] ihm gefodert wurde, Gelbsattel wünschte etwas von Dem zu hören, was Egon geäußert, besonders über die Gewerbe geäußert hätte.

Dankmar sagte, daß Dies die Zeitungen heute Abend ausführlich berichten würden. Egon hätte in der Gewerbspflege seine Vermehrung der Reichthümer einer Nation nachgewiesen; denn die Arbeit schaffe Werthe und Werthe der Arbeit wären Dasselbe, was Werthe des Besitzes, ja moralisch genommen, wären sie noch kostbarer. Die Pflege der Gewerbe könne nur erblühen in einem freien, in einem mächtigen Staate. Wenn unsre Monarchie in Deutschland erstarke, so könnte der Wettkampf mit England gewagt werden – ich meine, rief er, jener unblutige Krieg der Arbeit mit der Arbeit, des Fleißes mit dem Fleiße, des Menschenberufes mit dem Menschenberufe – eine Stelle, die großen Beifall hervorrief.

Anna unterbrach Dankmar mit den fast wehmüthigen Worten:

Sie ist auch schön! Ich gestehe, daß der Gedanke, wie in diesem jungen Manne die edle Natur seiner Mutter so hervorbricht, mich unendlich rührt.

Von der Verfassung der Gewerbe, fuhr Dankmar fort, sagte Egon, daß man sie durchaus schützen müsse, ohne die veraltete Form dieses Schutzes beizubehalten. Bei Aufhebung des Zunftzwanges, rief er, hat sich der Zeitgeist, der es liebt, sich zu überstürzen ...

Sagte er Das? fragte schnell die Flottwitz angenehm überrascht.

[2036] Ja, mein Fräulein, antwortete Dankmar bitter, aber doch mit einer Art schalkhafter Galanterie, er sagte Das, kurz vor einem Angriff auf Vermehrung der Armee ...

Halten Sie Das für mein einziges Princip? fragte das junge Mädchen den Kopf mit Grazie erhebend, daß die Locken in ein angenehmes Schaukeln geriethen.

Das nicht, sagte Dankmar, aber ich kann Sie versichern, daß er auch dem Reubund einen recht schneidenden Seitenstich versetzte. Hören Sie nur! Bei Aufhebung des Zunftzwanges, sagte Egon, hat sich der Zeitgeist, der es liebt, sich zu überstürzen, darin geirrt, daß er das Kind gleich mit dem Bade verschüttete. Das Gute am Zunftzwange hätte schon bleiben sollen. Allein unser damaliger Staat, der Militairstaat, rief er, wie tief stand er! Wie oberflächlich waren seine Neuerungen! Wie verbrecherisch seine Bestrebungen, sich auf Kosten der innern Kraft äußerlich auszudehnen! Er gab die Gewerbe frei, nicht um der Gewerbe willen, sondern um seiner Armee willen! Er sagte: Ruinirt Euch, wenn Ihr mit dem gescheiterten Versuche, glücklich zu werden, mir nur die Patente, die Freiheiten des Gewerbes bezahlt! Dieser schlechte Staat von damals, rief er, derselbe Staat, den die blinde Reue bündlerisch wiederherstellen will ...

Ah, rief die Trompetta. War Das die Stelle?

Das war die Stelle, gnädige Frau! sagte Dankmar.

Aus dem Munde des Sohnes –

Eines Generalfeldmarschalls! griff Dankmar die zweite Rüge, die vom Fräulein von Flottwitz kam, auf. Die Galerieen [2037] waren außer sich darüber, nicht etwa vor Zorn, sondern vor Jubel. Der Präsident mußte die Glocke ziehen und den Zuhörern alle Zeichen des Antheils und der Misbilligung untersagen –

Ah! Das war seine Schuldigkeit! bemerkte die Trompetta, die sich constitutionell zu bilden anfing. Aber, wie weiter?

Dieser schlechte Staat, fuhr Dankmar fort Egon's Worte zu wiederholen, den jetzt die blinde Reue bündlerisch wiederherstellen will, hatte zur Förderung einer unverhältnißmäßigen Kriegsmacht nur die üppige, wuchernde Fortpflanzung der Bevölkerung zum Ziele. Dieser Staat vernichtete die Gewerbe, indem er sie der Willkür preisgab. Er erleichterte das Recht des Ansiedelns, des Meisterwerdens, der Heirathen. Er wollte nur Menschen und raschgewonnene Einnahmen für den Fiskus. Kurz, Egon schilderte die Nothwendigkeit der ernstesten Erwägungen dieser Verhältnisse mit so lebhaften Farben, daß man auf seinen Wunsch einging und den Gewerbeausschuß aus den Elementen der Kammer zusammensetzte, die über die Interessen der Arbeit kompetent sind. Es ergab sich zwar nunmehr, daß die linke Seite bei der Zusammensetzung dieses Ausschusses im Nachtheile war, sie verlor drei Stimmen und hatte die Majorität nicht mehr, aber man beachtete kaum dies Resultat, so wirkte der Zauber der Persönlichkeit des Prinzen und seiner aus der unmittelbaren Anschauung des Volkslebens gewonnenen Überzeugung nach.

[2038] Die Trompetta, Fräulein Wilhelmine, die drei Gelbsattels, selbst Rudhard waren nur froh, daß die linke Seite in der Minorität geblieben war und bezweifelten jetzt keineswegs die gewaltigen Talente des neuen Staatsmannes. Siegbert sah Dankmarn bedenklich an. Dankmar flüsterte ihm zu: Ich habe viel mit dir zu reden. Ich verlange entschieden, daß wir Beide um acht Uhr heute frei sind ... Siegbert nickte ihm zu, daß er sich darauf verlassen könne ... Die Fürstin erhob sich und bat die Gesellschaft, ihr behülflich zu sein, nun die Trauben vom Stock zu lösen. Einer der Bedienten präsentirte die Körbchen mit den Messern. Die Damen fanden die Idee allerliebst und Alles folgte der Fürstin, um das Werk zu beginnen und dem Dienste des Bacchus in holdesten Grenzen zu opfern. In der Ferne ertönte auf ein von Leidenfrost, der sich wieder genähert hatte, gegebenes Zeichen eine sanfte Musik, die irgendwo in einem hintersten Winkel des Gartens versteckt sein mußte. Die Fürstin war davon auf's Angenehmste überrascht und als es sich herausstellte, daß dies eine Idee von Leidenfrost selbst war, söhnte man sich mit dem wunderlichen Manne, der sie Alle durch seine Äußerungen verletzt hatte, im Geiste leidlich wieder aus und ging wohlgemuth, unter den sanften Accorden, scherzend und neckend an die spielende Arbeit.

Die Näscherei Paulowna's und Rurik's hatte nun freilich schon früher dafür gesorgt, daß diese »Weinlese« keine zu lange Zeitdauer in Anspruch nahm. Unter mancherlei Scherzreden und Neckereien war man bald mit der [2039] »Ernte« fertig und überließ den Kindern, den helfenden Dienern und Mägden, hie und da die Beeren, die noch versteckt oder schwer zu erreichen waren, vom Stamme zu lösen. Man sollte nun die gefüllten Körbe bei sich behalten, ihren Inhalt entweder selbst verzehren oder mit sich nehmen. Das war die Antwort, die die Fürstin Jedem gab, der einen Ort zu wissen wünschte, wo er seine Beute niederlegen sollte. Die Fräuleins Gelbsattel, die sehr lang waren, kamen dabei gut fort. Sie hatten reichlich gesammelt. Die Trompetta, die Lebhafteste, hatte nur geringe Ausbeute. Sie war zu klein, um mit ihrem Messer besonders hoch zu langen und das Anerbieten von Stühlen, Schemeln und Leitern, die die Diener in Bereitschaft hielten, schien ihr bei ihrem corpulenten Wuchse zu halsbrechend und gefährlich. Sie irrte von Blatt zu Blatt und klagte wie der Fuchs in der Fabel aufblickend, daß man ihr Alles vorweggeschnitten hätte. Wo ist denn noch eine Traube? Wo? Wo? rief sie. Kinder! Ich sehe nichts! Wilhelmine! Wilhelmine! ... Aber Fräulein Wilhelmine von Flottwitz stand ihr nicht mit gewohnter Treue zur Seite. Sie war fortwährend mit Dankmar in neckendes Gespräch verwickelt ... Die Fürstin nahm die Lese sehr umständlich und ernst, fast pedantisch. Siegbert mußte ihr den Korb, die Hand, den Schemel halten. Rudhard und Gelbsattel erzählten sich von einer Weinlese bei Naumburg, die sie einst in lateinischer Sprache hätten mitmachen müssen und lächelten über die Erinnerung, wie die Portenser, wenn Einer eben sagte: O quam dulcis haec uva est! und [2040] eine Traube in den Mund herablassen wollten, sie immer vom Andern geraubt bekamen, wobei sie auf Wildungen übergingen, der zu Denen gehörte, denen man nur zu oft den Genuß verdarb, wenn er eben sagen wollte: O quam dulcis haec uva est!

Die eigenthümlichste Erregung unter Allen zeigte Olga. Sie hatte den Trieb, gleichsam die Ehre des ganzen Festes zu vertreten, war hier und dort, sprach mit Dem und Jenem, half überall nach und befahl in der Stille, was die Mutter ihr zu laut zu befehlen schien oder wol gar ganz vergessen hatte. Und bei alledem zog sie sich von Jedem zurück, blieb allein, hüpfte bald da-, bald dorthin und schien nur von Einem Gedanken beseelt, dem, ihren geliebten Freund Siegbert nur einen kleinen Moment für sich allein zu besitzen. Die Mutter, die Flottwitz, die Fräuleins Gelbsattel, Alle machten ihr den Verdruß, daß sie auch an Siegbert zuviel Gefallen fanden und ihn immer nur für sich behielten, während sie nicht ein Wort von ihm erhaschen konnte und nur zuweilen einen freundlichen Blick, der sie mehr verwundete als erfreute, denn in diesem Blicke lag Das nicht, was sie in seiner Seele suchte. So kam es, daß sie von einer quälenden Unruhe hin- und hergetrieben wurde und nur bei Leidenfrost zuweilen Stand hielt, mit dem sie wenigstens lachen, über Alle spotten konnte. Sie ging mit dem kleinen, unschönen Mann in den hintersten Theil des Gartens, wo ein Hügel zum Feuerwerk hergerichtet war. In der Mitte stand der Böller. Ringsherum waren Stakete festgepflanzt, an [2041] welchen schon am Morgen Leidenfrost seine pulvergefüllten Papiere befestigt hatte. Am Fuße des Berges, in einer Laube saßen fünf Musikanten, die von Blaseinstrumenten eine weiche, für Gartenräume zweckmäßige Musik aufführten. Olga sorgte dafür, daß diese Leute Erfrischungen bekamen. Die Mutter achtete nicht solcher Dinge, die ihr kaum einfielen und die, wenn man sie daran erinnerte, immer Veranlassung gaben zum Streit. Denn sie hatte dann immer dieselbe Sache längst bedacht, aber natürlich ganz anders und viel besser ausführen wollen.

Die Gesellschaft wandelte im Garten auf und ab, bald vereint, bald zerstreut. Olga galt für ein Kind, man nahm wol Notiz von ihr, aber scheute sich nicht, ein Gespräch abzubrechen, wenn sie sich nahte. Sie streifte an den Beeten entlang und schloß sich Niemanden an. Rudhard verbot ihr diese Isolirung und sagte ihr im Vorübergehen, sie müsse sich an die Mutter halten.

Wird sie mich denn wollen? fragte sie und warf die großen Augen sicher und fest auf Rudhard, der ihr keine weitere Antwort darauf gab; denn er blieb im Vorübergehen mit der Pröpstin nicht stehen, wie sie. Sie sah ihm eine Weile nach und wandte sich dann, gedankenlos hin- und herirrend und Manchem, der mit ihr sprechen wollte, nicht einmal Rede stehend, wieder zu den Musikern. Unter diesen war ein alter Mann mit weißem Barte. Er blies das Waldhorn ...

Wäre Das ein Harfner, sagte eine Stimme hinter ihr, als sie an der Laube stand und die Notenblätter der Leute [2042] musterte, so würde man an Mignon und den Alten erinnert werden.

Es war Dankmar, der diese Ähnlichkeit fand, und alle Damen stimmten ein ...

Was wußte Olga vom Harfner und von Mignon! Was hatte sie von dem Gespräch, das die weiterwandelnde Gesellschaft über Goethe und Wilhelm Meister und die Bekenntnisse einer schönen Seele begann! Sie folgte dem Zuge der Lustwandelnden, kaum theilnehmend am Äußerlichen, noch weniger an dem Gegenstand des Streites, der sich sogleich zwischen Dankmar und der Trompetta ergab über Goethe, über Wilhelm Meister, über die Bekenntnisse einer schönen Seele, über Alles durcheinander ... Anna von Harder faßte Olga's Arm und ließ sich von ihr führen. Was verstand noch Olga, stillträumend wie ein unerschloßner Blumenkelch, von den Worten, die eben die sanfte Frau zu Dankmar's Freude sprach:

Liebe Trompetta, sagte Anna von Harder. Verurtheilen Sie den großen Dichter seiner Unchristlichkeit wegen nicht! Sagen Sie auch nicht, er wäre unwürdig gewesen, durch die ohne Zweifel von ihm wörtlich aufgenommenen Geständnisse des Fräuleins von Klettenberg sein schlimmes und wie Sie es nennen, frivoles und unsittliches Buch zu schmücken. Daß Goethe diese glaubensstarke Natur in seine Dicht- und Denkweise eintreten ließ, ganz unverbunden, ganz unzusammenhängend mit dem Werke, das er uns geboten hat, beweist nur, wie er doch wol einen tiefen Blick für alles Ursprüngliche im Menschen hatte [2043] und uns in den krausen und wilden Erlebnissen des jungen Meister nur das Leben selber geben wollte in seiner Rückwirkung auf die große Mannichfaltigkeit menschlicher Charaktere. Da ließ er denn auch jenes Fräulein gelten, nicht um der Frömmigkeit, sondern um ihrer Eigenheit willen. Ich fühle, daß man jenem Buche vom Standpunkte der Erfindung aus viel Schlimmes nachsagen kann, aber Menschen sind es doch, die da durcheinandergehen, Situationen sind es doch des wirklichen Lebens. Man sieht Das ordentlich und erlebt es mit. So paßte auch das fromme Fräulein ganz hier herein, diese wunderliche Seele, der ich eigentlich nicht einmal recht zugethan bin.

Was? rief die Trompetta, Sie tadeln die schöne Seele? Das Kleinod aller nach innengewandten Herzen seit einem halben Jahrhundert?

Tadeln? sagte Anna sehr ermuthigt, welch' hartes Wort! Ich sage nur, daß ich sie nicht von Herzen lieben kann.

Nun, Das ist wunderbar! erstaunte die Trompetta und bat um Aufklärung, indem sie fast die Hände faltete. Alle waren gespannt.

Ich finde, sagte Anna gesammelt und ruhig, daß dies Fräulein eigentlich recht eigenwillig ist. Sie nimmt sich das so vor, einmal in Gott ihren einzigen Freund zu suchen und weist, fast kalt, fast gleichgültig, alle Zweifel, alle Sorge, alle Lehre der Menschen zurück. Sie bricht mit ihrem Verlobten, wie er mit ihr bricht. Sie sagt ihm: Magst [2044] du mich, so mag ich dich. Magst du mich nicht, so mag ich dich auch nicht. Ich gestehe Ihnen, daß eine solche Ergebenheit in die Wege des Schicksals bis an's Fahrlässige grenzt. Und weil ich doch aus ihrer Erzählung herausfühle, daß sie keineswegs in andern Dingen fahrlässig, sondern eifrig, emsig ist, so kann ich mich nicht erwehren, sie sogar für ein ganz klein wenig trotzig zu halten und ich glaube, ihr alter Onkel schickt ihr seine kleinen Nichtchen deshalb so selten auf ihr einsamgelegenes Schlößchen, nicht weil er fürchtet, daß die kleinen Mädchen bei ihr herrnhutherisch werden, sondern weil sie ein reizbares und recht apartes altes Jüngferchen ist.

Die Männer billigten diese eigenthümlich vorgetragene, fast wie zwischen Zerbrechlichem mit verbundenen Augen behutsam auftretende Auffassung vollkommen und Rudhard wollte sogar noch weiter gehen und wieder von seiner beliebten Muckerei anfangen ...

Nein, nein, sagte Anna mit freundlicher Drohung, weiter nicht! Sie sollen auch gar nicht loben, Herr Pfarrer; ich bin Ihnen doch noch etwas bös mit Ihrem Don-Quixote!

Dankmar bekam von den Andern die Aufklärung über diese Erwähnung des Don-Quixote ...

Daß ich Recht habe, gnädige Frau, sagte Rudhard, bestätige Ihnen der Anblick da oben!

Die Gesellschaft war nämlich wieder an den Anfang des Gartens gekommen, dem zur Seite der Hof mit einem Wirthschaftsgebäude, einer Remise und dem Stalle lag. Über dem Stalle war ein kleines, zwar längliches, aber [2045] niedriges Mansardenfenster. Es war offen. Ein Mann in weißer Piquéjacke saß an dem Fensterbret und las mit aufgestütztem Kopfe tief in einem Buche verloren ...

Alle lachten; denn sie waren überzeugt, daß dies Peters war, der eben den Don-Quixote las ...

Nun, rief Dankmar hinauf, hat Saul den Esel seines Vaters gefunden?

Peters, der die Anspielung auf seine Bibel und die Begegnung im Park von Solitüde nicht verstand, fuhr erschrocken auf und wollte sich zurückziehen ...

Ei, so bleibt doch, Peters! sagte Rudhard hinauf zu dem in größter Verlegenheit nach dem Kopf greifenden Peters, der nicht wußte, wie man ohne Mütze oder Hut grüßen sollte. Mit wem hat es denn jetzt der tolle Junker?

Peters lachte nur mit verklärtem, abwesendem Angesicht.

Dankmar wollte etwas von der Kathrine hören ...

Ich wette, sagte Siegbert, als Peters nicht antwortete, er besinnt sich, ob Kathrine eine von den Mägden ist, die dem Junker Don-Quixote für Edelfräulein gelten ...

Kennt Ihr uns denn nicht? sagte Dankmar.

Nun erst besann sich Peters und kam grüßend aus seiner Lektüre wieder in den Zusammenhang mit der Welt. Alle lachten und mußten dem Pfarrer bestätigen, daß er ein vortreffliches Mittel gefunden hatte, einen eifersüchtigen Mann von seinen Grillen abzubringen. Man kehrte auf das Parquet zurück und folgte der Aufforderung, [2046] von dem Fruchttische zu genießen, den man nicht genug bewundern konnte.

Olga entzog sich verschämt allen Lobeserhebungen über Das, was Rudhard heute für ihre Idee und ihre Schöpfung erklärte. Man fand das eigene Mädchen allgemein schön, liebenswürdig und sagte, als sie sich entfernt hatte, der Mutter mannichfache Artigkeiten über ein Kind, das sich seit der kurzen Zeit ihrer Anwesenheit so auffallend entwickelt hatte. Die Fürstin nahm diese Freundlichkeiten mit jenem Takte hin, der dem Gebildeten unter allen Umständen eigen ist und ihn immer Das treffen läßt, was sich nach den allgemeinen Gesetzen in solchen Fällen geziemt oder am Platze ist. Rudhard sah schon tiefer und blickte voll Unmuth zur Erde. Er beschäftigte sich mit den Kleinen; denn die Gesellschaft zerstreute sich theilweise im Garten und fing an, sich in gleichgestimmte Paare aufzulösen, während die Fürstin und die Gelbsattel's auf dem Parquet blieben ...

Der Propst und die Trompetta schienen es auf Siegbert abgesehen zu haben. Sie nahmen ihn bei Seite und begannen vom Gethsemane. Der Propst rühmte die ausgezeichneten Blätter dieses Albums, vorzugsweise aber die Farbenskizze Siegbert's. Einen Vorschlag, den er an sein Lob anknüpfen wollte, unterbrach die Trompetta mit dem Jammer über das Unglück, das ihr eine Laune des Hofes bereitet hätte. Sie wollte von den Männern Vorschläge hören, wie sie ihre Sammlung zum Besten eines wohlthätigen Zweckes veräußern könnte. Es blieb nichts [2047] übrig, als ihr eine Lotterie anzurathen. Sie schlug den Werth des Albums auf den Betrag von tausend Thalern an und zweifelte durchaus nicht, tausend Loose, jedes zu einem Thaler, absetzen zu können. Das Album sollte zu dem Zwecke einer Einladung und Ermunterung in den Sälen des Kunstvereins aufgelegt werden. Nun aber handelte es sich um die Verwendung des eingegangenen Geldes. Frau von Trompetta hatte damit etwas Zeitgemäßes im Sinne. Sie sprach von den im Kampfe gegen die Demokratie hier und da gebliebenen oder verwundeten Kriegern und von deren Angehörigen, fand aber bei Siegbert sowol wie beim Propste lebhaften Widerspruch. Jener erklärte eine solche Verwendung für eine politische Demonstration, die er nimmermehr unterstützen, ja gegen die er sowol wie mancher seiner Freunde, die zu dem Album beigetragen hätten, entschieden protestiren würde. Dieser konnte nicht umhin, Siegbert Recht zu geben. Er lehnte zwar jede Übereinstimmung mit Siegbert's politischen Motiven ab, meinte aber doch auch, daß die Zeit noch nicht reif wäre, in einer solchen Verwendung des Albums jene Harmlosigkeit zu erblicken, die denn doch von den Künstlern, die diese Idee unterstützten, vorausgesetzt wurde ... Zu diesem Streit gesellte sich in diesem Augenblicke Leidenfrost, der nach seinen Feuerwerksvorbereitungen sehen wollte. Der Propst wußte es so geschickt zu wenden, daß er mit Siegbert plötzlich abbog und die Trompetta mit Leidenfrost allein ließ, bei dem sie, da er sehr praktisch war, noch einige Winke über ihre [2048] Pläne zu gewinnen hoffte, so abgeneigt sie ihm seiner Richtung nach auch sein mußte. Man kann sich vorstellen, wie komisch diese Unterhaltung ausfiel. Leidenfrost hielt durchweg den Ton der Ironie fest, den die Trompetta, erfüllt von ihrem Gegenstande, nicht fühlte. Er rieth ihr ohne Zweifel die wunderlichsten Wege an und machte die Frau wol nur noch verwirrter, als sie schon war.

Der Propst aber sprach sich so misbilligend über die Ostentation dieser Frau aus, daß Siegbert Vertrauen gewann und das ihm für seinen Nicodemus gespendete Lob nicht zurückwies.

Ich habe eine Idee mit dieser Skizze, sagte der Propst. Ich wünschte wohl, daß Sie Veranlassung fänden, sie in größern Dimensionen und am liebsten al fresco auszuführen.

Die Frescomalerei, sagte Siegbert, ist mir noch zu wenig geläufig. Ich habe darin Übungen gemacht, würde aber kaum wagen, sie vor Jemanden sehen zu lassen ...

Und dennoch, fuhr der Propst fort, muß man Wände haben, um sich daran vervollkommnen zu können. Ich schlage Ihnen vor, Ihre Skizze in einer Kirche auszuführen, die im vorigen Jahre theilweise abbrannte und neuerdings wiederhergestellt ist. Die Gemeinde ersucht mich, ihr Vorschläge zu einigen durch Künstlerhand auszuführenden Zierrathen zu geben. Da sie reich ist, da dem Bau noch manche Summe zu Gebote steht, so schlag' ich Ihnen vor, die Gemeinde zu besuchen und sich mit ihr über diese Idee zu verständigen.

[2049] Siegbert war von dem Vorschlage sehr angenehm überrascht und fragte nach dem Namen des Ortes.

Das große und reiche Dorf Schönau, auf dem Wege von hier nach Hohenberg.

Siegbert lehnte das Anerbieten durchaus nicht ab. Er erklärte sogar, daß ihm nichts erwünschter sein könnte, als die ersten Proben der Technik, die er sich in der Frischmalerei erworben hätte, an einem Orte zu versuchen, wo er die allzustrenge Kritik nicht herausforderte.

Das ist sehr weise gedacht! sagte der Propst. Reisen Sie hin! Beginnen Sie das Werk!

Sie vergessen, Herr Propst, sagte Siegbert, daß diese Unternehmung nur im warmen Sommer begonnen werden kann.

Das ist wahr! besann sich künstlich der geübte Kunstkenner. Allein man macht vorläufig seinen Überschlag, Sie prüfen die Örtlichkeit, Sie nehmen mit dem Vorstande der Gemeinde Rücksprache. Auch wüßt' ich sogleich eine Veranlassung, sich in Schönau den Leuten werthvoll und angenehm zu erweisen. Man wünscht bei der Einweihung der Kirche, die am Martinstage stattfinden soll, die Wiederherstellung einiger glücklicherweise aus dem Brande geretteter Bilder aus der altdeutschen Schule. Ich entsinne mich, bei früheren Inspektionsreisen in der Schönauer Kirche zwei vortreffliche Kranach's und einige Bibelscenen gesehen zu haben, die, wenn nicht von Albrecht Dürer selbst, doch aus seiner Schule sind. Zu dem neuen frischen Anblick der wiedererrichteten Kirche[2050] wünscht man diese Bilder so lebhaft und anmuthig als möglich zu restauriren. Auch dafür, hab' ich gedacht, entschiede sich gewiß Ihre kundige Hand und Sie nähmen die Entschädigungen mit, die man Ihnen dafür bieten würde.

Siegbert freute sich der wohlwollenden Versöhnlichkeit, die aus diesen Anerbietungen des Propstes zu sprechen schien und drückte ihm unverhohlen die angenehme Überraschung aus, die er über diese Anträge empfand.

Bester Freund, setzte Gelbsattel mit einem eigenthümlichen kaustischen Ausdrucke hinzu, bis zu dem Tage, wo Ihnen das Obertribunal in letzter Instanz eine Million zu Füßen legt, dürfte es noch ziemlich lange hin sein.

Glauben Sie nur nicht, sagte Siegbert, daß ich irgendwie die sanguinischen Hoffnungen meines Bruders theile! Ich darf mich natürlich seinen Unternehmungen nicht entziehen und lasse Das, was eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich hat, ihm zu Liebe gern für Gewißheit gelten. Seh' ich doch, daß ihn diese Angelegenheit nicht lässig, sondern im Gegentheil eifrig macht. Sie schlägt in sein Fach, sie nährt seine Studien. Und ich selbst finde wenigstens Den Gefallen an den Verhandlungen, daß ich mich des Überblickes der Zeiten erfreue, an vergangene Zustände meiner Familie zurückdenke und an den großen Widersprüchen der Verhältnisse, die unser Leben er füllen, einen persönlichen Antheil habe.

Dies Vergnügen wird Ihnen aber viel Geld kosten! warf Gelbsattel etwas bitter hin ...

Das ist wahr, sagte Siegbert, wir müssen schon jetzt [2051] Opfer bringen und haben alle Ursache, uns einzuschränken. Sie sehen mich auch deshalb nicht abgeneigt, eine Gelegenheit zu ergreifen, mir meine Kunst ergiebig zu machen. Leider fesseln mich für den Augenblick so viele Dinge ...

Schütteln Sie doch diese Fesseln ab! sagte der Propst. Ihr jungen Männer lebt in einer glücklichen Zeit! Welche Mühe hatten wir einst, unsre Wünsche auszuführen, unsre Wirkungskreise zu verändern! Jetzt reist Das hin und her; im Fluge ist man unter andre Verhältnisse versetzt. Ein junger Geistlicher, Oleander, hört heute von einem Vikariat in Plessen, von der unbesetzten Stelle des einige Zeit beurlaubten Pfarrers Stromer; morgen ist er schon unterwegs und tritt dieses Amt an, das ihm den Weg zu besseren Ämtern bahnen soll ...

Oleander? fragte Siegbert, der den Namen schon oft, auch einigemale sonderbarerweise von Louis Armand gehört hatte. Irr' ich nicht ...

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Es ist der Verlobte ...

Meiner ältesten Tochter? Glauben Sie Das nicht! Wo junge Mädchen sind, stellt sich sogleich bei jedem männlichen Besuche ein solches Vorurtheil ein. Es ist wahr, ich habe diesen Oleander gehoben. Er hat das Sabbathspredigerstipendium in der Dreieinigkeitskapelle, er genießt manchen Vortheil, der für seine Jahre und Einsicht unverhältnißmäßig ist; da zeigt er sich auch als Einen der Undankbaren und Vermessenen, die Alles nur sich selbst [2052] danken wollen, reißt sich von den behaglichsten Verhältnissen los und übernimmt jenes elende Vikariat –

Siegbert war fast im Begriff, diese Handlungsweise Oleander's edel und schön zu nennen, als ihr Gespräch durch eine Störung unterbrochen wurde. Sie waren dem Hause wieder näher gekommen, als Siegbert am Gitter des Gartens im Hofe einen jungen Soldaten erblickte, der schüchtern die Thür öffnete und sich nach Jemanden, den er zu suchen schien, umsah. Siegbert ging zu dem jungen Soldaten hinüber, um ihn nach seinem Anliegen zu fragen. Dieser trat mit dem schönen Anstande, der einem gebildeten Krieger eigen ist, näher, faßte an seinen Tschako und wünschte Herrn Dankmar Wildungen zu sprechen.

Warten Sie einen Augenblick! sagte Siegbert und empfahl sich dem Propste. Er wollte den Bruder im Garten suchen.

Da trat ihm dieser aus einem schattigen Gange, Fräulein von Flottwitz begleitend, schon entgegen. Er erkannte sogleich den Sergeant Heinrich Sandrart, dessen sich der Major von Werdeck öfters zu Aufträgen bediente bei der nähern Beziehung, die zwischen diesem Offizier und den Brüdern seit einiger Zeit besonders durch Leidenfrost eingetreten war ...

Heinrich Sandrart, der etwas leidend aussah, überreichte Dankmarn ein Billet von dem Major. Während dieser las, trat Fräulein Wilhelmine dem Sergeanten näher und fragte:

Garde?

[2053] Garde!

Erstes Regiment?

Zweites Regiment!

Dritte Compagnie?

Dritte Compagnie!

Lieutnant von Aldenhoven?

Sandrart mußte alle Fragen der unterrichteten, kriegskundigen Offizierstochter fast zustimmend beantworten.

Dankmar trat näher und sagte dem Sergeanten:

Eine Empfehlung an den Major! Sehr erwünscht. Wir würden die Ehre haben, ihn zu erwarten.

Damit legte Sandrart die Finger an den Tschako und wollte sich entfernen zum Entzücken der Flottwitz, die sich an seiner Haltung und dem Hereinragen auch des Militairischen in dieses Fest nicht genug weiden konnte. Aber schon hatten auch Paulowna und Rurik von einem Soldaten gehört, waren herbeigesprungen und betasteten diesen Krieger, seinen Säbel, die Aufschläge seiner Uniform, die Tressen, wie den Schmuck einer Figur ...

Sie sind Heinrich Sandrart? fragte Dankmar.

Zu dienen, mein Herr!

Es ist schon einige male, daß wir uns sahen; Sie blasen die Flöte, sind fleißig, wollen Ihr Fähnrichexamen machen?

Hat Ihnen Das der Major gesagt?

Der Major hält große Stücke auf Sie!

Er verdient, daß sein Bataillon für ihn durch's Feuer geht.

[2054] Die Flottwitz hatte etwas auf der Zunge, was sie auszusprechen durch die Kinder verhindert wurde. Olga, die das Gespräch in der Ferne beobachtet hatte, war gleich so wohlwollend gewesen, ein Glas mit Wein füllen zu lassen, es auf ein lackirtes Bret zu stellen, ein Stück Kuchen hinzuzulegen und den Kindern zum Überbringen an den hübschen Soldaten zu übergeben. Diese faßten den Teller Beide zugleich an und trugen ihn behutsam, doch nicht ohne bedeutende Schwankungen und Verschüttungen. Dankmar redete Sandrart zu, zu nehmen und wollte Olga einen freundlichen Blick zuwerfen; doch war Olga schon wieder verschwunden ... Es trieb sie eben wie ein Irrlicht unruhig bald da-, bald dorthin, ruhelos, unstät, wie ihre dunklen Augen selbst hin und wieder gingen ...

Die dritte Compagnie steht in keinem guten Rufe; sagte die Flottwitz.

Wer sagt Das? antwortete Sandrart.

Die ganze Armee!

Sandrart schwieg. Es lag außerhalb der Disciplin, hier Ansichten auszusprechen.

Ein guter Soldat, fuhr die Flottwitz begeistert fort, soll treu seinem Könige dienen, treu der Fahne, auf die er geschworen hat.

Sandrart aß in steifer Haltung seinen Kuchen, trank seinen Wein und schwieg.

Die Ehre des Kriegers, fuhr das geröthete, jetzt flammende Mädchen fort, ist der Gehorsam. Wenn sich die Bande der Disciplin lockern, wird die Kraft eines Heeres [2055] gelähmt. Das unsrige hat seine Schlachten nicht dadurch gewonnen, daß ein Jeder dazwischen redet und vom Volke fabelt, sondern dadurch, daß es für seinen König Blut und Leben dahingab und seinem Vorgesetzten selbst dann gehorchte, wenn eine Armee auch nur unter den Waffen steht und zusehen muß, was die Weisheit seines Fürsten so oder so beschließt.

Sandrart schwieg.

Krieger, fuhr das seltene Mädchen, die in der That den Namen einer neuen Jungfrau von Orleans verdiente, fort, Krieger, die sich von der Demokratie irre machen lassen in ihrer Pflicht, verdienen den Namen der Tapfern nicht. Sie schänden die glorreiche Uniform, die sie tragen. Sie verletzen ihren Eid, den sie dem Fürsten geschworen, und ein Eid ist heilig, heilig wie das Evangelium. Sagen Sie Das der dritten Compagnie, die eine Fahne trägt, die von Kugeln zerfetzt ist in zwanzig Schlachten, eine Fahne, die eine Ahnin des königlichen Hauses selbst gestickt hat!

Sandrart wischte sich den Mund, trat einen Schritt zurück und machte seine Honneurs, um zu gehen. Die Kinder gaben ihm bis auf die Straße das Geleite. Der junge Soldat hatte nichts erwidert, nichts politisirt ... er schwieg.

Dankmar aber mußte, als er mit dem Fräulein allein war, in ein lautes Lachen ausbrechen.

Bestes Fräulein, sagte er; in Ihrer Rede war für meinen verlorenen unglücklichen Standpunkt jedes Wort ein [2056] Lustspiel, aber auch für den tragischen Standpunkt dieses jungen Mannes keine Tragödie!

Wie so? fragte Wilhelmine mit einer Mäßigung, die im Widerspruche zu ihrer aufwallenden Mahnung an die berüchtigte dritte Compagnie des zweiten Garderegimentes stand.

Sie gingen wieder allein, Beide dem dunkeln Gange zu.

Dies Paar war heute zum ersten male in eine persönliche, durch Gespräch verbundene Beziehung gekommen und wunderbar rasch, wie zwei chemische Stoffe, die sich vereinigen, um zu explodiren, hatten sie sich während des Festes gesucht und gefunden. Es gibt Begegnungen, die gleich bei der ersten Begrüßung das Facit längst angelegter Beziehungen sind. Dankmar und Fräulein von Flottwitz kannten sich, ohne sich gesprochen zu haben. Sie gewannen sogleich eine Vertraulichkeit, die schnell über die ersten Vorbereitungen einer Verständigung hinausging. Da das junge Mädchen etwas vorstellte und bedeutete, da sie ein Ziel und Streben hatte, so mußte sie dem jungen Manne von Interesse sein. Nichts kürzt ja die Verlegenheiten, die man der unbestimmten Gefühlswelt und der geheimnißvollen Existenz eines Frauenherzens gegenüber empfindet, so sehr ab, als wenn ein weibliches Wesen doch auch einmal ein wenig mehr ist als nur eine bloße Tabula rasa, die erst die Liebe, die künftige Begegnung mit dem Manne, der sie wählt, mit Charakteren beschreibt. Anders wenigstens ist es kaum zu erklären, [2057] wie sich Dankmar und Friederike Wilhelmine so schnell in eine gewisse, Allen auffallende Vertraulichkeit fanden ...

Sie haben, sagte Dankmar, diesen jungen Soldaten wie eine Puppe von Holz behandelt und ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß das trotz seines Schweigens ein sehr gebildeter Mensch ist. Er bläst die Flöte, liebt die Empfindsamkeit, denkt schwärmerisch, macht leidliche Verse, hat Kenntnisse in allen Fächern und ist der Erbe eines sehr bedeutenden Vermögens. Er nahm den Wein und Kuchen mit einem Anstand, den Sie müssen gewürdigt haben. Er hätte gern gesagt: Ich bin kein Bettler, kein Bote, ich bin ein freier Mann und ich schweige auch zu den Ermahnungen des Fräuleins nur, weil sie wunderschöne blonde Locken, einen reizenden Teint, sprechende dunkelblaue Augen, kirschrothe Lippen und Zähne wie von Elfenbein hat!

Spotten Sie, rief Wilhelmine fast erbebend und warf einen ihrer in der That schmelzenden Blicke ernst und vorwurfsvollzitternd auf Dankmar, den sie ohne Zweifel in Folge der Gesetze von der Polarität seit der Begegnung an der Terrasse von Solitüde fast zu lieben schien ...

Ich spotte nicht, Fräulein! sagte Dankmar mit seinem gewohnten feinen Lächeln. Ich kann mir keine reizendere Form der Bellona denken. Sie haben etwas von einer Hohenpriesterin Ihrer Überzeugung! Und aufrichtig gestanden, ich gönne unsern Lieutenants, wie sie so kommen und gehen und das Trottoir der Residenz beherrschen, [2058] nicht die Poesie, die in Ihrer enthusiastischen Vertheidigung der reactionairen Staatsprincipien liegt!

Es geht mir mit Ihnen fast ebenso, sagte das junge Mädchen beklommen, schüchtern und hocherröthend. Ich gönne den Demokraten nicht, daß Sie zu ihnen gehören.

Dankmar warf die Augen flüchtig in die Runde, ergriff ihre linke Hand, küßte sie rasch und erwiderte:

Bekehren Sie mich, Fräulein!

Wilhelmine zuckte zusammen. Sie ließ die Hand in Dankmar's Rechten; er mußte fühlen, daß sie zitterte ...

Ihr Bruder, sagte sie nach einer Weile sich sammelnd und die Hand wieder zurückziehend, Ihr Bruder schwärmt über die Gesellschaft und verfolgt bunte Träume, die sich nie verwirklichen werden. Sie aber sind viel schlimmer. Sie haben Ihren Geist wie ein Arsenal mit lauter feindseligen Waffen gegen das Bestehende ausgerüstet. In Ihrem Kopfe leben nur Mordgewehre, Dolche, Barrikaden. Jedes Wort, das Sie über öffentliche Dinge sprechen, klingt mir wie Hohn in's innerste Herz. Es ist die Trommel des Aufruhrs, die Sie rühren, und mich schmerzt es, daß Sie vielleicht in Verbindungen stehen, die Ihnen gefährlich werden können. Was haben Sie mit diesem unglücklichen Werdeck zu thun?

Wir treiben zusammen Schädellehre, sagte Dankmar. Er hat einen prächtigen Kopf, der mich physiognomisch unterhält und ihn unterhält wieder mein Kopf. So befühlen wir uns gegenseitig und sagen uns phrenologische Schmeicheleien.

[2059] Weichen Sie mir nicht aus! Ich weiß sehr wohl, wie Sie mit Werdeck bekannt geworden sind.

Wie denn, mein Fräulein?

Sie ritten mit Lasally, Aldenhoven und einigen Offizieren vor mehren Wochen nach Burgheim. Nicht wahr?

Sehr oft thun wir Das.

Eines Tages begegnete Ihnen zu Pferde Werdeck ...

Sehr oft begegnet er uns ...

Er schloß sich Ihnen an. Es gab Unterhaltungen und zwei Parteien. Sie und Werdeck bildeten die Minorität. Es entstand Bekanntschaft, Verständigung, Freundschaft ...

Und zuletzt eine Verschwörung? Nicht wahr?

Bewahre Sie der Himmel davor! Ich warne Sie vor Werdeck. Erschraken Sie nie vor seinem unheimlichen Auge? Oder fesselt Sie doch nicht die wilde Leidenschaftlichkeit seiner Frau?

Ah! Ich hätte nie geglaubt, daß die Inquisition so schöne Dienerinnen hat, wie Sie, Fräulein Wilhelmine ...

Ich habe mehr von Ihnen und Ihren Umgebungen gehört, als ich Ihnen wiederholen möchte ...

Was wissen Sie von mir und jener Frau?

Der Majorin von Werdeck?

Ich hoffe, Sie wissen, daß ich sie noch in meinem Leben nicht gesprochen habe. Mein Bruder malte ihr Bild und aß zuweilen bei den Werdeck's polnische Pirotkis.

Und Leidenfrost? Dieser Aufwiegler der Werkstätten, dieser Führer der Handwerker, dieser cynische Robespierre ...

[2060] Steht in einer geheimnißvollen, mir dunkeln Beziehung zu jener Familie, das ist wahr. Aber ich glaube nicht, daß dabei die Politik eine Rolle spielt ...

Die gefährlichste! Die Verbindung mit Polen soll in jenem Hause unausgesetzt unterhalten werden. Der leidenschaftliche Katholicismus der Majorin ist der Deckmantel ihrer wahren Gesinnung. Man weiß, daß sie Seelenmessen für Menschen lesen läßt, die in Sibirien gestorben sind. Durch Klosterverbindungen verständigt man sich mit Denen, die in Krakau und Warschau nur auf den Augenblick harren, um – doch wovon unterhalt' ich Sie!

Ich staune, Fräulein! rief Dankmar, dem alle diese Äußerungen übertrieben und verleumderischen Entstellungen nacherzählt vorkamen. Welche Chronik!

Trennen Sie sich von diesen Umgebungen! sagte das Fräulein drängend und mit großer Innigkeit. Über Allen, die mit Werdeck verkehren, zieht sich eine mächtige dunkle Wolke zusammen ... Ihr Proceß, Herr Wildungen- wüßten Sie nur, was man davon spricht!

Ich lausche mit Spannung ...

Wolle der Himmel verhüten, daß Sie jemals diese großen Reichthümer gewännen! Sie würden sie nur dazu anwenden, die Revolutionen aller Staaten zu unterstützen.

Ah so! Nein, mein Fräulein! Ich würde sie nur dazu anwenden, einmal irgend ein Wesen, das ich liebe, mit allen Reizen des Glückes zu umzaubern. Ich baute diesem Wesen Villen, hängende Gärten, Paläste ... Aber im Ernst, Fräulein, sind diese Gesinnungen der Loyalität, die Ihre [2061] schöne Stirn mit einem Heiligenschein umgeben haben, wirklich Ihre innersten Überzeugungen? Ich weiß es, ich frage fast so dreist, wie man eine Prophetin fragen würde, ob sie wirklich an den Gott glaube, von dem sie sich ergriffen erklärt? Aber wir haben denn doch die Bücher der Geschichte aufgeschlagen vor uns liegen. Sie sind doch auch den Frauen zugänglich und ich weiß es, die Bildung ist Ihnen, mein Fräulein, ein theures Wort. Sagen Sie mir nur um's Himmelswillen, kennen Sie denn Das nicht, was wir Männer Kritik nennen? Es ist Ihnen also unmöglich, die Zeit im Großen und Ganzen aufzufassen und zu fühlen, daß Ihr und Ihrer Genossen Wirken und Denken eine reine Selbsttäuschung ist?

Fräulein Wilhelmine bat Dankmar, auf einer Bank, die ziemlich am Ende des Gartens unter dem Weinlaubdache stand, Platz zu nehmen. Sie setzten sich ...

Sie sagen, begann sie gesammelt und mit einem Sonnenschirme spielend, daß Ihnen etwas an uns unbegreiflich ist und wir sind in dem gleichen Falle über Sie und die Ihrigen. Kann man gemeinschaftliche Sache mit Menschen machen, die die Fackel der Empörung anzündend nur Verwirrung wollen, um sich zu bereichern oder zu Ehrenstellen aufzuschwingen! Wie schonungslos hat man zerstört! Forschen Sie den Tonangebern nach! Es sind meist nur ruinirte, zweideutige Mitglieder der Gesellschaft. Kann man Freiheit da finden, wo nur die Rohheit und Sittenlosigkeit das Recht bekommt, glänzende Gewänder um sich zu werfen! Sehen Sie die kecken Gebehrden [2062] der verworfensten Individuen, die es jetzt wagen, der Sitte und dem Anstande Hohn zu sprechen. Kann man wünschen, daß je die Gesellschaft diesem Pöbel preisgegeben wird, diesem Pöbel, der in meinen Augen auch unter den Menschen steckt, die äußerlich anständig gehen. Man wühlt nur, um seiner jämmerlichen, ehrgeizigen und habsüchtigen Leidenschaften willen.

Die Musik spielte in der Ferne. Die Kinder jagten sich. Die Paare wandelten auf und ab. Man mied das von seinen Früchten befreite Weinlaubdach ...

Dankmar, dem diese Unterhaltung von psychologischem Interesse war und dem die Situation einer Verständigung zwischen zwei so verzweifelten Gegensätzen, wie sie von ihm und diesem Fräulein vertreten wurden, fesselnd erschien, erwiderte:

Sie sind in diesem Augenblicke viel aufrichtiger gegen mich, als Sie es gegen die Welt sind.

Wie so? fragte Wilhelmine.

Der Welt gegenüber stellen Sie die Hingebung an den Thron und die Interessen der absoluten Monarchie wie etwas Ursprüngliches dar, wie eine Art Religion; während Sie doch eben verriethen, daß dies System, wie ich es nennen möchte, nur die Folge einer sehr klug angestellten Reflexion ist.

Welcher Reflexion?

Sie fühlen, daß mit der Demokratie in der Art, wie sie Ihnen erschienen, nicht gut zu leben ist und verwerfen sie deshalb ohne Weiteres, indem Sie eine Anbetung der [2063] Monarchie, eine Vergötterung der Hebel derselben befördern, die das Übel, das Sie bekämpfen wollen, nur ärger machen wird.

Man muß dem Throne Kraft geben, den Arm der Fürsten stärken, die Bürgschaften der Ordnung befestigen!

Alles Politik! Alles Reflexion! Durchaus keine Religion, durchaus keine Andacht! rief Dankmar und rückte seiner Gegnerin näher, indem er einige welke Weinblätter, die auf ihren Nacken gefallen waren, weglas ...

Nennen Sie es Tugend, wenn man sich dahin stellt, wo man die Gefahren der Gesellschaft abgewendet sieht! antwortete das Mädchen bestimmt und von Dankmar's Spiel durchrieselt.

O nein, Das nenn' ich Instinkt, Selbsterhaltungstrieb, erwiderte Dankmar und nahm ihr wie spielend den Sonnenschirm aus der Hand. Mein bestes Fräulein, Sie vertheidigen sich nicht gut. Sie müssen so, wie Sie einmal sind, sagen: Ein Demokrat ist das nicht relativ, sondern absolut Verwerflichste, und die Liebe, die ich zum Könige, zu den Prinzen, zu den guten Ministern, zu dem Adel, zur Armee habe, die ist etwas Unerklärliches, die entspringt aus dem Gefühle, das einst die Christen trieb, das Kreuz zu nehmen und in's gelobte Land zu ziehen. Sie zerstören mir ja durch Ihre Theorie den ganzen Heiligenschein, den ich um Ihre schönen Locken erblickte.

Wilhelmine sah gedankenvoll empor. Es durchbebte sie etwas von einem Gefühle, von dem sie sich keine Rechenschaft [2064] zu geben wußte. Sie ahnte fast, daß Dankmar für sich Recht hatte. Sie konnte ihm nur nicht sagen, daß es eins der schmerzlichsten Gefühle, das die Seelen unserer Zeit zerreißt, genannt werden muß, Menschen, die man liebt und verehrt, in Ansichten gefangen zu sehen, die man selbst nicht theilen kann. Sie hatte sich im Stillen auf Dankmar's Standpunkt gestellt, mit ihm verhandeln, ihn in ihre Gedankensphäre hinüber ziehen wollen und nur deshalb für etwas, was allerdings auch in ihr rein ursprünglich, wie eine visionäre Anschauung lag, äußere Gründe des Verstandes gesucht. Sie sagte:

Darf ich denn wagen, mich Ihnen so zu geben, wie ich bin, ohne von dem stärkeren Geiste verspottet zu werden? Ich sehe, Ihre Menschenkenntniß fühlt mir vollkommen die Empfindungen nach, die meine wahren sind. Sagen Sie mir aber Das: Warum ergreift Sie nur nicht auch das Gefühl, Ihren König geehrt und mächtig zu sehen, seinen Herrscherblick vielleicht auf Sie selbst niederzulenken, die Fahnen unserer Krieger stolz entfaltet zu schauen, von unsern Schlachten zu lesen und sich gläubig, nichtig, ergeben zu fühlen in dem großen, gefeierten, heiligen, aber von Andern geleiteten Ganzen, das man den Staat nennt?

Das will ich Ihnen sagen, mein Fräulein! antwortete Dankmar ernst und voll Antheil. Die Geschichte und das Leben haben mich gelehrt, daß die großen Ideen nur an der Wiege, als sie geboren wurden, unschuldig und heilig waren. Das Christenthum war unschuldig und heilig, als [2065] es in Galiläa gepredigt wurde. Als es heranwuchs, gedieh, erstarkte, mußte sich der Denker schon wieder von ihm abwenden. So kann ich in politischen Dingen auch nur die Vasallentreue eines Bayard unschuldig und heilig nennen, und für die Dichtkunst haben die Empfindungen, die in Ihnen, mein Fräulein, leben, einen großen, auch mir sehr bedeutenden Werth. Anders aber ist es auch hier mit der erstarkten Idee der Loyalität, wenn auf ihr Institutionen wurzeln, Systeme. Da seh' ich, daß zuviel Lüge, zuviel Egoismus von jenen Institutionen in Schutz genommen wird. Ich sehe, daß sich böser Wille, Unterdrückung, Anmaßung zu gut bei jenen Systemen unterbringen läßt und muß deshalb auch das Gute, das ihnen zum Grunde liegen mag, leider zerstören, der Schlupfwinkel wegen, die das Böse hier im Guten findet. Ich bin nicht blind für die Fehler der Revolution. Auch sie war an ihrer Wiege in Rousseau's Schriften ein reiner keuscher Gedanke. Man kann nicht reiner und unschuldiger über den Staat denken, als damals gedacht wurde, als im Enthusiasmus für Freiheit und Gleichheit aller Menschen die Adeligen Frankreichs ihre Privilegien selbst auf den Altar des Vaterlandes legten. Aber auch die Revolution ist entartet, degenerirt. Nun kann der Denker nur in der Mitte stehen und da seine Hand bieten, wo noch der meiste Rest von der Wiegenunschuld der Ideen übriggeblieben ist und ich brauche Ihnen nicht erst zu sagen, daß das Zeitalter der Revolution jünger als Bayard ist. Die Pflicht der Menschen soll sich an das Gute der Revolutionen anschließen, [2066] von Nichts aber, bei aller Nothwendigkeit der Mäßigung, des langsamen Fortschreitens, des Abwägens der Übergänge, von Nichts sich entfernter halten, als von dieser rein vegetativen, alles Denken verbannenden, instinktmäßigen Verehrung der Institutionen, die das neue Zeitalter anzweifelt. Man kann diese Institutionen noch eine Weile stützen, man soll es; aber man versündigt sich an Gott, wenn man sie anbetet und z.B. mit einem Soldaten so spricht, wie Sie es eben mit diesem Heinrich Sandrart gethan haben.

Friederike Wilhelmine blieb eine Weile nachdenkend und schwieg. Dann sagte sie rasch und aufseufzend:

Wir verständigen uns nicht!

Sie erhob sich gerade noch zur rechten Zeit, ehe die ganze Gesellschaft sie Beide in dieser Situation auf der einsamen Bank überraschte ...

Es war nun fast sieben Uhr und schon ziemlich dunkel. Jeden Augenblick erwartete Leidenfrost seine Unterstützung zum Lösen des Böllers und zum Steigenlassen der Raketen. Die Musiker, die unermüdet fortfuhren, sanfte Harmonieen durch die Büsche hin aus der Laube zu entsenden, hatten schon Licht. Auch in dem Salon, in den unmittelbar eine Thür des Hauses vom Garten führte, brannten Kerzen. Die Trompetta verlangte von Anna von Harder ein Musikstück auf dem Klavier. Die Schwester Paulinen's hatte aber ihre Freude meist nur mit den Kindern und dachte daran, heimzukehren nach Tempelheide. Selbst Siegberten, der ihr so sympathisch [2067] war, mochte sie in seinem Verkehr mit den jüngern weiblichen Anwesenden nicht stören. Man bat, man drängte in sie noch zu bleiben, zu singen, zu spielen, wenigstens jedenfalls die Raketen abzuwarten. Sie konnte sich denn der Bitten nicht erwehren und willigte ein, auch am Piano das Duett zu begleiten, das die Trompetta und Wilhelmine singen wollten. Bald auch erscholl von den zwei kräftigen Stimmen ein Duett aus dem Judas Maccabäus.

Ein krachender Böllerschuß unterbrach diesen Gesang und die Aufmerksamkeit der um den Flügel geschaarten Zuhörer. Zu gleicher Zeit zischte unbekümmert um die Cadenzen der Trompetta eine Rakete in die Höhe. Die Musik war abgebrochen. Alles trat in Shawls und Mantillen gehüllt hinaus in den schon kühlen, jetzt völlig dunkel gewordenen Garten. Leidenfrost's drei Gehülfen mußten angekommen sein. Die Kinder rannten über die Beete, die Damen suchten den günstigsten Ort, um, sicher vor dem Niederschlag der abgebrannten Präparate, doch von dem Lichteffekte derselben sich nichts entgehen zu lassen. Überall her in den umliegenden Gärten wurde es lebendig. Das Feuerwerk fand Zuschauer, die draußen am Hinterzaune, der schon in's Feld führte, bei besonders gelungenen Effekten Beifall spendeten.

Der erste Böllerschuß und die Rakete war nur ein Signal. Es folgte nach einiger Pause ein zweiter und wieder eine Rakete. Dann ein dritter und jetzt eine Leuchtkugel. Ah! ertönte es in diesem ganzen fashionablen [2068] Quartier. Anna von Harder, die Unruhe und Eile hatte, dachte, ob wohl auch drüben die Schwester sich an's Fenster stellen und an dem Scherze ihre Freude haben würde? ...

Leidenfrost legte große Ehre ein. Erst spielte in ununterbrochener Folge ein kleines Geplänkel von Leuchtkugeln. Es war wie das Spiel eines Equilibristen, der Fangbälle wirft und aufgreift, ohne daß einer von der gewandten Hand verfehlt wird. Dann kam einPot à feu, der plötzlich einen lebendigen Blumenkorb von Schwärmern vorstellte. Das war ein Zischen, ein Züngeln, Platzen und Knallen in der Luft. Von diesem Momente hatten die Näherstehenden mehr Genuß als die Entfernteren, denen nur die Leuchtkugeln volles Vergnügen gewährten. Es kamen deren auch wieder neue, nun mit bunten Lichteffekten, die blau und roth in der Höhe sich auflösten; andere entwickelten oben noch einen Schwärmer und ängstigten die im Felde Stehenden; denn der züngelnde Auslaufer der gestiegenen Rakete suchte gerade sie auf. Nun brannte Leidenfrost, der mit seinen drei Gesellen und dem einz'gen Lichtchen, das sie auf ihrem dunkeln Berge unterhielten, einen eigenthümlichen Eindruck machte (fast wie Seeleute, die sich heimlich ducken, um einen Brander anzuzünden), einen Tourbillon ab, der wie eine herabfallende Fontaine gestaltet, schnurrend in die Höhe fuhr und einen Feuerregen in unzähligen blinkenden Tropfen niederrieseln ließ. Auch Feuerräder machten einen ähnlichen Effekt. Zwei Sonnen, die dicht hintereinander [2069] in Rotation kamen, ergänzten sich in ihren Strahlen, so daß sie in der Ferne den Eindruck einer einz'gen gewaltigen Sonne machten. Zuletzt brannte das Bouquet in einer für den kleinen Raum unglaublichen Menge von Schwärmern, Raketen, Leuchtkugeln und Donnerschlägen ab. Nun gab der Böller noch drei kräftige Schläge und die Herrlichkeit war unter einem unaufhörlichen Tuschblasen der Musikanten zu Ende.

Bravo! scholl es von allen Seiten und in der That hatten sich die Feuerwerker mit Ruhm bedeckt. Leidenfrost's mannichfache Talente hatten sich auch hier wieder glorreich bewährt. Die Fürstin dankte ihm und ersuchte ihn, ja dafür zu sorgen, daß seine Genossen noch blieben und sich von einer für sie bereit gehaltenen Collation nach so kühner Arbeit stärkten. Alle kehrten in den Saal zurück, wo sie mit Eis und einer großen silbernen Vase voll gefrornen Champagners, einer von Olga angegebenen Idee, empfangen wurden.

Siegbert, der hier und da fast wie der Wirth oder der Sohn vom Hause nach dem Rechten sah, hatte sich an dem Berge verspätet und besprach mit den Arbeitern das Abbrechen der Zurüstungen und den Transport des Böllers, den Danebrand wie ein Spielzeug auf die breiten Schultern hob und erklärte, ihn so nach der Willing'schen Maschinenfabrik zurücktragen zu wollen ...

Wie ist es denn, Herr Wildungen, fragte Alberti bei dieser Gelegenheit, wann kommt denn der Franzos in unsern Verein?

[2070] Und Sie selbst und Ihr Herr Bruder ... sagte Heusrück. Wollten Sie uns denn nicht einmal einen Abend schenken?

Schon längst, antwortete Siegbert, längst wären wir gekommen, wenn uns nicht mancherlei Sorgen in Anspruch genommen hätten. Auch gestehen wir Euch, Freunde, wir haben noch mit uns selbst in Zwiespalt gestanden ...

Wir waren Ihnen nicht sauber genug ... sagte Alberti ...

Wo denkt Ihr hin! fiel Siegbert ein. Unser Herz schlägt nur für die Sache des Volks. Wir hatten immer ein Ohr, um hören zu können, was in Eurer Brust für Zeugnisse über den höheren Werth der Menschen und die Möglichkeit einer Fortbildung der arbeitenden Klassen leben. Denen sollten wir nicht trauen? Sollten feige sein und mit unserer Meinung zurückhalten?

Sie leben unter Fürsten und Fürstinnen ... ließ Heusrück schüchtern fallen.

Und habt Euch doch heute überzeugen können, daß die Schranke zwischen denen und uns und Euch nicht mehr gar zu hoch ist! Nein, Freunde, der Grund, warum Louis Armand, Dankmar und ich zögerten, ist ein anderer. Wir bezweckten ...

Ihr Kohlenbrenner, geht nun zum Teufel! unterbrach Leidenfrost in seiner polternden Art die Siegbert'sche Ergießung und zündete sich eine Cigarre an. Da habt Ihr Jeder noch eine Cigarre – auch Ihr, Danebrand – und nun examinirt uns nicht lange! Wir werden schon gackern und Euch rufen, wenn unsere Eier gelegt sind.

[2071] Die Arbeiter lachten, nahmen die Cigarren und zündeten sie an Leidenfrost's brennendem Glimmstengel an. Danebrand gebehrdete sich dabei ungeschickt genug. Sie wollten gehen ...

Nein, nein, sagte Siegbert, die Fürstin läßt Niemanden von Euch jetzt fort, ehe nicht der Tisch, der in einem vorderen Entréezimmer gedeckt wurde, ganz geleert ist. Das sind unerläßliche Sachen, die von Olga so vorbereitet wurden und nun auch nach ihrem Willen ausgeführt werden müssen.

Sie meinen wol die Kleine mit den schwarzen gewundenen Flechten, im weißen Kleid ...

Es ist die Tochter der Fürstin ...

Die ist muthig, sagte Heusrück. Sie stand am nächsten, fast mitten unter den Schwärmern. Wenn sie nur nicht böse ist, ich habe sie etwas grob zurückgeschickt ...

Da hat es gute Wege, sagte Siegbert. Am liebsten hätte sie wol selbst mit Hand angelegt. Aber, Freund, Ihr haltet den Böller mit einer Hand über den Schultern und raucht mit der andern die Cigarre?

Die Arbeiter lachten über Danebrand, der wirklich dies possierliche Bild eines so zu sagen die Weltkugel tragenden und zu gleicher Zeit rauchenden Atlas darstellte.

Stellt ihn herab! Ihr bleibt und leert erst den Tisch und die Flaschen!

Na! sagte Danebrand, stehen lassen wir den Böller hier nicht! Artillerie ist jetzt so verlockend wie Baumobst. Die [2072] kleine Pfefferbüchse könnte mir über den Zaun gestohlen werden.

Danebrand, sagte Leidenfrost, nehmt die Büchse mit zum Tisch und was Ihr nicht essen könnt, stopft in den Böller hinein und nehmt die wohlschmeckende Ladung für morgen mit in die Fabrik!

Topp!

Darauf gingen die Arbeiter ein und sagten, sie würden sogleich kommen.

Siegbert wandte sich nach vorn.

Wie er rasch dahin sprang und im Dunkel an einer Gruppe von Hängeweiden vorüber mußte, sah er an einer derselben Olga ganz allein an den Stamm gelehnt. Es war ein kleines Rund, fast abgeschlossen. Die Zweige der Weiden hingen so dicht und tief, daß sie fast um die Stämme herum eine Laube, einen Versteck bildeten. So halb eingehüllt stand Olga an einem Baume, lehnte den Kopf träumerisch auf den Arm und den Arm an den Stamm. Siegbert erkannte sie nur an dem weißen Kleide. Vorübereilen, sie in diesem ihn rührenden Bedürfniß nach Einsamkeit allein stehen lassen, vermochte er nicht. Er hielt seinen eilenden Schritt an, wandte sich zu dem still nachdenklichen Mädchen und sprach mit einem so weichen Tone, wie er nur von seinem gerührten Herzen und von seinen Lippen kommen konnte:

Olga!

Das träumende Mädchen hatte ihn nicht erwartet und hätte überrascht sein sollen. Sie war es aber nicht. Sie [2073] gab ihm die linke Hand hinüber, während der rechte Arm als Stütze des unverwandt ruhenden, vom Sternenlichte milderhellten Hauptes, am Stamme liegen blieb.

Olga! Es ist kalt! Gehen Sie nicht zur Gesellschaft? Man musicirt wieder.

In diesem Augenblick änderte das Mädchen ihre Stellung, wandte ihr Antlitz ab und Siegberten war es, als hörte er sie schluchzen.

Er ergriff ihre Hand.

Olga, was ist Ihnen? fragte er sanft.

Olga wandte sich und sah ihn mit großen, thränenerfüllten Augen an.

Sie erkälten sich in der Abendluft, Olga! Kommen Sie!

Olga schüttelte das Haupt und lehnte es wieder an den Stamm der Hängeweide.

War das Fest nicht nach Ihrem Wunsch? Es ging Alles so heiter, so wohlgeordnet! Warum sind Sie nicht zufrieden?

Siegbert hatte wieder ihre Hand ergriffen und war so von dem Abende angeregt, daß er Olga leise an seine Brust zog und ihr in's Auge sehen wollte, um ihr Muth zuzusprechen und Freude, Heiterkeit, Theilnahme.

Wie sie aber seinem Herzen so nahe sich fühlte, schlug Olga die Arme um ihn und legte sich so in die seinigen, daß er sie halten mußte, wenn sie nicht zur Erde gleiten sollte.

Unwillkürlich kam es Siegbert über die Lippen, in sanftem, zärtlichem Tone zu sagen:

Olga! Was thust du?

[2074] Liebst du mich? fragte Olga zu ihm aufblickend.

Olga! Olga! Laß uns gehen! rief Siegbert durchrieselt von Wonne und Schrecken ...

Nein, ich mag keinen Menschen mehr in der Welt sehen, außer dir!

Man wird uns vermissen! Olga, komm!

Sie sollen mich in deinen Armen sehen. Laß mich! Laß mich!

Dabei hielt sie sich so fest an Siegbert's Halse, daß dieser, von innerster Empfindung durchbebt, kaum noch wußte, wie er sich ihrer und seiner wehren sollte. Er war zärtlich, er mußte es sein, er streichelte ihr Haar und drückte einen Kuß auf ihre Stirn, nur um sie zu beruhigen, sie abzulehnen, zur Besinnung zu führen. Aber kaum fühlte Olga die warmen Lippen des angebeteten Freundes auf ihrer kalten Stirn, als sie ihm mit erneuter Wonne in's Auge blickte und durch ihre Zärtlichkeit, durch ihr Verlangen nach einer Versicherung auch seiner Liebe ihn verlockte, auch ihre Lippen mit dem warmen, weichen Munde zu berühren.

Wie ihm Das so geschehen war, besann er sich und hielt mit plötzlich erwachender männlicher Kraft das liebekranke Mädchen von sich zurück.

Olga, rief er, was thun wir – sehen Sie die Mutter!

Er zeigte auf die Thür des Saales, die geöffnet war. Geblendet von dem Lichte eines Armleuchters, den sie in der Hand hielt, stand die Fürstin und suchte im Dunkeln Siegbert oder Olga, vielleicht Beide ...

[2075] Olga, wie von einer bacchantischen Lust und einer jubelnden Schadenfreude ergriffen, lachte laut, schlang den Arm um Siegbert, zog ihn mit sich und behielt dabei seine rechte Hand, küßte sie und rief:

Du bist mein! Siegbert! Dich lieb' ich!

Siegbert, der sonst so Rücksichtsvolle, sonst sich so Beherrschende, hatte die Besinnung verloren. Er wollte widerstehen und konnte nicht. Er drückte Olga an sein Herz, schlang den Arm um ihren Nacken und hauchte bebend:

Meine Olga!

So standen sie, geschützt vom Dunkel, eine Weile. Dann riß sich Olga los und rannte zu dem hellen Hause hin, wie ein flatternder Nachtvogel.

Siegbert folgte langsam und sprach vor sich hin:

Verhieß dir Das damals die weiße Rose?

[2076]
6. Capitel. Eine ernste Nacht
Sechstes Capitel
Eine ernste Nacht

Als Siegbert Wildungen wieder bei der Gesellschaft war, sprach er zur eifersüchtig forschenden Fürstin Worte, die er nicht bedachte und erwiderte eine Anrede der Trompetta, ohne sie verstanden zu haben. Er aß von dem gefrornen Champagner, ohne zu wissen, was man ihm bot. Er bereute schmerzlich, was geschehen war; umsomehr, als er die Wirkung entdeckte, die diese Scene auf die wie umgewandelte Olga hervorbrachte. Olga trällerte, hüpfte, schlug das Piano zu einem Tanze an, sie sang ein kurzes, rasches Volkslied aus der Ukraine, ein Kriegslied der Tscherkessen, sie umschlang Anna von Harder und bestellte hundert Grüße an die Perlhühner und türkischen Enten, an die Tauben und die Mäuse sogar und Kaninchen, die zu Tempelheide zusammen in einem Käfig hausten. Ja, als die Gesellschaft aufbrach, als die Wagen vorfuhren, der Propst sich empfahl, die Pröpstin knixte, die Töchter für den übergenußreichen Abend dankten, als die Trompetta mit Umständlichkeit nach ihrem Shawl rief, die Flottwitz noch zerstreutgefesselt mit Dankmar plauderte, war sie bei Allem behend zugegen, half, schwatzte, lachte, sodaß[2077] die Mutter mit strengem Blicke ihr verbot, so ausgelassen die Honneurs zu machen und sie in den Schatten zu stellen suchte. Leidenfrost, der inzwischen auch noch, wie er's nannte, von dem »gefrorenen Zeuge« etwas gekostet hatte, erntete noch manchen Lobspruch. Dankmar schüttelte Rudhard's Hand und warf im Vorübergehen noch der Flottwitz die Worte hin: Also, wir zürnen uns doch? Die junge Freundin der Trompetta konnte aber im Augenblick gerade nicht antworten, denn die Trompetta dominirte jedesmal, wenn es die Benutzung ihres Bedienten und ihres Wagens, das Zusammensuchen ihrer Garderobe galt. Siegbert gab dem Propst die Versicherung, er würde sich seine gefälligen Vorschläge ernstlich überlegen und mit ihm darüber genauere Rücksprache nehmen. Als er Rudhard die Hand bot, war dieser etwas verstimmt oder wenigstens nachdenklich. Die Fürstin aber trat ihm einen Schritt näher und sagte mit klagendem Nachdruck und in langgezogenem Ton:

Sie gehen auch schon?

Gute Nacht! Gute Nacht! unterbrach Olga heiter und mit einer fast triumphirenden Sicherheit, gradezu die Frage der Mutter abschneidend.

Gute Nacht! Gute Nacht!

Was ist denn? Was soll Das? wandte sich die Mutter streng zu der Tochter.

Gute Nacht! Gute Nacht! rief Olga wieder und geleitete den Scheidenden hinaus, noch ehe er der Fürstin auf ihren Wunsch, daß er bliebe, Rede stehen konnte ...

[2078] Endlich waren Alle verschwunden. Die Wagen fuhren ab und an dem Gitter vorüber schritten Leidenfrost, Dankmar, Siegbert, hinter ihnen die drei Willing'schen Arbeiter. Danebrand trug den Böller hoch auf den Schultern ... Olga begleitete die sich entfernenden und die Hüte ziehenden Freunde noch das Gitter entlang bis zu der kleinen Estrade, wo einst Rudhard den vorübergehenden Siegbert angehalten hatte. Eine Rose konnte sie dem Freunde nicht nachwerfen. Die Zeit der Rosen war im Garten vorüber; aber in ihrem Herzen war es ein ganzer Frühling, der ihm folgte. Da brachen alle Knospen auf! Da duftete es wie von einem Walde voller Blüten!

Als Olga zurückkam, fand sie die Mutter in der gereiztesten Stimmung.

Ist es schon an und für sich eine eigenthümliche Leere, die sich meist nach allen Festen, wo es ganz ohne Zwang und künstliche Anregung doch niemals abläuft, einzustellen pflegt, so war die Fürstin vollends unbefriedigt von sich, von den Andern, von Olga, von Rudhard, von Jedem. Daß Siegbert gehen konnte, sie allein zurücklassend in dem wüsten Gefühlschaos, der Folge solcher künstlichen Aufregungen, verletzte, ja erbitterte sie. Zuerst mußten die Kin der entfernt und zu Bett gebracht werden. Sie gingen übermüdet und von Allem, was ihnen als Vergnügen geboten war, eher erdrückt als gehoben. Olga's Geschäftigkeit, ihr Aufräumen, ihre Kritik der Personen und Gespräche erklärte die Fürstin für nervenangreifend. Rudhard sprach gar nichts, was ihr ebenso drückend [2079] erschien. Obgleich es erst acht Uhr schlug, wollte sie sich auf ihr Zimmer zurückziehen und früh zu Bett gehen. Sie gab Olga nicht undeutlich zu verstehen, daß es ihr lieber wäre, wenn sie allein bleiben könnte. Olga griff diese Gelegenheit, sich das eben Vergangene noch einmal zurückzurufen und noch einmal in seiner ganzen berauschenden Seligkeit durchzukosten, mit Freuden auf. Hatte sie doch nichts Heiligeres vor, als noch einmal in den Garten zu schlüpfen, noch einmal jene Stelle aufzusuchen, wo sie an Siegbert's Herzen ruhen, das Haupt auf seine Schulter lehnen durfte und den Kuß seines Mundes fühlte. An der Hängeweide hätte sie die ganze Nacht durchwachen mögen.

Adele Wäsämskoi, die Fürstin, ging auf ihr Zimmer. Es war bescheiden eingerichtet, wie die ganze Wohnung, die nirgends einen ursprünglichen Luxus und nirgends auch die Spur verrieth, Das aus eigenen Mitteln hinzuzufügen, was zum Comfort dieser gemietheten Einrichtung schon von vornherein fehlte. Adele warf sich auf ein Kanapé, das an einer dünnen Wand stand, die dies Zimmer von dem nebenan befindlichen Schlafkabinet der Fürstin trennte. Eine große Öffnung dieser Wand war mit einer Portière versehen, die eben aufstand. Verdrießlich ließ die Fürstin die Portière fallen, streckte sich ermüdet auf das Kanapé und ergriff, indem sie eine ihr nachgetragene Lampe sich näher rückte, eins von den Büchern, die neben ihr auf dem Tische lagen. Es waren dies Bücher, die Rudhard zu wählen pflegte. Seit Jahren hatte sie Das gelesen, was er [2080] empfahl; größtentheils Reisebeschreibungen, leichte geschichtliche Werke, populaire Denkübungen, Schriften, die der Phantasie keinen Schwung gaben. Sie hatte Goethe's Wilhelm Meister heute nennen hören. Sie kannte dies Buch gar nicht. Sie besaß es in der kleinen Bibliothek, die zu der Einrichtung des gemietheten Hauses gehörte. Es standen da Goethe's sämmtliche Werke in einer kleinen unschönen Ausgabe in einem Glasschranke des Zimmers, den sie noch nicht einmal geöffnet hatte. Sie that dies heute zum ersten male und suchte von Goethe's Werken den Theil heraus, der Wilhelm Meister's Lehrjahre enthielt. Sie wollte sie kennen lernen. Es quälte, es drückte sie, daß sie in so vielen Dingen nicht au niveau eines gebildeten Gespräches stand und durch ihre gesellschaftliche Würde, durch das Vorschützen der Mutterpflichten die Lücken verdecken mußte, die sie in sich selber fühlte. Sie begann die Blätter des ungelesenen Buches, die noch zusammenklebten, aufzuschlagen und durchflog sie.

Aber auch zum Lesen gehört Virtuosität. Adele besaß nichts davon. Ein Schriftsteller mußte sie sogleich auf der ersten Seite ergreifen, anders konnte sie ihm nicht folgen. Erst ihn gewähren lassen, erst lauschen, wohin er uns wol führen würde, Das ermüdete sogleich ihre Spannung, und die Erzählungen über Puppenspiele, mit denen jenes so situationsreiche Werk beginnt, widerstanden ihr sogleich. Sie nannte sie, wie einst Lasally auf Hohenberg, kindisch. Sie besaß nichts von jener Naivetät, die das Kennzeichen des Genies oder der Bildung ist.

[2081] Sie hatte das Buch aufgeschlagen auf den Tisch gelegt, als es klopfte. Sie gab keine Antwort; denn sie glaubte, einer der Bedienten käme und brächte vielleicht Briefe oder Zeitungen. Ein flüchtiger Blick auf Egon's so viel gerühmte Rede würde ihrem gedrückten Geiste etwas Spannung geben, hoffte sie. Aber es klopfte wieder. Sie rief: Wer ist da? Und Rudhard war es, der draußen fragte, ob er eintreten dürfe?

Kommen Sie doch! Was gibt es denn? sagte sie, erschrocken, daß ihrer vielleicht etwas Unangenehmes harrte.

Rudhard trat mit einer gewissen Feierlichkeit ein, mit Papieren in der Hand.

Meine liebe Adele, sagte er mit so viel Milde, als ihm zu Gebote stand. Ich muß Sie noch heute Abend stören. Ich habe mit Ihnen zu sprechen.

Was ist? Worüber? Nur nichts, was mich aufregt! Bis morgen!

Nein, nein, sagte Rudhard und nahm sich ohne Weiteres einen Stuhl, am Abend faßt man Entschlüsse, beschläft sie des Nachts, prüft sie morgens und führt sie den Tag über aus.

Was haben Sie denn? Wegen der Kinder?

Ich möchte Ihnen, meine gute Adele, sagte Rudhard ruhig und gemessen, ich möchte Ihnen vorschlagen, daß wir den längeren Aufenthalt in dieser Stadt abbrechen und uns, ehe noch der Winter da ist, beeilen, nach einer südlichen Stadt zu ziehen.

[2082] Adele sah ihren alten Erzieher erstaunt an.

Wie kommen Sie darauf? fragte sie.

Ich stand früher mit Frau von Osteggen, mit dem Fürsten Wäsämskoi und seiner Gemahlin so, daß, wenn ich irgend einen Gedanken zum Heile der Familie mit einer gewissen innern Überzeugung von seiner Nothwendigkeit aussprach, dieser nicht erst lange geprüft, sondern wirklich ausgeführt wurde. Lassen Sie uns reisen, Fürstin! Morgen lieber als jeden andern Tag! Ich bitte Sie darum.

Adele richtete sich von ihrer liegenden Stellung auf und gab dem väterlichen Freunde ihr Erstaunen zu erkennen, was ihn zu diesem Entschluß veranlassen könnte.

Bekommt Ihnen das Klima nicht? Bekommt es mir, den Kindern nicht? sagte sie.

Und als Rudhard schwieg, fuhr sie fort:

Sind die Unterrichtsanstalten nicht vorzüglich? Hab' ich nicht guten Umgang? Oder soll ich der Möglichkeit ausweichen, mit Helenen in Berührung zu kommen?

Als Rudhard alle diese Fragen verneinte, sagte Adele, sich wieder legend:

Dann bleib' ich auch da und reise nicht mehr.

Rudhard nahm darauf eins von den Papieren, die er in der Hand hielt, und überreichte es, ohne ein Wort zu sprechen, der erstaunten Fürstin.

Diese las in französischer Sprache:

»Mein Herr, es ist unverantwortlich, wie Sie der öffentlichen Meinung die Blöße geben und durch Ihre Beziehung [2083] zu Herrn Wildungen die Moralität der Ihrer Obhut anvertrauten Familie verdächtigen können. Es ist das Gespräch aller Cirkel, daß in Ihrem Hause Mutter und Tochter in der Leidenschaft für jene genannte Persönlichkeit wetteifern. Erkennen Sie hierin die Warnung eines Freundes!«

Wer hat Das geschrieben? fragte Adele und erhob sich mit leidenschaftlicher Gebehrde.

Eine Person, sagte Rudhard in aller Ruhe, seine Aufregung unterdrückend, eine Person, die in der Lage ist, ihre erbärmliche Insinuation durch Motive zu heiligen, die leider auf unwiderruflichen Thatsachen beruhen.

Wie? rief Adele mit dem Ausbruche des ganzen Zornes, dessen phlegmatische Naturen in äußersten Fällen fähig sind. Wie? auf diese jämmerliche Anonymität hin wollen Sie mich aus meinem Frieden, meiner Ruhe stören? Erkennen Sie nicht die Bosheit Helenen's aus diesen Zeilen? Von wem können sie anders kommen?

Mein gutes Kind, sagte Rudhard, der die alten eingeräumten Rechte seiner Vormundschaft nicht aufgab; mein gutes Kind, es ist eine Eigenheit des menschlichen Charakters, daß wir Alles, was uns zu thun oder zu lassen unangenehm ist, dadurch in seiner mahnenden Nothwendigkeit herabstimmen wollen, daß wir die Motive Derer, die uns zum Guten auffordern, verdächtigen. Lassen Sie, liebe Adele, die Worte kommen, von wem sie wollen. Lassen Sie einen Teufel oder einen Engel diesen Brief geschrieben haben, er soll uns mahnen an die Wahrheit.

[2084] Die Wahrheit ist darum nicht verschleiert, wenn es hier auch ihr Verkündiger ist. Handeln wir nun so, daß wir uns selbst überwinden und eine besonnene, uns ehrende Entschließung fassen.

Wahrheit, sagen Sie? rief Adele. Warum sagen Sie mir Dinge, Rudhard, die mich empören müssen? Wahrheit wäre dieses abscheuliche Wort von der Mutter und Tochter? Wie könnte Olga wagen –

Olga?

Auf keine andere Thatsache werd' ich Rede stehen. Wird Wildungen von Olga geliebt? Haben Sie dafür Beweise?

Ich rede von Olga nicht ....

Nicht von Olga? Sie könnten kommen, nur mich zu quälen? Sie könnten sagen, wir müssen reisen, und denken nicht an die Gefahren, denen höchstens meine Kinder ausgesetzt sind?

Rudhard schwieg. Das war eine so kühne Parade der gereizten jungen Frau, daß ihm seine Waffe fast aus der Hand flog und er anfangs nichts erwidern konnte, als ein kopfschüttelndes:

Hm! hm! hm!

Machen Sie Vorschläge, Olga in ein Institut, in eine Pension zu geben! sagte Adele, ohne ihre gewaltigen, fast hörbaren Herzschläge bekämpfen zu können.

Rudhard stand auf. Sein ganzer innerer Mensch war ergriffen, erschüttert. Er sah eine Mutter, so beherrscht von Leidenschaft, daß sie ihr eigenes Kind aus Eifersucht [2085] von sich entfernen wollte. Heftig schritt er auf das Fenster zu, als fürchtete er, daß es offen stünde. Er lüftete die Portière und sagte:

Adele, hier die Eingangsthür Ihres Schlafkabinets ist wol nicht verschlossen?

Es ist Alles verschlossen, lassen Sie, lassen Sie! antwortete Adele ungeduldig.

Wenn man uns hörte, belauschte, wenn Olga –

Welche Schonung? fuhr Adele mit gesteigerter Ungeduld fort. Ich werd' es ihr in's Gesicht sagen, daß sie die schlechteste französische Aussprache von der Welt hat, daß man englisch lernen muß, daß es in Brüssel Institute gibt, in denen die Töchter eines Reichskanzlers noch Fortschritte machen können ...

Adele! Adele! rief Rudhard und hielt ihr den andern Brief entgegen. Olga ist sechszehn Jahre, reif für das Leben, reif für jede Zukunft, die Frauen nur erwarten können, und hier ist ein Brief des Barons Otto von Dystra! Verheirathen Sie Ihr Kind, aber verpflanzen Sie einen Baum nicht mehr unter die kleinen Gesträuche.

Adele nahm den Brief jenes Otto von Dystra, den Rudhard erwähnt hatte, und durchflog ihn. Wenn Rudhard nicht in unruhigster Bewegung auf- und abgeschritten wäre, hätte er ein Geräusch hinter dem Vorhange hören müssen. Es war Olga, die in einem Drange, den sie früher nie gekannt hatte, heute, wo ihr das unaussprechlichste Glück vom Himmel gespendet war, nicht ohne einen Nachtgruß von der Mutter scheiden wollte. Sie wußte [2086] selbst nicht, war es Neckerei, Übermuth oder Großmuth, was sie trieb, an das auf den Corridor gehende Pförtchen des Schlafkabinets zu klopfen. Sie hatte den Drücker erfaßt und die Thür offen gefunden. Da sie Gespräch hörte, wollte sie sich zurückziehen. Wie sie aber ihren Namen nennen hörte, den ihr oft genannten und von Odessa her noch in ihr Ohr tönenden Namen Otto von Dystra vernahm, hielt sie den Athem an und blieb stehen. Da es, während die Mutter den Brief las, wieder ruhig wurde, wäre sie fast durch den Vorhang geradezu eingetreten. Nur Rudhard's heftiges Auf- und Abgehen sagte ihr, daß sie doch wol stören würde.

Die Mutter begann jetzt:

Nun gut! Nun gut! So ist es ja in der Ordnung! Der Plan ist ja alt und hat immer meine vollste Billigung gehabt. Der Fürst hatte nur unser Bestes im Auge. Die merkwürdigsten Umstände vereinigten sich, Olga's Hand einst für den Baron von Dystra zu bestimmen. Er wird von Amerika kommen. Sie ist entwickelt genug, um sich ihm zu verloben. Ich war wenig älter, als ich dem Fürsten nach Odessa folgte.

Rudhard blieb stehen. Olga lauschte mit Herzschlägen, die ihr eigenes Ohr vernahm.

Finden Sie diese Partie so unangenehm? fragte Adele, als Rudhard unentschlossen blieb.

Otto von Dystra ist ein merkwürdiger seltener Mensch, aber den Funfzigen nahe; verwachsen, ein Sonderling ... sagte Rudhard.

[2087]

Sie kennen ihn nicht persönlich, antwortete die Mutter. Es ist der Mann der ewigen Jugend. Reich, ein Jugendfreund des Fürsten, treu, ausharrend, edel. Die Verbindung mit unserer Familie war ein Lieblingswunsch meines Mannes. Wäsämskoi starb beruhigt, als in seinen letzten Augenblicken ein Brief aus Washington kam und ihm Dystra schrieb: Freund, meine Fahrten zur See und zu Lande sind zu Ende, ich lege meine Stelle als Botschafter des Kaisers bei den Vereinigten Staaten nieder, ich komme nach Europa und biete den Deinen an, was ich besitze. Ist deine Schwester oder irgend eine alte Tante oder sonst wer geneigt, einen Philosophen zu heirathen, so hoff' ich, die trüben Bilder, die du von der Zukunft hast, zu verscheuchen und durch meinen Tod einmal den Deinigen geben zu können, was, wenn ich unvermählt sterbe, leider meiner Familie gehört.

Eine Vernunft-, eine Geldheirath! fuhr Rudhard, da Adele stockte, mit fester Stimme fort. Sie wissen, in dem Falle, daß wir vor den Thorheiten der d'Azimont geschützt bleiben, in dem Falle, daß Ihre Kinder einst die Erben Ihrer Tante werden, daß sich die zerrütteten Vermögensverhältnisse des Hauses Wäsämskoi auch ohne eine Verbindung mit dem Baron Dystra wiederherstellen können.

Sie glauben, daß Helene von dem Prinzen Egon lassen, durch eine Scheidung von d'Azimont, die schon im Werke sein soll, uns die Hoffnung auf ihre Reichthümer nicht nehmen wird? Ha! Ha!

[2088] Ich zweifle sehr daran, sagte Rudhard fest, ich zweifle, daß Egon, der sich täglich mehr wiederfindet, täglich sein Inneres kräftiger entwickelt und einen Wall reinster Sittlichkeit gegen die alten Thorheiten aufrichtet, sich jemals zu solchen excentrischen Schritten, wie eine Heirath zwischen ihm und Helene sein würde, herbeiläßt ...

In diesem Falle hätten wir Aussichten ... Gut! Aber sie reichen weit hinaus!

So weit, Adele, wie der Fürst selbst sah. Ihre und die Jugend-Existenz Ihrer Kinder ist gesichert. Sie werden niemals glänzend leben können, das ist wahr. Sie haben es aber nicht nöthig, da Sie nicht glänzend erzogen wurden. Was Sie zur Unterhaltung Ihrer Würde, zur Ehre Ihres Standes bedürfen, das besitzen Sie. Der Fürst wollte nur die entferntere Zukunft seines Hauses, seinen Namen, das spätere Loos seiner Kinder gesichert sehen. Er war nie reich. Die Familie verarmte vollends und fühlte nur zu tief, wie mislich es ist, von den Launen des Kaisers abzuhängen und von den Wechselfällen des Geschickes. Er wollte in jenem alten russischen Bojaren-Stolze der Selbstständigkeit seiner Familie eine Stütze geben und hoffte auf zwei Möglichkeiten, entweder die Erbschaft von der reichen Gräfin d'Azimont oder die Verheirathung seiner Kinder. Baron Otto von Dystra ist sein Freund gewesen. Ein unruhiger Charakter, der zweimal die Welt umschiffte und von der Regierung zu ihren großen überseeischen Missionen benutzt wurde. Es ist wahr, er soll Schätze besitzen, die er längst schon dem Fürsten zur [2089] Verfügung stellte. Der Fürst schlug sie für sich aus, nahm aber die mir immer nur frivol erscheinenden Anerbietungen des Barons, sein unruhiges wechselvolles Leben mit einem Mitgliede seiner Familie und wär's mit Olga oder Paulowna beschließen zu dürfen, erst eben so scherzend, eben so frivol entgegen, bis aus ihnen ernstlichere Versicherungen entstanden und Baron Otto von Dystra jetzt in der That unterwegs ist, sein leichtsinnig verpfändetes Wort zu lösen. Dieser Brief, den ich heute aus London empfing, kündigt seine Ankunft so plötzlich an, daß wir ihn binnen drei Tagen erwarten dürfen.

Olga fühlte etwas wie einen kalten Griff in ihr Herz.

Die Mutter blieb bei der Vortrefflichkeit dieses Arrangements stehen, lobte die weise Sorgfalt des Fürsten, pries die Umstände Dystra's, nannte ihn, trotz seiner barocken Gestalt, einen Philosophen, ohne angeben zu können, worin seine Philosophie bestände, behauptete, daß der Fürst nur Ehrenmänner zu Freunden gehabt haben könne und schloß damit, daß auf diese Art Olga's Zukunft ja vortrefflich bestimmt wäre und es keiner Böswilligkeit ferner einfallen könne, sich in die innern Angelegenheiten ihres Hauses zu mischen.

Und Alles, Alles Das, Adele, weil ... rief Rudhard, seinen Zorn unterbrechend.

Sein Gefühl, die Rücksicht übermannte ihn.

Weil? fragte die Fürstin mit einer Sicherheit, die ihm verrieth, daß ihr Charakter jetzt erst, in ihrem vierunddreißigsten Jahre, in seine Entwickelung getreten war.

[2090] Weil Sie selbst es sind, brach Rudhard hervor, Sie selbst, die Wildungen lieben und in Olga die glücklichere Nebenbuhlerin fürchten!

Rudhard glaubte in der Fürstin eine gewaltige Bewegung hervorgerufen, irgend den Ausbruch eines gewaltigen Zornes, eines längst gegen seine Bevormundung verhaltenen stillen Ingrimmes geweckt zu haben. Nichts von alledem. Die Fürstin rümpfte die Nase und sprach mit einer wegwerfenden Miene:

Wie zart und rücksichtsvoll Sie sind!

Sag' ich etwa die Unwahrheit? fuhr Rudhard, durch diese Antwort sich steigernd fort. Muß ich mir nicht die bittersten Vorwürfe machen, daß ich in blindem Vertrauen auf Ihre Selbstbeherrschung einen Freund der Kinder, einen theilnehmenden gebildeten jungen Mann in dies Haus einführte, der, ohne selbst die geringste Veranlassung zu geben, in die jungen Gefühle eines Kindes den ersten Funken wirft und auch in der Asche eines Mutterherzens noch die letzten Funken zur Flamme entzündet.

Diese Worte entrüsteten die Fürstin.

Es ist genug! rief sie sich erhebend. Es ist genug, Rudhard. Ich habe das Joch Ihrer Weisheit so lange getragen, daß ich selber dumm darüber wurde! Ich habe Sie denken lassen und gethan, Jahre lang gethan, was Sie mir als gut und recht zu thun anempfahlen. Aber ich fühle, daß ich gegen Andere zurückgeblieben bin, daß ich verkürzt wurde um meine Freiheit, um mein wahres [2091] Lebensglück. Diese Zeit ist aus. Von der Botmäßigkeit, in der ich unter Ihnen stand, jetzt in eine Sklaverei kommen zu sollen, bei der ich unter meiner eigenen Tochter stehen würde, Das ist zu viel, Das vermag ich nicht zu ertragen.

Ich würde gehen, sagte Rudhard, wenn ich dem Fürsten nicht geschworen hätte, über die Kinder zu wachen, bis mein Auge bricht.

Quält Ihr mich, rief Adele, foltert Ihr mich, so wähl' ich den äußersten Fall –

Fürstin!

So bleiben Sie und ich gehe!

Die Mutter von ihren Kindern? ... Adele!

Rudhard's Stimme zitterte. Er mußte einen Sitz suchen, um sich aufrecht zu erhalten.

Adele aber fuhr fort:

Versteh' ich denn jetzt, was meine Schwester bestimmen konnte, entehrende Fesseln zu brechen? Fass' ich's denn jetzt, was es heißt, das Leben hingehen lassen, ohne seine Blüten zu brechen, ohne seine Früchte zu genießen? Du kalter Mann, du schiltst das Herz, daß es liebt? Hab' ich denn je geliebt? Hab' ich denn je die Wonne empfunden, in eines Mannes Ferne vom Schauer der Sehnsucht, in seiner Nähe vom Schauer der zärtlichsten Freundschaft ergriffen zu werden? Ich habe den Fürsten geheirathet, weil es so beschlossen wurde. Ich achtete ihn, ich verehrte ihn. Ich war die treue Pflegerin seiner gemessenen Lebensjahre. Mein Leben verstrich wie der Traum [2092] einer verpuppten Raupe. Ich ahnte eine schöne Welt, ich fand sie in den mütterlichen Pflichten. Ich habe mich nie gesträubt sie zu vollziehen. Ich lebte ihnen bis diese Stunde. Aber wenn sich ein Kind in das eigene Herz der Mutter krallt, wenn es über uns hinweghüpfen, über uns hinwegtändeln, über uns hinweglachen, lieben will und die Jugend wie ein trotziges Vorrecht übt, dann komm' ich mir vor wie ein Mensch, den man lebendig begraben will, und ich schüttle mich, ich springe auf, ich lasse mich nicht in die Erde werfen, ich sage: Ich liebe! Ich liebe Siegbert Wildungen und das Schicksal ist gütig, Gott ist liebevoll wie unser Herz, ich weiß es, ich werde durch ihn nicht unglücklich sein.

Hier unterbrach ein gellendes Lachen die Worte der Fürstin.

Rudhard wandte sich und sah hinter dem halbgeöffneten Vorhange Olga stehen, wie wahnsinnig, mit geisterhaftem Blicke.

Du hier? Was willst du? herrschte die Mutter zornentbrannt.

Mutter! rief das Mädchen halb ohnmächtig mit schmelzendem Ausdruck und wollte sich in die Arme der Fürstin werfen.

Hinweg! schrie diese im höchsten Ausbruch ihres Schreckens und ihres Zornes.

Olga, so zurückgewiesen, blieb stehen, sah die Mutter mit zitternden Lippen, funkelnden Augen lange wie eine Irrsinnige an, dann lachte sie plötzlich, klatschte in die [2093] Hände und rief: Gute Nacht! Gute Nacht! lachte wieder und stürzte mit dem convulsivischen Ausbruch ihrer Gefühle schluchzend, aber auch triumphirend hinter dem Vorhange davon.

Die Fürstin folgte ihr, sah, daß das Cabinet auf den Corridor hin nicht verschlossen gewesen war und warf sich halb ohnmächtig und erschöpft auf ihr Kanapé.

Rudhard nahm die Briefe und kämpfte einen Augenblick mit sich, ob er dem Starrkrampf, in den die Fürstin gefallen schien, eine mildere Lösung geben sollte. Er war aber zu entrüstet, zu streng dazu. Auch überwältigte ihn die Trauer, daß alle Erziehung, alle Lehre nicht ausreicht, in gewissen äußersten Krisen des Lebens die Eingebungen des Naturells zu unterdrücken. Er sagte nichts, als ein einfaches:

Sammeln Sie sich, Adele! Prüfen Sie ernst, was Sie bewegt. Tödten Sie Ihr Kind nicht! Es gibt einen moralischen Tod, den ich bei Olga mehr fürchte, als den physischen. Ich finde Sie morgen anders als ich Sie jetzt verlasse. Das weiß ich, Das hoff' ich.

Damit ging Rudhard und überlegte, als er die Treppe zu seinem Zimmer hinaufstieg, ernstlich, was nun zu thun sei. Als der Sensenmann an seiner Uhr zehnmal anschlug, stand es ihm nach längerer Prüfung fest, daß hier nur Siegbert Wildungen selber helfen konnte. Er war überzeugt, daß es nur einer kurzen Aufforderung bedürfen würde, um diesen edlen jungen Mann zu bewegen, sich auf einige Zeit nicht nur von diesem Hause, sondern auch [2094] aus der Stadt und ihrem nächsten Umkreise ganz zu entfernen.

Adele aber überlegte, wie viel von Dem, was Olga möglicherweise belauscht hatte, hinreichen würde, ihre Wünsche zu erleichtern oder zu erschweren. Goethe's Wilhelm Meister nahm sie nicht wieder vor. Sie sah durch ihr Fenster hinüber in die dunklen Gärten. Im Hause der Geheimräthin von Harder war es hell und belebt. Sie mochte nicht länger hinsehen; es war ihr Alles peinlich, Alles zu eng, um sich zu klein! Erst in den heftigen Vorwürfen, mit denen sie ihr Kammermädchen wegen der nicht geschlossenen Thür überschüttete, fand sie sich zurecht und warf sich erschöpft, in verdrießlichster Misstimmung von der Welt, schmerzzerrissen, auf ihr einsames Lager.

Diese Nacht, einer uns werthen Familie so ernst und bedeutsam, sollte auch dem Kreise der Freunde, deren Schicksalen wir folgen, mit verhängnißvollen Sternen aufgehen.

Versetzen wir uns in das innerste Gewühl der großen Stadt, an die Stelle ihrer reichsten historischen Erinnerungen. Da, wo die alte Johanniskirche und die Propstei, wo die Dreieinigkeitskapelle und die von Schlurck bewohnte Johanniterkomthurei und das Rathhaus liegen, befindet sich auch der sogenannte Rathskeller, einer der beliebtesten Besuchsörter, ein von der gewähltesten Gesellschaft gepflegtes, alterthümliches Local. Dicht an dem Rathhause selbst gelegen, waren seine oberen Räumlichkeiten [2095] zur Aufbewahrung der im Laufe der Zeiten flutartig emporgewachsenen Registraturen und Akten bestimmt und standen durch einen Hof mit dem ehrwürdigen alten Rathhause selbst in nächster Verbindung. Das untere Geschoß hatte seit den ältesten Tagen der Rathskellermeister in Besitz. Es waren dies große, feuerfeste Gewölbe, zu denen man durch eine niederwärts gehende Treppe von der Straße herabstieg und die nach jenem Verbindungshofe mit dem Rathhause wieder ihren Ausgang hatten. Der Rathskeller war immer nur den tüchtigsten und empfohlensten Küfern anvertraut worden. Es war eine Pachtung, die man vom Rathe nicht meistbietend, sondern nach einer Prüfung erstand. Die gewaltigen Vorräthe aus alter Zeit, die man mehr der Curiosität als der Nutznießung wegen gesammelt hatte, standen unter der Pflege dieses Rathskellermeisters, während der übrige Theil seines Geschäftes auf eigene Rechnung ging.

Der gegenwärtige Rathskeller war eins der beliebtesten Stelldicheins der Stadt geworden. Man fand nicht nur an den vorzüglich gehaltenen Weinen seinen Gefallen, sondern auch an der außerordentlich gemüthlichen Einrichtung dieser vielen kleinen Souterrains. Wenn man von der Straße etwa acht Stufen niedergestiegen war, betrat man einen langen Gang, der auch den ganzen Tag schon durch Gaslicht erleuchtet und an den Wänden nicht ohne Geschmack in Fresko bemalt war. Links und rechts gingen schwere eichene, größtentheils neue Thüren zu [2096] kleinen, fensterlosen, grünangestrichenen Cabineten, die alle von einer Gasflamme erhellt waren. Diese durch dicke Grundmauern getrennten Cabinete waren groß und klein, je nachdem man möglichst allein oder in größerer Gesellschaft sein wollte. Klingeln führten auf den Gang hinaus und setzten jeden noch so isolirten Besucher mit den Kellnern, die im Schurzfelle als Küfer auftraten, in Verbindung. Mit der Kellerei war eine sehr gut unterhaltene Speisewirthschaft verbunden.

Dieser Rathskeller war eins der ältesten Gebäude der Stadt. Man setzte es auf die Zeiten des vierzehnten Jahrhunderts zurück und mancher Alterthümler betrachtete voll Theilnahme seinen Giebel oder ließ sich den innern Bau zeigen, der verfallen war, unwegsam durch die hier aufgeschichteten Papiervorräthe, alten Schränke, Pulte, Stühle, aber durch seine Bauart und die Behandlung des Balkengefuges noch mannichfaches Interesse bot. Ursprünglich gehörte dies Haus denselben Templern, die in Tempelheide einen Hof hielten. Es war das Profeßhaus des Ordens gewesen, der in Deutschland sich länger erhielt als irgendwo und, wie wir wissen, auf Befehl des Papstes in den St.-Johanniterorden, ohne weitere Anfechtungen zu bestehen, überging. Bis zur Reformation gehörte dies Profeßhaus den Johannitern, und nach ihr, als diese norddeutschen geistlichen Ritter protestantisch wurden, rechnete man es gleichfalls zu jenen Besitzungen, die bei der Theilung der unglaublich ausgedehnten Güter des Ordens dem Ritter Hugo von Wildungen überwiesen [2097] wurden. Noch jetzt sah man das alte dreiblätterige Kleeblatt an den vier Enden des Kreuzes am höchsten Giebel des Rathskellers und fand es auch sonst auf sinnige Weise hier und da so zu architektonischer Verzierung benutzt, daß der kreuzliebende Don Eusebio in Calderon's Andacht zum Kreuze darüber seine freudigsten Schauer würde empfunden haben.

Es war nach sieben Uhr und schon dunkel, als in dem Verbindungshofe des Rathhauses und des Rathskellergebäudes zwei Männer standen, die einen Dritten zu erwarten schienen. Der Eine war eine hohe stattliche Gestalt mit dickem Backenbart und einem tief über die Stirn gedrückten Hute. Der Andere klein und schmächtig und wie von Hektik gebeugt, kurzathmend und klapperdürr.

Zum Henker mit Ihrer Schwerhörigkeit, sagte der Starke und Stattliche zu dem Schmächtigen, der ihn schon einige Dutzendmale mit seinem Wie? Wie sagten Sie? geplagt hatte.

Und sich dicht an das Ohr des Fragenden lehnend, rief er hinein:

Haben Sie ihm punkt Sieben gesagt?

Punkt Sieben, Herr Oberkommissair!

Der Oberkommissair Pax zog seine Uhr und ließ sie repetiren. Es war sieben Uhr. Der Erwartete kam noch immer nicht. Ungeduldig ging der Harrende auf und ab. Hier lagen alte Balken, da standen Tonnen, die zur Kellerei gehörten. In mancher Ecke hing noch eine eiserne [2098] Kette oder ein Ring, der früher zu den in den Rathhaushöfen üblichen Executionen benutzt wurde. Der Oberkommissair spielte ungeduldig mit einem dieser Ringe und sah zu den Fenstern des Rathhauses hinauf, die nach dieser Seite hin vergittert waren. Ein menschliches Wesen ließ sich sonst nicht blicken. Abgelegen und still lag dieser Hof, nur zugänglich den Leuten des Rathskellermeisters und den Subalternen des Rathhauses, wenn sie in den Fall kamen, aus den Verschlägen des alten Profeßhauses Akten oder zu feierlichen großen Sitzungen Stühle und Tische holen zu müssen. Eine andere Thür zu dem alten Gebäude als die, zu der man auf einer halben Leiter hinaufstieg, war nicht sichtbar. Ohne Zweifel hatte hier früher eine größere Steintreppe gestanden, war baufällig geworden, abgerissen und nun durch eine hölzerne Nothtreppe ersetzt, die in der That mehr den Namen einer Leiter verdiente.

Kommen Sie, Schmelzing, rief der Oberkommissair, wir bleiben einstweilen beim Rathsdiener Spieß oder wir schließen auf und gehen immer hinein.

Der zu einem Rathe in diesem Falle Aufgeforderte war in der That der ehemalige Schreiber Schmelzing, der schon lange in mancherlei Relationen zur Polizei gestanden hatte, seitdem aber Hackert's Talente von Pax erkannt und für die öffentliche Sicherheit gewonnen waren, sich gleichfalls dem Oberkommissair offener zur freien Verfügung gestellt hatte. Er war mannichfach zu verwenden. Schrieb er auch nicht so kunstvoll wie Hackert, [2099] der in der Kalligraphie ein Künstler war, so war seine Feder doch rascher, sein Auge geübter im Enträthseln schwieriger Handschriften und seine Kenntniß des Kanzleistyles zuverlässiger als bei Hackert, dem oft einfiel, seine eigenen Wege zu gehen und in die von dem Oberkommissair verlangten Berichte seine eigenen Ideen einfließen zu lassen. Die heutige Expedition war eine von denen, denen Schmelzing sich gern unterzog, da sie besonders gut bezahlt wurden und ohne ein besonderes Vertrauen der Behörde nicht gut ausgeführt werden konnten. Leider störte ihn seine Harthörigkeit, die wir schon von Nr. 87 her in der Brandgasse Nr. 9 kennen und auch jetzt gab er keine andere Antwort, als daß er äußerte:

Frau Rathsdienerin Spieß? Eine schöne Frau!

Ungeduldig hatte der Oberkommissair mit einem großen Schlüssel, den er aus der Brusttasche zog, sich an die Treppe begeben und auf ihr die Thür des alten Profeßhauses aufgeschlossen und Schmelzing aufgefordert, nach ihm einzutreten, als man eilende Fußtritte hörte. Pax hielt die Thür noch zu und sah sich um. Es war der Erwartete.

Sie kommen so spät, Hackert! Haben Sie's nicht finden können?

Da bin ich jetzt, sagte Hackert. Was soll's nun? ... Die Fässer hier kenn' ich ... auch die Ratten, die sich hier im Hofe jagen, sind alte Freunde ...

Finden Sie sich hier zurecht? fragte Pax voll Antheil [2100] für seinen Schützling, der in gewählter Kleidung, leicht, heiter und sorglos schien.

Wenn Schlurck oben auf dem Amt zu thun hatte, sagte Hackert, sprang' ich kleiner Bursch' hier auf dem Hof herum, zupfte das Gras aus und band alte Stricke an die Halseisen und kugelte die Tonnen herum, bis die Rathsdiener kamen und mir Ruhe geboten. Hier hab' ich leider zu früh Wein trinken lernen. Als zehnjähriger Junge hab' ich da in der Ecke oft betäubt gelegen und schlief meine ersten Räuschchen aus, die freilich mehr vom Dunst in den Kellern kamen, als ...

Sie waren von jeher ein Taugenichts, unterbrach Pax lachend. Machen Sie sich nicht besser wie Sie sind!

Hackert schüttelte den Kopf.

O ich saß hier oft ganz allein im Hofe, fuhr er, sich umsehend, fort, und freute mich über die Schwalben, die da oben in den alten rothbraunen Fenstern nisteten. Sehen Sie nur da, Fratzen von Füchsen, Wölfen, Kranichen, die die alten Steinmetzen hinein gehauen haben. Die schienen mir alle lebendig zu werden, auch ohne Rausch. Da kam denn manchmal der alte Rathskellermeister heraus und kannte mich als Schlurck's Pflegesohn und Schreiberjungen. Da hieß es denn: Fritz komm! Willst einmal Wein kosten? Ich schmunzelte blos und sagte gar nichts. Aber der Alte ging und kam mit einem grünen Römer angewackelt voll vom ältesten Niersteiner. Ich hatte bei Schlurck's früh Wein getrunken, aber der Niersteiner aus dem Rathskeller brachte mich gleich fertig.

[2101] Dem Alten quollen die Augen über vor Lachen, wenn er sah, daß ich das Glas hinuntergoß und gleich darauf Augen machte wie ein angestochenes Kalb. Er wollte, ich sollte nun gleich tanzen und ich tanzte auch, und wurde so verwirrt, daß ich umfiel. Da lachte er aus Leibeskräften und ging in den Keller zurück. Noch ist's mir, als hört' ich das alte Schurzfell rascheln, wenn er so klatsch! klatsch! klatsch! wieder in die Verließe hinunter stieg. Er ist nun todt. Seitdem bin ich nicht wieder da gewesen. Und was soll's nun hier?

Die drei Diener der öffentlichen Sicherheit waren während dieser Unterhaltungen in dem innern Raum des alten Profeßhauses angekommen. Aufgeschreckte Ratten huschten an ihnen im Dunkeln vorüber. Pax zog eine kleine Handleuchte aus der Tasche, zündete sie durch ein Streichhölzchen an, das er behutsam auslöschte und der vielen Papiere wegen, die hier schon herum lagen, nicht etwa hinter sich fortwarf.

Schmelzing war hier bereits bekannt. Hackert kam zum ersten male.

Das sieht da aus! rief er, hier war ich nie!

Er erblickte zunächst eine große gewölbte Halle, die jedoch ihre Wirkung durch die vielen Schränke und Repositorien verlor, die hier aufgerichtet standen. Schrank an Schrank, Kiste an Kiste, angefüllt mit Papieren. Dazwischen waren Tische, Stühle, Leitern zusammengeschichtet. Beim weitern Fortschreiten sah man eine steinerne Wendeltreppe, die aufwärts ging und auf allen ihren [2102] Stufen dieselbe Unordnung verrieth. Links und rechts standen Thüren auf, die in Gemächer führten, die seit langer Zeit ohne irgend eine Bestimmung schienen. Es kam nun ein Treppchen, das aufwärts und sogleich eins, das wieder niederwärts führte. Endlich hielt der Oberkommissair an, setzte seine kleine Handlaterne auf einen Sims und bedeutete seine Begleiter, ihr Ohr näher zu halten, da er leise sprechen müsse.

Hackert, sagte er, ich habe Sie deshalb herbestellt, damit Sie Schmelzing unterstützen.

Worin?

Im Hören! sagte Pax.. Ich habe ihm schon alle seine verdammten Gehörgänge untersuchen lassen. Sie waren zwar seit Jahren nicht ausgefegt worden, wie alte Schornsteine; aber schreien muß man doch, wenn er etwas authentisch in seinen Hirnkasten aufnehmen soll.

Was gibt's denn hier in der Dunkelheit zu hören? fragte Hackert erstaunt.

Die Regierung, sagte Pax, ist einer Menge gefährlicher Umtriebe auf die Spur gekommen. Fremde Emissaire sind von Paris und Amerika eingetroffen. Man hat die genauesten Anzeichen einer sich ausbildenden neuen revolutionairen Bewegung. Die Nothwendigkeit, wachsam zu sein, liegt auf der Hand und unsere Kräfte reichen kaum aus, überall aufzumerken und aufmerken zu lassen, was im Stillen angesponnen wird ... hier nun befinden wir uns –

Über dem Rathskeller! unterbrach ihn Hackert.

[2103] Einer Lokalität, setzte Pax hinzu, die ihrer eigenthümlichen Bauart wegen von einer gewissen feineren Revolutionspartei sehr gesucht ist.

Es herrscht hier das Zellensystem! sagte Hackert trocken.

Pax lächelte über diese Anspielung auf die pennsylvanischen Gefängnisse.

Allerdings, bemerkte er, hat diese Lokalität das Einladende, daß sich kleine Gesellschaften hier völlig abschließen und berathen können ...

Dicke Eichenthüren, Mauern so breit wie Kirchenfundamente – da soll Schmelzing etwas hören? Herr Oberkommissair, die Posaunen von Jericho muß er sich an's Ohr setzen, um durch solche Wände eine Verschwörung zu entdecken.

Sie verstehen sich auf Akustik, seh' ich, sagte Pax. Erfahren Sie denn, daß hier drei der gesuchtesten Trinkstuben unter uns mit einer Vorrichtung für Schwerhörende versehen sind.

Hackert erstaunte und Schmelzing, der ahnte, wovon die Rede war, bestätigte, was der Oberkommissair ihm eben gesagt zu haben schien.

Ist in die Decke unter uns ein Schallrohr eingemauert? fragte Hackert ungläubig.

Das nicht, sagte Pax verschmitzt. Aber diese alten Baumeister waren nicht dumm. Jene drei Zellen sind der Art, daß man hier im ersten Stock jedes darin gesprochene Wort hören kann.

[2104] Das ist ein Wunder! Wie wäre Das? fragte Hackert.

Ich kann es Ihnen nicht an Ort und Stelle beschreiben, sagte Pax, denn dort, wo das Wunder stattfindet, müssen wir schweigen. Die Einrichtung ist sehr eigenthümlich. Die in jenen Zellen Sitzenden glauben von dichten Wänden und Eichenthüren verschlossen und geschützt zu sein und sind es auch ...

Also keine Hohlwände?

Keine Hohlwände! Wohl aber wölbt sich die Decke in Bogen der Art empor, daß sie oben sich in der Figur eines Kreuzes vereinigen. Dies Kreuz, an den Ecken in Form eines dreiblättrigen Kleeblattes, ist eine Öffnung, die unfehlbar keinen andern Zweck als zum Luftzuge hatte ...

Sagen Sie Das nicht, fiel Hackert ein. Die geistlichen Ritter, die hier hausten, waren halbe Pfaffen, aber sie verstanden Künste, wie die ganzen Pfaffen. Das waren Gefängnisse oder Bußestuben, durch das Kreuz sprachen die Engel mit den Gefangenen und Büßenden oder die Profoßmeister, wie es gerade kam. Ich entsinne mich, mein alter Rathskellermeister hat mir Mordgeschichten von seinen Trinkstuben erzählt. Der mußt' es wissen. Ich sag' Ihnen, in seinem Schurzfell und der sehwarzen Sammetkappe sah der Alte aus, als wenn er den geistlichen Rittern hier schon vor fünfhundert Jahren Niersteiner kredenzt hätte.

Genug, fuhr Pax fort, Sie werden sich überzeugen, Hackert, daß der Schall der unten gesprochenen Worte [2105] durch die Wölbung in das enge Kreuz hinauf dringt wie durch die klügste akustische Vorrichtung. Man vernimmt hier oben jedes Wort und ich kann Ihnen sagen, daß ich mich vollkommen auf Schmelzing verlassen würde, wenn er nicht zu furchtsam wäre, hier oben allein zu bleiben und freilich auch, wenn nicht gerade jetzt sich Menschen dort unten versammelten, bei denen man zwei Zeugen haben muß, um ihrer gefährlichen Verabredungen gewiß zu sein.

Aber bester Herr Kommissair, begann nun Hackert, der plötzlich über eine ihm gestellte Zumuthung dieser Art, die erste in diesem Fache der praktischen Polizei, fast überrascht schien; glauben Sie denn, daß sich da Menschen hinsetzen und dicht unter dem Schallloche verfängliche Reden führen werden?

Ich wünschte, sagte Pax, Sie hätten einmal von unten aus eine dieser Trinkstuben des Rathskellers gesehen. Sie treten ein und sind in einem kleinen abgeschlossenen Zimmer. Eine schwere mit Eisen beschlagene Eichenthür fällt hinter Ihnen zu. Die mit grüner Ölfarbe bestrichenen Wände sind gemüthlich einladend. Man sieht wohl dies Kreuz in der Decke, das mit weißem gegipsten Stukkaturrande zierlich gearbeitet ist; aber dicht daran hin ist die Röhre der Gasbeleuchtung geleitet. Die Gasflamme, gedeckt von einem Schirme, geht gerade so empor, daß ihr Dunst durch das hohle Kreuz seinen Abzug findet. Diese Einrichtung ist so willkommen, scheint so sinnreich und unerläßlich nothwendig, daß Niemand die [2106] Ahnung hat, es könnte durch die Wölbung Das, was unten gesprochen wird, oben hinauf geleitet werden.

Also sein Ohr darf Schmelzing nicht darüber halten, sonst würd' er sich seine schönsten Haare verbrennen? fragte Hackert lachend.

Allerdings dringt genug von dem heißen Dunst herauf, erklärte Pax. Allein das Zwischengebälk des Kellers und des ersten Stockes ist doch wohl zwei Fuß auseinander. Ich entdeckte diese sinnreiche Vorrichtung, wie ich mir einmal die Trinkstuben des Rathskellers ansah. Ich fand den Ton unten so hohl, so schallend und stellte, ohne daß der jetzige Rathskellermeister eine Ahnung davon hat, Versuche an, die selbst mit dem harthörigen Schmelzing ergiebig waren.

Das glaub' ich, sagte Hackert. Diese Vorrichtung ist eine Schalltrompete. Husch!

Schmelzing erschrak. Hackert hatte sich den Scherz gemacht, ihn durch einen Schreckensausruf zu ängstigen.

Lassen Sie Hackert! sagte er ängstlich. Ich versichre Sie. Es spukt hier!

Wirklich? antwortete Hackert, haben Sie einen alten Ritter gesehen, Schmelzing, der vielleicht mit dem Finger drohte: Will der vermaledeite Horcher da vom Fußboden weg!

Das erste Mal, flüsterte Schmelzing, schloß ich die Thür nicht zu. Da war Alles still. Ich blieb eine halbe Stunde. Es wurde nicht viel Besonderes gesprochen. Das zweite Mal schloß ich hinter mir zu, weil die Thür aufgeht, wenn man [2107] sie nicht zuschließt und einem Küfer, der zufällig in den Hof kommt, doch die offene Thür auffallen könnte. Da sah ich etwas ...

Ja, sagte Pax lachend, er sah etwas und hörte nichts. Es waren gerade zwei sehr gefährliche Persönlichkeiten in der einen Trinkstube, wo ich schon Minister und Geheimräthe angetroffen habe, der bekannte Major Werdeck und noch einige Geheime, und er hörte nichts, will aber etwas gesehen haben.

Ein Skelett, sagte Hackert. Sich selbst hat er irgendwo in einem Spiegel gesehen, der vielleicht vom Pfandhaus sich hierher verirrt hat.

Schmelzing sah sich um. Die Stille des Orts war in der That geheimnißvoll und Hackert bewunderte Schmelzing's Muth, auch nur einmal hier ausgehalten zu haben.

Was sah er denn? fragte er den Oberkommissair.

Es war ihm, antwortete dieser, als hätte Einer die Thür hinter ihm aufgeschlossen. Dann hätt' er es rascheln hören. Auch ein Lichtstrahl wär' in der Ferne sichtbar geworden und zuletzt hätt' er einen kleinen Mann im grauen Rocke an sich vorüber schleichen sehen.

Die aufgeschlossene Thür, sagte Hackert lachend Schmelzingen in's Ohr, war der Wind, das Rascheln kam von den Mäusen und Ratten. Der Lichtstrahl kam aus dem Hofe von irgend einem ehrbaren Rathsküfer und das graue Männlein sah die gesteigerte Angst ...

Schmelzing schüttelte mit dem Kopf und protestirte entschieden gegen diese natürliche Auslegung Seitens [2108] eines Menschen, von dem er wußte, daß auch er nicht recht geheuer war ... Er blieb dabei, es wäre Jemand in dem Gebäude mit ihm zusammen gewesen, aber er hätte ihn auch fortgehen sehen und deutlich gehört, wie er wieder zuschloß. Es wäre ein Mann mittlerer Statur gewesen. Er, Schmelzing, hätte seine eigene Laterne gleich beim ersten Rascheln ausgelöscht und beim Schein der kleinen Leuchte des unheimlichen Besuchers sich überzeugen können, daß er ganz grau war. Freilich hätte er ihn nur am Ende eines Corridors gesehen. In der Nähe hätte er unfehlbar den Tod gehabt.

Nun wohl! sagte Hackert scherzend und doch grübelnd, das ist der Geist von einem alten Pfaffen der Johanniter, der keine Ruhe hat. Schmelzing, der wählt Sie am Ende, um ihn zu erlösen.

Machen Sie nur keine Scherze, Hackert! sagte der Schreiber. Was ich sah, sah ich. Ich beschwöre, daß Alles wirklich war.

Genug, unterbrach Pax die Streitenden. Ich habe Eile, Schmelzing fürchtet sich allein zu sein; auch vor Ihnen Hackert fürchtet er sich eigentlich. Aber durch wen soll ich ihn unterstützen lassen? Mullrich und Kümmerlein waren früher handfeste Metallarbeiter, sind aber jetzt, da es ihnen gut geht, Hasenfüße. Fürchten Sie sich, Hackert, hier mit Schmelzing allein zu bleiben?

Nicht vor zehn Teufeln, sagte Hackert, fürcht' ich mich hier. Wo sind die Kreuze, die uns beschützen werden?

Ehe ich Sie dorthin führe, bemerkte Pax, sprechen Sie [2109] mit Schmelzing Alles ab! Denn dort an dem Fußboden dürfen Sie nichts mehr zusammen reden. Es würde zu gefährlich sein und uns die ganze Unternehmung verderben.

Geben Sie Acht! sagte Hackert, wir verständigen uns schon.

Damit fing er ein sonderbares Gebehrdenspiel an, schnalzte mit den Fingern, zupfte bald am linken bald am rechten Ohre, tippte auf die Nase und machte die sonderbarsten Gestikulationen.

Was treiben Sie denn für Narrenspossen? fragte Pax.

Nichts Narrenspossen! antwortete Hackert. Ich spreche mit Schmelzing.

Und Schmelzing bestätigte dem Oberkommissair, daß er sich, ehe seine Gehörkanäle polizeilich gereinigt wurden, oft der fürchterlichsten Melancholie ergeben hätte und vollkommen des Glaubens gewesen wäre, er würde einmal ganz taub werden. Da hätte ihn denn schon Hackert als guter Nachbar getröstet und ihn von den vielen tausend Künsten, die er verstünde, auch die Kunst der Zeichensprache gelehrt. So könnten sie Stundenlang zusammensitzen und sich, ohne den Mund zu öffnen, auf das Lebhafteste unterhalten.

Das trifft sich vortrefflich! fiel Pax erfreut von den Talenten seines Lieblings ein. Und wenn Sie vollends noch Wein vorräthig finden, so kann Ihnen die Zeit nicht lang werden, falls das graue Männchen die Flaschen nicht ausgetrunken hat.

[2110] Wein? sagte Hackert erstaunt.

Wir wollen sehen, bestätigte Schmelzing. Der Herr Oberkommissair gab mir das zweitemal einen Korb Wein mit, den ich in der Dunkelheit herein trug, um für öftere Besuche nicht ohne Erquickung zu sein.

Ja, sagte Hackert. Schmelzing und Wein! Nun weiß ich! Beim ersten Glase schon haben sich ihm alle Gräber der Vorzeit geöffnet.

Schmelzing schüttelte den Kopf und blieb fest dabei, daß er wirklich hier oben einen nächtlichen Besuch empfangen hätte.

Der Oberkommissair bemerkte jetzt, daß es ihm besonders lieb wäre, die Äußerungen des Majors Werdeck zu hören. Er wisse aus bestimmtester Quelle, daß er mit einigen Freunden heute Abend im Rathskeller soupiren würde. Er hätte auf die elegante feinere Trinkstube Beschlag gelegt. Wer die Gäste wären, wisse er noch nicht. Aber er zweifle nicht, daß es dieselben Personen sein würden, auf die die öffentliche Sicherheitspflege schon längst ihr Augenmerk gerichtet hätte.

Damit zog er Hackerten und Schmelzing vorwärts und bedeutete sie, leise aufzutreten.

Sie kamen alle Drei jetzt auf einen steinernen Fußboden. Anfangs war es um sie her dunkel. Bald aber zeigten sich auf den steinernen Vliesen lichte Stellen.

Sehen Sie da, flüsterte Pax, den Widerschein der Gasflammen! Aber nun kein Wort mehr!

Zugleich bemerkten sie den Schwefelgeruch des Gases.

[2111] Schmelzing bedeutete Hackerten, nur auf den Zehen aufzutreten.

Sie waren an einem der Lichtschimmer. Es bildete sich hier ein Kreuz mit drei Kleeblättern an den vier Enden. Geisterhaft, wie aus Licht gewoben, schwebte das Kreuz im Dunkeln. Ebenso an einer andern und noch an einer dritten Stelle.

Mit dem Auge zu nahe kommen durfte man dem Schimmer nicht und an ein Hinunterblicken war nicht zu denken. Wie Irrwische schwebten die heiligen Zeichen in der Nacht auf dem großen steinernen Estrich, der eine Speisehalle gewesen zu sein schien. Indem winkte Schmelzing sehr lebhaft. Die beiden Andern schlichen näher. Schmelzing zeigte auf einen Korb und machte Gebehrden der angenehmsten Überraschung.

Noch Alles da, wie es war? fragte Hackert durch die Zeichensprache der Taubstummen.

Schmelzing zog eine Flasche nach der andern in die Höhe und winkte, daß sie schwer waren.

Also, flüsterte Hackert dem Oberkommissair in's Ohr, die Geister haben hier oben inzwischen keinen Durst gehabt.

Pax bedeutete ihn ernstlich zu schweigen. Er zeigte ihm mit besonderm Nachdruck das Lichtkreuz, das in der Mitte flammte, und winkte ihm, dort am meisten Acht zu geben. Schmelzing trug den Korb an das mittlere Kreuz und erbot sich, dem Oberkommissair das Geleite zu geben, damit er hinter ihm wieder zuschließen könne. Pax nickte [2112] dazu. Schmelzing folgte ihm mit der kleinen Laterne und ließ Hackerten mit dem Bedeuten, er würde sogleich wiederkommen, im Dunkeln allein.

Als sich Pax und Schmelzing entfernt hatten, warf sich Hackert in der Nähe des mittleren Kreuzes auf die Erde. Er fühlte, daß er auf etwas Weiches fiel. Schmelzing's Mantel schien es ihm, den er an seinem groben Tuche und einem abgeschabten Halskragen erkannte.

Aha! dachte er, der Spion hat sich hier schon ganz häuslich eingerichtet!

Und nun erst ergab er sich einem genaueren Nachdenken über die sonderbare Situation, in die er hier so plötzlich, er wußte nicht wie, versetzt worden war.

[2113]
7. Capitel. Die flammenden Kreuze
Siebentes Capitel
Die flammenden Kreuze

Wir haben in Fritz Hackert einen Menschen des Instinktes kennen gelernt. Unbekannter Herkunft stehen uns seine Schicksale vor Augen seit der Aufnahme in das Haus des Justizrathes Schlurck und seinen jugendlichen Verirrungen mit Melanie bis zu dem Augenblick, wo wir ihn am Schlusse des Fortunaballes in einem erneuerten Anfall seiner Krankheit verließen. In dem ersten Momente, wo uns Hackert persönlich bekannt wurde, in Tempelheide, wo er im Kornfelde lag und den Becher Weins mit Siegbert theilte, erkannten wir in ihm eine nicht ungewöhnliche Natur, die aber damals völlig zerfahren, mit sich selbst zerfallen war, innerlich und äußerlich verdüstert und heruntergekommen. Später fielen uns lichtere Momente auf sein widerspruchsvolles Wesen und wir werden uns wol gesagt haben, daß dies Individuum durch Krankheit, geringe äußere und meist durch sich selbst gewonnene Erziehung, endlich durch sein angeborenes Naturell dem Urstoff des Menschen näher stand als die meisten andern Menschen, die man eher vermittelte Naturen nennen möchte. In Hackert lag noch unmittelbar das ganze [2114] Chaos des Guten und Bösen, wie es aus der Hand des Schöpfers in uns so geheimnißvoll gepflanzt scheint. Wohin seine Entwickelung ihn führen wird, ob zum Schlimmen oder zum Guten, wird uns schwer werden, schon vorauszusagen. Wir sahen ihn in den Beziehungen zu Melanie von einem Sensualismus, der nur durch den üppigen Ton des Schlurck'schen Hauses und die epikuräische Weltauffassung des Justizraths entschuldigt werden kann. Melanie war ihm wol so ziemlich gleichartig, nur daß sie die Vorzüge einer gefälligeren Bildung vor dem früh verwahrlosten und durch die Farbe seines Haares entstellten Spielgenossen voraus hatte. Einen Beweis für ihre wirkliche aus dem Herzen fließende Güte ist uns Melanie noch schuldig geblieben. Was sie uns an freundlichen Gesinnungen und wohlwollenden Gedanken offenbarte, floß aus ihrer Leidenschaft, aber auch diese kam nicht rein aus dem Herzen, sondern aus der Eitelkeit und dem Drange nach Auszeichnung ... In Hackert schlummerte der Ehrgeiz. Zu seinem Glücke unbewußt. Hätte ihn der Gedanke des Ruhms, der Auszeichnung erfaßt, er hätte nur auf schlimme Bahnen gerathen können, auf solche Bahnen, an deren Beginn wir ihn eben jetzt erblicken.

Muth und Zaghaftigkeit waren in diesem Naturmenschen auf eigene Art gemischt. Wenn wir sagen, daß etwas Weibliches in ihm lag, eine große Empfänglichkeit und das Bedürfniß einer Liebe, wie sie ihm nach seinem bessern Sinne selten zu Theil wurde, so wird man sich der [2115] Lösung des psychologischen Räthsels, das er darbietet, schon eher nähern. Ein Mannweib, wenn es denkbar wäre, brächte wol ähnliche Mischungen, die an Thierisches erinnern, an den Muth und die Furcht des Löwen zugleich, zum Vorschein. Hackert hatte oft großartige Regungen und verfiel sogleich wieder, bei der geringsten Verletzung, in die niedrigsten. Wir haben gesehen, wie er der Rache fähig war! Man hatte ihn furchtbar entwürdigt, hatte ihn durch jene Züchtigung wie ein Thier mit Füßen getreten, aber statt offen seinem Gegner gegenüber zu treten, tödtete er ihm durch die raffinirteste Grausamkeit sein Eigenthum. Ihn zu verdammen steht Jedem frei. Wer wird ihn beschönigen wollen? Aber wer wird auch so weichlich gestimmt sein, nur Die Menschen menschlich zu finden, die nach den Regeln des Katechismus entweder gut oder böse sind, für den Himmel oder die Hölle passen, nur Liebe oder Abscheu erregen? Wir Menschen sind nicht so kurz zu nehmen, wie wir in einem polizeilichen Signalement oder in lebensunwahrer Dichtkunst angegeben werden. Die Mehrzahl der Lebenden sind Hackerte, Individuen, schwierig unterzuordnen unsrer Liebe und doch auch nicht hassenswerth. Die reine geläuterte Vortrefflichkeit gibt es ebensowenig, wie es eine abstrakte Schlechtigkeit nicht so nackt gibt, wie man ihr in den Kriminalgefängnissen zu begegnen glaubt. Wir sprechen immer von Menschen, die wir lieben und achten, und immer von Menschen, die wir hassen. Aber zwischen Beiden gibt es Millionen, die sich aus unsrer Liebe und [2116] unsrem Hasse sehr wenig machen, die so sein wollen wie sie sind, und die man gelten lassen muß, weil ihnen die Welt so gut gehört wie uns. Unsre Maßstäbe von Verstand, Herz, Gemüth passen in den seltensten Fällen auf die Menschen. Dieser Hackert konnte demüthig werden bis zum Kleinmüthigen, ja bis zum Überschlag in eine weiche und klagende Hingebung, und der geringste Erfolg, wie wir an dem Abend gesehen haben, als er Melanie in ihrem Wagen überfiel, schnellte ihn zum Ausbruch des Trotzes und zur widerlichsten Prahlerei empor. In jener Nacht, als er den Brüdern Wildungen ihre üblichen moralischen Voraussetzungen über den Haufen stieß, strafte ihn freilich das Geschick. Eben noch jubelnd von Lust, drohte ihm zum zweiten male ein Überfall, eine noch schimpflichere Mishandlung. Damals gerettet durch die sorgsame Liebe des jungen Mädchens, dem sein zerrissenes Gemüth, seine Bizarrerie imponirte, flüchtete er sich in einen Versteck und verfiel vor Zorn und Jammer über sein Loos in Krämpfe, Zuckungen und ein stilles Schluchzen, das erst aufhörte, als er, vom genossenen Weine übermannt, halb und halb entschlief. Und in diesem Halbschlafe trieb ihn sein unruhiger kranker Geist empor und führte ihn als Schlafwandler in den Tanzsaal zum allgemeinen Entsetzen. Damals kam ihm die Ideenverbindung der regen Phantasie von selbst auf Louise Eisold, die neben ihm war und ihn stützte. Er sah die Kinder im Geist. Er lehnte sich über ihre Lagerstätten, um ihnen: Gute Nacht! zu sagen. Er sah den Alten, griff nach ihm [2117] und fühlte ihn kalt. Er sah, daß er starb. Die Uhr schlug in dem Augenblicke vier. Er erwachte und sank in die Arme jenes seltsamen Mädchens, das in ihm gerade den kranken Genius liebte.

Wie Hackert damals von Sandrart, Louisen und Fränzchen nach Hause geführt wurde, in der Frühe noch zu Bett ging, dann aufstand, sich auf Alles besann und tief, tief über sich schauderte, da hatte er gedacht: Du mußt dich in ein festes Lebensjoch schmieden! Du mußt irgend etwas beginnen, was diese bösen Geister deines Innern, diesen ewigen Aufruhr deines Dämons zur Ruhe bringt! Mit Gewalt zwang er sich, den Vorschlägen des Oberkommissairs Pax Gehör zu geben. Und ohne zu prüfen, was doch wol Alles dieser neue Beruf ihm auferlegen konnte, ohne irgend zu überdenken, welches die Bedeutung seiner neuen Thätigkeit werden müßte, schleuderte er sich mit Gewalt in diesen Beruf, nur um von dem gefahrvollen wilden Vegetiren freizukommen. Er hatte Melanie versprochen, wenn sie bei Lasally die Einstellung seiner Klage gegen ihn durchsetzen würde, sie und Alle in Ruhe zu lassen. Zu Louise Eisold zog ihn nur Wehmuth, nur Schmerz, nur Reue. Er wurde feig, unmännlich, wenn er sich die Möglichkeit dachte, ein so edles, tugendhaftes Mädchen zu lieben, er floh sie wie die Tugend. Und weil er auch schon längst das grobe Laster verabscheute, so warf er sich nun zum ersten male wieder in die Arbeit. Er kannte keine andre Arbeit als die mit der Feder. Bei Schlurck war er außerordentlich geschäftskundig [2118] geworden, hatte eine Schlauheit, Pfiffigkeit, eine Gewandtheit im Auffassen, einen Reichthum von Detailkenntnissen sich erworben, die der Oberkommissair Pax sehr zu schätzen wußte und gern darauf einging, für gröbere Arbeiten eher den Schreiber Schmelzing zu beschäftigen. So hatte Hackert seither hingebrütet in Büreauthätigkeit. Er hatte die Genugthuung, daß ihm diese Lebensweise für die Beruhigung seiner Nerven besser gedieh als das planlose Umherdämmern in Busch und Feld, auf Kreuzweg und hinter Hecken und das Verfolgen seiner leidenschaftlichen Eingebungen. Bald dachte er früher: Du mußt sparen! Es kommt eine Zeit, wo Schlurck dir nichts mehr gibt oder du nichts mehr von ihm nimmst! Es kommt eine Zeit, wo du verhungern kannst! Da wurde er geizig, schmuzig geizig. Dann warf er wieder das Geld fort, das er ohnehin in baarem Metall nicht leiden mochte, weil er, wie er sagte, physische Schmerzen davon hätte. Da geschah es ihm wol, daß er so frech war, einen Fünfthalerschein als Fidibus zu einer Cigarre zu verbrennen. In solchen Krisen war er krank und stand in der Nacht auf, unruhig, gequält und erschreckte die Menschen durch sein Nervenleiden, das ihn zum Nachtwandler machte. Seitdem er bei Pax arbeitete, in der einzigen Thätigkeit, die ihm zuletzt doch nur allein möglich machte, sich einen Beruf zu bilden, war sein Wesen ruhiger geworden. Er schlenderte so hin und schlief ruhig. Er dämpfte seine Überreizung ab und sah nicht mehr rechts, nicht mehr links und war auf dem [2119] Wege, ein consequenter Menschenhasser zu werden, ein Peiniger, ein Tyrann aller Lebendigen.

Heute zum ersten male kam ihm nun eine Zumuthung, wie sie ihm der Oberkommissair noch nicht gestellt hatte. Anfangs zog ihn die Art, wie er in diese Situation gerieth, an. Das kam so eigenthümlich, so geheimnißvoll. Die Erinnerungen an die Kinderzeit thaten ihm wohl. Der Spott über Schmelzing, der Scherz über den Spuk, das Alles stimmte ihn anfangs launig. Wie er nun aber hier auf dem Estrich hingestreckt so allein kauerte, wie da drei gespenstische Kreuze, flimmernd und flackernd, so auf dem Boden wie Irrlichter ihn umtanzten, wie er sich sagte: Was sollst du hier? Horchen? Lauschen? Da überfiel ihn die Überlegung und sie stimmte eigentlich nicht mit Dem, was ihm genehm war. So Manches war schon vorgekommen, was ihm der Oberkommissair übertragen hatte und was ihm bedenklich schien. Er hatte sich Dem unterzogen, ohne lange zu prüfen. Diese Horcherrolle aber machte ihm Kopfschütteln; dennoch hatte sich sein Menschenhaß schon so entwickelt, daß ihm etwa eine Verhinderung der Pax'schen Absichten nicht im geringsten einfiel.

So lag Hackert eine Weile und horchte, ob nicht Schmelzing zurückkäme. Er hatte das Aufschließen der Thür und das Zuschließen gehört, aber Schmelzing kam nicht wieder. Wie? fuhr er auf, hat man dich eingeschlossen und dir das Geschäft des Lauschers allein übertragen? Noch eine Weile geduldete er sich. In dem Augenblicke glaubte [2120] er etwas knistern zu hören. Er lag ganz im Dunkeln und hätte kaum den Rückweg finden können. Zornig sprang er auf. Wie seine Natur war, hatte er sogleich die schlimmste Vorstellung. Er sah sich gefangen, betrogen, irgendwie verrathen. Die verzerrtesten Möglichkeiten tanzten vor seiner im Nu entzündeten Phantasie. Er wollte Lärm machen, durch die Kreuze hindurch um Hülfe rufen. Jetzt zaghaft und sogleich kleinmüthig, gab er nicht nur sich, sondern sogleich auch Die, die ihm vertraut hatten, auf. Da hörte er etwas in der Ferne knarren. Es mußte die Thür sein, die aufgeschlossen wurde. Die Erzählung von dem grauen Manne kam zur Mehrung seiner Aufregung noch hinzu. Er horchte. Er glaubte Tritte zu vernehmen. Ein Lichtschimmer fiel durch irgend eine Scheibe in der Vorhalle. Er hielt den Athem an und rüstete sich auf jede Gefahr. Da kamen die Fußtritte näher, der Lichtstrahl beleuchtete die Wände. Hackert stand auf dem Sprunge, dem verdächtigen Ankömmling jedenfalls sogleich die Laterne zu entreißen ... Es war aber Schmelzing, der in der einen Hand mit der Laterne, in der andern mit einem großen Papiere, in das etwas eingewickelt schien, näher schlich. Seine Phantasie hatte ihn von der Möglichkeit, daß der harthörige College wiederkam, ganz entfernt gehabt. Schmelzing kam und nickte Hackerten zu, ihm das Papier abzunehmen. Es war Brot und Fleisch. Schmelzing war noch auf die Straße gegangen und hatte Vorräthe eingekauft, wofür ihn Hackert loben mußte. Behaglich kauerten sie sich nun zur Erde nieder an dem [2121] mittleren Gasflammenkreuz, zogen Messer hervor und zerschnitten sich den reichlichen Proviant. Leider hatte Schmelzing vergessen, für ein Glas zu sorgen. Da zog er ein hölzernes Pennal aus der Tasche, nahm die Federn und Bleistifte heraus und verwandelte dies Pennal in zwei Trinkbecher, einen großen und einen kleinen. Den kleinen nahm Schmelzing, der nicht viel vertragen konnte, den größeren Hackert. Mit der Fingersprache sagte Hackert, so hätten die Humpen der alten Ritter ausgesehen, nur wären sie größer gewesen. Die beiden Schreiber stießen mit ihren Trinkpennalen an und unterhielten sich, obgleich stumm, auf die heiterste Art. Endlich hörten sie Geräusch. Die Thür der Trinkstube unter ihnen ging auf. Männer traten ein, ein lautes Gespräch begann, jedes Wort schallte in der Wölbung so wieder, wie es unten gesprochen wurde. Die beiden lauschenden Schreiber spitzten die Ohren ...

Unsre Freunde aber, Dankmar, Siegbert und Leidenfrost hatten, als sie von dem Feste der Weinlese bei der Fürstin Wäsämskoi kamen, am Thore sich von den Arbeitern getrennt, die an der Stadtmauer entlang in die Willing'sche Fabrik zurückkehren wollten.

Sie schritten, die kleinen Einzelheiten des Nachmittags wiederholend und Manches, was ihnen, den stillbewegten Siegbert ausgenommen, spaßhaft erschienen war, belachend, dem alterthümlichen Viertel der Stadt zu. Am Rathskeller wollte sie Louis Armand erwarten. Daß auch Major Werdeck kommen würde, war der Inhalt des von [2122] Sandrart überbrachten Billets gewesen. Der Major hatte hinzugefügt, daß er zur Erörterung der längstersehnten Wünsche ganz für den Rathskeller wäre, dessen kleine abgeschlossenen vielgesuchten Zellen der gemüthlichen Unterhaltung sehr entgegen kämen: er hätte schon die beste, in der selbst General Voland von der Hahnenfeder, der Alterthümler, nicht verschmähe, sich zuweilen einen Trunk Lacrimä Christi zu gönnen, für sie mit Beschlag belegt.

Die Freunde hatten diesen Abend bestimmt, um sich über die große Aufgabe der Zeit, die sie Alle beschäftigte, in ihrem Sinne gründlich auszusprechen und diejenige Rolle zu bezeichnen, die sie entschlossen sein wollten, in dem allgemeinen Kampfe der Interessen und Ideen zu übernehmen.

Werdeck war durch Leidenfrost mit Siegbert und Dankmar bekannt geworden. Schon öfters waren sie hie und da zusammengetroffen und hatten wechselseitiges Vertrauen gewonnen. Zwar lag in Werdeck's scharfhervortretenden Zügen Manches, was beim ersten Begegnen einschüchtern konnte, doch überwanden die sich Annähernden die erste Scheu; hatte doch auch Dankmar lange damit zu thun gehabt, sich mit Leidenfrost zu befreunden, der von der Malerei immer mehr abkam und in neuester Zeit sogar angefangen hatte, sich auf Strategie zu legen. Es war in der That kein Scherz, wenn Siegbert erzählte, daß Leidenfrost auf einer bescheidenen Erkerstube, die er bewohnte, eine Menge strategischer [2123] Werke, die ihm Werdeck geliehen, aufgeschlagen vor sich liegen hatte und auf einem Tische mit kleingeschnittenen Schwefelhölzchen den großen und kleinen Krieg studirte. Er fand ihn oft in die Stellungen seiner Schwefelhölzer so versunken und machte mit ihm die berühmtesten Schlachten Alexander's des Großen, Cäsar's, Eugen's von Savoyen und Friedrich's des Großen so tapfer durch, daß man die Entzündung der Hölzer befürchten konnte. Die Schwefelhölzer waren je nach ihrer Nationalität und ihrer Truppengattung bunt bezeichnet. Leidenfrost konnte sich in seinen taktischen Studien so verlieren, daß er unter seinen Tausenden von Schwefelhölzern wie ein Schachspieler saß und irgend einen neuen unbekannten Sprung erfinden zu wollen schien. Er hatte Siegbert ersucht, ihn nicht wegen dieses Unsinns dem Major zu verrathen. Der Zunftgeist, sagte er, ist überall derselbe und wie wir Niemanden einräumen wollen, daß man Maler sein könne ohne Hände, so begreift auch ein Taktiker nicht, wie man ohne Epaulettes sich über Kriegführung orientiren kann, was doch nachgerade eine unerläßliche Bedingung eines jedes gebildeten Mannes unsrer Zeit werden und bald so nothwendig für die Erziehung sein wird wie das Turnen.

Etwas besorgt waren die Freunde über den Eindruck, den Werdeck und Louis Armand gegenseitig auf sich machen würden. An dem Stande dieses in der ganzen Residenz schon bekannten und durch seine Beziehung zum Prinzen Egon wohlgewürdigten französischen Kunsttischlers [2124] nahm der Major keinen Anstoß. Er hatte, einmal vom Wirbelwinde der Zeit gefaßt, sich die ungeheure Abweichung von seiner vorgeschriebenen Lebensweise zu Schulden kommen lassen, seinen Kriegerstand zu vergessen und erst durch die Ideen sich mit den Menschen zu vermitteln. So lag ihm auch nun nichts mehr an einer solchen Begegnung mit einem wirklichen Manne aus dem Volke. Bedenklicher hätte es ihm freilich scheinen können, daß der neue Genosse der schon mehrfach angeknüpften Unterhaltungen ein Franzose war. Werdeck besaß aber nicht die Nationalvorurtheile, die uns von unsern Erziehern mitgegeben werden und in unser Blut übergegangen sind. Seine Frau hatte ihn früh über diese Voraussetzungen hinweggebracht. Eine starke, leidenschaftliche, vom Hasse getragene Seele, wie sie war, lebte sie nicht in der Welt, die ihres Gatten nächste Lebensbedingung war. Religiöse und nationale Elemente führten sie in jene eigenthümliche Schwärmerei hinüber, die sich aus der Schule Adam Mickiewicz's in Paris mit Flügeln emporschwang, die ihr die Märtyrerschaft als das schönste Ziel der Tugend zu erstreben lehrte. In der Minorität zu leben, mit dieser zu dulden, mit dieser zu hoffen, war dieser Frau eine Geistes-Seligkeit, und wenn auch Werdeck auf's entschiedenste die nationale Berechtigung der Polen verwarf, seiner Frau ihre katholischen Träumereien ließ, ohne aufzuhören, sie sogar deshalb zu belächeln, den Hauch der neuen Zeit hatte er in jeder andern Beziehung in seinem Gemüthe alles Starre und Eisige [2125] aufthauen lassen und sah mit Ruhe einer ihm drohenden Katastrophe entgegen. Louis Armand sagte dagegen, die Militairs würden doch nie die wahre Freiheit der Völker befördern. Sie wollten nur steigen, nur herrschen, glänzen. Louis behauptete von Werdeck gehört zu haben, daß er hypochondrisch, verstimmt, längst mit seinen Standesgenossen zerfallen wäre und sich nur darin gefiele, den Hof durch liberale Gesinnungen zu ärgern. Dennoch fügte er hinzu, hätte er von Heinrich Sandrart, dem Sergeanten, der dann und wann noch zu den alten Märtens käme, erfahren, die dritte Compagnie wenigstens ließe ihr Leben für den Major und daraus ließe sich die Macht einer bedeutenden und gemüthvollen Persönlichkeit doch schon theilweise erkennen. Wenn ich ihm kein Anstoß bin, hatte Louis erklärt, so komm' ich gern und bin gewiß, von einem so ausgezeichneten Manne viel lernen zu können.

Louis harrte schon in der Nähe des Rathskellers. Die Freunde schüttelten ihm die Hand. Alle Drei hatten ihn nur noch inniger in ihr Herz eingeschlossen, als bisher. Louis war nach all' den Ansprüchen, die Egon's Freundschaft auf ihn gemacht hatte, jetzt mit erneutem Eifer an seine Arbeit gegangen und hatte Talente entwickelt, die jedem Einsichtsvollen Achtung abgewannen. Mit Genugthuung sah man, wie unausgesetzt theilnehmend er dem öffentlichen Leben seines neuen Aufenthaltsortes folgte, wie gespannt er die Entwickelung Egon's überwachte und jeden Einfluß, den ihm dieser nur gestattete, darauf [2126] verwandte, ihn seinen früheren Gesinnungen treu zu erhalten. Freilich hatte er den Freunden eingestehen müssen, daß seit einiger Zeit mit Egon eine Veränderung vor sich gegangen war. Er hatte ihnen genau den Tag, die Stunde bezeichnet, seitdem ihm vorkäme, als hätte Egon ein neues, fremdes Element in sich aufgenommen. Es war dies jener Abend, an welchem die Freunde einer Aufforderung Egon's gefolgt waren, ihm in einer gewagten, aber von seiner wildesten Erregung für nothwendig erklärten Unternehmung beizustehen. Rudhard hatte dem jungen Fürsten die Verwechselung mit dem Thomas a Kempis eingestanden, er hatte von Pax, von Schlurck selbst in der Hauptsache erfahren, was mit dem Bilde vor sich gegangen war. Daß Pauline von Harder die Denkwürdigkeiten der Fürstin Amanda besaß, stand ihnen Allen fest. Wozu sich neuen Unterschlagungen, einer völligen Vernichtung derselben aussetzen? Nein, hatte Egon gerufen, die Nacht birgt uns in ihr schützendes Dunkel! Wohlan, ich gehe zu jener Elenden, ich verlasse nicht ihr Haus, nicht ihr geheimstes Zimmer, bis diese Umtriebe entlarvt, die entwandten Schätze zurückerobert sind. Louis und die Brüder Wildungen sollten Egon sein kühnes Werk auszuführen unterstützen. Rudhard widerrieth, aber die jungen Leute fühlten sich von dem Abenteuer zu sehr gereizt. Sie folgten Egon und standen schon in Begriff, gewaltsam in das einsame Haus zu dringen und der gefährlichen Frau das geraubte Gut zu entwinden, als sich der uns bekannte mildere Ausweg [2127] gefunden hatte. Aber Egon's seither mannichfach geändertes Wesen konnte nicht geleugnet werden. Man hatte vermuthet, daß die aristokratische Gesinnung der Gräfin d'Azimont sicher versuchen würde, Einfluß auf den Prinzen zu gewinnen. Dies hatte Louis in Abrede gestellt. Eher gestand er zu, daß Rudhard's politische Ansichten, die den ihrigen völlig entgegengesetzt waren, wohl einmal einen bedenklichen Einfluß auf Egon gewinnen könnten. In der Hauptsache aber gestand er dabei, daß seit dem September-Sonntage eine auffallende Veränderung mit dem Fürsten vorgegangen wäre. Er hätte ihn damals an diesem regnerischen Sonntage, selbst verstimmt, besucht, um sich aufzuheitern, hätte Egon aber in eine Trauer, eine Abwesenheit versunken gesehen, die ihn wahrhaft erschreckt hätte. Auf genauere Fragen hätt' er nicht Rede gestanden und nur zuletzt eingeräumt, daß ihn die endlich von Pauline von Harder abgerungenen Mittheilungen seiner Mutter mit tiefster Trauer über die Vergangenheit erfüllten. Wie man aber, fügte Louis Armand hinzu, wie man aus Trauer leichtsinnig, aus Schmerz verschwenderisch werden kann, begreif' ich nicht. Die Freunde hatten Louis um Aufklärung dieses Widerspruchs gebeten und Louis hatte ihnen gesagt: Alle guten Vorsätze, die Egon für sein Hauswesen gefaßt, sind plötzlich verschwunden. Jede Mahnung an die Ersparnisse, die er sich auferlegte, wies er ab. Menschen, die ihm verhaßt waren, die er nicht mehr um sich leiden mochte, behielt er. Als ich ihn nach der Ursache dieses Widerspruchs [2128] fragte, sagte er scheinbar scherzend, aber doch voll Ernst: Bester Freund, die Rücksicht auf Ahnen ist kein leerer Wahn! Mein Vater hat Das so geordnet. Ich will es so lassen. Und nun statt irgend etwas von Dem, was er sich vorgenommen, wahrzumachen, erlebt' ich, daß er den Bankier von Reichmeyer zu sich kommen ließ, sich erst mit ihm über dessen Ansprüche verständigte und sogleich ein neues bedeutendes Anlehen schloß ...

Darüber waren die Freunde erstaunt genug und begriffen nun, wie Egon plötzlich einige neue glänzende Equipagen zeigte, seinen Stall von Lasally und dem pferdekundigen Levi neu ergänzen ließ, die Zahl seiner Bedienten vermehrte und ihnen allen eine Livree vorschrieb, die er selbst zeichnete. Alles Das in einem Zeitraum von vierzehn Tagen, mitten in der raschen, ihm von Justus, dem Volksmanne, erwirkten Nachwahl, mitten in den Vorbereitungen des Zusammentrittes der Stände.

Auch die Beziehung zu Pauline von Harder, zu Guido Stromer, zu der Zeitung »Das Jahrhundert« war zur Sprache gekommen. Niemand begriff, wie nun sich Egon jener Frau so eng anschließen konnte. Alle Welt wußte bereits, was sie der Mutter des Fürsten und ihm selbst schon angethan hatte, und dennoch dieses enge Band! Über Guido Stromer hatte Dankmar selbst schon vor einigen Tagen zu Egon gesagt: Lieber Freund – diese traulichen Bezeichnungen dauerten natürlich noch fort – Lieber Freund, du duldest da einen sehr zweideutigen Mann in deiner Nähe! Dieser Stromer ist Pfarrer, Vater, [2129] Gatte und schleudert sich hier mit Gewalt in eine Laufbahn, bei der er Würde und Alles daran gibt! Ich streite ihm die bedeutendsten Gaben nicht ab. Er hat unfehlbar einen reichen, cultivirten Geist und viel Beruf, Dinge, die in der Menschenbrust schlummern, auszusprechen. Allein wenn mir jemals die verkehrte Anwendung des Genies in einem recht grellen Beispiele vorgekommen ist, so ist es bei diesem Guido Stromer. Ein Gelehrter, ein Stubenmensch, ohne Weltton, ohne Lebensauffassung, wird plötzlich, wie soll ich's nennen, wild! Es fällt ihm ein, daß er schwärmen könne, und wie schwärmt er? Die Seinigen läßt er daheim, seine Pfarre verwaltet ein gewisser Oleander und hier taumelt er im Irrgarten der Ideen von einer Lüge zur andern. Das sind die gefährlichsten Repräsentanten des Geistes, die, alles Charakters baar, nur nach ihren persönlichen Stimmungen sich bald für Dies, bald für Jenes erklären. Weiß er nicht jeder Auffassung eine gefällige Form zu geben? Erfüllt er nicht die innere Leere seines Charakters dadurch, daß er mit Haut und Haar in jede fremde Natur hineinspringt und aus ihr, sie lobpreisend, hervorkokettirt? Gib diesem Menschen irgend eine positive Frage zu vermitteln, irgend eine reelle Aufgabe des Lebens durchzuführen, er wird sie verfahren und wenn er sie nicht ehrlos mit Füßen tritt, sich dabei wenigstens wie ein Schulknabe entwürdigen! Unfähig, irgend eine geschlossene Production hervorzubringen, raisonnirt er nur und läßt die Wahrheit in der Sonne ihre Lichter brechen, wie die Facetten eines [2130] Diamanten. Dabei ist er der plumpsten Schmeichelei zugänglich. Wer seinen Styl lobt, dem gibt er alle seine Ideen preis. Wer vollends sagt, daß seine stumpfe Nase griechisch, seine geschlitzten Augen kaukasisch, seine Hände ebenso zart und weiß, wie sie roth sind, wären, dem stellt er alle seine Eingebungen, das ganze Arsenal seines Verstandes zur Verfügung. Er wird roth, wenn man seine Manschetten lobt. Kurz er ist ein Mann, der aus der Concentration eines gediegenen und achtbaren Stubendenkers heraus ist und in seiner jetzigen Zerfahrenheit noch viel Unheil in der Welt anrichten wird. Anstößig ist schon die geringe Achtung, in die er sich versetzt durch sein leicht entzündliches Herz und die Narrheit, mit der er sich in jede Frau, die einmal seine jeanpaulisirende Schreibweise lobte, verliebt stellt.

Egon hatte damals über diese Schilderung gelacht und von Melanie Schlurck gesprochen, die sich Stromer's zudringlicher Huldigung nicht erwehren könne, während er doch glaube, daß dieser wildgewordene Pedant selbst den Fräuleins Wandstabler nachliefe, wenn diese ihn zufällig einmal in einem Beugungswinkel, wenn auch nur von 175 Graden, ansähen.

Egon erzählte dann auch, daß er die liebenswürdige Tochter des Justizraths Schlurck zuweilen bei Paulinen träfe und verlangte von Dankmar eine genauere Angabe der eigenthümlichen Beziehungen, in denen er zu diesem bildschönen Wesen gestanden hätte. Dankmar wich mit seiner Antwort entschieden aus und berief sich auf Das, [2131] was Egon von der Hohenberger Reise schon wußte. Auf die Frage, die er dafür an Egon richtete, ob er ihm nicht eine Parallele zwischen Melanie und Helene ziehen könne, wollte seinerseits wieder der Prinz nicht antworten. Man scherzte, man lachte, man war über die Maaßen vertraut gegen einander und doch hatte sich zwischen Egon und die Freunde etwas gedrängt, wofür sie keinen Namen anzugeben hatten ...

Die vier Gefährten stiegen nun die Stufen hinunter, die in den Rathskeller führten. Wie die in einem Gewichte gehende Thür hinter ihnen zufiel, sahen sie am Ende des Ganges zwei elegante Damen in eine Thür huschen.

Kommen auch Damen in den Rathskeller? fragte Dankmar erstaunt und wandte sich zu dem Küfer, der sie schon erwartet hatte und in das vom Major bestellte Kabinet führte.

Es sind wol Fremde! sagte der Angeredete lachend. Ein Herr mit zwei Damen will dort Champagner trinken.

Wohl bekomm's Ihnen! sagte Leidenfrost. Worüber werden wir uns denn einigen?

Sie waren in der grünen, gaserleuchteten Trinkzelle und stellten die kräftigen neu gebeizten Eichenstühle um einen runden Tisch. Der Major war noch nicht da. Der Kellner aber sagte, daß er des Majors Geschmack kenne – Rüdesheimer.

Bringen Sie Rüdesheimer! antwortete Dankmar, und so viel Beefsteaks, wie Sie fertig haben.

Das ist vernünftig, sagte Leidenfrost, denn ich esse[2132] deren mindestens zwei. Die Leckereien bei der guten Moskowiterin haben mir so den Magen verdorben, daß ich mich nur mit Beefsteaks wieder herstellen kann.

Sie sind ja so einsylbig, Louis? fragte Siegbert. Was haben Sie?

Ich war bis jetzt in der Kammer, antwortete Louis Armand.

In der Abendsitzung? Nun, wie war es? rief man einstimmig.

Die Regierung verlangt eine Abänderung der Geschäftsordnung. Das Ministerium will zu jeder Zeit die Erlaubniß haben, vor, während und nach der Debatte seine Meinungen zu äußern ...

Empörend! unterbrach Dankmar. Als wenn das Ministerium die Kammer bei sich zu Gaste hätte und nicht die Kammer das Ministerium! Aber der Antrag geht nicht durch.

Das Ministerium machte die äußersten Anstrengungen.

Das glaub' ich wohl, ergänzte Leidenfrost und trommelte auf den Tisch, der ihm so glatt, so eben schien, daß er vielleicht an seine Schwefelhölzer dachte; eine Debatte kann da im besten Abschluß sein, die Halben, die Furchtsamen sogar sind vielleicht für die populaire Auffassung gewonnen, man will abstimmen und plötzlich erheben sich die Herren Minister und bringen wieder neue Materialien an, sollten sie auch nur in einer Drohung gegen Die bestehen, die von ihnen abhängig sind und gegen sie stimmen wollten.

[2133] Die Minister haben ja aus diesem Gegenstand eine Kabinetsfrage gemacht, ergänzte Dankmar.

Das läßt sich leicht erklären, sagte Leidenfrost. Sie wissen, daß sie unhaltbar sind und ergreifen die erste Gelegenheit, sich aus allen Schwierigkeiten mit guter Manier herauszuziehen.

Es hieß nun: Sprach Egon nichts?

Louis erzählte, daß Justus, der eine Partei in der Kammer zu vertreten scheine, Egon veranlassen wollte, diese Debatte kurz durch einige treffende Worte zu beenden. Er hatte Das deutlich von der Galerie herab an Justus' Benehmen, seiner Unterhaltung und Gestikulation erkannt. Befremdet aber hätte es ihn, wie Justus selbst, daß Egon ihm Auseinandersetzungen machte, die nicht mit der Majorität übereinzustimmen schienen.

Man behauptete erstaunt, daß sich Louis wol geirrt hätte und war der festen Meinung, Egon hätte nur nicht sprechen wollen, würde aber mit der Majorität stimmen. Louis konnte nichts erwidern, denn er erzählte, in Mitte der heftigsten Debatte wäre er gegangen, da er um halb acht Uhr bei dem Rendezvous nicht fehlen wollte. Die Sitzung könnte sich so, wie sie angefangen, bis in die Nacht hinziehen ...

Indem trat der Major von Werdeck ein. Er kam in seiner Uniform, die ein Mantel verhüllte, grüßte sehr freundlich, bot Louis Armand, der ihm vorgestellt wurde, leutselig die Hand und fragte, ob er es mit der Wahl dieses kleinen Closetts recht getroffen hätte?

[2134] Man fand dies kleine grüne, blendendhelle Kabinet allerliebst und kündigte dem Major an, daß man schon in seinem Sinne gehandelt zu haben glaubte, als man Rüdesheimer bestellte.

Wohl, sagte er, die Traube vom Thurm des alten Brömsers gehört in diese Kellerhöhle. Er soll uns die Zunge lösen und die Flammen der Mittheilung schüren. Wissen Sie schon, daß das Ministerium diese Nacht nicht überlebt?

Wir hörten eben, daß es aus einer Frage der Geschäftsordnung eine Kabinetsfrage gemacht hat, sagte Dankmar.

Es ist ein Coup der Verzweiflung, meinte Werdeck. Die Herren nehmen den ersten besten Strick von unten und warten nicht erst, bis die seidene Schnur von oben kommt. Hanf oder Seide, es thut hier denselben Dienst.

Der Kellner brachte die Beefsteaks. Man setzte sich um den runden Tisch. Louis, voll Spannung und schüchtern, doch bald von Werdeck's feinem weltmännischen Tone ermuntert. Der Major wandte sich vorzugsweise an ihn, bewunderte seine Fertigkeit, sich deutsch auszudrücken, pries die politische Haltung seines Freundes, des Prinzen Egon, der unstreitig der Volkssache große Dienste leisten würde, und dafür sei das Vaterland eigentlich ihm verbunden. Denn man wisse Alles, was Egon und Louis zusammen erlebt hätten.

Louis wagte so viel Zugeständnisse kaum anzunehmen. Er erwiderte, und wenn diese Zeit in ihrer Verwirrung [2135] nichts zu Stande gebracht hätte, als daß die Stände einmal ein wenig durcheinander gerüttelt worden, so wäre Das schon ein Resultat.

Siegbert thaute ein wenig auf. Bewegt von dem Vorfalle mit Olga, vorwurfsvoll über sich selbst und ernst gestimmt, hatte er zuweilen empor geblickt und seine Gedanken, wie manche mathematische Denker pflegen, an der Decke gesammelt. Da fiel ihm auf, daß hinter dem Blechschirm, der die Gasflamme umgab, die Wölbung dieses Raumes in dem ihm und dem Bruder so wichtigen Kreuze zusammenlief. Mit einem Winke machte er den Bruder auf das Kreuz aufmerksam ...

Wohl! sagte Dankmar, Das weißt du nicht, daß wir hier auf eignem Grund und Boden sind? Dies kleine Luftloch führt durch die dicke Zwischenmauer in das Rathhausarchiv, in die Aktensammlungen unserer wohllöblichen Gegnerin, der ehrsamen und tugendbelobten Stadt. Wir wollen, wenn wir auf dies Kreuz blicken, denken: in hoc signo vincemus!

In diesem Kreuze werden wir siegen! wiederholte der unterrichtete Werdeck. Wie ist es denn mit Ihrem Proceß?

Man zündete sich Cigarren an, stellte die Gläser, Leidenfrost füllte sie.

Wir erwarten in diesen Tagen die Entscheidung erster Instanz, sagte Dankmar. Daß wir durchfallen weiß ich schon. Nur die Entscheidungsgründe sind mir noch unbekannt.

[2136] Ich will sie Ihnen sagen, Wildungen, fiel Leidenfrost ein. Man wird Ihnen erwidern:


Schickt denn das Beinhaus und die Gruft
Uns die Begrabenen zurück? Sonst, wenn
Ein Mann gestorben, war es aus mit ihm:
Jetzt steigen sie mit zwanzig Todeswunden
An ihrem Kopfe wieder aus dem Grab
Und treiben uns von uns'ren Stühlen.

Das hört' ich einmal im Theater, sagte Werdeck. Ist Das eine Reminiscenz Ihres Schauspielerlebens, Leidenfrost?

Heute hätten Sie den Propst Gelbsattel so hören können, sagte Leidenfrost ausweichend, ehe Sie kamen, Dankmar. Er saß da, wie Macbeth, als er Banquo's Geist an seiner Tafel erblickt und ein andermal wurd' er wehmüthig. Es war mir, als hört' ich:


Du Geist des alten Ritters Wildungen!
Du kommst in so fragwürdiger Gestalt!
Laß mich in Kummer nicht vergehen! Nein, sag:
Warum dein fromm Gebein, verwahrt im Tode,
Die Leinen hat zersprengt? Warum die Gruft,
Worin wir ruhig eingemau'rt dich sahen,
Geöffnet ihre schweren Marmorkiefern,
Dich wieder auszuwerfen? Was bedeutet's,
Daß, todter Leichnam, du, in vollem Stahl
Auf's neu des Mondes Dämmerschein besuchst,
Die Nacht entstellend; daß wir Narren der Natur
So furchtbarlich uns schütteln mit Gedanken,
Die uns're Seele nicht erreichen kann?

[2137] Bravo! rief man allgemein. Zum größten Erstaunen Louis Armand's, der diese Art deutschen Humors beim grünen Römerglase noch nicht kannte, hatte Leidenfrost wirklich so gesprochen und fast gespielt, als wenn er einen Geist im Mondenlichte vor sich herschreiten gesehen hätte.

Dankmar erzählte nun zuvörderst vielerlei von den Schwierigkeiten, von den unglaublichen Chikanen, die seinem Processe in den Weg gelegt wurden. Schlurck führte die Sache des Magistrats mit dem ganzen Aufwande seines berühmten Scharfsinnes. Die Regierung hatte einen nicht minder gewandten Rechtsgelehrten für ihre Ansprüche beauftragt. Dankmar sagte, er hätte Analogieen in dem bekannten Wallenstein'schen Processe gefunden, der von Menschenalter zu Menschenalter verschleppt wurde und jetzt in Böhmen in vollem Gange und endlicher Entscheidung wäre und die Rückgabe der den Erben Wallenstein's ungerechterweise entzogenen Güter zur Folge haben würde.

Soll ich Ihnen aufrichtig sagen, mein verehrter Freund, begann Werdeck, was mir an Ihrem schon so berühmt gewordenen Processe nicht in den Sinn will?

Sagen Sie es offen, Herr Major! antwortete Dankmar.

Ich verkenne nicht das Gewicht Ihrer Ansprüche. Ich fühle, wie außerordentlich günstig Ihnen der Umstand sein wird, daß die fürstliche Gewalt gleich in den ersten fünfzig Jahren gegen die Besitzergreifung der Johannitergüter [2138] durch die Communen protestirte und diesen Proceß nie ganz hat einschlummern lassen, ja selbst Vergleiche und gütliches Abfinden ausschlug. Freilich, sagte mir kürzlich ein Rechtsgelehrter, es früge sich, ob ein Dritter von einer die Verjährung hintertreibenden protestation eines Zweiten Vortheil ziehen könne ...

Das ist allerdings die Hauptfrage! sagte Dankmar. Allein auch hier werd' ich meinen Mann stehen ...

Meinen Mann stehen! Den Ausdruck hab' ich nur hören wollen! sagte Werdeck.

Wieso diesen Ausdruck? sagte Dankmar, und die Andern hörten voll Theilnahme.

Sehen Sie, mein Theuerster, sagte Werdeck, es liegt etwas Kühnes, etwas Tapferes in Ihrem Proceß und doch findet er nicht bei Jedem die Sympathie, die Sie wol voraussetzen möchten. Man läßt Ihnen alle Gerechtigkeit widerfahren; aber ... kein Mensch wünscht eigentlich, daß Sie Ihren Proceß gewinnen.

Siegberten war es, als wenn ihm ein Stein vom Herzen fiel. Er hatte längst dasselbe Gefühl gehabt.

Ja, sagte er und reichte Dankmarn bewegt die Hand, ja Bruder, Das ist das Gefühl, was auch mir vom ersten Tage an, wo du in der Freude deiner Entdeckung mir dein Unternehmen ankündigtest, die Lust an ihm benahm. Es schnürte mir die Brust zu, mit dir darüber zu sprechen und ich sollte doch deine Freude theilen. Ich konnte nicht! Ich sollte deine Hoffnungen unterstützen. Der eigene Muth des Herzens reichte nicht aus dafür.

[2139] Wir wollen, rief eine Stimme in mir, diese Reichthümer für uns, wir wollen sie zu persönlichem Zwecke. Wir wühlen in Akten und alten Erinnerungen und entziehen allgemeinen Zwecken, sie mögen auch Misbräuche befördert haben, Mittel, die, wenn sie z.B. der Staat gewinnt oder wenn die Stadt sich in der Lage sieht, diese Fonds besser zu verwenden, doch gegebenen und umfassenden Schöpfungen zu Gute kommen. Man wünscht uns in die Augen Glück zu Aussichten, von denen hinter unserem Rücken Niemand will, daß sie sich verwirklichen.

Ihr Herr Bruder sagt' es, bemerkte Werdeck. Und ich versichere Ihnen, es ist fast die allgemeine Stimme.

Dankmar schrak fast zusammen. Es liegt etwas Furchtbares in diesem Drucke, der auf unser Gemüth lastet, wenn man so plötzlich über unser innerstes Wollen und eigenstes Schaffen ein Urtheil hört, das sich für das allgemeine der Welt ausgibt. Man hat in der Stille sein Werk gezeitigt, man hat es den nächsten Freunden und Theilnehmenden enthüllt, es gehört nun dem Allgemeinen an. Die Urtheile fließen anfangs spärlich. Sie sind wohlwollend, sie scheinen befriedigt. Da geht es plötzlich wie ein Vorhang auf. Das Werk, das vergessen, unbeachtet geblieben schien, hat Alle im Stillen interessirt und nun bricht ein Lärm, ein Durcheinander von Meinungen, Ansichten, Widerlegungen auf uns ein, daß man erschrocken fast die Besinnung verliert und sich vorkommt wie überfallen von einer heimlichen Verschwörung.

[2140] In dieser peinlichen Lage war Dankmar, als ihm Max Leidenfrost beisprang, den grünen Römer auf den Tisch schlug, das lange Haar zurückstrich und ausrief:

Das unterschreib' ich nicht! Wer wird sich denn erstens an die Menschen kehren, was die sagen und die meinen! Können Unbilden durch die Jahrhunderte jemals gerecht werden? Wenn wir zugeben, daß Jahre die moralischen Fragen zudecken, beseitigen, entfernen, dann ist ja unser ganzer Kampf um die großen Ideen des Weltalls nichts, und an die elektrische Strömung der Offenbarung, die wie durch den Raum auch durch die Zeit gehen soll, kann dann schon kein Mensch mehr glauben. Das Erbrecht ist eine der wunderbarsten Strömungen der Zeiten. Wollen wir's, weil es mit Unrecht verbunden wäre, abschaffen, so gebt etwas Neues dafür! Aber etwas Vernünftiges, Cohärirendes! Cohäsion muß sein. Zusammenhang ist Leben! Bis jetzt bin ich noch der Meinung, daß man mit der Aufhebung des Erbrechtes die ganze Menschheit aus ihren sittlichen Fugen bringt. Das sag' ich trotz meiner Schwefelhölzer, mit denen ich Taktik studire, um unseren Aristokraten eine Schlacht aus freier Hand zu liefern, mit einer Armee, die sich finden muß.

Man lachte, weil man Leidenfrost's strategischen Selbstunterricht kannte. Louis Armand aber meinte, das Erbrecht wäre doch der eigentliche Grund aller Leiden der Menschheit. Ihm verdanke man die Aufhäufungen der Kapitalien, ihm die ungerechte Vertheilung der Lebensgüter, [2141] ihm den Fluch, der auf ganzen Generationen läge. Das Erbrecht wäre ein fortlaufender Protest gegen das Glück der Menschheit.

Wohlan! rief Dankmar, sich sammelnd. Da wären wir ja gerade bei unserm Gegenstand. Heute wollten wir uns über den Feldzugsplan jedes aufgeklärten und ehrlichen Mannes in dieser Zeit unterrichten, sogar Verabredungen für irgend eine gemeinschaftliche Unternehmung treffen und nun ist meine eigene und meines Bruders persönliche Angelegenheit förmlich ein Symbol der Frage unseres Jahrhunderts, wie sie einmal ungelöst dasteht. Es ist unwiderleglich; um das Recht der Person, um die nachwirkende Kraft der Vergangenheit handelt sich Alles. Ist der Staat etwas Allgemeines, das aus dem Wohle jedes Einzelnen und dem Wohle von Familien, Geschlechtern, Gruppen und Sippen oder nur aus lauter sich selbst bestimmenden Individuen zusammengesetzt ist, die nur lose zusammenhängen und sich nicht gegenseitig bedingen? Wenn mein Proceß unpopulair ist, wie Sie sagen, Herr Major, und wie ich es selber fühle, seitdem Siegbert's Takt mich irre macht, so sollte Vieles unpopulair sein, was sich von der Vergangenheit als reines Personeninteresse forterbt ...

Die Monarchie und der Adel vor Allem, brach Leidenfrost hervor. Ob der alte Ritter Wildungen seine Erbschaft antrat oder nicht, bleibt sich doch wol gleich, sogut wie Einer zufällig seine Krone verliert und darum ihr Recht nicht aufzugeben braucht. Beweist man Jemanden, [2142] daß ein Recht schädlich ist und der Verlust seiner Krone ein Glück für die Völker, gut, so ist sein Personenrecht todtgeschlagen; aber wer beweist Ihnen, daß Ihre Million, die Sie beanspruchen dürfen, ein Nachtheil für den Gegner ist? Ich will gerade, daß dies Ihr lebendiges Beispiel den Aristokraten und Monarchen zeige, was sie an sich selber nicht glauben wollen, daß das fortwirkende Recht der Vererbung allerdings seine Grenzen haben sollte.

Ah, sagte Louis, da geben Sie doch schon von dem Erbrechte etwas heraus! Sie wollen nur eine Consequenz ziehen, nur eine Lektion geben.

Nur vernünftig, nur poetisch beschränke man das Erbrecht! fuhr Leidenfrost fort. Es muß durch Ideen, nicht durch willkürliche Taxen oder Klugheitsregeln beschränkt werden. Wer eine Million erbt, muß dem Staat nachweisen, daß er diesen oder jenen allgemeinen Gebrauch von seinem Vermögen anstellt. Er behält dabei nach dem Willen des Erblassers den Genuß. Ruhm aber ist auch Genuß; Dankbarkeit, Ehre, Achtung ist auch Genuß. Nur nicht das Erbrecht völlig aufheben! Das hieße jedes Band der Liebe, Zärtlichkeit, der Hoffnung aus dem Leben nehmen, zu geschweigen, daß uns kein Schneider mehr einen Rock borgen würde, wenn er immer beim Maßnehmen auf unser Gesicht sähe, ob wir nicht etwa den hippokratischen Zug haben und einen Tag nach dem ersten Sonntag, wo wir den neuen Rock tragen, seine Rechnung durch den Tod quittiren.

[2143] Man sieht aus den Widersprüchen, in denen Ihre Gedanken noch mit sich selbst befangen scheinen, lieber Leidenfrost, sagte Dankmar, wie schwierig diese Fragen sind, und wenn wir geschellt haben, die Trümmer unsrer Beefsteaks beseitigt sehen und eine Ergänzung des Rüdesheimers vor uns steht, so wollen wir uns an unsre heutige Aufgabe machen, umsomehr, als der Willing'sche Maschinenbauer- und der Handwerkerverein, die tüchtigsten und maßgebendsten Mustervereine im ganzen Staate, uns drängen, ihnen eine Parole zu geben.

Louis hatte die Schelle gezogen. Der Kellner kam, räumte ab, ergänzte was fehlte und entfernte sich.

Mein Proceß, begann jetzt Dankmar, der Werdeck's und der Freunde Interesse an diesen Erörterungen nicht zu schüren brauchte, da sie ihm Alle in dem eifrigsten Streben, sich klar zu werden, entgegen kamen, mein Proceß ist denn nun also ein Bild unsrer Zeit geworden. In Ihrem Sinne, Leidenfrost, zieh' ich gleichsam die humoristische Consequenz aller Thorheiten unsrer Epoche. Ich sage gleichsam den überlieferten Halb- und Scheinrechten: Da ist ja nun auch ein Recht, das dreihundert Jahre alt ist, wie Eure Gewalt. Ich will es haben und fort mit Denen, die von meinem Rechte Vortheil genossen! Steht auf! Ich setze mich mit meinem Bruder dahin, wo Ihr sitzt! Wir wollen für uns allein, was durch den Lauf der Zeiten allgemeiner wurde! Der Major Werdeck sagt, daß diese Sprache unpopulair ist und ich stelle mich auf seine Seite. Ich weiß, nicht nur die Schlurck's und Gelbsattel's [2144] sind gegen mich ergrimmt, sondern viel achtbare Menschen und wenn sie einen Titel in den alten Papieren, hier über uns in dem Archive vielleicht, finden könnten, die alle unsre Hoffnungen zu Schanden machten, sie thäten es nicht mehr wie gern. Deshalb hab' ich mich entschlossen, auch nicht persönlich zu erben.

Was heißt Das? fragte man. Nicht persönlich?

Mein Bruder ist schon davon unterrichtet, er kann es erklären! sagte Dankmar und füllte rundum die Gläser.

Dankmar hat einen kühnen und großen Gedanken, ergänzte Siegbert, dessen Ausführung welthistorisch sein könnte, wenn es noch möglich wäre, daß ein Einzelner etwas Welthistorisches durch seinen einfachen Willen hervorriefe.

Einfacher Wille? berichtete der Bruder. Vergiß nicht, daß ich von mir und dir eine Million in Händen habe. Geld ersetzt den Glorienschein der alten Propheten.

Sie machen uns neugierig, sagte Werdeck. Was projektiren Sie denn?

Dankmar weiß, daß ich mich in den Gedanken des Reichthums nicht finden kann. Für unsre gute Mutter ist leidlich gesorgt. Der Bruder und ich, wir Beide werden uns schon im Leben zu behaupten wissen. Aber ...

Ihr wollt den Proceß aufgeben? fragte Leidenfrost.

Das nicht, antwortete Siegbert. Nur eine andre Wendung soll er erhalten. Warum sprichst du dich nicht selber darüber aus, Dankmar? Deine abenteuerliche Chimäre, die Erbschaft nicht für uns, sondern für den Templer- und [2145] Johanniterorden, der in alter Weise nicht mehr existirt, zu verwenden, mußt du mit eigenen Worten wahrscheinlich machen. Du verstehst zu überreden.

Natürlich erregte die Erwähnung eines Ordens große Spannung.

Eh' ich spreche, sagte Dankmar, thu' mir jetzt Jeder von Euch den Gefallen und sage mir erst, was er für die Pflicht des ehrlichen Mannes in diesen schwierigen Tagen hält! Da werdet Ihr sehen, daß guter Rath theuer ist und meine Vorschläge vielleicht noch das Billigste sind. Indessen lass' ich Euch die Vorhand. Wißt Ihr Besseres, wohlan, so folg' ich Eurem Plane. Soll zugeschlagen werden? Soll nur zugeschaut werden? Soll die Flamme der Empörung lodern? Soll das Blut ...

Bruder! rief Siegbert. Was sprichst du? Sind wir hier sicher?

Diese Wände sind elephantendick, sagte Leidenfrost. Nur der Akustik dieses Kreuzes da oben trau' ich nicht ...

Man blickte hinauf zur Gasflamme.

Wie ruhig da die Flamme emporzüngelt! sagte Dankmar. Oben könnte uns höchstens eine Ratte belauschen und käme sie der Öffnung zu nahe, würde sie sich die Nase verbrennen. Wir haben hier kein andres Ohr als unser eignes. Siegbert, sage du, was dir jetzt die Pflicht eines ehrlichen Mannes scheint, aber drücke dich so aus, daß wir den Arbeitern, dem Handwerker, dem Bauer wie dem Dichter und Denker davon eine Anweisung zum Handeln, zum Glauben und Hoffen geben können.

[2146] Es entspann sich zwischen diesen fünf Männern jetzt eine Erörterung von den eigenthümlichsten Folgen und einem Ernste, der uns zur Pflicht macht, jede ihrer Äußerungen auf das Gewissenhafteste zu berichten.

[2147]
8. Capitel. Die neuen Templer
Achtes Capitel
Die neuen Templer

Siegbert zuerst lehnte jede Gewalttätigkeit ab. Er läugnete nicht, daß ihm der ganze status quo unserer Verfassungen, politisch und gesellschaftlich, misfalle und das Meiste davon überlebt scheine ... Aber, sagte er: Ich kann mir unser Leben nur so denken wie einen Garten, den der Gärtner im März zum Frühling und Sommer vorbereitet. Der Schnee ist geschmolzen, mildere Lüfte wehen aus Westen, wenn auch noch sturmartig, doch nicht mehr schneidend. Schon bricht neben dem Laube, das noch nicht ganz von dem letzten Herbste abgefallen ist, der kleine grüne Keim des neuen Wachsthums an den Zweigspitzen der Sträucher und Bäume hervor. Der Gärtner schont aber weder das Alte, noch das keimende Neue. Er hat die Säge in der Hand und klettert mitten in die Baumkrone und tilgt, was ihm überflüssig und der gesunden Triebkraft hinderlich scheint. Da liegt der Boden voller Äste und nicht blos voll alter, schon verdorrter, sondern auch manches vorwitzige Frühlingsreis mußte schon mit. Unsere Gartensäge ist die Debatte und das Gesetz. Ich verwerfe jede Gewaltthat. Der Mensch ist [2148] immer ein wildes Thier. Er mag nur ein mal Blut vergießen, so edel, so großherzig, wie nur je ein Timoleon Tyrannenmörder war, das geleckte, gekostete Blut macht ihn sogleich wild. Es fließt sogleich mehr, als sollte. Ausrotten können wir nur das Todte, d.h. es aus dem Wege schaffen; ausrotten können wir nur das falsche Wachsthum, d.h. es im Keime ersticken. Ich bin dafür, den Menschen zu predigen: Glaubt doch nicht, daß die Geschichte morgen aufhört! Die größten Ideen haben Jahrhunderte gebraucht, um sich geltend zu machen. Warum soll denn in so kurzer Zeit Alles fertig werden, was wir jetzt für nöthig denken? Wir wollen fest im Auge behalten das edlere Ziel und nichts thun, nichts Anderes befördern, als was zu jenem Ziele führt. Müssen wir einmal der noch zu starken Gewalt nachgeben, so thue man es ja! Das zweite Mal schon wird es nicht mehr nöthig sein. Wenn ich unsern Feldzug für einen unermeßlich langen halte, so geh' ich auch viel weiter als Die, die sich für liberal halten. Ich bin nicht blos für die Einschränkung der fürstlichen Gewalt, ich bin sogar für die Republik, ich bin für die sociale Änderung unseres Gesellschaftslebens. Ich sage nicht, daß diese Änderung wirklich eintreten wird; ich sage nur, daß ich sie mir möglich denke und so lange unter der Republik nichts Wildes, Thierisches, Unsittliches gelehrt wird, sie für anstrebsam halte. So bin ich freisinniger als manche Überhitzte, die sich mit weniger Änderungen begnügen, wenn sie nur gleich Morgen eingeführt sind. Arbeitet! würde ich den Arbeitern sagen.

[2149] Bildet Euch und die Eurigen! Stärkt Euch in einer freien Gesinnung! Macht Euch klar über Euren Lebensberuf! Stiftet Vereine, aus denen Ihr Alles entfernt halten müßt, was einer Verschwörung gleich sieht! Wenn Euch Einer auffordern will, für morgen ein Gut mit Gewalt zu erringen, so sagt: Wir warten bis über acht Tage! Da kommt es von selbst und viel größer und besser als morgen! Nur nicht geistig die Hände in den Schooß legen. Denken, sich bilden, stark und gewissenhaft im Kampf der Meinungen, keine Gelegenheit abweisend, die Gesinnung offen zur Schau zu tragen! So kommt das Gute von selbst. Das ist meine Lehre.

Bester Freund, polterte Leidenfrost sogleich auf. Diese Lehre ist zum Auslachen! Damit soll Einer in die Willing'sche Maschinenfabrik kommen? Solche himmlische Güte wäre selbst für Willing, den die Umstände zwingen, vorsichtig und behutsam zu sein, zu schmachtend. Mein lieber Wildungen, Ihr Gleichniß von den Gärten im März paßt nicht. Denn so stumm und dumm, wie die Bäume im März dastehen und sich die Schneiderei des Gärtners gefallen lassen müssen, stehen die Ideen und Interessen des Augenblicks nicht da. Die schlagen Purzelbäume unter der Hand. Das ist ein großes Stiergefecht, wie es jetzt hergeht. Die großen Büffel wollen Farbe sehen, um Muth zu bekommen. Roth ist die Losung! Ohne Muth und unmittelbare Entschlossenheit kommt nichts mehr zu Stande. Die Menschen müssen selbst Geschichte machen, sonst geschieht nichts. Die Gesinnung allein reicht nicht [2150] aus. Sollen sich die Väter von ihren Enkeln verspotten lassen? Nichts rächt sich in der Geschichte mehr als der versäumte Augenblick. Wer die Krisis unbenutzt vorübergehen läßt, holt sie niemals wieder ein. Und haben wir nicht der Fälle genug erlebt, daß die Machthaber der Welt vollkommen wissen, welche Halfter sie den störrischen Völkern überwerfen sollen? Aus dem politischen Hader wurde die Debatte in das Religiöse hinübergespielt und ganze Epochen sind darüber eingeschlafen. Die Jesuiten, die Armeen regierten die Welt. Sie haben die Hand immer am Griff des Dolches oder Schwertes. Warum sollen wir sie in den Schooß legen? Gesetzt auch, wir wollten uns mit frommem Glauben auf bessere Zeiten und mit dem endlichen Siege der Gesinnung begnügen, es würde nichts helfen. Die Stunde hat ihre dringende Mahnung. Wir wollen träumen und die Posaune ruft uns vom Lager auf. Es brennt da, wo wir sitzen, über und unter uns. Es müssen Entschlüsse gefaßt werden. Ich gesteh', ich hasse Alles, was unlogisch ist. Ich hasse auch verkehrte Theorieen und gäben sie sich noch so sehr das Ansehen der Volksbeglückung. Man will damit nur dem Muthe und der Ehrlichkeit aus dem Wege gehen. Die Frage unserer Zeit ist sehr einfach. Wer sie schwierig macht, meint es nicht redlich. Schwierig nenn' ich die gewöhnliche ordinaire Communisterei. Solche Sätze hinstellen, die ihre Unmöglichkeit in sich selber tragen, heißt die Menschen nur verwirren. Man zeigt ihnen hundert Spatzen auf dem Dache, während einer in der Hand viel vortheilhafter ist.

[2151] Die Communisterei ist von Stubenhockern ausgegangen, die unterleibskrank sind. Rühren und tummeln muß man sich und die Welt für kein Schlaraffenland halten. Gebratene Tauben in die Luft gemalt, sind geschmacklos. Wir leben in einem wilden Chaos, in das nie, nie volles Licht kommen wird. Arkadien ist vor der Schöpfung gewesen und mag nach der Schöpfung kommen. Hier auf Erden gibt es nur Reibung, Lärm, Zorn, Leidenschaft, Drängen, Stoßen. Das Einzige, was wir erreichen, ist: Leidliches Glück! Das leidliche Glück muß man am Zipfel festhalten, wenn's an uns vorübergeht. Es kommt nicht alle Tage. Was du der Stunde ausgeschlagen, bringt keine Ewigkeit dir mehr zurück, sagt der Dichter. Wollen Sie Ihre Million gut anwenden, Wildungen, so lassen Sie dafür Waffen kaufen, Pulver und Blei. Die Trommel wirbt an. Major Werdeck wird Generalissimus und wenn wir Alle erliegen, wenn unsere Glieder entweder im Felde oder auf dem Henkerplatze erbleichen, so ist doch Muth und Poesie dagewesen und der moralische Sieg unwiderleglich.

Allgemein war man der Ansicht, daß Leidenfrost in seiner gewohnten Weise hier übertrieben hatte und es schwerlich mit einer so blanken Rebellionstheorie ehrlich meine. Und dennoch blieb er dabei.

Worauf anders, sagte er, soll man denn hinauskommen, wenn man sieht, wie wenig uns die Debatte weiterbringt! Was hatten wir durch einige thatsächliche Erhebungen des Volkes nicht sogleich gewonnen! Und wie kommen wir immer wieder zurück, je milder die Miene des gereizten [2152] und gleich wieder schlummernden Löwen ist! Aber noch mehr, halten Sie mich für keinen Phantasten oder für keinen plumpen und gedankenlosen Radikalen! Tod! Der Tod! O, Gott, der Tod ist jetzt unsere einzige Loosung. Ich versichere Sie, wenn man im Volke lebt wie ich, so bemerkt man eine tiefe Sehnsucht nach dem Tode in den Gemüthern Aller. Gehen Sie Sonntags Nachmittags vor die Thore: Kein Spaziergang ist so besucht, wie es die Kirchhöfe sind. Es ist eine Lust am Opfertode in den Menschen dieses Zeitalters, die an die christliche Märtyrerzeit erinnert. Man hat entweder zuviel Gefallene feierlich bestattet, zu sehr geehrt, gepriesen oder woran liegt diese Geringschätzung des Lebens? Ehemals war eine Hinrichtung mit dem Schwerte ein grauenvolles Schauspiel, von dem man Jahre lang sprach: jetzt hat man an die Stelle des Schwertes Pulver und Blei gesetzt und die Hinrichtungen folgen sich wie die Amputationen in einem großen Lazareth. Man erzählte sonst Wunder davon, wenn einer großartig und gefaßt in den Tod ging. Jetzt knirschen sie alle die Zähne und gehen muthiger als Egmont oder der feige Kleist'sche Prinz von Homburg aus dem Leben. Haben die Menschen zuviel Trauerspiele gelesen oder woran liegt es, daß wir nach so verweichlichten Zeiten plötzlich eine so spartanische bekommen? Bietet das Leben so wenig Freude? Hat man vergessen, daß wir vor zehn Jahren noch ein Buch nach dem andern erscheinen sahen, worin bedeutende Köpfe die persönliche Fortdauer nach dem Tode leugneten? Wie kommt [2153] es, daß man nun so gern stirbt, so gern sein Leben an eine Idee setzt, so muthvoll auf Die blickt, die uns ihre Theilnahme wohl nicht versagen werden, wenn wir fallen, sei es im Kampf, sei es von der Hand des ungroßmüthigen Siegers? Der Zug zum Tode ist wehmüthig genug jetzt in unserm Leben da. Die Geschichte will ihn, die Geschichte hat uns die Cholera nicht umsonst gebracht, diesen grauenvollen Tod, der Niemanden schont, Niemanden achtet, Jeden wie ein Dieb in der Nacht überfallen kann. Unenträthselt ist noch, wie diese Pest aus Asien mit dem erwachenden Fieber der Revolutionen zugleich kam. Ich vergleiche diese Zeit mit dem Mittelalter, wo die Menschen hinstarben, den Kornähren gleich, die der Schnitter niederwirft. Damals rückten die Menschen näher zusammen, schlossen Bundsgenossenschaften, Brüderschaften und gingen in grauen Kleidern, demüthig, pilgernd durch die Welt und bestreuten das Haupt mit Asche. Es war ein Zug der Trauer und des Todes damals in allen Herzen und man starb gern. Nach fünfhundert Jahren ist es nun wieder so. Wir aber wollen dem Tode zu Liebe keine Flagellanten, keine Geißelbrüderschaften und Weltverachtungsgilden stiften, sondern dies armselige Leben getrost hingeben in den Kampf für Recht und Unrecht. Es werden bald genug üppige, feige Zeiten kommen, die Das, was wir in diesen starken versäumten, nicht einholen. Also nichts in die Länge ziehen! Nichts auf die Zukunft verschieben! Fordern, sagen was man will und für Recht hält, und dann als Mann dafür einstehen und sterben.

[2154] Eine tiefe Stille folgte diesen zuletzt mit Ernst gesprochenen Worten. Werdeck stützte sein Haupt und konnte nicht umhin, Das, was Leidenfrost von der Tapferkeit und Todesverachtung unserer Tage fast mit erstickten Thränen sprach, zu bestätigen.

Ja, es ist ein anderer Geist, sagte er sinnend, über uns Alle gekommen. Ich sehe Das am Leben des Kriegers. Wie schonte man sich sonst, wie vermied man die Gefahr! Was mislich und schwer auszuführen war, muthete man Niemanden zu. Jetzt drängen sich zehn heran, wo man nur Einen begehrt. Niemand verzieht die Miene, wo es eine That gilt. Man scherzt, man schlägt sein Leben muthwillig in die Schanze, es ist, als gehörte man schon einer doppelten Welt an, der irdischen und einer himmlischen ...

Und woher kommt diese Erscheinung? rief Siegbert begeistert. Von der Bildung kommt sie. Die Bildung hat Platz gegriffen bis in die untersten Schichten. Die Frage vom Proletariat hat nicht feige, sondern tapfer gemacht. Eine Idee, eine Idee der Diskussion hat die Herzen gehoben. Man fühlt sich als Glied der Gesellschaftskette, man fühlt sich als Hebelkraft der Geschichte. Das Vereinsleben, die Ahnungen besserer Institutionen haben Wunder gewirkt. Wer klammert sich noch ängstlich an sein armseliges Ich, wo es etwas Allgemeines gilt? Stirbt man, so hat man sich für eine Idee hingegeben. Glaubt Ihr denn, daß es ohne Wirkung für die untern Klassen ist, wenn sie geschichtliche Thatsachen erfahren und von [2155] alten Zeiten hören, wie es damals war und wie jetzt und wie jede That im Buche der Geschichte verzeichnet steht? Allein grausam wäre es, wenn wir diese Folge der umsichgreifenden Bildung misbrauchen und auf das voller und mächtig schlagende Herz hin eine wirkliche Sehnsucht zum Tode statuiren wollten! Man verachte das Leben, aber man jage Niemanden in den Tod, ehe man ihn nicht theilnehmen ließ an einer möglichen Verbesserung des Lebens! O diese Sehnsucht zum Tode kann in eine blutige Grausamkeit umschlagen! Schon jetzt ist es grauenhaft, wie kalt man hinopfert, wie forcirt man sich in den militairischen und Beamtenkreisen, ja auf den Thronen als Brutusse gebehrdet, die ihre eigenen Söhne ruhig auf den Block liefern. Wenn dieser zweideutige Heroismus überhand nähme! Wenn man vor dem Blute nicht mehr schauderte und es lieb gewänne, nicht blos selbst zu sterben, sondern auch sterben zu sehen ... Nein, nein, Leidenfrost, lassen Sie uns versuchen, eine mildere Formel zu finden, die das große Räthsel unserer Zeit löse und die Menschenlebenfordernde Sphinx zum Sprunge in den Abgrund bringt!

Louis Armand ergriff nach dieser ernsten Rede das Wort und stellte sich, seine Einmischung, seine Theilnahme an diesem Gespräche hochgebildeter Männer entschuldigend, auf Siegbert's Seite, ohne jedoch die drohende Stellung eines bewaffneten Widerstandes nach Leidenfrost's Meinung ganz überflüssig zu finden. Es ist schlimm genug, sagte er, daß derselbe Arm, der kaum [2156] stark genug ist, seine Arbeit zu verrichten, nun auch noch die Waffe führen soll, und daß dasselbe Leben, das so arm an Freude ist, sich auch noch hinzugeben hat gegen die Tyrannen. Ich nenne Tyrannen Die Menschen und Die Stände, die von der überlieferten Ordnung der Dinge unverhältnißmäßige Vortheile für sich und die nächsten Ihrigen ziehen. Unsere Civilisation hat uns einen Raubstaat geschaffen. Das höchste Recht, der Gipfel des Rechts, die Consequenz des Rechtes ist zum größten Unrecht geworden. Daß ein Vater seinen Kindern die Früchte seines Fleißes hinterläßt, gehört ohne Zweifel zu den ewigen Menschenrechten. Daß sich dieses Recht aber in ununterbrochener Aufeinanderfolge in allen Zeiten wiederholen darf, ist der Fluch der Gesellschaft geworden. Die Könige denken nicht daran, daß sich das Erbrecht einmal modifizirt, die Adeligen denken es nicht, die Reichen nicht. Die Könige hat man aber gezwungen, ihr Erbrecht zu modifiziren durch die Constitutionen; die Adeligen gleichfalls durch die Aufhebung der Leibeigenschaft; die Reichen zwingt Niemand ihr Erbrecht zu modifiziren! Was ist die Einkommensteuer? Eine Lüge! Eine Illusion! Sie gibt ein kleines Procent in die Staatskasse und erleichtert dadurch nur mittelbar die Lage Derer, die gegen die sich aufhäufenden Reichthümer nichts gegenüber zu stellen haben als die sich aufhäufende Armuth. Die Riesen, die sonst die Welt unsicher machten und Menschen fraßen, sind ausgerottet, wenn sie jemals lebten. Aber die viel größeren Riesen, die Capitale, sind [2157] da und Niemand kann ihre Existenz leugnen. Sie sind die wahren wilden Ungethüme, die die Gesellschaft unserer Zeit unsicher machen, die ihre Mitglieder in Höhlen locken, wo die Gebeine der Geopferten modern. Ich weiß, daß es eine gleichmäßige Vertheilung der Güter nicht geben kann. Ich bin kein so thörichter Communist, daß ich glaubte, mit der numerischen Anzahl der Menschen ließe sich in die numerische Anzahl der Werthe dividiren und was da herauskäme, wäre Das, was jedem Einzelnen gebühre. Allein der Krieg des Zufalles gegen die milde Fürsorge, die wir doch als Gottes Weltplan anerkennen müssen, darf nicht fortdauern. Der Staat darf keine Ausbeute Derer bleiben, die seinen Sprungfedern nahe stehen und die elastische Kraft derselben nur benutzen, sich selbst zu heben. Die Staatsmänner müssen Erfindungen machen, die auf anderen Gebieten liegen als die Ideen, mit denen Richelieu und Mazarin ihre Zeit regierten. Machen Sie mich, meine Herren, mit diesen Arbeitern, Ihren Freunden, bekannt! Ich will sie nicht lehren, übermüthige Forderungen zu stellen. Ich kenne die verderbliche Macht der Phrase. Ich habe mich überzeugt, daß in Paris der Trägste und Genußsüchtigste am meisten jammert und künstliche Thränen in den communistischen Clubs vergießt. Ich stelle neben das Recht der Arbeit auch die Pflicht der Arbeit, aber ich glaube, daß die Lage der hiesigen Arbeiter dieselbe ist wie die der unsrigen. Sie leiden am Kapital. Sie dienen nur dem Unternehmer. Sie sind dem Jammer der ungeschützten Production ausgesetzt.

[2158] Sie erzeugen Werthe, ohne sie absetzen zu können. Sie können nicht von heute auf morgen denken, da sie in ewiger Ungewißheit über ihr Loos zittern müssen. Der Staat denkt an Alles, nur nicht an sie. Er beachtet sie nur, wenn sie als Rekruten in das Heer zu treten haben oder wenn man fürchtet, daß sie sich zu Emeuten zusammenschaaren. Die social-demokratische Lehre will, daß der Staat des Mittelalters aufhöre und auf der Basis der Menschen, die arbeiten, neu erbaut werde. Es sind vielfache Vorschläge gemacht worden, diese Forderungen zu verwirklichen; sie scheiterten, weil man glaubte, an die Stelle der früheren Isolirung die Allgemeinheit setzen zu müssen. Man irrte sich, meine Herren! Die Allgemeinheit muß die vernünftige Isolirung mit in sich aufnehmen können. Die Isolirung liegt einmal im Menschen. Der Mensch wird immer darauf hinauskommen, eine Familie zu begründen. Allein dieser Isolirungstrieb darf nicht überwuchern. Der Staat darf nicht dafür da sein, nur die Familie allein zu garantiren, er muß Institutionen bieten, die die Familien und die Allgemeinheit ausgleichen. Weist er diese Forderung als utopistisch zurück, wohlan, so ergreift die Flinte und sterbt eher auf der Barrikade, als daß ihr länger duldet eine Existenz, die nur den Rechnenmeistern, den Börsenmäklern, den Vornehmen zu gehören scheint! In Rom, weiß ich, war es einst mit dem Volke ebenso. Es ruhte nicht, bis es gehört wurde und die Macht der Patricier wurde gebrochen. Es ist Dies dieselbe Frage, die im Großen sich jetzt wiederholt. Wir [2159] zertrümmern die Ordnung, die wir vorfinden, um aus unsren Interessen heraus neue Institutionen zu gründen. Bricht nun vollends etwas Neues an, stiftet man eine Republik und man benutzt sie doch nur wieder für die alten Regierungsmaximen, für die alten Börsenmäkler, für die alten Kapitalisten, wohlan, so müssen diese ewigen Feinde der Menschheit in Ketten gelegt und unschädlich gemacht werden, bis man sich verständigt hat, ob dies Alles nicht auch anders gestaltet werden könne. Diese Kammern sitzen auch hier und sprechen über links und rechts, über die Geschäftsordnung, über erbliche, nicht erbliche Pairs, über die Rechte der Krone, der Stände, der Wähler, aber Niemand denkt daran, den Staat von unten herauf neu zu bauen. Darum, weil die Nationalwerkstätten in Paris scheiterten, soll das Recht der Arbeit widerlegt sein? Darum, weil ein Experiment misglückt, soll man ein anderes nicht versuchen? Die Armuth, das Elend, die Verzweiflung der Massen ist da, also auch die noch immer nicht gelöste Aufgabe der Zeit. Ich fürchte eine Revolution der Massen, wie noch keine da war. Man beeile sich, ihren Gräueln, die nicht ausbleiben werden, bei Zeiten vorzubeugen! Man organisire die Arbeiter zu Vereinen, stelle er leuchtete Köpfe an deren Spitze und lasse sie mit jedem Nachdruck, den die Wichtigkeit der Angelegenheit nur fordert, den Menschen gegenüber, die jetzt den Staat machen, nicht mehr allein, nicht mehr hülflos, nicht mehr in dumpfer Verzweiflung; Das ist die Meinung eines Arbeiters, der die Lage seiner Brüder kennt!

[2160] Louis Armand hatte diesen Vortrag, unterstützt von Siegbert's Nachhülfe, in ausreichendem Deutsch lebendig und erwärmt beendet und Dankmar gab ihm das Zeugniß, daß er auf Egon großen Einfluß müßte gewonnen haben, stimmte er doch fast wörtlich mit manchen zufälligen Bemerkungen des Prinzen zusammen, nur daß dieser – wie Dankmar hinzusetzte, – leider – noch immer zu glauben scheine, wie mit dieser Auffassung auch mancherlei Mittelalterliches getrost bestehen könnte.

Leidenfrost murmelte und brummte. Er meinte, seine Arbeiter wären keine Philosophen. Die wollten arbeiten, auch manchmal hungern, nur sollte Recht und Gerechtigkeit in der Welt herrschen! Die Communisten im Handwerkervereine wären Näscher, Faullenzer, Lärmmacher. Er nannte mehre. Doch unterbrach er sich selbst, da er Louis Armand's Äußerungen wegen einer gewissen sentimentalen Wehmuth seines Vortrages achten mußte. Auch Werdeck, an den nun die Reihe kam, sprach seine Zustimmung zu Vielem aus, was dieser ihm immer mehr gefallende junge Franzose gesprochen hatte.

Der Major der Garde, ein Adeliger, Herr von Werdeck, in einer solchen Debatte mit einem Advokaten, einem Techniker (so wollte sich Leidenfrost bezeichnet wissen) einem Maler und einem Handwerker ... Das ist allerdings das Bild einer aufgeregten Zeit! Die öffentlichen Angelegenheiten hatten Alle ergriffen. Jede Schranke war wenigstens für einige Zeit gefallen. Man kehrte zwar bald in seine alten Lebensstellungen zurück, aber Mancher [2161] behauptete sich doch noch auf dem vorgerückten Standpunkte und verbrannte wol gar die Schiffe, die ihn zu seiner früheren Existenz zurückführen konnten. Werdeck fühlte und sagte dies selbst. Er begann:

Meine Herren, daß ich mich in Ihrem Kreise befinde, ist für mich eine Veranlassung, persönlich zu werden; denn wenn irgend Jemand ein verlorener Posten ist, so bin ich es. Sie, meine Herren, können sich kaum so in der Nothwendigkeit, einen bestimmten Entschluß zu fassen, befinden, wie ich. Sie lehnen sich an gleiche Gesinnungen Ihrer Freunde, Ihrer Standesgenossen an. Ich dagegen stehe mit meinen Auffassungen ganz allein. Ich fühle vollkommen, wie sehr meine Stellung exceptionell ist. Es ist ein gehässiger Anstoß, den ich nach allen Seiten gebe. Vor einigen Monaten fiel es nicht auf, daß ein Offizier Politik trieb. Man hatte das Heer aufgegeben, gedemüthigt, man wollte es dem allgemeinen Bürgergeiste unterordnen und sah es gern, wenn der Offizier auf diese Calamität einging, gute Miene zum bösen Spiel machte und sich der allgemeinen Debatte anschloß. Der Hof gewann dadurch die Beruhigung, daß die Zugeständnisse, die man gegeben hatte, auf einer innern Nothwendigkeit beruhten. Wenn der Adel, wenn der Offizierstand politisirte, dachte man, so merke man nicht, was oben die Angst des Gewissens sprach. Ja man hat uns sogar aufgefordert, uns an der Debatte zu betheiligen. Man hat es gewünscht, daß wir uns hier und dorthin wählen ließen und nicht nur unsere Fachkenntniß geltend machten, sondern auch unseren [2162] disciplinarischen Geist verbreiteten und vor allen Dingen dem alten Stock- oder Zopf-Soldaten bewiesen, wie wenig sein Kastengeist noch für diese Zeit ausreiche. Bald änderte sich Das. Die Ausschweifungen jener Demokratie, die man die einfache Straßenherrschaft nennen mußte, machten das demokratische Princip selbst verdächtig. Manche zogen sich zurück, um nicht mit dem Pöbel in Berührung zu kommen; Andere, weil sie sahen, daß die Politik der Fürsten bereits eine andere war als selbst vorläufig noch die der Ministerien. Es galt nun für guten Ton, als Offizier sich von allen öffentlichen Kundgebungen fern zu halten, höchstens in den Ton der Reaction mit einzustimmen, der zuerst von den Gutsbesitzern, Landräthen, den Pensionairs angeschlagen wurde. Auch ich zog mich zurück und folgte dem Beispiele fast jedes höheren Militairs und trat in den Reubund. Meine Herren, der Mensch muß sich immer am Gegentheil seines Wesens prüfen; noch klarer aber wird er sich, wenn er die scheinbar gleichartigen Elemente, die sich an seine Natur ansetzen wollen, nicht ertragen kann. Ich entdeckte jetzt erst in den Berathungen des Reubundes meinen Unterschied von den gewöhnlichen Persönlichkeiten. Ich sah überall Egoismus und Furcht. Ich sah Menschen, die sich mit Leidenschaft auf die Principien der Stabilität warfen, nur um sich und den Ihrigen ihre zeitlichen Vortheile zu erhalten. Die einzigen Doktrinaire darunter waren Adelige, die aber zuletzt auch für die Besteuerung ihres Grundbesitzes fürchteten. Besonders verletzten mich die [2163] ausrangirten alten Offiziere, die in der Angst, ein Pensionsgesetz könnte ihnen die Belohnung für Das, was sie mit Gott für König und Vaterland gethan zu haben glaubten, verkürzen, sich zu den seltsamsten Demonstrationen hergaben. Ich widersprach. Erst ausführlicher, dann immer kürzer und kürzer, zuletzt in Epigrammen. Ich schied aus. Wenn ich nun dem Beispiele aller meiner Waffengefährten folgen wollte, so mußte ich die ganze Gährung der in mir aufgeregten Begriffe gewaltsam niederschlagen und mich mit einem blinden Demokratenhaß darauf beschränken, nichts sehnlicher, als einmal ein allgemeines Blutbad abzuwarten, wo die Spitzkugeln und Bayonette Alles durchbohren und aufspießen sollten, was nur irgendwie in einer Beziehung zu dem negativen Principe unserer Zeit steht. Ich gehöre zu diesen Bauchschlitzern nicht. Ich habe meine eigne Idee über den Adel sogar. Ich glaube, daß der Adel nur darum vorhanden ist, daß er erblich, traditionell jene Vorzüglichkeit des Berufes für das allgemeine Wohl empfängt, die bei Dem, für dessen Erziehung Eltern nichts thun können, eine aus ihm selbst geborne zufällige, oft auch ausbleibende Vocation ist. Ich erkenne in meinem ziemlich alten Adel die Mission nicht eines Genusses, sondern einer Aufgabe. Ist dies schon Thorheit in den Augen meiner aristokratischen Waffengefährten, so wächst sie zum Verbrechen, da ich mir eine Vermittelung mit den Ideen des Jahrhunderts möglich denke. Ich läugne nicht, der Krieger ist in einer verzweifelten Lage. Man hat uns einen Eid abgenommen, [2164] der nach jesuitischer Moral wol gelöst werden könnte, ja es ist immerhin möglich, daß ein Einzelner sich durch eine tiefere moralische Betrachtung von den Banden einer mathematischen Eidesformel loszulösen vermag; allein es ist mit solchen Verpflichtungen, wie mit jenen Verpflichtungen der Ehre, die zum Duell führen. Man verwirft das Duell und kann sich ihm doch nicht entziehen. Der Fahneneid ist einmal geschworen, geschworen unter andern Verhältnissen, wie sie jetzt stattfinden. Ich würde ihn so, wie ich ihn geschworen, nicht wiederholen. Aber er ist geschworen. Nun kann man sagen: Tritt aus den Reihen der Krieger, die nur den Landesherrn als Befehlshaber anerkennen, aus! Dies ist aber für Den, der den Beruf des Militairs einmal gewählt hat, gerade so, als wenn ein Prediger die Kanzel nicht mehr besteigen soll, auf der er anders predigt, als das Consistorium will. Der, der sich als Christ fühlt, wird sich aufs Äußerste sträuben, aus der Gemeinde auszutreten. Der Lebenslauf, den man wählt, kann mit Jemandes ganzer Natur zusammenfallen. Ich bin ein Krieger. Ich bin kaum etwas Anderes. Ich habe früher wenig Avancement gehabt, die Friedenszeit war Schuld daran. Warum soll ich das Feld räumen? Warum soll ich nicht hoffen, die politische Debatte dringe so weit durch, daß unser Eid modifizirt wird und man uns von der Einseitigkeit unseres Gelöbnisses freispricht? Auch drängt es mich, das Beispiel einer Gesinnung zu geben, wie sie sich leider in unseren Reihen so spärlich nur gesäet findet. Ach, meine Herren, welche Geistlosigkeit, [2165] welche blinde Leidenschaft, welche brüske Impertinenz, welch brutales Nichtdenkenwollen in meiner täglichen Nähe! Tritt irgend ein unabhängiger, junger Mann von freiem Urtheil in den Dienst, entdeckt man irgend einen Unteroffizier, der eine Broschüre, eine Zeitung liest, erhält man einen Reservisten, der sich wohl gar schon compromittirt hat, wie wird er empfangen! Da stellt sich der alte Oberst in dem Kasernenhofe hin und hält eine Rede im Bauernstyl vom Siebenjährigen Kriege und weckt den rohen, gewaltsamen Sinn der Menge zur rohesten und ungeschlachtesten Kundgebung durch Schimpfreden, Kraftworte und Polissonerieen, die aus dem Munde oft weißhaariger alter Krieger kommen! Die jüngeren Offiziere greifen diesen Ton auf und setzen ihn in ihrer kleinen Sphäre fort. Da hab' ich einen Sergeanten, Heinrich Sandrart. Vermögender Leute Kind, hatte er etwas Lockeres und klapperte gern mit seinen Mutterpfennigen, ließ sich auf Bällen sehen und war verliebt ...

Louis schlug die Augen nieder.

Dieser junge Mann ist nicht Demokrat, fuhr Werdeck fort, aber meine Leutenants machen ihn dazu. Raucht er eine Cigarre, so fragen sie ihn, ob er Das im Klub gelernt hätte. Bläst er die Flöte in der Kaserne, so läßt man ihm sagen, er sollte sich Das aufsparen, bis er wieder in seinem Dorfe wäre. Der junge Mann dauert mich. Er liebt unglücklich ...

Louis gerieth in größere Spannung.

Genug, brach aber der Major ab, solche und ähnliche [2166] Fälle beweisen, wie sehr man schon eine gewisse träumerische Selbstständigkeit an dem Krieger als unzulässig verfolgt; wie nun erst, wenn er einmal ein Wort entgegnet oder wol gar sich einfallen läßt, wie es Manche schon in meinem Bataillon thaten, daß sie sich Staatsbürger nennen, die nur momentan unter den Waffen ständen! Ob es jemals möglich werden dürfte, die Armeen auf demokratische Grundlagen zu organisiren, daß darüber die unerläßliche Disciplin nicht zu Grunde ginge; ob es jemals möglich werden dürfte, den Adelsgeist, der hier und da sein Gutes hat, dem großen Zwecke eines Volksheeres dienstbar zu machen, Das möcht' ich wol wissen. Ich gestehe, daß ich ein Grauen empfinde vor dem Tage, der früher oder später kommen wird, wo wir Soldaten in der Lage sein werden, gegen den Geist der Zeit einzuschreiten und gegen bessere Überzeugung mit der Waffe aufräumen zu müssen. Ich läugne gar nicht, daß ein von jeder schwankenden Meinung der Zeit herumgezerrtes Heer, ein Heer, das etwa einem Parlamente verpflichtet wäre und nicht wüßte, wer ihm Befehle zu geben hat, sich bald auflösen würde. Ich weiß aber auch, daß Heere, die starr und beharrlich bei einem veralteten Principe festhielten, wie Karten vom Sturme umgeblasen wurden; denn mögen unsre alten Obersten noch soviel in den Kasernenhöfen fluchen, mögen sich die Leutenants noch sosehr bei den vom Reubunde herausgegebenen Zeitungen in den Kaffeehäusern Muths erholen, mögen die jungen avancementssüchtigen Referendare und Assessoren, [2167] die bei der Volkswehr in kritischen Momenten als Offiziere eintreten, noch so bramarbasiren, ich sehe doch, daß der Unterbau morsch ist. Die Gesinnung des gemeinen Soldaten steht nicht so fest, wie sich die Offiziere den Anschein geben, sie überall vorzufinden. Das Reglement des Schießens reicht aus. Die Attake wird schon schwieriger sein und für einen Feldzug voll Mühen und Entbehrungen glaub' ich bei unsren Armeen ohne große neue volksthümliche Begriffe nicht einstehen zu können.

Leidenfrost pries die Krieger, die es in zweifelhaften Momenten mit dem Volke hielten.

Sagen Sie Das nicht, alter Freund, bemerkte der Major. Ich habe die Art, wie in Frankreich die Regimenter schwanken, nie billigen können und immer eine moralische Abneigung empfunden, wenn es hieß: Die Linie ging über! Glauben Sie mir, Leidenfrost, Sie haben von dem in unserer Epoche liegenden Zuge zum Tode so rührend gesprochen, daß ich innerlichst davon bewegt war und erst jetzt begreife, warum eine Kugel vor den Kopf eine Wohlthat sein kann. Allein nicht blos dieser Zug, der mir vorkommt, als sollt' ich sagen: Unsre Zeit ist gleich einem Standbilde von Marmor, dessen Augen ohne Augensterne sind ... nicht nur, daß diese todten Augen uns rühren, rührend ist auch in dieser Zeit der Jammer der Pflicht. Die Pflicht, meine Herren, ist die Thräne im Auge des Kriegers. Es liegt etwas Majestätisches in dieser Fessel durch ein gegebenes Wort. Lassen Sie mich wieder ein Bild brauchen. Diese schweren [2168] Pflichterfüllungen erinnern mich an jene sterbenden Gladiatoren, die hingesunken, erschöpft und todesmatt an der Erde liegen, noch einmal die Arme stützen, um sich zu erheben und doch schon den Kopf sterbend sinken lassen, freie Menschen, die gefangen in der Lage waren, gegen ihren Willen ihre eignen Landsleute, die in gleichem künstlichen und beklagenswerthen Ingrimm ihnen gegenüberstanden, bekämpfen zu müssen, eine Zeitlang, der Ehre wegen, standhalten und dann gern sterben, um ein Leben voller Schande und Sklaverei loszuwerden für ewig.

Der Major schwieg. Der sonst so scharfe Ausdruck seiner Gesichtszüge hatte sich verloren. Die hochgezogenen schwarzen Augenbrauen senkten sich mit dem Blicke, der kummervoll auf der runden Tafel des Tisches ruhte. Die rechte Hand hielt mechanisch den grünen Römer, ohne daß ihn Werdeck zur Lippe führte. Ein tiefer Schmerz hatte den sonst so elastischen Körper und dessen lebhafte Bewegungen gelähmt.

Leidenfrost reichte dem Major die Hand über den Tisch. Es lag etwas so Schmerzliches in dieser Begrüßung, daß es Allen auffiel und dem Major Veranlassung wurde, in seiner gerührten Stimmung mit den Worten hervorzubrechen:

Daß ich hier unter Ihnen bin, meine Herren ... Ich dank' es nicht dem Geist, sondern dem Herzen! Maximilian Leidenfrost sollte den wunderbaren Roman erzählen, der mich an ihn fesselt! Sie wissen sicher, welche abenteuerliche [2169] Bahn seine Jugend durchlief! Er ist ein Soldatenkind und führt den Namen Leidenfrost nur – aus Gefälligkeit. Leidenfrost. Leiden im Froste! Wo gab es grimmigere Leiden im Froste als 1812! Ein hülfloses kleines Kind, ein Mädchen, liegt in den Armen eines sterbenden Wanderers, der aus Sibirien entfloh und die Freiheit und die Erlösung von seinen Leiden auf den Schlachtfeldern fand, in deren Schrecken er sich auf seiner Flucht verirrte. Unter Leichen, unter Eis und blutgetränktem Schnee verschmachtet der Vater jenes Mädchens und die Kleine ist dem Tode nahe, als ein vorüberziehender, halberfrorener, fliehender deutscher Soldat das hülflose Schreien des Kindes hört und es aus den Armen des todten Vaters nimmt. Er eignet sich die wenigen Habseligkeiten des Todten zum Besten des Kindes an und trägt den verschmachtenden Wurm mit sich durch Rußlands Schneefelder und Eissteppen. Er gedachte eines Knaben, den er selbst daheim bei seinem jungen Weibe eben vor seinem Ausrücken unter Napoleon's Fahnen zurückgelassen hatte. Dieser arme Soldat war ein Deutscher und hieß Brüning. Sein Knabe hieß Maximilian, nach seinem König; es war ein Baier. Seinen Pflegling aber, den er aus Rußland hinweg auf den Armen trug, nannten entweder Er oder Andere Josephine Leidenfrost. Wenigstens tauchten beide Kinder, Max Brüning und Josephine Leidenfrost, unter diesem Namen in einem polnischen Kloster zum Herzen Jesu auf. Vielleicht hatten die Nonnen dem Findling diesen sinnreichen Namen gegeben. Der verwundete [2170] Baier konnte nur bis Gnesen kommen. Dort brach seine Kraft zusammen; er verfiel dem Typhus, sein Pflegekind, die kleine Tochter des sibirischen Flüchtlings, eines Polen, wurde dem Kloster übergeben. Da suchte den erkrankten Soldaten im Frühjahr 1813 sein Weib auf, dag zu Fuß, elend und arm, ihren Knaben in einem Tuche, das sie über die Schultern band, tragend, durch Franken, Thüringen und Sachsen nach Gnesen wanderte, wo sie wußte, daß ihr Gatte Brüning krank darniederlag. Das treue Weib findet den Mann im Fieberwahnsinn, sie pflegt ihn, erkrankt selbst, stirbt und ihr genesener Gatte ... begräbt sie. Seinen Knaben Max gibt er zu Josephinen in das Kloster zum Herzen Jesu und er selbst tritt unter die neuentfaltete preußische Kriegsfahne, folgt der Proklamation von Kalisch; ich habe nie wieder von diesem ehrlichen Brüning etwas vernommen. Es ist der Vater unsers Max da.

Der Major schwieg eine Weile. Die Andern blickten theilnehmend erstaunt auf den Maler, der mit gestemmten Händen den Kopf hielt und in seinen Römer blickte, wie auf den Grund eines räthselhaften Sees oder wie man am Rhein auf die Stellen blickt, wo die Sage von verschütteten Horten erzählt ...

Der Major fuhr fort:

Max, das Soldatenkind da, und Josephine, die Polin, galten für Geschwister, ohne es zu sein. Sie liebten sich wie sich Kinder lieben, die zusammen lernen und spielen, und die Nonnen flößten Beiden die ganze Schwärmerei in die [2171] jungen Herzen, die sie, der Welt entsagend, nur in ihren Träumen oder in ihrer Hingebung an Christus und die Heiligen aussprechen konnten. Es war leicht erklärlich, daß man Max als Katholiken erzog, ebenso, daß man auch ihn Leidenfrost nannte, weil die Nonnen auf ihren vielleicht von ihnen erfundenen Namen stolz waren. Max Leidenfrost wurde zuletzt ein gefährliches Element unter den Nonnen. Man führte ihn nach Warschau in ein Mönchskloster. Entführen hätt' ich sagen sollen. Denn die Trennung von seiner Schwester soll List und Hinterhalt genug nöthig gemacht haben. Dort im Warschauer Kloster erzählt die Chronik viel Streiche von dem ketzerischen Knaben Max Brüning, genannt Leidenfrost, Streiche, die nicht in die Legende der Heiligen kommen werden. Josephine blieb bei den Nonnen, bis Sibylla, die Äbtissin, eine herrliche, verständige Dame, den geringen Beruf des Mädchens für die geistliche Welt erkannte und sie nach Warschau zu hohen Verwandten schickte. Äbtissin Sibylla gehörte dem altpolnischen Adel an. Josephine und Max sahen sich wieder und die Liebe des jungen Halbnovizen für seine Namensschwester wuchs. Ich will die Abenteuer nicht ausmalen, die der romantische Sinn der zusammenerzogenen, für Geschwister geltenden jungen Leute ...

Der Major unterbrach sich:

Hab' ich nicht Recht, Max?

Leidenfrost hob den Kopf und schüttelte ihn lächelnd:

Ich bin stumm gewesen und höre nur! sagte er.

[2172] Es war mir doch, bemerkte der Major zur Flamme emporsehend, als hört' ich ... doch ich bin bewegt und meine Phantasie überhört vielleicht, daß ich selbst der Sprecher bin. Genug, Josephine ist jetzt das Weib des Majors Werdeck, aber welche Kämpfe hat es gekostet, bis ich sie mir errang! Ich lernte sie vor zwölf Jahren in Warschau kennen, hangend und bangend in Liebe um ihren theuren Max, der, um nicht Priester zu werden, vor zehn Jahren entflohen war, verkleidet als Bedienter eines russischen Vornehmen, Otto's von Dystra. Welch' ein Verkehr hatte sich zwischen ihnen entsponnen! Max lernte vom Kleinsten auf und rang nach äußerer Bewährung eines innern Genius, der in ihm rauschte, ohne daß er ihn bändigen konnte. Was hatte er bei den Mönchen gelernt? Nichts als nur schreiben, aber zierlich, malerisch schön! Eine Künstlernatur lebte in ihm, ihm unverständlich. Er konnte kaum noch richtiges Deutsch, er mußte in Allem von vorn beginnen und vergriff sich in den Mitteln, seinen Geist zur Höhe zu bringen. Statt Maler Anstreicher, statt Bildhauer Drechsler! ... Josephine galt in dem Hause, wo sie lebte, für eine Waise, ohne Lebensansprüche. Sie liebte Max und empfing seine Briefe, die sie beantwortete, wie Heloise die Briefe des Abälard beantwortete. Max raffte sich immer gewaltiger empor. Immer bedeutsamer wurde sein Talent. Er war Künstler, Maler; er konnte stolz sein, Josephinen einst seine Hand zu bieten. Da sah ich dies reizende Mädchen in Warschau, wie ich als Hauptmann dort in einem militairischen Auftrag anwesend bin. Ich [2173] liebe Josephinen sogleich, trag' ihr meine Hand an und trotzdem, daß durch die Papiere, die Brüning in Rußland dem todten Vater abnahm, des Mädchens wahrer Name, ihre adlige Herkunft allmälig entdeckt wird, schlägt sie meine Bewerbung aus und reist nach dieser Hauptstadt, um den inzwischen hier zur Geltung, zur selbstständigen Freiheit gereiften Bruder zum Gatten zu nehmen ... da ...

Der Major stockte und unterbrach sich mit den Worten:

Bin ich ein Thor, daß ich diese Erzählung begann? Was führt mich darauf!

Die Freunde drückten ihren Dank, ihre größte Spannung aus. Louis Armand, der sich seines halbpolnischen Ursprungs erinnerte, schien besonders bewegt ...

Aber der Major sagte:

Nur der Trieb, Ihnen zu sagen, warum ich gern mit Ihnen lebe, gern in Ihrem Kreise bin, meine Herren, öffnete mir die Zunge zu dieser Geschwätzigkeit ...

O wohl! lachte Leidenfrost auf. Mit den sogenannten Verstandesmenschen, wofür der Major gilt, geht gewöhnlich die ganze Logik durch und reißt der Verstand alle Stränge, wenn die einmal aufthauen und ihr Herz zeigen wollen. Die Geschichte ist ganz einfach. Josephine kommt hierher. Der Hauptmann von Werdeck bestürmt sie mit seiner Liebe. Ich sehe sie, sie sieht mich wieder. Nach sechs Jahren! Abälard und Heloise! Lacht nicht, Kinder, es ist zum Weinen! Betrachtet mich! Was? Nicht wahr? Ich bin häßlich. Diese Citrone, die ich hier fasse, ist mein [2174] Gesicht! Diese Löcher sind meine Augen! Diese getrocknete Zwetsche ist meine Nase! Ideal und Wirklichkeit! Josephine sieht mich wieder, entsetzt sich, erwacht von ihrem Jugendtraum und heirathet den Hauptmann von Werdeck, den sie liebt wie einen Gatten; mich liebt sie noch jetzt ... wie einen Bruder.

Als Max Leidenfrost diese Erzählung lachend, aber mit unterdrückten Thränen zum Besten gegeben hatte, waren Alle stumm, von Schmerz und rührender Theilnahme ergriffen.

Genug! Genug! fiel er aber selber ein. Vorwärts jetzt! Dankmar, sagen Sie jetzt Ihren Plan!

Dankmar konnte sich nicht sogleich aus dem Staunen über dies eigenthümliche Verhältniß zwischen drei edlen Menschen emporraffen und schwieg.

Da ergriff Leidenfrost den Römer und sagte:

Dir, holder Genius meines Lebens, dieses Glas! Dir, Josephine, um die ich rang und arbeitete! Dir, zu deren Ruhm und Preis ich mein Leben aus dem Gemeinen und Zufälligen emporrichtete! Du warst der Stern meiner Nächte, die Sonne meiner lichteren Tage! Um dich darbt' ich, um dich dient' ich! Und als ich ein Herrscher zu sein glaubte und meine Krone mit dir zu theilen wagte, da weintest du und verhülltest dich! Lebewohl, Josephine! rief ich und stürzte mich wie ein Wahnsinniger in's Leben; ich trat meine Kunst mit Füßen. Ich wurde ein Verräther an mir selbst. Die Verzweiflung peitschte mich wie mit Furiengeißeln. Ich ein Scheusal? Eine Abirrung der[2175] menschlichen Formen? Ich, ein Plastiker, unschön? Da trieb es mich auf die Bühne. Schauspieler wurd' ich, heute, um mich zu schminken und schön zu sein, morgen, um mir einen Buckel überzuschnallen, Gesichter zu schneiden, rothe Haare aufzukleben und vor den Spiegel zu treten und zu sagen: Jetzt bin ich erst häßlich! Jetzt erst entsetzen sich die Engel vor dir! Das bist du nicht selbst! Du bist ein Adonis, ein Gott gegen diese Fratze! Und so trieb ich's fort; bis ich wiederkehrte, mich besann, mich ergab, ergab als – Menschenfeind. Ich fand die Geliebte, die Schwester ernst, vornehm, aber wieder gut. Sie war nicht die alte Josephine mehr; sie war jetzt nach entdeckten Familienpapieren Jagellona ...

Jagellona? unterbrach Louis Armand.

Jagellona von Werdeck, Franzos! fuhr Leidenfrost fort. Jagellona, die Polin, die Adlige, wie es die Gesellschaft verlangte! Aber sie hat noch ein Herz, noch Liebe. Sie liebt Ideen, Menschen, die Ideen tragen und verkörpern, sie liebt Polen und die Freiheit. Jagellona ist meine Josephine nicht mehr; aber Werdeck wurde mein Freund –

Dein Bruder, Max! sagte Werdeck und reichte dem Sprecher tiefgerührt die Hand. Im Geiste bliebst du meinem Weib ihr alter Max!

Im Geiste ist Alles möglich! sagte Leidenfrost. Stoßt an ... auf Jagellona!

Siegbert, der des Rühmlichsten genug von der Majorin zu erzählen pflegte, stieß mit Enthusiasmus an. Dankmar mit Vorwürfen, die er sich selbst über seine Zurückgezogenheit [2176] von der Gesellschaft machte, Louis mit der Frage auf den Lippen, wie denn wol der fernere Name dieser Jagellona heißen mochte ...

Da machte Leidenfrost gleichsam einen Strich über diese ganze Unterbrechung und sagte entschieden:

Und nun kein Wort mehr davon! Ihr kennt jetzt die Tragödie, die ich in meinem Herzen spiele ... besser hoffentlich, als ich einmal sechs Monate lang früher in Wirklichkeit auf den Bretern spielte. Jetzt zur Sache! Dankmar Wildungen! Unsre Stimmung ist hinlänglich feierlich! Reden Sie!

Dankmar entschloß sich nun, in den angeregten Gegenstand einzulenken und sprach:

Sie haben, Herr Major, in Ihren früheren Äußerungen das tiefe Weh dieser Tage ausgesprochen! Sie haben an Ihrem Beispiele gezeigt, wie lang die Bahn gemessen ist, die unser redlicher Wille durchlaufen muß, wenn er sich in eine That umsetzen will! Hundert Gründe, etwas zu thun, tausend, etwas zu unterlassen. Das Ideal ahnen wir, aber Nebel umgeben die Sonne. Auf dem Wege zur Wahrheit hundert Lügen und Lügen nicht einmal, die wir verachten dürften, nein, wir sollen uns mit ihnen abfinden, sollen selbst lügen, um von ihnen ehrlich loszukommen! Wir Alle hier sind Demokraten. Das Wort ist alt. Seine Geschichte lehrreich. Die Moral dieser Geschichte abschreckend. Ich gebe zu, daß die Chronisten dieser Geschichte meistens Aristokraten waren, wenn auch nur Aristokraten der Bildung und Gelehrsamkeit.

[2177] Aber unverkennbar ist es, daß zu allen Zeiten sich in ein lauteres, reines Princip unlautere Elemente mischten. Könnten wir diese von unserer Debatte ausscheiden! Das demokratische Princip galt bisher nur für kleinere Staaten, jetzt erst ist es ein Weltdogma geworden, ein geschichtlicher Hebel. Da ist es fast so groß, so heilig zu erachten, wie eine Religion. Eine Religion muß unendlich einfach sein. Die Offenbarung gibt die Geschichte. Drei Sätze genügen. Das Übrige thut der Geist, die Gesinnung, die Hoffnung. Wir haben vier Meinungen gehört. Alle wurzelten sie in einem Stamme und waren so verschieden, und stritten wir noch länger darüber, so würde statt Einigung, Veruneinigung kommen. Der Eine empfiehlt eine augenblickliche That, der Eine will nur die Gefahr des Experimentes wagen, der Dritte lieber mit dem Alten untergehen, nur um nicht das bedenkliche Neue zu versuchen. So werden wir uns nie vereinigen. So werden wir immer nur die Repräsentanten des Chaos sein, das jetzt in den Gemüthern gährt und allen erleuchtenden und erwärmenden Lichtstrahlen unzugänglich scheint, weil jede Subjektivität leidenschaftlich, reizbar, eigensinnig ist. Freunde, wir müssen unsre Lehre vereinfachen, aber die einfache Lehre kraftvoller durchsetzen! Wir müssen es aufgeben, positive Schöpfungen hervorzurufen, und uns begnügen, nur den Geist, in dem sie erwachsen sollen, zu befördern. Keine Theorie! Aber für den Geist der Theorie das Leben! Hört mir zu, Freunde! Die Stunde ist heilig! Stoßt auf eine Idee an! Ich wünsche, [2178] daß es so, wie in unsern Gläsern auch in unsern Herzen widerklingen möge!

Man stieß mit Dankmar, dessen Augen leuchteten, feierlich an. Vom Rathsthurm schlug es zehn. Als die Gläser gesenkt waren, begann Dankmar mit fester Stimme von der Notwendigkeit zu sprechen, über den Bund der Freimaurer hinaus einen neuen zu stiften, einen Bund, den er den der Ritter vom Geiste nannte.

[2179]
9. Capitel. Die Stiftung des Bundes
Neuntes Capitel
Die Stiftung des Bundes

Kaum hatten die beiden Schreiber, Schmelzing und Hackert, auf dem Estrich kauernd, die Gesellschaft, ehe noch Werdeck kam, unter sich in die kleine Trinkstube eintreten hören, als sich auch der Letztere sogleich von einigen Stimmen an ihm bekannte Menschen erinnert fühlte. Noch wußte er nicht deutlich zu unterscheiden, wo er das eine oder das andere Organ hinbringen sollte. Die Worte, die unten gesprochen wurden, bekamen durch die Wölbung und die Resonanz etwas Schnurrendes, ja Unangenehmes. Man mußte etwas von der Kreuzesform zurückbleiben, um nicht durch das Schnarren der Stimmen verletzt zu werden. Für Schmelzing's Ohr waren diese Töne gerade so, wie er sie haben mußte. Er hielt sich so dicht an dem flammenden Kreuze, daß ihn Hackert einige male zurückzog und ihm durch die Fingersprache sagte:

Sie werden sich Ihre paar Haare noch vollends abbrennen, Schmelzing!

Schmelzing zeigte boshaft auf Hackert's rothes Haar, dem das Sengen nicht viel schaden könnte, zog dann ein [2180] Portefeuille und legte es sich zum Notiren der unten gesprochenen Worte förmlich zurecht.

Hackert sah diese Zurüstung mit Gleichgültigkeit. Er war ein Mensch des Augenblicks. Weil die Stimmen ihm im Ohre wehthaten, so gönnte er ihnen, daß Schmelzing ihr lautes Lachen und Scherzen aufschrieb. Ruhig streckte er sich am obern Ende des Kreuzes hin, während Schmelzing am untern kauerte und bald horchte, bald schrieb, bald das Brot und den Wein zurechtlegte für ein geordnetes, später einzunehmendes Souper; denn, deutete er Hackerten an, diese Sitzung da unten würde gewiß lange währen, es schiene heute ein Hauptschlag berathen zu werden.

Hackert rieth hin und her, wer die Sprecher sein mochten; endlich vernahm er in dem Durcheinander, bei dem der ihm unbekannte Leidenfrost am meisten hörbar war, eine sanftere, mildere Stimme. Es war Siegbert's. Unwillkürlich kam es Hackerten, als müßte er nun durch das Kreuz sehen. Schon hielt er den Kopf hin, als er vor der Hitze der Flamme erschreckt zurückfuhr.

Das ist Siegbert Wildungen! dachte er sich. Mein wackrer Freund, der so liebevoll für mich gesinnt gewesen und den ich an jenem Abend vor dem Fortunaball so niederträchtig kränkte, daß ich ihn für immer vermeiden muß!

Und nun erkannte er auch Dankmar's Stimme.

Jetzt erst schwebte ihm klar und deutlich vor, wel che Rolle er hier spielte. Menschen, die ihm fremd, zu belauschen [2181] und neue Entdeckungen im Gebiete des bunten Lebens zu machen, wäre ihm vielleicht sonst eine Unterhaltung gewesen. Als er aber die Stimmen befreundeter Menschen hörte; als er sich erinnerte, wie freimüthig Dankmar auf der Fahrt vom Heidekrug nach Hohenberg gegen den verkleideten Prinzen Egon sich geäußert hatte; als er sich vorstellte, in wieviel gefährliche Dinge schon Dankmar verwickelt war und wie er sich doch gleichfalls an jenem verhängnißvollen Abend geneigt gezeigt hatte, ihm zur Aussöhnung und Verständigung die Hand zu reichen, da befiel ihn über die Möglichkeit, ihre Äußerungen könnten ihnen Gefahr bringen, eine unbeschreibliche Angst. Er lauschte nochmals. Er glaubte, sich getäuscht zu haben. Aber es blieb unwiderleglich, daß die Brüder Wildungen unter ihm waren. Als man allgemein Guten Abend! rief und einen Neuangekommenen begrüßte, hoffte er, das Gespräch würde sich in Allgemeinheiten verlieren. Er machte deshalb Schmelzing ein Zeichen, als wollte er sagen: Es sind wol die Rechten nicht? Dieser aber bemerkte, daß gerade der Neuangekommene der Rechte wäre. Hackert möchte ihn jetzt nicht stören, sondern lieber auch seine Schreibtafel ergreifen, damit sie hernach ihre Notizen vergleichen könnten ...

Hackert, um Verdacht zu vermeiden, befolgte diese Weisung. Er zog eine pergamentne Schreibtafel und stellte sich, als wenn er außerordentlich begierig wäre, zu erfahren, was gesprochen wurde. In der That war er es auch. Noch immer hoffte er auf Allgemeinheiten und [2182] persönliche Gegenstände. Als er aber den Accent eines Franzosen hörte, den Staat, die Zeit, die Willing'schen Maschinenarbeiter nennen hörte, stand es ihm in der That fest, daß die Polizei außerordentlich gut unterrichtet war und wohl Ursache haben konnte, Gesinnungen dieser Art zu überwachen.

Zugleich aber kämpfte gegen die offenbare Überzeugung, daß es sich hier um ein gefährliches Staatskomplott handelte, alles Das an, was er von Siegbert's mildem und Dankmar's besonnenem Charakter wußte. Unmöglich konnten sie gewaltthätigen Unternehmungen Vorschub leisten; aber wenn sie sich hätten hinreißen lassen, wenn sie der Überredung eines ehrgeizigen Kriegers, eines französischen Emissairs hier Gehör gäben? Hackert war von der Vorstellung der Gefahr, in der die unten versammelte Gesellschaft schwebte, so ergriffen, von Theilnahme für die Brüder Wildungen so bewegt, daß er beschloß, Alles aufzubieten, um Schmelzing zu verwirren und für den Fall, daß wirklich Ernstes unten besprochen wurde, ihn in irgend einer Weise unschädlich zu machen.

Zunächst fing er an, Schmelzingen an die Pennalhälften zu mahnen. Er gab ihm die größere und füllte sie mit dem etwas säuerlichen Haut-Sauterne, den die Polizei für diese Expedition auf Rechnung der »geheimen Fonds« setzte. Schmelzing lehnte die längere Hälfte ab und wollte nur aus seinem kleinern Fingerhute trinken. Dem Essen, das Hackert vorzulegen anfing, sprach er eher zu, dabei [2183] aber unaufhörlich winkend, kein Geräusch zu machen und seine Aufmerksamkeit nicht zu stören.

Hackert ließ sich aber nicht beirren. Er dachte, ich muß dich bei deinen schwachen Seiten fassen. Die nächste Schwäche des schleichenden, tückischen Schreibers war seine Eitelkeit. Hackert musterte den Mantel, auf dem er lag und gab ihn Schmelzingen, da er zu kostbar wäre, als Fußdecke benutzt zu werden. Das hörte Schmelzing schon gern. Dann lobte er seine Halsbinde und fragte ihn, wo er seine Halsbinden jetzt waschen ließe. Schmelzing antwortete auf alle diese Fragen mit der Fingersprache. Es bot einen eigenthümlichen Anblick, diese zwei Menschen am Boden kauernd zu sehen, zwischen ihnen ein flammendes Kreuz, oben Alles todtenstill, und sie Beide doch sprechend, die Finger reckend, die Arme bewegend, bald an die Brust, bald an's Kinn, bald an die Nase, die Ohren, die Haare fassend. Sie hatten sich in müßigen Stunden Beide eine solche Fertigkeit in dieser Art der Mittheilung und des Gedankenaustausches angeeignet, daß sie sich nicht nur über äußere, sinnlich in's Auge fallende Gegenstände verständigten, sondern so auch über Ansichten und Empfindungen.

Wissen Sie wohl, Schmelzing, sagte Hackert mit der Fingersprache, während er mit Herzklopfen hörte, daß eben Dankmar die Frage beantragte, welchen Entschluß man für die nächste Zeit fassen müßte; wissen Sie wohl, was man von Menschen denken muß, die ihr Gehör verlieren?

[2184] Lassen Sie mich jetzt zufrieden! antwortete Schmelzing mit der Zeichensprache, horchte und schrieb emsig.

Nein, im Ernst, Schmelzing! Lassen Sie doch unten die dummen Kerle ihren Rüdesheimer trinken! Ich geb' Ihnen mein Wort, es hat etwas auf sich mit dem Gehör.

Schweigen Sie, Hackert!

Das Gehör, Schmelzing, ist der niedrigste, schlechteste und erbärmlichste Sinn des Menschen! Männer von Geist verlieren immer erst das Gehör.

Wirklich?

Wissen Sie denn, Schmelzing, daß der Mensch eigentlich stufenweise abstirbt?

Sprechen Sie hier nicht von Sterben, Hackert! Ich verbitte mir Das.

Wie alt sind Sie, Schmelzing! Neunundzwanzig, nicht wahr?

Schmelzing konnte nicht umhin, etwas zu schmunzeln. Er hatte sicher schon sein Vierzigstes auf dem Rücken.

Vom dreißigsten Jahre an sterben wir allmälig ab und zwar an unsern fünf Sinnen.

Zum Donnerwetter! Seien Sie still, Hackert!

Hackert hörte, daß Siegbert eben einen langen politischen Vortrag hielt und ununterbrochen redete. Er ließ sich nun nicht stören, sondern wandte die ganze Kraft seiner Fingerberedtsamkeit an, um Schmelzing vom Nachschreiben abzuhalten.

Gemeine Menschen, sagte er, sterben von oben herab, edle Charaktere von unten herauf.

[2185] Wie so? fragte Schmelzing, der dabei an seine Füße dachte, die ihm beim Sitzen oft einschliefen oder kalt wurden.

Was sehen Sie denn auf Ihre Füße, Schmelzing? Ich rede ja von Ihrem Gehör.

Lassen Sie mich in Ruhe!

Das Gehör ist wirklich das Gemeinste am Menschen. Nur bei den Dummen ist der Gehörsinn am schärfsten ausgebildet.

Wie so?

Je furchtsamer ein Thier ist, desto besser hört es. Alle feigen Thiere, Hasen, Rehe, Maulwürfe hören gut.

Wirklich?

Ein geistreicher Mensch lebt in sich und hört darum so wenig. Plato und Aristoteles, kann ich Ihnen die Versicherung geben, Schmelzing, waren schon in ihrem dreißigsten Lebensjahre stocktaub, und wenn Sie's nicht wissen, wer Plato und Aristoteles waren, so sag' ich's Ihnen, das waren die beiden weisesten von den sieben Weisen Griechenlands!

Sie wollen mir etwas weismachen, Hackert.

Ich gebe Ihnen mein Wort! Erst kommt das Gehör, dann ...

Halt! halt! fingerte Schmelzing mit Zorn und zeigte nach unten.

Hackert horchte hin; es war von den Willing'schen Maschinenarbeitern und dem Handwerkervereine die Rede.

Jetzt erst recht gab Hackert keine Ruhe.

[2186] Gut zu hören, fuhr er fort, ist gemein; dann kommt gut sehen, das ist weniger gemein, aber noch immer gemein; dann kommt gut fühlen. Das ist Mittelsorte. Dann steigt's aber in's Feine. Erst gut zu schmecken. Dann aber das Feinste, Schmelzing ...

Gut zu riechen? fragte Schmelzing erstaunt.

Der feine Mann hat seinen schärfsten Sinn in der Nase.

Gehen Sie weg!

Glauben Sie Das nicht? Sie wissen also nicht, daß alle Weisen Griechenlands am stärksten in dem Organe der Nase waren?

Ich meine doch, daß erst der Geschmack kommt, sagte Schmelzing, von diesen Auseinandersetzungen aus Eitelkeit interessirt.

Ach, wie irren Sie sich, Schmelzing! Geschmack ist fein, aber Geruch viel feiner.

Ich rieche sehr fein.

Wirklich?

Sehr fein!

Riechen Sie z.B., ob Das hier Kohlen- oder Theergas ist; ich meine das Gas, das von den drei Kreuzen kommt.

Dafür kann ich nicht Chemie genug, sagte Schmelzing. Aber ich rieche, daß hier viel Mäuse und wenig Katzen sind ...

Sehen Sie einmal an, das riech' ich nicht, Schmelzing, sagte Hackert immer trocken und in der Miene ruhig. Plato soll in seinen letzten Lebensjahren seine künftige [2187] Verwesung schon voraus gerochen haben. An sich selbst, Schmelzing!

Ach, schweigen Sie von Verwesung, Hackert!

Sie haben gut reden! Sie haben den feineren Stufengang der Sinne, Schmelzing, und ich fürchte sehr, ich habe nur den gemeinen.

Sie machen Possen!

Im Ernst, Sehmelzing. Ich sterbe umgekehrt ab. Ich rieche schon jetzt gar nichts. Mein Geschmack ist dürftig. Der Wein z.B. mundet mir keineswegs und doch seh' ich an der Etikette, daß es der feinste ist, den der Polizeiminister kaum besser hat. Mein Gefühl ist leidlich. Aber sehen kann ich durch ein eichen Bret und hören ist meine Leibpassion. Ich höre z.B. jetzt eben ...

Was hören Sie?

Hören Sie nicht die Thür knarren?

Machen Sie mir keine Angst! Lassen Sie Das!

Es ist möglich, daß ich mich täusche. Wissen Sie was, Schmelzing, ich will mich hinlegen und schlafen.

Hier sprang Schmelzing auf. Hackert hatte die Bezeichnung des Schlafens so eigenthümlich dargestellt, daß Schmelzing an die alte Nachbarschaft und das frühere Nachtwandeln Hackert's dachte, von dem dieser behauptete, jetzt gänzlich geheilt zu sein ...

Es fehlte nicht viel, so hätte Schmelzing nun laut gesprochen. Der Dialog über die feine und die grobe Stufenleiter der Sinne ging durch die Zeichensprache sehr leicht zu versinnlichen. Die beiden Sprecher hatten immer [2188] nur nöthig, auf die betreffenden Organe zu zeigen. Diese Andeutung aber, daß Hackert hier schlafen wolle und wohl gar in seinen alten Zustand verfallen könnte, diese Möglichkeit, verbunden mit so scharfem Gehöre, daß er eine Thür wollte knarren gehört haben, war Schmelzingen zuviel. Hätte er nicht das Geräusch gefürchtet, er hätte Hackerten sein Holzpennal an den Kopf geworfen oder einen Tintenstecher, den er schon aus der Tasche zog.

Hackert ließ in seinen Angriffen auf Schmelzing's Ruhe nach, denn Siegbert hatte aufgehört zu reden. Das Durcheinander von Stimmen, das herauftönte, brachte jetzt nicht ein einziges gefährliches Wort. Schmelzing war außer sich vor Zorn, als er auf seine leeren Blätter blickte.

Es wurde unten ruhiger. Eine Stimme sprach, die Hackert nicht kannte. Es war dies die Stimme von Leidenfrost. Anfangs dachte er, der mag reden, soviel er will! Plötzlich nahmen Leidenfrost's Äußerungen aber einen Charakter an, der Schmelzingen bestimmte unwillkürlich auszurufen:

Herr Gott! Nun kommt's!

In der That war Das die Rede eines vollständigen Demagogen.

Ja, dachte Hackert, Das wird nun arg! Es sind in der That die unvorsichtigsten Menschen von der Welt da unten. Wie kann Siegbert Wildungen ableugnen, daß er in Gemeinschaft eines solchen Aufrührers politische Berathungen gepflogen hat!

[2189] Und nun entschloß er sich rasch, Schmelzingen auf's neue in Verwirrung zu bringen.

Die erste Schwäche des Schreibers, sein Ehrgeiz, war schon ergiebig gewesen. Er entschloß sich, mit einer neuen anzubinden. Schmelzing war verliebt. Hackert wußte Das nicht nur im Allgemeinen, sondern hatte sogar an mancher Zudringlichkeit gegen Louise Eisold beobachtet, daß er einen Eindruck seiner hagern, gespenstischen Figur auf das junge, ihn verachtende Mädchen für möglich hielt. Ihm, Hackerten, war der Gedanke an Louisen etwas Heiliges. Er liebte sie nicht, er fürchtete sich vor ihr; er entfloh sogar in allen seinen Gedanken der Erinnerung an dies edle, sittenreine Mädchen. Sein Athem stockte, seine Brust beklemmte sich, wenn er ihrer gedachte, ihrer, die er verlassen, die er nie wieder aufgesucht hatte, auch im Geiste geflohen war! Aber nun mußte er ihr Andenken heraufbeschwören. Wachrufen in der gemeinen Seele dieses dürren Schmelzing! Er besann sich, ob er denn nicht irgend ein anderes Mädchen wisse, dessen Namen er entweihen durfte, um Schmelzing's Phantasie zu verwirren. Er fand keine. Da hörte er, daß der Sprecher unten die Barrikaden erwähnte, und ohne lange Besinnung machte er einen Griff an seinen linken Ringfinger und zeigte auf denselben Finger an Schmelzing's Hand.

Schmelzing wollte nicht hören.

Hackert wiederholte das Zeichen.

Wo haben Sie denn Ihren Ring, Schmelzing? sagte er.

[2190] Zum Donnerwetter! Welchen Ring?

Den Ring von Louise Eisold!

Ich einen Ring von Louise Eisold?

Wie Sie auszogen –

Wie wir auszogen?

Den Ring, den sie Ihnen zum Abschied an den Finger steckte?

Mir einen Ring? Sie schlafen wol?

Schlaf' ich? Träum' ich vielleicht?

Hackert, seien Sie still! In meinem Leben nehm' ich Sie nicht wieder hier mit ...

Was wollen Sie denn? Ich weiß doch, daß Sie da an der linken Hand immer einen Ring trugen und Louise hat mir selbst gesagt, daß sie Ihnen noch einen Ring geben wollte. War's der nicht?

Mir einen Ring geben? Sie verwechseln sich wol mit sich selbst!

Halten Sie mich für eitel? Die Louise hat Nachsicht mit mir gehabt, weil ich Ihr Freund bin.

Lassen Sie mich in Ruhe!

Aber ich habe ja die Haare selbst gesehen, die sie für Sie abschnitt. Köstliche braune Haare, Schmelzing. Sie gab sie zum Haarflechter und es sollt' ein Ring für Sie werden. Hernach zogen Sie aus und erkundigten sich nicht mehr nach einem Mädchen, das Sie überraschen wollte! Sie staunen, Schmelzing? Sehen Sie, daß Sie doch zu kurz kommen mit Ihrem schlechten Gesicht und Gehör. Plato hatte auch kein Glück in der Liebe; denn er war kurzsichtig.

[2191] Man nennt Das die Platonische Liebe. Man muß ein scharfes Auge haben, um in's Herz zu sehen, und wenn Eins laut seufzt und man ist stocktaub und hört's nicht, so war man freilich ein Esel. Vergeben Sie mir meine Freimüthigkeit.

Hackert, Sie machen mich ganz confus.

Aber wonach riecht Das hier? rief Hackert plötzlich sich aufrichtend.

Schmelzing zog mit der Nase die Luft ein ...

Eau de Cologne, Schmelzing! sagte Hackert. Hier sind Frauenzimmer in der Nähe.

Die Wirkung dieser rasch gesprochenen Worte auf Schmelzing war elektrisch. Im Nu verlor er wirklich alle Besinnung. Hatte schon der Wein, die Erwähnung Louisen's, der Ring mit den Haaren, die Platonische Liebe ihn in eine Steigerung seiner Empfindungen versetzt, so überfiel ihn bei der Vorstellung von Eau de Cologne und von in der Nähe befindlichen Frauenzimmern ein förmlicher Schwindel. Hackert in aller Ruhe, trocken und kaustisch, blieb bei seiner Vorstellung von einem feinen Parfüm, stand auf und behauptete, der Duft käme von dem zweiten Kreuze her. Er blieb stehen. Fortgehen wollte er nicht. Schmelzing bekam sonst zu viel Gelegenheit nachzuschreiben. So setzte er sich dicht wieder in seine Nähe, umschlang Schmelzing, zog ihn an seine Brust und flüsterte ihm ohne Zeichensprache in's Ohr:

O Schmelzing, was sind doch die Weiber für paradiesische Teufel! Eau de Cologne! Die künftige Seligkeit [2192] schlägt man um sie in die Schanze! Aber man muß sich recht umarmen, sich richtig küssen, Schmelzing! Die Meisten wissen gar nicht, was in den Lippen für Geheimnisse schlummern. Sie haben gute Lippen, Schmelzing! Nicht lachen! Nur nicht lachen hier! Da hört alle elastische Kraft auf! Ernsthaft, Schmelzing! Und nun den Mund voller genommen! Luft gepumpt, daß die Segel schwellen! Schmelzing, Sie müssen wunderschön lieben können! Wenn ich Louise wäre und ich neigte mich so zu Ihnen und Sie fühlten mich hier dicht am Herzen und ich sagte: Schmelzing! Schmelzing! Göttlicher Schmelzing!

Der verwitterte alte Schreiber zerfloß in der That bei diesen von Gebehrden unterstützten Schilderungen seines Collegen in völlige Besinnungslosigkeit. Das Portefeuille, der Bleistift waren ihm entfallen. Er hörte nicht mehr, er kicherte nur noch und meckerte. Dennoch mußte Hackert fürchten, daß er sich besinnen und ihn mit Gewalt von sich stoßen würde. In dem Augenblick kam seiner Keckheit ein weibliches Lachen zu Hülfe, das wirklich von der Seite des linken Kreuzes her emporschallte. Es klang ganz dumpf, ganz fern, aber Hackert hörte deutlich, daß weibliche Stimmen in der Nähe scherzen mußten ...

Hören Sie, Schmelzing, rief er. Hören Sie! Weiber! Eau de Cologne, wie Sie's gleich gerochen haben! Kommen Sie! Kriechen Sie mir nach! Kriechen Sie!

Schmelzing konnte sich in der That nicht mehr aufrechthalten. Seine Sinne waren so verwirrt, Hackert[2193] hatte so beredtsam alle schlummernden Geister seiner Sehnsucht geweckt, daß ihm war wie einem Taumelnden. Er kroch auf allen Vieren hinter Hackert her an den linken Flammenschein. Anfangs hörte er nichts von dem Lachen, das Hackert vernommen haben wollte. Wie er aber so dicht an der linken Kreuzesöffnung war, wie vorhin an der mittleren, machte die Wölbung, daß man Ohrenzeuge einer, wie es schien, sehr heitern Scene war. Man hörte Gläser klingen, das Lachen von Frauenstimmen und eine männliche, etwas pathetische Stimme, die sich in phantastischen Huldigungen zu ergehen schien.

O verdammt! flüsterte Hackert, daß man nicht hinunterblicken kann. Nächst dem Genusse, selbst zu lieben, gibt es ja keinen größern, als Andre sich lieben zu sehen. Wie viel Frauenzimmer sind Das wohl?

Schmelzing bedeutete Hackerten zu schweigen. Ihr Rutschen, ihr Plaudern, sagte er, würde sie noch verrathen. Er fing wieder in der Zeichensprache zu gestikuliren an und lauschte so gierig auf die Scene, die in diesem Gemache aufgeführt zu werden schien, daß er die Politik, die Demokratie, die Arbeitervereine vergessen hatte. Hackert's mephistophelische Natur war im vollsten Gange. Er bediente sich aller nur möglichen Einfälle und Schnurren, um Schmelzing zu betäuben. Die ganze Ungebundenheit seiner wilden Phantasie tobte sich aus.

Schmelzing schnalzte mit der Zunge, wie ein Hecht, der vom Trockenen in frisches Wasser kommt. Sein ganzes [2194] Wesen schwänzelte. Hackert sagte, aufregend genug, mit der Fingersprache, in der bekanntlich die Neapolitaner noch mehr sagen, als man mit der Sprache sich zu sagen getraut:

Ich wette, es sind sechs Mädchen, Schmelzing, und nur Ein Mann!

Gehen Sie weg, sechs Mädchen?

Ich unterscheide wenigstens vier Stimmen. Es ist ein Herr, der nicht zu den jüngsten gehört. Zwei sitzen ihm auf dem Schooß. Eine, Schmelzing, legt sich ihm eben quer über die Schulter und eine hat sich einen Fußschemel heran gerückt und legt den Kopf auf seine linke Kniescheibe ...

Das sehen Sie Alles, Hackert?

Ich hör' es ja, alter Freund! Es sind Tänzerinnen! Sie stehen jetzt auf und wollen ihm eine Polka vortanzen. Sie rücken die Stühle zurück. Platz gemacht! Sie treten an. Ha! Wie sie die Kleider fassen! Sehen Sie, Schmelzing, nein sehen Sie diese Füße! Sehen Sie die weißen Strümpfchen! Die hat rothe Strumpfbänder mit einer emaillirten Schnalle! Sehen Sie denn die Schnalle nicht? Ich sehe die Schnalle, wie sie blinkt, Schmelzing!

Sie sind verrückt, Hackert! Wo sehen Sie denn die Schnalle? rief Schmelzing und verbrannte sich fast die Nase.

Jetzt nehmen sie die Champagnergläser und tanzen an ihm vorüber, fuhr Hackert fort. Jedes mal, wenn Eine vor ihm vorbei kommt, muß er rasch trinken. Dann kommt [2195] die Andere, die Blaue! Dann die Dritte, die Rothe! Jetzt die Vierte, die Weiße! Jetzt die Fünfte ...

Halten Sie ein! Es sind nur Drei!

Woraus merken Sie Das?

Sie sprechen ja so deutlich, daß man ihre Stimmen unterscheiden kann. Die Eine spricht ein Bischen tief.

Das lieb' ich, Schmelzing. Je tiefer die Stimme, desto mehr Feuer. Der Mann muß zweiten Tenor, die Frau zweiten Sopran sprechen, Das ist das wahre Duett der Liebe, Schmelzing. Sie Ihrerseits sprechen ganz in der rechten Mittelhöhe, Schmelzing!

Sie machen mich noch toll, Hackert!

Schmelzing mußte sich mit Gewalt losreißen. Hackert wühlte zu grausam seine Phantasie in Grund und Boden um. Er lag erschöpft. Hackert lehnte sich zu dem Lichtschimmer hin. Beide horchten.

Es schienen ein Herr und nur zwei Damen zu sein, die unten völlig unbelauscht zu sein glaubten. Das Klingen der Gläser hatte aufgehört, das Lachen sich gemäßigt. Man konnte die Worte der Unterhaltung deutlicher vernehmen.

Diese lautete eben:

Aphroditische Wesen, sagte die männliche Stimme, lasset uns zum letzten male noch von dem Schaum opfern, dem die Göttin entstiegen ist, deren würdige Priesterinnen Ihr Euch nennen dürft! Steige auf, cyprische Welle! Lodre, brodle, schäume!

Ein Geräusch verrieth, daß ein Champagnerkork aufflog.

[2196] Zwei Mädchenstimmen schrieen vor künstlichem Schreck ...

Die Gläser her! fuhr die männliche Stimme fort, das Glück verrauscht! Kurz ist der Augenblick der Freude!

Mit Brotrinde umgerührt, sagte das eine Frauenzimmer, so dauert's länger.

Künstlich! Künstlich! Allzukünstlich, Diotima! sagte die männliche Stimme.

Diotima? fragte das Frauenzimmer. Ich heiße ...

Man hörte nicht recht den Namen, den sie sprach.

Pst! rief Hackert. Sie heißt ... haben Sie's gehört?

Schmelzing nickte, als wollte er sagen, er verstünde Alles.

Nein, Diotima, sagte wieder die pathetische Stimme.

Was soll mir des Brotes Rinde! Was soll mir der künstliche Perlenflor! Die Natur verschmäht die Nachhülfe der Kunst. Oder bist du mehr für die Kunst, du schlanke Aspasia?

Spasia? sagte Schmelzing. Das war deutlich.

Aspasia? wiederholte die andere Stimme. Ich heiße ...

Man verstand wieder den Namen nicht.

Wie? bedeutete Hackert seinen Collegen.

Spasia! wiederholte dieser kichernd.

Aspasia! Mädchen! Es sind die Namen, die Ihr in den Sternen führen werdet; Plato's Freundinnen hießen Aspasia und Diotima.

Plato's! fiel Hackert zu Schmelzing ein. Verstehen Sie?

Das ist ein Gelehrter da unten. Plato hatte kein Glück in [2197] der Liebe, obgleich er kurzsichtig und harthörig war und sehr früh eine Brille trug.

St! winkte Schmelzing.

Trinkt, Mädchen! rief der Redner unten. Trinkt aus des Spitzglases unschöner Form! Krystallene Schalen von gewobenem Glase, röthlich angehaucht, sind des Schaumweins würdigere Pokale! Trinkt oder thut wie ich!

Ah! riefen die Mädchen. Sie verschütten ja ...

Das köstliche Naß auf des Hauses geheiligten Estrich?

So mußt du den Göttern opfern, Diotima!

Mit Erlaubniß, antwortete Diotima, zum Aufscheuern ist Champagner doch wol zu kostbar.

Opfre! schrie der Sprecher in der Trunkenheit.

Diotima sträubte sich.

Opfre!

Aspasia schien dem bacchischen Priester das Glas wegzunehmen. Dann sagte sie mit gurgelndem trinkenden Tone: Da! Nicht auf die Erde!

Die versteht's! sagte Schmelzing, der für die Barrikaden und Arbeitervereine nun kein Ohr mehr hatte.

O hätt' ich Rosen, hätt' ich Kränze, rief der Sprecher unten, könnt' ich mich schmücken wie Apollo! Und Ihr, Freundinnen, im griechischen Gewand, Ihr schrittet mir zur Seite, wie Priesterinnen! Ha, könnte ich dieses dumpfe Kellerloch umzaubern zu einer Tempelhalle! Rufen möcht' ich wie Faust nach dem Tranke der Hexe, damit ich losgebunden, frei, erfahre, was das Leben sei.

[2198] Schmelzing zeigte nach dem Kopfe.

Zu viel? fragte Hackert.

Zu wenig! antwortete Schmelzing schüttelnd.

Er hat entweder oder ist! sagte Hackert bestätigend.

Aber da oben, da oben, seht Ihr's? rief die exaltirte Stimme plötzlich.

Rasch fuhren die beiden Lauscher zurück. Unwillkürlich kam ihnen diese Bewegung. Im ersten Augen blick glaubten sie sich gesehen. Aber die Stimme sprach:

Seht Ihr's da oben, das Kreuz in der Mauer? Bist du schon wieder da, nazarenische Mahnung? Spukst du denn überall, trauriges Memento mori? Hinweg von Griechenlands Göttersöhnen jagst du mich? Nein! Mit Rosen, nicht mit Dornen erlöst man die Menschheit. Küßt mich, Mädchen! Nach Korinth! Nach Korinth! Die Trümmer des Altars, den Paulus zertrümmerte, den Altar des unbekannten Gottes helft mir suchen! Es lebe der unbekannte Gott von Korinth!

Schmelzing machte wiederholte Zeichen des Wahnsinns, den er bei dem Sprecher unten voraussetzte. Hackert aber sagte, daß er ihn für irgend einen verdorbenen, vielleicht abgesetzten Geistlichen halte, der hierher gekommen wäre, um beim Ministerium sich auszuklagen und in der Desperation sich mit diesen Damen in den Rathskeller verirrt hätte, um im Champagner seinen Zorn zu ertränken. Die Mädchen schienen ihn zum Besten zu haben, sie lachten und neckten ihn, trotz der Zärtlichkeiten, die sie ihm gestatteten.

[2199] Plötzlich schwieg der Sprecher. Die Gefährtinnen fragten ihn, ob er seinen Text zu Ende hätte. Er antwortete nicht. Sie stießen mit ihm an. Es klang hohl wider, aber er antwortete nicht. Sie plauderten vom Wetter, vom Putz, vom Theater. Er antwortete einsylbig. Sie erwähnten den Prinzen Egon, ihre große Freude, daß im Hause und der Verwaltung desselben nicht nur Alles beim Alten bliebe, sondern diese noch vergrößert, noch erweitert würde. Alles würde prächtiger, herrlicher, glänzender!

Im Hause des Prinzen Egon? fragte Hackert.

Er ist wol eingeschlafen, sagte Schmelzing, der nur auf die Orgie selbst Acht hatte.

Nein, nein, er brummt bald: Danke, Diotima! bald: Danke, Aspasia! berichtete Hackert.

Er scheint nichts vertragen zu können, er wird einschlafen ...

Und die Mädchen plündern ihn aus? Das geschieht schon so –

Aber im Rathskeller!

Seltsam! Es ist ein Fremder oder ein Gelehrter, der eigentlich mit diesen Damen noch lieber in die Halle des Gambrinus gegangen wäre. Wer sind sie nur?

Er klirrt mit einer vollen Börse.

Die ganze Geschichte kommt mir lateinisch vor. Es ist als wenn ein schweinsledernes altes Buch auf einer modernen Damentoilette läge!

St! St!

Die Mädchen beklagen sich über ihres Freundes[2200] schlechten Humor. Der Kellner wird bezahlt und scheint zu gehen.

O, o, hörte man jetzt den Sprecher wieder, seht, seht das Kreuz! Als wir eintraten, hatt' ich es nicht bemerkt. Seit mein Auge darauf gefallen, ist der Blick verdunkelt.

Aspasia, Diotima –

Nenn' uns Dorette und Florette!

Was? rief Hackert nach diesen laut und ärgerlich gesprochenen Worten. Sind Das die ...

Laßt mir den Traum, Euch für Wesen zu halten, rief der Redner, für Wesen, die früher lebten, ehe man die Pariser Moden erfand. Du bist schön, Aspasia, und bildsam. Diotima ist lieblich und hat einen Anflug von Seele. Ihr solltet Euch bilden, Kinder! Es schlummern Ideale in Euch!

Du bist gerade wie unser Alter, sagte die Eine, wahrscheinlich die mit dem Seelenanflug ...

Wie so?

Dem gehen auch beim ersten Glas die Augen über ...

Gingen mir die Augen über, Mädchen? fragte der immer verstimmter werdende Enthusiast. Saht Ihr Perlen nicht blos im Glase? Wo saht Ihr Perlen, ihr schlanken Bacchantinnen? In meinem Auge? Als ich zum Kreuze aufblickte?

Stummes Wahrzeichen, das du über uns schwebst, welche Freuden schließt der Himmel ein, an dessen Pforte du gezeichnet stehst? Senke dich nicht herab, auf mich, todtes Holz! Soll ich's tragen zur Schädelstätte? Soll ich dir die Last abnehmen, Erlöser? Kommt, kommt, Mädchen!

[2201] Das Haus fällt zusammen, hier ist's entsetzlich. Die Decke bricht! Die Bogen wanken! Hülfe! Hülfe! Kommt, kommt!

Schmelzing zitterte an allen Gliedern. Hackert horchte.

Die Mädchen wollten so nicht fort. Sie glaubten ihren Freund verletzt zu haben. Sie nannten ihn mit mehr Ehrerbietung. Sie verwünschten, daß sie seiner Einladung gefolgt wären und sich zu einem Abend verstanden hätten, der nun verdorben wäre.

Seid Ihr von den thörichten Jungfrauen? fragte der melancholische Sprecher. Was geht Euch denn meine Kreuzesfurcht an? Haltet Eure Lampen hell, Mädchen! Der Bräutigam sammelt sich. Denkt Ihr, daß Euch ein Mann liebt, dessen Seele leer und hohl wie ein Tanzsaal ohne Tänzer ist? Ich zieh' Euch ja nicht hinunter in den Abgrund meines Herzens! Ihr bleibt ja oben, wo die Sonne scheint und grüne Sträucher stehen. Kommt an die Luft! Unter die Sterne! Hängt Euch an meinen Arm. Es scheint still draußen. Man wird mich nicht kennen. Rasch hinausgehuscht! Klinkt die Thür auf! Niemand da? Niemand? Leb' wohl, du düstres Galiläa da oben! Gekreuzigter! Laß mich Arkadien suchen und weinet mit mir.

Damit verschwanden die Sprecher. Erst Alles still. Man hörte den Kellner brummen, die Flaschen und Gläser wurden weggenommen und im Nu erlosch auch das flammende Kreuz. Der Kellner hatte den Hahn der Gasflamme umgedreht.

Hackert und Schmelzing lagen nun im Dunkeln und [2202] ganz betäubt. Diesen melancholischen Ausgang einer leichtfertigen Scene hatten sie nicht erwartet. Hackert hatte eine Ahnung, was sie wohl bedeuten konnte, Schmelzing verstand sie nicht. Er war so abgekühlt, so getäuscht in seiner Spannung, so voll Ärger, daß er fast zum lauten Verwünschen dieser Störung fortgerissen wurde und zu dem mittleren Kreuze zurückschlich. Hackert, grübelnd über Den, der unten mit den Fräuleins Wandstabler eine solche Scene der Lust und Reue, ja die Monologe eines gefallenen Luzifers hatte aufführen können, kroch nach. Der, der eben am mittleren Kreuze sprach, war der Major von Werdeck. Man vernahm Ausdrücke wie: Todesverachtung! Sein Leben in die Schanze schlagen! Fast wüthend, daß ihm der ganze Abend mislungen war, ergriff Schmelzing seinen Bleistift und fing blindlings zu notiren an. Jetzt ergriff es Hackerten, als müßte er einen äußersten Entschluß wagen. Die Worte jenes übersättigten und vielleicht von Reue gequälten Mannes hatten eine eigenthümliche Wirkung in ihm hervorgebracht. Er war plötzlich zum Scherze nicht mehr aufgelegt. Es hatte etwas auch in sein Innerstes hineingegriffen, das er nicht gut enträthseln konnte. Übersättigung kannte er wohl. Der unterirdische Sprecher hatte etwas davon angedeutet und doch war noch ein anderer Geist in seinen Worten gewesen, den er nicht zu fassen vermochte. Ungeduldig über das Nachdenken, in das ihn die Scene versetzte, verstimmt über das Scheitern seiner Störungen eines abscheulichen Spionengeschäftes war [2203] er nahe daran, Schmelzing von hinten zu packen. Wie, wenn ich ihm die Gurgel zudrückte und ihn von der Zelle fortschleppte? dachte er und erhob sich und schritt jetzt auf und ab, ohne sich um Schmelzing's wüthende Winke zu bekümmern.

Bei diesen Wanderungen, die wiederum bewirkten, daß Schmelzing nicht aufhorchen konnte, kam Hackert an das rechts liegende dritte Lichtkreuz, wo ebenfalls gesprochen wurde. Er hörte überrascht hin und vernahm eine gebrochene französische Aussprache, wie an dem Mittelkreuz. Andere Stimmen mischten sich in den Vortrag des prononcirteren Franzosen. Eine gewichtige Baßstimme stimmte in die Äußerungen des Franzosen mit ein, während eine andre opponirte. Der Schall mochte ihn verführen, die Gesellschaft für zahlreicher zu halten, als sie war. Deutlich hörte er das Klappern eines Degens, mußte also annehmen, daß auch ein Offizier in der Nähe dieses dritten Kreuzes war. Bald unterschied er das Thema, das besprochen wurde. Es war ein politisches. Er hörte den Namen der Jesuiten nennen. Man bat mehrfach den Franzosen, sich offen über diese Gesellschaft auszusprechen. Man versicherte ihn, daß er sich unter Freunden befände, unter den aufrichtigsten Verehrern einer Politik, die nicht auf Kleinliches und Geringes, sondern auf Weltplane lossteuere. Als die Baßstimme mit priesterlicher Salbung sagte: Dies ist der berühmte General, der mit dem Jahrhundert Fangball spielt, gleich dem Eskamoteur des Zaubertisches, der vielgefürchtete sogenannte Jesuitenfreund [2204] ... als Hackert diese Worte überlegte, für seinen Fall erwog, kehrte er zu Schmelzing zurück und machte ihm Gestikulationen, die nichts Anderes sagen wollten als:

Esel! Esel, die wir sind! Hier liegen wir und vergeuden die Zeit! Da ist die Stelle, wo Pax unsre Ohren hinbeordert hat. Ein Franzose, nicht wahr?

Ja wohl! nickte Schmelzing.

Ein Offizier?

Natürlich!

Donner! Hier sind ja die Rechten! Hier sitzen die Mordbrenner! Ich bin starr, was ich gehört habe ... Königsmord!

Allmächt'ger Gott!

Schmelzing! Hier ist's ja! Stimmen so heiser wie die Banditen! Sie hören hier jedes Wort! Kommen Sie einmal her!

Damit zog Hackert den erstaunten Schmelzing empor.

Dieser, der ein Misverständniß für nicht unmöglich hielt, folgte. Als er den Franzosen husten und näseln, den Degen des Generals klappern hörte, war ihm kein Zweifel mehr. Die Phrase, die eben ausgesprochen wurde: Wir leben nun einmal im Zeitalter der Revolutionen! zog ihn wie auf's Commando sogleich zur Erde nieder. Und wie ein Stenograph sich nicht erst lange besinnen darf, sondern mechanisch die Hand dem Ohre sogleich folgen läßt, so schrieb auch schon Schmelzing, während er sich noch niederließ. An den Wein und den Eßproviant, den Hackert [2205] in seine Nähe rückte, dachte er nicht; so emsig holte er das Versäumte nach und schrieb und schrieb und blickte nicht mehr auf, denn sein Pergament füllte sich, Streifen auf Streifen. Er schrieb wie athemlos.

Während Schmelzing die gemüthliche Unterredung des Propstes Gelbsattel mit dem General Voland von der Hahnenfeder und dem Emissair einer philanthropischen Gesellschaft, Herrn Sylvester Rafflard, die man in einer völlig abgeschlossenen Trinkzelle des vielgesuchten alterthümlichen Rathskellers veranstaltet hatte, Wort für Wort für die Polizei niederschrieb und nun nicht im Mindesten mehr von Hackert in seinem Amtseifer gestört wurde, wandte dieser ihm den Rücken und hörte, endlich freiathmend, die ihm nun allein vernehmbare Erzählung, die nach einem lebhaften Zusammenklang der Gläser eben der Offizier unter seinen Freunden vortrug und in welcher ihn anfangs nichts interessirte, nichts ihm verfänglich schien. Er hörte gleichgültig bis auf die Stelle, wo ein Verhältniß erwähnt wurde, das dem seinigen zu Melanie Schlurck außerordentlich ähnlich sah. Als er hörte, daß dort unten von einem vermeintlichen Bruder eines Mädchens die Rede war, das dieser durch Bildung, Eifer und Anstrengung sich erobern wollte, entfuhr ihm so laut jener unten vom Major gehörte Seufzer, daß sich Schmelzing umwandte und ihm drohte. Die Erzählung brach aber ab oder wurde leiser, weil wehmüthig. Er hörte nichts von dem ferneren Unglück Leidenfrost's. Er war in ein düsteres, trübes Sinnen verfallen. Erst als Dankmar [2206] seine Stimme erhob und wieder kräftig über die Zeit und die Menschen im Allgemeinen zu reden begann, verstand Hackert deutlich, was verhandelt wurde.

Dankmar's Rede konnte er sich natürlich nur in den Hauptideen merken. Wörtlich aber lautete sie, wenn wir wieder zu der Gesellschaft zurückkehren wollen, wie folgt.

[2207]
10. Capitel. Dankmar's Weiherede
Zehntes Capitel
Dankmar's Weiherede

Das Erbe der Gebrüder Wildungen, sprach Dankmar, erscheint also im Lichte der öffentlichen Meinung als ein ungerechter Rückgriff in den Lauf der Zeiten! Und doch ist es ein sprechender Beweis für den Kampf der Interessen, wie sie sich befehden, vernichten. Auch wir berufen uns auf dasselbe Siegel, von dem der Staat und die Kirche, das Allgemeine und die Gemeinde ihre Rechte herschreiben. Wir zeigen an einem grellen Beispiele, daß sich Gesetze und Rechte wie eine »ewige Krankheit« forterben.

Ob wir gewinnen, ob wir verlieren, die Zukunft wird es zeigen. Man wird Lücken in meinen Beweisführungen entdecken, man wird Papiere finden, man sucht sie wenigstens, die unsere Ansprüche entkräften sollen. Gesucht nur oder gefunden, ich schwinge mich auf einen höheren Standpunkt und will in dem Wettkampfe, den die berechtigten Gewalten aus ererbter Autorität täglich aufführen, einen neuen Mitstreiter auftreten lassen, eine Wiederherstellung jenes Ordens, von dem unsre Erbschaft im Grunde herrührt.

Wenn ich mich in der Geschichte umsehe und eine[2208] Macht vermisse, die das Individuum gegen das Allgemeine in Schutz nimmt, so muß ich beklagen, daß jene Idee der geistlichen Ritterorden an dem freilich begründeten Mistrauen der weltlichen und geistlichen Gewalt scheiterte. Philipp der Schöne von Frankreich ließ Hunderte von Tempelherren foltern, verbrennen. Man sagt, weil er sie um ihre Schätze beneidete. Treffender ist der Grund, wenn man sagt, weil er eine Ritterschaft fürchtete, die das heilige Grab nicht mehr behaupten konnte, sich nur noch auf Rhodus und später Malta hielt und in Frankreich allein über dreißigtausend in jedem Augenblick marschfertige Reisige zu gebieten hatte. Neben einer solchen von sich selbst abhängenden Wehrkraft konnte die königliche Gewalt nicht bestehen. Jeden Wink des Papstes konnte der König gewärtig sein von diesen mächtigen Tempelherren ausgeführt zu sehen. Aber auch die Geistlichkeit fürchtete die Tempelherren. Sie hatten im Oriente Duldung gelernt. Statt die Sarazenen zu vernichten, lernten die Templer das Menschliche, Gleichartige, Brüderliche an ihnen schätzen. Tempelherr und Emir schlossen Freundschaftsbünde und sogar die Religionen näherten sich. Diese Ritter hatten die Welt gesehen, ihr geistliches Kleid moderte nicht mit ihnen in der Klosterzelle, ihr Skapulier war das Schwert, sie tummelten sich durch das Leben mit Thatkraft und Selbstgefühl. Frei waren sie von dem Plagedienst der Observanzen. Sie konnten Messe lesen lassen auch in Gegenden, wo ein Fluch der Kirche die Glocken zu schwingen verbot und [2209] die Sakramente nicht verabreicht wurden. Sie waren auch der Geistlichkeit, der sie damit großen Eintrag thaten, zu frei, zu weltlich, zu weltmännisch und zu vorurtheilslos.

Die Templer wurden vernichtet. Die St.-Johannesritter setzten die Mission derselben fort. Leider fand man sie nur in der Eroberung des heiligen Grabes, in dem Kampfe mit den Türken. Dieser zuletzt unwahr gewordene Zweck bot kaum einen anständigen Deckmantel für den behaglichen Genuß der reichen Güter des Ordens. Wohlleben, Üppigkeit nahmen überhand. Nur die Malteser behielten ihren Beruf noch, als bewaffnete Missionaire zu wirken. Der Gedanke, Mittler zu sein zwischen Kirche, Staat, Gemeinde kam zu keiner Ausbildung mehr. Nur die Vehme, die heilige, unterirdische, war die letzte Ergänzung des wilden, rechtlosen, verworrenen damaligen Lebens gewesen. Die Gerichte der rothen Erde vertraten die Gerechtigkeit, die keinen weltlichen Hof mehr zu finden schien. Die geistlichen Ritterorden verfielen. Sie, die den Tempel von Jerusalem bewachen sollten, wußten nicht, daß man einen neuen Tempel im eigenen Herzen, einen Tempel der Menschheit gründen, den ausbauen, den bewachen mußte. Sie, die auf Johannes den Täufer verpflichtet wurden, d.h. auf den Geist, nicht auf den Buchstaben des Christenthumes, sie schoben für den Prediger in der Wüste, der vor Christus schon christlich dachte und lehrte, Johannes den Jünger unter und kamen nun immer weiter von ihrem Ursprunge, ihrer ersten Bedeutung ab.

[2210] Die geistlichen Ritterorden, die der Papst immer und immer wieder bis auf die neuesten Tage erwecken wollte, hatten sich überlebt. In einer neuen höheren Verklärung mußten sie neu geboren werden und dies geschah für die päpstlichen Interessen in der geistlichen Ritterschaft des Ignazius von Loyola. Die Jesuiten sind nicht weltlich, nicht geistlich allein, sie haben die Klöster verlassen und tummeln sich auf offnem Felde unter den Lebendigen. Es sind die neuen geistlichen Ritter der römischen Hierarchie. Sie haben Schild und Lanze mit dem letzten Ritter, dem Don Quixote von la Mancha, in die Raritätenkammer geworfen und kämpfen mit den Waffen des Geistes für die alte Welt im Gegensatz zur neuen. Die Philipp's von Frankreich, ohne oder mit der Möglichkeit, die Schönen beigenannt zu werden, wiederholen sich überall und zu allen Zeiten in Europa. In Portugal, Frankreich, Rußland vertrieb man die Jesuiten als eine geistbewaffnete Heeresmacht, die im Organismus des modernen, nur dem Fürsten gehörenden Staates keinen Platz gewinnen dürfe, wie die Templer nicht in Frankreich Platz greifen sollten. Man würde nur blind urtheilen, wenn man glaubte, daß Pombal und Choiseul die Jesuiten verfolgten aus Begeisterung für das Licht der Aufklärung. Nein! Die despotischen Alleinherrscher waren es, die ihre Macht nicht getheilt sehen wollten. Sie wollten sich auch sogar der Freunde entledigen, wenn sie ihnen mit der Zeit als Zweideutige oder zu Mächtige erschienen. Da, wo die Jesuiten den Machthabern eine verlorene Gewalt erwerben [2211] sollten, sind sie ihnen immer willkommen gewesen; Da aber, wo sie eine errungene Gewalt nun auch zu theilen wünschen, wird man immer geneigt sein, sie wieder zu entfernen.

Ich sprach von dem Tempel, den man in Jerusalem suchte und den man überall hätte finden können. Eine Vorstellung dieser Art war es, die die Freimaurerei entstehen ließ. Wie ein Neugeadelter hat diese Gesellschaft gesucht, ihre Ahnen sich aus der Vergangenheit weither zu verschreiben und sich Vorfahren beizulegen, die nie daran dachten, die Geheimnisse des Schurzfelles zu kennen. Diese Gesellschaft hat das Glück gehabt, in einer Zeit, wo Ungeschmack und Unpoesie die Welt regierte, sich einen gewissen Nimbus organischer Natürlichkeit zulegen zu können und nicht dem Fluche aller künstlichen Mysterien, der Lächerlichkeit vor Laien, anheimzufallen. Ihre Ceremonien erscheinen Vielen ehrwürdig. Das will etwas sagen in einer Zeit, die jede neue Religions- oder Sektenstiftung nicht nur sogleich mit der Polizei, sondern auch mit dem Witze verfolgt. Die Freimaurer haben das Glück gehabt, weder der Polizei noch dem Witze zu erliegen und mancher denkende Kopf sogar hat versucht, aus den Spielereien ihres Ceremoniels abstrakte Wahrheiten, wenigstens der guten Sitte, zu entwickeln. Die moralische Dehnkraft dieses weltlichen Ordens ist aber sehr gering. Sie geht über einen gewissen anständigen Egoismus nicht hinaus. Anständigen Egoismus nenn' ich Den, der seinem Jahrhundert nichts Anderes als Wohlthätigkeiten [2212] spendet. Eine rüstige polemische Kraft liegt in der Freimaurerei nirgends. Nur da, wo hinter der Maurerei Carbonarismus steckte, hat man von Märtyrern dieses Ordens gehört. Die Freimaurer haben, als Thatprincip, höchstens eine entschiedene Antipathie gegen die Jesuiten. Eben so ist es umgekehrt. Sie bekämpfen sich gegenseitig. Mit Recht, denn sie sind die entgegengesetzten Pole eines und desselben elektrischen Stabes. Daß die Freimaurer sich erhalten konnten, trotzdem, daß sie von der Vollendung und Besserung der Menschheit sprachen, verurtheilt sie allein schon im Auge des leidenschaftlichen Menschenfreundes, der da weiß, wie ein wahres Streben nach diesem Ziele sie sehr bald würde vernichtet haben. Oder soll uns diese Thatsache doch ermuthigen, an die Möglichkeit einer geheimen Verbrüderung, die nur geistige Zwecke verfolgt, noch glauben zu können?

Die Gefahr, einen neuen Geheimbund zu stiften, ist nicht gering. Wenn ich den Gedanken der Templer und der Ritter vom heiligen Johannes, dem Johannes der Wüste, dem Täufer, wieder aufnehme und den Bund der Ritter vom Geiste beantrage, so kenn' ich die gewaltigen Schwierigkeiten. Allein diese Schwierigkeiten sind zu beseitigen, wenn nur der Gedanke klar und es bewiesen ist, daß eine solche Bundesgenossenschaft der gleichen Geistesstimmung wünschenswerth, nothwendig erscheint. Eine Wahrheit, die einmal erkannt ist, bricht sich in jeder noch so schwierigen Form ihre Bahn. [2213] Welchen Ausweg soll uns unser jetziger Kampf bringen? Ich sehe Interessen, ich sehe Theorieen. Jene sind ebenso leidenschaftlich wie diese. Die Interessen und die Theorieen, beide beanspruchen ein ursprüngliches Recht. Was läßt sich dagegen einwenden? Soll Blutvergießen entscheiden? Ich bin nicht für das Blut. Ich weiß wohl, die Geschichte ist aus dem Blute erwachsen. Aber der moralische Mensch kann, darf nicht sagen: Ich will diese oder jene Wahrheit dadurch beweisen, daß ich ihr diese oder jene Menschen zum Opfer bringe! Kein Einzelner kann Das sagen, was eine Gemeinde, ein Staat, ein Volk sagen darf. Solche Stimmungen der Gewalt hängen auch von der größeren oder geringeren Entzündlichkeit der historischen Krisen ab. Der Denker, der sittliche Mensch, der sich nur auf sich und die Menschheit bezogen fühlt, kann nicht Blut predigen, nicht fordern, daß aus der Vernichtung des Lebens Leben sprieße. Die Interessen der Existenz sind berechtigt. Die Menschen, die uns die Träger der Irrthümer scheinen, leben wie wir. Allen droht einst das Maß der ewigen Vergeltung. Was erlaubt uns wol, vorzugreifen und die Geschichte mit Gewalt zu bestimmen? Mag's ein Attila, ein Napoleon thun! Mag's ein Timoleon oder ein Ravaillac thun! Der Pranger, das Blutgericht, vielleicht eine Ehrensäule wird's ihm lohnen. Sein Name wird bleiben mit goldenen oder mit schwarzen Buchstaben. Das ist die ewige Persönlichkeit, die nicht aussterben wird! Aber wenn man zu uns kommt in unsre Denkerwüste und frägt: Was sollen wir thun, um in's [2214] Himmelreich zu kommen? Was sollen wir thun, um unsern Beruf als Menschen und Staatsbürger zu erfüllen? Dürfen wir da sagen: Dies und Das ist richtig, Dies und Das ist nothwendig, ergreift diesen Stab oder diese Fahne? Man sagt es alle Tage, man lehrt und predigt so an allen Straßenecken, aber wir kommen nicht weiter damit. Die Theorieen bleiben unpraktisch und die Interessen regieren doch die Welt.

Wenn mich Einer frägt, was soziale Wahrheit ist, ich weiß es nicht. Ich kann den möglichen communistischen Staat nicht beweisen. Und doch will ich auch nicht rathen, daß man im gemeinsamen Verkehr des Ideen- und Vorsatzaustausches sich mit Allgemeinheiten begnüge, wie die Freimaurer! Bilde dich selbst, dann bildest du die Welt! Bessere dich selbst, dann wird die Welt besser! Das sind Trivialitäten, gefährliche Gemeinplätze sogar und ganz ohnmächtige den Jesuiten gegenüber! Die wissen Alles in nächster Nähe zu fassen, die erblicken überall die Möglichkeit einer Anwendung ihrer Principien, die treten sogleich in medias res und haben Gift, Dolch, Strang, Bibel, Himmel und Hölle, Dialektik und Weisheit sogar zur Hand und wissen sie anzuwenden. Das jesuitische Gegengift, das die Freimaurer bieten, ist laues Wasser. Man wäscht damit seine Hände wie in lauester Unschuld und bleibt ein aparter selbstzufriedener Egoist.

Ich sehe, die Menschheit ist zersprengt, nicht nur den Interessen, auch schon dem Geiste nach. Wir haben eine Religion, die christliche, die in ihrer eigentlichen [2215] Bedeutung nur noch Wenige bindet. Man sieht sich in den Kirchen, man befolgt den Ritus seiner Confession, man erklärt sich auch leidenschaftlich für den Namen des Heilandes, doch legt sich Jeder die Bedeutung desselben anders aus und eigentliche Christen gibt es gar nicht mehr. Also gerade diese Auslegung ist das Wichtigste, um diese Auslegung streitet man sich und vergoß um sie sogar Blut. Im Staate sehen wir uns erst dann, wenn uns der Kampf zusammenführt. Wir rufen immer erst mit der Trommel, mit dem Lärmsignal der Gefahr, wo schon die gute Sache halb verloren ist. Da ist es für die Gleichgesinnten zu spät! Da sind gleich Tausende, die gerade für den Kampf nicht abkommen können, Tausende, die uns mißverstanden, Abertausende, die in einer Lage sind, heucheln zu müssen. Das ist der wahre Jammer der Zeit, diese Lüge, diese Zaghaftigkeit, dieser Scheindienst der Wahrheit, eine Folge der völligen Nichtorganisation der Geisteskämpfe. Erst auf dem blutigen Schlachtfelde erkennen wir Den, der neben uns im verschlossenen Visir kämpfte. Und Den, der mit der Fahne in der Hand niedersank oder der die Bresche des feindlichen Lagers siegreich stürmte, Den hat man sonst vielleicht für seinen Gegner gehalten!

Ich will einen geheimen, keinen heimlichen Orden stiften. Die Gesellschaften, aus deren Schooße die Verschwörungen und Revolten hervorzugehen pflegen, sind heimliche Gesellschaften. Die Jesuiten- und Freimaurerbünde sind geheime, nicht heimliche. Ihr Ritus bringt es wol mit [2216] sich, daß sie nicht Jeden zulassen, der auf ihre Symbole nicht vereidigt ist, aber ihr Wirken, so versteckt es ist, ist nicht eigentlich heimlich, auch ihre Symbolik ist es nicht. Sie sind geheim, ohne unzugänglich zu sein. Ich will gar nicht unmöglich machen, daß man von Diesem oder Jenem sage: Er ist Einer von den Rittern und Reisigen vom Geiste! Nur dürfen, wenn die Genossen einen Convent halten, nicht Fremde, nicht Laien zugegen sein. Das Dunkel soll auch anziehen und schützen.

Jeder Geheimbund braucht erstens einen Gedanken, zweitens Symbole, drittens Hülfsmittel.

Die Ritter vom Geiste sind die neuen Templer. Sie haben den Tempel zu schützen und zu bewachen, den die Menschheit zur Ehre Gottes auf Erden zu erbauen hat. Ihre Waffe ist der Geist. Ihr Leben ist die innere Mission eines Kreuzzuges gegen die Feinde dieses Gottestempels. Der Geist als Lehre ist die Wissenschaft. Der Geist als Glaube ist die Gesinnung. Den Geist, der dem Verstande entstammt, kann Niemand bannen, Niemand zum einheitlichen Gedanken eines Bundes machen wollen. Der Geist aber, der dem Herzen entstammt, ist der Wecker zu den edelsten Verpflichtungen. Die Religion hat nun Formen, um unsre sittlichen Verpflichtungen, der Staat Formen, um unsre politischen schon von vornherein gefangen zu nehmen. Die Religion des Geistes sollte keinen solchen bindenden Cultus haben dürfen? Ich sage, gebt dem Geiste einen Cultus und in hundert Jahren ist die Welt weiter, als wohin wir sie bei der jetzigen Verworrenheit [2217] der Zustände erst nach einem halben Jahrtausend werden kommen sehen. Religion, das Bindende, das Gleichgesellende, liegt in unsrer Epoche. Überall zeigt sich ihr Bedürfniß. Nur befriedigt es nicht auf dem alten Wege! Nur nicht innerhalb des alten Zwanges und der alten Dogmen! Man binde sich auf den Glauben unsrer Freiheit, auf den Glauben des Geistes, auf die gleiche Gesinnung! Aus solcher Grundlage, aus so geackertem, gesäetem Boden muß eine gute Frucht hervorgehen.

Ritter vom Geiste sind Mitglieder eines geheimen Bundes, den ich lieber Brüder vom Geiste nennen würde, wenn ich nicht streitbare gewaffnete Brüder begehrte. Ich will einen Bund von Männern, die ihr Leben, ihre nächsten und entfernten Pflichten nur auf ein Ziel beziehen, den endlichen Sieg von Wahrheiten, die leider noch immer in Frage stehen, noch immer von Willkür beanstandet werden. Dieser Bund soll den Kampf der Zeit nicht aufheben zu wollen sich anmaßen, wol aber der Aufgabe vertrauen, diesen Kampf abzukürzen. Man hat den Reubund lächerlich gefunden. Und doch ist sein Einfluß nicht gering. Er wird nicht ruhen, bis er mindestens die Wahlen in seinen Händen hat. Laßt uns einen größeren, einen Treubund stiften dem Geiste! Die Wahrheiten liegen auf der Hand; aber Tausende entziehen sich ihnen! Die Blätter der Geschichte sind aufgeschlagen. Man will sie nicht lesen. Wir wissen, wohin die Menschheit steuert, und stecken falsche Flaggen, falsche Leuchtflammen auf. Oder sollte es so schwer sein, das Wesen der [2218] Gesinnung auf einige große Wahrheiten zu abstrahiren, die feststehen, wie den Völkern Jahrhunderte lang die Wahrheiten der Bibel feststanden? Es mögen nur wenige Sätze sein. Aber einige Tausend Menschen in allen Theilen der Erde auf diese wenigen Sätze in Eid und Pflicht genommen, macht, daß gewisse Gebäude umstürzen wie Aschenhaufen, zerreißt dichte Vorhänge wie Spinneweben, lockert die Lüge von selber ohne Handanrühren. Jetzt gewinnt man plötzlich Menschen, die sonst ruhten, für die Arbeit des Geistes. Jetzt sieht man Kämpfer, die kämpfen müssen aus Ehrgefühl! Jetzt wird es heißen: Nicht mehr beten für die gute Sache sollt Ihr, sondern auch arbeiten für sie!

Die Ritter vom Geiste streiten, sichtbar und unsichtbar, allein für die Gesinnung, für nichts also, was sich als positive Schöpfung ankündigt. Daß es Republikaner, Freigeister, Monarchisten sein sollen, sag' ich nicht, ebensowenig was sie sonst sind. Sie haben nur zu schwören, daß sie Alles thun werden, was in ihren Kräften liegt, um z.B. der Monarchie, wo sie herrscht, diejenigen Bedingungen vorzuschreiben, die es möglich machen, sie der Republik vorzuziehen. Es liegt in der Natur einer Zeit, die mehr aufzuräumen, als zu bauen hat, daß ihre Wahrheiten mehr negativ als positiv sind. Die Ritter vom Geiste werden sich klarer über Das sein, wozu sie sich nicht verwenden lassen, als über Das, was sie von selber wollen. Die Gewissenscollisionen, der Fluch unsrer Zeit, müssen seltner werden. Ein Geistesbruder, der in seiner [2219] Überzeugung gebunden ist, wird sich nicht zu Dingen hergeben, die seinem Schwure widersprechen. Er wird für das Opfer, das er zu bringen hat, vom Orden schadlos gehalten. Die Apostasieen, die Verfolgungen, in denen die Apostaten gehässiger sind als Alle, werden gebrandmarkt und seltener werden. Man wird nicht mehr eine Meinung für sein Haus und eine für den Staat, eine für sein Gewissen und eine für seinen Erwerb haben. Die Anlehnung an Gleichgesinnte macht stark. Das Vorbild edler Männer reizt zur Nachfolge und eine unreine, niedrige Seele, die sich des glänzenden Schildes der hohen und reinen Gesinnung bedient, wird nicht mehr Bestand haben und Verwirrung unter die Kämpfenden bringen können.

Wie der Tempel der Menschheit beschaffen sein muß, um Raum für den Glauben reiner Herzen, für Freiheit und Glück des irdischen Lebens zu gewähren, kann man mit dem Griffel des Malers nicht anschaulich machen. Aber der Architekt kann uns schon soviel sagen, er wisse, was Harmonie, was Ebenmaß ist, er wisse, was in den Grundbau und was in die Kuppel gehört. Die freie Presse ist vom Fundamente, während das Recht der Arbeit in die Kuppel gehört. Nicht was wir bauen, wissen wir; nur wie wir zu bauen haben, ist uns klar nach ewigen und in der Brust eingeschriebenen Gesetzen. Der Tugendbund unter Napoleon wurde nicht gestiftet, um Deutschland diese oder jene Verfassungsform zu geben, nicht um den fremden Eroberer vom Boden des Vaterlandes zu verjagen, sondern nur um diejenige Gesinnung zu erzeugen, die von [2220] selbst auf die Vaterlandsliebe, die politische Tugend und jene unausgesprochnen Zwecke führte. Wohlan! Auch die Ritter vom Geiste kämpfen nur für die endliche Vernichtung des von der Theorie längst verworfenen und in der Praxis förmlich unvertilgbar scheinenden Alten. Dieser Bund soll aufräumen und das rasch.

Der Katechismus der Grundwahrheiten des neunzehnten Jahrhunderts ist so groß nicht. Man hat über des deutschen Volkes Grundrechte sich geeinigt, man hat einst in Frankreich die Menschenrechte zusammengefaßt, als die Revolution dort noch gehalten und eine historische Offenbarung war. Die Grundrechte aller Völker sind den Rittern vom Geiste Grundpflichten. In schwierigen Dilemmen, die eine Tagesfrage wohl veranlassen könnte, würde unbedingter Gehorsam gegen die Vorschriften des höchsten Ordens-Kapitels unerläßlich sein.

Ein Orden muß nicht nur Organisation, sondern auch Symbole haben. Wohl weiß ich, daß künstliche Grillen ein historisches Wachsthum nicht ersetzen. Dennoch war Alles in dieser Art historisch Gewordene das erste mal auch nur ein begeisterter Einfall. Als Jesus bei Tische saß und zum letzten male mit den Seinen zur Nacht speiste, ergriff er das Brot und den Wein und setzte diese beiden ihm naheliegenden Zufälligkeiten als Erinnerungssymbole seines Wirkens und seines Lebens ein, die heilig geblieben sind. Er sah sein Ende in der Nähe, er gab das Brot zum Gedächtniß seines Lebens, den Wein zum Gedächtniß seines Todes. Das Kreuz am Mantel der [2221] Templer, so einfach, ließ diese bald erkennen. Die Devisen des Mittelalters, die oft ein ganzes Geschlecht durch alle Menschenalter begleiteten, waren Eingebungen des Augenblicks. Ein Wappen entstand zufällig und den Zufall heiligte die Gewohnheit. Die Freimaurerei ist künstlich ersonnen. Lessing hat bewiesen, daß ihre Symbolik durch einen Wortwitz entstanden ist (Masonie statt Massenie) man hat eine Symbolik sich hier sogar, wie man zu sagen pflegt, aus den Fingern gesogen und sie hat sich erhalten. Ich will die Symbolik, die ich mir für die Ritter vom Geiste ersonnen habe, nicht heute schon ausführlicher erörtern, nichts anführen von der Stufenfolge der Grade und Ämter, die ich den alten Templern nachzubilden gedachte; ich will nur noch, da es zu spät wird, von dem dritten Punkte sprechen, von den Mitteln.

Ohne äußere Mittel fürcht' ich, kann auch dieser Orden nicht bestehen. Wohlthätigkeit, Unterstützung der um ihrer Überzeugung Willen Leidenden gehört ganz eigentlich zu seiner Aufgabe. Die Gefahren, in die sich der muthige Volkstribun, der gewissenhafte und überzeugungstreue Beamte stürzt, sollen verringert werden. Der Jüngling soll nicht mehr zittern, einen Weg einzuschlagen, der ihm vielleicht unmöglich macht, die Wahl seines Herzens an sein Leben zu ketten, einen greisen Vater, eine hinterlassene Mutter zu ernähren. Mit Freuden bieten wir Beide, Siegbert und ich, die Reichthümer, die uns vielleicht zufallen dürften, zu diesem großen Zwecke dar. Es ist leider nicht eine einzige höhere Wahrheit [2222] in der Welt nachzuweisen, die ganz ohne irdische Beihülfe zum Siege gelangte. Auch die Apostel lehrten: Schicket Euch in die Zeit, denn es ist böse Zeit! Als Mohammed anfangs eine entsagende Gotteslehre predigte, sammelte er wenig über ein Dutzend Bekenner um sich. Als er sie mit irdischen Elementen mischte und sie auf die Stammesinteressen der arabischen Häuptlinge bezog, wuchs sein Anhang von Tag zu Tag um Tausende und Abertausende. Vom zweideutigen Siege der Reformation ganz zu schweigen! Der Orden der Ritterschaft vom Geiste kann die Güter dieses Lebens nicht entbehren. Der Gegner muß mit derselben Waffe, die ihn so stark macht, besiegt werden. Gleichviel, ob wir dem Orden eine harmlosere oder strengere Symbolik geben, ob wir an die Jesuiten oder die Freimaurer anknüpfen: der Staat wird uns verfolgen, er wird Alles aufbieten, uns mit Stumpf und Stiel auszurotten. Wie vermeidet man da wenigstens das Übermaß der Gefahr? Wie parirt man wenigstens den Stoß des Gegners? Wir sind fünf Bekenner; schließt sich Egon von Hohenberg uns an, so sind wir sechs. Sechs brave Menschen haben sechs brave Freunde! Mit zwölf Aposteln hält sich eine Lehre. Kann uns das Kreuz dort über uns erschrecken? Ermuthigen soll es uns! Ich scheine Euch fortgerissen von meinem Gefühl, aber ich sage Euch: der Tod schreckte mich niemals, wenn ich ihn mit einem Freunde erlitte. Die Templer starben in Masse und sangen freudig, vielstimmig, todesmuthig aus den Flammen. Schon als Knabe tröstete mich Friedrich von [2223] Baden, der neben meinem geliebten Konradin auf Neapels Blutbühne stand. Sie starben im Bunde, als Freunde, als Brüder. Doch denk' ich ... bis zum Tode wird es nicht kommen und was die Gefangenschaft betrifft, so wäre einer der ersten Paragraphen unsres Ordens Der, daß wir Die, die um den Orden leiden, zu befreien haben. Gelingt es auch nicht immer, so ginge doch Niemand in den Kerker, ohne daß die Aussicht auf eine rettende Hand, wie die Apostel die Hoffnung auf Engel, ihn begleitete. Eine Nebelgestalt in weißem Geistergewande, die Hoffnung wenigstens, würde mit ihm durch die geöffneten eisernen Pforten schlüpfen und traulich ihn trösten, wenn er über die Folgen seiner redlich erfüllten Ordenspflichten muthlos verzweifelte und ihn nur das Eine emporhalten könnte:

Die Ritter vom Geiste werden dich nicht verlassen, du wirst sie hören, ihre Nähe empfinden; sie wachen über dich!

Dankmar endete mit diesen Worten und es trat eine lautlose feierliche Stille ein.

[2224]
11. Capitel. Das Gespenst
Elftes Capitel
Das Gespenst

Hackert lag und horchte wie betäubt. Ergriff ihn schon die begeisterte Einsetzung einer großen Thatsache an sich, hatte sein kühler, verneinender Sinn gehofft, man würde nun widersprechen, alle diese Vorschläge für unmöglich erklären, so beunruhigte ihn noch mehr, daß dies nicht geschah, daß Niemand zweifelte, Niemand widersprach. Schon begann man die nähern praktischen Möglichkeiten dieser Idee zu erwägen, als sich Hackert, der fast träumend, lauschend und stierend dalag, von Schmelzing's Hand berührt fühlte.

Was haben Sie? Wie sehen Sie denn aus? fuhr Hackert erschrocken auf.

Ängstlich, mit halbgeöffnetem Munde, starrte Schmelzing in den dunklen Hintergrund und fragte lauschend:

Haben Sie nichts gehört?

Sie hören Gespenster, die hinter dem Gelbsiegellack da im Korbe stecken! Sie sind überhitzt, trunken, Schmelzing! Scheren Sie sich zum Henker!

Schmelzing zeigte die lange Pergamenttafel, die er vollgeschrieben hatte. Er ließ sie auseinanderfallen, wie Leporello Don Juan's Register.

[2225] Sind Ihre Spitzbuben fort? fragte Hackert. Fürchten Sie sich jetzt, daß wir gehen werden?

Indem hörte aber auch Hackert in der Ferne das Knistern eines Fußgängers auf den steinernen Fußböden.

Schmelzing bedeutete ihn zu schweigen.

Kommen Sie! winkte Hackert. Wir wollen sehen, was Das ist.

Um's Himmelswillen nicht, ich bleibe hier, flüsterte Schmelzing.

Indem erlosch blitzartig auch das flammende rechte Kreuz, an dem Schmelzing die Gespräche nachgeschrieben hatte, sodaß jetzt nur noch das mittlere leuchtete. Man sprach unten lebhaft durcheinander und brauchte die Ausdrücke »Geheimbund« und »Bundesglieder« so oft, daß Hackert in Besorgniß gerieth, Schmelzing würde wieder anfangen, an der richtigen Stelle zu lauschen, während er doch jetzt glaubte, auf seinem Pergamente die wichtigsten Geheimnisse dunkelschleichender Intriguen notirt zu haben.

Ich schreie laut auf, sagte Hackert, wenn Sie nicht kommen und mit mir dem Gespenst nachstellen!

Schmelzing legte ihm die Hand auf den Mund und flüsterte:

Gehen Sie! Ich bleibe hier.

Bester Freund, Sie haben die Umtriebe eines Offiziers, eines französischen Emissairs und wie es mir schien, einer dritten hohen Person in der Tasche; nun kommen [2226] Sie und machen Sie mir auch eine Unterhaltung. Ich spreche gern mit Geistern. Wir wollen das Gespenst anreden.

Nicht um hundert Thaler, sagte Schmelzing.

Jetzt fiel von einem obern Fenster, das in diese Halle führte, sogar noch ein Lichtschimmer.

Schmelzing zuckte zusammen ...

Es steigt hinauf, zeigte Hackert, da! Ich wette, das ist einer von den ruhelosen alten Johannitern, die durch den großen Wildungen'schen Proceß aus dem Grabe getrieben wurden und nicht anders erlöst werden können als durch einen ledigen Junggesellen von vierzig Jahren, der eine weiße Halsbinde tragen muß und eine gelbe Weste mit acht Knöpfen. Erlauben Sie, Schmelzing! Eins, zwei, drei ...

Damit zählte Hackert zu Schmelzing's Entsetzen dessen Westenknöpfe.

Schmelzing riß sich von ihm los.

Da! Da! rief Hackert. Eben sah ich das graue Männchen! Da oben an dem Fenster. Es steigt in's Archiv hinauf. Sehen Sie doch, Schmelzing! Es steht still und grüßt Sie! Schmelzing, der alte Ritter kennt Sie! Er hat eine Nachtmütze auf und schwenkt sie ganz ehrerbietig vor Ihnen! Danken Sie doch!

Schmelzing wußte nicht, wie ihm geschah. Er sah nichts mehr. Selbst der Lichtschimmer in der Ferne war verschwunden. In demselben Augenblicke erlosch im Nu neben ihnen die dritte Flamme. Die Gesellschaft unten [2227] schien sich gleichfalls entfernt zu haben. Es schlug ein Viertel auf zwölf Uhr vom Rathhause. Alles war dunkel und gespenstisch still um sie her.

Unwillkürlich faßte Schmelzing Hackert's Hand und flüsterte winselnd:

Nun wird's schön! Alles finster! Wo haben Sie die Laterne?

Kommen Sie nur! Wir haben ja Streichzündhölzer!

Was machen wir, daß wir davonkommen? Wir müssen hier übernachten.

Nein! Hier ist die Laterne!

Hackert zog Schmelzingen, als wollte er die Laterne ihm in die Hand geben. In Wahrheit aber führte er ihn nur an die Treppe, die sie herabgestiegen waren.

Wo sind Sie? Sie lassen mich ja allein, Hackert!

Gerade aus!

Ich falle.

Es ist die Treppe! Steigen Sie doch!

Die Laterne!

Hier! Hier!

Hackert besaß auch in der Sehkraft etwas von Katzennatur. Er konnte sich im Dunkeln orientiren. Es war ihm ein Leichtes, den Weg zurück zu finden, während Schmelzing taumelte, überall anstieß und nur von Hackert's leitender Hand zurechtgeführt werden konnte.

Oben auf der Treppe sagte Hackert:

Ich steige jetzt höher, Schmelzing! Folgen Sie?

Nicht um funfzig Thaler!

[2228] Sie lassen sich ja schon handeln! Vorhin nicht um hundert? Kommen Sie!

Nimmermehr. Ich beschwöre Sie, Hackert! Hackertchen, führen Sie mich an die Thür.

Wenn Sie zärtlich sein können, Schmelzing, bin ich jedes Opfers für Sie fähig. Hier geht der Weg! Da! Den Fuß ausgestreckt! So! Die Stufen abwärts! Finden Sie sich zurecht?

Ja, Hackert!

Hier ist ja die Vorhalle. Bei Licht waren Sie so muthig. Sie müssen schreckliche Sachen aufgeschrieben haben.

Das hab' ich!

Pax wird sich freuen –

Und wie!

Halt!

Was ist?

Hörten Sie nicht oben knarren?

Eine Thür ...

Das ist ein Ritter, der einmal gefänglich eingeschlossen war, weil er eine Nonne liebte, die blond war. Diese geistlichen Ritter durften keine Nonnen lieben, die blond waren.

Kommen Sie! Ich höre Eisen ...

Wenn es zwölf schlägt, hört man den Ritter an der Kette klirren und die blonde Nonne ächzen, weil die auch noch nicht erlöst ist. Sie wartet auf einen Jüngling, der durch Zufall dreimal: Kommen Sie! sagt! Wenn er zum dritten [2229] male hier über dem Rathskeller sagt: Kommen Sie! dann geschieht etwas.

Der unglückliche Schmelzing mußte nun, er wollte oder wollte nicht, verstummen. Selbst sein wiederholtes: Kommen Sie! konnte ja nur Unheil bringen. Er zerrte Hackerten, der ihn völlig verwirrte, mit Gewalt vorwärts.

Sie werden noch in das Grab der Nonne fallen, die hier enthauptet worden ist, flüsterte Hackert. Hier sind alle Leichensteine jetzt aufgedeckt. Nehmen Sie sich in Acht.

Schmelzing fürchtete sich aber nicht mehr. Er sah die offenstehende Thür, die über die kleine Holztreppe in den Hof führte. Daß er sie, als er den Oberkommissair begleitet hatte, selbst verschlossen und nun offen fand, entsetzte ihn freilich, allein er fühlte die Nachtluft, sah den Himmel wieder und war schon im Begriff, die Holztreppe hinabzusteigen.

Jetzt, sagte Hackert, irren Sie sich, Schmelzing, wenn Sie glauben, daß ich eine nächtliche Visitation dieser Registraturen irgend einem Geiste oder Men schen gestatte! Im Hause ist Jemand. Der Lichtschimmer konnte Täuschung sein, das Knistern auf dem Sandsteine konnte von den Ratten kommen, deren ich gräuliche gesehen habe – aus Schonung für Sie schwieg ich über die Augen dieser Ratten, Schmelzing – aber diese Thür steht offen. Ich muß wissen, wer hier nächtliche archivalische Studien macht.

Lassen Sie Das, bedeutete Schmelzing, der jetzt an der Luft in dem stillen Rathhaushofe neuen Muth geschöpft hatte. Lassen Sie Das! Man würde immer in die Lage [2230] kommen können, sagen zu müssen, was man hier wollte. Die Entdeckungen, die ich machte, sind zu wichtig –

Hackert hatte aber schon seine Stiefeln ausgezogen und sie unter den Arm genommen.

Was thun Sie? sagte Schmelzing erschrocken.

Leben Sie wohl, Schmelzing! antwortete Hackert. Ich will die blonde Nonne, wenn es geht, selbst erlösen und zu dem Ritter dreimal sagen: Kommen Sie!

Schmelzing's Bitten half nichts. Hackert ersuchte ihn, hier wenigstens an der Thür Wache zu stehen. Er war dann schon unterwegs, gleichviel ob Schmelzing blieb oder nicht.

Auf den Socken schlich er sich den Weg zurück, bestieg wieder die Stufen, die emporführten und sah sich bei jedem Absatze der Treppe um, ob er nirgends Lichtschimmer entdeckte.

Im ersten Stock sah Hackert nichts. Auch im zweiten nichts.

Im dritten über sich hörte er das Knarren einer Thür.

Er schlich vorsichtiger ...

Als er oben im dritten Stockwerk war, spähte er nach dem Lichtschimmer. Er entdeckte nichts. Er mußte sich in Acht nehmen, weiter zu schreiten. Bei irgend einem Fehltritt konnte er von den verwahrlosten Brüstungen herabstürzen. Er tastete sich weiter und prüfte erst jeden Schritt mit einem Fuße, ehe er ihn mit beiden machte.

Er war auf einem Gange.

[2231] Nun hörte er hüsteln. Dies Hüsteln schien ihm bekannt zu sein ...

In dem Augenblick mußte der nächtliche Besucher dieser Räume wol seine Laterne anders stellen. Die Seite des Lichtschimmers fiel auf den Gang, auf dem sich Hackert befand. Hackert fand sich dadurch zurecht. Er kannte diese Räume, die er oft im Auftrage Schlurck's und in Begleitung des städtischen Archivars, der ein sehr vertrauter Freund des Justizraths war, besucht hatte. Hier zur Linken ging es in die Aktensammlung über vormundschaftliche Angelegenheiten ...

Wie er näher kam und von einer dunklen Stelle aus in ein kleines Gemach sehen konnte, erkannte er auf den ersten Blick seinen grämlichen alten Gegner im Schlurck'-schen Hause, den vertrauten Rathgeber der ganzen Familie des Justizraths, Bartusch ... Der nächtliche Forscher im Archiv wandte ihm zwar, in Papieren blätternd, den Rücken, aber an seinem grauen Rock erkannte er den alten Schleicher sogleich.

Bartusch blätterte eifrig in Akten, die er bald aus einem geöffneten Schranke herausnahm, bald wieder zurücklegte ...

Anfangs glaubte Hackert, ganz erfüllt noch von Dankmar's Vortrag, tief ergriffen von der hohen Bedeutung, die er jetzt den Ansprüchen der Wildungen'schen Familie beimessen durfte, daß Bartusch, in Schlurck's Auftrage, vielleicht Papiere suchte, die auf einen für den Justizrath so wichtigen Proceß Bezug hätten.


[2232] Dann aber sagte er sich: Warum besucht er diese alte Registratur bei Nacht? Was wäre dabei Geheimes und Ängstliches zu beobachten?

Er bewunderte den Muth Bartusch's, der sicher hier, der Schmelzing'schen Erzählung zufolge, schon zum zweiten male erschien.

Sollte er, dachte er sich, sollte er die Absicht haben, Dokumente zu vernichten? Was sucht er so eifrig? Was schüttelt er so den Kopf? Ist es nicht das rechte Papier, was er eben so emsig durchlas?

Bartusch ging an einen andern Schrank, an dem er ein Bund Schlüssel probirte.

Diese Schlüssel gab ihm der städtische Archivar! sagte sich Hackert. Oder er stahl sie ihm. Halt – die Rathsdienerin Spieß vielleicht? Oder sie verabredeten sich Beide, daß er sie sich selbst nahm, und der Archivar so that, als sähe er es nicht. Wenn Schlurck's Champagner strömt, fließen alle Bedenklichkeiten mit ihm. Man ist ja ehrlich, man wird ja nur betrogen! Schnöde Welt! Die Blinden gelten alle für gut und sind meist die durchtriebensten.

Die Laterne war hinterwärts auf einem Fußschemel stehen geblieben.

Noch besann sich Hackert auf seine eigenen Erinnerungen an die Angelegenheiten der Häuser und Liegenschaften, die Schlurck verwaltete, und malte sich für gewiß aus, daß dieser nächtliche Besuch mit dem Johanniter-Processe in Zusammenhang stand, sann und grübelte hin [2233] und her, ob er den Gebrüdern Wildungen hier nicht auf's neue von Nutzen sein könnte, als er erstaunte, auf dem Schranke die Jahreszahl 1825 geschrieben zu sehen. Was konnte ein so junges Datum mit jenem Processe zu thun haben!

Auch besann er sich, daß er sich sonst hier immer nach vormundschaftlichen Papieren umgesehen hätte.

1825!

Es war ihm immer gewesen, als müßte dies sein Geburtsjahr sein! Obgleich er in den Angaben seines Alters bald diese, bald jene Zahl nannte, liebte er doch die Zahl: 1825! Er kannte nichts von seiner Geburt, von seinen Eltern, nichts von seiner Heimat. Allein soviel konnte er berechnen, daß er, wenn er etwa sechs bis acht Jahre alt war, als er aus dem Waisenhause zu Schlurck gekommen, wol um das Jahr 1825 geboren sein mußte.

Nicht, daß er annahm, Bartusch suche nach Papieren, die ihn beträfen. Aber etwas mächtig Verführerisches lag darin, daß er gerade sein vermeintliches Geburtsjahr, 1825, über dem Schranke erblickte. Sein Entschluß stand so wie so fest ...

Bartusch hatte ein Papier in der Hand. Er überflog es und laut entfuhr ihm ein Ah! Das ist es! Er las noch einmal, nickte dann mehrmals und wollte selbstzufrieden eben den Schrank zuschließen. Vorher steckte er das Papier in die linke Brusttasche. Eben schlug das Schloß in dem Schrank wieder zu, als er sich plötzlich im Dunkeln fand. Bartusch zuckte erschrocken auf. Im Nu hatte ihn [2234] eine kräftige Hand umklammert. Todesschreck schnürte dem Alten die Kehle zu. Er wollte schreien. Der Ton erstickte ihm. Er fühlte eine Hand, die ihm das Halstuch fast mörderisch zusammen würgte. Aus seiner Brusttasche wurde von einem Unsichtbaren das eben gefundene Papier entrissen. Halb ohnmächtig, unvermögend zu schreien, lag Bartusch rücklings auf der Erde. Der Gedanke an die Erzählung der Bibel von einem nächtlich auf dem Wege mit Jakob ringenden Engel mochte ihm in der grauenhaften Einsamkeit eingefallen sein. Kannte er die Erzählung nicht, so war dieser ungeahnte Überfall nicht minder schauerlich und gespenstisch genug für ihn ...

Schmelzing harrte inzwischen unten in der That noch seines Kameraden. Er fürchtete sich, durch die mehreren Höfe und Durchgänge, die noch bis zur Schildwacht am Eingange des Rathhauses zu durchwandern waren, allein zu gehen. Es schlug halb zwölf Uhr. An eins der leeren Weinfässer lehnte er sich, um Luft zu schöpfen. Jeden Augenblick erwartete er irgend einen Schrei im Innern des unheimlichen Hauses, irgend einen Hülferuf zu hören. So stand er zitternd, bis Hackert plötzlich am Rande der Treppe erschien.

Pst, Schmelzing! Wo sind Sie?

Hier!

Leben Sie denn noch? Ha! Die Nonnen!

Herr Gott!

Die Ritter! Die Geister! Fort! fort! Kommen Sie! Die blonde Nonne hatte wirklich keinen Kopf!

[2235] Hackert!

Sie kommt uns nach! Eilen Sie! Schmelzing, die Polizei erlebt mehr als gewöhnliche andere Men schen. Grauenvoll!

Damit zog Hackert den taumelnden, von der Luft und dem Wein und dem Schrecken an Hand und Fuß zitternden Schmelzing vorwärts. Die Höfe, die sie im Flug durchschritten, widerhallten. Durch einige Durchgänge mußten sie an den Wänden sich streifend. Da und dort ein mattes flackerndes Lämpchen. Sie kamen an die offene Thür des Rathhauses, die immer von einer Feuerwache in der Flur, von einer Militairwache am Eingange besetzt war. Die Feuerwächter kannten die beiden neuen Polizeiagenten hinlänglich und ließen sie um so mehr passiren, als sie überdies noch eine geheime Parole sagen konnten.

Nach einer halben Stunde kam ein graues Männchen durch den Hof geschlichen, wandte sich ächzend und stöhnend nicht durch den Thorweg auf die Straße, sondern schlich sich in eine offene Thür, wo eine Stiege zu einem Fenster führte, in dem noch Licht brannte. Dort wohnte der Rathsdiener Spieß, der eine hübsche junge Frau hatte, die an Abenden, wo ihr Mann zu Pfändungen und gerichtlichen Executionen in der nächsten Umgegend reiste und zuweilen eine Nacht ausblieb, immer länger Licht zu haben pflegte als gewöhnlich.

Bartusch, der das geheimnißvolle Wort der Polizei nicht kannte, wäre schwerlich an der Feuer- und Thorwache hindurch gekommen. Wir glauben, daß er mit dem [2236] Glockenschlag zwölf sich anschicken wird, einen beruhigenden Thee zu trinken, den ihm die Rathsdienerin gewiß mit größter Gefälligkeit kochen wird, da sie und ihr Gemahl diesem guten vielvermögenden Herrn Bartusch einen solchen Posten und hier in dem ehrwürdigen alten Rathhause die bequemste freie Wohnung verdankten.

[2237]
12. Capitel. Der Sechste im Bunde
Zwölftes Capitel
Der Sechste im Bunde

Am Morgen nach diesem ereignißreichen Tage und der ihm folgenden ernsten Nacht finden wir die Brüder Wildungen in einem Gespräch auf dem Sopha der »Akademie«.

Die Akademie, wissen wir, ist Siegbert's, die Aula ist Dankmar's Wohnzimmer.

Sie waren trotzdem, daß sie so spät zur Ruhe gegangen waren, früh erwacht. Trotz des Weines, trotz der Reden, trotz der gewaltigsten Aufregung des Geistes fühlten sich die kräftigen jungen Männer nicht angegriffen ...

Nur Siegbert konnte sein inneres Leid nicht verbergen ...

Bist du unzufrieden mit mir, sagte Dankmar, daß ich mich gestern von dem traulichen Beisammensein so erregen ließ und so offen mit meinen Träumereien hervortrat? Sage mir nichts Weises darüber! Du kennst meinen Unmuth, wenn ich mich des Morgens besinne, daß ich am Abend zu viel sprach, zu exaltirt und zu offenherzig war.

Mein schlimmster moralischer ...

[2238] Siegbert stellte eben der Katze der Frau Schievelbein den Rest ihrer Milch an die Erde und ergänzte:

Katzenjammer!

Katzenjammer! Was ist Das nur! fuhr Dankmar fort. Gebrochene Wehmuth! Reue, die bei mir die Morgenstunde mehr im Munde hat als Gold!

Er legte die Cigarre fort, die ihm nicht schmecken wollte, und spitzte sich Federn zum Arbeiten.

Siegbert sprach ihm Muth zu. Er sagte, daß er sich fast gefürchtet hätte, als Dankmar mit seinem kühnen Plane so offen hervorgetreten wäre. Allein die Wirkung wäre auf Alle doch die mächtigste gewesen.

Und, setzte er hinzu, es sind doch Das nur gemeine Naturen, die bei nüchterner Stimmung die Entschließungen nicht wahr haben wollen, die sie in aufgeregten Augenblicken faßten. Nur Die Menschen sind groß und bedeutend, bei denen sich der Morgen erfüllend an den prophetischen Abend knüpft.

Man vereinigte sich nun darüber, daß die Freunde es aufrichtig gemeint hätten in ihrer Zustimmung zu Dankmar's Planen. Selbst Leidenfrost, der ihnen so plötzlich und rührend als Max Brüning Enthüllte, wäre ergriffen gewesen und hätte die blanke Revolutionsidee preisgegeben, von der man ohnehin nicht wisse, ob er sie im Ernste oder humoristisch verstehen wollte. Des edeln Werdeck's Augen hätten geglänzt wie zwei funkelnde Sterne ... jetzt in warmer, nicht mehr in kalter Winternacht, setzte Siegbert hinzu. Diese Natur, sonst so verschlossen, wäre durch [2239] die Erinnerung und die Ahnung endlich aufgethaut gewesen und der Händedruck, den er den Freunden gegeben, als sie auf der Straße schieden, hätte etwas Krampfhaftes, ja tragisch Bedeutendes gehabt. Nur von Louis Armand mußten sie sich eingestehen, daß es ihm schwer wurde, sich von den unmittelbaren Aufforderungen der politischen Sachlage zu trennen und jetzt mehr für die Zukunft wirken zu sollen als für die ihm der dringendsten Beihülfe bedürftig erscheinende Gegenwart. Auch wär' er nach der Erzählung über Jagellona Werdeck plötzlich sonderbar zerstreut gewesen ...

Aber du! Aber du! unterbrach Dankmar. Du kamst ja schon verstimmt und mit Gespensteraugen in die Sitzung ...

Verstimmt nicht; nachdenkend!

Du hast etwas mit Olga gehabt?

Siegbert schwieg.

Wer sah es dem Mädchen nicht an? Diese Fröhlichkeit, als wir schieden! Ihr kamt zum Gesang der Trompetta und der Flottwitz als Nachzügler aus dem dunkeln Garten. Ich sah dir an, daß du zittertest. Olga glühte dagegen und hätte lieber selbst tanzen mögen, als Tänze spielen. Wie sie auf das Klavier schlug, merkt' ich, daß sie die gewaltigste Aufregung zu beherrschen suchte.

Die Situationen sind doch immer unser Fluch!

Aha! Die Raketen waren zerplatzt, die Leuchtkugeln flimmerten noch vor den Augen. Es wurde still. Das Herbstlaub raschelte an den Bäumen. Die Sterne funkelten.

[2240] Zwei Herzen liegen aneinander und jubeln: Himmlischer, Sternengewaltiger, sieh herab auf deine kleinen Kinder! Wir wollen uns lieben wie die Lämmerchen, weil deine Erde so schön ist!

Siegbert nickte mit schmerzlichem Ausdruck.

Wenn es dich trösten kann, sagte Dankmar, so sag' ich dir, daß ich fast deinem Beispiele gefolgt wäre. Die blonde Reubündlerin ist doch eine schwärmerische Natur! Es hätte nicht viel gefehlt, so hätte ich sie im Vorüberflug an mein Herz gezogen, ihr einen demokratischen Kuß gestohlen und ausgerufen: Soll uns denn unser politischer Glaube trennen? Ist Das das moderne Schicksal liebender Herzen, sich fliehen zu müssen wie die Capulet's die Montagues flohen?

Deine selbstgefällige Vergleichung mit Romeo tröstet mich nicht, sagte Siegbert nachdenklich. Du verräthst, daß mich nur eine Erregung der Sinne treiben konnte, Olga in die Arme zu schließen und ihre Lippen zu berühren ...

Sinne! Sinne! Lieber Bruder, was sind die Sinne! Todte Diener! Elende Sklaven! Der Vollmachtgeber ist die Seele. Ich wenigstens fühle wirklich etwas für meine Reubündlerin. Ihr Auge ist feucht wie der See. Es zieht herab. Ihre Locken kann ich mir freier denken, hängender, weniger nach dem Lockenholz aufgerollt. Aber ihre Zähne sind ohne Widerrede schön. Die Lippen kirschroth ...

Dankmar! unterbrach Siegbert. Du wirst ein solches Mädchen unglücklich machen. Ich hab' es wohl bemerkt, [2241] wie lange Fäden ihre Augen zu dir hinüber spannen! Fast verzehrt, fast lechzend nach Liebe! Du kommst mir wie einer der Religionsstifter vor! Alle zogen erst die Frauen an. Aber sie waren gewissenhafter als du und entsagten ...

Ihr Wuchs ist untadelhaft –

Hörst du nicht?

Aufrichtig! betheuerte Dankmar. Sie zieht mich an und gerade deshalb, weil sie mein vollkommenstes Gegenbild ist. Sie hat etwas zerflossen Weibliches, wie ich es liebe. Die schönsten Weiber, Melanie an der Spitze, machen mir keinen dauernden Effekt. Ich war von Melanie auch nur geblendet. Ich bedurfte ihrer. Ich weidete mich an ihrer Haltlosigkeit, ihrer eitlen Hingebung. Ich war auf Augenblicke entzückt und habe mich doch so von ihr getrennt, daß ich sie mit der größten Ruhe ihrem Ziele, den Prinzen Egon nun wirklich noch zu erobern, zusteuern sehe.

In der That? Wäre Das jetzt ... schaltete Siegbert voll Schmerz und doch überraschtem Antheil ein.

Melanie ist, seit wir ihr an dem Eisenbahndurchschnitt begegneten, sehr oft bei Pauline von Harder. Egon spricht mit Wärme von ihr ...

Und Helene d'Azimont?

Bahnt ihrem Gewissen eine Brücke, um von der Verzweiflung über Egon sich zu neuem Leben wieder in eines Malers Armen zu sammeln ...

Eines Malers? Heinrichson's? unterbrach Siegbert entrüstet, stand auf und ließ zuvörderst die Katze hinaus ...

[2242] Du phantasirst! rief er dann schmerzergriffen über die Voraussetzung, daß menschliche Herzen solcher Lügen, solcher Irrthümer und Wandelungen fähig sein sollten.

Mein guter Bruder! sagte Dankmar. Psychologie und etwas Schädellehre! Die länglichen, schlanken Formen des Ledamalers kennst du ...

Er wäre gewissenlos genug ...

Die runden Formen der d'Azimont bedeuten Das, was die Menschen Gemüth nennen und was ich Leidenschaft und excentrische Gegensätze nenne. Bei einer gewissen Klasse von vornehmen Frauen ohnehin siegen erst Die, die ihnen ebenbürtig sind. Bei der ersten Furche auf der Stirn wählen sie einen berühmten Musiker zum Freunde, bei der zweiten einen berühmten Maler, und wenn es abwärts geht, findet sich wol noch irgendwo ein flammender Naturpoet, der für seine lyrischen Vokale einen Consonanten braucht. Guido Stromer mein' ich z.B. könnte noch bei Paulinen von Harder Glück machen und Heinrichson's Nachfolger werden.

Abscheulich! Abscheulich! rief Siegbert, mehr von den bizarren, menschenfeindlichen Ansichten des Bruders entrüstet, als an die Möglichkeit solcher Verbindungen glaubend.

Und Adele Wäsämskoi, fuhr Dankmar unbarmherzig fort, liebt die Fürstin nicht auch einen Maler? Warum sollte Helene d'Azimont nicht an Heinrich Heinrichson Ersatz für Egon –

[2243] Siegbert hielt dem grausamen Spötter den Mund zu. Er konnte seine Anschuldigung nicht vollenden.

Abscheulicher! sprach er dann voll ernsten Unwillens. Wie spielst du mit Frauenherzen! Irren diese schwachen Wesen, so sind sie bemitleidenswert und die meiste Schuld trifft uns. Daß Egon Helenen nicht mehr liebt, ist wol gewiß. Es ist ein schmerzlicher Beweis der Umkehr seines Charakters. Diese Hingebung, diese Liebe Helenen's war ein Wunderwerk, eine Fabel, unglaublich und doch wahr. Lauschte sie nicht seinem Athemzuge, betete sie ihn nicht an? Was soll ein Weib beginnen, das nun einmal im Manne lebt und sich von der Seele des Geliebten dann ausgeschlossen sieht, nur angewiesen auf einen Pflichttheil der Achtung und öffentlichen Schonung! Kann man Helenen verdenken, daß sie Egon statt zu lieben, wird hassen lernen?

Und daß sie dem Prinzen einen berühmten Maler gegenüberstellt? sagte Dankmar.

Das ist nicht wahr! Verleumdung! Heinrichson zeichnet mit ihr die Erinnerungen an der See von Enghien, er übermalt ihre schwachen Leistungen, zu denen sie die Liebe spornte, ohne daß sie die Kraft besaß, Das, was ihr in voller Seligkeit der Erinnerung vorschwebte, zu vollenden. Er ist einschmeichelnd, das ist wahr, ist verführerisch, charakterlos. Ich zweifle nicht, daß er sich von seiner brillantesten Seite zeigt, sie mit Artigkeiten überhäuft, sie durch eine scheinbare Zurückhaltung verwirrt und durch seinen trockenen, zuweilen geistreichen Witz unterhält ...

[2244] Nun ... nun ... und dem Allen widerstände ein beleidigtes Frauenherz und benutzte es nicht, um dem Treulosen zu zeigen: Sieh! Da weckt' ich doch noch neue Flammen!

Siegbert schauderte und blickte fast vernichtet zur Erde. Es war ein zu greller Schatten gewesen, den Dankmar da auf die Menschenseele fallen ließ.

Lieber Bruder, sagte Dankmar ruhig und ergriff Siegbert's Hand. Ich wünsche, daß ich mich immer täuschte, wo du anders und gläubiger siehst. Du siehst die Dinge schön und warum sollt' ich nicht wünschen, daß die Menschen gut, ihre Thaten schön sind! Aber kannst du leugnen, daß dich die Fürstin Wäsämskoi liebt, daß sie zittert, in deiner Nähe zu sein, daß sie Augen nur hat für dich, daß sie in Zorn geräth, wenn Olga dich eine Weile anblickt? Und du selbst, Siegbert, bist du frei von der Einwirkung dieses eigenthümlichen Verhältnisses? Es macht dich unlustig zur Arbeit! Du tändelst deine Zeit so hin! Du beginnst nichts Neues mehr, vollendest nichts Altes! Gestehe nur, daß es in deinem Innern bewegt und bunt genug aussieht.

Siegbert ging im Zimmer auf und ab. Er fühlte nur zu tief die Wahrheit dieser Vorwürfe und widersprach ihnen nicht.

Du hast Recht! sagte er leise und mit feuchten Augen und setzte sich neben den Bruder, das Haupt auf die alte Sophalehne stützend. Du hast Recht! ... Rathe mir!

Liebst du die Fürstin? fragte Dankmar.

[2245] Siegbert antwortete nicht ... schüttelte aber zuletzt entschieden sein ernstes Haupt.

Und Olga?

Siegbert schwieg wiederum und blickte zur Erde nieder.

Du hast vielleicht, fuhr Dankmar, um die drückende Stimmung zu erleichtern, scherzend fort, du hast vielleicht ein Gefühl wie ich gestern. Der Gegensatz reizt, die Ungleichartigkeit der Naturen stachelt?

Sage mir lieber, unterbrach Siegbert, was du empfindest, seit du weißt, daß der Knabe, der deinen so hochverehrten Ackermann begleitete, kein Knabe, sondern ein Mädchen ist?

Dankmar sah betroffen auf.

Du bist scharf, erwiderte er nach einer Weile. Ich glaube, wenn ich mich im Spiegel untersuchte, ich würde finden, daß ich erröthete. Bin ich roth geworden?

Blaß und marmorgelbgraukalt wie immer, sagte Siegbert vorwurfsvoll.

Dann lügt mein Gesicht! antwortete Dankmar. Ich kann mich an meine Freunde im Ullagrunde nie ohne tiefste Erregung gemahnt sehen. Ich sage gemahnt! Denn, wenn ich ihrer gedenke, ist's nicht Erinnerung nur, sondern wie Vorwurf.

Selma und Olga! sagte Siegbert. Was darf man für so beginnende, noch im grünen Kleide versteckte Knospen fühlen?

Ehrfurcht! sagte Dankmar. Heilige Scheu! Oft versink' [2246] ich in ein stilles Grübeln. Ich bin dann im Walde von Hohenberg, in der Ferne rauscht die Mühle, der Specht hackt im Baume, die Vögel singen, ich schreite mit Selma durch die junge Eichenschonung. Sie spricht ebenso heiter, so klar, so nachdenkend wie damals, als ich nicht wußte, welch' ein Zauber mich zu ihr zog. Wie mag als Mädchen sein? Ich träume davon. Wenn ich gearbeitet habe und aufblicke, steht sie vor mir in leichtem weißen Kleide. Sie ist immer um mich. Ich scherze schwesterlich mit ihr. Weißt du unser kleines Schwesterlein? Die holde Mechtild! Wie liebten wir sie! Wie herzten wir das liebe Kind und weinten, als es im Sarge lag mit Blumen bestreut! Selma ist mir wie Mechtild. Und wenn ich ihrer gedenke, so senken sich alle Spitzen meines Wesens, wie man die Waffen senkt, wenn man sich gefangen gibt. Ich denke dann an Nichts mehr von Dem, was mich so foltert und quält. Unser Streithandel, die Weltlage, die Zeitfragen, die Stiftung des Ordens ... was ist das Alles, wenn ich an Selma denke! Sie kommt dann und nimmt mir Schild und Speer aus der Hand, sie legt das Schwert unter Blumen, entwaffnet mich ganz und sitzt dann auf meinem Schooß und herzt mich und küßt mich, ohne daß die Küsse mich erregen oder mir etwas Anderes bedeuten als eins ihrer traulich gesprochenen Worte. Selma! Wenn ich sie sehen könnte!

Du liebst sie, Bruder! sagte Siegbert in seine Nähe rückend. Wie kannst du von den Lippen Wilhelminen's von Flottwitz sprechen!

[2247] Aber! schaltete Dankmar rasch ein. Selma ist ein Kind, wie es Olga ist. Genug! Wir wollen vernünftig sein.

Er stand auf und wollte, seine Gefühle, wie er immer that, abschüttelnd, in die »Aula« gehen, als der Postbote eintrat und einen Brief brachte. Er kam von der Mutter. Siegbert las die sonst so feste Handschrift, die ihm heute schwankend schien. Die Mutter wird leidend sein! bemerkte Dankmar erschreckend.

Das verhüte Gott! sagte Siegbert und durchflog die Zeilen.

Sie klagte in der That. Auch ihr wollte der Aufenthalt in den großen kalten Räumen des alten Tempelhauses nicht bekommen. Sie sprach von der Rückkehr alter Leiden und beängstigte ihre Söhne so lebhaft, daß Siegbert sich die bittersten Vorwürfe machte.

Was haben Eltern von ihren Kindern, sagte er, wenn diese selbstständig geworden! Jedes Band ist da wie abgeschnitten! Der flügge Vogel ist aus dem Neste und denkt nicht mehr daran, zu den trauernden Alten zurückzukehren.

Dankmar, nicht minder bewegt, kleidete sich an und beruhigte den Bruder, daß es leicht möglich werden könnte, er müsse noch in diesem Herbste nach Angerode.

Ob ich nicht sogleich lieber selbst ginge? sagte Siegbert und wiederholte einige Stellen aus dem Briefe der Mutter, die ihm ganz besonders bedenklich schienen. Du weißt, daß sie nicht zu Denen gehört, die von sich selbst viel Aufhebens machen.

[2248]

Sie beschlossen bei dieser Gelegenheit, die Mutter, wenn das Trauerjahr im Pfarrhause vorüber wäre, zu sich in die Residenz zu nehmen, wobei sie sich freilich nicht verschweigen konnten, daß sie ungern ihren Bitten nachgeben und den Aufenthalt innerhalb ihrer gewohnten kleinen Lebensbeziehungen vorziehen würde.

Auch Siegbert hatte sich angekleidet. Beide Brüder waren im Begriff auszugehen. Siegbert gedachte das Atelier zu besuchen und heute dort länger zu arbeiten, als er schon seit geraumer Zeit gewohnt war. Dankmar dagegen wollte aufs Gericht, um zu hören, ob der richterliche Senat die, wie er schon wußte, ihm ungünstige Entscheidung des Referenten bestätigt hätte. Es lag ihm daran, die genauere Ausführung des Urtheils zu hören und sich vorbereiten zu können, in zweiter Instanz neue Materialien zu sammeln.

Wie sie aus dem Hause traten, sahen sie Louis Armand hastig die Straße daher kommen. Schon in der Ferne zog er ein Zeitungsblatt aus der Rocktasche und hielt es in die Höhe.

Louis brachte die neueste Nummer des »Jahrhunderts«, das seit einiger Zeit auch in einer Morgenausgabe erschien.

Egon – fing er stammelnd an, ohne weiter sprechen zu können – Egon –

Die Brüder staunten über seine Erregung.

Das Ministerium hat abgedankt. Es hatte eine Differenz von funfzehn Stimmen gegen sich.

[2249] Aber der Fürst? fragte Siegbert.

Stimmte mit der Minorität, sagte Louis.

Ministeriell?

Mehr als ministeriell! Lesen Sie seine Motivirung!

Man trat in die offene Flur des nächsten Hauses, breitete die Zeitung auseinander und las:

»Fürst Hohenberg. Meine Herren, Sie wollen in dies Haus eine Ordnung einführen, die eine Tyrannei ist und allen Gesetzen des Anstandes widerspricht. Ich billige vollkommen, wenn Sie sagen, in diesem Hause wären Sie die Herren und die Herren Minister nur Ihre Gäste; ich theile durchaus nicht die Ansicht der Herren Minister, denen dies Verhältniß umzukehren beliebt. Allein, wer sich vorgesetzt hat, nur seinen eigensten Überzeugungen zu folgen, wird unfähig sein, sich in dieser Frage auf irgend einen Parteistandpunkt zu stellen. Die Minister haben Thatsachen zu vertreten, während Sie nur Meinungen. Ein Minister kann in jedem Augenblick in der Lage sein, einen neuen Brennstoff in die Debatte zu werfen ...

Eine Stimme. Öl in's Feuer!

Fürst Hohenberg. Wohl! Mein Herr! Öl in's Feuer! Daß es lodere, daß es flamme, daß die Wahrheit heller erkannt werde! Und wenn hier ein Minister des Absolutismus oder ein Minister in der Blouse stünde, er müßte das Recht haben, die furchtbare und leider meist unwiderstehliche Kraft der ihm anvertrauten Thatsachen zu vertreten, zu geschweigen, meine Herren, daß die einfachsten [2250] Gesetze des Anstandes Demjenigen, den man bei sich eingeladen hat, das letzte Wort zuzugestehen. Ich stimme gegen den Antrag der Commission. (Bewegung. Bravo. Zischen.)«

Es ist acht Uhr, sagte Dankmar, nach einem Augenblick des Erstaunens rasch auflodernd, wollen wir Egon besuchen?

Ich muß es thun, sagte Louis; ich hab' ihm versprochen, Bericht zu erstatten von unserm gestrigen Abend, an dem er Antheil zu nehmen schien, als ich ihm davon erzählte. Wenn ihn irgend ein Gedanke ergreifen kann, so sollte es dieser hochherzige! Egon ist ja schon ein Ritter vom Geiste ... denn Sie sehen, wie er sich vom Buchstaben der Partei lossagt.

Dieser Buchstabe, bemerkte Dankmar auf eine so zweifelnde, schmerzliche Wendung, ist leider in Übergangskrisen, wie wir sie jetzt erleben, der Geist selbst. Wer nicht die Kraft hat, selbst eine Partei zu bilden, muß sich bezwingen, die Zahl Derer, die ihm am verwandtesten denken, durch seine Zustimmung zu vergrößern. Die edelste Aufgabe meines Bundes wird auch die sein, die Kunst zu lehren und zu üben, Majoritäten zu bilden. Wir wollen zu Egon gehen.

Als die Freunde eine Seitengasse einschlugen, bestätigte Louis auf's neue, wieviel Sorgen ihm der hochgestellte Freund mache. Seit vierzehn Tagen schiene er an einem tiefen Kummer zu leiden und wäre nicht mehr der Alte. Leider hätte diese Verstimmung zur Folge, daß [2251] er alle seine alten Pläne aufgäbe und nur noch dem Ehrgeize lebe. Louis erzählte von Wiederherstellung eines verwitterten Wappens über seinem Palais, eine Unternehmung, die Siegbert noch mit den Worten entschuldigte: Warum soll er das Wappen vermodern lassen? Entweder mußte die steinerne Tafel ganz abgenommen oder restaurirt werden. Aber man hörte von Vermehrung der Bedienung, von neuen Livreen nach englischem Schnitte, von einer verschwenderischen Anwendung des Hohenberg'schen Wappens auf Briefcouverten, Büchern, Tellern, Pferdegeschirren u.s.w. Unsre Freunde gestanden sich, daß die sonst so demüthigen Blicke der Diener impertinent geworden waren. Die Wandstabler's, die sich schon anschickten, das Haus zu verlassen, rümpften die Nase, als wollten sie sagen: Unsre Zeit bricht wieder an! Die Art der Anmeldung bei Egon wäre umständlich, complizirt, erkältend, noch ehe man ihn sähe. Er erweise sich herzlich nach wie vor, aber er wäre zerstreut ... oder ein Kummer drücke ihn, den Niemand errathen könne ...

Man war bei dem Thema über Helene d'Azimont angekommen und schwieg. Der Weg zum Palais war noch nicht zurückgelegt. So knüpfte man an den gestrigen Abend an und Louis Armand sprach nun aus, was er gestern zurückgehalten hatte.

Also nur der Geist soll triumphiren? sagte er. Nur der Gedanke soll uns frei machen? Wir sollen uns also die Hand reichen über Länder und Völker hinweg? Anfangs, [2252] meine Freunde, fürchtete ich, die Idee der Ritter vom Geiste würde auf jene Sekte hinauskommen, die sich in Paris unter dem Namen der neuen Templer begründet hat. Ich war Zeuge einer Sitzung dieser neuen Templer. Es sind Affen alter Ceremonien, schwache eitle Copieen der Freimaurer. Sie scheinen keinen andern Zweck zu haben, als sich, wie auf der Maskerade, im Costüme des Mittelalters zu brüsten, gut zu essen, sich mit großen fabelhaften Titeln zu beladen, und alle diese Narrheiten entschuldigen und beschönigen sie dann mit einigen Phrasen über Menschenliebe, Wohlthätigkeit, den ewigen Frieden, die Fraternität der Nationen und die Ehrwürdigkeit aller Religionen! Mit Egon war ich bei einer dieser Sitzungen zugegen und schon damals sagte er:

Das Streben, auf die überlieferte Ordnung, in der wir geboren werden, gleichsam eine neue zu pfropfen, die Ordnung einer eigenen Wahl, ist gewiß ehrenwerth, aber wie müßte es doch großartiger und heroischer ausgeführt werden!

Sagte er Das? Ich kenne die Statuten dieser neuen Pariser Templer, schaltete Dankmar ein.

Egon rief damals aus, fuhr Louis Armand fort: Welche Affen, welche Komödianten! Ich sehe mit klaren Augen die alten Templer auf dem geweihten Boden Palästina's mit den Sarazenen im Kampfe, Hugo des Payens schwingt sein tapfres Schwert, ich sehe Tausende hinsiechen an der Pest, ich sehe den Sturm auf Ptolomais und den Tod der letzten Ritter, die das Castell des Tempels vertheidigen, [2253] der Großmeister stirbt an einem vergifteten Pfeile – ich sehe Jakob von Molay in den Flammen, Hunderte ihm vorangehen, Hunderte folgen und nun da ... diese Advokaten, Börsenmäkler, Banquiers, Quacksalber, Polizeiagenten, die setzen sich da in weißen Mänteln mit dem rothen Kreuz in befiederten Barets hin und essen Austern und Pasteten zum Zweck des allgemeinen Weltfriedens, der Bruderliebe und der Gleichartigkeit aller Religionen ... pfui, welche Gemeinplätze und welche Possenreißer!

Siegbert sah unwillkürlich zu Dankmar hinüber und lächelte.

Beruhige dich, lieber Bruder! erwiderte dieser. Das gemeinschaftliche Essen ist ausdrücklich aus unsern Statuten verbannt. Die Ritter vom Geiste werden sogar in Betreff des Trinkens mäßiger sein müssen, als wir es gestern Abend waren. Ich spüre Kopfweh. Doch glaub' ich fast, es kommt von der Nähe des Palais da, das ich gar nicht mehr mit den alten frohen Empfindungen sehen kann, mit denen ich es sonst begrüßte. Sonst schien es mir die häßliche Raupenhülle eines Schmetterlings zu sein, jetzt gehört es zu dem Besitzer so organisch, so fast nothwendig hinzu, wie das Haus zur Schnecke.

Schon seit einigen Tagen begrüßten die Diener ihres Herrn Freunde nicht mehr mit der Furcht und Ehrerbietung wie sonst. Dankmar flüsterte den beiden Begleitern zu, daß es gut wäre, wol auch solche äußeren Zeichen [2254] zu beachten und sie bei Egon zur Sprache zu bringen. Nur Dorette Wandstabler, die Älteste, war besonnen und wußte sich zu beherrschen. Sie unterließ, als sie den Ankommenden auf der Treppe begegnete, nicht im geringsten die Beweise äußrer Achtung. Louis erhielt sogar von ihr im Vorbeigehen zugeflüstert, es wäre soeben vom Hofe ein Brief in Rosa-Umschlag angekommen. Ein Brief in Rosa-Umschlag, wisse sie noch vom alten Fürsten her, käme aus dem Cabinet des Königs.

Ein Brief vom König? bemerkte Louis und sah die Brüder fragend an.

Man wird seinen Rath begehren! sagte Siegbert.

Und Dankmar setzte hinzu:

Man wird ihm das Ministerium anbieten.

Indem hatte sie ein neuer Kammerdiener schon gemeldet und kam mit dem Bescheide, daß Sr. Durchlaucht sie bäte, eine Viertelstunde zu warten. Er zöge sich an. Sr. Majestät hätten ihn um zehn Uhr auf's Schloß beordert.

Die Freunde betrachteten sich bedeutungsvoll und harrten im Vorzimmer. Sie sprachen nichts. Es war ihnen, als wären sie im Begriff, von einer geliebten Person für ewig Abschied zu nehmen. Diese Bilder, Statüen, Vasen, die hier ringsum standen, hatten ihnen früher nur flüchtigen Eindruck gemacht. Es war ihnen immer gewesen, als wenn diese Gegenstände weit unter ihnen ständen. Heute blickte sie Alles vornehm und fast verachtend an. Eine alabasterne Tänzerin, auf einem Säulenpiedestal [2255] von Marmor, schien ihnen zu sagen: Wer seid Ihr? Was wollt Ihr hier? Der Geist des alten Generalfeldmarschalls spukte um sie her und wies ihnen mit ihrer nicht hierhergehörenden Gesinnung fast die Thür.

Endlich wurden sie vorgelassen ...

Sie trafen Egon in gewähltester Toilette. Sein Haar war frisirt, der Kinnbart mit großer Sorgfalt behandelt. Es lag etwas Imponirendes in dieser schönen jugendlichen Gestalt, deren mit der Krankheit sehr hochgewordene Stirn recht den Denker verrieth. Die Augen waren ein wenig eingefallen, blitzten aber aus den tiefern schattigen Höhlen nur um so feuriger, voll Geist und Anregung hervor. Um den Mund lag unverkennbarer Muth und schnelle Entschlossenheit ausgeprägt, doch milderte ein gefälliges Lächeln den allzustrengen Ernst der Züge. Auf dem Frack glänzte zum erstenmale der Stern des Großkreuzes vom Verdienstorden, das ihm der König bei seiner ersten Vorstellung am Hofe, vor etwa zwölf Tagen, selbst mit den huldvollen Worten überreicht hatte: Er hätte sämmtliche einheimische Orden des großen Helden, seines Vaters, bei Seite gelegt, und hoffe, sie mit der Zeit einen nach dem andern dem Sohne wieder einhändigen zu können. Es war dies eine Artigkeit gewesen, durch die Egon zu Nichts verpflichtet wurde. Sie galt seinem Stande und gehörte fast zur Etikette einer solchen Präsentation.

Ich bin zum König gerufen, sagte Egon und begrüßte die Freunde wie sonst durch den alten Handschlag. Was [2256] habt Ihr beschlossen? Ich höre nichts mehr von Euren Plänen! Ihr feiert Weinlesen, seht Schwärmer prasseln, macht schönen Mädchen den Hof, während ich Armer den Dunst unsrer schlechten Ölbeleuchtung in der Kammer einathmen muß. Siegbert, wie geht es der kleinen Olga? Ihr Glücklichen! Sie und du, Dankmar ... was seid Ihr beneidenswerth! Die eine Hälfte der schönen Welt spekulirt auf Eure Million und die andere tröstet sich, wenn es nichts damit ist, doch wenigstens mit zwei liebenswürdigen Männern kokettirt zu haben! Und Louis hat auch seine stillen Freuden und sieht lyrisch aus! Ich wette, er wetteifert schon wieder mit Béranger und Lamartine. Ihr seid nicht aufrichtig, Alle, Alle seid Ihr's nicht!

Vor dem neuen Minister des Innern, bemerkte Dankmar, wird man bald keine Geheimnisse mehr haben.

Egon blickte auf Dankmar mit einem eigenthümlichen, sichern, lächelnden Blick.

Glaubst du, sagte er nach einer Pause, glaubst du, lieber Freund, daß ich deshalb, weil ich gestern Abend einmal meiner eigenen Grille folgte, nun auch gleich die Grillen des Hofes wahrmachen werde?

Es ist gefährlich, eigene Grillen zu haben, bemerkte Dankmar mit kalter Ruhe. Wenn man sich von seinen Freunden trennt, werden die Feinde der Freunde immer glauben, einen Verbündeten zu haben.

Und sie werden sich täuschen in diesem Glauben, lieber Dankmar, sagte Egon ruhig. Ich glaube in der That, daß [2257] man die Absicht hat, mir heute um zehn Uhr im Schlosse ein Portefeuille anzubieten. Ich werde ein Programm stellen. Erlaubt man mir nach diesem Programm zu regieren, so werd' ich das Portefeuille annehmen!

Die Lage des Hofes, erwiderte Dankmar, ist nicht von der Art, ein Programm, wie du es mit Ehren nur stellen kannst, annehmen zu können.

Dies Wort verletzte Egon sichtlich. Doch behielt er seine Mienen in der Gewalt und fragte Siegbert und Louis, ob sie gemeinschaftlich frühstücken wollten?

Ich habe, sagte er launig, den Keller meines Vaters revidirt und gefunden, daß da unten viel Poesie versteckt lag. Wie ich die Etiketten las: Alicante, Xeres, Marsala, welche Vorstellungen weckt Das! Man fühlt sich in die Gegenden versetzt, wo diese gekelterten Trauben einst am Stocke hingen, man sieht das Ultramarin des südlichen Himmels, man hört die Woge des Meeres an den hohen steinigten Ufern branden und streckt sich unter Palmen- und Olivenbäumen hin und träumt dolce far niente.

Damit klingelte Egon und bestellte ein Frühstück.

Unten im Pavillon, sagte er. Aber rasch! rasch! Bringt, was Ihr zur Hand habt und Alicante und Xeres!

Der Kammerdiener flog.

Ich kann mir denken, sagte Egon, daß Euch meine gestrige Abstimmung überrascht hat. Ich kann mir aber nicht helfen. Ich muß so reden, wie ich fühle. Tretet nur einmal in eine dieser Vorberathungen der Parteien, hört [2258] diese blinde, tolle, sich überstürzende Hast der Menschen, die die Parole austheilen, ich wette, Ihr haltet es mit aller Eurer Überzeugung von der Notwendigkeit, Partei halten zu müssen, nicht drei Tage aus. Ich hielt es vierzehn Tage aus. Aus der Partei der Linken bin ich ausgetreten.

Und welcher Seite des Centrums schließest du dich an? fragte Dankmar.

An keine.

Nicht einmal an den Club Justus? sagte Dankmar immer erregter.

An diesen am wenigsten, antwortete Egon. Was soll ich dasitzen und dies Durcheinander der Intriguen hören! Alles soll Taktik und immer Taktik sein, an die Thatsachen denkt Niemand. Sie sitzen und zählen Stimmen. Immer ist Einer unterwegs, der bald zu der, bald zu jener kleinen Fraktion läuft und ein Compromiß beantragt: gebt uns acht Stimmen für Das, so geben wir Euch acht Stimmen für Das ... o pfui, ich habe diese Methode Politik zu treiben satt. Es ist ein kleiner Schacher, kein großer Handelsgeist, der dort herrscht. Ich will von heute an stimmen, wie ich denke.

Die Freunde konnten diesen Entschluß eigentlich doch nur billigen, befürchteten aber, daß sich Egon isoliren würde.

Nein, sagte Egon, es gibt Männer genug in der Kammer, die unter dem Druck der vorlauten Intrigue seufzen. Sie Alle sehnen sich nach Befreiung. Sie werden sich [2259] mit Freuden unter dem Banner schaaren, das irgend ein Retter der gesunden Vernunft aufsteckt. Ob ich dieser Retter sein werde, weiß ich nicht! Will man sich mir anschließen, wohlan, da ist meine Hand! Aufsuchen werd' ich Niemand!

Aristokratisch oder bequem? fragte Dankmar mit feinem Lächeln.

Egon schien an dieser Alternative keinen Anstoß zu nehmen. Im Gegentheil sagte er:

Entsinnst du dich unsres ersten Gespräches im Walde hinter dem Heidekrug?

Wohl! sagte Dankmar. Damals trugst du eine Blouse.

Allerdings würde ich jetzt dieselben Ansichten, von einem Fürsten in gesterntem Fracke vorgetragen, vorsichtiger auffassen. Du protegirst die Zeitung: das Jahrhundert. Man nennt den Ton derselben doctrinair. Die Doctrinaire sind die Aristokraten der Idee.

Beruhige dich, Freund, erwiderte Egon, ich werde auch nicht mit den Professoren stimmen. In einer Zeit des Handelns ist Niemand überflüssiger als Der, der ewig nur räth und lehrt. Aber kommt! Kommt! Es ist bald neun Uhr! Wir gehen in den Pavillon!

Durch mehre Zimmer, Cabinete, einen Corridor und dann eine kleine Wendeltreppe herab führte Egon die Freunde nach jenem geheimnißvollen Pavillon seines Vaters. Niemals hatte er gern von diesem Orte gesprochen, die Freunde niemals veranlaßt, ihn zu besuchen. Heute sprach er von ihm wie von einer seiner gewöhnlichen [2260] Retraiten. Die Freunde folgten ihm in einer eigenen beklommenen Stimmung. Sie fühlten, es war zwischen ihnen und dem jungen Fürsten nicht mehr wie sonst. Die Unbefangenheit fehlte, der Duft des Verhältnisses war verflogen. Sie fühlten, daß er ihnen nicht wehthun, sie in ihren Grundsätzen nicht verletzen wollte, und nichts verletzte sie doch mehr, als gerade, daß sie sahen, wie er ihnen auswich und durch Artigkeiten und Scherze den tiefern Bruch zwischen ihnen zu verdecken suchte. Siegbert hatte noch den meisten Glauben, oder er fühlte in Dem, was ihn sonst drückte, nicht den Zwang dieser Scenen, denen er doch nur halb beiwohnte. Seine Phantasie weilte bei Olga, bei der Vorstellung, wie er ihr nun heute begegnen, ihr in's Auge sehen sollte! Louis war erschüttert. Dankmar verstimmt. Er stand sogar einige male auf der Wanderung nach dem Pavillon still, als ob er sich besänne, zu folgen und nicht besser thäte, sich heimlich zu entfernen.

Sie hatten die kleine Wendeltreppe hinter sich. Ein Bedienter, der an ihrem Fuße harrte, stieß zwei Thorflügel auf, die in ein Vestibül führten, das rings mit Blumen geschmückt war. Zwei Victorien von Bronze hielten den Eintretenden Kränze entgegen. Der Fußboden war mit bunten, dichtwollenen Teppichen belegt. Hinter den Victorien rauschte ein Vorhang auf von schwerem, rothem Sammet. Man befand sich in einer Rotunde. Rings an den Wänden Spiegel mit Goldleisten und neben ihnen Candelaber. An den Wänden eine einzige Ottomane rundum, [2261] unterbrochen nur von den Eingängen in kleine durch Vorhänge unterschiedene Cabinete.

Als sie über die schweren Teppiche hinschritten, sagte Egon:

Ich entsinne mich, daß Ihr zum ersten male hier seid! Seht da die Erfindungsgabe meines Vaters! Von der rechten Seite hier bis zur Linken ziehen sich kleine allerliebste Gemächer. Über jedem ist in Wachsmalerei angegeben, wozu die Bestimmung der Gemächer dienen soll. Hier über dem Vorhang der erschöpfte Mars. Amor nimmt ihm die Waffen ab. Es ist das Entrée eines Badezimmers, das sich hier nebenan befindet. Die badende Nymphe macht es kenntlich. Daneben sitzt Pan und bläst auf seiner Flöte, während Tritonen aus Hörnern Wasserstrahlen spritzen. Ich weiß nicht, welche Tändeleien für das dritte Cabinet bestimmt waren. Über jenes vierte seht Ihr Hebe mit der Kanne und einem Teller schweben. Wahrscheinlich ist in der Kanne Nektar und auf der Schale Ambrosia. Soviel weiß ich, daß in diesem vierten Cabinet vortrefflich gespeist worden ist und sich die Ambrosia als die Praxis eines guten Pariser Kochs zu erkennen gab. In dem fünften waltete die Nachmittagsruhe. Es ist das Cabinet der türkischen Pfeifen. Der talentvolle Künstler, der diese Medaillons über die Thüren malte, muß in Verlegenheit gewesen sein, die türkischen Pfeifen in den Kreis seiner mythologischen Allegorieen einzuführen und doch hat er sich sehr artig geholfen. Seht die drei schönen Mädchen, die über einem todten von [2262] Flammenglut umgebenen Knaben weinen und die Hände ausstrecken. Sie verwandeln sich eben in Pappeln und die Thränen, die ihnen entfallen, flimmern von dem gelben Schein des Knaben gelb ...

Recht geschickt! sagte Siegbert. Der gelbe Knabe ist der soeben von der Sonne herabgestürzte Phaethon. Die Schwestern beweinen seinen Fall und verwandeln sich in Pappeln. Ihre Thränen, die in dem gelben Scheine des versengten von der Lichtmaterie des Sonnenballs gedörrten Phaethon gelb erscheinen, sind der Bernstein.

Richtig, fuhr Egon fort und diese Sage vom Ursprung des Bernsteins paßt in der That für ein Cabinet mit türkischen Pfeifen, deren Spitzen von Bernstein sind. Ich kenne den Maler nicht.

Es ist unser herrlicher Berg selbst, sagte Siegbert, der diese Wachsmalereien fertigte. Sie sind berühmt.

Ich bekomme Ehrfurcht vor dem Geschmack meines Vaters, des alten Haudegens. Seht da, das sechste Cabinet hat als Medaillon eine Nymphe, die sich im Wasser spiegelt und sich dabei selber kopirt, mit einer Stecknadel nämlich auf einem großen Feigenblatt, das ihr ein Satyr hinreicht. Seht den Satyr mit dem Feigenzweig! Wie zierlich und schalkhaft die ritzende Nadel auf dem Blatt! In diesem Cabinet sind Bildersammlungen, die ich Euch nicht zeigen mag. Und hier im siebenten und letzten Cabinet befindet sich sogar eine Bibliothek verbotener Bücher. Mein loyaler Papa war ein eifriger Sammler in diesem Fache der Literatur, das der Maler in jenem [2263] Medaillon kenntlich machte: Ein Faun sitzt und lehrt Amor schreiben. Der kleine Junge weint, weil die Feder vielleicht kritzelt oder ihm die Mühe zu sauer wird. Der Faun liest behaglich, was Amor geschrieben hat. Die beiden Tauben, die sich über dem Busch, wo die Schulscene passirt, schnäbeln, drücken das Thema der hier gesammelten wilden Literatur aus.

Inzwischen waren die Diener gekommen und hatten in das vierte Cabinet silberne Schüsseln, Körbe, Servirbreter, Flaschen getragen. Der Kammerdiener schlug den Vorhang zurück. Egon forderte die Freunde auf einzutreten.

Ein zierliches, behagliches Gemach umfing sie. Die kleine gedeckte Tafel in der Mitte widerstrahlte von Krystall und Silberzeug. Die nach außen zu unscheinbaren Fenster waren durch ein zweites Fenster verdeckt, das von innen vorgebogen werden konnte, ein Fenster von mattgeschliffenem Milchglase mit eingefugten Lithophanieen. Die Sessel waren außerordentlich bequem mit Lehnen von blau- und weißgestreiften Gurten. Von derselben Farbe waren ringsum Ottomanen. Ein Gemälde an der Wand erwies sich alsbald als Flötenuhr und spielte mit reingestimmtem Glockenton die Gnadenarie aus Robert dem Teufel. Der einfachere Charakter dieses kleinen Cabinets entsprach seiner Bestimmung; denn in einem Eßzimmer sollen die Sinne des Auges nicht durch eine überladene Staffage zerstreut werden.

Egon machte den Wirth mit gewohnter Freundlichkeit.

[2264] Drei galonnirte Diener, schon in Bereitschaft mit nach Hofe zu fahren, servirten in weißen Handschuhen. Es war ein Ton in das Hauswesen gekommen, gegen den Egon früher selbst protestirt hatte und der sich nun seit etwa vierzehn Tagen von selbst verstand.

Seine Gäste aßen nur wenig. Sie machten sich Vorwürfe, ihn jetzt, wo er seine Gedanken zusammenzufassen hätte, noch aufzuhalten. Dankmar fragte ihn sogar, ob er das Programm schon fertig hätte ...

Seit Jahren denk' ich darüber nach und schrieb es in zehn Minuten nieder! erwiderte Egon.

Und darf man nicht einen der Paragraphen erfahren?

Ich werde dem Hofe Bedingungen stellen, die er niemals eingehen kann. Denn leider haben diese bedrängten Machthaber schon eine solche Furcht, von der Sprache unsrer Tage abzuweichen, daß sie eher die Richtung, die sie selber fürchten, an's Ruder bringen als etwas Neues zu versuchen.

Dies vortreffliche Dejeuner, bemerkte Dankmar sarkastisch, ist wenigstens Bürgschaft, daß du keine so spartanischen Vorschläge machen wirst, wie ich zuweilen deinen Ideen abgelauscht habe. Welche Rolle wird denn in diesem Programm die vielbesprochene Arbeit spielen?

Dieselbe Arbeit, sagte Egon mit ruhigem Ernst, die ich immer pries, wird auch in meinem Programm die Hauptrolle haben. Ich kenne nur den Staat der Pflichten. Einer Zeit gegenüber, die nur ewig von den Rechten der [2265] Menschheit träumt, muß man es offen aussprechen, daß die Pflichten es sind, deren gewissenhafte Erfüllung allein die Rechte gewährleistet. Wenn Alles von seinen Rechten spricht, wo bleiben die Pflichten? Nur da, wo Jeder bereit ist, zu geben, was er geben muß, nur da kann ein freudiges Empfangen und ein reichliches ermöglicht werden. Das, was uns überliefert ist, ist des Menschen erste Lebensbedingung. Ich bin der Thor nicht, der da auftreten und das Unrecht deshalb vertheidigen wird, weil es überliefert ist. Dem Unrecht als solchem dien' ich nicht. Aber auch in dem überlieferten Unrecht liegt eine Menschenpflicht und ein Menschenrecht. Die Tradition ist die Aufgabe, die wir friedlich lösen sollen. Die Tradition ist das Chaos, das wir zu lichten, der Knoten, den wir zu entwirren haben. Wer darf auftreten und mit dem Schwerte alle diese Schwierigkeiten durchhauen? Ich verlange, daß man das Leben reformirt nach einer überlieferten Gestaltung, d.h. die Methode des neuen Lebens muß das Leben selber sein. Ich werde Jedem, der trotzig von seinem Rechte spricht, auch eine Pflicht entgegenhalten, dem Armen, wie dem Reichen, dem Niedrigen und dem Vornehmen.

Ich fürchte, bemerkte Dankmar unerschütterlich, daß diese Grundsätze dem Hofe und den kleinen Cirkeln, die am Ende doch Alles regieren, zu allgemein sein werden. Man wird ganz einfach den Verfassungsentwurf der frühern radikalen Ministerien nehmen und dich fragen, was du mit ihm zu thun gedenkst?

[2266] Ich bin auch darauf gefaßt, sagte Egon. Ich nehme diesen Verfassungsentwurf nicht an. Ich erkläre, ihn nicht vertheidigen zu können. Ich habe die Vorstellung von einer andern Urkunde unsres gesellschaftlichen Paktes. Von unten herauf, vom Zweck der gesitteten Gesellschaft aus, muß der Aufbau vollendet werden.

Damit wirst du den kleinen Cirkeln nicht gelegen kommen, bemerkte Dankmar fast erschrocken über diese Kühnheit. Diese wollen nur einen überlieferten historischen Staat, der in die traurige Lage gekommen ist, zu den schon berechtigten Gewalten eine neue Berechtigung, das Volk, mit hinzuzulassen. Man streitet dort nur über das Maß von Freiheiten, das man an die neuen stürmischen Dränger abzulassen gedenkt. Wenn du von der Überflüssigkeit z.B. einer ersten Kammer sprächest, würdest du sogleich bemerken, daß alle Hofdamen, die Euer Gespräch belauschen dürften, die Nase rümpfen werden.

Ich bin für eine erste Kammer, sagte Egon.

In der That? bemerkten erstaunt die Freunde.

Jede Frage verlangt eine doppelte Erwägung. Prometheus und Epimetheus, Das ist eine alte Wahrheit. Aber ich verwerfe das nur geschichtliche Element, das die erste Kammer bilden soll. Ich verlange von der Gesetzgebung zwei Instanzen. Die eine soll die der Interessen, die andere die der allgemeinen Freiheit sein. Um ein Beispiel zu geben, würd' ich gleichsam in die erste Kammer die Meister, in die zweite die Gesellen bringen. Unser ganzes [2267] Wirken ist aus den Faktoren des Besitzes und Erwerbes, des Stabilen und des Strebsamen zusammengesetzt. Ich verachte die Stabilität der Beamtenwelt, des Geldsackes, selbst die der Geburt einzelner vornehmer Geschlechter. Ich erkenne nur die Arbeit als das Princip des Staates an, schließe das Kapital als arbeitende Potenz, eine Lüge, völlig aus, anerkenne nirgendwo die todte Hand, auch die todte Hand des Besitzes nicht, ich anerkenne nur die lebendige, individuelle Arbeit. Meine erste Kammer besteht aus den Bevollmächtigten der positiven Interessen der einzelnen Arbeitsbranchen des Lebens, meine zweite aus den Bevollmächtigten gleichsam des arbeitgebenden Publikums. In der ersten wird gleichsam der Zunftzwang, in der zweiten die Gewerbfreiheit sitzen. Ich lasse nicht nach Ständen, Städten, Census und ähnlichen Unterscheidungen wählen, sondern in die erste Kammer nach den speziellen Thätigkeitsbranchen des Lebens, in die zweite nach dem öffentlichen Bedürfniß. Es ist möglich, daß in meiner zweiten Kammer Fürsten und Grafen, in meiner ersten Blousenmänner sitzen.

Das kommt auf Eins heraus, fiel Dankmar lächelnd ein. Man würde diese Einrichtung allenfalls bei Hofe und in Petersburg als einen Druckfehler entschuldigen können ...

Doch nicht, lieber Freund, sagte Egon, sich bekämpfend. Das Wahlprincip der zweiten Kammer fass' ich numerisch. Das Publikum ist unbeschränkt. Nur einige Modificationen mit Ansiedlung und Bürgerrecht, sonst [2268] ist jedes Staatsglied Wähler. In die erste Kammer setz' ich Die, die die Träger des Staates sind, die fleißigen Hände. Erschrickt der Hof vor Pairs, die keine Glaçeehandschuhe tragen, so ist die Zeit dieser Ideen noch nicht gekommen und ich ziehe mich gern zurück, um das Chaos zu beobachten, bis unsre Zeit gekommen ist.

Louis und Siegbert waren von diesen Auseinandersetzungen überrascht und freuten sich der noch immer so stark in ihrem hochgestellten, nun zu so glänzender Laufbahn berufenen Freunde nachwirkenden alten volksthümlichen Einflüsse.

Dankmar aber äußerte sich entschieden zweifelnd und bemerkte:

Ich habe, mein verehrter Freund, seit ich dich kennen lernte und du mir einst sagtest, unter diesen Spiegeln und Kronenleuchtern würd' ich einmal noch in dein tiefstes Innere blicken, nie anders von dir gedacht als bedeutend und groß. Etwas Gewöhnliches wirst du niemals bieten. Allein ich fürchte sehr, daß sich bei dir eine alte Erfahrung bestätigt. Die Richtung der Zeit ist wie der reißende Strom eines Flusses, der aus einer seeartigen Breite plötzlich in engere Ufer tritt. Man wird fortgerissen. Die Zeit läßt sich durch einen Einzelnen nur in den seltensten Fällen bestimmen. Diese Begriffe von Links und Rechts, von Liberal und Conservativ sind in der That furchtbar einseitig, und jeder geistreiche Kopf, der positiv denkt und nicht von einer bloßen Manie der Neuerung getrieben wird, leidet unter der gegenseitigen Ausschließlichkeit [2269] dieser Antithesen; allein diese Antithesen sind einmal die größten Tyrannen unsrer Zeit. Man glaubt, sie beherrscht, ihre Klippen vermieden zu haben, und scheitert an ihnen. Die Umstände zwängen uns immer wieder in die alten Schattirungen: Schwarz oder Weiß! Licht oder Schatten! Und sieh! Wenn ich mir dächte ...

Dankmar sprach nicht weiter; denn sie wurden unterbrochen. Einer der Bedienten brachte dem jungen Fürsten, den die Äußerung Dankmar's von dem Blick in die Vergangenheit unter den Spiegeln und Leuchtern dieses Pavillons ernster gestimmt hatte, ein zierliches Billet. Über der Methode, Briefe auf silbernen Tellern zu überreichen, hatte Egon früher selbst gelacht. Heute fand diese Abgabe ganz in dieser komischen Form statt.

Egon erbrach das Billet und schien zerstreut, verstimmt.

Die Gräfin sind selbst da! sagte der Bediente.

Nein! Nein! rief Egon. Ich bin unter meinen Freunden.

Ich sagte es ...

Ich fahre zum König.

Eben deshalb, sagte die Gräfin.

O Gott! O Gott! schrie Egon auf. Er begleitete diesen Ruf mit Gebehrden wie ein wildes verwundetes Thier.

Er sprang auf und warf das Billet den Freunden hin, daß sie es lesen sollten.

Entschuldigt mich! sagte er. Lebt wohl!

[2270] Damit verschwand er, noch die Serviette in der Hand, die er zornig zerknitterte und unterwegs mitten in der großen Rotunde von sich warf.

Die plötzlich verlassenen Freunde ahnten, daß ihn die Gräfin d'Azimont abgerufen hatte.

Siegbert, dem das Billet am nächsten lag, nahm Anstand, es zu lesen.

Auch Louis meinte, er könnte nichts hören, was von dieser Hand käme.

Dankmar fand es wenigstens nicht erlaubt, das Briefchen liegen zu lassen.

Warum wollen wir einen letzten Beweis von Freundschaft, den wir noch von Egon empfingen, nicht ehrend entgegen nehmen? sagte er.

Die drei Freunde schwiegen erschüttert. Sie traten in die große Rotunde. Das von oben herabfallende Licht erhellte den Raum hinlänglich, um die kleinen zarten Schriftzüge lesen zu können. Sie lauteten:

»Ich sterbe! Du wühlst den Dolch in meiner Brust! Zertritt mich ganz! Sage mir nur, daß ich mich unter den Huf deiner Pferde werfe. Dann ist's doch aus! Aus! O Gott, schenke mir Wahnsinn! Tod oder Wahnsinn! Egon, ich beschwöre dich ... sei Mensch! Entsetzlicher! Foltre mich nicht! Laß mich sterben! Morde mich! Nur Entschiedenheit! Erlösung, Licht, mindestens die Freiheit des Todes!«

Die drei Freunde sahen sich entsetzt an.

Sie fühlten, daß Dies der Verzweiflungsschrei einer [2271] Frau war, die ihr Alles an Egon gesetzt hatte und wahrscheinlich fühlte, daß sie ihm von keinem Werthe mehr war.

Die Genugthuung für Louis Armand hätte damit vollständig erreicht sein können, wenn sein fühlendes Herz eines so kalten Triumphes fähig gewesen wäre.

Arme Louison, sprach er, du hast nicht gewollt, daß der Genius der Liebe so dein Andenken rächt!

Und doch, sagte Siegbert, den diese Worte der Schwester Adelen's tief in's Herz schnitten, doch ist Egon vielleicht unglücklicher als Helene! Ein Weib geliebt haben und heraussein aus dem magnetischen Rapport, der in ihr noch voll und glühend nachwirkt, während man selbst erkältet, übersättigt ist ... Das ist Qual! Man will nicht verwunden, man will nicht lügen ... Man hat ein Herz und darf ihm nicht folgen ... Armer Egon! Der Schmerz, mit dem er aufstand, war furchtbar, fast wahnsinnig.

Kommt! Kommt! sagte Dankmar. Die Luft dieses Pavillons, der Staub dieser Teppiche, das Lachen dieser Bilder, das Alles ist erstickend. An die frische Luft! Ich kann nicht mehr Athem schöpfen.

An der kleinen Treppe, die hinauf zu Egon führte, führte auch eine Thür gleich in den Hof. Dieser eilten sie zu und sogen die stärkende Oktoberluft wie Balsam ein. Es trieb sie fort, als brennte der Fußboden unter ihnen. Stürmende Gespenster schienen sie zu jagen. Sie sahen sich nicht um, sie flohen fast.

[2272] Auf der Straße rief ihnen eine Stimme nach.

Sie wandten sich um.

Es war Rudhard, an dem sie vorübergeschritten waren, ohne ihn zu sehen.

Nachdenklich, ruhig, stand er am Portal des Palais, auf einen Stock sich lehnend.

Er winkte Siegbert.

Siegbert bat die Freunde, einen Augenblick zu warten.

Als Siegbert sich Rudhard nahte, erschrak er fast über des alten Mannes ernstes, gemessenes Antlitz.

Ich wollte zu Egon, sagte Rudhard. Ich hörte, daß er nicht allein ist. Er fährt zum König. Er fliegt einem glänzenden Gestirne zu. Lieber Wildungen ... ein Wort ...

Siegbert ahnte etwas aus den Mienen des Greises.

Glauben Sie, daß ich Sie in mein Herz geschlossen habe, Siegbert? – fragte Rudhard mit einem nach Bestimmtheit ringenden, bewegten Tone.

Rudhard! antwortete Siegbert und ergriff seine Hand.

Ahnen Sie nichts, was ich Ihnen sagen muß ... muß, mit widerstrebendem Herzen?

Rudhard ließ seine Augen, die wie immer klar und ruhig waren, eine Weile fragend auf Siegbert ruhen.

Siegbert's Blick füllte sich mit Thränen.

Ich weiß es, Rudhard, sagte er nach einigen Augenblicken der Sammlung. Ich habe einen Auftrag zu einer künstlerischen Aufgabe empfangen, die mich vorläufig auf einige Wochen von hier entfernen wird. Sagen Sie den [2273] Damen Ihres Hauses, den lieben Kindern, ein herzliches Lebewohl!

Rudhard drückte die Hand des jungen Mannes und sprach nur das Einzige:

Ich danke Ihnen dafür, Wildungen! Es war Ihrer würdig. Wir sehen uns wieder.

Siegbert wandte sich und Rudhard ging langsam zum Palais des Fürsten.

Als Siegbert zu seinen Begleitern zurück wollte, waren sie etwas vorausgegangen. Er konnte so noch Zeit finden, sich zu sammeln und die Thränen zu dämmen, die fast übermächtig in seine Augen schossen.

Louis und Dankmar standen an einer Straßenecke, wo sie sich zu trennen hatten. Siegbert überraschte die Freunde durch den Entschluß, nach Schönau zu gehen und den künstlerischen Vorschlag Gelbsattel's, den er erzählte, für den Sommer schon jetzt in Angriff zu nehmen. Auch Dankmar, der ihn fragend fixirte, sprach von der Möglichkeit, daß ihn die Entscheidung der ersten Instanz seines Processes zwingen würde, nach Angerode zu reisen.

Dann wünscht' ich vorläufig, daß wir den Proceß verloren hätten, sagte Siegbert. Der Mutter wegen – mein ganzes Herz fliegt ihr zu.

Louis, erschreckend, daß beide Brüder entschlossen waren, die Residenz zu verlassen, hoffte, sie wenigstens noch zu sehen, ehe sie reisten.

Siegbert wollte sich eben seinem Atelier, Dankmar dem [2274] Gerichtshofe, Louis seiner Werkstätte zuwenden, als ein Wagen an ihnen vorüberrasselte und sie aus dem Schlage gegrüßt wurden.

Es war Egon, der mit zwei Bedienten in voller Gala zum König fuhr.

Es schlug zehn von den Kirchthürmen.

Die Freunde trennten sich. Egon, der sich von einer Scene mit der Gräfin losgerissen haben mußte, hatte furchtbar ernst ausgesehen.

[2275]
13. Capitel. Eine Entscheidung
Dreizehntes Capitel
Eine Entscheidung

Es war gegen zehn Uhr Abends.

Die Lampe brannte düster in einem Zimmer, dessen grünseidene Fenstervorhänge tief herabgelassen waren. Im Kamin glühte noch etwas die eben verkohlende Asche. Draußen jagten Carrossen. Die Theater sind beendet. Die großen Gesellschaften füllen sich. Auch Volksmassen tummelten sich noch. Man hörte an dem lebhaften Sprechen der Vorübergehenden, das von unten herauf scholl, wie die Gemüther erregt waren. Auch der Schritt wandernder Militair-Patrouillen war dem Ohre hörbar, das hören wollte und konnte.

Helene d'Azimont, die zu diesen nicht gehörte, lag ausgestreckt auf einer Chaise-longue, die in die Nähe des Kamins gerückt war. Das Zimmer war fast überhitzt. Sie fror. Eingehüllt in einen großen Shawl konnte sie sich nicht erwärmen. Ihre Hände fröstelten. So zitterte das Kinn, daß sie laut stammelte. Diener und Kammermädchen hatte sie abgewiesen. Sie wollte keine Hülfe, sie erwartete den Tod.

Schon seit dem Morgen um halb elf Uhr lag sie so.

[2276] Sie war nach Hause gekommen, aus dem Wagen mehr gesunken, als gestiegen und hatte sich gleich auf ihr Bett geworfen. Die Mädchen entkleideten sie, was auf ihren stummen Wink geschah. Man wollte zum Arzte schicken. Sie hatte es heftig ablehnend untersagt.

Wer an der Thür lauschte, hörte sie oft laut schluchzen. Dann lachte sie wie wahnsinnig, dann weinte sie wieder.

Von einer Nahrung, die sie zu sich nahm, war keine Rede. Sie schüttelte nur, todtenblaß, ihr entstelltes, von Thränen fast ungleich gefärbtes Antlitz.

Meldungen, sogar diejenigen, die Besuche von Rafflard, von Heinrichson ankündigten, wurden abgelehnt. Sie lag halb erstarrt. Ihr Kopf wühlte sich in ein Kissen, das von Thränen schon durchnäßt war. Nur auf vieles Zureden ihrer Mädchen erhob sie sich und ließ sich auf die Chaise-longue führen, die man an den Kamin rückte. Gegen Abend heizte man.

Um sechs Uhr etwa begehrte die Gräfin einige Löffel Suppe. Sie aß nicht den vierten Theil eines Tellers und stieß den Rest zurück. Die Arme hingen herab vom Körper, willenlos, schlaff. Die Augen sahen starr oder schlossen sich vor Erschöpfung. Oft griff sie plötzlich nach dem Herzen. Man hatte alle Bänder an ihren Kleidern aufknüpfen müssen. Jeder Druck machte ihr Beengung. So streckte sie sich wie leblos.

Gegen Acht wurde sie hörbar. Sie klingelte. Sie machte eine Miene, etwas zu begehren. Sprechen konnte sie nicht. Die Hand streckte sich nach einem kleinen Tisch am [2277] Fenster hinüber und deutete auf die dort gesammelten Zeitungen. Man wollte sie bringen. Sie schüttelte den Kopf und deutete hinaus auf den Eingang ihrer Wohnung. Man verstand sie jetzt erst. Sie wollte die Zeitung von diesem Abend haben. Man ging hinaus, sie zu holen.

Sie war noch nicht angekommen.

Ein tiefer Seufzer war ihre Antwort.

Endlich kam das ersehnte Blatt.

Sie erhob sich geisterhaft. Krampfhaft schlug sie das noch nasse Papier auf und durchflog es.

Bald entdeckte sie die mit großen Lettern gedruckte Stelle, die sie suchte. Sie lautete:

»Die Krisis ist noch nicht beendigt. Fürst Egon von Hohenberg hat ein Programm vorgelegt, das die vollständige Billigung des Hofes erhielt. Die Frage ist nur die, ob der Fürst sein Ministerium wird vervollständigen können. Die Nachricht einiger Blätter, daß er einige jüngere Beamte und Offiziere als Collegen vorgeschlagen hätte, ist eine Verleumdung. Vorläufige Liste: Conseilpräsident und Minister des Innern: Fürst Egon von Hohenberg. Auswärtige Angelegenheiten: General Voland von der Hahnenfeder. Krieg: General Arnheim. Cultus: Propst Gelbsattel. Handel und Gewerbe: Justus. Königliches Haus: Geheimrath von Harder.«

Helene warf die Zeitung hin, als wär' es ihr lieber, sie fiele gleich in die Flamme des Kamins. Sie sah nicht, daß der Bediente sie aufhob. Sie hörte auch nicht, ob er ging oder blieb.

[2278] Ein sanfter Thränenstrom entfloß ihren Augen. Eine unendliche Rührung schien sie über ihre eigenen Schmerzen zu ergreifen. Erst erquickten sie diese rinnenden Perlenbäche, die aus den heißen fieberhaften Augen flossen. Dann aber gerieth sie doch wieder in lautes Schluchzen und wieder der Brustkrampf stellte sich ein. Sie mußte husten, als wenn sie ersticken wollte. Das Blut, das sie zuweilen in ihren Tüchern erblickte, schien ihr eine Erleichterung.

Rafflard und Heinrichson ließen sich zum zweiten male melden. Sie nahm sie wieder nicht an.

Gegen neun Uhr kam ein Billet von Paulinen.

Ohne Hast, ergeben und schmerzlich, öffnete sie es.

Pauline schrieb:

»Helene, was hör' ich! Sie sind unglücklich über die glänzende Laufbahn unsres Freundes! Eben sitzt Egon an meinem Schreibtisch und redigirt eine genauere Erläuterung seines meisterhaften Programms. Zwei Worte, die er fallen ließ, verriethen mir, daß Sie eine Scene hatten. Warum Das, Helene? Warum fliehen Sie mich? Warum schließen Sie sich nicht unsern großen, bedeutungsvollen Plänen an? Egon liebt Sie, Helene! Aber stellen Sie sich nicht in den Weg, der zu seinem Ruhme führt! ...«

Egon liebt mich! rief Helene und zerriß, kurz den Rest dieses Billets überfliegend, es in hundert Stücke, die sie zornig in den Kamin warf. Er liebt mich? Und kann mich mit Füßen treten, mich fast an den Haaren schleifen, wenn [2279] ich ihm sage: Vernachlässige mich nicht! Waren die zwei Worte, die er fallen ließ, vielleicht die, daß ich auf der Erde vor ihm lag und ihn um den Tod bat? Waren die zwei Worte vielleicht die, daß ich sagte: So will ich dein Weib sein! War es die kalte, herzzerschneidende Antwort: Helene, ich muß zum König! Beschäme mich nicht mit einem Geschenk, für das ich dir würdig zu danken keine Zeit habe!

Ein krankhaftes Lachen befiel sie bei diesem Selbstgespräch. Sie sprang auf. Sie wollte nun Menschen sehen. Sie rief nun nach Rafflard, nach Heinrichson. Es war aber nach zehn Uhr. Zu spät, um sie noch entbieten zu können! Sie durchschritt die Zimmer, riß die Fenster auf, wollte ausgehen, zog an den Klingeln, die Diener und Mädchen standen hinter ihr, sie wußte nicht, was sie ihnen befehlen sollte.

Laßt uns allein! rief sie endlich den Dienern. Entkleidet mich! stöhnte sie den Mädchen.

Langsam schritt sie in ihr Zimmer zurück, ließ mit sich geschehen, was man beginnen wollte und sank in's Bett, bewußtlos, ohne Schlaf und ohne Wachen. Immer horchte das Ohr, ob nicht doch noch Egon käme, und wenn auch nach Mitternacht! Erst gegen Morgen ergab sich das gequälte Gemüth den Forderungen des erschöpften Körpers. Sie entschlief ...

Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als Helene erwachte.

Rafflard und Heinrichson hatten sich schon in aller[2280] Frühe nach ihrem Befinden erkundigen lassen. Von Egon fand sie keine Anfragen vor.

Sie ließ sich langsam ankleiden. Sie fühlte sich vom Schlafe nicht gestärkt. Die Rückerinnerung an die gestrigen Erlebnisse war ihr grauenhaft.

Um elf Uhr kam Drommeldey, der ihr Aussehen, ihren Puls bedenklich fand.

Er war nicht ohne Neugier, der Sanitätsrath. Er kannte die eigenthümlichen Verhältnisse dieser gestörten Liebe; noch mehr, da er ein vornehmer Frauenarzt war, verstand er sich auf die Pathologie der »brechenden Verhältnisse«. Er erklärte sie für einen jener Seelenzustände, bei denen man vorzugsweise dem gastrischen Rückschlage vorbeugen müsse. Er billigte die Diät der Gräfin und schied von ihr mit den Worten:

Verehrte, hüten Sie sich zwar vor dem Übermaß der Gefühle! Aber dennoch gesteh' ich, daß ich mehr für das volle Ausbluten des Herzens bin, als für die gewaltsame Unterdrückung. Ich weiß nicht, was Sie so stören, so bewegen kann. Aber wenn Sie Kummer haben, meine Gnädigste, so nehmen Sie nur den Kelch des Schicksals gleich ganz, trinken Sie den bittern Schierling hinunter bis zum letzten Tropfen! In der Wahrheit gegen sich selbst liegt die Genesung. Nur nicht fliehen vor dem Schmerz! Nur nicht dem Fatalen aus dem Wege gehen! Beileibe nicht! Das gibt geistige Blutzersetzungen und erzeugt unterlaufene Seelenzustände, die sehr entzündlich werden können. Für heute aber thun Sie mir den Gefallen, [2281] lassen Sie anspannen und genießen Sie die stärkende, erfrischende Luft nicht nur, sondern auch die viel trostreichere und erquickendere Abwechselung der Gegenstände, die sich Ihnen bei einer raschen Spazierfahrt darbieten werden. Versprechen Sie mir Das?

Die Gräfin versprach es nicht nur, sondern erfüllte auch des Sanitätsraths Begehren, sogleich anspannen zu lassen. Er wollte sie ausfahren sehen.

Ich bin noch nicht angekleidet.

Sie müssen einen Mantel nehmen! Es ist oktoberfrisch ...

Dabei zog Drommeldey sein Portefeuille und gab ihr aus der kleinen portativen Apotheke, die er bei sich führte, einige Streukügelchen. Er erklärte also die Krankheit der Gräfin für eine von denen, bei welcher die Homöopathie zulässig war.

Drommeldey, ein sehr kluger Weltmann, rührte die Streukügelchen selbst in einem Glase Wasser ein und plauderte dabei von Politik, Ministerium, Egon's glänzenden Talenten, Paulinen von Harder, vom »Jahrhundert«, Allem durcheinander. Charakteristisch war, daß er bemerkte, man nenne das Ministerium Egon schon das Blousen-Ministerium und erwarte, daß er seine vier bis fünf Inséparables zu Ministern mache. Die gestern angegebene Liste des »Jahrhunderts« hätte sich schon zerschlagen und man wette noch, daß der Kunsttischler Louis Armand, der ohnehin Heimatsrechte haben solle, das Portefeuille der öffentlichen Arbeiten erhalte.

[2282] Während Helene in seiner Gegenwart leichte Toilette machte und über alle diese Äußerungen des vorsichtig lauschenden Asklepiaden schmerzlich lächelte, sagte er:

Apropos, was haben Sie denn mit der Trompetta? Ist sie Ihnen bös?

Möglich! sagte Helene. Ich habe alle Menschen vernachlässigt. Sie gehört wol zu Denen, die Dergleichen nicht verzeihen.

Gestern, als sie in einer Gesellschaft vom Ministerium Hohenberg reden hörte, fuhr sie entrüstet auf und sagte:

Wenn sich der Hof so mit der Demokratie und Immoralität verbündet, brech' ich mit ihm. Ich widme mein Album der deutschen Flotte.

Welches Album? fragte Helene, die vielleicht schon oft vom Gethsemane gehört, aber für nichts Sinn hatte, was nicht mit dem geliebten Egon zusammenhing.

Drommeldey erklärte ihr diese Sammlung und schloß damit, daß die Trompetta sich nun aus Opposition gegen die ihr und dem Reubunde bewiesene Feindseligkeit des Hofes entschlossen hätte, das Gethsemane zum Besten eines Schiffes der deutschen Flotte zu verloosen und demselben Zwecke so viel fernere Betriebsamkeit zu widmen, daß sie ganz für sich allein ein Fahrzeug vom Stapel laufen zu lassen sich entschlossen hätte. Sie studire jetzt Marine und würde sich nächstens entscheiden, ob sie die fernere Aufgabe ihres Lebens in der Begründung eines Kanonenbootes oder eines Kutters oder einer einfachen schwimmenden Batterie finden solle.

[2283] Mit diesen absichtlichen Scherzen geleitete Sanitätsrath Drommeldey Helenen an den Wagen und gab dem Kutscher eine genaue Anweisung des Weges, welchen er eine Stunde lang im Park oder sonst vor den Thoren einschlagen sollte.

Helene war, als sie mit schwankenden Schritten durch ihre Zimmer ging, an der Treppe einem alten gebückten Manne begegnet, der, eine schwarze Binde um die Augen, an der Wand stehen blieb und sie in ihren Gewändern vorüber rauschen ließ. Als einer der Bedienten vom Wagenschlage zurückkehrte, fragte der Alte, der sich an einer Fußbürste sorgfältig die Stiefeln reinigte, ob er den Professor Rafflard sprechen könne.

Er ist im Augenblick nicht da.

Ich hab' ihn in seiner Wohnung gesucht und möchte ihn hier erwarten.

Der Bediente besann sich, daß Dies jener Fremde, Namens Murray, war, mit dem der vertraute Rathgeber sich vorgestern so lange unterhalten hatte und den er beauftragt war, mit Vorsicht zu behandeln.

Professor Rafflard, sagte er, kann jeden Augenblick wieder kommen. Setzen Sie sich, wenn Sie ihn erwarten wollen.

Eine Weile hatte Murray, still in sich versunken, auf einen Stuhl im Vorzimmer sich niedergelassen, als es draußen klingelte und der nebenan in die Bedientenstube gegangene Diener öffnete.

Die Gräfin zu sprechen?

[2284] Sie ist in diesem Augenblick ausgefahren.

Wohin?

In den Park, um sich zu erholen. Der Arzt brachte sie selbst in den Wagen.

In den Park! wiederholte der Sprecher, der sich, als er einige Schritte vorwärts that, als Heinrichson erwies. Er war in weißen Glaçehandschuhen und einem kalksteinfarbigen, gelbweißen, leichten Paletot über seinem Frack.

Halb unter der Thür stehend, konnte er Murray nicht sehen.

Als er sich besann, ob er nicht der Gräfin im Park sollte zu begegnen suchen, stand plötzlich Murray vor ihm.

Herr! rief Heinrichson erschreckend, hier schon wieder jenen unheimlichen Mahner an eine alte verdrießliche Geschichte zu finden. Was wollen Sie?

Sie ist nun todt.

Wer ist todt?

Ophelia! Ich sah das Stück in London. Sie war toll. Aber in den Bach sprang sie nicht. Sie fiel von ungefähr aus dem Fenster. Sie hätten es sehen sollen, Bester. Jesabel starb so. Es hätte ein Bild gegeben.

Heinrichson machte es heute so wie vorgestern. Er ließ Murray reden und entzog sich einer weiteren Erörterung durch die Flucht. Dieser geistreiche Künstler gehörte zu den Menschen, die, wenn man ihnen eine Beleidigung sagt, behaupten, daß sie taub sind. Er war verschwunden wie gekommen.

Murray setzte sich ächzend. Er hatte die Worte in[2285] gewaltiger Aufregung gesprochen und sich doch beherrschen müssen. Der Bediente sah ihn staunend an.

Kennen Sie den Herrn? fragte er.

Der große Künstler Heinrichson! sagte Murray.

Wer ist denn aus dem Fenster gesprungen?

Eine Gliederpuppe, die er malen wollte, sagte Murray seufzend. Habt doch schon so ein Ding bei den Malern gesehen?

Freilich. Ich trage ja oft Billets zu dem Herrn. Da sitzt immer eine große Puppe mit Kleidern behängt. Daran studirt er ...

Den Faltenwurf, mein Sohn! Eine solche Puppe hatte er einmal vor Jahren. Sie war schön! Augen im Kopf wie lebendig und Gliedmaßen, schlank, wie ein englischer Renner. Die Puppe hat ihm mit einem male nicht mehr gefallen. Da wurde sie erst traurig, dann wild und zuletzt toll. Sie tanzte so lange, bis sie sich im Wirbel drehte, an ein Fenster kam und husch! im Grase lag sie mit ihren schönen gelenken Gliedern! Morgen früh begrab' ich das arme Ding.

Der Bediente schüttelte den Kopf und deutete für sich nach der Stirn, als wollte er sagen, bei Dem ist es wol nicht richtig! Wie er sich in sein Zimmer zurückgezogen hatte, das durch eine Glasthür vom Vorzimmer getrennt war, hörte er, wie Murray öfters tief aufseufzte und sich die Augen trocknete. Dann sang der Alte zuweilen vor sich hin ein Liedchen oder trommelte an den Fensterscheiben, in deren Nähe er saß. Dem Diener war es jedesmal [2286] unheimlich, wenn es klingelte und er zum Öffnen hinaus mußte.

Zuletzt hörte er endlich zu seiner Beruhigung den bekannten Husten des Professors Rafflard, der sich schon auf der Treppe ankündigte. Sogleich ging er ihm entgegen, öffnete und zeigte auf Murray, der ihn erwartete.

Ah! Sind Sie endlich da! Was hab' ich Sie erwartet!

Wo ist die Gräfin?

Ausgefahren, Herr Professor!

Kommen Sie, mein Bester! Kommen Sie! Jean, wir gehen in das gelbe Zimmer. Man soll uns nicht stören. Hörst du, Jean? Kommen Sie, Murray! Gehen Sie voran.

Rafflard öffnete lang ausschreitend und ließ Murray, der sogleich ehrerbietig aufgestanden war, vorangehen.

Rechts! Rechts! sagte Rafflard. Ihr wißt doch noch? So! Hier herein!

Damit folgte Rafflard, drückte die Thür des gelben Zimmers fest hinter sich zu, legte den Hut ab und setzte sich erschöpft.

Was bringen Sie? Wie steht es? Was habt Ihr heraus? fragte er und zog eine Schachtel voll Brustpastillen, erwartungsvoll, was ihm der demüthige und sich überall umblickende Murray würde mitzutheilen haben.

Ei Herr, ich denke ja, begann Murray verlegen, ich denke ja, es wird sich so schicken, wie Sie's wünschen.

In der That, Murray? Ihr verdient Euch den wärmsten Dank der rechtschaffenen Familie, von der ich schon gesprochen habe. Erzählt! Wie weit seid Ihr?

[2287] Wie ich von Ihnen ging, Herr ... Darf ich denn ...

Erzählt! Alles!Alles!

Da ging ich sogleich in meine Wohnung ...

Brandgasse Nr. 9.

Nein, in eine neue, die ich mir gleich nach unsrer Unterredung neben der alten miethete ...

Ihr seid schlau ... Wo ist Das?

In der Wallstraße Nr. 13.

Wallstraße ...

Eine Treppe hoch ... vorn heraus ... ein Sprachlehrer, Signor Barberini war eben ausgezogen.

Signor Bar ...

Es soll, sagte man mir, ein Herr gewesen sein von langer Statur, mit schwarzer Perrücke und einer verdammt kleinen Nase, aber einem Kinn wie ein Pavian ...

Ei, ei! ... Ein Italiener!

Und Spitzbube! Nicht zwei Stunden des Tages soll man ihn in seinem Zimmer gesehen haben, nie hat er dort geschlafen. Fast glaub' ich, daß er nur dort wohnte, um seinen Nachbar zu belauschen.

Ich verstehe ... Aber, wie kommt Ihr ...

Gerade zu dieser Wohnung? Das will ich Euch sagen, Herr! Ihr hattet von Fränzchen Heunisch gesprochen und sagtet mir, wo sie wohne ...

Richtig.

Im Hause bemerkt' ich denn auch bald, daß der junge Mann, der seiner Familie so vielen Kummer macht, ein Soldat ist, Namens Heinrich Sandrart.

[2288] Wer?

Es ist ein Sergeant. Er liebt Fränzchen; er ist wie die Taube, sie ist wie der Geyer. Sie mag ihn nicht ...

Nein! Nein! Das –

Ich versichere Sie, Herr! Er kommt trotz alledem zu dem Tischler Märtens und bläst die Flöte. Sie bringen den an's Ende der Welt, wenn Franziska Heunisch entführt wird ...

Aber –

Ohne Rathgeber, fuhr Murray in seiner trockenen, ruhigen Weise fort, ohne Rathgeber und Vertraute kommt man in großen Wagstücken nicht weiter!

Aber –

Ich vertraute mich meinem Nachbar.

In der Brandgasse?..

Nein, in der Wallstraße. Es ist ein Landsmann von Ihnen.

Louis Armand! Ein Pariser, Kunsttischler, Vergolder ...

Freund des Prinzen Egon ...

Ich hoffe, Freund, Ihr habt keine dummen Streiche gemacht!

Euern Landsmann wollt' ich zum Vertrauten wählen.

Seid Ihr toll?

Vorgestern Nachmittag wollt' ich meinem Nachbar erst die Aufwartung machen. Er stand unten in der Werkstatt im Hinterhofe. Oben war sein Comptoir verschlossen. Ein Anschlag verweist in den Hinterhof.

[2289] Also ...

Konnt' ich mich ihm vorgestern noch nicht anvertrauen ...

Zum Henker! Was wollt Ihr Euch denn diesem Armand anvertrauen?

Ich schätze den Mann seit lange.

Ihr kanntet ihn ja nicht!

Louise Eisold, meine Nachbarin, lehrte mich ihn kennen.

Aber Freund, Ihr verwickelt die ganze Angelegenheit –

Nein! Ihr müßt wissen, Herr, daß ich nach vielen wilden Dingen, die schwer auf meinem Gewissen lasten, zuweilen trübsinnig bin, schwarzsichtig. Da ist's mir eine Freude geworden, neben der Louise Eisold zu wohnen. Sie fürchtet sich zwar vor mir, das närrische Ding; aber singen hör' ich sie doch gern, und wie sie einmal ein Lied sang, das mir ausnehmend gefiel, ging ich zu ihr und klopfte an. Das sind acht Tage her ...

Wozu soll Das?

Ich klopfte bei ihr an und sagte: Louise, seit dem Tage, wo Ihr mir das Glas Wasser vom Brunnen holtet, sprachen wir uns nicht. Ich habe seitdem viel Leids erlebt. Ich kam in dies Land, um hier zu sterben. Ich habe eine ernste Pflicht vor meinem Tode zu erfüllen, einer von elenden, nichtswürdigen Menschen mit Füßen getretenen Wahrheit zu ihrem Rechte zu verhelfen, dann will ich mein zweites Auge zuthun, das erste hab' ich schon daran gewöhnt, nichts mehr von der Welt zu sehen ...

[2290] Rafflard rückte mit seinem Stuhle ungeduldig hin und her und riß zornig seine Augen auf ...

Ihr singt so schön, sagt' ich dem Mädchen, fuhr Murray in ungestörter Ruhe fort. Ihr singt so schön, mein gutes Kind, und ich muß Euch danken, daß Ihr meine Hoffnung damit aufrichtet. Was ist Das für ein Lied, das Ihr eben sangt? Da nannte sie einen Franzosen, Louis Armand, der es gedichtet hat ...

Rafflard horchte beruhigter. Diese Mittheilung schien ihm nicht ganz ungehörig zu sein.

Ich bat um die Strophen, fuhr Murray fort, und sie gefielen mir. Das waren Worte, wie sie im Herzen des fühlenden Freundes der Armen widerklingen müssen. Louise Eisold hatte sich selbst dazu eine Weise erfunden. Es war Schwung darin, Rhythmus, Harmonie ...

Wetter! sprang Rafflard auf und stand wie starr über diese gebildeten Worte. Treibt Ihr Musik? fragte er tonlos. Was ist Das?

Murray besann sich, stockte eine Weile und sagte dann:

Eh' ich meinen Ältern davon lief, hatten sie viel auf mich gewandt. Ich strich die Violine und verstand mich besonders auf die Doppelgriffe ...

Ha! Ha! lachte Rafflard, der den Doppelsinn auffaßte, den Murray mit schlauer Miene absichtlich in die musikalische Terminologie legte, und sich beruhigte ...

Seitdem, fuhr Murray fort, schätz' ich Louis Armand und wünschte, ihn kennen zu lernen. Die Gelegenheit fand sich. Das Vertrauen, das Ihr mir geschenkt habt, Herr, [2291] führte mich dem Fränzchen Heunisch in die Nähe. Gestern früh macht' ich des Dichters persönliche Bekanntschaft.

Und ...

Es war nach zehn Uhr. Er kam verstimmt nach Hause. Ich hörte ihn von dem Zimmer aus, das ich mir für acht Tage gemiethet hatte. Ich ging zu ihm und fand einen jungen, gefälligen Mann ...

Wozu gefällig?

Erst sprach ich von seinem Gedicht, von Louise Eisold, ihren Geschwistern und was sich so ergibt aus der kleinen Welt, in der diese Menschen leben. Dann kam auch Heinrich Sandrart ...

Was wollt Ihr denn mit ...

Der junge Mann, der seine Eltern so bekümmert?

Ich bin auf der Folter ...

Louis Armand gestand es ja ein.

Gestand es ein? Was?

Daß Heinrich Sandrart Fränzchen liebt. Und als ich ihm den Wunsch der Eltern oder Verwandten aussprach, durch eine Entfernung Fränzchen's auch Heinrich Sandrart zur Vernunft zu bringen, erbot er sich, mir um so mehr die Hand zu reichen, als eben an ihn ein Brief von dem Onkel des jungen Mädchens angekommen war ...

Welcher Onkel?

Den Ihr kennt! Ihr kennt ja die Verwandten? Herr!

Murray! Murray! Ihr habt klüger sein wollen, als ich ...

Herr, sagte Murray, ich habe Gewalt vermeiden wollen.

[2292] In Teufels Namen, wenn Sie einem Banditen sagen: Stich Den und Den nieder und der Bezeichnete ist eben im Begriff, sich selbst an den nächsten Baum aufzuknüpfen, wird der Bandit ein Esel sein und erst noch einen überflüssigen Mord auf seine Seele laden? Der Onkel schreibt an Louis: Veranlassen Sie Fränzchen zu mir zu kommen! Ich bin nicht wohl! Die Ursula Marzahn will sterben. Fränzchen soll nur diesen Winter bei mir bleiben ... Die Ursula Marzahn, Herr, darf nicht sterben! Wissen Sie, Herr, sie darf nicht! Kennen Sie die Ursula, Herr?

Damit war Murray aufgesprungen und hatte sich dicht vor Rafflard hingestellt, der nicht wußte, wie ihm geschah. Er sah die Aufregung des Alten und mußte ihn, aus Furcht, ihr Gespräch dürfte zu laut werden, gewähren lassen.

Murray besann sich und nahm wieder Platz.

Nach einer Weile, währenddem Rafflard nicht mehr wußte, was er aus seinem Gegenüber machen sollte, fuhr dieser fort:

Ist einmal Franziska im Hohenberger Walde, so nimmt Sandrart, dem es schon längst in seiner bunten Jacke zu eng ist, den Abschied und der Zweck, den Ihr wollt, ist erreicht. Nicht so, Herr?

Rafflard erhob sich jetzt und warf seine Zuckerdose ärgerlich auf den Tisch.

Welch' ein Thor Ihr seid, Alter! rief er. Welche alberne, kindische Geschichte Ihr erfunden habt! Wer hat Euch denn gerathen, weise zu sein, nachzudenken, Finessen zu [2293] machen! Wenn Leute Eures Schlages diplomatisch werden wollen, kommt nur Verkehrtes an den Tag. Sie soll fort! Heute noch! Und Der, der Ihr folgen soll, Der, den sie liebt und der sie wieder liebt, ist nicht der Soldat da, sondern ...

Ha! Ha! Ich weiß es, rief Murray rasch, der, der sie liebt, ist ein Sprachlehrer, Namens Sylvester ...

Rafflard wandte sich, um nicht sein Erschrecken zu verrathen.

Herr Sylvester! fuhr Murray fort. Ja! Ja! Sie hat ihn auf dem Fortunaballe kennen gelernt. Er hat ihr Sprachunterricht geben und sie verführen wollen. Herr, dieser Sylvester ist es! Eine lange Figur, schwarze Perrücke, auch die verdammt kleine Nase, auch das Kinn des Pavians ... wie ich sehr vermuthe, der Doppelgänger des Signor Barberini, Herr ... Meinen Sie nicht? Es ist Der?

Rafflard, ohne sich umzuwenden und von Murray auf den Spiegel gewiesen, sagte leise und zitternd:

Auch Der nicht!

Zum Henker! So sagen Sie's, wer es ist! donnerte Murray.

Dieser selbe Louis Armand ist's! Habt Ihr, Wahnsinniger, denn nicht bemerkt, daß nur er, er es ist, den Franziska liebt? Habt Ihr Euch in Eurer tollen Weisheit so hinter's Licht führen lassen, daß Ihr nicht merktet, daß er sie vergöttert und sie bis an's Ende der Welt aufsuchen würde, wenn es hieße, sie ist in Hamburg, in London ... wo weiß ich, Ihr alter Sünder Ihr!

[2294] Murray blieb auf diese Worte in einer eigenthümlichen Stellung sitzen. Er hatte das linke Bein über das rechte gelegt und hielt es mit beiden Händen, unruhig an ihm rüttelnd, fest. Es schien, als müßte er durch diese Bewegung eine große innere Unruhe im Zaume halten ...

Dieser Louis Armand ist es, fuhr Rafflard fort, dessen communistische Träumereien hiesigen achtbaren Familien, mit denen er in Verbindung steht, die größten Gefahren drohen. Wenn etwas ihn entfernen kann, etwas ihn in die Welt jagt, um sich zu ändern, zu bessern, Menschen kennen zu lernen, so ist es die Unruhe über das Loos jenes Mädchens, das er zu heirathen entschlossen ist. Es ist ein Werk der Sittlichkeit, der Erziehung, der Besserung, das Ihr fördern solltet, Murray, und so verkehrt habt Ihr es angefaßt!

Nun denn, sagte Murray ruhig. Warum wart Ihr nicht gleich gegen mich offen, Herr? Was erhalt' ich, wenn ich heute Abend mit Franziska Heunisch nach dem Walde von Hohenberg abreise und morgen früh Louis Armand es ist, der uns dorthin folgt?

Das ist nichts, sagte Rafflard. Auf Monate muß er entfernt bleiben. Entführt das Mädchen, wohin Ihr wollt! Louis Armand muß weit weg avisirt werden.

Wie aber, wenn Louis Armand den ganzen Winter aus freien Stücken auf dem Schlosse Hohenberg bliebe?

Rafflard horchte auf ...

Murray zog seine Brieftasche, öffnete sie langsam und [2295] nahm ein Billet heraus, das er dem, jeder seiner Bewegungen erstaunt folgenden spinnenbeinigen Professor mit den Worten überreichte:

Der Bravo lauerte hinter einem Baume, an dem sich sein Opfer eben selbst erhängt!

Von wem ist das Billet? fragte Rafflard befremdet wieder über das Wort Bravo ...

Louis Armand empfing es gestern Abend um die zehnte Stunde.

Rafflard las:

»Mein theurer Louis, soeben komm' ich vom Schloß. Der König und seine ganze Familie haben mir ein Vertrauen bewiesen, das ich ehren muß. Mein Programm ist angenommen. Es kommt nur noch darauf an, Männer zu finden, die sich in meine Ideen einzuleben vermögen und meine Collegen werden. Sind diejenigen Namen, die selbst eine Politik vertreten möchten, zu stolz, sich meinen Ansichten zu fügen, so befiehlt der Monarch einigen Bureauchefs, sich meinen Befehlen unterzuordnen. Jetzt, Louis, hab' ich eine Bitte! Die Geschäfte des Staates werden mich so in Anspruch nehmen, daß ich mich meinen eignen Angelegenheiten völlig entziehen muß. Erweise mir die Gefälligkeit und reise in meinem Auftrage nach Hohenberg! Es wäre mir lieb, wenn du schon morgen gingest. Ich muß wissen, wie es dort aussieht, was der neue Generalpächter beginnt, ich habe Ursache, auf die Wiederherstellung meiner äußeren Verhältnisse den größten Werth zu legen. Sollte ich bei der Überfülle der [2296] Zumuthungen, die mir jetzt werden gestellt werden, dich, meinen theuersten Gefährten und Bruder, nicht mehr sehen können, so entnimm vom Banquier von Reichmeyer Alles, was du zur Bestreitung dieser Reise bedarfst. Beaufsichtige den Zustand meines ganzen kleinen Fürstenthums, den ich nicht länger vernachlässigen will! Nimm dir Zeit dazu und sorge, daß für das bevorstehende Frühjahr Alles so in Angriff genommen wird, als es nöthig ist, um mit Ackermann einverstanden zu bleiben. Lebe wohl, Louis! Der unsichtbare Genius, der uns verbunden, schütze dich und mich! Dein Egon!«

Rafflard's Mienen verklärten sich sonnenhell. Einen solchen Einblick in die innersten Angelegenheiten seines ihm so feindseligen Zöglings hatte er nicht erwartet!

Wo habt Ihr das Billet her, Murray? fragte er und hustete sich aus. Das Bücken beim Lesen hatte ihn angegriffen.

Von Louis selbst! sagte Murray in seinen früheren dumpfen brütenden Ton zurückfallend.

So vertraut seid Ihr mit ihm?

Ea war zehn Uhr Abends, als dieser Brief ankam. Ich hatte drei Stunden mit ihm allein gesessen ...

Drei Stunden ...

Ich hatte ihn traurig gefunden; denn er nahm Abschied von einem Freunde, Namens Siegbert Wildungen, der nach einem Dorfe Schönau reist –.

Schönau? In der That! rief Sylvester mit großer Befriedigung ...

[2297] Er nahm Abschied von einem anderen Freunde, Namens Dankmar Wildungen, der einen wichtigen Proceß in erster Instanz verloren hat und nach Angerode in Thüringen reist, um sich neue Hülfsmittel zu einem großen Unternehmen zu holen und eine kranke Mutter zu sehen ...

Murray! Du bist ein Freudenbote!

Er nahm Abschied von einem Geistlichen, Namens Rudhard, der in diesen Tagen die Residenz mit der ganzen Wäsämskoi'schen Familie, die Fürstin ausgenommen, verlassen will!

Rafflard stand auf. Dieses natürliche Lösen der Kette, die sich um Egon geschlungen hatte, erwartete er nicht ...

Ich fand Louis Armand, fuhr Murray fort, gestört, unglücklich, in Thränen. Ich wollte ihn zerstreuen, trösten. Ich bin unglücklich mit meinen Tröstungen. Als es zehn Uhr schlug, kam dieser Brief ...

Er wird gehen?

Er ist schon fort. Morgen, wenn ich eine Todte begraben habe, folg' ich ihm mit Franziska Heunisch ...

Ihr mit dem Mädchen?

Warum nicht?

Euch vertraut er sein Theuerstes?

Mir nicht, warum nicht mir?

Murray! Ha! Ha! Murray, wodurch habt Ihr ihn so bezaubert?

Durch die Wahrheit!

[2298] Welche Wahrheit?

Die Wahrheit meines Lebens, mit der ich in drei Stunden ihn zu zerstreuen suchte.

Ha! ha! Und da glaubt er Euch? Das ist lustig, Murray! Ha! ha! Aber Ihr wollt das Mädchen nun in den Wald führen zu Louis Armand? Alterchen, wie wär' es doch, wenn man lieber einen Ort ausfindig machte, wo der allerliebste kleine Engel nur Euch und zuweilen mich sähe! Wenn man mit dem Nutzen im Allgemeinen hier noch einen Vortheil für sich im Besondern verbände. Murray, wenn man das schöne Mädchen irgendwo versteckte, knebelte ... Ihr wißt zu bezaubern. Wodurch habt Ihr diesen Armand gewonnen?

Noch mehr! Durch die Wahrheit über Euch, Rafflard, habe ich ihn ganz gewonnen!

Rafflard richtete sich auf, wie vom Donner gerührt. Das war ein Wort, das ihm die lüsternen Lippen erstarren machte.

Durch die Wahrheit, die ich Euch verschwiegen habe, Elender!

Murray!

Rafflard!

Seid Ihr toll? rief Rafflard, dem es war wie ein plötzlicher Überfall.

Barberini! Sylvester! Jesuit!

Wahnsinniger! stöhnte Rafflard und sprang an die Thür.

Murray ihm zuvor. Beide rangen um den Ausgang ...

[2299] Durch die Wahrheit, donnerte Murray und packte den langen Feigling fest im Genick, durch sie hab' ich einen Edlen gewonnen, der schauderte, als er erfuhr, daß ich zu Eurem verbrecherischen Antrage nur schwieg, weil ich ihn hören, ganz hören, Euch ganz entlarven und Die, die er betraf, warnen wollte.

Lügner! krächzte Rafflard und wollte die Thür gewinnen.

Ich log mich als Sünder, sagte Murray ihn zurückschleudernd, als elenden Helfershelfer Eurer tückischen Pläne, weil ich das erste mal, daß ich den Namen Franziska Heunisch hörte, zitterte, denn ich habe Ursache, Menschen, die mit dem Geheimnisse meines Lebens zusammenhängen, zu schonen, zu schützen, wie ein Engel zu bewahren. Du Teufel, glaubst, daß ich der Hölle entstammt bin wie du! Was Heinrich Sandrart! Was die gemiethete Wohnung! Nichts von Allem ist wahr, als daß dein Nebenbuhler dir von selber weicht! Aber auch das Opfer, das du ihm nicht gönntest, ist die entrissen. Ich werde Franziska schützen. Diese Tücke ist dir mislungen, Elender!

Rafflard war auf seinen Stuhl zurückgesunken, todtenbleich. Murray hatte sein Terzerol gezogen. Rafflard verzog keine Miene. Seine Geistesgegenwart war erschüttert, aber sie verließ ihn nicht ganz. Aus den letzten Worten Murray's entnahm er, daß er bei ihm nur ein Attentat auf die Tugend eines jungen reizenden Mädchens voraussetzte. Er ergriff rasch den Gedanken, sich durch Humor [2300] zu helfen. Frech zog er eine Börse hervor und sagte, sie in die Luft werfend, lachend:

Murray, Das war dir bestimmt! Nimm! Ich erkenne, du gehörst zu Denen, die sich hüten, rückfällig zu werden. Es ist nie gut. Ihr habt Recht! Ja, ja, Alter! Ich habe den Fehler, verliebt zu sein in Mädchen mit wächsernen Augenlidern und schwarzen, langen Wimpern. Es ist eine Narrheit, der zu Liebe ich sogar Komödie spiele und den Sprachmeister mache, französischen und italienischen Unterricht gebe! Ha! ha! Alter, nimm! Wir wollen uns versöhnen ... im Geiste der Liebe!

Murray stieß die Börse zurück. Sein Scharfsinn sagte ihm jetzt, daß er sich in der Voraussetzung eines Attentats auf die Unschuld Franziska's möchte geirrt und die Ursache der Rafflard'schen Anträge vielleicht noch eine ganz andere wäre. Er wollte forschen und mäßigte sich ...

Dankt Gott, sagte er, dem Gott, dessen Namen Ihr in meinem Kerker und dem des Mädchens, das ich morgen begrabe, unnützlich führtet ...

Das schöne Mädchen, mit dem Ihr auf dem Fortunaballe ergriffen wurdet ... lenkte Rafflard ein, erleichtert, daß er auf einen andern Gegenstand kommen durfte ...

Ist todt ... sagte Murray, der bei diesem Gedanken alle Vortheile seines Sieges über den Elenden aufgab.

Wie kam Das, Alterchen?

Wohl so, wie es manchem Mädchen von wächsernen Augenlidern und langen Wimpern gegangen wäre, wenn [2301] Ihr eine schönere Nase hättet und ein menschlicheres Kinn!

Ich wünschte, Murray, versuchte Rafflard zu scherzen, Ihr nähmet lieber das Geld und ließet etwas mehr von meiner Schönheit gelten. Ihr macht Euch bitter bezahlt ...

Bessert Euch und belügt die Welt nicht mehr! sagte Murray, legte die früher empfangenen Dukaten auf den Tisch und wandte sich zum Gehen, da er in dem Nebenzimmer Geräusch, Thürenschlagen, rasches Laufen hörte.

Rafflard, aufathmend, begleitete ihn mit aller Freundlichkeit, schlug ihn auf die Schulter zur Versöhnung und ließ ihn aus dem gelben Zimmer mit den Worten:

Alterchen, wir bleiben doch Freunde! Die Philosophie verbindet uns. Auf Wiedersehen, wenn Ihr aus Hohenberg zurückkommt. Ihr seid in das kleine Ding verliebt und eifersüchtig auf mich! Verstellt Euch nicht! Führt sie in den Wald! Lebt glücklicher mit ihr als mit den Damen, unter deren Ruf Ihr leidet und die Euch sterben, wenn sie Euch Geld gekostet haben. Auf Wiedersehen, Murray! Lebt wohl, alter Freund!

Der lange, zudringliche Mann entließ Murray scheinbar wie seinen besten Freund.

Murray ging und seufzte über die verwilderte Phantasie eines Schurken, der nicht im Stande war, irgend noch ein Verhältniß rein und sittlich aufzufassen.

Das Entzücken, in dem Rafflard über die freie Bahn, die sich nun zwischen ihm, Egon und Helene d'Azimont eröffnete, sollte aber nicht lange währen. Er sollte bald [2302] kennen lernen, daß Egon einer jener Menschen war, die über jede Berechnung hinauswachsen. Kein Maßstab paßt auf Individuen so flugschneller Entwickelung.

Wie der Jesuit die Bedienten nach der Gräfin fragte, wie man ihm sagte, sie wäre zwar soeben von ihrer Spazierfahrt zurückgekommen, hätte aber vom Fürsten Egon einen Brief erhalten und sich eingeschlossen, wußte er, ohnehin noch erschüttert, nicht, was er thun sollte. Seit zwei Tagen hatte er sie nicht gesprochen. Alle seine Pläne gingen so günstig vorwärts. Er hatte der alten Gräfin nach Paris die besten Versicherungen schreiben können, daß er sich ihrem Auftrage, eine Scheidung zwischen ihrem Sohne und Helenen zu befördern, mit dem günstigsten Erfolge unterzöge. Helene hatte er seit vorgestern früh nicht gesehen. Er hoffte, sie mit der Aussicht, daß der Bund, der sich um Egon gebildet hatte, zersprengt, zerstreut, entfernt war, auf's angenehmste zu überraschen, und nun hörte er, daß sie weine, krank wäre, ihn abweise und sich schon wieder eingeschlossen hätte!

Eine längere Ungewißheit ertrug er nicht. Er näherte sich der verschlossenen Thür und lauschte. Es war ihm, als hörte er weinen.

Um des Himmels Willen, dachte er, was hat die Gräfin vor! Was ist geschehen?

Er öffnete leise das Metallplättchen über dem Schlüsselloch. Die Bedienten, denen der Zustand ihrer sonst so gutmüthigen und freundlichen Herrin Besorgnisse einflößte, unterstützten ihn in seinem Beginnen.

[2303] Er konnte Helenen nicht sehen. Der Schlüssel, der von innen steckte, verhinderte es.

Aber deutlich hörte er, daß sie weinte und mit den Zähnen klapperte wie eine Fieberkranke.

Jetzt hielt er sich nicht länger. Er klopfte.

Helene antwortete nicht.

Er klopfte stärker und rief durch das Schlüsselloch:

Beste, theuerste Freundin, was beginnen Sie! Lassen Sie mich hinein, Ihr wärmster, aufrichtigster Freund muß Sie sprechen! Es sind Wunderdinge geschehen. Öffnen Sie, Gräfin!

In der That hörte er die Gräfin gehen. Sie erhob sich. Er hörte ihr Kleid rauschen. Sie schloß auf.

Wie er eintrat, sah er eine Jammergestalt. Die Wangen der schönen Frau waren wie grau. Die Augen erloschen. Die Hände schlaff herabhängend. Er faßte die Rechte, sie zu küssen. Sie war eiskalt.

Aber, was ist Das? rief er. Gräfin! Ich komme, um Ihnen zu sagen, daß von morgen, vielleicht schon von heute an der Fürst von allen seinen Umgebungen gänzlich verlassen ist. Er wird Minister. Das ist wahr. Aber die Stunden der Muße, der Erholung, deren er nur zu sehr bedarf, werden unverkürzt Ihnen gehören. Wieweit sind Sie?

Statt aller Antwort gab Helene dem Sprecher einen Brief.

Es war dieselbe Handschrift wie die, die er eben an Louis gerichtet gesehen hatte. Egon schrieb an die Gräfin eine Entscheidung ihres Schicksals.

[2304]
14. Capitel. Zum Lebewohl
Vierzehntes Capitel
Zum Lebewohl

Der schmerzliche Accord, der durch unsre ernster tönende Erzählung fährt, lautete:

»O es ist wol eine der herbsten Entbehrungen, Helene, die sich der Mensch auferlegen kann, wenn er sich dem Arme der Liebe entwindet. Ich habe lange gerungen, mich von den grauen und düstren Vorstellungen, die mein Gemüth umschatteten, zu befreien. Ich kann nicht anders; ich bin den finstern Mächten der Überlegung verfallen und was ich auch beginne, mich wiederaufzuschwingen zu einem großen, vorurtheilslosen, freien Blicke über das Leben hin, ich kann es nicht. Ich erfülle mein Schicksal.

Was mich zu dir führte, geliebte Helene, hab' ich oft dankend gestammelt. Es war nicht deine Schönheit allein, nicht die Güte deines Herzens, die sorgsame Liebe und Sorgfalt, ja leidenschaftliche Vergötterung Dessen, was du einmal in das Heiligthum deines Herzens eingeschlossen hattest, es war ebensoviel von meinem eignen innern Drange, gerade Das, was ich in dir fand, gerade Das zu besitzen. Ich Ärmster hatte der Liebe so wenig gefunden im Leben! Liebe ist das behagliche Glück der reinsten [2305] Menschlichkeit. Liebe ist das stille Ausruhen an einem Platze, wo es allen Sinnen, den innern und äußern, wohlergeht. So glücklich war ich zwei mal! In Lyon und in Enghien!

In Paris verlor ich Louison. Ich verlor diese Liebe an Paris selbst. Es gehört zur Liebe ein schlummernder Mensch, der wenig bedarf, wenig begehrt, viel träumen kann. Ein solcher war ich nicht mehr, als ich die große Weltstadt sah, das Gewühl der Menschen, die von Interessen und Meinungen durcheinander gejagt werden. Louison's liebliche Gestalt reichte bis zu den Phantasieen nicht mehr hinauf, die mich in der großen Weltstadt zu umgaukeln anfingen. Und doch wollt' ich entsagen, wollte nicht sein und scheinen was ich war, wollte mich verbergen, lernen, mich bilden. Ich mochte den Begriffen, denen ich in Lyon Treue geschworen hatte, nicht entsagen. Da fand ich Alles, was ich vermißte, in deiner Liebe! Du hast mich geliebt, Helene, wie die Mutter, die sich vom Gatten abwenden muß, ihr Kind anbetet und in reinen Flammen ihre ganze Seele zu läutern glaubt! Du fingst an, dich selbst zu lieben, dir selber zu gefallen, als du deine ganze Kraft der Aufopferung mir dahingabst! Aber auch damals, theures Wesen, warst du mir nur der Widerschein eines innern Bildes, die Befriedigung eines von mir selbst gefühlten Bedürfnisses, ein Gedanke, eine Stufe der Entwickelung, ein Standpunkt zur Anschauung des Lebens. Ach, daß es so ist! Aber wer kann es leugnen? Ich war glücklich, bei dir von einem Irrthume, einer Grille [2306] auszuruhen. Du nahmst mich ohne Ansprüche. Du wolltest nicht, daß ich glänzte, meinen Ruf wiederherstellte. Du liebtest nur mich, die Person, mein Lachen, mein Weinen, mein Hoffen, mein Klagen, den Menschen, den schwachen, träumenden, bequemen Menschen, der mit der Welt grollte, mit den Seinigen gebrochen hatte und über eine Zukunft philosophirte, die er sich nach den Stimmungen des Augenblicks wechselnd und immer anders ausmalte. Die Flamme brannte und nahm den Docht, wo sie ihn fand. Das Zufälligste machte uns glücklich und Unterhaltung fanden wir in uns selbst.

Eine schmerzliche Reue trennte uns. Du weißt, Helene, wie ich mich plötzlich aufgeschreckt fühlte. Ich konnte so, wie sonst, nicht zurückkehren zu dir! Ich hatte Louis Armand wiedergesehen und fand in ihm noch alle die Keime der Gedanken wieder, die ich in mir selbst erstickt hatte. Ich gab dich nicht auf, Helene! Das weißt du wohl. Ich floh nicht vor dir, sondern vor mir selbst. Ich floh vor dem Bilde der Trägheit, der zwecklosen Träumerei, das mir von mir selber vorschwebte. Ich floh vor den Jahren, um die ich den Schöpfer betrogen zu haben glaubte. Unschlüssig über mich selbst kam ich hier an. Louis dachte für mich, handelte für mich. Ich folgte seinen weiseren Anordnungen. Die Reise nach Hohenberg, die Krankheit ist dir bekannt, auch unser Wiedersehen, Helene! Frage den Gott der Liebe, ob es falsche Schwüre waren, die ich in der Seligkeit dieses Wiedersehens gelobte ... sie waren nicht untreu gemeint. Aber ich fühle [2307] es, die Art, in der ich allein noch, was ich damals verhieß, ausführen kann, wird dir nimmer genügen.

Ich habe angefangen, Alles, was ich seit Genf, seit den deutschen Universitäten, seit Lyon und Paris über die Gesellschaft und das Staatsleben gedacht habe, jetzt in ein System zu bringen. Ich muß den Anfang eines männlichen Berufes machen. Ich bedarf jetzt einer unendlichen Freundschaft, kann aber nur sie, nicht die Liebe, erwidern. Ich fühle mich zur Liebe, zur Hingabe ebenso zerstreut, matt, ohnmächtig, wie glühend ich die uneigennützige, blindeste, treueste Freundschaft bedarf. Es ist mir jetzt, als wenn Männer, die etwas Großes wollen, nicht in der Weise, wie es die Dichter besingen, lieben können. Werf' ich dir vor, daß du es verschmähst, von meinen Almosen zu leben, von den Blicken zu zehren, die ich in Sturmeseile einen Augenblick innehaltend dir flüchtig zuwerfe? Wärst du selber ehrgeizig, du begnügtest dich mit ihnen. Aber du bist es nicht. Du willst nur Liebe, das Glück des stillen, ungestörten Besitzes. Du bist eine Lebensdichterin! Ich bin, wenn ich in allen meinen Hoffnungen und Entwürfen einst scheitern werde, höchstens so glücklich, der Gegenstand eines Dichters zu werden, der mich mit einem Gebet für meine Seele, mit einer Entschuldigung für die Welt, in seiner Darstellung einschaufelt.

Du hast dies Leiden gefühlt, Helene, und mir gestern, als ich so grausam, so kalt war, wieder von dem Worte gesprochen, das du schon einmal fallen ließest, du wolltest [2308] mein Weib werden! Helene, daß ein Wort, worin für ein Weib ihre ganze Kraft, ihre ganze Allmacht liegt, hier wie ein Almosen klang, das nicht einmal du gabst, sondern du nahmst! Mein Weib! Helene, du mein Weib! Daß ich verneinend so auffuhr, daß ich so wild stürmte, was war es denn, als daß ich dich für zu hochhalte, um mit dem Bettelpfennig der Ehe die Schuld abzutragen, die du an meiner Liebe zu fordern hast! Soll die Berechtigung der Ehe harren und warten, bis ich geneigt sein kann, gedrungen mich fühle, die starre Form zu beleben und zu beweisen, daß die Ehe nicht das abfallende Saamenkorn der Blüte, sondern die Blüte in ihrer vollsten Schöne und reichsten Entfaltung sein soll? In dem Augenblick, Helene, als du von der Ehe sprachst, da sah ich dich mit einem Blatt Papier und einer Feder in der Hand. Schreibe, daß du mich lieben willst oder kraft dieses Blattes mach' ich dir das Leben zur Hölle! So klang es mir in's Ohr. Mußt' ich nicht fliehen?

Ich bin nun Minister eines großen Staates. Ein Beruf von unsterblicher Bedeutung! Ich habe volle Gelegenheit, mich zu tummeln und werde wenig Abende – von Tagen red' ich nicht – wenig Nächte ganz mein nennen können. Träumen, Helene, wird von dir der erschöpfte Geist. Im Traume von dir werd' ich Erquickung finden. Diese Furcht vor Dem, was mich binden, mich von meinen Geisteszielen entfernen könnte, geht so weit, daß ich auch von Louis Armand für diesen Winter Abschied genommen habe. Er geht nach meinem väterlichen Schlosse Hohenberg.

[2309] Auch die jungen Wildungen, die Beide die Residenz verlassen, lass' ich gern ziehen. Alle Drei sind mir theuer geworden, aber ihre Idealität und träumerische Unbestimmtheit drückt mich. Sie stellen mir Zumuthungen auf den Grund von Voraussetzungen, in denen sie sich irren. Ich habe die Blouse getragen, habe den Hobel geführt, es war keine Grille. Aber, wer sagt denn, daß ich darum die Ordnung der Welt auskehren will? Ich habe mir das Leben selber gestalten wollen: ich mochte vom Schicksal keine Gunst, die ich mir nicht erworben. Allein Das, was mir persönlich zu Nutzen kommt, wird doch nie eine Verbindlichkeit für Andre werden sollen? Ich bin froh, auch von dieser Seite frei zu sein und von einem der fatalsten Übel nicht gepeinigt zu werden, der Behinderung durch freundschaftsberechtigte Rathgeber, vor Denen man Alles vorher erörtern und nachher rechtfertigen soll. Fühl' aus diesen Worten nichts Kaltes, nichts Liebloses heraus! Die Menschheit kann halbe Persönlichkeiten nicht mehr brauchen. Man muß sich ganz einsetzen und für seine Wahrheiten oder Irrthümer allein aufkommen, sagte auch die Welt: dieser Mensch ist ein Dämon.

Ich schreibe dir diese Worte nach einer schlaflosen Nacht in frühester Morgenstunde. Es ist ein Abschied, Helene! Ich kann, ich darf dich vor einem langen Zeitraume nicht wiedersehen. Kehre nach Paris zurück! Such' einen stillen Ort an einem italiänischen See! Bete für mich! Knie an einem Kreuz im Thale und bitte Gott, den Wanderer da oben auf hohem Felsenriff zu behüten!

[2310] Ich kann dich in meinem jetzigen Leben – vergib mir den kalten Ausdruck – nicht unterbringen. Versprich mir, ruhig zu scheiden. Versprich mir, wie Einem, der zum Tode geht, ihn durch deine Liebe nicht mehr zu erweichen und zu verhindern, daß er gefaßt und seinen Henkern zum Trotze ohne Thränen sterben kann! Ich bitte dich darum, Helene! Es kommt eine Zeit, ich ahn' es, wo ich wieder Liebe bedarf. Dann werd' ich am Wege liegen, verwundet, verschmachtet und hört' ich dann den Ton deiner Stimme, säh' ich dann den Saum deines Kleides, wie wollt' ich die Samariterin segnen! Jetzt laß mich ziehen! Dank für deine Liebe, Helene! Lebe wohl! Lebe glücklicher, als du durch mich geworden wärst. Bekämpfe deinen Schmerz durch deinen Stolz! Gehöre dem Leben, das du so hold verschönern kannst! Verlaß diese Stadt! Es kommt eine ernste Zeit! Was du auch von mir hörst, verzweifle nicht ganz an mir! Lebe wohl! Nicht auf ewig! Aber für jetzt – Lebe wohl!«

Als Rafflard sah, daß die Gräfin entschlossen war, diesem seltsamen Briefe Gehör zu geben, als er sah, daß sie ausgerungen, ihre Rechnung nach tausend Thränen abgeschlossen hatte, wagte er nichts mehr von den alten Plänen vorzubringen. Er sah seine Hoffnungen vernichtet!

Sie werden reisen? fragte er tonlos.

Morgen in der Frühe ...

Wohin, meine Gnädigste?

Ich weiß es nicht. Schreiben Sie nach Paris. Ich werde [2311] von mir hören lassen, wenn ich weiß, wo ich bleiben soll.

Aber allein wollen Sie –?

Allein! sagte Helene. Ich werde versuchen, mich zu retten!

Indem trat der Diener ein und meldete ein junges Mädchen, das draußen stünde und sich nicht genannt hätte, aber die gnädige Frau zu sprechen wünsche.

Jetzt nicht! Jetzt nicht! sagte Rafflard vorlaut. Und dann sich zur Gräfin wendend:

Das Ministerium ist nicht vollständig. Man sagt jeden Augenblick, der ganze Plan könnte scheitern ...

An solche Trümmer kann ich mich nicht mehr klammern, antwortete Helene gefaßter und sich zum Bedienten wendend sprach sie:

Was will das junge Mädchen? Wer ist sie?

Und in selbem Augenblick ergriff sie der Gedanke an Melanie Schlurck. Von ihr wußte sie, daß Egon sie bei Paulinen sah. Melanie hatte sich in Egon's Phantasie eingeschmeichelt. Er hatte sogar gewagt, von diesem schönen Mädchen in ihrer Gegenwart zu scherzen. Sie war zu stolz gewesen, der Eifersucht Raum zu geben. Sie hatte nur Paulinen vermieden, die ihr zweideutig vorkam. Pauline, die trägt Egon jene Freundschaft an, hatte sie sich gesagt, die er bedarf! Das ist nichts als Bewunderung, nichts als Sklaverei, nichts als Stolz, ihn nur zu haben, zu besitzen, zu benutzen, um sich zu heben! Oft grübelte sie, was Egon nur an Paulinen bände! Einmal [2312] hatte Egon gesagt: Ein Geheimniß! Welches? hatte sie gefragt. Ach, Helene! war Egon's Antwort. Das elendeste und jammervollste! Da mochte sie nicht länger forschen, aber ihre Eifersucht auf Melanie wuchs. Jeden Abend, hörte sie von Heinrichson, der nicht mehr zur Geheimräthin ging, daß Melanie noch bis elf, zwölf Uhr bei der Geheimräthin, die keine großen Gesellschaften mehr gab, mit Egon zusammentraf. Und nun dachte sie: Die da jetzt zu mir kommt, ist Melanie! Auch sie ist geopfert, auch sie ist elend! Sie kommt, um ihre Thränen mit den meinen zu mischen!

In dem Augenblick trat aber ein kleines, verschleiertes Mädchen, das dem Diener gefolgt war, ohne Zögern herein und stürzte auf die Gräfin zu, sie zu umarmen.

Wer sind Sie? fragte diese erschreckend und trat ablehnend zurück.

Es war nicht Melanie; aber es war ein Mädchen, das weinte.

Warum weinen Sie? Kann ich Ihnen helfen?

Das junge elegant gekleidete Kind, in schwarzer Seide, weißem Hute und feinem türkischen Shawl schlug den Schleier zurück.

Die Gräfin kannte sie nicht. Auch Rafflard nicht.

Wer sind Sie, mein Kind? Sie sind unglücklich! Was haben Sie?

Rafflard winkte dem Diener zu gehen. Das junge, schöne, blasse Mädchen mit seelenvollen Augen, vergeistigtem hoheitsvollen Blicke sammelte sich und sprach:

[2313] Ich heiße Olga!

Sie küßte die Hände der Gräfin ...

Olga? sagte Helene erstaunt. Olga? Sie sind ...

Das Mädchen hielt die Gräfin umschlungen und antwortete nicht.

Sie sind Olga Wäsämskoi, Adelen's Kind –

Ma chère tante! sagte Olga schluchzend und liebkoste sie.

Der Augenblick brach Helenen's ganzes Herz. Sie weinte mit dem Kinde.

Engel! Himmlisches Kind, rief Helene, was führt dich zu mir, zu deiner Tante, die du lieben willst? Was ist dir?

Olga schwieg ...

Du suchst Hülfe? Olga! Liebst du mich? Liebst du deine Tante?

Olga sah bittend und zutraulich in die Augen Helenen's.

Man verfolgt dich? Die eigne Mutter – ha, ich verstehe – ich weiß es – Siegbert Wildungen – ...

Olga verhüllte ihr Angesicht an Helenen's Herzen. Der Hut entglitt ihr. Rafflard hob ihn auf. Helene war so gerührt, daß sie mehr über die Thränen des Kindes, als über sich selbst weinte.

Rafflard, erschreckend über diese Annäherung und diese neue Gefahr für das Vermögen des Grafen und die Besorgnisse seiner Mutter, ergriff das Wort und sagte heuchlerisch:

Rudhard, Ihr Erzieher, mein Fräulein, hat die Absicht, eine Reise mit Ihnen zu machen?

[2314] Als Olga diese Frage mit stummer Gebehrde bejahte, sagte Helene mit überquellendem Gefühl und in ihrem eignen Schmerz die Größe des fremden Leids ermessend:

Arme, liebevolle Olga! Ich weiß Alles, Alles! Olga, du liebst Siegbert Wildungen – die eigene Mutter gönnt dir das Glück deines jungen Herzens nicht – du sollst fort – mit den Geschwistern fort – Rudhard soll Euch entführen, damit der Mutter allein das Glück deines Lebens bleibt ...

Olga bejahte Alles und schluchzte.

Ha! rief Helene begeistert. Du bleibst zurück, ich schütze dich, du bleibst!

Helene sprach diese Erklärung mit der ganzen Entschiedenheit, deren ihr Herz in leidenschaftlichen Aufwallungen fähig war.

Nicht bleiben, Tante! sagte Olga. Ich darf nicht! Fort! Fort! Er ist da –

Wer ist da?

Wer, wer, mein Kind? sagte Rafflard, schmeichelnd, zudringlich, ängstlich, als Olga schwieg.

Otto von Dystra! sagte Olga tonlos.

Während Rafflard hin und her combinirte und im Geiste sich schon vergegenwärtigte, daß der alte Plan, einst das Vermögen des Grafen d'Azimont an die Kinder der Familie Wäsämskoi zu bringen, jetzt durch eine merkwürdige Wendung des Geschickes und die entstehende Liebe Helenen's zu diesem Kinde in vollster Entwickelung war und alle seine Hoffnungen für die alte Gräfin d'Azimont scheiterten, besann sich Helene und sagte rasch:

[2315] Otto von Dystra! Was soll er? Aus Amerika! Der Sonderling? Er ist verwachsen – der Freund des Fürsten – ein Äsop – ein Narr – was soll's?

Olga hauchte die Erklärung hin, daß die Mutter verlange, sie müsse sich mit Otto von Dystra verloben.

Helene starrte.

Gestern Abend fuhr er vor, sagte Olga. Heute sollten wir entweder mit Rudhard reisen oder ich soll mich erklären, daß ich mich mit diesem Ungeheuer verbinde ...

Das war genug, um Helene d'Azimont zu elektrisiren. Die heldenmüthige, liebesstarke, verlassene Frau, die in Olga ihr ganzes Ebenbild gefunden hatte, rief:

Und du?

Ich floh zu dir!

Olga! Warum zu mir?

Das Mädchen schwieg. Dann sagte sie durch Thränen lächelnd, zuversichtlich, treuherzig:

Weil du lieben kannst!

Wie Olga diese Worte fest und sicher gesprochen hatte, stürzten auf's neue die Thränen aus Helenen's Augen. Sie umarmte stürmisch das junge Mädchen, riß ihr den Hut fort, den sie in der Hand hatte, nahm ihr den Shawl ab und sprach in äußerster Exaltation:

Noch heute reisen wir! Du bist mein, mein Kind, meine Olga! Wir Beide sind verbunden durch den Schmerz der Liebe! Gehen Sie, Rafflard, besorgen Sie unsre Pässe. Schicken Sie sie uns nach. Wir reisen so, wie wir hier sind! Fort! Fort! Fort! In die Welt! Wir müssen uns retten, [2316] Mädchen, vor diesem Elend des Lebens, vor dem Frost des Winters, der sich auch an die Herzen ansetzt! Auch Siegbert hatte den Muth nicht, dich sein zu nennen! Entblättert sich dir schon so früh der schöne Glaube an diese Männerseelen? Ha! Du bist von meinem Blute, Mädchen! Dein Herz schlägt wie meines! Fort! Fort! Wir bedürfen andre, südliche Luft! Nach Italien! In diesem Norden erfrieren wir.

Damit drängte sie Rafflard, der vernichtet dastand, hinaus.

Rafflard stand noch unschlüssig und wollte verdrießlich werden.

Aber Gräfin! Was beginnen Sie? Welche neue Verirrung?

Rafflard! rief Helene. Kein Wort der Entgegnung! Ich hasse Egon! Ich bleibe meinem Gatten treu! Desiré d'Azimont ist ein Engel! Olga ist meine Seele! Olga jetzt mein Leben! Olga, in dir find' ich mein Glück, meinen Reichthum, meine Zukunft, mein Alles! Ein Kind, ein Kind gewonnen durch den Schmerz des gleichen Schickals. Olga! Laß uns die Welt sehen und unser Leid verbergen! Ich, ohne Hoffnung für das ganze Leben, Du für Siegbert Wildungen aufblühend in meiner Pflege, wenn er dich verdient! Ich, deine Mutter! Dein Schutz gegen Rudhard, gegen Dystra und wenn Sie wagen, Rafflard, wenn Sie wagen, Adelen zu sagen, wohin ihr Kind sich flüchtete ...

Gräfin! Was denken Sie?

[2317] Postpferde! rief Helene und Rafflard war hinaus.

Er überlegte, was zu thun. Sollte er vor's Thor eilen und die Fürstin von der Gefahr, ihr Kind zu verlieren, unterrichten?

Während er so auf der Treppe stand, kam Heinrichson ...

Sie kommen gerade recht, sagte er diesem.

Wozu?

Die Gräfin will nach Italien und noch heute.

Heinrichson stand wie vom Blitz getroffen.

Das ist eine Trennung! sagte Rafflard bitter.

Nein, antwortete Heinrichson lächelnd, ein Wiedersehen. Ich selbst wollte der Gräfin sagen, daß ich in einigen Tagen nach Rom zu reisen gedenke ... Sie weiß es ... ich sprach immer davon ...

Rafflard stand voll Erstaunens. Er überblickte, daß Heinrichson die Gräfin liebte. Anzunehmen, daß die Gräfin schon von ihm für die Idee einer italiänischen Begegnung gewonnen war, hatte er keinen, auch nicht den mindesten Grund. Aber dennoch erstarrt, ergriff er die Gelegenheit, die ihm von der Gräfin gegebenen Aufträge abzuschütteln.

Leisten Sie ihr für diese schnelle und übereilte Abreise hülfreiche Hand! sagte er zornig. Ich für meinen Theil bin zu beschäftigt, um ihren Aufträgen nach Wunsch zu genügen.

Heinrichson in glückseligster Geschäftigkeit ging zur Gräfin, Rafflard hustete noch lange die Straße entlang.

[2318] Unten überfiel ihn die verdrießlichste Stimmung, wie nun all' seine klugberechneten Pläne umsonst gewesen und die Menschen mit ihren Leidenschaften weit über alle Schlingen und Netze des Verstandes hinauswachsen.

Diese Familienbeziehungen erschienen ihm gering, armselig. Er spitzte im Geist schon die Feder, um auf den Quai d'Orsay in Paris einen epigrammatischen Brief zu schreiben, dessen Thema so lauten sollte:

In der Komödie der Liebenden darf man nur mit seinem Herzen, nicht mit seinem Verstande mitspielen.

Verdrießlich über Das, was er sich Alles seither an größerer Geltendmachung seiner Mission hatte entgehen lassen, wie er Zeit, Mühe, List, eigene kleine Unterhaltungen den Interessen einer vornehmen Familiencoterie geopfert hatte, überfiel ihn sein alter rheumatischer Husten so heftig, daß er an der nächsten Straßenecke stillstand, in einen Fiaker stieg und mit den dem Kutscher zugerufenen Worten davonfuhr:

An's Komödienhaus bei der katholischen Kirche! Zum General Voland von der Hahnenfeder!

... Noch in der Nacht gegen ein Uhr rollte ein Wagen mit Helene d'Azimont, Olga Wäsämskoi, einem Mädchen und einem Diener zum Thore hinaus. Es war das, das nach dem Süden führte.


Ende des sechsten Buches. [2319] [2321]

Siebentes Buch

1. Capitel. Die ersten Winterschauer
Erstes Capitel
Die ersten Winterschauer

Der Vorwinter war da. An die Fenster desselben Eckzimmers im Schlosse Hohenberg, wo die uns bekannten Sommergäste ihre fröhlichen Abendgesellschaften gehalten hatten, schlug jetzt der Regen eines mürrischen, naßkalten Herbstes. Der Sturmwind rüttelte die schlechtverwahrten Jalousieen und machte sich pfeifend auch durch die Ritzen der Fenster Bahn, auf deren innerem Simse sogar sich die hellen Regentropfen sammelten. Der Blick in den Garten fand die Bäume entlaubt, die Wege unsauber, regenglatt. Hier und da krachte ein Zweig, der dem plötzlichen Stoße des Nordwest nicht widerstehen konnte. Der Blick, selbst am Tage, ging nur bis zum Dorfe Plessen hinunter, das mit seinem Kirchthurme wie im magischen Nebel schwamm. Von Wald, Berg und Flur waren selbst dem schärfsten Auge nur einige matte, graugrüne Umrisse ersichtlich.

Dennoch war es in dem hohen Eckzimmer, wo in der Mitte noch das Piano stand, auf dem Melanie damals die Tanzanklänge gespielt hatte, nicht ganz ungemüthlich. Ein alterthümlich geformter Ofen von Gußeisen, in Form [2323] einer Pyramide, verbreitete die Behaglichkeit der ersten winterlichen Zimmerwärme. Der alte Winkler trug das Holz herein, Brigitte warf es von der Mitte des Ofens hinunter gerade durch die mit einer Jahreszahl versehene eiserne Denktafel der Pyramide, die nur die Thür des Ofens war. Der Alte schleppte schon den zweiten Korb herein und packte ihn sorgsam in der Nähe des Ofens unter das Kanapé. Waren doch er und die alte Brigitte jetzt die einzigen Diener des Hauses, die einzigen Wächter des Schlosses, alt und müde, wie konnten sie zu oft diese Treppen steigen, zu oft durch diese Zimmer die schweren Trachten Holz schleppen! Da mußte eine Tracht für zwei Tage ausreichen. Freilich mochten sie gern in der Nähe ihrer Gäste sein. Sie hätten so gern gehört, wie es denn nun werden sollte in Zukunft mit den hochfürstlichen Besitzungen! Ob sich denn keine junge Fürstin einstellen und, da doch einmal das Alter geht und das Junge kommt, mit einem lustigen Gefolge hier im nächsten Sommer wohnen würde? Ob Sr. durchlauchtigsten Gnaden, von dem der diplomatische Herr von Zeisel nicht zu verbreiten wagte, daß er diesen Sommer im Incognito ihn in den Thurm gesperrt hatte, nicht einmal selbst kommen und das Erbe seiner Väter betrachten würde? Das zurückgekehrte Mobiliar der seligen Fürstin gab fast Hoffnung dazu. Das hatten Heunisch und Herr von Zeisel im Triumph heimbegleitet und mit einer Art Stolz blickten die Sessel, die Divans, die Gebetpulte, die Tische und Schränke wieder in den Zimmern um sich, die sie [2324] zu schmücken hatten. Aber die weiteren Schicksale, die ihnen und dem Schlosse bevorstanden, waren den beiden alten Leuten denn doch für die kurze Zeit ihres Lebens noch zu sehr verschleiert.

Nun freilich hatte sich das Seltsame ereignet, daß ein alter Mann und ein junger sich durch einen Brief des Fürsten als rechtmäßige Bewohner des Schlosses auswiesen und von dem Gerichtsdirektor Herrn von Zeisel mit großer Aufmerksamkeit empfangen wurden. Wer waren diese beiden neuen Ankömmlinge? Vornehme Gläubiger gewiß nicht! Sie gingen so einfach, so schlicht, daß Winkler manchmal das Grüßen vergaß, was wohl auch an den immer schwächer werdenden fünf Sinnen der alten Haut lag, die noch immer vergebens auf die Beförderung durch den vornehmen Herrn wartete, der einmal zu ihr so gnädig geäußert hatte: Gut geharkt! Schöner Strich! Kenne Das! Die Brigitte war sogar verstimmt, daß diese Herren, die nur der Alte und der Junge hießen, auch nicht einen einzigen Dienstboten mitgebracht hatten. Nicht wegen der Arbeit. Denn die Gäste waren sehr anspruchslos, sondern nur wegen der Nachfrage und der Unterhaltung. So lange die alte Brigitte denken konnte, daß hier in den Tagen des Glanzes auf Hohenberg Besuche ein- und ausgingen, hatte es eine reiche Chronik von Geschichten und unterhaltenden Thatsachen gegeben. Diese zwei Menschen aber kamen ganz nüchtern, ganz unbekannt, sprachen nichts, befahlen nichts, baten nur und nahmen mit der einfachsten Kost vorlieb.

[2325] Da saß der Eine auf dem Kanapé und ersuchte die alte Brigitte sehr höflich um Licht.

Und Ihr Abendbrot, Herr? fragte sie rasch.

Der Angeredete war schwarz gekleidet und hatte über dem einen Auge eine Binde von gleicher Farbe.

Höflich sagte er:

Wie gestern, liebes Mütterchen. Thee trink' ich und etwas Brot, wenn man es haben kann.

Aber die Frau Directorin läßt sich's nicht nehmen, Ihnen vorzusetzen, was Sie wünschen. Befehlen doch die Herrschaften etwas Braten, Schinken! Wir haben ja Alles oder wenn Sie's befehlen, muß es da sein.

Danke für mich, Mütterchen. Freilich mein junger Freund und Begleiter ...

Murray, denn er war es, sah eben auf den Alten, der das Holz unter das Ende des Kanapés packte, auf dem er saß. Er wollte helfen.

Brigitte litt es nicht und sprach von Schinken, Hammelkeulen und ähnlichen Mysterien ihrer Gnaden der Frau Gerichtsdirektorin von Zeisel ...

Murray, der das Feuer in der Ofenpyramide behaglich knistern hörte, brach ihre Mittheilungen ab mit den Worten:

Licht, Mütterchen! Und die Hammelskeule immerhin, wenn mein Reisegefährte kommt. Es ist dunkel. Ich hoffe, daß er bald da sein wird.

In der That ging es auf sechs Uhr und schon war es stichdunkel. Murray besann sich, wie lange er schon so [2326] gesessen und still vor sich hin geträumt hatte. Es war so finster, daß das offene Zugloch der großen Pyramide leuchten mußte. So schritt er, als seine Bedienung gegangen war, auf den Flügel zu, der in der Mitte des großen Zimmers stand. Er öffnete ihn und schlug die Tasten an.

Wir kennen diese Tasten. Es war ein altes, dünnes Instrument, das mehr wie eine Cither klang. Ohnehin war es verstimmt und was fehlte nicht an Saiten! Dennoch hatte sich Murray seit den drei Tagen, daß sie hier auf Hohenberg eingekehrt waren, schon oft an den nothdürftigen Tönen erfreut. Und da ein längerer Aufenthalt vorauszusehen war, hatte Murray sogar eine Stimmschraube sich in der Dorfschmiede wollen, wenn auch roh nur und plump, anfertigen lassen, um damit die Wirbel der Saiten fassen und sie besser anziehen zu können. Als man ihm freilich den Namen des Schmieds Zeck nannte, hatte er den Plan wieder aufgegeben. Der Name der Zeck's schien ihn zu sehr zu befremden. Er spielte nun auch so auf dem verstimmten Instrumente; auch so schien ihn zu erfreuen, Reminiscenzen an eine alte Kunstfertigkeit herauf zu beschwören, die freilich aus den steifgewordenen Fingern etwas verschwunden schien.

Brigitte brachte langsam und vorsichtig eine große Astrallampe mit einem Gazeschirm, die sie schon gestern ihren Gästen angekündigt hatte, als sie ihnen Lichter gab. Es war die Zimmerlampe der seligen Fürstin, lange nicht gebraucht und so altmodisch, daß ...

Sie ausgehen wird! bemerkte Murray.

[2327] Versuchen Sie's einmal damit, meinte die Alte. Wenn sie nicht brennen sollte, so liegt's am Docht ...

In dem die Motten sitzen werden? Seht, seht, da geht sie schon aus! sagte Murray geduldig lächelnd.

In der That erlosch die Lampe mit unfreundlichem Duft. Murray wünschte die Leuchter von gestern. Brigitte schüttelte den Kopf, trat an die Thür, die nicht ganz geschlossen war, und sprach hinaus:

Na ja, Zeck! Die Lampe hier muß er auch in die Kur nehmen ...

Murray hörte kaum diese Worte, als er Brigitte festhielt, die Thür zuwarf und fragte:

Wer ist da draußen?

Der alte Zeck und der Junge, sagte Brigitte, die sich auf Alles verstehen, Pferde und Vieh und Öfen und Lampen.

Was sollen Die? sagte Murray in peinlichster Ungeduld und die Thür zuhaltend.

Der junge Herr hat sie ja bestellt wegen dem Klavier!

O, sagt den Leuten nur, daß es keine Noth damit hätte! Laßt sie nicht kommen! Nein! nein! Schickt die Leute fort! Holt den Leuchter, alles Andre, was ich nicht bestimmt bestelle, laßt gut sein. Hört Ihr, liebe Frau! Geht rasch, ich kann im Dunkeln bleiben.

Murray sprach diese Worte in einer Aufregung, als stünde ihm die unangenehmste, gefährlichste Begegnung bevor. Er drängte Brigitten von sich, protestirte jetzt lebhafter gegen den Duft der ausgegangenen Lampe und riegelte die Thür zu, als Brigitte brummend hinausging.

[2328] Murray überzeugte sich an schweren, plumpen Schritten, die er draußen hörte, daß die Zeck's sich gleichfalls entfernten und schob den Riegel nun wieder zurück und gab die Thür frei.

Erschöpft warf er sich auf das Kanapé. Tief holte er Athem, wie nach einer großen Anstrengung. So saß er nachdenklich, erschüttert, eine Weile. Dann ging er an eins der Fenster, die auf den Garten sehen ließen, und drückte die Stirn an die Scheiben. So bewegt schien er, daß er kaum merkte, wie die Tropfen von außen an das Glas schlugen und wie der Sturm die Bäume und Sträucher peitschte. Die Dorfhunde heulten in der Ferne. Es war doch einsam, schauerlich hier oben. Es sah nach den Sternen. Kein einz'ger war in dem dicken Nachtnebel sichtbar. Er suchte so lange, bis er erstaunt war, sich umsehend, die beiden Lichter schon anzutreffen, die ihm Brigitte, ohne daß er es merkte, hereingetragen hatte. Da er ihr den Rücken kehrte und auf ihr Räuspern und Fragen nicht antwortete, war sie wieder gegangen, umsomehr, als sie in das Amtsgebäude hinunter mußte, um sich von Frau von Zeisel, gebornen Nutzholz-Dünkerke, die bewußten animalischen Vorräthe auszubitten.

Murray wandte sich jetzt einem Tische zu, den er an einem andern Fenster des großen Zimmers für sich hergerichtet hatte. Hier lagen Papiere, Zeichnenmaterialien, feine kleine Instrumente durcheinander. Er setzte sich, nahm einen grünen Schirm, der auf dem Tische lag, noch über die Binde und setzte sich zur Arbeit, die keine andere [2329] war, als daß er auf eine Kupferplatte Buchstaben ätzte. Das Licht der beiden Talgkerzen war wol zu schwach für seine Arbeit. Einige kleine Gläser, die am Fenster standen, verriethen, daß Murray sonst mit allen Hülfsmitteln der Kupferstecherkunst ausgerüstet war. Er stellte die Lichter dicht vor die Platte, über die er sich mit seiner Ätznadel beugte; er wollte arbeiten. Doch mußt' er bald aufhören. Das Licht war zu flackernd, zu düster. Er schüttelte den Kopf und gab sein Werk, an dem er den Tag über gearbeitet hatte, für jetzt auf.

Indem hörte er kommen. Rasch warf er einen größeren Papierbogen über die Kupfertafel und erhob sich.

Ich bin es, Murray, rief draußen im Vorzimmer eine Stimme, die er sogleich als die Louis Armand's erkannte.

Da Louis nicht eintrat, ging ihm Murray mit Licht entgegen.

Hinausleuchtend begrüßte er den Ankömmling mit den Worten:

So spät? Und in diesem Wetter? Himmel, wie sind Sie durchnäßt!

Das bin ich! sagte Louis und schwenkte den nassen Hut im Vorzimmer und trat heftig mit den Füßen, sich schüttelnd, auf.

Sie müssen sich umkleiden, Freund!

Ich fühl' es wohl; ich bin naß bis auf die Haut. Ein Wetter wie in den Ardennen, wo ich einmal einen Vetter auf einem Eisenhammer besuchen wollte. Nur die Wölfe fehlen.

[2330] Die werden sich hier mit dem Schnee auch einstellen, sagte Murray. Aber kommen Sie doch an den Ofen! Trocknen Sie sich!

Ich will nur ein Hemd und Kleider aus meinem Koffer nehmen.

Murray leuchtete und geleitete seinen neuen jungen Freund an den warmen Ofen.

Darf ich, Papa? fragte Louis Armand und deutete auf seine Absicht hin, sich ganz frisch umzukleiden.

Ich helfe, versteht sich! antwortete Murray. Die Wäsche muß gewärmt sein. Geben Sie her, ich halte sie gegen diese Pyramide, die unser Heiligthum werden wird, als wären wir Ägyptier. Die hatten Kühlung von ihren Pyramiden, wir Wärme. Grund genug zur Verehrung.

Louis kleidete sich in wenig Augenblicken um und würde schon begonnen haben, Murray's Verlangen nach Mittheilung seiner Erlebnisse im Walde zu befriedigen, wenn nicht Brigitte jetzt in pünktlicher Aufmerksamkeit mit dem Thee und dem Zubehör erschienen wäre. Der alte Winkler trug das Kohlenbecken und die heiße Kanne, sie selbst die Theebüchse, Brot, Butter und zwar nicht den ganzen Hammelsbraten der Frau von Zeisel, wohl aber eine ansehnliche Anzahl von glatt ihr entschnittenen Scheiben.

O Das ist angenehm, sagte Louis, dem es ganz wohl und behaglich in seinen erwärmten Kleidern wurde und der sich sagen konnte, daß er im Auftrage des Fürsten hier [2331] fast wie in seinem Eigenthum wohnen durfte. Danke, danke, Mütterchen! Wie behaglich, wie gastfrei! Das soll uns gut schmecken.

Murray, der hier von Louis Armand's Flügeln geschützte Gast, würde freudig in dieses Lob mit eingestimmt haben, wenn nicht Brigitte mit einem Blick auf Louis wieder von den Zeck's angefangen hätte, die wegen dem eisernen Ding das er bestellt hätte, doch nun wieder draußen warteten ...

Ja, sagte Louis, die Stimmschraube glaubt der Alte liefern zu können.

Nein, nein, fuhr Murray wie vorhin auf, ich sagte's schon. Es ist gut so. Ich spiele zu wenig!

Murray gerieth wieder in Aufregung.

Der Alte meinte, er verstünde mich vollkommen. Ich mußt' es ihm handgreiflich beschreiben, da er blind ist; sagte Louis.

Ist er blind? fiel Murray mit einiger Bewegung ein.

Der Vater ist blind, antwortete Louis, und der Sohn taub.

Und nun lehnte Murray entschieden den Dienst ab.

Heute nicht! Genug von der Sache! Guten Abend, Frau Brigitte. Morgen! Morgen! Gebt ihm die Lampe! Laßt die von ihm repariren, er kann es, es ist ein Tausendkünstler oder – vielleicht kann er's. Guten Abend!

Damit drängte Murray die Alte hinaus und schob noch den Riegel vor. Dann knüpfte er, seine Aufregung zu verbergen, sogleich seine Bemerkungen an Louis' Appetit an [2332] und forderte ihn auf, Platz zu nehmen auf dem Kanapé neben ihm und zu erzählen, wie er nun im Forsthause Alles angetroffen.

Den Einen drängte es ebenso zu reden, wie den Andern zu hören. Das Feuer im Ofen prasselte, das Wasser in der Maschine zischte, draußen regnete es. Der Gegensatz weckte die gemüthlichste Behaglichkeit.

[2333]
2. Capitel. Morton
Zweites Capitel
Morton

Nun zuerst einen Gruß von Fränzchen, begann Louis Armand und nochmals tausend Dank für die freundliche und sorgsame Art, wie Ihr sie hierherbegleitet habt! Sie hat mir gestanden ...

Hundertmal, daß sie Euch liebt! schaltete Murray scherzend ein.

Nein! Daß sie Euch fürchtete ...

Mich!

Anfangs!

Nun?

Ich hätt' es kaum gedacht, fuhr Louis fort. Als ich ihr sagte: Fränzchen, wir haben Feinde, die uns Böses wollen, nehmen Sie die Bitte des Onkels an, gehen Sie auf diesen Winter zu ihm. Ich werde in Ihrer Nähe sein; denn ich muß nach Hohenberg und wie sie gleich freudig einstimmte: Darf ich denn mit Ihnen reisen? Da hatt' ich ihr von Ihnen das Beste und Schönste gesagt ...

Weil sie selbst nicht daran glaubten, so fehlte wol die Wirkung?

Louis nahm die Tasse Thee, die ihm Murray entgegenhielt, [2334] stellte sie auf den Tisch und legte sanft die Hand über Murray's Schulter.

Ich nicht daran glauben, Papa? sagte er. Weiß ich doch nur wenige Augenblicke meines Lebens, die mir so denkwürdig bleiben werden wie der, wo ein ganz fremder Herr zu mir tritt und sagte: Lieben Sie Franziska Heunisch?

Haha! Sie sagten nicht Ja! Sie waren nicht aufrichtig oder Ihr Gefühl schwankte, während das arme Herz des Kindes wie ein Anker felsenfest im Meere stand.

Ich sagte leider nicht mehr, als daß ich Franziska mit meinem Leben schützen und daß ich sie nur Dem abtreten würde, von dem ich überzeugt wäre, daß er sie glücklicher machen würde, als ich noch bis jetzt im Stande wäre ...

Haben Sie ihr Das so wörtlich wiedererzählt? Ein Mädchen hört das einfache Wort Liebe viel tausendmal lieber als die prächtigsten Umschreibungen desselben.

Franziska kennt mich, fuhr Louis fort. Sie vertraute mir sogleich, als ich ihr sagte: Freundin, Ihre Ruhe ist bedroht. Glauben Sie Feinde zu haben? Und als ich die Andeutungen wiederholte, die ich von Ihnen gehört hatte, erschrak sie heftig und wiederholte Namen ...

Die ich Ihnen doch nicht genannt hatte? bemerkte Murray.

Sie waren geheimnißvoller, als ich wünschen mußte. Aber ich vertraute Ihnen. Ich glaubte Ihnen, daß die Nachstellungen, die der Eine verweigern würde, bei [2335] einem Andern leichteres Gehör finden konnten und gesteh' ich's nur, da ich selbst nach diesem Schlosse sollte ...

So glaubten Sie meinem Märchen und haben sich mit Ihrem guten Herzen fangen lassen.

Louis nahm eben einen Imbiß, den ihm Murray, der selbst sehr wenig genoß, zurecht gemacht hatte ...

Sie haben mir kein Märchen erzählt, sagte Louis Armand ernst und blickte in das eine, unruhige, offene Auge, das Murray niederschlug und nicht wollte prüfen lassen. Wenn Sie mir eine Reihe von großen Verdiensten aufgezählt hätten, o ja! Dann würd' ich gezweifelt haben. Aber Sie haben nur Schlimmes von sich gesagt.

Was Sie Franziska wiederholten? Nun begreif' ich freilich, daß das Mädchen in mir nur den Besucher des Fortunaballes finden wollte und recht scheu, recht in den Tod erschrocken war, als ich sie in dem Wägelchen abholte, um mit ihr hierher zu reisen ...

Das hat sie mir erzählt, sagte Louis, aber auch hinzugefügt ... daß Sie Thränen im Auge hatten ...

Ich kam vom Kirchhof ...

Wo Sie jenes Mädchen bestatteten, das Fränzchen in jener Nacht an Ihrem Arme gesehen ...

Die!

Sie sprachen stundenlang kein Wort und seufzten nur ...

Grabesstimmung.

Und dann fingen Sie von der Natur an, die nun scheidet, [2336] von den Blättern, die schon gefallen waren und vom Tode, der uns Allen Ruhe geben wird.

Verhaltene Predigten. Wir möchten Alle am liebsten Fürsten oder Priester sein.

Ist's nicht so?

Schon recht! Ich war bewegt! Ich ganz allein stand an dem Grabe einer Unglücklichen! Ach! Ich ganz allein! Der Kirchhof, wie war der noch neu, noch ohne Bäume und Blumen! Wie frostig wehte der Wind darüber und fand nicht einmal Halme zum Niederbeugen. Die Gräber ohne Schmuck. Die Todten der öffentlichen Krankenpflege ... wer feiert ihr Angedenken? Wer sieht ihnen mit Liebe in die gelbe Grube nach? Ein Handwerker lag da im Todtenhaus ... fern sind seine Ältern, die vielleicht gar nicht wissen, daß er schon nicht mehr unter den Lebenden. Sie sagen nur: Wie lang er nicht schreibt! Was ist ihm nur! Da liegt er. Da ein Dienstbote – da ein Verunglückter, der nicht einmal in die Erde, nein, zu den jungen Ärzten dort kommt, die ihn zerstückeln und präpariren werden! Welche Mühe hat es mir gekostet, meine arme Todte aus ihren Händen zu retten! Wie war sie schön noch auf der Bahre! Die Messer der Ärzte zuckten recht nach diesen Formen! Das blutschwarze Mahl an der Stirn, auf die sie beim Sturze aus dem Fenster gefallen war, entstellte sie nicht. Ich strich eine Locke darüber her; nun war's verdeckt. Aus dem Todtenhause trugen sie den Sarg. Ich folgte allein und betete ein Vaterunser. Dann drei Handvoll Erde, die Spaten thaten das Übrige. Adieu!

[2337] Murray blickte nieder.

Der Lebenslauf von Tausenden! sagte Louis bewegt und sein Nachtmahl eine Weile leise zurückschiebend. Ein schönes Mädchen, arm, ohne Freunde, verführt, wahnsinnig ... wer sieht auf all' die Opfer, die auf unsrem Lebenswege liegen! Das Alles geht so still vor sich hinter Mauern und verschlossenen Thüren. Wer sucht das eigentliche Mysterium des Lebens auf den Kirchhöfen!

Sich aufraffend fuhr aber Murray fort:

War es nicht gut, daß ich trauerte? Franziska hätte sich sonst vor einem Manne entsetzt, der vor ihren Augen in's Gefängniß geführt wurde. Eine Thräne wirkt soviel?

Nein! Nein! sagte Louis. Ich hatte sie vorbereitet auf einen jener Philosophen, die die Weihe des Geistes nicht durch die Wissenschaft und ihr Studium, sondern durch das Leben empfangen haben! Ich hatte ihr gesagt, daß Sie Gründe hätten, diese Umgebung des Schlosses Hohenberg zu besuchen und ein Geheimniß sogar an sie und ihren Namen Sie kette ...

Ein Geheimniß, das ich ihr leider nicht auf unsrer Reise erzählen konnte, sagte Murray, aber Geheimnisse, die man nicht nennt, knüpfen gerade nicht aneinander. Ich sah es ihr an, daß sie frohlockte, hier endlich Sie wiederzusehen. Sie waren schneller gereist, als wir. Wie findet sie sich denn nun in dem Walde zurecht?

Louis erzählte.

Der Förster, sagte er, rührte mich gestern, wie liebevoll er sie empfing. Er fuhr sie selbst in seine Wohnung, die [2338] nicht zu weit von uns entfernt ist. Dort angekommen, zeigt' er ihr das Stübchen, das er ihr eingerichtet. Es ist so still und traurig hinauszusehen in den entlaubten Forst, aber so lebendig im Zimmer, als wär' der Wald hier so lange einquartiert bis zum Frühjahr. Da singen Vögel in Käfigen, da stehen große Blumen in Töpfen, da hängen Hirschgeweihe an den Wänden und wenn es recht still ist und der Sturm einmal nachläßt, hört man die Thurmuhr von Plessen nach dem Jägerhause deutlich hinüberschlagen und das ist ja gerade, als sprächen wir miteinander so weit zusammen.

Und Ursula Marzahn? fragte Murray mit forschendem Blick.

Liegt krank im Bett.

Bedenklich?

Der Onkel gibt sie auf. Ich hörte sie ächzen in einer obern Kammer über Fränzchen. Ich wollte auf einen Arzt dringen. Da hilft nichts, sagte Heunisch. Sie hat ihre Kräuter, ihren Thee, den sie sich selbst bereitet. Sie studirte bei Doctor Lehmann, sagte er. Sie nimmt nichts und will nur Ruhe haben.

Murray stand auf. Die Nachricht schien ihn zu ängstigen ...

Was haben Sie? Sie sind bewegt? fragte Louis.

Und wie! Und wie! rief Murray. Hängt doch diese Frau mit meinem Geheimniß zusammen, ohne daß ich mich ihr entdecken möchte ... Wenn sie aber stürbe ...

Sie ist die Schwester des blinden Schmieds ...

[2339] Ich weiß es, die Tante des Tauben! Erwähnen Sie diese Menschen nicht wieder! Die Zeit ist noch nicht günstig, um mich in das Andenken dieser beiden Geschwister zurückzurufen.

Ich verhehle Ihnen nicht, sagte Louis, daß der Ruf dieser Geschwister kein guter ist. Franziska hat mir anvertraut, daß sie vor Ursula Marzahn Grauen empfände und dem blinden Schmied weicht Jeder aus ...

Murray schwieg nachdenklich.

Neuerdings haben sie, fuhr Louis fort, aus Amerika eine Erbschaft empfangen von einem dort verstorbenen Bruder ...

Haben sie? sagte Murray lebhaft ...

Und sonderbar, der diese Erbschaft überbrachte, erzählte mir der Förster, ist jener Ackermann, der nun diese Besitzungen Egon's in Pacht genommen und über dessen Anstalten ich die Urtheile einziehen soll ...

Wer? sagte Murray und blieb erstarrt stehen.

Wer brachte das Geld? fragte er dringender.

Der jetzige Generalpächter drüben ... Ackermann! Ich selbst überbrachte ihm Egon's Genehmigung zu seinem Anerbieten, kurz ehe des Fürsten Krankheit in ein gefährliches Stadium überschlug ...

Ackermann! Ackermann! wiederholte Murray.

Befremdet Sie dieser Name? fragte Louis.

Ich kenne ihn nicht, sagte Murray, und dennoch erfahre ich nun von Ihnen Dinge, die mich bestimmen, hier wie ein Einsiedler zu leben. Ich komme auf Das, mein Freund, was [2340] ich Ihnen vor acht Tagen sagte, zurück. Ich nannte mich damals einen Schatten, der über die Erde, in der er einst als Mensch lebte, fehlte und büßte, noch einmal hinstreift und keine Ansprüche mehr auf eigenes Glück, ja nicht einmal mehr auf das Glück der richtigen Beurtheilung macht. Ich gestand Ihnen, daß ich einst der sittlichen Welt entrückt war, durch den Drang des Ehrgeizes entrückt, von Liebe geblendet. Das Verbrechen, das ich beging, soll ich es Ihnen nennen?

Nein, nein, sagte Louis. Schließen Sie in Ihr Herz ein, was Sie gebüßt haben! Sie sind ein Weiser, den ich hoch verehre. Ich will nicht wissen, wie Sie es geworden sind.

Wissen Sie wol, sagte Murray, daß das Bedürfniß der Beichte ein tiefes Mysterium ist?

Ich bin Katholik! antwortete Louis.

Das sagt Alles! Es ist eine der festesten Stützen des alten römischen Glaubens. Es ist eine Stütze, die sich auf die menschliche Natur gründet. Das Geheimniß der Beichte ist die Zauberformel, die den Laien an den Priester bindet, die Bürgschaft einer über alle menschlichen Umgangsformen hinausgehenden Vertraulichkeit, eine Ehe der Herzen. Das Bedürfniß der Beichte ist der Wahrheitsdrang des Menschen, ja oft die einzige Ermuthigung zur Tugend. Nur wer sich in einem Andern darlegen kann, in einem Andern ausruhen mag, fühlt wahre Reue und, ist der Andre edel und gut, ein sanfter Priester auch ohne Priesterrock und Weihe, wahre Ruhe.

[2341] Ich kenne, sagte Louis, zwei Priester, die würdiger wären als ich, Sie zu hören.

Wer wären diese?

Louis nannte die Brüder Siegbert und Dankmar Wildungen und freute sich innerlichst, mit kräftiger Betonung dieser Namen gleichsam Zeugniß für den großen Werth dieser beiden Menschen abzulegen.

Ich kenne sie nicht, sagte Murray. Ich darf die Kette der guten Menschen, denen ich mich vertraute, nicht zu weit ausdehnen. Ich darf aber auch nicht länger schweigen. Ich bedarf einer Unterstützung der letzten Absichten, die mich noch an dies Leben knüpfen. Ich darf nicht länger so hinschleichen und suchen und muß es wagen endlich einmal aus mir herauszutreten. Wissen Sie, daß das Bedürfniß der Beichte mich schon oft trieb, jenem Manne mich anzuvertrauen, der den Geschwistern Zeck eine Erbschaft aus Amerika brachte?

Er ist in der Nähe! Vertrauen Sie sich ihm, Murray.

Wie kommt er zu dem Namen Ackermann?

Wäre dies nicht sein rechter?

Murray schwieg und überlegte ... Er gedachte seines eigenen amerikanischen Namens Morton. Ackermann hatte anders geheißen.

Nein, nein, sagte er endlich, auch für ihn darf ich nichts als Murray sein. Auch ihm muß ich verborgen bleiben ... und doch ... und doch ...

Louis stand auf und ergriff Murray's Hand.

Sie leiden, sagte er. Hab' ich etwas, das Ihnen würdig [2342] scheint, Ihr Vertrauter zu werden, so mistrauen Sie wenigstens nicht meiner Jugend. Ich kann verschwiegen sein und verstehe die Irrgänge der Herzen. Wer dem Volke nahe lebt, lernt mit Schmerz die wunderbaren Verwandtschaften kennen zwischen Gut und Bös, Muth und Verbrechen, Größe und sittlichem Elend.

Recht! sagte Murray, als Louis zögerte, die Gegensätze so schnell auszusprechen. Recht! Ich darf kein Schatten bleiben. Ich muß einen Körper haben. Ich brauche einen Freund, der mich unterstützt, um noch einmal aufzuleben. Sie stehen den Menschen, bei denen ich zuerst zu fragen, zuerst zu suchen und zu forschen habe, am nächsten. Hören Sie also, Sie müssen hören, Sie, Sie – und schaudern Sie vor mir!

Louis ging an die verriegelte Thür, öffnete und sah in's Vorzimmer. Es war Alles still. Er kehrte zurück und schüttelte den Kopf, als fürchtete er nicht das Mindeste, was er hier hören sollte.

Als er sich gesetzt hatte, wandte sich Murray an den Tisch, an dem er zu arbeiten versucht hatte. Er hob das Papier ab, nahm die Kupferplatte, die es bedeckt hatte, hielt die Platte gegen Louis hin und zeigte sie ihm.

Sie sind ein Künstler! sagte Louis. Schon gestern sah ich's an den Zeichnungen auf dem Tisch.

Lesen Sie! sagte Murray ruhig.

Louis betrachtete die Platte.

Es ist verkehrte Schrift! sagte er. Ich will versuchen, sie zu lesen.

[2343] Er buchstabirte:

»Louis Armand, Kunsttischler und Vergolder«.

Ich wollte Sie überraschen, sagte Murray zu Louis, der von dieser Aufmerksamkeit angenehm berührt war; ich wollte Ihnen ein Geschenk machen und hoffe, diese Visitenkarten auch noch zur Ausführung zu bringen. Sie sehen daraus mit wenig Worten, daß ich eigentlich ein Kupferstecher bin.

Louis betrachtete die Platte mit großem Wohlgefallen und freute sich der Verwandtschaft des Arbeiterberufes.

Murray aber mit jenem sichern Gefühle der Anlehnung, das uns in dieser Welt zu selten zu Theil wird, mit jenem anschmiegsamen Behagen an eine völlig interesselose und doch tief wohlwollende und rein hingegebene Natur, fuhr fort:

Ich bin der Sohn gewöhnlicher Eltern. Es gibt aber gewöhnliche Menschen, die alle Keime besserer Entwickelung in sich tragen. So war es bei dem Ehepaar, das mir, einem Bruder und einer Schwester das Leben gab. Nun geht Das aber so, das Bedeutende kommt, wo es seine wahre Richtung, gesund und ungehindert aufwachsend, nicht findet, verkehrt zur Welt. Der innere Gehalt kann die äußre Form nicht verklären, nicht veredeln. So wuchert das Bedeutende in Misgestaltung auf und es kommen statt guter, ungeschlachte Dinge zum Vorschein. Meine Eltern, rohe Menschen, wenn man's so nehmen will, gingen in Selbstplage, Verschwendung, wenn sie etwas besaßen, Schulden, wenn sie darbten, verworrenen sittlichen [2344] Begriffen zu Grunde. Ihr wirres Wesen vererbte sich zumeist auf die Schwester, die älteste von uns Dreien, die wie ein wildes Gewächs aufschoß und keine andre Schranke ihrer Begierden hatte als die immer erneute Begierde selbst. Sie hatte gute Keime, Hingebung, Aufopferung, Großherzigkeit, aber da sie nur ihrem Instinkte folgte, so ergriff sie, um diesen Regungen zu genügen, jedes Mittel und war im Lasterhaften fast tugendhaft, in der Regellosigkeit wahrhaft strebsam und treu, in der Verachtung jeder Rücksicht großartig wie einer jener Verbrecher, die die Geschichte zu Helden machte, weil ihnen irgend ein großes verbotenes Wagniß gelang ... Doch ich störe Ihr Abendessen mit diesen Reflexionen! unterbrach sich Murray.

Nein, nein, ich genieße schon! sagte Louis, bediente sich wieder ein wenig der Vorräthe, die vor ihnen standen und hörte einer Auseinandersetzung zu, die er gerade sehr lehrreich nannte. Murray erschien ihm wie ein Weiser. So ruhig, so klar blickte dieser seltsame Mann auf die Vergangenheit zurück, so tief waren die Gänge angelegt, die er sich durch das Menschenherz zu bahnen wußte. Er mußte viel gelitten, viel beobachtet haben.

Diese Schwester, fuhr Murray fort, war natürlich (denn ich spreche von den gewöhnlichsten Menschen) nur ein Dienstbote und dennoch, trotzdem, daß sie ohne Bildung und Form war, gibt sie mir Anlaß, sowie ich vorhin andeutete, über sie nachzudenken. Der ältere Bruder war roh, von gewaltiger Muskelkraft, gewinnsüchtig, heimtückisch [2345] und nicht ohne Anschlägigkeit zu mancherlei Fertigkeiten. Er wählte das Handwerk des Vaters und wurde Schmied, wie mein Vater war.

Louis' Blick fiel zufällig auf das Fenster und sah durch Regen und Nebel einen kleinen glühenden Schein in der Ferne und ein gewaltiges klingendes Aufpochen der Hämmer wie im Takte ... Es kam von der Zeck'schen Schmiede.

Ohne näher anzugeben, daß der blinde Zeck sein Bruder war, folgte Murray dem Blicke Louis' und erkannte, was ihn fesselte. Er mußte einen Augenblick schweigen, so ergriff ihn die Vorstellung, daß der Schlag des Hammers, den sein Bruder schwang, seine Erzählung von ihm begleitete, und anregend genug ist eine Schmiede, so in der Herbstnacht glühend, so fernhin hörbar und an ihrem Scheine durch den Nebel leuchtend!

In einer Schmiede, fuhr Murray fort, verkehrt viel Volks und zu allen Zeiten hatten die Söhne Vulkans ihr apartes Wesen. Ein Hauptkunde meines Vaters, der dicht an dem Thore der Stadt sein Geschäft trieb, war ein berühmter Pferdearzt, der aus nicht seltener Liebhaberei auch das Amt eines Scharfrichters nicht weit vom Thore bekleidete. Zu diesem zog meine Schwester Ursula und lebte eine Reihe von Jahren mit ihm, bis sie einen Soldaten kennen lernte, den sie später geheirathet hat, als er eine Förstersstelle beim alten Fürsten von Hohenberg erhielt. Früh schon entfernte ich mich von den Meinigen und hatte das Glück in gute Hände zu gerathen. Anfangs war [2346] ich Uhrmacher bei einem französischen Schweizer aus La Chaud de Fonds, einem wunderlichen Kauze, der mir viel von der Philosophie Rousseau's und Voltaire's beibrachte, das lange in mir sitzen blieb, aber auch sein Französisch blieb sitzen. Ich lernte von ihm denken und sprechen; aber mit dem Parliren und dem leichten Philosophiren meines Schweizers begannen auch meine Irrthümer. Die Zusammensetzung der Uhren machte mir keine Freude mehr. Ich bemerkte, daß ich ein Talent besaß, auf den Gehäusen Chiffern einzukratzen, sogar falsche, denn diese Uhren sollten oft für Breguets gelten und waren keine. Da blieb ich auf dem Wege zu der Kunst, von der ich Ihnen hier eine Probe zeigte. Ich wurde Kupferstecher und vervollkommnete mich bis zum Künstler. Ein Auftrag führte mich nach England. Ich sollte dorthin einen hohen Polizeibeamten begleiten, der falschen, in England angefertigten Tresorscheinen unsres Staates nachzuspüren hatte. Wir entdeckten die Quelle des Betrugs, ernteten große Anerkennung und konnten ehrenvoll zurückreisen. Ich blieb aber in England und führte ein wildes, genußsüchtiges Leben. Schon war ich über dreißig Jahre, aber von vorteilhaftem Äußern. Sie lächeln, Freund? Verurtheilen Sie meine Eitelkeit nicht zu rasch! Ich besitze Toilettenkünste, um die mich Schauspieler beneiden könnten.

Wissen Sie, sagte Louis, daß Sie mir oft vorkommen wie ein jugendlicher Held, der nur die äußern Formen des Alters angenommen hat? Ich wette, unter dieser dunklen [2347] Perrücke steckt ein Haar, das nicht ein einziges graues zählt.

Wollen wir es untersuchen? sagte Murray und nahm die schwarze Binde und seine Tour ab.

Louis erschrak, ein kurzgeschornes, dickes, volles, aber ganz weißes Haar zu sehen ...

Nicht wahr, ich bin eitel? sagte Murray lächelnd. Der Adonis weiß sich herzustellen.

Louis sah dies weiße Haar und den plötzlich geänderten ehrwürdigen Kopf eines kräftigen Greises nicht ohne Rührung. Doch mußte er hinzufügen:

Ich nenne Sie doch keinen Greis! Ich sehe weißes Haar, aber ein viel jugendlicheres Antlitz, viel mehr Kraft, als unter der abscheulichen Binde, die Sie nicht einmal nöthig haben, da ich nicht die geringste Verletzung an diesem Auge bemerke.

Doch! Doch! sagte Murray. Ich sehe schlecht an dieser Stelle. Eine Explosion hat hier die Sehnerven dieses Auges geschwächt. Dieselbe Explosion, die meinem Bruder ganz das Augenlicht raubte!

Louis staunte und sah nicht ohne eine Art von Grauen, das ihn durchrieselte, wie Murray wieder die Tour auf den Kopf drückte, die Binde wieder aufsetzte und unwillkürlich mit dieser Bewegung auch den Rücken wieder krümmte und zusammensank.

Murray indessen fuhr fort:

Von London kam ich als vollendeter Gentleman zurück. Ich sprach fertig zwei fremde Sprachen und hatte mir [2348] durch die großartigen Eindrücke des Auslandes Anschauungen erworben, die mich für die Heimat hier weit über meinen Stand erhoben. Seit frühester Kindheit litt ich an einer grenzenlosen Eitelkeit. Nichts lieber trug ich als kostbare Ringe an den Fingern, Uhren, Ketten auf der Weste, Sporen, Reitgerten. Ich hatte in England das Spiel liebgewonnen und mit ihm Einnahmen gemacht. In vollendeter Fertigkeit des Pharo kam ich nach Deutschland zurück und schlenderte wie ein Gentleman mit voller Börse durch die Bäder, deren Saison gerade in Flor war. Mein Hochmuth litt nicht, daß ich mich als den ehemaligen Kupferstecher Zeck zu erkennen gab. Ich nannte mich Baron Grimm und wußte mich durch Toilette, einnehmende Gestalt, Fortüne im Spiel, Sücces in der großen Gesellschaft so zu behaupten, daß ich mehre Jahre lang in meinem Incognito verharrte und die glücklichsten Eroberungen machte. Mein Spiel am grünen Tisch war ehrlich, Alles, Alles an mir war damals ehrlich, kühn, unternehmend, nur mein Name war eine Lüge. In derselben Residenz, wo wir uns kennen lernten, junger Freund, setzt' ich das Glück fort, das ich in den Bädern bei den Frauen gemacht hatte. Ich war kein gewöhnlicher Stutzer. Gerade weil ich mir mein Leben selbst bestimmte, wandte ich allen Fleiß auf die Möglichkeit, es auch geistig behaupten zu können. Ich las sogar, nahm Unterricht in allen Wissensfächern und bildete mich mit Leidenschaft für Jemand aus, der ich nicht war. Bildung zu erwerben, mein lieber Freund, soll eine Religion, ein[2349] Cultus sein. Ich trieb diesen Cultus. Kann es aber etwas Blasphemischeres geben als die Entweihung, die ich mit den Wissenschaften trieb? Ich lernte, ja lief in öffentliche Vorlesungen, ich brachte die Nächte mit Lectüre zu. Aber nicht etwa um der Bildung selbst willen, sondern um eine Lüge möglich zu machen, eine Verstellung durchzuführen, den falschen Namen, die erlogene Existenz eines Barons Grimm. Ich las, nicht um zu wissen, was ein Autor wollte, sondern um sagen zu können, daß ich Das kannte, was Andre der Sache selbst wegen lasen. Aus Ehrgeiz füllte ich mich mit Thatsachen, die ich nicht um ihrer selbst willen liebte. Dies ist jene Bildung, mein Freund, die uns niemals Segen bringt. Ein einziges Buch, tief aufgenommen, dem Verfasser nachgefühlt und nachgelebt, stiftet in unsrer Brust größre Umwälzungen als ganze Bibliotheken, die man nur aus Eitelkeit und ohne sittlichen Halt durchliest. Mein Glück bei den Frauen war nicht gering. Besonders gelang es mir, das Interesse einer Dame zu gewinnen, die ... Hören Sie nicht Geräusch? unterbrach sich Murray.

Die Thür ging draußen ...

Man horchte. Es war die alte Brigitte, die sich meldete, ob sie das Theegeschirr wegnehmen dürfe.

Laßt Das nur, Mütterchen! sagte Louis. Wann geht Ihr zu Bett? Gewiß fallen Euch schon die Augen zu. Sorgt Euch nicht um diese Gegenstände! Das Feuer brennt. Holz ist da. Habt gute Nacht und wünscht nur, daß wir morgen besseres Wetter haben.

[2350] Die Alte schlief schon halb zu all' diesen Ermunterungen, antwortete nichts und ging staunend über Gäste, die sich selbst bedienten.

Louis rief ihr noch nach, daß man, wenn es so fortführe zu regnen und zu stürmen, morgen für ein Wägelchen sorgen möchte. Er würde Vormittags in den Ullagrund fahren, zum Herrn Ackermann.

Die Alte rieb sich die Augen, raffte sich auf und wandte sich mit den Worten:

Daß ich's fast vergessen habe! Herr Oleander fährt nach dem Ullagrund. Jeden Morgen um elf Uhr. Wollen Sie nicht mit ihm?

Wer ist Herr Oleander? fragte Louis doppelt interessirt. Der Name Oleander fiel ihm auf, wie kürzlich der der Jagellona.

Der Herr Pfarrverweser, der unten bei der Frau Pfarrerin wohnt, erklärte Brigitte ...

Nun wohl, sagte Louis träumerisch, so bittet Herrn Oleander in meinem Namen, das er mich mit sich nimmt, wenn er in den Ullagrund fährt.

Oleander! setzte er dann wieder leise hinzu ...

Herr Oleander gibt dem Fräulein im Ullagrunde Lektionen! sagte die Alte.

Schön! Und damit waren die beiden schnell sich vertrauenden Freunde wieder allein.

Sie werden Ackermann morgen sehen ... sagte Murray.

Begleiten Sie mich!

Unmöglich! Wie bin ich eingeengt! seufzte Murray. Wie [2351] sehr bedarf ich eines Freundes, der meine letzten Pflichten mir erleichtert und mich dann allein zu Grabe geleitet, sowie ich jenes Mädchen!

Nicht so, Papa! sagte Louis. Keine Trauer! Die Erzählung erleichtert Ihren Kummer! Fahren Sie fort, wenn ich Ihres Vertrauens würdig bin! Die vornehme Dame also ...

Murray drückte Louis die Hand und fuhr fort:

Ich lebte in der großen Welt und verstand mich trefflich auf ihren Ton. Ehrgeiz und Liebe sind die beiden Haupthebel aller Rührigkeit in dieser Sphäre. Ich lernte Verhältnisse von unglaublicher Zerrüttung kennen und verstand mich vortrefflich auf die Philosophie, mit der Untreue und Leichtsinn sich hier zu entschuldigen wissen. Eine Dame, die ich nie nennen werde, lernt' ich kennen. Sie fand an meiner Persönlichkeit Gefallen. Sie war nicht mehr jung, niemals schön. Sie hatte ein Verhältniß mit einem Rechtsgelehrten, einer, wie ich für bestimmt weiß, sehr energischen Persönlichkeit gehabt. Dieser war ihr untreu geworden aus Gründen, die ich wohl begreifen kann. Sie gehörte zu den Frauen, die früh alle Bande der gewohnten Ordnung abgeworfen und sich ihr Leben selbst zu bestimmen gesucht hatten. Sie reiste als junge Witwe für sich, sie nahm das Leben umsomehr nach ihrer bequemsten Art, als sich eine zerfallene Stimmung ihrer bemächtigt hatte über ein Körperleiden, das mehr auf Einbildung, als in der Wirklichkeit beruhte. Jener Freund hatte lange in ihrer Nähe geduldet und jenes elende Joch [2352] der Abhängigkeit von einem Wesen, dem die ächte Weiblichkeit fehlte, mit sich hingeschleppt. Da lernte er in einem Badeorte eine sehr unglückliche Frau kennen, die Freundin seiner Geliebten. Sie war jünger, lieblicher, reizender, duldender, weiblicher. Was man von ihr weiß, was sie selbst an Spuren ihres Daseins hinterlassen hat ...

Murray blickte sich um und schüttelte den Kopf, wie über etwas Wunderbares, das ihn freilich diese Erinnerung an Amanda bedünken mußte, hier, in diesen ihren Zimmern, auf ihrem Schlosse! Murray war über Alles, was sich uns allmälig entschleiert, unterrichtet ...

Louis bemerkte seine Erregung und dies Erstaunen.

Was fällt Ihnen hier so auf? fragte er.

Murray, der sich vorgenommen hatte, nur über sich selbst nichts zu verschweigen, erwiderte:

Ich glaubte, es rauschte etwas an der Decke, an den Wänden. Es ist nur der Wind, der sich meldet, daß er auch zuhorcht. Laß mich nur reden, du wilder Mahner draußen! Ich entweihe diese Räume nicht.

Louis wußte nicht, worauf diese Worte gingen und hörte nur.

Ein verlassenes Weib, fuhr Murray fort, denkt, wenn sie einen ungebändigten Charakter hat, erst an Rache, dann versinkt die Rache in eine Art von innerer Vernichtung, dann die Vernichtung in neue Hoffnung. Das dreißigste Lebensjahr ist überschritten. Der Vorhang der Ansprüche auf Huldigung wird bald für immer fallen.

[2353] Noch einmal rafft sich das durch Entbehrung nur gesteigerte Bedürfniß der Liebe empor und blindlings stürzt die Sehnsucht eines unbefriedigten Herzens Dem in die Arme, der, ich muß so grausam sein und Dies sagen, am nächsten steht. Der Zufall wollte, daß ich in dem Bade Ems, das jene Dame regelmäßig besuchte, ihr nahe stand. Mein gewandtes Wesen, der Schein von Esprit, den ich mir zu geben wußte, meine anscheinend glänzende Situation, in die ich vom Spielen gekommen war, führte mich, den Baron Grimm, den süddeutschen Adligen, in die vertrautere Beziehung zu einer Eroberung, die ich mit leichter Mühe machte. Eine Zwischenhändlerin, die Alles rasch zum Ziele führte, war die Begleiterin meiner neuen Freundin. Ich erfuhr ihre früheren Lebensverhältnisse, ihren Jammer über eine erlittene Untreue, ihren Haß gegen eine Jugendfreundin, die ihr das stolzeste Herz der Erde entrissen hätte und wie es zu geschehen pflegt, mein lieber Freund, die Frauen werden mit den Jahren in einigen Punkten besser, in andern schlimmer. Schlimmer wurde bei meiner in der Welt hochgestellten, adligen Gönnerin der Stolz, die Weltverachtung, das Bedürfniß der Intrigue; besser ihre innere Erkenntniß des Wenigen, was sie am Ende einem Manne zu bieten hatte. Wie einst bei dem verloren gegangenen ersten Freunde die Rede von einem Ehebunde war, den man, der geistigen Vorzüge jenes Mannes wegen, keine Mesalliance nennen konnte, war nun auch bei Baron Grimm von einer dauernden Verbindung die Rede. Baron Grimm war so tollkühn, mit[2354] seiner Eroberung offen in der Gesellschaft zu prahlen. Er liebte sie sogar, da sie doch von vielen starken und bedeutenden Eigenschaften gehoben wurde. Sie war zärtlich, aufmerksam; alles Gute der Frauennatur kam in der Hingebung an den Mann ihrer Wahl zum Vorschein, während sie Jedes, was außer dieser Wahl lag, mit Geringschätzung behandelte. Ach, mein Freund, Das ist das Tragische an einer Schuld, daß man sie liebgewinnt und es für tugendhaft hält, sie bis auf's Äußerste durchzuführen. Ich war gerührt von jener Frau und mochte ihr durch Entdeckung meines Standes nicht wehe thun. Ich hatte von meinen Gütern sprechen müssen und wurde doch täglich mittelloser. Da ich bei meiner Geliebten war, konnt' ich nicht mehr in den Spielgesellschaften sein. Sie besaß Vermögen, großes Vermögen, durch ihren ersten Mann; aber ich war zu stolz, ihre Mittel in Anspruch zu nehmen. Woher aber meine versiegte Kasse neu füllen? Woher den Muth nehmen, meine tollkühne Rolle durchzuführen? Entdeckung fürchtete ich noch nicht. Jener Polizeibeamte, den ich nach London begleitet hatte, war gestorben. Meine Eltern lebten nicht mehr. Ursula stand auswärts in Diensten, nur den einzigen Bruder hatt' ich einmal gesehen, wie er vor der Schmiede unsres Vaters stand und ich vor ihm zum Thore hinausritt. Ich gab dem Pferde die Sporen und ritt dem Hochgericht zu, unter dem Ursula einst in Diensten stand ...

Wie lange waren Sie in England gewesen? unterbrach Louis, da es Murray schauderte ...

[2355]

Fast acht Jahre, sagte Murray. Ich hatte mich sehr verändert und dennoch erkannte mich vielleicht mein Bruder. Er sah mir nach. Ich bin überzeugt, jetzt, wo er blind ist, noch jetzt würde er mich am Tone meiner Stimme erkennen.

Louis blickte um sich. Es war so einsam, so schauerlich still auf dem Schlosse. Der Regen schoß in tausend Tropfen unaufhörlich an die Fenster, der Sturm sauste. Das Feuer drüben in der Schmiede war erloschen. Der Gedanke, daß sie nicht allein wären, ergriff Louis so, daß er einen der Leuchter nahm, in das Vorzimmer ging, dies durchsuchte und es nach dem Corridor zu, auf dem er Alles dunkel und still fand, abschloß.

Als er zurückkehrte, sagte Murray:

Ich danke Ihnen, mein Freund, für Ihre Vorsicht; denn Sie ahnen wohl, daß ich mich der dunkelsten Stelle meines Lebens nähere.

Louis setzte sich und stützte trauernd über Das, was ihm Murray jetzt sagen wollte, den Kopf auf die Lehne des Kanapés.

Ja, mein Sohn! fuhr Murray fort. Das waren sechs schlimme Monate, die ich nicht aus meinem Dasein auslöschen kann! Sie brennen auf der Seele, wie die Buchstaben, die man dem Leibe einäzt. Oft hab' ich gedacht und damals ganz gewiß, was ich that, wäre nur ein Wagniß, kein Verbrechen. Wer hat denn den Staat berechtigt, sagte ich mir, den Werth der Dinge zu bestimmen? Wer hat ihm denn nach der sittlichen Ordnung der Dinge allein [2356] zugestanden, daß er lügen darf? Denn Lüge ist es doch, dem Papiere einen Nennwerth zu geben, dem nur eine conventionelle Thatsache als Realisation zum Grunde liegt? Verstehen Sie, wovon ich rede, Louis?

O, sagte dieser mit lächelndem Schmerz und großer Aufregung, nur zu gut verstehe ich! Sie haben Das gethan, was der verzweifelnde Arbeiter jeden Tag thun möchte, wenn er das Werk seines Fleißes vor sich stehen sieht, es zur Ausstellung in einem Gewölbe trägt, wochen-, monate-, jahrelang wartet, bis es sich verwerthet! Sie haben Das gethan, was die Noth in verzweifelten Momenten hundertmal erfunden hat, wo man Stücke Papier nahm und darauf schrieb: Das sind fünf Sous! Diese nimmt der Bäcker und gibt mir Brot! Mag sie mein Schuldner einlösen!

O, mein Freund, unterbrach ihn Murray. Entweihen Sie nicht eine Frage der Armuth und der Arbeit mit meinem frivolen Beginnen! Ich habe Geld gemacht, nur weil ich es zu machen verstand! Wohl begreif' ich, wovon Sie sprechen. Wohl versteh' ich die Verzweiflung des Arbeiters, der einen Werth in Händen hat, den er durch seinen Fleiß erschuf und der den Ausdruck für diesen Werth erst bekommt, wenn das Werk verkauft wird. Auch ich sage, die Gesellschaft hat hier ein Recht der Selbsthülfe.

In der That, hat sie Das? fragte Louis begeistert.

Sie hat es, aber unter gesetzlichen Bedingungen! antwortete Murray. Geld ist Das, was gilt. Was kann, was [2357] soll mehr gelten als die Arbeit? Die Arbeit ist schon Geld. Die Arbeit, vollendet, ist sogleich Geld. Daß sie warten muß, bis sie durch Zufall Geld wird, ist der schaudervollste empörendste Mord der Menschheit, den leider täglich unsere Gesetzgeber verüben. Fluch der Gesellschaft, die das Geld nur zum Ausdruck des Bedürfnisses und der Fähigkeit, Bedürfnisse zu befriedigen, gemacht hat! Adam Smith hat den alten Glauben gestürzt, daß Geld Geld ist, das heißt Metall, Gold, Silber. Adam Smith hat das Geld als Waare verworfen und gesagt: Geld ist der Credit, das Tauschmittel des Verkehrs, die Abkürzung des Verkehrs, das Triebrad der Cirkulation. Aber dieser Grundsatz eines handeltreibenden Volkes mochte für das verflossene Jahrhundert ausreichen. Unser Jahrhundert soll sagen: Geld ist Arbeit. Nicht auf Bergwerke soll man Geld aufnehmen, sondern auf ein Magazin der Arbeit. Der Staat muß das Geld zum Ausdruck der moralischen Lebensthätigkeit und des Fleißes machen. Ehe wir nicht dahin kommen, ehe wir nicht frei werden von den Tyrannen, die das Geld immer und immer wieder zur Waare, zum sich aufhäufenden Nennwerth für Nichts machen, ehe wir nicht mit dem Geldmachen auch das Geldtilgen unter die Garantie des Staates stellen, eher hört auch das Elend der Menschheit, das Unrecht und der Fluch unsres Daseins nicht auf.

Louis war so von diesem Ausbruch einer tiefen Überzeugung und dem Gefühl der Übereinstimmung hingerissen, daß er in seiner südlichen Glut aufsprang, durch [2358] das Zimmer schritt und dem bewegten Sprecher die Hand schüttelte mit den Worten:

Murray, verurtheilen Sie sich nicht! Sie sind kein Verbrecher! Mordeten Sie? Was thaten Sie? Ihre Schuld ist gebüßt.

Murray, Louis' Hand zurücklehnend, erwiderte:

Ach, verwechseln Sie diese Ergebnisse meiner späteren Betrachtungen nicht mit dem unreinen Geiste, aus dem ich damals mir sagte: Warum sollst du nicht Das thun dürfen, was sich der Staat erlaubt? Ich philosophirte damals wie jetzt, aber, ich Elender, wo waren denn die Werthe von Fleiß und Arbeit, denen ich die gesellschaftliche Benennung: »Geld« gab? Darf ich mein Haupt in die reine Sphäre erheben, in der Sie leben, Louis, wenn Sie über das Wohl der tugendhaften Menschen nachdenken?

Nein! sagte Louis, der seine alte Gedankenreihe noch nicht aufgeben mochte, hat denn der Staat das Recht, willkürlich Nennwerth auf Nennwerth zu schaffen und größtentheils nur zu frivolen Zwecken anzuwenden, zu Krieg, zum Glanz, zum Beamtenluxus?

Kommen Sie heraus aus Ihrem Himmel! sprach Murray. Hier ist ein Unwürdiger, der diese Rechtfertigung nicht verdient. Ich weiß es, der Staat hat gegen das Verbrechen, das ich meine, kein Naturrecht, kein Recht, dem es gelänge, die Gründe irgend eines alten römischen Rechtslehrers zu entkräften, er hat nur ein fiskalisches, ein Recht der Nothwehr. Allein man braucht nur in [2359] sein Inneres zu greifen und den kategorischen Imperativ des Herzens zu fragen. Der sagt: Mögen die Menschen nicht erröthen, die an dem großen Prägstempel der Münze stehen und in's Gelag hinaus Geld schlagen und noch dazu aus Papier, Der, der dem Staate diese gedankenlose Fabrikation nachmacht, ist ebenso unmoralisch wie oft der Staat. Der Staat sagt: der Werth, den ich hier benenne, ist das öffentliche Vertrauen! Gestattet es das öffentliche Vertrauen, daß man auf seinen Werth hin Geld macht, wohlan! Das große Sündenregister der öffentlichen Anleihen und des Papiergeldemittirens wird sich einst furchtbar rächen; aber der Einzelne, der nicht einmal die Chimäre jenes Vertrauens, den Credit, den Glauben auf Ruhe und Frieden und allgemeinen Wohlstand für sich hat und nur zu seinem Gelüsten Geld schlägt, ist ein Elender und Das war ich, Louis, entschuldigen Sie mich nicht!

Louis bekämpfte seine Aufregung, setzte sich und sah voll Theilnahme milde und liebevoll auf Murray, der so strenges Gericht über sich hielt.

Als sich Murray von dem Zittern, das seine Stimme befallen hatte, erst allmälig erholte, fragte ihn Louis, ob er denn im Stande gewesen wäre, so eine schwierige Aufgabe allein durchzuführen?

Jemand half mir, sagte Murray und wollte ihn nicht nennen.

Aber Louis sagte:

Ihr Bruder half! Sie sprachen von einer Explosion, die [2360] ihn blendete. Sollte sie nicht von Ihren gemeinschaftlichen Arbeiten herrühren?

Murray schwieg eine Weile, dann fuhr er gesammelt fort:

Ich muß Ihnen die volle Wahrheit sagen, Louis, denn nur wenn Sie Alles wissen, können Sie mir so helfen, wie es mich für den Rest meines Lebens beruhigen soll. Ich habe viel zu vollenden, viel zu wagen. Ihren Beistand will ich mir durch Aufrichtigkeit verdienen.

Louis gelobte nochmals jede Hülfe und vor Allem die heiligste Verschwiegenheit.

[2361]
3. Capitel. Der Falschmünzer
Drittes Capitel
Der Falschmünzer

Es war an einem stürmischen Oktoberabend, wie der heutige, erzählte Murray. Nur später schon. Die Nacht war schon angebrochen. Ich wohnte in demselben Hause wie jene Frau, die mich liebte. Wir waren im Begriff, die Stadt nächstens zu verlassen und uns nach Italien zu begeben. Den Grund sollen Sie bald erfahren. Sechs Monate lang hatt' ich in aller Stille schon ein Verbrechen getrieben, zu dem mich wahnsinniger Ehrgeiz verleitet, frivole Philosophie ermuntert hatte. Im obern Stockwerke hatt' ich eine Kammer, in die ich Niemanden einließ als meinen Bruder, den ich selbst aufsuchte und, da er in zerrütteten Umständen lebte, für meinen Anschlag leicht gewonnen hatte. Er baute in jener Kammer einen Schmelzofen, fertigte eine Prägmaschine für die von mir gemachten Stempel und fand sich zu gewissen Zeiten Nachts bei mir ein, wenn ich aus nicht ganz werthlosen Mischungen Goldstücke schlug. Mit kleinerer Münze befaßte ich mich nicht. Mein Talent zum Kupferstecher machte mir nebenbei die Fabrikation des Papiergeldes zu einer leichten, wenn auch langsam auszuführenden[2362] Aufgabe. Der Mensch ist im Grunde ein Thier. Seine edelsten Gaben benutzt er zum Ungebührlichen. Ich freute mich der gelungenen Beweise meines Talentes und lachte zu den Besorgnissen meines Bruders, dem ich niemals von dem falschen Gelde gab. Es waren ansehnliche Summen, die ich selbst in der großen Welt in Umlauf setzte.

Betrüger haben Sie betrogen, sagte Louis, Verschwender haben Sie getäuscht, Dieben mit ihrer eignen Münze gezahlt –

Das entschuldigt nichts, sagte Murray, hielt eine Weile schmerzlich lächelnd inne und fuhr dann fort:

In jener Nacht sollte uns eine Mischung gelingen, auf die ich besondern Werth legte. Sie war aber für die kleinen Hülfswerkzeuge, die uns in der Kammer zu Gebote standen, zu stark und endete mit einer Explosion, die den Ofen zertrümmerte und eine so gewaltige Lohe aufsteigen ließ, daß man eine Feuersbrunst befürchten mußte. Der Zufall wollte, daß in demselben Augenblicke, wo ich an diesem einen Auge, mein Bruder aber an beiden geblendet wurde, zwei andere eigenthümliche Momente eintraten. Meine Freundin war seit einiger Zeit schon in einem aufgeregten krankhaften Zustande. Sie wachte Nächte lang. Sie nicht nur, sondern auch ein schon längst gegen mich obwaltender Verdacht, organisirt durch einen in das Haus gezogenen spähenden Polizeibeamten, kamen fast zu gleicher Zeit an die Stelle, wo auf fallend genug das fürchterliche Unglück geschehen war. Mein Bruder, alle Gefahr vergessend, hatte im Moment der Explosion [2363] geschrieen. Wie ein vom Blitz Gestreifter taumelte er hin und her, während die Thür aufgerissen wurde und meine erschreckte Freundin, die zu einem an einer versteckten Treppe befindlichen Cabinet meiner Wohnung einen eignen Schlüssel hatte, mit ihrer Kammerfrau hereinstürzte. Sie hatte die nicht zu bewältigende Flamme in dem zum Hof hinausgehenden Kämmerchen in der Nacht sogleich aufschlagen sehen, hatte schreien hören und war heraufgestürmt, ob ich in Gefahr wäre. Sie entdeckt die Verwirrung, in der ich mich befinde, ihre Begleiterin wirft Kleider auf die Flamme, um sie zu ersticken, aber diese werden im Nu von der furchtbaren intensiven Hitze verzehrt. Der Anblick der auf der Erde liegenden zerstreuten Goldstücke, die geheimnißvollen Gerätschaften, der wimmernde Bruder, der mit Wasser seine Augen kühlen will und wie ein Kind weint, da er nichts mehr unterscheiden, das Nächste nicht sehen kann, mein eigener Augenschmerz, dazu die beiden Frauen und das inzwischen eintretende Pochen von herzuströmenden Menschen an der Hauptthür, das Klingeln, der Ruf im Hofe:

Feuer! Feuer! ... Ich begreife nicht, daß mich nicht augenblicklich Raserei packte. Ich verlor aber die Besinnung nicht. Mit furchtbarer Bestimmtheit drängt' ich die Frauen zurück und stieß den Bruder ihnen nach. Alle Drei gingen durch das Cabinet und die kleine Lauftreppe in die Wohnung der Freundin. Ich band ihnen den Bruder auf die Seele. Nun räumte ich rasch in der Kammer auf, ließ den Ofen ausbrennen und rückte Alles, was [2364] die Flamme hätte ergreifen können, aus ihrer Nähe fort. Dann öffnete ich und stellte mich heiter, überrascht, als ich das ganze Haus versammelt sah, das mir Hülfe anbot. Man brachte nassen Sand. Diese Gefahr ging vorüber. Ich selbst aber wurde sogleich verhaftet. Meine Wohnung wurde untersucht. Man fand alles Das bei mir, was man längst geahnt hatte.

Und Ihr Bruder? sagte Louis.

Der arme Geblendete! fuhr Murray, den die Erinnerung an diese Schrecken weiß wie die Wand bleichte, fort. In die Wohnung meiner Freundin einzudringen wagte man nicht. Da man sich meiner versichert hatte, fand der Unglückliche Zeit, am Morgen mit einem Miethswagen aus dem Hause geschafft zu werden. Sein erstes Gefühl war Das, Hülfe bei dem Manne zu suchen, bei welchem unsre Schwester diente, dem langjährigen Freunde unsrer Eltern, einem wirklich vorzüglichen Thierarzte, dem Scharfrichter Lehmann. Dort gab er vor, in seiner Schmiede sich durch zu nahe Berührung der Glutausströmung des Herdes und einen Fall geblendet zu haben. Er blieb bei der Schwester, der er sich ganz vertraute. Man suchte ihn, den man für meinen Mitschuldigen hielt, in der Schmiede und fand ihn nicht. Seine Frau lebte nicht mehr. Sein Knabe, ein geistesschwaches Kind, konnte keine Auskunft geben, ich im Kerker verweigerte sie nicht minder. So galt er für entflohen, wurde mit Steckbriefen verfolgt und kein Mensch dachte daran, ihn an einem so unheimlichen Orte, wie die Scharfrichterei vorm [2365] Thore war, aufzusuchen. Er hatte in der That das beste Asyl getroffen und konnte meinem ganzen unglücklichen Processe in Ruhe zuwarten.

Murray schwieg eine Weile, um sich zu erholen und sich über den Eindruck, den diese Erzählung auf Louis machte, zu sammeln.

In Louis' Brust stockte der Athem. Sein Herz war beklommen. Seine Hand fühlte sich ihm selber eisig an.

Meine nächsten späteren Schicksale, sagte Murray, will ich übergehen. Ich wurde zu einer zwanzigjährigen Kerkerhaft verurtheilt. Ich habe alle Ursache, anzunehmen, daß ich die Dame, die einen Baron Grimm zu lieben glaubte, durch die Maske, die ich gezwungen war nun abzuwerfen, öffentlich nur wenig compromittirt hatte. Ich galt für leichtsinnig und wankelmüthig in meinen Neigungen. Man wußte wenig davon, wie eng schon das Band war, das mich mit ihr verbunden hielt, da sie zufällig auch unter mir in einem und demselben Hause wohnte. Das Geheimniß erhöht den Reiz solcher Verbindungen. Allein um so peinlicher mußt' es jener Frau sein, stündlich gerade von mir selbst eine Entdeckung zu fürchten. Ich hatte mich mit ihr durch ein Band verbunden, das der grenzenloseste Leichtsinn geschlossen hatte. Gewandt und gefällig, wie ich war, hatt' ich bei ihr keinen Widerstand gefunden und ich muß es Ihnen sagen, darf es als das eigentliche Ziel meiner Beichte nicht verschweigen ... sie trug damals, als der Roman des Barons Grimm ein so schreckliches Ende nahm, unter dem Herzen ...

[2366] Murray stockte. Seine Stimme war bewegt.

Louis verstand, was er sagen wollte.

Sie wird Ihnen keinen Haß genährt haben, wenn sie unter ihrem Herzen ein Pfand der Liebe trug, sagte Louis.

Doch, mein Freund! fiel Murray ein. Um so größer war dieser Haß! Ich verdiente ihn. Meine Täuschung war zu elend. Deshalb zürn' ich ihr auch nicht; zürn' ihr nicht, wenn sie der bösen Frau, die in ihrer nächsten Umgebung lebt, gestattete, einen Mordplan gegen mich anzulegen. Ich will Ihr Herz nicht betrüben, Louis, indem ich Ihnen die Rache schildere, deren zwei verletzte und gedemüthigte, wilde, vor Verzweiflung rasende Frauen fähig sind ...

O sagen Sie mir Alles!

Nein, nein! Genüge Ihnen, daß ich Gelegenheit fand, einem Angriffe auf mein Leben zu entgehen. Ich entfloh ...

Das gelang Ihnen?

Mit fremder Hülfe ...

Vielleicht durch die Frauen! Sie irren sich vielleicht! Vielleicht gaben sie die Mittel her, Ihre Flucht zu erleichtern.

Nein, mein Freund! Wie leid thut es mir, diese gute Meinung, die Sie von Frauenherzen hegen, nicht bestätigen zu können. Ich entfloh durch den Beistand eines mitleidigen Mannes ...

Wie segn' ich ihn!

[2367] Haben Sie Mitleid mit mir? Gönnten Sie mir wirklich nach solchen Verirrungen die Freiheit?

Sie haben die Freiheit, dächt' ich, zu benutzen verstanden!

Das lehrte mich nicht die Freiheit selbst, nicht der Dank gegen die Gottheit, die an mir ein Wunder vollzog, als sie mich unter den schwierigsten Verhältnissen einen tiefen Kerker durchbrechen und entfliehen ließ. Erst auf dem Meere, als ich nach Amerika floh, kamen mir stillere Gedanken und der Trotz auf meine Kraft und das Gefallen an meiner Wildheit nahmen ab. Ich betrat den Boden der neuen Welt mit ernsten Vorsätzen. Ich nahm, da ich englischer Sitte vollkommen mächtig war, einen englischen Namen an –

Murray –

Morton nannt' ich mich.

Morton? Und wovon ernährten Sie sich?

Von derselben Kunst, die ich misbraucht hatte. Ich wurde wieder Kupferstecher.

Und jeder Versuchung widerstanden Sie?

Du hörst mich, Herr! Ich kann wol sagen jeder!

Reichte der Erwerb hin, Ihre verwöhnten Ansprüche zu befriedigen?

Das war's, mein Freund! Ich gab diese verwöhnten Ansprüche auf. Ich habe gefunden, daß wir außerordentlich glücklich sein können, wenn wir plötzlich mitten in unserm Leben einmal innehalten, stillstehen, Alles ändern, zurückgehen können. Was macht uns so unglücklich, [2368] was treibt uns so von Extrem zu Extrem, als diese athemlose Begier, ein Leben so wie es nun einmal, ich möchte sagen in Schluß gekommen, zu Ende zu bringen? Ja, wir wachsen anfangs empor. Wir kommen von Jahr zu Jahr vielleicht in günstigere Lagen. Aber wehe uns, wenn wir diesem Zuge des Schicksals, dieser freundlichen Gunst der Gestirne immer nachgeben! Das Bett, einmal erweitert zum Genuß, will immer gefüllt sein. Eine Existenz, einmal bequem und behaglich angelegt, wird unsre Qual, unsre Folter, unsre Verlockung zur Sünde werden. Der Emporkömmling, der nicht mehr zurückkann, wird fast immer scheitern. Verwirren sich seine Begriffe von Recht und Tugend nicht in dem Drange des Erwerbs, so sinkt er erschöpft am Ende seiner Tage zusammen. Der Zwang, jenes bequeme Bett seiner Existenz immer gleich weit auszufüllen, hat ihm jede Freude des Lebens geraubt.

Jetzt versteh' ich, sagte Louis, warum so viele Handwerker in Paris zwanzig Jahre fleißig sind und dann auf's Land ziehen, um weniger arbeiten und sichrer genießen zu können.

Das nenn' ich einen Epikuräismus, antwortete Murray, den ich niemals empfehlen werde. Man soll nicht früher aufhören zu arbeiten, ehe nicht die Hände und der Muth erlahmen. Nein! Ich richtete mich in New-York sogleich arm und bescheiden ein. Die Anmaßungen des Barons Grimm lagen hinter mir. Man nannte mich den Diogenes in der Tonne und wollte Geiz darin finden, daß ich so wenig ausgab und so viel verdiente –

[2369] Thaten Sie Das?

Ja, mein Freund! In Amerika ist jede praktische Kunstfertigkeit hochgeehrt. Ich erwarb deshalb viel, weil ich wenig brauchen wollte. Ich habe ein nicht unansehnliches Vermögen gesammelt, noch reicher aber bin ich an innern Erfahrungen geworden. Ich verschloß mich auf der neuen Erde den Menschen nicht. Ich prüfte die Charaktere und unterrichtete mich über die Einrichtungen. Die Gewissensbisse, die an mir nagten, führten mich auf das Bedürfniß der Versöhnung. Glauben Sie nicht, daß ich ein bigotter Christ wurde, aber ich gestehe Ihnen, daß ich eines Mittlers bedurfte. Der Mittler Jesus, den uns das Christenthum bietet, sprach zu mir wie ein verborgener Freund. Er sagte mir nichts von Dem, was man wol so gewöhnlich in den Kirchen hört, er sagte mir: Du bist ein Mensch und hast gesündigt! Deine Bahn war gestört, aber vielleicht führte dich die Störung auf den rechten Weg, den du nie gefunden hättest, wenn du ohne Innerlichkeit, als leidlich guter Mensch, so fortgegangen wärest.

Sie schlossen sich einer Sekte an? fragte Louis, dem mit dieser religiösen Wendung des Gespräches eine neue Verklärung auf Murray fiel, ohne daß er sich freilich hätte eingestehen können, daß er ihm deshalb lieber geworden wäre. Er hing, wie jeder junge Mann, an seinem irdischen Berufe und an der reinen Weltlichkeit unsrer nächsten großen Bestimmungen und mistraute sogar dem Einflusse der religiösen Betrachtung auf die Energie, die er von dem Menschen der Jetztzeit verlangte.

[2370] Ich schloß mich keiner Sekte an, sagte Murray, sondern beobachtete nur. Wiedergeboren im Geiste kann man nur in sich selber werden. Was ich innerlich gelitten, verschuldet, mir vorzuwerfen und abzubüßen hatte, eignete sich Das für die Mittheilung? Ich dachte mir jedesmal, wenn ich die Sekten in ihren Cirkeln beten hörte: Wenn Ihr wahrhaft gottselig seid, muß Euch der Kampf um den innern Frieden leichter geworden sein als mir! Ich betete für mich. Auch hab' ich nie hinaufbeten können zu einem großen Wesen, das außer mir wäre. Das hätte mich nicht erquickt und erfüllt. Wie kann mich etwas erquicken, das nicht aus mir selber strömte? Die Macht des Gebetes liegt in der Ruhe, die nach ihm auf unser Inneres sich breitet. Ich betete, ich kann wol sagen, zu mir selbst. Ich betete zu dem tiefen Geheimniß, das in meiner Brust schlummert und mir alles Das entgegenhält, was gut und schön und unsre Pflicht ist! Das Böse lag klar vor meinem Blick. Ich verschönerte es nicht, ich entschuldigte es nicht durch bunte Farben. Ich sah es in seiner ganzen verworfenen, abschreckenden Gestalt und entrann dieser Gestalt, zu reineren Genien mich flüchtend, die mir ihre rettende Hand boten. Aber was ich auch that, um mich zu läutern, nichts wäre mir gelungen, wenn ich nicht die Freuden einer bescheidenen Lebensweise gesucht und an Entbehrung mich gewöhnt hätte. Mein einz'ger Luxus waren Reisen in das Innere der Staaten, die mir unendlich lehrreich wurden und unter Andern auch die Freude bereiteten, den Mann kennen [2371] zu lernen, der meinen Geschwistern die Kunde meines Todes brachte ...

Wie ist es nur mit diesem Tode? fragte Louis, er griffen von der weichen und sanften Stimme, in der Murray seine religiösen Empfindungen ausgesprochen hatte.

Wenn, mein junger Freund, fuhr Murray fort, die Aussöhnung des innern Menschen mit sich selbst und die Wiedergeburt im Geiste darin liegt, daß man jede Kluft zwischen seinem Schicksal und seiner Ergebung in dies Schicksal ausfüllt, so muß ich Ihnen gestehen, daß es zwei Dinge gab, die beim erwachenden Glück meiner Seele dennoch die Freudigkeit derselben störten. Der eine Gedanke, der mich peinigte, war die Flucht vor dem Loose, das mich in Europa heimgesucht hatte. Der andre die Erinnerung an meinen Sohn ...

Wissen Sie nichts von Ihrem Kinde? Es ist ein Sohn? fragte Louis theilnehmend.

Es ist ein Sohn ...

Und keine genauere Kunde von ihm?

Nicht mehr, als was ich Ihnen erzählen werde. Jene beiden Gedanken folterten mich ...

Auch der Ihrer Flucht? Wie wäre Das? Wie konnte Sie der Gedanke an Ihre Rettung foltern?

Murray schwieg eine Weile, dann sagte er:

Sie stehen, ein reiner, unbescholtner, in sich friedlicher Jüngling, auf dem Standpunkte nicht, der der meinige werden mußte. Ich habe dem Herrn gedankt, als ich mir sagen konnte: diese Flucht rettete dein Inneres! In dem [2372] Kerker hättest du mit der Kette geklirrt und dir in ungebehrdigem Zorne den Schädel an der Wand eingerannt. Erst durch die Flucht fandest du die Stimmung, in dir einzukehren und über dich den Stab zu brechen ...

Um so mehr!

Wie ich aber Frieden mit mir selber hatte, wissen Sie, was mich peinigte..?

Doch nicht der Vorwurf, daß Sie dem ungerechten Akte dieser weltlichen Gerechtigkeit nicht genügt haben?

Murray schwieg und wurde nachdenklicher.

Sie antworten nicht? Wär' es möglich, daß Sie die Absicht hätten –

Mich den richterlichen Behörden hier selbst wieder auszuliefern? fragte Murray lächelnd und richtete sein Auge lange auf Louis, der diese Verirrung des von ihm so hoch geschätzten Mannes nicht zu begreifen im Stande war.

Nein, nein, sagte er. Das ist keine lebenskräftige Tugend mehr! Das ist mönchische Selbstqual! Das ist Hypochondrie!

Haben Sie keine Sorge, mein Freund, sagte Murray, daß ich die Thorheit besitze, in diesem Punkte blindlings einem Gefühle zu folgen. Wie wenig reif dieser Gedanke bei mir ist ...

Er zog sein Terzerol und fuhr fort:

Beweise Ihnen diese Waffe, mit der ich im Stande wäre, meinem Leben ein Ende zu machen, wenn ich so unglücklich sein sollte, erkannt zu werden. Und doch hass' ich [2373] Selbstmord! Und möchte Christ sein! Sie sehen, daß ich noch nicht zur rechten Erleuchtung gekommen bin!

Louis erwiderte nichts. Der Anblick der Waffe machte ihn vollends irr. Er konnte bei Murray eher Alles, als eine gewaltsame Beendigung seines Lebens durch eigne Hand voraussetzen. Mit seinen religiösen Grundsätzen schien diese Drohung nicht übereinzustimmen ...

Murray verstand sogleich, was seine letzten Worte bestätigend in Louis' Seele vorging.

Nicht wahr, sagte er, wie wenig entsprechen solche Entschlüsse dem Bilde, das Sie vielleicht von mir gewonnen haben! Ich spreche von Selbstmord! Erkennen Sie daraus, wie wenig ich in mir selber schon reif und klar geworden bin! Ein völlig unbestimmtes Tasten im Dunkeln verwirrt mich noch, wenn ich an diese Gefahren denke. Soll ich sie aufsuchen? Soll ich sie fliehen? Eine Stimme in meinem Innern sagt: Kehre am Schluß deines Lebens in den Anfang zurück und dulde, was du dulden mußt –

Louis sprang auf und unterbrach Murray auf das Heftigste.

Sprechen Sie Das nicht aus! rief er. Sagen Sie nicht, daß man verpflichtet wäre, dieser irdischen Gerechtigkeit Wort zu halten! Wenn irgendwo ist hier das Recht der Nothwehr an seiner Stelle. Sie würden diese Gerechtigkeit beschämen, wenn Sie in den Kerker zurückzukehren wünschten.

Nein, mein Freund, ich würde noch mehr thun, sagte [2374] Murray, ich würde sie veranlassen, großmüthig zu sein; ich würde die Aufmerksamkeit des Publikums auf mich ziehen, belobt, gerühmt, gepriesen werden – kann ich Das wollen? Müßt' ich Das gerade nicht verachten? Nein, mein Freund, nicht sich selbst angeben, sondern angegeben werden, fortgeschleppt von der Gerechtigkeit, die sich der Beute freut, Das, Das, könnte leicht mein Schicksal sein ...

Louis wehrte gewaltsam diese melancholischen Äußerungen fast mit den Händen ab. Es war ihm, als träte einer der alten Märtyrer aus den Nebeln der Geschichte und drängte sich an den Holzblock, nur um für Christus zu sterben und seinen Heiland bald zu sehen.

Nun, nun, sagte Murray und streckte ihm das Terzerol entgegen. Sie merken da, daß ich noch ziemlich weltlich gesinnt bin, wenigstens so lange – fügte er mit gedämpfter Stimme hinzu – bis ich meinen Sohn gefunden habe.

Sprechen Sie davon, Murray! Das ist tröstlicher für mich.

Ich sehe aus Ihrem Eifer Ihre Liebe. Nun wohlan! Der zweite mich peinigende Gedanke ist mein Sohn. Ich weiß, ich ahne es, daß er im Elend lebt, verworfen, verkümmert. Wenn er lebt! Ich hatte keine Ruhe über diesen Gedanken. Ich weiß, daß ihn seine Mutter verstieß, weiß, daß sie ihn, wenn er noch lebt, hassen wird, wie sie den Vater haßte. Es gibt unblutige Mörderhände! Man kann tödten – o mein Freund – man kann tödten mit Gift und Dolch, das ist alt! Man kann tödten mit scheinbarer Liebe, [2375] übertriebener Pflege, durch tausend Mittel der Bosheit, die langsam, aber sicher treffen. Auch Das ist erwiesen, wenn auch meist im Dunkel begraben und nur für das jenseitige Gericht reifend! Aber ein noch langsamerer Tod durch Unterlassungen, ein sittlicher Mord durch Nichterziehung, Verwilderung, Elend ... sehen Sie, Freund, das Alles steht klar vor mir, stand vor mir, seit ich mein Elend begriff, und meine Ruhe, meinen Frieden stört dies Bild so, daß ich mir verworfen vorkomme, wenn ich die natürliche Pflicht, die mir die Ordnung der Natur aufgegeben, aus jämmerlicher Feigheit um mein eignes Loos hintansetzte und von dieser Erde scheiden wollte, ohne mich noch wenigstens einmal umzublicken, wo wol das Kind ist, das sich so jammervoll durch sündige Eltern in's Leben stehlen mußte.

Louis war von diesen mit hoher Weihe ausgesprochenen Worten erschüttert.

Ja, sagte er, Murray's Hand ergreifend, das ist ein Gefühl, hochzuehren, heilig und edel! Diesem Gefühle widmen Sie Ihr Dasein, aber ihm schonen Sie es auch! Denken Sie an Ihren Sohn! Suchen wir ihn! Retten wir ihn, wenn er noch lebt und durch die unnatürliche Wuth einer betrogenen Mutter wol zu den Ausgesetzten und Verdammten dieser Erde gehört!

Das war meine Aufgabe, fuhr Murray fort. Ich raffte mein Vermögen zusammen, nahm Abschied von den Wenigen, die mich kannten, und schrieb jenem Manne, den ich einst auf seiner Farm am Missouri kennen lernte und [2376] von dem ich wußte, daß er zum Continente zurückkehrte, er sollte meinen Verwandten, die ich ihm bezeichnete, einiges Geld überbringen und sagen, daß ich todt wäre. Als mir einfiel, daß ich großen Gefahren entgegen ging, ließ ich den Verdacht entstehen, als lebt' ich wirklich nicht mehr ...

Heunisch sagte mir, bemerkte Louis, daß die Ursula und der Schmied von einem todten Bruder geerbt hätten.

Tausend Dollars ein Jedes.

So wird es sein ...

Ich komme nach Deutschland. Was beginnen? Leb' ich noch, entdeck' ich mich den Meinigen, so setz' ich mich der Gefahr aus, erkannt, ergriffen zu werden und meine Mühen um den Sohn wären vergebens.

Ja, Murray, schließen Sie sich ein! Lesen Sie! Arbeiten Sie! Denken Sie! Ich will für Sie handeln. Ich!

Murray war gerührt ...

Was wissen Sie von Ihrem Kinde, wo wollen Sie hoffen es wiederzufinden?

Fünf Monate nach meiner Verhaftnahme, erzählte Murray, erfuhr ich durch einen Besuch meiner Schwester, der mir als Abschied gestattet wurde, weil ich mein Urtheil erfahren hatte, daß meine Freundin einige Wochen nach jenem verhängnißvollen Abende die Stadt verließ und ihr schrieb, sie sollte in einen nahegelegenen Ort sich begeben, um dort eine Mittheilung zu empfangen. Meine Schwester stellte sich ein, traf aber nur jene ältere Vertraute, die ihr erklärte, in vier Monaten etwa würde ihre [2377] Gebieterin von einem Kinde genesen, das mir elendem Menschen angehöre. Sie würde diese Erlösungsstunde von dem qualvollsten Zustande in einem Dorfe, das ihr näher bezeichnet wurde, abwarten und bis dahin sich in Verborgenheit halten. An dem Tage, wo sie die Anzeige der bevorstehenden Geburt empfangen würde, sollte sie kommen und das Kind abholen. Man wollte ihr ein für allemal eine nicht unbedeutende Summe zahlen, wenn sie das Kind als das ihre annähme und einen Schwur leistete, nie mehr im Leben von diesem Vorfalle und Verhältnisse Erwähnung zu thun. Wenn sie es verspräche, so könnte sie gewiß sein, daß die hohen und einflußreichen Verwandten der Dame Alles aufbieten würden, das Loos ihres gefangenen Bruders, dieses ruchlosen Abenteurers und Betrügers, zu mildern. Meine Schwester Ursula, noch entsetzt von dem Anblick des blinden älteren Bruders, voll Theilnahme auch für mich, mehr noch aber gereizt durch den Gewinn versprach, das zu erwartende Kind zu sich zu nehmen und für dessen Schicksal zu sorgen. Acht Tage vor meiner Verurtheilung hatte die Entbindung von einem Knaben stattgefunden. Meine Schwester hatte dreitausend Thaler empfangen, klagte aber, daß sie schon dem blinden Bruder davon die Hälfte abgeben sollte. Dieser war noch immer an dem schrecklichen Orte, wo meine Schwester in Diensten stand. Freilich hatte sie jetzt diesen Platz zu verlieren. Ihr Herr hatte meines Bruders Verbrechen erfahren und würde nicht gelitten haben, daß sie mit dem Kinde bei ihm geblieben [2378] wäre. Wo ist denn nun das Kind? fragt' ich damals und wohin willst du dich mit ihm wenden? Meine Schwester hatte zu allen Zeiten etwas Verwirrtes und Seltsames. Statt auf meine Frage zu antworten, antwortete sie darauf selbst mit Fragen. Nach Allem, was mir Franziska Heunisch von ihr erzählte, wundert es mich nicht, daß sie in ihren alten Tagen das Wesen einer Hexe angenommen hat. Wenn's nur erst über den grünen Klee ist! sagte sie damals. Was sie damit meinte? fragte ich. Ist das Kind schwächlich? Ist es krank? Wie wird es genährt? In diesem Augenblick, erfüllt von der ganzen gewaltsamen Theilnahme für ein Wesen, das mir noch für die Zukunft einen gewissen Zusammenhang mit dem Leben gab, trat der Gefängnißwärter ein. Die Frist der Unterredung war abgelaufen. Ursula mußte fort. Besorg' Alles gut! sagt' ich noch und drückte ihr die Hand, nicht voll Rührung, sondern voll Ingrimm. Sie ging, antwortete auf meine Fragen nicht mehr und – das ist Alles, was ich von meinem Kinde weiß und als Beruhigung mit hinüber nahm in die neue Welt.

Louis erwiderte, daß hier ja Anhalt genug zum weitern Forschen gegeben wäre.

Das wohl, sagte Murray, aber ich ahne nichts Gutes von dem Ergebniß. Eine Nachfrage bei jenen Frauen –

Leben sie noch? fragte Louis rasch.

Sie leben noch! sagte Murray. Sie leben in Glück und Freude! Ich will sie nicht stören in der Ruhe ihrer Herzen, wenn diese Herzen ruhig sind.

[2379] Ah, sagte Louis, doch nur, weil es gefährlich ist, den Verdacht solcher Tigerinnen zu wecken. Denn sonst –

Ich will keine Rache, erklärte Murray. Hätt' ich auch ein Recht dazu? Kaum zur Strafe für Das, was mir wirklich Schlimmes von ihnen widerfuhr. Bei ihnen wagt' ich nicht zu forschen ... so ging' ich ... schaudervoll zu sagen ... wo ich zuerst um das Schicksal eines so elend auf die Welt gekommenen Wesens nachfragte ...

Am Hochgericht!

Entsetzliches Gefühl, mit dem ich die Anhöhe hinaufstieg, die zur Schädelstätte der Verbrecher führt! Wie tief ritzten die Dornen, die ich mir selbst auf's Haupt setzte, in's Fleisch! Wie blutete ich unter dem Druck des Märtyrerthums der Reue, zu dem ich mich freiwillig darbot! Ich klopfte an die Pforte der unheimlichen Wohnung auf der Höhe und fragte nach dem Doctor Lehmann, so nannte man sonst den Pächter. Er war todt. Sein Nachfolger wußte nichts von Ursula Marzahn, nichts von Jakob Zeck. Ich ging den Berg hinunter, als wenn feurige Flammen unter mir aus dem Boden schlügen. Ach, ich nahm es für eine gute Vorbedeutung, daß man hier nichts von dem Vergangenen wußte. Eine neue Generation hatte die alte verdrängt. Die Vögel sangen in der Luft, die Ernte stand so voll und hoch und reif. Ich setzte mich in's Korn unter blaue Blumen und dankte Gott, daß ich nichts erfahren hatte.

Murray schwieg eine Weile, um sich zu erholen. Dann fuhr er fort:

[2380] Ich suchte den Wächter meines Gefängnisses auf ...

Den fürchteten Sie nicht?

Er hatte mich entfliehen lassen ...

Der Brave!

Weil er seine Pflicht verletzte, brav?

Wir vereinigen uns nicht, Murray ... sagte Louis kopfschüttelnd.

In diesem Falle doch, wenn ich Ihnen sage, daß dieser Gefangenwärter mir entdeckte, warum ich nicht in das Zuchthaus kam, sondern zu einsamer Haft begnadigt wurde.

Murray erzählte die Umstände, die wir wissen.

O diese Teufel in Frauengestalt! rief Louis. Sagen Sie mir, wer sie sind?

Murray, auf diese Worte nicht achtend, fuhr fort:

Auch hier hatte der Tod schon den Posten abgelöst. Ich entdeckte eine Tochter jenes braven Mannes, jenes Mädchen ...

Das Sie allein zu Grabe begleiteten?

Murray nickte.

O glauben Sie mir, rief Louis, was Sie für Herbststurm gehalten haben, als Sie an der aufgeschütteten Erde des Friedhofes standen, Das waren die Chöre der Engel, die ein Requiem der armen Seele sangen und ein Hosiannah Ihnen.

Murray lehnte dies Lob ab und fuhr in seinen Angaben fort:

Von jenem Mädchen hört' ich zum ersten male, daß eine [2381] Ursula, die sich Marzahn nennt, mit jenen Frauen noch in einem gewissen Zusammenhange steht. Nach diesem Namen forschend, hört' ich, daß Marzahn der Name eines verstorbenen Försters in Fürstlich Hohenbergischen Diensten war, dessen gegenwärtiger Nachfolger Heunisch ist. Den Namen Franziska Heunisch hört' ich zuerst bei meiner Nachbarin Louise Eisold, dann von jenen Feinden dieses jungen Mädchens, die mich veranlassen wollten, sie zu entführen. In dem Drange, den Beziehungen meiner Verwandten auf die harmloseste Art näher zu kommen, ging ich scheinbar auf die mir gemachten Vorschläge ein –

Von Wem kamen sie? sagte Louis. Wie oft versprachen Sie mir diese Aufklärung!

Lassen Sie mich schweigen, sagte Murray. Sie würden sie strafen wollen und mir nur Verfolgungen zuziehen, die ich jetzt noch nicht wünschen kann. Genug, ich wußte nun von Franziska, von den Märtens, Ihnen und Ihrem gutmüthigen Nebenbuhler Heinrich Sandrart, daß Ursula Marzahn und ihr Bruder Jakob Zeck beim Fürstlich Hohenbergischen Dorfe Plessen wohnen. Ich folgte Ihnen. Ich schützte Ihre Freundin. Und da bin ich nun und weiß nicht, wie ich, ohne von den Todten leibhaft aufzustehen, nach dem Schicksal jenes Kindes forschen soll, das in allen meinen Anfragen nach der etwaigen Umgebung dieser Menschen nie genannt wurde. Wie ich jenes Mädchen auf dem Wege des Lasters fand, wer weiß, ob ich meinen Sohn nicht als Verbrecher finde!

[2382] Dann wäre Ihnen besser, Sie entdeckten ihn nie, bemerkte Louis ...

O! O! Ich glaube an die Möglichkeit moralischer Besserung; nur kommt es auf die richtigen Mittel an. Ein Verbrecher gleicht einer erstarrten Schlange, die man an seinem Busen aufwärmen muß ...

Um sich zum Dank von ihr verwunden zu lassen?

Ich wählte kein gutes Bild. Nehmen Sie den Verbrecher sich selber nah, entziehen Sie ihm die Möglichkeit des Fehlens, erwärmen Sie ihn durch Liebe und Vertraulichkeit, erheben Sie ihn dadurch, daß Sie zu ihm niedersteigen ... ich will nicht sagen, daß Alle dem Besseren zu gewinnen sind: Mancher ist es: warum sollt' ich ihn nicht suchen?

Ich helf' Ihnen, schloß Louis und horchte. Es schlug zehn Uhr vom Kirchthurme im Dorfe. Es war kalt geworden. Man hatte vergessen, im Ofen nachzulegen. Murray fröstelte wie ein Fiebernder.

Sie sind krank? Sie regten sich auf? Was haben Sie? sagte Louis Armand.

Das erste Gefühl einer Frau, die Mutter wird, antwortete Murray lächelnd, ist Fieberfrost. Mein Geständniß hab' ich abgeschüttelt. Sie werden es pflegen und schützen. Aber es überrieselt mich doch ...

Besprechen wir morgen, sagte Louis, die Mittel, um bei der Schwester und bei dem blinden Bruder nachzuforschen, welches Schicksal einem Kinde geworden ist, das ihnen einst der Zufall anvertraute.

[2383]

Keine Übereilung! rief Murray.

Wir haben ja Zeit, sagte Louis. Sie arbeiten hier in der Stille. Ich soll noch einige Tage bleiben und wer weiß, ob meine Abwesenheit von der Stadt ... nicht wohl gar ... Er stockte voll Betrübniß.

Gewünscht wird? fragte Murray.

Als Louis schwieg, sagte der Alte:

Louis Armand, Sie müssen morgen meine Aufrichtigkeit vergelten und mir sagen, ob auch Sie Kummer haben?

Louis gab Murray den einen Leuchter, während er selbst den andern ergriff und sagte ruhig ausweichend:

Gute Nacht für heute! Sie suchen einen Sohn, edler Mann! Nehmen Sie vorläufig mich an seiner Statt. Sie haben mich tief erschüttert und das Gefühl der Wehmuth, das seit einiger Zeit über mich und einige Freunde gekommen ist, vollends aufgelockert bis zum tiefsten Lebensernst. Es gibt denn doch nur wenig Wahrheiten, die uns so aus der Luft zufliegen und gleich unsern innersten Menschen befriedigen können. Aus der eignen Brust heraus müssen wir weise werden, aus dem Bedürfniß unsrer eignen Seele zum Guten kommen. Dank! Dank Ihnen für Ihr Vertrauen! Sie haben es nicht verschwendet. Der Fremdling ist Ihr Freund, Ihr Schüler, Ihr Sohn!

Murray lächelte milde. Er sah sich dann im Zimmer noch etwas mistrauend um, leuchtete an das Fenster, bemerkte, daß der Sturm etwas nachgelassen, schloß die [2384] Fenster, bedeckte seine kleine Werkstatt, schloß den Flügel und konnte sich nicht so rasch von dem Zimmer trennen.

Ist es mir doch, sagte er schon im Gehen, als wenn diese Wände zu viel erfahren hätten! Oder ergreift mich ein Bangen in der Nähe meines Bruders? Ich glaube, er würde mich trotz seiner Blindheit erkennen, wenn er meinen Athemzug hörte –

Träume der Aufregung, Murray! Beruhigen Sie sich! Ihr Geheimniß schlummert in meinem Herzen!

Murray drückte Louis die Hand und folgte in das Vorzimmer, wo Louis schlief. Er selbst ging über den Corridor in ein entgegengesetztes Gemach, das er gerade aufschloß, als die Kirchthurmuhr schon ein Viertel auf elf Uhr schlug, eine Stunde, wo auf dem Lande, auch im Sommer, wie vielmehr jetzt, Alles im tiefsten Schlummer liegt.

Der Morgen brach an, wie der Abend endete. Das Wetter hatte sich noch nicht aufgeklärt. Derselbe nebelgraue, feuchte Himmel. Louis hätte ihn so gern gewünscht seiner Stimmung gemäß. Er hätte nach Dem, was er gestern von einem der seltsamsten Menschen, denen er im Leben bisher begegnet war, gehört, die neuen, gewaltigen Eindrücke so gern in Luft und Natur hinaustragen mögen, um sich der ihn drücken den Schwere dieser geistigen Last etwas entbunden zu fühlen. Der Himmel bot sich aber nicht zu dieser Hülfe an. Er blieb verstimmt und verstimmend, verschlossen dem Blicke, der so gern zu seinem Blau emporgeschaut hätte.

[2385] Der junge Arbeiter, der hier zu einer unfreiwilligen Muße verdammt war, sprang aus dem Bett und bekleidete sich. Er fühlte das lebendigste Bedürfniß, Murray freundlich zu begrüßen und ihm durch seinen eignen unbefangenen Sinn die Angst zu nehmen, die uns doch befällt, wenn wir, verführt von einer günstigen Situation, aus uns zu gewagt heraustraten und mehr über uns enthüllten, als wir sonst dem Blicke der Menschen zu verrathen gewohnt sind. Hier war nun vollends noch die Last eines Verbrechens, das Geständniß einer unter allen Umständen bedenklichen Schuld abgeschüttelt worden und Louis fühlte zart genug, um die Lücke, die in Murray's Gemüth entstanden sein mußte, durch freundlichste Begrüßung wieder auszufüllen.

Er ging über den Corridor, klopfte bei ihm an, trat leise ein und fand ihn gleichfalls schon angekleidet, ruhig auf seinem Bette sitzend und lesend.

Ich lebte bisher so wenig in der wirklichen Welt, sagte Murray, daß ich mich immer an Bücher gehalten habe und in der That sind richtig gewählte Schriften ein Ersatz für das Leben. Geschichte, Naturkunde, leichtfaßliche Philosophie sind Gegenstände, über die ich mir schon seit dem Baron Grimm nicht gern eine wichtige Erscheinung entgehen lasse. Diese alte Gewohnheit ist mir im bessern Sinne geblieben.

So hab' ich wenigstens die Beruhigung, sagte Louis, auf den Vorrath von Büchern, die Murray mitgebracht hatte, blickend, daß Sie in der Zeit, wo ich suchen werde, [2386] die Verhältnisse Ihrer Geschwister genauer zu erforschen, wenigstens eine Beschäftigung haben.

Ich werde verstimmte Musik machen, lesen, eine Visitenkarte für Ihr Geschäft stechen und mich so nützlich als möglich zu machen suchen.

Damit gingen Beide gemeinschaftlich in das Eckzimmer hinüber, fast auf dem Fuße von Brigitten gefolgt, die das Frühstück mit klappernden Tassen brachte. Winkler tappte hinter ihr her, um einzuheizen.

Es wurde von einem Wagen des Herrn Ackermann aus dem Ullagrunde gesprochen, der den Candidaten Oleander zum Fräulein Selma täglich abhole, das Stunden bei ihm nähme, der Wagen würde heute hier erst vorfahren und dann wie immer am Pfarrhaus halten.

Wie weit ist's in den Ullagrund? fragte Louis, auf's Neue betroffen über den Namen Oleander (der der Name jener Deutschen war, die Thaddäus Kaminski auf seiner Flucht aus Polen ehelichte und mit nach Frankreich nahm) ...

Eine Stunde zu fahren, zwei zum Gehen! hieß es.

Wann fährt Herr Oleander zurück?

Gegen Abend erst ...

Ich muß sehen, wie ich selbst zurückkomme. Rechnen Sie auf ein Mittagessen für mich nicht. Aber mein würdiger Begleiter bleibt daheim und lassen Sie ihm nichts abgehen ...

Es würden die darauf folgenden Auseinandersetzungen und Ablehnungen noch länger gedauert haben, wenn [2387] nicht ein Klopfen draußen an der Vorthür sie abgeschnitten hätte.

Herr Justizdirektor von Zeisel war es, der seinen Morgengruß schon in aller Frühe selbst bestellen wollte und sich die Ehre ausbat, morgen beide Herren bei sich zu Tische zu sehen. Louis blickte dabei auf Murray, der sich entschuldigte, aber die Gründe widerlegte, warum auch sein junger Freund Anstand zu nehmen schien, die Einladung anzunehmen. Frau von Zeisel erhielt später durch ihren Gemahl die Versicherung, daß sie auf die Vermehrung ihres Tisches wenigstens durch ein Couvert rechnen durfte. Auch Herrn Oleander würde man finden und wenn die Einladung Erfolg hätte, auch Hernn Ackermann und Tochter ... Herr von Zeisel, der das freundschaftliche Verhältniß zwischen dem Fürsten Egon und Louis Armand kannte, unterließ nicht, diesen kritischen Besuch auf jede Art zu ehren. Er überreichte Louis ein Packet der neuesten Zeitungen und erbot sich zu jeder Gefälligkeit, die er ihm nur unter den traurigen Umständen dieser üblen Jahreszeit erweisen könnte. Louis dankte und bat nur, ihn wegen Fortsetzung dieser Zeitungen öfters in Anspruch nehmen zu dürfen.

Das kann ich mir denken, sagte Herr von Zeisel, wie sehr es Sie interessiren muß, diese glänzende Laufbahn, in die sich Sr. Durchlaucht plötzlich geworfen haben, zu verfolgen. Ich freue mich wahrhaft, daß die schönen Versicherungen, die Justus in den nahegelegenen Wahlkreisen für seinen Schützling gegeben, so schnell in Erfüllung [2388] kommen. Dennoch herrscht bei Allen, die für die allgemein hier herrschende Liebe zu Sr. Durchlaucht einen sichern Ausdruck haben und wissen, warum sie ihn verehren, eine Art Bedauern über diese Nachricht. Denn der Beruf eines Ministers gehört in diesen Tagen nicht zu den beneidenswerthen.

Murray schwieg aus Absicht, Louis aus Schüchternheit und bescheidener Einhaltung seiner Sphäre.

Über Ackermann, seine Pläne, seine Vorbereitungen zu sprechen, war Herr von Zeisel zu sehr Diplomat. Er lebte mit dem neuen Generalpächter fast auf gespanntem Fuße, was jedoch eine Einladung nicht ausschloß. Er rühmte sogar ausdrücklich Alles, was man sich von der zukünftigen Neugestaltung der wirthschaftlichen Verhältnisse des Fürstenthums versprechen dürfte. Sein ganzes Wesen war rücksichtsvoll und zeigte Takt.

Als Herr von Zeisel gegangen war, hatte Louis nicht mehr viel Zeit, die Neugier, was wol die Blätter enthalten würden, zu befriedigen. Er sah einige Nummern des »Jahrhunderts« durch, die er schon kannte. Die neuen Nummern entfaltete er kaum, als schon unten der Peitschenschlag des kleinen Einspänners hörbar wurde, der ihn nach dem Ullagrund abholen sollte. Er überließ die Zeitungen Murray, der dafür ein geringes Interesse hatte, und nahm von ihm für den Lauf des Tages herzlichen Abschied.

Sorgen Sie doch nicht, rief ihm zum Troste Murray noch nach, daß mir die Zeit lang werden wird! Nehmen Sie ja [2389] einen Mantel! Das Wägelchen ist nur halb geschlossen! Auf Wiedersehen!

Unten halfen Brigitte und der Gärtner Louis einsteigen. Der Kutscher schien ein Bauerbursche. Er saß schon durchnäßt auf seinem Bock und war nicht wenig erstaunt, heute nach Herrn Ackermann's Wohnung statt des jeden Morgen von ihm abgeholten Herrn Candidaten Oleander noch einen andern Besucher mitzunehmen.

Langsam fuhr der kleine Wagen den schlüpfrigen Weg hinunter, bog dann um den Thurm, an dem Herrschaftsgebäude vorbei, in das schmale, kaum fahrbare Örtchen ein. Wie hatte sich's hier gegen den Sommer geändert! Wo war das Grün der Bäume hin! Wo der Sonnenschein, wo die funkelnden Diamanten in dem Wasserstaub der Mühle! Wo die Blumen an den Staketen und Einfriedigungen! Wo die muntre Entenschaar auf dem Teiche! Wo die fröhlichen Kinder! Ein grauer Regen hüllte die ganze Natur ein. Man ahnte kaum, daß in der Nähe das Gebirge sich emporhob und auf diesen verschleierten Matten einst die Glocken der Heerden geläutet hatten.

Der kleine Wagen hielt vor der düstern Pfarrwohnung Guido Stromer's.

[2390]
4. Capitel. Der Ullagrund
Viertes Capitel
Der Ullagrund

Es war Louis Armand ein eignes Gefühl, sich zu denken, daß dies niedere Haus die Wohnung jenes Guido Stromer war, dem er, ohne ihn genauer zu kennen, doch hier und da schon beim Fürsten oder seit einigen Wochen in der Zeitung »Das Jahrhundert« begegnet war. Er wußte von ihm, daß er vom Fürsten auf ein Jahr Urlaub erhalten hatte, um dem Triebe seines Genius zu folgen, wie Egon einmal von ihm gesagt hatte. Er wußte, daß sein Weib, die Kinder daheim geblieben waren und daß statt Stromer's die Pflichten seines Amtes ein Vikar verrichtete, dessen Name ihn an seine eigne Herkunft erinnerte.

Louis warf über das Fußleder hinweg einen Blick in das Pfarrhaus. Er sah an den kleinen Fenstern Kinder, die neugierig auf den Wagen schauten. Irrte er sich nicht, so stand auch eine Frau lauschend hinter der Gardine. Die Rouleaux waren halb niedergelassen. Blumentöpfe standen inwendig auf den Fensterbretern. Die Linden, die das Haus im Sommer beschatteten, waren entlaubt. Der ganze Eindruck war der der Einsamkeit, der öden verlassenen Traurigkeit, die in einem wehmüthigen Widerspruche [2391] stand zu dem Vater dieser Kinder, dem Gatten dieses Weibes, der jetzt vielleicht noch, von den Anstrengungen einer vornehmen Abendgesellschaft ermüdet, im Bette lag oder für die große Welt wirkte in der rauschenden Hauptstadt!

Die Thür des Hauses ging auf und ein langer, schlankaufgeschossener junger Mann trat heraus, in einem grauen verschlissenen Mantel, eine Brille vor den Augen, einen alten rothen Regenschirm in der Hand. Einige Bücher steckte er eben in die Brusttasche des Mantels, als er rasch von den zwei Stufen, die vor der Hausthüre die Schwelle bildeten, mehr herabstolperte als schritt, um unter dem Regen hinweg bald in den Wagen zu kommen. Der Knecht öffnete das Deckleder, Louis rückte zur Rechten und grüßte mit der Entschuldigung, daß er sich dieses Wagens mit ihm zugleich bediene, um zu Herrn Ackermann zu fahren.

Herr Oleander mußte sich sehr bücken, um unter dem Schirmdach der kleinen Halbchaise Platz zu finden. Erröthend sagte er einen guten Morgen und bemerkte lächelnd, daß er schon erfahren, mit wem er die Ehre hätte.

Damit brach er sogleich ab und murmelte nur noch einige unverständliche Worte über das schlimme Wetter. Der Knecht gab dem Pferde die Peitsche und weiter ging es langsam durch den Plessener Koth an der Schmiede vorüber, in welcher es heute still war. Diese Werkstatt mit Dem, was Louis gestern Abend Alles erfahren hatte, [2392] in Verbindung zu bringen, machte auf ihn einen eigenen Eindruck. Auch gedachte er des Försterhauses, des einsamen Fränzchen's, der alten Ursula. Am Abend hoffte er bei Heunisch vorzusprechen ... Einstweilen beschäftigte ihn der Dialekt des Herrn Oleander, der wirklich an die etwas breite Art der deutschen Aussprache erinnerte, die in seinem großelterlichen Hause geherrscht hatte.

War Louis ein leicht eingeschüchterter junger Mann, der nicht gern mit seinen Empfindungen und Meinungen von selbst hervortrat, so war dies Herr Oleander noch in weit höherem Grade. Dieser Begleiter blieb immer höflich, wenn es sich einmal um den bessern Sitz, um das Ablaufen des Regens, um das Losgehen des Fußleders handelte, aber sonst kam auch keine Sylbe aus seinem Munde, die nur irgendwie auf das Bestreben gedeutet hätte, seinen Nebenmann zu unterhalten, seine nähere Bekanntschaft zu machen, nach dem wahren Zweck seiner Anwesenheit in dieser unfreundlichen Jahreszeit zu fragen.

Auch Louis mochte nicht der Erste sein, ihn in ein Gespräch zu verwickeln oder gar nach seiner Herkunft zu fragen. Er dachte an seinen Stand, an den Unterschied seiner Bildung, an die Bildung eines Gelehrten. Er wagte nicht, irgendwie zu verrathen, daß er, ein Tischler, von manchen höheren Dingen Kunde besaß. Da Oleander nichts sprach, sondern in sich versunken dasaß und in die öden Felder blickte oder den Krähen nachsah, die träge auf- und abschwebten, so folgte er dem Beispiel [2393] seines Nebenmannes und versank vorläufig wie er in Träumerei. Es gestaltete sich ihm in Hinblick auf die öde Natur ein französisches Gedicht, das ihm später so von Siegbert übertragen wurde:


Du grauer Nebel, spinnst du Leichentücher?
Singst, heis'rer Vogel, du ein Todtenlied?
Erschrickt das Auge, das im Buch der Bücher
Die letzten Blätter aufgeschlagen sieht?
Sie fallen nieder, die Natur haucht leise
Ihr letzt' Geheimniß aus und will sich ruh'n;
Da hebt sich schüchtern unter'm Wintereise
Der grüne Halm der Frage: Was kommt nun?
Kommt wieder Lenz und prangen alle Blüten
Auf Feldern nur, im grünen Gartenhag?
Begrüßen wir mit den geschwung'nen Hüten
Nicht endlich auch der Freiheit Frühlingstag?
Bleibt Alles so im alten Weh' und Kummer,
Sowie die Sterne geh'n am Himmelszelt?
Derselbe Tag? Derselbe nächt'ge Schlummer?
Nicht endlich, endlich auch die neue Welt?
Was will ich denn? Nur dann und wann ein Lächeln
Auch in den Seelen wie des Maien Luft!
Ein Zephyr Menschenliebe! Nur ein Fächeln
Der Hoffnung in die kranke Menschenbrust!
O muntrer Quell, du frohe Wiesenblume,
Zieht frohe Augen zu Euch niederwärts!
Zum Blütenast, zum Sternenheiligthume
Blick' ängstend und entsagend nicht das Herz!
[2394]
Wie müßt' es schön auf dieser Erde werden,
Umfing' einst die Natur zu gleicher Zeit
Auch dieses Lebens nackteste Beschwerden
Mit ihrer Liebe buntem Feierkleid!
O Zauberland, wo auch die Herzen sprossen,
Das Leben selbst in solchen Farben lacht,
Die wie ein Regenbogen ausgegossen ...
Bleibst du der Traum nur einer Winternacht?
Die Dohle krächzt – die Nebel hüllen Alles
In der Verzweiflung graues Einerlei.
Die Todtenglocke läutet dumpfen Schalles
Und ruft den Hoffenden: Vorbei! Vorbei!
Der Stein bleibt Stein – Nie wird die Welle fließen
Zum Berg hinan – Was kann im Eise ruh'n?
Gott läßt uns wol die alten Blumen sprießen,
Doch seine Wunder soll'n wir selber thun!

Herr Oleander war durchaus bei all' seiner Schweigsamkeit nicht unfreundlich. Er blieb in seiner wohlwollenden Miene während der ganzen Fahrt. Oft rückte er zur Seite, als wenn er möglicherweise seinen Begleiter störte oder ihm unbequem säße. Dann starrte er wieder auf die kahlen Felder hinaus und schien eine innere Geistesarbeit zu verrichten, wie Louis. Dichtete er vielleicht auch wie dieser? Auffallend genug, daß er zu den wenigen Worten, die er auf der Fahrt sprach, die Veranlassung von der Natur hernahm und immer etwas Eigenthümliches zu verfolgen schien oder beobachtete. So sprach er von den Dohlen, die sich noch die vergessenen Körner aus den [2395] durchweichten Äckern suchten, von der unschönen Form der entblätterten Weiden, die wie abgehauene Stumpfe, oben dicker als unten, an einem Graben standen, von der immer grünen Tannenwand der Berge, von der er sagte, daß sie den Kindern zu Liebe für die Weihnachtszeit grün bliebe. Wie Louis von dieser Äußerung Veranlassung nehmen wollte, nach den Kindern des Pfarrers zu fragen, für den er vicarirte, gab Oleander eine flüchtige Antwort und sah wieder hinaus in die graue Weite.

Endlich kam das kleine Gefährt dem Ullagrunde näher, an dessen Einfahrt Ackermann ein Haus bewohnte, das der reiche Bauer Sandrart in einem Anfall von Prachtliebe für sich erbaut hatte, aber immer noch nicht bewohnen mochte, weil er sich schwer von seinem gewohnten Giebeldache trennte. Das Bauerhaus war einige hundert Schritte weiter und tiefer schon hinein in die Schlucht gelegen, die von einem kleinen durch sie hinrieselnden Flüßchen der Ullagrund genannt wurde. Das stattliche zweistöckige, massive Haus, das Sandrart an den neuen Pächter des Fürsten vermiethet hatte, lag noch mehr der Ebene zu und höher. Es war umgeben mit Wirthschaftsgebäuden, einem großen Hofe und eingefriedigten Obstgärten. Überall sah man noch die Spuren einer neuen Anlage, die indessen einen sehr geeigneten Platz getroffen hatte.

Ackermann's Wohnhaus lag vom Wege zurückgebaut und wurde erst erreicht, wenn man einen gewaltigen Hof mit Ställen und Scheunen hinter sich hatte. Trotz des [2396] Regens, trotz der dem Ackerbau keinerlei Beschäftigung darbietenden Jahreszeit, war es in diesen Räumen nicht still. Man hörte dreschen, hämmern, sägen. Ackermann hatte sich schon jetzt auf seinem Pachthof die Menschen gemiethet, die er erst mit dem Frühjahre in eine neue großartige Thätigkeit einführen wollte. Er prüfte schon jetzt Den, den er brauchen konnte und gewöhnte diese Menschen, jede Jahreszeit auf nützliche Weise zu verwenden. Am untern Ende des ganzen Hofes, wo die Ulla floß, wurde trotz des Regens sogar gebaut. Ein ganz neues Haus stand dort fast bis zum Dache aufgerichtet. Drinnen hörte man das Hämmern und Sägen von Zimmerleuten ...

Dies wird die amerikanische Mühle! sagte Oleander, der Louis' neugieriges Hinausblicken nach diesem Baue bemerkte.

Auf Louis' Fragen, wann sie begonnen wurde, wann sie beendigt sein würde, wie ein solches Werk eingerichtet wäre, gab Oleander den kurzen aber artigen Bescheid:

Sie müssen sie sich ansehen.

Es schien, als wenn eine amerikanische Mühle nicht zu den Begriffen gehörte, von denen Herr Oleander ein vollständiges Bild lange mit sich herumtragen konnte.

Das Wohnhaus, noch nicht mit Kalk überworfen, stand etwas höher als der Vorhof. Es war zweistöckig und bot in seinen Fenstern einen freundlichen Anblick. Links und rechts war es von Bäumen eingeschlossen, die jetzt kahl, doch seine Wirkung lebendiger hervorgehoben. Der Eingang [2397] war von der Seite, an einem ganz von Gebüschen umgebenen Brunnen vorüber. Schon stand von weißen, neugezimmerten Latten ein Dach um die steinernen Stufen, die in die Hausthür führten. Dieser Eingang sollte also künftig von einer Laube überschattet werden.

Louis war ausgestiegen und unter dem schützenden großen rothen Regenschirm der Frau Pfarrerin von Plessen neben Oleander über den gekieselten Boden hingeschritten. Erst jetzt besann er sich auf Das, was er Ackermann zu sagen hatte. Er beschloß, sich so einzuführen, als wollte er eine zufällige Anwesenheit auf dem Schlosse Hohenberg zugleich benutzen, um dem Fürsten von seinem neuen Pächter einen Gruß und manches nützliche Versprechen für die Zukunft zu überbringen. Um ein weiteres Erforschen der Absichten des Pächters war er unbesorgt. Schon der erste Blick auf diese wachsende Niederlassung zeigte ihm ja, wie ernst Ackermann seinen Beruf ergriffen hatte.

Eine hinzugesprungene Magd nahm mit freundlichem: Guten Morgen, Herr Candidat! Oleander's rothen, durchnäßten Regenschirm in Empfang und spannte ihn, mit neugierigem Blick den zweiten Ankömmling musternd, in der großen reinlichen Küche aus, die sich gleich zur Linken, dicht am Eingang befand.

Herr Ackermann zu sprechen? fragte Louis.

Indem öffnete sich im Gange eine hintere Thür und ein junges Mädchen huschte, Oleander grüßend, rasch in eine entgegengesetzte hinüber.

[2398] Louis bemerkte, daß Oleander, der seinen Mantel auszog, erröthete.

Es gibt auch wenig Eindrücke, die so lieblich sind, als ein junges Mädchen in einer Toilette, die für das Zimmer berechnet ist, rasch durch ein Haus oder einige Sprünge über die Straße hüpfen zu sehen ...

Louis zweifelte nicht, daß dies Selma gewesen war.

Er erinnerte sich wohl des Knaben, den Ackermann damals, als er ihm die Pachtung zugestand, bei sich hatte.

Oleander, ohne sich um seinen überbescheidenen Begleiter weiter zu kümmern, ging mit einigen Büchern, die er aus dem Mantel genommen, in das Zimmer, in welches eben jenes junge Mädchen hinübergeschlüpft war. Louis aber wurde von der Magd in das entgegengesetzte Zimmer gewiesen.

Er klopfte an.

Beim Eintreten in die warme behagliche Stube fand er Ackermann auf dem Sopha liegend, eine Cigarre im Munde, eine Zeitung in der Hand, vor sich deren noch eine größere Anzahl und eine Menge Bücher.

Kaum hatte noch Louis ein Wort gesprochen, als ihn Ackermann schon erkannte und vom Sopha sich erhebend ihm die Hand zum Gruße bot.

Seien Sie uns willkommen, Herr Louis Armand! sagte er. Was führt Sie in dieser traurigen Jahreszeit zu uns Einsiedlern? Gewiß schickt Sie der Prinz, dem meine Briefe zu kurz und oberflächlich sind?

Kennen Sie mich noch? fragte Louis.

[2399] Ich vergesse kein Antlitz, das ich mir einmal einprägte, so leicht. Und wie sollt' ich das Ihrige vergessen, der mir die Botschaft brachte, wie ich für das Wohl und Wehe des Fürsten sorgen darf!

Louis wollte von Zufälligkeiten, die ihn herführten, reden, aber Ackermann unterbrach ihn mit der aufrichtigen Erklärung, daß er es ganz in der Ordnung fände, wenn man einmal bei ihm Visitation halte.

Verstehen Sie sich auf die Landwirthschaft? fragte er.

Louis verneinte.

Aber Das begreifen Sie doch, sagte Ackermann, daß die Intelligenz auf diesen Fluren und Triften noch nicht gewaltet hat. Hier gab es Schwierigkeiten und Vorurtheile genug zu überwinden. Die Lehre von der Vermehrung der Bodenkraft kennt man hier nur aus den oberflächlichsten Anwendungen der Dungtheorie. Die, die hier wirthschaften wollten, waren noch nicht einmal über die Sicherheit der hier erzielbaren Früchte einig. Und wie ließ man den Unarten der Natur freien Spielraum! Was standen sich die Unkräuter so gut im Fürstenthum Hohenberg! Nein, es kommt jetzt darauf an, durch passenden Fruchtwechsel dem Boden die nöthige Ruhe zu gewähren, Stroh und hauptsächlich Futterkräuter auch als Dungmittel zu gewinnen, damit durch das Medium der Thierernährung dem Boden wieder Kraft zugeführt wird. Man experimentirte hier fortwährend mit der Agrikulturchemie, mit mineralischem Dünger, dem ich seine Kraft gar nicht abspreche; aber ist einmal der Viehstand [2400] eine unerläßliche, eigentlich drückende Nothwendigkeit der Landwirthschaft, so muß man daraus auch seine Vortheile zu ziehen und ihn der Landwirthschaft wieder ergiebig zu machen wissen. Es kommt nur auf gute Race der Zucht an, die ich mir denn auch aus Kent, aus Durham in England verschrieben habe. Über die neuen Schaafe und kurzgehörnten Rinder sollen unsre Bauern erstaunen. Ein paar Exemplare, die schon da sind, sehen sie an wie Abgesandte der Hölle. Aber ich will auch deutsche Rosse aus Jütland, Zugochsen aus dem sächsischen Voigtlande kommen lassen, denen sich meine Nachbarn, Herr Sandrart an der Spitze, schon verwandter fühlen werden. Freilich geht es mit einer solchen Besserung des Viehstandes langsam. Da lass' ich mir denn die gute Gottesgabe der peruanischen Vögel oder den Guano einstweilen als Ersatz zur Düngung kommen. Haben Sie nicht, wenn der Nebel nicht hinderte, Leute im Felde arbeiten sehen? Die sind mit der Drainage beschäftigt. Sie legen thönerne Röhren im Erdreich, um der Entwässerung Kanäle zu bahnen, die ihr hier fehlten. Alle Hohenbergischen Wiesen waren sauer, d.h. sumpfig, ohne Abzugskanäle der Überfeuchtigkeit, ohne Einlaß der Luft, die den Wurzeln Kräftigung gibt. Die Engländer wissen, was entsumpfen ist! O mein junger Freund, Sie sind ein geborner Franzose, das deutsche Volk steckt geistig und physisch so noch in seinen Sümpfen, wie damals, als die alten Germanen die Herrschaft über ihr Vaterland erst den Auerochsen streitig machen mußten. Aber auch die Sümpfe sind hier nicht [2401] zu etwas Anderem benutzt als noch zum Tummelplatz der Irrwische und der Teufelsfurcht auf ihnen. Sind die Sümpfe nun einmal doch trotz gesunder Luft unausrottbar, so versuche man's mit dem Feuer! Man steche sie als Torf ab und wenn ich erst von der Willing'schen Fabrik meinen Brosofsky'schen Torfstecher habe, so sollen Sie sehen, daß wir einen schönen Handel mit der Hauptstadt eröffnen werden. Ist hier der Lehmboden benutzt? Findet sich hier wol nur der Versuch einer Ziegelei? Dieses Haus hier ist mit Mühe und Kosten aus fernher entbotenem Material erbaut. Wozu Das? Wir brennen die Ziegel selbst und verkaufen, was wir an Überfluß haben. Allein damit noch nicht genug. Wir Ökonomen werden die Hand auch Euch Industriellen zum gemeinsamen Wirken reichen müssen. Landwirthschaftliche Gewerbe dürfen nicht fehlen; denn wo nicht Alles Hand in Hand geht, wo nicht jeder Anbau seine mehrfache Nutzung, auch die Menschenkraft, auch die sich oft ergebende Muße und die Ruhezeit benutzt wird, bleibt ein Capital todt liegen. Gegen Kartoffelbrennerei sträub' ich mich, obgleich der Mehrbedarf von Kartoffeln sich dadurch so lebhaft aufdrängt, daß sie als Hackfrüchte dem Boden eine gute Ausrodung garantiren. Aber ich denke doch die Rübe vorzuziehen und werde Zucker fabriziren. Die Methode ist vereinfacht worden, der Apparat nicht mehr allzu kostspielig. Und welches Futtermaterial gewinn' ich nicht! Wie kann ich den Arbeiter im Winter so behaglich beschäftigen! Sehen die Leute hier, was Maschinen so [2402] treu verrichten helfen, die Abneigung gegen sie wird sich legen, sie werden mir dann jene Unterstützung gewähren, die ich leider jetzt noch nicht allzubereitwillig antreffe.

Angenehm unterhalten von dieser offenen, sachkundigen Auseinandersetzung sagte Louis:

Ich finde auch eine amerikanische Mühle im Bau begriffen.

Zum Entsetzen aller Müller der Umgegend, fuhr Ackermann wohlwollend und in seinem schönen Organe fort. Das ist nun nicht anders. Feindschaft des Zunftwesens folgt überall den Fortschritten des menschlichen Geistes. Es thut mir leid um die Herren in ihren blaugrauen Mehlröcken ... glücklicherweise sind alle Müller der Gegend reich. Nun mögen sie von ihren Zinsen leben oder die Preise, die meine Mühle stellt, auch an ihr schwarzes Preiscourantbret schreiben. Bis zum Frühjahr sind wir mit dem Mühlenbau fertig. Sie sollen diese erfindungsreiche Construction sehen, wo derselbe Umschwung der Räder das Getreide sichtet, es aufschüttet, zermalmt, das Mehl siebt und von der Kleie scheidet. Man wird das Brot hier künftig wohlfeiler essen und man braucht diese Erleichterung, denn die Ortschaften ringsum sind arm, alle Handthierung ist heruntergekommen und je tiefer hinein Sie in die Berge gehen, je elender fristen die Einzler in baufälligen Hütten ihr Dasein, das doch ohne Brot nicht sein kann.

Der Prinz wird eine Freude haben, von allen den[2403] Dingen zu hören, sagte Louis mit aufrichtigem Herzen, Egon darin wohl kennend.

Umsomehr wird er es, fiel Ackermann ein, als ich aus den Zeitungen hier sehe, daß er ja ganz auf die hohe See der Politik hinaussegelt. Er ist Minister geworden. Glauben Sie, daß ihm dieser Wirkungskreis Freude machen wird?

Egon gehört zu den Naturen, die in der Arbeit ihren Genuß finden, antwortete Louis.

Ackermann hörte diese Bemerkung mit sichtlichem Wohlgefallen.

Erzählen Sie mir von Ihrem Gönner, sagte er, rückte Louis einen Stuhl zurecht und öffnete den Deckel einer Havanakiste, um ihm Cigarren anzubieten.

Louis nahm zögernd.

Eine chemische Zündmaschine, deren Hahn Ackermann nur drehte, gab im Nu Feuer und ohne sich von der fremdartigen, neuen Umgebung nun noch beengen zu lassen, theilte Louis so viel von seinen persönlichen Beziehungen zu Egon mit, als er nur irgend glaubte davon erzählen zu dürfen. Die Beziehungen zu seiner Schwester und zu Helenen verschwieg er.

Ackermann hörte sehr aufmerksam zu und bestätigte das Ergebniß dieser Mittheilungen mit den Worten:

Ja! Ja! Der Fürst ist keine gewöhnliche Natur! Wie hätt' ich sonst mich entschließen können, in seinen zerrütteten Vermögenszustand meine Hand zu stecken! Er machte mir einen bedeutenden, und ich kann wohl sagen, [2404] wohlthuenden Eindruck, so spröde ich mich auch anfangs gegen ihn erwies.

Sie kennen ihn genauer? fragte Louis, erstaunt, daß ihm Egon niemals davon gesprochen hatte ...

Wohl, sagte Ackermann, von jenem Incognito her, das er im Sommer beobachtete, um sich hier den Zustand seiner Güter anzusehen.

Louis fand in dieser Äußerung nichts, was ihn bestimmen konnte, irgendwie zu ahnen, wie Ackermann den Prinzen mit Dankmar verwechselte. Egon war in Hohenberg gewesen, Egon hatte Ackermann selbst in seiner Gegenwart gerühmt, ohne sich auf den Ursprung seiner Bekanntschaft mit ihm weiter einzulassen.

Ich bin durch diese für seine Jugend überraschende Laufbahn als Staatsmann umsomehr befriedigt, sagte Ackermann, als ich die Gefahren zu kennen glaube, in die ein hochgestellter junger Adliger nur zu leicht geräth, wenn seinem Geiste nicht die rechte Nahrung geboten wird. Ich fand ihn nahe daran, der Spielball koketter Frauen zu werden. Ein Portefeuille rettet gewiß aus jedem Strickknäuel und wenn es verwickelt wäre, wie der gordische Knoten.

Louis erröthete fast. Er gedachte Helenen's ...

Wohl muß ich sagen, fuhr Ackermann fort, daß ich selten ein schöneres Frauenbild gesehen habe, als Melanie Schlurck. Welche hohe Vollendung der Formen! Man glaubt jene Statue lebendig zu sehen, um die Pygmalion so unglücklich wurde, als sie nur von Marmor war! Ja [2405] noch richtiger möcht' ich dies Mädchen jener Armida vergleichen, die die ernsthaftesten Menschen bezauberte und Weise gezwungen hat, sich in ihrer Gegenwart für dumm zu erklären. Dauert dieser Roman noch?

Leider konnte Louis nicht sagen: Nein! Es war ihm nur zu bekannt, daß Melanie Schlurck einen großen Einfluß auf Egon seit seiner ihm und aller Welt räthselhaften Verbindung mit Paulinen von Harder gewonnen hatte. Schon seit Wochen war Egon ja gegen ihn der Alte nicht mehr. Seine Aufrichtigkeit hatte zu stocken angefangen. Dennoch wußte er, daß er bei Paulinen wie von seinen Erschöpfungen sich ausruhte, bei ihr sich in seiner natürlichen Art heiter und unbefangen gehen ließ und von Melanie's immer gleicher Laune und ihrer kleinen liebenswürdigen Gefallsucht höchst angenehm unterhalten wurde. Daß Ackermann von einem älteren Verhältnisse sprach, Louis nur von einem jüngern wußte, kam in dem Druck der Thatsache selbst, die schwer genug auf Louis lastete, nicht zur Sprache. Auch die folgende Bemerkung Ackermann's, daß es dem Prinzen unter diesen Umständen viel Selbstüberwindung gekostet haben müsse, die Verwaltung seiner Güter ganz von dem Vater des schönen Mädchens zu trennen, kam nicht zu genauerer Erörterung; denn Louis wußte, wie weit der Terrorismus gehen konnte, mit dem sich Egon selber zügelte und sich bis zum Herzlosen auch darin bändigen konnte, daß er Melanien liebte und ihrem Vater dennoch darum nicht den geringsten Vortheil bot ... Das war ganz in Egon's Art.

[2406] Ackermann konnte sich von den Nachforschungen über Egon nicht so bald trennen. Der Gedanke an den jungen Prinzen, den er so genau zu kennen glaubte, schien ihm von solchem Werthe, daß er Louis nach allen Umständen seines jetzigen Lebens fast ausforschte.

Als Louis seine Neugier befriedigt und ihm besonders von Egon's politischer Entwickelung erzählt hatte, ergriff Ackermann die Zeitung, die er bei Louis' Eintreten gelesen und sagte:

Nach Dem, was ich von Ihnen und von ihm selbst weiß, überfällt mich da oft ein sonderbarer Zweifel, wenn ich seine Äußerungen in der Kammer lese. Ich finde ihn außerordentlich schroff.

Er ist von seinen Überzeugungen erwärmt ...

Er; aber diese Überzeugungen sind für Andere von einer, ich möchte sagen puritanischen Kälte. Es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß es in Frankreich eine politische Partei gab, die der Doctrinäre ...

Ihre Politik compromittirte das Königthum.

Egon ist nicht viel besser ...

Er haßte jedoch immer die Politik der Professoren ...

Es ist gar nicht gesagt, daß die Doctrinäre Professoren sein müssen; auch Kaufleute und Advokaten können es sein, wenn sie an bestimmten Doctrinen zu fest kleben und sie um jeden Preis geltend machen wollen. Die Politik der jetzigen Übergangszustände unserer Staaten ist keine Wissenschaft, sondern eine Kunst. Wer dem Geiste der Massen mit einer Lehre und sei es welche es wolle, [2407] entgegentritt, findet Widerspruch von allen Seiten. Ich fürchte sehr, daß sich Egon außer seinen politischen Gegnern, die an und für sich schon durch die Parteien und deren Interessen gegeben sind, auch noch die Theoretiker auf den Hals ladet. Kennen Sie diese Rede? Ich finde sie bereits zu excentrisch für ein so junges Ministerium.

Ackermann zeigte auf eine Stelle der Zeitung, die er Louis hinhielt. Es war wieder das »Jahrhundert.« Man sah, daß diese Zeitung hier überall auf bestimmte Veranlassung gehalten wurde.

Louis las den Tag der Sitzung. Es war einige Tage nach seiner Abreise, daß Egon die folgenden Worte, die Louis laut vorlas, gesprochen hatte:

»Denn, meine Herren, woran leidet unsere Zeit? An dem Mangel einer sichern und festen Lehre über den Staat? Glauben Sie Das nicht! Sie leidet unter dem Mangel an Geduld und Prüfung. Sie leidet unter dem Mangel der Unterordnung und des bescheidenen Bewußtseins seiner nächsten Pflichten. Wo Sie hinblicken, werden Sie arbeitende Köpfe und feiernde Hände finden. Ein Jeder bildet sich ein, wenn nur die theoretische Formel, das mathematische Gesetz unserer Existenz gefunden wäre, würde diese sich sogleich darnach ändern ohne unser Dazuthun. Die Gesellschaft ist, sagt man, krank, meine Herren. Sie ist es, ich läugne es nicht. Aber die Heilung liegt in uns, nicht in den Geheimmitteln der bisher gerufenen Ärzte. Woran fehlt es überall? An der wahren Diät der Geister. Enthaltsam, nüchtern, streng gegen sich [2408] selbst zu sein, wem fällt Das noch ein? Luxus ist die Vorstellung des Reichen und des Armen. Die Phantasie gaukelt sich in den kühnsten Idealen von Erdenglück und suchen will Niemand das Erdenglück, nur finden wollen es Alle. O, meine Herren, diese Welt kommt mir vor wie das Spiel der Kinder, wo Alle Feldherren, keiner Soldat sein will. Vergeben Sie mir, daß ich mich an Sie selbst wende, an Sie, die hier versammelten Gesetzgeber eines großen Staates. Ich ehre das Recht des Volkes, sich die Bevollmächtigten seiner Wünsche zu wählen. Aber gestehen Sie, auf jeden von Ihnen kommt, ehe er gewählt wurde, eine solche Fülle der Aufregung, an Jeden knüpfen sich so viel Leidenschaften des Ehrgeizes und der Streitsucht, daß man ernstlich für eine Gesellschaft fürchten muß, die so durchwühlt wird vom Unbestimmtesten, so in fieberhafter Hast auf Ihre Entscheidungen wartet, so nur vielleicht wartet, bis ein Jeder von Ihnen sich als Persönlichkeit und Träger des ihm geschenkten Vertrauens würdig zeigt. Ich ehre Ihr Recht der Prüfung, aber fragen Sie Ihr innerstes Herz, ob Sie hier Alle auf diesen Sesseln sitzen in dem Bestreben, das Staatsleben zu vereinfachen und nur die Thatsachen geltend machen zu wollen, die ... (Murren. Unterbrechung.)«

Lesen Sie nur weiter! sagte Ackermann.

Louis las, indem sich seine Züge verdüsterten.

»Eine Stimme. Sie sprechen für den Absolutismus.

Der Ministerpräsident. Ich nehme das Wort auf, das Sie mir zurufen. Was nennen Sie Absolutismus? Glauben [2409] Sie, daß ich eine der Freiheiten verkümmern will, die diese Zeiten dem Volke gegeben? (Neue Unterbrechung.)

Eine Stimme. Das dürfte nicht wohl möglich sein.

Der Ministerpräsident. Ich verachte den Absolutismus früherer Zeiten, den diese Tage niedergeworfen haben. Es ist ein gefälltes Ungethüm, das vom Schwerte des Zeitgeistes St.-Georg getroffen zu Boden liegt. Der Absolutismus der Polizeigewalt und der patriarchalischen Despotie wird nie wieder sein Haupt erheben dürfen. Aber ich frage Sie auf Ihr Gewissen, ob Sie den Staat, wie ihn einmal die Geschichte nicht als Zufallsprodukt der Privilegien, sondern als Naturprodukt der Gesellschaft, der Existenz, des Lebenmüssens, meine Herren, des Lebenmüssens überliefert hat, ob Sie, sag' ich, diesen Staat jemals für etwas nur Relatives halten können?

Eine Stimme. Sophistik!

Der Ministerpräsident. Sophistik? Sagen Sie Logik, mein Herr! Wer ist ehrlich mit dem Wohle der Menschheit meint, kann keinen Staat und wär' es den kleinsten, zufälligsten, für etwas Relatives halten, für ein zufälliges Ergebniß ewig schwankender Bestimmungen. Das Absolute im Staate ist die Gesellschaft! Das Absolute ist der gegebene Mensch! Dieser Absolutismus soll das Ruder aller Politik sein oder die Politiker werden Verräther am allgemeinen Wohle, Friedensbrecher, Rebellen nicht gegen den Fürsten und die Krone allein. Nein, Rebellen gegen den Armen, der leben soll und nicht leben kann, Rebellen gegen das große Räthsel unsers Daseins, das [2410] man zu lösen haben wird nicht in den Lehrstuben der Doktrin, nicht in den Bureaux der Beamtenwelt, nicht in den Palästen, sondern in den Hütten, in den Werkstätten, in den Kranken- und Siechhäusern, ja auf den Friedhöfen, meine Herren, unter den Gräbern. Denn der Tod ist das gelöste Räthsel dieses Lebens! (Rauschender Beifall von allen Seiten des Hauses.)«

Da sehen Sie nun, unterbrach Ackermann den erschütterten Louis, da sehen Sie nun, wie die Phrase die Menschen regiert!

Ah, unterbrach Louis, hier ist mehr als Phrase.

Nennen Sie es lieber, antwortete Ackermann lächelnd, ein Einlenken auf die übliche Heerstraße der Rhetorik! Ich gestehe, in Allem, was ich von dem Fürsten in diesen Berichten nun seit acht Tagen gelesen habe, bewundern zu müssen, wie er es versteht, die Schlagworte der Zeit in Augenblicken der Gefahr zu Hülfe zu rufen. Aber ich sehe doch, er eskamotirt sie.

Wie verstehen Sie das? fragte Louis besorgt.

Er ficht mit den Waffen seiner Gegner. Er entwindet ihnen die Rappiere, die sie gegen ihn brauchen wollten und schlägt vortreffliche Paraden. Noch bin ich nicht klar, ob er wirklich ein Taschenspieler der Begriffe ist. Nur ehrlich sein! Nur aufrichtig, Prinz! Er soll sagen, ich bin ein Absolutist! Ich bin beauftragt von der Monarchie, ihre schwankende Sache zu führen! Was windet er sich so durch die Doctrin von Arbeit und Thätigkeit und Existenz ...

[2411] O mein Herr, unterbrach Louis den skeptischen Agronomen, der in diesem Augenblicke an die hohe Stellung seines Patrons nicht dachte, diese Doctrin ist sehr heilig und für den Fürsten unendlich wichtiger als die Spitzfindigkeiten der Advokaten.

Die lieb' ich nun erst gar nicht, die veracht' ich wie unser lieber Fürst! Aber Sie sehen aus dieser kleinen Probe seiner schwierigen Stellung – Sie werden die Sitzungen mit Aufmerksamkeit verfolgen – Mein Exemplar steht Ihnen immer zu Diensten – lesen Sie und Sie werden bald merken, daß sich Egon mit dieser Theorie von der Entsagung und der Pflichterfüllung der Menschen in eine Sackgasse verliert, in der ich für ihn sehr viel Unglück erblicke. Es ist von Genf her etwas Calvinistisches in ihm stecken geblieben, er ist trotz der schönen Melanie ein Puritaner und ich wollte, ich dürfte ihm einmal recht den Text lesen ...

Ackermann fiel in einen so warmen, vertrauten, doch liebevollen Ton über Egon, daß Louis nicht umhin konnte, ihn zu fragen, was er ihm dann wohl sagen würde?

O, sagte Ackermann, Sie sind sein Freund, er hat Ursache, Sie zu lieben; denn durch das wunderbare Labyrinth seiner Jugend haben Sie ihn treu geführt. Lehnen Sie dies Lob nicht ab! Egon ist eine merkwürdige Erscheinung. Ja, ja! So jung! So reif! So weltklar! Ich sah es gleich an seinen Augen, daß in denen ein Geheimniß schlummert. Wenn Sie ihn von mir grüßen und ihm Versicherungen geben wollen über Das, was ich Ihnen Alles [2412] noch von der Praxis meiner Pläne zeigen werde, so sagen Sie nur, in der Politik verirre er sich! Ihm, das säh' ich schon, wären Kammerauflösungen, Verfolgungen, Einkerkerungen ein Leichtes! Er wird bald alle Mittel verschossen haben, um auf friedliche Art zur Herrschaft seiner Theorieen zu kommen! Er soll sich, sagen Sie es ihm, er solle sich vor den gewaltsamen Mitteln in Acht nehmen; die sind zweischneidig, treffen ihn selbst. Und unsre Zeit will keine Lehre, keine Doctrin, wenigstens sieht die seine so aschgrau aus, wie da die ganze Flur draußen. Sehen Sie hinaus, wie der Regen tröpfelt! Der ganze Himmel ein großes Sackleinen! Langweilige Raben fliegen mit matten Flügeln träge über die entlaubten Bäume hin! Sagen Sie doch Egon, ob er vergessen hätte, daß das Alles grün werden muß und daß es im Walde, wo er mit Selma einst wandelte, viel fröhlicher aussieht! Es ist gar nicht möglich, in unsrer Zeit das Evangelium der Pflichten zu predigen. Es ist grausam sogar, den Menschen allein auf die Arbeit zu verweisen. Wer arbeitete denn nicht gern? Nur die Belohnung fehlt, nur der Genuß fehlt. Und von dem soll er nur machen, daß er sich in den Grenzen hält! Ich sage, man schlage der Menschheit das Capitel von der ächten Freude auf, das doch irgendwo in unsern Herzen geschrieben stehen wird. Egon wäre sehr gut, eine Quäkerkolonie zu gründen. Da mag er sein Evangelium der Pflichten, seine Theorie der Arbeit lehren. Der Adel und die Beamten werden so viel, als sie von seiner Lehre brauchen können, auspressen und ihn dann [2413] als einen politischen närrischen Ascetiker bei Seite werfen. Er bläst zu rauh, dieser Boreas! Er soll sich den Sonnenschein zu Hülfe nehmen! Er soll Freude verbreiten, erlaubte, unschuldige Freude. Besäß' ich seine Gabe der Rede, durch Scherz entwaffnete ich meine Gegner und machte alle möglichen Gesichter, nur nicht die eines Schulmeisters.

Louis lächelte über die gute Laune des Generalpächters, den er ersichtlich durch seinen Besuch erfreut hatte. Er begriff wohl, wie man hier in so einsamer Welt aus den innersten Geistes- und Gemüthsquellen schöpfen müsse, um sich wach und froh zu erhalten. Er fühlte auch bald heraus, daß Ackermann eine sehr feine, gebildete Intelligenz war und auf einem höhern Standpunkte, als dem eines exclusiven Landwirthes stand. Dabei erwärmte ihn seine Hingebung an Egon, von dem er so menschlich, so treu und theilnehmend sprach, ganz so, wie es Egon einst liebte – einst! sagte er sich und verfiel in trübes Sinnen, warum das Alles im Grunde doch so viel anders war, als es Ackermann bekannt sein konnte.

Ackermann sagte nun noch:

Es versteht sich von selbst, lieber Herr Armand, daß Sie über Mittag unser Gast sind. Wir essen schon um zwölf Uhr. Bis dahin zeig' ich Ihnen meine kleinen Vorbereitungen, die erst in Gang kommen werden, wenn zu Weihnachten und Neujahr meine Maschinen eintreffen ...

Ich soll Ihnen, unterbrach ihn Louis, von Herrn Leidenfrost viel Grüße sagen ...

[2414] Dem wackren Techniker!

Ihre Maschinen sind in Arbeit und werden zur bestimmten Zeit fertig werden.

Für diese Nachricht dank' ich Ihnen! Hoffentlich wird man nicht erst die Dreschmaschinen und dann die Säemaschinen machen, wie es einem Bekannten von mir in Amerika ging, der zum Frühjahr Alles bekam, was er im Herbste brauchte und im Herbst, was er im Frühjahr hätte haben müssen.

Louis lachte über eine Bemerkung, die Ackermann mit den Worten ergänzte:

Glücklicherweise traf diese Nachlässigkeit einen Mann, der gewohnt ist, die Pferde manchmal hinter den Wagen zu spannen, den Baron Otto von Dystra, von dem ich gestern mit der angenehmsten Überraschung gelesen habe, daß er seinen Plan, einmal Europa wieder zu besuchen, bald nach mir ausgeführt hat.

Louis hatte vom Baron Otto von Dystra noch nichts gehört und nahm keine Veranlassung, länger bei Erwähnung dieses Namens zu verweilen. Er kehrte auf Leidenfrost zurück und sprach voll Theilnahme über das umfangreiche Streben dieses vielseitigen jungen Mannes.

O, sagte Ackermann, Das ist eine der Naturen, die mir am verwandtesten sind. Reger Geist, fern von jeder Grübelei, fern von jedem sentimentalen Despotismus. Denn Das sag' ich Ihnen, lieber Freund, Niemand ist despotischer als die blos Gefühlvollen und kein Mensch ist meist herzlicher als der, der für einen Verstandesmenschen gilt.

[2415] Der Verstandesmensch ist gleich bei der Hand, wo Hülfe noththut. Der Gefühlvolle betet, wünscht uns das Beste hienieden und im Jenseits und geht, abscheulicher als der Pharisäer, an dem von Mörderhand getroffenen Wandrer vorüber, über den er nachher eine Elegie schreibt. Das rechte Herz, glauben Sie mir, ist nur da, wo der Verstand klar ist. So ein Gefühlvoller der sinkt gleich in Ohnmacht und ruft um Hülfe. Hat er sich einmal aufrecht erhalten, ist er einmal rasch herbeigesprungen und hat Jemanden aufgehoben, o welch' ein Aufhebens weiß er dann auch zu machen! Wie spiegelt er sich in der Glorie seiner That! Wie bescheiden lächelt er auf seine stillen und nun doch plötzlich ans Tageslicht gekommenen Verdienste herab! Ich halte es mit den Verständigen, die auch darin Verstand zeigen, daß sie weit weniger sprechen, als ich heute thue. Kommen Sie! Kommen Sie! Sie sollen jetzt etwas von meiner Niederlassung sehen.

Mit dieser lakonischen Wendung hatte Ackermann ein leichtes Käppchen ergriffen und forderte Louis auf, ihm in den Hof zu folgen. Die Magd brachte draußen einen Schirm und erhielt im Vorübergehen die Weisung, daß sie sich doch wol schon auf ein Couvert mehr eingerichtet hätte? Die Magd nickte resolut, als wollte sie sagen: Was denken Sie, Herr Ackermann! Alles besorgt! Sie sagte aber:

So politisch werd' ich doch sein!

Diese Äußerung muß uns auffallen; denn sie war gerade jene unpolitische Liese, dieselbe Magd, die beim Heidekrüger [2416] Justus unter den Weltstudien ihres Herrn so viel gelitten hatte und jetzt in diesen neuen Dienst getreten war, während Justus in der Residenz eine große politische Rolle spielte und den Chef einer »Fraction« machte.

Rasch eilten die Männer über den Kieselboden und das nasse Hofpflaster hin.

Louis überzeugte sich jetzt erst, wie jugendlich das Aussehen des Generalpächters war, wie hoch und schlank sein Wuchs, wie fein sein ganzes Wesen! Er mußte sich sagen, daß Ackermann sicher einst eine der schönsten männlichen Erscheinungen war. Sein Auge hatte etwas Durchdringendes, seine Stirn glänzte edel und hell, die Nase und der Mund waren von großer Feinheit. Sein ganzes Wesen hatte etwas unendlich Harmonisches. Oft erinnerte er ihn an Personen, die ihm im Leben schon werth geworden waren. Rudhard kannte er zu wenig, aber doch fühlte er heraus, daß Ackermann ihm zwar an Verstand gleich kam, aber mehr Poesie um sich verbreitete. Auch an Murray, dessen Name ihm oft auf die Zunge kam, ohne daß er wagen konnte, ihn auszusprechen, erinnerte er ihn. Ihre Ansichten hatten zuweilen etwas sehr Ähnliches. Doch war Murray von Melancholie umdüstert und erweckte nicht die klare, erwärmende Behaglichkeit, die Ackermann ausströmte. Man sah diesem Manne an, daß er viel erlebt, viel gerungen hatte. Trotz seiner Freundlichkeit gegen Louis, die fast eine herablassende war, thronte ein hoher Ernst auf seiner Stirn. Nur milderte er ihn durch seine Gefälligkeit und den biedern Ton.

[2417] Wie unermüdet zeigte er sich, seinen Besuch von Allem zu unterrichten, was, wenn nicht diesen, doch den Fürsten interessiren konnte! Er knüpfte an jeden Raum, den er ihm in den Wirthschaftsgebäuden öffnete, lehrreiche Auseinandersetzungen. Schon erblickte Louis im Geiste die rührigen Hände, die einst hier wirken und arbeiten sollten. Die Maschinen sah er schon in voller Thätigkeit. Auch in die Mühle führte ihn Ackermann. Hier wurde von Zimmerleuten rege gearbeitet, auch den Schlag des Hammers auf Eisen hörte er und nicht wenig war er erstaunt, als er den blinden Zeck erblickte, der mit seinem Sohne gemeinschaftlich auf einem kleinen in den Boden eingerammten glühenden Heerde die Klammern und Haken noch nachträglich erweichte, die in diesen oder jenen Balken getrieben werden sollten.

Ackermann zeigte auf das arbeitende Paar und sagte:

Es ist eine merkwürdige Sicherheit, mit der der Blinde bei den schwersten Aufgaben verfährt. Wie ich hierherkam, hatt' ich ihm von einem in Amerika verstorbenen Verwandten, über den ich eigentlich nach seinem Wunsche schweigen sollte, eine kleine Erbschaft zu bringen. Diese Leute macht ein kleiner Besitz gleich wunderlich! Wie ich mich hier niederließ, bot er mir das Geld an, um sich an meinen Unternehmungen zu betheiligen. Er verhieß mir sogar noch das, was ich einer in der Nähe wohnenden Schwester ausgezahlt hatte ...

Ursula Marzahn – sagte Louis.

Sie kennen die Frau?

[2418] Sie wohnt im Forsthause ...

Ganz recht. Ich habe sie einmal in meinem Leben gesehen und muß leider gestehen, daß sie zu den Menschen gehört, von denen man sagt, sie hätten den bösen Blick. Aus der Art, wie sie das Geld in Empfang nahm, erkannt' ich, daß sie geisteskrank ist und bewunderte die Geduld des Jägers, der eine beschränkte gutmüthige Natur zu sein scheint und eine solche Person nun schon so viele Jahre um sich duldet –

Seine Nichte ist jetzt aus der Stadt zu ihm gezogen –

Viel Aufopferung Das! Ich gestehe, daß es mir unheimlich wurde in dem baufälligen, einsamen Hause. Sehen Sie nur, wie sicher der Alte arbeitet! Ich begreife diese Augen nicht! Sie sind klar wie sehende und doch umhüllt sie undurchdringliche Nacht. Er hat etwas von der Geschicklichkeit seines Verwandten, der ein großer Künstler war –

Louis wagte nicht zu forschen. Er sah, daß Ackermann im Begriff war, über Murray zu sprechen. Um seine Unruhe nicht zu verrathen, wandte er sich zu einigen Zimmerleuten, die eine gewaltige Holzschraube von der Höhe eines ganzen Stockwerkes probirten. Ackermann ging zu den beiden Zeck's hinüber, die ihn ehrerbietig grüßten. Es drängte Louis näher zu treten und zu hören, wie sich Murray's Bruder, den er nur zu Bestellung der Stimmschraube ganz flüchtig gesprochen, äußern würde.

Ich sehe, sagte Ackermann, Ihr seid Beide hier. Habt Ihr denn Leute gefunden, die in der Schmiede arbeiten?

Zwei, Herr, sagte Zeck und hielt ein glühendes Eisen [2419] seinem Sohne hin, das dieser mit der Zange nahm und an dem Balken, wohin es gehörte, behutsam einsetzte, während der Blinde folgte und mit dem Hammer zuschlug, richtig die Stelle treffend, wo die Kraft seines Armes nöthig war ...

Zwei, Herr! wiederholte er. Im Frühjahr haben wir ihrer noch mehr.

Nur gewandte Arbeiter, sagte Ackermann, mit denen Ihr Ehre einlegt! Wir haben viel zu schaffen. Unsre Wägen machen wir uns selbst. Es soll schon rüstig bei uns hergehen.

Der Alte verzog die Miene zu einem sonderbaren Lachen, das aber ein offenbares Wohlgefallen an der Arbeit und sicher auch die Hoffnung auf Gewinn ausdrückte. Zugleich lag Neugier in dieser Miene. Denn Zeck hatte wohl gehört, daß Ackermann nicht allein kam.

Dies ist der Besuch vom Schlosse, sagte Ackermann, nach dem herangetretenen Louis hinsprechend, er freut sich, wie wacker es Euch von der Hand geht.

Zeck riß die Augen auf und nickte nach der Seite hin, wo er sich Louis dachte, dem der Anblick dieses Blinden in einem für sein Gefühl erschütternden Zusammenhang mit den ihm bekannten Thatsachen stand.

Wir kennen uns, sagte Louis und um nur über die mögliche Erwähnung seines im Schlosse gebliebenen Begleiters rasch hinwegzukommen, bemerkte er:

Drum fand ich es in Eurer Schmiede nicht zu lebhaft ...

So, Herr? sagte Zeck; ja, es sind zwei Arbeiter eingetreten.

[2420] Der Eine versteht sich auf feine Sachen und kann als Klempner arbeiten. Aber sie sind faul. Die Schraube an dem Klavier können Sie uns schon anvertrauen.

Sind Sie musikalisch? fragte Ackermann.

Louis war es im Gesang, aber nicht auf dem Klavier. Er konnte die Wahrheit nicht umgehen und mußte einräumen, daß ihn noch ein Freund begleitet hätte, der kränklich wäre, zurückgezogen auf seinem Zimmer lebe und sich mit Musik unterhalte.

Zeck horchte gespannt und bemerkte zu Louis' Erstaunen, daß der Blinde in seiner neugierigen, dreinlachenden Weise sagte:

Die Brigitte sagt, daß der Herr ja auch etwas vom Fach ist: Er hat's mit Kupfer, wie wir mit Eisen.

Mit Kupfer? fragte Ackermann sorglos.

Louis, der Murray's Einfall, ihm eine Visitenkarte zu stechen, ebenso sehr verwünschte, wie die Plauderhaftigkeit ihrer Bedienung, bemerkte, daß sein Begleiter chemische Experimente mache und zuweilen auf Kupferplatten ätze.

Als Ackermann sich zum Gehen wandte, bemerkte er:

Ein Verwandter dieses Blinden nannte sich schon in England Morton und war ein Kupferstecher. Wie er dazu kam, hat mir Keiner von ihnen klar machen wollen. Es sind versteckte unheimliche Menschen.

Auch Morton? frug Louis, ohne an dem Namen Morton statt Murray Anstoß zu nehmen.

[2421] Morton war ein Sonderling, sagte Ackermann. Ich lernte ihn auf eigene Art kennen. Er reiste einmal mit einem nicht minder eigenthümlichen Manne, dem Diplomaten Otto von Dystra, durch die Vereinigten Staaten, fast immer zu Fuß, viel rüstiger, als ich ihn in nicht gar langer Zeit darauf in Newyork wieder antraf. Die beiden Wanderer kamen an den Missouri, wo ich meine Niederlassung unter Engländern hatte. Sie hörten meine verstorbene Frau in der Farm ein deutsches Lied singen. Sie hatte eine helle zum Herzen dringende Stimme. So klopften sie an mein Thor und blieben lange genug, um die Sängerin schätzen zu lernen. Otto von Dystra wohnte als russischer Consul in Newyork. Er war ein Tourist von Profession, hatte die halbe Welt gesehen und war der eigenthümlichste Bequemlichkeitsphilosoph, der mir jemals vorgekommen.

Bequemlichkeitsphilosoph? unterbrach Louis die freundliche Mittheilung. Verstehen Sie darunter einen Epikuräer?

Ja! Einen Epikuräer des Geistes, sagte Ackermann. Es gibt Epikuräer der Sinne. Ein solcher soll z.B. der Justizrath Schlurck sein, der früher hier schaltete. Es gibt aber auch Epikuräer des Geistes. Unter ihnen versteh' ich Menschen, die auf Alles nach Wohlgefallen dilettiren, die jede Wahrheit zu schätzen wissen, ohne sich für eine zu erklären, Männer des Studiums und eines unermüdlichen Wissenstriebes, Reisende, denen es nirgends Ruhe läßt, Verschönerer der Natur, mit einem Worte [2422] Menschen, die glücklicherweise so reich sein müssen wie Otto von Dystra, um sich so durch die Welt tummeln zu können, wie er es liebt.

Und ein solcher Komet paßt in die russischen Bahnen? fragte Louis erstaunt.

Für Petersburg schwerlich, sagte Ackermann. Aber Rußland hat die weise Art, seine Diplomatie nach den Ländern einzurichten, in denen sie wirken soll. Die deutschen Gesandten des Zaren sind oft halbe Gelehrte, seine italiänischen Gesandten sind Kunstliebhaber, die französischen sind Liebhaber der Intrigue, die englischen sind Wettrenner und Dandies. In Nordamerika läßt sich der Zar durch halbe Republikaner vertreten, die in den Ton und die Denkweise jener Länder wenigstens einzugehen verstehen. Dem reichen Kurländer Otto von Dystra hat man vergebens große Summen geboten, die eigentliche Botschafterstelle in Washington anzunehmen. Er begnügte sich mit dem Consulat in Newyork, weil es ihm Gelegenheit zu Menschenstudien bot, die ihm die liebsten sind. Daß er jetzt in Europa, in unsrer Nähe ist, überrascht mich. Ich versäumte von ihm Abschied zu nehmen. In Europa kann der Zar diese Persönlichkeit zu keinem seiner Zwecke mehr brauchen, umsoweniger, als er abschreckend häßlich ist.

Wie wurde wol Murray mit diesem Manne bekannt? fragte Louis.

Murray? sagte Ackermann und verbesserte: Morton!

[2423] Morton! wiederholte Louis.

Morton war ein Kupferstecher und hatte für Otto von Dystra Karten gestochen. Dies wurde die Veranlassung gemeinschaftlicher Reisen. Zwei wunderliche Gegensätze! Otto von Dystra, klein, verwachsen, ganz Epikuräer, Morton ganz Stoiker. Von seinem frühern Leben hab' ich aus diesem alten Zeck nicht viel herausbringen können. Er war tiefsinnig, religiös, hypochondrisch. Ich glaube, daß ihn die Sekte der Shakers, deren Religionsübungen er zuweilen beiwohnte, verwirrt gemacht hat. Dystra nahm Morton so wie er sich gab und ließ ihn als eine Curiosität gelten. Einige Male, daß ich in Neuyork war, entdeckt' ich sogar, daß Morton wohlhabend genannt werden konnte. Er hatte ein ausgebreitetes Geschäft auch mit Metallbuchstaben, die er neu bei uns einführte. Ich erinnere mich noch der schönen Überraschung, die er mir durch eine Kiste Metallbuchstaben machte, als meine Frau starb. Da haben Sie, schrieb er, in vierfacher Anzahl das deutsche Alphabet! Setzen Sie daraus ein Wort der Erinnerung an Ihr gutes Weib zusammen! Die Buchstaben, die in dem Worte: »Dulderin« vorkommen, schick' ich Ihnen doppelt. Sie werden sie brauchen können in Ihrer Inschrift, die Sie an dem metallenen Kreuze mit kleinen Schrauben, die ich gleichfalls beilege, befestigen müssen.

Ackermann schwieg eine Weile. Auch Louis war durch einen Zug, der seinem neuen Freunde und Vertrauten so ähnlich sah, gerührt ...

[2424] Morton, schloß Ackermann, schrieb mir, als ich ihm auf diese Sendung dankte und anzeigte, ich würde nun nach Europa, wenn nicht für immer, doch für einige Zeit zurückkehren, ich möchte mich einigen Aufträgen für Deutschland unterziehen. Er wies mir die kleinen Summen an, die ich seinen Verwandten bringen sollte und empfahl sich, mit einem sonderbaren Ausdruck, meinem Andenken und meiner Gerechtigkeit. Als ich in Newyork nach ihm suchte, hieß es, er wäre spurlos verschwunden. Sein Besitzthum hatte er verkauft und wahrscheinlich einer milden Stiftung übermacht. Ihn selbst suchte man überall vergebens. Die Entdeckung von Kleidern, die ihm gehörten, an einer Uferstelle des Hudson läßt fast vermuthen, daß er in einem Anfalle von Hypochondrie sich das Leben genommen hat.

Ackermann und Louis waren während dieser Mittheilungen wieder zu dem Wohnhause zurückgekehrt. Louis, vertieft in die Möglichkeit, daß sich Ackermann und Morton begegneten. Er merkte kaum, daß ihnen ein Kind entgegengesprungen war und gerufen hatte:

Selma's Stunde ist aus! Zum Essen, Onkel!

Ackermann bemerkte, daß diese Kleine dem Pfarrer von Plessen Herrn Guido Stromer gehörte und von ihm und Selma auf längere Zeit in den Ullagrund genommen wurde. Wäre sie lange genug da, so käme ein andres von den Kindern an die Reihe und Alle müßten ihn Onkel nennen, damit die armen Kleinen, die einen Vater hätten und doch auch wieder keinen, an Menschenliebe nicht [2425] irre würden. Von Oleander bemerkte Ackermann, daß er seiner Tochter täglich Stunden gäbe und ihn als einen sinnigen, vielleicht zu bescheidenen und träumerischen Menschen schätzen müsse.

Die kleine Hedwig, so hieß Stromer's zweite Tochter, die gerade jetzt an der Reihe war, im Ullagrunde weilen zu dürfen, zog den Onkel in das Haus und in die Thür, die neben der zu Ackermann's Zimmer führenden lag. Geöffnet bot sie den Anblick eines zwar niedrigen, aber traulichen Wohnzimmers. Alle Möbel, von Kirschbaumholz, waren neu und stachen mit ihrem blassen Glanze gegen die dunkle Färbung der Wände angenehm ab. Ein großer Flügel stand aufgeschlagen. In der Mitte des Zimmers war ein runder Tisch gefällig gedeckt. Im Ofen prasselte ein belebendes Feuer. Am Fenster stand ein Nähtischchen für Selma. Über ihm hing ein Bücherbord mit zwei Reihen englischer und deutschen Classiker. Im Eck stand ein Fachwerk mit bronzenen und gläsernen Nippsachen. Es schienen langgesammelte Andenken. Manches war ohne Zweifel vom Transport zerbrochen, stand aber doch wie eine heilige Reliquie, wohlgeordnet, unter allerhand kleinen scherzhaften Spielereien.

Oleander, der am Bücherborde in einem Goldschnittbändchen blätterte, grüßte die Ankommenden.

Da steht ja schon die Suppe! sagte Ackermann. Wo ist Selma?

Sie zieht ein schön'res Kleid an! verrieth Hedwig Stromer.

[2426] In dem Augenblick öffnete sich das Nebenzimmer und Selma, hocherröthet, sich gegen Louis leicht verneigend und um Entschuldigung bittend ob der Verzögerung, trat herein und gab, sogleich einen Stuhl ergreifend, das Zeichen, daß man sich zu Tische setzte.

[2427]
5. Capitel. Deutsche Liebe, deutsches Leben
Fünftes Capitel
Deutsche Liebe, deutsches Leben

Selma's Erröthen hatte ohne Zweifel seinen Grund darin, daß sie sich des Besuchers sehr wohl von jenem Tage erinnerte, wo ihr Vater mit dem Justizrathe Schlurck so heftig aneinander gerieth und Louis mit der vom Vater so sehnlich erwarteten Botschaft eintrat, der todtkranke junge Fürst genehmige die Anträge des Amerikaners. Damals war sie Selmar, der Knabe. Heute sah sie Louis als Mädchen und so wohlbekannt ihr auch der geringe Stand dieses Besuches war, so wußte sie doch, wieviel der Fürst auf Louis hielt. Vor aller Welt war sie mit leichter Mühe in die neuen, ihr eigentlich gebührenden Kleider geschlüpft. Bei Louis ahnte sie zuerst, was sie wol fühlen würde, wenn sie einmal, wie sie doch hoffte, dem ihr so theuer gewordenen Fürsten Egon selbst begegnen sollte.

Da Louis aus Bescheidenheit, Oleander aus Gewohnheit schwieg, so mußte sich wol Selma zusammenraffen, um das Gespräch zu führen. Sie legte mit großer Geschicklichkeit vor. Louis beobachtete ihr Wesen, ihre innere und äußere Erscheinung, mit großem Gefallen. Sie war zierlich gewachsen, schlank und behend. Das [2428] kastanienbraune Haar trug sie noch kurzgeschnitten. Es war noch von der Knabentracht her nicht länger gewachsen. Die lockige Biegung, in der es auf den weißen Nacken fiel, machte einen sehr einnehmenden Eindruck. Das Kleid, das sie rasch angezogen hatte, war blau. Über den obern Theil desselben fiel ein reicher gestickter Kragen. Ein blaues geripptes Band umschloß die Taille und kreuzte sich unter einer emaillirten Schnalle. Von Fischbein und engem Geschnür war keine Spur. Man hatte in dem weiten und vollkommenen Kleide den reinen Ausdruck ihrer natürlichen Formen. Das dunkelblaue Auge, die weißen Zähne, ein schöngeschnittener Mund waren die Zierde des lieblichen Antlitzes. Besonders anmuthig machte sie ihr Lächeln. Um den Mund spielte dann eine Schalkhaftigkeit, die Jeden bestricken mußte.

O, sagte Selma, als die Suppe von einer zweiten Magd abgetragen wurde, es ist nur gut, daß ich dem Fürsten einmal durch Sie, Herr Armand, ein ernstes Wort sagen lassen darf. Ich bin ihm nicht mehr gut.

Warum, mein Fräulein?

Als er in Hohenberg war, sagte Selma, und ich mit ihm zum Forsthause durch den Wald ging, wie sprach er da so warm und theilnehmend von Amerika! Ich albernes Kind tappte recht wie die Fliege in die Milch, so süßen Zucker streute er auf Amerika! Aber was hab' ich nun erst vor kurzem lesen müssen! In der Kammer, wo sie sich im Zank und dem Allesbesserwissen üben, hat er so abscheulich über Amerika gesprochen, so abscheulich!

[2429] In der That? sagte Louis erstaunt.

Haben Sie's denn nicht in der Zeitung gelesen? sagte Selma und schob dem Vater das inzwischen hereingebrachte Rindfleisch zum Tranchiren hin und machte es ihm dazu mit Messer, Gabel und dem Wegräumen aller hindernden Gegenstände bequem; haben Sie's denn nicht in der Zeitung gelesen, wie schlimm er es nun mit uns meint?

Ich bin seit acht Tagen von der Residenz entfernt.

Ich weiß es auswendig, ob es gleich so klingt, daß ich es lieber gleich hätte vergessen sollen. »Ihr beruft Euch auf Amerika«, sagte er, »einen Staat, den ich verehre, wie ich etwa eine solide Handelsfirma verehre. Ich habe die größte Achtung vor der Geschäftskenntniß und der Zahlungsfähigkeit eines Londoner oder Hamburger Hauses, allein werd' ich das Haus Rothschild fragen, was es von dem Schienenbau der Eisenbahnen hält, zu denen es das Geld vorstreckt? Werd' ich Hope in Amsterdam fragen, ob Schelling oder Hegel der philosophischen Welt näher stehen? Lassen Sie Amerika über Alles entscheiden, was in sein Bereich gehört; aber über Europa, über dies nun einmal so und nicht anders geformte Gewächs der Geschichte, laßt Europa zu Gericht sitzen!«

Fräulein, ich bewundre Ihr Gedächtniß! sagte Oleander erstaunt. So gründlich haben Sie bis jetzt noch keine historische Thatsache behalten.

Und doch ist auch dieser Satz eine Thatsache, fiel Ackermann ein. Der Fürst hat Recht. Nur sollt' er vorsichtiger [2430] sein mit den Dingen, die er von den Kaufleuten nicht voraussetzt. Die Kaufleute sind sehr empfindlich und für einen Staatsmann scheinen mir Scherze über das Haus Rothschild gewagt.

Nein! Nein! fiel Selma ein. Den Fürsten hab' ich aus diesen kalten Worten nicht wieder erkannt. So bitter sprach er im Walde nicht! Und du, Väterchen, gesteh' es nur ein, daß du selber sagtest: Wie inconsequent! Er verspottet die Banquiers und borgt doch von ihnen!

Ackermann warf Selma einen verweisenden Blick zu.

Louis sprach offen seine Vermuthung aus, daß Ackermann wol von des Fürsten Anleihe bei dem Hause Reichmeyer gehört hätte ...

Leider! sagte Ackermann. Ich hätte nicht gewünscht, daß sich der Fürst die Schwierigkeiten seiner Lage vermehrte.

Er setzte dabei offen die ganze Mislichkeit der Lage Egon's auseinander. Er erzählte, wie entmuthigend die Resultate wären, die er aus den Büchern bei dem Justizdirektor entnommen. Er hätte Verwirrung über Verwirrung angetroffen und könnte für nichts gutsagen, wenn der Fürst immer wieder auf's neue die Schuldenlast vermehrte. Sonst hätt' er geglaubt, in zehn Jahren Einnahme und Ausgabe, Soll und Haben, auszugleichen ...

Ei, sagte Selma spottend, als Louis schwieg, Das seh' ich nicht ein! Der Fürst will leben wie ein Fürst. Seit er bei Hofe geliebt und verehrt wird, seit ihn die vornehmen Damen verziehen, hat er sich glänzende Livreen, neue [2431] Wagen und Pferde anschaffen müssen. Ist es denn wahr, daß er so eitel ist und auf jeden Teller sein E. mit der Krone malen läßt?

Alles Das sprach Selma mit der kindlichsten Unbefangenheit. Man sah, sie glaubte mit dem Fürsten sich etwas erlauben zu dürfen. Er hatte ihr in ihrem Glauben so nahe gestanden, sich ihr so zutraulich angeschmiegt. Warum sollte sie nicht so weit gehen, sogar zu sagen:

Hätt' ich ihn nur hier! Wie würd' ich ihn auslachen mit seinen bunten Tellern, die mir für die kleine Hedwig da zum Buchstabirenlernen am passendsten scheinen!

Oleander betrachtete die Eifernde mit Wohlgefallen, Louis nicht ohne Verlegenheit, denn er fühlte sich selbst in Egon beschämt.

Herr Oleander kam nun ein wenig mehr aus seiner Einsilbigkeit heraus.

Da wir wissen, daß dieser junge Gottesgelehrte es verschmähte, auf den Grund einer Heirath mit dem ältesten Fräulein Gelbsattel befördert zu werden und es vorzog, dies stille und wenig einträgliche Vikariat auf dem Lande zu übernehmen, so empfinden wir schon eine gewisse Hochachtung vor ihm. Louis bemerkte bald, daß der junge Gelehrte, den er seines Namens wegen noch immer nicht zu befragen wagte, die liebliche Selma in sein Herz eingeschlossen hatte. Die Art, wie der Herr Candidat Selma bei Tische kleine Aufmerksamkeiten erwies, verrieth Dies. Er konnte ihn jetzt erst recht von seinem völlig zugewandten Antlitz betrachten. Oleander [2432] war sehr groß und mager. Den Kopf trug er etwas übergebeugt. Seine Züge waren starkknochig, verriethen aber Geist. Das Haar hing schlicht und wol zu wenig gepflegt herab. Das Auge verrieth eine stille ernste Ruhe, stand aber oft wie nach innen gekehrt und schien einen abwesenden, träumenden Sinn zu verrathen. Es war geröthet wie von starkem Blutandrang oder von Nachtlektüre. Sein ganzes Wesen hatte etwas, das Louis sehr an seinen geliebten Siegbert erinnerte. Doch fehlte Oleandern dessen aufmerksamer, theilnehmender, Jedem liebevoll zugewandter Sinn. Oleander schien mehr ein Egoist des Gemüthes, eine jener unschuldigen Naturen zu sein, die wie der Vogel auf den Zweigen unbekümmert um Andre ihr Dasein hinleben. Er gestand sich, er hätte ihn wol einmal mögen predigen hören. In manchen französischen Werken erinnerte er sich, junge lebensunerfahrene Geistliche so geschildert gesehen zu haben, wie er hier wirklich einen protestantischen fand. Von den katholischen mußte er sich sagen, daß die Dichter, besonders Lamartine, diese Gattung Dorf-Vikare zu sehr verschönerten und die idyllische Natur der Schweiz oder Südfrankreichs, in denen sie leben und wirken sollten, auf ihr eigenes Wesen übertrugen. Louis Armand erinnerte sich, bei allen katholischen Geistlichen einen Trieb zur Weltlichkeit und Geselligkeit gefunden zu haben, der diesem träumerischen Oleander gänzlich zu fehlen schien.

So hatte er die Einladung, die ihm höchst dringend gestern Abend und heute früh die Gemahlin des Herrn [2433] von Zeisel an Herrn Ackermann und Fräulein Selma für morgen aufgetragen, ganz vergessen. Erst als Louis zufällig von der erneuten Nachfrage nach den Büchern der Verwaltung auf Herrn von Zeisel kam und seine Freude ausdrückte, daß doch, wie die Einladung auf morgen beweise, zwischen dem neuen Generalpächter und dem alten Verwalter keine Spannung obwalte und Ackermann und Selma gefragt hatten, welche Einladung? erst da besann sich Oleander auf den ihm gegebenen dringenden Auftrag.

Und Das konnten Sie vergessen, Freund? lachte Ackermann; eine so überraschende Einladung! Die erste, seit wir Nachbarn und freilich auch die unwillkommenen Gegner der Frau Justizdirektorin sind? Was sagst du dazu, Selma?

Ich überlege schon meine Toilette, antwortete Selma mit der größten Offenherzigkeit. Einer so strengen Richterin der Mode, wie Frau von Zeisel, wag' ich mich noch nicht auszusetzen. Es ist gewiß, wir finden dort, zu Ehren des Herrn Louis Armand, Alles zusammen, was sich nur an Honoratioren auf drei Meilen in der Runde auftreiben läßt.

Es ist gut, daß du sagst zu Ehren des Herrn Louis Armand, sonst würd' ich nicht hingehen! bemerkte der Vater.

Um's Himmelswillen, fiel Oleander ein. Thun Sie mir Das nicht an! Wie dank' ich Ihnen, Herr Armand, daß Sie mich an diesen Auftrag erinnert haben. Sie kennen Frau von Zeisel nicht. Ich versichere Sie, daß sie seit Ihrer [2434] Ankunft nicht schläft und über die Vorbereitungen zu dem morgenden Diner Alles, Alles vergißt, höchstens ihren Stammbaum nicht.

Oleander thaute, wie Louis sah, allmälig auf.

Ich habe mir in mein Taschentuch, sagte er, vor ihren Augen drei Knoten machen müssen, das Tuch in meinen Hut gelegt und nun will der Zufall, daß ich wegen des Regens die Mütze nehme und obenein ein neues Taschentuch. Wenn ich Das nun vergessen hätte! Sie hätte mich nächsten Sonntag in meiner Predigt irre gemacht durch die rollenden Augen, die sie Einem zuwerfen kann! Dank! Dank Ihnen!

Man mußte lachen. Ackermann gab sich darein, zu kommen.

Nach Tische, sagte Selma, können wir ja einmal das Schloß besuchen. Noch niemals waren wir in den Zimmern und immer versprichst Du es, Vater. Jetzt wäre die beste Gelegenheit!

Ackermann antwortete darauf nicht. Es schien ihm nicht lieb zu sein, an dies Versprechen erinnert zu werden. Um von dem Gegenstande abzukommen, gab er Louis Veranlassung, wieder von sich selbst, von seiner Heimat, seiner Jugend zu sprechen. Auch nach seiner Schwester fragte Ackermann jetzt und erzählte, was er von Egon's Beziehung zu ihr wußte, mit absichtlich hervorgehobenem Nachdruck. Louis erschrak über diese Fragen und auffallend war ihm, daß sich Ackermann mit der Erwähnung seiner Schwester nicht beruhigte, sondern auch von [2435] Helene d'Azimont und zuletzt von Melanie sprach und wie absichtlich er hervorhob, daß Egon's Charakter den Frauen gegenüber leichtsinnig wäre und von einem sittlichen Standpunkte aus keine Rechtfertigung finden könnte.

Die Wirkung dieser für Louis peinlichen Erörterungen auf Selma fiel ihm auf. Das Blut stieg dem holden Mädchen in die Wangen. Sie wurde unruhig. Sie plauderte mit dem Kinde, ohne daß sie darum aufhörte, dem Gespräche der Männer zuzuhorchen. Oleandern, den die Mittheilungen interessirten, zog sie sogleich von ihnen ab und verwickelte ihn in ein andres Gespräch. Erst als Ackermann merkte, daß seine, wie es schien, absichtliche Erörterung dieser Herzenschronik des jungen Fürsten von Selma nicht mehr beachtet wurde, brach er ab und ging auf gleichgültige Dinge über.

Seid Ihr fertig, rief jetzt Selma, fertig mit diesen Verleumdungen? Freilich der Tod Ihrer guten Louison ist keine Verleumdung. Sie wissen wohl, wo sie ruht und woran sie starb, die Gute! Aber Helene und Melanie! Das Alles mag in Wahrheit viel anders aussehen, als die Justizdirektorin es Dir neulich aufgeheftet hat! In der Zeitung steht, Helene d'Azimont ist abgereist und Melanie –

Nun, Selma? fragte Ackermann lächelnd, aber mit scharfem Blicke.

Melanie ist schön! sagte das gepeinigte Mädchen. Ich sah sie hier zu Pferde ... wie eine Königin ... o so schön!

Louis freute sich der Bemerkung, daß Helenen's Abreise [2436] in der Zeitung bestätigt war. Er hatte davon gehört, es nicht glauben mögen, nun schien es doch gewiß, daß Egon wenigstens von dieser Seite frei war.

Die Zeitungen brachten Ackermann jetzt auf den Wildungen'schen Prozeß, der ihn gleichfalls zu interessiren schien. Lebhafte Freude empfand er über die Mittheilung, daß Louis diese beiden Brüder Wildungen kannte. Er fragte nach der Mutter der Brüder und hörte voll Bedauern, daß sie krank sei und Dankmar nach Angerode auch deshalb gereist war, um sie aus der Pfarrwohnung, die kalt und ungesund sein sollte, in eine behaglichere überzusiedeln. Als Louis das Tempelhaus von Angerode erwähnte, sagte Ackermann fast vor sich hin mit eignem aber auffallendem Ausdruck:

Das Tempelhaus von Angerode!

Kennen Sie es? fragte Oleander.

O wohl kenn' ich es aus meiner Jugend, bestätigte Ackermann; bin ich doch selbst ein Thüringer und nicht weit von der güldenen Aue geboren! Wohl kenn' ich das stolze Gebäude von rothen aus dem Harz gebrochenen Sandsteinen! Die Fenster, immer zu zwei und zwei, dicht beisammen, verbunden durch einen Pfeiler, den ein Thier oder ein Engel oder ein Heiliger ziert. Die Fronte ist in Form eines Giebels gebaut, der immer spitzer und spitzer zugeht. Hinter dem Tempelhause die St.-Johanniskirche. Zur Seite ein altes Convikt –

Dort fand Dankmar Wildungen die Papiere, die die Ansprüche seiner Familie verbürgen, ergänzte Louis.

[2437]

Ich kenne diese Ansprüche, sagte Ackermann. Die Familie Wildungen ist eine der ältesten in Thüringen. Sie stammt von einem Grafengeschlechte, deren Ahnen ihr Grab bei den Sarazenen fanden. Hugo von Wildungen war ein Mann von ernster Strenge, nicht verweichlicht durch den weltlichen Sinn, der die Auflösung der Johanniter in Thüringen, die weithin Besitzungen hatten, zu einem leichten Spiele der Reformation machte. Ich kenne die Familientradition der Wildungen. Den Jüngsten sah ich nie. Den Ältesten hab' ich oft als kleinen Buben auf meinen Knieen geschaukelt. Ist er Maler geworden, der kleine blonde Siegbert?

Louis wurde nicht müde, von den Brüdern zu berichten und bat zuletzt, ob er ihnen von Herrn Ackermann nicht eine ausführlichere Kunde bringen dürfe?

Der Name Ackermann wird im Gedächtniß dieser Kinder nicht leben, sagte Selma's Vater. Sagen Sie ihnen nichts von mir, wär' es auch nur, um zu verhindern, an die Vergangenheit zu denken. Der Rückblick auf ihre Jugend kann diesen Jünglingen nicht in die schöne violette Färbung getaucht sein, in welcher die thüringischen Berge am Horizonte sich malen. Ach, sie hatten einen Vater, den alles Misgeschick verfolgte, eine Mutter, die erst über die Brücke der Kinderliebe ganz zum Herzen des Gatten sich neigte. Um so glücklicher, wenn sie einer märchenhaften Zukunft zusteuern und sich mit entschloßner Hand ihr eignes Lebensloos zu ziehen wagen aus einer hochgestellten Urne! Sagen Sie ihnen nichts von mir!

[2438] Bewegt stand Ackermann auf. Das kleine für die ländlichen Entbehrungen sehr gewählt gewesene Mahl war vorüber. Man wandte sich in das offenstehende Zimmer Ackermann's, wo die Zurüstungen mit Tassen und Kannen schon in aller Stille von den Mägdehänden hergerichtet waren.

Ackermann bot seinen Gästen Cigarren, ohne jetzt selbst zu rauchen.

Selma, sagte er, zeige Herrn Armand, wie wir am Missouri und an der kleinen deutschen Ulla unsre Feste feiern, damals als die Mutter lebte und jetzt, wo wir von ihrem Andenken zehren ...

Selma setzte sich an den Flügel und präludirte einige Takte, während der Tisch abgedeckt wurde und die kleine Hedwig, die schon lesen konnte, fragte, welche Noten sie ihr suchen sollte.

Beethoven! bat Oleander.

Fallen Ihnen da die besten Reime ein? fragte Ackermann.

Gedanken, nicht Reime, sagte Oleander. Und dann mit den Gedanken auch die Reime.

Und mit dem Beethoven, rief Selma vom andern Zimmer herein, wirkt bei Herrn Oleander auch die Digestion auf die Phantasie.

Wie? die Verdauung? sagte Ackermann. Schämen Sie sich! Sind Sie da noch ein wahrer Dichter?

O, bemerkte Oleander erröthend, leider hab' ich neulich Selma gestehen müssen, daß ich die prosaische [2439] Bemerkung gemacht habe, wie ich unmittelbar nach Tisch die größte Elastizität des Geistes habe und Bilder, Anschauungen, Gedanken plötzlich finde, die ich sogar in nächtlicher Stille vergebens suchte. Fräulein Selma hat darüber einen Spottvers gemacht. Sagen Sie ihn!

Statt aller Antwort schlug aber Selma mit gewaltiger Kraft die ersten Accorde der Sonate pathétique an und schnitt damit die weiteren Erörterungen ab. Ackermann lehnte sich ein wenig in die Sophaecke, Oleander, seinen Kaffee trinkend, folgte dem fertigen und gewandten Spiele des jungen Mädchens, das der Musik zu bedürfen schien, um sich von namenlosen Empfindungen, die sie beschlichen hatten, zu befreien.

Während noch Selma in dem Adagio begriffen war und mit großer Reinheit die ersten Läufe, perlenden Thautropfen gleich, wie aus ihren Fingern gleiten ließ, überdachte Louis Armand die Situation, in der er sich befand. Er konnte sich nicht verschweigen, daß in diesem kleinen einsamen Kreise ein Element waltete, das ihm neu und fremdartig war. Die sinnige kleine Welt des höheren Bürgerlebens, verbunden mit den freien und großartigen Anschauungen eines fremden Welttheils, verbreitete hier eine Atmosphäre, die um so wohlthuender auf ihn wirkte, als er überall im Gespräche auf die Grenze der reinsten Sittlichkeit gestoßen war. Er hatte so viel Ungewöhnliches, Abnormes seit einer Reihe von Jahren erlebt, daß ihm diese Lebenskunst, die hier nach dem Tumult einer großen Reise schon so rasch einen kleinen [2440] Tempel der Häuslichkeit aufbauen konnte, etwas Ehrwürdiges hatte und er sich nur untergeordnet und aufnehmend fühlen mußte. Es gibt auch kaum etwas Gefälligeres, als einen feingebildeten, weltklugen Vater, der sich ganz der Erziehung eines einzigen geliebten Kindes widmet, in der Tochter die hingeschiedene Mutter ehrt und für sich zuerst all' die milde Liebe und sittliche Unschuld eines solchen sich entwickelnden jungen Wesens einathmet. Wie bewegt lauschte Ackermann dem unbewußt gefühlvollen Spiele Selma's! Klar erkannte man bei Selma die Absicht, mit ihrem Spiele nur den Beweis ihres Talentes, ihrer Fortschritte, ihrer guten von der Mutter gelegten Grundlage zu geben, sie sentimentalisirte nicht mit der Musik, sie gab eine Übung, die ihrer Bildung entsprach, sie spielte Denen zu Liebe, die sie hörten und doch war ihr Spiel voll Seele und Schmelz.

Zum Gesange, zu dem sie Oleander aufforderte, konnte sie sich nicht entschließen. Dafür suchte sie noch einige andre Meisterwerke hervor und wußte sie alle mit gleicher Correktheit wiederzugeben. Zuletzt klagte sie, daß sie Kopfweh hätte und that sogar gegen die beiden Stunden, die sie heute noch bei Oleander zu nehmen hatte, Einspruch.

Laß es mit einer bewenden! sagte der Vater. Ich führe indessen unsern Gast noch einmal in das Gehöft meines Nachbars. Um drei Uhr mögen Sie dann mit unserm guten Oleander zurückfahren, der, wenn wir morgen bei [2441] Zeisel's sind, dann bis übermorgen von uns verschont ist und einige seiner lyrischen Winterschauer dichten kann.

Oleander setzte auch mit Selma, die sich mit leichter Verbeugung Louis empfahl, in ihrem Zimmer den gewohnten Unterricht fort, den er ihr nun schon seit zwei Monaten in Geschichte, Erdkunde, Geschmackslehre, Literatur ertheilte. Louis verstand die Andeutungen, die über den Vikar gefallen waren, hinlänglich, um sich zu entnehmen, daß er in ihm einen Genossen zu begrüßen hatte, einen Priester der dichtenden Muse. Nun begriff er erst, warum Oleander auf der Herfahrt tief in sich gekehrt war und an einzelnen flüchtigen Erscheinungen ein so lebhaftes Gefallen fand. Er gedachte des bitteren Gedichtes, das er heute früh selbst flüchtig entworfen und hielt es mit Recht anziehend, daß zwei ohne Zweifel im Geschmack sowie in der Bildung völlig entgegengesetzte Fähigkeiten unbewußt sich mit derselben Geistesübung beschäftigten, die Louis einen Akt des höheren Cultus im Menschen zu nennen pflegte. Wohl hätt' er gewünscht zu wissen, was wol während dem, daß er an dem Frühling der Welt verzweifelte und von den Blumen eigentlich geringschätzend sprach, in diesem deutschen Gemüthe entstanden sein mochte? Er war zu bescheiden, darnach zu fragen, hoffte aber, auf der Rückfahrt sich diesem einfachen und harmlosen Manne, der ihm nichts Drückendes hatte, doch noch zu nähern.

Es hatte zwei Uhr geschlagen. Ackermann fragte die [2442] in der Küche waltende unpolitische Liese, ob für die Leute gesorgt gewesen wäre. Diese erwiderte:

Wir hatten heute nur acht drüben zu speisen. Wenn's nicht höher kommt, Herr Ackermann, verlier' ich den Kopf nicht. Auf dem Heidekrug hatt' ich in der Erntezeit oft dreißig Näpfe zu füllen.

Ackermann, der leider wieder den Regenschirm ergreifen mußte, erklärte Louis, daß er sich dies gewandte Mädchen vom Heidekruge herübergenommen hätte, wo die Leute nicht bleiben wollten, seitdem Herr Justus überstudirt wäre.

Es ist nun einmal die Art des gemeinen Mannes, sagte er, daß ihm da nur wohl ist, wo er auf sein Wirken, und wenn es noch so klein ist, ein Auge gerichtet sieht. Als dieser Justus, von dem ich in den Zeitungen sehe, daß er keine geringe Rolle in der Politik spielt, noch Ökonom war und auf die Hände seiner Arbeiter sah, hing ihm Alles an. Jetzt, wo er seinen Leuten größere Freiheit, als bisher, lassen muß, sollte man glauben, sie gefielen sich in ihr. Nein! Sie wollen dienen, ohne Verantwortung dienen, sie wollen untergeordnet bleiben, und haben ihm von dem Tage gekündigt, daß er in die Kammer trat und auf Monate Abschied nahm. Ein gewisser Drossel wirthschaftet nun bei ihm.

Links vom Hause sich auf einen Weg abwendend, der durch ein Staket in's Freie führte, sagte Ackermann als Vorbereitung zu dem nun folgenden Besuch:

Ich will Sie zu meinem Nachbar führen, der gewohnt [2443] ist, daß ich täglich einmal bei ihm vorspreche. Ein rechter Dorfmagnat Das! Wenn Justus gescheit wäre, ging' er wie dieser nicht über seine Sphäre hinaus und genösse sein Wohlbefinden mit Behagen. Hören Sie da das wohlgefällige Brüllen seiner Kühe aus den Ställen! Seine Schafe liefern eine solide deutsche Wolle! Dies ist einer der Menschen, die sich bei Lebzeiten in ihrem Besitz nicht taxiren lassen. Ihre Zinsen fallen immer wieder zum Capital; denn sie brauchen nichts und schaffen buchstäblich nur für die kommende Generation der Ihrigen, die ihnen noch dazu alle diese Vorsicht und Liebe durch den Eigensinn verderben, der sich solcher wohlhabenden Kinder doch in aller Stille bemächtigt.

Louis ahnte sogleich, daß ihn Ackermann zu dem Vater des Sergeanten Heinrich Sandrart führte. Er wußte, daß dieser Ackermann's Nachbar war und zu den Begüterten gehörte. Schon machte er sich gefaßt, Verwünschungen über den Soldaten, über Fränzchen, vielleicht über sich selbst zu hören.

Der Regen war nur noch feuchter Nebel, der Alles einhüllte. Der Boden tief durchweicht. Um eine trockene Stelle zu finden, mußte man bald da, bald dorthin springen. Von Bequemlichkeit, Schönheitssinn, von einem gedämmten Wege, von einer gefälligen Allee oder Hecke, sagte Ackermann, ist bei unsern Bauern nicht die Rede. Nur der unmittelbare Ausdruck des Nutzens hat für sie Werth. Ist Das bei Ihnen auch so?

Nein, mußte Louis erwidern, im Süden verräth der[2444] ärmste Hüttenbewohner eine erlaubte Gefallsucht. Er schmückt sein Häuschen und wenn es mit einigen Blumenstöcken wäre.

Es ist wahr, sagte Ackermann, ich war in Italien! Schon im südlichen Deutschland und der Schweiz trachtet man nach dem Gefälligen, während hier Alles auf den reichsten Erwerb von Schinken, Speck, Würsten, Kartoffeln, Korn und baarem klingenden Gelde hinausläuft.

Indem waren sie bei dem Gehöft des Bauern Sandrart angekommen. Ein großes Holzthor mußte in ganzer Weite geöffnet werden, um in den Hof zu kommen. An Scheunen und Ställen ein Überfluß. Hunde von allen Racen schossen aus kleinen hölzernen Hütten. Ihr Gebell war aber eine frohe Begrüßung, denn mit Ackermann waren sie Alle befreundet. Die niedrige Eingangsthür des bescheidenen Hauses, dessen einziger Schmuck grell angestrichene roth-grüne Fensterläden waren, hatte eine Klingel, die beim Öffnen durch das ganze Haus dröhnte.

Sandrart schläft doch nicht? fragte Ackermann eine alte Magd.

Sie schüttelte den Kopf, neugierig auf einen Fremden lugend, den heute Herr Ackermann mitbrachte.

Ackermann öffnete eine Thür, aus der der Qualm des überheizten grünen Kachelofens ihnen entgegenströmte. Die Decke des Zimmers war niedrig. Die Wände hingen voll geringer Kupferstiche und bunter Farbenklexereien.

Hinterm Ofen sich ausdörrend saß der alte Sandrart [2445] in einem Sorgenstuhl und erhob sich. Eine kleine stämmige Gestalt in kurzer Jacke mit großen silbernen Knöpfen. Dem runden, ziemlich ebenmäßigen Antlitz konnte man seine gewöhnliche Physiognomie nicht entnehmen, da der Alte verdrießlich schien und gleich voll Zorn auf einen Brief wies, den er heute empfangen.

Zuerst, bester Nachbar, sagte Ackermann mit spielender, ironischer Leichtigkeit, zuerst stell' ich Euch einen Besuch aus der Residenz vor, Herrn Louis Armand.

Sandrart wußte nichts von diesem Namen und nickte mürrisch verlegen ...

O mein Sohn, fing er sogleich an, mein Sohn, mein Sohn, Herr Nachbar!

Schon wieder Kummer über Euern Sohn? Schon wieder Schlimmes von ihm?

Louis horchte mit großer Spannung und setzte sich auf einen der gepolsterten kattunüberzogenen Stühle, die in dem Zimmer standen.

Ich wette, es ist wegen der Heirath Eures Sohnes, Nachbar. Ich hab' es immer gerathen, Nachbar, laßt ihn freien, wen sein Herz begehrt!

Die nicht! Die nicht! sagte der Alte; und wenn sie sich auch dicht hier schon an die Hausthür hergepflanzt hat!

An die Hausthür schon? sagte Ackermann sich umblickend. Da seh' ich nur Eure wilden Hunde, denen es bald zu kalt werden wird.

Drüben im Forsthause ist sie ja!

Im Forsthause?

[2446] Sie haben ja nicht geruht, bis sie nur noch einen Sprung in meinen Waizenkasten hat.

Sie müssen wissen, Herr Armand, sagte Ackermann immer launig und scherzend, Vater Sandrart's Waizenkasten ist sein Geldkasten. Ich möchte doch wohl wissen, wo er steht, Nachbar, der Waizenkasten!

Sandrart lachte pfiffig in sich hinein. Wenn man von seinem Gelde sprach, wurde er immer launig, aus einer Art von Schabernack. Heute fiel er aber bald wieder in seinen grimmigen Ton zurück.

So viel weiß ich, drüben in's Forsthaus kommt der Waizenkasten nicht. Ich hab's auch heute dem Heunisch gesagt ...

Waren Sie drüben? fragte Louis angeregt.

Das fehlte noch! antwortete der Bauer hochfahrend. Ich Dem nachlaufen? Hier ist er gewesen, der Heunisch und hat wieder von der Geschichte angefangen. Ich leid's nicht. Heinrich soll sich nach seinem Stand umsehen und mir ein Mädchen bringen, die mehr versteht als Staatshauben.

Ackermann war einigermaßen über diese Verwicklungen unterrichtet.

Ist das Mädchen im Forsthause? fragte er. Franziska Heunisch, die Nichte des Försters! Aber Alter, hört doch! Fränzchen Heunisch, wie Das hübsch klingt! Fränzchen! Das müßt' Euch ja sein, wie wenn ein Kätzchen um Euch wäre und Euch streichelte! Denkt nur, wenn so eine weiche Hand da über Euren Bart fährt, wie gut [2447] Euch Das thäte. Ist sie schmuck? Sie kennen sie ja, Herr Armand! Wollen Sie nicht ein gutes Wort für diese Verbindung einlegen?

Louis war in Verlegenheit ... Doch lobte er Fränzchens Schönheit.

Ah, glatt hin, glatt her! sagte der Alte. Ich habe sie ja gesehen vor drei Monaten. Eine Mamsell paßt nicht für die Diele draußen. Soll ich mit einem Jäger in Freundschaft kommen?

Das ist wahr, sagte Ackermann, ein Lohndiener des Fürsten und Ihr ein Freiherr vom Ullagrunde. Nein, Das wäre nicht nach der Ordnung. Aber, Nachbar, die Ordnung könnt' Euch am Ende eine Tochter in's Haus bringen, die wol Batzen, aber garstig rauhe Hände hat, mit Euch zankt, Euer Leibgericht nicht kochen will, und warum? Weil ihr selbst die Klöße im Magen drücken.

Sandrart lachte.

Ich ging' einmal von der Ordnung ab ...

Der Bauer schüttelte den Kopf.

Jetzt erst recht nicht, sagte er; wo ich keine Ruhe vor ihr haben soll, wo sie schon angezogen kommt und sich in der Nachbarschaft will sehen lassen. Jetzt grade nicht!

Aber, Nachbar, wie ist mir denn, so viel ich weiß, ist das Mädchen Eurem Sohne nicht einmal zugethan. Jeder Brief, den ich Euch vorlesen muß, erzählt von seinem Kummer, daß es Fränzchen mit ihm nicht mehr mag wie sonst.

Heimtückerei! sagte Sandrart. Sie wird wol Gott[2448] danken, wenn sie meine Permission kriegt. Mit dem Förster! Mit denen da in dem Forsthaus verwandt? Mit dem Blinden in der Schmiede?

Die haben Geld!

Wer weiß, wie gewonnen! Landläuferisches Volk! Wenn mir der Heinrich so käme ... wozu hab' ich denn das Haus aufgerichtet, das Ihr bewohnt, Nachbar? Wozu ließ ich ihn, den Jungen, denn was lernen, lesen, schreiben, rechnen; er bläst Flöte ... er wird Soldat ... das mußt' er ... nimmt seinen Abschied, er bringt mir ein Mädchen zu aus Randhartingen oder Schönau, wo die fettesten Bauern sitzen. Will ich sie doch hier nicht in dies alte Haus führen, obgleich es vor zehn Jahren erst renovirt ist, ich lege den Bau da oben an und nun, für wen? für die da im Forsthause? Nein!

Dies Nein hatte etwas im Ton, das man nur mit fletschenden Zähnen hervorbringen konnte. Der Alte war gewiß fern von aller ursprünglichen Bosheit, aber im Punkte seines Stolzes und seines Eigennutzes kannte er nichts, was seine Empfindung milderte.

Vorläufig hoff' ich, sagte Ackermann, daß Euer Sohn General wird und seinen Abschied erst auf dem Felde der Ehre nimmt. Das von wegen des Hauses.

Nun, sagte Sandrart beschwichtigend, für drei Jahre, Nachbar, ist's ja Euer! Wenn er eine brächte der Heinz, die mir gefällt, muß sie erst noch ...

Hier hinter dem grünen Kachelofen mit Euch schmoren, unterbrach ihn Ackermann. Ich sag' Euch, Nachbar, [2449] gebt Euren Eigenwillen auf! Der Heinz thut einmal nicht, was Euch gefällt. Was habt Ihr ihn Flöte blasen lassen! Wer Flöte bläst, Alter, setzt sich hier nicht im Winter unter Eure Lerchen da im Bauer, die bei jedem Sonnenblick denken: draußen ist Frühling und stoßen sich den Kopf, weil sie singen wollen! Der sucht die Lerchen draußen auf dem Feld! Rechnet doch auf Kinder nicht, die sich verlieben und im Kummer Flöte blasen können! Seid froh, wenn ihn nicht das Auswanderungsfieber befällt ...

Das wäre? sagte der Alte zum Tod erschrocken.

Nun?

Ein Vagabund!

Oho!

Ja so, Nachbar! Vergebt! Das hatt' ich ganz vergessen ... Ihr war't auch draußen. Aber ... lest mir den Brief, wenn Ihr die Güte haben wollt!

Ackermann nahm das Papier, das der Bauer in Händen hatte, warf einen verstohlnen Blick auf den mannichfach bewegten Louis und las ein Schreiben vor, in welchem zuvörderst nur von Schinken, Würsten, Butter und Käse die Rede war. Der Feldwebel ließ danken, drei Unteroffiziere dankten, Alle versorgte der Bauer aus dem Ullagrunde mit Lebensmitteln. »Vater, hieß es aber nun weiter, Vater, ich muß Sie recht um Gottes Willen bitten, seien Sie christlich mit der Franziska, die nun jetzt doch zu ihrem Onkel nach Plessen ist! Sie hat von mir in Güte Abschied genommen und mir gesagt: Sandrart, wenn ich im Frühjahr noch lebe und Sie kommen zu Ihrem Vater, [2450] so will ich Ihnen recht gut werden, wie eine Schwester. Ich weiß nun auch, daß sie gern einen Andern möchte lieber leiden, aber ich habe doch von Märtens, die grüßen lassen, auf Ehre und Seligkeit gehört, daß es bei dem nur guter Wille ist und Freundschaft, aber keine reelle Absicht. Sagen Sie ja in das Försterhaus hinein, daß ich Franziska grüße und ihr wünsche, daß ihr die Zeit nicht sollte lang werden bis zum Frühjahr und daß ich keinen Ball in diesem Winter besuche. Lieber Vater, ich habe dieser Tage ein großes Malheur können haben. Ich muß es Ihnen doch auch schreiben, was es war. Es war wieder, wo ich Ihnen schon öfters geklagt habe, von wegen meinem Lieutenant. Ich hatte, weil die Franziska nun abgereist ist, die Flöte mitgenommen in die Kaserne und Alle hören gern, wenn ich manchmal des Abends blase. So blas' ich vorgestern Abend um fünf Uhr, wie's schummrig ist, und da kommt der Lieutenant hereingestürzt und der Portepéefähnrich auch und sie fluchen ein Donnerwetter über das andre, weil ich hätte ein demokratisches Lied geblasen. Das war aber nur die Melodie gewesen, die ich ...

Ackermann meinte, hier wäre etwas verwischt.

Blus! sagte der Bauer; blus – blus – heißt es wol.

Blus?

Blus! Blus! wiederholte der Alte. Nun? setzte er drängend hinzu.

Allein, fuhr Ackermann fort zu lesen, was ist es meine Schuld gewesen, daß die Soldaten nun Alle laut ein Lied sangen, das auf diese Melodie gar nicht gesetzt ist? Der [2451] Lieutenant schimpfte uns einen Strauchbuben und Demokraten über den andern, worauf ich ärgerlich wurde und ihm etwas sagte, was er sagte, daß ich es ihm schon einmal gesagt haben sollte. Ich sagte aber nichts, als: Herr Lieutenant, wir sind jetzt nicht im Dienst! Da wurde er fast toll, zog die Plempe und schrie, daß ich ein Landesverräther und alle Tage wol capabel wäre, dem König meinen Eid zu brechen! Und eher wollt' er mich niederstechen, wobei ihm der Portepéefähnrich, Sie kennen ihn ja, es ist der kleine blonde, er heißt von Flottwitz, den Arm hielt, daß er nicht so schändlich konnte ausführen, was er drohte. Aber eine Rede hielt er nun, daß er schon längst wisse, was die dritte Compagnie zum Abschaum in der Armee mache und daß wir die Cocarde verlieren sollten und solche niederträchtige Sachen mehr, bis er dann sagte, daß er alles Dieses aufschreiben und mich wegen meiner Rebellion auf acht Tage in Mittelarrest bringen würde. Das nahm auch seinen Fortgang. Beim Appell wurde ich vorgerufen und mein guter Major, der Herr Major von Werdeck, für den das Bataillon sein Leben in die Schanze schlägt, sagte mir: Hören Sie, Sandrart, ist es wahr, Sandrart, sagte er, daß Sie ein demokratisches Lied geblasen haben? Herr Major, sagt' ich, ich habe eine Melodie geblasen, auf die die Soldaten einen Vers sungen, der darauf paßte wie die Faust aufs Auge. Was blusen Sie? fragte der Major. »Wenn ich in stiller Mitternacht«, sagte ich. Und was sungen die Soldaten? »Was ist des Deutschen Vaterland?« Darauf kehrte sich [2452] mein braver Major zu unserm Lieutenant um, sagte gar nichts, sondern nahm seinen Tschako ab. Das war prächtig! Auf unserm Tschako haben wir jetzt nämlich zwei Cocarden, die von unserm Landesvater und die vom deutschen Vaterland. Da sagte er gar nichts, sondern zeigte blos auf die kleine Cocarde, daß die noch gälte und er ging dann seiner Wege. Der Lieutenant warf mir aber einen giftigen Blick zu und wird mir's wol noch gedenken. Lieber Vater, es ist hier nicht Alles so, wie es sein sollte. Unser Fürst Egon ist Minister geworden. Ich sah ihn heute früh in die Kammer fahren. Er sah schon recht blaß aus. Den werden sie bald mürbe kriegen! Adie, lieber Vater! Sie brauchen mir vor Weihnachten nichts mehr zu schicken, seien Sie nur freundlich mit Franziska und grüßen Sie sie von mir, auch Herrn Armand, der jetzt auf dem Schlosse ist, aber bald wiederkommen wird. Er ist Franziska zugethan und sie hat ihn gern, das weiß Gott! Leben Sie wohl, lieber Vater, und bleiben Sie noch lange am Leben! Dies wünscht Ihr Sie aufrichtig liebender Sohn Heinrich Sandrart, Sergeant in der dritten Compagnie, Leibregiment.«

Der Eindruck dieses Briefes war auf jeden der drei Anwesenden ein andrer.

Ackermann schien erst an den naiven Wendungen und dem gutmüthigen Charakter des jungen Bauernsohnes den lebhaftesten Gefallen zu haben, stockte aber am Schluß bei der Stelle über die Nachricht von Egon's schwieriger Stellung und seinem bedenklichen Aussehen.

[2453] Auch Louis hörte die Mittheilung voll Besorgniß, war aber von dem gläubigen, vertrauenden Tone seines Nebenbuhlers beschämt, während er sich vorwurfsvoll sagte: Wie unwahr bist Du! Wie grausam und wie thöricht! Der Bauer aber, der eben, als der Brief zu Ende ging, sich anschicken wollte, auf die verdammte demokratische Richtung seines Sohnes loszuwettern, erschrak über den Schluß, bei welchem Ackermann im Lesen auf Louis Armand deutete, so sehr, daß er in Verlegenheit gerieth, jetzt erst zu begreifen, wen er vor sich hatte! Den bekannten Freund des Prinzen! Den Abgesandten desselben Egon, den er auf der Landstraße einst zu sich genommen hatte, in seinem Wagen in die Stadt führte und für einen Landstreicher hielt und so behandelte! Er hatte Ackermann oft genug davon erzählt, mit Beklommenheit sich von Heunisch und Herrn von Zeisel berichten lassen, was Se. Durchlaucht selbst über diesen Vorfall gemunkelt hätten und nun war dies jener im ganzen kleinen Fürstenthume bekannte Freund und Gefährte der sonderbaren Jugendschicksale des Fürsten, der, wie Alle einstimmig versicherten, ein einfacher Tischlergesell sein sollte. Vor Erstaunen blieb ihm der Mund offen. In seiner Verlegenheit hätt' er gern dem Franzosen einen Beweis seiner Achtung, auch gern einen Einblick in seine gute Lage geben mögen.

Er sprach von einem Staatszimmer, das er hätte sollen aufschließen lassen und äußerte sogar etwas von Wein, den er doch im Keller hätte.

[2454] Da kommt es heraus! sagte Ackermann, der wieder zu seiner Laune zurückkehrte. Nun schämt er sich, daß er uns so bärbeißig empfangen hat! Am besten, Nachbar, könnt Ihr es dadurch gut machen, daß Ihr diesen freundlichen Herrn ersucht, bei dem Fränzel, das ich nun auch kennen lernen muß, ein gutes Wort für Euern Sohn einzulegen, damit der arme Flötenbläser, der für den König nicht zu taugen scheint, erhört wird, seinen Abschied nimmt und hier zum Vater her zieht. Eine Probe ihrer Liebe soll die sein, daß sie noch drei Jahre mit Euren heißen Kachelöfen, in deren Nähe eine luftliebende Lunge umkommen kann, vorlieb nimmt.

Ne! sagte der alte Bauer wieder mit demselben Ausdruck bestimmter, ruhiger und kalter Malice. So nicht!

Eigensinniges Volk, das Ihr seid! polterte Ackermann und brach nun auf. Kommen Sie, Freund, es ist hier zu heiß.

Der Bauer begleitete mit vieler Umständlichkeit und dem Drange, sich eigentlich jetzt erst recht lebhaft mit dem jungen Franzosen zu verständigen, seinen Besuch vor die Thür und über den Hof. Es regnete nicht mehr. Der Weg war nur zu schlecht, sonst hätt' er Louis gern ausführlicher über seinen Sohn, ob er ihn kenne, wo er ihn gesehen hätte, wie er ihn gesehen hätte, ausgefragt. Den Fürsten, den er auf seinem Leiterwagen gar schnöde behandelt haben mußte, wagte er nicht zu erwähnen.

Louis Armand war in der eignen Lage, von Heinrich [2455] Sandrart mit Interesse sprechen zu müssen. Er räumte ihm all' die vortrefflichen Eigenschaften von Herzen ein, die er an dem jungen Nebenbuhler kannte und trotz seiner getheilten Empfindung zugestehen mußte.

Als Ackermann mit Louis allein war und zu seinem Wohnhause die Schritte zurücklenkte, verwünschte er den Eigennutz dieser besitzenden Klasse auf dem Lande und fand alle Fehler des deutschen Charakters in unserm Bauernstande wieder. Man spräche, sagte er, vom Egoismus der Fürsten und des Adels, diese Bauern wären die ärgsten Verbündeten jenes auf Vorrechte und ein gieriges Mein! oder Dein! begründeten stabilen Prinzipes.

In der weiteren Ausführung dieser Thatsache und ihrer Vergleichung mit den Verhältnissen andrer Länder, besonders dem freien Blicke der amerikanischen Farmer kehrten sie zu dem Wohnhause zurück, wo schon der Knecht mit dem Einspänner harrte. Selma und Oleander waren noch nicht sichtbar. Ackermann horchte an der Thür, wo die Lection gehalten wurde und ersuchte Louis, da sie noch nicht zu Ende schien, noch so lange bei ihm einzutreten.

Louis fand dadurch Gelegenheit, die Eindrücke dieses Besuches noch einmal zusammenzufassen, für die freundliche Aufnahme zu danken und Ackermann den glücklichsten Fortgang seiner Unternehmungen zu wünschen.

Empfehlen Sie mich dem Fürsten, sagte Ackermann, indem er Louis' Hand ergriff, sagen Sie ihm, daß ich mich bemühen werde, das in mich gesetzte Vertrauen zu [2456] rechtfertigen. Zu Neujahr treffen die Hülfsmittel meiner künftigen Thätigkeit ein. Sehen Sie, der elende und geringe Sinn, den Sie bei jenem Bauer, meinem Nachbar, gefunden haben, ist er nicht eine Folge der elenden und geringen Hülfsmittel, mit welchen man bisher der Natur ihre Geheimnisse, die sie ungern hergibt, zu entlocken suchte? Da wo der Mensch und immer nur der Mensch allein, höchstens mit einem dummen Stiere, einem geduldigen Pferd der großen allgewaltigen Natur gegenübersteht und sie sich allerdings in gewissem Sinne dienstbar macht, da wächst auch der Dünkel, der Hochmuth, wenn nun wirklich diese kleinen Handgriffe gelingen und sich ihre Erträgnisse in Geld verwandeln, das man nicht zu benutzen versteht. Sagen Sie dem Fürsten ... doch ich spreche Sie ja morgen noch! Wie lange denken Sie zu bleiben?

Wenn Egon leidet, sagte Louis, wenn ich höre, daß ihn sein politisches System vielleicht zu gewaltsamen Schritten treibt, so hab' ich einen Drang, bei ihm zu sein, der mich in wenig Tagen von hier entfernen wird.

Bleiben Sie in seiner Nähe, schloß Ackermann mit einem eignen Tone der Rührung. Schützen Sie ihn vor der Welt, auch vor sich selbst. Ich fürchte, er kam zu jung auf einen Platz, der gereifte Männer erfordert. Ich fürchte, die traurige Ideenlosigkeit des Momentes, die schwierige Lage des Hofes und die Rathlosigkeit, mit der sich die privilegirten Stände nach Geistern umsehen, die für sie mit einer leidlichen Theorie in die Schranken treten, hat [2457] hier etwas zu Stande gebracht, was weder jene zu ihrem, noch ihn zu seinem Ziele führt. Entweder zerfällt jene Gesellschaft mit Egon oder Egon mit sich selbst – das Letztere –

Wäre entsetzlich! fiel Louis ein.

Wenn Sie Ihren Freund und Gönner recht in Gefahr wissen, in geistiger Gefahr, wollen Sie mir es dann schreiben? sagte Ackermann. Versprechen Sie mir Das?

Ich versprech' es Ihnen! antwortete Louis überrascht ...

Ich verstehe mehr als den Feldbau, fuhr Ackermann fort. Ich kenne das Leben – und die Wissenschaft war einst mein Beruf.

Wie ist es nur möglich, mußte ihn Louis, den diese Bemerkung schon lange brannte, jetzt fragen, wie ist es nur möglich, daß ein Mann von Ihrer Weltbildung, die ihn recht eigentlich auf den Verkehr der großen Städte anzuweisen scheint, sich durch dies einfache Landleben befriedigt fühlen kann! Sie stehen geistig so hoch und müssen hier so niedrig steigen. Es umgeben Sie Menschen, die unbedingt keine andre Sprache verstehen als die der Beschränktheit und Selbstgenügsamkeit.

O mein junger Freund, antwortete Ackermann, schon seit einer Reihe von Jahren hab' ich mir dies Leben der Beschränkung und Einsamkeit anfangs als eine Läuterung, die mir schwer wurde, dann als eine Pflicht, die mir Vergnügen machte, auferlegt. Was ist diese Welt? Ich habe sie durchgekostet bis zur Hefe. Ich bin in den [2458] Irrthümern des ringenden Ehrgeizes, der ungebändigten Herzensregungen aufgewachsen. Ich habe mich auf seidene Polster gestreckt und aus goldenen Bechern die Lust des Lebens getrunken. Ich war nie vermögend, aber ich besaß angeboren das Talent des Reichthums. Ich konnte Denen, die besaßen, meine Phantasie leihen und ihnen sagen, was den Genuß steigere und veredle. Ich lag wie auf Rosenblättern und über mir herab hingen die vollen braunen Trauben. Ich durfte nur zugreifen. Freilich war ich dabei ein Sklave. Ich hatte die Freiheit des Herzens nicht. Für Glück und Annehmlichkeit, die mich umgaben, für Liebe sogar, die mich mit weichen Sammethänden pflegte, mußte ich doch die Kette dieser Liebe, die meinem Ideale nicht entsprach, hart empfinden. Wissen Sie, was eines der kläglichsten Loose des gebildeten Menschen ist? Empfindungen heucheln zu müssen, die man nicht hat, erkenntlich sein müssen für eine Hingebung, deren Gründe uns verdächtig scheinen. Ich war jung, strebsam, ehrgeizig. Ich hatte eine Phantasie wie Sardanapal. Ich konnte mir die glänzendste Welt, in der ich leben mochte, zaubern. Da fand ich sie! Ein Weib, das mich liebte, schüttete die Freuden der Bequemlichkeit auf mich herab. Ich reiste mit ihr. Sie liebte mich, ich erwiederte wenigstens äußerlich ihre Hingebung und mußte mir sagen, weil ich besser, weil ich edler in meinen Regungen war, als sie selbst in ihren angebornen, ehrgeizigen, unwahren, so hielt ich sie in ihrer sittlichen Haltung empor und diente ihr als Stamm und Anlehnung.

[2459] Allein es war eine Sklaverei. Lieben sollen, wo man nicht liebt! Schön finden müssen, was uns nicht gefällt! O mein Freund, ich erkenne in dem Freunde des Fürsten Egon, so bescheiden und anspruchlos Sie auch sind, doch ein Auge, das auf die Tiefe des Herzens geht und sage Ihnen, ich verachtete mich. Ein junger Mann, geliebt von einer älteren Frau, die für ihn sorgt, ihn nur für sich und nur für sich in Beschlag nimmt, ist in neunzig bei hundert Fällen tief, tief verächtlich. Ich klirrte mit meiner glänzenden Kette. Ich riß mich heimlich zuweilen los. Ich fand Wesen, die mich bemitleideten, weibliche Wesen, die schöner, lieblicher, edler als meine Herrin waren. Ich genoß kurze Triumphe meiner Freiheit und mußte doch zu meinem Joch zurückkehren, denn ein eigner Zufall wollte, daß meine Gebieterin von der festen Vorstellung beherrscht war, daß sie früh sterben würde. Ich kann Ihnen den ganzen Roman meines Herzens nicht erzählen. Nur andeuten wollt' ich, was mir dies Leben da in den Städten und unter den civilisirten Menschen zum Ekel vergällte. Ich fand ein kindlich reines Gemüth, das mich liebte, die Mutter meiner Selma. Es war eine einfache Weiblichkeit, die nichts zu bieten hatte als sich selbst. Wie fühlt' ich mich veredelt von ihrer reinen Ursprünglichkeit! Da lag noch Alles unentweiht in der jugendlichen Brust, nichts vergeudet, nichts angegriffen von Dem, was zu ihren edelsten Schätzen gehörte. Ich fühlte wohl, daß bei diesem jungen Kinde, das durch eine sonderbare Fügung von meiner früheren Geliebten systematisch[2460] dahin erzogen wurde, mich liebenswerth zu finden und ihr Grauen vor mir zu besiegen, ich fühlte wohl, daß eine bedeutende, ihre Umgebungen umgestaltende Entwickelung bei Selma's Mutter nie eintreten würde, aber gerade, daß ich ihr so viel von dem Meinen zu geben hatte und daß es nur das Gute war, was ich aus meinem Wesen ausscheiden mußte zu ihrem Dienste, das hob mich wieder sittlich empor und bestärkte mich in meinem Entschluß, mir eine große, starke, lebenerschütternde Läuterung aufzulegen. Ich ging nach Amerika. Da hab' ich am Missouri einsam gelebt und mir die Reste der besseren Bestimmung noch wohlweise und sorglich einmal zusammengelegt. Es gab ein Ganzes! Es war nichts Halbes mehr, was mich erfüllte. Ich lebte einem Berufe, der mir anfangs schwer wurde, dann mich aber unterhielt, mich sogar begütert werden ließ. Ich sah wohl, daß Selma's Mutter durch die Trennung litt. Da hatt' ich eine geistige Aufgabe zu lösen, einen Mollton durch unser Leben durchzuführen. Auch dieser Schmerz dessen Ursache ich sogleich doch nicht aufheben konnte, wirkte milde und gut. Ich verwies auf zukünftige Hoffnung und versprach Rückkehr nach Europa. Die Gute erlebte sie nicht. So mußt' ich ihrem Kinde, Selma, mein Wort halten. Ich kehrte ungern zurück. Aber wenn ich diese Ehrenschuld, die ich abzutragen hatte, gern bezahlen soll, so mußt' es so kommen, wie jetzt! Ich bin ein Ascetiker der Weltlichkeit! Ich bin ein Egoist der Universalität! Ich weiß nicht, ob ich Ihnen verständlich bin. Ich will nur sagen, daß ich [2461] in meinem kleinen Dasein das ganze All wiederzuspiegeln suche und nichts thue, nichts im Geringsten und Kleinsten ergreife, ohne mir zu sagen: Das muß so sein! Das ist gut so! Die alte Zeit, wo mir Alles nur provisorisch war, wo ich immer rannte, hoffte, mich und Andre vertröstete, liegt hinter mir. Was ich beginne, ist nützlich, und was ich sehe und erlebe, ist gut. Ich will nichts mehr vom Überfliegenden. Da jenen Strauch an diesem Fenster zu beobachten, wie lange ihn der Schnee decken wird und wann er sein erstes grünes Keimchen schießen wird, Das ist mir eine Wonne, und auf solche Freuden beschränk' ich mich. So sehen Sie denn, daß ich mit Bauern bäurisch, mit Handwerkern handwerksmäßig, mit Dichtern dichterisch empfinden und reden kann, ohne verdrießlich zu werden und wie in jungen Zeiten etwa mein Schicksal zu beklagen.

So sprach Ackermann ...

Hätte ihn Pauline von Harder reden hören, den geliebten Heinrich Rodewald, sie würde doch vor Wehmuth und Wonne gezittert haben, ob er sie gleich anklagte. Sie besaß die Fähigkeit, auch diese Größe seiner Worte zu verstehen ...

Louis Armand mußte während dieser ihn ehrenden Geständnisse eines solchen Mannes an Murray denken. Es war derselbe Geist der Reue, der beide Männer ergriffen hatte, hervorgegangen aus unähnlichen Zuständen. Er hätte gern gewünscht zu wissen, ob in Ackermann die religiöse Färbung seiner Gefühle auch so stark war, [2462] wie bei dem ehemaligen, in sich gekehrten, leichtsinnigen Verbrecher. Deshalb warf er das Wort hin:

Die strebende Jugend, die nicht ruhen kann, muß Sie um diese Läuterung beneiden. Sollte man diese Weisheit, zu der Sie sich aufgeschwungen haben, nicht Religion nennen?

Es ist meine Religion, erwiderte Ackermann, mich gebunden zu fühlen. Früher war die Ungebundenheit meine Religion. Ich bin noch rüstig, ich fühle die Kraft in mir, mit Vielen in der großen Welt einen Wettlauf zu beginnen. Ich würde mich aber verachten, wenn ich ihn anträte. Religion ist das als eine Lebensnothwendigkeit tiefempfundene Gefühl der Abhängigkeit. Freilich die meisten Religiösen machen aus der tiefempfundenen Thatsache ein tiefempfundenes Bedürfniß dieser Thatsache. Das kann ich nicht! Diese Religiosität, die an sich schon das Bedürfniß der Schranke hat, das Bedürfniß der Gebundenheit, ist Schwärmerei und mit Schwärmerei ist Gefahr verbunden. Diese Art von Religiösen spricht von Läuterungen und läutert sich meist nur durch Das, was ihnen größres Wohlgefallen verursacht. Ich kannte eine Frau, die sich für die Sünden ihrer Jugend dadurch läutern wollte, daß sie die Feder ergriff und schrieb. Lieber Himmel, die Zeit der Blüte war vorüber. Sie hatte gut sich läutern durch etwas, was ihr einen neuen Lebensreiz bot. Ich kannte Andre, die sich läuterten, indem sie aus unsrer Kirche in die Ihrige übertraten. Die Wollust des Geistes spielt mit der der Sinne geheimnißvoll zusammen.

[2463] Eine Läuterung kann ich nur da finden, wo man sich in etwas, seiner Natur und Neigung Widersprechendes, aber objectiv als gut und vollkommen Anerkanntes hineinlebt und in der Pflichterfüllung eine süße Freude genießt.

Bei diesen Worten öffnete sich die Thür. Selma und Oleander traten ein. Dieser, um für heute Abschied zu nehmen, Jene, um zu fragen, ob es nun für morgen bestimmt dabei bliebe, daß sie im Plessener Amtshause zu Tische wären?

Warum nicht? sagte Ackermann. Gewiß, gewiß! Sagen Sie der Justizdirectorin zu, daß wir kommen.

Damit begleitete er die Scheidenden an den Wagen, der ihm gehörte. Die kleine Hedwig mußte auf Selma's Verlangen Grüße an die Mutter und Geschwister bestellen. Louis bat Selma, sie möchte sich der rauhen Luft nicht aussetzen und in das Haus zurücktreten. Sie war erhitzt. Ihre Farben glühten wie vom Pinsel des Malers aufgesetzt. Louis nahm noch einmal den vollen Eindruck ihrer Anmuth hin, dankend für die freundliche Aufnahme, versicherte, daß er Egon auf ihren Wunsch die Lection lesen würde für seine Urtheile über Amerika und fuhr dann mit dem wieder schweigsam gewordenen Oleander, begleitet auch noch von einem zuthunlichen Nachnicken der etwas dreisten Magd aus dem Heidekruge, über den Hof auf die Straße hinaus, die sie heute früh gekommen waren.

[2464]
6. Capitel. Waldeinsamkeit im Winter
Sechstes Capitel
Waldeinsamkeit im Winter

Regnerische Herbsttage enden oft mit einem Abend, wo sich der Himmel aufklärt und ein rother Streifen am westlichen Horizont die scharfe, gereinigte Luft verkündet, die nun bald den ganzen Winter bringen wird.

Ein solcher rother Streifen lag weit über die Ebene hin, die sich vom Ullagrunde immer mehr niedersenkte und nur noch bei Plessen und Hohenberg einmal in die Höhe stieg.

Louis konnte dem Drange nicht Einhalt thun, sich über diesen Empfang und diese beiden Wesen, Vater und Tochter, mit voller Theilnahme auszusprechen. Er sagte, wenn Selma in dem Geiste ihres Vaters reife, müßte sie ein weibliches Ideal werden.

Es war nicht ganz der Widerschein des Abendhimmels, daß Oleander's Wange bei diesen Worten dunkel erglühte.

Da Sie Dichter sind, sagte Louis, haben Sie in Ihrer Schülerin eine Muse, die Sie zu manchem Verse begeistern wird. Darf ich Sie nicht bitten, mir einmal einige Mittheilungen Ihres Talentes zu machen?

Besuchen Sie mich in einer Abendstunde, sagte Oleander. Am Tage hab' ich oft in der Frühe die Plessener [2465] Schule zu besuchen, an zwei Wochentagen ist Religionsunterricht, dann fahr' ich auf den Ullagrund, finde Abends heimgekehrt noch manche amtliche Pflicht, Samstags bereit' ich mich auf meine Predigt vor, so kann ich nur des späten Abends mich mit dem Niederschreiben der Verse beschäftigen, die mir freilich schon den ganzen Tag wie mouches volantes vor den Augen tanzen.

Suchen oder finden Sie Ihre Ideen? fragte Louis, dem es lehrreich war, in die Werkstatt einer Kunst zu blicken, die er mehr als Naturalist und nur des Tendenzzweckes wegen trieb. Man hatte ihm auch schon den Unsinn beweisen wollen, daß die Tendenz mit der Poesie unvereinbar wäre oder die Schwingen des Talentes nicht in reine Sphären tragen könne.

Ich suche die Ausführung, antwortete Oleander, aber ich finde die Veranlassung. Beim Ausführen muß der Verstand helfen. Das Finden ist zufällige Anregung. Ich möchte diesen Zustand mit dem Blick in den Nachthimmel vergleichen, wo plötzlich von den Sternen uns ein Lichtglanz abzufallen scheint. Die besten Gedichte müssen solche Sternschnuppen sein.

Aber im August und November, sagte Louis nicht ohne Feinheit, fallen die Sternschnuppen mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Dann muß es Gedichte geben, man mag wollen oder nicht. Ist nicht die Liebe eine solche ewige August- und Novembernacht des Dichters?

Oleander, der eine tiefe Neigung für Selma gefaßt zu haben schien, schwieg fast verlegen.

[2466] Nach einer Weile wiederholte er seine frühere Aufforderung:

Wenn Sie noch eine Weile bei uns bleiben, kommen Sie einmal des Abends auf mein Stübchen. Ich will Ihnen dann etwas von meinen Versen lesen. Das Beste wird wol vorläufig daran sein, daß ich sie alle sehr zierlich in ein Buch eintrage, das ich früher für gelehrte Zwecke bestimmte. Da steht immer eine lateinische Phrase auf dem Anfang des Blattes und hinterher folgen meine deutschen Reimereien.

Das erinnert mich, sagte Louis, an jenen jungen Mönch, den die Brüder seines Klosters zum Vorsteher der Bücherei gemacht hatten. Er saß unter all' den heiligen Werken und sollte sie durch Abschriften noch vermehren. Am Fenster vor den bunten Scheiben stand ein Lindenbaum, dessen Zweige schattig und kühlend in die Bücherei fielen. Da stand sein Tisch, da am Fenster sollte er schreiben. Nun aber kamen die jungen, hübschen Mädchen am Kloster vorüber und Alle grüßten den jungen Schreiber. Wie gern hätt' er sie aufgehalten! Wie gern mit ihnen geplaudert! Von seiner Liebe durfte der Arme ja nicht sprechen und doch plauderte er so gern mit der Jugend und der Schönheit. So suchte er sie anfangs mit dem Lindenbaum zu fesseln und pries ihn als so kühl und schattig. Setzt Euch doch! Aber sie gingen bald wieder fort, die jungen Mädchen. Dann pries er den Gesang der Vögel in dem Baume. Aber sie zwitscherten nicht gerade dann immer, wenn die hübschen Mädchen kamen.

[2467] Da nahm er die alten Legendenbücher mit den bunten kostbaren Buchstaben und den herrlichen Heiligen auf Pergament gemalt. Jede, die nun kam und vorüber wollte, fragte er: wer ihr Schutzpatron wäre und Jeder schenkte er, wenn sie mit ihm geplaudert hatte und auch wol an einer Bank unter dem Fenster hinaufgestiegen war und ihm einen Kuß gegeben hatte, ein schönes Bild ihres Schutzpatrons. Bald hatte der Glückliche einen solchen Zulauf von allen Schönen der Umgegend, daß er die ganze Bücherei zerschnitt, bis die Klosterbrüder dahinter kamen und er seine Liebe zu den schönen Mädchen und seine Misachtung der Wissenschaft durch lange, lange Leiden theuer bezahlen mußte.

Die Geschichte kenn' ich, sagte Oleander. Sie endet besonders gut mit dem naiven Geständnisse des verliebten Bibliothekars, daß ja in der Bibel alle Bücher der Welt enthalten wären. Ja, ja, um die Poesie möchte der Dichter auch alle Weisheit der Welt hingeben, alle Sprachen und alle andern Künste.

Nach einem längern Gespräch, in welchem sich Louis Armand wohlweislich hütete, seine eigenen Verse zu erwähnen, fragte er Oleander, wo er herstamme, ob nicht seine Geburt auf das südliche Deutschland verweise.

Wohl! sagte Oleander. Ich bin auf der schwäbischen Alb geboren ...

Louis war nicht Geograph genug, um die schwäbische Alb sogleich im Königreich Württemberg unterzubringen. Er ließ also nur so obenhin die Bemerkung fallen, [2468] daß auch er von einer Deutschen herstamme, Namens Anna Oleander ...

Und nun hatte er die Freude zu vernehmen, daß Oleander sogleich mit der Frage einfiel, ob er jene Oleander meine, die den flüchtigen Polen Thaddäus Kaminski heirathete und mit ihm nach Frankreich zog?

Dieselbe! sagte Louis Armand. Es sind meine Großeltern ...

Diese Entdeckung brachte die Gefährten inniger zusammen. Zwar war die Verwandtschaft sehr entfernt, aber sie bot doch Gelegenheit zum Austausch mancher Frage, mancher wohlthuenden Antwort. Louis Armand fühlte sich heimischer und Oleandern bot diese seltsame überraschende Begegnung einen solchen Fernblick in fremdes Leben, fremde Sitte, daß er sich bei seinem naiven Sinne kaum fassen, kaum beruhigen konnte.

Als Louis endlich den Wunsch äußerte, ob man nicht hier auf kürzerem Wege nach dem Forsthause einlenken könnte, wollte Oleander, da es nur einen Fußsteig dorthin gab, aussteigen und ihn begleiten. Louis lehnte diese Gefälligkeit ab und begnügte sich mit des Vikars genauerer Beschreibung. Es hieß, dieser Weg führe an der Sägemühle vorüber, dann an das sogenannte schwarze Kreuz und von da in wenig Hundert Schritten auf das Jägerhaus.

Louis stieg aus. Oleander gab ihm herzlich, noch immer überrascht von der entfernten Verwandtschaft, die Hand. Der Knecht schlug anfangs eine Erkenntlichkeit, die ihm [2469] Louis anbot, aus, dann nahm er sie, gab aber Louis dafür noch den Rath, sich von der Sägemühle an, immer oben auf dem Felsenwege, nicht unten an dem Waldbach zu halten. Nur gerade auf das schwarze Kreuz zu! sagte er und dann bergab. Da wird's trockner sein bis zum Jägerhaus.

Louis hörte, wie er schon auf dem Seitenwege wandelte, noch in der Ferne das Knallen der Peitsche und den Widerhall des rasch dahinrollenden kleinen Wagens.

Es war schon dunkel, als er sich der Bergwand näherte. Es trieb ihn mit einer unerklärlichen Sehnsucht zu Franziska. Mit Gewalt drängte er die neugeweckte Theilnahme für Heinrich Sandrart zurück.

Warum soll ich es nicht wagen, sprach er zu sich, endlich das entscheidende Wort zu sprechen, das schon so oft auf meinen Lippen lag! Kann ich es länger vor ihr und dem Onkel verbergen! Ich werde in Deutschland bleiben, diesem Boden, der meine mütterliche Heimat ist. Wie fühl' ich mich in dies neue Leben so wunderbar schnell hinein! Wie traulich sprechen mich alle diese Menschen an! Wie wecken sie in mir das Tiefste und mildern meine Leidenschaften, statt sie aufzuregen!

Wohl mahnte den jungen Mann der Ruf seiner sozialen Bestrebungen. Doch seit dem Abend, wo Dankmar den Bund der Ritter vom Geiste begründet und die Aufgabe jedes gesinnungsvollen Menschen als nicht zu unmittelbar, nicht zu dringend herausfordernd dargestellt hatte, war eine große Beruhigung über ihn gekommen.

[2470] Er fühlte, wie sonst, lebhaft für die Sache des Volkes, aber es trieb ihn nicht mehr so gewaltsam, gleichsam den ersten besten Stein, der ihm nahe lag, zu heben und auf die Feinde des Erdenglückes zu schleudern. Wie sehnte er sich nach Siegbert und Dankmar, denen jetzt sein Herz mehr gehörte, als Egon, der so Vieles that, sich seine Freunde zu entfremden! In der Ausmalung seiner nächsten Aufgabe, für Murray bei Zeck oder der Ursula Nachforschungen anzustellen nach dem Kinde jener kalten vornehmen Dame und dann nach einem offnen Bekenntnisse seiner Liebe von Franziska für den Winter Abschied zu nehmen und in die Residenz zurückzukehren, schritt er rüstig vorwärts und achtete des Dunkels nicht, das sich inzwischen ganz über die stille, trauernde Gegend herabgesenkt hatte.

Er war im Wald. Das Grün der Tannen verscheuchte hier die Vorstellung vom herangenahten Winter. Am Fuße der entlaubten Bäume, die hier und da noch zwischen den Tannen standen, grünte unbekümmert vor dem Herbste das immergrüne Moos. Der Weg war viel fester als im Felde. Wo man dort einsank, wurde man hier durch die weitgestreckten, aus dem Boden hervorstehenden Wurzeln der Bäume oder durch das zusammengeballte Laub im Gehen erleichtert. Fröhlich pfiff Louis leichte Liedchen vor sich hin und suchte mit seinem spähenden Auge in der Ferne irgend ein Licht, oder mit dem scharfen Ohre irgend einen Schall, wenigstens von den Rädern der Sägemühle.

[2471] Bald hörte er das Bellen eines Hundes, bald auch das Rauschen des Waldbaches, der die Sägemühle trieb. Es war so finster geworden, daß er diese einsame Niederlassung erst erblickte, als er dicht an ihr vorüberging. Sie lag tief. Die Dächer waren breit und gedrückt. Ohne Zweifel wurden geschnittene Dielen unter ihnen aufbewahrt. Da lagen Blöcke vom Regen durchfeuchtet, die frischgesägten Breter schimmerten durch die Dämmerung. Doch schwieg die Mühle. Alles schien hier wie ausgestorben. Nur weniges kaum hörbares Leben deutete auf Bewohner.

Louis fand hier die beiden Wege, von denen Ackermann's Knecht gesprochen hatte. Der eine ging an dem Waldbache entlang, der andre stieg aufwärts und folgte immer dem bald höheren, bald sich senkenden Felsufer dieses Baches.

Louis ging den letzteren. Er war trockner, aber beschwerlich und nicht ganz ohne Gefahr. Steine lagen links und rechts im Wege und leicht konnte man bei einem Fehltritt ausgleiten und in den Waldbach stürzen. Sich in die Verspätung ergebend, schritt er langsam vorwärts und suchte das schwarze Kreuz auf, von dem Oleander und der Knecht gesprochen hatten.

Er fand es endlich. Eine Inschrift, die darauf zu lesen war, konnte er nicht mehr erkennen. Er rieth auf einen Unglücksfall, der sich hier einst ereignet haben mußte und nahm das Kreuz umsomehr für eine Warnung vorsichtig zu sein, als gerade hier unter dem Vorsprunge, [2472] auf dem das Zeichen errichtet war, der Waldbach ein tieferes Bett gewonnen zu haben schien und wild im Strudel rauschte und schäumte.

Wie er noch so stand und dem Winde lauschte, der die Bäume schüttelte, war ihm, als hörte er einen Schrei aus weitester Ferne von der Luft herübergetragen. Im ersten Augenblick bebte er zusammen. Es war ein einziger schreckhaft hervorgestoßener Ton, den er nicht von den krachenden Zweigen, nicht von einem Vogel herleiten konnte. Es war ein Ton aus menschlicher Brust.

Wie er entsetzt lauschte, ob sich der Ruf wiederholen würde, und nichts hörte als nur den Wind, nur das Rauschen des Waldbaches, glaubte er doch, daß er sich geirrt hätte und setzte beruhigter seine Wanderung fort.

Sie war jetzt nicht mehr so schwierig. Von dem Kreuze führte ein gepflegterer Weg abwärts. Rüstig schritt er vorwärts und hatte die Freude, deutlich von Plessen herüber die Kirchthurmuhr fünf schlagen zu hören. Nun wußte er, daß er in der Nähe des Jägerhauses war. Schon glaubte er sich zurecht zu finden. Die jenseitige Wand des Waldbaches war eine schroffe mit Bäumen besetzte Anhöhe, das diesseitige Ufer führte zuweilen schon durch Weideplätze, grüne Moos- und Grasstellen. Zuletzt stand er an einer kleinen Brücke von Erlenholz. Der Waldbach schweifte links ab nach Plessen zu. Er kannte diese Biegung und nahm keinen Anstand über die kleine Brücke hinüber zu schreiten und sich von dem Flüßchen ganz zu trennen.

[2473] Ein bestimmter fester Glaube führte ihn den Weg, den er für den richtigen und den zum Forsthause leitenden erkannte. Um so entsetzlicher mußte es für ihn sein, als er nach einigen Minuten raschen Fortwanderns wieder jenen Ton hörte, der ihn schon oben an dem schwarzen Kreuze erschreckt hatte. Jetzt war es sicher kein sich biegender Ast, kein Vogel mehr. Es war eine menschliche Stimme, die einen erstickten Entsetzensschrei hören ließ. Es ist Franziska! sagte sich seine aufgeregte Phantasie. Sie ruft um Hülfe! Und ohne die Gefahr zu achten, daß er in der Dunkelheit gegen einen Baum anrennen konnte, stürzte er in die Nacht hinaus, vertrauend, er würde zum Ziele kommen. Er rannte gegen Gesträuche und hielt einen Ast in der Hand. Er brach ihn, so stark er war, mit gewaltiger Kraft von seinem Stamme los, um eine Waffe zu haben. So stürmte er fort und rief mit einer Löwenstimme: Franchette! Franchette! daß es im Walde schauerlich widerhallte.

Endlich lichtete sich der Weg. Da lag die Wiese! Da lag das Jägerhaus! Ein Lichtchen brannte an Franziska's Fenster. Quer über das sumpfige Grün hinweg! Franchette! Franchette! Die Hunde bellten im Forsthause. Fränzchen lebte. Sie öffnete das Fenster.

Louis! Ach, Gott! Sind Sie's!

In demselben Augenblicke fiel in der Ferne ein Schuß.

Das ist der Onkel! sagte sie, als sie todtenbleich draußen schon an der Thür in Louis' Armen lag.

Was ist geschehen?

[2474] Kommen Sie! Kommen Sie! sagte Franziska und zog Louis in das Jägerhaus, einen entsetzten Blick auf die Treppe hinwerfend, an der sie vorüberhuschte.

Wie sie mit Louis im Zimmer war, wo ein Lämpchen brannte, riegelte sie die Thür zu und fiel erschöpft auf einen Lehnstuhl, der in der Nähe des Fensters stand. Das Fenster war noch offen und wurde von Louis sogleich geschlossen.

Ich kann in dem Hause nicht bleiben, begann Fränzchen, als sie sich gesammelt hatte. Alle Gespenster aus der frühern Zeit, daß ich hier war, stehen wieder vor mir. Ich muß fort.

Was war Das nur, Franziska? Sie riefen um Hülfe? War hier ein Überfall?

Rief ich um Hülfe? Ich weiß es nicht.

Wer war hier? Ich bitte Sie! Und jener Schuß?

Fränzchen antwortete nicht, sondern blickte sich nur scheu um und horchte nach oben hinauf.

Als sie Louis inständiger um Aufklärung bat, lächelte Fränzchen und fragte: Hab' ich so laut gerufen?

In der Stille des Waldes hört' ich es über tausend Schritte weit.

Das tröstet mich etwas und beruhigt mich für die Zukunft – nein, nein, ich kann nicht bleiben! Ich fürchte mich zu Tode. Und doch geschah hier eigentlich gar nichts.

Was haben Sie, liebe Franziska! Was war Ihnen?

Franziska erzählte nun mit gedämpfter Stimme, immer nach oben blickend, daß sie seit ihrer Anwesenheit im [2475] Forsthause die alte Ursula nicht erblickt hätte. Wie sie aber vorhin allein gewesen, verlassen von dem Onkel, der auf der Jagd pirsche, wäre die Alte, die sie im Bette geglaubt hätte, herabgeschritten feierlich mit einem Lichte in der Hand, lang und hager, wie ein Gespenst. Mit hohlen Augen wäre sie eingetreten, an jenen Schrank gegangen, hätte den aufschließen wollen, dann aber wäre sie herangetreten, das Licht gegen sie haltend. Ohne zu sprechen, ohne sie zu begrüßen, wäre sie dicht an sie herangeschlichen, daß sie im ersten Schreck hätte glauben müssen, sie beabsichtige ihr, und wenn nur durch Anhauchen, ein Leids zuzufügen. Da hätte sie, wie sie dicht an ihrem Munde gewesen wäre, aufschreien müssen, wie in Todesgefahr. Die Alte wäre nun zurückgegangen, hätte sich an die Thür gestellt und ein lautes Lachen aufgeschlagen. So hätte sie während einiger fürchterlichen Minuten gestanden, dann wäre sie noch einmal gekommen, in derselben geraden Linie auf sie zu, mit derselben starren Miene, wieder das Licht gegen sie hinhaltend, um sie zu erkennen. In der Angst ihres Herzens hätte sie Hülfe rufen müssen, da wäre in der Ferne ihr Name von Louis gerufen worden, die Alte hätte wieder wie eine Irre gelacht und dann sie verlassen, um nach oben auf ihre Kammer zurückzukehren.

Franziska verstärkte den ängstlichen Eindruck, den auch Louis von diesem Vorfalle empfing, durch die Erinnerungen an ihre Jugend, die sie ihm erzählte. Sie behauptete, daß sie glaube, die Alte möge in diesem Hause [2476] Niemand dulden und hätte trotz ihrer Jahre eine Art Eifersucht auf Jeden, der ihr die alleinige Herrschaft über den bequemen Onkel, der sie einst hätte heirathen sollen, streitig machen würde.

Louis fand es gerathener, daß Franziska wol in der Nähe, aber nun nicht selbst im Jägerhause länger bliebe. Er schlug ihr vor, morgen mit Ackermann zu sprechen und diesen einsichtsvollen, freundlichen Mann zu bewegen, sie in sein Haus zu nehmen. Freilich, setzte er, als Franziska freudig einstimmte, hinzu:

Sie werden, liebe Freundin, dort in der Nähe des alten Sandrart sein, der nicht Ihr Gönner ist!

Und ich bin nicht seine Gönnerin, sagte Franziska, die von ihrer beklommenen Stimmung aufzuathmen begann. Erwähnen Sie doch diesen Namen nicht!

Franziska, Sie wissen, daß Heinrich vermögend ist und Ihnen eine glänzende Zukunft bieten kann!

Ich mag ihn nicht! Es ist schlimm, wenn ein Mann zu wenig Herz hat, aber noch schlimmer läßt's ihm, hat er zu viel.

Wie beschämt steh' ich vor Ihnen da, Franziska! Sie kennen die Freundschaft –

Der Onkel kommt! sprach Franziska und sprang zur Thür hinaus.

Louis verwünschte die Störung. Er hatte sich erklären wollen. Er hatte endlich das entscheidende Wort der Liebe auf den Lippen. Die Reflexionen waren von ihm gewichen. Die Einsamkeit des Waldes, die Nähe des [2477] blühenden Mädchens, ihre Freude, ihn zu sehen, von ihm aus einer peinlichen Lage befreit zu werden, die sanfte Hand, die, kalt geworden von dem nach dem Herzen gedrängten Blute, sich in der seinen erwärmte ... Das Alles sprach ihm so viel Muth und Ermunterung zu, daß er endlich ein festes und sicheres Verständniß zwischen sich und dem Mädchen begründen wollte. Wieder vergebens! Jeder Andere hätte kühn mit einer einzigen Umarmung diesem peinlichen Zustande ein Ende gemacht. Das konnte Louis Armand nicht. Dafür war er zu sehr ein Hamlet des Herzens, die Blässe des Gedankens kränkelte seine Empfindungen an. Er konnte in Dingen, die eine so große Lebensänderung würden nach sich gezogen haben, wie diese Erklärung seiner Liebe für Fränzchen Heunisch, nicht aus einer gewissen Pedanterei, einer zaghaften Scheu heraus, wie im Grunde so viele junge Männer, die, wie uns die Leserinnen bestätigen werden, schon lange nicht mehr den »Muth der Erklärung« haben.

Heunisch hatte, da der Wind nicht nach seiner Richtung stand, von dem Schrei nichts gehört und war nicht wenig erstaunt, als ihm Louis den Vorfall erzählte und daran die nothwendige Überzeugung knüpfte, daß der Förster seine Nichte aus dem Hause geben sollte. Der Vorschlag mit Ackermann gefiel ihm, der Nähe Sandrart's wegen, sehr wohl, obgleich er diesen Grund nicht aussprach.

Die Ursula, dacht' ich mir gleich, sagte unser alter Freund in seinem sorglosen bequemen Tone, die Ursula [2478] hat nur eine verstellte Krankheit. Sie ist tückisch, weil sie Niemanden im Hause leiden mag. Das ist nun ein Kreuz, das man tragen muß. Glücklicherweise ist Liebe damit verbunden. Sie meint es gut.

Louis zweifelte.

Gegen mich gewiß! fuhr der Jäger fort. Sie hat mich ordentlich in Pacht genommen. Ich bin ihr Herzblatt, ihre Augenweide. Es ist wahr, sie hat oft einen Blick, als wollte sie damit die Ratten vergiften, aber mich blinzelt sie an wie eine verliebte Katze. Urschel, Urschel, ich muß doch noch ein Ende machen und dich in die Kirche führen!

Wissen Sie nichts vom frühern Leben dieser Frau? forschte Louis und gedachte seines im Schlosse harrenden Murray ...

Heunisch plauderte was wir wissen, vom Doktor Lehmann, vom blinden Schmied, ja sogar von der Erbschaft und schloß:

Sie kurirt jede Rose und jeden steifen Hals renkt sie ein.

Louis sah wohl, daß von diesem Virtuosen im Vertrauen, diesem starken Geiste der Denkmüdigkeit nichts über die frühern Verhältnisse der Ursula für seinen guten Murray zu gewinnen war. Heunisch stopfte sich eine Pfeife, hing sein Gewehr an die Wand, legte die Jagdtasche ab und sagte nur immer vor sich hin:

Ja, ja, Fränzchen! Ich habe nichts dawider. Sie nehmen dich auch! Das Fräulein nimmt dich auch! Der Ackermann ist ein guter Herr! Es ist mir auch so recht. Da sprech' ich [2479] im Ullagrund vor und gehe nicht so oft auf den gelben Hirsch. Und wenn Sandrart, der Alte, grob bleibt wie heute, so stopf' ich mir immer bei Ackermann die Pfeife und rauche ihm hinter seinem Zaun gerade auf die Nase.

Dabei lachte Heunisch und machte sich's bequem und sah sich nach seiner Suppe um, die ihm Fränzchen lange nicht so gut zubereitete wie die Ursula, die sich nicht mehr wollte sehen lassen und eigentlich so trotzte, daß Heunisch's Bequemlichkeit darunter litt.

Louis warf Fränzchen beim Gehen einen liebevollen Blick zu und flüsterte:

Morgen Nachmittag komm' ich in Wind und Wetter und bringe den Bescheid von Herrn Ackermann. Rüsten Sie sich, daß Sie mir dann gleich folgen können!

Fränzchen dankte mit innigem Blick.

Als Louis dem Förster die Hand gegeben hatte, rief ihm dieser nach:

Nehmen Sie den Weg rechts an der Wiese herum und dann links, von der Eiche abwärts. Sie sollten auch einen Stock bei sich tragen. Ich halte Herrn Ackermann's neue Geschichten sehr hoch, aber sie ziehen allerhand Gesindel in die Gegend. Der Justizdirektor hat mir von einem Brief gesprochen, den er aus der Residenz bekommen. Es soll nicht recht geheuer sein. Die beiden Gesellen, die die Zeck's angenommen haben, gefallen mir nicht. Da! In der Ecke steht ein alter Ziegenhainer! Oder wollen Sie einen Hirschfänger?

[2480] Louis dankte und meinte, der Baumstamm, den er draußen hätte liegen lassen, thäte Dienste genug, wenn's Noth am Mann wäre.

Fränzchen, zitternd und aufgeregt, bat den Hirschfänger zu nehmen.

Nein, nein, sagte Louis. Der Ast draußen genügt.

Damit verließ er das unheimliche Haus mit dem tiefsten Mitgefühl für die in ihm zurückbleibende Franziska, die bei aller Bangigkeit ihres Herzens nicht aufhörte, zu ihm aufzublicken wie zu einem verklärten Heiligen, der über den gemeinen und geringen Bedingungen dieses Lebens stand.

Louis kam unangefochten im Schlosse an. Nichts hatte ihn im Walde gestört. Fast seiner selbstspottend warf er am Fuße des Hohenberges den schützenden Ast von sich.

Das gemeinschaftliche Wohnzimmer sah Louis, den Berg emporsteigend, hell durch die Nacht schimmern. Es schlug sieben Uhr, als er bei Murray eintrat.

Unwillkürlich mußte er die Thür auflassen, die er in der Hand hielt.

Himmel, rief er, was machen Sie, Murray? Hier ist ja eine Hitze zum Ersticken.

Ich habe so stark geheizt, sagte Murray, um mir einen alten Schlüssel, den mir Brigitte gab, so zu feilen und zu schmelzen, daß ich ihn zum Umdrehen der Wirbel des Klaviers brauchen kann. Es will nicht gehen und ich möchte doch Wohllaut im Ohre haben.

Kommen Sie heraus, ich beschwöre Sie, sagte Louis, [2481] das ist von dem glühenden Ofen eine Hitze, die Ihnen für den ganzen Winter einen Katarrh zuzieht!

Murray öffnete die Fenster und kam, da Louis wirklich nicht eintreten mochte, in's Vorzimmer.

Sie müssen Ihrer Liebe zur Musik und der Nothwendigkeit, sich in Ihrer Einsamkeit zu unterhalten, ein Opfer bringen und mir erlauben, diese Arbeit unten in der Schmiede verrichten zu lassen. Umsomehr, als ich nach meinen heutigen Entdeckungen auch kein andres Mittel weiß, Ihre Nachforschung anzustellen, als zuvörderst bei den Zeck's im Dorfe.

Louis gab einen Bericht über seine reichen Erlebnisse ...

Murray folgte mit Theilnahme und verweilte mit großer Rührung bei Dem, was Louis über Ackermann erzählte.

Ja, ja, sagte er. Das ist Ackermann selbst, der in Amerika einen andern Namen führte und nicht weiß, was mich zu ihm zog und wen ich in ihm, was er in mir wiederfand!

Zu hören, daß Otto von Dystra in Europa war, machte ihm keine Besorgniß, eher Freude ...

Ackermann hat Recht, sagte er, wenn er diesen Sonderling einen Epikuräer des Geistes nennt. Ich kenne keinen Gerichtshof der Welt, wo man leichteren Stand hätte als vor diesem Äsop. Er kommt mir wie eines jener Asyle vor, in welchen die Verbrecher vor der Hand der Gerechtigkeit gesichert waren.

Erschreckend wirkte auf Murray, was Louis aus dem Jägerhause erzählte.

[2482] Ich erkenne, sagte er, die dämonische Natur meiner Schwester. Sie war die Älteste von uns. Was sie gab, drückte mehr als es erfreute. Sie hatte schwarze Augen, ganz beschattet von dichten Brauen und hielt mit Niemanden Freundschaft, da Alles schon vor ihrem Blicke floh. Dennoch besaß sie gute Eigenschaften. Sie war gefällig, dienstergeben, treu bis zur Last. Sollten alle diese Keime besserer Regung in kalte Versteinerung übergegangen sein? Jetzt scheint sie geistesschwach zu sein. Wenn sie das Gedächtniß verloren hätte!

Indem kam Brigitte mit dem Thee. Sie hatte vom Justizdirektor hundert Empfehlungen auszurichten und auf's neue zu mahnen, daß die Herren die morgende Einladung nicht vergessen möchten. Nachdem sie die Fenster mit Erlaubniß geschlossen und sich wegen des Nichtabholens des Geschirrs entschuldigt hatte, ging sie und ließ nur noch die neuesten Zeitungen zurück.

Louis hatte wenig Appetit. Er war zu aufgeregt und bewegt dafür. Murray genoß ein geringes Maß und nahm sich vor, seinen jungen Freund zu veranlassen, früh das Bett zu suchen. Während Murray in den Zeitungen blätterte, schrieb sich Louis das Gedicht auf, das ihm unterwegs eingefallen war.

Als Murray ein Licht ergriff und sich zur Ruhe begab, deutete er auf eine Stelle der Zeitungen und ging mit dem Bemerken, daß sie Louis interessiren würde, für heute zur Ruhe.

Es war freilich eine Mittheilung, die insofern recht zur [2483] Unzeit kam, als sie Louis, der ohnehin schon von so vielen Dingen erfüllt war, noch vollends erschütterte und in der That nicht schlafen ließ.

Sie lautete am Ende der Zeitung mit großen Buchstaben:

»Heut' Mittag um zwei Uhr ist die bisherige Volksvertretung vom Ministerium aufgelöst worden. Die neuen Wahlen sind auf den ersten November angeordnet. Die Stadt ist unruhig. Einige Volksaufläufe sind mit dem Bajonnet auseinandergetrieben. Man fürchtet für den Abend. Das Militair ist in den Kasernen consignirt. Eben werden über den Schloßplatz Kanonen gefahren.«

[2484]
7. Capitel. Ein Land - Diner mit Honoratioren
Siebentes Capitel
Ein Land – Diner mit Honoratioren

Am Vormittage des folgenden Tages herrschte im Amtshause, der Wohnung des Justizdirektors von Zeisel, eine erhebliche Unruhe. Frau von Zeisel, geb. Nutzholz – Dünkerke, war vollkommen überzeugt von der Nothwendigkeit, den, wie man allgemein wußte, vertrautesten Freund des Fürsten, trotz seines geringen Standes, irgendwie feiern zu müssen. Sie tröstete sich bei ihren Anordnungen damit, daß Louis Armand doch wol nur ein verkapptes Mitglied der höhern Gesellschaft wäre und ebenso auf wunderlich versteckten Wegen ginge, wie sie ja den Fürsten Egon selbst hatten kennen lernen. Jeder Blick auf den Thurm, der in schräger Richtung dem Amthause gegenüber stand, feuerte ihre kleine rundliche Figur zur lebendigern Sorge an, um heute dem jungen Freunde des Fürsten einen Eindruck für die Residenz mitzugeben, der auf die gute Meinung von der Hingebung ihres Mannes eine dauernde Nachwirkung üben sollte.

Was gehört nicht dazu, mit beschränkten Hülfsmitteln auf den gebahnten Straßen täglicher kleiner Ordnung plötzlich ein solches außerordentliches Mittagsmahl herzustellen!

[2485]

Jetzt in der Morgenfrühe, wo man ohne Lauscher war, konnte man sich in der ganzen Verwirrung solcher Zurüstungen noch gehen lassen. Das war ein Laufen und Rennen! Die Thüren schlugen zu und klappten auf. Frau von Zeisel rannte ohne Toilette mit aufgewickelten falschen Locken bald hier-, bald dorthin und machte eine Bewegung, die öfter wiederholt sicher ihr Embonpoint gemildert hätte. Was gab es da zu befehlen, zu klagen, zu verzweifeln! Welche Töne drangen schneidend durch das stattliche Amtsgebäude, unbekümmert um die Justizkanzlei, die Kammerkanzlei und alle die ehrwürdigen Zwecke dieser Amtswohnung, die heute für Frau von Zeisel nicht vorhanden waren! Herr von Zeisel kam nicht zu einem einzigen vernünftigen Avis, den er an einen Ortsschulzen hätte aufschreiben können und doch hatte er gestern von der Regierung einen wichtigen Brief erhalten. Und die Kammer war entlassen! Neue Wahlen sollten angeordnet werden! Ein Oppositionsblatt sprach von einem neuen aus der Willkür der Majestät fließenden Wahlgesetze! Wenn nach diesem gewählt werden sollte, welche neue Mühen, welche Weitläuftigkeiten, um die Wahlkörper zu bilden, die Stimmberechtigten auszuscheiden, die Wählenden und Wählbaren zu prüfen! Und nun dies Diner!

Pfannenstiel, der Gerichtsbote und Amtsvoigt, der mit einigen Akten hinter dem Schreibpulte des Justizdirektors stand, hatte tiefes Mitleid mit seinem Vorgesetzten.

[2486] Das auch heute noch, sagte er antheilnehmend, wo die Frau von Zeisel so nicht weiß, wo ihr der Kopf steht!

Ja, Pfannenstiel, ich weiß nicht, was ich unterschreibe. Alle Buchstaben laufen mir durcheinander.

Eine Magd kam und wollte wissen, wie viel Flaschen Wein wol herausgestellt werden sollten.

Wieviel meinte meine Frau?

Sechs, sagte die Magd.

Kathrinchen! Hat meine Frau sechs gesagt?

Pfannenstiel ergänzte, daß die gnädige Frau wol hätte sechszehn gemeint.

Sechs! hieß es.

Herr von Zeisel räusperte sich in großer Verlegenheit, legte die Feder auf das Pult, schlug den Schlafrock über die langen Gliedmaßen und begab sich, ohne ein Wort weiter zu sagen, zur Thür hinaus, um mit seiner Frau über diesen Gegenstand eine nothgedrungene freie Conferenz zu halten.

Wer kommt denn Alles? fragte inzwischen Pfannenstiel.

Die Magd klagte, daß sie keine Besinnung hätte. Diese Aufgabe wäre zu groß! Die Justizdirektorin käme nicht mehr aus dem Zanken heraus. Sie selbst wisse nicht mehr, was ein Teller und was eine Schüssel wäre.

Wenn wir nur Alle dafür ordentlich avancirten! meinte Pfannenstiel mit verzeihlichem Egoismus. Wir haben nun Alles aus erster Hand! Der Fürst ist Minister! Ich schreib' an ihn, daß er sich des Thurms da und meiner [2487] Höflichkeit erinnert und mir ein gutes Fortkommen für's Alter gibt.

Indem brach Frau von Zeisel herein:

Mein Mann!

Er sucht Sie, gnädige Frau.

Ich kann nicht mehr. Diese Menschen, von denen man umgeben ist! Das ganze Jahr erträgt man den hülflosen Zustand, weil man nachsichtig ist, seinen Ärger verschluckt; nun kommt es einmal darauf an, nun soll man einmal seinem Stande gemäß sich der Welt zeigen, nun verräth sich's, was ein Haus ohne Bedienung ist!

Christoph nimmt sich doch ganz gut aus in der Livree, meinte Pfannenstiel und suchte die auf den Ledersessel ihres Mannes niedergesunkene Dame zu trösten.

Aber wer sagt ihm, daß er schon jetzt damit in die Küche kommt, jetzt schon mit der Livree die Wände abschabt!

Er hat sie seit drei Jahren nicht getragen und freut sich, daß er stärker geworden ist.

Drum dehnt er sich so aus und reckt sich, daß alle Nähte platzen!

Die Magd, die durch das ganze Haus den Justizdirektor gerufen hatte, kam mit dem endlich Gefundenen zurück.

Kind, sagte er mit ängstlicher Miene, sechs ...

Acht! gab die Gemahlin gleich zu. Ich suche dich überall! Ich war im Keller und du bestimmst nichts, du sorgst für nichts, du bist für nichts, du denkst an nichts. Die [2488] rothen oder die gelben? So sag' doch! Vier rothe, zwei gelbe –

Aber Herzchen, wir sind –

Achtzehn –

Neunzehn!

Der Alte mit der schwarzen Binde kommt nicht –

Also siebzehn –

Was rechnest du denn!

Aber die Frau Pfarrerin Stromer! Pfannenstiel, hier, schreiben Sie einmal auf!

Pfannenstiel setzte sich zum Schreiben.

Erstens, dictirte Frau von Zeisel, Herr Louis Armand –

Der Schreinergesell! ergänzte Pfannenstiel.

Der Stand, bemerkte Frau von Zeisel empfindlich, der Stand ist hier nicht nöthig. Wir waren nie stolz.

Die rechte Hand des Fürsten und Sekretair des Premierministers! bemerkte Herr von Zeisel und schnitt damit alle weiteren Erörterungen ab. Zweitens –

Herr Ackermann! bemerkte der Amtsvoigt kräftiglich.

Nun, nun, sagte Frau von Zeisel pikirt, der Name brennt Ihm ja recht auf der Zunge. Wer weiß, wie bald die Komödie zu Ende ist. Der Fürst wird bald erkennen, daß er es mit einem Projektenmacher zu thun hat! Den neuesten Briefen des Justizrathes nach zu urtheilen, wird die Welt binnen Kurzem von Dingen überrascht werden ...

Drittens, sagte der Justizdirektor –

[2489] Laß mich! unterbrach ihn seine Frau – Zweitens -Nummer Zwei, Frau von Zeisel, sagte Pfannenstiel, der sich in die Umstände zu fügen wußte. Nummer Drei, Herr von Zeisel.

Nummer Vier, Herr Ackermann! sagte jetzt der Justizdirektor selbst.

Nummer Vier, Herr Oleander! unterbrach determinirt seine Gemahlin. Wer ist dieser Ackermann? Kann er sich einen Studierten nennen? Wer weiß, wo er herkommt und wo er noch hinfährt!

Nummer Fünf, die Frau Pfarrerin Stromer! bemerkte der Justizdirektor und um nur Ackermann ganz hinten zu bringen, setzte er hinzu:

Nummer Sechs, Herr Doktor Reinick aus Randhartingen.

Nummer Sieben, Herr Ackermann! bemerkte aber der unermüdliche Amtsvoigt wieder, dem einmal die ser Name so werthvoll und bedeutend war wie allen Bewohnern des kleinen Fürstenthums.

Nein! schalt Frau von Zeisel fast zornig.

Nummer Sieben, verbesserte ihr Gemahl, Herr Apotheker und Spezereihändler Sonntag aus Randhartingen –

Nummer Acht, fuhr seine Gattin fort, Herr Aktuar Weiße aus Plessen ...

Nebenan hustete Jemand, der unstreitig Herr Weiße war und sich gleichsam für die Ehre, der Achte zu sein, bedanken wollte.

Nummer neun, Ihr Herr Schwager, bemerkte der[2490] Justizdirektor verbindlich zu Pfannenstiel, Herr Drossel vom Gelben Hirsch – die Frau nebst Lenchen ist auf dem Heidekrug.

Also Fräulein Emmeline Drossel und Fräulein Alwine Drossel – setzte seine Gattin hinzu, als wollte sie sagen:

Unsre Herablassung!

Pfannenstiel verbeugte sich und bemerkte nur in den Bart hinein:

Macht Zehn und Elf oder eigentlich das Doppelte, denn Drossel speist und ißt für Zwei – auf die heutige Zeitung hin vielleicht ...

Dann Zwölf – unterbrach Herr von Zeisel, um seine Frau nicht durch einen vielleicht dreifach gesteigerten Appetit des gefürchteten Radikalen zu erschrecken.

Jetzt glaubte aber der Schwager des Wirths vom Gelben Hirsch in der That sagen zu dürfen:

Zwölftens, Herr Ackermann.

Aber wieder schnitt ihm die Justizdirektorin den Namen ab, indem sie fast gleichzeitig diktirte:

Zwölftens und dreizehntens, Herr und Frau Rentmeister von Sänger aus Randhartingen –

Vierzehntens, Herr A –

Herr Anverwandter, Ökonom aus Randhartingen, sagte Frau von Zeisel. – Mit seinem Besuche aus Schönau – wie heißt er doch? Dem Ortsvorstand Marx –

Macht fünfzehntens –

Und vielleicht noch dem Herrn Maler – bemerkte Herr von Zeisel.

[2491] Welchem Herrn Maler?

Den Marx mit nach Randhartingen gebracht hat, um Herrn Anverwandter zu malen – zum Weihnachtsgeschenk für seine Tochter –

Ich las den Brief so flüchtig ... ich besinne mich ...

Also fünfzehntens, Herr Marx, sechszehntens, der Herr Maler aus Schönau, recapitulirte Pfannenstiel und glaubte nun für ganz bestimmt endlich sagen zu können:

Siebzehntens, Herr Ack –

Aber auch hier beugte der besonnene Herr von Zeisel vor und bemerkte:

Siebzehntens, Fräulein Ackermann – Achtzehntens –

Dies Auskunftmittel war sehr fein ... Nun verstand sich von selbst, daß der achtzehnte Herr Ackermann war. Denn es war auch wirklich der Letzte.

Jetzt begann die Erörterung der Weinvorräthe.

Zwölf Herren, sechs Damen, sagte Frau von Zeisel, seufzend über die Nothwendigkeit, einmal so unebenbürtige Menschen, nicht die Adligen der Umgegend, bei sich zu Tisch zu sehen.

Acht Flaschen auf den Tisch, liebes Kind, erörterte ihr Gemahl.

Und zwei in Reserve! bemerkte die vortreffliche Wirthin.

Hier räusperte sich Herr von Zeisel und sah Pfannenstiel an, als hofft' er von diesem Succurs.

Acht auf den Tisch, fiel dieser ein, und acht unter'n Tisch! Macht sechszehn. Wie ich gesagt habe.

[2492] Sechszehn? rief Frau von Zeisel. Das wäre ja ein Trinkgelag!

Frau Justizdirektorin, wenn die Männer lustig werden und für meinen Schwager, der die Ehre hat, geladen zu sein und weil's wieder unruhig in der Hauptstadt ist –

Nur wegen der Wirthschaftsräthin Pfannenstiel und Frau Justizräthin Schlurck – fiel Frau von Zeisel berichtigend ein.

Dero- oder Derowegen! Wenn Drossel auf die Politik und die neuen Wahlen und die geladenen Kanonen kommt, ladet Der zwei Flaschen mehr für sich allein.

Ich will hoffen, bemerkte Frau von Zeisel, daß er uns mit seinen demokratischen Reden verschonen und sich erinnern wird, bei wem er dinirt. Es hat lange genug gedauert, bis wir uns entschlossen haben ...

Den wahren Grund der Entschließung, der darin bestand, daß Emmeline und Alwine Drossel, die ältesten Mädchen vom gelben Hirsch, viel häßlicher als die jüngere Lenchen waren und nur als Folie ihrer eignen Reize gebeten wurden, verschwieg Frau von Zeisel, die sich nun erhob, um sechszehn Flaschen, theils Roth – theils Gelbsiegel, aus dem Keller zu holen. Schlurck hatte dafür gesorgt, daß sein guter Freund und seine gefällige Freundin in ihren kleinen Weinvorräthen anständig ausgestattet waren. Schlurck hatte mit Melanie gemein, daß er gern schenkte und sich von allen seinen Bekannten die Geburtstage merkte.

Nach dieser wirthschaftlichen Erörterung erbat sich [2493] Pfannenstiel nur noch einige Augenblicke zu einer amtlichen Wahrnehmung.

Ich habe, sagte er, Ihre gestrige Weisung, auf alle verdächtigen Personen der Umgegend zu wachen, auch dem Förster Heunisch mitgetheilt, Herr Justizdirektor. Bis jetzt ist uns nichts aufgestoßen außer den zwei Arbeitern, die vorgestern mit einem Bauerwagen hier eintrafen und in der Krone abstiegen, um bei Herrn Ackermann's neuen Anlagen Arbeit zu suchen. Ich fragte sie nach ihren Papieren. Sie hatten ganz schöne, neue Pässe und gaben sich der Eine für einen Schlosser, der Andre für einen Klempner an. Genauer besehen, kamen sie mir sonderbar vor. Beides alte Knaben schon. Der Eine, der Schlosser, war sicher schon an die Funfzig. Ihre Hände glatt, eher wie zum Spazierengehen als zum Arbeiten. Der alte Zeck nahm sie, weil er Arbeit vollauf hat. Heute früh aber hör' ich, schmälte und tobte er, daß sie wenig von rechter Feuerarbeit verstehen, faul und unbeholfen sind und besser thäten, weiter zu ziehen. Da haben sie ganz volle, schwere Beutel gezogen und ihr Handgeld zurückzahlen wollen. Zeck aber hat's nicht nehmen wollen, sondern gesagt: Bis Samstag sollten sie's in allerhand kleinen Arbeiten abverdienen. Das rief er mir heute zu, als er nach dem Ullagrund ging mit seinem Jungen. Er bat mich, ein Auge auf die beiden alten Kerle zu haben. Ich ging auch zu ihnen in die Schmiede und fand, daß sie in Verlegenheit waren, als ich eintrat. Bis Sonntag, sagt' ich ihnen, könnt ihr noch dableiben! Dann trollt euch! Wir gestatten hier [2494] keinen Aufenthalt! Dazu zogen sie eine Miene, daß ich fast grimmig wurde. Heunisch rief mir einen guten Morgen zu. Er ging gerade vorüber und wollte auf's Schloß. So kam ich von den beiden Gaunern ab. Ich will sie scharf im Auge behalten.

Thut Das! Thut Das! Pfannenstiel, sagte der Justizdirektor zerstreut. Gebe der Himmel, daß das heutige Diner in Ehren überstanden ist. Es ist eilf Uhr. Ich muß mich nun wol anziehen.

Damit überließ Herr von Zeisel den Staat, die Wahlen, die Krisis, die öffentliche Sicherheit dem Gerichtsboten und Amtsvoigte, der in seine Thurmwohnung ging, um sich nun doch auch etwas festmäßig anzukleiden. Der Gedanke: alles Das um einen ausländischen Tischlergesellen! ließ ihn manchmal erstaunt genug dabei den Kopf schütteln.

Der Mittag kam heran und gleich nach zwölf Uhr gerieth ganz Plessen in Bewegung. Die am entferntesten wohnten, kamen früher als die näher Wohnenden. Doktor Reinick war einer der Ersten. Er besuchte einige Patienten und Genesene. Leider mußte er statt in Plessen in Randhartingen wohnen, weil der Spezereihändler und Apotheker Sonntag dort ein Gut bewirthschaftete und deshalb nicht in Plessen wohnen konnte. Auch Herr Sonntag fuhr in einem kothbespritzten Einspänner vor. Der Wirth in der Krone sah es in seinem Hofe einmal wieder recht lebendig werden. Drossel aber, der Hirschwirth, jagte mit seinem Einspänner wie im Schuß beim Kronenwirth [2495] vorbei. Seine beiden ältesten Töchter saßen neben ihm. Aber hier und da rief er, von der Krone an langsamer fahrend, diesem oder jenem bekannten Bauer zu: Neue Wahlen! Was sagt ihr? Neue Wahlen! Unser Fürst! Neue Wahlen! Kanonen! Wir erleben etwas! Justus hat geschrieben. Heut' Abend kommt mehr. Es sieht unten schlimm aus! Schlimm! Hurrah!

Er schickte seinen Einspänner, aus Brotneid, nicht in die Krone, sondern auf einem beschwerlichen, morastigen Wege durch den Wald in die Sägemühle. Der Sägemüller war sein Freund. Sie hatten beide das eigne Schicksal erlebt, daß vor Jahren ihre Schwestern, die den Förster Heunisch heirathen sollten, durch unglückliche Zufälle um's Leben kamen.

Herr Rentmeister von Sänger, ein ehemaliger Offizier und alter Kamerad aus dem Husarenregimente, das nach dem Generalfeldmarschall das Fürstlich Hohenbergische hieß, fuhr mit seiner Frau Gemahlin in einem Zweispänner. Sie stiegen am Amthause aus und ließen, ein Vorrecht alter Zeiten benutzend, ihre Kalesche dem Schlosse zufahren, wo sich leere Remisen und Ställe genug fanden.

Louis Armand im schwarzen Frack, ein leichtes Tuch nicht steif, sondern leicht um den Hals geschlagen, in Stiefeln, die er sich selbst geputzt hatte und unbekümmert mit schwarzen Handschuhen, begegnete dem Wagen und schloß aus seinem Aussehen auf eine gewähltere Gesellschaft. Er hatte den Vormittag mit Briefen in die Heimat, an Märtens zugebracht, auch Fränzchen ein paar [2496] freundliche Worte geschrieben, die Heunisch mitnahm, der gekommen war, nochmals den ihm immer mehr gefallenden Plan zu besprechen, daß seine Nichte zu dem Generalpächter kommen könnte ... Murray hatte ihm viel Vergnügen gewünscht und ihn getröstet, daß er sich schon zu unterhalten wissen würde ...

Wer die Einsamkeit nicht liebt, hatte er gesagt, ist nur ein halber Mensch. Wer nicht einsam sein kann, ist auch nicht versöhnt mit sich. Die Verbrecher fürchten sich vor nichts so sehr als vor der Einsamkeit. Es ist ihre fürchterlichste Strafe. Dennoch muß sie, wie jede Strafe, mäßig angewandt werden. Einsamkeit soll bessern, nicht abstumpfen. Sie soll anfangs nicht gleich ganz gegeben werden, sondern nur nach und nach. Dann wird sie zu einer heilenden Strafe. Man gewinnt die Einsamkeit lieb und spricht mit ihr und versöhnt sich mit seinem Schatten.

Am Eingange des Amtshauses begegnete Louis seinem entfernten Verwandten, dem Vikar Oleander und der Frau Pfarrerin. Jener kam einfach, diese mit ängstlichem, ärmlichem Putz. Sie grüßte Louis als wär' es Egon selbst gewesen. Die Ärmste war eine durchweg eingeschüchterte Natur, lebte nur in ihren Kindern und der äußeren Sorge für ihren Gatten, der ihr auf so überraschende, seltsame Art plötzlich entschwunden war. Gewiß war es eine Frau, die in ihrer Sphäre erkannt sein wollte, um bei aller Einfachheit nicht ohne Werth zu erscheinen. Was konnte sie dafür, daß sie von einem Manne gewählt, als [2497] Gattin heimgeführt war und ihm nun nicht mehr genügte? Unter ihren Kindern fand sie sich in ihrem ewigen Mutterrechte. Ach und im Grunde, murrte sie denn über ihr Loos? Ließ sie es sich nicht genügen, so einfach und freudenleer es war? Wenn eine Frau von geringen Fähigkeiten und ohne äußeres Verdienst durch den Misgriff eines Mannes zu Rechten kommt, die sie anspruchsvoll geltend zu machen sucht, so wird man dem Worte: Er hat mich doch nun einmal genommen! wenig Überredung und Bindekraft beimessen können. Wenn aber ein so zu einer gewissen Haltung gekommenes Wesen doch wie eine niedrig wachsende Schlingpflanze nur an dem festen Stamme ihres Rechtes sich hinzieht und nur dahin sich ausdehnt, wo er ihr und ihren Kindern wärmer von der Sonne beschienen dünkt, wer möchte da nicht duldend herabblicken und dem bescheidenen Dasein jede Freude wünschen?

Zu den Gästen, die ein großes aufgeputztes Zimmer empfing, gesellten sich bald auch Ackermann und Selma.

Es lag eine eigne Ironie in den Zügen des geistreichen Mannes, wie er so mit seinem lieblichen Kinde in diesen geputzten Kreis ländlicher Bedeutsamkeit eintrat. Freundlich neigte er sein Haupt mit der offnen freien Stirn nach allen Seiten und Selma bot Jedem die Hand, der ihr nahe stand, nur Louis nicht, den sie zu vermeiden schien und nur flüchtig grüßte.

Oleander, der für Äußerlichkeiten sonst keinen Sinn [2498] hatte, pries ihren Anzug, zum Erstaunen der in einem blau- und rothschillernden Seidenkleide die Honneurs machenden Frau Justizdirektorin, die sein Entzücken verspottend, ihm sagte:

Herr Vikar, Sie bewundern und wissen sicher nicht, worin eigentlich der wahre Reiz dieser geschmackvollen Toilette besteht!

O stellen Sie mich nicht auf die Probe! antwortete Oleander. Ich analysire Ihnen sonst das schöne himmelblaue Kleid so, daß ich unten die Besätze abtrete.

Oleander verlor sich im Anschauen. Er folgte Selma, wie sie den Damen sich näherte und deren Bekanntschaft erneuerte, mit strahlendem Blick.

Louis aber benutzte den Umstand, daß man noch auf den letzten Randhartinger Wagen wartete, um Ackermann bei Seite zu nehmen. Ohnehin von allen Anwesenden mit der größten Neugier betrachtet, kam ihm die Gelegenheit, sich zurückzuziehen und den vielen Fragen auszuweichen, sehr erwünscht. Er stellte sich, da zwei Zimmer geöffnet waren, in das Nebenzimmer zu Ackermann und trug ihm sein Gesuch wegen Fränzchens vor ...

Diesem kam der Antrag ganz erwünscht. Erst heute, bei den Vorbereitungen zu dieser Einladung, hätten sie ein Wesen vermißt, das seiner Tochter näher stünde als eine gewöhnliche Dienerin.

Mit Freuden! sagte er. Wenn Sie für das junge Mädchen bürgen! Doch warum werden Sie nicht, da eine Liebe wie [2499] die des jungen Sandrart beweist, daß sie deren würdig ist! Schon um den Alten ein wenig zu ärgern, nehmen wir das Kind.

Selma trat hinzu und erfuhr, worüber es sich hier handelte.

Nun, sagte sie, da ist ja all' mein Wünschen heute erfüllt! Wie sehr hab' ich mich der Rücksichten, ein Mädchen zu sein, entwöhnt! Wie verlassen bin ich, wenn ich einmal glänzen und den Menschen gefallen will!

Sie küßte den Vater. Die kastanienbraunen sich ringelnden Haare hingen auf den Nacken herab und das Auge, das sich emporrichten mußte, bekam dadurch einen Aufschlag von durchdringender Kraft und schwärmerischer Milde.

Darüber sind wir nun einig! sagte Ackermann. Die Gründe, warum Sie sie vom Forsthause entfernen wollen, erzählen Sie mir ein andermal. Wenn sie ein leichtes Gepäck hat und bis fünf Uhr etwa zur Hand ist, bis wohin ich hier mancherlei Geschäfte abzumachen habe und Selma bis dahin bei der Pfarrerin bleibt, nehmen wir diese Pflegebefohlne sogleich heute mit uns.

Indem rasselte endlich der ersehnte, verspätete letzte Wagen vor. Die Justizdirektorin hatte schon vor Ungeduld und der Angst, ihre Speisen möchten verbrennen, keine zusammenhängende Antwort mehr geben können, sondern war von Gast zu Gast gewandert und hatte zu Jedem über die Unschicklichkeit der Verspätungen gesprochen. Herr von Zeisel hatte Mühe, sie nur zu beruhigen. Endlich [2500] kam ein großer Vierspänner, aus dem drei Männer stiegen. Herr Anverwandter, ein reicher Gutsbesitzer in Randhartingen, der Ortsvorstand Marx aus Schönau und ein Dritter, den Niemand kannte.

Louis stand gerade im politischen Gespräch mit dem sehr lebhaften, aufgeregten Ökonomen vom gelben Hirsch, Herrn Drossel, als die Thür aufging, der starke Herr Anverwandter eintrat, nach ihm Herr Marx und der Dritte, der von allen Anwesenden wenig Notiz nahm, sondern mit scharfem Blicke sich gleich Louis hervorsuchte ...

Louis wandte sich und erschrak, Siegbert Wildungen zu sehen.

Die Frage: Wie ist Das möglich! ging in der Umarmung verloren.

Die Anwesenden nahmen das lebhafteste Interesse an dieser Begrüßung und waren, als sie den Namen hörten, gleich davon unterrichtet, daß auch dieser junge Maler zu dem engeren Freundeskreise des Fürsten gehörte, dieser Wildungen, der in den vielbesprochenen Johanniterprozeß verwickelt war, dessen Kunde schon überall hin gedrungen schien.

Siegbert, auf dem die Blicke der Frauen mit Wohlgefallen ruhten, erzählte mit wenigen Worten, daß er in dem vier Meilen von hier gelegenen Örtchen Schönau das freundlichste Entgegenkommen gefunden hätte. Herr Marx hätte ihn aufgefordert, mit ihm nach Randhartingen zu fahren und Herrn Anverwandter zum Geschenk für [2501] seine Frau, die Herrn Anverwandter's Schwester wäre, zu malen. Er hätte diesen Antrag angenommen, um, flüsterte er Louis mit gedämpfterer Stimme zu, in seine Nähe zu kommen, da er vermuthet hätte, daß er sich noch auf dem Hohenberg befände.

Eine weitere Auseinandersetzung war nicht möglich, da eben die Aufforderung zu Tische erfolgte. Paarweise schritt man über einen steingepflasterten Corridor nach einem sehr schön gelegenen Eckzimmer, das an freundlicheren Tagen eine herrliche Aussicht in die Ebene bieten mußte. Siegbert wurde dabei von der Justizdirektorin wie im Traum entführt, Louis wagte Niemanden die Hand zu bieten. Ackermann gab ihm seinen eigenen Arm; denn Selma, auf die es der Vater für Louis abgesehen hatte, war schon von dem Hauptmann und Rentmeister von Sänger entführt, der trotz seiner Jahre die Frauen liebte, wie sein alter Chef, und schon die dritte Gemahlin hatte. Frau von Sänger, eine hübsche, lebhafte Blondine, schien nicht zufrieden, daß sie mit dem einfachen Doktor Reinick vorlieb nehmen mußte.

Auf dem Corridor sagte Ackermann zu Louis:

Wer ist der junge Mann, der mit Herrn Anverwandter kam?

Hörten Sie ihn nicht nennen? sagte Louis. Derselbe Siegbert Wildungen, von dem Sie gestern erzählten, daß Sie ihn als Kind auf den Armen trugen.

Ackermann war von dieser Mittheilung so erschüttert, daß er den Arm sinken ließ und sprachlos neben Louis [2502] in das helle heitere Eßzimmer trat. Starr blieb er hinter dem entferntesten Stuhle stehen und richtete den Blick auf Siegbert, der seinerseits auch ihn, dessen Kopf ihm so wohlgefiel, flüchtig fixirte.

Frau von Zeisel duldete aber nicht, daß schon Alles Platz nahm; denn gestern Abend schon war ihre Sorge gewesen, mit Oleander, den sie deshalb vom Whistspiele dispensirte, gründlichst zu überlegen, wie jeder Gast placirt sein sollte. Der Aktuar Weiße hatte in sauberster Canzleihandschrift alle Zettel geschrieben, die auf den etwas altmodischen Gläsern lagen und Jedes Namen in einer auf Psychologie und die Schule der Höflichkeit begründeten Ordnung möglichst orthographisch wiedergaben. Für Siegbert lag ursprünglich neben einem der Fräulein Drossel ein leerer Zettel und Frau von Zeisel hatte Herrn Ackermann neben sich trotz der Rivalität. Gleich aber wußte die kleine Frau diesen Irrthum zu eskamotiren und vertauschte die Zettel so, daß Siegbert Wildungen, der blonde Maler mit den blauen Augen, den frischen Lippen und den weißen Zähnen, die bei seinem geistreichen Lächeln so freundlich hervortraten, an ihre Seite, Ackermann aber zu den Gelben Hirschtöchtern in die Nähe des ultrademokratischen, aber wie man sagte, auch ultrafinanzzerrütteten Ökonomen Drossel kam.

Endlich saß die Gesellschaft zu großer Beruhigung des Herrn von Zeisel, dem einige gelinde Schweißtropfen schon auf der Stirn standen. Er gab heute ein Diner der [2503] Herablassung, ein Diner der Rücksichten, als Stellvertreter des Fürsten, dem Freunde des Fürsten zu Ehre. Es war nur der einzige Adlige, Herr von Sänger, zugegen und auch dieser nur als fürstlicher Rentmeister. Dennoch setzte ihn selbst diese Aufgabe, wo er doch nur gnädig, nur herablassend zu sein brauchte, in Verlegenheit. Er hatte dabei den Takt, Louis Armand neben sich zur Rechten zu setzen und ihm die Unterhaltung der Frau Pfarrerin zuzuweisen.

Frau von Sänger war eine sehr heitre, eine sehr kokette Frau. Sie zeichnete sich durch schöne Gesichtsfarbe aus und erweckte durch ihre Lebendigkeit eine große Vorstellung von dem ihr innewohnenden Temperament. Sie pflegte mit der Justizdirektorin in Kleidung, Lebensweise und Neigung zu wetteifern und hatte eigentlich, seitdem Frau von Zeisel Gefallen an Oleander fand, in der ganzen Gegend Niemanden ihres Attachements Würdigeren gefunden, als geradezu Selma's Vater, der wohl im Stande war, noch auf mittlere Frauen einen lebhaften Eindruck zu machen. Nun aber war ein junger Franzose, Louis Armand, und ein hübscher Maler, Siegbert Wildungen, in den meist philisterhaften und bequemen Kreis getreten. Da ihrem Stolze denn doch Louis' Stand zu geringfügig erschien, so ergrimmte sie nicht wenig über ihre Rivalin, die den andern neuen Ankömmling so ohne Weiteres schon in Beschlag nahm. Ihr Gatte entfaltete inzwischen gegen Selma jene Liebenswürdigkeit der alten Herren, die in gewissen Schranken sich haltend den Frauen immer [2504] gefällt und von den jungen Männern nur zu selten zum Muster genommen wird.

Frau von Zeisel hatte ein zwischen der Malerei und der Küche getheiltes Herz. Ihre Blicke schossen bald auf ihren Nachbar, bald auf die Schüsseln, die die Mägde hereintrugen. Sie erntete alle Anerkennung. Man begrüßte jede neue Speise mit einem Blicke auf die präsidirende Wirthin, die zwar die Würde des Standes im Allgemeinen vortrefflich behauptete, zuweilen aber doch, besonders wenn es sich um Ergänzung der leergewordenen Flaschen handelte, sich hinreißen ließ, Winke zu geben, ja sogar selbst einmal fast aufstand, wofür Herr von Zeisel aber den Muth hatte, sie mit einem ernsten Blicke zu bestrafen.

Ackermann beobachtete voll Rührung die Freundschaftsblicke, die Siegbert und Louis zuweilen über den Tisch wechselten. Er war unstreitig der schweigsamste am Tisch. Selma plauderte mehr, als ihm lieb war. Das junge Mädchen, die Blume der Tafel und der eigentliche Mittelpunkt der Gesellschaft, schien nur zu sprechen, um eine innere Aufregung zu verbergen. Oft warf sie einen verstohlenen Blick zu Louis und einen ganz flüchtigen zu Siegbert hinüber, der seinerseits von dem Reize dieses frischen Kindes träumerisch gefesselt war.

Oleander, der Vikar, stand natürlich zuerst auf und brachte einen Toast auf den Fürsten. Er nannte Egon von Hohenberg Einen, der auf der Menschheit Höhen ebenso scharfblickend empor, wie niederwärts zu schauen verstünde. Er hat, schloß er in gebundener Rede, er hat des [2505] Lebens tiefste Wurzeln aufgesucht, das innere Sein und der Erscheinung Flucht mit Denkerblick erspäht; den Thron der Wolken fand sein Alpenstab und was ihm schon das Schicksal selber gab, er nahm es nur als seines Wanderns Lohn!

Der Beifall war einstimmig. Nur Drossel brachte sogleich, bitter genug, die neuen Wahlen und die geladenen Kanonen auf das Tapet. Es war ein Miston, den Louis und Siegbert, sich gegenseitig bedeutsam ansehend, wohl in der ganzen Dissonanz zu dem Akkord, den Oleander's Worte hervorgerufen hatten, fühlten. Ihre Freundschaft für Egon gab dem Rentmeister Recht, als er Drosseln drohte, den Rand zu halten. Freilich ließ der alte Herr auch sogleich eine Anzahl grimmigster Verwünschungen über die Demokratie aufprasseln, die nun endlich in dem Sohne des alten Generalfeldmarschalls ihren rechten Bändiger fände. Er richtete dabei mit einer gewissen Absichtlichkeit, die dem amerikanischgesinnten Ackermann nicht entgehen konnte, ein förmliches Pelotonfeuer gegen die Republikaner, die er mit Stumpf und Stiel ausgerottet verlangte. Auch der Apotheker Sonntag, der Aktuar Weiße und der Ortsvorstand Marx waren ganz derselben Meinung und konnten die Gefahr, die dem Staate durch seine neuen demokratischen Grundlagen drohe, nicht bedenklich genug schildern. Herr Anverwandter war zu sehr Fettmasse, um eine Meinung über das Princip der Bewegung zu haben. Herr von Zeisel lavirte. Er meinte, die Politik des Fürsten läge wohl noch nicht ganz offen [2506] da. Heut' Abend wär' er vorläufig auf die Zeitung gespannt ...

Nicht offen? rief Drossel. Wer mit dieser gemäßigten Kammer nicht regieren kann, wem selbst solche Moderirte, wie Justus, zu liberal sind, der kann nur mit einer Beamten – Kammer regieren oder wird als Absolutist enden, falls sich solche Komödien noch aufführen lassen.

Ja, Herr, rief der Rentmeister, nach Pulver und Blei sollen Sie noch Ihre Puppen tanzen sehen ... Dabei vergoß vorläufig Herr von Sänger schon mehr von dem Rebenblute, als Frau von Zeisel lieb war.

Es ist doch gut, sagte der Arzt Reinick, ein kleiner Mann von schlichtem Aussehen und verständiger Mäßigung im Ton und seiner ganzen Haltung, es ist doch gut, daß es dabei außer Todten manche Verwundete geben wird, die man durch unsre Kunst wiederherstellen kann. Man muß auch wieder an die Ärzte denken.

Diese scherzhafte Wendung gefiel Siegbert, der schon in Randhartingen mit dem Doktor Reinick Bekanntschaft gemacht hatte.

Drossel aber stellte gegen die Kanonen gleich auch Kanonen. Er meinte, daß Salpeter überall in der Erde läge, Blei auch und Schießen wäre jetzt ein Kinderspiel. Die gefüllten Blechbüchsen, die man Kartätschen nenne – wollte er eben sagen –

Herr Drossel! unterbrach ihn aber Frau von Zeisel. Ich bitte mir aus! Hier werden keine Schlachten geliefert und keine Revolutionen gemacht. Essen Sie meine Cotelettes [2507] und bewundern Sie meine jungen Gemüse, die ich auch in Blechbüchsen verwahre.

Man mußte über den Übergang lachen. Frau von Zeisel verrieth, daß sie nicht ohne Verstand war. Ihre eigentliche Absicht merkte aber doch nur ihr Gatte. Er sah, wie die Aufregung des Gelben Hirschwirthes, den man als Mittelpunkt der noch nicht niedergeworfenen Demokratie der ganzen Gegend schonen mußte, sich in der Entleerung der in seiner Nähe stehenden Flaschen vorzugsweise zu erkennen gab. Er rechnete, daß, wenn Das so fortginge und sich die Männer hier politische Scharmützel lieferten, mehr Blut fließen würde, als durch die Adern der disponiblen sechszehn Flaschen rann. Frau von Zeisel begann auch bereits, gewisse auf diese Beobachtung hindeutende Blicke des Herrn von Zeisel zwar mit Ingrimm, aber doch mit weltkundigem Takte zu verstehen. Glücklicherweise zeigte sich Siegbert Wildungen, der Nachbar der Wirthin, von einer mannichfach liebenswürdigen, höflichen, aufmerksamen Seite und erzählte ihr von seiner Absicht, in der That den dicken Herrn Anverwandter zu malen und sich längere Zeit in der Gegend zu halten, so viel Fesselndes, daß sie mit einem rasch verklingenden Seufzer die Kellerschlüssel wirklich hinterrücks durch den Stuhl der Bedienung zureichte und den Weinvorrath auf Gnade und Ungnade in fremde Hände gab.

Man brachte einen Toast auf die Wirthin, den Wirth, die Damen, die Gäste, ja auch auf Louis Armand, den Freund und Genossen des Fürsten. Diese Aufmerksamkeit [2508] hatte Oleander gehabt, der Alles, was poetisch war, lebhaft ergriff und jenen Muth besaß, unter Schaalheit und Philisterei sich an das Bedeutendere zu halten, mocht' es erst auch wunderlich erscheinen. Er erlebte aber damit den eigenthümlichen Fall wie Jeder, der an das Edle im Menschen glaubt, daß das Poetische immer verstanden, immer freudig aufgenommen wird, selbst unter nüchtern Scheinenden und rein materiell Gestimmten. Er sagte hier einige schöne Worte über Egon's allbekanntes, vergangnes Leben und Jeder verstand sie und Jeder fühlte, wie sie diesen einfachen Fremdling verklärten und hoben.

Louis Armand aber, der schon längst bemerkt hatte, daß man sich des Justizdirektors wegen Zwang auferlegte, offen und frei die Verehrung vor Ackermann auszusprechen, Louis erhob sich mit raschem Entschluß, lehnte den Einfluß, den man ihm auf den Fürsten zuschrieb, bescheiden ab und sagte:

Denen wollen wir Dank sagen, die dem Fürsten die Hand geboten haben, festzustehen auf dem Boden seiner Väter! Es lebe Herr Ackermann!

Dieser Toast, so kurz, so einfach, so natürlich, drückte doch Aller Stimmung aus und die langverhaltene Empfindung machte sich in dem freudigsten Jubel Bahn, der nur noch von Drossel, der gleich hinzusetzte: Der Republikaner hoch! unmelodisch genug überschrieen wurde.

Ackermann hielt sich an den herzlichen Gruß, der ihm [2509] in den Gläsern widerklang, die Reinick, Oleander, Sonntag, Anverwandter ihm entgegenhielten und sagte, dem Justizdirektor die Hand bietend, die dieser auch gerührt ergriff und schüttelte:

Lassen Sie den Frühling leben, meine Freunde! Lassen Sie die Hoffnung leben! Der Winter rüttelt schon an der Thür, ein schlimmer Gast, der uns noch eine lange Prüfungszeit bringen wird! Wenn aber dann der Schnee auf diesen Höhen schmelzen wird, wenn die Lerche steigend singt, die Erde, zerschnitten vom Pfluge, Frühlingsodem ausströmen wird, dann wollen wir Alle zusammenwirken und im Glücke eines Mannes, den wir lieben, unser eignes finden. Auf treue, gute, fröhliche Nachbarschaft!

Das war wieder ein Wort, so recht alle Herzen entzündend; denn nun bekam Jeder doch auch etwas für sich! So sind die Menschen. Erst allenfalls Einer, dann aber auch gleich Alle. Die Gläser klangen, die Hände wurden geschüttelt. Als man dann saß und sich von den angeregten schönen Gefühlen sammelte, um wieder zur Tafelfreude zurückzukehren, kam noch ein Glas als Nachzügler zu Ackermann hinüber. Selma hielt es hin, mit schalkhaftem, lächelndem Blick. Dem Kinde glänzte eine Thräne im Auge, die der Vater durch einen Scherz nicht entfernen konnte. Auch er war gerührt und drückte die Hand der holden Tochter über den Tisch hinüber.

Wie vorauszusehen war, mußte zuletzt auch der Gegenstand berührt werden, den damals alle Welt an den Namen [2510] Wildungen anknüpfte. Gleich bei Siegbert's Eintreten hatte man geflüstert, ob dies jener Wildungen wäre, der ... ja, ja! hatte es geheißen und mit um so gespannterem Interesse betrachtete ihn jedes Mitglied der Tischgesellschaft.

Herr von Zeisel war es, der das Eis dieser Spannung brach und mit den beziehungsreichen spürend belauschten Worten Siegberten sein Glas entgegenhielt:

Zwar hat sich Vieles in unserm Hohenberg geändert! Alte Irrthümer sind erkannt worden und neue Hülfe ist gefunden. Aber man soll Niemanden verleugnen, der uns Freund ist, wenn er auch irrte. Der Justizrath Schlurck mag der Zukunft des Fürstenthums nicht gewachsen gewesen sein. Dennoch schätz' ich ihn als meinen Freund. Ich wünsch' ihm die reichsten Belohnungen für seinen allbewunderten, vielgerühmten Scharfsinn. Nur in einem Gegenstande soll er unterliegen, in einem Punkte die Waffen strecken müssen, in einem eine schmähliche Niederlage erleiden – Herr Siegbert Wildungen, ich meine in Ihrem Prozeß!

Da war der Damm weggerissen. Alle Blicke, alle Fragen der Neugier hatten nun eine freie Strömung. Jeder sah nun in Siegbert Wildungen den künftigen Krösus und Louis besann sich durch die Röthe, die den Freund überflog, sogleich auf die Äußerungen, die noch vor kurzem über diesen Gegenstand Siegbert im alten Rathskeller der Residenz gethan hatte.

Mit wärmerem Interesse aber, als alle Übrigen, ließen [2511] Selma und Ackermann ihre Blicke auf Siegbert ruhen und bald wußten es Alle, daß Ackermann in jüngern Jahren den Fremden wollte auf den Armen getragen haben.

Wo Das? rief Siegbert erstaunt.

In Thaldüren!

Kannten Sie meinen Vater?

Vater und Mutter!

Ich entsinne mich nicht, Ihren Namen –

Wie geht es der Mutter?

Sie kränkelt ...

Siegbert begriff nicht, wie ihm wurde, als er Ackermann in's Auge sah. Es stiegen ihm Empfindungen auf, denen er keinen Namen geben konnte. Ganz verloren in die Züge Ackermann's und Selma's hörte er nicht, daß man ihn um Auskunft über den Stand seines Prozesses bat.

Erst Frau von Zeisel mußte ihn erinnern, daß man mit ihm sprach.

Er sagte nun:

In erster Instanz hat mein Bruder, der diese Angelegenheit mit Eifer verfolgt, unsre Ansprüche, von denen er so fest überzeugt ist, nicht behaupten können. Wir haben verloren. Jetzt ist der Bruder in Angerode, wo wir schon einmal über diese alte Streitfrage Dokumente fanden. Es handelt sich um die genauere Feststellung unsres Stammbaumes. Mein Bruder schreibt mir, daß es ihm gelungen ist, Thatsachen, die ein neues Licht verbreiten, aufzufinden. Schon ist die Appellation im Gange.

[2512] Wissen Sie, sagte Oleander, daß Propst Gelbsattel, dem ich die hiesige Vikarstelle verdanke, einer der heftigsten Gegner Ihrer Ansprüche ist?

Nicht blos der Propst, sagte Siegbert. Ich fürchte, daß wir alle Welt zu Gegnern haben.

Diese bescheidene selbstlose Äußerung bestritt man. Drossel meinte, so müsse es mit allem Unrecht gehen, das durch Verjährung Recht geworden wäre. Er verwünschte dabei die Pfaffen, die Tyrannen, die Advokaten, die Menschenschinder, die verthierten Söldlinge, die Staatsanleihen, Alles durcheinander. Der Apotheker war sehr für den Satz: Jeder ist sich selbst der Nächste! Frau von Zeisel bedauerte unendlich, daß es der schönen Melanie nicht mehr möglich sein würde, fast alle Tage ein andres Kleid anzuziehen, allein darum gönne sie doch Herrn Siegbert Wildungen ein Vermögen, das sicher einem Halbdutzend großer Rittergüter gleichkäme.

Die Erwähnung Melanie's, der Übergang auf ihre Anwesenheit in Hohenberg, die Nachfrage wegen ihrer wieder abgebrochenen Verlobung mit dem Stallmeister Lasally, der hier durch sein mürrisches Benehmen Alle verletzt hatte, die lächelnden Mienen über Melanie und den Fürsten, alles Das war ein Durcheinander, das für Niemand chaotischer und unbehaglicher wurde als für Selma. Siegbert, Louis, Alle wurden ihr in diesem Augenblicke verhaßt. Es kreischte um sie her wie von Dissonanzen. Das war Alles unaufgelöst widerlich. Wahrhaft frei fühlte sie sich von einem lästigen Drucke, als man in [2513] diesem Tumult aufstand und sie sich an den Vater hängen konnte, dem sie zuflüsterte:

Fort! Fort! Vater! Hier ist es erstickend! Die Brust zerspringt mir!

Ackermann küßte ihre brennende Stirn und sagte in mildem Tone:

Gewöhne dich, Kind, an Rechnungen, die nicht aufgehen! Ich fühle dir das Peinliche solcher Dinge, die du alle nur halb verstehst, wohl nach. Das Leben ist so! Es ist aus Gegensätzen und unvermittelten Widersprüchen zusammengesetzt. Wenn man so sieht, daß Alles anders ist, als man es gern haben will, möchte man verzweifeln und in die Wildniß fliehen.

Nach den gesegneten Mahlzeiten, die man nun, weingeröthet, speisenduftend, gegenseitig sich noch wünschte, wurde Kaffee gereicht und manches vertrautere Wort gesprochen. Frau von Sänger rechnete darauf, jetzt auch von dem jungen Maler einige Vortheile der Unterhaltung zu ziehen und war nicht wenig verstimmt, als dieser nur mit Louis allein zu sprechen Lust zeigte. Sie ging ohne Zwang Beiden nach und duldete nicht, daß sie sich isolirten. Zu ihrem Verdrusse hörte sie hier, daß Siegbert nicht einmal mit ihnen nach Randhartingen zurückfahren, sondern die Nacht, wie schon zwischen ihm und Louis verabredet war, auf dem Schlosse bleiben würde. Für morgen erst versprach er ihr seine Aufwartung zu machen.

Himmel, sagte sie, man ist hier so verlassen von Menschen, [2514] die uns einmal über das Gewöhnliche hinwegführen, daß Sie sich nicht wundern dürfen, wenn ich Ihnen gestehe, ich dulde Ihr Hierbleiben nicht.

Nein, nein! sagte Siegbert lächelnd. Ich muß mich vor dem Reize, Sie zu erobern, bewahren.

Keine Eroberung! erwiederte die hübsche junge Frau. Nur Nächstenpflicht! Haben Sie sich einmal verschlagen in eine Gegend, wo nur Wilde wohnen, so müssen Sie sich Denen widmen, die Sie zähmen sollen ...

Siegbert konnte die pikante kleine vertrauliche Unterhaltung nicht fortsetzen, denn Ackermann, der auf ein Kanapé sich niedergelassen hatte, richtete einen so bedeutungsvollen, theilnehmenden Blick zu ihm hinüber, daß er sich losmachte und zu ihm entschlüpfte.

Frau von Sänger erfuhr von Louis, daß Beide, er und Siegbert, die Absicht hätten, gemeinschaftlich nach dem Forsthause zu wandern. Das Wetter wäre schön. Gegen fünf Uhr wollten sie wieder zurück sein. Siegbert würde dann auf dem Schlosse über Nacht bleiben und am Morgen eine Gelegenheit suchen, nach Randhartingen zurückzukommen.

Dies war genug, um Frau von Sänger zu bestimmen, Siegbert nachzuspringen und ihm zu sagen, daß er ihren Wagen, der in der Schloßremise stünde, hier behalten und mit ihm morgen nachkommen solle. Sie würde mit ihrem Manne in dem großen Wagen des Herrn Anverwandter fahren. Und ehe noch Siegbert ablehnen, danken konnte, war sie schon ihre langen aufgegangenen Locken [2515] schüttelnd zu den Männern hinüber, um diese Anordnung kurz- und rundweg anzuzeigen, es ihren Kutscher wissen zu lassen und sich dann die Locken vor'm Spiegel als Scheitel zu ordnen.

Siegbert erfuhr bei Ackermann, daß Selma schon zu den Kindern des Pfarrers hinüber wäre, wo sie bliebe, bis er einige Geschäfte geordnet und auch vielleicht die neue Begleiterin aus dem Forsthause in Empfang genommen hätte. Einer weitern Nachfrage über seine Beziehungen zu Siegbert's Eltern wich er sonderbarerweise jetzt aus. Er war einsylbig, nach denklich geworden. Fast schien es, als bereute er die Hingebung, die er über Tisch verrathen. Siegbert fand, daß dies Antlitz, das ihn seiner männlich schönen Formen wegen so gefesselt hatte, auch den Ausdruck eines tiefen Ernstes annehmen konnte und erschrak fast vor dem Anflug von Kälte, der ihm plötzlich aus Ackermann's Benehmen entgegen wehte.

Louis flüsterte ihm zu, sie wollten gehen und von der Gesellschaft ohne viel Aufsehens scheiden. Doch gelang ihnen dieser Rückzug nicht ganz. Die Justizdirektorin und ihr Gatte wenigstens sahen scharf genug, um sie nicht so entschlüpfen zu lassen. Louis gab das Versprechen baldigster Wiederkehr und Siegbert gelobte, so lange er in Randhartingen an Herrn Anverwandter male – und Sie sehen, fügte er auf den starken Herrn deutend, es gehört Farbe dazu – wenigstens einen Tag um den andern sich in Plessen sehen zu lassen. Für heute Abend schon zur Whistpartie wiederzukehren, mußte er ablehnen, da er [2516] sich ganz dem Wiedersehen Louis Armand's widmen wollte.

So gelang es denn den Freunden, davon zu kommen. Wie sie allein waren, Jeder sich mit einem Paletot gegen die Novemberluft, die sich schon rauh genug ankündigte, gerüstet hatte und nun sogleich auf dem nächsten Wege dem Forsthause zuschritten, reichten sie sich nochmals die Hand, um ihre Freude über dies glückliche Zusammentreffen auszudrücken. Und die Worte entfuhren ihnen Beiden fast wie im Zusammenklang:

Gott sei Dank! Dies Diner wäre überstanden.

[2517]
8. Capitel. Die beiden Gesellen
Achtes Capitel
Die beiden Gesellen

Ich dachte gleich, sagte Siegbert auf der Wanderung durch das Dorf nach dem Walde zu, daß Sie noch in Plessen sind, lieber Louis! Hier also weilte mein Bruder und erlebte Dinge, die so verhängnißvoll für uns Alle wurden! Ist das also da das Schloß?

Bleiben Sie länger hier! Genießen Sie die Gegend, die viele Schönheiten bietet!

Ich denke in acht bis zehn Tagen drüben fertig zu werden und lasse mich oft hier sehen. Wie lange bleiben Sie noch?

Louis gedachte des einsamen verlassenen Murray und ihrer gemeinsamen so schwierigen Forschungen. Der Blick nach dem Eckfenster that ihm um so mehr leid, als er nicht wagen konnte, Siegbert mit Murray bekannt zu machen, der Fragen und Erörterungen wegen, die davon die Folge gewesen wären.

Ich denke freilich schon in einigen Tagen zurückzukehren. Was sagen Sie zu den neuesten politischen Nachrichten?

Seit wir so plötzlich auseinander kamen, hat jeder Tag [2518] eine neue Überraschung gebracht. Egon tritt wie ein Dictator auf. Wenn ich auch die Kraft liebe, so ist es doch bedenklich, daß sich nur die conservative Partei über diese Auflösung der Volksvertretung gefreut hat.

Ich kann Ihnen nicht sagen, wie ich vor Begier brenne, ihn zu sehen und zu sprechen.

Ich will wünschen, daß Sie ihm gelegen kommen. Als ich einen Tag nach Ihnen reiste, konnt' ich ihn nicht sprechen. Er trägt wie ein Atlas so schwer auf seinen Schultern.

Ich wünschte, er hätte unserm Abende im Rathshause beigewohnt; ich glaube, an dieser Verwirrung der Interessen hätte ihn ein Überdruß ergriffen, wie uns.

Glauben Sie? Egon ist ein Mensch der Thatsachen. Er würde uns Ideologen nennen und unsre Chimären verspottet haben.

Und doch schleicht sich die Erinnerung an jenen Abend in jede freie Lücke des Nachdenkens und füllt sie sogleich ganz. Ich denke immer daran und hefte im Geiste schon jedem Menschen, der mir gefällt, das Kreuz unsres Bundes auf die Schulter.

Auch mir geht es so, sagte Siegbert überrascht von der gleichen Erfahrung. Ich riß mich von der Residenz mit einem heroischen Entschlusse los. Ich mußte es thun, aus Gründen, die ich wol verschweigen soll ...

Louis bat, ohne Sorge zu sein. Und wenn er auch vor ihm Geheimnisse hätte, er wäre darum von seiner Freundschaft nicht weniger überzeugt.

Ich kam nach Schönau, fuhr Siegbert fort, besuchte [2519] dort die Männer, an die mich der plötzlich so auffallend entgegenkommende Propst empfohlen hatte. Man bot mir in der That eine ansehnliche Summe für ein Frescobild in einer neu ausgebauten freundlichen Kirche und billigte meine Pläne für den zu behandelnden Gegenstand. Nachdem fing ich für die Einweihung der Kirche an, einige alte Gemälde von achtbarem Werthe wiederherzustellen und lernte in dieser Zeit manche tüchtige Persönlichkeit kennen. Sonderbar, daß ich Alle in einer gleichen Stimmung fand wie wir. Alle waren auf's lebhafteste an der Zeit und ihren Entwickelungen betheiligt, Wenige aber konnten sich mit dem Parteigeiste, wie er nun einmal geworden, ganz befreunden. Fast Alle warten auf einen politischen Messias, die Einen in Gestalt eines Napoleon, die Andern in Gestalt eines Washington. Ich gestehe, daß das Vertrauen auf Egon nicht gering ist. Man hat ihn schon so oft die Verachtung vor dem bisherigen Laufe der Dinge auf der Tribüne aussprechen hören, daß Jedermann glaubt, er würde einen völlig neuen Staat aufbauen. Mit Ungeduld erwartet man das Wahlgesetz, das er, wie man vermuthet, oktroyiren wird. Und doch bemitleidet man ihn, da er mit denselben Steinen, die er eben abgetragen, doch wieder wird bauen müssen. Mir nun, dem Maler, glaubt Jedermann sagen zu müssen, daß die Künste in solcher Zeit keine Freistatt mehr genössen und ergeht sich in Anklagen gegen die Welt, die unwillkürlich mir doch den Plan meines Bruders als eine große, in der Zeit schlummernde Idee darstellen.

[2520] O gewiß, sagte Louis. Ich gestehe Ihnen, bin ich zerstreut durch Manches, was mir seitdem begegnete, oder ist es die Folge jenes Abends, meine Gesichtskreise haben sich erweitert. Ich fühle mich höher gestellt in dem Standpunkt, von dem aus ich die Schwierigkeiten des Augenblicks beurtheile. Und ich wiederhole Ihnen, ich habe eine Neigung, Genossen für die Ritterschaft des Geistes zu gewinnen, die unwiderstehlich ist.

Das ist auch mein Fall. Und ich sollte meinen, der Drang, Proselyten zu finden, ist das beste Kennzeichen einer in uns lebendig gewordenen Wahrheit.

Ich sehe, fuhr Louis fort, so viele Menschen, die außerhalb der Tagesdebatte stehen. Warum sollen sie nur stumm reflectiren? Warum soll ihr Geist, ihre Gesinnung daliegen wie das todte Pfund in der Erde? Sie brauchen ja nicht Hand anzulegen, irgend in den Gang der Geschichte einzugreifen ... nein! Es genügt schon, daß Gesinnung an Gesinnung sich kette und der Geist selbst aneinander sich entzünde. Unter den Gästen, die Sie heute sahen, würd' ich wenige für würdig halten, zu Rittern vom Geiste geschlagen zu werden, aber die, die ich meine, würde das vierblättrige Kleeblatt, das Symbol des seltenen Fundes, wohl zieren.

Hat Ihnen das Symbol gefallen? fragte Siegbert, der sich erinnerte, daß auf dem Heimwege vom Rathskeller davon gesprochen wurde.

Ich dachte mir, sagte Louis, als Ihr Bruder von dem Kreuze und seinen Enden sprach, wie meine Schwester [2521] mit ihren Freundinnen spazieren ging. Man wandelt fröhlich und an der Abendsonne sich ergötzend über den grünen Wiesenplan und das Auge sucht unter den Tausend Dreiblättern nach einem Vierblatt. Man findet es, man jubelt, man ruft die Genossen. Ein Vierblatt! Jeder will es sehen, Jeder bewundert das Spiel der Natur und Jeder wünscht Dem, der das Vierblatt gefunden, Glück; denn ein vierblättriges Kleeblatt bedeutet Glück.

Und wem möchten Sie die vier Punkte auf die Schultern drücken von Denen, die dort heute zusammengewürfelt waren?

Zuerst dem edlen Vater des schönen Mädchens –

Ackermann! Entsinn' ich mich doch vergebens, in meiner Kindheit je von einem Manne dieses Namens gehört zu haben!

Ich fand, daß er gestern, als ich Ihrer erwähnte, mit größerer Herzlichkeit der Ihrigen gedachte, als heute, wo er sich Zwang anzulegen schien –

Er wies meine Freundlichkeit eben fast zurück –

Auch dafür muß er irgend einen Grund haben; denn dies ist ein Charakter, der niemals eine Laune über sich Herr werden läßt –

Entsinnen Sie sich, daß ich schon an jenem Abende äußerte, wie wenig wahren Antheil wir Brüder für unsern Prozeß voraussetzen dürfen ...

Grübeln Sie darüber nicht! Wüßte er, welche Gedanken Ihr Bruder mit dieser Erbschaft verbindet, wie groß er die an ihn gestellte Mahnung der Zeit auffaßt, wie er mit [2522] diesen Hülfsmitteln den in Trümmer zerfallnen Tempel der Menschheit wieder aufbauen will –

Er würde uns Phantasten nennen! Ihn erinnert das vierblättrige Kleeblatt vielleicht nur an die Ökonomie –

Den Vater eines solchen Mädchens?

Selma! Ein Kopf, den ich wol lieber malte, als die Stierphysiognomie drüben in Randhartingen ...

Auch auf den Pfarrvikar Oleander möcht' ich rechnen und vielleicht den Arzt Reinick, der so wenig und so milde und so klar sprach.

Auch mir prägten sich in Schönau, einem kleinen aber sehr wohlhabenden Orte, viel ernste und ein inneres Leben verrathende Physiognomieen ein. Nur schade, daß man sie aus der Masse solcher Köpfe, wie jener Drossel, erst ausscheiden muß.

Es ist erstaunlich, sagte Louis, daß ich einen Republikaner, wie diesen exaltirten Mann, noch vor kurzer Zeit als eine große Stütze meiner Vorstellungen über die umzuändernde Gesellschaft angesehen hätte, und doch glaub' ich gewiß zu sein, daß man mit ihm zwar das Alte zerstören, aber Neues nicht aufbauen könnte. Er würde vor allen Dingen darnach trachten, in der allgemeinen Verwirrung erst seiner Verbindlichkeiten, von denen ich höre, daß deren viele auf ihm lasten, ledig zu werden und nachher ein ebenso gewaltsamer Despot werden, wie die Despoten waren, die er stürzte. Mein Vaterland gibt ja für diese traurige Thatsache täglich die Beweise. Die eine Partei verdrängt die andere und bedient sich, um sich zu [2523] behaupten, derselben gewaltsamen Mittel, die die frühere Partei so gehässig machte. Und Alle berufen sich, mich überglüht es vor Zorn, wenn ich daran denke, Alle berufen sich auf die Nothwendigkeit der Ordnung, die Herrschaft der Gesetze, den Zwang der Disciplin. Diese Elenden! Nur deshalb wollen sie Gehorsam, um den Staat für sich ausbeuten zu können und Mittel zu sammeln, ihren vorauszusehenden Sturz auf die Länge minder schmerzlich zu ertragen.

Bei diesen Worten lenkten Louis und Siegbert in den Wald ein und gingen denselben Weg, auf welchem im Sommer, an einem Vormittage, als das goldne Sonnenlicht durch die grünen Zweige schimmerte, vom Jägerhause zurückkehrend, durch Ackermann angeregt, Dankmar so lebhaft von der Nothwendigkeit eines Erkennungszeichens Gleichgesinnter überzeugt war und über seinen Bund der Ritter vom Geiste nachdachte.

Es ging ein scharfer, kalter Wind. Das welke Laub wurde wirbelweise erfaßt und fortgeschleudert. Geknickte Zweige lagen am Wege oder hingen noch halb, oft gefährlich, an den Stämmen.

Louis erzählte nochmals ausführlicher sein Vorhaben mit Franziska Heunisch, die Siegbert dem Namen nach schon kannte. Hatte er doch das ihr bestimmte Gedicht:

Des Volkes Tochter, arme Bettlerin! übersetzt. Er fragte Louis, ob er von ihr wie von seiner Geliebten sprechen dürfe?

Louis schüttelte den Kopf.

[2524] Dies verlegene Schweigen erinnerte Siegbert so lebhaft an Das, was in seiner eignen Brust verschlossen lebte, daß er trüben Blickes über die welken Blätter hinausschaute und nach einer Weile, wie für sich selber, sagte:

Die erschlossene Knospe ist das Geständniß der Liebe! Nicht zu spät komm' es, aber auch nicht zu früh!

Und wieder nach einer Weile sagte er:

Wissen Sie, daß Helene d'Azimont nach Italien ist?

Ich erfuhr es.

Aber erstaunen werden Sie, wer sie begleitet ... Die junge Tochter der Fürstin Wäsämskoi ... Olga ...

Louis schwieg. Er hatte von Egon gehört, daß Siegbert Wildungen im Hause der Schwester Helenen's geliebt wurde ...

Was denken Sie von einer solchen Schule des jungen Mädchens? sagte Siegbert bewegt. Ich läugne nicht, daß Olga, von den ersten Regungen ihres jungen Herzens irre geführt, mir Beweise mehr kindlicher, als denkend empfindender Liebe gegeben hat ...

Die Eifersucht auf die Mutter hatte die Flamme genährt ... sagte Louis zurückhaltend.

Auch Das ist der Welt bekannt? rief Siegbert mit schmerzlicher Erregung. Alle, Alle sahen es. Nur ich Thor war verblendet und wiegte mich, dem trägen, schlummernden Goldkäfer gleich, in dem Kelche der Blumen. Wie bereu' ich diese glücklichen Tage! Wie viel qualvolle Stunden werden ihnen folgen!

[2525] Unerklärlich ist, wie Olga entfliehen konnte!

Doch nicht! sagte Siegbert. Rudhard hatte mit Gewalt beschlossen, mit ihr und den andern Kindern zu reisen. Noch hör' ich, daß ein von ihrem Vater ihr bestimmter Verlobter eingetroffen sein soll. Es blieb ihr nur die Wahl, entweder mit Rudhard zu reisen oder sich mit Otto von Dystra zu verloben.

Otto von Dystra? sagte Louis überrascht. Ein russischer Diplomat? Aus Amerika?

Ganz recht.

Ein Freund Ackermann's, ein Bekannter ...

Fast hätte Louis Murray's Namen, den er doch verschweigen wollte, ausgesprochen.

Wie sie Alle bestätigen werden, fuhr Siegbert fort, ein Mann, der nicht ohne Bedeutung sein soll.

Ein Sonderling! Unstät – Reisender! Überdies häßlich ...

Menschen von Geist sind nicht häßlich.

Einer solchen Verbindung könnten Sie das Wort reden?

Rudhard verschwieg mir nichts von den Wunderlichkeiten dieses Mannes; doch mußte er ihn einen Philosophen nennen und gestand mir, daß grade eine solche Natur im Stande sein würde, Olga's Erziehung zu vollenden.

Nein! Nein! Abscheuliche Sklaverei! Erziehung in der Ehe! Philosophie, wo das Herz glücklich sein will! Wie lob' ich das entschlossene Mädchen, daß es den Muth hatte, zu entfliehen und das Herz zu retten, in dem Siegbert Wildungen's Bild lebt!

[2526] Sie brauchen fast dieselben Worte, lieber Louis, sagte Siegbert lächelnd, wie sie selbst ...

Sie schreibt Ihnen?

Aus der ersten Stadt, wo sie rastete. Es sind die lyrischen Ergüsse eines schwärmerischen Mädchens, das durch die Welt reist, um sie mit ihren Idealen zu vergleichen. Ich würde diese Wendung mit Freuden verfolgen, wenn nicht auch Helene von Olga mit leidenschaftlicher Liebe angebetet würde. O nur Helene weiß zu lieben, schreibt sie mir. Helene ist die Liebe selbst. Die himmlische, die in diese abscheuliche Erde nicht paßt! Egon ist einer von diesen herzlosen Göttern der Erde, die Menschenopfer verlangen. Er ist kein Teufel und kein überirdischer Gott, er ist nicht ganz böse und nicht ganz gut, nur er selbst ist er, der Schatten seines Schattens, das Echo seines Echos, einer der herzlosen Dämonen, die Alles wegzuspötteln, wegzulächeln wissen und an Wahrheit erst glauben, wenn einmal ein betrogenes Weib den Dolch erhebt und sie für die Lüge ihres Geistes den Stahl einer wirklichen Rache empfinden läßt!

Ums Himmelswillen, rief Louis lachend, Das ist ja ein Plagiat! Das sind Worte, die Olga Helenen nachschreibt und Helene hat sie von der Phädra oder sonst einer wilden Heroine aus dem Théâtre Français!

Ich würde lachen, wie Sie, Louis, bemerkte Siegbert, wenn nicht diese Stylübungen eine neue Wendung erhielten durch den Trost, den Helene d'Azimont finden wird, suchen muß. Leidenfrost schreibt mir, daß der [2527] Maler Heinrichson, Sie kennen den schönen, allen Frauen gefährlichen Mann, nach Rom ginge, wie man sagte, um sich dort mit Gräfin Helene d'Azimont ein Zusammentreffen zu geben.

Verläumdung! rief Louis. Befürchten Sie Das nicht! Die Gräfin war leichtsinnig, als sie keinen Mann gefunden, der der Liebe einer Frau würdig war. Sie fand aber Egon. Trotz der Schmerzen, die mit diesem ihrem Glücke andern Menschen bereitet wurden, versichre ich Sie, daß nach der Liebe eines solchen Mannes Helene nicht im Stande ist, Gefallen zu finden an einem so glatten Dandy, einer solchen geleckten Eleganz.

Sie irren sich, Louis! Heinrichson besitzt Esprit. Er weiß mit den Worten Fangball zu spielen und besitzt jene blasirte Kälte, die, mit Geist und schöner Figur verbunden, allen Weibern gefällt. Dazu ist er Maler. Ich erkenne an mir selbst, wieviel wir bei dem Glücke, das wir in der Welt machen – abscheulich; ich spreche wie ein Don Juan –

Fahren Sie fort! Ich kenne die Maler. Ich war in Paris täglich mit ihnen in Verbindung. Ich weiß, was sie ihrer Kunst zu verdanken haben.

Nun gut. Auch diesem Heinrichson fließen alle Vortheile seines Talentes zu. Dabei kann man nicht umhin, sein Talent anzuerkennen. Er führt einen geschmeidigen, anmuthigen, farbengrellen Pinsel. Es ist Lust und Leben in Dem, was er auf die Leinwand wirft. Was er auch malt, blenden, fesseln wird es immer. Befriedigen freilich kann [2528] es nur Die, die von Effekten gepackt sein wollen. Ich weiß nicht, ob Heinrichson in Rom bei den Kunstgenossen Glück machen wird. In Paris würde er's. Für Rom fürcht' ich, daß man ihn oberflächlich und frivol nennt. Er wird sich aber Anerkennung verschaffen durch Witz, Satyre. Man wird Angst vor ihm haben, weil er treffende Urtheile schleudern kann. Genug, mein Freund, nehmen Sie noch ein seltnes Sprachtalent, Conversationston im Salon, vortreffliche Toilette, vornehme Empfehlungen hinzu und ich versichre Sie, er wird Helenen fesseln, für Egon entschädigen, eine Verbindung mit der Gräfin anknüpfen und Olga, dies junge, noch reine Gemüth, Olga, dieser Engel, soll jetzt schon Zeuge solcher elenden modernen Verirrungen werden, soll ...

Sie sehen zu weit! unterbrach Louis den trostbedürftigen Siegbert, der seine lebendigste Liebe für Olga nicht verbergen konnte. Ich kann nicht glauben, daß ein Weib, das einen Egon liebte und von ihm wieder geliebt wurde, so sehr das Bedürfniß eines zärtlichen Verhältnisses verrathen könnte, um diesen Tausch einzugehen.

O, rief Siegbert, in mir erhebt sich Alles, Alles, um diesen Verdacht zu bekämpfen. Jede Fiber meines Herzens spricht für die Unmöglichkeit solcher Gesinnungslosigkeit des Herzens am Weibe überhaupt, und doch klingen mir die Worte im Ohre, die Dankmar einmal zu mir sprach: O Das sind die Frauen, die mit ihrem Herzen Alles möglich machen können, wie mit Handschuhen, die man wäscht, färbt, umkehrt, wie mit Polypen, die man aufschneidet, [2529] herumwendet und die dennoch leben, auch wenn der Bauch ihr Rücken, der Rücken ihr Bauch geworden!

Bitter, sehr bitter und gewiß oft wahr! rief Louis erschreckend. Aber geben Sie diese trübe Vorstellung auf! Hoffen Sie auf eine schönre Entwickelung des jungen Mädchens, das Ihnen so theuer ist! Oder treten Sie mit Entschiedenheit bei der Fürstin auf ...

Bei der Fürstin? wiederholte Siegbert in einem Tone, der Louis bestimmte, fragender, als er sich sonst erlaubt hätte, auf seinen Freund zu blicken.

Weshalb hab' ich mich wol entschlossen, sagte Siegbert, das geistlose Gesicht jenes reichen Gutsbesitzers in Randhartingen zu malen? Wissen Sie, daß ich von Schönau geflohen bin! Die Fürstin ließ mich einen Besuch in dem kleinen Orte erwarten.

Himmel! rief Louis erschreckend.

Wohl wußte sie über diesen Entschluß, fuhr Siegbert fort, den Mantel einer glaublichen Entschuldigung zu werfen. Sie sprach von einer Verwandten ihrer Mutter, die in der Nähe wohne, von Otto von Dystra's Verlangen, mich kennen zu lernen, doch mit den Vorwürfen, die sie mir über meine Flucht machte, verglichen, glaub' ich fast, sie will sich selbst über zeugen, ob ich wirklich in Schönau bin oder nicht gar mit Olga und Helenen irgendwo schwärme ...

So wünsch' ich, sagte Louis lachend, sie kommt nach Schönau, findet Sie nicht und reist, wie es sich gebührt, ihrer Tochter nach Italien nach, einem Aufenthalt, an den sie nicht glauben will.

[2530] Das Seltsamste, schreibt mir über diese Dinge mein Bruder Dankmar, das Seltsamste ist dabei, daß in diesen Frauenköpfen von den Lebenspflichten des Mannes so gut wie gar keine Vorstellung existirt. Der Weltbau kann in Trümmer gehen, wenn nur noch Platz zu ihrem Glücke übrig bleibt. So unersättlich sind diese Leidenschaften in der großen Welt, daß man zuletzt wirklich mit Wonne vor einem beschränkten Mädchen stehen bleibt, das noch Sternblümchen zerzupft und dabei fragt: Liebt er mich, liebt er mich nicht?

Mit diesen Worten schwenkten die beiden Freunde an der Eiche rechts zur Wiese hin, an deren Rande das Forsthaus vor ihnen lag. Es war schon dunkel geworden. Doch sah man unten kein Licht. Die Hunde bellten der Annäherung der Fremden entgegen.

Heunisch wird zu Hause sein! sagte Louis und beschleunigte die Schritte.

Ich bin begierig, diese stille Liebe kennen zu lernen, sprach Siegbert erwartungsvoll und verschob seine Mittheilungen aus Dankmar's und Leidenfrost's Briefen auf den Abend, wo er mit Louis im Schlosse allein zu sein hoffte.

Wir sind allein! bestätigte Louis, nicht ohne Verlegenheit, wie er es mit Murray halten würde.

Fränzchen hatte die Ankommenden trotz der Dämmerung erkannt und kam ihnen unter der Hausthür fragend entgegen.

Siegbert freute sich an dem zarten, blühenden Mädchen [2531] und dem romantischen Aufenthalte. Der Wald, die Wiese, das Jägerhaus, die liebliche Bewohnerin schienen ihm zusammenzupassen wie ein Märchen von Grimm.

Für ein Bild sehr romantisch, sagte Louis. In der Wirklichkeit ist es aber besser, daß Fränzchen in den Ullagrund zieht. Herr Ackermann ist einverstanden und erwartet Sie schon jetzt, schon für heute. Er ist in Plessen und nimmt Sie sogleich mit.

Franziska sprach so laut ihre Freude aus, daß Heunisch, der eben mit der Pfeife aus der Hausthür trat, schon unter der Thür hörte, daß der neue Pächter eingewilligt hatte. Er dachte dabei mit Spekulation an den alten Sandrart und hatte seine vollkommenste Freude an diesem Ausgang.

Jetzt aber rasch! sagte Louis. Das Nöthigste trag' ich selbst und das Übrige schaffen Sie nach, Herr Heunisch!

Da liegt schon vorläufig ein Bündel, warten Sie, ich lege meine Pfeife weg –

Bleiben Sie nur, bedeutete ihn Louis, Das trag' ich selbst, da ist keine Hülfe nöthig.

Damit hob er den Bündel auf, der mit der nöthigen Wäsche versehen war.

Franziska sagte:

Wir wechseln ab. Nur fort! Adieu Onkel! Behüte Sie Gott und kommen Sie gleich morgen!

Heunisch hatte nicht das geringste Mistrauen in dies Verhältniß zwischen Franziska und dem jungen Fremdling, [2532] der sich ihrer Angelegenheiten so theilnehmend annahm. Er sagte:

Die Katze kriegt doch noch ein Pfötchen? Sieh, wie sie sich anschmiegt! Komm, Mutz, gib dein Patschchen! Der fremde Herr macht sie confus. Ja, Herr, so wohnen wir hier im Walde ... sehen Sie sich um! Schießen Sie gern? Aber Fränzchen, doch noch ein Licht! Ei, willst mich im Dunkeln lassen? Ein Licht, daß der Herr da sieht, wie's bei einem alten Jägersmann sich wohnen läßt. Den Eilf – Ender da an der Wand schoß ich selbsten ...

Louis machte Licht mit einem Streichfeuerzeuge, das er nach seinen praktischen Gewohnheiten immer bei sich führte.

Ich gehe nicht mehr in die Küche, flüsterte ihm Fränzchen zu, kommen Sie nur!

Siegbert sprach einiges romantische Durcheinander vom freien Jägerleben und vom lust'gen Waldrevier. Er betrachtete die Bilder, die Vogelkäfige, den Eilf – Ender und die Rehbockhörner über der Thür, die Büchsen an der Wand, Fränzchen, das mit ihrem Bündel stand, wie er sich Goethe's Dorothea gedacht haben würde, nur war sie kleiner, aber lieblicher und wohl frischer, wie jene Emigrantin gewesen sein mag.

Es gelang Heunischen nicht, den Auszug noch länger hinzuhalten. Man verließ das Haus. Er begleitete die Scheidenden noch die Wiese entlang. Er hatte so ein dringendes Verlangen, so eine Freude über die Nachricht der Erlaubniß des Generalpächters, Fränzchen in die [2533] Nähe des alten Sandrart zu bringen, daß er über diesen Abschied ordentlichen Jubel empfand und versicherte, ihr morgen alle ihre andern Habseligkeiten nachzubringen.

Was ist Das für ein Vogel? fragte Siegbert, sich plötzlich umdrehend.

Der so lacht? meinte Heunisch und lachte selbst. Eine Lachtaube ist es nicht, Herr.

Fränzchen zog Louis, der den Bündel trug, mit Gewalt weg.

Louis hatte aber auch ein grelles, thierisches Auflachen gehört und blieb stehen.

Das ist die Urschel! meinte Heunisch und konnte nicht anders, als selbst über die Alte lachen, die ihrer Rivalin, ihrem Störenfried, der nun abzog, einen Spott nach ihrer Art nachsandte.

Meine alte Haushälterin, setzte er für Siegbert, der über diese Bosheit hier in Gottes stiller Natur erstarrt war, hinzu. Meine alte Ursula Marzahn! So wie ich sagte:

Fränzchen kommt! kroch sie oben auf ihre Kammer und legte sich in's Bett. Nun sie hört: Fränzchen geht! kichert sie hinter uns her. Alte! schweig! rief Heunisch jetzt hinauf und klatschte, wie man etwa einem Thier thut, das man verscheuchen will, einige Male in die Hände. Da hörte das boshafte Lachen auf ...

An der Eiche, unter der einst Dankmar von dem Bunde der Guten und Denkenden zuerst geträumt hatte, nahm Heunisch Abschied, nach der Art dieser Leute umständlich, ohne fertig werden zu können und die Rührung durch [2534] tausend Kleinigkeiten verdeckend. Fränzchen erhielt darauf von Siegbert den Arm angeboten. Warum sollte sie ihn nicht annehmen! War sie doch in einer Stimmung, als hätte sie sich jetzt allen Menschen an den Hals werfen und rufen sollen: Ich lebe wieder! Ich bin gerettet!

Louis regte eine Aufklärung Siegbert's an. Man erzählte ihm, was diese Freude begründete. Da sah er wohl, ein wie glückliches Wesen er am Arme führte. Fränzchen trat behend wie ein Reh und hing ihm wie im Tanz so leicht am Arme. Sie hatte, da es kalt war, ein Mäntelchen über und einen Strohhut mit rothem Bande, der die Blässe ihres Gesichts noch zarter hervorhob. Sie erzählte, wie sie die Nacht in Ängsten zugebracht hätte und heute früh, während Heunisch aus war, hätte sie jeden Augenblick erwarten können, die böse Frau würde die Treppe heruntergeschlorrt kommen und sie wieder so durchbohrend und hexenartig ansehen wie gestern.

So und ähnlich plaudernd und dabei überrasch vorwärtsschreitend kamen sie mit dem fünften Glockenschlage in Plessen richtig an. Es war die höchste Zeit, denn vor dem Pfarrhause sahen sie schon den kleinen Wagen Ackermann's und bei dem Licht in der Stube harrende Figuren am Fenster. Näher kommend unterschied Louis Ackermann, Oleander und Selma. Am Amthause war schon Alles still.

Eintretend in das Pfarrhaus und in die Wohnstube gleich linker Hand übergab Louis, der den Bündel auf die Hausflur geworfen hatte, Ackermann und Selma die neue [2535] Schutzbefohlne. Ackermann verrieth durch einen flüchtig musternden Blick, daß ihm das Mädchen gefalle und Selma bot ihr freundlichst die Hand.

Da hab' ich ja, sagte sie, was ich wünschte! Wir wollen fröhlich zusammenleben und uns schon gut vertragen.

O Fräulein ... stammelte Franziska.

Und so prächtigen Putz machen Sie! Wie schön ist das Band am Hute aufgesteckt! Ich verstehe gar nichts von diesen Dingen, auf die die Leute so streng sehen. Heute am Tisch bin ich so gemustert worden, daß ich immer dachte: Wartet, das nächste Mal sollt Ihr sehen, daß ich die neueste Mode trage. Ich dachte an Sie, liebe Franziska.

Wie sind Sie gütig!

Ich gestatte Euch, Eure Toilettengespräche im Wagen fortzusetzen, während ich vielleicht schlafe, bemerkte Ackermann. Es wird zu finster. Gute Nacht, Frau Pfarrerin.

Großer Stromer! Dein Weib wischte sich erst die Hand ab, ehe sie die ihr von Ackermann gebotene annehmen konnte. Die Küche, die Mägde, die Hühner, die Eier, das Füttern, das Waschen, das Putzen ... und die Kinder! Die Kinder! Die Kinder!

Oleander sagte, daß morgen zeitig eingeholt werden müßte, was heute versäumt wäre.

Selma antwortete nichts darauf. Sie schien zerstreut und noch nicht frei von den beklemmenden Gefühlen, die sie heute in Louis' Nähe drückten. Siegberten, der einige [2536] freundliche Worte mit Ackermann gewechselt und von diesem eine herzliche Einladung zum Besuche im Ullagrunde erhalten hatte, verneigte sie sich flüchtig, aber mit einem jener wohlwollenden Blicke, die nur so im Vorüberstreifen hingeworfen an Frauen immer bezaubern müssen. Leidenfrost hatte einmal zu Siegbert diese Blicke, die auch Melanie sehr in der Gewalt hatte, wenn sie durch das Berg'sche Atelier schwebte, pantheistische genannt und seine Bezeichnung so erklärt: Die Frauen wollen gewissermaßen mit diesen Blicken sagen: Freund, auch du bist liebenswürdig und ich würde dich gern nehmen, wenn ich nicht schon schwärmerisch liebte und bei unsern düstern monotheistischen Ideen nur Einen Gott und keinen Andern neben ihm haben dürfte!

Louis reichte dem Knecht das Päckchen hinauf, das er neben sich legte. Im Wagen war es ziemlich eng; denn statt der kleinen Hedwig, die Ackermann zurückgebracht hatte, ging heute der mittelste Knabe mit, Waldemar, dessen Pathe der alte Fürst Waldemar von Hohenberg gewesen war. Alle zwei, drei Tage wechselte Selma unter den Kindern der Frau Pfarrerin ab, die noch an dem Wagenschlage stand und für die Liebe dieser guten Menschen dankte. Ackermann, der noch immer in einer gedrückten, nachdenklichen Stimmung blieb, schien froh, als sich endlich sein Gaul in Bewegung setzte. Fränzchen reichte voll Innigkeit und freudigen Dankes Louis noch die Hand, während der Wagen schon rollte.

Louis und Siegbert mußten, da sie ihre Hüte in dem [2537] Pfarrhause gelassen, wieder zurück eintreten und Oleander mochte sie nun nicht weglassen.

Sie wissen, was Sie mir gestern versprochen haben, sagte er zu Louis.

Louis, dem es peinlich war, Murray aus seiner einsamen Ruhe aufzuschrecken, dachte sehr lebhaft daran, ob nicht Siegbert, er und Oleander den Abend zusammen zubringen könnten.

Herr Oleander wollte die Güte haben, mir von seinen Gedichten vorzulesen ... bemerkte er mit fragendem Blicke nach Siegbert hin.

Dieser erwiderte sogleich:

Ein Dichter dem andern! Wissen Sie, Herr Oleander, daß Louis die artigsten französischen Verse macht und ich sie zu übersetzen versuche?

Diese Nachricht erfreute den schwäbischen Vikar so, daß er nicht ruhte und die Freunde durchaus bei sich zu behalten erklärte.

Frau Pfarrerin, Sie schicken uns einen Thee auf mein Zimmer, heizen ein und das gleich! Erst hab' ich noch einen kleinen Gang. Dann kommen Sie hinauf oder gehen Sie sogleich selbst und machen Sie sich's oben bequem!

Louis sagte, er zöge vor, erst auf das Schloß zu gehen und Sorge zu tragen für das Nachtlager seines Freundes. Siegbert bat, keine Umstände zu machen. Louis, der nur gern ein Wort mit Murray sprechen, den armen Verlassenen, Einsamen begrüßen wollte, hielt Siegberten zurück und ging mit Oleander, der eine Kranke, die Müllerin in [2538] der Mühle, besuchen wollte, hinaus in die inzwischen vollständig herabgesunkene Nacht.

Wie trieb es Louis hinauf zu Murray! Es lastete auf ihm wie eine Schuld der Lieblosigkeit. Er hatte ein Fest genossen, einen Freund gefunden, das Glück gehabt, Franziska glücklich zu machen und da oben sitzt in stiller Verlassenheit der freudlose, nur in sein Inneres blickende, wehmüthige, gewissenskranke Alte, der dies Erdenleben nur noch für eine letzte Prüfung ansah und alles Trauerbringende für seine Bestimmung! Es trieb Louis, als hätte er ihm um den Hals fallen und diesen ganzen reichen, glücklichen Tag abbitten müssen.

Auf dem Emporwege begegnete ihm Brigitte, mit der er rasch besprach, daß sie noch ein Zimmer zu öffnen, noch ein Bett zuzurichten hätte. Und ob das Fuhrwerk der Frau von Sänger die Nacht über versorgt wäre? Alles Das fragte und bestellte er rasch hintereinander. Die Alte nickte und gab auf Jedes ihren höflichen Bescheid. Nur eine Bemerkung war ihm peinlich. Der Amtsvoigt Pfannenstiel wäre bei ihr gewesen und hätte nach dem alten Herrn oben gefragt, wäre auch selbst zu ihm gegangen und hätte ihn ersucht, der Ordnung wegen, seinen Namen und seinen Stand aufzuschreiben.

So! So! sagte Louis und wollte seine Besorgniß verbergen. Das ist ja Alles in der Ordnung. Vergeßt das Bett nicht!

Nun erst hatte er recht Eile, zu Murray zu kommen.

Er fand diesen wirklich in einiger Bewegung und begrüßte [2539] ihn sogleich mit den heftigsten Vorwürfen gegen sich selbst.

Ich lasse Sie allein! Verurtheilen Sie mich! Ich bin ohne Aufmerksamkeit für meine Freunde! Vergeben Sie mir!

Beruhigen Sie sich, lieber Louis, sagte Murray mit weicher Gelassenheit. Ich bin nie in Verlegenheit, mich mit mir selbst zu beschäftigen. Nur wenn ich grade sagen soll, was ich treibe, beunruhigt mich's. So vorhin, wo ich der Ortspolizei über Sie und mich, der Ordnung wegen, einen Nachtzettel habe ausfertigen müssen ...

Über Sie und mich? Wenn auch ich verdächtig erscheine, beruhigt mich diese Nachfrage. So sollte nur eine Förmlichkeit erfüllt werden.

Besorgten Sie, daß mein Erscheinen auf diesem Schlosse und meine Zurückgezogenheit auffällt? Hörten Sie etwas darüber?

Man bedauerte, daß Sie nicht zu dem Diner kamen. Niemand verlangte, daß ich von Ihnen mehr sagte, als daß Sie ein älterer Freund und Gönner meiner heute über Gebühr gefeierten Person sind.

Louis theilte nun Murray in gedrängter Kürze seine Erfahrungen mit. Ackermann's Benehmen in dieser Gesellschaft schien Murray recht ein sprechender Beweis für den Charakter, den er in ihm schon am Missouri erkannt hatte.

Ich sehe die Ironie auf seinem Antlitz! sagte er. Denn Sie müssen wissen, daß mir Ackermann oft erschien wie ein den höchsten Ständen angehörender Flüchtling. Sein [2540] Incognito war sozusagen wie das eines Fürsten. Bei jeder Lüftung seines Rockes glaubte man einen Stern auf der Brust zu sehen ...

Louis erzählte von den Huldigungen, die man dem Fürsten Egon dargebracht hätte, verweilte aber am längsten bei der überraschenden Begegnung mit Siegbert Wildungen. Das, was Murray am meisten interessiren mußte, Fränzchen's Übersiedlung aus dem Forsthause, schien er ganz zu vergessen ...

Endlich kam auch Louis auf diese und konnte nicht umhin, von Murray's Schwester eine Schilderung zu machen, die Niemanden mehr bekümmerte als diesen selbst.

Ist sie, sagte er, wie ich fast für gewiß annehmen muß, in einem kindischen Zustande, denkt ihr Geist nur an das Nächste, wie soll ich von der Vergangenheit etwas erfahren können! Was hoffen Sie überhaupt von meinen Absichten, lieber Louis? Ich sitze hier still in diesem Eckzimmer, lese, gravire, klimpere auch auf dem verstimmten Flügel ... wird der Zufall mir Das, was ich suche, in den Schooß werfen?

Ich fühle Ihren Vorwurf, Murray –

Keinen Vorwurf, junger Freund! Wenn ich mir zum Neide auch manchmal eine Tugend, die uns zum Guten spornen kann, denken muß, so kann ich wohl sagen: Wie beneid' ich Sie um diesen frischen sorglosen Genuß Ihrer kleinen anregenden Begegnisse! Wie frisch, wie herbstlich angeröthet sehen Sie aus! Wie heiter scheint Sie all' dies Einblicken in fremde Herzen und fremde Interessen [2541] zu ergreifen! Und Sie lieben, Freund! Sie sahen einem jungen Mädchen in's Auge! Wie könnt' ich da verlangen, daß Sie auf die Buße denken, die ich mir für alte Sünden auferlegte. Vergeben Sie, daß ich Sie Ihren Fuß in meine finstern Kreise setzen ließ!

Murray! Murray! Was reden Sie? Ich Ihnen vergeben? Vergeben, daß Sie mich in das innerste Getriebe Ihrer geläuterten Seele haben blicken lassen? Ach, ich lauer, träger Freund! Morgen versprech' ich Ihnen, daß wir Hand anlegen und zu einem Ziele kommen. Ich bin nicht so leichtsinnig gewesen, nur an mich zu denken. Ich habe überlegt ...

Mit Vorsicht?

Ich denke, wir knüpfen an das verstimmte Instrument an. Ich gehe und lade Ihren blinden Bruder ein mit seinem Sohne, der nicht hört ...

Aber sieht ...

Das ist schlimm! Ich möchte, Zeck träte hier ein – Sie sitzen in einer Ecke und beachten unser Gespräch – Ich beginne von Zeck's Verhältnissen und lenke immer mehr auf den Punkt hin, wo ich etwa mich stellen könnte, als wenn ich von Ursula Marzahn Dinge gehört hätte, die ich von ihm bestätigt wünschte ...

Dies System macht einem Inquirenten Ehre! sagte Murray lächelnd. Aber ich fürchte die Gegenwart eines Solchen, der mich sehen kann ...

Ich will etwas ausdenken, den Sohn zu entfernen und nur den Alten im Zimmer zu behalten ... er ist trotz seiner [2542] Blendung von einer bewunderungswürdigen Geschicklichkeit und wird an dem Instrumente bald erkennen, was wir wünschen –

Wohlan! Es gibt keinen andern Weg! Und wissen Sie, daß ich das Nächste, Beste wählen muß aus einem mir plötzlich doch aufgestiegenen, sonderbaren ängstlichen Gefühle ...

Fürchten Sie etwas?

Wenn ich den Gedanken an meine Sicherheit Furcht nennen soll, so fürcht' ich wirklich ...

Weil man nach unsrem Namen fragte?

Nein, weil man mich beobachtet. Sehen Sie dort zum Garten hinüber, hinter den Büschen!

Louis stand betroffen auf und wollte an das Fenster, auf das Murray deutete.

Murray hielt ihn aber mit den Worten zurück:

Nein! Nicht so! Erst nehmen Sie das Licht und stellen Sie es an ein andres Fenster! Dann werden die Lauscher glauben, daß wir dort stehen, und da hervortreten, wo wir sie sehen können, ohne gesehen zu werden.

Ich bin erstaunt! ... sagte Louis, stellte das Licht gegen ein andres Fenster und folgte Murray hinter eine Gardine.

Sehen Sie hinter den entlaubten Büschen jene beiden Männer?

Nicht deutlich. Es ist zu finster ...

Warten Sie eine Weile, bis sich Ihr Auge an die Dunkelheit gewöhnt hat. Sehen Sie nur starr in die Nacht hinaus!

Ich erblicke etwas –

[2543] Die Büsche bewegen sich –

Ich erblicke zwei Männer ... in niedergedrückten Hüten –

Die sich vorbeugen –

Und die Fenster fixiren! Das sind Landstreicher! Seien Sie unbesorgt! Ich habe schon gestern von Heunisch gehört, daß Anzeige gekommen ist, man möchte alle Fremden streng bewachen –

Schon gestern umschlichen diese beiden Männer das Schloß –

Lassen Sie! Ich gehe hinunter ...

Um's Himmelswillen! Setzen Sie sich keiner Gefahr aus!

Die Männer entfernen sich. Ich folge ihnen ...

Nein, nein! Lassen Sie!

Sie sind verschwunden ...

Genug, ich will nicht, daß Sie ihnen folgen. Bleiben Sie da!

Das kann ich nicht, Murray ...

Louis bat den Alten nun um Vergebung, daß er ihn heute Abend wieder allein lasse. Er wolle mit Siegbert bei Oleander den Abend zubringen.

O gewiß! Thun Sie Das! sagte Murray. Wenn drei so reine Flammen ineinander flackern, Das muß ein behagliches Licht geben! Gehen Sie! Aber erst nach einer Weile.

Murray fesselte Louis durch die Wiederholung Dessen, was sie für morgen versuchen wollten. Dann kam Brigitte, ordnete das Bett, gab auf die Frage nach zwei Männern im [2544] Garten die Antwort, daß sie nichts gesehen hätte und es vielleicht der Kutscher und der Bediente der Frau von Sänger wären; kurz, Murray war endlich beruhigt und gestattete Louis hinunter zu gehen in die Schmiede, um seinen Bruder für morgen zu bestellen. Er wünschte Louis jede nur mögliche Anregung durch einen mit einem Künstler und einem Dichter zugebrachten Abend.

Louis sah sich unten nach allen Richtungen um, die beiden Männer zu entdecken. Er fand sie nicht. In der Schmiede war Alles wie ausgestorben. Das Handwerkszeug lag umher. Die Kohlen waren verglüht auf dem Herde. Louis rief. Niemand antwortete. Eine Treppe, bemerkte er in der Dunkelheit, ging von der Werkstatt empor. Er rief hinauf. Die Stimme eines alten Weibes ließ sich hören.

Ist denn Niemand hier? fragte Louis laut hinauf.

Niemand hier! wiederholte es fast echoartig.

Alles fort?

Alles fort!

Wie ausgestorben und ausgeflogen?

Jetzt hörte er Holzpantoffeln.

Eine kleine gebückte Alte kam mit einer Laterne ...

Du mein Gott, lärmte sie, sind die beiden Taugenichtse fort –

Der alte Zeck und sein Sohn? fragte Louis erstaunt über dieses Prädikat, das im Munde eines wie es schien hier dienenden Wesens etwas vermessen war.

Nein, hieß es, die beiden Gesellen!

[2545] Hier ist Niemand. Wo ist der Meister und sein Sohn?

Dieses Volk!

Wetter! rief Louis. Ich frage nach Denen, die ihr nicht Volk nennen werdet. Sind sie im Ullagrund?

Die beiden alten Schlingel?

Die krumme Alte kam aus dem Zorn über die unerlaubte Abwesenheit der beiden Gesellen nicht heraus. Sie wetterte über diese unzuverlässigen Spitzbuben, die jedoch morgen, Gott sei Dank! mit dem letzten Wochentage das Weitere zu suchen hätten.

Louis zweifelte kaum daran, daß die beiden so heftig vermaledeiten Gesellen die Späher im Garten waren und beschloß ernstlich auf seiner Hut zu sein.

Als er den alten und jungen Zeck zu morgen früh zehn Uhr, falls er nicht im Ullagrunde arbeitete, auf das Schloß bestellt hatte, konnte er nicht umhin, die Alte zu fragen, ob sie schon lange bei dem Meister diene. Sie sagte:

Funfzehn Jahre!

Es drängte ihn, sie weiter auszufragen; doch fürchtete er, dem mistrauischen Blinden, der gewiß jedes seiner Worte wiedererzählt bekam, damit Verdacht zu erwecken. Er wiederholte daher nur einfach seine Bestellung und verließ die Schmiede, während die Alte sich nicht beruhigen konnte, wo die beiden Gesellen, wie sie sagte, ein Ende genommen hätten.

Louis beflügelte jetzt seinen Schritt, um an das Pfarrhaus zu kommen. Wie erstaunte er, als er in der Ferne deutlich wieder jene beiden Gestalten entdeckte, aber [2546] nicht allein, sondern mit einem Manne in Amtskleidung im Gespräch begriffen! Sie trugen kurze Jacken und waren ohne Zweifel die beiden unfleißigen Arbeiter. Den Mann in der Amtskleidung hatte er bei dem Diner heute auf dem Corridor gesehen. Er folgte den Dreien, die ruhig und wie im vertraulichsten Gespräch nebeneinander schlenderten. Sie schlugen den Weg zum Amthause ein. Jetzt wandten sie sich, blieben eine Weile stehen, zeigten auf das Schloß hinauf und traten dann wieder ihre Wanderung zum Amthause an, wo sie zuletzt durch einen Vorbau Louis' weiteren Blicken entzogen waren.

Er war dabei über das Pfarrhaus schon hinausgekommen.

Nachdenklich mußte er stehen bleiben und sich zu erklären suchen, was er von diesem Vorfalle denken sollte. Die Furcht vor Dieben gab er auf. Da ihm nichts beifallen wollte, was ihm ganz wahrscheinlich dünkte, so glaubte er zuletzt sich beruhigen zu können und voraussetzen zu müssen, daß diese Arbeiter in das Amtshaus wären gerufen worden zu irgend einer mit dem Schlosse in Verbindung stehenden Reparatur oder einer sonstigen Dienstleistung.

Er kehrte zum Pfarrhause zurück und sah in das nicht geschlossene, matt erleuchtete Fenster. Es war eine Scene, die ihn fesselte. Zwei Kinder saßen um einen runden Tisch und hatten große Zeitungen vor sich aufgeschlagen, aus denen Siegbert sie vorlesen ließ. Die Mutter, das jüngste schlummernde Kind im Schooße, mit [2547] einem Strickstrumpf in der Hand, sah bald auf diesen, bald auf das Kind, bald auf Siegbert, der seine Freude an dem geläufigen Lesen der Kinder hatte und ihnen das Gelesene zu erklären schien. Sie lächelte vor Vergnügen über die Fertigkeiten, besonders Hedwig's, die alle von Siegbert ihr vorgelegten Fragen gewandt beantwortete. Dazu das matte Licht einer kleinen Lampe, die lautpickende, bis draußen hörbare Wanduhr, die Stille im Dorfe ... Louis mochte sich kaum entschließen, die einfache, friedliche Scene zu stören. Aber der Hund, der unterm Tisch lag, witterte ihn und schlug an. Da mußte er in die Hausthür und seinen guten Abend sagen.

Ich bin lange geblieben ...

Oleander ist auch noch nicht da, bemerkte die Pfarrerin. Die Müllerin hat ein zehrendes Siechthum und bittet immer den Guten, ihr Abends ein Capitel aus der Bibel vorzulesen. Heut' sind es mehr geworden, sagte sie. Er bleibt lange ...

Inzwischen haben mir die Kleinen aus dem »Jahrhundert« die Werke ihres Papas vorgelesen, sagte Siegbert und zeigte auf die großen Blätter, die über den Tisch ausgebreitet lagen ...

Wir bekommen sie vom Justizdirektor, sagte die Pfarrerin. Sie sind immer schon längst gelesen. Wenn sie die Reihe herum sind, bekommen wir sie auch noch und die Kinder freuen sich immer, wenn da steht: Guido Stromer.

Hier ist noch etwas vom Vater, rief Hedwig und zeigte auf ein Gedicht ...

[2548] Oleander bleibt lange aus. Das Theewasser steht schon oben, bemerkte die Pfarrerin.

Lies dem Herrn Louis Armand auch etwas vor, Hedwig, bemerkte Siegbert. Du hast einen Vater, den alle Menschen hochverehren, weil ihm Gott die herrlichsten Gaben verliehen.

Einen leisen Seufzer, der durch das Zimmer fuhr, hörten Louis und Siegbert nicht. Er kam von der Pfarrerin ...

Hedwig las: »An Diotima« ...

Wer ist Diotima? fragte sie ...

Diotima? sagte Siegbert und blickte auf die Zeitung, die in ihrem Feuilleton ein Gedicht auf Diotima enthielt mit der Unterschrift: Guido Stromer.

Diotima, sagte er, mein Kind, Diotima und Aspasia waren Freundinnen berühmter Weltweisen des Alterthums und werden noch jetzt als Bezeichnung schöner, sehr edler Frauen gebraucht. Diotima heißt auf Deutsch: die Gottesfürchtige.

Die Uhr hatte einen singenden Ton bei ihren Pendelschwingungen. Es raschelte fast geheimnißvoll im Zimmer ...

Hedwig las: »An Diotima: Windest du Rosen in's Haar dir, Göttliche, wähle die weißen! Denn in den weißen noch glüht zart ein beschämendes Roth«.

Der Hund schlug an und schnupperte ...

Liebt der Vater die weißen Rosen? fragte Siegbert, dem diese Distichen nicht für Kinder geeignet vorkamen und der Olga's gedenken mußte.

[2549] Wir haben im Sommer mehr weiße als rothe im Garten, sagte Hedwig.

Der Kirchhof, fiel seufzend die Mutter ein, liegt dicht an unserm Garten ...

Siegbert machte Louis eine Miene, ob sie nicht hinaufgehen wollten?

Aber Hedwig hielt ihn zurück und rief:

Da ist noch ein Gedicht an die andere gute Dame:

Aspasia! Soll ich es lesen?

Die Pfarrerin blickte auf ihr schlummerndes Kind. Ach, es lag ein unendliches Weh in ihren Augen, so drückend, so schwer, wie diese Schwüle im Zimmer ...

Ohne die Erlaubniß abzuwarten, las Hedwig: »An Aspasia: Dir, der Schwester, das Roth! Die Centifolie pranget wie in Kohlen die Glut schöner im glänzenden Schwarz«.

Die Uhr schrillte, wie immer, wenn sie eben schlagen wollte ...

Oleander kam nun und erlöste Siegbert, der von Guido Stromer's excentrischem Leben mehr wußte als hier Alle, erlöste ihn von der Pein, die Kinder das Lob entziffern zu hören, das der »seinem Genius folgende« Vater wol schwerlich hier an die alten Freundinnen des Sokrates gerichtet hatte ...

Ach, in die leise Wehmuth, die auf diesem Nebelbilde des Lebens ruhte, kam noch Oleander's Wort:

Die Müllerin ist eben entschlafen ...

Die Pfarrerin erschrak.

[2550] Reinick war von der Tafel gleich zu ihr gegangen, sagte Oleander, und blieb bis jetzt ...

Indem rollte auch der Wagen des treuen Arztes am Hause vorüber ...

Ihre Augen sind zu, sagte Oleander. Ihr Ohr hörte noch lange, was ich las und sprach. Dann hielt sie mir die Hand so hin, daß ich sie faßte. Sie starb, wie ein Licht erlischt. Und dabei hielt die Mühle nicht still. Die und der Müller waren seit Jahren an das Sterben der Müllerin gewöhnt. Das Mühlrad rundum und sie stirbt. Ich hätte nicht einmal gemocht, daß es schwieg. Wir fahren so hin. Leben, Tod, Tod, Leben ... Eins lehnt sich an's Andre ... Und es ist tröstlich so. Genug. Es ist vorbei. Kommen Sie nun hinauf, lieben Freunde!

Louis und Siegbert folgten bewegt dem Vikar, der hinausschritt auf die Treppe zu und auf ihr voranging. Die Pfarrerin leuchtete ...

Oben ist Licht! sagte sie tonlos ...

Oben ist Licht! wiederholte Oleander, sinnig das Wort deutend auf die Entschlafene ...

Die drei guten, sanften Menschen stiegen hinauf ...

Die Pfarrerin aber weinte noch lange – um die Nachbarin? Von dem Engel, der im Zimmer unsichtbar stand und über diese Gedichte auf Aspasia und Diotima, vorgetragen von den eignen Kindern, gewidmet zweien unwürdigen Frauen, weinte, bemerkte sie wol nichts. Dieser Engel hielt ihr wol nicht das Buch entgegen, wo sie hätte gezeichnet sehen können Oleander den Pfarrverweser [2551] an dem Sterbebett der Müllerin und Den, dessen Dienst und hohen Beruf er vertrat, vielleicht im selben Augenblick in einem Salon unter hellen Kerzen Geist zerzupfend, Ideen wie Brillanten in den Augen schöner Weiber sich brechen lassend, vielleicht schmachtend zwischen Melanie und Pauline und Egon, vielleicht gar unter dem gespenstisch warnenden, finster drohenden flammenden Kreuze wieder, wie damals ... die gute Frau sah – die Himmlischen bewahrten uns vor zu ferntragenden Augen – nur den Tod der Müllerin, hörte nur das ferne Verrollen des Wagens, der den treuen Arzt nach Randhartingen zurückbrachte, hörte nur das Rauschen der Mühle, das wie ein Sterbelied ihr erklang und ermahnte die Kinder, zu Bett zu gehen und mit ihrem gewohnten Abendsegen und in Liebe zu ihrem Vater einzuschlafen ...

Oben aber brachten drei edle Menschen bis gegen Mitternacht im glücklichsten Gespräche über die Fragen zu: Was ist Poesie? Was wahre Kunst? Was Tugend? Was Pflicht? Was Leben? Was Tod und Unsterblichkeit?

Mit dem Aufgang des Mondes, lange nach zehn Uhr, stiegen Louis und Siegbert unbehindert zum Schlosse empor und ruhten von einem schönen dankenswerthen Tage aus.

[2552]
9. Capitel. Die Stimmschraube
Neuntes Capitel
Die Stimmschraube

In der Zeck'schen Schmiede standen schon am frühen Morgen drei Arbeiter beschäftigt.

Der junge Zeck und die beiden neuen Gesellen, die jedoch, da sie den gehegten Erwartungen nicht entsprachen, hier heute zum letzten Male arbeiteten ...

Es waren in der That zwei alte Bursche, von denen man nur der Blindheit des alten Zeck und seiner überhäuften Arbeiten wegen begreifen konnte, wie er sie in seine Werkstatt hatte aufnehmen können. Ohne Zweifel trieb ihn nur eine rastlose Gewinnsucht, die ihn wiederum nicht für ihn selbst, sondern für das künftige Schicksal seines beschränkten, unanstelligen Sohnes zur Thätigkeit spornte. Er machte sich anheischig, Ackermann auch Schlosser- und Klempnerarbeiten zu liefern und würde, wenn er die Kräfte hätte auftreiben können, sich zu allen Geschäften, die nur mit dem Feuer zusammenhingen, erboten haben. Es war eine Gier nach Besitz in ihm, die den Alten gefährlich erscheinen ließ.

Die beiden fahrenden Arbeiter hatten bei ihm vorgesprochen [2553] und erhielten für Ackermann's amerikanische Mühle genug zu hämmern und zu feilen. Aber gleich nach dem ersten Tage merkte Zeck, daß ihnen die Arbeit nicht flink von der Hand ging und daß sie lieber plauderten, aßen, tranken und recht im Wandern und Fechten steifgewordene Vagabunden waren. Er hatte mit Dem, was sie fertigten, bei Ackermann wenig Ehre eingelegt und von diesem sich müssen sagen lassen:

Alter, ich lobe Euern Eifer zum Arbeiten und Geldverdienen, allein ich kann Euch die unangenehme Erklärung nicht ersparen, daß mit dem Monat März, wenn nur erst die Lüfte ein wenig milder werden, allerhand neue Schmiede, neue Schlosser und Spengler hier eintreffen werden, die ich mir, natürlich auf einige Wochen nur, verschrieben habe. Der erste Grundsatz eines Geschäftsmannes muß sein, sich nicht aus Rücksicht auf Diesen oder Jenen, den man zu kränken sich fürchtet, mangelhafter Arbeit auszusetzen.

Ach, Herr, hatte Zeck darauf kurz und gefaßt erwidert, ich bin ja blind! Aber wenn Sie Pferde kaufen ...

So versprech' ich Euch, Zeck, daß Niemand anders an ihren Huf kommt als Ihr oder Euer Sohn.

Mit diesem Troste aufrecht erhalten, aber doch innigst ergrimmt, hatte Zeck den beiden Arbeitern erklärt, daß er zwei so alte faule Schlingel nicht länger beschäftigen könne ...

Der Schlosser raspelte an einigen alten Krammen, die kleiner werden sollten. Der Klempner nietete einige [2554] Blechstücke zu einem kleinen Dache zusammen. Der junge Zeck schmiedete Hufeisen und kehrte den beiden Andern, die er ohnehin nicht hören konnte, oft den Rücken.

Der Schlosser sagte zum Spengler, dem er heimlich aus einer Flasche zu trinken gab:

Gott sei Dank! heut' Abend haben die Narrenspossen ein Ende –

Mich bringt Keiner mehr zu so einer Commission -erwiderte der Andre und trank ...

Ich habe immer gedacht, fuhr der Schlosser fort, Handwerk hat einen goldnen Boden. Aber meiner ist eingeschlagen. Ich könnte keinen Schlüssel mehr zu Stande bringen.

Das ist gut für Ihre Ehrlichkeit!

Der junge Zeck merkte, daß beide Arbeiter die Lippen bewegten und roch wol auch den Duft des Getränks ...

Faullenzer! unterbrach er sie. Denkt Ihr, daß Ihr heute nichts mehr zu schaffen braucht, weil's Gott sei Dank der letzte Tag ist? Nicht einen Groschen zahlt Euch der Alte aus, ihr Taugenichtse!

Schöne Complimente! bemerkte der Klempner.

Manchmal, sagte der Schlosser und raspelte, hab' ich doch schon gedacht: Du nimmst einen Hammer und klopfst Dem oder dem Alten ein bischen auf den Schädel. Verloren wäre doch nichts an ihnen.

Man muß es tragen, weil's Dienstsache ist –

Ja, wären die Diäten nicht ...

[2555] In diesem Augenblick kam der alte Zeck die Stiege herunter. Er blieb ohne fehlzutreten eine Weile an der untersten Stufe stehen, als wollt' er sich erst in der Werkstatt zurechtfinden und hören, ob Jeder an seiner Arbeit wäre. Dann ging er an den Blasebalg und schürte das Feuer, das ihm matt vorzukommen schien.

Die Müllerin ist gestorben, sagte er vor sich hin. Gott hab' sie selig ...

Seinem Sohne diese Nachricht mitzutheilen, war im Lärm des Klopfens, Feilens und beim Brausen des Blasebalgs nicht möglich ...

Um zehn Uhr auf's Schloß! sagte er wieder nach einer Weile vor sich hin.

Was brummt der Alte? flüsterte der Spengler.

Er sagte etwas vom Schloß – meinte der Andre.

Anneliese! schrie der Alte plötzlich wie mit einer Stierstimme, daß die beiden Arbeiter, die etwas schwachnervig waren, zusammenschraken. Besonders bekam der Spengler das Zittern ...

Anneliese! wiederholte der Blinde.

Nach einer Weile kam die alte Magd halb auf die Stiege herab und kreischte:

Meister!

Um zehn Uhr? fragte der Blinde.

Um zehn! bestätigte Anneliese und wiederholte die Erzählung der Einladung und Bestellung noch einmal.

Die beiden Arbeiter horchten auf. Der Blinde merkte Das am Ruhen ihrer Instrumente.

[2556] Nun, schrie er sie an, schlafen Euch die Arme ein?

Scheert Euch zum Teufel, antwortete der Schlosser; Ihr seid ein Grobian! Und wenn Ihr uns in Gold auszahltet, bei Euch bliebe kein ehrlicher Arbeiter.

Die Worte: Ehrlicher Arbeiter und in Gold auszahlen machten einen eignen Eindruck auf den Blinden. Sonst schon hatte er bei solchen Zänkereien gesucht, den beiden Arbeitern nahezukommen und sie mit dem Schürhaken, den er mechanisch rasch zu ergreifen wußte, niederzuschlagen. Es war ein ängstlicher Anblick gewesen, wenn der wilde Blinde wuthschäumend herumtastete und die Andern vor ihm flohen. Heute aber machte ihn das Wort vom In – Goldauszahlen stutzig. Er wetterte nur mit Schimpfreden, die von der zänkischen Anneliese unterstützt wurden, bis ihr der Blinde andeutete, sie sollte nun auch an die Arbeit gehen.

Eine Zeitlang ging es in der Schmiede zwar geräuschvoll genug, aber still in der Unterhaltung so fort.

Um acht Uhr sprach ein Jäger mit Pfeife und Büchse auf dem Rücken vor. Es war Heunisch, der den alten Zeck um einen Karren bat, um Fränzchens Sachen nach dem Ullagrund zu fahren. Er verlangte auch, daß der junge Zeck den Karren ziehen sollte.

Das hatte beim Alten durchaus keinen Anstand; doch mußte ihm Heunisch erst erzählen, wie diese Änderung so rasch gekommen war.

Während Der das umständlich und in seiner Weise vortrug, machten sich die Arbeiter einige Male bedeutende [2557] Gebehrden, sodaß Heunisch, der sie misverstand, nachdrücklich seine Erzählung damit schloß:

Natürlich geh' ich mit dem Jungen mit und stopfe nicht blos meine Pfeife dabei, sondern auch meine Büchse. Es soll jetzt Gaunervolk hier herum lungern.

Der Schlosser lachte vor sich hin.

Warum lacht Er? fragte Heunisch. Ich rathe Ihm nicht zu lachen, wenn ich Ihm morgen noch im Walde begegnen sollte!

Der Blinde nahm den aufgeregten Jäger und ging mit ihm vor die Thür der Schmiede.

Wie gesagt, meinte jetzt der Schlosser wieder, wenn die Diäten nicht wären –

Ich muß sagen, fiel der Andre ein und wischte sich den Schweiß von der Stirn, eine solche Commission übernehm' ich nicht wieder – eine Kugel in den Leib macht allen Diäten ein Ende!

Der grimmige Kerl könnte uns den Spaß versalzen. Vom Forsthause können wir nicht ein Wort berichten. Vorgestern Abend, den Versuch werd' ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich wünschte nur, ich hätte die bleierne Pille, die der Kerl mir zu kosten geben wollte, aus dem Eichbaum, in den sie fuhr, mitnehmen können. Die sollten sie mir zu Hause schon versilbern!

Wenn der Jäger heut' Nachmittag fort ist, bemerkte der Spengler, und wir um Mittag aus unserm Dienst treten und doch noch einen Versuch machten, in's Forsthaus zu kommen ...

[2558] Wir müssen Pfannenstiel fragen, sagte der Schlosser und winkte zum Schweigen; denn der alte Zeck kam zurück und zwar allein.

Bis gegen neun Uhr wurde so fortgearbeitet ...

Der Spengler hatte da den Muth, den Blinden zu fragen:

Wißt Ihr denn, Meister, was es auf dem Schlosse zu arbeiten gibt?

Das geht Euch nichts an!

Vielleicht ist's Schlosserarbeit, meinte der Andre, der vorhin verrathen hatte, daß er mit dem Gerichtsdiener Pfannenstiel vertraut war.

Der Blinde wußte schon, daß das Anfertigen einer Stimmschraube für ein Fortepiano von ihm verlangt wurde und sprach darüber lauernd und listig, um sich Raths zu holen.

Als der Schlosser sich auf einen solchen Drücker, wie er's nannte, besonnen hatte, fragte der Spengler:

Spielt der Alte mit der schwarzen Binde auf dem Clavier oder der Franzose?

Mit der schwarzen Binde? wiederholte Zeck. Welcher Alte? Wer? Schwarze Binde? Wer ist da blind?

Der mit dem Franzosen hier angekommen und oben logirt. Er heißt, wie heißt er doch?

Der Schlosser sagte:

Es ist ein Engländer, Namens Murray, blind ist er nicht, aber fühlt ihm auf den Zahn, Meister! Der hat den Teufel im Leibe und seine Augen scheinen mir gesünder als die Eurigen.

[2559] Woher kennt Ihr denn die Leute, die da oben wohnen?

Man kommt in der Welt herum! sagte der Spengler.

Der Blinde forschte nicht weiter. Er riß nur die Augen groß auf, als wollte er um jeden Preis sehen. Es kam ihm vor, als hätte in diesen Äußerungen seiner Gesellen ein Ton gelegen, der ihm befremdlich vorkommen sollte. Nach einer Weile wiederholte er:

Ihr seid in der Welt herumgekommen? Warum trägt der denn oben eine schwarze Binde?

Was wissen wir's? Fragt ihn! meinte der Spengler. Aber der könnte Euch ja wiederfragen: Warum seid Ihr denn blind, Meister?

Lumpenvolk! schrie Zeck jetzt zornig und hob die Schürstange, daß jene bei Seite sprangen. Warum ich blind bin? Weil Ihr's nicht seid! Ihr Faullenzer! Habt Ihr je einmal im Leben einen Zoll tiefer in's Feuer gesehen, als Ihr solltet? Euch haben die Funken wenig um die Nase getanzt, Ihr Landstreicher Ihr! Weil ich fleißig war, bin ich blind.

Der junge Zeck lachte über die furchtsame Art, wie die Gesellen retirirten und fast rücklings über altes Eisen fielen.

Indem rief aber eine Stimme an der Thür:

Hoho! Meister! Seid Ihr auf der Jagd? Wollt Ihr wol Ruhe geben!

Es war Pfannenstiel, der vom alten Zeck immer mit einer Art Beklommenheit empfangen und begrüßt wurde.

Guten Morgen, Herr Amtsvoigt! sagte der Blinde,[2560] der die Stimme sogleich erkannte. Die Hallunken gehen heute, sonst erlebt' ich vor Ärger nicht die nächste Lichtmeß und Lichtmeß ist mein Geburtstag.

Kommt Ihr einmal heraus, rief Pfannenstiel den Arbeitern, ich hab' Euch etwas zu berichten.

Damit ließen die Arbeiter Alles liegen und gingen vor die Schmiede zu dem Amtsvoigt.

Zeck sah das Alles im Geiste vor sich und war nicht wenig erstaunt darüber. Jetzt hätt' er seinem Sohne mögen in's Ohr schreien: Was ist Das? Was geschieht da? Was kann ich Alles nicht sehen? Und er sah wiederum doch deutlich vor sich, wie dieser dumm zuglotzte und immer auf sein Hufeisen zuschlug. Eine unbeschreibliche Ungeduld faßte den Blinden. Er folgte Pfannenstiel und hörte, daß dieser immer weiter abseits mit den Arbeitern trat, sodaß er voller Zorn und Ärger ihnen nachrief:

Gott verdamm' mich! Ich zahle keinen Groschen Lohn, wenn bis heute Mittag nicht die Krammen fertig sind und das Dach. Schlag' das Wetter drein, Herr Amtsvoigt, haltet mir das Volk nicht noch vom Arbeiten ab!

Die beiden Arbeiter kehrten zurück. Pfannenstiel entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen ...

Diese Stille, dies Schweigen hatte für den Blinden etwas furchtbar Peinliches. Er rannte umher wie ein taumelnder Stier. Er verlor selbst die Kenntniß des Ortes, in dem er sich befand. Der Sohn, bei alledem halb lachend, weil sich der Alte stieß, mußte ihn zurechtführen und ihn dadurch zur Besinnung bringen, daß er ihm den Strick des [2561] Blasebalgs in die Hand drückte. Erst diesen anziehend, fand sich der Blinde zurecht und dachte den fremden und räthselhaften Eindrücken nach, die ihn umgaben. Seit Jahren war er gewöhnt, alles Fremde von sich fern zu halten. Nichts durfte in seiner Nähe festen Fuß fassen, Keiner mit den Dingen, die ihn betrafen, vertraut werden. Anfangs hatte er alle Monate eine neue Magd, erst später behielt er die Anneliese auf Empfehlung, ja dringendes Verlangen seiner Schwester Ursula, die die Veranlassung gewesen war, daß er in Plessen wohnte. Sie hatte ihn mit in das Forsthaus gebracht und dann, als seine Unruhe, sein Arbeitseifer sich nicht dort zurechtfanden, nach Marzahn's Tode von der Fürstin Amanda die Mittel und Erlaubniß erhalten für die Schmiede, die Zeck anlegte. Seit Jahren hatte er emsig nach Kräften seinen Pflichten obgelegen und den einen Gedanken als sein Lebensziel verfolgt, seinem Jungen Geld, Geld, baares Geld zu hinterlassen, und seit dem Tage, daß ihm von Ackermann im Auftrag eines Verwandten, Namens Morton, nun viel Geld gebracht wurde, hatte er keine Ruhe mehr. Er schlief schlechter. Er war von Träumen gequält, er sprach vom Sterben und ging doch nicht mehr wie sonst, unter der Fürstin Amanda, in die Kirche. An seiner Schwester Ursula hatte er vollends keinen Halt mehr. Seit einiger Zeit war diese sonst so verschmitzte und scharfdenkende Schwester schwachsinnig geworden. Sein Mistrauen kannte keine Grenzen. Es ging so weit, daß er oft Tage lang glaubte, nicht allein zu sein, sondern belauscht, [2562] beobachtet zu werden. So fern ihm der Gedanke lag, in Murray seinen wiedergekehrten, ohnehin todtgeglaubten Bruder zu vermuthen, so beunruhigten ihn doch schon die wenigen Worte, die seine verdächtigen Gesellen von jenem Fremden auf dem Schlosse gesprochen hatten. Am liebsten hatte er, wenn Alles um ihn her lustig, lärmend war. Sonntags ging er auf die Kegelbahn, in die Schenke, hörte Tanzmusik und freute sich des Wirrwarrs, Lärmens und Jubelns. Er machte nichts davon mit, seit Jahren nicht, litt auch nicht, daß sein Sohn von seiner Seite wich. Er wußte, daß Der zu alle Dem, was Andern gut stand, unanstellig war. Aber das Lärmen und Toben, das laute Lachen und Singen übertäubte, ergötzte ihn. Er wußte dann, daß er unter Menschen war, die nicht lauerten und von seiner Blindheit keine Vortheile zogen.

Gepeinigt von dem Schweigen seiner Gesellen, wie vorhin von ihrem Reden, hörte er endlich, daß die zehnte Stunde nahe war. Anneliese deutete es ihm durch ein Frühstück an, zu dem er wenig Appetit verspürte. Dennoch stärkte er sich wider Willen. Schon die Hast, etwas zu greifen, etwas Äußerliches sein zu nennen, that ihm wohl. Das gierige Schlingen seines Sohnes war ihm tröstlich. Er sollte ihn begleiten. Sie nahmen leichte Handwerkszeuge und machten sich auf den Weg.

Das Wetter war rauh und kalt. In der vergangenen Nacht hatte es schon gefroren. Der Weg zum Schlosse hinauf war jetzt so hart, wie noch vor Kurzem schlüpfrig und glatt. Oben schon kam Brigitte und sprach von der [2563] Abreise des lieben Herrn, der die Nacht da geschlafen hätte und von der großen Freundschaft der beiden jungen Männer für einander, was ihr völlig unwahrscheinlich mache, daß Herr Louis nichts als ein simpler Tischlergesell wäre. Auch Herr Oleander wäre schon oben gewesen und hätte dem feinen Herrn Abschied gesagt und ihn tausendmal gebeten, bald wieder zu kommen.

Zeck nahm das Alles mit dem Lachen auf, das sich in den Mienen, wenn sie neugierig sind, festsetzt, ohne daß das innere Herz an Lachen denkt. Der Junge führte ihn. Doch war es nicht nöthig, der Blinde fand sich im Schlosse so sicher zurecht wie in seiner Schmiede. Hatte er doch allen Abendconventikeln der Fürstin beigewohnt! Kannte er doch das große Zimmer, wo das Pianoforte stand, wo man Gesangbuchverse sang, ein Gebet hörte und zuletzt Warmbier, oft sogar noch wollene Winterstrümpfe bekam!

Auf dem Corridor trat ihnen aber Louis Armand entgegen. Der Blinde kannte die Stimme des jungen Mannes von der amerikanischen Mühle her.

Nun, sagte Louis, jetzt sollt Ihr einmal etwas Feineres zu schmieden bekommen! Falls es Euch möglich ist, auch an solche Arbeiten zu gehen. Aber Ihr seid geschickt. Man weiß es. Kommt!

Vater und Sohn wollten vorschreiten. Da hielt Louis, mit rascher Wendung, den Jüngsten zurück mit den Worten:

Aber, mein Bester, schämt Ihr Euch nicht? Putzt man [2564] sich die Stiefeln so schlecht, wenn es friert? Das geht nicht! Bleibt draußen! Wir wollen uns dem Vater schon verständlich machen.

Der Alte zankte über die Unsauberkeit des Sohnes und gab ihm einen tüchtigen Tritt in die Seite, auf die Stiefeln zeigend, an denen der gestrige Koth festgetrocknet war.

Der Junge glotzte verdutzt auf seine Füße und verstand erst durch die handgreifliche Sprache des Vaters, was an ihm getadelt wurde. Der Ullagrunder Lehm lag fingerdick auf diesen Stiefeln und gab ihnen eine Kruste, die die Wärmehaltigkeit des Leders noch unterstützte.

Der Junge blieb im Corridor. Louis führte den Alten erst durch sein Schlafzimmer und dann in das Eckzimmer, wo Murray in ziemlicher Entfernung von dem Instrumente an einem Fenster saß.

Louis pochte das Herz. Er konnte sich die Empfindung seines Gefährten denken, wie er den blinden Bruder, den er nach seinem Sohne fragen wollte, eintreten sah. Sie hatten sich verabredet, zu thun, als wenn Murray nicht zugegen war. Ein Blick auf Murray überzeugte ihn, wie tief auch er es empfand, den Bruder wiederzusehen, der durch ihn das Augenlicht verlor.

Seht, sagte Louis – doch, was red' ich – ich sage: Seht! Ihr bewegt Euch so sicher, Meister, daß man versucht wird, Euch für keinen Blinden zu halten.

Zeck erwiederte darauf nichts.

Da er sich denken konnte, daß er am Klavier stand, faßte er es an.

[2565] Hier, sagte Louis, dächt' ich, um die Saiten anziehen zu können – Ihr kennt doch so einen Kasten, der Musik macht?

Zeck nickte.

Diese eisernen Stäbe, fühlt Ihr sie –

Zeck nickte wieder.

Diese kleinen eisernen Stäbe halten die Saiten, die man schärfer anziehen muß, wenn sie nachlassen. Um aber die Stäbe rundumzubekommen, muß man einen Schraubstock haben mit einem Griff und einer Höhlung, die hinlänglich lang ist, um die Stäbe fassen zu können ... versteht Ihr?

Ganz wohl!

Könnt Ihr so ein Eisen schmieden?

Gebt mir nur die Weite, Herr! Die Weite der Stäbe!

Das ist sie! Grade wie dieser Faden! Eine solche Öffnung! Und so lang, wie etwa ein halbes Fingerglied muß die Weite sein.

Gut, gut –

Wann haben wir das Eisen?

Bis heute Abend! Ich will gleich dran gehen –

Damit wollte sich Zeck zur Thür wenden ...

Wie Bescheid Ihr wisset! War't Ihr schon öfters in diesem Zimmer? begann jetzt Louis, ihn aufhaltend –

Herr! Da ist der Ofen! Nicht wahr? lachte Zeck.

Ganz recht –

Da steht ein Kanapè –

Ganz recht –

Da saß die Fürstin – –

[2566] Der Lehnsessel steht noch da –

Da ist ein Fenster in den Hof, dort zwei in den Garten –

Als wenn Ihr durch sie sehen könntet, so trefft Ihr's –

Da saß Herr Stromer – hier standen und saßen wir ...

Wer?

Die geladen waren – zum Beten – hier wurde gesungen und gebetet, Herr!

Und Ihr kam't gerne dazu?

Da am Fenster war immer mein Stand ... dort ... ich kann noch den Stuhl zeigen –

Damit schritt der Blinde geradezu gegen das Fenster, wo auf dem Stuhle, den er, der Frage nach dem Beten ausweichend, zeigen wollte, Murray saß.

Oho! rief Zeck. Da steht ein Tisch, der stand sonst nicht hier.

Er war auf den Tisch gestoßen, an dem Murray arbeitete. Aber Murray, der sich geschützt glaubte, erschrak nicht wenig, als sein Bruder dabei auf die Kupferplatte stieß, an der er geätzt hatte. Der Blinde fuhr über das Metall hinweg und sagte erschreckend:

In der Mühle, Herr, erzähltet Ihr von einem Kupferstecher! Ist das der Tisch des Kupferstechers? Ich fühlte eine Platte –

Louis besann sich auf Das, was er von seinem Begleiter in der amerikanischen Mühle gesagt hatte.

Eine Liebhaberei meines Freundes, erklärte er, der dort am Fenster sitzt und das Schicksal Eures Sohnes theilt, etwas schwer zu hören.

[2567] Zeck starrte nach dem Fenster. Der Gedanke, nicht allein mit Louis zu sein, war ihm peinlich. Er suchte wieder die Thür ...

Setzt Euch doch ein wenig, Meister! sagte Louis. Ich bin ein Abgesandter Sr. Durchlaucht. Ich soll hier nach dem Wohl und Wehe aller Menschen fragen. Geht es Euch gut?

Zeck sah nur nach der Kupferplatte ...

Versteht Ihr Etwas von der Kunst in Kupfer zu stechen?

Zeck richtete die Augen auf Louis und setzte sich mechanisch in den Sessel, den ihm Louis hinrückte ...

Mein Freund da hat sich die Augen verdorben beim Ätzen einer Platte. Es ist ihm gegangen wie wol Euch, als Ihr blind wurdet. Wovon kam Das?

Vom Feuer, Herr! Ein Eisen, dem Auge zu nahe gebracht –

In der Schmiede habt Ihr Euch verglüht –

In der Schmiede.

Diese Unterredung machte Zeck allmälig sichrer. Über die ersten Wendungen war er nicht wenig erschrocken gewesen ...

Wie lange lebt Ihr schon in Plessen, Meister? fragte Louis im vertraulichsten Tone.

Sechzehn Jahre, Herr!

Immer glücklich, immer zufrieden?

Bis auf die Augen, Herr!

Es gaben diese Worte einen tiefen Schmerz in Murray's [2568] Innere. Er mußte zum Fenster blicken, um seiner Bewegung Herr zu werden.

Und den tauben Sohn! sagte Louis. Habt Ihr nur den einen Sohn?

Nur einen, Herr.

Er muß dreißig Jahre sein – es ist ein alter Knabe –

Zwei und dreißig –

Habt Ihr immer in Plessen gelebt?

Vordem ein fünf Jahre im Jägerhause –

Bei Eurer Schwester?

Kennt Ihr Die, Herr?

Ursula Marzahn! Ich kenne eine Nichte des Försters Heunisch –

Zeck nickte und wiederholte:

Ursula Marzahn ist meine Schwester.

Wie kann man's aber fünf Jahre in dem Walde aushalten, wenn man ein Schmied ist?

Ich war blind.

War't Ihr denn schon blind, als Ihr in das Jägerhaus kamt?

An beiden Augen.

Da hattet Ihr schon früher eine Schmiede und war't Gesell und früh verheirathet – schon vor drei und dreißig Jahren – ich rechne Das an Eurem Sohne –

Ich bin vierzig Jahre Meister –

Und seid einige Sechzig alt –

Mein Kopf muß weiß sein!

Schneeweiß, wie's eben dort im Gebirge wird. Es[2569] schneit – sieh, sieh, es schneit!

Zeck wollte nun gehen. Er hatte in den fernern Nachfragen kein Arg gefunden.

Bleibt doch! Ich wollte Euch noch etwas fragen, Meister.

Zeck horchte auf ...

Ihr hattet einen jüngern Bruder ...

Zeck blieb bei dieser Frage zwar ohne sichtliche Verlegenheit, hielt sich aber doch starr und regungslos.

Er war Kupferstecher, wie der Mann da, der nicht gut hören kann –

Zeck antwortete wieder nicht.

Er wanderte nach Amerika aus – weil er mußte! Mußte! Nicht wahr, Zeck?

Zeck blieb starr und sprach jetzt noch weniger eine Sylbe.

Er ist todt. Herr Ackermann ... brachte Euch von ihm, als einem Verwandten, eine Erbschaft. Wie ist's denn mit dem Sohne, den Euch der Bruder zurückließ, als er nach Amerika mußte?

Zeck kniff die Stirnfalten zusammen und meinte forschend und stotternd:

Kommt Das von Herrn Ackermann?

Von wem es kommt, ist gleichgültig, alter Freund! Wie ist es mit dem Sohne Eures Bruders?

Im ersten Augenblick hatte sich auf dem Antlitz des blinden Schmieds Schrecken widergespiegelt. Bald aber hellte es sich auf. Ein habsüchtiger Gedanke schoß durch [2570] die Seele des Geängsteten. Er stellte sich vor, daß sein Bruder Schätze hinterlassen, die er seinem Sohn bestimmt hätte, Schätze, die ihm und seiner erbenlosen Schwester anheimfallen würden, wenn Murray's Sohn nicht mehr nachzuweisen wäre. Ehe dieser Gedanke ganz in ihm zurechtgelegt war, hatte ihn Louis wol schon dreimal nach dem Sohne seines Bruders gefragt.

Ungeduldig wiederholte Louis noch einmal:

Wo ist der Sohn Eures Bruders?

Todt! sagte jetzt der Schmied mit großer Bestimmtheit.

Für Murray, der gespannt am Fenster horchte, kam dies Wort nicht unerwartet. Es erschütterte ihn auch nicht zu heftig, aber unwillkürlich mußte er doch ein Geräusch mit dem Stuhle machen, auf dem er saß, und Zeck's Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Der Knabe ist todt! fuhr Louis fort. Da er Eurer Pflege anvertraut war, werdet Ihr Beweise für seinen Tod beizubringen haben.

Nicht meiner Pflege, Herr – ich nicht – ich nicht –

Eure Schwester! Ihr wurde das Kind anvertraut, Euch Beiden gemeinschaftlich –

Woher wissen Sie Das?

Ihr wohntet damals an einem Orte, den die Menschen fliehen ... nicht wahr Zeck?

In der größten Unruhe suchte sich der Blinde aufstehend von dieser Prüfung loszuwinden, aber der zur Gewißheit bei ihm gewordene Gedanke, daß die für seinen Brudersohn bestimmten Schätze ihm, seinem eigenen [2571] Sohne, anheimfallen sollten, reizte ihn doch, zu bleiben. Er half sich durch eine wiederholte Berufung auf seine Blindheit.

Ihr war't blind, Zeck, ich weiß es – Ihr war't beim Doktor Lehmann, daß er Euch heilen sollte –

Das war ich. Ja, Herr –

Und Eure Schwester verbarg Euch ...

Was sagten Sie?

Vor dem Licht des Tages, das Euch wehe that, verbarg sie Euch. Geblendete Augen verlangen eine dunkle Umgebung –

Das ist's.

Aber das Kind, das Ihr von einer Dame, die ich nicht kenne, als das Eurige anvertraut erhieltet, mit dreitausend Thalern ...

Der Blinde wurde immer unruhiger.

Nicht wahr? Mit dreitausend Thalern?

Zeck antwortete nicht, sondern sah nur starr auf Louis und die Gegend an dem Fenster, wo ein ihm unbekannter Kupferstecher zuhörte.

Ist er wirklich todt, der Sohn Eures Bruders, der sich einige Jahre hindurch Baron Grimm nannte?

Bei Erwähnung dieses Namens schwanden dem Blinden alle Kräfte. Er suchte seinen Sessel.

Louis schob ihm seinen Sessel hin. Er mußte ihm Zeit lassen sich zu sammeln.

Endlich besann sich der Schmied auf eine Auskunft, die er in diesen Worten zusammenfaßte:

[2572] Herr – ich sollt' Euch eine Schraube machen, um die Saiten da anzuziehen – Ihr seid aber selbst wie so ein Ding und schraubt Einen, daß die Finger knacken. Wenn Euch Herr Ackermann oder wer sonst aufgetragen hat, das Erbtheil von meinem verstorbenen Bruder an seinen Jungen auszuzahlen, so sag' ich Euch: Der ist todt wie sein Vater und das Erbtheil muß nun von Rechtswegen ...

Und die Beweise, die Papiere über jenen Tod?

Zeck besann sich auf den Ausweg, den er schon einmal einschlagen wollte:

Fragt die Ursula! Sie hat alle Papiere.

Gut, sagte Louis, ich sehe, daß Ihr nicht wißt, wie und wo das Euch anvertraute Kind gestorben ist. Ihr seid und war't ein Blinder, schon damals, als das Kind geboren wurde. Ihr habt es nie gesehen. Wohlan, laßt Eure Schwester reden. Heute Nachmittag ist sie im Forsthause allein. Ich werde Euch zu ihr führen ...

Mein Sohn, Herr, führt mich.

Euer Sohn führt Euch! Wohlan, dann können wir zu gleichen Paaren sein. Da mein Freund, der nicht hört, wie Euer Sohn, er soll mich begleiten. Wir steigen in die Kammer der Ursula oder rufen sie herunter und ich denke, Ihr, Zeck, werdet es verstehen, ihr Gedächtniß ein wenig zu kitzeln. Ich höre, daß sie gegen andre Hände unempfindlich ist. Seid Ihr's zufrieden?

Zeck sagte, daß sein Sohn den Förster mit dem Karren zu begleiten hätte, der Franziska's Sachen in den Ullagrund bringen sollte.

[2573] Nun so hol' ich Euch an der Schmiede allein ab ... Ihr werdet Euch doch von mir führen lassen?

Um zwei? Dann kann ich die Schraube nicht fertig liefern zum Abend ...

Die eilt nicht, Zeck! Mich aber eilt's mit dieser Sache. Heut' Nachmittag! Jetzt kommt, ich führe Euch hinaus zu Eurem Sohne. Er muß mit dem Förster in den Ullagrund, damit wir die Ursula allein treffen.

Zeck bot zögernd die Hand, die rauh wie Leder war und schwarz gefärbt. An der Thür hielt er noch einmal inne und fragte mit verschmitzter Neugier:

Herr, darf man fragen, ist es was Ordentliches, was unser Friedrich hinterlassen?

Ihr meint, weil Ihr Euch für Euren Sohn darauf freut ...

Ach!

Sagt's nur heraus!

Ein blinder Vater – ein tauber Sohn – die haben mehr Noth, ehrlich durchzukommen, als Leute, die sehen und hören können –

Das ist wahr! sagte Louis, beruhigt Euch, Zeck, das Erbrecht wird seinen vollkommenen Fortgang haben.

Indem horchte Zeck auf, als er eben aus der Thür treten wollte.

Was horcht Ihr so?

Reiten da nicht welche unten über die Landstraße?

Könnt Ihr so gut hören?

Ich höre, daß Eisen dabei klappert –

[2574] Losgegangne Hufeisen – Ihr werdet zu thun bekommen.

Das ist Säbelklappern –

Louis sah zum Fenster hinüber und bemerkte, unten auf der Landstraße um den Berg herum schwenkten zwei scharfzutrabende militairische Reiter.

Es sind zwei Landdragoner! sagte er. In der Hauptstadt war es unruhig ...

Ich hört' es gleich –

Scharfes Ohr! Ihr könnt dem Himmel danken, daß er gleich wiedergibt, wenn er genommen hat. Um zwei Uhr ...

Zeck nickte und ergriff die Hand seines Sohnes, bis zu dem sie auf dem Corridor angekommen waren. Der starrte den Landdragonern nach, die in das Amtshaus ritten, nahm dann seinen Vater und führte ihn die große breite Stiege hinunter ...

Louis, zurückkehrend, fand Murray sehr erschüttert.

Über die erste Rührung, den durch ihn geblendeten Bruder zu sehen, sollte er doch wol bald hinwegkommen, da er die eingewurzelte Bosheit erkannte. Doch sagte er, alle Reue hülfe dem Frevelnden nichts, seine böse That behielte ihre Folgen und nur der Tugendhafte wäre sicher, höchstens mittelbar Schlimmes zu veranlassen. Denn schlimm sind wir Alle! Wer weiß, fuhr er fort, was ich Alles in Folge meines damaligen Fehltrittes noch anrichte, als willenlose Ursache! Nehmt den Tod meines Kindes. Bin ich nicht sein Mörder? Diese Gedankenreihe [2575] erschütterte ihn mehr als das wirkliche Nichtmehrvorhandensein des Kindes. Denn ein Wesen, das er nie gesehen, dessen Ursprung sich auf Sünde und Reue zurückzog, ein Wesen, dessen Schicksale ihm nur, wenn es erwachsen und misrathen war, Gewissensbisse verursachten, konnte sich seinem Herzen doch nicht so tief als eine Nothwendigkeit eingepflanzt haben. Im Gegentheil durfte er freier athmen und Gott danken, daß er ihm eine Veranlassung zu neuer großer Schuld früh hinweggenommen hatte. Was aber Murray ebenso erschütterte, war der unverkennbar böse Sinn des Bruders, die ungebesserte Lüge, die Verstocktheit, die Geldgier. Und auch für diese mußte sich Murray nach seinem Sinn verantwortlich machen.

Ach, sagte er zu Louis, konnte ich bittrer gestraft werden als durch den Anblick eines Menschen, der durch mich das Licht der Augen verlor! Wäre dieser Elende – denn ich kann ihn in nichts beschönigen – wär' er sehend geblieben, so hätte ihn die Kraft seiner Sinne wol seinen eigenen Weg geführt. Er hätte nicht nöthig gehabt, Andre für sich denken, Andre ihn führen zu lassen! Was konnte da noch aus ihm Gutes werden, wo er nun genöthigt war, meiner Schwester zu folgen und ihr eine Last wurde! Sie stieß ihn aus dem Försterhause, gab ihm vielleicht von ihrem Pflegegeld so viel, um sich die Schmiede anzulegen mit seinem damals schon erwachsenen Sohn. Wer nicht sieht, ist mistrauisch. Der Verlust keines Sinnes macht so bitter wie der Verlust des Auges. Man findet wol Blinde, [2576] die heiter und getröstet sind über die ewige Nacht, die sie umgibt, aber dann sind sie leichtsinnig und rühren uns nicht mehr, sondern erschrecken uns.

Louis hielt sich nicht an diese Reflexionen, wie sie Murray auszuspinnen liebte, sondern an die Thatsache:

Lebt das Kind, lebt es nicht mehr?

Ich mache Fortschritte in der Menschenkenntniß, sagte er. Ich glaube gewiß zu sein, daß dieser geizige, habsüchtige Mann, der leider Ihr Bruder ist, Murray, nicht im entferntesten von dem Tode Ihres Sohnes überzeugt ist. Er will nur die schmuzige Hand ausstrecken nach der vermeintlichen Erbschaft. Er sollte nichts wissen von diesem Kinde? Er sollte es ganz der Sorge seiner Schwester überlassen haben? Eines wäre eine glückliche Auskunft aus diesem Dunkel. Wenn sie einträfe, Murray!

Welche, mein Freund?

Daß die Mutter dieses Knaben, Ihre einstige Freundin, in alten Tagen den Fehltritt ihrer Jugend bereut und sich des Schicksals Ihres Sohnes wieder angenommen hätte!

O Das wäre eine Erzählung aus »Tausend und Einer Nacht« sagte Murray lächelnd. An solche Märchen muß man nicht glauben in Der Welt, in die es einst der Baron Grimm gewagt hat, sich einzudrängen ...

Den Rest des Vormittages brachte Louis nun noch damit zu, Geschäftsbriefe nach der Residenz zu schreiben, in denen er seine bevorstehende Rückkehr von Hohenberg ankündigte. Kurz vor dem einfachen Mahle, das ihnen Brigitte zubereitet hatte, durchflog er die Zeitungen, in [2577] denen Egon's schwierige Stellung nicht verschwiegen war. Der Fürst hatte sich auf eine bedenkliche Art von allen Parteien isolirt, sich dabei zwar sehr hoch gestellt, aber auf eine Höhe hin, wo ein schneidender Zugwind wehte. Der Hof schien dem jungen Staatsmann volle Gewalt gegeben zu haben. Er stellte ihm alle Mittel zu Gebote, die das constitutionelle Wesen im Vorrath hat, um von einer Verständigung mit dem Publikum an die andre zu appelliren. Man konnte sich noch der Hoffnung hingeben, daß die Wahlen die thatkräftige neue Administration unterstützen würden. Viele aber bezweifelten diese Hoffnung und fanden es für rathsamer, daß das Ministerium sogleich aus eigener Machtvollkommenheit einen neuen Wahlmodus oktroyirte. Dennoch blieb dieser Erlaß, den man schon in den neuesten Nummern erwartete, aus, ein Beweis, daß Fürst Egon seine Hülfsmittel nicht zu rasch verbrauchen wollte. Auch ließen die mit vielem Geiste geschriebenen Artikel des »Jahrhunderts« ahnen, daß das Ministerium erst die öffentliche Meinung für seine Auffassung der Staatsaufgabe theoretisch und praktisch gewinnen wollte, bis es mit Gesetzen hervortrat, die auf diese Theorie und Praxis begründet waren. Der Adel, die Beamten, das Militair, ja sogar ein großer Theil der Wissenschaft und Kunst schwärmten schon für die neue Regierung. Sie verhieß Kraft. Sie verhieß Erlösung von einer Anarchie, die nicht mehr ausrottbar schien. Die Politik wurde von den Straßen verbannt; auch aus den Clubs fing Egon schon an, sie auszutreiben. Louis las mit [2578] beklommenem Gefühle, daß die Arbeitervereine ihre Statuten einreichen mußten und mehre geschlossene Gesellschaften nach jenem tumultuarischen Abend bereits verboten waren. Egon hatte sich in einer Zuschrift an seinen Wahlbezirk der Worte bedient: »Wo zwei Gewalten regieren wollen, kann der Staat nicht bestehen. Die Gewalt soll eine getheilte sein. Diese Lehre ist alt und ich finde sie schon dadurch bewährt, daß jede Verantwortung gemildert wird, wenn mehre Schultern sie zu tragen haben. Aber die Theile der Theilung müssen gleichartig sein. Unterordnen müssen sie sich können der großen, untheilbaren Idee des Volkswohles, des Thatbestandes. Wo zwei gleichberechtigte Gewalten gegeneinander auftreten, steht die Maschine still. Ich erkenne im Staate nichts an, was höher ist als das Volkswohl. Auch der Monarch ist in meinem Systeme der Diener des Volkswohles. Er vertritt die natürliche Ordnung des Lebens, das Maß, die Grenze aller ehrgeizigen Bestrebungen. Er ist ein Theil der großen Einheit des Volkswohles. Reicht ihm die Hände, ihr wackern Bürger! Seid die Zweiten im Bunde! Die ausführende Gewalt, die das Ministerium vertritt, ist die dritte Gewalt! Aber eine Gewalt der Volksversammlungen, der Clubs, der Kasernenverschwörungen, der Preßanarchie werd' ich nimmermehr anerkennen. Ich erinnere Sie an das Wort eines großen Dichters, des Briten Shakespeare, der den Jammer des römischen Staates nach den Erfahrungen des britischen in dem Schmerzrufe schilderte:


[2579]
Mein Herz, es weint,
Zu seh'n, wie wenn zwei Mächte sich erheben
Und keine herrscht, Verderben, ungesäumt
Dringt in die Lücke zwischen Beid' und stürzt
Die Eine durch die Andre.«

Nach dem bescheidenen, in schweigsamer Spannung hingebrachten Mittagsmahle schickte sich Louis an, zur Schmiede hinabzugehen. Er hatte mit Murray verabredet, daß dieser auf einem kürzern Wege zum Walde hinunter steigen und sie beim Eingange in das dunkle Tannengehölz, das den Anfang bildete, erwarten sollte. Murray war es einverstanden und besorgte nur, daß sein Bruder nicht Wort halten und doch wol mit seinem Sohne kommen würde, der für Das, was sie im Forsthause vorhätten, ein lästiger Zeuge sein würde. Louis aber versprach sich den glücklichsten Ausgang.

[2580]
10. Capitel. Der geheime Schrank
Zehntes Capitel
Der geheime Schrank

Louis Armand fand den blinden Schmied schon in Bereitschaft und erfuhr, daß Heunisch mit dem jungen Zeck unterwegs wäre nach dem Ullagrunde.

Der Gedanke, Geld, wohl viel Geld erben zu dürfen, hatte dem Alten alle Sorgen aus dem Sinne geschlagen. Er sagte sogar lachend:

Die Ursula wird Augen machen, wenn sie heute Kaffeebesuch bekommt. Vielleicht denkt sie, sie sollte Euch wahrsagen.

Thut sie Das?

Nachmittags, wenn sie Kaffee trinkt, hat schon Mancher bei ihr vorgesprochen. Karten legt sie gern in der Dämmerung, nie Vormittags. Vormittags bespricht sie blos die Rose und die Drüsen.

Es ist eine Zauberin! Ich erfuhr es schon! sagte Louis.

Eine Hexe nennen sie sie; meinte der Blinde. Sie weiß viel, Das ist wahr. Alles aber auch nicht. Nicht wahr, Anneliese?

Die kleine garstige Person, bei der Louis gestern die Bestellung gemacht, begleitete sie vor die Thür.

[2581] Laßt Ihr die Schmiede so allein? Wo sind Eure Gesellen? fragte Louis.

Die Taugenichtse sind abgelohnt. Sie verstanden nichts, aßen Faullenzerbrot.

Damit lehnte Zeck die Thür der Schmiede an, schärfte Anneliesen Aufmerksamkeit ein und verbot, daß die beiden entlassenen Gesellen noch einmal in die Werkstatt kämen.

So schritt er vorwärts.

Louis mußte staunen, wie sicher Zeck ging. Die Erbschaft hatte ihn völlig in Schwung gebracht. Alle Sorge hatte ihn verlassen. Er lachte vor sich hin und schlug sich auf das Schurzfell, das er, so hinderlich es war, vorbehalten hatte. Auch in eine Ritze des Obertheils vor der Brust griff er und versicherte sich eines starken Hammers, den er zu sich gesteckt hatte. Er that wie ein Mann, der sich vor keiner Gefahr scheut, wenn er seine Waffen bei sich hat.

Es ging ein scharfer Wind, der vom Walde her das abgefallne Laub ihnen entgegentrieb. Links die kleine Buchenschonung ließen sie liegen, sie gingen gerade auf das Tannengehölz zu, wo Louis Murray schon wartend fand.

Murray stand in einem alten grauen Mantel, gebückt, fast gespenstisch.

Er winkte Louis, so zu thun, als wenn er nicht zugegen wäre.

Still gingen sie an Murray vorüber, still folgte die ser.

[2582] Den Kupferstecher, sagte Zeck, habt Ihr daheimgelassen, Herr? Nicht wahr?

Er ist nicht nöthig, sagte Louis und winkte Murray, der die Worte hörte – er ist nicht nöthig, hab' ich mir überlegt. Doch kommt er vielleicht später nach oder ging schon voraus.

Zeck mußte jetzt von der Taubheit seines Sohnes Manches erzählen und suchte überhaupt seiner innern Freude durch Gesprächigkeit einen Ausdruck zu geben. Er blieb dabei, daß der junge Baron Grimm, wie er Murray's Sohn lachend nannte, todt wäre, schien es auch nicht anders zu wissen und verließ sich gänzlich auf die Aussagen seiner Schwester, von denen er freilich seinem Begleiter gleich sagen zu müssen glaubte, daß er eben nicht auf viel Vernunft bei ihr rechnen dürfe. Sie hätte die Jahre, um schwach zu sein. Und was bei ihrer Narrheit nicht von den Jahren käme, das hätte der einsame Wald gethan.

Und wol der Doktor Lehmann; setzte Louis hinzu.

Ja, mußte Zeck bestätigen, da hat sie Bücher gelesen, die Manchem schon den Rest gaben, Wunder-, Kräuterund Heilbücher.

Und die rechten Heilinstrumente, die Richtmesser, die Schwerter, die Räder ...

St! ... Zeck winkte mit der Hand und meinte, Louis möchte davon nicht reden.

Murray folgte in einiger Entfernung und hörte Alles, was Zeck, der aus Gewöhnung seines Sohnes wegen immer sehr grell sprach, durcheinanderschwatzte. Der [2583] Gedanke, wie gierig die Habsucht sich in diesem thierischen Menschen zeichne, erfüllte ihn mit Schmerz. Er mußte dabei vorsichtig folgen und immer berechnen, wann Zeck still stand. Hätte er dann nicht auch im Gehen eingehalten, so würde ihn das raschelnde Laub verrathen haben. Jedesmal, wenn er das Stillstehen nicht gut berechnet hatte und einen Schritt weiter ging, fuhr Zeck auf und sah sich um. Da Murray aber gleich still stand, war dem Verdachte, er möchte mit Louis nicht allein sein, keine Nahrung gegeben. An Louis bewunderte Murray die treue Hingebung, dies eifrige, herzliche Bemühen, ihn für die Vernachlässigung dieser Tage, von der nicht er, sondern Louis sprach, schadlos zu halten. Wenn er ihm nahe genug war, drückte er ihm die Hand zum innigsten Danke dafür.

Die sehr naheliegende Erörterung, wer die Mutter des gestorbenen Knaben gewesen, kam nicht zur Sprache. Louis schonte das Geheimniß Murray's und Zeck selbst schien den Namen der Mutter nicht zu kennen. Die Schwester wuchs Louis an Bedeutung durch die Hartnäckigkeit, mit der sie den Schmied von der Kenntniß ihn nur mittelbar berührender Dinge ausgeschlossen hatte. Auch sagte Zeck: Das ist wahr, wer's der Urschel einmal im Guten angethan hat, für den geht sie durch's Feuer! Der Satans- Marzahn war hoch hinaus und hätte sie bald um den Jungen meines Bruders sitzen lassen ...

Wieso sitzen lassen? fragte Louis, blieb stehen und winkte Murray näher zu kommen.

[2584] Zeck stand still und wandte sich erstaunt, da er im Laube noch Fußtritte rascheln hörte.

Der Wind geht! sagte Louis, als er das Staunen des Schmieds bemerkte. Warum sitzen lassen? Wie alt wurde das Kind?

Es wurde, wenn ich's sagen soll, bemerkte Zeck sich umsehend und erst allmälig beruhigend, es wurde –

In dem Augenblicke mußte Murray, der sich durch den Aufenthalt am geheizten Ofen der frischen Luft entwöhnt hatte, unglücklicherweise husten.

Wer ist da? rief Zeck mit einer heftig erschrockenen Gebehrde und griff sogleich nach dem Hammer in seinem obern Schurzfell –

Ah! Sieh da! Mein Freund ist nachgekommen! rief Louis, sich sogleich fassend ...

So – so – sagte der Blinde, riß die Augen auf und drehte sich wie Einer, der seinen Rücken nicht sicher glaubt.

Stoßt Euch nicht an den Bäumen! Kommt vorwärts, Meister! bedeutete Louis. Also wie alt wurde das Kind Eures Bruders, von dem ihr mir sagen müßt, warum er sich Baron Grimm nannte?

Herr Ackermann wird's wissen – meinte Zeck und ging nur zögernd vorwärts.

Herr Ackermann? sagte Louis. Ich habe von ganz andrer Seite her den Auftrag, mich nach dem Sohne Eures Bruders zu erkundigen, der sich eine Zeitlang Baron Grimm nannte; aber ich weiß nicht, wie er diesen Namen führen konnte –

[2585] Ihr wißt nicht – sagte der Blinde zweifelnd.

Ich weiß nur, daß er todt ist und seinem Sohn eine Erbschaft hinterließ ... wie alt wurde das Kind?

Zeck war durch den Dritten eingeschüchtert. Er antwortete nur vor sich herbrummend und meinte zuletzt:

Wir müssen am Forsthause sein – Laßt's Euch von der Ursula selbst sagen, aber die Erbschaft kommt doch wohl – ist sie groß?

Sie standen an der Wiese, die durch den Nachtfrost ihre Frische verloren hatte und in das welke, fahle Wintergrau überging.

Wir kommen zum Kaffee, sagte Louis scherzend, um Zeck wieder mehr Muth zu machen, der Schornstein raucht. Wenn sie nur den Satz nicht verschüttet, daß wir noch unser Schicksal hören können.

Der Blinde antwortete nicht. Er war so mistrauisch geworden, daß er sich immer nach Murray umwandte und wol gar zu glauben schien, er befände sich auf einem falschen Wege, man hätte ihn irre geführt.

Warum wollte Marzahn Eure Schwester nicht heirathen? fragte Louis dringend.

Murray'n brannte es auf der Zunge zu sagen:

Hielt der Soldat vielleicht das Kind für das Kind Ursula's?

Er mußte sich gewaltsam zurückhalten, diese Vermuthung auszusprechen. Louis verstand seine Aufregung und wiederholte seine Frage. Allein Zeck antwortete nicht mehr, sondern verwies auf seine Schwester, indem [2586] er Louis nochmals darauf aufmerksam machte, daß er auf eine gesetzte, vernünftige Unterhaltung bei ihr nicht rechnen dürfe, sondern sehen müsse, wie er Alles, was er zu wissen wünsche, von ihr herausbekäme.

Vielleicht hat sie ihre gute Laune, sagte er, und wenn sie Kaffee kocht, ist sie nicht schlimm, nur manchmal grob.

Mit diesem Troste näherte man sich dem Hause, dessen Inneres durch das Gebell der Hunde lebendig wurde. An die Möglichkeit, daß Ursula Murray erkennen könnte, dachte man für den Fall nicht, daß sich dieser bescheiden zurückhielt. Murray zog die Binde fast über das ganze Gesicht und hielt sich gebückter und älter als je.

Als Louis öffnen wollte, ging die Thür nur am Schlosse auf, nicht ganz in der Angel. Sie war durch eine Kette gehemmt. Aber sie klingelte.

Alles Dies war Louis neu. Für Fränzchen hatte die Alte die Kette und die Klingel abgenommen. Entweder gönnte sie dem Mädchen geringere Sicherheit oder sie wollte in ihrer Zurückgezogenheit oben nicht an den Verkehr des Hauses erinnert werden.

Wer da? rief eine heisere Stimme von oben herab.

Zeck rüttelte am Drücker der Pforte und schlug dann mit dem Hammer dreimal an die hölzerne Füllung.

Nun, nun! hieß es oben, wo der Schmied erkannt wurde. Was soll's denn? Willst du sehen, Jakob, ob wir noch nicht im Kehrichtfaß liegen?

Sie ist vernünftig! flüsterte der Blinde.

[2587] Gott sei Dank! sagte Louis und wartete mit Spannung auf das Erscheinen der Frau, von der ihm Franziska so viel Schlimmes erzählt hatte und von der er durch Murray und Zeck zu viel wußte, um nicht dem Verdachte Raum zu geben, daß sie im Stande gewesen wäre, Franziska aus diesem Hause auch durch irgend eine Frevelthat zu entfernen.

Die Alte stand auf der Hausflur, öffnete aber die Thür nicht. Louis sah eine große hagere Gestalt zwischen der Thürspalte erscheinen mit rothumwundenen Kopfe und scharfen spitzen Gesichtszügen, dunklen habichtsartigen Augen. Der Mund hatte nur noch vorn einige Zähne, die nicht aufeinander schlossen. Der Blick war unheimlich, menschenfeindlich, schielend ohne eigentlich falsch zu sein. Ein rothgelbes ostindisches Tuch war über die Brust geschlagen, der kattunene Rock schien sauber und war heute zur Feier der Wiedereinsetzung in die alten Rechte wohl neugewaschen aus dem Schranke genommen.

Mach' auf, Urschel! sagte der Blinde. Kriegst Besuch! Hast noch Kaffee übrig?

Die Alte antwortete nicht, sondern spähte mit stechenden Augen durch die Thür.

Louis, der fast hätte annehmen sollen, daß sie ihn doch wohl schon von oben beobachtet hätte, grüßte freundlich. Murray trat auf die Seite, sodaß er noch nicht gesehen werden konnte.

Mach' auf, mach' auf! sagte der ungeduldige Blinde. Kriegst einen schönen Gruß aus Amerika, Urschel!

[2588] Wieder so einen, wie im Sommer ... Kling! Kling! Mach' auf!

Die Alte stierte hinaus und schien ihres Bruders tauben Sohn zu suchen. Ihr Blick war der einer Irren. Louis fühlte, wie grauenhaft es Franziska hatte sein müssen, mit einem solchen Weibe unter einem Dache allein zu sein. Er verstand den Entsetzensschrei, den Franziska vorgestern ausstoßen mußte.

Mach' auf! Alte Hexe! rief der Blinde, der jetzt vor Ungeduld und Gewinnsucht zornig wurde. Hast wol den Teufel zum Besuch bei dir? Oder was läß'st du mich und die Herren da stehen ... Sollst Spaß erleben. Mach' auf!

Die Alte sah noch einen Augenblick und schüttelte den Kopf. Dann hätte sie vielleicht die Thür uneröffnet zugeschlagen, wenn nicht Zeck, diesen Fall voraussehend, sich gleich anfangs mit dem Fuße dagegengestemmt hätte.

Hol' dich der Satan! schrie er; willst du aufmachen?

Es ist möglich, flüsterte Louis, daß sie mich des Fränzchen's wegen nicht sehen mag. Oder fehlt ihr Euer Sohn?

Kennst du den Herrn? rief der Blinde. Willst du aufmachen!

Ursula kam wieder und stellte sich wieder spähend an die Thürspalte, im Vertrauen auf die Kette, die jeden Besuch, den sie nicht mochte, absperrte.

Sollst uns Karten legen, schmeichelte jetzt der Blinde, Bube und Dame ... Hörst du? Urschel, mach' auf!

[2589] Louis faßte sich ein Herz und beschloß eine List zu wagen. Er setzte voraus, daß sie ihn noch nicht gesehen.

Wir kommen vom Fürsten Egon von Hohenberg, sagte er, dem dieser Wald, das Haus gehört. Dies ist ein alter Stallmeister. Wir haben zwei Pferde, die an der Huffäule leiden. Wir wissen, daß Ihr alle Krankheiten der Thiere versteht. Sagt uns ein Mittel, das gut ist gegen die Huffäule! Der Fürst wird's bezahlen.

Damit zog er die Börse und klimperte.

Die Alte lachte hämisch, kniff die Augen zusammen und sprach, den Oberleib vorstreckend, als wollte sie Louis bis in's innerste Herz sehen:

Schießt sie todt!

Dann wollte sie die Hausthür zuschlagen.

Darauf war aber der Blinde in andrer Art jetzt schon vorbereitet. Mit dem linken Fuße seines herkulischen Körpers die Thür zurückstemmend, hieb er mit dem rasch hervorgezogenen Hammer so heftig auf die strammgezogene Kette, daß diese klirrend auseinandersprang und die Thür krachend an die innere Wand flog.

Die Alte schrie wie ein getroffener Vogel und flüchtete sich. Eben sicher, keck und höhnisch wurde sie plötzlich über die Maßen furchtsam, wimmerte und drückte sich an den Ofen des Zimmers, in das sie hineinflüchtete, wie ein gutgezogener Hund, der sich vor seinem Herrn mit bösem Gewissen fürchtet.

Louis und Murray folgten entsetzt dem sie zornig verfolgenden Blinden, der nach der Gegend hin, wo er die [2590] Schwester vermuthete, drohend den Hammer schwang und ihr alle möglichen Verwünschungen und Plagen androhte für den tückischen Tag, den sie heut' einmal wieder zu haben schiene.

Wenn ich komme! lärmte er. Bin ich ein Strauchdieb? Komm' ich mit Buschkleppern? Satan du! Rühr' dich oder ich treff dich!

Von Murray's Brust löste sich ein gepreßter Seufzer. Dicht an der Thür glitt er auf einen Sessel. Er war gewiß, daß ihn diese irrsinnige Alte nicht wieder erkennen würde. Es war seine Schwester! Dieselbe Ursula, die Abschied von ihm genommen, als er in seinen Todeskerker geführt wurde! Dieselbe Ursula, der er die Pflege eines Kindes übertrug, das ihn an seine schuldvolle Vergangenheit, wie den Verbrecher der Ring an den Pranger fesselte!

Hier komm her, herrschte der Blinde, hier mach' Mores! Hopp! Dahin! Wo bist du? Gib die Hand, Urschel!

Er langte nach ihr. Sie jammerte aber, der Schmied wolle ihr etwas zu Leide thun ...

Louis warf einen traurigen Blick auf Murray, der so viel sagen sollte, als: Hier ist schwer, auf begründete Thatsachen kommen! Hier gilt es, Geduld haben.

Mach' den Herren dein Compliment! sagte der Blinde. Das ist der Herr Stallmeister, das ein Cavalier vom Fürsten. Wirst doch wissen, wie Doktor Lehmann die Huffäule kurirte? Du hast ja Doktor Lehmann's Bücher. Hol' sie! Da im Schrank liegen sie ...

[2591] Die Alte faßte jetzt etwas Muth und wagte sich vor.

Wo ist der Schlüssel?

Sie schüttelte den Kopf.

Wo ist der Schlüssel?

Louis merkte, daß ihm Ursula winkte. Er trat näher. Sie flüsterte ihm in's Ohr:

Ich geb' ihm meinen Schlüssel nicht, wenn er allein kommt. Wie das Geld aus Amerika kam, kam er auch allein. Da mach' ich nicht auf. Sein Junge muß Zeuge sein.

Was sagt sie da? fragte Zeck.

Bleibt da, sagte Louis entschlossen und führte Zeck an das Fenster der schon dunkelnden kleinen Stube zurück. Bleibt ruhig! Eure Schwester wird uns Alles sagen.

Herr, fuhr Ursula fort. Er hat nichts Gutes vor, wenn er allein kommt. Er ist schon öfters allein durch den Wald geschlichen ...

Kommt er denn jetzt allein, gute Frau? sagte Louis. Wir sind ja unsrer zwei mit ihm und Eure Freunde.

Aber Ihr hört's ja, er will den Schlüssel haben!

Murray merkte aus diesen Worten bald, daß Ursula noch so viel klare Gedanken hatte, um vor Jakob Zeck's Habgier sich sicher zu stellen. Er gedachte seines Geldes, das ohne Zweifel Veranlassung dieses Mistrauens war.

Louis folgte mit großer Geistesgegenwart der gleichen Betrachtung und sagte:

Das ist recht, Frau Marzahn, daß Ihr Euer Geld verschließt. Ihr müßt reich sein. Aber gabt Ihr denn die [2592] dreitausend Thaler, die Ihr einst für das Kind Eures Bruders, der in Amerika gestorben ist, empfangen habt, nicht auf Zinsen?

Ursula stierte ihn auf diese Worte mit großen Augen an.

Ach, Herr, sagte der Blinde, die dreitausend Thaler legte sie bei Marzahn's Leber an. Das Geld zehrte all der Durst weg.

Die Alte verstand diese Bemerkung, lachte und erhob sich jetzt, ihren Gästen etwas vorzusetzen.

Ihr Herren, sagte sie, wollt Ihr trinken?

Da, sagte Zeck, nun hat sie's! So ging's früher! Juchhei! Flotte Wirthschaft! Die und dreitausend Thaler! An Die hat sie's hinausgeworfen, die ihr sagten, daß sie hübsch war. Zehn haben sie heirathen wollen und Jeder zog sie nur aus, bis sie nichts hatte und ihren armen blinden Bruder hätte sie verhungern sehen können ...

Wollt Ihr trinken, Jungen? fragte Ursula wieder mit schelmischer Lüsternheit.

Louis schüttelte den Kopf. Er empfand ein Grauen vor dem Gedanken, von einer solchen Frau sich etwas zum Genusse vorsetzen zu lassen.

Danke! sagte er kräftig und setzte mit Entschlossenheit den Hebel an die Erinnerung der Alten, indem er fortfuhr:

Marzahn war so durstig und doch wollt' er nicht ein Ende machen und heirathen. Warum, Frau Ursula, wollt' er denn nicht heirathen?

[2593] Aber die Antwort auf diese Frage blieb aus. Die Ideenverwirrung der Alten war so eigenthümlich, daß sie kichernd zu Louis sagte:

Bist schmuck! Hast doch auch schon ein Mädchen?

Der Blinde lachte laut auf und machte den plumpen Scherz:

Hei! So war's recht! Ja! Es ist ein Freier für Dich, Ursula! Der Dreizehnte, wenn Du willst! Herr, sie wäre im Stande, noch mit Euch Hochzeit zu machen. Faßt ihr einmal an's Kinn! Ich wette, sie hat mehr Haare am Kinn als Ihr unter der Nase!

Ich kann mir denken, fuhr Louis den Scherz nicht beachtend fort, ich kann mir denken, daß Eure Freier, Frau Ursula, gefragt haben: Wem gehört denn der kleine hübsche Junge da? Ist das Euer eigner lieber kleiner Taugenichts?

Das ist's! sagte Zeck.

Sie hörten dann, fuhr Louis fort, das ist meines Bruders Kind. Was wollt Ihr? sagtet Ihr. Es gehört dem Bruder ...

Sie glaubten's aber nicht, fiel Zeck ein.

Ursula hörte nur zu, wie wenn etwas ihr Wildfremdes besprochen wurde.

Und zu sagen, von wem das Kind käme, wer die Mutter wäre, Das war durch einen Schwur verboten?

Und durch das Geld, das sie durchgebracht hat! setzte Zeck grimmig hinzu.

Da war's dann Euer Sohn –

Doktor Lehmann's Sohn! lachte Zeck.

[2594] Murray schauderte, weil ihm von Wort zu Wort das Verhältniß ganz klar wurde.

Und Marzahn war der schlimmste Eurer Freier? fuhr Louis mit einer für Murray bewunderungswürdigen Kunst der Inquisition fort. Der wollte nichts wissen von Doktor Lehmann's Sohn!

O Das wäre der Teufel, sagte Zeck. Der verspielte ihr Geld und nannte sie dann, wie man Weiber nicht nennen soll, wenn sie's auch sind –

Wegen dieses Kindes?

Nein Herr, da war's ja schon todt, als Marzahn an die Reihe kam. – Es war ein andrer – der Vierte, der Fünfte ...

Wie alt wurde er denn, der kleine Wurm?

Ich denke, ein anderthalb Jahre – nicht wahr, Urschel? Du nahmst es ja in die Stadt, als ich krank lag. Mir war schlecht damals, Herr. Als ich wieder Besinnung faßte, war Paul gestorben. Urschel, Du hast ja den Todtenschein von Paul. Gib ihn mal her! Die Herren brauchen ihn. Paul soll erben. Wieviel denn, Herr?

Wol an zehntausend Thaler! sagte Louis frischweg, um aus den halben Thatsachen herauszukommen.

Zeck starrte. Seine Augen rissen sich groß auf.

Hört sie wol ein Wort von Allem, was wir sprechen? rief er zornig. Gib den Todtenschein vom Paul! Paul Zeck! Hörst Du nicht?

Ursula band sich ihr Tuch vor'm Spiegel fester und nahm dabei eine Nadel in den Mund.

[2595] Den Todtenschein vom kleinen Baron! wiederholte Zeck, ihr in's Ohr schreiend.

Ursula steckte ruhig die Nadel in das Kopftuch.

Warum lacht Ihr, Frau Marzahn? Ist der kleine Baron wirklich todt? fragte Louis.

Murray sah gespannt ...

Die Schwester zeigte auf die dunkle Wiese unter dem kahlen Ebereschenbaum.

Murray mußte aufstehen, weil er in der Nähe des Fensters saß und sich gern zurückgezogen hielt.

Wo ist der kleine Baron? wiederholte Louis.

Ursula that, als suchte sie den kleinen Baron auf der Wiese und lachte dabei.

Sie ist verrückt! sagte Zeck. Im Sommer sagte sie einmal zu mir: Jakob, sagte sie, ich habe den Baron gesehen; sie meinte unsern Bruder, und zeigte auf einen Baum, der da auf der Wiese stehen muß. Da hätte sie ihn im Mondschein gesehen.

Louis und Murray fühlten, daß hier schwer, ja un möglich eine vernünftige Auskunft zu finden war. Sie konnten daher nichts dagegen haben, daß der Blinde den Hammer nahm und an einen kleinen Schrank, der neben einer alten Uhr an der Wand hing, mit furchtbarer Gewalt einen Schlag verführte.

Ursula sprang jetzt hinzu und schrie.

Geld hat sie nicht! sagte Zeck wüthend und auf den Schrank schlagend; das gibt sie alles an die Männer. Dem Heunisch, dem Faullenzer, stopft sie's ein, seit Jahren, [2596] daß sie wie toll in seinen rothen Bart verliebt ist. Aber Papiere sind da. Den Todtenschein vom Paul muß sie haben!

Ursula schrie und rang mit dem Bruder; doch schon war der kleine Schrank aufgesprungen und Papiere, Bücher, Flaschen, Büchsen fielen wirr durch einander herunter.

Es war ein trauriger Anblick, zu sehen, wie Ursula mit dem Blinden rang, um ihn von der Zerstörung und der Durchsuchung dieser Gegenstände abzuhalten.

Murray erfaßte ein Grauen. Er erkannte einige dieser Büchsen und Gläser. Sie stammten aus seiner früheren Kupferstecherwerkstatt her und enthielten ätzende Gifte.

Rührt nichts an! schrie Zeck. Es ist Gift! Die Hexe will den Schein nicht geben! Sie will sagen, der Paul lebt noch!

Dabei wühlte die schmutzige Hand in dem Schrank und trat Alles, was ihr vorkam, mit Füßen.

Zurück! donnerte Louis jetzt und schleuderte den zum Thier entfesselten, habsüchtigen Blinden mit jugendlicher Kraft bei Seite. Zurück! Nicht einen Fetzen hier angerührt, nichts hier zerstört!

Ich faßte aber ein Buch! sagte Zeck fast zur Erde taumelnd. In dem Buche liegt der Schein. Es ist ein Doktorbuch. Ich habe den Schein ja nie selbst gesehen, aber vor zwei und zwanzig Jahren hat sie ihn mir vorgelesen ...

Was ist das für ein Buch? sagte Louis, sich mit Ruhe und Fassung zu Ursula wendend und Eins nach dem Andern vornehmend.

[2597] Als die Alte das Buch sah ... es war ein Gesangbuch mit goldnem Schnitt ... fing sie plötzlich an zu zittern ...

Was habt Ihr? fragte Louis.

Ursula stöhnte, ja schluchzte fast ...

Alle starrten vor Befremden ... Die Alte nahm das Halstuch ab und trocknete sich damit die Augen ... Das Gesangbuch hüllte sie dann in das Tuch ...

Murray hielt sich immer still und stützte den Kopf auf ...

Warum weint Ihr, Ursula? fragte Louis entsetzt.

Statt der Antwort machte die Alte Töne, als ahmte sie Kirchenglocken nach.

Zeck schwieg erschrocken und wandte sich ab ...

Das ist ein Gesangbuch, mit dem man Sonntags in der Frühe in die Kirche geht, sagte Louis.

Die Alte nickte und fuhr rasch fort:

Es ist gleich neun – der Pfarrer wartet schon – ha ha – da, den Strauß hatte sie in der Hand –

Louis griff nach einem verwitterten, ganz vermoderten alten Blumenstrauß, den Ursula in der Hand hielt ...

Ha! schrie Ursula auf. Da! Da! Da liegt sie! Unten! Ha, ha, ha!

Wer? fragte Louis wiederholt.

Statt zu antworten, trat Ursula scheu an Louis heran und flüsterte, indem sie hinterwärts, etwa nach der Richtung der Sägemühle hinzeigte:

Da! Da!

Wovon sprecht Ihr denn, Frau? Besinnt Euch?

[2598] Sie sang wieder Glockentöne und setzte sich dabei, weil ihr schwach wurde ... Zeck schwieg erstarrt.

Louis behielt das Gesangbuch und den Blumenstrauß zurück, sah aber, daß ihm Murray einen Wink gab, den Bruder zu beobachten. Dieser hatte seit dem Gesangbuch, dem Glockenton, der Erinnerung an einen Sturz vom Felsen alle Besinnung verloren. Er stand wie ein taumelnder, bewußtloser Stier, den die Axt des Fleischers vor die Stirn getroffen hat und der noch nicht völlig ohne Leben ist. Nur krampfhaft streckte er die Hand hinaus, als wollte er diese hier unvermuthet getroffenen Gegenstände, die Louis betrachtet hatte, fassen. So blieb die Hand ihm wie hängen.

Murray wagte den Gedanken, daß hier eine Schuld, eine Mitschuld an irgend einer Unthat vorläge, nicht auszusprechen. Wußte er doch nicht, worauf sich diese Andeutungen, diese Reliquien bezogen! Aber Erstaunen mußte es ihm verursachen, daß der Schmied ruhig geschehen ließ, wie Louis im Schranke weiter suchte und forschte.

Ich finde nichts, sagte Louis. Da ein Kamm von Schildpatt mit weißem Elfenbein verziert –

Bruder und Schwester erwiderten nichts.

Ein schöner Kamm! sagte Louis. Trugt Ihr den früher, liebe Frau?

Ursula schüttelte sich und meinte jetzt:

Er brennt ja.

Der Kamm brennt? Wie kann der Kamm brennen? fragte Louis.

[2599] Murray horchte hoch auf.

Fragt Den da, sagte Ursula und zeigte auf den Blinden, der in der That den Kamm so von sich weghielt, als stünde er in Flammen. Sein Athem keuchte. Er kam jetzt in Bewegung und suchte das Fenster.

Ursula kam dem zum Tod erschrocknen, über diesen Inhalt des Schrankes entsetzten Blinden zuvor, riß das Fenster auf und rief:

Ihr erstickt, Leute! Macht fort! Fort! Der Kamm brennt! Die Stube brennt! Die Gardine! Linchen brennt! Jakob! Jakob!

Weiter konnte Ursula nicht. Jakob Zeck, der wüthende Blinde, warf sich auf sie, wie man auf einen brennenden Gegenstand das erste Beste wirft, um die Flamme zu ersticken. Er warf die Alte zu Boden, trat sie. Murray hielt sich nicht länger. Er sprang auf, faßte den Blinden rückwärts und schleuderte ihn mit einer Kraft zurück, über die Louis erstaunen mußte.

Louis steckte den Kamm zu sich, dann schloß er das Fenster, ohne darauf zu achten, daß es ihm war, als hörte er in der Ferne Pferdegetrappel. Er erstaunte über Murray, der im Begriff schien, sein Incognito aufzugeben und mit dem Terzerol in der Hand dastand. Der Anblick dieser Papiere, die vielleicht über seinen Sohn Auskunft geben konnten, ergriff Murray so gewaltig, daß er den auf dem Boden wühlenden Bruder fast mit Füßen stieß und sich der Papiere, die er zusammenraffen konnte, schnell bemächtigte. Zeck, der im Ringen mit ihm bemerkte, daß [2600] es nicht Louis war, der ihn niedergeworfen, erhob sich und hielt seinen Hammer empor.

In der Linken das Gesangbuch, in der Rechten seinen Hammer, rief er, die Besinnung verlierend:

Mörder! Diebe! Ursula, laß die Hunde los!

Die Papiere heraus! donnerte Murray. Ihr seid Mör der! Ursula sprich! Wer verbrannte? Wer stürzte vom Felsen?

In dem Augenblicke nahte sich aber der wüthende Zeck mit seinem Hammer, holte aus und würde in seinem Irrthum Louis, der ihm zunächst stand, unfehlbar tödtlich getroffen haben, wenn nicht Murray ihn mit der Linken – in der Rechten hatte er das Terzerol – ergriffen hätte.

Halt' ihn! Halt ihn! schrie Ursula. Er weiß es! Nantchen's Gesangbuch! Wo ist das Gesangbuch! Linchen's Kamm! Ha, ha! Jakob, nun ist's doch all' eins! Nun holen sie uns doch! Sag's Jakob! Oder soll ich's sagen?

Murray ließ die Hand sinken. Aber nur einen Augenblick. Der Blinde hatte die Stelle gemerkt, wo die Schwester stand. Er hörte, daß sie Angaben machte, die auf geheime Verbrechen schließen ließen. Er hob den Hammer, um durch einen tückischen Seitenschlag der Schwester im Nu den Mund für ewig zu schließen. Murray blitzschnell folgte der Bewegung und schoß, ohne zu überlegen, sein Terzerol ab.

Der Schmied sank getroffen. Ursula schrie auf. Louis, der in den Papieren des Schrankes suchte, wandte sich und sah das Entsetzliche, das eben geschehen war –

[2601] Erkennst Du mich? rief Murray nun dem zurücktaumelnden und zur Erde sinkenden Blinden zu, er kennst Du mich? Die Stimme Deines Bruders spricht zu Dir! Ursula, hat die Macht des Wahnsinns Deine Sinne ganz geblendet? Der sieht nicht und erkennt mich, Du siehst und weißt nicht, wer mit Dir spricht?

Der Schmied ächzte. Ursula riß gespenstisch die Augen auf ...

Erkennst Du mich, Jakob? So dröhnten die Mauern in unsrer Werkstatt, wie jetzt, als Du die Erde zum letzten Male sahst. Hörst Du mich, den Auferstandenen? Euern Bruder Friedrich?

Der Blinde antwortete nicht ... er ächzte.

Ursula hielt sich am Ofen fest und erkannte den Bruder noch nicht wieder. Groß starrten ihre Augen auf ihn herab. Sie sah den Niedergesunkenen, ohne das Geschehene fassen zu können.

Rettet Euch, Murray! Ihr seid verloren! rief Louis jetzt, der gleich nach dem Schusse an's Fenster getreten war und die beiden Dragoner hatte heransprengen sehen. In der Ferne hörte er Stimmen. Die Hunde bellten und rissen wie wüthend an ihren Ketten ...

Murray, was habt Ihr gethan? rief Louis.

Euch und der Schwester, der Unglücklichen, das Leben gerettet ... Dieser Elende! Falschmünzer! Mörder! sagte Murray und sank entkräftet, keiner Gefahr achtend in seinen Sessel.

Was bedeuten diese Bewaffneten? Ist es auf Euch[2602] abgesehen? Ich beschwöre Euch! Flieht! Das Dunkel wird Euch schützen! rief Louis.

Statt aller Antwort erhob sich Murray noch einmal und trat dicht vor Ursula mit den Worten, die er ihr donnernd zurief:

Ursula, habt Ihr Paul ermordet?

Die Alte schüttelte den Kopf.

Ist das Kind todt? Verbrannt? Vom Felsen gestürzt?

Ein Augenblick Zeit war noch übrig; schon standen die Dragoner an der Thür draußen und lärmten. Menschen liefen quer über die Wiese herüber.

Ist Paul Zeck todt? wiederholte Murray.

Die Alte schüttelte den Kopf.

Ah! sagte Murray. So hab' ich noch Pflichten und sollte noch leben! Nein, Freund, dieser Überfall gilt mir! Man ahnt, wer ich bin. Sehen Sie, ich erkenne die beiden Häscher, die mich schon einmal verhafteten. Wohlan! Wohlan! Nach dem Tode dieses Elenden dort, zu dessen Richter mich Gott bestellte, bedarf ich einen Ort der letzten Sammlung! Leben Sie wohl, Louis, und wenn Sie aus diesen Papieren erfahren könnten –

Murray! mußte Louis mit überströmendem Gefühle rufen und sich schmerzzerrissen an des unglücklichen Mannes Brust werfen.

Murray küßte ihm die Stirn. Eine Thräne quoll aus seinem Auge.

Nur kurz war dieser Augenblick; denn schon war Murray ergriffen und die Scene verwandelte sich in eine [2603] brutale Verhaftnahme, wie sie ohne alle Rücksicht auf die obwaltenden Umstände nur stattfinden konnte. Da ein Verwundeter, dort ein Schrank erbrochen, der gesuchte zweideutige Engländer, mit einem Mordgewehr in solcher Situation gefunden ... Louis hatte alle Kraft zusammenzunehmen, der Gewalt dieser ihn selbst im sonderbarsten Lichte darstellenden Scene nicht zu erliegen.

Schont diesen Mann! rief er und drängte die beiden Gesellen, die bei Zeck gearbeitet hatten, zurück. Wer seid Ihr, daß Ihr wagen dürft, hier einzudringen?

Bei Mördern und Dieben ist Jeder zur Hülfe berufen, sagte der Eine. Übrigens sind wir Diener der Gerechtigkeit ...

Es waren Mullrich und Kümmerlein, die Polizeidiener. Pfannenstiel bestätigte, daß Beide mit dem Auftrage hierherkamen, diesem Manne mit der schwarzen Binde, der sich Murray nenne und für einen Engländer ausgäbe, in seinen Unternehmungen um das Schloß Hohenberg herum aufzupassen. Schlimmeres könne man wol nicht antreffen, als hier den Vorfall im Forsthause. Herr Louis Armand würde von seiner Zeugenaussage viel Umstände haben ...

Sie wird sehr einfach sein, sagte Louis. Dieser edle Mann hat mir und jener Frau das Leben gerettet.

Den Hammer sah ich in des Blinden Hand, bemerkte Pfannenstiel. Das ist richtig. Die Umstände kann man nicht genau genug aufnehmen ...

[2604] Indem wurde Murray zwischen die beiden Dragonerpferde genommen und gefangen fortgeführt.

Louis umarmte ihn noch einmal mit Thränen.

Die Umstehenden machten eine eigne zwischen Spott und Erstaunen gehaltene Miene, als Murray noch die Worte sprach:

Mein Freund, trauern Sie nicht! Sie kennen meine Lehre, meinen Glauben! Ich dulde gern, denn ich weiß, wofür ich dulde! Geh' es Ihnen wohl! Sie haben in ein Leben, in Verhältnisse geblickt, über die man nur zu rasch ein Kreuz schlägt und sagt: Da ist nichts zu ändern! Holen Sie sich das Bewußtsein aus ihnen, ein reiner, mit Ihrem Innersten einiger Mensch zu sein! Gottes Geist erleuchte Sie! Wirken Sie Gutes! Und wollen Sie meiner gedenken, so gedenken Sie, daß der Zweck unsrer Reise erreicht ist. Wir wissen, daß Paul lebt! Die letzten Antworten Ursula's waren erleuchtet. Dafür dank' ich Gott und Ihnen.

So schied Murray und schritt zwischen den Pferden und den Sporen der Reiter voll Demuth hin.

Mullrich und Kümmerlein, die ihre Prämie verdient hatten, folgten mit spöttischem Blicke auf Louis Armand, den nur die Beziehung zum Fürsten und Premierminister schützte.

Pfannenstiel half diesem, den bewußtlosen Blinden in eine Nebenkammer auf ein Bett bringen. Ursula saß am Ofen und schien von Allem, was sie umgab, nichts mehr zu bemerken ...

[2605] Dann folgte Pfannenstiel den Übrigen und versprach, einen reitenden Boten nach Randhartingen zu schicken, um den Doktor Reinick zu holen.

Wie Louis mit dem ächzenden Blinden und Ursula allein war, befiel ihn erst eine Furcht, die er vorher nicht kannte ...

Ursula ließ es ruhig geschehen, daß er die zerstreuten Papiere, das Gesangbuch, den Kamm, den Blumenstrauß zusammenraffte und zu sich steckte. Vor den Gläsern entsetzte er sich und mochte sie nicht untersuchen ...

Ursula saß in der Kammer neben dem Bruder, dem nur ein kundiger Arzt helfen konnte. Sie ließ das Haupt hängen und schien selbst, hochbetagt wie sie war, ihrem Ende nahe. Sie versprach, Louis' Weisungen zu folgen, holte auch Wasser, sprach auch von Umschlägen, die sie machen wollte, that eigentlich vernünftiger als vorher und doch war es nur mechanische, fast gedankenlose Bewegung.

Da Louis Heunisch's Rückkehr nicht abwarten konnte, ging er zuletzt still, ohne daß es Ursula merkte, aus dem verhängnißvollen Hause. Mit welchen Gefühlen! Die Wahnwitzige blieb mit dem Bewußtlosen, Sterbenden allein zurück.

Es war Schnee gefallen. Ein Leichentuch deckte die Erde. Wohin Louis blickte, die weißen Schimmer des Winters ...

Plessen fand er in großer Bewegung. Die Arrestation, die Verwundung des Schmieds, die Entpuppung der beiden [2606] Gesellen in der Schmiede hatte Alles in Aufregung gebracht ...

Auf dem Schlosse fand Louis die Sachen des schon weiter geführten Murray mit Beschlag belegt ...

Der Justizdirektor empfing Louis in dem Eckzimmer an dem noch offen stehenden Klavier und bedauerte diese Vorfälle, die zu erleben, zu beobachten, zu untersuchen, zu erörtern, ganz gegen seine Natur ging ...

Herr von Zeisel mußte mit dem Aktuar Weiße ein Protokoll aufnehmen. Louis unterschrieb es und erzählte Alles, was er glaubte über Murray mittheilen zu müssen. Er verschwieg, daß Murray Zeck's und der Ursula Bruder war. Er schilderte seine Bekanntschaft mit Murray als die harmloseste, gestand zu, daß jener Alte aus Mistrauen und Lebensüberdruß ein Pistol bei sich führte und berief sich als Ursache des Streites zwischen ihm und dem blinden Schmied auf eine Familienangelegenheit, die er erst später den Gerichten glaubte mittheilen zu dürfen ...

Herr von Zeisel blieb gütig und wohlwollend, fand es auch in der Ordnung, daß Louis vorzog, schon morgen in die Residenz zurückzukehren. Er selbst wußte über Murray nichts, als daß höhern Orts zwei Polizeiagenten wären aus der Residenz geschickt worden, um einen gewissen Murray, der an diesen und jenen Dingen zu erkennen wäre, zu beobachten und im Falle zweideutigen Benehmens, besonders aber im Falle einer Beziehung zu dem Schmiede Zeck und dem Försterhause, sogleich festzunehmen und in die Residenz zu senden ...

[2607] Louis mußte über diesen Zusatz sehr erstaunen und ahnte, daß sich die alten gewaltigen Mächte gegen den aus Amerika zurückgekehrten verhaßten Vater des verschollenen Paul Zeck deutlich genug regten.

Er hatte eine schlaflose Nacht ...

Am frühesten Morgen weckte er die alte Brigitte und Winkler, gab ihnen Trinkgelder, die nicht seiner eignen Lage, wohl aber dem Orte, den er bewohnt hatte, angemessen waren und entfernte sich, ohne Abschied von Oleander zu nehmen, mit einer schon am Abend bestellten Gelegenheit in der Stille von Hohenberg. Nur an Franziska ließ er zur Besorgung einige geschriebene liebevolle Worte zurück ...

Mit banger Wehmuth über unsre Erdenschicksale, über fremdes in der Irre gehendes Hoffen und sein eignes so Viel verfehlendes Streben, zog es ihn jetzt dahin, wohin man den unglücklichen Murray geführt hatte.

[2608]
11. Capitel. Unterm Schnee
Eilftes Capitel
Unterm Schnee

Die weiße Decke des Winters blieb und wuchs. Der Winter erstarrte Alles, was in der Natur noch zu leben, irgend noch zu wachen versuchte. Die wenigen zurückgebliebenen Vögel flüchteten den Wohnungen der Menschen näher, doch auch diese hatten sich strenger verschlossen und schienen ärmer an Liebe, sparsamer mindestens mit ihren freundlichen Gaben, selbstbekümmerter in sich zurückgezogen. Der Schnee lag so hoch, daß man die Dörfer aus ihren Decken kaum heraus erkennen konnte. Nur wo irgend ein warmer Hauch, aus der Küche, aus den Schornsteinen, ja, da wir auf dem Lande sind, aus dem dampfenden Dünger entstieg, öffneten sich einzelne Falten des großen weißen Gewandes und verriethen, daß unter ihm etwas Lebendiges ruhte. Bald gesellte sich zum Schnee der Frost, der ihn ballte und so kittete, daß er unter dem Fußtritt und dem Wagendrucke knisterte. Die Geleise, die in der vom Wind verwehten Schneedecke auf der Landstraße und im Walde nicht bleiben wollten, froren nun fest. So kalt es war, so kam man nun doch eher zum Vorschein, weil man feste Wege fand. Da standen [2609] denn die Bäume mit großen weißen Harnischen gepanzert, die ihnen im Schneegestöber angeweht und dann gefroren waren. Die kleinsten Zweige hätten unter der Lupe betrachtet millionenfach wunderbare Krystallisationen geboten. Wie glänzten diese zarten Kandirungen an der blutroth aufsteigenden Sonne, deren Strahlen nur Morgens, Mittags und Abends die Kraft hatten, durch den Nebel hindurchzudringen! Da wo sonst tiefe Abgründe und Klüfte waren, hatte sie das Schneegestöber ausgefüllt und trügerische Bahnen geschaffen, die nur unter dem pfeilschnellen Fluge des Wildes nicht nachließen. Man sah die Spuren des flüchtigen Wildes. Viele Jagdliebhaber, die für Wochen und Monate eine Licenz zum Schießen lösten, verfolgten sie auf Umwegen. Auch die Klingeln der Schlitten belebten die erstorbene Gegend, wie der Knall der Büchsen. Wer sich jetzt gegenseitig besuchte, durfte voraussetzen, freundlicher als sonst aufgenommen zu werden.

Noch ehe die Erde zu harten Schollen gefroren war, hatte sie zu ewiger Ruhe zwei Entseelte aufgenommen. Die Müllerin und acht Tage später den blinden Jakob Zeck. Der Schuß war dem Schmied unter dem Schlüsselbein eingedrungen. Die Sorgfalt Reinick's vermochte nichts gegen den Brand.

Zwei so rasch unter solchen Umständen sich folgende Begräbnisse regten die Umwohner genugsam auf und laut genug wurden jene Todtengerichte gehalten, die jedem Sterbenden folgen, wenn auch nicht so feierlich wie einst [2610] in Ägypten, und bei den Meisten auch nur in Gedanken. Der Vikar Oleander aber hielt sie in Worten an den offenen Gruben und achtete des Schnees und der Kälte nicht. Hatten doch auch die Menschen noch gewußt, Blumen aufzutreiben, warum sollte er mit Worten geizen! Sein schönes Talent, den Augenblick und die Situation selbst reden zu lassen, bewährte sich auch hier und Viele sagten, daß er am Grabe des blinden Zeck fast noch rührender gesprochen als an dem der Müllerin. Hier klapperte ja die Mühle fort, es fehlte dem Gatten Niemand! Da aber stand ein Sohn, der sich, für so beschränkt er sonst galt, im Verlust seines (ihn führenden) Vaters wie ein Verzweifelnder gebehrdete und sich mit wildem Schmerze auf den Sarg warf, um ihn nicht schließen zu lassen! Da stand Heunisch, dem der plötzlich weißer gewordene Schnurrbart rings vom Athem und der Kälte vollends gereift war! Er hatte Louis nicht mehr gesprochen und von Ursula, die zum Tode geknickt schien, nur verworrene Aufklärungen erhalten. Da stand Franziska Heunisch, die mit Selma eben ein trauliches Stillleben beginnen wollte, als sie dieser Fall beinahe wieder auseinanderriß! Doch hoffte Heunisch, die Marzahn würde es noch bis zum März bringen. Auch zwang ihn die Jagd, viel Menschen zum Treiben und Transport des Wildes ohnehin immer um sich zu haben und oft kam er nun drei, vier Tage lang nicht mehr nach Hause. Da stand Herr von Zeisel, der nur bedauerte, wie unklar sich dieser ganze Vorfall anlasse und wieviel es Correspondenzen kosten würde, die Gerichte [2611] der Residenz mit den Ergebnissen der hiesigen Untersuchung in Einklang zu bringen! Da stand auch noch Siegbert Wildungen, den Louis' plötzliches Verschwinden schmerzlich genug, weil mit solchen Umständen verbunden, überraschte. Alle hörten sie Oleander's Betrachtungen mit Rührung zu. Er verschwieg nicht, daß dieser Todte wenig Freunde gehabt und Allen eher kalt, als warm erschienen sei. Er hätte die Liebe, die er nicht gesucht, auch nur bei Wenigen gefunden. So kam der junge Redner auf die Verstockung des Herzens, die hier eine Folge des leiblichen Gebrechens mochte gewesen sein und sprach mit großer Offenheit darüber, daß Die, die auch geistig taub sind, die geistig nicht sehen wollen, auch an ihrem noch besseren Theile einbüßen. Auch an Louis' Mittheilung, daß dieser Blinde seinen Tod sich selbst zuzuschreiben hätte wegen eines bösen Anfalls von Jähzorn und schlimmer Tücke, fest und unerschütterlich sich haltend, verschwieg Oleander zur Warnung kein Fehl des Dahingegangenen und goß erst zuletzt das milde Licht der himmlischen Gnade, deren wir Alle bedürften, über seinen weihevollen Vortrag. Dem Sohne, sagte er dann, zu ihm sich wendend – die Umstehenden berührten den Tauben, um ihm zu sagen, der Pfarrer spräche mit ihm – kann ich nichts sagen, da ihm das Ohr für menschliche Rede verschlossen ist! Blicke hin und höre die Sprache, die du siehst! Diese Erde – er zeigte auf die Grube – und jener Himmel – er zeigte empor – sind Eines, so wir reinen Herzens sind – er legte dabei die Hand an die Brust.

[2612] Der Taube verstand ihn und weinte. Er war in den Dreißigen und jetzt hülfloser wie ein Kind.

Als man vom Kirchhof heimging, hörte Siegbert noch ausführlicher, was sich Alles im Walde zugetragen hatte. Heunisch und Zeisel erzählten, auch Pfannenstiel trat näher. Allen fiel auf, daß aus dem kleinen Schranke der ganze Inhalt fehlte, den Heunisch freilich selbst nie gesehen hatte. Das gewaltsame Aufschlagen mit dem Hammer schien Allen erwiesen und Niemand bezweifelte, daß der Blinde sein Schicksal verdient hatte. Einen genaueren Zusammenhang ahnte nur Ackermann wegen der von ihm aus Amerika gebrachten Summen. Was man aber von dem Engländer Murray, von Louis' Urtheil und von der Schwester denken sollte, war auch ihm räthselhaft.

Wie dem auch sei, sagte Herr von Zeisel zu Ackermann, es ehrt Herrn Oleander, daß er die gleiche Theilnahme der reichen Müllerin und dem, wenn nicht armen, doch wenig geachteten Schmied bewies. Ich denke an Stromer – setzte er mit einem Seitenblick auf die einsam wandelnde Pfarrerin, die nicht zuhörte, leise hinzu – ich denke an Stromer, dem alle diese Vorkommnisse gering und seiner nicht würdig erschienen und bei allem Geiste, den ihm Niemand absprechen wird, keine fesselnden Worte abgewannen.

Es fehlte ihm wol das Herz! sagte Ackermann.

Ich möchte auch Das nicht sagen, bemerkte Herr von Zeisel. Er schreibt doch in den Blättern mit großer [2613] Empfindung. Die Briefe an die Seinigen sind oft kurz und zerfahren, oft aber auch voll Rührung ...

Vielleicht über sich selbst, bemerkte Ackermann. Nenne man Das doch nicht Herz, wenn ein Mensch leicht in Thränen zerfließen kann! Ich habe Frauen gekannt, die viel weinten und die doch nur ihre Nervenschwäche hätten für ihr Gemüth ausgeben sollen. Stromer ist voll Rührung über sich selbst. Er weint darüber, daß er weinen kann. Er bewundert sich, wenn er voll Wehmuth einen Kirchhof oder den erwachenden Frühling betrachtet. O diese eitle Selbstbespiegelung! Ich erkenne das Herz nur bei den Menschen an, die im Stande sind, aus andern Menschen herauszuempfinden und in ihnen wie in sich selbst zu leben.

Oleander, der einestheils zu zartfühlend war, um sich auf Kosten seines Vorgängers rühmen zu hören, andrerseits die Gewohnheit hatte, nach dem Ernste gern in einem scherzenden Tone sich wieder mit der naiven, ihm eigenthümlichen Auffassung zu vermitteln, bemerkte:

Ich will gleich sehen, wer unter uns Herz hat! Da seh' ich Damen in Pelzwerk und Mänteln kommen ...

Meine Frau, sagte Herr von Zeisel, Frau von Sänger und Fräulein Selma Ackermann.

Ich sehe schlecht, fuhr Oleander fort, wo geht Fräulein Selma?

Rechts, sagte Herr von Zeisel.

Links, fuhr Ackermann fort, geht Siegbert Wildungen.

[2614] Ihr irrt! Rechts Frau von Sänger – bemerkte Oleander ...

Nein, nein, links geht Frau von Sänger! bestätigten Alle.

Da meinte denn Oleander:

Seht! Ihr Alle habt kein Herz! Wie könnt Ihr sagen: es gehe einer rechts für Euch, da er doch links für sich geht? Nach Herrn Ackermann's richtiger Theorie vom Herzen muß man Den, der uns begegnet, auch von der Seite aus kommend darstellen, die ihm selbst die linke, ihm selbst die rechte ist!

Der Widerspruch und der Scherz, den diese Bemerkung hervorrief, wurde von den Damen abgeschnitten, die über die Kälte, über das lange Ausbleiben der Herren klagten. Frau von Zeisel warf auf Siegbert so schmollende Blicke, daß er sich wiederholt für seinen erst heute, acht Tage nach dem Diner wiederholten Besuch entschuldigte. Er erklärte, daß er sich noch nicht von dieser überraschenden Veränderung hätte erholen können: so widerspräche Alles, was er zu finden hoffte, Dem, was er wirklich fände.

Frau von Sänger führte das Wort und schilderte den Fleiß und die in Anspruch genommene Muße des jungen Malers mit einer Lebendigkeit, die Niemanden verdrießlicher war als der Justizdirektorin. Sah sie sich doch auch von Oleander, der mit Selma und Franziska allein ging, verlassen!

Oben im Amtshause widmete man Allen, die das Begräbniß des unter so eigenthümlichen Umständen dahingegangenen [2615] blinden Zeck herbeigezogen hatte, noch einen solennen Nachmittagskaffee, dann trennte sich Heunisch, der als Leidtragender vom Justizdirektor mit freundlicher Herablassung eingeladen war, von Franziska und tröstete sich mit den Zerstreuungen, die jetzt die Jagd, der Verkauf, die Ablieferung des geringen Wildprets mit sich führen würde. Selma hatte Franziska schon so liebgewonnen und an sich herangezogen, daß sie sich gern mit ihr isolirte und sonderbarerweise von allen Anwesenden Niemanden lieber den Rücken kehrte als Siegbert. Dieser fühlte diese Zurücksetzung und bemerkte auch, daß Ackermann gegen ihn befangen war. Auf einem Schlitten fuhren die Ullagrunder früher von dannen; doch wiederholte Ackermann die Einladung an Siegbert. Wenn er noch in der Gegend bliebe, würde er ihnen doch einen Besuch schenken? Der innige Händedruck, mit dem er schied, stand in Widerspruch zu seinem Benehmen. Selma aber, die in ihrem Pelzkragen, ihrem Muff und dem blauen Schleier auf dem Sammthute recht »vollkommen«, wie Frau von Zeisel sagte, oder »unternehmend«, wie es Frau von Sänger nannte, aussah, verharrte in ihrem Gleichmuthe und verwundete fast den von den Frauen etwas verwöhnten jungen Mann. Als der Schlitten fortgefahren, beklagte sich Siegbert bei Oleander.

Dieser stand an einem entlegenen Fenster und erwiderte:

Ich möchte behaupten, daß Selma selbst nicht weiß, warum sie Ihnen so sein muß, wie sie ist.

[2616] Bemerkten Sie denn auch die fast absichtliche Kälte?

Absichtliches bemerkte ich nichts, aber daß sie vor Ihnen Scheu hat, eine unbewußte, ihr selbst nicht klare, erkenn' ich wohl.

Wie ist Das möglich? Was weiß sie Schlimmes von mir? Daß sich diese beiden verheiratheten Frauen mir theilnehmend zuwenden und dabei wenig Vorsicht zeigen, ist Das meine Schuld?

Ich glaube kaum, daß Selma so urtheilt, so nur beobachtet. Sie beobachtet gar nicht und urtheilt noch weniger.

Sie sprechen ihr da die Bildung ab, die Sie doch selbst an ihr vollenden wollen?

Die Bildung? Ist Beobachtung und Urtheil allein Bildung? Bildung ist nur gesteigerte Empfänglichkeit. Selma verbindet Bildung mit Dem, was die Bildung nur zu oft verdrängt, mit dem Instinkt der Natur. Es ist ein Wesen, das ich naturwüchsig nennen möchte. Sie verstellt sich nie, wenigstens nicht mit Bewußtsein. Was sie ist, ist sie. Sie erschrickt, wo sich Andre bekämpfen. Sie liebt und haßt nicht einmal. Sie fühlt sich nur angezogen oder fühlt sich nur abgestoßen.

Wenn ich auf eine so reine Natur abstoßend wirke, muß ich mich bekümmern.

O, Das ist nicht gesagt, Wildungen! Der Vater, den Sie immer mehr schätzen würden, wenn Sie ihn recht erkennen wollten, hält auf magnetische Beziehungen im Menschen. Es ist möglich, daß grade das Gleichartige [2617] abstoßend wirkt. Wer weiß, welche Verwandtschaft grade Schuld ist, daß Sie auf Selma's Nerven einen Druck ausüben! Bin ich nicht in der gleichen Lage?

Siegbert stockte. Er gedachte des Bruders und der herzlichen Theilnahme, mit der Dankmar ihm einst von Selma Ackermann gesprochen. Wie gern hätte er sich Selma durch die Erinnerung an seinen Bruder empfohlen! Aber dafür, daß ihr Vater ihn einst auf seinen Knieen wollte geschaukelt haben, dafür, behauptete er, wäre man zu spröde gegen ihn, zöge sich zu sehr zurück und so hatte er keinen Muth, seine persönlichen Beziehungen zu erwähnen und durch die Erinnerung an den Bruder diesen Menschen näher zu treten, die ihm ohnehin viel zu streng zu urtheilen schienen, als daß er gewagt hätte, auf Dankmar's in Hohenberg gespielte Rolle zurückzukommen.

Oleander's Liebe für Selma war ersichtlich. Siegbert sagte fast scherzend:

Und Sie, Oleander? Nach Allem, was ich zu beobachten glaube, liebt Selma ihren Lehrer.

Oleander fast erschreckend, konnte nicht antworten, denn Frau von Sänger trat zwischen sie und forderte Siegbert auf, seine gelehrten Gespräche für ein ander Mal auszusetzen.

Mein guter Mann, sagte sie, treibt zur Rückfahrt. Er hat es nicht über sich gewinnen können, Ihre Rede zu hören, Herr Vikar. Er liebt die Kirchhöfe nicht, auf die er bisher nur immer seine Frauen schickte. Ich bin die [2618] dritte. Er wird auch mir Erlaubniß geben, noch vor ihm dort hinzugehen.

Welche Melancholie, gnädige Frau! bemerkte der Vikar.

Ach, dieser Winter! Diese kalte Luft! Diese öde Einsamkeit! Diese treulosen Freunde, die, wie Herr Wildungen, so einmal in dies elende Landleben hereinschneien und dann gleich täglich vom Abreisen sprechen!

Ja, lieber Oleander! sagte Siegbert. Mein Bild in Randhartingen ist fast vollendet. Am dreizehnten will ich in Schönau sein, wo die Kirche eingeweiht wird. Ich denke dann zurückzureisen ...

In Schönau sehen wir uns noch, bemerkte Oleander. Ich wohne dem Feste bei ...

Ist es nicht fürchterlich, mit so viel kaltem Blute vom Abreisen zu sprechen, bemerkte die junge, frische, liebenswürdige Frau, die in der That eine große Neigung für Siegbert gefaßt zu haben schien und sie unter Scherzen zu verbergen suchte. Warum nur sich, dem Vergnügen, der Residenz leben? Wir verderben Ihnen freilich die künstlerischen Anschauungen! Ihre Phantasie leidet hier, Ihr Schönheitssinn verdirbt beim Anblick ...

Der schönsten Blondine, die ich kenne, bemerkte Siegbert, nur um frei zu kommen. Nein, gnädige Frau, ich leide, weil ein geliebter Bruder nicht schreibt, weil mich Verhältnisse verwickeltester Art, allgemeine und persönliche Interessen, mit Gewalt in die mir verhaßte Residenz zurücktreiben ... wie gerne würd' ich ...

Herr von Sänger hatte sich erhoben und stützte sich [2619] auf seinen alten Krückstock. War es einmal so weit mit ihm gekommen, so durfte nicht zu lange gezaudert und geplaudert werden.

Vorwärts! kommandirte er mit militairischem Brummbaßtone, hinter dem aber die gutmüthigste Bequemlichkeit versteckt war. Vorwärts! Madame! Monsieur! Das gibt einen Winter 1812! Ich fühl' es! Mein Rheumatismus bekommt historische Erinnerungen ...

Und als man ihm seinen großen Pelz umwarf, sagte er:

In einer solchen Schur jagte Napoleon an uns vorbei, als es rückwärts ging ... Adieu, Frau von Zeisel! Schöne Hebe, was muß Ihnen so wohl sein in Ihrem heißen Blute!

Mit ähnlichen derben Späßen ging er voran. Siegbert und Frau von Sänger folgten. Der Bediente trug Mäntel und Pelze.

Siegbert war nicht in dem Grade abstract, daß er für die kleinen Koketterieen einer hübschen Frau unempfindlich geblieben wäre. Aber sein Innerstes wurde nicht davon berührt. Es gibt sogar eine Art von Courtoisie im Umgang mit gefallsüchtigen Frauen, wo man in die Lage kommen kann, um nicht zu verletzen, rücksichtsvoll zu sein. Dankmar wenigstens hatte einmal zu Siegbert gesagt: »Der Henker hole unsre Gutmüthigkeit! Hätt' ich nur all' die Zärtlichkeiten wieder heraus, die sich Einer Anstands halber mit Gewalt auferlegt, um dem holdesten Geschlechte nicht wehe zu thun! Schon die verdammte Gewissenhaftigkeit bei übereilt bewilligten Stelldicheins! Diese zarte Schonung, Besuche zu wiederholen, wo uns [2620] schon der erste Mühe machte, der erste Überwindung kostete! Wir sind zu gut, zu vornehm, Bruder! Wir zahlen immer gleich mit blanker Silbermünze, wo ein paar Kupferheller vollkommen genug wären.«

Wenn man Briefe mit ungeduldiger Sehnsucht erwartet, genießt man Das, was inzwischen das Leben noch so Angenehmes bietet, nur halb. Beziehungen zu dem Arzte Reinick, die reiche Bequemlichkeit bei Herrn Anverwandter, der Humor des alten Hauptmanns und Rentmeisters, die nur zu sehr entgegenkommende Liebenswürdigkeit seiner nicht völlig oberflächlichen jungen Gattin, alles Das unterhielt wol Siegbert, während er malte; aber daß ihm Briefe fehlten, machte nichts gut. Endlich schrieb ihm der nach Schönau zurückgekehrte Ortsvorstand Marx, daß er sich beeilen möchte, zu dem Kirchenfeste zu kommen, auch wäre Manches für ihn inzwischen angelangt ...

Da nahm er denn eiligst Abschied und vorläufig für den ganzen Winter. Er ließ aus Gutmüthigkeit Frühlingsverheißungen für Frau von Sänger zurück. Sie glaubte ihnen nicht. Er erlebte wirklich, am Abend vor seiner Abreise (Oleandern hoffte er in Schönau zu finden), daß die hübsche Frau erst scherzend von ihm Abschied nehmen wollte, dann aber im Lachen weinte und zuletzt in wirklichen Thränen so zerfloß, daß er sie ängstlich an seine Brust ziehen und durch jene Zärtlichkeiten trösten mußte, über die Siegbert nicht so leichtsinnig dachte wie Dankmar, der sie Anstandszärtlichkeiten nannte. Er [2621] machte sich die Herzlichkeiten, die wirklich nur allein im Stande waren, den Schmerz der schönen Frau zu mildern, noch lange zum bittersten Vorwurfe und fand es fast gerechtfertigt, daß ein reines unentweihtes Wesen, wie Selma Ackermann, vor ihm einen tiefgewurzelten Widerwillen verrieth. Dieser Widerwille quälte ihn. Nicht, daß er seine Eitelkeit verletzte. Seit Oleander's tiefer Bemerkung spornte ihn diese Thatsache, in sein Inneres zu blicken und er zitterte fast bei dem Gedanken, in Schönau ohne Zweifel Briefe von der Fürstin Wäsämskoi zu treffen!

Er fand deren genug und die bittersten Klagen, daß er nicht schriebe. Es verstand sich von selbst, daß diese Briefe die wahre Empfindung Adelens nur zwischen den Zeilen errathen ließen und nur plauderten, nur mittheilten. Von Olga sprach sie mit Entrüstung und gab sie und ihr Schicksal für immer auf. Erfreulicher lautete, daß Rudhard mit den Kindern zurückgekehrt war und wieder in ihrem Hause die Penaten hütete, wie Otto von Dystra es genannt haben sollte. Von diesem Letzteren erzählte Adele meist Barockes und erschreckte Siegbert durch die Bemerkung, daß sie vermuthe, er würde Olga nachreisen und Helenen für den unverantwortlichen Eingriff in mütterliche Autorität ernstlich zur Rede stellen. Sie wohne noch vor'm Thore, erzählte sie, gegenüber der jetzt allgefeierten Pauline von Harder, die sich darin gefalle, den Staat, den Prinzen Egon und wer weiß wen Alles zu regieren. Genauere Angaben über die für Siegbert so[2622] hochwichtigen politischen Fragen fehlten, doch fand er im Grunde in allen Zeitungen mehr, als er zu wissen wünschen konnte. Ja in unmittelbarster Nähe sah er die Agitation der neuen Wahlen, die wiederum so auszufallen schienen wie die früheren; denn noch war der Premierminister mit seinem neuen Wahlgesetz nicht hervorgetreten ...

In einem Briefe, den er dann auch glücklicherweise von seinem Bruder vorfand, war darüber ausführlicher geschrieben. So sehr ihn dieser Fund erfreute, so lag doch in dem Tone dieser kurzen Zeilen Dankmar's etwas, was er nicht verstand. Dankmar war von Angerode wieder in der Residenz, sprach von den günstigeren Aussichten des Prozesses, gab Mittheilungen über die fortschreitende Entwickelung seiner Bundesideen, hatte aber auch Wendungen wie diese gebraucht: »Mit betrübtem Herzen kam ich gestern hier an und suchte für das schmerzlich Erlebte mich dadurch zu trösten, daß ich mich mit erneuter Hoffnung in den Strudel der Thatsachen warf«. Und an einer andern Stelle: »Beeile deine Rückreise nicht! Sähen wir uns mit den noch blutenden Wunden wieder, unser Schmerz würde endlos sein! Ach, Siegbert, ich kann mir denken, was du empfandest, als du auch diesen Besitz aus unserm Lebensbuche streichen mußtest«. Endlich hieß es: »Die Trauerbotschaft schrieb ich dir deshalb durch Einschluß an Leidenfrost, weil ich dachte: Entweder du bist schon zurück, dann gibt er dir den Brief selbst, oder du bist noch in Randhartingen, dann legt er [2623] ihn an Herrn Ackermann bei, mit dem er in geschäftlicher Verbindung steht.«

Welche Trauerbotschaft! rief Siegbert außer sich und durchflog den Brief noch einmal. Ein Brief ist verloren gegangen oder liegt bei Ackermann!

Sein erstes Gefühl war an die Mutter.

Sie ist todt! sagte er. Ich Unglücklicher! Was kann dieser Brief so Jammervolles enthalten? Starb sie, während du tändeltest? Was sollst du thun?

Er durchlas wohl zehnmal den kurzen flüchtigen Brief des Bruders, dessen Ton vollkommen auf die Möglichkeit paßte, daß er ihm in dem verlornen das Erschütterndste, das Herbste mitgetheilt hatte ...

Zu seinem Trost kam wenigstens Oleander mit der Botschaft nach Schönau, daß Ackermann einen Brief für ihn wirklich empfangen hatte, den Jener in der Voraussetzung, Siegbert kehre nach Randhartingen wieder zurück, deshalb nicht mitschickte, weil Siegbert, wie man wohlwollend und gütig gesagt hatte, ihn selbst im Ullagrunde abholen sollte.

Sie sehen, wie warm Ackermann für Sie empfindet, schloß Oleander. Freilich, hätt' er ahnen können, was diese Zeilen vielleicht enthalten ...

Siegbert war in einer Stimmung, die ihm unmöglich machte, irgend eine der vielen freundlichen Einladungen anzunehmen. Am liebsten wär' er gleich nach der Residenz zurückgereist und doch war diese Entfernung dreimal weiter als die nach dem Ullagrunde. Er wußte nicht, [2624] was er vorziehen sollte! Der Gedanke, daß seine Mutter gestorben, stand ihm so fest, daß seine Augen nicht mehr trocken wurden. Er aß nicht, er lag zusammengekrümmt und weinte.

In der neuausgebauten Kirche, die am folgenden Morgen trotz der Kälte dicht mit Menschen überfüllt war, hingen die von ihm wiederhergestellten Bilder. Der Geistliche des Ortes predigte. Nach der Predigt sollte ein großes Festmahl sein. Von diesem schloß sich Siegbert und ihm zu Liebe auch Oleander aus. In die Kirche aber ging er mit zerknirschtem Herzen. Glücklicherweise war die Predigt trocken und löste ihn nicht so auf in Wehmuth, wie der Ton der Orgel und der Gesang der Gemeine. Seit des Vaters Tode hatte er keine Kirche mehr besucht und nun er zum ersten male wieder unter Andächtigen mit einem räthselhaften dunklen Schicksal saß, fühlte er, nur ihr Tod, sonst konnte nichts eingetroffen, nichts Anderes geschehen sein ...

Da sein Zustand Niemanden entgehen konnte, so billigte man mit dem größten Bedauern, daß er gleich nach der Feierlichkeit und einem kleinen ihm von der Ortsbehörde gewidmeten Frühstück sich in den Schlitten setzte, mit dem Oleander gestern gekommen war. Auch die schnelle Entfernung des jungen Vikars, der ihn durchaus begleiten wollte, that Allen leid. Gegen Mittag, während es wieder zu schneien anfing, fuhren sie ab.

Während der durch den frischgefallenen Schnee beschwerlichen Fahrt erzählte Oleander, um Siegbert zu[2625] zerstreuen, von seiner Jugend, seinen bisherigen Lebensschicksalen. Wie er der Sohn armer Eltern im Würtem-bergischen wäre, die Beide nicht mehr lebten, wie er sich mühsam hätte emporarbeiten müssen und das Meiste schwerer und steiler gefunden hätte, als er anfangs dachte. Er wäre durch eine Hauslehrerstelle nach dem Norden gekommen. Auf der Universität hätte ihn anfangs auch jene Theologie am meisten angezogen, die die modische, von der Regierung beschützte war. Doch hätt' er sich ihr abwenden müssen, da ihm sein poetischer Sinn dabei verkümmerte. Diesen hätten schon früh Lehrer und Freunde gepflegt und befördert, aber er wäre dabei so glücklich gewesen, niemals Überschätzer und ebensowenig Unterschätzer zu finden. Am nachhaltigsten hätte auf ihn ein Freund gewirkt, der musikkundig war und seinen Versen Klänge unterlegte. Da hätt' er bald erkannt, was die Seele ergreife und befriedige. Ach, schloß er, wir sind in Todeserinnerungen! Auch Der ist hin! Sein ganzes Leben war Harmonie. Er verklang so in das große All', das doch wohl das irdische Nichts ist! Oft hör' ich ihn in den Lüften um mich her säuseln! Je einsamer, desto näher. Wenn ich allein bin, hör' ich den Ton seiner Geige oder er summt am Klavier eine Melodie. Und was ich dichte, das muß gleich so sein, als säng' es mir mein Wilhelm! So verkling' ich in ihm und er klingt in mir.

Siegbert konnte sich zu dem Leide, das er erwartete, nicht feierlicher vorbereiten. Seine Augen weinten; aber [2626] den Trost, der sie trocknen konnte, fühlte er schon sich nahen bei des Gefährten sanften Worten.

Der Vikar erzählte dann, wie er in der Residenz und auf dem Lande lange als Hauslehrer hätte wirken müssen, wie er zur Heimat hätte zurück wollen, dann sich aber einer Begünstigung seines verlassenen Schicksals zu erfreuen gehabt hätte, als er mit Propst Gelbsattel bekannt wurde. Er gab ihm das Zeugniß eines geistreichen, umsichtigen, anregungsfähigen, nur zu ehrgeizigen Mannes, mußte aber zu seinem Kummer gestehen, daß den Ausschlag für ihn nicht die Anerkennung seines etwaigen Verdienstes, sondern der Glaube gegeben hätte, er interessire sich für eine der Töchter des Propstes. Bekannt mit dem Sohne desselben, sagte er, kam ich in sein Haus und war auf seine Schwestern prüfend aufmerksam. Ich habe in mir den stillen Vorwurf, daß man vielleicht glaubt, wenn dies Vikariat für Guido Stromer vorüber ist, würd' ich zurückkehren und mich um die älteste Tochter des Propstes bewerben. Und wie weit bin ich davon entfernt!

Siegbert kannte diese jungen Damen von der Weinlese bei Adele Wäsämskoi und verglich sie mit Selma. Der Schmerz macht aufrichtig und lehrt uns, jede formelle Rücksicht leichter fahren zu lassen. Er konnte nicht umhin, mit kurzen Worten geringschätzig von den Gelbsattels zu sprechen und sie gegen Selma gehalten mit den Krähen zu vergleichen, die man eben auf den Feldern krächzen hörte.

Oleander winkte Siegbert, auf den Knecht Rücksicht [2627] zu nehmen, der sie fuhr. Dieser hatte sich aber seinen Mantel so dicht über die Ohren gezogen, daß Siegbert voraussetzen konnte, von ihm nicht verstanden zu werden, wenn er mit leiserer Stimme fortfuhr:

Wie würde Ihr Gemüth leiden, wenn Sie in die Lage kämen, mit solchen in Glanz und Ansprüchen auferzogenen Mädchen in Verbindung zu kommen oder wol gar ihnen verdanken zu müssen, daß Sie Beförderung erhielten! Ich kenne diese Mädchen. Sie sind wie jetzt die meisten. Entfernt von jeder Idealität und nur der raffinirtesten Geselligkeit hingegeben. Theater, Putz, Bälle sind die Gegenstände ihres Gesprächs. Welch' ein Engel dagegen Selma! Wie lieblich die jungfräuliche Erscheinung! Wie klug dies Auge und wie träumerisch zuweilen jene Blicke, die sie nicht beobachtet glaubt. Wer so zu scherzen weiß wie Selma, kann auch tief ernst sein. Sie hat eine Abneigung gegen mich und ich weiß nicht, gerade darin find' ich einen Reiz, einen Werth mehr. Ich fühle, daß ich den Glauben eines reinen, unschuldigen Mädchens nicht mehr verdiene und ich bin gewiß, jemehr ich vielleicht ihr zu gefallen suchte, desto mehr misfiel ich ihr. Und doch –

Oleander schüttelte traurig den Kopf; denn Siegbert verrieth wohl, daß Selma Oleandern nicht liebte.

Ich vermuthe fast, sagte Oleander mit Traurigkeit, daß sie irgend ein ihr theuer gewordenes Bild im Herzen trägt. Irgend ein Mann muß ihr einst begegnet sein, dem sie mit träumerischer Innigkeit nachhängt.

[2628] Siegbert horchte auf ... Die Andeutungen seines Bruders hatte er nie für Ernst gehalten.

Was zweifle ich noch daran? Hat mir's denn der Vater nicht selbst bestätigt?

Wer könnte Das sein? fragte Siegbert gespannt.

Oleander fuhr fort:

Kürzlich nach dem Mahle im Plessener Amtshaus sprach der Vater in einer abendlichen Dämmerungsstunde mit mir darüber, daß ihm Selma Sorgen mache. Dem jungen, von Louis Armand in sein Haus empfohlenen Mädchen, hätte sie sich mit einer Leidenschaft angeschlossen, die ihm verrathe, daß ihr das Bedürfniß der Hingebung mit mächtiger Gewalt innewohne. Er gerieth in eine so weiche, wehmüthige Stimmung, daß ich den Muth hatte, von meiner Liebe zu sprechen. Er reichte mir die Hand und dankte für meine Aufrichtigkeit. Geben Sie die Stunden bis zum Frühjahr, sagte er, dann kehren Sie doch wohl in einen andern Lebensberuf von Ihrem Vikariat zurück! Bekämpfen Sie sich bis dahin! Ich glaube nicht, daß Sie Hoffnung haben.

Siegbert schwieg.

Selma, fuhr Oleander mit leiser Stimme, da ihm der Knecht aufmerksam zu werden schien, und wehmüthig fort, Selma hat sich, wenn ich die Andeutungen des Vaters recht verstehe, in eine Neigung verloren, die eine unglückliche ist. Sie liebt, sagte mir Ackermann, wo sie nicht lieben darf. Entsetzlich! setzte er mit fast heftiger Betonung hinzu und erhob sich in einer Aufregung, die [2629] mich verhindert hat, seither wieder auf diesen Gegenstand anders zurückzukommen, als in meinen einsamen Stunden, wo ich Selma Verse widme, die ich ihr nicht geben darf.

Siegbert empfand die tiefste Theilnahme und mußte Oleander's Hand drücken. Er fühlte, daß diese Hand sehr groß, sehr mager, sehr knöchern war. Er kam jetzt erst darauf, ihn nach dem Eindrucke zu betrachten, den er äußerlich wohl auf ein junges Mädchen machen durfte. Er hatte ihn ganz nur nach dem Geiste beurtheilt. Nun sah er wohl, daß dieser edle Mann in einer unscheinbaren Hülle wohnte. Wie lang und hager war Oleander! Wie starkknochig das Gesicht! Wie erinnerlich wurde ihm seine nachlässige Haftung, seine Kleidung sogar wie unordentlich war sie stets! Das lange Haar hing ihm schlicht unter der Mütze herab, die er tief über die klaren, durchsichtig glänzenden, fast zu offen am Tage liegenden Augen gezogen hatte. Den Hut hatte er vor sich auf den hohen, spitzen Knieen. Der Mantel war so abgetragen, als hätt' er ihn schon auf der Schule benutzt. Alle diese Betrachtungen, an die sich Erinnerungen an Leidenfrost knüpften, erfüllten ihn mit Rührung und dennoch wünschte er, irgend einen Einfluß auf Selma zu besitzen, um ihr zu sagen: Sieh, Mädchen, Das ist deine Aufgabe, diesen Edelstein zu schleifen, seinen Werth von der günstigsten Seite an die Sonne zu bringen! Laß ihn an dir auch für die äußeren Formen der Gesellschaft sich bilden! Führe ihn sanft und liebevoll, wenn es muß mit erlaubtem stachellosem [2630] Scherze, auf die Erkenntniß Dessen, was ihm mangelt! Bilde einen Menschen aus ihm, wie die Menschen eben sein sollen und laß dir's von ihm danken, daß du, seine Gottheit, sein zweiter Schöpfer wurdest!

Er dachte nicht daran, daß Dankmar mit Selma einst sich wirklich begegnen sollte und ernstlich von ihrem Bilde befangen war ...

Das Schneegestöber hatte so zugenommen, daß der Schlitten erst gegen Abend sieben Uhr in Plessen eintraf. Es war eine große Aufopferung Oleander's, den neugewonnenen Freund, der inzwischen wieder in den stummen Schmerz der Erwartung eines bevorstehenden Unglücks verfallen war, noch bei solchem Wetter in den Ullagrund zu begleiten. Vor neun Uhr konnte man kaum dort, vor elf nicht zurück sein. Oleander gab indessen im Pfarrhause, wo man erstaunt war über seine frühe Rückkehr, eine Anweisung, in seinem Zimmer noch ein Bett aufzuschlagen.

Ich muß Sie bei mir haben, Wildungen, sagte er, Sie mögen nun erfahren, was der Himmel Ihnen auch bescheert ...

Siegbert gestand, wenn er den Tod seiner Mutter erführe, könnte er nicht bei Ackermann's bleiben. Die Fröhlichen würden unter seinem Jammer leiden, während Oleander sich schon früh gewöhnt hätte, auch den Schmerz der Trostlosen zu dulden.

Ich glaube nicht, Wildungen, sagte Oleander, daß Sie auf etwas so Schlimmes gefaßt zu sein brauchen; allein wenn ich rathe, dann lieber mit mir zurück zu fahren, so [2631] ist es deshalb, weil der Tod einer Mutter bei Selma Ackermann einen Kummer zurückruft, den der Vater noch oft bei ihr zu beschwichtigen hat.

Die Pfarrerin war erstaunt über den Entschluß, so spät noch in den Ullagrund zu fahren. Sie lud die Männer ein, hereinzukommen, sich wenigstens zu erwärmen, zu stärken durch irgend einen Nachtimbis. Doch zogen Beide auf Zureden des Knechtes vor, jetzt im Zuge zu bleiben und bald ging das ermüdete dampfende Roß im Schnee mit seinem Glöcklein weiter.

Bald nach acht Uhr entdeckten sie Licht in dem gefährlichen Dunkel des bahnlosen verschneiten Weges. Es kam von Ackermann's Hause, wo der Vater, Selma und Fränzchen still beisammen saßen im Scheine einer kleinen Cylinderlampe. Selma häkelte eine Weihnachtsgabe für Oleander, Fränzchen strickte, der Vater las in den Zeitungen und klagte über deren Inhalt, den er mit Bitterkeit auf Egon, als den Verschulder all' dieser Verirrungen, schob.

Es ist der doktrinäre Dünkel, sagte er eben halb für sich, der ihn ergriffen hat! Es sind die Schulreminiscenzen aus Genf, mit denen schon Guizot die Franzosen so unglücklich machte! Wer sagte nur diesem jungen unreifen Manne, der einen Staat zu regieren sich erdreistet, daß er es machen müsse wie alle diese Staatsthoren, eine Lehre, ein System, eine Theorie aufzustellen! Dies unglückliche Europa! Wenn man es von der reinen blauen klaren Höhe Amerikas aus betrachtet, kommt es uns vor, wie ein [2632] Nebelball, dessen erstickenden Dunstkreis einige Lichter spärlich erhellen. Welch' ein Gewühl von Unsinn und Verbrechen! Ehe nicht Europa sein Staatsleben vereinfacht und den Begriff des Staates sozusagen ganz aufhebt, Alles, was ein persönliches Interesse am Staatskram hat, abschafft, kommt kein Friede über diesen im Verscheiden begriffenen Erdtheil.

Indem klingelte das Glöckchen des Schlittens. Das Gefährt gehörte wieder Ackermann. Man kannte schon das Glöckchen. Man kannte die Art des Knechtes, mit der Peitsche zu knallen. Die Hunde schon verriethen, daß es Martin war, der zurückkam.

Ist Oleander in Schönau geblieben? Ist er nach Randhartingen zu Wildungen?

So vermuthete man durcheinander, bis die Botschaft kam, Martin wäre es wirklich.

Oleander und Siegbert stiegen vor dem Hause aus, warfen ihre Hüllen ab und traten in das warme, trauliche Zimmer.

Das sonst so behagliche Gefühl, eine Familie des Abends spät im Winter zu überraschen, wo schöne Töchter im Hauskleide bei weiblichen Arbeiten sich einfach und gemüthlich dem Blicke darbieten, konnte diesmal in Siegbert nicht aufkommen.

Oleander erzählte sogleich, da Siegbert schwieg, was sie herbrächte, was sie bekümmerte ...

Großer Gott, sagte Ackermann, hätt' ich Das ahnen können!

[2633] Damit öffnete er ein Schreibepult und gab Siegberten den Brief, den er durch Einlage von Leidenfrost empfangen hatte.

Ihre Mutter, Wildungen, wäre todt? Karoline? ... Ich weiß, daß sie Karoline heißt!

Siegbert bemerkte nichts um sich her. Er riß den Brief auf, begann einige Zeilen zu lesen und ließ ihn sogleich fallen, weil ein Thränenstrom aus seinen Augen stürzte. Er sank auf einen Sessel und legte den Kopf auf die Arme, die er über den Tisch kreuzte.

Ackermann trat an's Fenster, schlug die Gardinen zurück und sah in die Schneenacht, die keine Sterne glänzen ließ.

Selma weinte. Fränzchen zog sie an sich, um sie zu trösten; doch war sie zu ergriffen. Sie schluchzte, wie Siegbert, sie verließ das Zimmer.

Oleander stand ruhig und faltete die Hände.

Ackermann wandte sich dann und sagte mit bewegter Stimme zu seinem Neffen, dem er sich noch nicht enthüllen mochte:

Muß Sie Das zu mir führen? Sammeln Sie sich, junger Freund! Sehen Sie diese Winternatur! Die Erde ist ein einziger Grabeshügel. Entbehren, Scheiden, Verlieren ist unser Loos. Nehmen Sie's wie etwas Erwartetes, Gewußtes! Es mußte so sein.

Siegbert gab ihm die Hand, ohne daß er zu ihm aufblicken konnte. Die einzigen Worte, die er sprach, waren:

Mein armer Bruder!

[2634] Ackermann fand diesen Gedanken an den Bruder wahr und natürlich.

Lieben Sie den Bruder so, sagte er, daß Sie seiner gedenken, wie er hat leiden müssen, dieses Todes Zeuge zu sein? Und dennoch ist es ein Trost, daß Ihre Mutter einen ihrer Söhne um sich hatte ... als sie dem Gatten folgte ...

Ackermann konnte nicht weiter sprechen. Er mußte sich wieder zum Fenster wenden.

Oleander erbot sich, um sogleich den ganzen Kelch zu schlürfen, Dankmar's Brief zu lesen.

Siegbert gab dazu die stumme Erlaubniß.

»Mein guter Siegbert«, schrieb Dankmar, »wenn ich so lange schwieg, that ich es aus brüderlicher Liebe! Ich sagte dir, daß die Mutter krank ist. Ich schilderte ihre Leiden geringer und mache mir jetzt Vorwürfe darüber. Fasse dein Herz zusammen, Siegbert: Unsre Mutter ist nicht mehr. Diese Nacht entschlief sie sanft nach heftigen Leiden, die mir das Herz zerrissen. Wie ich nach Angerode kam, fand ich sie schon auf ihrem letzten Lager. Sie hatte uns nicht betrüben, nicht in unserm Lebensgange stören wollen! Du kennst ihr starkes Herz, das wir oft anklagten, weil es nicht so weich zu schlagen schien wie das des Vaters. Ihr starker Sinn war nur die Kraft des hochherzigsten Charakters. Wie ich kam und sie auf dem Lager sah, wollt' ich dich rufen. Sie erhob sich und wollt' es nicht. Mein Siegbert, sagte sie, steht vor mir ... so lehnte sie sich zurück und ich wagte nicht, ihrem befehlenden [2635] Worte zu widersprechen. O Bruder, nun brachen zehn jammervolle Tage an. Jeden begrüßt' ich mit der Hoffnung, ein Lichtstrahl würde in diese Nacht des Elends und der Leiden fallen. Vergebens, kein Wort des Arztes lautete tröstend. Ich wachte an ihrem Lager. Sie verbot es, wenn sie mich erkannte und Tag von Nacht noch unterscheiden konnte. An den Ort wollte sie getragen sein, wo der Vater starb. Da lag sie, ein Bild des Jammers! Keine Nahrung, keinen Schlaf mehr, der sie erquickte. Die Brust hob sich von ihren schweren Athemzügen, oft erhob sie sich wie eine Hülferufende, da ihr der Athem stockte. In meinen Armen erholte sie sich und sprach mit der langsamen, feierlichen Rede einer Fieberkranken: Ich sehe meines Siegbert's Augen! Du standest vor ihr, als wenn sie dich mit Händen fassen konnte. Das Fieber verwirrte ihre Begriffe – die innere Glut, von der sie unaufhörlich sprach, theilte sich ihrem Hirne mit. Ein Licht! Ein Licht! rief sie in einer Nacht und sah, als man ihr eine Kerze entgegenhielt – Nachbarinnen, Freundinnen, Ärzte unterstützten mich – so unverwandt sah sie in die Flamme, daß ich den Gedanken faßte, wenn sie genesen sollte – ich hoffte noch immer – müßte sie erblinden. Aber mit der Heftigkeit, deren sie in jüngern Jahren fähig war, rief sie: Nein! und immer blickte sie in das Licht, ganz dicht mit den Augen fast in die Flamme hinein, als kühlten sich die heißen Wimpern sogar an der Flamme, als wäre Licht für ihr Auge Thau. Oft auch rief sie: Heinrich! worunter sie ihren Bruder, den Oheim Rodewald, den [2636] Verschollenen verstand. Dann sank sie zurück und zog die Decken so über sich, daß die Füße entblößt waren. Wollte man sie bedecken, so geriethen die abwehrenden Hände in ein grauenhaftes Nervenzucken ... ach, Bruder, ich habe an der Schwelle der Mysterien unsres Daseins gestanden. In deinen Armen starb der Vater, in meinen die Mutter ... So hingehen! So in Schmerzen aus der zusammenbrechenden Hülle des Körpers scheiden! ... Und der innere Vorwurf, der mich nagte, daß ich der Mutter den Witwensitz in dem Tempelhause mit Gewalt erhalten wollte! Sind wir denn nicht alle wie Mörder aneinander? Einer dem Andern die Schuld seiner Leiden, ja seines Todes? O diese nagenden Gedanken, als ich an dem Krankenlager saß und sie mir, die treue, aufopferungsfreudige Mutter, zuweilen sagte, als wollte sie sich entschuldigen: Dankmar, es währt so lange! Mein Körper ist so fest! Er bricht so schwer zusammen! Ach, Siegbert ... nun mußt' ich niederknieen und die Hand der Guten küssen! Wie bat ich um Verzeihung für so vielen Kummer, ja für unsre Unkindlichkeit, die am weichen Vater mehr hing als an der starken, gesinnungsvollen Mutter! Auch von dem Archiv sprach sie, von dem Kreuze und unsern Hoffnungen! Mit dem Auge einer Seherin sagte sie von diesen: Ihr werdet den Segen ernten, aber hütet ihn! Dann sprach sie oft stundenlang nicht und versank in ein dumpfes Brüten. Ihr Geist schien dabei nicht zu schlummern. Sie blickte in's Jenseits voraus. So kam es mir vor, wenn sie regungslos nur stöhnte und nachher, als sie ausgerungen hatte, als [2637] sie mit dem letzten Reste ihrer Kraft sich zum Sterben fast zurechtlegte, da dacht' ich doch, sie schlummre nur. Sie schlummerte halb von dem Opium des Arztes, halb starb sie. Immer drei Athemzüge des Schlafes und dann ein fehlender des Todes, ein stockender, der ausblieb. Ich glaubte nicht, daß Das der Hingang von dieser Erde war. Ich hatte keinen Abschied genommen, ich hatte nichts mehr gehört von ihrem letzten Willen und nun sagte der Arzt, sie entschlummre! Sollt' ich sie wecken? Sollt' ich sie aus diesem sanften Entschweben wachrufen? Ich konnte nicht. Ich faltete nur die Hände und sah auf das verklärte Antlitz mit dem Glauben an eine geheimnißvolle Verbindung zwischen Hier und Dort. In der Nacht brach das Auge noch einmal auf. Es war nur die galvanische Zuckung des Stoßes zum Herzen. Es war kein Blick des Lebens und Bewußtseins mehr. Sie war hinüber .... Und nun, Bruder, wenn du diese Zeilen empfängst, ruht sie in der winterlichen Erde. Laß dich von nichts aufschrecken, was dich jetzt gebunden hält! Dieser Tod war unvermeidlich. Diese Liebe konnte uns nicht bleiben. Laß uns gefaßt auf unserm Pfade weiter schreiten und denken: Ein unsichtbarer Genius mehr, der uns beschützt! Schreibe mir, komme nicht selbst! Sei gefaßt! Ich reise nach drei Tagen zurück und will denken: Das Leben ist Pflicht! Inniger und treuer verbunden denn je dein Dankmar.«

Oleander hatte diesen Brief mit deutlicher und starker Stimme vorgetragen und hatte sich nicht von dem Weinen Siegbert's, nicht von Ackermann's abgewandtem [2638] Schmerze, von Selma nicht unterbrechen lassen, die während des Vorlesens zurückkam und den männlichen und gefühlvollen Worten des Briefschreibers noch lauschen konnte.

Man staunte, als Siegbert erklärte, er bäte, ein andres Pferd anspannen zu lassen. Er wollte noch mit Oleander nach Plessen zurück. Man erwartete, daß Beide blieben. Oleander entschuldigte sich, daß er morgen ganz in der Frühe eine Schulrevision hätte. Siegbert's Wunsch, mit ihm allein zu sein, schien natürlich ...

Ackermann bestellte einen Andern seiner Leute, ein andres Pferd und entließ den innerlich aufgelösten, wie zerschmetterten Siegbert mit wiederholtem freundlichen Zuspruch und einer Umarmung, die Siegberten aufrichtete.

Selma gab ihm zitternd eine Hand, deren Kälte verrieth, wie gewaltsam ihr Blut zum Herzen strömte. Auch Fränzchen gab Siegbert die Hand und leuchtete Beiden zum Schlitten.

Als Siegbert mit Oleander allein war, ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Im Ackermann'schen Hause, bei aller Liebe und Theilnahme, würde er sich gehemmt gefühlt haben ...

Es war elf Uhr, als sie in Plessen ankamen und Siegbert in das einstweilen zugerichtete Bett stieg. Oleander las ihm noch einige Gedichte vor, die er über den Verlust seines Freundes, des Komponisten, den er Wilhelm genannt, vor einigen Jahren gedichtet hatte.

[2639] Ackermann aber entließ seine bewegten Mädchen mit dem Geständniß, daß ihn dieser Vorfall auf das Heftigste erschüttert hätte. Als er allein war, entschlüpften ihm diese Worte:

So viel edle, gute Menschen – so viel, so viel – und Egon! Egon!

Seine Stirn verfinsterte sich. Er nahm sein Portefeuille, schlug es auf, sah ein Papier an, in welchem eine braune Locke eingeschlagen war ...

Es war die Locke, die er einst von Dankmar's Stirne schnitt ...

In dem Glauben, es wäre eine Locke von Egon, betrachtete er sie, schüttelte sein Haupt, verbarg sie wieder und löschte das Licht, um sich mit den schmerzlich wiederholten Worten: Egon! Egon! trauernd und tiefgebeugt zur Ruhe zu begeben ...

[2640]
12. Capitel. Sankt Nikolaus
Zwölftes Capitel
Sankt Nikolaus
Eines der Gedichte, das Oleander Siegbert zu tröstender Erhebung vorgelesen, hatte gelautet:
Die Sommernacht
Lebe! Lebe! spricht die Sonne.
Aber wenn sich nächt'ge Schatten
Senken auf die Wiesenmatten,
Fühl' ich: Auch im Tod ist Wonne.
Wenn die Sterne niederfunkeln,
Sieh die müden Augen schließen,
Nebel durch die Thäler fließen,
Und die Erde schläft im Dunkeln –
Wenn der Thau den Plan befeuchtet,
Murmelnd alle Quellen gehen,
Und die Blätter leiser wehen,
Das Johanniswürmchen leuchtet –
Wenn aus tiefem Thalesgrunde
Eine Uhr mit fernen Schlägen
Unserm wachen Ohr entgegen
Ruft die mitternächt'ge Stunde –
[2641]
O dann kommt uns doch ein Träumen,
Weht ein Lauschen, spricht ein Rauschen,
Und wir fühlen, Geister tauschen
Nun mit uns in diesen Räumen!
Fühlen, wie die Theuren, Süßen,
Die uns ruh'n im Schooß der Erden,
Wieder scheinen wach zu werden,
Wie sie kommen, wie sie grüßen!
Wie sie lächeln! Sie erscheinen,
Leicht von Silberflor getragen!
Und ihr Grüßen will uns sagen:
Armer Freund, du sollst nicht weinen!
Trau der Nacht, denn nur ein falbes,
Nur ein Zwielicht gibt die Sonne.
Höher ist der Schöpfung Wonne
Und dies Leben nur ein halbes!
Siegbert schrieb dem Bruder ...

Nachdem er seine schmerzlichsten Empfindungen ausgesprochen hatte, verblieb er, Dankmar's Zureden folgend, noch einige Zeit in dem Plessener Pfarrhause, auf dem Zimmer des ihm geistig und gemüthlich verwandten Oleander ... Dankmar schien vielbeschäftigt. Er schrieb ihm herzlich, aber kurz. Die Anfrage wegen Selma's und Ackermann's, die Aufforderung, sich ihnen recht zu widmen, war unterstrichen, aber karg an sich. Doch kam Siegbert nicht so oft nach dem Ullagrunde, weil er wiederum [2642] auch nach der jüngst ihm bewiesenen Theilnahme für sein persönliches Leid bemerken mußte, daß Ackermann gegen ihn zurückhaltend war. Selma empfing ihn freudiger und inniger, der Vater mit Befangenheit ...

An der Ausführung seines ersten Gedankens, unverweilt zum Bruder zu reisen, hinderten ihn Oleander, Zeisel's und manche durch die Jagd dem entlegenen Plessen näher geführte Umwohner, von denen wir nur den Grafen Bensheim und den Freiherrn von Sengebusch nennen wollen. Diese veranlaßten kleine künstlerische Aufträge für die bevorstehende Weihnachtszeit, sodaß sich Goethe's Wort bestätigte, wie bald ein bedeutender, seinem Lebenszweck mit Ernst entsprechender Mensch einem Kreise nützlich, ja nothwendig werden und mit ihm verwachsen kann. Siegbert fand auch hier sowol auf dem Schlosse Bensheim wie bei Herrn von Sengebusch, der hinter Randhartingen wohnte, Frauen, strebsame, ansprechende und der Beobachtung vollkommen würdige. Doch stieß ihn leider fast immer die politische Atmosphäre dieser Beziehungen ab. Er hörte nur engherzige, furchtsame, zornige Äußerungen über öffentliche Dinge und nicht etwa zwischendurch gestreut, sondern als das tägliche geistige Brot dieser Menschen. Wenn die Herren von Zeisel, von Sänger, Graf Bensheim, Herr von Sengebusch zusammen waren, äußerte sich ein Fanatismus, dem Siegbert nicht zu widersprechen wagte, da alle ruhige Erörterung unmöglich war. Da wurden die Zeiten und die Menschen verurtheilt, die jüngsten Staatsmänner [2643] Räuber genannt, Landverderber, die Demokraten verlangte man für vogelfrei zu erklären und oft sagte Graf Bensheim: Todtschießen müßte man sie alle wie die tollen Hunde! Das Peinlichste war für Siegbert, daß auch die Frauen diesen Grimm theilten, ja schürten. Ihnen war der Verlust des Adels, mit dem man in dem ersten Stadium der Revolution gedroht hatte, ebenso verletzend wie die Besteuerungsfrage des Grundeigenthums in ihren täglichen Haushalt eingreifend und sie in einen nicht zu beruhigenden Zorn versetzend. Die Offiziere der »fliegenden Kolonnen« und der kleinen hie und dahin versetzten Garnisonen waren ihnen die willkommensten Gäste. Siegbert konnte bei seinem jeweiligen Zusammentreffen aller dieser reaktionären Elemente die Gefahr ermessen, der bei uns die bessere Begründung der Zukunft noch zu lange ausgesetzt ist.

Betrübend war für ihn, daß Oleander keines politischen Urtheils fähig war und wenn er einmal eine Stimmung über die Zeitereignisse zu erkennen gab, vollkommen mit diesen ultraconservativen Gesinnungen übereinzustimmen schien. Als ihm Siegbert darüber sein Erstaunen ausdrückte, war seinerseits Oleander noch viel mehr verwundert, wie Siegbert, ein Künstler, dem kunstfeindlichen, pietätlosen Geiste der Zeit zu huldigen vermochte!

Siegbert verschwieg nicht, daß er der mächtigen Einwirkung und überzeugenden Beredtsamkeit seines Bruders Dankmar vorzugsweise die Berichtigung seiner [2644] Urtheile verdankte, daß er durch Louis Armand und Max Leidenfrost mit den Arbeitern, ja durch Egon selbst mit einer edleren Theorie über die Gesellschaft, als diese Adligen lehrten, bekannt geworden wäre und misbilligte den Eigendünkel derjenigen schaffenden Talente, die nicht ertragen konnten, daß sich der Lauf der Dinge nach den nächsten Interessen ihres Berufes nicht richtete. Überhaupt, sagte er, wäre ihm das Herleiten einer Meinung aus seinem persönlichen Vortheil gradezu ein Gräuel und diese Frauen, die die Freiheit haßten, weil ihre Männer in die Lage kommen könnten, pensionirt oder in ihren Pensionen besteuert oder in ihren Abgaben an den Staat gesteigert zu werden, diese wären ihm gradezu dem Geiste nach Megären und böse Unholde, möchten sie auch äußerlich noch so reizend und im Übrigen sanft und gefällig sein.

Sie übersehen, sagte Oleander, der über die Glut, die in Siegbert's Wangen fuhr, erstaunte, sich aber doch freute, daß es ein Thema gab, worüber der Freund seinen Kummer auf Augenblicke vergaß, Sie übersehen, daß dem zarten Sinne der Frauen doch auch wol das rohe und unheimliche Auftreten der Demokratie, besonders in der communistischen Gestalt, als eine tiefe Verletzung der Sitte erscheinen muß. Wenn Sie sagen, der beschränkte, nur physische Lebenstrieb der Frauen verrathe sich in der conservativen Gesinnung vorzugsweise als Egoismus, so möcht' ich grade an diesem Instinkte doch auch den feinen Takt anerkannt wünschen, daß er die Frauen sehr [2645] bald erkennen, woher den tobsüchtigen Neuerern ihr Bedürfniß des Tobens kommt. Wenn man immer Demokraten sähe wie Sie! Woher kommt es aber, daß diese Lehre grade so viel Gesindel entfesselt hat, grade Die, welche weder für die Kirche noch den Staat, noch die Schule, noch die Gesellschaft ein Interesse haben? In allen diesen hier auf sechs oder acht Meilen in der Runde liegenden kleinen Ortschaften sollen, wie man mich durch Beispiele versichert, grade die den Ton der Auflehnung angegeben haben, die in zerrütteten Verhältnissen lebten und von einem Umschwunge der Eigenthumsfrage zu gewinnen hoffen durften. Denken Sie sich diese tiefe Verletzung des Frauensinnes durch die Eigenthumsfrage! Es ist nicht die Furcht vor dem materiellen Verluste allein, der die der zeitlichen Güter sich vorzugsweise annehmenden Hausfrauen so bedenklich bedrohte; es ist noch weit mehr des Weibes stille Ahnung, daß mit der Verwirrung der Eigenthumsfrage seine eigne sittliche Existenz in Frage gestellt ist. Die Gemeinschaft der Güter würde alle Bande des sittlichen Herkommens auch in gesellschaftlicher Hinsicht sprengen. Sie wissen, daß Goethe sagte, den Frauen müsse vor Allen an einem honetten Hergang aller Fragen in der Gesellschaft gelegen sein.

Siegbert hatte an diesen Äußerungen wenigstens die Freude, daß der Vikar nicht blindlings dem konservativen Dünkel der Vornehmen nachsprach, denen er seither hier begegnet war. Er fand doch, daß er nach einem tieferen Prinzipe für die Meinung trachtete, die bei Jenen so [2646] nackt und baar zu Tage lag. Dennoch widersprach er auf das Lebhafteste.

Ich kann, sagte er, nicht zugeben, daß diese Bewegung immer und überall auf den Kommunismus hinaus läuft. Warum nennen Sie das Äußerste? Müssen auch Sie nicht darunter leiden, daß man Ihre Auffassung der Religion sogleich Pietismus, ja bei Manchem Jesuitismus nennt, und doch sind Sie und die Ihnen Gleichgesinnten von diesem Extrem hoffentlich weit entfernt! Die kommunistische Regung wird über all bald unterdrückt sein, wo sich kräftige Hände finden, die die Zügel der Bewegung in die Hand nehmen und nicht dulden, daß diese Zügel, wie bei einem durchgehenden Pferde, auf der Straße nachschleppen. Oft scheint es mir, als wollte man recht mit Gewalt der Bewegung die fatale Physiognomie aufprägen, als ginge sie nur von den Lumpen aus. Man schuf Bürgergarden und um sie lächerlich zu machen, uniformirte man sie nicht. Niemand dachte daran, sie zu schmücken. Aber unsre Soldaten, wenn sie im Bauernkittel als Rekruten vom Lande kommen, sehen sie vertrauenerweckender aus als die Freischärler? Wer soll das Wort ergreifen, wenn die Würdigen hinter'm Berge halten und sich zu vornehm dünken, mit dem Pöbel zu verkehren? Da kommen denn meist Die hervor, die ohnehin schon in einer steten Unruhe leben, einer geistigen Unruhe, einer gesellschaftlichen Verlegenheit. Die Bankeruttirer sind nicht alle verschuldete Schuldner. Mancher von ihnen verlor nur deshalb, weil sein Geist reger ist als der des [2647] Philisters, der nichts wagt und deshalb immer gewinnt. Kurz die Bewegung geht nur dadurch in den Sumpf, weil man ihr Irrlichter voran tanzen läßt, nicht helle Kerzen, nicht die Lampen der klugen Jungfrauen aus dem Evangelium.

In Dem, was Oleander hierauf erwiderte, zeigte sich, daß er tief in den alten romantischen Anschauungen steckte, die bei ihm eine religiöse Färbung gewonnen hatten. Gegen Ackermann's amerikanische Theorie verhielt er sich wie gegen etwas ihm völlig Antipathisches. Gegen Siegbert's Lehre von einer kräftigen Theilnahme am Staate wandte er Alles ein, was man nur von der Aristokratie des Geistes darüber zu hören bekommen hat. Siegbert, der schon so weit für die Ideen seines Bruders gewonnen war, daß er die gegenwärtige Art Politik zu treiben allerdings als unfruchtbar und gefahrbringend erkannt hatte, Siegbert hoffte, Oleander würde ihm auf halbem Wege in der Bundestheorie Dankmar's entgegenkommen, aber er irrte sich. Oleander wich dem großen Heereszug der Massen und dem Getümmel der großen Landstraßen gänzlich aus und blieb wenigstens für Deutschland dabei, daß wir ein Familienvolk wären und bei einer gewaltsamen übereilten Störung unsrer überlieferten Ordnung nur Gefahr liefen, unser Bestes, unsre geistigen alten Errungenschaften zu verlieren.

Nun, flammte Siegbert auf, dann frag' ich nur, Oleander, ob Sie diese Gesinnung, die ich an Ihnen ehren- und anerkennen will, in dem conservativen Glaubensbekenntnisse [2648] dieser Gräfin Bensheim und ihrer Nichten, in dem Zorne des Herrn von Sengebusch, in dem Ingrimm der Lieutenants wiederfinden, die hier die fliegenden Kolonnen befehligen? Leihen Sie da nicht vielmehr Ihre schöne Idealität einem ganz stumpfsinnigen, rohen, egoistischen Dünkel und dem materiellsten Hochmuthe? Ist Das Politik, was Herr von Sänger spricht? Ist Das nicht die reinste Gedankenlosigkeit?

Oleander räumte dies ein, nannte aber den Royalismus eine politische Religion. Wie in der Religion der Eine sich mehr an das Symbol, der Andre mehr an die innere geoffenbarte Wahrheit halte, so wär' es auch in der Politik. Der Glaube, hier und da, wäre die Grenze des uns Möglichen und geistig Erreichbaren ...

O mein Freund, sagte er ruhig, prüfen Sie doch! Was ist das Unglück aller unsrer Staaten? Kein andres, als daß sie keine politische Religion mehr haben. Verstehen Sie mich recht! Ich meine hier nichts, was etwa mit Staatsreligion oder Religion überhaupt zusammenhängt. Ich preise nur die Zeiten glücklich, wo die mangelhaften Verfassungen und die unvermeidlichen Ausbrüche verwirrender Leidenschaften gemildert, erträglich gemacht wurden durch jene politische Religiosität, die in unbedingtem Royalismus bestand. Soweit ich den Fürsten Egon zu verstehen glaube, so will er für den bei Seite geworfenen alten Royalismus eine neue politische Religion, d.h. eine moralische Bindekraft des Staates, ein heiliges Joch der Selbstbeherrschung künstlich schaffen.

[2649] Aber wie alle Vernunft, wenn sie noch so geistreich und weise ist, die Symbolreligionen nicht ersetzen kann, so gibt es auch für die geoffenbarte politische Religion des Royalismus, die ihre weiseren und ihre einfältigeren Bekenner hat, keinen künstlichen Ersatz; denn die Pflichtenlehre, die der Fürst aufstellt, ist eine Chimäre, an der er scheitern wird. Die Pflichtenlehre, ohne Symbolik, kann wol eine philosophische Sekte zusammenbringen, Auserwählte, Gleichgesinnte, aber nicht die dem Zufall preisgegebenen großen Massen, die der Natur, der pflichtwiderstrebenden Natur, folgen. Statt des Royalismus kann höchstens die Nationalität eine bindende politische Volksreligion werden, wie in Amerika, vielleicht sogar, wenn es besser regiert würde, in Frankreich.

Und Deutschland? unterbrach Siegbert.

Nun wohl! sagte Oleander. Geben Sie uns nur ein Deutschland! Entfernen Sie mit einem Schlage alle Fürsten! Schaffen Sie aus Deutschland eine Republik. Vielleicht, daß dann Thuiskon der Heilige des Volkes würde und vom Tempel des Wodan unsre Offenbarungen kämen ... ich habe im Politischen nichts dagegen; allein schaffen Sie uns durch einen Zauberschlag diese friedlich geordnete, glückliche auf Vaterlandsliebe und nur auf Vaterlandsliebe begründete Republik!

Mit diesem Freiherrn von Sengebusch und den Lieutenants der fliegenden Kolonnen? sagte Siegbert.

Mit der Proletarierpolitik, mit den Kommunisten, den konstitutionellen Taschenspielern, den Portefeuille-jagenden [2650] Advokaten? parodirte Oleander und Beide brachen ab, weil sie in der That noch nicht einmal über das nächste Prinzip einig waren. Wie Siegbert verlangte, für die edlere Demokratie sollte man ihre Auswüchse dulden, so verlangte Oleander, für die edlere Monarchie sollte man auch den vulgären Royalismus der Beamten, Soldaten und Adligen dulden.

Die Wahlen schürten diesen Streit immer auf's Neue an. Die Agitation war trotz der Jahreszeit, die die Verbindungen erschwerte, überall sichtbar. Die Demokratie blieb im entschiedensten Übergewicht und versprach eine Kammer, noch radikaler als die aufgelöste. Selbst Gemäßigte wie Justus hatten Mühe, gewählt zu werden. Drossel, der Wirth zum Gelben Hirsch, lief ihm fast den Vorrang ab in dem Distrikte, wo er selber wohnte; doch hatte Justus über drei Wahlkreise zu gebieten und mußte sich begnügen, diesmal nur zweimal gewählt zu werden. Dem Ministerium aber trat er seine zweite Wahl nicht wieder ab; lieber noch Drosseln, wenn er diesen nicht für die Aufsicht über seine Besitzungen gebraucht hätte. Egon mußte Befehl geben, ihn, den Minister, anderswo durchzubringen. Er hatte in seinem »Jahrhundert« die konstitutionellen Neunweisen, wie es dort hieß, lächerlich machen lassen und deutlich auf jene eingebildeten Biedermänner hingewiesen, die so glücklich wären, die objektive Wahrheit auch immer da zu finden, wo sie mit der Befriedigung ihrer subjektiven Eitelkeit zusammenträfe. Die ministerielle Presse wurde mit Geist geleitet.

[2651] Siegbert verstand, was ihm Dankmar, der natürlich Egon nicht mehr sah, über dessen rastlosen Eifer schrieb. Er widmet sich ganz seiner thörichten Aufgabe, schrieb Dankmar, er opfert ihr Tage und Nächte, redigirt Noten und Artikel und will das Recht haben, Feinde und Freunde zu brüskiren. Von uns, als Freunden, sprech' ich nicht. Ich suchte keine Beziehung mehr zu ihm. Louis ist so gut wie aus seinem Umgange verbannt. Aber von jenen Freunden sprech' ich, denen er doch dient. Bei Hofe wird er noch angebetet. Die Prinzen müssen sich aber schon gefallen lassen, daß er ihre Urtheile ignorirt. Die Lieblinge des Hofes verletzt er schonungslos. Von dem General Voland von der Hahnenfeder, dessen Einfluß beim Könige weltbekannt ist, hat er geäußert: Er besäße die Beweise in der Hand, daß er es mit der Hierarchie halte. Verdächtige Persönlichkeiten, z.B. jener Franzose Rafflard, wurden ausgewiesen. Besonders scharf bewacht er die Clubs und die Gesellschaften, auch die aristokratischen, und manche heftige Scene ist schon vorgekommen, wenn er zuweilen die sogenannten kleinen Cirkel überrascht und sich Nachrichten über die auswärtige Politik erbittet: er höre, die »kleinen Cirkel« hätten eine Depesche bekommen, die bei ihm ausbliebe. Allein bei alledem erkennt man in ihm den Retter der Monarchie und ist gefaßt darauf, die nächste Kammer wieder zu entlassen und nach Egon's Theorie ein Zweikammersystem zu oktroyiren, eine Kammer der Interessen der Arbeitenden und eine Kammer der Interessen der Arbeitgebenden. [2652] Man versichert, daß Egon dabei alt wird und sehr hinfällig aussieht. Allgemein heißt es, er hätte die Absicht, Melanie Schlurck zur Fürstin von Hohenberg zu erheben. Es würde dies die merkwürdigste Folge sein, die nur einem konsequenten Streben geboten werden könnte. Melanie hielt mich einst für den Fürsten Egon und verliebte sich in mein Incognito. Als sie enttäuscht wurde, behielt sie das Wappen im Auge und wird es erobern. Man sagt, Pauline von Harder, die jetzt Alles in Allem ist und um zehn Jahre jünger geworden sein soll, bediene sich der schönen Melanie, um mit Egon in desto festerer Verbindung zu bleiben; sie verhindere, sagt man, das ehrgeizige schöne Mädchen, sich ihm unbedingt zu widmen und lehre sie die Koketterie, die sie früher in ihrem eignen Leben selbst nicht beobachtet hat. Egon, ermüdet vom Tageslärm, erschöpft von der Arbeit, ruht bei Pauline von Harder, der Feindin seiner Mutter, der Vernichterin ihrer Memoiren, seit ihrer wunderbaren Aussöhnung, jeden Abend wie ihr leiblicher Sohn aus und findet Melanie nur bei der Harder, da dann freilich immer schön, immer reizend, immer liebenswürdig. Lasally ist abgefunden. Schlurck, der Vater, der, wie mir Werdeck nach einem Geschäftsbesuche bei ihm sagte, sehr altern und in seinen Finanzen zurückkommen soll – besonders seitdem sein Faktotum Bartusch fortwährend kränkelt und Geister sieht – Schlurck kann sich mit Egon nicht aussöhnen trotz der Tochter. Es liegt in Egon's puritanischer, mit Sinnlichkeit verbundener Strenge eine unbesiegbare Antipathie [2653] gegen Schlurck's Genußtheorie und unverbesserlichen Indifferentismus. Grade was ihm an Melanie so bequem ist, ist ihm am Vater verhaßt. Auch ist die Frage seiner Finanzen zu wichtig, als daß er nicht in Ackermann das unbedingteste Vertrauen setzen sollte, zumal da Louis Armand über ihn Wunderdinge berichtet hat.

Sodann schrieb noch Dankmar, der Bruder möchte Erkundigungen einziehen über den wahren Zusammenhang einer sonderbaren Begebenheit, die sich mit Louis, dem blinden Schmied Zeck, der tollen Ursula Marzahn und einem alten Gauner, Namens Murray, im Walde bei Plessen zugetragen hätte. Louis hätte davon nur dunkel gesprochen und doch hätte er von diesem Vorfall Sonderbares vernommen. Endlich schloß der Brief mit den kurzen lakonischen Worten: »Hast du nichts aus Rom gehört? Und warum so ein sylbig über Selma?«

Von Rom hörte Siegbert genug durch die Fürstin Wäsämskoi, die eine unermüdliche Correspondenz führte. Selma sah er zu flüchtig und besorgte fast, daß der Bruder voraussetze, Selma wäre ihm selbst nicht gleichgültig. Es wäre dies derselbe Irrthum gewesen, in den auch Frau von Sänger verfiel, die natürlich über Siegbert's längeres Verweilen in der Gegend sehr glücklich war. Anfangs mußte Siegbert gestehen, daß sie eher betroffen schien über sein Bleiben als erfreut. Er äußerte dies gegen Oleander, der ihn längst mit dieser Frau neckte und ihn mit Scherzen, die eigentlich nicht in seiner Natur lagen, aufzuheitern suchte.

[2654] Oleander erwiderte darauf, daß er fast glauben möchte, jeder ganz ausgekostete Schmerz hinterlasse eine so volle süße Sättigung des Gemüthes, daß man nicht gern vernehme, der Schmerz wäre umsonst gewesen.

Diese junge schöne Frau, sagte er, die nicht ganz so oberflächlich ist, wie sie mir alle neben Selma erscheinen – auch das kleine Fränzchen hat etwas Sinniges und ein innerlich beschauliches Leben – diese einschmeichelnde Frau von Sänger hat sicher heftig darunter gelitten, als Sie von ihr schieden ...

Und nun komm' ich wieder, ergänzte Siegbert mit einiger Bitterkeit, entdecke sie drüben bei Zeisel's, sie fällt aus den Wolken. Sie noch hier? In Trauer? Was fehlt Ihnen? Ihre Mutter starb! Sie Unglücklicher! Sie Armer! Aber Sie bleiben bei uns! Sieh! Sieh! Wie lange? O Das ist schön! Und warum ihr Schreck? Das liebesieche Herz hat schon einen der jungen Krieger gewählt, die bei Freiherrn von Sengebusch im Quartier liegen.

O, o! sagte Oleander erschreckend. Sie verleumden!

Geben Sie Acht, wenn wir morgen beim Grafen Bensheim zu Tisch sein werden! Ich bin ein Träumer, wie Sie, aber meine Kunst zwingt mich doch, die Physiognomieen zu studiren.

In der That mußte Oleander Siegbert Recht darin geben, daß Frau von Sänger schon wieder mit einem der Offiziere intriguirt war, die die Cirkel der Umgegend seit der ungesetzlichen Selbsthülfe der Landbewohner belebten. Er fand sie verlegen, erröthend über Siegbert's [2655] Eintreten, erröthend, wenn dieser mit ihr sprach, er fand den Offizier gegen Siegbert, in dem er ohnehin den Demokraten voraussetzte, ganz besonders gereizt und von der täglichen Gewohnheit, mit Waffen umzugehen, einen sehr unedlen Gebrauch machend. Oleander konnte nicht widersprechen, als Siegbert in Bezug auf einige nahe an Herausforderung streifende Äußerungen zu ihm sagte:

Erkennen Sie daraus eines der Motive, das freie Gemüther treiben kann, den ganzen Ton dieser privilegirten Klassen widerlich zu finden? Was kann aus solchen brutalen Gesinnungen entstehen? Die höher gestellten Offiziere verbergen freilich, daß sie diese Art und Weise billigen, allein im Stillen haben sie fast alle ihre Freude daran. Die Zahl derjenigen Offiziere, die ich mir denke wie Max von Schenkendorf, wie Theodor Körner, wie Scharnhorst, ist sehr gering. Können Sie den Demokraten verdenken, daß man diesem Corpsgeiste grade eine Niederlage, wie einer andern Armee einst bei Jena, gönnt! Und ich weiß nicht, ob ich mich täusche. Ich glaube in der That, daß diese Gesinnung, vor den Feind geführt, vor einen nationalen, von Hochgefühl durchdrungenen Feind, sich nicht lange über die ersten Vorpostengefechte hinaus bewährt und daß im Kriege nur die Armee unüberwindlich ist, die auch im Frieden von ernster und bescheidner Männlichkeit durchdrungen wird.

Siegbert war so erfüllt von der Trauer um seine Mutter, so sanft auch im Geiste hinübergezogen in die Ferne, wo unter schönerem Himmelsstriche Olga lebte, daß ihm jede [2656] weitere Beachtung durch Frau von Sänger lästig gewesen wäre. Und dennoch erlebte er, daß die leichtsinnige junge Frau ihm einen Zettel in die Hand drückte, worin sie bat: »Morgen Nachmittag um drei Uhr; ich beschwöre Sie. Henriette.« Siegbert sagte Oleandern nichts von dieser Aufforderung, nichts von diesem Rückfall in die alte Gesinnung. Er hatte im ersten Augenblicke einen förmlichen Widerwillen gegen die unbesonnene Frau. Dann stand es wenigstens fest bei ihm, daß er nicht nach Randhartingen fuhr, nicht der Aufforderung Folge leistete. Am andern Tage kam aber die Dankmar'sche Wahrheit von den »verdammten Anstandszärtlichkeiten«! Er fuhr doch nach Randhartingen und fand Henriete von Sänger in Thränen. Sie war allein. Ihr Mann in Geschäften über Land. Sie erzählte ihr ganzes Leben, wie sie wegen Armuth diese unglückliche Heirath hätte schließen müssen und nun ihr Dasein, ihre Jugend, ihr Glück rein an Nichts hinauswürfe. Sie gestand ein, daß sich jener junge Krieger um ihre Gunst bewürbe, sie zu einer Scheidung veranlassen, entführen wolle und ähnliche excentrische Dinge, die Siegbert um so mehr erkälteten, als er hören konnte, sie würde ihren Himmel nur in ihm, in seinen reinen blauen Augen, finden. Die Thränen, die dabei flossen, waren schwerlich ganz unecht. Sie kamen aus dem wirklichsten Bedürfniß dieser Frau, die sich durch das Geständniß ihrer Schwäche erleichtert fühlte und vollends gestärkt durch Siegbert's Zuspruch, da er das Meiste von Dem, was sie äußerte, ernst nahm und ihr viel Gutes [2657] und Mildes sagte. Unstreitig hatte sie das Bedürfniß der Scenen. Sie wollte von Siegbert wenigstens das Zugeständniß ihrer verfehlten Bestimmung, eines höheren, bedeutenderen Berufes und war zuletzt vollkommen befriedigt, als Siegbert, doch rücksichtsvoll und weich geworden, tröstend von ihr schied. Es war weder von einer Flucht mit ihm oder dem Offizier oder einer Scheidung oder sonst einer gewaltsamen Unternehmung noch die Rede. Sie blieb ruhig die Frau Hauptmann und Rentmeister von Sänger, lebte aber in diesen kleinen ungeduldigen Wirbeln und Strudeln der Leidenschaft und Selbstaufregung so lange fort, bis die junge Generation auch sie überholen wird und auch sie im Arzte oder Geistlichen ihre letzten Tröster findet.

Mit dem Beginn des Dezembers wollte denn Siegbert endlich aufbrechen und in die Residenz zurückkehren. Einige Arbeiten, die er begonnen, waren vollendet, auch an äußerem Erträgniß war dieser Landaufenthalt nicht unergiebig gewesen. Das Wetter hatte sich gemildert. Dem Frost war Regen gefolgt. Die Wege waren zwar vollends jetzt nicht einladend, aber die mildere Luft that wohl. Am achten Dezember wollte er nun ganz bestimmt reisen ...

Es war am sechsten, am Nikolaustage, als Abends Siegbert und Oleander in der Wohnstube der Pfarrerin saßen und sich mit den Kindern unterhielten. Hedwig und Waldemar zeichneten Figuren mit Siegbert; das Kleinste spielte, das Vierte war im Ullagrunde ...

[2658] Oleander saß verstimmt und in sich versunken da. Ein Buch war vor ihm aufgeschlagen. Er las zuweilen, lehnte sich dann wieder zurück, schlug die Arme übereinander oder stützte das Haupt auf ...

Siegbert verstand seinen Kummer. Oleander lebte nur seiner Dichtung, seinem Amte und dem Schmerz, daß ihm nicht gelingen konnte, von Selma Ackermann irgend ein Zeichen der Gunst zu gewinnen. Siegbert war nicht wieder im Ullagrunde gewesen. Er hatte inzwischen versucht, dem Vikar eine größre Aufmerksamkeit auf sein Äußeres beizubringen. Er selbst, gewohnt, den Leib für einen Tempel der Seele zu halten, trug sich, ohne auf Eleganz Anspruch zu machen, geschmackvoll. Oleander gewann nun schon etwas von dieser gewissenhaften Sorgfalt der körperlichen Pflege. Auch wurden seine desfallsigen Bemühungen, wie er selbst erzählte, scherzend im Ullagrunde anerkannt. Eine günstigere Wendung seiner Hoffnungen gestaltete sich aber darum noch immer nicht. Die Gleichgültigkeit Selma's war so auffallend, daß, wenn sie wirklich ein andres Bild im Herzen trug, Siegbert wol Recht hatte, sich nach einer letzten flüchtigen Begegnung in Plessen, wo wieder des Bruders nicht gedacht wurde, zu sagen:

Wie lieblich ist die Treue eines unschuldigen Herzens! Wie scheint an Selma Alles spröde, so gewidmet und aufbewahrt nur für den Einen, dem ihr ganzes Leben gehört! Wie fern, wie abwesend dieser Blick des Auges! Wie erschrickt sie, wenn man sie anredet und sie nicht [2659] sogleich die an sie gerichteten Worte versteht, weil sie zerstreut war! Das ist die fromme Andacht der Liebe, die ihrem Heiligsten jeden Gedanken, jeden unbewachten Augenblick des Selbstgespräches der Seele widmet! Ob wol Olga so lieben könnte, ob sie wol so liebt oder, aufgewühlt in ihrer kindlichen Frühreife, erschreckt, beunruhigt, wildgehetzt von fremden Leidenschaften, schon außer sich lebt, statt sinnig in sich zurückgezogen!

Oleander las in einer Schrift der neuen philosophischen Schule, der kritischen oder chemischen, wie er sie nannte. Chemisch deshalb, sagte er zu Siegbert, weil diese Philosophen des absoluten Nichts die Liebigs der unsichtbaren Welt sind. Wie die chemische Retorte Urstoff auf Urstoff entdeckt und diesen immer wieder auf's Neue zerlegt, so hat der philosophische, gemüthlose Verstand der neuesten Schule Alles durch die Kritik bis zum vollkommensten Nichts aufgelöst und ich staune hier eben über den Dünkel, mit welchem in diesem Buche alle Beweise für die Unsterblichkeit der Seele widerlegt werden und der Verfasser nun auch glaubt, die Unsterblichkeit der Seele selbst widerlegt zu haben.

Siegbert schwieg. Er kannte diese Schriften. Leidenfrost liebte sie und empfahl sie mit Eifer und doch widerstanden sie auch ihm, obgleich er Oleandern in seiner Entrüstung nicht Recht geben mochte.

Warum müssen wir nur, fuhr Oleander, während Siegbert den Kindern, die schwiegen, vorzeichnete, aber ernst zuhörte, warum müssen wir nur an so viel Renommisterei [2660] im Geistigen leiden, an so viel gemüthloser, affektirter Prahlerei! Wie diese Philosophie sich berufen dünkt! Wie sie aufräumt! Wie sie durch den Erfolg ihrer kritischen Operationen immer übermüthiger wird und sich doch dieser Freude über das absolute Nichts schämen sollte! Diese Menschen lachen über den Unsterblichkeitsglauben, sie bemitleiden den vulgären Wahn unsrer romantischen Physiologie! Wenn sie noch die Achseln zuckten und sagten: Die Materie bedingt den Geist und mit dem Zusammenfallen der Materie hört dies Denken und Bewußtsein leider auf! Nein, sie fühlen sich so froh, so stolz, so gehoben durch die Thatsache des künftigen Nichts, daß ich vor einer Zukunft schaudere, wo diese Lehre in den jungen Gemüthern aller Orten Raum gefunden hat! Denn die Jugend läuft Dem nach, der den Säbel auf der Straße klappern läßt und die Mütze recht verachtungsvoll über einem Ohre trägt.

Siegbert äußerte ein Wort, das er auf eine ähnliche Erwiderung von ihm selbst einst von Leidenfrost gehört hatte.

Nun wohl! sagte er. Ist denn aber dieser Stolz so verächtlich? Man hat die Unsterblichkeit der Seele deshalb gelehrt, weil sie zur Tugend nöthig wäre. Ist es denn aber kein Fortschritt, wenn die Tugend um ihrer selbstwillen geübt und an künftige Belohnung nicht mehr gedacht wird?

O, rief Oleander, wenn sie nur tugendhaft wären! Wenn sie nur wirklich die Bescheidenheit verklärte! Wenn sie [2661] nur aus der Erkenntniß ihrer eignen leersten Zwecklosigkeit und der mit dem letzten Athemzuge eintretenden Vernichtung die Aufforderung zur Demuth schöpften! Nein, ich kenne von Tübingen, von Halle, Berlin, Wien her eine Menge dieser neuen Philosophen der Kritik und des Chemismus! Diese jungen Ärzte der neuen Schule, wie verächtlich und frivol sprechen sie von dem Körper! Er ist ihnen eine Uhr. Wo wir früher göttliche Immanenz sahen, wo wir ein Geheimniß in den Nerven ahnten, sehen sie nur den Mechanismus des Blutumlaufes und seiner Störungen. Das Mikroskop hat sie übermüthig gemacht, wie Laplace übermüthig durch das Teleskop wurde. Dieser Franzos behauptete alle Sterne gesehen zu haben, aber nirgends auf ihnen Gott. Dieser Bemitleidenswerthe erhob sein Teleskop zum Gott und die neue Naturphilosophie macht aus dem Mikroskop den Schöpfer. Es ist der Dünkel der Gelehrsamkeit, der Herzlosigkeit, des eingebildeten Studiums. Und darin erkenn' ich Gottes Finger! Unsre Welt wird immer elender und erbärmlicher, unsre Schaffenskraft in geistigen Dingen immer geringer und gemeiner werden. Ein solcher Atomismus, der nicht an die jenseitige Bestimmung des Menschengeschlechts glaubt, kann auch für das diesseitige Leben nichts schaffen. Warum erleben wir, daß diese Hände, wo sie Staat, Kirche, Gesellschaft berühren, nichts hervorzubringen vermögen? Warum sind sie von der Poesie verlassen und müssen auch deren ewige Berechtigung läugnen? Warum haben sie noch nichts gefertigt, als [2662] kritische Analysen und da, wo sie schaffen wollten, hohle Phraseologie!

Siegbert fühlte sein Herz vielen dieser Ausrufungen vertraut und doch erschreckte ihn, daß Oleander solche Thatsachen nur benutzte, um sich dahin zurückzuziehen, wo der unbedingte Glaube waltete. Er sagte:

Lieber, ich folge Ihnen gern, wenn Sie sagen, daß die neue Schule etwas Brüskes, Herzloses und Unschöpferisches hat. Ich habe sogar einen Freund, Namens Leidenfrost, der in der absoluten Verneinung jeder Zukunftshoffnung seine Menschenwürde findet und grade durch sie für die Tugend, für die Todesverachtung ein erhebendes Prinzip zu haben behauptet. Aber ich kann mit dieser Meinung nicht gehen. Ich denke, wie es hundert verschiedene Sittengesetze gegeben hat, die alle die Probe der Kritik nicht bestanden und der innere kategorische Imperativ des Herzens: Übe die Tugend! doch unläugbar ist, so ist auch trotz der Unwissenschaftlichkeit aller Beweise für das Dasein Gottes oder die Unsterblichkeit der Seele der kategorische Demonstrativ, wie ich ihn nennen möchte, dieser Thatsachen in unsrer Brust nicht auszurotten. Ich glaube nicht daran, daß diese Erde mit ihren Menschenbewohnern nur eine Stufenfolge der Schöpfung ist, die in sich selbst abstirbt und daß wir nur der Dünger immer neuer Schöpfungen sind. Welches die Form unsrer Verklärung sein wird, das weiß ich nicht. Ich denke, Gott wird schon eine Wesenkette neuen Lebens wissen, in der wir, wenn auch in Substanzen, die wir [2663] nicht ahnen können, uns als Fortsetzung unsres hiesigen Lebens erkennen. Wer kennt die Geisterringe, die das All umschließen! Aber, mein Freund, mit diesem Zugeständniß ist Gefahr verbunden. Ich kann mit Denen nicht gehen, die sich nun gleich rechts wenden und dann sagen: So bleibt uns nur der Glaube! Ich gehe mit Denen nicht, die links das absolute Nichts wollen. Wo gibt es also einen Mittelweg?

Es gibt keinen Mittelweg! sagte Oleander und fügte scherzend hinzu:

Gott oder Satan!

Sie lächeln selbst, Oleander! fiel Siegbert ein. Und doch sind Sie auf dieser äußersten Alternative. Ich glaube an den Mittelweg. Ich glaube an die Möglichkeit, daß wir das Alte kritisch überwinden und für den Geist, der uns diese Überwindung lehrte, doch auch eine Symbolik erfinden, auch eine Religion stiften. Ich will Gebundenheit des Gefühls und auch ein Maaß des Gedankens. Ich will, daß man sich im Staate und in der Religion gebunden fühlt, gebunden durch die ewige Schranke, die wir nicht überspringen können. Aber diese Gebundenheit muß keine traditionellen Formen mehr haben, in der Religion nicht die christliche Theologie mehr, in der Politik nicht mehr das feudale Staatsrecht. O mein Freund, ich weiß wohl, daß die Weltwirkung Christi kein Genius mehr heraufzubeschwören vermag, kein Wettkampf eines Märtyrers vermag noch mit Christus in die Schranken zu treten, es fehlt uns Symbol, Religion, Form, Kirche und Staat [2664] für Das, was unsre Meinung ist; aber hoffen wir doch, verzagen wir nicht; auch die neue Religion, die neue Politik wird ihre Formen finden. Nicht umsonst ist uns von Christus die künftige Herrschaft des Geistes verheißen worden.

Oleander schwieg und wollte in seinem Buche weiterlesen, als man einen Wagen rollen hörte. Er fuhr rasch von der Gegend des Amtshauses herunter und die Frau Pfarrerin, die mit weiblichen Arbeiten beschäftigt am Tische saß, behauptete, es müßte Herr Ackermann sein. Der Wagen hielt vor dem Pfarrhause. Die Kinder sprangen hinaus. Es war Ackermann, Selma, Fränzchen und die kleine Clara Stromer, die mit einem Korbe in's Haus traten.

Guten Abend, ihr Kinder. Guten Abend, Herr Oleander! Guten Abend, Herr Wildungen! So still hier? Kein Jubel? Keine blechernen Trompeten? Keine Trommeln?

Und schon hatte Selma den Korb, den Fränzchen trug, aufgedeckt und trommelte auf einem kleinen Tambourin, und Clara, die in das Geheimniß eingeweiht war, zog Hedwig und Waldemar heran, um ihnen die übrigen Herrlichkeiten zu zeigen.

Es ist St.-Niklastag, sagte Oleander, glücklich durch den unerwarteten Besuch.

Siegbert besann sich auf diesen Tag, an dem er in seiner Kindheit immer schon eine Vorfreude der Weihnacht genossen und erinnerte sich seines guten Vaters, der in einem nach außen gekehrten rauhen Pelzschlafrocke und verhüllten Kopfe den Niklas spielte. Zu Denen, die solche [2665] alte Sitten und Unsitten aus zärtlicher Schonung der »lieben Kleinen« verwarfen, gehörte er nicht. Siegbert gedachte wehmüthig der Angst, die die Mutter hatte, wenn sie beteten und sich nicht recht klar werden konnten, ob sie sich wirklich zu fürchten oder nur so zu stellen hätten; denn der Vater war ja wol sogleich erkannt.

Selma erzählte den staunenden und über die kleinen Geschenke jubelnden Kindern, sie hätte alle diese Sachen vom heiligen Nikolaus bekommen und fragte dann:

War er denn noch nicht da? Er sagte doch, er woll te heute alle Kinder besuchen und sehen, ob sie geschickt wären und beten könnten? Auch den großen Kindern da, Herrn Siegbert und Oleander, drohte er mit der Ruthe! Gott sei Dank, er kommt wol nicht.

Indem pochte es aber draußen an der Hausthür donnernd.

Die Kinder horchten erschrocken auf ...

Als Ackermann, der mit väterlicher Freundlichkeit auf den Scherz einging, bemerkte, ob Das wol der Niklas wäre, und das Pochen sich wiederholte, wollten sie sich verstecken.

Wer geht hinaus und öffnet?

Die Frau Pfarrerin hatte keinen Muth; der räthselhafte Ankömmling klopfte so stark, daß sie zitterte.

Oleander, der gespannt war, was da kommen sollte, ging und öffnete.

Sogleich hörte man auf dem Vorplatz eine gewaltige Klingel schellen und eine hohle rauhe Stimme rufen:

[2666] Sind hier Kinder?

Wie die Kinder dies bezügliche Wort hörten, wollten sie sich hinter der Mutter verstecken.

Oleander erschrak selbst über den mit Ackermanns einverstandenen, ihm aber nicht erkennbaren Besuch.

Die Thür ging auf und eine tief in Pelzwerk gehüllte und wol mit einem gebrannten Korke schwarzbemalte Figur trat herein. Der Kopf war von Damenshawls wie mit einem Turban überwunden. In der Hand trug der Wilde eine große Ruthe aus Besenreisern und in der andern einen Sack. Die lange Stange hatte er draußen stehen lassen.

Ernst blickte sich der unheimliche Gast im Zimmer um. Selma, um seinen Scherz zu unterstützen, schrie und lief sich zu verstecken.

Du schon wieder da? sagte der Niklas und rannte ihr mit der Ruthe nach, um ihr auf die Finger zu klopfen.

Die Kinder wagten kaum hinter der Mutter hervorzukriechen. Nur Waldemar war etwas kecker und wollte den Niklas am Pelze zupfen.

Da hatt' er einen Schlag auf die Finger weg.

Zugleich warf aber der schlimme Heilige doch aus seinem Sacke Nüsse, Äpfel, Lebkuchen in Fülle. Das lockte die Kinder, aber so wie sie etwas erhaschen wollten, setzten sie sich der großen drohenden Ruthe aus ...

Der Kleinste, Oskar, weinte. Hedwig nahm sich seiner an und suchte den Zorn des Niklas durch ein Gebet zu beschwichtigen, das sie rasch herstammelte.

[2667] Da sagte der Niklas mit einer rauhen, Siegbert und Oleander und der Frau Pfarrerin völlig unbekannten Stimme:

Seid ruhig, ihr Kleinen! Ich weiß, daß ihr beten könnt und geschickt seid! Auf die großen Kinder ist es abgesehen. Hier! Da versteckt sich ein rechtes altes Kind, das sich in der Welt herumtummelt, die Schule und das Elternhaus schwänzt ... Wart', Gesell! Sag' deine Lection her!

Damit hatte der Niklas Siegberten so eingeschlossen, daß dieser in der That vor der Ruthe sich nicht bergen konnte.

Siegberten war es, als sollt' er trotz der Verstellung die Stimme kennen. In der Eile rieth er hin und her. Aber der Niklas ließ ihm nicht Zeit zu fragen, sondern verlangte einen Spruch.

Siegbert warf den ersten besten Schulvers hin.

Der Niklas sagte:

Siehst du, trivialer Schulschwänzer, Besseres kannst du nicht? Treibst dich herum, jagst Nebelbildern nach und vernachlässigst die Ölfarbe! Schäme dich, Portraitklexer!

Jetzt gewann Siegbert einen Paß, dem seltsamen Niklas zu entwischen, der nun Oleandern vornahm.

Oleander unterstützte die Vermuthung der Frau Pfarrerin und der Kinder, daß dies wol gar der Vater wäre, Guido Stromer selbst, der die Seinigen zur Weihnachtszeit überraschen wollte. Ach wie schlug der verlassenen [2668] Frau das Herz! Sollte er's sein? Guido? Aber seine Stimme ist nicht so rauh! Dieser Humor nicht im Mindesten von seiner Art! Aber vielleicht hat sich sein Wesen in der Stadt geändert? Er ist fröhlicher geworden? Kinder, seid artig, betet, es ist der Vater!

Der Niklas verfolgte Oleandern, dessen lange Figur sich beim Entschlüpfen komisch genug ausnahm und wirklich von Selma nicht ohne Spott belacht wurde. Siegbert selbst mußte lachen, wie der lange lyrische Vikar sich duckte und zur Freude der Kinder seine Angst übertrieb, während er doch wirklich beklommen war.

Du Stellvertreter des Stellvertreters des Herrn, sagte der Niklas, was kannst du sagen? Liest du auch Alles aus Büchern ab, wie deine Kollegen? Bist du auch so ein Hasenfuß, der die Privat-Seelsorge der Weiblein Nachmittags mit ihnen beim Kaffee pflegt und lieber Whist spielt, als im heiligen Augustinus liest?

Oleander schwang sich hinter Siegbert her und schützte diesen vor, um sich vor der Ruthe zu retten. Mit einer Anspielung auf Siegbert's Trauer sagte er nun rasch:


Nicht allzu große Lust im Glücke!
Nicht allzu großen Schmerz im Leide!
Dann lacht nach jeglichem Geschicke
Der Hoffnung wieder grün die Weide!

Das geht allenfalls! sagte der Niklas. Etwas sentimental zwar! Etwas Freude mit schwarzem Krepp! Aber es sind ländliche Anschauungen! Die grüne Weide ist die Hauptsache! [2669] Oder du denkst wol, Niklas wäre ein Bauer oder ein Viehzüchter? Wart'! Wart'! Aus Schonung für die Waise da – er zeigte auf Siegbert – will ich deinen Spruch gelten lassen; da hast du einen Lebkuchen, einen Reiter zu Pferde und noch einen, ein Wickelkind! Laß dir's recht viel Kindtaufen bedeuten!

Der Niklas jagte nun noch Ackermann, Selma, Fränzchen – mit denen er jedoch im Einverständnisse war – auch die Frau Pfarrerin, die nur immer dabei blieb: Das ist Herr von Zeisel – nein! Das ist – der Doktor Reinick! Nein! Das ist – Himmel, wer ist's nur? Die sonst so stille Frau war ganz alarmirt. Ihre wahren Gedanken, die sie mit den Kindern theilte, daß es der Vater wäre, wagte sie der Täuschung wegen nicht auszusprechen.

Zu Ackermann sagte der Vermummte:

Über's Jahr komm' ich wieder und wehe dir, Taschenspieler, wenn du mir nicht aus diesem Apfel, der sechs Körner enthält, sechshundert Äpfel gewonnen hast!

Zu Selma:

Wart', daß ich dich nicht mitnehme auf mein Pferd und dich in Höschen Pagendienste verrichten lasse bei der Königin Saba von Arabien.

Und zu Fränzchen:

Louise Eisold läßt dich grüßen und um ein neues Lied nach der Melodie: »Des Volkes Tochter, arme Bettlerin« bitten. Aber ich werde Euch anstreichen, so zu lügen, ihr verdammten schönen Proletarierinnen ihr! Singen vom Elend und naschen am liebsten Lebkuchen!

[2670] Siegbert konnte nicht errathen, wer der Vermummte war; denn die Stimme blieb verstellt und sein Spiel wurde fast künstlerisch behandelt.

Als Niklas noch der Pfarrerin und den Kindern einige leichte Ruthenstreiche versetzt, dabei immer geklingelt und mit seinem Sack gerasselt hatte, faßte er zuletzt das unterste Ende desselben, schüttete die ganze Bescheerung auf den Fußboden und während Jung und Alt danach haschte, sich drängte, stieß, war er verschwunden.

Jetzt erst war das Gelächter und die Freude groß. Siegbert sollte rathen und besann sich nicht. Sein Bruder konnte es nicht gewesen sein. Er würde die Stimme erkannt haben ... Indem brachte ein Hausknecht aus der Krone die Botschaft, ein fremder Herr wäre angekommen, der ihn zu sprechen wünschte; er zeigte auf einen Zettel, auf dem »Leidenfrost« geschrieben stand.

Jetzt hatte Siegbert die Aufklärung.

Hat er den Weg als Heiliger gefunden, der uns prügelte, sagte er lachend, so kann er es jetzt auch als reuiger Sünder, um uns abzubitten. Der Tolle soll nur zu uns kommen. Ich komme nicht zu ihm und wenn er in hundert Kronen wohnte.

Leidenfrost war es wirklich, der dann in einem abgetragenen Sammetkittel kam. Er grüßte wie ein völlig Fremder und führte seine Rolle des Nichtwissens, des Erstaunens, der vollkommensten Nichtbetheiligung eben so gut durch wie vorhin seinen Niklas, den er durchaus nicht wahrhaben wollte.

[2671] Ich ein Niklas? sagte er befremdet mit einer völlig andern Stimme. Ich so frech, Sie hier Alle mit Ruthen zu peitschen? Wie könnt' ich daran denken! Ich habe das Glück, Ihre werthe Bekanntschaft zu machen, Herr Oleander und Frau Pfarrerin, in Folge des angenehmen Auftrags, in dieser unangenehmen Jahreszeit die von Herrn Ackermann bestellten Maschinen durch Dick und Dünn hierher zu begleiten. Gewisse innere Stimmen sagen zwar, ich hätte diesen Auftrag mit besondrer Vorliebe für den Flüchtling Siegbert Wildungen übernommen, den wieder zu sehen mein Herz labt und der trotzdem, daß er eine Mutter verloren hat, doch schon wieder, wenn nicht lachen, doch lächeln kann. O lächelte die Sonne so durch Wolken und trocknete die Wege! Vergeben Sie meine Fußbekleidung! Ich versichre Sie, daß diese Stiefeln wirklich von Leder sind.

Die Pfarrerin bot Thee oder jedes ihr sonst in der Eile mögliche Nachtessen an, aber man schlug die Einladung aus und wollte in den Ullagrund zurück. Leidenfrost begleitete die Rückfahrenden, versprach aber morgen nach erster Auseinandersetzung der bereits in den Wirthschaftshäusern Ackermann's untergebrachten Maschinen, sich in Plessen sehen zu lassen. Ackermann kehrte diese Anordnung um und lud die Pfarrerin, die Kinder, Oleander und Siegbert liebevollst und herzlichst für morgen zu Tisch.

Nun wohl – sagte Leidenfrost; dann sorgen Sie nur für ein kleines Kämmerchen zum Rauchen und zu stillem [2672] Zwiegespräch mit dem neugierigen Siegbert. Wir haben Viel und nichts Geringes zu berichten.

Wie lange bleiben Sie, Leidenfrost? fragte Siegbert.

Bis übermorgen!

Dann reisen wir zusammen zurück.

Wenn Sie keinen Anstand nehmen, sich dabei von den beiden Maschinenarbeitern Alberti und Heusrück begleiten zu lassen –

So sind wir vier und bilden ein vierblättriges Kleeblatt!

Diese Bemerkung betonte Siegbert mit einigem Nachdruck, den Leidenfrost verstand und dazu bedeutsam lächelte. Diese Mienen reizten Siegbert so, daß er die Zeit bis zum morgenden Mittag kaum erwarten konnte und bis in die Nacht Oleandern, der in Leidenfrost nun auch den Unsterblichkeitsläugner gleich persönlich kennen gelernt hatte, mit Schilderungen über das Leben und die Talente dieses Sonderlings, für seinen humoristischen Freund erst langsam gewinnen mußte.

[2673]
13. Capitel. Der Häckselschneider
Dreizehntes Capitel
Der Häckselschneider

In Ackermann's größtem Zimmer war eine Familientafel hergerichtet. Selma und Fränzchen hatten vollauf zu thun, den wirthschaftlichen Verpflichtungen heute würdig zu entsprechen. Eine Hausfrau, die Frau Pfarrerin, sollte heute ihrer Hände Werk, ihre Anordnungen, ihre Wirthschaftlichkeit prüfen.

Heute kam für Fränzchen der Onkel von der Jagd recht unerwünscht, obgleich er Wildpret brachte. Er mußte sich's auch gefallen lassen, daß sie ihm sagte:

Onkelchen, heute haben wir großen Besuch, heute gibt's viel zu schaffen.

Nun, sagte Heunisch, ich wollte mich ein bischen ruhen. Dann sprech' ich einmal bei dem Alten vor. Ich höre ja, zu Weihnachten wird der Heinrich herüberkommen und ein paar Tage auf Urlaub hier zubringen.

So? sagte Fränzchen gleichgültig und half der brummenden Liese den Grünkohl verlesen.

Ich sprach neulich den Alten auf dem Amt, wo die Papierschreiberei kein Ende nehmen will ...

Fränzchen hörte gar nicht ...

[2674] Wegen der Teufelsgeschichte in meinen vier Pfählen – die Alte soll auf's Amt und will nicht – So hab' ich um jedes Und und Aber eine Scheererei –

Guten Morgen, Herr Heunisch! klang eine zarte Stimme.

Es war Selma, die in der Wirthschaft schaltete und rasch an dem in der warmen Küche sitzenden Forstmann vorüberging.

Guten Morgen, Fräulein – wie behend geht Ihnen das Alles von der Hand!

Da war heute aber kein Stillstand, keine Gelegenheit zum »Schnacken«. Heunisch wurde bald da, bald dort incommodirt, sodaß er zuletzt merkte, er incommodire selbst und beschloß, den Alten nebenan zu besuchen.

Hast ihn denn noch immer nicht gesprochen? fragte Heunisch seine Nichte.

Heute wird's geschehen müssen, sagte Fränzchen seufzend. Ich muß ihn um Eier bitten und wenn er's gut meint, auch noch um drei Hühner dazu. Wir sind noch zu wenig eingerichtet. Die Liese muß die Hasen spicken. Da will ich einmal selbst mein Glück versuchen.

Wetter! Nun bin ich begierig, sagte Heunisch. Nun gehe ich voraus und recognoscire das Terrain. Komm' gleich nach! O da bin ich kurios. Adjes, Liese! Der Hase ist nicht zu jung und nicht zu alt ... grade, wie's am Feuer sein soll.

Die Liese achtete heute nur auf ihre Töpfe und Pfannen [2675] und Spicknadeln und hörte kaum, was um sie gesprochen wurde ...

Heunisch ging und stöberte wirklich den alten Brummbär auf dem Häckselboden auf, wo er meist selbst angriff und für seine acht stattlichen Rosse Häcksel schnitt.

Der Jäger hatte eine Lockpfeife, die der Bauer schon kannte. Er pfiff an den Scheunen, da er schon den regelmäßigen Schnitt vom Häckselboden hörte.

Guten Morgen! hieß es oben rundweg, als Heunisch in den untern Heuschober eingetreten war. Soll's was?

Zum Wetter, ist das ein Willkommen?

Ich schneide Häcksel ...

Hör' ich ...

Gibt's was Neues?

Euer Nachbar hat die Maschinen gekriegt –

Wohl bekomm's ihm!

Auch eine Häckselmaschine –

Gleichfalls!

Die eisernen Dinger sehen so klug aus wie Puterhähne, die sich in die Brust werfen! Wenn ich sie so klappen und stöhnen höre, ist's mir fast, als wären sie lebendig.

Meine alte Häckselbank da schläft auch nicht –

Ritsch! Ratsch! sagte Heunisch und ahmte das Schneiden nach, ärgerlich, daß dieser Dialog so ganzpar distance vom Boden herab und von unten hinauf geschrieen wurde. Ihr seid fleißig, Sandrart ... Werdet Ihr Euch denn die Maschinen nicht einmal ansehen?

Nein.

[2676] Sie sind possierlich.

Glaub's.

Der Nachbar macht Euch Alle todt.

Wir wollen's erleben.

Hört doch auf! Zum Donnerwetter! Seht doch ein bischen 'runter! Was sagt Ihr denn zur Franziska?

Franziska? Was ist Das? Auch so eine eiserne Bestie?

Ritsch! Ratsch! Der Bauer schnitt ruhig seinen Häcksel weiter.

Seid Ihr toll, ich meine meine Nichte – Sie ist ja beim Nachbar. Ihr seid kein freundlicher Nachbar ...

Ich sehe nicht in andrer Leute Töpfe.

Indem mehrte sich die Scene. Fränzchen's inzwischen erfolgte Ankunft hatte Heunisch am Gebell der Hunde und dem Knarren des Torwegs errathen.

Ja! sagte eben eine alte Weiberstimme hinter Heunisch, der dabei durch die Bodenluke sah, von welcher eine Leiter in die Scheune herabführte. Ja, aber andre Leute sehen in unsre! He, Sandrart!

Wie so, Jungfer Rosine? fragte Heunisch sich umwendend.

Die Regentin des Sandrart'schen Bauernhofes berichtete, daß die Mamsell von drüben da wäre und um ein Dutzend Eier bäte und wenn's möglich wäre, auch um drei Hühner.

Oben war Alles still; auch die Häckselbank schwieg.

Ein Dutzend Eier wollen sie drüben und wenn's möglich wäre, drei Hühner! wiederholte Jungfer Rosine [2677] kreischend, weil sie glaubte, der Alte oben hätte den Wunsch nicht verstanden.

Ein Dutzend Eier, Sandrart, und wenn's möglich wäre, drei Hühner! wiederholte Heunisch.

Ich höre schon! schrie der Bauer ...

An seiner Stimme merkte man seinen Zorn und den geschmeichelten Übermuth.

Rosine, die die abschlägige Antwort voraus wußte, grinzte verschmitzt und wollte schon mit den Holzschuhen davonklappen.

Indem hüpfte Fränzchen herein, im wollenen Kleidchen, ein Mäntelchen übergeworfen, zwei Körbe in der Hand, erwartungsvoll, nicht ohne Hoffnung ...

Nun, rief sie in die Scheune tretend, ist der Herr Nachbar so gütig?

Die Mamsell! betonte Rosine die Leiter hinauf.

Sandrart, statt aller Antwort, fing wieder an Häcksel zu schneiden.

Die Mamsell! schrie Rosine.

Wer? Welche Mamsell? rief der Bauer. Das Fräulein Mamsell?

Rosine antwortete höhnisch:

Die Kammerjungfer!

Meine Nichte, wenn Ihr's wissen wollt – ergänzte Heunisch mit Nachdruck und stieg eine Sprosse an der Leiter höher, indem er mit der Flinte auf die Bodendecke klopfte.

So? rief der Bauer. Kompliment an den Nachbar! Es [2678] geht auf Weihnachten. Mein Sohn kommt. Wir brauchen da das Unsrige. Vielleicht legen seine Maschinen Eier.

Fränzchen begriff so viel Grobheit nicht.

Und unsre Hühner, fuhr die Magd fort, sind unsre Kinder ... die würgen wir nicht unnütz ...

Alte Gluckhenne! polterte der Jäger und stieß mit dem einen Fuß rückwärts, wenn die Hühner nicht mehr legen, macht Ihr Euch auch nicht Suppe davon? He! Sandrart? He! Euer Nachbar hat Gäste! Ihr werdet doch nicht so ungefällig sein? Der Teufel nein! Soll's denn immer heißen: Grob wie Bauernvolk?

Sandrart kehrte sich an diese Wendungen nicht, blieb ungefällig, verweigerte Hühner und Eier und schnitt wieder Häcksel.

Der gereizte Jäger äffte ihm nach:

Ritsch! Ratsch! Schneid' Er Häcksel in Teufels Namen! Geb' Er Antwort, Alter!

Sandrart schnitt Häcksel und die Rosine ging lachend aus der Scheune.

Fränzchen konnte nicht umhin, zu dem Onkel, der wieder eine Sprosse niedriger gestiegen war, zu sagen:

Sehen Sie da, Onkel, wie thöricht Sie handeln, mich zu einem Verhältnisse zu zwingen, wo ich das unglücklichste Wesen von der Welt wäre. So achtet man mich! So verlangen Sie, daß das Kind Ihres Bruders beschimpft wird?

Und fast weinend, aus Jammer über das Mittagsessen, wollte sie schon mit ihren Körben gehen und die traurige Nachricht, daß sie leer komme, heimtragen.

[2679] Heunisch aber, gedenkend, wie nothwendig heute vorerst die Eier waren, wie ferner sein Hase, den er zur Tafel geliefert hatte, doch nicht das einzige Fleisch sein durfte, das Herr Ackermann seinen Gästen vorsetzte, hielt sie zurück und rief laut, daß der Alte oben, der ruhig seinen Häcksel fortschnitt, es hören mußte:

Wäre der Heinrich hier, Franziska, der Heinrich, der dich liebt, der Heinrich Sandrart, Sergeant bei der dritten Compagnie Leibregiment, der zöge die Plempe und ging' in die Speisekammer und schlüge alle hundert Schock Eier, die da liegen, in einen gelben Brei zusammen und im Hühnerstall dreht' er allen Hühnern die Hälse um!

Dies Kraftwort, unterstützt durch das Pochen der Flinte am Heuboden, bewirkte, daß der Alte oben zwar nicht antwortete, aber doch mit Häckselschneiden innehielt und sich die Möglichkeit einer solchen von seinem Sohne vorausgesetzten Eierverwüstung still überlegte.

Abscheulich! fuhr Fränzchen weinerlich fort. Wir brauchen die Hühner zu einem Ragout. Selma hat das Dutzend Hühner, das sie sich erst drüben angeschafft haben, zu lieb und will keines schlachten lassen und hier gackert's von Morgen bis Abend, daß man sich die Ohren zuhalten möchte.

Ich möchte nun gleich, fuhr der Jäger zornig fort, ich möchte nun gleich hier die Leiter nehmen und sie zusammenrütteln, daß der Alte mit sammt der Häckselbank durch die Decke fiele!

[2680] Er that Das auch, selbst auf Gefahr, in eigner Person herunterzufallen.

Nein, nein, wir müssen uns auf's Bitten verlegen, flüsterte Fränzchen. Ich kann so nicht zurückkommen. Wir müssen gute Worte geben. Haltet einmal die Leiter, Onkel! Hält sie auch fest?

Heunisch, erfreut von dieser vielleicht folgenreichen Wendung, sprang herab.

Fränzchen stieg einige Stufen empor und rief zur Öffnung hinauf:

Herr Nachbar –

Heunisch dachte: Nun woll' er sehen, was kommen würde.

Keine Antwort auf den zarten, schmeichelnden Gruß.

Thu' ihm schön! flüsterte der Onkel, der wohl einsah, daß dies der einzige Weg der Eroberung war.

Ihr habt so viel tausend Eier, sagte sie – wir wissens – und hundert Hühner im mindesten – ein Kompliment von Herrn Ackermann – guten Tag, Herr Sandrart –

Der Alte, statt aller Antwort, ohne sich an die Bitte zu kehren, ohne sich nach dem niedlichen Köpfchen, das schon durch die Luke hindurchsah, umzuwenden, fing wieder an, Häcksel zu schneiden.

Fränzchen stieg nieder und schluchzte fast vor Zorn und beleidigtem Stolz. Sie hatte dem alten »Ekel«, wie sie ihn mit städtischem putzmacherischen Ausdruck nannte, geschmeichelt, sie war ihm fast, aus der Ferne wenigstens, um den Bart gegangen und nun stand der oben in [2681] seiner kurzen Jacke und seiner Pelzmütze und schnitt Häcksel und hörte nicht und lachte in sich hinein voll Übermuth.

Wart', Fränzchen, flüsterte der Jäger. Ich hab' jetzt einen andern Gedanken! Wir wollen's anders machen. Du kriegst die Eier und die Hühner auch.

Damit hielt er Fränzchen, die schon gehen wollte, zurück, und begann nun laut und vernehmlich, daß es der Alte hörte:

Fränzchen, laß gut sein! Der Heinrich kommt zu Weihnachten – der Heinrich, der –

Ach geht mit dem Heinrich! sagte Franziska in natürlichster Regung.

Willst du wohl! flüsterte Heunisch und nun wieder laut: Was? Heinrich Sandrart! Nicht wahr? Das ist ein schmucker Junge! Da soll Kuchen gebacken werden! Darum spart er die Eier! Aber was macht sich denn so ein Sergeant aus Kuchen! Der ... der hat Höflichkeit, du weißt, ich sagt's ja damals gleich nach der Parade ...

Ach was, Parade! Ich will hinüber! unterbrach Franziska, die auf des Onkels List nicht eingehen mochte.

Pst! flüsterte dieser, hielt sie fest und fuhr laut fort:

Musjöh, sagt' ich auf der Parade, Heinrich, was bist du gewachsen! Als ich dich im Walde attrapirte und du mir einmal die Brombeeren maustest, die ich selber gern esse, was warst du ein winziger Knirps und nun, wo du Andre fuchtelst, bist du ein rechter Sappermenter! Ja, wie du [2682] die Rekruten zurecht setzest! Nicht wahr, Fränzchen, wir haben's gesehen, wie der Rekruten zustutzt?

Der alte Bauer hörte schon lange zu häckseln auf und horchte.

Fränzchen, die die Wirkung merkte, widersprach nicht mehr, sondern ließ den Onkel seine Späße fortsetzen.

Der Major von Werdeck ritt vorbei und sagte – Heunisch flüsterte: Wenn's auch nicht wahr ist – Sandrart, sagte er, Sandrart! Er ist ein ganzer Kerl! Sein König kann sich auf ihn verlassen! Er hat die sauberste Uniform, die nettsten Handschuhe und das beste Lederzeug –

Das Lob schallte im ganzen Heuboden nach. Der Jäger nahm den Mund so voll, daß der Bauer oben wirklich Antheil nahm und auch laut sagte:

Ho! Ho!

Wie so hoho? sagte Heunisch und stieg auf die Leiter. Wie so hoho? Was will Er da oben mit Hoho? Was weiß Er? Er Häckselschneider? Was weiß Er vom König und wen der lieb hat? Schneid' Er Häcksel!

Alles erlogen! rief der Bauer schon lachend.

Warum erlogen? polterte Heunisch und stieg noch höher, daß sein Kopf bald durch die Bodenluke kam. Was erlogen? Der Major liebt den Heinrich und sagt des Tages zehnmal zu ihm: Sandrart, Er gefällt mir!

Ho! Ho! Der Major sagt »Sie« zum Heinrich ...

Ach, das weiß ich ja! polterte Heunisch; was wollt Ihr denn! Er oder Sie! Wollt Ihr grober Bauer mir, einem [2683] Jäger, der Soldat war, sagen, wie ein Major zu einem Freiwilligen sagt! Was wißt Ihr denn da an der Häckselbank! Alter Grobian! Heinrich ist ein Freiwilliger. Er ist mit mir Arm in Arm gegangen, wie er vom Appell kam und in einen Weinkeller sind wir gegangen und ich habe zu ihm gesagt: Junge, was hast du für einen Schnurrbart gekriegt, hab' ich gesagt, und er hat gelacht und gesagt:

Er würd' ihm noch ganz anders wachsen, wenn er erst Feldwebel würde und Feldwebel muß er werden und er wird's und der König will's –

Ne – ne! hieß es jetzt oben, mit einer Stimme, wie wenn man den Bauer gekitzelt hätte.

Warum will's der König nicht? schrie der Jäger und war mit dem Kopfe durch die Bodenluke.

Ne! Ne! sagte Sandrart fast kichernd.

Antwort! Warum will der König so einen Feldwebel nicht? Was?

Der Bauer lachte.

Diese Stimmung rasch benutzend, sagte Heunisch polternd:

Hier will der Nachbar ein Dutzend Eier haben – Aber ich wette hundert, er wird Feldwebel!

Er warf dies so hin, als unterbräche diese Störung nur die wichtige Unterhaltung über das fernere Avancement des Sohnes.

Er wird nicht Feldwebel, er soll es nicht! schmunzelte der Bauer. Er kommt nach Hause ...

Er soll's nicht – wenn ich Euch aber nun beweise, daß [2684] der Major gesagt hat ... Donner, so laß mir meine Beine in Ruhe, Franziska! Mit deiner Bettelei!

Rose! rief der Alte jetzt oben aus dem schmalen Fenster in den Hof! Ein Dutzend Eier für den Nachbar!

Ich sage aber, fuhr Heunisch fort, während Fränzchen glückselig in den Hof lief und der dort lauernden Rosine wiederholte, was sie eben zu ihrem Erstaunen aus dem Luftloch des Häckselbodens vernommen hatte, ich sage aber, der Heinrich muß Soldat bleiben. Heinrich, sagt' ich ihm, dein König will's und die Flötenblaserei ist nichts für einen Soldaten, der du bleiben sollst dein Lebenlang bis zum General!

Ach! Ach! sagte der Alte oben ablehnend und die Finte merkend und wollte wieder Häcksel schneiden.

Nein, fuhr Heunisch, der die Stufen der Leiter nun ganz hinaufklomm, polternd fort, nein! Er bläst die Flöte! Er bläst sie wie der beste Hautboist nur die Flöte blasen kann! Er hat was gelernt – das muß wahr sein und es ist wahr – allein aber – einem Feldwebel, denk' ich denn doch auch, einem Feldwebel steht es wie jedem andern Menschen, wenn er sagen kann: Mein Vater hat was an mich gewandt, mein Vater ist reich, mein Vater kann's thun – wir haben hundert Hühner im Stall und schenken weg, was wir nicht brauchen, wie die Kastanien, und wir bleiben Soldat!

Sandrart, der Bauer, lachte jetzt übermäßig und rief:

Ne! Ne!

Hier will Euer Nachbar drei Hühner, bemerkte Heunisch, [2685] wie gleichgültig und das Wort so hinfallen lassend ... Warum soll Heinrich nicht Soldat bleiben! Sein König will's! Ich weiß es, der König hat schon manchmal gefragt: Wer ist der schöne junge Mann, der bei der Parade immer so gerade marschirt und die beste Uniform hat ... Daß dich der Teufel, Fränz, da unten mit deinen Eiern und den verfluchten Hühnern!

Rose!

Sandrart! rief's von unten.

Die schwarze legt nicht mehr –

Die bunte –

Die schwarze, sag' ich – und die bunte – und die gesprenkelte auch nicht –

O, o die gesprenkelte –

Ich sage, sie legt nicht – Donnerwetter! – Die schwarze, die bunte und die gesprenkelte – schickt sie herum – und laßt guten Appetit wünschen und ein Kompliment. Aber mein Sohn gehört mir und nicht dem König.

Fränzchen folgte mit Jubel der zornigen Rosine in den Hühnerstall. In einem Korbe hatte sie die Eier, in den andern kamen die drei Hühner.

Also warum? kam der Bauer jetzt von der Häckselbank an die Dachluke, sodaß sich Heunisch etwas zurückzog. Mir soll Eins kommen und sagen: Der Heinrich soll immer Soldat bleiben! Er hat seinem König gedient und nun gut damit. Jetzt soll er wieder seinem Vater dienen.

Will's sein Vater? A la banne heure! Das ist was Andres! Dann sagt' ich aber auch, fuhr Heunisch fort und [2686] wollte nun gleich auch seinen andern Vortheil wahrnehmen ...

Was habt Ihr gesagt?

Dann sagt' ich aber auch gleich: Heinrich, nun heirathest du.

Das kann er!

Das kannst du, Junge! sagt' ich im Weinkeller und er wollte nicht, daß ich bezahlte. Ich hatte, straf' mich Gott, ich hatte meinen Lederbeutel schon in der Hand, aber der Junge wollte nicht und ich sagte: Das kannst du!

Das kann er!

Und weil du doch einmal die Franziska Heunisch, dem alten Jäger seine Nichte, gern hast –

Wen?

Und weil sie dich wieder gern hat –

Was?

Jetzt legte sich Franziska, die in dem Korb die verdutzten Hühner festhielt und dem Onkel ihren Triumph zeigen wollte, in's Mittel und wollte mitsprechen.

Heunisch hielt sie aber zurück, legte rückwärts die Hand auf ihren Mund und fuhr fort:

Und weil dein Vater alt ist und sich zur Ruhe setzt, und dein Mädchen in der Nähe ist, sich auf Wirthschaft versteht, keine Stadtmamsell ist, von Eiern und Hühnern Was versteht –

Nichts, nichts da! fiel Sandrart ein und ging von der Luke an die Häckselbank.

Da, Fränzchen, steig' auf die Leiter, gib dem alten[2687] Schwiegerpapa dein Pätschchen, so sammetweiche Händchen hat er sein Lebtag nicht in seiner alten Lederhaut gehabt – komm', Kind – da, Alter, hier dankt Eins für die Hühner und für die Eier!

Heunisch zog Fränzchen wider Willen auf die Leiter empor und faßte ihre Hand, um sie dem Alten hinzuhalten ...

Da kam aber der Bauer mit raschem Schritt so dahergefahren, daß Heunisch selbst erschrak ...

Nun? rief er. Ausgesöhnt?

Oben hieß es mit zorniger Stimme:

Kopf weg!

Und krachend fiel die Bodenklappe über der Leiter so zu, daß diese zitterte und bebte und Heunischen fast der Hut wäre eingeschlagen worden. Der Bauer machte kurzen Prozeß.

Fränzchen hüpfte aber schon fröhlich zu Acker mann's hinüber und achtete Heunisch's nicht, der nun wirklich zornig wurde, an der Klappe stieß und rüttelte, mit der Flinte drohte und dem Bauer einige Dutzend reeller Donnerwetter an den gierigen Hals wünschte.

Wart! Dir kommt's doch noch einmal über's Dach! Du grober, impertinenter Kerl!

Sandrart schnitt wieder Häcksel und Heunisch mußte von dannen gehen, zornig auch über Fränzchen und die ganze Wirthschaft bei Ackermann, die ihm deutlich genug zu verstehen gegeben hatte, daß er ihr, wenn er jetzt wieder käme, heute nur im Wege wäre.

[2688] Ärgerlich brummend, stopfte er sich die Pfeife und ging, da es zu regnen aufgehört hatte, in den Wald zurück zu seiner lieben Ursula, seiner theuern Einzigen, die es in der Welt doch nur allein »gut mit ihm meinte«.

[2689]
14. Capitel. Berichte aus der Residenz
Vierzehntes Capitel
Berichte aus der Residenz

Die Eierspeisen, der Hase, die als Ragout bereiteten Hühner schmeckten der zahlreichen, muntern Gesellschaft vortrefflich. Leidenfrost, der Ackermann's und Selma's Bekanntschaft mit Vergnügen erneuerte und viel über deren Knabentracht scherzte, brachte seine Begleiter Alberti und Heusrück mit, die am Tische, wie die Andern, Antheil nehmen sollten und es auch ihres Betragens wegen verdienten.

Erinnern Sie sich noch des Hünen Danebrand? sagte Leidenfrost zu Ackermann. Wie er der Louise Eisold zu Gefallen auf dem Fortunaball eine kleine Schlacht lieferte, deren Folgen glücklicherweise damals mit dem liebevollen Mantel der »Anarchie« zugedeckt wurden?

Fränzchen erröthete und wagte nicht die entfernteste Frage nach Louise Eisold.

Was ist aus dem Hackert geworden? fragte Ackermann, der sich des Vorfalls wohl entsann und auch der Begleitung jenes ihm damals nicht willkommenen Gesellschafters vom Heidekruge her.

Polizeiagent vorläufig! sagte Leidenfrost. Die rechte [2690] Hand des unternehmenden Pax, der in Entdeckung von Demagogen und Jesuiten seines Gleichen sucht. Nur hör' ich, daß die Entdeckung der Erstern vom Hofe gern gesehen, die der Letztern aber für übereilten Amtseifer erklärt wird.

Jener Hackert erschien mir damals weit mehr ein Gegenstand, als ein Werkzeug der Polizei, bemerkte Ackermann.

Jetzt nachtwandelt er durch die Clubs, fiel Leidenfrost ein. Pax hat ihn zum Aufseher aller Vereine gemacht. Ich fürchte, daß ihn einmal vor den Schlägen, die er da ernten kann, weder Louise Eisold noch Danebrand rettet.

Man kam von diesen Gesprächen ab und nahm Veranlassung, über die politische Lage des Augenblicks im Allgemeinen zu sprechen.

Leidenfrost hatte kein Hehl, daß die Revolution ihm jetzt erst in ihre rechte Entwickelung zu treten schiene.

Wenn wir so forttaumeln, wie jetzt, sagte er, kommt ein tolleres Hagelwetter, als wir's schon hatten. Wir befinden uns hier leider auf Fürstlich Hohenbergischem Boden, sonst würd' ich offen meine Meinung sagen.

Ackermann forderte den Gast auf, sich keinen Zwang anzulegen. Wenn er in seinen Ansichten zu weit ginge, würde er an diesem Tische nicht nur ein Centrum, sondern sogar – er warf einen lächelnden Blick auf Oleander – eine äußerste Rechte finden.

Leidenfrost schoß einen prüfenden Blick auf den Vikar, der die Antwort nicht schuldig blieb, sondern entgegnete:

[2691] Ich halte mich für unfähig über Politik zu streiten, da ich zu wenig von ihr verstehe. Dennoch glaub' ich, daß jeder Staatsmann, der jetzt an's Ruder kommt, die Verpflichtung hat, die Devise; Eile mit Weile! zu seinem Motto zu wählen.

Von Seiner Durchlaucht, begann Leidenfrost mit sichtbarer Ironie, von Seiner Durchlaucht einen so praktischen, bescheidenen, aber doch zu gewöhnlichen Gemeinplatz vorauszusetzen, heißt den hohen Genius verkennen. Dieser Staatsmann, den zwar einige Caricaturen mit einer Ruthe, die Fibel in der Hand, als gewöhnlichen Schulmeister darstellen, ist vielmehr ein neuer Johannes, der uns auffordert, in die Wüste zu ziehen und von Heuschrecken zu leben. Ich will nicht sagen, daß er uns selbst das Beispiel der Enthaltsamkeit gibt. Seiner Durchlaucht lieben die Welt und ihre Freuden. Aber dem Volke gönnt er nicht mehr oder weniger als eine Art Fastenkost, besonders in geistigen Dingen. Es ist der Prießnitz unsres Staates. Er muthet uns eine Wasserkur zu, Enthaltsamkeit und geistige Diät. Die neuen Wahlen haben aber gezeigt, wie entzündlich noch unsre Zustände sind. Wir werden neue Douchen bekommen, kalte Übergüsse, ok-troyirte Gesetze. Ich sehe unsren Staat schon so frisch und gesund wie einen Hecht im Wasser zappeln.

Können Sie bestreiten, fiel Oleander ein, daß es ein Glück wäre, wenn die Sucht, Politik zu treiben, auf ein gewisses Maß zurückgeführt würde und man die Politik Denen überließe, die die nächste Veranlassung dazu haben?

[2692] Aha! war Alles, was Leidenfrost unartig genug darauf erwiderte. Er sprach dies Wort mit großer Bitterkeit und verletzte fast die gemüthliche Stimmung der kleinen Tafel.

Einer Aufforderung, weiter vom Zustande der Dinge in der Residenz zu sprechen, genügte er nicht, sondern verwies auf die Zukunft, die Vieles zur Reife bringen würde.

Siegbert erstaunte, den alten kaustischen Freund so überreizt zu finden. Er schloß daraus, wie es wol in der Residenz aussehen mochte und hatte nicht den Muth, nach seinem Bruder zu forschen, fast aus Besorgniß, Leidenfrost möchte mit ihm zu vertraut geworden sein. Überhaupt brachte er bei Ackermann nie die Rede auf seinen Bruder. Er hatte die Rolle, die er diesen Sommer auf dem Schlosse spielte, nie gebilligt und mochte die Abneigung, die Selma gegen seinen sittlichen Werth verrieth, nicht vermehren. Es wurde ihm nie von Herzen wohl im Ullagrunde.

Ackermann, besonnen und gewiegt wie immer, löste die Spannung mit den Worten:

Stoßen Sie an auf das schöne Prinzip, das Egon ausgesprochen hat und in dem wir uns, wenn auch mit sonst abweichenden Meinungen, gewiß Alle vereinigen werden: Auf die heiligen, den Menschen wahrhaft freimachenden, seinen Geist wahrhaft läuternden Pflichten und Rechte der Arbeit!

Alberti und Heusrück waren es besonders, denen[2693] Ackermann sein Glas entgegenhielt. Sie standen auf und stießen bescheiden an. Auch Leidenfrost beherrschte sich, zumal da er sah, daß die liebliche Selma bei des Vaters, ihr selbst überraschend klingenden Worten aufstand, ein Wasserglas ergriff, sich von dem neben ihr sitzenden Siegbert Wein ausbat und mit anstieß. Sie sagte in fröhlicher Laune:

Das gilt auch uns! Auch wir wollen Rechte im Staat, erobert durch unsre Wirksamkeit in der Küche! Wenn Ihnen aber diese Omelettes ganz besonders schmecken und ein noch später im dritten Akte unsres Dramas auftretendes Hühnerragout Ihren Beifall finden wird, so gebührt die Anerkennung für diese Leistungen in der Kochkunst der List und Verschlagenheit unsres Fränzchens, die heute Eier und Hühner vom Nachbar nicht ohne Mühe gewonnen hat!

Selma erzählte hierauf zum Ergötzen der Tafel, wie der Onkel Heunisch und Franziska vom alten Sandrart diese Vorräthe eroberten ...

Bei Erwähnung des Majors von Werdeck warf Leidenfrost einen bedeutungsvollen Blick zu Siegbert hinüber. Dieser errieth sogleich, worauf dieser Wink zielte und fragte Leidenfrost, was es denn sonst für Neuigkeiten über die gemeinschaftlichen Bekannten gäbe?

Unter diesen, antwortete Leidenfrost etwas zurückhaltend, hat sich gar Vielerlei ereignet. Frau von Trompetta, unsre Gönnerin, hat sich entschlossen, gegen den Hof in eine gewisse, aus unerhörter grenzenloser Liebe [2694] schmollende Opposition zu treten und die Lotterie, in der das Gethsemane ausgespielt werden soll –

Siegbert erklärte Ackermann und Oleandern, was sie unter dem Gethsemane zu verstehen hätten –

Soweit auszudehnen, fuhr Leidenfrost fort, daß auch noch andre Gegenstände dabei zur Verloosung kämen und sich eine Einnahme beschaffen ließe, groß genug, um ein Kanonenboot für die deutsche Flotte zu kaufen. Sie ist von der Landesfarbe zu der des gemeinsamen Vaterlandes übergegangen und trägt schwarz, roth, gold. Dies hat einen Bruch mit Fräulein Wilhelmine von Flottwitz veranlaßt. Ihre Farben, ihre Gesinnungen harmoniren nicht mehr, zur großen Freude der meisten Gesellschaften, die dadurch vor gewissen makkabäischen Duetten bewahrt bleiben. Die Flottwitz, die leider täglich blonder wird, setzt ihre Bekehrungsversuche mit Ihrem Bruder Dankmar fort, der jedoch bei seinen Studien über römisches und germanisches Erbrecht zu wenig Zeit hat, sich in die Separatgeschichte der einzelnen Truppentheile unsrer Armeen und die tiefe Bedeutung der Achselklappen und der Patrontaschen zu verlieren. Der Reubund hat sich in zwei Fraktionen gespalten. Die eine mit der Bundeskasse, die andre ohne Bundeskasse. Äußerlich heißt es: Der Eine will die neue Verfassung beschwören, weil es der König und das Vaterland verlangten, der Andre will aber dem König noch eine größre Reue zeigen und den Schwur auf dieses »Blatt Papier« als unverbindlich darstellen, worüber natürlich in den »kleinen Cirkeln« viel [2695] Thränen der Rührung und Verlegenheit vergossen werden, zumal da sich so viele Gelehrte, fromme Offiziere und mystische Beamte bereit erklärt haben, zu beweisen, daß Eide für die Fürsten doch immer nur unter Umständen heilig sind; aber wie gesagt, die Spaltung beruht auf Kassendefizits und einer, wie wenigstens Freund Werdeck versichert, tief eingerissenen Differenz über die zweckmäßigere Einrichtung einer Brautpaar-Aussteuerkasse verbunden mit einem stillschweigenden Heirathsbureau. Der Bruch wurde unheilbar, als die eine Frau Meisterin vom Stuhl für ein neues gelbseidnes, die andre für ein violettes die Aufmerksamkeit der Loge ausschließlich in Anspruch nahm. Seitdem hat man neben dem alten einfachen Reubund nun noch einen Bund der doppelt Bereuenden. Vom Propst Gelbsattel, lieber Wildungen, soll ich Sie grüßen. Er ist entzückt, daß Sie die Schönauer so entzückt haben. Er verfällt immer mehr mit dem Staate der Gegenwart, auch mit dem Staate des Fürsten Egon. Die Unabhängigkeit der Kirche vom Staate und die Abhängigkeit der Schule von der Kirche ist in dem Grade jetzt sein Steckenpferd, daß es eine ganz harmlos hingeworfene und unschuldige Phrase geworden ist, von ihm zu sagen, er hielte es mit den Jesuiten. Der General Voland von der Hahnenfeder, der im Stillen doch die wahre äußere und innere Politik unsres Staates leitet, und wie Viele behaupten, vom Papste die Mission hätte, ihn durch Überanstrengung seiner Kräfte zu ruiniren, wofür man ihm, da er ohnehin dunklen Ursprungs ist, einen Platz [2696] unter den Heiligen des Kalenders zugesichert hat, ist sehr mit Gelbsattel intim, doch sollen sie in dem Verhältnisse zu einander stehen, wie Hegel zu seinem besten Schüler. Gelbsattel, hat General Voland gesagt, Gelbsattel ist der Einzige, der mich verstanden hat, aber auch Gelbsattel hat mich misverstanden ... Otto von Dystra, bei dem ich die Ehre hatte, den gelehrten General kennen zu lernen ...

Otto von Dystra? horchte Ackermann auf.

Ein amerikanischer Republikaner, der über Sibirien zur Freiheit kam, bemerkte Leidenfrost.

Ganz recht, sagte Ackermann, Republikaner, Monarchist, je nachdem er geschlafen hat ...

Eine sonderbare Charakteristik! bemerkte Siegbert, Olga's gedenkend und mit Spannung ...

Otto von Dystra, fuhr Leidenfrost zu Siegbert gewandt fort, ist sehr begierig, Ihre Bekanntschaft zu machen ...

Meine Bekanntschaft? fragte Siegbert. Woher kennen Sie ihn denn?

Ich ihn? Er mich? sagte Leidenfrost, sich komisch verwundert stellend. Wissen Sie nicht, daß Otto von Dystra Alles aufsucht, was berühmt ist? Bin ich nicht der berühmte Leidenfrost? Der Techniker? Der Mathematiker? Der Maler? Der Michel Angelo in Taschenformat? Oder vergessen Sie, Freund, daß ich einst seine Kleider und Schuhe putzte und ihn in phrenologischen Studien unterstützte?

[2697] Ackermann erinnerte sich der Gespräche in jener Nacht auf der Willing'schen Maschinenfabrik ...

Er suchte ja auch Sie sogleich auf, fuhr Leidenfrost zu Siegbert gewandt fort, und nicht etwa weil die Fürstin Wäsämskoi von Ihnen an den Rand des Grabes gebracht wird –

Leidenfrost! drohte Siegbert empfindlich.

Selma blickte erstaunt zur Seite und hatte unwillkürlich das Gefühl, als müßte sie von Siegbert abrücken. Sie konnte es, da die etwas plumpe Bedienung der Mägde mit den Saucen nicht besonders vorsichtig umging.

Nein, deswegen nicht, fuhr Leidenfrost einlenkend fort, sondern aus Interesse für den Maler des Jakob Molay –

Ackermann bemerkte, daß er Otto von Dystra als einen Freund jedes Talentes kenne und erzählte Manches von seinen seltsamen Neigungen, um von der Höhe seines Reichthums und seiner exclusiven Stellung zur wahren Menschlichkeit herabzusteigen. Er führte auch an, daß er ihn bei einer Fußwanderung am Missouri, in Begleitung eines talentvollen Kupferstechers, Namens Morton, hätte kennen lernen.

Wie sehr er Siegbert Wildungen schätzt, ergänzte Leidenfrost mit einem eigenthümlichen sarkastischen Ausdrucke, beweist, daß er Ihnen hier durch mich schon einige Zeilen übersendet ...

Leidenfrost zog einen Brief aus der Brusttasche und überreichte ihn Siegbert, der fassungslos vor Erstaunen [2698] den Brief betrachtete, die französische Aufschrift las und ihn erbrechen wollte.

Bitte, sagte Leidenfrost hastig, lesen Sie ihn für sich! Er ist zu lang! Es liegt eine dicke Schreibübung aus Rom darin! Wenigstens sagte mir Otto von Dystra, daß Ihnen Olga Wäsämskoi wahrscheinlich zeigen wolle, welche Fortschritte sie zu Rom in der Kalligraphie mache ...

Siegbert saß auf glühenden Kohlen. Ein Brief aus Rom! Ein Brief von Olga! Übersandt durch ihren gezwungenen Verlobten, den seltsamgeschilderten Baron von Dystra! Er steckte den Brief uneröffnet ein, trug aber durch die gewaltige Aufregung, die sich in seinen Mienen aussprach, viel dazu bei, die ängstliche Beklemmung, die Selma vor einem so fortwährend mit Frauen in zweideutiger Verbindung genannten Manne empfand, noch zu vermehren. Es liegt einmal in reinen und stolzen Mädchenseelen die Abneigung vor Männern, die ihr Geschlecht zu tief erkannt haben, begründet. Sie wußte nicht, wie unrecht sie dem guten Siegbert that, der im Grunde wenig dafür konnte, daß er, wie Dankmar sagte, eine Art Meister Frauenlob war.

Leidenfrost blieb im Zuge seiner Mittheilungen ...

Heinrichson, sagte er, ist in Rom und malt Grotten und Nymphen. Reichmeyer portraitirt und spekulirte auf ein Tableau unsrer Deputirtenkammer, kurz ehe sie aufgelöst wurde. Der Zorn darüber hat ihn fast demokratisch gemacht. Sein Onkel, der Banquier, hofft durch Egon zu einer Staatsanleihe befördert zu werden. Frau von [2699] Reichmeyer, Reichmeyer's Schwester (in diesen Familien heirathet sich immer die Verwandtschaft überzwerg) hat sich deshalb auch ent schlossen, mit einer philanthropischen Idee dem Hofe zu Gefallen zu leben und die innere Mission zu befördern, so wenig es ihrem Patschoulicharakter zusagt, sich an die Betten der Aussätzigen zu begeben und in die fünften Etagen zu den Armen steigen zu müssen. Doch hat sie nun einmal damit angefangen und sich vorläufig die Branche der Kindergärten erwählt, die sie protegirt. Ich sah Frau von Reichmeyer bereits durch die Thürritze eines solchen Kindergartens (im Zimmer) die kleinen Kinder spielen lehren. Beneiden Sie mich um diesen idyllischen Anblick, Wildungen! Die Blasirtheit jetzt unter Kinderwindeln! Sie wissen gar nicht, was Ihnen Alles seither entgangen ist.

Die Frau Pfarrerin wagte sich mit einigen Vertheidigungsworten der Kindergärten hervor, wollte aber eigentlich die Rede nur auf ihren Mann bringen, den sie auch für ihre gute Meinung von den Kindergärten als Autorität anführte.

Es lebe Jean Paul! sagte Leidenfrost einsilbig.

Was soll Jean Paul? fragte man erstaunt.

Ich denke mir, meinte Oleander, daß Herr Leidenfrost sagen will, Jean Paul wäre die Veranlassung einer zu großen Verhimmelung der Kinderseelen? Wäre dies der Fall, dann hätte Jean Paul auch zuviel für die Blumen gethan.

Für die Redeblumen gewiß! bestätigte Leidenfrost[2700] und gab die Beziehung auf Guido Stromer zu erkennen. Herrlicher, göttlicher Jean Paul! Du durftest aus deinem Füllhorn die Blumen frühlingsweise werfen, du wußtest sie zu binden und zu ordnen und was daneben fiel, als überflüssig, du hattest es doch selbst gezogen, was du schenktest! Aber was soll uns die wuchernde Überfülle des Geistes, die nur der Form, nicht dem Inhalte der Wahrheit dient! Seht diese Geistreichen! Wie sie sich recken und dehnen, um wunderbare Figuren zu Stande zu bringen und der grade, schlanke Wuchs der Überzeugung fehlt! Diese Menschen sind unser Unglück. All' ihr Geist befruchtet nichts, schafft nichts, gestaltet nichts. Nicht einmal ein Gedicht kommt zu Stande mit ihren an Alles und Jedes sich anpinselnden Wahrnehmungen. Nein, ich lobe mir die Einfältigen eher, die wissen, was sie wollen, als die Geistreichen, die im Grunde nur afterreden und wenn's hoch kommt, der Lüge dienend jede Meinung vertheidigen, wie zuletzt Burke, Gentz und Friedrich Schlegel thaten.

Die Frau Pfarrerin konnte natürlich nicht ahnen, daß dieser Angriff ihrem Manne galt, der, wie Leidenfrost flüsterte, den Titel als Hofrath zu erhaschen strebte; Ackermann, Oleander und Siegbert verstanden ihn sehr wohl und Siegbert winkte Leidenfrost, sich zu mäßigen.

Warum? sagte dieser. Von den Einfältigen zu reden, wissen Sie denn, Wildungen, was aus Sr. Excellenz dem Herrn Geheimrath von Harder geworden ist?

[2701] Ich las es in den Zeitungen mit Erstaunen, bemerkte Siegbert. Intendant des königlichen Theaters!

Nicht wahr, mein Freund! sagte Leidenfrost scharf betonend. Auch ein Ritter vom Geiste! Und die Ritter vom Geiste müssen ohne Zweifel ihre Don Quixotes haben!

Ackermann fragte mit forschender Miene:

Welcher Herr von Harder ist das?

Der weiland Intendant der königlichen Gärten, Kurt Henning Detlev von Harder zu Harderstein. Er verlor die königliche Gnade, sintemalen er allzu dienstbeflissen das Mobiliar der Fürstin Amanda von Hohenberg zu Staatszwecken verwandte, um, wie man nun allgemein weiß, gewisse Denkwürdigkeiten der Fürstin, die sich in ihm vorfanden, zu unterdrücken, zu vernichten, zu ecrasiren, zu annulliren, was weiß ich –

Weiß man Das? fragte Siegbert erstaunt.

Welche Denkwürdigkeiten? bemerkte Ackermann aufhorchend.

Dieselben Denkwürdigkeiten, sagte Leidenfrost, die die eigenthümliche Wirkung gehabt haben sollen, den Fürsten Egon mit der schlimmsten Feindin seiner Mutter, Pauline von Harder, zu ewigem Trutz und Schutz auszusöhnen.

Ackermann hörte mit einem Interesse zu, das nur bei der heitren Stimmung, in die Leidenfrosten's weitre Erzählung die Gesellschaft versetzte, unbemerkt bleiben konnte.

[2702] Dieser übertriebene Diensteifer, sagte der humoristische Berichterstatter, verjagte den Geheimenrath aus dem Paradiese der königlichen Gärten und nicht eher ruhte das Flammenschwert des Erzengels der Etikette und Courtoisie, bis der Geheimrath sich hinter eine vom Prinzen Ottokar protegirte Tänzerin flüchtete, auf dem Theater ihr ein Armband überreichen wollte, dabei in eine Versenkung fiel und – für das Armband – als bestallter Mäcen der dramatischen Kunst und Literatur wieder herausgezogen wurde. Frau von Harder, die mit Egon und Melanie Schlurck Politik im großen Style treibt, dankt Apoll und den neun Musen, daß ihr Gemahl eine so angemessene Beschäftigung gefunden hat und nun nur noch die Künste und die Literatur verwüstet. Die Schauspieler und Sänger jubeln wohl, denn sie haben einen Chef, der nichts von ihrem Berufe versteht und wie unsre Kunstzustände sind, ist den Hofkomödianten dieses Regiment grade das allerwillkommenste. Die Dichter verzweifeln wohl, allein die freien Entrées sind so zweckmäßig an einige kritische Tonangeber vertheilt, daß auch die Literatur in den Jubel der Kunst mit einstimmt und vor einigen Wochen die neue Ära der Bühne unter den Ausspizien des Herrn von Harder begonnen hat. Und wissen Sie denn, Wildungen, daß ich an diesem Aufschwunge betheiligt bin?

Man horchte auf.

Se. Excellenz haben mich, auf Rath der Maler, die sonst die Salons seiner Frau besuchten, auf Rath der Frau von [2703] Werdeck sogar – sie bat mich später unter Thränen um Verzeihung wegen dieser Erinnerung – auf Berichte über das Wäsämskoische Feuerwerk als malereigewandten Mechaniker und Techniker sogleich beschieden, mit ihm über eine neue Struktur der Versenkungen zu philosophiren und ich gestehe Ihnen, Wildungen, daß ich bereits einen solchen Schatz von Anekdoten über die dramaturgischen Kenntnisse Sr. Excellenz des Herrn von Harder gesammelt habe, daß ich im Stande bin, jede stille Pause unsrer künftigen Lebenslaufbahn mit ihnen zu würzen. Aber nun schweig' ich, meine Herrschaften! Ein fortgesetztes Rechthaben verspottet sich selbst. Ich fühle, daß ich zu sehr den Schein bekomme, mehr Vernunft haben zu wollen als Andre und ich weiß, daß man dann erst recht ein Narr ist, wenn man die Weisheit felbst sein will.

Leidenfrost wollte nun aufhören. Aber Alle drängten um Anekdoten über Herrn von Harder. Leidenfrost verweigerte sie und erklärte jetzt zu schweigen.

Ackermann fand ein Interesse daran, wenigstens bei Melanie zu verweilen, grade als sollte Selma hören, wie wenig Egon ihre Liebe verdiene ...

Wirklich? knüpfte er an, hat die Tochter des Justizraths so glänzende Hoffnungen, die Liebe eines Fürsten zu besitzen?

Leidenfrost zuckte die Achseln und sagte nur:

Ich weiß nichts. Man erzählt zwei Äußerungen, die jedoch nicht stenographisch niedergeschrieben und durch [2704] körperliche Eide nicht bewiesen sind. Egon soll gesagt haben: Fahrt wohl, ihr Melusinen! Ich habe die Frauen erkannt, die erst Göttinnen schienen und zuletzt nur Fische sind! Die zweite ...

Leidenfrost stockte. Er war zartfühlend genug, zu beobachten, daß der Einblick in die große Welt und ihre wilde, tolle, zügellose Philosophie hierher nicht gehörte.

Allein Ackermann schien fast beflissen, diesen Gegenstand, in dem er selbst tiefbewandert war, nicht fallen zu lassen und bemerkte mit Schärfe:

Nur heraus! Jene erste Äußerung kam wahrscheinlich damals vom Fürsten, als er hörte, daß Helene d'Azimont in Rom sich bald durch Vergnügungen und neue Wildheiten getröstet hat ...

Wissen Sie?

Man hört dergleichen. Hab' ich nicht Recht?

In der That äußerte sich der Fürst mit diesen Worten, als er die Verleumdung vernahm, Helene d'Azi mont hätte in dem Maler Heinrichson für ihn Ersatz gefunden –

Ja! sagte Siegbert. Die Welt lügt! Das ist Verleumdung!

Ganz recht, antwortete Leidenfrost, ich glaube es selbst nicht; denn Andre behaupten: Olga Wäsämskoi liebe Heinrichson ...

Siegbert wollte aufspringen. Das Messer zitterte in seiner Hand. Er ließ es fallen, er konnte sich selbst nicht halten. So gab er das Zeichen zum Aufbruch und erlöste Selma, deren Herz wallte und wogte, wie ein dem Sturme [2705] naher See, von der peinlichen Dunkelheit aller dieser persönlichen Anspielungen.

Ohne daß irgend Jemand Anderes als der Vater ihre Unruhe bemerkte, stellte sie die Stühle zurück wie in einem Zustande völliger Besinnungslosigkeit.

Aber der Vater, der ihre Neigung ersticken wollte, ließ nicht nach ...

Die zweite Äußerung! drängte er, als es zum Kaffee ging und man sich die Hände reichte.

Ist die der schönen Melanie, bemerkte Leidenfrost mehr zu Siegbert hingewandt. Sie sagte zu Ihrem Bruder Dankmar, als sie ihm in einer Gesellschaft begegnete: Was Sie auch von mir hören werden, Dankmar Wildungen, beurtheilen Sie mich nicht früher, ehe ich nicht wenigstens einen einzigen Augenblick mit Ihnen hatte, wie sonst Stunden!

O das sagt ja Alles! fiel Ackermann lachend ein. Da müssen wir uns tummeln, des Fürsten Vertrauen zu verdienen und die Felder und Gärten zum Frühling und zur Hochzeit schmücken. Warum auch nicht? Diese Welt der Adligen, wie bunt geht sie durcheinander! Wo ist da viel Sitte, viel Gesetz? Dann und wann eine Ausnahme, dann und wann ein treues Leben. Aber im Übrigen ein Chaos von gebrochenen Herzen, gebrochenen Schwüren, wilden Leidenschaften! Da werden Frauen verkauft, Gattinnen erkauft, Scheidungen kommen und gehen, Kinder aus dreierlei Verhältnissen nennen sich Geschwister, jede Grille wird durch den Besitz ausgeführt, Verschwendung,[2706] Leidenschaft – o ich sage Ihnen, wer einmal in diese Sphäre gerieth und von ihren Schwingungen selbst hinund hergeschleudert wurde, den erfüllt ein solcher Zorn über dies Gewühl, daß er wie Simson die Säulen dieser Paläste fassen und sich sammt den Tänzern und Musikanten unter den Trümmern begraben möchte!

Selma verließ das Zimmer. Oleander fragte Leidenfrost nach des Propstes Familie, die er aber zu wenig kannte. Ackermann bestellte bei Fränzchen mit aufgeregten Worten den Kaffee und bot den Maschinenarbeitern, mit denen er sich, wol um sich zu dämpfen, in technologische Unterhaltung einließ, Cigarren an. Siegbert aber suchte einen einsamen Winkel zu gewinnen, eröffnete Otto von Dystra's Brief und las mit Erstaunen:

»Geehrter Herr!

Ein unbekannter Verehrer erlaubt sich, Ihnen den einliegenden, aus Rom an Jemanden gerichteten Brief mit-zutheilen, mit der Bitte, ihn zu prüfen und bei Ihrer Rückkehr das desfalls Nothwendige genauer zu berathen. Ich bemerke vorläufig nur, daß ich zu den Menschen gehöre, die das Herz für einen leicht zerbrechlichen Krystall, nicht für einen Gummiball halten. Mit Hochachtung Otto von Dystra.«

Erstaunt über diese Zuschrift fand Siegbert dann den Brief von Olga, der nicht an ihn, sondern an Rudhard gerichtet war. Etwas abgekühlt von seinem heißen Drang steckte er ihn wieder ein, wenn auch die Spannung und Neugier dieselbe blieb.

[2707] Selma kehrte zurück und mußte, da sie der Vater heute mit Gewalt tyrannisirte, Musik machen. Leidenfrost flüsterte Siegbert zu, daß er morgen hier noch zu thun hätte, aber schon den Abend kommen wollte, um sich über Vieles, was sie näher beträfe, zu unterhalten. Übermorgen früh wollten sie dann die Reise gemeinschaftlich mit den Arbeitern zurück antreten. Siegbert war einverstanden und versprach mit ihnen zu gehen.

Die Frau Pfarrerin beeilte die Rückfahrt ihrer Kinder wegen. Diesmal blieb wieder Hedwig zurück. Das Jüngste hatte sie nicht mitgenommen. Siegbert und Oleander mußten sich zur Trennung entschließen.

Ackermann versprach, noch morgen mit Selma Leidenfrost und die Arbeiter bis Plessen zu begleiten, wodurch denn der Abschied von Siegbert verschoben wurde.

Als Leidenfrost Diesen an den Wagen begleitete, flüsterte er auf den Vikar deutend:

Auf Den werden Sie doch nicht für unser vierblättriges Kleeblatt rechnen?

Doch! sagte Siegbert ernst und fest. Es sähe gefahrvoll aus um die Ritterschaft des Geistes, wenn solche Gesinnungen nicht gewonnen würden! Leidenfrost, Sie waren heute ein Kaktus! Lassen Sie auch die Sinnpflanze gelten.

Und wirkt denn mein Bruder? fragte Siegbert dann noch beim Einsteigen.

Vieles und Großes! antwortete Leidenfrost.

Fast erschreckend war diese Antwort. Siegbert erkannte [2708] eine Gefahr. Es war ihm, als schlüge plötzlich ein elektrischer Strahl aus den Wolken. Er brannte vor Verlangen, daß der nächste Tag vorüber, zwei Nächte vergangen wären und sie Alle auf den ernsteren Schauplatz ihrer Lebensprüfungen zurückkehrten.

Zwei Tage darauf verließen Siegbert und Leidenfrost mit den beiden Arbeitern die Gegend. Man gab ihnen noch das Geleite bis zum Gelben Hirsch und schied dort voll Herzlichkeit und Hoffnung auf eine sie Alle wieder vereinende Zukunft.

[2709]
15. Capitel. Des Sohnes Locke
Fünfzehntes Capitel
Des Sohnes Locke

Diese strebsamen jungen Männer! Wie geistesfrisch! Wie beneidenswerth in ihrer Jugend und Sorglosigkeit! sagte Ackermann, als er mit Selma allein von Plessen nach dem Ullagrunde zurückfuhr.

Selma schwieg und blickte durch die trüben Fenster des kleinen Wagens in die öde von Nebeln verschleierte Gegend. Noch vor einigen Stunden waren sie zu Fünf diese Straße rasch dahin gerasselt. Nun waren sie allein.

Der Eine, fuhr Ackermann fort, ist fast zu scharf und läuft Gefahr mit Hinneigung zu den Arbeitenden auch deren Art und Sitte anzunehmen. Dem Siegbert Wildungen wünscht' ich, die vornehmen Stände rückten etwas aus seiner Nähe und überließen ihn jener Ursprünglichkeit und Kernnatur, die mir in dem viel zu wenig von ihnen erwähnten und doch sie alle zu beherrschen scheinenden jüngern Bruder Dankmar zu liegen scheint. Wie dem auch sei, es ist wahr; Oleander ist Denen gegenüber nur ein halber Mann.

Selma war in der Stimmung, Oleander zu vertheidigen.

Er wirkt doch wohlthuend, sagte sie. Es ist doch Liebe und Herz in ihm! Jener Leidenfrost, magst du seine [2710] Kenntnisse noch so rühmen, stößt ab und Siegbert ist flatterhaft, eitel, verwöhnt, versteckt, ganz und gar nicht anziehend.

Welche Beschuldigung!

Wie bald hatte er den Kummer um seine Mutter vergessen!

Mein gutes Kind! Das, was dem Leben des Mannes abgeblüht ist, mag es noch am Aste hängen oder schon abfallen – ein kurzer Schmerz und die Wunde ist geheilt. Wir sterben nicht Alle so, wie uns deine Mutter starb, in dem vollen Bedürfniß, daß sie noch lebe. Was ist diesen jungen Männern die in Angerode einsam lebende Mutter gewesen!

Du sprichst wärmer von ihr, als dieser Sohn, der mir kaum das schöne Erinnerungsblatt zu verdienen schien, das ihm Oleander noch aufgeschrieben ...

Wie ungerecht! Wie streng! Nein, nein, Selma! Lies mir jene Worte vor, die du dir entlehnt hast! Du hast Oleander glücklich gemacht durch diese Theilnahme, diesen Vorzug, den du ihm schenktest.

Selma zog ein Papier aus ihrem Kleide, entfaltete es und las, soweit die Bewegungen des Gefährtes es erlaubten, mit sichrer Stimme:


O Mensch! Das Wiederseh'n! Ein hehres Wort!
Was lauschest du nicht seinem Wunderklange
Und horchst der heil'gen Stille um dich her?
Und redest du und klingt dein Mund voll Wohllaut,
Warum nur frägst du nicht: Was spricht aus dir?
[2711]
Was hauchte dir Musik in deine Kehle
Und lehrt dich reden, jauchzen, singen? – Thränen
Und Klänge sind es, die in's Jenseits führen;
Denn was sind Thränen und was ist Musik!
Ach! Hemme deinen Fuß und horche nur
Dem stillen Gottesfrieden der Natur!
Wie feierlich beredtsam dieser Plan,
Der zu den blauen Bergen grün sich zieht,
Erst Wiesengrün, dann dunkler Tannengrün,
Dem Aug' ein wie erquickendes Gemisch!
Doch führt des Ohres Pforte mehr zur Seele;
Das Echo spricht mit ihr, des Waldhorns Klang,
Der in den tiefen Tannengrund getragen,
Zurück uns zwiefach, dreifach grüßt, vom Wald,
Vom Fels, von Wem wol weiß ich noch! ... Natur,
Ach, du dir selber plaudernde! Geschwätz'ge,
Im Zwiegespräch belauschte Einsamkeit!
Die Ruh' hört Ruhe! Nur das Herz darf schlagen,
Ein Vögelchen aus fernem Walde rufen,
Die kleine Quelle murmelnd dich umplaudern ...
Dann hörst du sie, die stillen Geisterzungen,
Die zu dir flüstern: Mensch! du bist unsterblich,
Siehst Die ja wieder, die du scheiden sah'st!
Willst immer zweifeln? Immer nur gedenken
Der Schauer, da ein liebend Auge brach,
Der Schrecken, als ein theurer Athem stockte,
Fühlst ewig nur des Todes kalte Hand?
Von Gräbern bann' hinweg den Zweifelblick!
Such' dir dein künftig' Wiedersehn, die Hoffnung,
[2712]
Bei Athmenden und Lebenden! Und spricht
Die Quelle dir, der Vogel nicht vernehmbar,
Kannst du den Tag, die Sonne nicht versteh'n,
So laß die Sterne reden, schlage dir
Die Blätter des gestirnten Himmels auf,
Das große Buch mit gold'nen Riesenlettern!
Da strahlt ein Licht, das selbst die dunkle Nacht
Dem Zweifel und dem Schmerze angefacht!

Ein weihevolles Herz, sagte Ackermann gerührt, eine gewisse Mystik der Naturanschauung, die über das Räthselhafte sich doch nie zum Dunkeln und Unklaren verliert! Ich nehme meinen Tadel zurück ...

Siegbert verdient nicht, sagte Selma, daß ihm Oleander seine Poesie widmete.

Wohl, fuhr Ackermann mit geschärftem Blicke auf Selma fort, ich höre dich gern so reden. Warum bezeugst du aber dem sinnigen Dichter nicht größere Theilnahme? Er ist mit ganzer Seele dein Lehrer: Seit Siegbert's Freundschaft hat er an Äußerlichkeit gewonnen: Das Übrige kann eine treue weibliche Hand noch vollenden. Warum zeigst du ihm so oft, Selma, daß dich seine Liebe verletzt?

Selma erglühte.

Es war das erste mal, daß der Vater zu ihr ein solches Wort sprach: Liebe!

Sie zitterte fast, erstarrte und legte das Blatt mit eiskalt ersterbender Hand auf die Brust.

Da sie keine Antwort auch nur zu denken, geschweige [2713] zu sprechen wußte, so sah sie den Vater mit einem bittenden Blicke an, der wohl so viel heißen konnte, als:

Vater, warum thust du mir Das und wirfst mich mit dem Wort in solche Schrecken?

Selma, sprach der Vater, ich muß diese Saite, die Gott auch auf deine Seele zur Harmonie gezogen hat, berühren; denn seit einiger Zeit fühl' ich, daß zwischen uns ein Geheimniß waltet ...

Selma blickte nieder und drückte sich in die Wagenecke, um ihre innere Glut zu verbergen ...

Ich will dich nicht tadeln, fuhr der Vater ihre Hand ergreifend fort, daß du bei einer Natur, wie der des Vikars, unterscheidest, was an ihm allgemein menschlich liebens-werth und was es persönlich ist. Es ist nun einmal auch Dies ein Zug des Geistes, daß wir in den Stufenfolgen unsrer Verehrung gewissenhaft unterscheiden. Oleander kann dir heilig und theuer wie ein Bruder sein und doch vermöchtest du ihn nicht so zu lieben, wie ein Mädchen liebt. Aber, Selma, wenn es auch in der Natur des Weibes begründet sein mag, Das, was am Manne liebenswerth erscheint, aus Allem eher als nur und einzig aus seiner sittlichen Gediegenheit herzuleiten, so hüte dich doch, einem gefährlichen Irrthume, von dem ich weiß oder schmerzlich ahne, daß er dich beschlichen hat, zu sehr nachzugeben –

Vater, sagte Selma vor Schmerz auffahrend.

Was verwundet dich? Daß ich von deinem Irrthum spreche?

Nein, daß du von Etwas nur redest, was ich aus deinem [2714] Munde eher hören soll, ehe ich mir selbst davon gesprochen!

Es ist meine Pflicht, Kind, deine Gefühle zu regeln. Ich verehre und liebe diese heilige Scheu des Mädchens, zum ersten male das geweihte Zauberwort der Liebe zu vernehmen oder wohl gar es auszusprechen. Allein, da du ohne Mutter, ohne dir bekannte Verwandte bist und nur deinen Vater als einzigen erprobten Freund deines Herzens kennst –

Ach, rief Selma und warf sich an die Brust des bewegten Mannes, der sie mit seinen Armen sanft an sich zog –

Mein Kind, sagte Ackermann strenger. Ich sehe, daß sich dir eine Gestalt, ein Jüngling mit unwiderstehlicher Gewalt eingeprägt hat. Der, den du zuerst hier im Grase an dem Thurme dort liegen sahst, der, der aus den Blumen aufsprang uns freundlich zu grüßen, der, der uns theilnehmend nachblickte, als wir zum Schlosse hinaufwanderten; der, den du am Morgen bei der Schmiede wiedersahst, der, der mit dir scherzte, dich vor dem bellenden Hunde schützte, mit dir über Amerika plauderte, dann uns begleitete in den kühlen Wald, wo du nicht ertragen mochtest, daß er sich an dem Eichbaum von uns trennte ... Du liebst ja Egon, einen Fürsten.

Selma zuckte vor Schmerz auf. Es war ihr, als durchbohrte sie ein Messer und es thäte ihr wohl, zu sterben. Doch hauchte sie das Wort, wie zur Entschuldigung:

Nenn' es nicht Liebe!

Es ist Liebe! Du unglückliches, unsrer Verhältnisse [2715] unkundiges Kind! Er war unbekannt, in guter Absicht auf seinem väterlichen Erbe, als wir ihn damals sahen. Du fandest ein kindliches Wohlgefallen an ihm, er an dir. Später sah ich, wie der Gruß, den er vom Pferde herab dir auf dem Gelben Hirsch zuwarf, als die große Gesellschaft eben abfuhr, wie sein Gruß und Blick dich durchbohrten. Deine Hast, ihn auf dem Heidekrug wiederzusehen! Seine Krankheit in der Residenz, sein Wohlwollen, als er uns sogleich die Pachtübernahme gestattete, alles Das fesselte dich ... was läßt sich gegen einen magnetischen Einfluß thun, den du selbst auf die Locke, die ich ihm im Scherze raubte, übertrugst ...

Hast du ihn nicht selbst verehrt wie keinen andern fremden Menschen der Erde? sagte Selma.

Hätt' ich Das?

Wer betrachtete die Locke, dies Kleinod, dies Angedenken an den damals so Lieben, so Theuren, so Guten, zärtlicher? Wir hatten einen Wettkampf unsrer Liebe und du bist ermattet, du bist enttäuscht, du bist hoffnungsloser als ich ...

Selma! Ich rede ernstlich mit dem Kinde der Fremde. Vertheidige ihn nicht gegen mich und nicht gegen dich! Es ist ein Fürst! Uns weit, weit entfremdet! Und willst du das Leben eines frivolen jungen Weltmannes entschuldigen, der mit liebenswürdigen Formen und großen Fähigkeiten des Geistes eine unläugbare Verderbtheit des Herzens verbindet? Schaudert dich nicht vor den Untiefen der Laster, in die du leider schon hast einblicken dürfen?

[2716] Selma wandte sich ab und weinte.

Wenn es wahr ist, sagte Ackermann, daß Egon eine einfache Bürgerliche, wie Melanie Schlurck, heirathen könnte, so entstand in dir vielleicht der Gedanke: Er ist nicht stolz, ohne Vorurtheile, er ist edel, er könnte auch dich lieben! Aber ich beschwöre dich, Kind, gib diese Träumereien auf! Vertheidige ihn nicht! Laß ihn hinfahren in seiner regellosen Kometenbahn! Reine Naturen würden sich nur in seiner Nähe versengen. Und wär' es ein Engel und die Tugend selbst, Selma, höre ein Wort deines Vaters, ein ernstes, du darfst ihn nicht lieben!

Selma richtete das traurige Auge fragend und erstaunt zum Vater.

Ich darf ihn nicht lieben?

Nie! Nie! wiederholte dieser. Du darfst ihn nicht lieben! Und nun genug!

Selma war von Ackermann erzogen, wie man Kinder erziehen soll. Er verlangte Gehorsam. Keine Furcht, aber Gehorsam. Und doch folgte sie nur da, wo sie überzeugt war. Ihr kluges, fragendes Aufblicken bei diesem unbedingten: Nie! Nie! des Vaters durfte diesen nicht befremden; doch wider seine Gewohnheit blieb er ihr die Gründe seines unbedingten Wortes schuldig, wiederholte es noch einmal und warf Selma in einen Zustand der Zerrissenheit, der sie um so unglücklicher machte, als sie sah, daß auch der Vater litt und in jene melancholische Stimmung verfiel, die sie sonst sogleich bemüht war, an ihm zu verscheuchen. Heute zum ersten Male stand ihr [2717] kein Scherz zu Gebote. Sie lehnte sich in die Ecke und weinte – der Vater sah auf die durchnäßten, öden, traurigen Felder – der Wagen fuhr so hin – mit diesem Winter starb Selma Alles; denn warum sollte sie nicht lieben, auch ohne Hoffnung, jemals zu besitzen?

Die Weihnachtszeit kam heran und brachte kleine Weihnachtsfreuden. Ein Tannenbaum flimmerte den Pfar-rerskindern; aber die Hoffnung, der Vater käme selbst, erfüllte sich nicht. Neujahr brachte wieder Frost. Es war Winter und blieb Winter, auch in den Gemüthern. Ackermann las und schrieb viel. Selma nahm ihren Unterricht fort. Oleander dichtete, duldete, hoffte. Fränzchen erfuhr selten etwas von Louis. Heinrich Sandrart hatte zu Weihnachten nicht kommen können, da der politischen drohenden Stürme wegen keine Beurlaubungen gegeben wurden. Er schrieb öfters an Heunisch, der im Frühjahr sicher die Auflösung der immer kranken Ursula erwartete und von dem weitern Verlauf der sonderbaren Vorfälle, die in seinem Hause stattgefunden hatten, nichts mehr erfuhr. Der junge Zeck quälte sich, das Geschäft seines Vaters fortzuführen. Es gelang ihm nur mit Mühe.

In's Amthaus, nach dem Ullagrunde und Randhartingen brachte Oleander zuweilen Briefe von Siegbert und Louis mit, Briefe, die immer inhaltreich, immer anregend waren, doch auch viel Trübes und Besorgliches für die allgemeinen Zustände enthielten. Frau von Sänger tröstete sich, daß die »fliegenden Kolonnen« eher nun verstärkt wurden, als aufhören sollten. Graf Bensheim, Herr [2718] von Sengebusch erwarteten bevorstehende große Ereignisse. Herr von Zeisel beobachtete im Stillen Ackermann's großartige Zurüstungen zum erwachenden Frühjahr. Sie sahen sich selten, da seine Frau ihre Abneigung gegen Menschen, die ihren Einfluß und den Justizrath Schlurck verdrängt hatten, nicht bemeistern konnte. Und in der That lebt man im Winter nirgends abgeschlossener als auf dem Lande. Die Bewohner zweier Dörfer, die sich ganz in der Nähe liegen, berühren sich monatelang nicht. Erst der Frühling führt Alles wieder zusammen und wie nach einer langen Entfernung begrüßen sich dann die naheliegenden Nachbarn und wünschen sich gegenseitig Glück zum überstandenen Winter und freuen sich, einander wieder wohlbehalten und leidlich unverändert anzutreffen.

Die öffentlichen Verhältnisse hatten sich bis zum Unglaublichen umgeworfen. Die große Flut einer ziellosen Bewegung, die alle Dämme, alle Ufer gebrochen hatte, war zwar in ihrer verheerenden Wirkung gehemmt, aber nicht zurückgelenkt in ein felsenstarkes Bett oder einen mit Klugheit gebauten Kanal. Diese großen, trübe aufgewühlten Gewässer stauten. Ein kleiner Abzugsweg und aufs Neue mußten sie mit verheerender Gewalt fortstürzen. Fürst Egon von Hohenberg hatte, ein neuer Perseus, die Chimära der Revolution bändigen wollen. Anfangs glaubte er es durch ein vernichtendes Zauberwort zu können, durch eine ideelle Lösung des geheimnißvollen Sphinxräthsels; allein bald hatte er, wie alle [2719] übrigen Gegner der Zeit, zu Feuer und Schwert greifen müssen. Aus der Doktrin, die seine Unternehmungen anfangs höchst ehrenwerth erscheinen ließ, mußte er bald hinausrücken auf das Feld der gewöhnlichen Praxis; denn nur die Ideen, die eine Zeit lang im Volke schon herrschten, können sich unangegriffen auch von obenher behaupten. Egon brachte etwas Neues und wurde sogleich misverstanden. Die Handlanger, die ihn unterstützten, wurden für den Meister verantwortlich. Ihnen zu Liebe, um nicht isolirt zu stehen, mußte Egon den Riß seines Gebäudes ändern, nachgiebig sich zeigen nach allen Richtungen hin, in der üblichen, überlieferten Sprache reden und, von den gemeinsamen Gegnern gezwungen, Strebungen zu befreundeten machen, die ihm sonst nicht wären genehm gewesen. Die Erschöpfung der öffentlichen Meinung, die allgemeine Sehnsucht nach Ruhe und Verständigung kam seiner Stellung zu Hülfe. Leider war er verblendet genug, den ausbleibenden Widerstand für einen Sieg zu halten. Er entließ auch diese vor Weihnachten gewählte neue Kammer und gab aus der königlichen Machtvollkommenheit im Februar ein neues Wahlgesetz. Im Allgemeinen lagen diesem seine Ideen von der Anerkennung der positiven Interessen zum Grunde. Im Besondern aber hatte die Gewöhnung der Macht, die Bundesgenossenschaft mit dem Royalismus, dem Adel, der Bureaukratie ihn gezwungen, eine Menge anderweitiger Modalitäten in seine Wahlberechtigungen aufzunehmen. Hätte er die Gewalt nicht schon lieb gewonnen, er [2720] hätte vor dieser, unter der Hand ihm eskamotirten Veränderung seiner liebsten Vorsätze erschrecken und diese Region fliehen müssen, wo man mit dem Scheine des Herrschens der größte Sklave ist. Allein, es ging ihm wie Allen auf einem solchen oder ähnlichen Platze. Er nahm allmälig den Glauben an, daß er unentbehrlich, nie zu ersetzen wäre. Er fragte oft: Wer nach ihm kommen könnte? Er glaubte dem Staate eine Verlegenheit zu ersparen, indem er an einer Stelle blieb, deren Rücksichten ihn selbst gänzlich ummodelten. Erfüllte ihn zuweilen der Unmuth über das Mislingende auch zu bitter, so durft' er dem Gedanken an ein Zurückziehen schon um Derentwillen nicht nachgeben, die sich darin gefielen, mit ihm die Macht zu theilen, ihm schmeichelten und sich dafür wieder von den Andern schmeicheln ließen. Denn kleine Erhöhungen werden meist immer durch tiefe Erniedrigungen erkauft.

Fürst Egon war wie alle Staatsmänner von einer mit der Zeit immer mehr sich einwurzelnden überreizten Empfindlichkeit. Er sah viel altes Schlimmes, von dem er mit reinstem Bewußtsein sagen konnte: Du hast ihm jetzt abgeholfen! Die Erfolge, die er täglich im Kleinen erlebte, übertrug er auf das Ganze und Große und war ein Fanatiker in dem Glauben an seine Unfehlbarkeit. Die neuen Kammern waren, gegen seine ursprüngliche Absicht, nichts als Vertreter der Geld- und Vermögensinteressen geworden. Sie gehorchten ihm in allen Hauptfragen, während ihr Widerspruch in kleinen ihnen nur den [2721] Schein gab, als besäßen sie das freieste Urtheil auch für die großen und als wäre ihr Gehorsam Überzeugung. Schon redete Egon nicht mehr in seiner alten Sprache. Schon hatte er den gewöhnlichen Styl des von ihm vertretenen Staates angenommen und setzte als das erste Anfangsgesetz desselben: Es muß Alles geschehen um der Monarchie als solcher Willen! Das Volksinteresse war ein Annex des fürstlichen. Was in diese Anschauung nicht paßte, wurde entfernt, unterdrückt, verfolgt, bestraft. Selbst diejenigen gemäßigten Liberalen, die der Monarchie die aufrichtigste Nothwendigkeit einräumten, aber ihr nicht mehr überlassen wollten, als zur Stärkung eines Begriffes nothwendig war, selbst diese wurden von ihm als »Doktrinäre« abgelehnt, von jenem Tiersparti zu geschweigen, dem bürgerlich-materiellen, an dessen Spitze Justus stand. Diesem gab er die ganze Schärfe seiner Satyre zu fühlen und nannte sein innerstes Princip die Eitelkeit. »Geht in Eure Comtoirstuben und rechnet, sagte er einst in einem Artikel des »Jahrhunderts«, der von ihm inspirirt sein sollte, geht an Euren Pflug und ackert, nehmt die Elle in die Hand und messet Leinwand, was drängt Ihr Euch in die Hallen der Rathhäuser und an die Stufen des Capitols? Wahrlich, Ihr müßt den Staatszweck platt treten bis zum Gemeinen, nur damit Ihr auf ihm lustwandeln, gerade Ihr in ihm behaglich wohnen könnt!«

Am entschiedensten aber trat Fürst Egon der Demokratie, den republikanischen und sozialen »Irrlehren« entgegen. Er hatte sie an der Quelle kennen gelernt und [2722] besaß nun die vollkommenste Fertigkeit, sie auf ihre oft komischen Ursprünge zurück zu verfolgen. Er erklärte sie für die Folge zweier Veranlassungen, einmal der Trägheit und sodann des überwuchernden merkantilen Princips. Ackermann las einst mit großem, wenn auch getheiltem Interesse die Worte, die er in der Kammer sprach:

»Ein Fluch der modernen Gesellschaft ist die gewaltige Verehrung, die der Gott Merkur gefunden hat. Merkur beschützt die Handelnden und die Diebe. Ich habe alle Ehrfurcht vor der großen und respektablen Zunft der Kaufleute, ich finde aber, daß sie viel zu tolerant ist und viel zu viel Gaunerei neben sich duldet. Die Krämerei ist eine Gaunerei. Meine Herren, ich fordre Sie auf, mit mir durch die Straßen der Städte zu gehen. Sehen Sie, Haus für Haus ein Laden! Laden für Laden, träge, auf Kundschaft wartende Verkäufer, die die Sonne angaffen und träumen! Meine Herren, der kleine Zwischenhandel steht zur Consumtion in keinem Verhältnisse. Wo Alles handeln will, wird Niemand mehr arbeiten wollen, und ich fordre Sie auf, geben Sie Gesetze gegen den Kleinhandel! Er vertheuert die Lebensmittel, die der Arbeiter braucht, er schlägt das Procent der Trägheit auf das kleine Kapital der Arbeit, dem es entzogen wird; er erschafft die Phantasieen des Kommunismus, der aus Zorn über den Kleinhandel von einem Großhandel träumt, den die Gesellschaft, der Staat selbst übernehmen müsse; er erzeugt endlich eine Menge lungernder, träger Schwätzer, die man die Lazzaronis der Boutiken nennen muß«.

[2723] Solche scharfe Lichter, die Egon aus seiner Kenntniß des Volkslebens auf die Debatte fallen lassen konnte, hoben oft wochenlang seine Erscheinung auch in den Augen Derer, die sich nicht verschweigen konnten, daß Egon vom Hofe verzogen wurde und wol längst ein Ultra-Aristokrat war. Egon bestritt, daß wir im Zeitalter der nothwendigen Revolution leben und nach einer unbekannten, neuen, Alle beglückenden Weltidee steuern müßten. Er bestritt die politischen Märtyrerschaften. Er nannte sie Plagiate, unerlaubten Nachdruck der großen ruhmvollen Zeitalter. Er sagte: »Die Märtyrer in vergangenen Jahrhunderten waren bewunderungswürdig, weil sie die vergangne Geschichte nicht kannten und nur für ihre eigne Rechnung, ihre eigne Erleuchtung starben. Die neuen Märtyrer aber haben alle vom Glanz der alten gehört und bilden sich ein, eine Zeit würde kommen, die auch ihnen Anerkennung brächte. Sie ahmen die Huß und Galiläi nach, ohne mit ihnen irgend etwas gemein zu haben als die Leiden, die Jene fanden und die Diese nur tollkühn und eitel suchen«. Unter solchen Umständen konnte es nicht befremden, daß man von Verschwörungen und neuen drohenden Unruhen sprach. Egon erfreute sich einer guten Polizei und fügsamer Richter. Er verfolgte, kerkerte ein, verbannte, ganz wie jeder andre Politiker auch, der den Widerspruch unbequem findet und für jede Eingebung seines unduldsamen Zornes sogleich das Motiv des gefährdeten Gemeinwohls zur Hand hat. [2724] Ackermann nahm, trotzdem, daß er Selma's wegen nicht mehr laut über Egon sprach, doch im Stillen an allen diesen Verwickelungen großen Antheil und verrieth selbst in der tiefen Abneigung, die er gegen Egon zu fassen schien, das fast persönliche Interesse, das er für ihn hegte. Mit dem beginnenden Frühjahr setzte er nun vollends alle inzwischen gesammelten Kräfte für Egon's äußere Wohlfahrt in Thätigkeit. Seine Pflug-und Säemaschinen erregten den Neid und das Staunen der Umgebung. Er hatte trotz der Maschinen eine große Anzahl auch von Feldarbeitern gedungen und sein Pachthof war so lebendig geworden, daß er schon wie eine kleine Kolonie auszusehen anfing.

Der Winter war streng gewesen und die Wonne des Frühlings von den Menschen endlich wohlverdient. Er kam mit dem März auf den feuchten Schwingen milder Südwestwinde. Der Schnee schmolz, die Ränder der kleinen Bäche verloren die Spuren des Eises, das sie noch vor Kurzem ganz gefesselt hielt. Die kaltdurchnäßte Erde erwärmte die Sonne und die gewaltigen Furchen, die der Pflug schnitt, öffneten die Poren der Eisrinde, daß es war, als wenn das Centralfeuer von unten herauf nachhalf und den Sonnenstrahlen die unterirdische Flammenhand bot. Dieser frische Frühlingserdgeruch! Diese Kraft des Bodens, die den Menschen selber stärkt und die Fabel vom Antäus verstehen lehrt! Im Walde brach das Eis der kleinen Seen, in deren Röhricht bald die Störche nach dem zum Leben erwachenden kleinen [2725] Gethier suchen sollten. Das ganz braun und schwarz gewordene Laub vom vorigen Herbst vermengte sich schon mit der Erde und düngte zu neuem kräftigeren Wuchse. Das Gras wucherte, Schlüsselblumen, Schaafgarbe, Distelkraut erfreuten das Auge des nach jedem Fortschritt der Vegetation sehnsüchtig lugenden Wanderers. Von Tag zu Tag nahm ein gewisses Lüstre der Buchen- und Eichenwaldung zu und wurde grüner und immer grüner. Die Weiden, die längs der Ulla standen, schlugen mit jugendlicher Triebkraft aus. Zwar köpfte man sie, der frischen Gerten wegen, die man gewinnen wollte, aber auch von diesen kam eine dankenswerthe Belebung in den erwachten Frühling. Die Bauernknaben schnitten aus der Schaale der jungen Weidenruthen Pfeifen und ein Ton weckte mehrere, die Pfeife die Stimme und die Menschenstimme die Stimmen des Feldes und Waldes. Schon jodelte ein ungeduldiger Hirtenknabe um die Wette mit der Lerche, die aus ihrem räthselhaften Winterverstecke plötzlich wie ein Wunder da war und sich mit ihrem Gesang in die reine Bläue des Himmels so stolz und froh emporwirbelte. Lange Züge von Kranichen und Schneegänsen flogen vom Süden weiter hinauf nach Norden. Glückliche Reise, ihr flüchtigen Gäste! Grüßet das Meer, grüßet die Klippen Islands, wenn ihr sie erreicht und die dänischen Jäger auf den Inseln jenseits der Eider euch passiren lassen! Zieht ihr denn Alle vorüber? Nein, die Störche bleiben bei uns und suchen sich die alten Giebel, suchen sich die alten Nester auf und klappern den [2726] Kindern von neuen Brüderchen und Schwesterchen die heimlichen Märchen zu.

Selma hatte einen gedrückten, ernsten Winter durchlebt und nur in Fränzchen's heitrer Laune einen Trost gefunden. Dies junge Kind widmete sich ihr mit zärtlichster Verehrung und fühlte sich durch den veredelnden Umgang selbst so gehoben, daß sie sich von keiner Entbehrung beengt, durch keinen langen einsamen Winterabend in ihrem Lebensgenuß verkürzt fühlte. Wie theilte sie aber auch Selma's Freude, als der Frühling kam! Selma hatte nur die Erinnerungen, wie das Alles wird und wächst in dem fernen Welttheile. Sie erstaunte nun, Alles hier so wiederzufinden, wie es auch dort ist und dennoch schien Alles anders, eigenthümlicher und ihr, wie sie sich im Stillen gestand, werthvoller. Fränzchen erklärte ihr, was sie, die Städterin, die arme Stubensitzerin, nur irgend von der Natur wußte. Selma fand aber bald, daß sie keiner Führerin durch den deutschen Frühling bedurfte. Sie verstand ihn wie einen alten Bekannten und was sie nicht benennen konnte, dafür gab die Worte der Vater, der mit dem Erwachen der Natur selbst wie neubelebt erschien und sich in seiner großartigen Ökonomie still und ruhig wie ein Gärtner bewegte. Selma sah das Entstehen einer großen Gemüse- und Blumenanlage hinter dem Wohnhause. Da sproßten Veilchen, Krokus, Schneeglöckchen. Da wuchs Schnittlauch, Kerbel, Salat. Da gackerten die Hühner, denen recht der Kamm gewachsen war und legten Eier hier und dorthin. Es war [2727] eine lustige Jagd für Selma und Franziska, immer zu suchen, wo die Hennen ein stilles Plätzchen gefunden hatten. Und dabei schmückte sich der Fliederbaum um das Wohnhaus, die Laube bezog sich mit grünen Knospenaugen, die Sträucher im Garten schienen hörbar zu wachsen ... der Ullagrund so lauschig abwärts geneigt, die Ulla so munter und geschwätzig, der Wald, die Höhe, der Blick nach Plessen, das Schloß von Hohenberg, Alles so verzaubert, so belebt, so neu, – wo war der Winter geblieben? War Das nicht Alles fast wieder so, wie Selma und der Vater es im Sommer fanden und er ihr gesagt hatte, als sie am Kirchhofe die Inschrift auf dem Grabe der Fürstin Amanda gelesen hatten: Kind, wir wollen hier bleiben, wollen hier unsre Hütten bauen!

Auch der April mit seinen kleinen Launen und winterlichen Rückfällen war fast vorüber, als Ackermann eines Tages durch den Justizdirektor von Zeisel mit der Nachricht überrascht wurde, Fürst Egon wollte, um sich von den Anstrengungen des Winters zu erholen, einige Tage auf seinem väterlichen Schlosse zubringen. Mit dieser Mittheilung gerieth der sonst so ruhige, sich selbst beherrschende Mann in namenlose Aufregung. Sie wuchs, als er sah, wie die Nachricht auf Selma wirkte. Ohne auf das Thema, das im December bei der Heimkehr von Plessen zum ersten und letzten Male berührt worden war, zurückzukommen, konnte er doch nicht umhin, bei Tisch darüber zu sagen:

Ich habe die Ahnung, daß diese Begegnung mit dem [2728] Fürsten keine gute Wendung nimmt. Das freundliche Bild des Mannes, der einst mit uns nach dem Forsthause wanderte, ist verwischt. Welche Entwickelung einer gewaltsamen, eingebildeten Natur! Diese Verfolgungen, von denen die Zeitungen das Unglaublichste melden! Dieser Terrorismus! Ich kann Adlige gelten lassen, die innerhalb ihrer Vorurtheile willkürlich und anmaßend regieren, Beamte, Militairs, Hofmänner sind mir erklärlich; aber mit Geist, mit Bewußtsein, mit Theorie so die gewonnenen Resultate der Zeit mit Füßen treten und den alten feudalen Staat wieder anzubahnen – doch Ihr versteht das nicht, Kinder! Deutlicher wird es Euch sein, wenn ich Euch sage: Alle Vereine hat der Fürst aufgehoben, alle geschlossenen Gesellschaften hat er aufgelöst, die beiden braven Arbeiter, die die Maschinen hierher begleiteten, ich las es eben in der Zeitung, sind festgesetzt, Leidenfrost ist in eine Untersuchung verwickelt und neue Verhaftungen, neue Ausweisungen stehen bevor ...

Franziska erschrak, da sie sich der Sphäre, in der diese Verfolgungen stattfanden, näher fühlte als Selma, die für Leidenfrost wenig Theimahme empfinden konnte und nur die beiden guten, bescheidenen Arbeiter bedauerte. Gläubigen weiblichen Naturen sind satyrische Erscheinungen wie Leidenfrost antipathisch. Alle beklagen die beiden jungen Arbeiter ...

Ich finde, fuhr Ackermann fort, daß viel von fremden Agenten gesprochen wird. Wenn wir erlebten, daß selbst Louis Armand ...

[2729] Selma winkte dem Vater. Sie wußte, daß Fränzchen den freundlichen und gefälligen Freund trotz seiner spärlichen Briefe liebte. Ackermann ahnte es und schwieg nun lieber.

Zwei Tage darauf aber fand er Fränzchen weinend. Als er sie um die Ursache ihrer Thränen fragte, suchte sie auszuweichen und überließ Selma die Antwort.

Louis Armand hatte, durch Einschluß an Oleander, an Franziska deutsch geschrieben oder so schreiben lassen:

»Liebe Freundin! Ein düstres Ungewitter zieht über mich und meine Freunde zusammen. Was vorauszusehen war, Trennung unsrer Wege von denen des Fürsten, traf schon gleich nach meiner Rückkehr von Hohenberg ein. Wir sahen uns selten, zuletzt vermieden wir uns. Was aber nicht vorauszusehen war, ein offener Bruch, offene Feindschaft zwischen Menschen, die sich liebten, zu lieben vorgaben, auch Das ist eingetroffen und irgend ein gewaltsamer Zusammenstoß scheint so unvermeidlich, daß ich Ihnen schreibe und Sie bitte: Liebe Franziska, Sie kennen die innige herzliche Verehrung, die ich für Sie hege und die nur mit meinem Leben erlöschen wird. Was mir auch geschehen möge, was Sie auch von mir hören dürften, rechnen Sie auf meine treue Anhänglichkeit! Ach, ich fühle nun wohl, was mich gehindert hat, Ihnen Alles zu sagen, was in meinem Herzen für Sie schlummerte und was erst jetzt, wo ich so großen Gefahren ausgesetzt bin, ganz erwacht ist! Jetzt, an der [2730] Grenze meiner Freiheit, sag' ich Ihnen, geliebte Franziska, daß ich in Ihnen so viel Güte und Reinheit der Seele gefunden habe, wie nur in meiner vergessenen, von Egon gemordeten Schwester. Ist Das nicht grausam, jetzt so zu sprechen! Jetzt, geliebte Franziska, wo ich Denen, die mich lieben, nur Kummer bereiten kann? Vergeben Sie mir! Werden Sie wirklich die Gattin des guten, Ihrer Liebe würdigen, reichen Heinrich Sandrart, dann vergessen Sie meiner. Ich gedenke Ihrer ewig und werde nie zürnen, wenn Ihr Herz seinen höhern Pflichten folgt. Ich schreibe das Alles aus meiner innersten Seele, die Feder führt Siegbert Wildungen, der Treueste, der mich nicht verlassen hat, wie Egon. Egon handelt entsetzlich an uns. Er behauptet, der Freundschaft genügt zu haben. Er behauptet, daß er in Warnungen sich erschöpft hätte. Egon droht uns! Egon droht seinen Freunden! Der Fürst ist Fürst und ich bin ein Bettler. Aber ich glaube jetzt Rechte gefunden zu haben auf den deutschen Boden. Ich fühle die Verwandtschaft mit Oleander, ja sogar mit einer Heldenseele, Jagellona von Werdeck, ich bin kein Fremdling mehr in diesen Landen. Doch, was unterhalt' ich, quäl' ich Sie mit Dingen, theure Franziska, die diesen Winter mich außer Athem und Besinnung brachten! Ich kann nur einen kurzen Gruß – vielleicht einen ewigen Abschied – senden. Die Zeit, die Stimmung, die Ruhe fehlen, um meiner minder gewandten Feder Raum zu lassen, in meiner unsichern Muttersprache dasselbe zu sagen. Die deutsche Sprache ist jetzt fast meine Muttersprache. [2731] Vergessen Sie mich, wenn es sein muß! In großer Bedrängniß Ihr Louis Armand«.

Ackermann sah mit tiefstem Antheil Franziska's Verzweiflung.

Was ist ihm geschehen? Was kann ihm drohen? rief sie.

Selma, die selbst weinte, suchte zu trösten.

Aber Heunisch, der Jäger, der eben dazu kam, störte allen Trost.

Er rief Franziska bei Seite und sagte:

Ursula Marzahn stirbt diese Nacht. Sie geht hin ... aber hab' ich mich vor ihr im Leben nicht gefürchtet, im Tod ist sie mir wie ein Gespenst. Sie sagt Dinge am letzten Sonntag als die Glocken läuteten ... Franziska, habe deinen alten Onkel lieb! Komm' mit auf drei Tage, bis sie zur Ruhe ist!

Ackermann bedauerte das bevorstehende Leid, mußte aber gestehen, daß der Onkel etwas Billiges verlangte. Er redete Franziska zu, zu gehen. Heunisch nahm sie sogleich und führte sie, indem er ein Bündelchen trug und ihre Thränen für Antheil an seinem Verluste hielt, jenen Fußpfad an der Sägemühle und dem schwarzen Kreuz vorüber, von dem er sagte:

Seit die Ursula fast wie vernünftig gesprochen, fürcht' ich mich vor dem Kreuz da!

Selma mußte wenig Stunden nach Franziska's Entfernung sagen:

Es ist gut, daß sie einige Tage entfernt ist!

Sie zeigte dem Vater das neueste Zeitungsblatt ...

[2732] Es enthielt die Nachricht, daß ein Apostel der kommunistischen Irrlehren, der diesen Winter über, aller Warnungen ungeachtet, besonders im Kreise der Willing'schen Maschinenarbeiter für seine staatsgefährlichen Theorieen gewirkt hätte, ein Franzose, Namens Louis Armand, vermittelst Zwangspaß aus den diesseitigen Staaten entfernt worden wäre.

O bitt're Welt! rief Ackermann. O gold'ne Jugend, an die sich der Rost des Lebens setzt! Traum des Glückes, warum löst dich der Tod nicht ab, warum das Erwachen zu dem jammervollen Geständnisse: Wir Alle sind Menschen!

Und dann erläuterte er Selma den Begriff eines Zwangspasses. Entfernt? sagte er. Louis Armand! Der Freund Egon's! Verbunden mit ihm durch einen Grabeshügel! Trennt so die Welt? Wirft sie immer wieder die Hölle zwischen die Seelen? Ist Wahrheit des Geistes da, wo Lüge der Herzen? Armer, kindlicher Fremdling! Wie ehrtest du dein Volk durch ihm sonst fremde Bescheidenheit, Treue und deinen sittlichen Werth! Selma! Erkennst du jetzt, warum ich die Natur so liebe und in ihrem Leben mich ausruhe von meinem Leben?

Selma aber sah, hörte nicht. Ihr Auge stierte auf eine andre Stelle derselben Zeitung.

Vater, lies! rief sie mit fieberhafter Erregung ...

Ackermann nahm und las das Blatt. Die Stelle lautete:

»Bekanntmachung.

Der wegen politischer Umtriebe verfolgte Referendar[2733] Dankmar Wildungen hat sich der ihm bevorstehenden Untersuchung durch die Flucht entzogen. Alle Sicherheitsbehörden des In- und Auslandes werden aufgefordert, zu seiner Verhaftnahme behülflich zu sein. Es folgt das Signalement.«

Es ist Siegbert's Bruder! sagte Ackermann. Die guten Geister sind von Egon gewichen.

Ackermann verfiel in tiefste Traurigkeit. Er schien unfähig, heute noch in seinem sonst so freudig ergriffenen Berufe zu wirken.

Selma ehrte seinen Schmerz. Siegbert's Gestalt trat ihr durch den ihr unbekannten, wenig besprochenen Bruder verklärter entgegen. Oleander, der zum Unterrichte kam, war selbst so erschüttert, daß er sich nicht sammeln konnte. Er ging bewegt und ließ die vor Kummer Schweigenden ohne Abschied zurück. Er hätte so gern dem reinsten Genusse des Frühlings gelebt! Liebe und Freundschaft waren seine ewigen Sterne und nun schienen sie düster umschleiert. So traurig hatten ihm die Lerchen nie gesungen.

Der Abend kommt. Die große rothe Feuerglut des Himmels erlischt. Dunkelblaue Wolken ziehen nächtlich herauf. Der Tag so linde. Am Abend weht ein kühlerer Lufthauch. Die Arbeiter feiern, ziehen heim, hier und dorthin, auf Dörfer, Gehöfte. Im Hofe wird's still. Nur fern beim alten Sandrart hört man noch ein Rollen von Tausenden von Erdäpfeln, die man aus den Wintergruben ausgräbt und aufschüttet. Man hat sich verspätet, man [2734] schüttet sie auf Breter, die sie abschüssig in den Bauernhof rollen lassen, noch spät Abends. Es wird ganz dunkel. Auch diese Arbeit ist gethan. Alles nun still. Ackermann ruht auf dem Sopha. Selma spricht zuweilen ein Wort der Theilnahme für Franziska, die bei einer Sterbenden, die sie nicht liebte, im Hause wachen müsse. Eine Uhr pickt. Alles leise, Alles still und traurig ...

Da bellt ein Hund lauter als sonst, bald bellen noch mehr; zuletzt alle. Es wird lebendig draußen ...

Wer kommt noch so spät?

Herr Ackermann zu Hause? sagte eine Stimme draußen.

Als die Magd antwortet, heißt es:

Braucht man auf dem Hofe hier nicht noch Arbeiter? Ich höre, man hat viel Arbeiter gesucht. Braucht Herr Ackermann noch ein paar gesunde Hände?

Welche Stimme! rief Selma ...

Ackermann war schon aufgestanden. Schon die ersten Worte klangen ihm so bekannt und durch den Sinn doch so fremd ...

Wer ist Das? sagte er.

Wir haben Arbeiter genug, spricht die Magd, und schicken täglich fort.

Ei, so fragt an! Bin ich darum so weit gewandert?

Selma hatte ein Gefühl, als sollte sie aufschreien. Sie faßte den Drücker der Nebenthür, als müßte sie fliehen.

Das ist der Fürst! ruft Ackermann außer sich und reißt die Thür auf, die zur Hausflur führte.

[2735] Im Dunkeln, beleuchtet von einer kleinen Küchenlampe der früheren Magd vom Heidekrug, stand in einer Blouse mit grauweißem Hute ein junger Mann. Wie er den Hut zog, die braunen Locken ihm über die Stirn fielen, er näher trat, er grüßte, bebte das Wort auf Ackermann's Lippen:

Kommen Sie!

Die Magd, die den Fremden nicht wieder erkannte, sagte:

Das ist Herr Ackermann!

Wohl! Wohl! spricht der Ankömmling. Ich kenne Herrn Ackermann. Darf ich eintreten?

Ackermann sprachlos (denn er glaubte den Fürsten zu sehen) tritt zurück und stellt das Licht, das er ergriffen hatte, zitternd auf den Tisch.

Ein unterdrücktes Ach! wie von einer Entfliehenden im Nebenzimmer ...

Wie die Thür des Corridors sich schließt, sagt der Eintretende:

Sie kennen mich nicht. Erinnern Sie sich jenes Wanderers, der im Walde bei Hohenberg letzten Sommer mit Ihnen und Ihrem Sohne Selmar sprach?

Wohl! Wohl! sagt Ackermann bebend.

Ich bin in der Lage, Sie um eine Freundlichkeit, eine Aufopferung zu ersuchen. Ich verehrte Sie immer. Seit Louis Armand von Ihnen sprach, seit mein Bruder Siegbert Wildungen Sie den bedeutendsten, den edelsten aller Menschen nennt –

[2736] Siegbert – Ihr Bruder?

Mein Bruder! Ich bin der Flüchtling Dankmar Wildungen, den eine zum jämmerlichsten Egoismus entpuppte Politik zwingt, sich zu verbergen. Ich kann nicht aus dem Lande fliehen, weil mich an dies Land Vaterlandsgefühl und eine große Aufgabe bindet. Darf ich bei Ihnen bleiben? Wollen Sie mich in Ihrem neuen großartigen Verkehr im Geheimen als Arbeiter dulden, bis bessere Zeiten kommen?

Ackermann, sprachlos, ergriff sein Portefeuille, riß es auf, holte ein Papier hervor, entknitterte es, nahm die Locke und hielt sie gegen Dankmar's Haar.

Diese Locke schnitten Sie mir in einer räthselhaften Nacht vom Haupte, sagte Dankmar. Ich träumte, ich wachte. Ich sah Sie geheimnißvoll mir nahen und so lieb hatt' ich Sie, so verehrt' ich in Ihnen den höheren Genius, daß ich still die Augen geschlossen hielt und mit mir geschehen ließ, was geschah.

Allmächt'ger Gott, Sie galten damals –

Für den Prinzen Egon! Ich erwies ihm die Liebe, ihm durch Täuschung andrer leichtsinniger Menschen einen großen Dienst zu leisten. O beim Himmel! Seine Täuschung hat er länger durchgeführt, als ich!

Ackermann's Gefühle waren in diesem Augenblicke zu gewaltsam, von Jammer und von Freude zugleich zu heftig bestürmt. Dennoch überwog, aus Liebe für Selma, die Freude. Eben wollte er jubelnd rufen: Selma! Selma! Wo bist du? Da stand sein Kind schon an der [2737] Thür, weinend, lachend, an dem Rahmen der Thür sich haltend, zitternd, bewußtlos ...

Selma! rief Dankmar, stürzte auf das bebende, vom Entzücken über ihren Irrthum, ihre Täuschung bewältigte Mädchen und schloß sie, kaum wissend, was er that, ungehindert durch des Vaters Nähe, nur folgend dem stürmischen Ausbruch seiner Gefühle, voll Seligkeit in seine liebenden Arme.


Ende des siebenten Buches. [2738]

Achtes Buch

1. Capitel. Paul Zeck
Erstes Capitel
Paul Zeck

Die Entdeckung, die Fritz Hackert in jener abenteuerlichen Nacht über den Gewölben des Rathskellers gemacht hatte, bestand aus einem Dokumente. Es war eine Taufakte, aufgenommen in einer nahegelegenen, zu den Sprengeln der Stadt gehörenden Dorfkirche und lautete:


»Am 8. Mai 1825 nach unsers Herrn Geburt empfing durch den Unterzeichneten der in der Nähe bei dem Gehöftbauer Rieding von Ursula Zeck, einer fremden Dienstmagd, geborne uneheliche Sohn in der wegen dabei obwaltender Umstände und der Kränklichkeit des Kindes unerläßlich gewordenen Nothtaufe den Namen: Paul Franz. Solches wird nach dem im Kirchenbuche eingetragenen Berichte hiermit abschriftlich bestätigt.

Lattorf, Pfarrer in Seehausen.«


Hackert betrachtete diesen Schein von allen Seiten und ärgerte sich, daß er in dem Glauben, Bartusch suche etwas auf seine eigne Geburt sich Beziehendes, irregeführt war. Als Belohnung für sein Abenteuer blieb ihm nur der Schreck, den er unfehlbar dem Graurock eingeflößt hatte und nach dessen Wirkung er sich bei aller Vorsicht, mit [2741] der er sich gegen Schlurck und seine Angehörigen seit einiger Zeit benahm, am folgenden Morgen zu erkundigen beschloß.

Das ihm werthlos scheinende Dokument verschloß er mit den Worten:

Armer Paul Franz Zeck, zur Noth getauft, zur Noth geboren, wohl längst gestorben! Ich wette, daß Bartusch dein Vater ist! Die angebliche Ursula Zeck wollte den Vater nicht eingestehen. Brave Dienstmagd Das! Vielleicht wurde ihr die Wahl schwer zwischen Bartusch und einigen andern Jünglingen, die jetzt auch graue Röcke tragen und in stiller Ruhe des Gewissens nicht ahnen, daß ihnen dereinst auf dem allgemeinen Offenbarungsgrundschlamm, wenn alle Wasser der Lüge abgelaufen sein werden, Paul Franz Zeck entgegenhüpft, ihre Knie umklammert und sie mit dem süßen Vaternamen begrüßt.

Im Grunde ärgerlich über seine misrathene Entdeckung schlief er ein.

Am folgenden Morgen erst besann er sich auf den Zusammenhang des ganzen Abends. Er lachte über Schmelzing, lachte aber auch über sich selbst. Das Interesse, das er der Verhandlung zwischen den fünf Männern unter ihnen geschenkt hatte, kam ihm jetzt sehr wenig begründet vor. Er hatte, als seine Freunde und Gönner, Siegbert und Dankmar Wildungen, politische Reden hielten, nur dem Instinkte nachgeben müssen, einen bösen Horcher zu entfernen. Auch daß ein Offizier in der Lage war, über Ansichten belauscht zu werden, die mit seiner Stellung [2742] in einem gefährlichen Widerspruche standen, ergriff ihn, aber nur, wie wenn er einen sich Ertränkenden gesehen hätte, bei dem man, ob er nun zu leben verdiene oder nicht, doch unwillkürlich an Rettung denkt. Er hatte auch mit Theilnahme und ergriffen von mancher Wahrheit zugehört, allein bald wieder vergessen war die erste Erschütterung und von dem Abenteuer mit Bartusch vollends jede ernste Erwägung zurückgedrängt.

Jetzt, indem er sich ankleidete und nach seiner Gewohnheit unordentlich und wild hier- und dorthin die Kleider, die Strümpfe, die Stiefeln hinwarf, mußte er in seiner menschenfeindlichen Weise vor sich hin diese Worte ausstoßen:

Welche Träumer waren Das! Mich hat Gott verdammt, des Nachts auf die Dächer zu klettern, wenn Vollmond im Kalender steht, aber Die spazieren am hellen lichten Tage auf ihnen herum und sehen die Schornsteine für Pyramiden an! Den Geist wollen sie zum bessern Durchbruch bringen! Gebt ihm hölzerne Krücken, dann kann er auf der Welt, wie sie ist, wohl stehen und gehen! Geld, Güter, Anstellungen, Titel, Ehren, Das sind die Krücken, an denen der Geist allein sich aufrecht hält in dieser verdammten Hetzjagd zwischen Katzen und Hunden in Menschenform! Nehmt Euch in Acht, daß Eure goldnen Redensarten sich nicht in Kohlen zu Scheiterhaufen verwandeln!

Hackert war besorgt, daß Schmelzing doch wol Manches erhorcht haben mochte und beschloß, seinen ganzen [2743] Einfluß auf ihren Vorgesetzten, den Oberkommissair Pax, anzuwenden, um seine etwaigen Aussagen in Frage zu stellen.

Was er nur bei dem dritten Kreuze, sagte er sich, mag nachgekritzelt haben! Ich will nicht wünschen, daß Menschen in die Lage kämen, durch Schreibfehler eines unsichtbaren Stenographen an den Galgen zu kommen, aber lieb wäre mir's doch, wenn Pax von der beschriebenen Eselshaut Schmelzing's allen Ministern eine Gänsehaut läse. Es ist so behaglich, auch die Mächtigen sich fürchten zu sehen.

Hackert wohnte neben der Barbierstube des Herrn Zipfel, den wir als politischunterrichteten Raseur der Brüder Wildungen bereits früher haben kennen lernen. Es ist nur annäherungsweise zu vermuthen, daß Pax diese Wohnung für seinen Liebling Hackert gerade deshalb ausgemacht hatte, um ihn in die Nähe eines sehr lebhaften Verkehrs mit den Meinungen und Ansichten des Tages und des untern Volks zu bringen. Die Barbierstuben haben sich noch aus Römer-und Griechenzeiten her die Bestimmung zu erhalten gewußt, das Bureau der Tagesneuigkeiten zu sein. Herr Zipfel war in der Lage, seiner auswärtigen Kunden wegen, den Mantel nach dem Winde hängen zu müssen, in seiner Barbierstube aber ging es ungehindert demokratisch zu. Hackert wurde jeden Morgen, ganz wie es Pax gewollt hatte, durch die verworrenen lauten Gespräche, Verwünschungen, Drohungen aufgeweckt, die dicht hinter der Breterwand, an [2744] der sein Bett stand, durcheinanderschwirrten, denn die Frequenz bei Herrn Zipfel war groß. Ein Kunde wartete auf den andern.

Am Morgen nach den Scenen in und über dem Rathskeller wurden die Gerüchte von einem neuen »demokratischen« Ministerium, dem des Fürsten Egon von Hohenberg, bei Herrn Zipfel so laut besprochen, so lebhaft äußerte sich in dem aufgewühlten Volke Hoffnung und Mistrauen, daß Hackert nicht einmal der nähern Details bedurfte, die ihm Frau Zipfel mit dem Frühstücke vorsetzte, um ihn vollständiger über die Lage des Morgens zu unterrichten. Er steckte sich eine Cigarre an und hätte fast den Nothtaufschein des Paul Zeck dazu genommen, wenn ihm das Papier daran nicht zu gelb und wurmzerfressen gewesen wäre. Neben seinem dampfenden Kaffee blies er die Tabackswolken vor sich hin und streckte sich auf den mit rothgewürfeltem, ein wenig lange nicht gewaschenem Kattun überzogenen holzharten Sopha wie ein Pascha.

Ha, ha, dachte er, wenn der Dutzbruder des Wildungen Minister wird und der französische Tischlergesell, den ich auf der Liste längst als verdächtig stehen habe, Minister der öffentlichen Arbeiten, dann wird Schmelzing mit seiner entdeckten Verschwörung wenig Finderlohn kriegen. Der heimtückische Bursch! Wie er nach Louise Eisold schleckerte –

Dabei seufzte der Pascha doch und stützte das Haupt auf.

[2745] Wäre sie nur hübscher! sagte er in seiner gewöhnlichen Frivolität und sein Gefühl wegspottend. Wer Melanie -sieh! sieh! Geistesschwester! Oder wie sagten sie unter uns? Arbeiten, sich tummeln, sich aufraffen, Etwas werden, vorstellen und dann vor sie hintreten: So nimm mich, so bin ich deiner werth! Und dann doch: Wie hieß es? Mit einer Zwetsche als Nase? Oder wie daguerreotypirte sich der Schwätzer, dem Jagellona sagte, was Melanie mir würde gesagt haben: Fritz, deine Haare brennen, dein weißer Teint hat zu viel Sommersprossen und was du mir bringst und wär' es ein ganzes Modemagazin voll Liebe, ist aus deiner Hand nichts Neues mehr für mich! Liebe, was ist Liebe! Dummes, verschlissenes altes Zeug! Nur Das reizt die Weiber, zu sehen, wie dieselbe Liebe, dieselbe althergebrachte langweilige Hingebung wol bei Dem sich ausnehmen möchte oder bei Dem oder bei Dem.. Dem möcht' ich ansehen, Dem abfühlen, wie er lieben könnte, Der mit seinen tiefen Augen, Der mit seinem schwarzen Bärtchen, Der mit seinen kleinen gefirnißten Glanzstiefelchen! Ha, ha! Oder flattern sie nur deshalb hin und her, weil sie wissen, daß ihre Gefühle Eintagsblumen sind, Pilze in einer Sommernacht aufgeschossen, das Glück, das sie zu gewähren sich das Ansehn geben, eine Sternschnuppe, von der man zu bald inne wird, daß sie nur optische Täuschung war! Geizhälse sind's mit ihrem Herzen, Wucherinnen ... Melanie, wie seh' ich dich flattern und wirbeln, wie schwirrst du hin und her und fliehst ... wen? ... dich nur selbst, deinen innern Tod,[2746] deinen tiefsten Menschenhaß... gegen dich selbst und ... mich! Ein Kreuz drüber, ein Leichenstein, so groß, wie ihn ... drei todte Pferdeköpfe brauchen. Ja, ja, Louise! Singst du vom Haideblümchen, vom zertretenen Weg und richtest dich nur auf, wenn ein Thautropfen einer hübschen gereimten Redensart auf dich fällt, die du aus Leihbibliotheken dir abschreibst! Armer, stickender Phantast, warum bist du nicht schöner, nicht leichtsinniger, nicht untreuer! Verriethen deine Formen, daß du auf sie eitel wärest und das Privilegium zu haben glaubtest, Dutzendweis betrügen zu dürfen, wie würden sich die Dutzende an dich herandrängen und sterben wollen von den grausamen Dolchen deiner schönen Augen! Den guten Geist hast du! Wer nur den Geist umarmen, herzen, küssen könnte! Aber was hast du schmale Brust, was bist du mager, dünnhaarig und wie wasserblau sind deine verstandesklaren, nicht römisch-, sondern deutschkatholischen Augen!

Während Hackert mit mephistophelischem Reiz so noch für sich hinmurmelte und jene Blasen warf, die oft zu teuflischer Lust selbst in Besseren aufsteigen, ohne daß wir sie im Grunde für unsre wahren Gedanken halten können, hörte er hinter der Breterwand laut lachen. Es klingelte. Einige Kunden des Herrn Zipfel brachen tumultuarisch herein.

Nein, rief eine Stimme, erst unser buckliger Herkules! Da, setzt Euch! Euer Bart ist die Nacht vor Kummer um einen Zoll gewachsen.

[2747] Ha, ha, ha! lachte ein Andrer und Der, der eben gesprochen hatte, sagte wieder:

Ein guter Vorschmack für künftige Zeiten! Herr Zipfel, geben Sie uns Waschwasser. Ich komme mir vor, als wär' ich meiner am ganzen Leibe nicht mehr sicher.

Was haben Sie denn gehabt? Wo kommen Sie denn her, meine Herren! erscholl Zipfel's Stimme und deutlich konnte man das Plätschern des Wassers hören, das er aus einem Kruge in die Schüssel goß.

Vom Profoßamt! Wir haben die Nacht sitzen müssen! Alle Drei, wie wir hier stehen, lagen wir auf zwei Pritschen, die wir zusammenrückten, um uns vor dem menschlichen und thierischen Gesindel zu schützen, das in einer solchen Warteanstalt sich guten Tag sagt.

Warteanstalt? Wie so Warteanstalt? Und Gesindel?

Im Profoßamt, diese Nacht, wir alle Drei! Alberti, ich und da unser stämmig Hochland.

Vierzig bis fünfzig Fledermäuse fanden sich bei'm Kehraus mit ein, aber auch Nachteulen, Zipfel, Schuhus, die mit einem Halloh empfangen wurden –

Meine Herren, ich verstehe immer noch nicht ...

Einer der Kunden des Herrn Zipfel erzählte jetzt, sie hätten gestern Abend einen Böller aus der Willing'schen Fabrik bei einem ländlichen Feuerwerke benutzt und ihn des Abends längs der Stadtmauer mit sich wieder zurücknehmen wollen. Der da, sie zeigten wol auf Danebrand, trug ihn frank und frei auf den Schultern. Da hätte sie an einem Thore die Wache angehalten. Ihre Aussagen wegen [2748] ihrer Pulvervorräthe und ihres Böllers wären verdächtig erschienen. Man hätte sie arretirt, auf's Profoßamt gebracht und erst heute Morgen wären sie von dem Assessor Müller mit einem Verweise entlassen worden. Der Böller steht noch auf der Thorwache, sagte der Erzähler. Erst heut' Abend soll er in einem verschlossenen Kasten abgeholt werden.

Hackert hatte unwillkürlich während dieser Erzählung nach seinem Verzeichniß verdächtiger Arbeiter gegriffen und sah neben Alberti, Heusrück, auch Danebrand ...

Er gedachte Danebrand's Hülfe in jener verhängnißvollen Nacht. Die beiden andern jungen Männer, die ihn gleichfalls gegen die Knechte Lasally's geschützt hatten, spotteten über Danebrand's Ruhe, der bei ihren Verwünschungen der Regierung, ihren jugendlichen Drohreden und der Erklärung, im Maschinenbauverein auf Genugthuung anzutragen, still und gelassen blieb und nur hörbar wurde, als man den Unterhaltungsstoffsammelnden Herrn Zipfel bezahlte.

Hier ist Ihr Zilbergroschen! sagte Danebrand in seiner feinen Küstenaussprache und ging mit den lachenden Gesellen aus dem Laden des mit Thatsachen befruchteten Barbiers von dannen.

Frau Zipfel, die eben den Kaffee ihres Miethers abräumte und ein instructives Gespräch anknüpfen wollte, bekam von Hackert nur kurze, schnöde Antwort. Er gehörte zu den Naturen, die immer nach der Regung hin, die ihr Inneres empfängt, ganz hinüberfallen und indem [2749] sie an einer Stelle heilen und gutmachen wollen, nicht wissen, daß sie inzwischen schon an einer andern Stelle verletzen. Er wollte die wüsten Reden der Arbeiter nicht denunciren, aber der Frau Zipfel gab er fast einen Fußtritt. Wenn Hackerten Unmuth überfiel, so machte er ihm physischen Schmerz, für den er sich am Nächsten rächte. Wenn er sich selbst züchtigen mochte, züchtigte er Andre. Religion und Grausamkeit sind seit Jahrtausenden verwandt.

Hier ist Ihr Zilbergroschen! wiederholte er spottend. Ja, gute Louise, ich weiß, schon diese Aussprache ist eine Qual für dich! Du hast nichts in dir, was nur säuseln und das St. weich aussprechen hören will. Dir soll es donnern, durch alle Wolken wettern, im Sturme willst du lieben und im Blitze küssest du und ein Gewitter macht dich auch vielleicht schön.

Louisen hätt' er die Anwesenheit bei der Stiftung des Bundes der Ritter vom Geiste gewünscht, ihr hätte er die Wucht der Worte, ihr den Schwung der Ahnungen gegönnt, die ihm ... lächerlich vorkamen.

Ihr Geisteskreuzfahrer! sagte er. Was wißt Ihr von unserm Lebensfluch? Wißt Ihr, in welchen Banden wir liegen? Was ist Nachtwandeln? Wer treibt uns aus uns selbst hinaus, während unsre Sinne schlafen und läßt uns Handlungen begehen, von denen unser Bewußtsein nichts weiß? Es gibt keinen Geist. Materie ist Alles. Atome, die sich durcheinanderwirbeln, kopfübern, auffressen, die bilden die Welt. Ihre Friktion, ihr Flimmern, ihr Zittern und [2750] Tanzen und Jagen, ist das Leben. Die Lust der Bewegung ist das Leben, der Stillstand ist Schmerz und Tod. Wir summen und brummen und schnurren so hin, wie die Käfer! Ein Platzregen und Alles hat ein Ende ...

Und trotz dieser Abspannung konnte Hackert laut lachen, als Zipfel eben zu einem Kunden nebenan sagte:

Nun, wissen Sie's schon? Es ist richtig! Die Willing'schen Arbeiter – Alles fertig! – Gestern Abend eine Kanone heimlich mit sich gefahren – um die Stadtmauer herum ... Artillerie in solchen Händen ... es wird gut werden!

Und als sich Hackert angekleidet hatte und selbst zu Zipfel hinüberging, um sich seine Barthärchen, die nur dünn und spärlich von der Natur gesäet waren, abnehmen zu lassen, fragte ihn Zipfel:

Ja, Herr Hackert, Sie haben's wol schon gehört von den Willing'schen Arbeitern?

Nichts hab' ich gehört! sagte Hackert mit der Selbstbeherrschung, die ihm immer zu Gebote stand. Was ist?

Ihnen darf man's eigentlich nicht stecken, bemerkte Zipfel und strich, um Zeit zu gewinnen, seine Messer.

Was nicht? Warum mir nicht?

Wer der Polizei so nahe steht, wie –

Wegen Herrn Pax? sagte Hackert ruhig. Das ist meiner Mutter Stiefvetter. Er sorgt für mich, wie ein Vormund. Dessentwegen ...

Ihrer Mutter Stiefvetter?

Verwandtschaft dreizehnten Grades.

[2751] Zipfel hatte eine Thatsache mehr. Er mußte sich aussprechen, damit das Gefäß nicht überfloß.

Ja! sagte er, die Willing'schen Arbeiter sind ja gestern Nacht mit drei Kanonen um die Stadtmauer gezogen. Und wissen Sie, wo sie die hernehmen? Da heißt's immer, es werden Gasröhren gegossen. Schöne Gasröhren! Pure Kanonenläufe! Nichts als Kanonenläufe! Auf Lafetten gelegt, sind die Geschütze fertig. Sagen Sie aber nichts dem Herrn Stiefvetter!

Hackert wünschte, als die Prozedur des Barbierens vorüber war, Einiges über die Ministerkrisis zu wissen.

Heute wird's reif, aber fertig ist's noch nicht! sagte Zipfel diplomatisch, nahm sein Rasirzeug, band es zusammen, setzte den Hut auf und erklärte, Hackerten begleiten zu wollen. Er käme nun erst an die rechten Quellen ... Wir überlassen ihn seinen Studien, die ihn auch zu den Gebrüdern Wildungen führten, deren Begegnisse am Morgen nach jener Nacht im Rathskeller wir kennen.

Hackert schlug seinen Weg zu Schmelzing ein, den er schon im Begriff fand, seine Bleistiftnotizen in's Reine zu schreiben.

Schmelzing wohnte in seinem neuen Logis besser als Hackert. Er besaß nicht die cynische Verachtung alles Luxus wie dieser, der gerade in seiner Unfähigkeit, ohne Bedienung ordentlich und sauber zu erscheinen, etwas Vornehmes hatte. Schmelzing glänzte sich selbst seine Stiefeln, bürstete sich selbst seinen Rock, nähte ihn auch zuweilen und war für seine Verhältnisse so glatt [2752] geschniegelt wie seine Handschrift. Aber heute fand ihn Hackert doch noch in Unordnung. Diese verwirrte Nacht hatte den geriebenen, seiner mit subtilstem Egoismus pflegenden alten Jüngling gelinde außer Fassung gebracht. Er empfing seinen Kollegen heute fast mit unartikulirten Vorwürfen und erklärte, nie wieder mit ihm gemeinschaftlich »operiren« zu können.

Was wollen Sie denn? fragte Hackert den Jammernden.

Ihre Narrenspossen haben mich fast um den Verstand gebracht. Die Frauen sind meine schwache Seite, und ich muß Sie in der That bitten, wenn wir in Amtsgeschäften sind, nie, nie wieder auf das andre Geschlecht zurückzukommen.

Aber Sie undankbarer Zurückgekommener! rief Hakkert und zeigte auf eine lang ausgebreitete Pergamenttafel voller Notizen, Sie haben ja die beste Verschwörung von der Welt auf dem Leder! Was hab' ich denn? An dem einen Kreuz, wo die beiden Damen, die nach Eau de Cologne –

Schweigen Sie jetzt, Hackert!

Die Eine, die Schwarze, die er Aspasia nannte – wissen Sie, Schmelzing, die mit –

Ich bringe Sie um!

Sie bringen sich selbst um, wenn Sie Ihre weiße Halsbinde so kokett schnüren. Wollen Sie sich Blut in die Wangen lügen? Blasser Teint steht Ihnen viel interessanter.

Was wird Pax sagen! Ich hoffte einmal auf seine Empfehlung als Kammerstenograph!

[2753] Aber, mein würdigster Kanzleirath, was bleibt mir denn erst übrig? Ich habe mit einem Gespenst gesprochen! Bei Verschwörungen statuirt die Polizei keine Gespenster! Für Gespenster gibt es keine Diäten! Schöne Halsbinde, Schmelzing! Wo lassen Sie waschen? Ihre Wäscherin ...

Schmelzing, aufkichernd, brach dies Thema ab und verlangte eine Mittheilung über die sonderbare Erscheinung des grauen Mannes. Hackert gab ihm nach einigen dämonologischen Neckereien zuletzt eine rationalistische Lösung. Er sprach geradezu von Dieben und von der Nothwendigkeit, diese der Stadt so wichtigen Räume unter eine bessere Aufsicht zu stellen. Er schloß seine Mittheilung damit, daß er nicht mehr in das Archiv mitginge und blickte nun auf Schmelzing's Errungenschaft, seine beschriebene Eselshaut ...

Sie stenographiren nach der süddeutschen Methode? sagte er. Ich war noch nie in Schwaben und finde mich nicht in Ihrem Gewimmel zurecht ...

Indem klopfte es stark und mit dem Klopfen zugleich trat in Eile der Oberkommissär Pax ein.

Schmelzing hätte fast den Ärmel seines Fracks zerrissen, den er eben anziehen wollte, während er auch schon nach einem Stuhle griff. Hackert nahm die Cigarre aus dem Munde, die Hände aus den Beinkleidertaschen ... sonst aber blieb er unerschrocken und phlegmatisch. Es sollte nun Bericht erstattet werden.

[2754]
2. Capitel. Dämmerungen
Zweites Capitel
Dämmerungen

Aber meine Herren, begann Pax, was ist Das? Ich erwartete Sie längst! Eine so wichtige Mission! Wo sind Ihre Aufzeichnungen! Was haben Sie für Resultate?

Schmelzing zeigte mit großer Verlegenheit auf das von ihm beschriebene Pergament und sah hülfeflehend Hackerten an, der mit aller Ruhe das Wort ergriff:

Denken Sie sich! Wir fanden ja statt nur eines zuletzt drei Kreuze erhellt, Herr Oberkommissär! Über jeder der drei Zellen wurden Dinge gesprochen, die des Anhörens werth waren.

Der Oberkommissär schien sehr erfreut.

In der einen saßen zwei griechische Damen, sagte Hackert, und ein ... ein lateinischer Herr –

Ich weiß, sagte Pax lächelnd. Die eine Zelle war von dem phantastischen Pfarrer Guido Stromer besetzt, der hier jetzt in Begleitung zweier Fräuleins Wandstabler die Wildheit austobt, von der kein Mensch begreift, wie er Jahre lang auf seinem Dorfe sie hat bändigen können. Es wird nöthig sein, den Mann zu warnen.

Waren es wirklich die Wandstablers? sagte Hackert [2755] erstaunt. Ja, fragen Sie Schmelzing, dieser Herr hat sich, soweit es mit Gefahr, die Augenlieder zu verbrennen, zu hören möglich war, so in wissenschaftliche Untersuchungen über die Liebe ergangen, daß Schmelzing in seinen edelsten Grundsätzen wankend wurde und sich selbst gern ins Türkische übersetzt hätte, wenn ...

Ich will nicht hoffen, unterbrach Pax, daß Sie dies Stelldichein eines unbesonnenen Mannes, den der Genuß des Residenzlebens um Vernunft und Vorsicht zu bringen scheint, gestört hat, an der Hauptstelle Acht zu geben?

Nein, fuhr Hackert als Wortführer fort, Schmelzing verachtet den sogenannten Pantheismus, den Propst Gelbsattel an Schlurck's Tische proklamirte, wenn der Champagner kam. Ich beredete ihn, weiter entfernt beim dritten Kreuze Platz zu nehmen.

Beim dritten Kreuze? rief Pax, der Bildung seines Schützlings sich freuend, aber doch betroffen. Da, wo General Voland von der Hahnenfeder saß, den man wohl erkannt hat, trotz seines Mantels, in den er sich wie in eine Kapuze hüllte ...

Es war ein Franzose mit ihm! sagte Schmelzing rasch, um sich zu rechtfertigen.

Und Propst Gelbsattel, dessen helltönende Dessert-Stimme ich kenne, verlangte dem General zu Ehren Lacrymä Christi ... ergänzte Hackert.

Ein Franzose, bestätigte Pax. Sollte es wirklich Sylvester Rafflard gewesen sein? Übrigens, darauf kommt wenig an. Ich hoffe, daß der Irrthum bald entdeckt wurde [2756] und – aha, da liegen Schmelzing's Scripturen. Haben Sie Acht gegeben, was besonders der Major Werdeck äußerte?

O vollkommen, sagte Hackert, die Frage entschlossen auf sich beziehend. Ich postirte mich über der mittleren Zelle, wo sich etwa fünf Gäste zu unterhalten schienen –

Sie ganz allein? Sind Das Ihre Aufzeichnungen, Hakkert? Sehr unleserlich! Hackert, sehr unleserlich!

Hackert hatte seine Brieftasche hervorgezogen, in der allerlei verworrenes Durcheinander verzeichnet stand.

Die Herren sprachen sehr rasch, entschuldigte sich Schmelzing stotternd, und der Franzose wurde vollends von einem so hektischen Husten öfters unterbrochen –

Hektischen Husten? Der junge Louis Armand?

Ich meine, der Professor –

Der Professor? Welcher Professor?

An dem dritten Kreuz –

Sie haben doch nicht –

Schmelzing hat Alles, was die drei Herren unter dem dritten Kreuz über die Jesuiten und ihren zukünftigen Einfluß auf Deutschland sagten, hier aufgeschrieben ...

Aber mein Gott – Wer will denn etwas von den Jesuiten wissen! Was haben Sie denn gemacht! Die fünf! Was hat denn zum Teufel der Major Werdeck gesagt? Hackert!

Erlauben Sie, Herr Oberkommissär, sagte Hackert. Bei den fünfen war ich und habe nur wenig nachgeschrieben, [2757] weil ich bessere Ohren und besseres Gedächtniß habe als Schmelzing, dem ich die drei Jesuiten ließ, als die wichtigsten.

Pax gerieth in den äußersten Zorn. Er lief im kleinen Zimmer auf und ab, fluchte und wetterte und erklärte, daß ihm mündliche Berichte nichts helfen könnten. Und als Hackert gar anfing, zu erklären, jene fünf hätten sich Charaden aufgegeben, sich in geisthaschenden Betrachtungen über die Blume der Weine, die sie tranken, zu überbieten gesucht, Frauentugenden analysirt, Universitätsanekdoten so breit erzählt, wie sie Melanie Schlurck immer vom Tisch des Justizraths verjagt hätten, fuhr Pax auf:

Hackert, Sie belügen mich!

Herr Oberkommissär, – ich verbitte mir, – warf sich Hackert in die Brust. Schmelzing, haben Sie nicht gehört, daß man von dem Geiste der Weine und immer über und durch die Blume sprach?

Schmelzing hatte von dem Worte Geist eine Erinnerung und behauptete, dies gefährliche Wort sehr oft gehört zu haben.

Pax fixirte Hackerten auf's Schärfste.

Ich versichre Sie, wiederholte Hackert, daß wir Beide nur gehört haben, wie man von Geistern so viel sprach, daß wir Gespensterfurcht bekamen. Was, Schmelzing? Nicht wahr? Der Geist muß regieren, sagten sie und setzten alle Könige ab. Das thaten sie. Einen Thron bauten sie von Gedanken und behingen ihn mit Spinneweben und [2758] unsichtbaren Staubfädchen. Die Armeen schafften sie ab und wollten nur noch Schilderhäuser, die nicht größer wären, als hohle Krebs- oder Nußschaalen. Polizei dürfe es gar nicht mehr geben, weil die Diebe nicht zu stehlen brauchten, da Allen Alles gehörte –

Das ist Kommunismus, sagte Pax, der sich über diese wichtige Zeitfrage zur Noth durch kleine konfiscirte Schriftchen orientirt hatte. Und Schmelzing sperrte staunend den Mund auf, froh, daß Hackert die Verantwortlichkeit dieses Dienstversehens nun allein trug.

Fahren Sie fort! sagte Pax.

Sie machten Alles gemeinschaftlich, diese fünf, zuletzt, ich versichre Sie's, zuletzt auch die Rechnung. Niemand bezahlte für sich, sondern die verschiedenen Geschmäcke wurden in einen zusammengezogen, dann mit fünf dividirt und auf jeden kam, einschließlich mehrerer Beefsteaks, ein Thaler und fünf und zwanzig Silbergroschen.

Pax stampfte mit dem Fuß auf und schleuderte Hakkert's Brieftasche von sich.

Aber ich versichere Sie, Herr Oberkommissär, die Parole hieß: Geist! Hier – Hackert griff in seine Brieftasche – hier steht's ja. Der Eine sagte: Geist ist der Herrscher des Weltalls und der Meister des Teufels und die Dampfkraft in der Lokomotive: Mensch genannt. Erst greift der Mensch als Wickel-, Windel-, Fallhutkind um sich und begreift, was er faßt, begreift seine Beulen und versteht, was ihm ansteht, als Eßgegenstand. Aneignung durch den Mund ist die erste Kritik der reiferen Vernunft. [2759] Dann ... Hackert improvisirte so fort ... dann trennt das Kind Eins vom Andern, das Naschbare vom Unnaschbaren und theilt es und urtheilt. Über das Urtheilen machte man Wortwitze, wie ich sie bei Schlurck hörte, wenn Universitäts-Professoren gebeten waren und an einer Gänseleberpastete durch die Zunge die Urbestandtheile herausschmecken wollten. Ein berühmter Professor, den Schlurck auf Händen trug, weil er immer sagte: Alles was ist, ist vernünftig, der alte Herr nahm einmal von diesen Ur-Theilen so viel auf einmal in sich auf, daß er am folgenden Morgen an einer Indigestion verstorben war, worüber Schlurck sagte: Das erste Ist, das doch unvernünftig war! Dann hieß es unter dem mittleren Kreuz: Es gäbe einen wahren Geist und einen falschen, echte Moral und falsche und das innere Gesetz, darin fand ich Gefährliches, das innere Gesetz stünde über dem äußern. Man bezeichnete grade nicht die Polizei als die Gegnerin des inneren Gesetzes, allein sie sagten, sie wollten einen Liebesbund schließen, wo Alle sich mit geistigen Waffen schlagen sollten und in Harnisch gerathen nicht mehr aus persönlichem Interesse, nicht mehr aus persönlicher Leidenschaft, sondern nur aus Überzeugung und um des innern Denkens willen. Ich rufe Schmelzing zum Zeugen. Diese fünf Menschen waren mit der ganzen Welt zerfallen und wußten nichts zu loben, nichts, gar nichts, als höchstens des Rathskellermeisters Weinkarte.

Pax durchflog, während Hackert in dieser Weise flunkerte, das Pergament Schmelzing's und dessen Abschrift. [2760] Er fand hier in der That reellere Dinge, wirkliche Namen, Zustände, Beziehungen ...

Kommen Sie zum Präsidenten, sagte er endlich. Ich sehe doch, es sind wichtige Namen da genannt worden und so gewagt es sein kann, hochstehende, bei Hofe verehrte Männer, wie den General Voland von der Hahnenfeder und den Propst Gelbsattel in ihren geheimen Äußerungen zu belauschen, so weiß man doch nicht, welches Ende unsre Ministerkrisis nimmt. Der General hat es abgelehnt, mit dem Fürsten von Hohenberg ein Ministerium zu bilden. Professor Rafflard ist uns längst schon verdächtig. Der Präsident wird zornig sein, daß wir über Werdeck nichts Genaueres fischten, nichts über diesen gefährlichen Leidenfrost; ich hoffe aber, diese Notizen machen es gut. Ich nehme sie mit. Kommen Sie um zehn Uhr zum Präsidenten, Schmelzing, damit Sie Alles dechiffriren!

Schmelzing war glückselig. Er hatte unfehlbar einen Sieg über Hackert errungen, Diesem die verfehlte Expedition zugeschoben, Brauchbares durch Zufall entdeckt. Doch nahm Pax auch von Hackert, seinem jüngstgeworbenen geheimen Agenten, mit Schonung und sichtlichem Wohlwollen Abschied. Er bot beiden Schreibern Geld an, das sie nahmen. Er forderte sie streng auf, jede nähere Beziehung zur Polizei noch für einige Zeit zu verbergen, es würde bald die Zeit kommen, wo sie vorwärts rücken könnten und, wenn sie wollten, Dienstabzeichen tragen dürften. Noch diktirte er ihnen einige Namen zu den [2761] Listen verdächtiger Personen, die sie schon bei sich führten; es befand sich der eines Engländers Namens Murray darunter. Schließlich gab er ihnen verschiedene Eintrittskarten an öffentliche Orte, besonders in Ausstellungen, in Museen, Konzerte, auch eine immerwährende Gastkarte in die großen und kleinen Versammlungen des Reubundes, weniger um verdächtige, dort nicht fallende Äußerungen zu überwachen, als sich in derjenigen Gesinnung zu stärken, die allein der Stachel und Sporn wäre, ihrem Berufe mit Eifer und Hingebung zu folgen und besonders eine innere Scheu des Angebens überwinden zu lernen.

Fax verließ sie. Schmelzing war froh, so gut davongekommen zu sein und konnte nicht begreifen, wie Hakkert, der doch auch gefehlt hatte, losbrach:

Die ewige Angeberei! Hol' die der Teufel! Ich hatte geglaubt, Pax würde uns da anstellen, wo man erfährt, wo heimlich gespielt, wo der beste Punsch gebraut wird und die hübschesten Mädchen ohne Erlaubniß zu lieben wagen. Das Departement der öffentlichen Tugend, dacht' ich, würde Ihnen, Schmelzing, anvertraut werden, daß auf dem Trottoir uns die elegantesten Damen im Vorübergehen zuflüsterten: Guten Tag, Schmelzing! Kennen Sie mich um Gotteswillen hier nicht, Schmelzing! Himmlischer, süßer Schmelzing, unter dessen Kontrole ich stehe, der bei mir aus-und eingehen darf, bei Tag und bei Nacht – Süßer, himmlischer Schmelzing mit der weißen Halsbinde –

[2762] Schmelzing lachte hellauf vor Wonne über diese zuletzt in die ihnen geläufige Fingersprache übergehenden Tollheiten. Er hatte seinen Hut genommen, drängte Hackerten zur Thür hinaus, schloß seinen Käfig zu und bat nur, unaufhörlich kichernd, ihn mit dem »andern Geschlecht« nicht zu furchtbar aufzuregen. Er müsse zum Präsidenten, sich sammeln ...

Unten auf der Straße trennten sie sich.

Hackert war unfläthig genug, ihm fast ... die Zunge nachzustrecken. Er schob die Hände in die Beinkleidertaschen, rannte die nächste rauchende Person mit einem Pardon! an, bat um Feuer! und schlenderte, wie ein Tagedieb, den lebhafteren Gassen zu. Er wollte erst Siegbert besuchen, um ihn zu warnen, führte aber diese gute Regung nicht aus, da sie ihm jetzt unnöthig schien. Nun wollt' er zu dem alten grauen Hause, das Schlurck bewohnte, wollte sich erkundigen, wie es um Bartusch stünde, wollte einmal den Versuch machen, Schlurck selbst zu begrüßen, dem er seit seiner Untersuchung in Sachen des Bildes der Fürstin Amanda von Hohenberg imponirte. Er war voll Übermuth und Trotz.

Als er nun wirklich vor dem alten, mit dem Kreuze bezeichneten Hause stand, blickte er schielend zu den Fenstern auf, hinter denen Melanie wohnte. Wie rannen da alle seine chaotischen, nicht guten, nicht völlig bösen Empfindungen in dem einen starken mächtigen Strom zusammen: Vergangenheit! Seit jener Nacht, wo ihm Melanie im Wagen versprochen hatte, Lasally von einer [2763] Untersuchung abzubringen, mit der der ergrimmte Freier ihn bedrohte, hatte er seinerseits das Versprechen geben müssen, auch nun für ewig von ihr zu lassen und ihre Bahnen nicht mehr mit seinen schreckhaften Erinnerungen an Kinderglück zu durchkreuzen. Hackert, hatte ihm Melanie damals gesagt, du weißt sehr wohl, daß ich über meine Zukunft eine ernste Betrachtung anzustellen habe und mich nicht blindlings an den ersten besten der Vielen, die mir huldigen, verschenken kann. Und Hackert schwur damals, was Melanie begehrte. Berauscht von Liebkosungen, die er ungroßmüthig ertrotzte, war er nach Hause geschwankt, hatte die Brüder Wildungen, Louise Eisold, Bartusch im frechsten Übermuthe verhöhnt, war auf den Fortunaball gerast, hatte seiner ganzen verlornen Natur den Zügel schießen lassen, bis ihn der Fluch seines Daseins, wie er sein Traumwandeln nannte, im Augenblicke der Erschöpfung strafte und ihn zum jammervollen Spott der Menschen auf's Neue mitten im Glückstaumel niederwarf. Um zu vergessen, war er den Anerbietungen des Oberkommissärs gefolgt. Die feige Verzweiflung, die ihn zuweilen erfassen konnte, hatte ihm den Muth gegeben, bis dahin Alles zu thun, was man von ihm verlangte. Nun kamen wohl schon lichtere Augenblicke über ihn. Mitten in der wüsten Lebensart, die er nun, wo er doppelt Geld hatte, am wenigsten ließ, überkam ihn wohl ein Gefühl verzweifelnder Wehmuth. Da setzte er sich in Trinkstuben hin, warf einen Papierschein auf den Tisch, nahm das Geld nicht auf, das er wieder heraus bekam: er hasse das [2764] schmuzige Metall, sagte er, es mache ihm Krämpfe in den Fingern. Er trank, kam durch die Aufregung, die der Wein mehrte, in einen Zustand verbissener Wuth, verletzte Jeden, der sich ihm nahen wollte und hatte doch meist die Kraft nicht, die Folgen, die seine entfesselte Wildheit nach sich zog, auszukämpfen. Man warf ihn da, wo er wie ein König eingetreten war, wie einen Bettler zur Thür hinaus. Und es sprang ihm Niemand bei. Es schloß sich ihm Niemand an. Niemand faßte zu seinem Wesen Vertrauen. Er konnte dann stundenlang sitzen, das Haupt aufgestemmt und ergrimmte Glossen hin-und herschleudernd. Man kannte ihn schon und belustigte sich an ihm. Seine Grundanschauung war die, Jeden für irgendwie schlecht zu halten. Wenn er ganz mit sich in Verfall gerieth, ging er vor die Thore, setzte sich an die Spielplätze der Kinder, sah deren Treiben zu und wollte sich auch schon aus Dem die Eitelkeit, die Gewaltthat, den Eigennutz früh herausmärzen. Wie Timon dann Alle verwünschend, Alle hassend, rannte er in die Felder, in die Vorstadtgassen und endete gewöhnlich damit, daß er sich zuletzt zu den Verworfensten ihres Geschlechtes flüchtete, mit diesen tobte, fluchte, philosophirte, grade als wenn er aus dem Schlamm erst heraus nach Licht und Poesie rang. In dieser Sphäre hielt man ihn für verrückt.

Dem Schlurck'schen Hause lag ein Café gegenüber. In diesem saß er schon seit seinem Bruch mit der Familie oft Tage lang und belästigte des Justizraths Fenster durch freche Blicke. Auch heute wollte er schon in aller Frühe [2765] in das Café eintreten und den unerquicklichen Dunst und Staub, den eine Herberge am frühen Morgen darbietet, einathmen, als er Jeannetten aus dem Schlurck'schen Hause treten sah. Sie hatte einen der herbstlichen Jahreszeit entsprechenden Mantel um und sah fast ergrimmt, fast bissig, jedenfalls sehr finster aus. Trotz dieser Witterung, die er gleich spürte, wagte sich Hackert an seine Feindin, grüßte sie und stellte, die Cigarre halb aus dem Munde nehmend, mit dem Hut auf einem Ohr, sich ihr dicht in den Weg. Zwei Menschen Das, die Gott nur zu Rädern für fremden Willen geschaffen zu haben scheint, zu ohnmächtigen Werkzeugen fremder Kraft, und grade die wollen erst recht selber im Leben regieren, wollen grade im Dienen herrschen und herrschen wirklich!

Nachtvogel! war Hackert's Gruß und Tagedieb! Jeannetten's Antwort.

Blas' er seinen Qualm nicht ehrlichen Leuten in's Gesicht!

Mamsell hat Angst um ihre glatte Haut! Herbst wird's? Tragen Sie doch einen Schleier! Ihr Teint springt auf trotz Gold-Cream, der Ihnen da von der Nacht noch an der Nase glänzt!

Jeannette besann sich, ob sie so fortfahren sollte. Eine Stimme sagte ihr: Die Feinde deiner Feinde sollten deine Freunde sein! Und so begann sie:

Hackert, die Zeiten, wo Sie im Hause waren, sind nicht mehr.

[2766] Hackert war nicht sentimental. Am wenigsten liebte er die gefühlvollen Kammerzofen. Sie weinen ja? sagte er. Thränen wie Zwetschen so dick, Thränen, wie Roßäpfel von Ihrem himmlischen Herrn Lasally! Lumpenvolk!

Denken Sie doch nicht mehr an den Abend in der Fortuna, Hackert, lenkte die Kammerzofe ein. Neumann hat's bitter empfunden. Sie hatten mich durch Ihre schändliche Plauderei wegen dem falschen Prinzen um meinen Platz gebracht. Sie hätten den Zorn sehen sollen, wie Melanie nach Hause kam von Frau von Harder – gleich mir aufgesagt – Und wir wissen doch, Hackert – wir wissen doch –

Schnurr du und noch ein Spinnrad! äffte Hackert das rasche Plaudern der Zofe nach. Bist ja im Haus geblieben, edles Wesen! Der süße Bartusch und die Wassernixe, die Frau Justizräthin, warfen dich ja nicht zum Tempel hinaus, ließen dich ja bei Neumann, seinen Ohrringen und seinem Backenbart! Schlurck kann ja auch nicht den Geruch von jedem Frauenzimmer um ihn her vertragen -So sind Sie geblieben. Was stört denn nun jetzt da drinnen die schöne Landschaft?

Jeannette zog Hackerten vorwärts in eine minder belebte kleine Seitengasse. Hier begann sie eine Mittheilung über Schlurck's neuerdings erlebte Unglücksfälle. Die Verwaltung der Hohenbergischen Güter wäre ihm genommen, die Administration der städtischen Häuser wäre vom Magistrat neu untersucht worden und es hieße, sie käme auch aus Schlurck's Händen. Schlurck lasse die [2767] Flügel schrecklich hängen und gestehe ein ... denken Sie sich, Hackert! ... daß er alt würde! Die Justizräthin wäre wasserscheu ... das wollte viel sagen ... Und Bartusch ...

Nun?

Heut' Morgen in aller Frühe klingelt's und in einem Fiaker bringen sie den Alten auch todtkrank und elend ... Wer weiß, welche Gosse über ihn ausgeschüttet wurde!

Hackert forschte ...

Es mußte zu Drommeldey geschickt werden, der gleich beim Eintreten sagte: Bartusch, Sie schauen ja aus, als hätten Sie Geister gesehen! Kurz und gut ... Ich sage Ihnen Hackert, wo ist die schöne Zeit hin, als wir in Hohenberg waren! Die Lust! Die Seligkeit damals in dem Schloß!

So? Ich schlief auf der Wiese unter den Fröschen ... Wer freilich bei Ihnen ...

Hackert! ... Ich sage Ihnen, Melanie ist nicht mehr zum Erkennen –

Wie so? Sie hat ja nun doch den rechten Prinzen Egon!

Sie wissen's also auch? Alle Leute sagen's. Ich mag sie nicht fragen – sie ist mir nicht wieder grün geworden. Von Hohenberg will sie nichts wissen ... immer ernst – immer nachdenklich – immer Musik jetzt und Lektüre und melancholisch ...

Und nun begannen diese Menschen eine Kritik der Verhältnisse Schlurck's, des Prinzen, der bekannten Armuth des Letzteren, bis Hackert mit den Worten einfiel:

Ich sehe unsern Alten noch mit der Prise in der Hand in [2768] Lasally's Cirkus die Honneurs machen und mit ein paar alten steifen Mähren das Gnadenbrot um die Wette essen. Wie geht's denn Sr. getauften Lordschaft?

Jeannette sprach in gemessensten Ausdrücken von Lasally, seinem ehrenwerthen vielverkannten Charakter, worüber sie fast den Faden ihrer Mittheilung verlor. Dazu das Drängen in der engen Gasse, die Aufregung der Menschen, das Gewühl eines naheliegenden Frühmarktes. An einer Straßenecke lasen die Leute angeschlagen, daß Fürst Egon von Hohenberg Minister geworden. Hackert griff diese Nachricht auf.

Hören Sie doch! Prinz Egon Minister!

Jeannette verwunderte sich, hielt eine solche Beförderung für eine Degradation, einen wirklichen Beweis der Armuth des Prinzen ...

O weh! sagte sie. Und heute, heute muß der Justizrath zehntausend Thaler an Lasally zahlen ... Das Alles an einem Tage!

Hackert erstaunte über die Zahlung an Lasally. Er kannte Schlurck's Geldverhältnisse besser als selbst die Justizräthin. Was für zehntausend Thaler? fragte er.

Jeannette berichtete von einer schrecklichen Scene, wo Lasally sich und Allen den Tod gewünscht hätte. Er wäre ruinirt, er hätte auf diese Heirath gehofft, er hätte sich lächerlich gemacht durch seine Langmuth; er hätte den letzten Beweis seiner Geduld in der Sache gegen Hackert gegeben ...

Ja, Fritz, sagte Jeannette, er will Sie doch noch an[2769] den Galgen bringen. Neumann sagt, Sie wären's auch werth ... man müßte Sie eigentlich auf ein wildes Pferd binden und dann ...

Doch wol das Pferd peitschen und nicht mich wieder? fiel Hackert grimmig ein. Ich rath' Euch Gutes! Ich hab' eine Wuth auf Pferde und Lasally's rath' ich die Hufeisen verkehrt anzunageln, daß ich nicht weiß, wohin er mit ihnen ausreitet – Lasally's mein' ich.

Jeannette schauderte vor dem jungen Mann, den sie jetzt bös, doch tückisch nannte. Seine Augen zuckten. Seine Gesichtsmuskeln bewegten sich krampfhaft. Jeannette sagte ihm rasch, daß Schlurck keinen Kutscher mehr halten könne und ihr selbst gerathen hätte, zu Lasally zu gehen, bei dem für Neumann zu sprechen. Lasally würde sich jetzt sehr großartig einrichten, würde Leute brauchen. Eben ginge sie zu ihm, um ihm die Dienste ihres Verlobten anzubieten ... Sie wisse zwar ... Damit unterbrach sie sich selbst, denn Hackert ging fast taumelnd, fast abwesend neben ihr her. Sie sprach schon nichts mehr, er schwieg. So durchschritten sie fast die ganze Stadt, zum Schrecken der Zofe, die sich in der einsamen Thorgegend vor Hackert's plötzlicher Träumerei, wahrscheinlich der Erinnerung an seinen Lasally zugefügten Frevel, fürchtete. Zuletzt standen Beide vor dem Eingang in die Reitbahn Lasally's. Hackert erschrak, als er aufblickte. Jeannette hatte längst gefürchtet, daß sich Hackert einer gefährlichen Gegend nahte. Aber er sammelte sich und murmelte zum Abschied so hin, sie würde Lasally in einer [2770] türkischen Kleidung finden, eine gelbe Meerschaumspitze im Munde, einen türkischen Fez auf dem Kopf, rothe Hosen an, gelbe Stiefeln, Schlafrock von Sammet mit Schnüren. Wie ein Pascha würde er sie empfangen und sie würde ihm die gelben Stiefeln küssen dürfen, seine Hände, seine Ohrzipfel und todt und kalt würde der Pascha sagen: Dein künftiger Mann ist ein Schafskopf, doch soll er die Stelle haben, setzen Sie sich, Fräulein! Parlez vous français?

Jeannette lachte, huschte davon. Scheu entfernte sich Hackert von einem Ort, der ihn an ein Verbrechen erinnerte. Er floh fast. Als er sich in Sicherheit glaubte, sah er um sich. Er war erschöpft. Da stand ein Brunnen, der hier in der Vorstadt in ländlicher Weise mit einem Wassertroge für die Ausspannungen, die vorüberziehenden Viehheerden versehen war. Die Bäume hier und dort auf dem großen Vorstadtplatze waren entlaubt, die Luft schnitt kalt und fröstelnd genug. Herbstlich sah's auch in Hackert's Innern aus. Fehler, Irrthümer, begangene Frevel vergibt sich die Jugend sehr bald. Aber um so gewaltsamer, je weniger sie davon merkt, nagt an ihr die zu frühe Erkenntniß. Daß diese Person, diese Jeannette, nun zu einem Don Juan ging und für ihren Bräutigam um eine Anstellung bat, durchschaute er zu offen mit allen Folgen. Die verbitterte Auffassung der Menschen überzieht das ganze Leben mit aschgrauen Farben und worin anders wurzelt die verzweifelte Freudlosigkeit des verdorbenen Großstädters, seine Wuth nach Änderung seiner [2771] Lage, seine in der Gefahr dann doch wieder elende Gesinnungslosigkeit, als in diesem zeitigen Erkennen aller Endlichkeit unsrer Natur, in dem höhnischen Schlechtnehmen und Schlechtdeuten jeder fremden menschlichen Regung und Unternehmung? Hackert sah Alles vergiftet von Selbstsucht. Die Kinder auf der Straße schienen ihm schlecht, die Thiere, die Hühner, die Gänse um ihn her, die nach dem Futter aus den Kornwägen, den Resten der Pferdemahlzeiten haschten, schienen ihm bewußt erbärmlich; ja selbst dem Wasser in dem Trog, auf dessen Rande er saß die Beine baumelnd, sah er mit mistrauischer Bitterkeit nach, als wär' es das ewige Symbol der treulosesten, dahin rinnenden Flüchtigkeit. So zog er die Liste der Verdächtigen aus seiner Brusttasche und sammelte sich erst in dem Bewußtsein, in diesem Chaos doch nun auch etwas, wenigstens ein Polizeiagent zu sein.

Aus dieser gewiß wenig tröstlichen Betrachtung weckte ihn plötzlich ein lautes Wagenrasseln. Er blickte auf. Ein Lärmen, Rufen, Johlen, Peitschenknallen. Er sah einen Reisewagen, der langsam von der Gegend des Thores daherrollte und von vier Postpferden im Schritt gezogen wurde. Der Postillon blies und klatschte, wenn er absetzte, lustig mit der Peitsche. Mancher Hieb fiel auf die allzunah herandrängenden neugierigen, lachenden Menschen, die sich mehrten, je näher der Wagen in die belebten Gassen kam. Hackert stand auf, um die Ursache dieses Auflaufs kennen zu lernen. Das Blasen des Postillons, das langsame Fahren eines großen vierspännigen [2772] Reisewagens konnte allein nicht die Veranlassung dieses Lärms, dieses Drängens und Spottens sein. Er bemerkte auch bald die seltsamste Unterbrechung der gewöhnlichen langweiligen Straßenerscheinungen. Der Postillon ritt, selbst lachend, auf dem Sattelpferde, auf dem Bock saß an einer Kette ein als Kutscher gekleideter Affe, der aus einem Korbe Äpfel und Nüsse unter die Menge warf. Hinten auf dem Bocke standen zwei Mohren in rothen goldbetreßten Livréen. Im Wagenschlage waren zwei Papageyen und einige kleine Makis und Meerkatzen, die an Kettchen zum offnen Schlagfenster hinaus und hinein schlüpften, so weit sie Freiheit hatten. Ein kleiner Herr in mittleren Jahren, schwarzem Barte, hochgeröthetem Antlitz, in einem reichbesetzten Schnurrock und einem rothen Sammtbarett saß ganz allein in dem Fond des Wagens. Er schien sich theils an den Capriolen der Thiere, die ihn umgaben, zu belustigen, theils an der Neugier der Menschen, die er dadurch reizte, daß er ganz neue kleine Silberstücke zum Kutschenschlage hinauswarf. Einige zierliche Windhunde bellten gleichfalls aus dem Wagenfenster und wollten sogar nachspringen. Der sonderbare kleine Reisende hielt sie an einer grünen Leine fest und überließ das Apportiren dem Straßenvolk, dem natürlich nicht einfiel, ihm die Silbermünzen zurückzugeben. Diese tolle Karavane hielt, als sie dicht bei Hackert in der Nähe vieler Marktwagen und Wirthshausschilder stand, still. Der kleine possenhafte Herr lehnte sich aus dem Wagenschlage und fragte mit heller, schriller Stimme hinaus:

[2773]

Welches denn jetzt der beste Gasthof in der Residenz wäre?

Diese Vorstädter wußten wohl Antwort zu geben, aber sie nannten ein Dutzend Könige und Länder durcheinander. Hackert sah auf dem Kutschenschlage in der Ferne ein adliges Wappen und die Buchstaben O.v.D.

Der Wirrwarr der Thiere, die Mohren und die jubelnde Straßenjugend zogen ihn an, er trat näher und fragte nach des Herrn Begehr.

Welches ist jetzt das erste Hotel der Stadt? sagte mit sonderbarem fremden Accent der kleine breitschultrige Cavalier.

Die Stadt London! antwortete Hackert mit mehr Ehrerbietung, als ihm sonst eigen war.

Also wie vor funfzehn Jahren! Und der zweitbeste? Doch nicht die goldne Eule?

Jetzt die Stadt Rom! sagte Hackert.

C'est la même chose! Also ist Stadt Rom das beste Hotel; denn, mein Herr, das eine ist wirklich gut und das andre bemüht sich nur, den guten Ruf aufrecht zu erhalten. Alte Wände, neue Tapeten. Ich ziehe die goldne Eule vor. Ich danke Ihnen! Schwager, also in die Stadt Rom!

Damit fuhr der Wagen des sonderbaren Dialektikers vorüber und jetzt so schnell, so im verhängten Galopp, daß die Menschenmenge nicht mehr folgen und ihm nur ein lautes Halloh nachschreien konnte. Man zeigte sich lachend die Äpfel, die Nüsse, die kleinen Silbermünzen, die man erobert hatte und zerstreute sich in der Voraus [2774] setzung, man würde an den Straßenecken bald die Ankündigung eines angekommenen berühmten Taschenspielers oder einer Menagerie oder einer Kunstreitergesellschaft lesen.

Lieber O.v.D.! sagte sich Hackert, als er allein zur innern Stadt zurückschlenderte, du bist bei allem Witz ein Narr und deine Thiere, die wie Menschen gekleidet sind, haben so viel Verwandtschaft mit dir selbst, daß ich auch ein Narr wäre, wenn ich mich noch länger hier an Lasally's Reitbahn um drei todte Pferde ängstigen wollte.

Die Tollheit eines Andern hatte Hackert's Grübelei geheilt. Und es war die höchste Zeit, daß er sich auf dem Profoßamte sehen ließ. Im Vorübergehen an der Stadt London fragte er, ob nicht ein Reisender mit Mohren und Affen eben angekommen wäre? Er fragte grade deshalb dort, weil er sich sagte, die Menschen wären ja alle inconsequent und führten in jeder folgenden Minute grade Das aus, was sie sich in der vorhergegangenen widerrathen hätten. Um so mehr war er überrascht, daß in der Stadt London Niemand etwas von einem solchen Fremden wußte, in der Stadt Rom ihm aber unter Lachen und Verwundern wirklich gesagt werden konnte, der angekommene vornehme Sonderling hieße ganz einfach: Baron Otto von Dystra, kurländischer Gutsbesitzer.

Doch einmal Einer, der Consequenz hat! sagte sich Hackert erstaunt und verwünschte die dumme neugierige Stadtjugend, die an dem Portal der Stadt Rom sich anhäufte, um die Affen, die Papageyen, die Windspiele und [2775] die beiden Mohren zu sehen, die schon unter der Kellnerschaft hin und her liefen und von der Lebendigkeit ihres Herrn selbst Trepp auf Trepp ab eskamotirt schienen.

Aber Koketterie konnte Hackert dem neuen Ankömmling doch anhängen. Er will Aufsehen machen, der Hanswurst! sagte er sich und behielt als unverbesserlicher Misanthrop Recht. Mit schlottrigem Gang, einen Gassenhauer pfeifend, wandte er sich dann dem Profoßhause zu.

[2776]
3. Capitel. Ein Rundblick
Drittes Capitel
Ein Rundblick

Vierzehn Tage etwa lebte Hackert in dieser dämmernden Stimmung so fort, ohne ein besonderes Ereigniß. Die große Politik, die bewegt genug war, kümmerte ihn nicht. Die kleinen Aufträge, die ihm Pax ertheilte, führte er mit der ihm eignen lässigen Gedankenlosigkeit aus oder hatte seine Freude daran, andrer Leute Pläne zu durchkreuzen, mit seiner Menschenverachtung andern Unternehmungen in die Zügel zu fallen. Pax schenkte ihm, da er unendlich anschlägiger und scharfsinniger wie Schmelzing war, alles Vertrauen und veranlaßte ihn auch, da er zufällig nach außen hin einen Auftrag zu besorgen hatte, sich öfters auf der Polizei und in den Gerichtshäusern sehen zu lassen, als ihm sonst lieb war.

Eines Abends geschah es, daß Hackert auch die Ankunft jenes von zwei Landjägern und zwei Polizeidienern geleiteten Murray auf dem Profoßamte beobachten konnte. Er erinnerte sich, den Namen auf seiner Liste zu haben. Der Untersuchungsrichter Müller, derselbe, für den einst Hackert den Prinzen Egon gehalten hatte, als er in der Blouse neben ihm und Dankmar im sommerlichen [2777] Walde schritt, empfing den gebückten alten Mann mit der schwarzen Binde im vertraulichsten Tone, den Murray durch Nicken erwiderte. Es ist so gebräuchlich in den Kriminalgefängnissen, daß sich eine schadenfrohe Cordialität zwischen Inquisiten und Richter festsetzt, wo weder der Hohn für die Gerechtigkeit würdig, noch die Vertraulichkeit für die Besserung herzlich wirken kann, sondern jener nur erbittert, diese im Schlimmen bestärkt.

Bald wiedergesehen! Angenehme Reise gemacht!God dam! In No.4 Mullrich! Mylord Murray werden sich bald zurechtfinden.

Mullrich und Kümmerlein schauten nicht wenig stolz um sich und wußten Wunderdinge von ihrer heldenmüthigen Fahrt zu erzählen. Sie bedauerten nur, daß Pax nicht anwesend war und ihnen sogleich die Diäten anwies, die sie redlich verdient hatten.

Müller nahm das Protokoll über die Ereignisse in Hohenberg und dem Forsthause auf und bemerkte:

So sind wir doch nicht vergebens veranlaßt worden, ein Auge auf diesen versteckten, zweideutigen Menschen zu haben.

Hackert hörte die Erzählung der Gerichtsdiener und dachte sich lebhaft in die Gegend hinüber, die er seit dem Sommer so wohl kannte. Er erfuhr den Tod jenes Schmieds, an dessen Werkstätte er zuweilen vorbeigestreift war, ohne seinen Namen zu erfahren, er sah das Forsthaus wieder, dem gegenüber er unter dem Ebereschenbaume im Grase geschlafen hatte. Den Namen[2778] Zeck hörte er in dieser Verbindung zum ersten Male und war erstaunt, in ihm den Namen wiederzufinden, der auf dem Bartuschen abgenommenen Geburtsscheine stand. Doch mochte er sich nicht mit Fragen dazwischen drängen, sondern hielt sich, da Assessor Müller ihm noch in Paxens Namen einige Aufträge zu geben hatte, in bescheidener Ferne von dem Pulte, wo die Landjäger und Gerichtsdiener ihre vorläufigen Aussagen niederlegten.

Hackert sah zum Fenster hinaus in den düstern Hof des unheimlichen Gebäudes, über welchen hin man den ruhig ergebenen Murray in No. 4 abgeführt hatte. Er sah in ihm schon einen Verbrecher, einen Mörder vielleicht und trommelte leise an die bekritzelten Scheiben, an denen schon Mancher gedankenlos wie er gestanden haben mochte und sich in Glas zu verewigen gedachte.

Die Diener der Gerechtigkeit hatten soeben ihre Aussagen beendet, als man auf dem Vorsaal dieser geräumigen Halle lautes Sprechen vernahm. Die Thür wurde aufgerissen und ein junger Mann stürzte mit dem Rufe herein:

Wo ist er? Haben Sie ihn schon abgeführt? Ich beschwöre Sie ...

Aha! riefen die Gerichtsdiener. Da, Herr Assessor! Das ist der Herr, von dem Sie aufgeschrieben haben ...

Was wünschen Sie, Herr Louis Armand? fragte der Assessor Müller den Eingetretenen ruhig und kalt.

Mein Herr, durchbrach dieser mit etwas fremdartigem [2779] Accent jede weitre Bedenklichkeit, Sie haben soeben den Engländer Murray eingebracht als einen ehrlosen Verbrecher ...

Einer Tödtung überwiesen, deren Zeuge Sie waren! sagte Müller.

Sie sehen mich hier, mein Herr, fuhr Louis Armand in leidenschaftlicher Erregung fort, Sie sehen mich hier, die lautre Wahrheit über diesen Vorfall niederzulegen und nichts vom wahren Sachverhalte zu verschweigen. Ich bitte Sie, kann ich Murray nicht sehen?

Sie erleichtern uns, bemerkte lächelnd der Assessor, durch Ihre persönliche Gegenwart die Untersuchung eines sonderbaren Falles. Haben Sie die Güte, uns Ihre Adresse zu nennen! Sie sollen zu rechter Zeit vorgefordert werden. Murray jetzt zu sehen ist nicht möglich.

Ich beschwöre Sie, sagte Louis voll schmerzlicher Theilnahme, leiten Sie die Untersuchung schnell ein! Jede Minute, die ein Unschuldiger schmachtet, muß einem gerechten Richter zur Pein werden.

Sie wohnen vielleicht noch Wallstraße No.13? sagte Müller ruhig und schlau. Sie werden Ihre Citation rechtzeitig empfangen!

Als Louis Armand, erstaunt über die Kenntniß seiner Wohnung, schon gehen wollte, wandte er sich noch einmal und wagte die Frage:

Sagen Sie mir nur, mein Herr, wenn ich es erfahren darf, wie ist es möglich gewesen, daß dieser harmlose, brave Murray von verkleideten Agenten der öffentlichen Sicherheit [2780] verfolgt, in einer allerdings schrecklich geendeten Privatangelegenheit überrascht werden konnte?

Herr Armand, sagte der Untersuchungsrichter, ich bin eigentlich nicht befugt, Ihnen auf diese Frage eine Antwort zu geben. Allein, wenn Sie das Resultat bedenken, eine von diesen Agenten gestörte Mordscene, so werden Sie wohl einsehen, wie begründet die Spürkraft war, die den Oberkommissair Pax bestimmte, gerade dieser Fährte zu folgen und eine verdächtige Persönlichkeit, die Sie, mein Herr, getäuscht zu haben scheint, gründlichst zu beobachten.

Louis Armand überlegte diese Antwort mit nachdenklichem Ernst und entfernte sich langsam, tiefaufseufzend über die unläugbare Kraft der empfangenen Widerlegung.

Als er hinaus war, sagte der Assessor ziemlich laut:

Wenn man ihn nicht des Premierministers wegen schonen müßte ...

Die Polizeidiener und Gensd'armen entfernten sich. Müller schloß sein Bureau und ertheilte Hackerten, der fern am Fenster mit abgewandtem und nur etwas seitwärts lugendem Antlitz die Scene beobachtet hatte, noch einige Aufträge. Dann ließ er auch ihn hinaustreten und schloß den Saal.

Louis Armand, sagte sich Hackert, als er allein war, ist auch Einer von den Rittern vom Geiste, die vielleicht schon auf dem Wege sind, irgend eine große weltverbessernde Thorheit zu begehen! Wer weiß, ob dieser Alte mit der schwarzen Binde mit dem geheim gesponnenen [2781] Menschenbeglückungsplane nicht auch zusammenhängt und mein Versuch, gutmüthig zu sein, als ich sie nicht entdeckte, an ihrer eignen Dummheit scheitert.

Und so kitzelte ihn jetzt wirklich die Lust, doch irgendwo an geeigneter Stelle seine neuliche Entdeckung über eine geheime Verschwörung auszusprechen, daß es des ganzen Gegengewichtes der Betheiligung der Gebrüder Wildungen bedurfte, um ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Er war in seiner schlimmsten Stimmung. Er hatte heute Mittag Melanie neben Paulinen von Harder zu Wagen gesehen, vornehm und stolz auf der Promenade an ihm vorüberfahrend. Der jüngstgefallene Schnee war zwar auf dem Steinpflaster geschmolzen, aber in den Bäumen war er fest geblieben. Gegen dieses frische Weiß der Bäume hob sich Melanie wie die Bürgschaft des ewigen Frühlings. Daß sie ihn sehen, sich abwenden, verächtlich nach einer andern Richtung blicken konnte, erregte ihn so, daß es einen Tag bedurfte, um ihn wieder in das Gleichgewicht seines gewohnten ruhigen Phlegmas zu versetzen. Statt nun irgendwie dem Vorfall im Profoßamte weiter nachzugrübeln oder an den Geburtsschein zu denken, wo der Name Zeck mit dem im Verhör ausgesprochenen gleichlautend war, ging er mismuthig wie fast jeden Abend nach der Anlage vor's Thor, wo Pauline von Harder auch für den Winter wohnte. Da nur das Portal zu sehen, da nur den Lichtschimmer zu beobachten, hinter dem Melanie sich bewegte, war ihm wenigstens eine Zerstreuung und zu Abenteuern reizende Unterhaltung.

[2782] Heute kamen ihm in jener Gegend die beiden kleinen Eisolds mit ihren Zeitungen in den Weg ...

Das Jahrhundert! Extrablatt! Das Jahrhundert! schrieen sie.

Hackert trat hinzu und kaufte das Extrablatt.

Machst gute Geschäfte, Line? fragte er.

Guten Abend, Herr Hackert! sagten die Kinder und gaben ihm ein von Regen und Schnee nasses Exemplar.

Habt ja da noch einen ganzen Bettel! Wieviel Nummern sind das?

Dreißig Stück.

Das Stück einen Groschen? sagte Hackert. Da habt Ihr Eure ganze Auflage bezahlt. Nehmt!

Er gab den staunenden Kindern einen Papierthaler.

Ei, sagten sie, so kommen wir noch zum Punsch nach Hause.

Zum Punsch? Wetter, wird bei Euch Punsch getrunken?

Louise macht Punsch – Karl kommt nach Sieben aus der Fabrik ... Gehen Sie mit in die Brandgasse, Herr Hackert?

Wie kommt Ihr denn zu Punsch? Hat Danebrand Geld vom Meere bekommen?

Nein, sagte Linchen, die viel rascher antwortete als der ältere Wilhelm, der noch immer den Papierthaler staunend betrachtete, Danebrand soll's nicht wissen, aber es gibt Kuchen zu Punsch ... Der fremde Herr brachte Citronen und Zucker und Rum – schon gestern – gestern wollte Louise nicht –

[2783] Der fremde Herr? sagte Hackert erstaunt und mit dem bittersten Ausdruck. Ein fremder Herr? Citronen und Zucker und Rum? Und Danebrand darf's nicht wissen ... Ha! Ha!

Die Kinder erschraken über dies grelle Lachen. Line wurde roth, weil sie Etwas, was ihr nicht im Mindesten spöttisch schien, unrecht berichtet zu haben glaubte.

Was du nur so dumm bist, fiel Wilhelm ernsthafter ein. Danebrand's Geburtstag ist ja heute und er soll's nicht vorher wissen ...

So, so! Und der fremde Herr?

Er war erst zweimal da. Karl weiß, wie er heißt.

Und Louise hoffentlich auch, meinte Hackert ...

Gewiß, sagte Wilhelm. Der Herr will uns Alle mitnehmen ...

Mitnehmen? Alle?

Linchen lachte.

Warum lachst du denn, Line?

Der Herr will die Louise heirathen! sagte Linchen fast verschmitzt und nicht ohne Eitelkeit.

Die Louise? Punsch? Natürlich und zu Danebrand's Geburtstag? Da, guter Danebrand, trink! Stoß an! Hat er Geld, der Fremde?

Eine ganze Börse voll.

Ha! Ha! lachte Hackert. Man denkt, die Menschen sterben mit Denen, die wir kannten, aus, und immer neue kommen. Kinder, betrinkt Euch nicht im Punsch, damit Euch nicht zu bald die Augen zufallen! Thut's dem armen [2784] Danebrand zu Liebe! Schlaft nicht zu früh. Wer wohnt denn jetzt in meiner Stube?

Keiner, aber die Stube wird doch bezahlt –

Doch bezahlt?

Und die andre auch ...

Von wem denn?

Von dem alten Mann, der verreist ist. Er hat ein böses Auge – Herr Murray!

Murray?

Der will nicht die Louise heirathen – der Andre, er hat einen rothen Bart.

Einen rothen Bart! Aber sagtet Ihr nicht Murray?

Der Alte mit der schwarzen Binde heißt Murray. Kommen Sie auch, Herr Hackert? fragte Linchen und faßte Hackert's Hand.

Kind! Schmieg' dich nicht so an die Paletots, auch wenn's friert! Grüße Louisen und sag' ihr, der Alte mit der schwarzen Binde ... nein, sag' ihr nichts. Wenn er die Miethe bezahlt hat ... Hat er sie bezahlt?

Auf ein Vierteljahr im Voraus.

So hat die Bescheerung Zeit bis Weihnachten. Ihr schwimmt obenauf! Macht, daß Ihr nach Hause kommt! Die Pfannenkuchen werden kalt und sagt dem Danebrand nicht etwa, daß er ein Esel ist. Das würde sich nicht schicken, wenn's auch wahr wäre. Gute Nacht, Kinder! Sagt Louisen: Nicht zu viel Citrone an den Punsch! Hört Ihr, Citrone macht Kopfschmerzen!

Die Kinder gaben Hackerten die Hand, dankten noch [2785] für die rasche Beendigung ihres Abendgeschäftes und liefen im Regen und Schnee unter den blendenden Gaslaternen hurtig über die nassen Pflastersteine nach einer festlichen Aussicht, wie ihnen eine solche mit wahrer Paradieseswonne wohl noch nie geboten war.

Punsch!

Wie sie laufen in's Teufels-Elend! rief Hackert hinter ihnen her und schleuderte zornig das Packet Zeitungen in den ersten besten Straßenwinkel. Louise Eisold, die ihm bisher wie das Bild der reinsten Tugend erschienen war, Louise Eisold, die ihm immer gewesen war wie einem vorübergehenden Zweifler eine offene Kirche, Louise Eisold, wo er immer gedacht hatte, die Kirche steht ja da, sie ist ja gleich in der Nähe, wenn die Erleuchtung über dich kommt, sieh im Vorübergehen blinzelnd hinein und warte die Zeit ab, wo du dich für würdig hältst, ihre Schwelle zu betreten! ... Und nun ... Punsch und ein Mann mit rothem Bart! Hackert hatte oft, wenn ihm zu wehmüthig, zu einsam und verlassen zu Muthe war, auf dem Sprunge gestanden, sich zu Louisen zu flüchten. Im Neu- und Vollmond fast immer. Kam der unheimliche Dämon und siedelte sich in seinen Nerven an und trieb ihn, Nachts aufzustehen ohne Bewußtsein, ohne Hüter als Gottes Huld, so riefen tausend innere Stimmen in ihm nach jenem Mädchen, das so viel warme, liebevolle Freundschaft ihm gewidmet hatte und das er floh, weil sie ihm zu tugendhaft und zu wenig schön war. Und nun ... Ha! Die Gourmandise der Kleinen schien ihm schon die [2786] kitzelnde Satanspfote zu sein, die sich auch nach Brandgasse No. 9, dritter Hof zwei Treppen hoch, ausgestreckt hatte. Das schleckert, das kichert! sagte er sich. Diesem Rindvieh, dem Danebrand, drehen sie eine Nase und der Rothbärtige nimmt gleich das ganze Nest aus und zieht sich auch die flügge junge Brut für die Zukunft auf! ... Und nun schmetterte eine Trompete von einem Tanzsalon herüber. Geputzte Mädchen, lockre Bursche schlüpften über den Koth. Hackert folgte und durchraste die Nacht bis zum Morgen.

Als er hohläugig, gliedermatt nach Hause wankte, schlug es fünf Uhr. Er warf sich auf sein Lager, schlief bis gegen elf Uhr, ungestört von der lebhaften Frequenz in Herrn Zipfels »Atelier«. Erst nach elf Uhr pochte Frau Zipfel den Nachtschwärmer aus dem Schlafe.

Herr Hackert! Herr Hackert! rief's durch's Schlüsselloch.

Zum Henker, lassen Sie mich schlafen!

Es ist zu wichtig! Stehen Sie auf!

Hackert entschloß sich, nach langem Bitten aufzustehen; er schlorrte an die Thür, um sie zu öffnen.

Wie staunte er, als er einen feingallonirten Bedienten mit reichen Achselschnüren und Wappenknöpfen vor sich sah, der ihm ein Billet überreichte mit den Worten:

Von Madame Ludmer.

Madame Ludmer! Wer ist Madame Ludmer? Sie irren sich!

Herr Privatschreiber Hackert? bemerkte der Bediente, [2787] in dem wir den Bedienten Ernst der Frau Geheimräthin von Harder erkennen.

Mein Name Das! Ob ich Privatschreiber bin, muß ich den Wohnungsanzeiger befragen.

Mit diesen Worten nahm Hackert und erbrach das an ihn gerichtete Billet, in dem er folgende Zeilen fand:

»Mein sehr geehrter Herr, der Herr Oberkommissair Pax haben für die Zeit seiner längern Abwesenheit von hier die Frau Geheimräthin von Harder versichert, daß Sie sein ganzes Vertrauen besitzen und sich jedem Ihnen gegebenen Auftrage so unterziehen würden, als wenn sie ihn selbst gegeben. Haben Sie die Güte, zum Behuf einer kleinen Kommission sich heute Abend etwa um sieben Uhr im Hause der Frau Geheimräthin von Harder einzufinden und nach der Unterzeichneten zu fragen, die sich ein Vergnügen daraus machen wird, Ihnen das Nähere in dieser Angelegenheit auseinanderzusetzen. Ihre ergebenste Charlotte Ludmer.«

Die Alte hatte diesen Brief sicher nicht ohne Hülfe der Verfasserin von Amarantha und Nadasdi geschrieben ...

Befremdet nickte Hackert, daß er kommen würde.

Der Bediente ging und weidete sich an dem Wohlgefallen, mit dem Frau Zipfel seine reiche Livree bewunderte.

Hackert, den die Aussicht, mit Menschen zusammenzukommen, die in so naher Beziehung zu Melanien standen, in große Spannung versetzte, zog sich fast bewußtlos, wüthend jetzt über die verlorene Nacht, an. Wie hätte er jetzt frisch, lebendig, geweckt sein mögen! Die Aussicht [2788] für den Abend elektrisirte ihn. Er nahm sich vor, schwarzen Kaffee so stark zu trinken, wie er ihm bei Schlurck gemacht wurde, wenn er des Nachts aufbleiben und bei wichtigen Revisionen bis in den frühen Morgen arbeiten sollte ...

Das Billet der Madame Ludmer führt uns in die lange nicht betretene Salonsphäre zurück ... Pauline von Harder erlebte bereits seit länger als vier Wochen das Glück, nach dem sie so lange wie nach einer schon zu entschwindenden drohenden Hoffnung geschmachtet hatte. Ihre Cirkel, glänzender denn je, waren fast jeden Abend wieder geöffnet und der Mittelpunkt der tonangebenden, nun sogar die Welt bewegenden Gesellschaft. Sie war nicht in die »kleinen Cirkel« gedrungen, aber die »kleinen Cirkel« mußten sich vor ihr beugen. Ha, sie hatte die Achse der Welt am Drehgriff! Sie hatte eine Zeitschrift begründet, die man das deutsche Journal des Débats nannte. Sie hatte sich die ganze höhere geistige Agitation zur Verfügung gestellt und beherrschte die öffentliche Meinung um so nachdrücklicher, als sich der in bewunderungswürdigem Fluge emporgestiegene junge Adler, Fürst Egon von Hohenberg, auffallend genug nur bei ihr ausruhte, nur bei ihr die Schwingen senkte, nur bei der Feindin seiner Mutter Frieden und Erholung von seinen kühnen Flügen zu finden schien.

Man wollte das Geheimniß dieser sonderbaren »Allianz« oder dieses warmen Nestchens, wie Pauline sagte, in mancherlei Dingen finden, konnte aber nichts mit völliger [2789] Gewißheit als Beweis seiner Behauptungen anführen. Die Einen sagten: Es wäre die alte Erfahrung von der Anziehungskraft der Gegensätze, während Andre ganz einfach das einflußreiche Organ der Geheimräthin, »Das Jahrhundert«, als den Wegweiser bezeichneten, der den jungen Numa zu dieser schon bejahrten Egeria führte. Man spürte in der Amarantha und dem Nadasdi, den beiden von Frau von Harder herausgegebenen Romanen, ob sich in ihnen politische Blicke fänden und gerade weil sich deren keine entdecken ließen, stieg der Glaube an die politische Sehergabe dieser jedenfalls bedeutenden Frau um so höher. Eine noch menschlichere und jedenfalls physiologischere Auffassung der »Allianz« zwischen Pauline und Egon lag darin, daß man an Paulinen eine große Uneigennützigkeit in Betreff ihrer weiblichen Umgebungen rühmte. Sie war immer von den schönsten Erscheinungen der Mädchen- und Frauenwelt umringt. Man fand darin einen gewissen Zug von Hochherzigkeit; denn nichts ist in dieser Sphäre seltner als die Neigung, sich zur Folie fremder Anmuth zu machen. Allgemein erklärte man einen Bruch zwischen Frau von Trompetta und der Geheimräthin daher, daß jene nicht so sehr an den geänderten politischen Ansichten ihrer Freundin Anstoß nahm – war sie doch vollends seit dem vom Hofe nicht angekauften Gethsemane in die Opposition gegangen und wirkte mit Trotz für die deutsche Flotte – sondern aus der der kleinen runden, gar nicht anspruchslosen Frau fatalen Zumuthung, sich mit einer Menge junger [2790] hübscher Mädchen und Frauen in einem und demselben Salon bewegen zu sollen. Von Pauline von Harder war bekannt, daß sie nur noch eine elegante, phantastische Toilette liebte, mit Heinrichson, dem nach Verkauf seiner Leda nach Rom verschollenen Maler, gleichsam die Grenzlinie ihrer Herzenswallfahrt bezeichnete und jetzt nur noch den Gedanken, den Systemen, den Begebenheiten lebte. Sie gefiel sich, das entdeckten sogar die Spötter schon, in der Vorstellung einer geheimen Rathgeberin eines der merkwürdigsten jungen Genies, das plötzlich an dem politischen Horizonte aufblitzte. Nur darüber stritt man: Sucht Egon wirklich ihren Verstand oder ihre Intrigue oder sucht er nur die schönen Frauen, die Paulinen umgeben, diese schalkhafte kleine Gräfin von Wachendorf mit den hochgezogenen schwarzen Augenbrauen, die wie zwei musikalische Fermatenzeichen aussahen, diese schlanke Baronin von Spitz, die mit einem englischen Profil eine französische Lebhaftigkeit verband und eine Offenheit des Blickes besaß, die jeden noch so gefaßten Weltmann bei ihrer ersten Frage aus dem Gleichgewicht bringen konnte, oder fesselte ihn die einer altdeutschen Madonna ähnliche Frau von Landskrona, die nicht viel Geist besitzen sollte, aber mit ihrem etwas röthlichblonden Haare und ihrer blendendweißen Haut und der fast zu starkgeformten Brust den Reiz einer Rubens'schen Schönheit darstellte? Auch Fräulein von Flottwitz war Paulinen, seit so schroffe Oppositionsmänner wie Major von Werdeck, nicht mehr bei ihr angetroffen wurden, [2791] treu geblieben und konnte für Die, welche mehr dem Aschenblond zugethan sind, noch anmuthig wirken. Alle überstrahlte aber die reizende Melanie Schlurck, zwar eine Bürgerliche, aber eine Ausnahme von der Regel, die sich von selbst verstand. Hier entschied die künstlerische Hand der Natur. Hier entschieden Witz und Laune. Die Lücken, die hier der fehlende Adel ließ, konnten nicht bemerkt werden; denn Melanie räumte sie selber nicht ein. Sie war stolz wie eine Gräfin. Nie kam ihr bei, vor den schwarzen Augenbrauenfermaten der Gräfin von Wachendorf, nie vor dem englischen Profil der Baronin Spitz, vor dem altdeutschen Madonnenblick der Frau von Landskrona zu erschrecken; was sollte sie gar erst vor Titeln und Namen zittern? Wenn sie durch die Flügelthür rauschte, wehte es einher, wie wenn eine Königin kam und man mußte es Paulinen zum Ruhme nachsagen, sie stützte, sie hob diesen Eindruck, sie ließ Melanie nie ohne Umgebung, sie wußte ihren Schützling zu placiren. Sie war gegen Alle nur tolerant, gegen Melanie zuvorkommend. Ihr Kuß auf die kleine Stirn des Mädchens, ein sanfter Strich auf ihr glänzendes Haar gab ihr die Weihe, doch in diesen Räumen die Erste zu sein. Und Das, was Pauline etwa unterlassen hätte, ergänzte Egon, der Fürst, der Premierminister, der große Staatsmann, der zwar niemals lange in diesen Gesellschaften blieb, wenn sie allgemein waren, bald verschwand – man sagte, ohne sich indessen aus dem Hause zu entfernen – dieser und jener Schönheit artig war, aber nur über Melanie hin jene [2792] träumerisch sinnenden Blicke entsandte, in denen so viel verschwiegene Huldigung, so viel verborgene Traulichkeit schlummert. Er sprach mit der schönen Baronin von Spitz oft lebhafter, mit der verschämten Frau von Landskrona oft länger als mit Melanie. Aber jedes scharfe Auge errieth, daß er nicht nöthig hatte, sich an Melanie erst im Salon anzuschmiegen. Er sah sie viel öfter in dem kleinern Kreise der Geheimräthin, und ohne Zweifel viel vertraulicher.

Wie sich die uns bereits bekannten großen politischen Wagnisse des Prinzen Egon von Hohenberg in diesem Hause seiner Freundin ausnahmen, wie sie hier widerhallten, kann man sich vorstellen. Das war ein Lärmen, ein Fahren, ein Treppauf, Treppab, ein Thürenschlagen, ein Klingeln, ein Geschwirr ... Es ging jetzt so lebhaft in der Villa her, daß man den Entschluß des Geheimraths, seine eigne nicht minder unruhig gewordene Existenz ganz in das in der innern Stadt gelegene alte Wohnhaus der Marschalks zu verpflanzen, billigen mußte. Herr von Harder war der Intendant des königlichen Hoftheaters geworden. Se. Excellenz hatten sich dadurch einem ganz neuen Studium zu widmen, bei dem sie möglichst wünschen mußten ungestört zu sein. Er, der die Einsamkeit der königlichen Gärten bisher geliebt hatte und nur begleitet vom Inspektor Mangold zuweilen hier und dort die Schloßkastellane und Hofgärtner überraschte, auch er war jetzt in den Strom der lebendigsten und rauschendsten Thätigkeit geworfen. Dichter, Künstler, das Publikum nahmen ihn in [2793] Anspruch. Und was mußt' er studiren, lesen, prüfen, denken! Und auch für Paulinen wäre dieser an sich unter andern Verhältnissen ihr ganz angenehme, aber jetzt störende, gemeine Verkehr von Nachfragenden, Bittenden, Widersetzlichen und was sonst zur Bühnenpraxis gehört, unerträglich gewesen. Jetzt ließ sie ihren Gemahl gern in die Stadt ziehen, wo er ungestört, wie er sagte, »Dich terstücke« lesen und junge Schauspielerinnen und Sängerinnen »prüfen« konnte.

Befreit von der Nähe eines beschränkten und zuweilen eigensinnigen Mannes, erfaßt von dem Wirbelwinde der Begebenheiten, denen sie sich nicht ohne Grund einbilden konnte, eine Form mit aufdrücken zu helfen, hätte Pauline von Harder jetzt alle Ursache gehabt, sich nach ihren Bedürfnissen glücklich zu fühlen, wenn nicht immer noch ihr Herz, das sich nicht ganz zur Ruhe geben wollte, peinliche Erfahrungen gemacht hätte. Dieser Heinrichson, wie undankbar, wie treulos! Sie verlangte so wenig von dem bei allen Weltdamen beliebten, witzigen, in der Kunstwelt geachteten Manne! Er sollte ihr nichts als eine Art von beflissener Aufmerksamkeit widmen! Er konnte neben ihr vielleicht eine Grisette lieben; ein Verhältniß wie mit jener Auguste Ludmer war ihr im höchsten Grade gleichgültig; allein sich einer Dame aus der großen Welt geopfert sehen, wie ihr das mit der »an ihrem Busen genährten« wie sie es nannte, treulosen Helene d'Azimont geschah, Das erschütterte sie tief. Von dem Tage an, wo Heinrichson, uneingedenk der vielen Freundlichkeiten, [2794] die sie ihm gewidmet, ihrer Protektion, der Beförderung seiner Gemälde, ja der kritischen Abhandlungen, die sie ihm für einige Kunstblätter schrieb, sie zu vernachlässigen schien und immer und immer nur bei Helene d'Azimont angetroffen wurde, die ihrerseits in ihrer Liebe zu Egon ihr nicht mehr wahr und überzeugend erschien, sondern nur noch die Stimmungen der verletzten Eitelkeit, die Verzweiflung über den Bruch für Liebe auszugeben schien: seitdem hatte sie mit Anstrengung ihrem Herzen Schweigen gebieten müssen und im Vollgenuß der übrigen Freuden, die ihr, wie sie sagte, »das Schicksal schenkte«, im Vollgenuß der ausströmenden Wirksamkeit, des weltbewegenden Einflusses, den sie üben konnte, sich entschlossen, für den Freund, den der sonderbarste Zufall ihr schenkte, für Egon nun auch nur rein mütterlich zu empfinden. Der Kampf war gewaltig genug! Als Heinrichson seine Leda verkauft hatte und ihr eines Tages sagte: Pauline, ich verlasse Sie! und sie die Frage, ob er nach Italien ginge, mit Ja! beantwortet hatte, fuhren noch tausend spitze Messer, wie sie späterhin der Ludmer erzählte, in das Herz der »fünfzigjährigen«, aller Zärtlichkeit längst entrückten Frau. Gehen Sie, hatte sie gesagt, gehen Sie, Heinrichson, nehmen Sie mit dem Reste vorlieb, den Egon stehen ließ! Widersprechen Sie nicht! Sie folgen Helene! Ich kenne Das. Ich kenne diese Verzweiflung einer Frau, die erst Mitleid, dann Trost, dann Rache will! Helene wird Egon noch oft zeigen, daß man sie nicht ungestraft verläßt und daß man um ihretwillen noch Alles [2795] vergessen kann, auch Ihnen, Heinrichson, wird sie es zeigen! Auch Ihr Roman wird mit dieser Liebes- und Gefühlsschwelgerin einst vorüber sein! Hüten Sie sich nur, Ihr Auge auf das schöne Kind zu werfen, das im verblendeten Wahne mit Helenen ihrer Mutter entflohen ist! Sie finden nicht sobald eine Pauline wieder, die nur weint, wenn ihr Geliebter treulos scheidet! Sie könnten einmal doch noch bei irgend einer verrathenen Frau jenen Dolch finden, den alle Ihre Bonmots nicht pariren! ... Noch mehr aber, als diese flüchtigeren Schmerzen drückte die Geheimräthin die seit einiger Zeit sonderbarerweise Alles schwarzsehende Laune der Charlotte Ludmer. Sie, die sonst immer zur Heiterkeit stachelte, keine Gefahr anerkannte, jedes Wagniß ebnete, sie sah jetzt Gespenster und erschreckte ihre langjährige Freundin mit Visionen. Gespenster und Visionen waren die Worte der Geheimräthin. Die Ludmer sprach von Wirklichkeiten und schilderte die Aussicht noch manches heraufsteigenden Verdrusses mit einer Umständlichkeit, daß ihr Pauline einmal sagte: Ich weiß es, Charlotte, du magst nicht leiden, daß ich wieder an die Öffentlichkeit appellirte! Du warst die hartnäckigste Gegnerin meiner kurzen, schriftstellerischen Laufbahn! Du hast Freude empfunden über jede Bitterkeit, die ich auf ihr erfahren mußte! Du gönntest mir die Demüthigungen der Kritik, als Nadasdi erschien und hast erreicht, daß ich mehr deinen Wünschen, als diesen Impertinenzen nachgab und die Feder niederlegte. Gegen den Ankauf des »Jahrhunderts« hast du alle [2796] erdenklichen Gründe vorgebracht und kannst noch jetzt z.B. diesen Stromer nicht sehen, weil du glaubst, ein allerdings im Leben unbeholfener, komischer, eitler, unerzogener Mann, den aber, wenn er schreibt, Alle bewundern, hätte mich zu diesem Ankaufe veranlaßt. Die Beziehung zu Egon, so überraschend und unerwartet, misbilligst du, auch meine Theilnahme für Melanie, die mich erheitert und für die ich fühle, wie für eine Tochter – ja, Charlotte, je älter ich werde, desto schönre Keime entdeck' ich in meinem Herzen. Laß sie mich doch pflegen! Mit den Jahren sollen ja aus uns Engel wachsen, sagte Stromer neulich. Glaube doch nicht, daß meine gesellschaftliche Stellung darunter leidet, daß ich mich an den großen Fragen der Zeit betheilige! Weißt du wohl, Charlotte, daß du immer aristokratischer warst als ich und mir hundertmal die Etikette vorhieltest, wo meine verschmachtende Seele nur nach Freiheit rief?

Die Ludmer hatte bei dieser Erörterung zur Antwort gegriesgrämelt und »gebrummkatert«. Sie war offenbar tiefverstimmt, die gute Frau. Sie sah zuviel neue Menschen im Hause. Diese weltbewegenden Abende griffen sie an. Die Entfernung des Geheimraths, mit dem sie gern plauderte wie mit Ihresgleichen, that ihr zu leid. Der gute Geheimrath! Die besten muntersten Bedienten des Hauses nahm er mit sich in die Stadt. Sie hätte weit lieber gehabt, die Geheimräthin hätte sich an der »Komödie« betheiligt und wäre, wie manche Intendantin, die Regentin des Hoftheaters geworden. Da hätte sie doch für ihre [2797] alten Tage eine Zerstreuung, eine Erholung gehabt. Sie lachte gern, sie sah gern tanzen, liebte lustige, rauschende Musik und wer weiß, ob sie nicht für die ökonomischen Ersparnisse der Verwaltung neue Gesichtspunkte über Sammt- und Seidenstoffe, Brennholz und Beleuchtung hätte aufstellen können. Alle diese Neigungen theilte nun die große Semiramis, Pauline nicht. Die wollte die Welt umformen! Die wollte mit dem Hebel ihres Einflusses die Erde aus dem Gleichgewichte bringen! Die Verächter des Nadasdi sollten sagen: Welch' ein Weib! Die Oberhofmeisterin von Altenwyl, diese »Cerberus« der »kleinen Cirkel« sollte eingestehen, daß in Pauline von Harder eine große, wenn nicht »immense«, doch endlos »extensive Seele« verborgen läge und der Hof selbst sollte fühlen, daß er nichts wäre, wenn nicht ein Verstand wie der ihrige für sein Wohl dächte und wachte. Sie war zu tief gekränkt, zu oft zurückgesetzt, zu sehr in ihrem innersten Sein von jener romantisch-sentimentalen Richtung, in der die Königin lebte, verletzt worden, daß sie ihr jetzt nicht hätte zeigen mögen, was denn doch noch in einer solchen »verlornen Seele« wie die ihrige, lebe, glühe und wirke. Pauline las mit Gier alles Jüngste und Neueste; den Kosmos, die Zeitbrochüren, die Schriften über Physiologie, Phrenologie, Alles was nur auf-ogie endete, die Schriften über Volkswohl, Gewerbe, sogar über Freihandel. In solchem Bildungsdrange waren ihr die Klagen der Ludmer lästig. Sie bat sie, ihre Nerven zu schonen. Sie überließ ihr zu thun und zu lassen was sie wolle. Sie berief sich auf [2798] das Bild, welches die Memoiren der Fürstin Amanda an ihren Sohn enthalten hatte, um zu beweisen, daß sie wohl wisse, wann es Zeit zum Handeln wäre; für jetzt verfolge Charlotte nur Schatten und gefalle sich in Träumereien.

So war Pauline von Harder gestimmt an jenem Tage, für dessen Abend die Ludmer Fritz Hackert zu sich berufen hatte. Sie hatte wieder Entdeckungen gemacht, über die sie um jeden Preis erst mit ihrer Gebieterin Rücksprache nehmen wollte; aber diese horche Dem, was sie erzählte, nur halb zu; denn sie glaubte Egon's Wagen zu hören. Er war es auch. Es war die Livree des jungen Fürsten, die sie mit ihm gemeinschaftlich verbessert, neu gemodelt, neu gezeichnet hatte. Aber der Wagen fuhr ja an ihrem Hause vorüber und hielt ... drüben bei der noch immer in Büchsenschußweite von ihr entfernt wohnenden Fürstin Wäsämskoi? ... Sie erschrak darüber nicht. Ist Das der Besuch, sagte sie, den Egon schon längst bei der grillenhaften Frau macht, die sich seit der Flucht ihrer Tochter und der Ankunft ihres abenteuerlichen Schwiegersohnes vor Niemanden mehr sehen läßt? In der That kehrte auch Egon's Wagen sogleich zurück. Die Fürstin Wäsämskoi hatte ihn nicht angenommen oder war nicht zu Hause oder war bei Tische, wie sie eigentlich selbst. Es waren eigenthümliche Diners, die Pauline seit einiger Zeit veranstaltete. Sie bestanden aus einer kleinen gedeckten Tafel mit zwei Couverts in ihrem gelben ostensiblen Boudoir. Ein Nebentisch diente zum Anrichten. Eine große weißbrennende, geschliffene Krystalllampe [2799] stand auf der kleinen gedeckten Tafel, deren Gläser, damastne Decken, Porzellanteller und silberne Bestecks einen traulichen Anblick boten. Die im weißen Porzellanofen prasselnde Flamme, die Decken im Zimmer, die gleichmäßig schlagende Stutzuhr, alles Das erhöhte die Stimmung und um nichts zu vergessen, was den Beiden, die hier zu essen pflegten, den Genuß werthmachen konnte, erwähnen wir noch den im Eiskühler schon frierenden Champagner ... So fast täglich, so auch heute ... Die Ludmer entfernte sich und erhielt den Auftrag, daß sie die am Abend erwartete Gesellschaft in den großen Sälen empfangen sollte. Schritte hallten. Der ohne Anmeldung eintretende Fürst Egon küßte Paulinen die Hand und warf sich ohne Weiteres sogleich auf die weichen gelbseidenen Kissen des Sophas. Er benahm sich als wär' er zu Hause und Pauline war glücklich, den Allgefeierten bei sich zu haben, ihn hegen, ihn pflegen zu können wie seine Mutter.

[2800]
4. Capitel. Der neue Lykurg
Viertes Capitel
Der neue Lykurg

Sie waren bei der Fürstin Wäsämskoi, Egon? begann Pauline und lauschte behutsam auf die Stimmung ihres geliebten jungen Freundes, der in schwarzem Frack und weißer Halsbinde zwar erschöpft, fast leidend, aber mit der ihm eignen Würde und Haltung an seiner gewohnten Stelle saß und sich langsam die Handschuhe auszog.

Ich hielt es für meine Pflicht, einmal wenigstens meine Karte abzugeben, sagte er mit fast tonloser Stimme, heiser, angegriffen. Rudhard ist so aufmerksam gegen mich, besucht mich, wenn er nur eine Minute erübrigen kann –

Sind Das aber auch immer die Minuten, die grade Sie frei haben? Belästigt Sie der Mann nicht?

Die Geheimräthin strich mit der Hand des Fürsten Stirn. Sie erschrak über seine Abspannung.

Ich höre Rudhard gern. Es gibt mir Muth, meinen weiland Lehrer, den ich so hochachte, mit mir in Übereinstimmung zu wissen.

Die Geheimräthin wagte, um den Fürsten zu zerstreuen, an persönliche Angelegenheiten zu erinnern, ob [2801] Olga geschrieben hätte, ob Helene wirklich in Italien wäre, ob Heinrichson sich ihnen schon angeschlossen hätte ... Rudhard spräche darüber nicht, sagte Egon und erwähnte Dystra, der Aufsehen mache durch seine Sonderbarkeiten. Es wäre ein sittlicher Polytheist, ein Ideen-Gourmand, wie er sie nicht leiden könne diese Allesschmecker und Nichtsverdauer. Bären, Affen und Hunde sind, wie ich höre, ihm lieber als die Menschen. Er sollte die Bekanntschaft Ihres Schwiegerpapas suchen, den die Menschen in seiner juristischen Praxis so anwiderten, daß er zuletzt weniger daran verzweifelte, Hunde und Katzen auszusöhnen, als die Leidenschaften unsrer Race.

Kommen Sie zu Tisch, Egon! sagte die Geheimräthin, erschreckend über die tonlose, fast krächzende, trockne Stimme des Staatsmannes, der heute viel geredet zu haben schien. Sie sind ermüdet! Stärken Sie sich an meinen kleinen Mahlzeiten, die Sie noch diesen Winter liebgewinnen sollen. Wenn Sie erschöpft sind von der Politik, Egon, wenn das Ceremoniell des Hofes, ja Ihres eignen Hauses Ihnen selbst die Freuden der Tafel verleidet, so kommen Sie zu mir! Pauline servirt ihrem Freunde eine kleine, verschwiegene, stille, trauliche Existenz! Die Ludmer ist eine Künstlerin in der Sphäre Vatel's: Harder's einz'ge Region, in der man sich auf einige Kenntnisse von ihm verlassen kann, ist sein Keller ... kommen Sie, Egon!

Die Bedienten brachten Austern, Caviar, geröstete Brotschnitte ...

Als sie gingen, sagte Egon lächelnd und sich am Tische, [2802] wo er Paulinen gegenüber Platz genommen, mit lassen Händen selbst bedienend:

Mais à deux? Wer versprach denn –?

Ich schrieb Melanie und lud sie ein, sagte Pauline, ohne im Mindesten die Mienen zu einem Lächeln oder einem Spotte zu verziehen, sondern wie im Drange des aufrichtigsten Bedauerns, daß ihr die Lösung einer sehr ernsten Aufgabe nicht gelungen; ich schrieb Melanie und lud sie ein. Sie wird erst den Abend kommen. Zu diesem Diner nicht, die Gründe soll ich mündlich hören.

Ohne spröde zu sein, weiß sie doch gut zu rechnen, sagte Egon lächelnd. Sie fürchtet die Vertraulichkeit eines solchen kleinen Mahles à la Régence.

Die Bedienten hinderten eine weitre Erörterung dieses Themas. Sie schenkten Madeira ein und boten dem sonderbaren, sich hier gegenüber sitzenden Paare davon in zierlichen kleinen geschliffenen Gläsern.

Nachdem kam eine fast überkräftige Suppe und überhaupt ein so ausgesuchtes, gewähltes Diner, daß wir die einzelnen Gänge ebenso wie die Unterbrechungen durch die Diener mit Stillschweigen übergehen können. Das Gespräch, das sich in den Zwischenpausen frei ergehen konnte, kam etwa auf folgende Äußerungen hinaus:

Ich habe darüber nachgedacht, sagte Egon mit träumerischem Sinnen, worin ich eigentlich den Zauber dieses reizenden Mädchens finden soll. Der Glanz ihrer Schönheit scheint dauerhaft, er wird nicht zu bald erblinden. Aber selbst eine ewige Schönheit wäre in dem Falle etwas [2803] Vorübergehendes, wenn die Schönheit nur ihrer Schönheit allein bewußt wäre. Ich finde Das so liebenswürdig an Melanie, daß sie sich mit einer Leichtigkeit gibt, als wäre sie nur lachend, nur graziös, nur munter. Sie macht kein steifes Wesen von ihrer Schönheit. Zuletzt ein gewisser gutmüthiger Zug, eine gewisse ...

Nennen Sie's nur grade zu, sagte Pauline, wie es ist. Melanie gefällt Ihnen deshalb so sehr, Egon, weil sie bequem ist.

Bequem? Ja, theure Pauline, fast glaub' ich, daß Sie das rechte Wort sagen. Wenn man so wie ich Jahre lang die Liebe behandelt hat wie die erste Aufgabe unsres Lebens, wenn man Frauen gefunden hat, die, indem sie Liebe gewährten, unsern ganzen Menschen dafür in Anspruch nahmen und verbrauchten, so lernt man ein Wesen schätzen, das keine Gefühlswühlerin ist, keine Gedankengrüblerin, keine heimliche, versteckte, sondern eine offne, gutmüthig ihre Schwächen eingestehende Kokette. Ich weiß wahrlich, das Kapital, das am Ende ein Weib zu vergeben hat, ist sehr klein und allen Frauen liegt daran, daß sich die Sage von der unendlichen Größe ihrer Schätze erhält. Man lobt und preist die Dichter, die Frauenliebe als etwas Unendliches und einem im tiefsten Grunde des Meeres zu suchenden Schatze nur Vergleichbares darstellen. Lieber Himmel, Das ist eine Verabredung unter diesen Phantasten! Die Angelegenheit, um die es sich zwischen Männern und Frauen handelt, ist eine so außerordentlich einfache und ich gestehe Ihnen, ich bewundere [2804] und schätze grade die Natürlichkeit, die diese Wahrheit eingesteht.

Pauline lächelte und betrachtete sich jetzt erst genauer ihr Tête-à-Tête. Egon war seit vierzehn Tagen Staatsminister, dirigirender Chef des Landes; er hatte die Kammern entlassen und große energische Grundsätze ausgesprochen. Er saß nun da so einfach vor ihr, derselbe Mann, der alle Gedanken in Anspruch nahm, alle Leidenschaften beschäftigte. Er aß an ihrem kleinen Tisch, erholte sich bei ihr von seiner auch äußerlich schon sichtbaren Erschöpfung! Wie fühlte sie Das nach! Wie machte sie diese Erholung glücklich! Egon war hoch, schlank, wie immer, seine Gesichtszüge edel und fein, seine Haltung fürstlich, seine Kleidung zwar noch durch keinen Stern geziert, aber doch wie die eines Hofmannes. Wie blaß aber die Mienen des Antlitzes! Wie hoch die Stirn, der oben und zu beiden Seiten Morgens die Haare in Büscheln entfielen! Wie zuckten die Lippen so spöttisch! Wie krampfhaft gereizt waren seine Bewegungen, wenn er nach einer Schüssel griff! Wie bitter der Humor, wenn er den kleinen Schnurrbart mit der Serviette reinigend und ein Glas Eremitage an die Lippen bringend, sagte:

Ah, Pauline! Dieser süße Genuß, doch wenigstens etwas zu wissen, was fest steht und gewiß bleibt! Dieser feurige Burgunder ist die einzige feste Thatsache, die ich seit lange unter den Händen gehabt habe. Was hab' ich Schwankendes gesehen und was gleitet mir nicht alle Tage flüssig und unhaltbar durch die Finger! Diese vierzehn [2805] Tage, wie reich an Hoffnungen, wie gesegnet an Täuschungen! Sehen Sie, auch Das ist an Melanie schön. Man weiß, was man an ihr besitzt. Sie ist eitel und gesteht es. Sie will gefallen und sagt es. Sie verräth uns, daß sie sich mir nur unter großen Bedingungen ergeben könne. Auch diese Offenheit lernt man schätzen, wenn man wie ich in der Lage ist, nichts, nichts mehr mühelos aufzufinden! O Gott, Pauline, wie oft mocht' ich schon in diesen vierzehn Tagen mit dem Kopf an die Wand rennen! Nichts ist mühelos, die einfachste Erörterung nicht! Bei Gott, es verstehen mich nur drei oder vier Menschen, der König, die Königin, Sie und Melanie –

Waren Sie heute mit dem Hofe zufrieden? Mit dem Monarchen immer, mit seinen Umgebungen niemals. Diese Menschen fragen nach jedem Begriff, was er bedeute, nach jeder Maßregel, was sie nützen oder schaden könne. Dem Monarchen sagt' ich: Ich ehre die Monarchie. Der Fürstin: Ich ehre die Sitte – nun verstehen mich doch diese Beide, in allen Fragen wissen sie, daß ich ihr Bestes will. Aber die Andern!

Die Sitte? bemerkte Pauline lächelnd und befahl den Bedienten, jetzt schon den Champagner zu öffnen. Als eingeschenkt war und die Diener sich entfernt hatten, sagte Egon:

Warum zweifeln Sie an meiner Sittlichkeit?

Pauline schwieg, warf ungläubig die Lippen auf, Egon aber fuhr fort:

Ist Das unsittlich, daß ich hier Ihnen gegenüber mein [2806] Mittagsmahl nehme und mich glücklich fühle, irgendwo einen Ort zu haben, wo ich mich ausruhen darf und wo man mir die Ruhe gönnt?

Pauline reichte ihm fast gerührt die Hand über den Tisch ...

Geben Sie mir nicht die Hand, Pauline! sagte Egon, sie sanft zurücklehnend. Ich verdiene es vielleicht nicht um Sie, denn gestern Abend, als in den kleinen Cirkeln von Ihnen die Rede war –

Von mir?

Und nicht in den freundlichsten Andeutungen –

In der That?

Was erwarteten Sie wol von mir?

Daß Sie mich vertheidigten.

Ich that es, aber mit Waffen, die Sie vielleicht misbilligen.

Nennen Sie sie!

Ich nehme Anstand ...

Ich muß Alles hören, was man in den kleinen Cirkeln von mir gesprochen hat. Also?

Nun denn, Pauline! Ich nannte Sie alt. Ich sagte ferner, Sie hätten das edle Bedürfniß, sich mit dem Sohne einer Mutter, mit der Sie verfeindet waren, auszusöhnen und ich schätzte an Ihnen diese Reue und liebte, da ich keine Mutter mehr besäße, Sie als die Stellvertreterin derselben. Nicht wahr, Das war eine sehr liebevolle Impertinenz?

Paulinen zuckten in der That die Nerven. Sie war denn [2807] doch von einer so heroischen Aufrichtigkeit zu sehr überrascht. Sie stand allerdings schon an dem Scheidewege, sich eine Matrone zu nennen. Aber hindrängen mußte man sie darauf so schroff nicht, so jäh und abschüssig nicht.

Sind Sie mir böse? fragte Egon.

Die Geheimräthin faßte sich erst allmälig, biß sich die Lippen und sagte dann lächelnd:

Warum sollt' ich? Sie haben Recht, ich bin alt. Im Übrigen glaub' ich, daß Sie ganz gut thun, den Jargon dieser kleinen Cirkel zu sprechen, wenn Sie doch einmal an ihnen Theil nehmen müssen und Jemanden dort nützen wollen.

Ich muß, um Doppelpolitik zu hintertreiben.

Dann wünscht' ich aber doch, fuhr Pauline noch etwas gereizt fort, die Gräfin Altenwyl käme einmal auf Melanie Schlurck zu sprechen und früge den tugendhaften jungen Premier, den Abgott aller pietistischen Hofdamen, wie er verantworte, seit dem Tage, wo er eine berühmte junge Kokette auf dem Wege nach Solitüde zu Pferde gesehen, sich sogleich in sie zu verlieben und bei der chère Maman Pauline von Harder, täglich nach einem Rendezvous, nach einemTête-à-Tête mit ihr zu schmachten?

Die Bedienten brachten eben ein aus den vollendetsten Herbstfrüchten bestehendes Dessert. Als sie fort waren, sagte Egon, eine Melone pfeffernd:

Bitt're Wahrheit! Unser Magen verdaut das Süßeste nicht, wenn wir es nicht durch die Vernunft unterstützen. Ich gebe Ihnen das heilige Versprechen, daß ich auch in [2808] Betreff Melanie's auf jenem Tugendpfade bleiben werde, den Sie belächeln, Freundin! Der Verhältnisse, Sie wissen, was das Wort bezeichnet, bin ich überdrüssig. Ich habe mit einer Grisette wie in der Ehe gelebt und habe Lust, Liebe, Leid im reichsten Maaße genossen. Ich hatte dann eine zweite Ehe. Ich bedarf, ich seh' es wohl, der Frauen ...

Pauline drohte ihm schalkhaft; denn Egon that, als wäre sie seine dritte Ehe.

In der That, fuhr er fort, wenn ich meinen kleinen Roman mit Melanie fortsetzen sollte, würd' ich in die Lage kommen können, sie zu heirathen –

Prinz, welche Thorheit! rief Pauline und sprang auf. Fürst Egon von Hohenberg wird Melanie Schlurck, die Tochter eines in seinen Vermögensverhältnissen, wie es scheint, zerrütteten Advokaten, die ehemalige Verlobte eines Stallmeisters nicht zur Fürstin erheben!

Fürst von Hohenberg! sagte Egon bitter. Wiederholen Sie dies Wort, seit wir die Denkwürdigkeiten meiner Mutter lasen, noch mit so würdevollem Nachdruck?

Welche Sorge! entgegnete Pauline mit einem eignen Anflug von triumphirender Überlegenheit. Sie sind trotz der puritanischen Buße, die sich Ihre Mutter glaubte auferlegen zu müssen, der Sohn des Fürsten Waldemar von Hohenberg und werden den Glanz Ihres Namens nicht erlöschen lassen –

Doch! Doch! Pauline! erwiderte Egon sehr ernst und trübe. Wenn ich Minister bleibe und mir Melanie sich als [2809] Bedürfniß so erhält, wie sie es zu meinem Entsetzen schon geworden ist, so werd' ich sie heirathen müssen.

Unglaublich!

Dann gut! Ich will Melanie nicht mehr sehen, nur Sie, Pauline, nur mit Ihnen will ich reden, mit Ihnen debattiren, diniren; aber diese jungen Schönheiten, die Sie um sich versammeln, diese reizenden Gestalten entfernen Sie! Ich kann mich nicht mehr an diese vorübergehenden Irrthümer, an die eitlen Naivetäten, an die sentimentalen Koketterieen preisgeben oder ich wähle ein Weib und Sie haben Recht, ich habe allerdings Ursache, eine aus den höchsten Ständen zu suchen.

Man räumte die Tische hinweg. Egon nahm auf dem Sopha Platz und stützte das Haupt auf.

Sie sind heute wieder einmal ein Grillenfänger, begann Pauline von Harder und fuhr dem jungen Fürsten durch die Locken, von denen sie bemerkte, sie würden ihm immer lichter werden, wenn er so seinem Trübsinn nachgäbe und dem Beispiele einer Mutter folge, die ihm ihr selbstquälerisches Temperament vererbt zu haben schiene.

Ach, sagte Egon, welch' ein drückendes Gefühl bleibt es doch, so an sich selbst nicht mehr glauben zu dürfen und sich als ein Andrer zu wissen, als der man von den Menschen genommen wird! Seit ich die Denkwürdigkeiten meiner Mutter las, ist mein Innerstes zerstört. Diese verblendete, von der Leidenschaft der Wahrheit bis zur Grausamkeit hingerissene Frau! Um Buße zu thun, um ihre Reue zu bekennen, um ihren Sohn zur Nachfolge [2810] Christi, zur Demuth zu bewegen, muthet sie ihm für sein ganzes Leben eine Lüge zu, einen Betrug gegen sich selbst und die Welt!

Man brachte den Kaffee. Pauline winkte den Bedienten, die an rasches Serviren gewöhnt waren, sich zu entfernen.

Lassen Sie diese Erinnerungen! sagte die nächst der Ludmer einzige Mitwisserin des Geheimnisses, daß Egon nicht der Sohn des Feldmarschalls von Hohenberg war. Es gibt nur ein Wesen, das in die Geschichte der Verirrungen Ihrer Mutter eingeweiht ist –

Verirrungen! griff Egon träumerisch das Wort auf. Als ich die Denkwürdigkeiten meiner Mutter las, fühlt' ich, sie kommen, so grausam sie für mich sind, doch von einer andern Welt als der, wo wir irren. Pauline, ich hätte Sie damals tödten können, weil Sie sich mit so verschlagner List diesen Besitz aneigneten –

Erlaubte Selbsthülfe, Prinz!

Nein, fuhr Egon gesteigerter fort, ich segnete Sie schon nachher selbst in meinem Schmerz. Ich war zu Thränen gerührt, als Blatt für Blatt diese Geständnisse aufflogen und ich in den Grund eines das Unmögliche suchenden, verzweifelnd ringenden Herzens blickte. Ach, als ich heute die Altenwyl in bequemer Behaglichkeit so albern religiös sich gebehrden sah, so sicher in ihrem Christenthum, wie eine Predigthörerin im bequemen Kirchenstuhl, als man mir zumuthete, die Erbschaft der Johanniter getrost der Stadt zu überlassen und den vom vorigen Ministerium begonnenen Prozeß zu Gunsten [2811] einer pietistisch-jesuitischen Coterie – die ich klar durchschaue – fallen zu lassen, wie ging mir da beim Anhören dieses Nebelns und Schwebelns kindisch bornirter Gemüthsgründe das Bild meiner Mutter auf! Wer ist unter Euch, der mich einer Sünde ziehe, so konnte sie sagen solchen absolut Tugendhaften gegenüber! Sie, die sich, um sich ganz verachtet zu machen, sich ganz zu entkleiden, ganz zu stäupen und zu demüthigen, selbst anklagte, sie, die keine gleißnerische Falte in ihrem Leben dulden wollte und in mir dieselbe Demuth, dieselbe Entsagung und Gottergebung durch irgend einen großen Entschluß wirken wollte! Ich hatte sie gekränkt von Kindesbeinen an ...

Aber, Egon! So entschuldigen Sie diese Mutter? rief Pauline. Sie konnte Jedem ihren Fehltritt, der mich damals namenlos unglücklich machte, beichten, warum Ihnen? Sie hat Ihre Ruhe vergiftet, sie hat Ihnen den Glauben an sich selbst genommen ...

Denken Sie sich in diese Verirrung nicht hinein! unterbrach Egon. Sie verstehen diesen Trieb nach Wahrheit und diese Auffoderung zur Demuth nicht!

Ich finde in der Manie der Wahrheit keine Tugend mehr.

Sie wollte mit keiner Lüge aus der Welt gehen! Sie wollte ganz zerknirscht sein, ganz gedemüthigt vor den Menschen und vor mir, dem sie die Grenze des Selbstgefühls wies! Einmal flammte noch die Angst in ihr auf. Sie schrieb an Rudhard, er sollte ihre Geständnisse prüfen ...

[2812] Ihren Namen, den Namen Ihres Vaters schänden!

Nein! Nein! Pauline! Wenn die Todte Das sähe! Ich sitze auf den schwellenden Polstern ihrer Feindin!

Was ist Ihnen, Prinz?

Als ich diese Denkwürdigkeiten, die unter Thränen geschrieben wurden, las, dankte ich dem Zufall, daß sie Rudhard, der Ansprüche darauf machte, nicht erst gelesen. Sie allein kennen sie. Sie allein, Pauline, wissen, daß die junge Gräfin Hohenberg ihre erste Freiheit von einem brutalen, rohen, sinnlichen, gewöhnlichen Gatten, dem berühmten Krieger, zu einer Badereise benutzt und in dem Jubel einer endlich einmal erlösten Existenz, in dieser Freiheit von vier Wochen so schwach war, den Schmeicheleien eines liebenswürdigen jungen Mannes nachzugeben, den auch eine Kette band, auch ein Schicksal drückte ...

Sie sind so grausam wie Ihre Mutter!

Vergeben Sie, Pauline, ich muß es mir oft vorführen, um es von einer Mutter verstehen zu können. Ich möchte von Heinrich Rodewald, meinem wahren Vater, eine gute Vorstellung haben. Die Mutter schildert ihn wie einen Gott. Aber die Erinnerung mag verschönert haben. Ist es doch ein Frühlingshauch, der über diesen Blättern weht! Welche Seligkeit, wie sie ihre Freiheit in der Landecker Badereise schildert! Die erste Freiheit! Der erste Strahl des erwachenden Selbstbewußtseins! Sonst Nacht, sonst Nebel, Qual täglich, Pflicht stündlich, nur Sklaverei! Und nun dieser erste Lichtstrahl! Und wen verklärt [2813] er? Einen Rodewald! Sagen Sie, verdiente er dies Entzücken?

Sie sind sein Ebenbild!

Besaß er seltnen Geist?

Mehr den Geist der Entwickelung als den der Synthese.

Mehr Denker also als dichterisch. Die Frauen lieben die Analyse. Ach, ich sehe Das! Pauline von Ried ist krank, elend, sie badet, um zu genesen. Ihr Freund und Verehrer begleitet indessen stündlich Paulinen's Jugendfreundin, findet Gefallen an der reizenden jungen Frau, die in Wonne schwelgt über einen Kieselstein aus dem Bache, über eine Blume, einen Käfer. Sie denkt, das Alles wäre der Zauber einer Badereise; da müsse man einsaugen für das ganze Leben, jeden Grashalm genießen, jedes Vögelchen bewundern, aus allen Schnüren und Bändern die trunkene Seele erlösen. Und dieser junge Schwärmer sagt ihr, daß er von Pauline von Ried sich trennen müsse, um zu leben, sie quäle ihn, sie morde ihn ...

Ha! Wie verwandt sind Sie ihm! Ja, ja, Das ist die Sprache eines Don Juan, der kein andres Mittel, Amanda von Hohenberg zu bethören, wußte, als Das, mich herabzusetzen!

Egon lächelte und sprach fast in sich hinein: Heinrich Rodewald ist wie ich. Er konnte also das Glück nicht ertragen! Ha, ha, Euer Glück! Das Glück, Euch und Eure Liebe zu besitzen. Und Amanda, die glaubt, die liebt zum ersten Male, die jubelt, einen Mann gefunden zu haben, der ihr eine edlere Vorstellung von unserm Geschlechte [2814] einflößt als jener rohe, mit Orden behangene Landsknecht! Sie beschließen eine Trennung von dem damaligen Grafen von Hohenberg. Rodewald, ein Gelehrter, schien ihr der reinsten Gegenliebe würdig. Sie scheidet von dem Badeorte, voll edelster Vorsätze –

Falsch, heimtückisch gegen ihre Freundin –

Aber wahr gegen meinen Vater und wahr gegen den Grafen, ihren Gatten. Amanda kommt nach Hohenberg -eben im Begriff, dem General ihre ganze Schuld einzugestehen, den Beistand eines Rechtsfreundes zu einer legitimen Trennung anzurufen, das Band, das sie an Rodewald knüpfte, kirchlich einsegnen zu lassen ... fällt dem zerrütteten Finanzwesen des großen Kriegers jene halbe Million der österreichischen ausgestorbenen Linie unsres Hauses zu! Sie stockt nun. Nicht aus Gefallen am Glanze für sich, sondern aus Erwägung, Rücksicht, aus Liebe zu dem Kinde, das sie unter'm Herzen trägt. Verlorne Stunden bei guten Vorsätzen sind verlorne Tage, verlorne Tage da verlorne Jahre. Mistrauen gegen Rodewald ergreift sie. Sie sieht ihn wieder. Wieder faßt sie neues Vertrauen. Wieder will sie sich dem General entdecken, wieder von ihm die Einwilligung zu einer Trennung begehren, will wieder wahr sein, tugendhaft, wenigstens bereuend, da erhebt der Monarch seinen Liebling in den Fürstenstand. Fürst Waldemar von Hohenberg! Das Kind, das sie unter'm Herzen trägt, nun ein Fürst: reich und ein Fürst! Ein Kampf der Rücksichten! Gegensatz auf Gegensatz! Die Mutterliebe streitet mit der Liebe zu Rodewald, die[2815] Furcht, die Besorgniß übermannen sie. Die Entschließung verzögert sich. Der Augenblick des Geständnisses wird verschoben, verschoben die Möglichkeit einer Ehrenrettung vor der Welt und endlich ganz versäumt. Die Fürstin Amanda, damals noch weltlich, noch flatternd wie ein Schmetterling, denkt an die Zukunft ihres Kindes, träumt, daß es eine glänzende, glückliche sein könnte, und auch Rodewald ... nicht wahr, er ist an seine Kette zurückgekehrt?

Nein, Sie Grausamer! unterbrach Pauline den vor sich hinstarrenden und diese Geständnisse nur kurz so ausstoßenden Egon. Nein, zurückgekehrt an ein Sterbebett! Ich war dem Tode nahe ... Ich erfuhr von Rodewald's Untreue, aber ich glaubte nicht. Ich wollte nicht glauben. Noch jetzt, Egon, wenn nicht Heinrich's Auge, seine Stirn, sein Gang, sein eigenstes Wesen sich in Ihnen abspiegelte ...

In der That? bemerkte Egon seufzend und richtete das Haupt zu Paulinen auf, indem er sagte:

Wie bin ich doch gefangen, Pauline! Der stolze, ehrgeizige, weltstürmende, weltschirmende Egon hat eine Meisterin über sich, die ihm, wie Sie einmal sagten, die Hölle werden könnte!

Sie sind der Sohn Ihres Vaters!

Bastard von Hohenberg! Wie mich Das schüttelte! Wie mich Das eingeengt hat! Wie bin ich sogleich stolzer, eitler geworden, als in meiner Natur liegen durfte. Ich hatte sogleich einen stillen Mahner in mir, den ich nicht [2816] anders betäuben konnte als durch Luxus und adlige Anmaßung. Die Wahrheit der Legitimität, die in der Form, im Zugeständnisse liegt, hab' ich erst jetzt verstanden, jetzt erst gewürdigt. Ja, die Thatsachen entscheiden, nicht die Untersuchungen. Von dem Tage an, wo ich erfahren mußte, daß ich nicht des Fürsten echter Sohn bin, hab' ich den Fürsten, meinen scheinbaren Vater, angefangen beinahe hochzuehren, beinahe liebzugewinnen, bin den Spuren seiner rohen Bildung fast mit Interesse gefolgt: Ich war Fürst mit Leib und Seele, des Fürsten echter Sohn im Geiste. Wie räthselhaft ist doch Alles im menschlichen Gemüth!

Wenn diese Geständnisse Ihrer Mutter, sagte Pauline, bewirkt haben, daß Sie Ihres Standes und Berufes eingedenk wurden, unpassende Freunde und Genossen aus Ihrem Umgange entfernten, Ihre Stellung behaupteten, so haben Sie mehr erreicht, als Amanda beabsichtigte –

Ich bin reif in ein Kloster zu gehen oder den Propheten zu spielen und die Welt in Flammen zu setzen um meines Glaubens willen ...

Geben Sie mir die Hand, Egon! Seien Sie besonnen! Was verdank' ich Ihnen nicht? Sie erquicken mein verschmachtendes Gemüth, Sie stillen noch einmal den Durst eines verzweifelnden Gefühles der Nichtbefriedigung! Wie leb' ich mit Ihnen! Wie folg' ich Ihrer großen, bewunderungswürdigen Bahn! Wie sonn' ich mich in Ihrem Glanze! Diese Leidenschaften, die mich sonst darüber unglücklich gemacht haben würden, daß ich in Ihnen [2817] die Züge Heinrich Rodewald's wiederfand, schlummern nun ... Wie können Sie von einer Hölle reden!

Egon schwieg, blickte nieder und sagte zuletzt träumend:

Wo mag mein Vater jetzt weilen? Lebt er wol noch? Wer ist das junge Mädchen gewesen, das Sie, Pauline von Ried, ihm selber gaben, um zu verhindern, daß er zur verhaßten Amanda zurückkehrte? ...

Wie treu Ihr Gedächtniß ist, Egon! Sie müssen diese Blätter oft lesen!

Ja, Pauline, sagte Egon gerührt, ich lese sie oft, sie sind ein Gedicht. Sie sind die Bekenntnisse einer wirklich schönen Seele. Ein junges, unerzogenes Mädchen, dumpf hinlebend, verheirathet, weil sie schön war, ohne Vermögen, ohne viel Bildung, ohne viel Lebensansprüche, nun gequält und die Qual ihres Looses für das allgemeine Frauenloos nehmend ... Da endlich jene Reise nach Landeck! Die Stelle, wo die Mutter mir schreibt, daß sie von Heinrich Rodewald zum ersten Male auf den Schlag der Nachtigall wäre aufmerksam gemacht worden, les' ich täglich; denn ich kann sie auswendig. »Philomele scheidet nun, sagte Heinrich und auch wir werden uns trennen! Unbekanntes Land, das uns die Sängerin des Haines birgt, bis sie wiederkehrt! Ach, wir kennen unsre Heimat, wir kennen das Land unsres Winters, aber wir werden uns nicht wiedersehen.« Pauline, diese Denkwürdigkeiten ... ich lese sie oft; sie stärken, sie erheben mich. Ich begreife jetzt, warum sich meine Mutter zuletzt in die Fluten einer [2818] ungewöhnlichen Andacht warf. Sie wollte nicht blos die Sünde, sie wollte auch das nur einmal blühende Lebensglück vergessen. Sie wollte vergessen, wie die Erde so schön ist! Und gestehen Sie, waren Sie nicht erstaunt, daß ich nicht beschämt sage, als Sie auch nicht ein Wort der Anklage, nicht eines des vernichtenden Vorwurfes für Sie in jenen Papieren entdeckten?

Pauline schwieg finster; denn fremde Güte drückt ... Über die Lösung des Knotens, fuhr Egon fort, fand ich nichts als die Worte: »Pauline erkrankte aufs Neue. In dem Glauben, sie würde ihrem Übel erliegen, in der Voraussetzung, mein Geliebtester würde schonungsvoll und edel meine Schwäche verzeihen und sich zu mir, der Treulosen, die dem Reichthum und Glanz ihres Kindes zu Liebe ihren Schwur brach und Alle, Alle betrog, in Vergebung zurückkehren, gewann sie eine junge, liebenswürdige, kindliche Anverwandte und bestimmte sie zu Rodewald's künftiger Gattin. Ich habe nichts mehr von Beiden, die sich wirklich verheiratheten und diese Länder verließen, gehört, nichts mehr hören mögen, ich wandte mich bald, da ich an dem Fürsten den gehofften Halt verlor, zu dem einzigen Hort des Lebens, dem Tröster aller Leiden, unserm Herrn und Heiland, der mir Gnade widerfahren ließ, aber auch stündlich zuruft: Demuth und Kreuz auf Erden ist allein Erhöhung zum Himmel!«

Pauline runzelte die düstren Augenbrauen. Dies ernste Gespräch kam ihr zu unerwartet. Es weckte zuviel der [2819] schmerzlichsten Erinnerungen aus vergangnen Tagen. Sie wollte der Gegenwart leben, den Augenblick genießen. Sie haßte alle Rück- und alle Vorblicke, sie floh die Reflexion und behauptete, Egon hätte eine verdrießliche Erfahrung gehabt und wäre nicht aufrichtig gegen sie.

Sie haben ein Rencontre mit dem Herrn Voland gehabt, sagte sie. Ich weiß es, daß Sie ihn ungern in den »kleinen Cirkeln« sehen und ihm nicht verzeihen können, daß er das von Ihnen ihm dargebotene Portefeuille ausschlug. Die Beamten intriguiren? Die Provinzialpräfekten? Nicht?

Egon schwieg. Er wollte nicht antworten. Er weilte in den Erinnerungen seiner Mutter. Man brachte ihm hierher Briefe, Zeitungen. Er sah sie noch nicht an. Pauline kannte seine ernste Natur und mußte ihn schonen, um ihn nicht zu erzürnen. Sie las in den Blättern. Dann und wann ließ sie eine Bemerkung fallen, eine Notiz laut werden. Egon antwortete einsylbig. Erst als Pauline leise ging, aus einem Kästchen an ihrem Schreibtisch eine Cigarre mit Grazie hervorzog, sie über dem Cylinder der Lampe behutsam anzündete und mit wirklicher Anmuth sie dem Träumenden entgegenhielt, lächelte er, stand auf, nahm die dargebotene Licenz, sich es hier so bequem wie in seinem Hause zu machen, entgegen und wurde mit der ersten Wolke, die er hinausblies in das erwärmte, behagliche stille Gemach von dem Drucke, der auf seinem Herzen lastete, befreit.

Was bringen die Blätter? sagte er. Was fragten Sie[2820] mich vorhin über General Voland? Oder von Rochus vom Westen, dem Gesandten? Oder dem Präsidenten von Flottwitz? Sprachen Sie nicht?

Er war zur Gegenwart zurückgekehrt.

[2821]
5. Capitel. Die Hintertreppen
Fünftes Capitel
Die Hintertreppen

Die Geheimräthin fragte zuvörderst, wie der berühmte General sich zu ihm stelle.

Egon antwortete:

Ich weiß jetzt, warum General Voland von der Hahnenfeder sich scheute, in mein Ministerium einzutreten. Ich habe Entdeckungen gemacht, die mich bestimmen werden, den Hof vor diesem unklaren Charakter zu warnen. Entsinnen Sie sich jenes Professors Rafflard, der sich an Helenen so geflissentlich anschloß?

Die Geheimräthin bemerkte, daß sie von Helenen selbst erfahren hätte, dieser Rafflard wäre ein Jesuit.

Helene, sagte Egon, war leichtgläubig, ein Spielball jeder Schmeichelei. Sie hatte von Rafflard Beweise seiner Intriguen genugsam in Paris erfahren. Sie wußte, daß ich alle Ursache zu haben glaubte, mich von ihm gehaßt zu wissen. Dennoch nahm sie ihn auf. Und warum? Weil er ihr sagte, sie hätte die zartesten Hände und das weichste Herz. Helene ist das Opfer dieser Unfähigkeit, irgend einem freundlichen Worte zu widerstehen. Ich finde Das unter allen Umständen liebenswürdig, aber nicht unter jedem Umstande charakterfest.

[2822] Rafflard soll in Verzweiflung über Helenen's Abreise sein, bemerkte Pauline. Der gute d'Azimont schrieb mir, daß seine Mutter dem Jesuiten den Auftrag gegeben hätte, zu Gunsten seines Vermögens, das der Mutter und durch sie anderweitigen frommen Stiftungen anheimfallen solle, eine Scheidung zwischen ihm und Helenen zu veranlassen.

Deshalb dieser Eifer, mich mit Helenen zu versöhnen! Deshalb diese Leidenschaft, die mich zu einer Ehe zwingen wollte! Ich werde Helenen nie vergessen. Wo mir etwas Sanftes, Zärtliches, Weiches, Hingebendes Bedürfniß ist, werd' ich an Helene d'Azimont denken. Aber sie hatte den Fehler aller Frauen, für Liebe einen ganzen Menschen zu verlangen und nur da praktischen Charakter zu zeigen, wo man ihr nicht huldigte.

Egon gerieth immer in Feuer, wenn er gegen Helenen sprechen und weibliche Schwächen analysiren konnte ...

Sie sind blasirt, Egon, sagte die Geheimräthin lächelnd. Und seit ich weiß, daß Ihnen Rafflard so früh den Casanova zu lesen gab ...

Pauline hatte ein Bedürfniß, diese peinliche Unterhaltung heitrer zu modeln. Sie verschmähte dazu selbst ein frivoles Mittel nicht. Und Egon sagte:

Rafflard legte den Grund meiner ersten Leiden. Er pflanzte früh in die Seele des Knaben verbotene Vorstellungen und lehrte mich Ekel und Überdruß an den Freuden, die Andre beglücken. Diesem Schändlichen jetzt sagen zu dürfen: Sie verlassen dies Land binnen dreimalvierundzwanzig [2823] Stunden, gewährt mir eine große Genugthuung!

In der That? Wollen Sie Das?

Er kann Helenen folgen nach Turin, Rom, Paris, wohin er will. Ich habe die sprechendsten Beweise, unwiderlegliche Anzeigen, daß er hier im Interesse der Hierarchie zu wirken suchte und Sie würden erstaunt sein, wenn Sie wüßten, wer ihm Vertrauen geschenkt hat.

Rafflard bewegte sich zuletzt in den höchsten Cirkeln ...

Es fehlte wenig, daß er in die »kleinen« kam und eine Vorlesung über isolirte Gefängnisse hielt.

Diese wunderliche Hofromantik kommt noch einst in die Lage, Heilige anzubeten, auf deren Reversseite sich Lovelace präsentirt. Wie komisch ist doch dies Jagen nach dem Aparten, Exclusiven! Glauben Sie aber, daß General Voland –

Ich glaube nicht, daß dieser kluge Mann irgendwie sich an untergeordnete Emissaire preisgibt, aber ich weiß, daß das Terrain für den Jesuitismus bei haltlosen, in allen Widersprüchen der Zeit hin- und herschwankenden Naturen gar nicht so ungünstig ist. Selbst aus dem Schooße der Freimaurerei, die sonst eine geschworne Feindin Loyola's ist, hat sich wieder ein päpstliches Autoritätswesen entwickelt, ganz wie im vorigen Jahrhundert ...

Jetzt versteh' ich den Artikel, den Stromer vorgestern im »Jahrhundert« lieferte.

Er verfaßte ihn nach meinen Angaben und ich beobachtete [2824] die Wirkung desselben in den »kleinen Cirkeln«.

O erzählen Sie!

Als ich eintrat, fühlte ich an einer gewissen Stille in dem kleinen traulichen Zimmer, daß ich selbst eben der Gegenstand des Gespräches gewesen war. General Voland steckte eben eine Zeitung ein, die er ohne Zweifel vorgelesen und glossirt hatte. Prinz Ottokar, ein Gegner des Generals, stand auf und sagte mit lautem Nachdruck, indem er mir die Hand reichte: Prinz Hohenberg, Sie haben Recht, daß Sie unklare Schleicher abfertigen lassen! Als er gegangen war, sprach ich mich auf's Entschiedenste gegen die geheimen Gesellschaften aus ...

Zitterte da die Altenwyl nicht für unsern geliebten Reubund?

Wohl! Man kam wieder mit all dem romantischen Geflimmer, dem ich nun- und nimmermehr das Wort reden werde. Dies Liebäugeln mit dem Mittelalter hat den modernen Staat in seiner monarchischkonservativen Form fast zur Unmöglichkeit discreditirt. Ich ließ die Altenwyl, die gutgeschulten Kammerherren, einige gottselige Präsidenten, die Hofmagier und Zeichendeuter alle reden, was sie wollten über diese Nothwendigkeit des Anschlusses gleichgestimmter Gemüther und was sonst für die Geschichte der Kreuzzüge und des Peter von Amiens Brauchbares vorgebracht wurde, und war zuletzt so frei, den General Voland über seine Meinung wegen der Jesuiten zu fragen. Die Königin, etwas gereizt, warf sogleich [2825] die Äußerung dazwischen, daß der General katholisch wäre. Der König in seinem scheuen Zartgefühl, in seiner Befangenheit vor allen extremen Meinungen brach diese Debatte durch ein Album ab, dessen Blätter er mir vorlegte. Es waren ...

Doch nicht die Zeichnungen des Gethsemane? fragte Pauline.

O nein, sagte Egon lachend. Frau von Trompetta ist ja seit ihrer Sammlung für die deutsche Flotte so in Ungnade gefallen, daß Frau von Altenwyl sie kürzlich schon eine der gefährlichsten Hochverrätherinnen nannte, die man nur ihrer frommen Verwandten wegen schonen würde.

Pauline mußte über diese Anschuldigung der Frau von Trompetta in Lachen ausbrechen.

Nein, fuhr Egon fort, jenes Album war eine Siegel-und Wappensammlung, die General Voland seit Jahren geordnet hat ...

Man sieht, daß wir im Frieden leben und uns nur zum Schein manchmal auf den Krieg berufen!

Ich mag etwas Ähnliches in meinen Mienen geäußert haben; denn mein Interesse an diesen bunten Malereien war sehr gering. Die Königin hob viele der in den Wappen enthaltenen Wahlsprüche hervor. Besonders gefielen ihr die provenzalischen, die General Arnheim gut übersetzen konnte. Ich litt, zu sehen, welchen Ideen und Beschäftigungen man bei Hofe in dieser Zeit nachgeht. Man betrachtet Siegel und treibt Wappenkunde! Man läßt sich [2826] erzählen, wie die Alten Glas brannten und wodurch besonders das glühende Rubin der gemalten Fensterscheiben gewonnen wird! Man sammelt Autographen und liest die Schriften über »innre Mission«, die zu Hamburg in der »Agentur des rauhen Hauses« erscheinen. Der König, gegängelt von den Frauen, hat die Liebhaberei des Allwissens und schlägt, da seine eignen großen Kenntnisse doch immer noch nicht ausreichen, die noch größern des Generals Voland auf. Ruhig gibt dieser seine Antworten, immer positiv, immer wie sich von selbst verstehend. Wir andern Menschen machen doch zuweilen einen Fehler, wir wissen doch zuweilen auch so gut wie nichts, allein der General ist unerschütterlich. Er ist ein Orakel und die Königin würde, wenn er behauptete, er zähle wie Graf St.-Germain bereits hundert Jahre, es unbedingt glauben und diesen Glauben dem Gemahl zu einem Beichtartikel, zu einer unumstößlichen Thatsache machen. Da ich Beweise in Händen habe, daß General Voland mit Rafflard und einem andern Krypto-Jesuiten vertrauten Verkehr getrieben, so zitterte ich vor Ungeduld und hätte diese Wappen, diese Siegel, diese Autographen, diese Miniaturen vom Tische hinunterwerfen mögen, allein ich mußte mich beherrschen. Die Rede kam auf die verschiedenen Formen des heiligen Kreuzes. Die Kenntnisse des Generals waren unerschöpflich. Er beschrieb zu großer Rührung der Altenwyl die Form des Kreuzes, wie sie von der heiligen Helena aus Jerusalem zuerst überbracht war. Er verfolgte die Geschichte dieser Formationen mit der [2827] Gründlichkeit eines Cuvier, der über die Erdrinde und ihre Revolutionen spricht. Er nahm einen Bleistift und malte das Kreuz nach allen seinen abend- und morgenländischen Metamorphosen. Die Kreuzzüge, die Ritterorden, die Klostergeschichte, bei allen brachte er das ecce signum in andrer Form und erläuterte die Symbolik, alle Veränderungen und Ausschmückungen jener ursprünglichen beiden geschälten Holzstämme, an die ich von Herzen glaube, mit wahrer Salbung und einer Rührung für die Gemeinde, als wenn es sich um die Leidensgeschichte der Menschheit handelte. Ungeduldig beschleunigte ich diese Orgelei und sprach plötzlich von dem protestantischen Johanniterkreuze, das sich in unsern Gegenden fände, nicht aber in dem alten Magistratsgebäude, nicht in den kleinen Zellen des Rathskellers, deren obere Wölbungen noch mit dem alten Kreuze geschmückt wären, dessen Enden in dem Drei-Kleeblatt ausliefen ...

Pauline fragte erstaunt, was es mit dieser von Egon so scharf hervorgehobenen Anspielung für eine Bewandniß hätte?

Sie hätten des Generals fragenden, starren Blick sehen sollen, fuhr Egon fort, als ich eine Örtlichkeit erwähnte, an welcher er jüngst mit Rafflard Ansichten über den Weltlauf austauschte, die ich wörtlich vor mir liegen habe! Sein Auge hob sich. Die große breite Stirn verlor alle mystischen Runzeln. Der dünne spärliche Bart auf der Oberlippe schien mir zu zittern. Welch' ein Glück für ihn, daß die Königin diese Erwähnung des Rathhauses zur [2828] Veranlassung nahm, auf den Prozeß der Gebrüder Wildungen zu kommen und mir Vorwürfe machte, daß ich diesen Prozeß vom abgetretenen Ministerium wieder aufgenommen hätte –

Pauline schaltete hier die Bemerkung ein:

Aufrichtig, Egon! Man ist allgemein darüber erstaunt. Man weiß, daß Ihnen die Wildungen befreundet sind.

Egon zuckte die Achseln.

Ich habe mir, sagte er, vom Justizrath Schlurck, der die Sache der Stadt führt, die Akten dieses Prozesses kommen lassen und kann mich von den Ansprüchen, die Dankmar Wildungen so leidenschaftlich und im unbesonnensten Eifer geltendmachen will, nicht überzeugen. Noch weniger aber kann ich jetzt, wo ich auch den protestantischen Kirchenpapst, Propst Gelbsattel, durchschaut habe –

Pauline erfuhr von Egon unter dem Siegel der Verschwiegenheit, daß Gelbsattel, Voland und Rafflard in einem Austausch eigenthümlicher Ideen von der Polizei belauscht worden waren –

Noch weniger, fuhr Egon fort, kann ich jetzt ruhig zusehen, daß diese oppositionellen Elemente ihre Kraft aus dem Eigenthum des Staates selber schöpfen. Es thut mir leid, Melanie's Vater zum zweiten Male kränken und verkürzen zu müssen, aber seine Deduktionen für die Ansprüche der Kommune genügen mir nicht. Die zweite Instanz wird von unserm Staatsanwalte mit Eifer betrieben und vor der Revision dieses Prozesses beim Obertribunal [2829] ist mir dann, wenn auch diese zweite Instanz zu unsern Gunsten spricht, nicht mehr bange.

Die Bedienten meldeten, daß die Ludmer oben in den Salons bereits empfange und dringend bäte, sie abzulösen ...

Pauline wünschte aber das Ende der Verhandlung in den »kleinen Cirkeln« zu hören ...

Egon stand auf und sagte:

Das Ende besteht in der gesteigerten Erkenntniß, daß ich einen außerordentlich schweren Stand habe. Auf der einen Seite eine tollkühne Demokratie, auf der andern Seite eine gefährliche Romantik, die ohne Thatkraft ist. Mit meiner nüchternen Genfer Doktrin zwischen Beiden stehend, bin ich fast wie im Traume in die Lage gekommen, einen großen Staat von der Gefahr atomistischer Auflösung zu retten. Ich habe keinen andern Bundsgenossen, als die materielle Existenz der Gesellschaft und die gesunde Vernunft der guten Bürger. Jeder, der Demagoge, wie der Monarchist, ist angesteckt von Träumereien, die im Staate etwas Andres suchen als die Garantie der Ordnung, der guten Sitten und jener leidvoll-freudvollen Existenz, wie Klärchen in Egmont singt. Ja! Ich bin auch ein solcher Egmont zwischen den Alba's und den Vansen's unsrer Zeit und mein Klärchen will ich jetzt in Ihrem Salon suchen. Kommen Sie, verehrte Freundin, vergeben Sie meine Launen! Eine halbe Stunde unter Ihren Damen und dann zur Arbeit bis nach Mitternacht!

Pauline mochte noch nicht folgen. Bewegung einer Art [2830] Rührung, des tiefsten Interesses und noch eine Menge Fragen hielten sie zurück. Sie erwähnte noch einmal die Erbschaft, an der Egon's Freunde betheiligt waren und fragte nach diesen, nach Louis Armand, der von Hohenberg zurückgekehrt wäre, nach den Nachrichten, die er über Ackermann eingeholt hätte ...

Es sind die günstigsten, sagte Egon. Ich sprach Louis nur einige Minuten. Er ist früher gekommen, als ich wünschte. Auch Dankmar Wildungen, mein Doppelgänger, ist da, in tiefer Trauer. Er hat seine Mutter verloren. So gern ich ihn schonen wollte, mußte ich ihm sagen, daß ich gegen seine Interessen auftreten würde. Er lächelte mit Bitterkeit. Ich finde diesen Freund gereizt über meine politische Entwickelung, von Louis nicht zu reden, den ich sogar warnen muß, sich von signalisirten Persönlichkeiten fern zu halten. Glauben Sie mir, Pauline, ich bedarf meiner ganzen gesammelten Kraft, um den Rücksichten nach allen Seiten hin nicht zu erliegen. Diese Freunde, die ich liebgewann, weichen in ihren Meinungen von mir ab. Sie verstehen eine Position nicht, die ihre bestimmten Pflichten hat. Mit einer so nachgiebigen Natur wie Siegbert Wildungen würd' ich mich verständigen. Mit Dankmar, seinem Bruder, nie. Ich bot ihm eine Stellung in meinem Kabinet. Er hat sie ausgeschlagen und mir aufrichtig, weil ich ihn um Aufrichtigkeit bat, die Misbilligung meines ganzen Systems ausgesprochen. Ich habe ihm nur mit einem Seufzer antworten können und ihn vielleicht für immer entlassen. Louis vollends ist ein Schwärmer. Er [2831] muß nach Frankreich zurück. Die Erinnerungen, die sich an ihn knüpfen, hemmen meine Bahn und Gott ist mein Zeuge, ich will etwas Fruchtbringendes, Festes, Großes, mag ich nun mit meinem Werke stehen oder selber mit seinen Trümmern fallen.

Eben hatte Egon diese mit feierlichem Ernst und mit dem ganzen Nachdruck eines sich selbst vertrauenden starken Willens gesprochenen Worte beendet, als es draußen an der Thür rauschte, raschelte, klopfte.

Herein! rief Pauline, die schon merkte, wer die »Fledermaus« war ...

Es war Melanie, die muthwillig hereinsprang und mit einer Neckerei den jungen Fürsten begrüßte.

Ist es erlaubt, sagte sie, ihre sich bauschenden Kleider hinterwärts zurückstreifend, die schöne Frau von Spitz so lange warten zu lassen, bis Durchlaucht die Staatsgeschäfte in ihren blauen Augen vergessen?

In braunen Augen nur vergess' ich meine Pflichten, Melanie! erwiderte Egon und wollte die schlanke Hüfte umfassen und das schöne Mädchen an sich ziehen.

Himmel! sagte Melanie. Da fällt ein durchlauchtigstes Haar auf meine Schulter. Helfen Sie mir es suchen, Geheimräthin! Ich sammle diesen Herbst, um der Gräfin Wachendorf einen geheimen Brochenschmuck daraus flechten zu lassen.

Melanie! seufzte Egon. Spotten Sie nicht über einen Menschen, der seit drei Wochen täglich nur fünf Stunden geschlafen hat!

[2832] Aber nicht Opium nimmt! Hören Sie, Prinz! Man erzählt Das! Um Gotteswillen nicht!

Melanie sprach diese Bitte mit wirklicher Theilnahme und ging auf Egon, dem sie entflohen war, freundlich zu.

Wie bemitleid' ich Sie! sagte sie fast traulich zu ihm.

Wär' ich so jung und schön, wie Sie! warf Pauline dazwischen und hielt ihre Hand fest, so würd' ich Mitleiden mit diesen umflorten müden Augenlidern haben und sie küssen.

Ein solches Wort konnte nur möglich sein bei einer schon weitgediehenen Vertraulichkeit.

Wenn Sie die Augen schließen wollen! sagte Melanie, berühr' ich sie mit meinen Handschuhen. Ich hörte immer, das Handschuhleder der Frauen magnetisirt.

Egon schloß die Augen. Melanie näherte sich leise und hauchte die Lider mit ihrem Athem an. Egon merkte die Nähe des schönen Mundes. Er wollte Melanie im trunknen Taumel haschen, aber sie entfloh ihm. Er ergriff seinen Hut um sie zu verfolgen. So huschten Beide fort und erst auf der Emporstiege nahmen sie einen gemessenen, vernünftigen Schritt ...

Pauline aber machte etwas Toilette. Sie gestand sich, daß sie ein großes Glück genoß. Ein junger, liebenswürdiger, von aller Welt bewunderter Mann war ihr seit der Entdeckung, daß er nicht den Fürsten Waldemar von Hohenberg, sondern einen Unbekannten, Namens Heinrich Rodewald, zum wahren Vater hatte, zugethan wie ein Sohn, zuweilen wie ein Gefangener. Sie schloß ihn wirklich [2833] in ihr Herz, das jener enthusiastischen Einseitigkeit, die man nach Rudhard's Theorie Liebe nennt, im höchsten Grade fähig war. Sie schloß ihn da mit aller Vorliebe um so inniger ein, als sie, wie wir gesehen haben, fast spielend, wie im Scherz durch Egon über die wichtigsten Ereignisse des Staates in Kenntniß gesetzt wurde und sich endlich in jenem Zusammenhange mit ihrer Epoche fühlte, den sie so lange vergebens erstrebt hatte. Es war ein hoher triumphirender Stolz, mit dem sie ihre Gemächer verließ, um hinaufzusteigen in ihre wie es schien heute mehr als je gefüllten, jetzt gegen früher sehr veränderten Salons, die wir diesmal nur vom Standpunkte eines nur mittelbar zu ihnen Eingeladenen von der Hintertreppe aus belauschen wollen ...

Ein Theil der Gesellschaft war schon versammelt, als Fritz Hackert, der an ihn ergangenen Aufforderung gemäß, sich in dem Hotel der Geheimräthin von Harder einstellte ...

Schon hielten einige Wagen vor der Thür. Er erkannte die Livree des Fürsten und einiger andrer vor nehmen Besucher, die einstweilen von der Ludmer empfangen wurden ...

Als er eine Hintertreppe emporgestiegen und in einen mit Decken belegten und von Glaskugeln mit milchweißem Lichte erleuchteten Korridor getreten war, gab man ihm den Bescheid, daß er erwartet würde, sich aber einige Zeit gedulden müsse, bis Madame Ludmer zu sprechen wäre. Man wies ihn in derselben Etage, wo die [2834] Gesellschaft sich versammelte, in ein hinteres Zimmer und stellte ihm ein Wachslicht hin mit dem Ersuchen, sich die Zeit nicht lang werden zu lassen.

Es kommt überhaupt darauf an, sagte er zu dem Bedienten ziemlich vorwitzig, ob ich Zeit habe.

Der Bediente beobachtete den Anzug des kühnen Sprechers. Hackert hatte eine gewähltere Toilette gemacht und einmal an sein struppiges Haar, dem er keine Sorgfalt widmen mochte, weil er es der Farbe wegen haßte, sorgsamlichst die Bürste gebracht. Der schwarze Frack, den er trug, war etwas eng geworden, die Weste von verschossenem gelben Piqué; sie hatte früher dem Justizrath Schlurck gehört, von dem er überhaupt, seiner Stellung zu ihm gemäß, die abgelegten Kleider trug. Seine Handschuhe waren von weißem, frischgewaschenem Baumwollengespinnst. Da es draußen empfindliche Novemberkälte gab, so fror ihn in seinem leichten Staatsanzuge. Glücklicherweise fand sich ein Ofen. Er setzte sich an die ausströmende Wärme desselben, gerade einem Spiegel gegenüber, in dem sich wiederfindend Hackert vor sich her brummte:

Gerade wie ein Junge, der eingesegnet wird und das erste Mal das Abendmahl nimmt! Wenn die Dame, die mich sprechen will, noch hübsch ist, so fürcht' ich, hält sie mich meines Hemdkragens wegen für einen unschuldigen Jüngling und wird roth statt meiner. Wenn ich den Hemdkragen aufstellte! So! Jetzt das schwarze Tuch breiter gelegt – Ha! Nun hab' ich das Ansehen eines jungen [2835] Engländers aus einer Pension! Hackert, Hackert! Du hältst dich für schön und die Sorgfalt deiner Toilette wird sich rächen!

Es währte geraume Zeit, ehe die Stille um ihn her durch irgend etwas Bemerkenswerthes unterbrochen wurde. Er hörte zuweilen einen Wagen rollen, zuweilen die Hausthür gehen und Etwas die große Treppe, wie er sagte, heraufknackern. Im Übrigen war es still. Die zurückgelegte Gardine zeigte den Hof und einen Blick in den kahlen, winterlichen Garten. Er sah Remisen, einen Stall und fand es in der Ordnung, daß in dieser Einsamkeit auch einige gewaltige Hunde klafften.

Bei Alledem, sagte er sich, bin ich begierig, was man von mir will. Ich wette, es ist ein silberner Löffel gestohlen worden und die Herrschaft hier will, daß ich mit Klugheit entdecke, welcher von den Bedienten der Thäter ist. Der impertinente Schlingel, der mir hier nichts als ein Wachslicht vorsetzte, ahnt vielleicht sein Schicksal nicht.

In diesem Augenblick hörte er nebenan, in einem Zimmer, das gleichfalls nach dem Hofe hinausging und allerdings hintertreppenartig genug aussah, einige Worte, die ungefähr so lauteten:

Wohin, wohin, werthester Herr Justizrath?

Lassen Sie mich, Beste! Ich kenne diese kleine Retraite –

Bleiben Sie in dem türkischen Zelt! Spielen Sie, Justizrath?

Danke! Danke! Ich warte hier, bis Se. Durchlaucht[2836] kommen. Ein paar Worte mit ihm, dann ist mein Geschäft abgemacht.

Wie Sie wollen, Justizrath! Ich schicke Ihnen den Thee hier herein! Aber, Himmel! Sie sind ein Einsiedler geworden, menschenscheu so zu sagen! Was ist Das nur?

Die Stimme, die diese Worte sprach, gehörte irgend einer alten in ihrem Organe verwahrlosten Frau.

Sie war krächzend und unmelodisch. Hackert kannte sie nicht. Aber Schlurck's Stimme war ihm sogleich gegenwärtig. Es erregte ihn nicht wenig, dem Manne wieder nahe zu sein, den er eine so lange, glückliche Jugendzeit hindurch gewohnt war wie seinen Vater zu betrachten und der ihn erst dann in Überwallung des Zornes aus dem Hause entfernte, als er sich ihm gegenüber rühmte, daß eine Jugendliebe nicht ohne Erwiderung geblieben war.

Es wurde Alles still nebenan. In den vordern Zimmern, die zur Allee hinausgingen, merkte man die belebte Gesellschaft, der der Justizrath offenbar entfliehen wollte. Nebenan nur hustete und räusperte sich zuweilen derselbe Mann, der nicht ahnen mochte, daß ihm sein ehemaliger Pflegesohn, der Schreiber Fritz Hackert, so nahe war.

Hackert konnte dem Reize, sich dem Justizrathe bemerkbar zu machen, auf die Länge nicht widerstehen. Er fing gleichfalls an zu husten und trällerte leise. Er glaubte jetzt damit Eindruck machen zu können, daß man ihn in ein so vornehmes Haus beschieden hatte und stand, da der Justizrath ganz allein zu sein schien, mehrmals auf dem [2837] Sprunge, zu ihm einzutreten. Nur der Gedanke, daß jeden Augenblick nun doch wol die Dame kommen konnte, die ihn zu sprechen verlangt hatte, hinderte ihn an der Ausführung. Endlich als diese sogenannte Madame Ludmer in ihrer Rücksichtslosigkeit auch zu weit ging und immer noch nicht kam und zuletzt gar Kuchen und Wein mit der Bitte schickte, nicht ungeduldig zu werden, faßte er sich ein Herz und entschloß sich, den Justizrath zu überraschen und wär' es auch nur, daß er so thäte, als hätte er sich in den Zimmern geirrt und gleich wieder zurückprallte ... Er öffnete die Thür. Ein Lichtstrahl fiel ihm entgegen aus einem bunten Gemache, das ohne Zweifel jenes obengenannte türkische Zelt war. Zwischen seinem Zimmer und jenem geöffneten Zelte lag noch ein einfenstriger Verbindungsraum, unerhellt. Ein Sopha stand hier gegen die Wand so gestellt, daß Hackert den darauf Sitzenden zwar bemerken, aber auch thun konnte, als säh' er ihn nicht, während er selbst halb unbemerkt blieb.

Schlurck blieb ruhig sitzen. Er glaubte, ein Bedienter sähe nach dem türkischen Zelte und ließ Hackerten ruhig gewähren, der auf den Zehen nach vorne schlich und dem lauten Gespräch der vorderen Säle folgen zu wollen schien. Ein Seitenblick zeigte ihm Schlurck's Perrücke, seine goldne Brille, seinen blauen Frack mit den gelben Knöpfen. Hackert ging so weit vorwärts, daß er schon im türkischen Zelte stand und sich grell genug in der Beleuchtung desselben, von dem kleinen Zimmer aus gesehen, abschnitt. Nun richtete Schlurck doch den Kopf [2838] empor, erkannte Hackert und von dem Gedanken ergriffen, der böse Dämon wage sich in diese Zimmer, um Melanie zu beunruhigen, sprang er auf, war mit zwei Schritten in dem türkischen Zelte, faßte Hackerten am Arm und riß ihn gewaltsam zurück.

Gemach, Herr Justizrath! rief Hackert. Was unter stehen Sie sich?

Was soll Das hier? Hackert! Welche Dreistigkeit!

Nun, nun – ereifern Sie sich nicht, Herr Justizrath ... stör' ich Sie in Ihren Betrachtungen?

Was soll Das? Wie kommen Sie hieher, Hackert? Entfernen Sie sich! Augenblicklich!

Hackert lachte höhnisch und sagte dem Justizrath, daß ihn hieher eine Einladung beschieden hätte und er nachgrade gestehen müsse, daß ihm die Zeit lang würde.

Da er sich bei dieser Erläuterung zurückzog und Miene machte, wieder in sein Zimmer zurückzutreten, polterte der Justizrath, der gegen keinen Menschen in der Welt persönlichen Muth hatte, nur gegen Hackert, jetzt aber schon etwas besänftigt war:

Eine Einladung? Von wem?

Von Madame Ludmer!

So! so! Hackert, hier vorn ist Gesellschaft. Warten Sie da, wo man Ihnen Platz angewiesen hat.

Danke für die Auskunft, Herr Justizrath! Guten Abend, Herr Justizrath!

Damit wollte der Schreiber höhnisch und die weißen Zähne weisend langsam sich zurückziehen. Still und voll [2839] genoß er die Wonne, sich hier gezeigt zu haben. Er zog die Thür nach sich, ohne sie zu schließen.

Da sie aufblieb und sich der Justizrath wieder rückwärts an die Wand auf sein Sopha gesetzt hatte, wie Jemand, dem Gesellschaft zum Ekel ist und der nur auf eine Veranlassung wartet, nach irgend einem vollzogenen Geschäfte sich zu entfernen, trat eine unheimliche Pause ein. Hackert regte sich nicht. Schlurck stützte den Kopf auf und durchbohrte mit den Augen seine Brillengläser.

Das kleine Zimmer war nicht sehr erwärmt. Schlurck mußte niesen.

Helf Gott! rief Hackert nebenan von dem Ofen aus, wo er sich wärmte.

Schlurck blieb das Danke! schuldig, stand aber nach einer Weile auf und kam in Hackert's Wartezimmer.

Wie geht es Ihnen denn, Hackert? begann er jetzt mit einer Güte, die ihm eigentlich angeboren war, die er aber meist hinter äußrer Kälte und negativen philosophischen Maximen versteckte.

Danke, Herr Justizrath. Sie sehen, ich stehe auf Wartegeld.

Sie sind ja bei der Polizei eingetreten, fuhr Schlurck in künstlich barschem Tone fort.

Steht Das im Amtsblatt? fragte Hackert.

Ich hab' es von Pax. Der Oberkommissär ist unser bester Polizist. Es macht ihm Ehre, daß er sich fähige Menschen aussucht und jungen anschlägigen Köpfen den Vorzug gibt.

[2840]

Danke! sagte Hackert mit einer kalten trocknen Malice.

Sie hören nicht gern, Hackert, daß Sie bei der Polizei sind. Es geht Jedem so. Anfangs hat man Gewissensskrupel. Später treten die Erfolge ein, die sich belohnen und der Wetteifer mit den Kollegen thut das Übrige. Man gewinnt in solchen Fällen selbst sein Elend lieb.

Gelecktes Blut macht wilder ...

Pax benutzt Sie zu geheimen Aufträgen. Auf solchem Wege kann man jetzt Carriere machen, aber stellen Sie Ihre Bedingungen ja immer vor den Coups, die Sie ausführen, nie nachher! Hören Sie! Auch muß man Grundsätze haben –

Den Grundsatz, keine zu haben.

Das ist Dasselbe, Hackert! Ich prophezeie Ihnen eine glänzende Laufbahn, wenn Sie sich an Pax anschmiegen, nie mehr anerkannt wissen wollen, als was Sie zu seiner Zufriedenheit ausführen und überhaupt sich mit Verstand unterordnen. Bei diesen Menschen, die selbst wieder einem Höheren dienen, muß man nur nicht verrathen, daß man sie in Händen hat oder daß sie mit Dingen prahlen, die eigentlich den Subalternen gelungen sind. Sie haben sich lange von Bartusch kein Geld geholt. Bekommen Sie einen bestimmten Gehalt, Hackert?

Hackert nickte.

Kann man fragen, wieviel?

Zweihundert Thaler fix und für's Übrige Gratificationen.

Prisengelder so zu sagen! fiel Schlurck lachend ein und [2841] fuhr dann mit der Behaglichkeit, die er immer fühlte, wenn er sah, daß es jedem Menschen in der Welt leidlich gut und flott ging, fort:

Hackert, da gratulir' ich! Ihre Anschlägigkeit wird Ihnen den Weg bahnen. Sie haben bei mir etwas gelernt und wenn Sie auch nichts mit auf die Welt bekamen, als ein paar Windeln in dem Korb, mit dem Sie vor's Waisenhaus gestellt wurden, Witz und Raffinement hat Ihnen die gütigere Mutter Natur geschenkt.

Wenigstens hab' ich ihr auch schon manches Lehrgeld dafür zahlen müssen! antwortete Hackert bitter.

Sind Sie immer wohl? Gesund, Hackert?

Hackert schlug bei dieser Ablenkung die Augen nieder.

Kein Rückfall mehr in das alte Übel?

Hackert schwieg. Jedem Andern würde er mit einer Insolenz geantwortet haben. Schlurck's im Grunde weichliches Gemüth aber kannte er und fühlte die Theilnahme aus der barschen und äußerlich feindseligen strengen Art, mit der der Justizrath ihn examinirte, hinlänglich heraus. So antwortete er ihm denn auch nach einigem Besinnen:

Manchmal find' ich meinen Stubenschlüssel anderwärts, als wo ich ihn des Abends hingelegt habe. Das ist Alles, was ich von dem Zustand jetzt grade weiß.

Sie wohnen bei einem Barbier, Namens Zipfel?

Sollt' ich einmal Unglück haben, so ist Verband in der Nähe ...

Schlurck fing von seinen Unterstützungen, von Hakkert's Stolz, von Bartusch an ...

[2842] Gestern besuchte er die Frau Gerichtsdienerin Spieß im Rathhause. Er geht recht klapperbeinig. Was ist ihm nur?

Schlurck meinte geheimnißvoll lächelnd, das käme davon, daß er Geister gesehen hätte ...

Hat Bartusch Geister gesehen? fragte Hackert.

Ich erlebe, daß er noch fromm wird! fuhr Schlurck kopfschüttelnd und frivol fort. Zur Spieß geht er vielleicht, um zu beten ...

Hackert lachte und stellte die Vermuthung auf, daß Bartusch sich manchmal der Gefahr aussetze, von Treppen zu fallen, mit Wassergeschirren begossen zu werden und ähnliches Unglück zu erleben. Auch Schlurck lachte nun herzlicher. Beide aneinandergewöhnte Menschen fanden sich durch Frivolität wieder. Sinnenmenschen geht's nicht anders. Sie finden sich nicht, wenn sie die Feierkleider der Seele anziehen, immer aber, wenn sie sich im Negligée belauschen.

Hackert, sagte Schlurck und kam ihm zutraulicher entgegen; ich habe Sie manchmal recht nöthig –

Warum dutzen Sie mich denn nicht mehr, Herr Justizrath? Sie wissen doch –

Ich weiß, daß ich dich immer gern gehabt habe, Junge, und ein solches Ende unsrer Freundschaft nicht voraussah. Seit du aus dem Hause bist –

Herr Justizrath, Sie sehen recht traurig aus ...

In der That zitterte Schlurck's Stimme und seine Brillengläser liefen vom umflorten Auge an. Er mußte die Gläser abnehmen. [2843] Hackert'chen, ich bin der Alte nicht mehr, sagte er, die Gläser mit seinem ostindischen Taschentuche putzend, ich habe zuviel auf Einmal erfahren müssen. Es ist doch wohl, daß ich mich in diese Zeit nicht recht schicken kann ...

Alle Geschäfte gehen schlecht ...

Das wollte weniger sagen, Kind, obgleich auch – der Trieb, Neues zu beginnen, gehört nur der Jugend. Unser Fleiß im Alter ist an die einmal gezogenen Gleise gebunden. Ach, und die Welt ist so verkehrt, die Menschen rennen so toll an Einem vorüber, es ist kein Frieden, keine Gemüthlichkeit mehr in den Auffassungen! Drommeldey ist der einzige Philosoph, der noch übrig geblieben ist von der alten Zeit und auch Der fängt an, von Systemen und einem fertigen Glauben zu reden ...

Sie wollten ja immer nach Kissingen, Herr Justizrath –

Unterleib meinst du? Hypochondrie? Kissingen-ja, ja! Bist doch ein guter Junge!

Die Verdauung ...

Nicht die Verdauung! Ich bin nicht krank, ich verdaue! Nur and're Freude hab' ich nicht mehr viel. Die Menschen sind so verteufelt ernst geworden, so albernklug, so dummgescheut, so vielseitigeinseitig und die Frauen, wo ist noch eine Frau, die lachen, scherzen kann, die Humor hat, die über dumme Dinge wegsieht und alle klugen versteht?

Melanie!

Meinst du? Ich glaube fast, meine Melanie ist die letzte, die das Leben zu verschönern weiß. Ach Hackert, wenn [2844] wir früher zusammensaßen, die Rittergutsbesitzer kamen, brachten Capitalien, die Bauern hatten Prozesse, da gab's Mündel mit großen vormundschaftlichen Depositen, es war eine andre Zeit. Man arbeitete mit Lust, man spritzte die Feder aus und ging dann zu einem Freunde, um zu diniren, Anekdoten zu hören, etwas Musik, etwas Frauenanmuth zu genießen. Man lachte, man sprach von einem alten boshaften Schriftsteller. Man küßte den Damen die Hände, flüsterte ihnen eine Huldigung in's Ohr, hörte dafür wieder die Beichte der schönen Sünderinnen ... freilich, Hackert, man war jünger ...

Ich denke aber, Herr Justizrath, Sie wollten nie alt werden?

Wollt' ich Das? Das war Prahlerei, den Ärzten gegenüber. Drommeldey vergriff sich manchmal in seiner Apotheke. Er kam eben von einer hysterischen Dame und hatte mit der über den Nervenäther gesprochen, und zerstreut wie er ist, kam er dann bei mir auch mit dem Nervenäther. Da hab' ich so manchmal eine kräft'ge Renommage dazwischen geworfen und von noch feineren Dingen als den Nerven geprahlt, vom freien menschlichen Willen, stolz sich hebend in der Atmosphäre von Sauerkraut und Pökelfleisch ...

Es werden wieder beßre Zeiten kommen, die Sie aufheitern, Herr Justizrath –

Meinst du, Junge? Leichte, fröhliche Menschen, gesunde Zeiten? Glaub's nicht, Kind – du denkst, Pax und seine Genossen könnten die Unruhe ausfegen wie alten [2845] Sauerteig? Unserm Jahrhundert ist gar nicht mehr beizukommen und wenn Ihr noch so viel Demokraten einsteckt! Die Freude, die Lust ist gewichen, die Poesie des Lebens ist hin! Eine schöne Phrase! Himmel, was hab' ich früher an einer schönen Phrase geschlürft! Wie Melonensaft floß mir Das um den Mund, wenn ich so ein Kapitel von Rochefoucauld oder Chesterfield las ... Du kennst die kleinen Bücher, die ich zuweilen zwischen der Mehlspeise und dem Fisch von dir aus meiner Bibliothek holen ließ, um meinen Gästen einen Satz aus der ...

Philosophie der Bagatelle, wie Sie's nannten –

Philosophie der Bagatelle! Nannt' ich's so? Sieh, ich bin selbst Schuld daran, daß du uns Allen über den Kopf gewachsen bist. Wenn ich ernst sein wollte und fragte mich:

Wer hat die Verantwortung für Alles, was den Frieden unsres Hauses, unsre Freundschaft störte –

Lassen Sie Das doch, Herr Justizrath!

Wie liebt' ich dich, Fritz! Wie schmiegsam, gewandt warst du! Welche Handschrift! Welche Auffassung, wenn ich dir einen Brief zu schreiben überließ!

Ich nahm alle Menschen für schlecht. Da hatt' ich's kurz.

Ja, ich, ich lehrte dich auch diesen Cynismus. Bist ein Cyniker, Junge! Eine respektable Philosophie des Alterthums! Suchst nichts im Äußeren! Du hattest, was Du begehrtest. Wie fröhlich ging es bei uns her! Wir haben noch Champagner, Fritz. Er schmeckt uns aber nicht mehr. Bartusch grämelt, meine Frau grämelt, Melanie grämelt, [2846] Alle möchten gern des Teufels und fromm werden und können's doch nicht – der Durchbruch fehlt! Du mein Himmel, wenn der Unsinn des Jahrhunderts und die langweilige Ernsthaftigkeit unsrer Epoche sich auch in meine alte Komthurei einschliche –

Oder Sie gar die Komthurei verlassen müßten?

Meinst du? Auch dieser Prozeß ist mit an meiner Verstimmung Schuld. Mit dem Schrein in Hohenberg fing das Trauerspiel an. Nicht, daß ich fürchtete, den Prozeß zu verlieren. Nein, auch die zweite Instanz spricht für die Kommune und das Recht des Besitzes. Aber es sind dabei Dinge vorgekommen, die mich aufgeregt, erschüttert haben, Dinge, wo ich mit mir selbst in Widerspruch gerieth und zuweilen nasse Augen hatte. Es ist nicht gut, weich zu werden.

Sie weinen doch sonst manchmal recht gern, Herr Justizrath!

Das ist's eben! sagte Schlurck lächelnd, fast wehmüthig. Es kommt jetzt zu oft. Du weißt, wie ich mich gegen Rührungen sträube. Diese Rührungen sind die eigentlichen heimlichen Kalendermacher; Rührungen, mein Sohn, sind die Leichentücher, an denen man so ganz sanft und ruhig allmälig unsern Sarg in die Grube läßt! Rührungen weichen den ganzen Menschen auf, als wär' er von Lehm gebacken und der Frühling käme so über Einen und versetzte uns sanft und lind in einen auseinandergehenden dünnen Brei, den man das himmlische Leben nennt. Sonst wurde bei uns gelacht, gescherzt – jetzt –

[2847] Wo Sie Schwiegervater einer Durchlaucht werden können –

Schwiegervater einer –

Besser konnten Sie sich doch dafür nicht revanchiren, daß Ihnen die Administration genommen wurde ...

Der Justizrath besann sich. Er fühlte sogleich, wie dreist und vorlaut diese Worte waren. Es fiel ihm plötzlich ein, daß im Grunde doch Hackert an Allem Schuld war, was ihn jetzt drückte. Er hatte Lasally, den Verlobten seiner Tochter, mit einem Darlehn von zehntausend Thalern entschädigen müssen, das gewissermaßen à fond perdu geradezu gesagt als Abfindungssumme gegeben war. Er hatte diese Summe nur mit großer Mühe in der jetzigen schwierigen Geldklemme aufgetrieben. Er sah ein Verhältniß zwischen Melanie und dem Fürsten Egon entstehen, das ihm weit weniger willkommen war, als wenn etwa Melanie und Dankmar Wildungen sich vereinigt hätten, wie ihm damals vorschwebte, als sein Verstand, sein juristischer Scharfsinn, seine ungemeine Rechtsgewandtheit noch nicht dem bekannten Prozesse die Wendung gegeben hatte, die der Kommune günstig war. Er hatte Möglichkeiten gesehen, Dankmar Wildungen gewinnen zu lassen. Er hatte Melanie's Liebe zu Dankmar wohl errathen, wohl erwogen, welche Zukunft er sich und ihnen zaubern könnte. Dankmar hatte aber Melanie verschmäht, sich für immer ihr entfremdet, sie nur als eine vorübergehende Episode seines Lebens betrachtet. Vermögen war dem Justizrath lieber als jeder Titel. Was lag [2848] ihm an dem armen Prinzen Egon, den er gleich bei seinem ersten politischen Auftreten für einen Narren und Phantasten er klärte! Konnte er mehr erwarten, als daß Melanie zuletzt, wie dies in solchen Fällen zu geschehen pflegt, schwach genug sein würde, auch nur mit einer »Liaison« zwischen ihr und dem Fürsten sich zufrieden zu geben! Sein Scharfblick ahnte diesen Ausgang, der ihn bekümmerte, sogar der Moral wegen. Seine Melanie eine Fürstenmaitresse! Er schauderte. Und nun dieser abenteuerliche, verschuldete, arme Egon! Er wußte, daß seine Güter nur noch geringen Werth hatten, daß sie einem Projektenmacher, für den er Ackermann hielt, überlassen waren; er wußte, daß Egon, in plötzlicher aristokratischer Anwandlung, neue Schulden, ganz wie sein Vater gemacht hatte. Er wußte, wie tiefer sich mit dem Bankier von Reichmeyer eingelassen. Was blühte da seiner ehrgeizigen Tochter? Von der strengen puritanischen Natur Egon's, der im Stande war, Melanie wirklich zu heirathen, hatte er keinen Begriff. Ein junger offenbar im Banne der Phantasie und der Sinne stehender Fürst schien ihm unmöglich die Anwandlungen einer stoischen Selbstkasteiung haben zu können, von denen wir wissen, daß sie Egon wirklich besaß. Egon und Schlurck waren zwei diametral entgegengesetzte Charaktere, beide voll Phantasie, beide den Frauen ergeben und beide doch so völlig anders, wie Süd und Nord, wie Flamme und Eisblume.

Der Justizrath fuhr sich über die Stirn, die sich ihm plötzlich runzelte. Hackert's Dreistigkeit, ihn an diese [2849] Möglichkeiten und Familienverhältnisse zu erinnern, war ihm peinlich. Er wollte sich anfangs rasch entfernen und brach auch das Gespräch ab, indem er vorschützte, zur Gesellschaft zu müssen. Dennoch blieb er in der Thür stehen und wandte sich noch einmal mit den Worten zurück:

Wirst doch nicht glauben, Hackert, daß Charlotte Ludmer, die dich herbestellt hat, eine hübsche junge Kammerzofe ist? Du Teufelskerl! Warum läuft nur bei dir Alles auf die Weiber hinaus?

Ich denke mir, es ist der alte Drache, der mit Ihnen vorhin sprach.

So hast du von der Kehle doch auf die Visage geschlossen? Ich denke mir immer, daß die alten Hexen, die Fausten in Griechenland begegnet sind, wohin ihn mein göttlicher Goethe reisen läßt, so aussahen wie diese Ludmer, und im Vertrauen gesagt, ihre Gebieterin, die Geheimräthin, geht auch schon stark in das Geschlecht der einäugigen Phorkystöchter über. Ich bin nicht neugierig. Was will die Alte von dir?

Soll ich erst hören.

Willst du wissen, was es sein wird?

Ein gestohlner Löffel, den ich bei den Pfandleihern aufsuchen soll.

Glaub' ich nicht. Hier im Hause weiß man die geheime Polizei besser zu schätzen. Ich denke, die Alte wird die Frage an dich richten, ob es im alten Rathsarchive hier wirklich Gespenster gibt?

[2850] Gespenster? fragte Hackert erstaunt und fühlte sich so sonderbar getroffen, daß er Schlurck groß ansah.

Ja, ja! sagte Schlurck, ohne Hackert's Befremden besonders zu bemerken. Diese Menschen sind prosaisch. Sie erfahren von Geistern und rufen nicht den Pfarrer, sondern gleich die Polizei.

Aber ich verstehe nicht –

Die Alte hatte mir einen Auftrag gegeben, in den von unserm Stadtarchive aufbewahrten Kirchenregistern einer kleinen zu unserm Weichbilde gehörenden Ortschaft irgend ein Dokument, zu irgend einem namenlosen Zwecke, zu suchen. Ich übertrug diese Aufgabe, mit der einige delikate Rücksichten verbunden waren, dem im Suchen und Spioniren kundigen alten Maulwurfe –

Bartusch! ergänzte Hackert gespannt.

Bartusch besucht den genannten Ort, findet den rechten Schrank, das rechte Papier und behauptet, eine Geisterhand hätte es ihm fortgerissen –

Das rechte Papier? fragte Hackert.

Ja, so zu sagen, ein alter verfallener Pfandzettel! Genug, es spukt im Archiv und ich wette, die Alte ist ein Rationalist, wie alle Sünder, ehe sie auf dem Todbett liegen. Sie wird wissen wollen, ob die Polizei an Archivgespenster glaubt.

Daß im Rathskeller Geister sind, lernt' ich schon früh an den Weinfässern des alten Kellermeisters kennen –

Wie so?

Wissen Sie nicht mehr, als ich so klein war –

[2851] Junge, rühr' mich nicht! Ich weiß, du willst mich daran erinnern, daß ich dich oft mit in den Rathskeller nahm, wenn die Sitzungen des hochedlen Magistrates zu trocken wurden. Hackert, ich wünschte, ich hätte dir als kleinem Anfänger von acht Jahren mehr Prügel und weniger Niernsteiner zu kosten gegeben. Ich habe den Pestalozzi immer so affektirt und die Natur wirklich immer im Natürlichen gefunden. Aber thu' mir den Gefallen, gib der Alten nicht nach und sag' ihr etwa, im Archiv hausten zuweilen Ratten und Diebe. Sag' ihr, es gäbe Geister! Hörst du! Diese Menschen sollen und müssen an Geister glauben. Ich selbst glaube dran.

Das ist ja etwas ganz Neues, Herr Justizrath, sagte Hackert, dem die Bartuschen entrissene Urkunde über den Taufakt des Paul Zeck plötzlich an Bedeutung gewann. Seit wann glauben Sie denn an Geister?

Seitdem meine Frau nicht mehr in unserm guten Leitwasser, sondern im Jordan baden will, Hackert. Etwas muß der Mensch haben, an das er sich hält und das außer ihm liegt. Mögen sie in die Kirchen rennen die alten Sünder und falsche Gesangbuchverse singen: Nr. 814, wenn der Küster und die Orgel Nr. 514 meint! Mögen sie zu Jesu halten, den ich herzlich lieb habe, weil er so tolerant war. Ich will auch etwas über mir anerkennen: Ratten, Mäuse, Geister, was man will. Und mit den Geistern hat es etwas auf sich. Voltaire hätte nur noch ein Jahr länger leben sollen und ich wette, er hätte nicht nur an die Ratten von Ferney, sondern auch an [2852] Gespenster geglaubt. Alle großen Männer nehmen Geister an. Also ...

Hackert wußte nicht, ob der Justizrath im Ernst oder Scherz sprach. So durcheinander pflegte er bei Tisch zu plaudern.

Nicht wahr, mein Ende ist nahe, Fritz? sagte der Epikuräer. Ich werde gläubig, aber es muß pikant, neu, schauerlich sein, was ich glaube. Ich schließe jetzt öfters mein Schränkchen, auf das du immer so neugierig warst, auf, binde mein Schurzfell öfters um, als sonst und bin ein fleißiger Maurer. Wir haben zwei Sekten in der Maurerei, eine vernunftaufgeklärte und eine mystische. Ich habe mich an die mystische, an die dunkle angeschlossen ... Ja, ja, lach' du nur! Ich hab' in meinen jungen Tagen auch gelacht, wenn ich las, daß Epikuräer in ihren alten die Beichtväter riefen und die Zauberer. Die Beichtväter mögen zu Madame Schlurck gehen. Ich möchte Zauberer rufen, Schatzgräber, Todtenbeschwörer. Wenn ich nicht noch gar Jesuit werde! Wärst du klug, Hackert, sagt' ich dir ein paar Jesuiten, die gut zahlen ...

Ich kenne zwei ... Propst Gelbsattel und General Voland von der Hahnenfeder.

Junge, bist du toll? Das wißt Ihr schon auf der geheimen Polizei? Ihr seid doch mit dem Teufel im Bunde! Aber verurtheile die Leute nicht nach dem gemeinen Standpunkte eines Oberkommissärs, Hackert! Jesuiten, mein Sohn, sind die einzigen praktischen Menschen der Jetztzeit. Du hast Verstand, Umsicht, du kannst Carriere [2853] machen. Affiliire dich! Sie brauchen Kräfte, Intelligenz und Niemand ist ihnen willkommner, als wer zugleich im Dienste dieses dummen Zwangsstaates steht, dem sie seit drei Jahrhunderten Feindschaft geschworen haben. Denke nicht, daß ich ein Jesuit geworden bin. Aber werde bei Zeiten katholisch, mein Sohn! Nur das Aparte kann einen Mann von Verstand befriedigen und wär' es auch die Glorie des Unverstandes! Mit den Beinen oben, Kopf unten! Warum nicht? Nur nicht wie die Schuster und Schneider! Nur nicht wie die dummen Gelehrten, die Staatsmänner, die ehrlichen Leute, die tugendhaften Weiber! Nur nicht die Sonne Sonne nennen! Ich bitte dich, Hackert, wenn die Alte von der Polizei spricht, sprich ihr von Geistern. Laßt uns die Furcht und die Gespenster leben! Das ist noch die letzte Poesie, die uns übrig bleibt und der Tod ist fürchterlich. Guten Abend, Hackert'chen! Halt dich brav! Guten Abend!

Hackerten war es doch wirblich geworden bei diesem tollen Humor des Justizrathes, der plötzlich wieder seine ganze alte mephistophelische Färbung bekommen hatte. So kannte er ihn. So saß der Justizrath sonst beim Champagner bis in die Nacht und warf die lustigsten Raketen bunt durch alle Weise und Philosophen und Spötter, die mit ihm zechten! Wenn ein geistreicher Mann sich ausspannt aus der gewöhnlichen Maschine des Denkens, dem gewöhnlichen Karren der gesunden Vernunft, so kommen wunderliche Sprünge zum Vorschein. Schlurck polterte Alles durcheinander, war an demselben Abend katholisch,[2854] dann ein Botokude, dann wieder Grieche und ebenso rasch streitsüchtiger, verstandesscharfer Calvinist. In der Politik ohnehin fand er jede Partei gut oder dumm, je nach Laune oder innerer Regung. Hackert hatte sich eigentlich nach dieser Alles ironisirenden Art seines Pflegevaters gebildet, hörte ihm mit Lust zu und sah ihn nun ungern zur Gesellschaft zurückkehren.

Noch einmal wandte sich der Justizrath nach ihm um und sagte zu einem Menschen, der ihm schon viel Kummer bereitet hatte und der ihm dennoch lieb war:

Fritz! Ich habe immer gedacht, ich käme doch noch dahinter, welchem leichtsinnigen vornehmen Patron du dein Leben verdankst und wer die Rabenmutter ist, die dich in einem Waschkorbe vor das Waisenhaus stellte!

Sie wissen gewiß längst, antwortete Hackert, daß es ein Schneider vom Hofe war, der grade rothe Livreen nähte, in denen sich meine Mutter versah und sie mir an die Haare hexen ließ ...

Nein, nein –

Sie wollen mir nur aus Schonung verschweigen, daß meine Sucht bei nachtschlafender Zeit herumzutappen wie ein Wachender, von einer armen bettelnden Frau kommt, die des Nachts für die Reinlichkeit –

Nichts da! Nichts da, Junge! Du stammst von einem hohen Hause –

Wo drei Balken einsam stehen, auf dem Rad die Rabenkrähen –

Was? Wo?

[2855] Von da her, wo kein Gras im Grünen wächst und die drei Pferde, die ich umbrachte, in klappernden Knochengerüsten wiehern: Hackert's Vater handelte mit rothen Hähnen!

Ah bah! Dummes Zeug! Hackert, wenn du einmal sicher bist, daß grade meine Leute in der Kirche sind, Sonntags, wenn Gelbsattel predigt oder du sonst glaubst, daß du mich allein triffst, komm' zu mir! Ich muß dir noch das Bettzeug geben, in dem du im bewußten Korbe lagst und ein Stück von einem zerbrochnen goldnen Ring, auf dem ein Buchstabe eingegraben war –

Z. nicht wahr? Hinter'm Z. steckt nichts, Herr Justizrath!

Z. sagte Schlurck erstaunt. Nicht Z. mein Junge! Wenn es wirklich Z. wäre?

Warum nicht Z.? fragte Hackert.

Ein R. ist es und ich wette, vor dem R. stand ein v., als wärst du

Von Adel sogar? Justizrath, gute Nacht! Sie wollen mich um drei Thaler bringen, die ich heute aus Cavaliervergnügen noch springen lasse oder Sie erleben, daß ich Ihnen jetzt vor Hochmuth vorn in die Gesellschaft folge –

Schlurck nahm den Scherz für möglichen Ernst und erschrak.

Bei Leibe nicht! Gute Nacht, Junge! Brauchst du Geld, sag' mir's. Und endlich! Einen Sonntag Morgen, wenn sie in der Johanniskirche am Bret Gesangbuch Nr. 514 singen sollen und die alten Weiber, die trübe Brillen haben, [2856] Nr. 814 singen und es doch geht, doch zusammenklingt zu Gottes Herrlichkeit – dann komm' zu mir, Junge, und laß dir den halben Ring zeigen. Z. nicht. Ich glaube v.R. Ein V. gewiß! Verlaß dich drauf!

Damit mußte sich Schlurck entfernen. Denn eben schlug man auf dem Vorplatz eine Thür zu und deutlich hörte man, daß Jemand nebenan in's Wartezimmer kam. Zugleich hörte man vom türkischen Zelt den Frauenruf: Justizrath! Hier sind Se. Durchlaucht! Justizrath, wo stecken Sie denn? Es war die Geheimräthin. Im Nu war die Thür, die zum Zelte führte, geschlossen und zu gleicher Zeit trat die Ludmer ein, auf die in der That die vom Justizrath citirten Worte seines Lieblingsdichters Wolfgang Goethe paßten:


Welche von Phorkys' Töchtern bist du?
Denn ich vergleiche dich diesem Geschlechte!
Bist du vielleicht der graugebornen
Eines Auges und eines Zahnes
Wechselsweis theilhaftigen
Grajen Eine gekommen?

Die Alte, geschmackvoll gekleidet, ließ sich erschöpft auf einen Sessel nieder und bat um Entschuldigung wegen ihres langen Ausbleibens. Sie begann dem geheimen Polizeiagenten Hackert, dem Schutzbefohlnen des so anerkannt gewandten Polizeioberkommissärs Pax, ihres zufällig abwesenden »Neffen«, jetzt ein geheimes dringendes Anliegen vorzutragen.

[2857]
6. Capitel. Geisterfurcht
Sechstes Capitel
Geisterfurcht

Herr Pax, fing Charlotte Ludmer mit schmunzelnder Freundlichkeit an, Herr Pax ist verreist –

Ihr Herr Neveu – In Amtsgeschäften, antwortete Hackert, die Alte musternd ...

Und wird bald zurückkehren?

Unbestimmt, Madame ...

Vortrefflicher Staatsdiener, Pax! Ja, mein Neveu –

Hat glücklichen Griff –

Die Alte lachte über den humoristischen Agenten. So liebte sie die Menschen. Nur lustig, lustig! Sie liebte den Spaß, fast ebenso sehr wie den Schnupftaback. Ihre Dose fuhr aus dem Rockschlitz hin und her. Sie nahm eben eine Prise ...

Pax, fuhr sie fort, hat für die Zeit seiner Abwesenheit mir gerathen, etwaige Aufträge Ihnen zu ertheilen, Herr Hackert –

Schmeichelhaftes Vertrauen –

Ich vermuthe daher, daß Sie über die Angelegenheit unterrichtet sind, die mich mit meinem Neveu –

Hackert dachte an die vom Justizrath gegebenen Andeutungen über den entwendeten und im Auftrage der [2858] Ludmer gesuchten Taufschein des Paul Zeck – er glaubte daher mit einiger Bestimmtheit, um die alte Dame sicherer zu machen, mit Ja! antworten zu dürfen:

Ich meine in der bewußten Angelegenheit – wiederholte die Ludmer.

Vollkommen! sagte Hackert mit der ihm eigenen Dreistigkeit.

Man hat diesen zweideutigen Mann eingebracht, einer der dazu verwandten Gerichtsdiener, Herr Kümmerlein war bereits – Aber haben Sie denn nicht getrunken? Bischof: nach einem Recept von mir selbst. Bischof! Trinken Sie doch!

Bitte – Ihr Auftrag, Madame!

Es ist wahr, ich nahm Ihre Geduld schon zu lange in Anspruch. Also, mein Bester, von diesem Kümmerlein erfuhr ich denn vorläufig Alles, was sich bei seiner Verhaftnahme am Hohenberg zutrug –

Hackert, sich schnell orientirend, verstand jetzt, daß nicht von Paul Zeck, sondern von jenem Manne mit der schwarzen Augenbinde die Rede war ...

Er ist eingebracht, der falsche Engländer – sagte er forschend.

Auf unsre Veranstaltung! Ich weiß, daß dieser zweideutige Mann erst mit einem jungen vom Fürsten Egon protegirten Handwerker sich auf dem Schlosse verborgen hielt, dann mit einem blinden Schmied, Namens Zeck –

Hackert staunte, daß nun doch Zeck genannt wurde. Doch milderte er sein Befremden.

[2859] Zeck oder ähnlich! Genug, ich weiß, daß jener Murray mit Louis Armand von der Schmiede mit dem blinden Zeck an das Forsthaus ging, dort mit der alten Haushälterin des Jägers Heunisch, Ursula Marzahn, der Schwester des Blinden, in Wortwechsel gerieth und den blinden Bruder tödtlich verwundete –

Mit einem Messer – ergänzte Hackert, als wüßte er Alles.

Mit einem Pistol –

Die kleinen Details sind unerheblich; verbesserte sich Hackert. Es wird eine sehr scharfe Untersuchung geben – die Macht der Gesetze ist zurückgekehrt.

Hm! Hm! sagte die Alte und nahm eine Prise. Untersuchung? Hm – hm –

Dies Wort war Das, woran sie Anstoß nahm. Der Reubundsausdruck: die rückkehrende Macht der Gesetze, sonst ihr so geläufig, schien der Alten nicht angenehm.

Wohl! sagte sie, gewisser Zeitungsartikel sich entsinnend. Es ist ein Trost, endlich wieder die Richter in ihren »Funktionen« zu wissen; allein betrübend bleibt es doch immer, wenn bei solchen Vorfällen Familienangelegenheiten zur Sprache kommen sollten, von denen man wünschen möchte, daß sie geschont bleiben –

Der Oberkommissär ist in dieser Hinsicht von einer allgemein anerkannten Diskretion ... Die Zeck's können ...

Bitte!

Hackert tastete etwas zu kühn in seinen luftigen Voraussetzungen herum.

[2860] Ich bin erst seit Kurzem im Vertrauen des Oberkommissärs – sagte er, sich verbessernd.

Kennen Sie die Fortunabälle, die man hier in der Nähe der Willing'schen Maschinenfabrik gibt? begann die Alte forschend.

Hackert nickte.

Dort wurde jener Murray zuerst festgenommen. Er war einer der letzten Schwärmer auf jenen unsittlichen Bällen und führte eine Person am Arm, der er kurz vorher mehrere Tage lang Geschenke über Geschenke gemacht haben sollte –

Hackert hörte fast nur halb hin. Die Erinnerung an Die, die auf den Fortunabällen die Letzten sind, überfiel ihn düster.

Jenes Mädchen ist eine Verwandte zu mir – fuhr die Alte fort – eine Auguste Ludmer –

Sie war schön, liebte die Musik, den Tanz und Alles, was Freude macht.

Sie wissen ...

Sie ist todt. Auguste Ludmer wurde toll und stürzte sich aus dem Fenster eines Narrenhauses.

Wissen Sie diese Geschichte?

Die Drehorgeln spielen sie.

Die Alte nahm eine Prise. Hackert's rasche Antworten echauffirten ihren so behende nicht denkenden Geist. Hackert kam ihr durch eine Artigkeit zu Hülfe.

Ich hörte immer, sagte er, daß bejahrtere Leute wie dieser Murray, im letzten Aufflackern ihrer Liebe, ehe [2861] sie ganz erlischt, gefährlich sind und die oberflächliche und treulose Jugend übertreffen. Pax ist auch der Meinung.

Er trug diese Worte bezüglich vor. Die Alte schmunzelte und mußte unwillkürlich sagen:

Herr Hackert! Mein Bischof! Warum trinken Sie nicht?

Er macht mir zu viel Feuer, sagte Hackert so kokett, so durchtrieben listig, daß die Ludmer ihre Dose versteckte, sich gerade aufrichtete und ein Benehmen annahm, als wollte sie an die Zeiten erinnern, wo man sie zu den gefährlichen Schönen rechnete und sie junge Soldaten in die Carrière bringen konnte ... Um sich zu sammeln, nahm sie etwas Kuchen vom Teller und steckte kleine Brocken in den zahnlosen Mund. Während sie durch die Bewegung der beiden Kinnladen fast Ähnlichkeit mit einem Exemplar aus der wiederkäuenden Race empfing, fuhr sie fort, über ihre Verdachtgründe gegen Murray wegen gewisser Äußerungen über die Verwandten der Auguste Ludmer ausführlich sich zu ergehen.

Endlich, sagte sie, reist er in eine Gegend, wo Menschen wohnen, zu denen ihn irgend eine auffallende Absicht ziehen muß ...

Pax schickte ihm zwei Aufpasser nach ...

Sie wissen Das.

Der Vorfall im Forsthause, das ich sehr gut kenne, bestätigt, wie gegründet Ihre Warnung war.

Sie kennen das Forsthaus?

Einen Wald kenn' ich, der es umgibt, eine Wiese, an [2862] deren Rande es liegt, einen Ebereschenbaum in seiner Nähe ...

Ursula Zeck kennen Sie nicht?

Hackerten brannte es nun auf den Lippen zu sagen:

Schon wieder Zeck? Die Mutter Paul Zeck's, der im Jahre 1825 in der Kirche zu Seehausen vom Pfarrer Lattorf die Nothtaufe erhielt? Doch beherrschte er sich und suchte durch seine harmlosen Äußerungen aus der alten Dame noch mehr Geständnisse zu locken. Diese rückte den Stuhl, auf dem Hackert saß, mit ihrem kleinen, beweglichen Kanapee etwas näher, blickte an die Thür und überzeugte sich, daß die große Gesellschaft in den vordern Sälen ganz sich selber lebte. Es wurde laut gesprochen, gelacht, musicirt. Sie waren unbelauscht ...

Ist es nicht möglich, Herr Hackert, begann sie, daß Sie den Gefangenen sprechen?

Schwierig ...

Der Oberkommissär würde es können –

Kaum anders als in Gegenwart des Untersuchungsrichters –

Gott! wie ist das Alles so weitläuftig!

Inzwischen beginnen die Verhöre –

Wirklich? Schon die Verhöre?

Sie fürchten, daß hinter Murray's angenommenem englischen Namen ein Deutscher steckt, der Ihnen nicht gleichgültig ist ...

Das ist es ...

Sein Interesse für Auguste Ludmer schien Ihnen verdächtig ...

[2863] er geht nach Hohenberg, hat ein Anliegen im Forsthause, vielleicht eine Anfrage an Ursula Zeck ... vielleicht ist es der Vater eines Kindes, das Ursula Zeck einst geboren, ohne ihn zu nennen ...

Die Ludmer sprang fast auf bei diesen tollkühnen Worten, riß die weißen unheimlichen Augenwimpern bis hoch an die Stirn und fragte:

Wie kommen Sie zu diesem Verdacht?

Ich stelle nur Vermuthungen auf, sagte Hackert ruhig und scharf die alte Dame beobachtend. Ich übe mich in der Kunst des Inquirirens, in der ich kein Neuling bin. Wer weiß, was Murray im Forsthause wollte! Vielleicht ist es ein Bruder der alten Ursula ...

Das war für die Ludmer fast zu viel. Sie hielt die Dose krampfhaft in der Hand, wollte aufstehen, setzte sich wieder und gerieth in eine Unruhe, die Hackerten bewies, daß hier irgend ein interessantes Geheimniß auf dem Spiele stände, vielleicht eines, wonach diese Alte die Mutter jenes Paul Zeck war und es nicht sein wollte.

Um ihr aber kein Mistrauen einzuflößen, sagte er mit ruhiger Miene:

Warum fragen Sie nicht bei dem Franzosen an? Bei Louis Armand, der so viel Theilnahme für Murray zu haben scheint, vielleicht in seine Pläne eingeweiht ist, vielleicht nicht ganz zufällig die Veranlassung war, daß Murray ihn begleitete, mit ihm das Forsthaus besuchte ... Wer weiß Das?

Die Ludmer lehnte sich ganz entschieden dagegen auf, [2864] irgendwie noch den Kreis ihrer Vertrauten zu erweitern. Auch war ihr Alles, was sie von Louis Armand wußte, zuwider.

Aber die Aufgabe? drängte Hackert, als sie zögerte ...

Würden Sie sich wol der Aufgabe unterziehen, flüsterte die Ludmer endlich mit gedämpfter, heiserer Stimme, indem ihr zahnloser Mund süßsäuerlich und verführerisch schmunzelte; würden Sie wol auf irgend eine Art vor der gerichtlichen, wie Sie wissen, langsamen Prozedur, zu erfahren suchen können, welches Geheimniß hinter diesem Murray steckt ... ob es ein wirklicher Engländer ist ... welche Absicht ihn hierherführte ... welches sein Interesse an Auguste Ludmer, meiner Nichte, war ... warum er nach Hohenberg reiste ... was ihn in das Forsthaus führte, in Begleitung des Blinden ... welches seine Beziehung zu Louis Armand, vielleicht gar zu den Brüdern Wildungen und all' den Männern ist, die nicht werden ertragen können, daß Prinz Egon sich Paulinen von Harder, meiner Gebieterin und ich kann wohl sagen, meiner Pflegetochter, anschließt ... warum ist Murray mit einem Pistol bewaffnet? Warum das Attentat auf einen unglücklichen Blinden? Warum hat man Murray hier im Hotel garni bei Helene d'Azimont gesehen, bei der schönen Gräfin, von der Sie gehört haben werden, daß sie mit dem Prinzen Egon liirt war? Warum schloß sich Murray mit dem Jesuiten Rafflard ein, der sich zu allen nur erdenklichen Intriguen hergeben soll und sich auch wol nicht wird gescheut haben, gegen die Geheimräthin, aus Rache für den[2865] Bruch mit Helene d'Azimont und dem Prinzen, irgend eine Schlechtigkeit zu unternehmen, kurz, Herr Hackert, die Welt ist so böse, so böse, und es ist nothwendig, daß man weiß, wer unsre Freunde und Feinde sind!

Die Last war abgeschüttelt. Die lauernde, grübelnde Umsicht der Alten stand nach diesen Worten in schwefelgelber Glorie da. So hatte diese Frau im Stillen über ihre geliebte Pauline gewacht! So hatte sie beobachtet, zusammengereimt und schweigend die Schärfe ihrer durchbohrenden Augen geübt! Pauline tändelte und phantasirte so hin. Die Ludmer wachte und lieh ihr den Verstand, der der klugen Geheimräthin, wenn sie das Eine ganz beschäftigte, für das Andere ganz fehlte. Sie hatte immer die Katastrophe erwartet, die jetzt hereinzubrechen schien. Bartusch's Anzeige, daß ihm der Taufschein Paul Zeck's, den sie haben wollte, um ihn zu vernichten, von einer wunderbaren unsichtbaren Gewalt geraubt worden war, hatte sie schon stutzig gemacht. Von Paul Zeck wußte sie nur so viel, daß er todt war. Die Ursula hatte diese Versicherung gegeben, hatte sich dann verheirathet und war ihr verschollen. Nun geschah so viel Räthselhaftes, die Scene, die im Forsthause von Kümmerlein und Mullrich überrascht wurde, war so verworren, daß die Ludmer ein andres Licht begehrte, als das die Gerichte aufstecken konnten, und wenn es das rechte Licht war, das sie fürchtete, wollte sie es früher wissen! Pauline schien ihr allmächtig. Pauline konnte nach ihrer Vorstellung, unterstützt von dem Ministerpräsidenten und dem des [2866] Obertribunals, ihrem Schwiegervater, Alles zu Stande bringen, was bei Andern an dem Vorbau der neuen »Justizunabhängigkeit« scheiterte. Deshalb wollte sie, ehe sie Paulinens Ruhe aufschreckte, rasch und sicher wissen, wer hinter jenem räthselhaften Fremden verborgen war.

Hackert besaß eine Art von Vertraulichkeit, die jeden Gebildeten und feiner Erzogenen beleidigt haben würde. Bei der Ludmer war sie ganz am Platze. Sie kicherte, als er ihre Hand faßte und dies alte knöcherne Geripp streichelte. Aber so wohl ihr der Kitzel that, sie ließ sich mit der Frage, wer jener Murray denn nun sein sollte, nicht fangen, sondern sagte:

Sie schlimmer, junger Mann! Sie sind ein Rechter! ... Wo hab' ich Sie nur schon einmal gesehen ... Sie ähneln recht ...

Warum vertrauen Sie nicht, Madame? bemerkte Hackert wieder mit einer schmachtenden Miene.

Ich begreife, warum Pax so große Stücke auf Sie hält! Ihre Handschrift soll wie in Kupfer gestochen –

Sie unterbrach sich bei diesen Worten der Schmeichelei selbst und stockte über das Bild, das sie vom Kupferstechen brauchte.

Worauf soll ich forschen? erinnerte sie Hackert und rief sie aus ihren Träumen wach. Und nun flüsterte sie:

Sehen Sie, ob dieser Mann am Auge, das er verbirgt, wirklich einen Fehler hat oder ob er nur die Binde trägt, um seine Züge zu verstellen?

Hackert nickte.

[2867] Beobachten Sie das Haar, ob es schwarz wie die Perrücke, oder ob es mehr röthlichblond, wie das Ihrige ...

Blondröthlich ... warf Hackert bitter ein.

Nein, nein, so foncirt war es nicht –

Legen Sie sich keinen Zwang an! Ich kenne mich, Madame. Aber ich fürchte, das wahre Haar jenes Mannes wird weiß sein ...

Ich weiß nicht, ob Sie dem scheinbaren Alter trauen dürfen. Ich höre von gebückter Haltung. Wer weiß, ob dieser Rücken sich nicht erheben kann und dann etwa eine Statur herauskommt –

Wie die meinige! sagte Hackert, da die Ludmer nach einem ungefähren Maße suchte.

Wie die Ihrige, ganz recht, Herr Hackert!

Kein besonderes Merkmal?

Ohrlöcher, an denen vor Jahren, vielleicht als Kind, Ringe getragen wurden ...

Keine Narbe? Kein Maal?

Vielleicht statt der Augenbrauen ein kahler Fleck – möglich, daß die Binde –

Doch kein Feuerarbeiter gewesen? Kein Soldat? Offizier? Madame, ich wette, Sie vermuthen einen Deserteur, der Ihrer Fahne durchging ...

Ha, ha! Nein! Spielen Sie auf Ihre eigne schöne Handschrift an! Forschen Sie, ob er Uhrmacher, Kupferstecher oder dergleichen ...

Ah so! Civil! Und der Charakter, die Art und Weise sich zu geben ...

[2868]

Keck, frech, übermüthig –

Seines Siegs gewiß?

Brutal! Arrogant! Dünkelhaft! Eitel!

Wenn er erhört wurde?

Aufgeblasen! Spieler! Lügner! Ein Mensch, der die Verstellungskunst auf den höchsten Gipfel getrieben hat.

Hackert war überzeugt, daß die Ludmer einen ehemaligen Verehrer fürchtete ...

Lassen Sie etwas Geld fallen, klimpern Sie mit Gold und Silber, er kann dem Klange nicht widerstehen ... Da, Herr Hackert, nehmen Sie!

Bitte, sagte Hackert und lehnte das Geld, das die Ludmer aus dem Brusttuche nahm, ab ... Bitte! Bitte!

So ein paar Dukaten, wie diese, sagte die Alte aufdrängend, werden machen, daß er die Ohren spitzt. Beobachten Sie die Wirkung, wenn Sie von Geld sprechen, von Münzen, vom überhandnehmenden Papiergelde ...

Sie haben einen ehemaligen Falschmünzer im Auge.

Die Ludmer erschrak. Sie war zu weit gegangen ...

Nein, nein, um Gotteswillen nicht, rief sie. Das nicht! Aber Sie werden ihn schon aus seiner Verstellung herauslocken. Sie haben Verstand, Herr Hackert. Sie verdienen das Vertrauen des Oberkommissärs. Nehmen Sie! Nehmen Sie!

Hackert sah die eingewickelten Dukaten. Er steckte sie zu sich und versicherte, daß er Alles aufbieten würde, dieser Person sich zu nähern.

Sowie Sie Etwas erfahren haben – sagte die Ludmer [2869] im Aufstehen so freundlich und graziös, daß die drei ihr noch erhaltenen Zähne sich in völliger anmuthigster Isolirung darboten ...

Hab' ich die Ehre aufzuwarten ...

Schon hatte Hackert den Hut in der Hand, schon hatte er eine Verbeugung versucht, die ihm nicht recht stehen wollte, schon wollte er einen Handkuß versuchen, als die entgegengesetzte Thür, die zu dem türkischen Zelte führte, rasch geöffnet wurde und eine hohe stolze Dame im Turban mit herabhängenden Perlenschnüren stürmend eintrat, um den in diesem Zimmer befindlichen Klingelzug zu ergreifen und den Bedienten zu schellen, die es vielleicht in der rauschenden Gesellschaft irgendwo fehlen ließen. Es war die Geheimräthin selbst. Wie sie aus dem hellen Lichtmeere ihrer Salons in dieses stille, nur dämmernd erhellte Kabinet trat, wie sie hier Menschen sah, die sie nicht erwartete und mit dem ersten Blick auf Hackert fiel, schrak sie bebend zurück ...

Und Hackert ging in diesem Augenblick ...

Um Gotteswillen, was ist denn hier? Was war denn Das für ein Mensch? sagte die Geheimräthin als sie sogleich zu ihrem Troste die Ludmer entdeckt hatte. Allmächtiger Gott! Ja, du bist's. Du bist hier. Ich wollte nach dem Eise schellen! Ich fühle den Schreck in allen Gliedern ...

Mein Himmel, wie kann man aber so erschrecken –

Aber dieser grinzende, abscheuliche Kopf? Dacht' ich doch zu meinem Entsetzen, Wer vor mir stünde –

Das röthliche Haar? ...

[2870] Die Figur, die Gesichtszüge – eine gräßliche Ähnlichkeit! ... Wie wird mir? Es ist, als hört' ich die Explosion –

Die Ludmer hielt die Freundin, beruhigte sie und rief dann zur Thür hinaus nach den Bedienten ...

Mit was für Menschen du dich ziehest! stöhnte Pauline fast keuchend. Wer war denn Das?

Ein Agent der geheimen Polizei, sagte die Ludmer nicht ohne Stolz.

Aber was ist denn wieder im Werke? Was hast du denn vor?

Komm', Täubchen! Komm'! sagte die Alte mit künstlichem Scherz und zog ihre Gebieterin, ihre Freundin, ihr Kind durch das Zwischenkabinet in das türkische Zelt. Komm' in deine Sphäre! Laß mir die meine! Du weißt, ich krame gern!

Erst unter den lachenden, rauschenden, streitenden, neckenden Eindrücken ihrer heut' überfüllten Salons sammelte sich Pauline von Harder, die einen von den Todten Erstandenen, eine der grauenhaftesten Erinnerungen ihres Lebens gesehen zu haben glaubte ... Die Ludmer sorgte für die Bedienung ... Hackert ging, von den Bedienten wegen seiner langen Entrevue mit der allmächtigen Frau Ludmer (auch »Hausdrache« genannt), mit vieler Rücksicht behandelt ... Es war kalt ... Er hatte einen Paletot unten hängen, den ihm Franz selber anziehen half ... Vor'm Hause suchte er unter den Wägen den des Justizraths Schlurck, in den er einst vor diesem eisernen Portal so listig eingeschlüpft war ... Er fand ihn nicht [2871] und besann sich, daß Schlurck seine Equipage abgeschafft hatte ...

So wird sie der Prinz Egon nach Hause fahren! dachte er ...

Er wandte noch einen Blick auf die hellen Fenster zurück, dann ging er der Stadt zu, heute für seine träge und gleichgültig gestimmte Natur fast überfüllt mit Anregungen und den merkwürdigsten Thatsachen ... Die Geheimräthin aber hatte für den Abend alle Fassung verloren und benahm sich so verwirrt, so beängstigt, daß Schlurck hätte sagen können, auch sie hätte wol Gespenster gesehen. Er sagte es aber nicht. Er war schon längst nach seiner geheimnißvollen Unterredung mit dem Premierminister aus dem türkischen Zelte blaß und ernst hervorgetreten, hatte einen wehmüthigen, von Melanien mitten unter Scherzen wohlaufgefaßten, wohlverstandenen Blick auf sie geworfen und war in einem gemietheten Fiaker in aller Stille nach Hause gefahren ... Melanie folgte ihm eine Stunde später, nicht im Wagen des Prinzen Egon, sondern in dem der Geheimräthin, den diese ihrer jungen Freundin für diese Abende regelmäßig zu Gebote stellte.

[2872]
7. Capitel. Zerbrochene Ringe
Siebentes Capitel
Zerbrochene Ringe

Louis Armand, der mit Murray und dessen polizeilicher Eskorte fast zu gleicher Zeit in der Residenz angekommen war, ging vom Profoßhaus voll Betrübniß zwar, doch nicht ganz ohne Hoffnung für Murray's ferneres Schicksal in seine bescheidenen Zimmer zurück, die sich inzwischen nach seinem Wunsche durch das von Rafflard innegehabte noch vermehrten. In der Werkstatt fand er alle seine Anordnungen befolgt. Diejenigen Gesellen, welchen er, unterbrochen zwar von den vielen in sein Leben eingreifenden Begebenheiten, doch mit gründlichster Anleitung seine Art zu arbeiten mitgetheilt hatte, waren in der Befriedigung seiner strengen Ansprüche vorgeschritten. Er fand, daß man die Modelle zu Holzarbeiten, die er aus Thon geformt zurückgelassen, wohlgelungen in Holz nachgeahmt hatte und freute sich, daß sein auf Märtens' Namen gehendes Geschäft inzwischen einen unerwarteten Aufschwung genommen hatte. Waren auch die Zeiten für Kunsttischlerei und Modellirarbeit, einen Luxuszweig der Gewerbe, nicht eben günstig, stockten ohnehin bei dem politischen Drucke, der auf den Gemüthern lastete, [2873] alle Industrieen, so waren doch die Leistungen, die Louis Armand in seinem Fache aus Paris mitbrachte, zu auffallend gewesen, als daß sie ihm nicht eine reichliche Nachfrage dennoch hätten zuwenden sollen.

Frau Märtens war »kurios«, wie sie sagte, wie Fränzchen lebe, ob sie nicht grüßen lasse, ob der alte Sandrart nichts dem jungen sagen lasse, ob Heunisch »allegro« wäre. Louis war so rasch, so übereilt von Hohenberg abgereist, daß er alle diese Fragen nur unvollständig beantworten konnte. Höchlichst verwundert war Frau Märtens, daß Fränzchen nicht bei'm Onkel, sondern mit dessen »Permission« im Hause eines dem alten Sandrart so nahewohnenden Ökonomen, des Generalpächters der Fürstlich Hohenbergischen Besitzungen, lebte. Sie malte sich das Verhältniß in großartigsten Umrissen aus und freute sich, dem jungen Sergeanten, der ein treufleißiger Besucher der alten Leute geblieben war, eine so neue Mittheilung stecken zu können. Ei, sagte sie, in der Küche ist sie nicht perfekt, aber einen Böfflamoth, einen Bissteck und einen Amuleth kann sie machen. Von einem Verhältnisse zwischen Louis selbst und diesem des Boeuf à la mode, des Beafsteaks und der Omeletten kundigen Fränzchen war nicht die Rede. Der sonderbare kleine platonische Roman, der sich zwischen Louis und Franziska angesponnen hatte, war von Frau Märtens und ihrer Brille völlig unbeachtet geblieben. Die halbwüchsige Gelehrte bemerkte in Liebessachen nur das Auffallende, das Hochromantische, durchschlagend Tragische und in [2874] Holzschnitten Darstellbare, ja selbst dem jungen Sandrart »schwante« nur etwas und einige Tage später, als Louis in der Werkstatt stand, nahte er sich Diesem ganz zutraulich mit der Frage nach Heunisch, seinem Vater, nach Fränzchen, dem ganzen Ullagrund und wünschte zu wissen, wie er Alle verlassen hätte.

Louis war tief verdüstert. Er war bei Egon gewesen und hatte ihn nur zwischen Thür und Angel sprechen können. Was hatte er gehört: Da bist du schon? Louis du bist zurück! Was hat dich heimgejagt? Dein Geschäft? Deine Bestellungen? Sieh! Sieh! Du fandest Alles vortrefflich – du schriebst mir, daß Ackermann ein Tausendkünstler ist – Gott gebe seinen Segen – nun willkommen, Louis – ah, Louis – wo nehm' ich Tage her, die mehr Stunden zählen als vierundzwanzig! Wann werd' ich dich ordentlich sprechen können? Siehst du, Das hab' ich von Eurer politischen Laufbahn – nun bin ich mitten im Gewühl – vergib die Eile, Louis – Und mit diesen Worten hatte sich Egon an Sollizitanten wenden müssen, deren in aller Morgenfrühe schon ein Dutzend im Zimmer standen. Louis war gegangen, einen Pfeil im Herzen ... Das ist aus, dachte er, darüber mach' denn ein Kreuz!

Erschüttert noch und tiefverletzt stand Louis in der Werkstatt und grübelte über ein Gedicht, das zur Noth seine Stimmung ausdrücken sollte. Er gedachte Oleander's, Siegbert's, Murray's und Ackermann's – Alle diese edlen Männer hatten den Gedanken an Egon verdrängt und doch hing er an dem Jugendfreund wie an seinem [2875] Bruder. Er versuchte zum ersten Male in der Sprache seiner Vorfahren, in der deutschen, zu dichten und wagte, angeweht von Oleander's milderen Anschauungen und doch noch nicht ganz befreit von der bittern Schärfe seiner französischen Reminiscenzen, ein Gedicht in dieser fast an die lateinische katholische Poesie des Mittelalters erinnernden Fassung:


Welt, wie bist du weit und groß!
Alle Riegel sind gesprengt,
Alle Pforten ausgehängt!
Wie sich's wälzt und wie sich's drängt!
Und was birgt wohl noch dein Schoos?
Wolken, weilt! Wie folg' ich euch?
Stehe, Zeit, wie halt' ich dich?
Raum, du gähnst so fürchterlich!
Wo im Chaos rett' ich mich?
Bin ich nur der Feder gleich?
Wie dereinst bei'm Weltgericht
Hör' ich der Verdammten Chor.
Jeder drängt zum Richterohr,
Trägt nur sich, sein Rühmen vor,
Seine Furcht, sein Hoffen spricht!
Herzen ohne Harmonie
Durcheinander. Jedes' Brust
Hallt das Echo eigner Lust
Seiner Sprache nur bewußt,
Seiner eig'nen Melodie.
[2876]
Tausend Uhren – Mitternacht
Weisend und die Pendel doch
Ungleich schwankend, tief und hoch,
Keinen hat der Kaiser noch
In den gleichen Takt gebracht!
Gern hätt' ich zum Wald hinaus
Mich in Einsamkeit gebannt,
Hätte an der Quelle Rand
Einen stillen grünen Stand
Mir gesucht, ein friedlich Haus.
Gerne hätt' ich mich gestellt
An den Busch der Nachtigall,
An ein Lerchennest im Thal,
Fliehend jeden Widerhall
Dieser Zeit und dieser Welt!
Doch ich muß, ein treuer Thurm,
Wachen an dem Meeresrand
Bleiben fest im alten Stand,
Wenn umspühlt vom Wogenbrand,
Wenn umdonnert auch vom Sturm.
Die Entscheidung soll ich sehn,
Wenn zerkracht der Wolkenball!
In der dumpfen Donner Schall
In dem allgemeinen Fall
Muß ich sinken oder stehn.

Ein solches Gedicht, vom Augenblick geschaffen, blieb in Louis fest, wenn er es auch später erst niederschrieb.

[2877] Er hatte die wilde Stimmung seiner früheren Auffassungen noch nicht ganz dämpfen können, in der Form aber schon jene Natürlichkeit und Einfachheit, die er dem Beispiele Oleander's verdankte, sich anzueignen versucht.

Wie er noch so stand, dichtete, arbeitete, trat der junge Sandrart in die Werkstatt und begab sich sogleich an den Winkel, wo vor dem Fenster, nicht fern vom großen eisernen Ofen, dessen Röhren durch die ganze Werkstatt sich zogen, Louis' gewöhnlicher Platz war. Er hatte von Madame Märtens rasch »avertirt« bekommen, daß Herr Louis Armand wieder »ritour« wäre und näherte sich ihm mit der Scheu, die Jedermann fühlen mußte, der Louis' tieferes Streben mit der Zeit aus seiner einfachen, fast schüchternen Art sich zu geben, erkannt hatte. Alles, was er schon von der Alten gehört, mußte ihm Louis wiederholen und vernahm es so aufmerksam, so überrascht, als hätt' es ihm Louis zum ersten Male erzählt.

Mein Vater erwartet mich zu Weihnachten, sagte er, aber ich werde keinen Urlaub bekommen; die dritte Kompagnie wird kurz gehalten. Aldenhoven ist Kapitain geworden. Wir werden gefuchtelt.

Wie geht es dem Major? fragte Louis.

Der Sergeant erzählte von dem immer offner hervortretenden Bruch in der Armee selbst. Werdeck, soweit sich Das aus seiner Sphäre beobachten ließe, wäre düster und mismuthig, doch hätte er ihm kürzlich erst gesagt: Sandrart, Ihr kennt einen jungen Mann, Namens Louis [2878] Armand! Haltet Euch an ihn und seine Freunde! Sandrart wiederholte diese Worte mit Schüchternheit.

Wenn Sie wollen, Sergeant, sagte Louis und reichte ihm die Hand, ohne irgend eine Misstimmung wegen Franziska's zu verrathen.

Der junge Krieger klagte über die Verwahrlosung des innern Menschen unter den Waffen. Man exercire, stehe Wache, putze seine Montur und Armatur und im Übrigen hieß' es: Bete oder faullenze!

Es ist bei uns in Frankreich nicht anders, sagte Armand. Der Soldat soll immer eine Maschine sein, soll immer nur der Disciplin leben. Wer dann seine Zeit ausgedient hat, kommt nach Hause, hat sein Handwerk verlernt oder die Arbeit am Pfluge ist ihm zu gering geworden.

Es ist ein Glück, daß es ehrliche Mädchen gibt ...

Wieso Mädchen und ehrliche?

Wer heirathen will, muß doch wieder an die Hobelbank oder auf's Feld zurück; um die Mädchen holt man ein, was man für sich beinah verlernt hat.

Das Gespräch war von den Gesellen belauscht worden. Man lachte und Louis ließ sich eine so heitre Störung schon gefallen. Er setzte das Gespräch fort, von dem er nicht ahnte, daß es ihm später als »Soldatenverführung« ausgelegt werden sollte. Sandrart erzählte von den Schmeicheleien, mit denen man das Selbstbewußtsein des Heeres, das nur durch Schlachten gehoben werden könnte, heben wolle und nur einschläfere. Er erzählte von den Märchen, mit denen man die Krieger erschrecke, von [2879] einer neuen Revolution, wo nicht das Kind im Mutterleibe geschont werden sollte. Die Rothen wollten den König, die Prinzen und Prinzessinnen morden und kein Soldat sollte ungespießt bleiben ...

Die Gesellen lachten ...

Aber es kommt immer nicht, fuhr der aufgeregte Sergeant fort. Wir stehen des Morgens auf und gehen des Abends zu Bett mit dem Gedanken: Nun wird's losbrechen! Und kommt dann ein kleiner Allarm oder eine Schlägerei im Wirthshause oder eine Straßenrottirung, so können Sie sich daraus erklären, warum unsre Mannschaften gleich so fuchswild und erbittert zuschlagen. Die Leute sind gereizt und denken: Nun geht's an's Leben!

Trauriger Zustand, wenn in einem und demselben Staate zwei Kräfte so gegeneinander wüthen, bemerkte Louis ruhig; es ist aber überall so. Der Adel und die Bureaukratie haben sich die Armeen apartgenommen und dressiren sie nach ihrem Gefallen. Leider hat man da ein so gutes Feld für seine Intrigue! Die Fahne, der ihr geschworne Eid, der erlaubte Stolz des Kriegers, die Erinnerungen seines Truppenkörpers, die Achtung vor dem Souverän, das Alles sind Begriffe, an die sich für ein schwärmerisches Gemüth so vortrefflich anknüpfen läßt! Man fanatisirt diese Menschen durch ein Verbrechen, das man die Sünde gegen den heiligen Geist nennt.

Man wünschte Erklärung dieser Sünde ...

Es ist die Sünde, sprach Louis so laut, daß Alle hörten, die Sünde, die irgend eine richtige Thatsache, eine Wahrheit, [2880] die in der Menschenbrust wie mit ehernen Buchstaben eingegraben steht, zu einem falschen Zwecke benutzt. Wer vollends von seiner irrthümlichen Anwendung einer Wahrheit selbst überzeugt ist, kann kaum Vergebung erwarten.

Die Gesellen horchten und blinkten sich zu. Manche hielten Louis für etwas viel Höheres, als wofür er sich ausgab.

Ich verstehe wohl, sagte Sandrart, der sich auf einige Bretter gesetzt hatte, ich verstehe, daß Sie den Spektakel mit dem Fahneneid meinen ...

Ich halte jeden Eid für heilig! bemerkte Louis.

Und nun sprudelte der Sergeant, den ein Ärger mit seinem Kapitän gereizt zu haben schien, Alles hervor, was für und wider den Fahneneid den Soldaten offen und heimlich jetzt zugesteckt zu werden pflegte. Tag ein Tag aus, fuhr Sandrart fort, kommen Leute in die Kasernen oder auf den Exercierplatz und predigen uns den heiligen Eid. Der Eine läßt Kaffee aus einem Keller in der Nähe holen, der Andre verschenkt wollene Strümpfe ... die Leute trinken den Kaffee, nehmen die wollenen Strümpfe ... und immer heißt's dabei: Was wir geschworen haben, halten wir. Aber ...

Ein Eid ist heilig! erwiderte Louis. Ich tadle die Soldaten nicht, die ihn leisten, sondern die, die ihn abnehmen. Es muß dahin kommen, daß der Soldat nicht in die Lage versetzt wird, einen einseitigen und in die Gesellschaft den Brand des Aufruhrs schleudernden Eid zu schwören.

[2881] Er soll schwören, die öffentliche Ordnung des Vaterlandes im Innern und seine Größe und Ehre nach Außen zu ver-theidigen. Die gesetzlichen Organe dieser Ordnung und Ehre haben sich geändert. Es sind nicht mehr die Fürsten, sondern die Vertreter der Völker.

Wir brauchen keine Fürsten mehr! rief es aus einer Ecke.

Wir brauchen keine Soldaten mehr! aus einer andern.

Louis wandte sich eben, um ein lautes St! auszusprechen, als der alte Märtens in seiner blauen Schürze und wollenen gestrickten Überjacke hereintrat und dieser lärmend und stürmisch gewordenen Unterhaltung ohnehin ein Ende machte. Er litt niemals, daß in seiner Werkstatt über Politik gesprochen wurde.

Auch der Sergeant, der alle diese Gesellen kannte, wußte das Verbot und nahm den verwildert gewordenen Gegenstand nicht wieder auf. Er sprach von Franziska und klagte, daß er zu Weihnachten keinen Urlaub bekommen würde. Der Feldwebel sähe lieber, daß er sich seine Bescheerung schicken ließe, um sie mit ihm theilen zu können ...

Und der Major?

Der Major – wer weiß, wie lange der noch Majort. Das ist Einer, der nächstens sagen wird: Der Eid drückt mich!

Marsch in die Kaserne! rief der alte Märtens dazwischen. Dien' Er seinem König und lob' er Gott den Herrn, Amen!

Die Gesellen lachten nun erst recht. Sandrart ließ sich [2882] nicht stören. Er war zu bewegt. Er hatte seit der einfachen Begegnung mit den Offizieren auf dem Fortunaball und in dem Worte: Gehorsam außer Dienst jenen nagenden Quälgeist in sich, der bei den untern Ständen mehr Unruhe und Schaden im Gemüthe stiftet als bei der Bildung. Das prickelte, das hetzte ihn. Immer derselbe Refrain, immer dieselbe wunde Stelle, die nicht heilen wollte und die täglich berührt wurde ... Endlich ging er. Als er Louis die Hand gab und fragte, ob er bald in den Ullagrund schriebe, rief eine Stimme ihm nach: Sergeant! Gartenstraße Nr. 14 alle Abend um acht Uhr ist Verein – kommen Sie und bringen Sie Kameraden mit, die das Herz auf dem rechten Fleck haben!

Wer sagt Das? Wer verführt hier die Soldaten? rief der alte Meister und rannte zu dem Sprecher hinüber, einem kleinen, dicken, wohlgenährten Arbeiter, dem Advokaten der Werkstatt.

Sandrart hielt den zornigen Alten auf und beruhigte ihn. Aber der Meister tobte jetzt seine patriotische, alte, deutsche Gesinnung aus nach dem Thema: Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist und Gotte, was Gottes ist! Er machte sein Recht als Meister und Werkstattbesitzer mit ein Dutzend Hammerschlägen auf den Werktischplatten geltend. Sandrart ging. Die Rebellen schwiegen. Auch Louis schwieg. Da aber manche Anzüglichkeit des alten Mannes ihm selbst gelten sollte und er sich schwer beherrschte, so zog er vor, eine Weile auf sein Zimmer zu gehen und dem Alten Zeit zu lassen, sich inzwischen [2883] gründlichst auszutoben, was auch geschah, diesmal sogar mit Fremdwörtern aus dem Lexikon seiner gebildeten Ehehälfte.

Eine Woche ging so hin. Louis lebte zurückgezogen. Er suchte nur Dankmar auf und fand ihn nicht. Zum Major Werdeck wagte er sich nicht. Über Murray's Schicksal wurde ihm keinerlei Beruhigung. Der Drang, ihm zu helfen, die im Forsthause vorgekommenen Dinge in einem Lichte darzustellen, wo alle Schuld nur auf ihn falle, war so mächtig in ihm, daß er anfangs an Egon's Beistand dachte. Allein war Das noch sein Egon? Er war's im Tone, in der Behandlung noch gewesen; er hatte ihn nicht lieblos empfangen, ihm täglich sein Haus angeboten. Aber eine Kluft hatte sich zwischen Beiden aufgethan, weiter, als der natürliche Abstand der Geburt. Die Romantik war vorüber, das praktische Leben hatte begonnen. Louis entschuldigte Egon, klagte sich an, zieh sich selbst der Eitelkeit, daß er von dem Freunde Egon, der einst in Lyon seine Schwester liebte und mit ihr wie mit seinem Weibe lebte, jemals die später entdeckte Fürstenwürde nicht trennte. Er fand es natürlich, daß Alles so kam, wie es jetzt gekommen; aber ihm lästig fallen, eine Audienz erbitten, ihm schreiben, eine Bitte vorlegen ... dazu war er zu stolz, zu verletzt, zu eingeschüchtert. Dann fiel ihm bei, ob nicht Dankmar Wildungen als Jurist helfen könnte und eben so schmeichelte sich ihm die Vorstellung ein, ob er nicht wagen sollte, den mehrfach genannten Otto von Dystra aufzusuchen und ihm die Lage eines Mannes[2884] vorzustellen, der aus einem fernen Welttheile ihm nicht unbekannt sein sollte.

Es war wieder Mittag. Die Arbeiter zerstreuten sich. Als sich Louis nach einem bescheidenen Mahle in einer nahgelegenen Wirthschaft in der Voraussetzung, vielleicht nun heute endlich Dankmar Wildungen und den von Murray erwähnten Gönner, Otto von Dystra, aufzusuchen, besser anzog und in seinen Geräthschaften ordnete, fielen ihm die Gegenstände auf, die er im Forsthause damals an sich genommen hatte. Es war ein Gesangbuch, ein Blumenstrauß und ein zierlicher Mädchenkamm. Er hatte diese Dinge an sich genommen, weil die von Ursula daran geknüpften Reden ihm so auffallend klangen, daß er glaubte, vielleicht enthielten sie Thatsachen, die sich auf Murray's Sohn bezogen ...

Der Kamm war von Schildpatt und zeigte mit Elfenbein ausgelegt die Buchstaben H.D. Das Gesangbuch führte auf bestimmte Namen. Es war in schwarzes Leder gebunden und enthielt auf dem Deckel die Notiz über die Geburt und die Verlobung eines jungen Mädchens, von dem Louis wußte, daß es eines Sonntags an der Sägemühle verunglückte. Heunisch, sagte er sich, hat sicher diese Gegenstände, auch den Blumenstrauß, den sie grade trug, aufbewahrt und die Alte sie eingeschlossen, um durch ihren steten Anblick ihn nicht zu traurig zu stimmen. Das Gesangbuch, der Kamm, der welke Blumenstrauß wurden Louis fast unter der Hand zu Tönen und Klängen und Reimen eines Gedichtes ...

[2885] Wie er den welken Strauß, der krampfhaft zusammengeballt schien, auseinanderfaltete, hörte er ein Klingen, wie von einem fallenden metallnen Gegenstande. Am Boden sah er einen zerbrochenen Goldreif blinken. Er hob ihn auf. Sicher hatte dieser Ring in dem Gewirr des welken, heuartig gewordenen Blumenstraußes schon lange versteckt gelegen. Der Verlobungsring des unglücklichen Mädchens! dachte er. Wo ist nur die zweite Hälfte? Er suchte und fand sie nicht. Wer weiß, dachte er, durch welchen Zufall dieser Ring zerbrach! Die Treue hat ihr Heunisch wirklich gehalten ... Louis wollte den Ring mit den übrigen Gegenständen bei Seite legen, als ihm doch noch einfiel, nach einer möglichen Gravirung innen zu sehen. Er erstaunte, nicht die Buchstaben zu finden, die auf Heunisch's Geschichte paßten. Er las in dem Ringe P. und die ersten Züge eines kleinen v., die ohne Zweifel auf einen adligen Namen schließen ließen. Auch sah er jetzt, daß er keinen Trau- oder Verlobungsring, sondern einen einfachen goldnen Reifen, dessen Kopf durch einen Stein verziert gewesen sein mußte, vor sich hatte. Die adlige Bezeichnung des Ringes ließ ihm als wahrscheinlich erkennen, daß er einen Theil jenes Ringes vor sich hatte, von dem ihm Murray einst erzählt hatte. Und so steckte er dies Fragment behutsam zu sich und gedachte, ihn dem unglücklichen Gefangenen bei erster Gelegenheit, wo er hoffte, ihn sprechen zu dürfen, zu übergeben. Die übrigen Gegenstände verschloß er wieder.

Mit einem alten Mantel, den er über seinen gewählten [2886] Anzug warf, ging Louis aus, um auf's Neue zu versuchen, Dankmar Wildungen zu treffen. Wie groß war seine Freude, als er grade beim Eintritt in das von den Freunden bewohnte Haus den Gesuchten die Stiege herabkommen sah! Wär' es Siegbert gewesen, so hätt' er ihn umarmt. Dankmarn schüttelte er die Hand und freute sich der herzlichen Erwiderung.

Seit wann sind Sie zurück?

Über eine Woche.

Wir verfehlten uns. Auch ich fragte nach Ihnen. Wie geht es meinem Bruder? Er sehreibt so selten.

Ich verließ ihn wohlauf, heiter und fröhlich ...

Heiter? Empfing er –

Es erfolgte jetzt die Verständigung wegen der Trauer. Dankmar sprach über das erlebte Leid. Es waren Worte, die in Kürze die schmerzliche Thatsache zusammenfaßten. Er wünschte, daß Siegbert, wenn er auf dem Lande Zerstreuung hätte, nicht in die Residenz käme, die ihm wenig Trost bieten würde.

Einen Tag bin ich hier und dieses Chaos von Anmaßung und Lüge!

Ich halte Sie auf!

Kommen Sie zu mir, Armand ... Gegessen ist auch bei mir schon. Aber einen Kaffee können wir noch brauen! Frau Schievelbein, Mokka, Java, Cheribon! Was sich findet! Aber schwarzen! Denn, Louis, wir trauern.

Damit schloß Dankmar die Thür der bescheidenen, noch warmen Wohnung auf, rückte Bücher, Skripturen [2887] vom Tisch und rief noch einmal der Wirthin, die aus ihrem Mittagsschlafe schwer zu wecken war. Während er selbst die Vorbereitungen zu einem Kaffee in seiner blechernen Maschine machte, Spiritus anzündete und endlich von der gähnenden Wirthin unterstützt wurde, einmal häuslich und gemüthlich einen Nachmittag nicht im Kaffeehause, sondern daheim zuzubringen, sprach er vom Tode seiner Mutter, vom Leben überhaupt, vom Geheimniß der Weltschöpfung, vom Gegensatz zwischen Materie und Geist, Himmel, Hölle, Erde, Lampendocht, Spiritus, Filtrirmaschinen und schloß seine aus Schmerz und Scherz gemischte Plauderei mit der Bemerkung:

Ja, lieber Armand, seit wir unter dem Kreuze in dem Rathskeller saßen, ist Manches geschehen; aber was ich auch erlebte und das Schlimmste ist allerdings der Leichenstein-Strich über ein theures Dasein, das ich noch für viel Glück aufgespart glaubte, Alles hat mich gelehrt: Wenn man die Grenze des Daseins fühlt, wenn man sieht, wie Alles endet und enden muß, ohne Ausnahme, dann, mein Freund, nimmt man das Schwerste im Leben leichter und setzt mit größrer Lust sein Leben auch an das Traurigste. Ich bin nicht etwa entmuthigt, wie Sie mich hier sehen. Aber ergrimmter bin ich, entschloßner, gleichgültiger um diese schönen Fratzen, die uns locken und schmeicheln wollen mit Worten: Ach, wie süß ist dies Leben! Schick' dich in diese Lügen! Dulde diese Irrthümer! Laß diese Narren regieren! Laß diese Welt gehen, wie sie geht! Der Tod meiner Mutter war so voll Überredung für [2888] mich, an ein Jenseits zu glauben. Ihre Gesichtszüge waren verklärter, nachdenklicher, strenger als je im Leben. Man konnte glauben, der im Schauen begriffene Geist ließe noch Spuren auf dem theuren Antlitz zurück. Wie ich sie in die Grube senken sah, wie Alles um mich her Tod und doch Unsterblichkeit auf dem Friedhofe flüsterte, da empfand ich Liebe für die Geschiedenen, Haß für die Lebenden. Vermessene Thoren, rief es in mir, die Ihr Euch einbildet, das Leben beherrschen zu können! Wer seid Ihr denn, Ihr zufällig Reichen, Ihr angemaßt Mächtigen, Ihr eingebildet Weisen! Hier ist Alles gleich, hier unter diesen welken Trauerpappeln ist die ganze Komödie aus und da drüben jagt, hetzt Ihr Euch mit Euern Leidenschaften und sinnlichen Interessen durcheinander! Glauben Sie mir, Louis, man muß das Leben verachten, um dem Leben eine große That zu hinterlassen. Ich würde mich nicht mehr bedenken, mein Haupt zu opfern, wenn ich glaubte das Rechte getroffen zu haben, um einer göttlichen Wahrheit in unserm Leben ihre Geltung zu verschaffen.

Louis war von der Aufregung, in der er seinen Freund und Gönner wiederfand, erschüttert ... Wie geht es mit Ihren Hoffnungen auf ... Er stockte, das Wort: die Erbschaft, auszusprechen ... Ich bin im Begriff, sie auch in zweiter Instanz zu verlieren, sagte Dankmar und habe dann nur noch das Urtheil vom Obertribunal revidiren zu lassen. Meine Hoffnung, der Welt zeigen zu können, wie wir mit ererbten Rechten [2889] verfahren sollen, wird sich nicht erfüllen. Indessen setz' ich Alles daran, wie ein Flügelroß bis an die Stelle zu steigen, wo es immerhin todt niedersinken möge. Sie können sich denken, welche Entbehrungen ich leide. Die Kosten des Prozesses wachsen in's Unglaubliche. Das kleine Vermögen, das sich nun noch von der Mutter aus uns ergeben wird, ging theils im Begräbniß, theils in der Ordnung ihres Nachlasses schon hin. Den Rest werfen wir in jenen Abgrund, der uns keine Ergebnisse bringen wird, ich mag auch noch so viel in diesen Büchern studiren! Jetzt vollends, wo meine Hoffnung, daß mindestens der eine Concurrent, der Staat, die Ungehörigkeit seiner Ansprüche einsehen würde, sich betrogen sieht und durch Egon ein neues Leben in diese Angelegenheit kommt ...

Durch Egon? Wissen Sie Das ...

Von ihm selbst.

Sie sprachen ihn?

Kürzlich auf der Staatskanzlei, wo ich mir eine Audienz vom Premierminister erbat. Zum Menschen Egon geh' ich nicht.

Sie geben ihn auf?

In meinem Sinne, ja!

Wie war er gegen Sie? Kalt, zurückhaltend?

Im Gegentheil; er war offen und suchte die inzwischen durch seine Maßnahmen so weit gerissene Kluft zwischen uns durch entgegenkommende Freundlichkeit zu verbergen ...

Sie machten dieselbe Erfahrung wie ich ...

[2890] Mein Freund, sagte Dankmar, geben Sie diese Anknüpfung auf! Ich denke mit Wehmuth zurück, wie ich Egon fand, wie er mir die Freundschaft auf offnen Händen entgegentrug, wie er mir den Brudernamen aufdrängte. Dennoch muß ich gegen ihn gerecht sein. Ich entsinne mich, daß wir mehr in ihn hineingelegt haben, als wozu wir berechtigt waren. Wir hörten ihm zu und fühlten da schon die innere Trennung. Da wir ihn aber lieb hatten, wollten wir nicht sehen. Nun ist die chemische Probe gekommen. Wer verdenkt ihm, daß er uns entgegnet: Ihr habt mich wie Eure Puppe behandelt, mit Euern Ideen mich ausgeputzt! Die Zeit des Scherzes ist vorüber.

Louis wollte dies Misverständniß nicht gelten lassen und behauptete, ein fremdartiger Einfluß hätte sich des so hoch gestiegenen Freundes plötzlich bemächtigt und ihn von ihren Anschauungen hinweggerissen ...

Nein, nein, sagte Dankmar. Das ist in der Ordnung und nicht weiter zu beklagen. Der Dämon, der die Welt regiert – Gott ist es nicht; der steht noch über diesem Dämon – gibt für seine Schlachten dem Menschen die ihm gebührende Stellung. Der Eine hier, der Andre dort. Wir haben nichts zu thun, als nach unsrer Fahne zu blicken und in den Kampf zu gehen, wenn unser Signal uns ruft. Es ist ganz in der Ordnung, daß auch Egon den ihm von dem vorigen kaufmännischen Ministerium hinterlassenen Prozeß fortführt, ganz in der Ordnung, daß ich ihn verliere. Sie glauben nicht, was uns der Mensch als eine willenlose Maschine, als ein anorganisches Produkt [2891] erscheint, wenn man es abblühen und sterben sieht. Wir sind nicht frei. Wir glauben es zu sein und freuen uns nur des Quecksilbers, freier Wille genannt, das doch allein mechanisch in uns hin- und herrollt und uns alle unsre Bewegungen gibt!

Bei allen diesen Bemerkungen, die Dankmar unmuthig und ungeregelt ausstieß, unterzog er sich einer gründlichen, von Frau Schievelbein unterstützten Vorbereitung zu einem gemüthlichen Kaffee. Es gibt gar nichts Traulicheres, als wenn im kalten Novembersturm, auf engem, gut erwärmtem Zimmer junge Männer die kleinen Konsequenzen ihrer Garçonwirthschaft ziehen, den Frauen in ihre Vorrechte greifen, Haushälter spielen, Kaffee filtriren und ihn mit Cigarrendampf und guten Einfällen, in eine Sophaecke gedrückt, behaglich niederschlürfen.

Nun, sagte Dankmar lächelnd, als die Wirthin Tassen zurechtgestellt und erklärt hatte, sie würde bald das heiße Wasser bringen, nun, wie ist es, Louis, haben Sie für das vierblättrige Kleeblatt geworben? Ist das Korn von jener Nacht aufgegangen? Fanden Sie Menschen, die würdig sind, in die kämpfende Brüderschaft vom Geiste zu treten?

Louis war auf Mittheilungen über Dankmar's großes Unternehmen gefaßt, nicht aber darauf, Bericht zu erstatten, was er selbst dafür gethan. Er erschrak fast und gerieth in Verlegenheit, ob er gleich an Murray, Oleander, Ackermann dachte.

Freund, fuhr Dankmar, als er sein Zögern bemerkte, [2892] fort, wir müssen vorläufig mit den Blicken werben! Das ist das Prüfzeichen der Wahrheit unsrer Ideen, daß wir vorläufig Menschen finden, die uns würdig scheinen, sich dem großen, innern Kreuzzuge anzuschließen. Sonst lernten wir Menschen kennen, die an uns vorübergingen und von uns vergessen wurden, auch wenn wir ihnen schmerzlich nachsahen. Jetzt haben wir etwas, was uns solche Begegnungen werther macht. Einen edlen Menschen finden ist jetzt für uns eine Eroberung. Wir sollen es mit ihm machen wie Entdeckungsreisende, wenn sie Inseln im Meere finden, die Niemand kannte. Sie pflanzen das Zeichen ihrer Nation auf, nehmen feierlich im Geiste von ihnen Besitz und reisen weiter. Oder wie man Zugvögeln eine Kette umhängt und sie fliegen läßt, wohin sie wollen, in der Hoffnung, sie würden irgendwo über tausend Meilen durch jenes Symbol doch einen Menschen erfreuen, der da sagt: Seht, diesem Reiher hing ein Araber, ein Hindu eine kleine Kette, einen Ring um mit seinem Zeichen und dies Zeichen lautet: Ich grüße dich, Bruder, Mensch, Freund in dem großen Geist, ob er nun Gott, oder Allah oder Lama oder Jehova heißt. So sollen wir jeder uns verwandten edlen Intelligenz unsichtbar das Zeichen der Ritterschaft vom Geiste aufheften und dann ihn wandeln lassen seiner Wege. Sie führen schon zusammen zu einem Ziele!

Dankmar sprach diese Bemerkung mehr im halben Scherz, doch blickte der Ernst und die sichre Absicht durch, diese Werbungen wahr zu machen ...

[2893] Louis nahm keinen Anstand, ihm zu erklären, daß es auch ihm so ginge. Er wisse nun immer, was er mit den Menschen, die er im Leben sähe, beginnen sollte. So müßten einst die Apostel gewandelt sein und sich sogleich die Seelen herausgefunden haben, denen sie die Botschaft vom Menschensohne bringen wollten. Früher hätte er geprüft, ohne Zweck; er hätte die werthvollen Menschen vergessen oder sich ihrer nur mit jener freudigen Wehmuth erinnert, die wol den Schiffer ergreifen müsse, wenn auf dem Weltmeer ein Segel an ihm vorüberfahre. Ein Salutschuß und dann ewige Trennung! Jetzt aber halte er im Geiste Jeden fest und möchte ihn dauernd zu dem großen Werke der Befreiung verbinden. Und wohl müsse er eingestehen, daß ihm auf dieser kleinen Reise schon Würdigste begegnet wären.

Nennen Sie sie nicht! sagte Dankmar. Es soll unserm Bunde zur Förderung dienen, daß wir nicht wissen, wer zu ihm gehört. Jeder soll werben, Jeder soll an gewissen großen Bundestagen Beweise dafür bringen, daß er Ritter vom Geiste gerüstet und gewappnet gefunden hat, aber die Erkennung sei eine zufällige! Keine Register! Keine Namen!

Louis hatte aber grade recht auf dem Herzen, von Oleander, Ackermann und besonders von Murray zu reden und Dankmar sah ihm seinen Drang dazu an.

Nicht wahr, sagte er, Ackermann scheint Ihnen würdig?

Im vollsten Maße!

Ein Großmeister unsres Ordens! Treu, fest, wohlwollend, [2894] unabhängig. Ja, Louis, unabhängig! Das hab' ich gefunden, das ist der einzige Standpunkt, auf dem man denkt, klar denkt und für die Menschheit etwas in die Schanze schlägt. Doch hab' ich auch Viele gefunden, die edel sind und gern möchten, wenn sie könnten. Da sollt' ich helfen können! Da sollte mein Erbe, ausgehend von den geistlichen Rittern, den geistigen Rittern wieder zufließen! Darum möcht' ich Schätze gewinnen, um die Schwachen zu ermuntern, Witwen, Waisen, die ihren Beschützer verloren, zu trösten, Unmöglichscheinendes möglich zu machen. Darum will ich Geld zu unserm Ringe! Darum mein Mühen und Sorgen um den Kitt unsres Gebäudes!

Louis entgegnete, daß die Männer, die er gefunden, auch ohne die Ermunterung und Schadloshaltung durch irdische Mittel sich der Ritterschaft des Geistes widmen, Helm und Harnisch anthun würden für den Kreuzzug der Idee ...

Um so besser, sagte Dankmar. Aber nennen Sie Niemanden! Sammeln Sie, werben Sie im Stillen! Ich bin so glücklich gewesen, daß ich wohl schon von zwanzig edlen Männern sagen kann: Sie sind die Unsrigen.

Louis staunte ...

Von Leidenfrost und Werdeck hab' ich brieflich gleiche Ergebnisse. Noch haben wir uns nicht konstituirt, noch fehlt uns die Symbolik, über die ich in nächtlichen Stunden grüble, wie einst Muhammed mag gegrübelt haben, was er von Zoroaster, Christus, Sokrates brauchen könne; noch sind mir nicht die Engel der rechten Erleuchtung erschienen [2895] und schon finden wir segensreiche Wirkungen. Lesen Sie nicht schon von vielen Orten her, daß die gefangenen Volksfreunde Mittel finden, zu entfliehen? Mancher, der das Schicksal einer Untersuchung nicht ahnt, wird bei Zeiten gewarnt. Jene Beamte, die kürzlich ihre Ämter niederlegten, weil sie mit ihrer Abhängigkeit in Widerspruch geriethen, wurden schon von uns unterstützt. Es finden sich Liebesgaben, die wie Wasser aus einem Felsen springen. Moses' Zauberstab wirkt Wunder. Es sind Herzen versöhnt worden, unbekannte Freunde zusammengeführt, Warnungen, Rathschläge empfängt man von unbekannter Hand und schon setzen die Vertrauten an die Spitze ihrer Briefe vier Punkte, die das vierblättrige Kleeblatt der seltenen Freundschaft bezeichnen. Alles regt sich schon, ein neuer Frühling des Geistes, ein Hoffnungslenz der Gesinnung beginnt; nur Siegbert schlummert noch. Nicht wahr, den fanden Sie wohl tief unter Träumen wandelnd? Glauben Sie, daß uns auch Siegbert Mannschaften zuführen wird?

Louis staunend über diese Schilderung konnte nichts versichern, bezweifelte es aber fast, da er sah, wie Dankmar gewirkt hatte und wie Der glühte vor innerer Befriedigung.

Siegbert wird uns Frauen nennen, die er gewinnen möchte, sagte Dankmar lächelnd. Er hatte dabei auf dem Herzen, nach Selma zu fragen ...

Schon lange lag ihm ein Wort über Selma auf den Lippen. Er wagte es nicht auszusprechen. Er war von der [2896] beklemmenden Vorstellung gedrückt: Wie, wenn sich Das, was Du mit Melanie erlebtest, bei Selma wiederholte?! Siegbert ist liebenswürdig. Er wird von Ackermann mit Zuvorkommenheit aufgenommen werden. Selma wird ihn sehen, ihn lieben. Und Siegbert? Kann sein Herz in Wahrheit bei Olga weilen, jenseits der Alpen? Kann er einer solchen Phantasie nachjagen? Auch die Fürstin Wäsämskoi, obgleich sie in unsrer Abwesenheit fast täglich hier anfragen ließ, wann wir zurückkämen, kann Die ihn für's Leben fesseln? Nein, nein, das Schicksal spielt unserm Herzen zum zweiten Male eine Prüfung zu. Siegbert und Selma finden sich und dieses Band darf ich nicht lösen, wie ich die Irrung zwischen Siegbert und Melanie löste!

Und so fest stand diese Vorstellung bei Dankmar, daß er in der That nicht den Muth hatte, nach Selma zu fragen und auch aus Furcht, von ihr zu hören, Louis' Mittheilungen über des Bruders Lebensweise rasch unterbrach und ihn nach seinen eignen Angelegenheiten fragte. Da hatte denn Louis die Erzählung über Murray und die Bitte um Dankmar's Rath und Beistand schon eingeleitet, als man die Treppe herauf Männerschritte hörte.

Frau Schievelbein, die eben das heiße Wasser in einem summenden Theekessel bringen wollte, öffnete und ein Herr im grauen Militärmantel trat auf den Vorplatz, gefolgt von einem andern, der sich Schnee und Regen aus einem dicken langzottigen Tüffelrocke abschüttelte ...

Die Kommenden waren Major Werdeck und sein Freund Max Leidenfrost.

[2897]
8. Capitel. Das Wachsen des Bundes
Achtes Capitel
Das Wachsen des Bundes
Wann kommen wir All' uns wieder entgegen,
Im Blitz und Donner oder im Regen?

rief Leidenfrost, als er Louis erblickte und sich der Major über das glückliche Zusammentreffen der vier im Geiste Verbundenen innigst zu freuen schien.


Wenn der Wirrwarr höher steigt
Und wer Sieger ist, sich zeigt!

antwortete Dankmar, auch die Macbethhexen parodirend, rückte Stühle heran, nahm dem Major den Mantel ab und schüttelte den Freunden, die er noch nicht gesehen, die Hände.

Graulieschen! sagte Leidenfrost zur Frau Schievelbein, Graulieschen, was brau'st du da für ein namenloses Werk?

Erlauben Sie, sagte die Alte, um so empfindlicher über diese Anrede eines Mannes, dessen »Komplimente« sie kannte, als sie wegen eines hohen Offiziers ihrer Toilette eingedenk wurde, erlauben Sie, ich heiße Eulalia und Das wird Kaffee, wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Leidenfrost.

[2898] Eulalia! Menschenhaß und Reue! fuhr Leidenfrost im pathetischen Tone fort. Kommt Einer da wol heraus aus seinen theatralischen Reminiscenzen? Ich studire gerade Goethe's Faust ein und komme aus dem Arrangement der Hexenküche.

Frau Eulalia Schievelbein brummte auf's Neue über sothane Anspielungen, beeiferte sich aber, die comfortabelste Erweiterung ihrer Arrangements möglich zu machen und suchte darin wirklich zu hexen.

Wir erfuhren, daß Sie wieder da sind, Wildungen, begann Werdeck. Und in Trauer! Wir kommen, um Sie theilnehmend zu begrüßen ... Ihr Verlust ...

Nur keinen Grabsermon! fiel Leidenfrost ein. Ich hab' ihm Alles geschrieben, was ich über die nothwendige Fütterung der Würmer denke und über die Seelenwanderung. Die Citronen, die die Leidtragenden in der Hand halten, werden am besten in aller Stille mit nach Hause genommen, wo sie zum Punsch verwendbar sind. Dankmar, wenn Siegbert da wäre, würde ich anständig condoliren. Da Sie es sind, denk' ich nur wieder:


Sie hätte auch gelegner scheiden können – es hätte
Sich bess're Zeit für solches Weh gefunden.

Das wohl! sagte Dankmar und setzte nach einer Weile hinzu: Aber Sie sind ja schon im besten Zuge Ihrer theatralischen Carriere, mengen Macbeth und Faust zusammen wie Kaffee und Sahne – bedienen Sie sich, meine Herren!

[2899] Das Beispiel meines Chefs, der ästhetisch solchen Milchkaffee liebt, sagte Leidenfrost, die Cigarrenbüchse hervorziehend, steckt mich an! Herr von Harder, mein gegenwärtiger Schiffspatron, steuert immer Nord-Nordost, wenn die Boussole der Literatur, Kunst und gesunden Vernunft Süd-Südwest zeigt. Schiller und Goethe ist ihm ein- und derselbe verschwommene, allgemein klassische, kassenverderbliche Begriff, nur daß er wenigstens aus den ästhetischen Anfragen der Hofdamen herausfühlt, daß in der grauen Nebelgegend, Schiller genannt, etwas mehr Sittlichkeit herrscht, als in der grauen Nebelgegend Goethe und umgekehrt, dort mehr Zeitgeist, als hier. Es ist prächtig. Auch Faust und Macbeth, die er beide einmal gesehen haben muß, in Wien, München oder Vaduz, rinnen ihm in demselben Hexenkessel zusammen. Heute auf der Probe des Faust erschien die Excellenz in selbstpersönlichster Person und wollte sich um das Arrangement der Hexenküche Verdienste erwerben. Wo kommen denn die Könige her, die dem Faust erscheinen, fragte er mich mit dramaturgischem Vorstudium und die Künstler lauschten, sich auf die Lippen beißend, in demüthiger Entfernung. Welche Könige, Excellenz? fragt' ich dienst-untergebenst. Nun, ich denke, ich habe Das schon einmal gesehen, sieben oder acht Könige, die – wie heißt der Teufel–Mephistopheles, Excellenz? Mephistopheles, ganz recht – durch einen Spiegel – vor dem Doktor Faust erscheinen läßt – ich hab's in Wien gesehen – macht sich sehr gut – es ist gleichsam, sozusagen, der ganze genealogische, [2900] der ganze genealogische – Sie meinen, Excellenz, der ganze künftige genealogische Kalender von England, Schottland, Irland – Ganz recht, von Irland – Excellenz irren sich, sagte der tollkühne, oppositionswüthige Regisseur, der vortrat, Sie verwechseln Faust mit Macbeth – dies kühne Wort der feindseligen gegen die Intendanz verschwornen Regie entrüstete den Geheimrath und veranlaßte ihn, einen vielsagenden Blick zu mir hinüberzuwerfen, ob ich ihn nicht aus Irland durch allerhand kleine Seitenwege doch dahin führen könnte, daß er diesem impertinenten Allesbesserwisser, den er nächstens ohnehin absetzen wollte, gegenüber Recht behielt – der Spiegel, sagt' ich, ist hier zur Rechten, Excellenz. Ich glaube, daß Sie auf Veranlassung des Spiegels ... Ein kleines Kind kommt vor, fiel Herr von Harder determinirt ein, ich weiß es aus Wien, ein kleines Kind kommt vor mit einem Spiegel, der Spiegel da ist zu groß und überhaupt, seien wir vorsichtig mit diesem kleinen Kinde – es ist gekrönt, ich weiß es sehr gut – es ist gekrönt und bedeutet die fruchtbare Dynastie von England – Sehr wahr! Aber – bemerkte der über meinen Beistand erschrockene Regisseur ... Die Dynastieen von England, sagt' ich, sind sehr fruchtbar, Herr Döbereiner; aber was wäre daran Gefahr ... Ja, sagte Excellenz, ich muß Ihnen bemerken, daß die jungen königlichen Herrschaften nicht gern an ihre liebsten Hoffnungen, an die Täuschung ihrer liebsten Träume – Excellenz wünschten die Descendenz-anspielung, das gekrönte Kind, fortzulassen? ... Er: Herr [2901] Döbereiner, streichen Sie das Kind weg – es ist für die Herrschaften störend! Der Regisseur: Aber Kindermord? Ich: Excellenz können ja auch die ganze Genealogie wegstreichen und blos den großen Spiegel nehmen lassen, worin Faust blos das Bild Gretchens sieht, nachdem er den Hexentrank zu sich genommen – Er: Ganz Recht, ganz Recht, Hexentrank! Aber, es müssen drei Hexen sein – ich weiß, es waren in Wien drei Hexen – Ja wohl, Excellenz, es sind drei Hexen, allein man nimmt doch gewöhnlich nur eine; sie kommt aus dem Schornstein durch eine Flugmaschine, die ich anbringen werde und für die beiden andern Hexen nehmen wir vier oder fünf Meerkatzen, die den Brei kochen, die bekannten breiten Bettelsuppen – hm, hm, räusperte sich der Intendant und warf dann einen Blick auf den Regisseur mit den Worten: Herr Döbereiner, geht Das? Es ist sogar vorgeschrieben, Excellenz, sagte dieser mit Entsetzen nach der Uhr sehende und seine Suppe und Hausfrau bedenkende Mann, seufzend vor Ungeduld. Meerkatzen? bemerkte der Intendant plötzlich und verfiel in ein nachdenkliches Grübeln; wie machen Sie denn Meerkatzen? Excellenz, sagte der geplagte Mann, dort die fünf kleinen Jungen vom Ballet werden in zusammengenähte Felle gesteckt und machen ihre Sache Abends ganz charmant! ... Excellenz: Ja, aber, bester Freund, Meerkatzen! Meerkatzen, Das ist leicht gesagt. Ich weiß sehr wohl, das sind Affen. Ich bin dafür, daß Alles vollkommen ist und die Kunst soll fortschreiten. Da ist hier der Maler Heinrichson gewesen.

[2902] Er ist jetzt in Italien! Der hat die Lady gemalt – wissen Sie, die Lady, die mit Apollo oder so einem Gott unter einer Decke spielte – wissen Sie, es war eine Muse – Wir verstehen Excellenz vollkommen – Also diese Lady hatte ein Verhältniß, wo Apollo immer in Gestalt eines Schwanes zu ihr kam – dummes Zeug das – aber gemalt macht sich's ... und diesen Schwan, den ließ ich aus Dänemark kommen ... Und so mein' ich fast, auch die Meerkatzen müßten doch eigentlich ... Nun erinnerte ich ihn, da ich seine tiefen Absichten verstand, an seinen Vater und dessen kleine Menagerie in Tempelheide – nein, sagte er, mein Papa hält keine Meerkatzen – Meerkatzen sind Affen – nicht wahr, Affen? – Affen, Excellenz! ... Nein, Papa liebt die Affen nicht, der gute alte Herr hat die Manie, Thiere zu bilden, aber die Affen mag er nicht, weil – ich habe den alten Papa Das sehr oft sagen hören, weil ... weil ... Excellenz stockten; ich ergänzte: Weil die Affen an sich die Karrikaturen der Menschen wären und nur den tollgewordenen Verstand der Thiere bezeichneten? – Richtig, brav, Leidenfrost; aber ich habe eine andere Auskunft. Da ist der Baron von Dystra angekommen, ein kurioser Heiliger, der einige Mohren und unter Andern auch Meerkatzen aus – ich weiß nicht – welchem Welttheile von Australien mitgebracht hat. Zu dem will ich doch wegen dieser Scene gehen. Ich denke mir doch interessant, wenn wir – Um Gotteswillen, Excellenz, rief Döbereiner, doch keine natürlichen Meerkatzen auf die Bühne bringen? Der Intendant stand still und sah forschend auf mich. Er hatte [2903] sich in der That im Stillen gedacht, daß eine Hexenküche mit natürlichen Meerkatzen viel Aufsehen erregen, und da er sehr ehrgeizig ist, vielleicht in der Kunstgeschichte ihm einen Namen erwerben würde. Ich konnte aber doch, um die unglücklichen Schauspieler zu erlösen, nicht anders, als sagen: O auf dem Tanzsaale oben, Excellenz, lassen Sie diese Jungen nur die Kapriolen der Meerkatzen des Herrn von Dystra beobachten und jedenfalls die in der Garderobe für diesen Zweck vorhandenen Kostümes nach diesen gewiß höchst echten australischen Meerkatzen korrigiren, respektive ganz neu anfertigen ... Vortrefflich, sagte der Intendant, schob die Vorstellung des Faust, obgleich schon alle Billets vergriffen sind, wieder auf zwei Tage hinaus und begab sich ohne Zweifel direkt zum Herrn Baron von Dystra mit dem erhebenden und gewiß in der Königs- und den Prinzenlogen zur vollsten Anerkennung kommenden Bewußtsein, daß er aus Goethe's Faust das in ihm gar nicht vorkommende gekrönte Kind meuchlings weggemolcht hatte, dagegen aber die Hexenküche mit treuen, fast lebendigen, jedenfalls der Natur abgelauschten Meerkatzen neu bereicherte.

Diese mit dramatischem Talente vorgetragene Erzählung des humoristischen Malers versetzte die kleine Gesellschaft in heitre Stimmung. Man rauchte, man schlürfte den braunen Trank und tauschte seine Erlebnisse aus. Auch Louis mußte erzählen und wurde von Werdeck besonders dazu aufgefordert, da der von ihm im Forsthause erlebte Vorfall in den Zeitungen, die zu jener Zeit, um ihre [2904] plötzlich vergrößerten Spalten zu füllen, Alles und Jedes aufrafften, schon berichtet und verkehrt genug entstellt war.

Louis fand dadurch Gelegenheit, über Murray zu sprechen und sein Interesse an dessen unglücklichem Schicksale durch eine Schilderung seines Charakters zu begründen. Er vermied dabei natürlich jede Andeutung über dieses Mannes wahre Geschichte. Für Dankmar war seine Erzählung besonders auch deshalb unterhaltend, weil er die Lokalität dieses Vorfalles kannte, durch den blinden Schmied und seine Beihülfe zur Unterschlagung des Schreins selbst in die größte Verlegenheit gekommen war und vor jener Ursula Marzahn nach Heunisch's Mittheilungen selbst Grauen genug empfunden hatte. Freilich fügte er hinzu, daß hier zu helfen schwierig sein würde und daß kaum etwas Andres möglich wäre, als den Gang der Untersuchung abzuwarten. Bedenklich bliebe unter allen Umständen der Besitz eines Terzerols, die jähe, vielleicht übereilte Anwendung dieser Waffe, die zu einer vollgültigen Zeugenaussage unzurechnungsfähige Verstandesschwäche jener Frau, die ihm so hexenartig erscheine, daß, setzte Dankmar hinzu, Herr von Harder sie eigentlich noch für den neueinstudirten Faust auch benutzen müßte, wenn dann nur nicht wiederum eine neue Störung des Repertoirs würde einzutreten haben.

Da Louis zuletzt jenes Otto von Dystra Erwähnung gethan und bemerkt hatte, ob ein Mann, der Murray so nahe stünde und einflußreich scheine, nicht auch in das [2905] Interesse einer Verwendung für den Gefangenen gezogen werden sollte, schloß Dankmar seine klare und rechtskundige Darstellung dieses Falles mit den Worten:

Ich billige vollkommen, daß man diesem die Noth seines Freundes anzeigt. Wer die Freundschaft eines so vortrefflichen Menschen, wie Sie Murray schildern, besitzt, muß für edlere Dinge als die Kapriolen von Meerkatzen Sinn haben. Ich will Sie, da Sie es wünschen, noch heute Abend zu diesem Manne begleiten.

Louis dankte erfreut. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Auch die Andern lobten ihn für seinen warmen Antheil und fanden es freundlich von Dankmar, daß er sich diesem Ersuchen nicht entzog.

Da Louis diese Last etwas erleichtert fand, hörte er jetzt mit um so größerer Aufmerksamkeit den Erörterungen zu, die sich über die gemeinsame Angelegenheit ihrer Ordensstiftung erhoben. Der Gegenstand war zu wichtig, zu bedeutungsvoll, als daß er ihm nicht mit Freuden diesen Nachmittag hätte opfern sollen.

Wir haben uns, begann Dankmar, nach jenem Abend plötzlich getrennt, sind da- und dorthin auseinandergestoben, aber der Funke begleitete uns und zündete. Auch am Sterbebett meiner theuersten Angehörigen beschäftigte mich unser großes Ziel und von Ihnen Allen – Siegbert ausgenommen – hör' ich, daß Sie gewirkt haben. Meine Hoffnung, dem Bunde unser Erbe zuzuführen, wird immer schwankender, ich gebe sie auf. Dennoch, ob wir gleich noch nicht eine Form gefunden haben, die uns [2906] zusammenhält, obgleich noch kein Eid uns bindet, keine Symbolik in Bücher oder mündliche Tradition niedergelegt ist, wirkt doch schon der Geist im Stillen und die Liebe sehnt sich mächtig, die Ihrigen zu umfangen. Ich weiß, Leidenfrost und Sie, bester Major, haben Würdige gefunden. Die Namen nennen wir nicht. Wir wissen nicht, wir glauben nur. Und daß Ihr Vertrauen sich nicht täuschte, beweist z.B. dieser Brief, den ich gestern empfing. Er ist ohne Namen. Lesen Sie diese Worte.

Damit zog Dankmar einen Brief aus dem Portefeuille, das er auf der Brust trug, entfaltete ihn und zeigte ihn am Tisch rundum. Er lautete, eingeführt mit den vier Kleeblattpunkten:

**** »Sie verlieren die zweite Instanz Ihres Prozesses! Dieser Tage erhalten Sie das Erkenntniß. Wagen Sie den Versuch der letzten Entscheidung bei'm Obertribunal! Der alte Nestor unsres Justizwesens, der greise Herr von Harder, interessirt sich für diesen Gegenstand. Die Stadt rüstet sich bereits, die Möglichkeit zu erwägen, wenn sie den Prozeß verlöre. Der Rath hat in geheimer Sitzung diskutirt, ob für diesen Fall nicht die Verausgabung von zwei Millionen Stadtkammerscheinen erlaubt werden dürfte.«

Man freute sich über diese Mittheilung. Sie kam jedenfalls von einer wohlwollenden Persönlichkeit, die Dankmar vielleicht nicht einmal kannte. Man prüfte die Handschrift und Niemand wußte, wo er sie hin bringen sollte.

So wächst denn unsre Saat, fuhr Dankmar fort, und die Ernte wird immer größer werden. Ich gewinne Meinungsgenossen, [2907] diese schon Andre und so dehnen sich die Glieder einer Kette aus, die wir nicht mehr ganz übersehen können. Wer weiß, ob diese Worte nicht von einem Manne kommen, der uns durch Sie, Major, oder durch Leidenfrost gewonnen wurde.

Leidenfrost bemerkte, daß er werbe, aber schwerlich so glückliche Erfolge haben würde wie die Andern. Dennoch hätte auch er schon Zeichen empfangen, daß man ihn als einen Bundsgenossen kenne; auch er müsse einen Brief vorlegen, den er mit demselben Symbole der vier Kleeblätter erhalten hätte und offenbar wäre er von einer andern Hand als der, die an Dankmar geschrieben.

Der Brief, den er hervorzog und mittheilte, lautete:

**** »Werben Sie für unsre große Sache, aber suchen Sie nur Männer zu gewinnen, die in der Gesellschaft Ihnen gleich- oder über Ihnen stehen! Sie sind in der Rangordnung Ihres Verdienstes vielleicht ein König, nichtsdestoweniger werden Sie einräumen, daß in Ihrer gesellschaftlichen Situation Sie noch hoch emporzublicken haben. Vertrauen Sie die Sache des Bundes, die Kennzeichen, den Namen der Betheiligten Keinem, der unter Ihnen steht, keinem Handwerker, keinem Mitgliede der Arbeitervereine, am wenigsten jenen Künstlern, mit denen Sie seit einiger Zeit verkehren. Schauspieler haben noch immer von ihrer alten gesellschaftlichen Lebensstellung soviel an sich haften, sind noch so beengt und eingeschüchtert von dem alten Vorurtheile, das ihren Stand verfolgte, daß Sie in dieser Sphäre bei jedem Worte des [2908] Vertrauens, das Sie schenken, voraussetzen müssen, man brüste sich mit ihm. Nur die Schauspieler, die eine un-bestrittne Meisterschaft besitzen – und wie wenige sind Deren! – rühmen sich ihrer Protektionen nicht; auch sind zuviel unter ihnen Freimaurer, vor denen wir uns aus Gründen zu hüten haben. Wenn Sie den Grundsatz festgehalten hätten, daß der Gesell nur einen Meister gewinnen soll, nie der Meister Gesellen, so würd' ich nicht nöthig haben, Sie auf's Ernstlichste zu warnen. Sie stehen auf der Liste der von den Behörden Beaufsichtigten. Ihre Reden in den Arbeitervereinen müssen Sie einstellen. In dieser Weise wirken Sie nichts und entziehen der guten Sache Ihre frische Kraft, deren Misbrauch auf der Breterwelt hoffentlich nur ein vorübergehender sein wird.«

Leidenfrost trug diesen Brief so komisch vor, daß er trotz seines ernsten Inhaltes Lächeln erregte. Alle Drei seiner Bundesgenossen gestanden zu, daß er eine wenn auch einseitige, doch gute Lektion bekommen hätte. Man rieth, von wem dieser Brief kommen könnte. Wer weiß, ob nicht von Jagellona Kaminska! sagte Dankmar und verrieth damit, daß der Major seiner Frau wol geplaudert hätte. Leidenfrost erröthete fast und Werdeck lehnte jeden Verdacht der Indiskretion ab. Louis Armand aber erschrak so heftig über diesen Namen, den Dankmar nannte, daß er sich nicht länger halten konnte, sondern seine Vermuthung aussprach, wohl gar mit dieser Polin verwandt zu sein. Die Genealogie des jungen Franzosen wurde erörtert, die Familientradition bis auf ihre ersten [2909] Ursprünge verfolgt und zu allgemeinster Überraschung stellte sich über allen Zweifel heraus, daß die Majorin von Werdeck die Tochter jenes Stanislaus Kaminski war, der 1794 nach der Schlacht von Maciejowice von den Russen gefangen, nach Sibirien geschleppt wurde und auf einem Fluchtversuche im Jahre 1812 um's Leben kam. Ein Enkel des glücklicheren Thaddäus Kaminski war Louis Armand. Voll Liebenswürdigkeit umarmte der Major seinen Anverwandten und drang in Louis, ihn seiner Gattin vorstellen zu dürfen. Nur aus Schonung für Leidenfrost brach man diese Erkennungen ab, die den Blick wie auf einen wunderbaren Baum eröffneten, dessen Äste und Zweige, wenn auch vom Blitze gespalten, doch sich zu nahen wußten und in inniger, neuer Verschlingung auf dem uralten Stamm die heiligen Schauer weckten, die wir vor dem geheimnißvollen Walten in Zeit und Raum empfinden.

Wer nun auch dieser strenge Warner sein möge, lenkte Dankmar ein, die Schutzgeister der Todten oder der Lebendigen, die schon aus allen Zeiten und Zonen über uns zu wachen scheinen, sie haben einen Satz ausgesprochen, den ich denke in unser Ordensbuch aufzunehmen. Kein Meister soll Gesellen, sondern Gesellen sollen immer nur Meister werben! Darin find' ich, übertragen auf alle Gesellschaftsstufen, eine große Bürgschaft richtiger und zuverlässiger Wahl. Wie gern kommt der Untergeordnete Dem entgegen, von dem er Beweise der Gunst und Herablassung erwarten kann! Im Gebiete der Materie, der physischen Kraft, mag das stärkere Prinzip die schwächeren [2910] Atome an sich ziehen. Da, wo der Geist walten soll, müssen wir es, wie dereinst in Galiläa Fischer, dahin bringen, daß den Fischern Schriftgelehrte folgen. Ich denke, wir erheben diesen Satz zu einer Ordensregel: Jeder, der in diesen Bund eintritt, muß von Einem vorgeschlagen sein, der nach dem gesellschaftlichen Maaßstabe unter ihm steht.

Dieser Satz war neu und sehr ernst. Leidenfrost machte auch gleich seine gewohnten Schwierigkeiten und sprach vom Staatskalender, von der vierzehnstufigen russischen Dienstordnung, allein Werdeck, der in der Einschachtelung der höhern und geringern Grade aufgewachsen war und vom Zusammenhang seiner Gattin mit Louis Armand, von den Schicksalen, die dieser über die Kaminski'sche Familie erzählt hatte, noch überrascht war, bestätigte allmälig auch Dankmar's Äußerung über die große und immer täuschende Konvenienz der Geringern gegen Höhere im weitesten Umfange.

Was hülfe es uns, sagte er, unser Kapitel mit Theilnehmern und Ordensrittern zu überladen? Die neuen Templer würden keinen Raum finden, der sie Alle aufnähme! Wir müssen das Gewinnen von Novizen schwerer machen als das Anwerben von Rekruten. Wir brauchen ein ganzes Leben, einen ganzen Menschen, dem wir das Handgeld zahlen, nicht blos einen herablassenden Handschlag und einige gewinnende Vertraulichkeiten. Unter mir kenn' ich genug, die mir folgen würden; aber diese sollen mich gewinnen, sich selbst mir nähern. Ich möchte [2911] mich an den Obersten von Neidhard wagen, einen Mann ohne Vorurtheile, an den General von Rauten, einen tiefsinnigen Denker, dem ich nur das Einzige vorwerfe, daß er dem General Voland von der Hahnenfeder zu nahe steht ...

Dem Krypto-Jesuiten? sagten fast Alle einstimmig.

Merkwürdig, fuhr Werdeck fort, wenn über einen Charakter ein so allgemeines Urtheil feststeht, so muß Etwas wahr an dem Gerücht sein, das ihn verfolgt. Und doch ist Poesie und Schwung in diesem General, der dem Könige so nahe steht und seine jugendliche Einbildungskraft gefangen hält. Er strebt in Allem nach dem Außergewöhnlichen und gleicht doch einer kalten metallenen Mauer, von der man immer abgleitet. General Rauten vertraut ihm wie einem Evangelium. Was Voland sagt, ist ihm der Ausspruch eines Sehers. Er vergleicht ihn oft mit den Augurn, die Roms Schicksal aus dem Fluge der Vögel oder dem Appetit gewisser Hühner weissagten ...

Vertrauen Sie sich diesem General nicht, Major, sagte Dankmar; er würde Voland zu gewinnen suchen und wir würden plötzlich, ohne es zu wissen, von den Jesuiten regiert, wie es so oft die Freimaurer wurden, die nicht ahnten, welcher Wolf in ihren Schaafstall eingebrochen war und friedlich mit ihnen aus einer Krippe fraß.

Werdeck fand sich aus der Idee, General Voland zu gewinnen, nicht leicht heraus. Man sah, daß ihn gerade das im militairischen Stande noch bewahrte allgemeine menschliche und höhere Ideelle an Voland fesselte. Inzwischen [2912] erklärte Louis, daß er, der auf einer so tiefen Gesellschaftsstufe stünde, offenbar das glücklichste Feld der Wirksamkeit hätte, dennoch würde er große Vorsicht anwenden. Voll Sehnsucht dachte er an Oleander. Ihm wollte er suchen brieflich immer näher zu rücken.

Und was denken Sie zu thun, Leidenfrost? fragte Dankmar.

Sie wissen, lieber Wildungen, sagte Leidenfrost, ich gehöre zu Denen, die eigentlich an eine Klärung unsrer Zeit erst dann glauben wollen, wenn sie einmal recht tüchtig umgerüttelt worden. Indessen will ich an Ihren Geistesbarrikaden bauen helfen und meine schönen strategischen Kenntnisse, die ich mir Abends mit Schwefelhölzchen, die meine Truppen vorstellen, erworben habe, in die Schanze schlagen. Ist man mir auf den Fersen, so wird es von Nutzen sein, daß ich mit drei meiner tüchtigsten Arbeiter nach Plessen zu reisen habe, um dem Generalpächter Ackermann die von ihm bestellten Maschinen zu überbringen, die den großen Richelieu und Sully, Prinz Egon genannt, aus seinen Schulden retten sollen. Vergeben Sie, Armand, daß ich einen Mann, dem ich nicht mehr über den Weg traue, Ihnen zu Gefallen mit den größten Staatsmännern der Franzosen vergleiche ...

Louis mußte einräumen, daß der Plan, Egon zum Vertrauten einer so schwärmerischen Einwirkung auf die Zeit zu machen, wohl unter den jetzigen Verhältnissen aufzugeben sei ...

Um von Egon abzubrechen, fragte Dankmar den Major, [2913] ob denn auch er noch nicht die Einwirkungen der weitern Ausbreitung der Idee von der kämpfenden Geistesbrüderschaft erfahren hätte?

Allerdings, sagte dieser lächelnd und zog zum Erstaunen der Andern gleichfalls einen Brief hervor.

Es ist, sagte er, hier schon wie mit jener Kugel, von der Wallenstein spricht: Einmal aus dem Laufe – wie heißt die Stelle, Leidenfrost?

Sie mag heißen wie sie will, Major, sagte dieser, sie paßt nicht mehr, wenn man in der Armee meine neue unverbesserliche Zündnadeltheorie einführte. Bringen Sie mich nicht auf Theatercitate! Sonst erleben Sie meine Unterhaltungen mit dem Geheimrath über die Armatur des Dreißigjährigen Krieges und das Kommisbrot für Wallenstein's Lager ...

O ein andermal! Wir halten Sie bei'm Worte, Leidenfrost! Gelegenheit durch Lachen sich aufzuheitern werden wir noch oft genug finden.

Der Brief, Major! drängte Dankmar.

Der Major gab Dankmarn einen Brief, der so lautete:

**** »Bereiten Sie sich auf eine Katastrophe vor! Ihre Gesinnung ist der Armee ein Gräuel! Ein Offizier, von Adel, in unmittelbarer Nähe des Hofes, bei einer bevorzugten Truppengattung, aufgewachsen in dem esprit de corps unbedingter Hingabe an die Interessen des alten Feudalstaates, neigen Sie sich zu den Anschauungen der Neuzeit, verlangen militairische Reformen, verspotten ehrwürdige Institutionen, bezweifeln die nachhaltige [2914] Schlagfertigkeit der jetzigen Heereseinrichtung und äußern sich öffentlich über die Stellung des Kriegers, die Sie in der Mitte zwischen Disciplinar- und Staatsbürgerpflichten unglücklich nennen! Da man weiß, daß Sie für offne Rügen Ihrer Gesinnung die übliche Genugthuung fordern würden und es die kleinen in den Kafés und auf der Wachtparade schimpfenden und bramarbasirenden Junker vorziehen, ihr Blut nur auf dem Felde der Ehre zu verspritzen, so ist fast anzunehmen, daß die Briefe, die auswärtige Flüchtlinge an hiesige Demokraten, in denen Ihrer als eines Bundesgenossen und schlagfertigen Verschwörers Erwähnung gethan wird, geschrieben haben, unechte, untergeschobene sind. Ordnen Sie Ihre Papiere! Entfernen Sie Alles, was Sie irgendwie belasten dürfte! Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Sie wegen gewisser vorgefundener Briefe binnen Kurzem vor ein Militairgericht gestellt werden.«

Die Bestürzung, die dieser Brief bei den Freunden hervorrief, war nicht gering. Man begriff nicht, wie der Major dabei so ruhig bleiben und sagen konnte:

Anfangs hielt ich diese anonyme, mit unserm Zeichen versehene Mittheilung für einen Scherz. Seit ich aber finde, daß Alles, was man in dieser Form auch Ihnen mittheilte, auf vernünftigen Grundlagen beruht und von einem wirklichen Wohlwollen eingegeben ist, seh' ich diese Warnung schon ernster an. Indessen bin ich durch nichts beunruhigt. Die einzige Konspiration, in die ich mich eingelassen habe, ist die unsrige. Sie beruht auf [2915] Ideen und entbehrt jeder Form. Ich erkenne schon lange die geheimen Spuren eines mir immer näherrückenden tiefangelegten Planes, der von jenen unglückselig verblendeten Reubündlern ausgeht, deren Gesinnung überall dahin verzweigt ist, wo aus einer öffentlichen Kasse ein Gehalt gezahlt wird oder durch die neue Umwälzung irgend ein altes Recht verloren ging. Weil ich erklärt habe, daß man vor dem Geist der Zeit nicht erschrecken, ihn zum Durchbruch kommen lassen und dann erst aus diesem Geist selbst regeln, dann erst mit wahrer Liebe zur Freiheit die Freiheit lenken müsse, bin ich verhaßt, verfolgt und es soll mich nicht wundern, wenn man irgend etwas ersänne, um mir, wenn nicht meine Ehre, doch diesen Rock, den ich im Dienste des Vaterlandes zu tragen glaube und auf den ich stolzer bin, als diese kindischen Alten und diese jungen Greise auf ihre Schnüre und Achselbänder, vom Leibe zu ziehen. Wehe aber Denen, die sich in ihren Intriguen nicht vorgesehen haben! Ich bin durch die Disciplin nicht entmannt. Ich fühle etwas von jenem selbstständigen Soldatengeiste in mir, der mit dem Degen in der Faust sein Recht vertheidigt und im Grunde nur so lange dient, als er dienen will und muß. Die Krieger im Mittelalter waren Männer, selbstständig, frei, sie dienten um Lohn und konnten scheiden von ihren Verpflichtungen, wenn sie kein Geld mehr nahmen. Diese neuen Armeen, die das Kabinetsinteresse geschaffen hat, sind die wahren Plagen der Menschheit. Unglückliche bedrängte Zeiten schufen sie. Sie mußten da sein, um einige neuere [2916] Staaten zu erretten, einige Völker von ihren fremden Unterjochern zu befreien. Damals waren es bewaffnete Völker, bewaffnete Bürger. Mußten diese Armeen nun bleiben? Mußte der Begriff der allgemeinen Volkswehr für ewige Zeiten festgehalten und nur zum Besten der Kabinete ausgebeutet werden? Diese Armeen sind die gefährlichsten Störungen unsrer Ordnung und ehe sich nicht alle Völker Europas darüber verständigen, was Krieger sein sollen, wozu man Armeen unterhält, ehe nicht, da friedliche Verständigung hierüber kaum möglich ist, dies ganze furchtbar gespannte Verhältniß einmal von selbst zusammenbricht, eher kommt nicht Friede Freiheit, Glück auf diese Erde. Ich bin ein Atom in dieser Betrachtung. Aber den Muth, der Dummheit der Masse gegenüber mit Hussen's o sancta simplicitas! auf einem Scheiterhaufen immerhin in furchtbarster Minorität zu stehn, den hab' ich und sehe den Intriguen dieser Menschen, die ihr Lebtag nur den Weibern, dem Spiel, der Trivialität nachjagten, getrost entgegen.

Werdeck war von dieser Erklärung so aufgeregt, daß er, obgleich von seiner Ruhe sprechend, doch mit glühendem Antlitz in dem kleinen Zimmer auf und nieder ging ...

Ich fühle, fuhr er, als die Freunde besorgt schwiegen, ich fühle, was an diesem meinem Aufenthalt unter Ihnen, meine Herren, für meine Position bedenklich ist! Man hält mir jenen Corpsgeist entgegen, der mir es unbedingt verbieten solle, Andre aufzusuchen als Meinesgleichen.

[2917] Wie die Jesuiten in Freiburg erzogen werden, chinesisch abgeschlossen, so sollen wir Offiziere leben! Warum denn? Warum denn mit gebrochenem Herzen unter der Fahne stehen? Ich bin vom Adel, meine Vorfahren bedeckten die Schlachtfelder vieler Campagnen, soll ich die Erbschaft der alten Vorurtheile übernehmen und diese tolle Einbildung meiner Standesgenossen dadurch unterstützen, daß ich meinen Verstand a priori gefangen gebe und die Anmaßungen vertheidige, die immer auf Rechnung der Ordnung und wieder der Ordnung und des göttlichen Rechtes gehen? Nein, ich weiß es leider, ich bin ein weißer Rabe in der Armee und nie auch werd' ich dazu kommen, ein revolutionärer Offizier wie Cromwell oder Napoleon zu sein, aber dies fühl' ich, wenn ich von der Glorie des Kriegerstandes träume, denk' ich eher an Cromwell und Napoleon als an unsre Wachtparadengenerale, die loyale Adressen unterschreiben, jeden Civilisten spießen wollen und sich mit Frau und Kind bei allen konservativen Demonstrationen nur wie für ihren Schlafrock und ihre Pantoffeln betheiligt haben.

Dieser Erguß eines gereizten Wahrheitsdranges wurde auf eigenthümliche Art unterbrochen. Der Briefträger kam und brachte Dankmar Wildungen eine couvertirte Einladung zum nächsten Reubund-Balle.

Wie kommt der Glanz in unsre Hütte? sagte Leidenfrost.

»Eingeführt durch den Vorstand,« bemerkte Louis, die Karte von allen Seiten betrachtend.

[2918] Dankmar aber sagte halb staunend, halb lachend:

Sonderbar, das ist bereits die zweite Einladung. Vor vierzehn Tagen erhielt ich die erste, die ich nicht benutzen konnte. Und auch diese wird liegen bleiben.

Man rechnet auf Ihre Erbschaft, sagte Werdeck. Wenn diese in die Bundeskasse flösse, Freund! Sie dürften Ordensstatuten schreiben, welche Sie wollen, nur eine Aussteuerkasse, nur eine Rentenanstalt damit verbunden ... o das Geld! das Geld!

So viel ist klar, bemerkte Dankmar und schloß die gegenseitigen Mittheilungen, wir sind schon von einem räthselhaften Gespinnst bedenklich umwoben. Unser Schicksal haben wir nicht mehr frei in unsern Händen. Beobachtet wurden wir längst, aber jetzt merken wir sogar die thätigen Eingriffe in unsre Entschließungen. Aufforderung genug zur Vorsicht! Unsre Bundesidee wollen wir sich von selber fortpflanzen lassen, noch ohne Form und Verabredung, bis die Zeit da ist, einmal einen Tag, irgendwo im Auslande oder an einem sonst verschwiegenen Orte auszuschreiben und da zu sehen, wer sich findet, wer sich schon auf uns bekennt. Könnt' ich an einem solchen Bundestage sagen: Hier habt Ihr die elastischen Springfedern, die leider auch der Gedanke bedarf, um sich oben zu erhalten! Hier habt Ihr Mittel, um dulden zu können, verfolgt zu werden und Die zu trösten, die um unsertwillen leiden! Hier leg' ich die Erbschaft der alten Templer den neuen zu Füßen, die erworbenen Güter des alten Kreuzes den Bekennern des neuen –

[2919] Bitte! rief Leidenfrost, nicht so viel Wind! Das Papiergeld fliegt davon. Es ging mir jüngst so mit zwei Thalerscheinen, als ich auf der neuen Brücke stand und in meinem Portemonnaie einen Dreier für einen Armen suchte. Ehe der Bügel zuklappte, schwammen die Vögel schon den Strom der Vergessenheit hinunter.

Dankmar, der sich nicht stören ließ, fuhr aber fort:

Wenn ich mir dächte: Man gründete Schulen für freie Religionsbekenntnisse, stiftete Stipendien auf Universitäten für bestimmte Aufgaben unabhängiger Wissenschaftlichkeit, arbeitete den Jesuiten entgegen, die sich überall Kirchen kaufen können, um zu predigen, während die ganze deutsch-katholische Bewegung gescheitert ist an der Armuth ihrer Bekenner! Keine Kirche that sich auf. Kein großer gefeierter Theolog konnte sichergestellt werden. Keine neubegründete Schule konnte Freiunterricht gewähren, während alle alten Institutionen, die sich überlebt haben, gleichsam ihre dürren Arme ausstrecken und nur um des Mammons willen, den sie in vollen Truhen besitzen, die Massen an sich ziehen!

Werdeck schüttelte Dankmarn die Hand.

Verzagen wir nicht! Es kommt ein Geistesfrühling!

Ergriffen schlugen Alle ein.

Gedenken wir des Fünften im Bunde, Siegbert's! sagte Leidenfrost. Wir Alle sind zu stürmisch! Louis Armand und Siegbert sind unsre sanften Johannesjünger! Ihre Wege sind die der Liebe! Sie wirken vielleicht mehr als wir!

[2920] Damit gingen die Freunde. Werdeck zu seiner Gattin, um ihr den neuen Verwandten anzukündigen und sie auf seinen Besuch vorzubereiten, Leidenfrost in die Willing'sche Anstalt, um dort den Tag seiner Abreise zu vernehmen. Dankmar und Louis wollten forschen, wo Otto von Dystra wohne. Leidenfrost konnte es ihnen schon sagen: In der Stadt Rom.

Louis und Dankmar gingen in die Stadt Rom.

[2921]
9. Capitel. Die Stadt Rom
Neuntes Capitel
Die Stadt Rom

Auf einem seidnen Kanapé, den Kopf in ein Rückenkissen gelehnt, ein großes Kupferwerk durchblätternd, lag ein nicht mehr junger Mann wie ein Taschenmesser zusammengeklappt. Der fast haarlose Kopf war von einer eigenthümlichen spitz zulaufenden Bildung. Die hohe Stirn, die freien Schläfe leuchteten fast chinesenhaft, dagegen war die Pflege des Bartes türkisch. Die Augen zwinkerten aus mehr ovallänglichen als runden Höhlen und lagen tief versenkt. Um den Mund, der zuweilen aus einer Bernsteinspitze eine Cigarre wieder neu anblies, erkannte man trotz des reichen gefärbten Bartwuchses die zuckenden Schlänglein der Ironie und Satyre, die sich zuweilen in große Falten verwandelten, wenn der Sonderling das Buch fortlegen, die Cigarre aus dem Munde nehmen und über irgend etwas, was ihm plötzlich einzufallen schien, laut lachen mußte. Ein dunkelblausammetner Schlafrock mit gelben Schnüren besetzt hüllte die kleine Figur des kahlköpfigen Schwarz-Bärtlings behaglich ein und vermehrte den orientalischen Typus, der noch durch die Vorhänge des Zimmers und [2922] den mit gewirkten Teppichen bedeckten Fußboden erhöht wurde.

Das große von dem die behaglichste Siesta genießenden Manne durchblätterte Kupferwerk waren die Abbildungen der in Niniveh ausgegrabenen Denkmäler. So sehr ihn diese abenteuerlichen Steinmassen, diese kolossalen Thier- und Götzen-Steinbilder zu interessiren schienen, so frisch und rege mußte doch auch noch ein andrer in ihm nachwirkender Gegenstand ihn ergreifen. Dieser war komischer Art, zum Lachen reizend, zum lautesten Lachen ...

Vor ihm, der zusammengekauerten, mit einem türkischen Fez auf dem Haupt bedeckten Gestalt, stand auf einem runden Tische eine, wie es schien, längst ausgetrunkene Chokoladentasse und eine Karaffe frischen Wassers, die ebenfalls fast ganz geleert war. Der weiße Porzellanofen verbreitete eine angenehme Wärme und die Größe der Fenster bewirkte, daß trotz der Vorhänge und der unfreundlichen düstren November-Witterung das Zimmer noch leidlich hell war, obgleich es schon weit über Mittag schien.

Der kleine Bewohner dieser behaglichen, durch Treibhausblumen geschmückten Räumlichkeit klingelte nun. Ein Schellenzug hing grade über seinem etwas zu vollkommenen Rücken.

Ein Neger in phantastischem, doch warmem Anzuge trat ein. Er hatte eng anliegende, rothe Unterkleider, die bis zu den Füßen gingen. Die Füße waren mit gelben [2923] Stiefeln bedeckt. Doch über den warmen Unterkleidern hing eine griechische kurze Jacke und noch ein eben solches sehr weites, aber kurzes Beinkleid. Die Jacke und das zweite Beinkleid reich mit Goldtressen geschmückt. Um den Hals hing dem Schwarzen ein stark vergoldeter Reifen, der doch wohl inwendig weich gefüttert war und eine Cravatte von Metall vorstellen konnte.

Nun, Spartakus, wurde der Neger von seinem im Lachen sich endlich beruhigenden Herrn angeredet, ist Alles bereit, wenn meine Gäste kommen und mit mir speisen werden?

Spartakus nickte.

Noch immer traurig? sagte der Andre. Siehst du nicht, daß ich lachen muß?

Damit lachte sein Herr und rief den Diener näher.

Zerstreue dich, Spartakus, sagte er und zeigte ihm einige von den Bildern in dem großen Kupferwerke. Siehe, so bauten die Menschen ihre Kirchen, als noch der gute Prophet Jesus nicht auf Erden war –

Spartakus verneigte sich bei dem heiligen Namen.

Damals, Spartakus, als man so baute, war vom Taufen noch nicht die Rede. Die Menschen waren blinde Heiden, wie es du und deine Alten in Angora waren. Aber Priester hatten sie doch und in einer solchen Zelle, wie du da siehst, zählten sie vielleicht, was der Klingelbeutel eingebracht hatte, der sicher auch bei jenen Götzendienern, wie hier, herumging.

Spartakus nickte stumm zu diesen in englischer[2924] Sprache geäußerten kirchlich archäologischen Bemerkungen.

Ist Cicero noch nicht zurück? fragte der Freund der babylonischen Baukunst.

Spartakus schüttelte den Kopf.

Du bist sprachlos, armer Spartakus! Du hast unsre treuen Reisegefährten verloren. Die Papageyen sind fort, die Affen und die Meerkatzen nun auch. Wer weiß, ob ich nicht auch ...

Spartakus warf sich Otto von Dystra – denn dies war der humoristische, kleine Cigarrenraucher, der Türke im Schlafrock – auf dies gezogene: »Ob ich nicht auch« mit leidenschaftlicher Gebehrde zu Füßen ...

Wetter, was soll Das? rief Dystra und brachte mit gespitztem Munde einen Laut, etwa wie: Huit! hervor, den man mit dem Klange einer kräftig geschwungenen Peitsche vergleichen konnte.

Die Wirkung war elektrisch. Spartakus sprang nach diesem Huit! auf, als wäre er wirklich von einer Peitsche getroffen worden.

Da – aqua fresca – Huit!

Spartakus hatte die leere Caraffe von seinem Herrn bezeichnet erhalten, ergriff sie und sprang hinaus wie ein Hund, der zum Apportiren dressirt ist.

Wie er die Thür zum Vorzimmer öffnete, stand draußen ein Mann in einem mit Pelz verbrämten grünen Schnurrock, eine Mütze in der Hand ...

Spartakus wollte ihn nicht einlassen ...

[2925] Ein kräftig gepfiffenes wiederholtes Huit! aber unterbrach wieder seine dienstfertige Zurückweisung und der Fremde, der es für Dystra nicht war, trat ein.

Willkommen! Willkommen! sagte Dystra mit freudiger Begrüßung und reichte dem Eintretenden, einem schlankgewachsenen, nicht mehr jungen Manne mit kräftigem rothem Bartwuchse die zarte, fast weiblich weiche Hand. Willkommen, Inspektor! Meine Vorzimmerteufel haben doch sonst kein so schlechtes Gedächtniß ...

Es muß wol der Andre sein, sagte der Eintretende, den ich in Buchau gesehen habe ... wie soll man diese beiden geputzten Schornsteinfeger nur unterscheiden –?

Der Eine, sagte Dystra und nöthigte den Besucher sogleich zum Sitzen, der Eine ist so alt wie der Andre, gleicher Wuchs, gleiches Haar, gleiche Nüstern und Zähne haben sie auch. Aber der Andre, den Sie von Buchau kennen, hat ein Mahl wie eine Erbse groß am Kinn, eine sogenannte Kichererbse und der zu Liebe nannt' ich ihn Cicero ...

Cicero! Ganz Recht! Ich glaubte, Sie hätten ihm diesen Namen seiner stummen Beredtsamkeit wegen gegeben.

Englisch macht Cicero seinem Namen Ehre, aber das Deutsche will sich ihm nicht recht abgurgeln. In Deutschland mag er seinem Namen durch die Kichererbse Ehre machen, von der Markus Tullius den Beinamen empfing. Der Schlingel da heißt Spartakus. Ich gab ihm diesen Freiheitsnamen, als ich ihn von einem Pflanzer in Charlestown loskaufte. Spartakus und Cicero sind Brüder, [2926] Kinder eines Kammerdieners bei Sr. Majestät dem Kaiser irgend eines Negerstammes in Angora. Wenn diese Majestät gern einen neuen Rock anziehen will, verkauft sie regelmäßig die Kinder ihrer Lakaien wie junge Katzen. So kamen Beide nach Charlestown, wurden da getauft, gingen zehn Jahre bei der Peitsche in die Schule und wurden von mir angekauft, weil ich ein sehr tyrannischer Herr bin. Ich dachte mir, Lakaienkinder, die die Launen einer afrikanischen Majestät kennen, werden sich mit Geduld in die meinen finden. Statt der Peitsche brauch' ich aber nur den Laut davon zu geben und habe dieselbe Wirkung. Wie geht es Ihnen, Inspektor? Ich freue mich, daß Sie so bald Wort hielten! Bringen Sie mir die Möglichkeit, daß ich die alte Ruine an dem malerischen Strome ankaufen kann?

Herr Baron, wirklich, das alte Steingeröll? Was wollen Sie mit einem so unwirthbaren Boden?

Ich bin kein Ökonom, Mangold. Ich komme zum ersten Male wieder nach längerer Trennung auf diese deutschen Fluren und bin vom Anblick der liebenswürdigen feudalen Erinnerungen so hingerissen, daß ich mir eine solche Ritterburg rein als mittelalterlicher Dilettant ausbauen möchte. Ich denke mir es reizend, in einem mittelalterlichen Gebäude mit allem Comfort und den Gedanken der neuen Zeit zu wohnen. Ein Kapitel von Voltaire, gelesen auf einem Burgsöller, Caviar und Austern verzehrt in einem Ahnensaal! Die Zeiten entwickeln sich spiralförmig. Gehen, Kommen, Altes, Neues. Ich finde die Lage [2927] jener alten zerstörten Burg reizend. Der Blick über den Strom, zu den fernen blauen Bergen hin weckt allein schon jenen Frieden, den man nicht so leicht unter andern geographischen Bedingungen erwerben kann. Nein, nein, es ist mein fester Ernst, ich kaufe diesen Felsen, diese Zerstörung, diese Steinmassen, und bitte Sie, den Inspektor der königlichen Gärten, den Aufseher des königlichen Schlosses Buchau, Ihren ganzen Einfluß anzuwenden, daß ich jenen Punkt in Deutschlands äußerstem Westen erobere.

Ich verspreche Ihnen, mein Möglichstes zu thun, Herr Baron.

Wie kommen Sie so rasch wieder in die Residenz zurück, Mangold?

Sie erinnern sich, daß ich, als Sie Buchau besahen und den nahegelegenen Tempelstein erstehen wollten, um ihn auszubauen – Sie erinnern sich, daß ich sagte: Ich folge Ihnen bald, ich bin gezwungen, die Residenz, die ich kaum vor vierzehn Tagen verlassen, schon wieder zu sehen ...

Dystra verfiel jetzt wieder in jenes Lachen, das schon vorhin seine archäologischen Studien über die alten Bauten von Niniveh unterbrochen hatte ...

Mangold (es war jener Inspektor des Gartenschlosses Solitude, der Auguste Ludmer von der Residenz entfernen sollte, nach Buchau versetzt und wirklich dorthin abgegangen war) Mangold fragte lächelnd nach der Ursache seines Humors.

[2928] Sie wissen, Inspektor, sagte Dystra, daß ich Ihnen schon in Buchau, als Sie von Ihrem frühern Chef, dem Geheimrath von Harder erzählten, bemerkte, ich glaubte gewiß zu sein, daß dieser Harder ein ehemaliger Bekannter von mir ist, als ich noch hier studirte und leider zu sehr nur mit dem talentlosen Theile der exclusiven Gesellschaft zusammenkam. Richtig, es ist derselbe. Heute früh, vor wenigen Stunden, hatt' ich die Überraschung seines Besuches. Er umarmte mich mit Förmlichkeit und rückte mit der Bitte heraus, ich möchte ihm meine Affen und Meerkatzen, die ich von Amerika mitgebracht, leihen, um Goethe's Faust zweckmäßiger in Scene zu setzen.

Er ist Intendant des königlichen Theaters geworden und hat mich in dieser Eigenschaft per Expressen zum dritten Male auffordern lassen, hieherzukommen. Ich mußte willfahren ...

In dieser Eigenschaft? Sollten Sie vielleicht die Gartenscene in Faust arrangiren?

Bitte, ich unterbrach Sie, Herr Baron ...

Sie müssen wissen, ich habe dieses Gethier aus Amerika mitgebracht, nur um es zu verschenken. Es ist mir persönlich zur Last. Ich dachte: du hast eine Menge Freunde und Bekannte, die sich inzwischen verheiratheten und vielleicht keine Kinder haben. Da verschenkst du Papageyen. Einige Mädchen blieben unvermählt, wurden alt und sehnen sich nach Gegenständen ihrer Zärtlichkeit. Für diese bracht' ich einige Exemplare einer vorzüglichen Sorte Windspiel-Pinscher mit, die in Boston durch [2929] eine Über-Kreuzbegattung sehr gut gezogen werden. Die Affen und Meerkatzen hofft' ich bei einigen alten Junggesellen, die sich selber rasiren und bei diesem edlen Geschäfte stundenlang zubringend ohne Unterhaltung sind, loszuwerden. Die Papageyen bin ich los. Die Boston'schen Windspiel-Pinscher gleichfalls. Aber meine Affen und Meerkatzen blieben mir auf dem Halse. Wo ich hinhorchte, um sie an Kindesstatt auszusetzen, hört' ich: Bester Freund, das Ablösungsgesetz! Personalsteuer! Unsre Grundgefalle! Die Laudemien! Einschränkungen! Verringerung des Hausstandes! Drei Stallknechte entlassen! Genug die verdammten Meerkatzen blieben mir; da half Ihr ehemaliger Chef aus der Noth. Er wollte diese verteufelten Thiere nur haben, damit sie das Ballet als Modell studirt. Ich habe ihm aber klar und deutlich bewiesen, daß die dramatische Kunst in einer solchen Entwickelung überall in Europa, Asien und Afrika begriffen wäre, daß sie ohne ein Hülfs- und Ergänzungspersonal von lebendem Geflügel und vierbeinigem Gethier nicht bestehen könne. Er würde sich ein Verdienst erwerben, wenn er die Zauberflöte, die hoffentlich in Deutschland noch nicht vergessen ist, mit einer wirklichen Menagerie neu in Scene setzte. Diese Idee schien ihm im höchsten Grade einleuchtend. Ich schilderte ihm, welches Aufsehen er machen würde, wenn er die unsterbliche Zauberflöte Mozart's neu ausstattete mit Dekorationen, neuen Kostumes, Wasserfällen (da ich den Niagara kenne, würd' ich ihn unterstützen) mit Feuergluten, besonders aber [2930] mit wirklichen lebenden Thieren, höchstens die Schlange ausgenommen, die dies herrliche ägyptische Freimaurermärchen eröffnet ...

Excellenz sind Freimaurer –

O ich sage Ihnen, Mangold, es erschien ihm im höchsten Grade plausibel. Die Bewegungen einer sterbenden Schlange, sagt' ich ihm, würden sowol meine beiden Bedienten, wie ich selbst, der ich solchen Scenen genugsam beiwohnte, ihm höchst anschaulich vormachen. Dann bewies ich ihm, wie die Thiere, die das Glockenspiel bändigt, wie die Bestien, die den Papageno erschrecken, wie die Gestalten, die dem Tamino zurufen: Zurück! durch ihre Natürlichkeit den Reiz des Abends nur vermehren würden. Genug, es ist beschlossen, daß ich meine Affen und Meerkatzen für immer los bin. Die Kosten für deren dauerndes Engagement beim königlichen Hoftheater – ich nannte ihm alle alten Stücke, wo sie könnten angebracht werden – hofft er aus Ersparungen bei Dichterhonoraren zu bestreiten. Ich hoffe, die deutsche Literatur leidet nicht darunter, sonst nähm' ich die Thiere, die Cicero eben in den Dekorationsspeicher des königlichen Theaters gefahren hat, gern wieder zurück, so unausstehlich mir auch nachgrade ihre Capriolen und ihre menschenähnlichen Vertraulichkeiten wurden.

Ein lautes Schluchzen im Vorzimmer unterbrach diese von dem kleinen im Vorzimmer gravitätisch auf und abschreitenden Mann launig vorgetragene Erzählung.

Mein Himmel, was ist denn Das wieder? rief der[2931] Tourist, der sich gern einen Weltspaziergänger nannte;

heulen diese schwarzen Kaiserlakaiensöhne um meinen verringerten Hofstaat?

Damit öffnete er, pfiff sein: Huit! und fragte auf Englisch: Was gibt es da? Cicero, was plagt dich wieder? Kommt dir wieder was vom bösen Geiste vor, den ihr schwarzen Engel in Angora als weiß angebetet habt?

Obgleich Cicero der Beredtsame hätte sein sollen, so war es doch Spartakus, der das Wort ergriff und mit untermischtem Schluchzen die Worte vorbrachte:

Popo fort – Wauwau fort – Zickzick fort – Prinzeß Pom-padour fort – Alles fort –

Um diese Kameraden macht Ihr den Lärm? Ihr Narren! Hol' Euch der weiße Geist und noch ein aschgrauer! Die ganze Stadt Rom hier wird über Euer Heidenthum zusammenlaufen – Schämt Euch –

Nicht die Thiere kneipen uns, sagte der beredte Spartakus mit der goldnen Ringcravatte (Cicero trug eine silberne), nein, Massa! Du sagst auch: Spartakus fort! Cicero fort!

Ah, Das ist Euer Kummer? Ihr denkt, ich nahm Euch nur mit, um Euch an meine alten Freunde zu verschenken, wie meine Papageyen und Boston'schen Windspiel-Pinscher?

Spartakus und Cicero schluchzten bejahend und verriethen, daß Das ihr ganzer Kummer wäre.

Hat Euch vielleicht der Geheimrath von Harder scharf in's Auge genommen?

[2932] Ja, Massa! sagte Cicero.

O Das ist einzig, wandte sich Dystra zu Mangold. Die Zauberflöte scheint Ihrem Chef zu Kopf zu steigen. Es ist ihm etwas von einem Mohren Namens Monostatos eingefallen. Geben Sie Acht, er hat es in seinem wüthenden Gründlichkeitseifer auf meinen Cicero abgesehen, um die Vorstellung vollkommen zu machen. Nein, nein, Ihr schwarzen Krausköpfe, ich hatte zwar so etwas im Sinne, dich Cicero an die Fürstin Wäsämskoi, dich Spartakus an Comtesse Olga zu verschenken, allein da Ihr doch so dumme Teufel seid und die Menschen liebt, die Euch nur ein moralisches Huit! mit der Zungenpeitsche geben, so will ich Mitleid haben und Euch so lange bei mir behalten, als wir Alle zusammen das Klima von Buchau hinterm Rheine vertragen können.

Wie die beiden Neger diese Trostesworte hörten, stießen sie ein heulendes Freudengeschrei aus, küßten Dystra's Hände und wollten sich vor ihm niederwerfen, was er aber mit den Worten verhinderte:

Gut! Gut! Es ist schon abgemacht! Sorgt für unser Diner und betrinkt Euch erst, nachdem Ihr servirt habt, hört Ihr?

Mit diesen Worten schloß Dystra die Thür und konnte nicht anders, als Mangolden Recht geben, der über diese Scene seine Freude äußerte ...

Welche Dankbarkeit! sagte Mangold. Welche Hingebung und Liebe! Sie würden lange bei uns suchen dürfen, bis Sie so viel Anhänglichkeit fänden.

[2933]

Diese Treue steht hoch und niedrig, wie man es nimmt, antwortete Dystra. Es ist die magnetische Gewöhnung dieser Menschen an meine Persönlichkeit und nicht nur die moralische Persönlichkeit, sondern gradezu die physische. Wir ignoriren in der That den Körper zu sehr, wir achten ihn zu gering und sind darum auch im Geiste zurückgeblieben. Wenn man die Menschheit immer nur dem Geiste nachjagen sieht, so kommt sie aus der Bahn ihrer Natur und verirrt sich aus lauter intellectuellem Drange oft in's Grausame und Unnatürliche. Mir ist dieser ganze Wirrwarr in Europa ein unnatürlicher, dem innersten Menschenthum entrückter. Wir haben uns zu sehr auf die Potenzirung unsrer Empfindungen verlassen, sind in den feinen Sonnenstäubchen der idealischen Welt zu sehr verloren! Niemand will irren, Jeder will wahr sein und Alles lügt. Ich suche Menschen, die das Geheimniß des Daseins in sich selber suchen, in der Entwickelung der Natur, die ihnen die Geburt einmal mitgab, ich finde sie nicht. Ein Gespinnst von Ideologie, das hier Alle in Kirche, Staat, Gesellschaft beherrscht, umwickelt die Handlungen dieser ganzen Generation, die in himmlischen Leibern schon auf Erden wandeln will und in Zorn und Wuth geräth, wenn sie an die Bedingungen ihres Daseins, die Luther doch den alten Madensack nannte, erinnert wird. Aber was wollte denn mein alter Freund der Intendant? Ich staune, wie gehänselt und genarrt ich diesen ehemaligen unanstelligen Mann verließ und was für ein großes Thier ich in ihm wiederfinde! Diesem Manne überträgt [2934] die unverbesserliche Etikette des Hofes die Fürsorge für ein geistiges Institut! Das erinnert mich an die russischen Generale, die man in Moskau zu Direktoren der schönen Künste und Wissenschaften macht.

Ich habe, berichtete Mangold, zehn Jahre mit diesem Manne gemeinschaftlich die Gartenkultur der königlichen Lustschlösser gepflegt und ihn als einen zwar beschränkten und in der Erziehung vernachlässigten, aber dennoch ehrgeizigen und in seiner Art wirklich thätigen Menschen kennen gelernt. Da er das Große nicht fassen und übersehen kann, hält er sich an das Kleine und zieht alle Gegenstände seiner Amtssorge in diese geringe Sphäre herab, in der er vermittelst seiner adligen und Hofwürde doch groß erscheint. Als gehorsamst Untergebener ließ ich ihn walten und schalten und that doch Das, was gethan werden mußte. Meine Ideen wurden, wenn er sie mir gegenüber auch bestritt, andern Menschen gegenüber die seinigen und regelmäßig geschah es, daß er sie dann auch mir gegenüber als seine Befehle ertheilte, indem er entweder seine früher abweichende Ansicht vergessen hatte oder sich seines klugen Handgriffes schon bewußt war. Denn ohne Schlauheit ist er nicht und von der Vorstellung, daß alle Menschen im Grunde schlecht sind und gegen ihn konspiriren könnten, entlehnte er noch die ganze Thatkraft, deren er fähig ist. Ich spreche scharf über ihn, weil man mir in seiner Umgebung übel mitspielte. Ich dankte meinem Schicksal, von ihm frei zu sein. Da läßt er mich durch einen Expressen von Buchau holen, [2935] bezahlt die Eisenbahn, alle Kosten der Reise und bietet mir an ... Was denken Sie wol?

Daß Sie ihm seine eignen Gewächshäuser vor dem Winterfrost schützen sollen?

Nein, Herr Baron! Ich möchte meinen Posten, dem ich vorstehe, aufgeben und mich von ihm in seiner neuen Verwaltung anstellen lassen.

Hören Sie, sagte Dystra, Das erinnert an die Anhänglichkeit meiner Mohren! Darin find' ich Naturwärme, Liebe, Geistesinstinkt!

Wenn es Das wäre! Nein! Er gestand mir offen, daß er sich nicht ganz sicher in seiner Sphäre fühle. Er hätte einen Sachkundigen sich empfehlen lassen. Der aber wäre ein Spötter, lache oft sonderbar und blinzle den Andern zu, die mit ihm in einem Komplotte zu stehen schienen. Das Kunstwesen lerne sich! Weg mit diesen Intriguanten! Ich brauche nur ehrliche Menschen um mich, Menschen, die nicht hinter meinem Rücken Verschwörungen machen! Ich bin die Hauptsache an dieser Kunstanstalt! Sie kenn' ich, Mangold, Sie sind treu und brav. Bleiben Sie bei mir. Ich brauche unter diesem geriebenen Volke Einen, der es mit dem Chef wahrhaft gut meint, und Das sehen Sie doch selbst, der Chef muß der Chef sein, der Chef ist immer das Ganze, der Chef ist die Anstalt selbst!

Und was thaten Sie auf diese Bitte, die charakteristisch ist?

Ich schlug sie ab.

Sie sind hartherzig, Mangold!

[2936] Ich kehre nach Buchau zurück. Diese adlige Familie, der ich Treue und Anhänglichkeit genug bewies wie ein Hund, hat mich auch mishandelt wie einen Hund.

Sie sind erregt, Mangold?

Mit Füßen hat sie mich getreten – im Herzen fühlbar – o, Herr Baron – ich sagte schon, ich bin ein Mensch ohne Raffinement und passe nur nach Buchau. Kaufen Sie sich den Tempelstein! Auf dem königlichen Gartenamt hört' ich, daß kein Geld da ist, jetzt Ruinen auszubauen. Sie bekommen den Felsen, bekommen die Steine, die Wiesen am Berg, auch die Ruinen der alten Tempelabtei, die noch Jeden feierlich stimmten – wir leben da ruhig als Nachbarn und Sie erzählen von Ihren Reisen, den tausend Denkwürdigkeiten, die Sie gesehen ...

Darf ich nicht wissen, Mangold, warum Sie die Menschen fliehen ... ich habe die große Schwäche, an Andern praktische Psychologie zu treiben. Im gewöhnlichen Leben nennt man Das neugierig sein.

Ich fliehe nur die schlimmen – vielleicht finden sich gute, die wir mitnehmen –

Mangold sagte diese Worte mit einem vertraulich blinzelnden Auge, sodaß Dystra lachte und sagte:

Mangold, Sie sind mindestens vierzig Jahre, aber ich sage Ihnen, Schwab, Sie sind verliebt! So kann nur ein Verliebter blinzeln.

Mangold strich seinen rothen Bart und die wasserblauen, klaren Augen leuchteten vor innerer Bewegung.

Sie sind ein gereister und kluger Herr, rathen Sie mir, [2937] Herr Baron – sagte er und erzählte ihm nun zuvörderst die Anknüpfung seines Verhältnisses mit Auguste Ludmer und das Ende desselben. Otto von Dystra hörte theilnehmend zu und fand die Intrigue, ihn zur Entfernung einer lästigen Anverwandten zu benutzen, abscheulich, seine Leichtgläubigkeit aber, wie er ihm offen gestand, komisch. Über das Gewissen, das sich Mangold wegen Augusten's Selbstmord machte, tröstete er ihn mit den Worten:

So ist nun einmal unser Leben, daß Einer des Andern unbewußter Mörder wird! Die größte Liebe kann sich zur Veranlassung wechselseitigen Verderbens werden. Darüber, daß man zum Werkzeuge der Vorsehung gewählt wurde, hat der Mensch sich kein Gewissen zu machen.

Da ich nun doch einmal hier war, fuhr Mangold fort, so führte mich's wieder den Spuren des unglücklichen Mädchens nach. So hört' ich auf einem einsamen Kirchhofe, daß sie hier eingescharrt wurde und ein alter Mann den Sarg begleitet hätte. Mit einer schwarzen Binde? fragt' ich. Ganz recht, hieß es. So war es Derselbe, den ich an jenem Abende bei ihr traf und mit dem sie früher gegangen war. Daß er ihrem Sarge hatte folgen können, überraschte mich doch. Ich beschloß, den Mann aufzusuchen. Auf nähere Erkundigungen hört' ich, daß er Murray hieß und ein Engländer sein sollte ...

Wie nannten Sie ihn? fragte Dystra aufmerksam.

Murray, wiederholte Mangold und fuhr, da Otto von Dystra nichts weiter zu erinnern fand, fort:

Ich glaubte, ein so leichtsinniger alter Mann, der an ein [2938] unglückliches Wesen dieser Art Ringe und Armspangen verschwendete, würde im Glanz und Wohlleben, wenigstens anständig wohnen. Wie erstaunt' ich, als ich ihn aufsuchte und mich in die dunkelsten und entlegensten Gassen verlor. Endlich Brandgasse Nr. 9 fand ich in einem Hinterhofe über drei schwindelerregenden Treppen, mitten in Armuth und Elend, seine Wohnung, aber ihn selber nicht. Er war verreist. Diese Auskunft gab mir seine Vermietherin, bei der er zwei elende Kämmerchen auf einer offnen Gallerie hinter Eisenstäben bewohnte. Das Mädchen wußte wenig mehr von Master Murray, als daß er ein Geizhals sein müßte, der in Anfällen von Großmuth schöne Geschenke mache. Sie zeigte mir einen kostbaren Ring, den sie von ihm für ein Glas Wasser bekommen hätte ...

Das ist Diogenes in der Tonne! sagte Dystra. Er zieht ein Glas Wasser allen Capweinen vor. Man kommt zuletzt dahin.

Freilich auch, fuhr Mangold mit einer Art schamhafter Verlegenheit fort, freilich auch dargebracht von so weißen, zarten Händen, mit so freundlicher Miene, unter so rührenden Umgebungen! Dies Mädchen, Louise Eisold ist ihr Name ...

Teufel! sagte Dystra; Sie sind sehr verliebter Natur, Inspektor! Und die neue Bekanntschaft schlug ein, sie geht mit nach Buchau und wir sind vom Frühjahr an zu Drei Nachbarn?

Das ist noch weit im Felde!

Neue Schwierigkeiten?

[2939] Das Mädchen lachte mich aus, als ich ihr gleich nach dem dritten Worte sagte: Ich möchte sie heirathen ...

Sie hielt Sie mit Recht für einen Don Juan.

Mangold seufzte und verrieth, daß er noch nicht am Ziele seiner Wünsche war. Leider, sagte er, ist schon Einer da, der die Hand auf sie gelegt hat ...

Lassen Sie sich nur nicht wieder wie bei der Auguste –

Nein! Das hatt' ich gleich weg, ich gefiel ihr besser als der ...

Mangold nahm Anstand, Danebrand's Wuchs zu erwähnen. Der Baron war eine Miniaturausgabe von dem Schleswiger Kanonenträger. Er unterbrach sich:

Eins, sagte sie, gefällt mir an Ihnen!

O die Kokette!

Ihr Amt, sagte sie, Ihr Wohnort, fern von hier, weit weg, in der schönen Gottesnatur – weg von diesen elenden Menschen, von diesen Dachkammern, diesen Katzen und Nachteulen – die aber doch noch besser als die Menschen sind ...

Sprach sie so? Haben Sie in Buchau auch eine Leihbibliothek, Mangold! Viel Bücher werden Sie für die Dame nöthig haben.

Wirklich! Manchmal wie ein Buch! Sogar in Redensarten, die sich reimen –

Mangold, Mangold, vorsichtig! Die Emancipation der Frauen fing bei den Grisetten an und scheint jetzt bei ihnen wieder aufzuhören ...

Vorsichtig Herr Baron? Diesmal bin ich's. Sie sollten [2940] sie sehen, unter ihren kleinen Geschwistern – fünf, sechs Geschwister ... wie wir vorgestern Abend Alle Punsch tranken ... da ...

Was? Schon Punsch? Und doch noch Tugend?

Herr Baron, wenn ich wo sage: hier gefällt's mir, dann muß es lustig hergehen. Ich legte gleich Hut und Stock ab, die Geldbörse heraus, Kaffee, Kuchen, Alles herbei! ... was konnte sie machen? Die Kinder sprangen ja deckenhoch. Sie hungern ja halb. Ich nahm Besitz von der Familie, als wär's schon meine eigne. Sie weinte fast, erst vor Zorn, dann vor Scham und zuletzt vor Kummer und Liebe zu den Kindern. Die leckten und schleckten! Ich pfiff ihnen Liedchen. Das jüngste nahm ich auf den Schooß und küßt' es mit meinem garstigen rothen Bart und küßt' es ganz wund. Aber es strampelte und zauste mich und ich gefiel dem Würmchen. Die Louise weinte und bat mich zuletzt flehentlich, ich sollte gehen; es käme Einer, den sie selbst nicht möchte, der sie aber liebe und den sie würde nehmen müssen. Da ging' ich und am Morgen war ich doch wieder da und saß wieder bei ihr am Nähtisch, sie mocht' es leiden oder nicht und die Taschen hatt' ich wieder voll Äpfel, voll Nüsse, voll Birnen. Da wurde denn ausgetheilt, gesprungen, gesungen. Danebrand, so heißt mein Nebenbuhler, kam gar nicht. Ich will ihn in der Willing'schen Maschinenfabrik besuchen und ihm aufrichtig meine Vorstellung machen. Er wird in sich gehen, er ist ... er hat ... Kurz, Baron, ich bring's schon dahin, daß ich ein gesundes, gutes, frisches, saubres, gescheutes [2941] Mädchen heimführe und gleich das ganze Nest mit Kindern auch ausnehme und in Buchau Alles lebendig damit mache. Halten Sie sich nur dran! Das Gartenamt schlägt Ihnen den Tempelstein zu. Man braucht Geld, um die Erinnerung an Herrn von Harder's Verwaltung zuzudecken! Dann bauen Sie aus und was die Frau Liebste anlangt, mein' ich fast, es wäre nun auch für Sie Zeit, Herr Baron ...

Dystra schwieg. Der Jubel des Mannes rührte ihn.

Nichts für ungut, Herr Baron ...

Es wäre Zeit! sagte Dystra. Er nahm den Fez ab. Sehen Sie nur meinen chinesischen Kopf, den die Jahre geschoren haben, vielleicht auch ein wenig der Sonnenstich von Nubien und Abyssinien ...

Cicero trat bei diesem Akte der Selbsterkenntniß, den Otto von Dystra vor dem Spiegel ausführte, bestürzt ein und meldete mit Staunen und Befangenheit, daß es erst vier Uhr und einer der Gäste schon da wäre.

Es war der Pfarrer Rudhard, der dem Schwarzen folgte.

Erschrecken Sie nicht, Baron – sagte Rudhard, der in schwarzem Frack und noch weißerem gebleichten Haar, als wir früher an ihm sahen, eintrat – erschrecken Sie nicht, Baron! Ich weiß, Sie diniren um fünf –

Bester Pfarrer, ich habe noch keine Toilette gemacht ...

Thun Sie Das in meiner Gegenwart! Legen Sie sich keinen Zwang an! Ich komme früher, weil ich Sie –

[2942]

Er sah auf den Inspektor, der schon im Begriff gewesen war, sich zu empfehlen ...

Adieu, Herr Baron, sagte Mangold.

Stör' ich? war Rudhard's höfliche Entschuldigung.

Wir waren schon nahe daran, grade den Pfarrer zu brauchen, bemerkte Dystra mit Beziehung auf den heirathswüthigen Mangold ...

Nein, nein, sagte Mangold, so weit sind wir noch nicht. Aber Sie sollen's bald erfahren. Noch einige Tage bleib' ich. Wegen dem Tempelstein können Sie getrost oben anfragen. Und nun Adieu, Herr Baron!

Damit empfahl sich der gute Mangold bis auf Weiteres und ließ den ihm so wohlwollend gesinnten Baron mit Rudhard und Cicero allein.

Schon gut, schon gut, Cicero, bemerkte Dystra, beruhige dich nur! Noch eine Stunde ist Zeit. Liegen da meine Kleider? Gut! Jetzt geh!

Cicero ging erleichtert. Die beiden Männer, die uns an die fern in Italien unter Goldorangen schwärmende Olga Wäsämskoi erinnern und die ganze Verwickelung einer zu tragischen Konflikten reifen Familie zurückrufen, standen sich allein gegenüber. Otto von Dystra schlug die großen Kupferwerke zu, räumte den Tisch in Ordnung, trug Rudhard selbst einen Sessel zu und verrieth, daß er doch nicht moderner Philosoph genug war, um über Das, was zwischen diesem ehrwürdigen, ruhigen, gefaßten Besucher und ihm jetzt zu verhandeln sein mußte, ganz ohne Erregung zu bleiben.

[2943]
10. Capitel. Helenen's Schule
Zehntes Capitel
Helenen's Schule

Was bringen Sie, Rudhard? begann Otto von Dystra. Nachrichten von meiner kleinen entflohenen Braut? Einen Gruß von der Fürstin? Sie sehen so trübe und bedenklich aus? Oder sind Sie unzufrieden, daß ich Sie mit meinen alten Jugendfreunden, dem General Voland von der Hahnenfeder und dem Ritter Rochus vom Westen heute zugleich zu Tische einlud?

Im Gegentheil, sagte Rudhard in seiner gemessenen, immer ernsten Weise. Man hört so viel von diesen beiden Männern, daß ich mich freue, sie einmal von Angesicht zu sehen. Die Fürstin empfiehlt sich Ihnen; aber ... von Olga erhielt ich heute diesen Brief.

Lesen Sie ihn vor! sagte Dystra, indem er Anstalten machte, sich anzukleiden und durch die Lektüre Rudharden Veranlassung geben wollte, sich zu stellen, als bemerkte er seine Toilette nicht. Lesen Sie selbst, Pfarrer!

Rudhard las, indem er sich dicht an's Fenster stellte:

»Guter Papa Rudhard! Tante Helene hat mir gesagt, daß die Wahrheit über Alles ginge; ich sollte dir ganz so schreiben, wie mir's um's Herz wäre und keine weitläuftigen Umschweife machen. Sie meinte: Die Lüge wäre der [2944] Leute Verderben und da du mir Das auch gesagt hast und es in der Bibel steht, so will ich auch nicht lügen und Euch nun sagen, daß ich unglücklich bin, weil ich Keinen von Euch wahrhaft vermisse, Keinen mit Sehnsucht entbehre, Paulowna und Rurik ausgenommen.«

Brava! unterbrach, die schwarzen Pantalons anziehend, Dystra den bekümmerten Vorleser, der nach einer Weile so fortfuhr:

»Die Tante ist mein Schutzengel geworden, mein Erlöser, meine Priesterin. Wir haben Beide viel geweint und da unsre Thränen sich ineinander mischten, so fühlten wir, wie Georges Sand sagt, die Annäherung eines Engels, der –«

Wer sagt Das, unterbrach Dystra, die Tragbänder überschlagend, wer? Georges Sand?

Eine Lektüre, die ich ihr niemals gestattet habe ...

O Rudhard! Sie hätten sie ihr gönnen sollen, wenigstens der Mutter. Da die Tochter die Mutter haßt, die Mutter auf die Tochter eifersüchtig ist, so würde Olga auch die Lektüre der Mutter verachtet und Paul und Virginie viel schöner gefunden haben als Lelia und Consuelo. Aber ich schwelge in diesem bizarren neunzehnten Jahrhundert! Fahren Sie fort! Weiter! Weiter!

Rudhard fuhr fort:

»So fühlten wir die Annäherung jenes Engels, der in einer krystallenen Schaale die Thränen der Menschen sammelt und damit das Paradies bewässert, wo sie sich in silbernen Thau und in goldne Freuden verwandeln.«

[2945] Sehr schön gesagt, unterbrach der kleine Elegant, der sich sehr rasch und gewandt adonisirte. Ich liebe alle Phrasen, die uns irgendwie einen Trost gewähren. Krystall, – Gold – Silber ist ein Service, das immer wohlthut. Da Olga eine Russin ist, fehlt nur noch Platina.

»Die Tante reiste mit einem gebrochenen Herzen«, las Rudhard.

Auf der Reise ist ein gebrochenes Herz viel weniger gefährlich als eine gebrochene Achse ... ergänzte Dystra.

»Sie fand zuletzt einen Trost, den einzigen, der sie am Leben ließ. Es war der Haß. La haine dans l'amour, c'est un mystère.«

Schreibt sie Das wirklich, Pfarrer?

Wörtlich!

Ohne orthographische Fehler? Georges Sand hat ein Drama über den Haß in der Liebe geschrieben. Vortreffliche Lektüre! Ah, meine Braut wird Mühe brauchen, bis sie an Layard's Alterthümern von Niniveh und Humboldt's Kosmos Gefallen findet.

Rudhard mußte innehalten. Der Schmerz überwältigte ihn. Tieferschüttert war er von diesen romantischen Verirrungen eines jungen seiner Pflege anbefohlengewesenen Mädchens. So war ihm einst schon Helene geistig entschlüpft, als sie den Grafen d'Azimont heirathete! So hatte ihn Olga verlassen! So drohte jetzt sogar die kaltblütigere, phlegmatische Adele sich ihre eigne Welt aufzubauen! Und er, er war verantwortlich für diese Seelen!

Dystra, der die Kennerschaft des Menschen für sein [2946] Lieblingsstudium erklärte, hatte etwas auf der Zunge von der Einseitigkeit des Verstandes und den Gefahren der Poesielosigkeit, aber er verschwieg es, dem alten Manne zu Liebe, der sich eingebildet hatte, mit Vernunfttheorieen ließe sich das menschliche Herz leiten, mit Geschichte, Logik, Realien eine weibliche Seele fesseln, das Romantische ließe sich durch einen Witz entfernen, das Dämmernde, Unbestimmte im Menschenherzen durch mechanische Beschäftigungen ersticken ...

Fahren Sie nur fort, Rudhard, sagte er ironisch. Es ist sehr unterhaltend.

Rudhard, der wohl fühlte, daß er eine Selbstkritik vortrug, las:

»Dieselbe Empfindung in der Brust, die man Liebe nennt, kann sich in Haß verwandeln. Die Tante sagte es und ich glaube es, denn nur Auge in Auge tödtet man den Basilisk.«

Sieh! Wie war Das? rief Dystra laut auflachend. Auge in Auge? Basilisk? Ist Das eine naturgeschichtliche Re-miniscenz aus Odessa?

Sie meint wohl, sagte Rudhard mit wehmüthiger Trauer, daß man einem Schmerze scharf in's Auge blicken müsse, um ihn langsam zu tödten. Ich habe wenigstens diese Theorie immer gepredigt.

Da hätte sie das Gleichniß von der Homöopathie nehmen sollen! bemerkte Dystra und setzte lachend hinzu:

Aber Basilisken tödten! Tödten durch Menschenblicke! Und gleich Basilisken! Welche Aussicht für meine künftige [2947] Ehe! Meine Braut spricht so wild wie Eine jener Indianerinnen, die sich in Amerika mit der gefährlichen Liebkosung von Schlangen auf öffentlichen Märkten sehen lassen ...

»Helene«, fuhr Rudhard fort, haßt jetzt den Prinzen Egon; Das allein kann sie für seine Treulosigkeit trösten. Sie haßt ihn, wie der Märtyrer die Sünde haßt, die er überwunden hat. Sie verachtet diesen Egon wie die Schlange die Haut liegen läßt, deren sie sich jährlich entkleidet!«

Dystra hielt im Zuknöpfen seiner weißen Weste vor Lachen inne. Bravissima, rief er, doch etwas Naturgeschichte dabei! Bester Pfarrer, Ihr Zögling wendet seine Kenntnisse doch mit Vortheil an! O und sie hat Recht: Sie lehrt die Moral aller Weltdamen! Ich fand Das in Petersburg, in Moskau, in Wien, Madrid ganz so, ja sogar die reiche weibliche Handelsaristokratie von Newyork haßt, wo sie aufgehört hat zu lieben und geliebt zu werden. Das ist ganz in der Ordnung. Ich bin begierig, ob noch mehr aus der Naturgeschichte kommt. Basilisken, Schlangen haben wir schon. Jetzt fehlen nur noch die Hyänen!

»Ich bin früh angeleitet und gelehrt worden«, fuhr Rudhard fort, daß man Wesen wie Tante Helene hassen soll; allein nun liebe ich sie und Die, die ich geliebt habe, könnt' ich hassen, Die, die ich verehrt habe, wie Gott und seine Heiligen ...«

Dieu et ses saints? sagte Dystra. Das ist eine katholische [2948] Reminiscenz! Die Tante wird noch ihr Heil in der katholischen Kirche suchen, obgleich dies jetzt schon fast zu früh ist. Diese Art Damen wird erst dann katholisch, wenn naturgemäß die Huldigungen der Männer aufhören und man durch den Übertritt zur andern Kirche sich einen Verkehr mit Beichtvätern oktroyirt, der nicht ausbleiben kann und um so angenehmer ist, als diese katholischen Geistlichen das Bequeme haben, daß sie unverheirathet sind und vor allen Familienzerrüttungen sicherstellen. Also die Menschen, die sie liebte, wie Gott und seine Heiligen, die haßt sie jetzt? Nicht wahr?

»Die hass' ich jetzt. Ja Euch! Euch Alle! Meinen lieben Rurik ausgenommen und die gute Paulowna, die ich herzlich lieb behalte und oft im Geiste küsse, weil ich glaube, ich belauschte sie an ihrem Schlummerbettchen. Nur wenn wir schlummern, sind wir gut.«

Doch noch etwas Paul und Virginie neben der Lelia!

»Du aber, Papa Rudhard, hast nie geliebt! Dein Herz ist kalt wie Marmorstein. Du liebst nur Bücher und nicht die Menschen. Du hast niemals ein menschliches Herz brechen, nie Augen von Thränen erblinden sehen. Du meinst, der Mensch könnte Alles über sich gewinnen und hast auch einst Tante Helenen gesagt, sie sollte immerhin nur Desiré zu lieben versuchen ...«

Wer ist Desiré?

Graf d'Azimont!

Ah so! Sie glaubt also nicht an die Macht der Gewöhnung? Schlimm für Otto von Dystra!

[2949] »Du hast gelehrt, der Mensch, der gut wäre, könnte Alles, was er nur wolle. Die unglückliche Helene! Sie liebt den Mann nicht, der ihr Gatte wurde und nun verlangst du, daß auch ich einem Manne mich vermähle, den ich nicht lieben kann?«

Aber, meine gnädigste Comtesse, lernen Sie mich doch erst kennen! warf Dystra dazwischen und trat seinen Frack anziehend, sich musternd vor den Spiegel. Bin ich nicht der fashionabelste Elegant? Können Fracks besser sitzen, als an einem solchen Oberkörper, wie der meinige? Meine liebe Olga, Sie verletzen mich und meine kleinen Füße, die so klein sind, daß die Fimißstiefeln nicht einmal meinen Antinous-Kopf widerspiegeln!

»Nie werd' ich diesen Baron von Dystra lieben, den ich nicht kenne und von dem mein Vater bestimmt hat, daß ich ihn heirathen soll. Alle die Romane, welche ich unterwegs gelesen habe, fangen damit an, daß ein Mädchen ist gezwungen worden, Den zu heirathen, welchen sie nicht liebt, und dann ist Das der Anfang ihres Unglücks gewesen. Kann ich den Baron von Dystra lieben, der schon zu alt und ...«

Nicht gestockt!

»zu ...«

Vorwärts!

»zu häßlich ist? Wie er angekommen, hab' ich einen Schrei ausgestoßen ...«

En deed! Das ist beleidigend! rief Dystra mit unerschütterlichem Humor. Wissen Sie wohl, Mademoiselle, [2950] daß ich stark vermuthe, Sie haben sich nur vor dem Mohren gefürchtet, der mich anmeldete?

Ganz Recht, sagte Rudhard, dem diese kindliche Protestation doch zuletzt ein Lächeln abnöthigte, sie gesteht dies selbst ein. »Ein Mann will mich lieben, der sich mit Mohren, Affen und Hunden umgibt, weil er glaubt, daß ich eine Närrin bin, so dumm, wie Feodorowna Lapuschin in Odessa, die den Titularrath Kryloff heirathete, weil er ihr von Petersburg die ganze Krongarde, alle Offiziere und den Kaiser selbst, in bleiernen Figuren schenkte! Ich werde mich niemals so unglücklich machen lassen wie die Tante, die, weil sie lieben muß, jetzt das Schicksal hat, von einem Manne nach dem andern betrogen zu werden –«

Dystra bat hier Rudhard innezuhalten; er fürchtete vor Lachen zu ersticken. Diese Feodorowna Lapuschin, die den Titularrath Kryloff heirathete, weil er ihr das Petersburger Offiziercorps in Bleifiguren schenkte – diese Helene d'Azimont, die sich deshalb von allen Männern betrogen sieht, weil sie lieben »müsse« – nein, sagte Dystra, das ist naive Tollheit oder tolle Naivetät! Ich liebe Olga! Ich muß diese Unterhaltung für den ganzen Rest meines Lebens besitzen. Ich werde keinen Arzt mehr nöthig haben. Die Komik meiner Frau wird mir das Leben versüßen. Wer will mir ein Mädchen streitig machen, das ich in Gold fasse und der ich alle Launen bewillige, alle, selbst wenn sie mich ruiniren!

Rudhard fuhr bekümmert fort:

»Ich will den Mann, den ich liebe, nicht anders als ewig [2951] lieben. Denn Liebe ist das süßeste und herrlichste Gefühl auf Erden. Sie ist für unser Herz Das, was die Sonne für die Erde. Nur wo die Sonne ihre Strahlen entsendet ...«

Lance ses rayons ... übersetzte Dystra, um die Reminiscenz anzudeuten ...

»Nur da sprießen Blumen auf, und unsre Gefühle sind Blumen.«

Doch hübsch, Rudhard! Ich finde die Stelle besser, auch wenn es Plagiate sind.

»Ich bitte dich, Papa Rudhard, sage Das auch meiner Mutter, die mich nie geliebt hat und ein Herz besitzt, so kalt wie das Eis in Sibirien.«

Sie hat's immer mit den Bildern! Dies ist weniger gut gewählt. Es ist in Grönland kälter.

»Ich bin ein unglückliches Kind, weil ich meine Mutter nicht kann so lieben, wie es die Pflicht eines Kindes ist. Sie hat schon gegen die Tante gehabt ein kaltes Herz. Niemals hat sie die Tante vertheidigt und doch war Helene unglücklich, als sie Desiré mit sich fort von Odessa nahm. Sie muß noch jetzt die Thränen auf ihren Wangen brennen fühlen, so zärtlich war der Abschied der Tante von der Mutter, aber die Mutter kann nicht lieben. Sie hat wenig geweint, als der Vater starb.«

O, Das ist entsetzlich! Das ist abscheulich! rief Dystra jetzt ernst ...

»Der Vater war ein Engel. Wir Kinder haben den Vater mehr geliebt, als Menschen dürfen, die da wissen, daß es einen Gott gibt.«

[2952]

Phrase! Abscheuliche Phrase! rief Dystra, vor liebevoller Erinnerung an seinen Freund, den Fürsten Alexei, fast zornig ...

»Ich liebe meinen Vater, auch wenn dieser Vater mein Unglück wollte, daß ich die Gattin eines Menschen werden soll, den ich nicht kenne. Er meinte es gut für mich. Er glaubte, daß wir darben würden. Dieser Otto von Dystra ist sehr reich. Und ha! wie eitel! Seine Mohren sollten uns gleich sagen, daß er aus dem Lande käme, wo das Gold wächst.«

Die Stelle ist dumm. Abscheuliche Schwätzerin du! Oder richtiger gesagt, sie beweist, daß sie mich doch noch lieben lernen wird. Die Liebe der Frauen fängt immer damit an, es für Eitelkeit auszulegen, wenn die Männer verlangen, daß sie von ihnen erhört werden. Nur wo man künftig doch lieben wird, macht man die Frais eines solchen höhnischen Ha! Sie denkt doch schon an die künftige Livree ihrer Dienerschaft.

»Er gedachte uns reich zu machen, weil wir arm sind und er nicht wußte, wie gut Tante Helene sein kann, die mir gesagt hat, daß Alles, was sie besitzt, einst mein Eigenthum sein würde, wenn sie in ein Kloster ginge –«

Da läutet's schon! Das Kloster ist da! Waldkapelle, stiller Murmelbach! Büßende Magdalena ... Todtenkopf und vielleicht doch noch ... selbst im Kloster eine Strickleiter! Verdammte kleine Hexe Capulet!

»Den guten Vater lieb' ich, weil er dachte: So mach' ich [2953] die Meinigen, die ich so jung verließ, glücklich! Er liebte seinen Jugendfreund und beurtheilte ihn nach seinem Herzen.«

Darüber sagt sie also kein Wort, daß ich ein Thor bin und aus reiner Gutmüthigkeit dem kränkelnden Freunde verspreche, mein fahrendes, abenteuerliches Leben aufzugeben, mein Vermögen in Ruhe zu genießen und es, meinen Verwandten ein Schnippchen schlagend, mit Einer seiner Töchter zu theilen? Diese Olga müßte es doch nun sein, die mir diese Dummheit möglich machte! Sie ist sechszehn Jahre. Von siebzehn könnte sie mein Weib werden. Auf Paulowna kann ich doch nicht mehr warten. Wahrlich, es ist verletzend! Parbleu, so beurtheilt zu werden! So beim besten Willen en coquin behandelt! Diese kleine Amazone! Wenn man Das so liest, so vorgelesen bekommt, denkt man sie sich bei alle Dem allerliebst. Es ist die neuromantische Emancipationstheorie, aber ein gutes Herz liegt doch zum Grunde. Diese Liebe zum Vater rührt mich. Wäsämskoi war ein Pedant, aber ein edler Mensch. Wenn Adele, seine Gattin, so kalt und indifferent fühlte, wie Olga beschreibt, thut er mir leid, der brave, gute Alexei! Ich könnte die Frau hassen und gestehe Ihnen, ich bin ganz portirt für meinen kleinen italiänischen Deserteur ...

Trotz dieses abscheulichen Briefes? sagte Rudhard, gerührt von Dystra's gutmüthigem Humor, für den ihm eigentlich das Verständniß fehlte.

Trotz dieses Briefes, an dem mich nur Wunder nimmt, [2954] daß sie meinen glücklicheren Nebenbuhler, den Maler Siegbert Wildungen nicht erwähnt.

Es kommt noch! ergänzte Rudhard diesen Einwand, der den Beweis gab, daß man im Hause der Fürstin so aufrichtig gewesen war, die Existenz Siegbert's nicht zu verschweigen. Aber wol nur Rudhard war es gewesen, der Siegbert in Beziehung auf Olga erwähnt hatte. Die Fürstin wäre dieser Selbstüberwindung nicht fähig gewesen.

Ich will den Kelch zu Ende schlürfen, sagte Dystra ernster und setzte sich.

»Der gute Vater umschwebt mich oft wie im Traume«, las Rudhard, »und sagt zu mir: Olga, vergib, ich glaubte, du wärst herzlos wie deine Mutter! Du würdest Den zum Gatten wählen, den du nicht kennst, nicht liebst.«

Gegen die Mutter ist Das ein wirklicher Haß! bemerkte Dystra kopfschüttelnd.

»Und ich sage ihm im Traume: Laß mich Den wählen, Vater, den meine Seele liebt! Und sein Bild verdüstert sich vor Gram, daß sein hinterlassenes Weib, die Witwe Alexei Wäsämskoi's, den Jüngling lieben kann, den sein Kind liebt! O Rudhard, sage Das meiner Mutter! Sage ihr, daß es einen Gott im Himmel gibt, der sie strafen wird! Der Herr richtet die Schuldigen. Was ist mehr eine Todsünde, die Niemand vergeben kann, als wenn ...«

Les sept péchés capitaux! unterbrach Dystra. Nun springt sie in Eugène Sue über!

»Als wenn eine Mutter ihrem eignen Kinde ihr Kleinod [2955] raubt! Ich weiß es, mein Treuer flieht sie, wie ich sie geflohen bin! Sein Segen folgt mir, seine Liebe begleitet mich. Ich will mich bilden, ich will an den heiligen Quellen Italiens schöpfen, daß ich mich erfülle mit der hohen Wissenschaft der Kunst, die er liebt, um seiner würdig zu sein. Ich lese Bücher der Poesie, aber auch Schriften der Prosa und verweile bei Allem, was zu wissen merkwürdig ist. Ich zeichne mir die schönen Gebäude ab und erkundige mich nach Allem, was in einer Stadt lehrreich zu sehen ist. Auch frag' ich alle Menschen an jedem Ort, ob sie gut und glücklich leben können und welche Früchte bei ihnen wachsen ...«

Was? rief Dystra. Das noch einmal! Sie fragt Jeden, welche Früchte bei ihm zu Lande wachsen? Das Mädchen gibt entweder eine Närrin oder ein Ideal.

»Von Italien aus, Papa, schreib' ich dir wieder. Wir reisen nun über die Alpen. Wir sind immer allein. Nur die Bedienten und die beiden Mädchen. Tante will gar keine andre Gesellschaft. Nur über die Alpen wird es uns recht einsam vorkommen. Aber wir haben Muth und wenn er uns manchmal entsinkt, umarmen wir uns und sind wieder neugestärkt. Leb' wohl, Papa! Denke zuweilen über mein Glück nach! Grüß' unser liebes Gärtchen, das jetzt schon recht welk und kahl aussehen wird! Grüße den garstigen Sensenmann auf deinem Zimmer, der uns ewig zugerufen hat: Du mußt sterben, deine Stunden sind gezählt! Aber noch leben wir. Erst Neapel sehen und dann sterben! Deine Olga Wäsämskoi.«

[2956] Kein Postcript? bemerkte Dystra kopfschüttelnd und satyrisch.

Wohl, sagte Rudhard und las, während Dystra einschaltete: Doch ein Frauenzimmer!

»Wenn ich sage, daß ich dich hasse, Papa, so brauchst du Das nicht so ernst zu nehmen. Es ist keine Gefahr dabei. Aber dem Baron und der Mutter verschweige nichts. So lange sie mein Herz bedrohen, kehr' ich nie zurück und sollt' ich betteln gehen und vor den Häusern singen. Das sage ihnen!«

Oder Kunstreiterin werden oder auf dem Seile tanzen oder an dem ersten besten Pariser Lion in einer Mondnacht in Fraskati zu Grunde gehen!

Dystra's schmerzlicher Ton und seine ernste Miene bestätigte, was Rudhard fühlte, daß hier in der Erziehung ein Versehen begangen war.

Rudhard überreichte Dystra den Brief und legte ihn, da dieser ihn nicht nehmen wollte, auf den Tisch.

Was ist da zu thun?

Ich habe, begann Rudhard, das Buch der Wahrheit vor Ihnen aufgeschlagen, gleich als Sie kamen. Ich sagte Ihnen von Siegbert Wildungen, von der Mutter, von Olga's schnellentzündetem Kinderherzen. Helene hat alle Dem, was in dieser leidenschaftlichen Natur schlummert, den modischen, tagesüblichen Ausdruck gegeben, das Kind, statt zurückzuführen zu uns, wie eine Puppe, an der sie ihre Gefühlständeleien auslassen kann, mit sich hinweggenommen, meine dringende Aufforderung zur Rückkehr [2957] mir so beantwortet! Den übersandten Wechsel schickte Olga gleichfalls zurück. Sie sehen den offnen Thatbestand. Was läßt sich thun? Fassen Sie die Entschlüsse, die Ihnen die rechten scheinen!

Mein natürliches Gefühl, sagte Dystra, der sich inzwischen angekleidet hatte, fordert mich auf, entweder unmittelbar diesen Flüchtlingen nachzureisen oder Alles auf sich beruhen zu lassen und die weitere Entwickelung abzuwarten. Ich gestehe, daß ich erst jenen Siegbert Wildungen kennen lernen muß, der hier so viel heillose Verwirrung angerichtet hat.

Es ist ein liebenswürdiger, nur zu weicher Schwärmer – sagte Rudhard.

Ein edler Mensch, wenn er sich freiwillig zurückzog. Ich achte Das und ehre es. Mesalliancen existiren übrigens für mich nicht –

Baron –

Ich sage nicht, Rudhard, daß ich aus diesen Konflikten heraustrete ...

Der Wunsch des Fürsten ...

Meines guten Alexei ... aber selbst wenn ich den andern Ausweg ergriffe und seine Witwe heirathete, wie eine Stimme mir zuruft ... ich käme ja in dieselbe Position. Der blonde Maler verrennt mir ja nach allen Seiten den Weg.

Ich kann nicht den Gedanken, den Sie eben ausgesprochen, Baron, befördern helfen, aber was die Stimmung Adelens anlangt, so hoff' ich auf Besinnung. Ich meine, es [2958] war nur eine falsche Form, in der bei ihr ein mütterliches Gefühl der Fürsorge zum Vorschein kam.

Zu künstlich erklärt, Pfarrer!

Wirklich? Doch scheint mir über die Mutter ein eignes Wesen gekommen. Sie ist zurückgezogen, liest, schreibt, beschäftigt sich nur mit sich allein.

Das heißt, sie liebt, bester Freund! Das ist der Frühling, der oft noch nach dem Spätsommer kommt.

Es ist eine stille, sinnige Verklärung in der Fürstin! Ich finde Adelen innerlicher, wärmer. Sie schließt sich von oberflächlichen Menschen ab und sucht nur tüchtige Naturen, wie Anna von Harder und ähnliche rein weibliche, edle Erscheinungen.

Das ist die Trauer der Verlassenen, das Schlummern der Wintersaat, die im Frühling gleich am mächtigsten aufschießt.

Sie ist mütterlicher denn je gegen Rurik und Paulowna.

Achtungswerth, aber bedenklich ... Unverdorbene Frauen wollen das Glück der Liebe durch Güte des Herzens verdienen.

Rath' ich Ihnen denn eine Änderung zu treffen? sagte Rudhard fast empfindlich.

Geben Sie mir die Hand, bester Pfarrer! fiel Dystra ein. Zürnen Sie mir nicht! Ich trete da in psychologische Konflikte, die ich nicht erwartet habe! Weil ich auf Alles dilettire, liebe ich überall das Bedeutende und Eigenthümliche. Aber ich gestehe, ich liebe es mehr als Beobachter. Ergriffen mitten inne stehen, selbst da eine [2959] handelnde und leidende Figur in leidenschaftlichen Scenen abgeben, ich gestehe Ihnen, Das ist etwas, was ein Tourist, ein flüchtiger, civilisirter Beduine, ein Mann, der den Vorwurf, unschön zu sein, von seinen breiten Schultern nicht abschüttelt, nicht brauchen kann. Es handelt sich um den Wunsch eines sterbenden Freundes, um ein Gelöbniß, das ich selbst verrichtete, vor allen Dingen um mein Geld, um die bessre Existenz der Fürstin, um die Erziehung und künftige Versorgung der Kinder. Das sind philanthropische Ideen, die ganz in mein Fach schlagen und für die wir nur suchen müssen, eine möglichst anständige, aber auch höchst bequeme Form zu erfinden. Stoff zu einem Roman will ich unter keiner Bedingung abgeben. Hören Sie! Dagegen sträubt sich meine ganze innre und äußre Natur und ich gestehe Ihnen sogar, ein Rest von Eitelkeit, den ich mir von manchen frühern glücklichen Aventüren erhalten habe, wo man mich liebte quand même!

Bekümmert reichte Rudhard dem Baron, der diese Worte mit liebenswürdiger, schalkhafter, aber doch ernster Freimüthigkeit gesprochen hatte, die Hand und schwieg.

Die Verständigung wird schon kommen! sagte der kleine Kosmopolit. Blicken Sie heiter! Wir wollen gut diniren – es schlägt fünf – zwei alte Freunde von mir – hochangesehene, wichtige Springfedern der Maschine ...

Spartakus trat ein und überreichte Visitenkarten von [2960] zwei Herren, die den Baron von Dystra bei etwa gelegner Zeit zu sprechen wünschten.

Die eine war gestochen, die andre geschrieben.

»Dankmar Wildungen«, »Louis Armand« las Dystra für sich und bedauerte, die Herren jetzt nicht empfangen zu können ... Er wollte, da ihm der Name Wildungen auffiel, selbst in's Vorzimmer. Aber die Fremden schienen sich schon eine Antwort gegeben zu haben; denn als sie einen Offizier in Generalsuniform und bald darauf einen Herrn in Civil mit vielen Orden von den Schwarzen empfangen sahen, waren sie nach Abgabe ihrer Karten verschwunden ...

Rudhard wurde den beiden vornehmen Größen als ein Geistlicher aus Odessa vorgestellt. Die Nebenthür öffnete sich. Ein erleuchtetes Zimmer bot ein geschmackvoll servirtes Diner, das nicht ganz so heiter von Statten ging, wie es der Wirth wünschte. Seine beiden Jugendfreunde, General Voland von der Hahnenfeder und Ritter Rochus vom Westen, waren, obgleich Beide in ihrer Art auch wahre Ritter vom Geiste, doch unter sich nicht auf gleichen Ton gestimmt und Rudhard litt unter dem Druck seiner häuslichen Angelegenheiten. Der General führte zwar fast allein die Conversation, allein sie knüpfte nur an Amerika, an die bedienenden Schwarzen, an die Pyramiden, an die Bauten von Niniveh an. Erst am Schluß der Tafel horchte Rudhard auf, als Dystra zufällig wieder die Visitenkarten in die Hand nahm und die Gesellschaft fragte, ob ihnen diese Namen bekannt wären?

[2961] Wie, sagte der General, diese beiden merkwürdigen, alle Welt interessirenden Charaktere?

Und ehe noch Dystra Rudhard an den Namen Wildungen erinnerte, der ihn nun erst selbst überraschte, hatte Spartakus angezeigt, daß jene Herren wieder draußen wären, um zu erfahren, wann sie Massa aufwarten dürften?

General Voland hatte schon die Karten, als Sammler, zu sich gesteckt ...

Ja, sagte Ritter Rochus, ein feiner, geschliffener Weltmann, die Gebrüder Wildungen sind die Löwen des Tages – Und Louis Armand ... O, Das ist ja der intimste Freund des Premierministers –

Darauf hin war Otto von Dystra schon aufgesprungen, um selbst hinauszugehen ...

Soll ich sie zum Dessert, zum Kaffee eintreten lassen? fragte er, der Zustimmung fast gewiß ...

Rudhard wollte Einwendungen machen und von Louis Armand's Stande sprechen, aber schon hatte der Baron das bedeutsame Schweigen seiner diplomatischen Gäste für Zustimmung genommen, schon war er hinaus und sprach durch die geöffnete Thür in das Vorzimmer, wo Rudhard Dankmar's Stimme nicht hören konnte, ohne nicht aufzustehen und ihn an der Schwelle zu begrüßen. In einem Hotel sind die Räumlichkeiten beschränkt. Dankmar und Louis waren schon veranlaßt, einzutreten, während noch der General und der Ritter überrascht, verlegen von den Stühlen aufstanden. Man wird Dankmar's [2962] Erstaunen, Louis Armand's Schrecken ermessen, als in leichter weltmännischer Weise der kleine Baron die Namen: General Voland und Ritter Rochus nannte. Diese selbst waren nicht wenig begierig auf die eigenthümliche Situation, die sich hier für sie ergab. Seltsames mußten sie ohnehin schon bei Dystra erwarten. Rudhard's freundliche Bewillkommnung löste einstweilen die wirklich ängstliche Spannung.

[2963]
11. Capitel. Voland von der Hahnenfeder
Elftes Capitel
Voland von der Hahnenfeder

Drängt der Gegenstand, meine Herren, der Sie zu mir führt und mir das Vergnügen Ihrer Bekanntschaft gewährt? begann Otto von Dystra mit wohlwollendster Bonhommie und mit einem Blicke andeutend, daß die Zahl der Tassen vermehrt würde.

Er nöthigte die Gesellschaft in sein Wohnzimmer zurück, als Dankmar mit raschem Blick sich orientirend Louis Armand zugeblinkt und gesagt hatte, es dränge nicht und auch ein ander Mal fände sich Gelegenheit zu ihrer Erörterung. Die in Livreen gesteckte Bedienung des Hotels leuchtete zum Nebenzimmer voran. Man nahm Platz, Dystra theilte Cigarren aus ... Hier wurde ein Nachmittag unter andern Verhältnissen gefeiert, als in der Neustraße, drei Treppen hoch, bei Eulalia Schievelbein.

General Voland hat erklärt, daß Sie Beide, meine Herren, berühmt und interessant sind, sagte Dystra. Ich kann das Letztere erst als Physiognomiker unterscheiden. Warum Sie berühmt sind, gesteh' ich armer hier in Europa über Nacht aufgeschossener Pilz nicht zu wissen – aber [2964] General Voland hat Ihre Visitenkarten eskamotirt und von gewöhnlichen Menschen thut man Das nicht.

Es klang wie eine dämonische Satyre, als der General erklärte:

Herr Dankmar Wildungen ist auf dem Wege, der hiesigen Stadtkommune ein bis zwei Millionen durch einen höchst romantischen Prozeß abzugewinnen und Herr Louis Armand ist jener junge Franzose, der mit unserm jetzigen Chefminister, dem Fürsten Egon, durch die engsten Bande der Freundschaft verbunden ist.

Ritter Rochus hätte sich die Lippen abbeißen mögen, wenn er seine meist falschen Zähne nicht zu scheuen gehabt hätte und behutsam in ihnen stocherte ...

Rudhard, der die Verhältnisse kannte, mußte über die Erklärung des Generals lächeln, die Louis in Verlegenheit setzte zur großen Befriedigung des Ritters, der schon die Feder spitzte, um seinem Hofe diese merkwürdige Begegnung in seinem gewählten, nur etwas schwülstigen Style zu schreiben.

Dankmar erzählte zum lebendigsten Antheil Rudhard's auf dessen Nachfragen in aller Kürze den Verlust seiner Mutter, sein Erstaunen über Siegbert's langes Schweigen, die Ergebnisse seines Aufenthalts in Schönau und Randhartingen, so weit sie ihm bekannt waren und Dystra dachte: Siegbert! Das ist dein Nebenbuhler! Und diese Angelegenheit führt die jungen Männer zu mir!

Inzwischen wurde Louis schon vom General Voland und dem Ritter Rochus in ein Gespräch verwickelt, bei [2965] dem es ohne Ironie über den verlegenen, bescheidenen Arbeiter nicht ablief. Dystra, laut vor sich hinbrummend: Romantisch? Romantisch? Prozesse sind nie romantisch! sorgte für die Bedienung. Dankmar fand Gelegenheit, den besternten Herrn und den General, zwei Lichter der Welt, zu mustern.

Ritter Rochus vom Westen war in jungen Jahren ein Gelehrter gewesen, dann in die diplomatische Laufbahn gekommen, jedoch immer nur als Attaché benutzt worden. Er schrieb Berichte sowol für die Zeitungen, die seine Regierung subventionirte, wie für den Premierminister selbst, besonders aber die Gemahlin desselben, deren Neigung zu scharfen Persönlichkeiten und zur Médisance er kannte. Er überwachte seine Chefs in Paris, in London, in Konstantinopel und Athen. Bei diesen verschiedenen Stellungen hatte er Otto von Dystra kennen gelernt, der vor seiner Bildung, seinen antiquarischen und philosophischen Studien die größte Hochachtung empfand. Damals war es leicht, sich einen Anstrich von Frei-muth zu geben. Der Chevalier vom Westen galt für geistreich, fein und witzig. Er imponirte selbst in Florenz den Alterthumsforschern, in Stambul den reisenden Orientalisten, in Paris trieb er Sanskrit und ließ griechische Handschriften wieder neu aufkratzen, trotz Letronne und Villoison. Schrieb er ein politisches Memoire, so wurde es in allen Salons seiner Hauptstadt bewundert und von dem Gemahl der geistreichen Frau, die ihn protegirte, an alle Legationen gleichfalls zur Bewunderung übersandt. Das [2966] währte bis zur Revolution. Die alten adligen Repräsentanten in der Diplomatie wurden damals gestürzt. Ritter Rochus vom Westen wurde erst in's Ministerium berufen, dann, als er den verschiedenen Phasen der Revolution bald zum Opfer fiel, zu einer großen Legation beordert. Hier machte er sich mit Meisterschaft geltend. Er haßte den Staat, zu dem er als Wächter gestellt wurde, ohne grade den Staat, den er selbst vertrat, besonders zu lieben. Er hätte Philosoph genug sein müssen, die Erbärmlichkeit der Zumuthungen, die ihm der Gang der Ereignisse stellte, zu verachten, allein es flossen ihm außerordentliche Summen zu, die ihm eine glänzende Stellung gaben und sein natürlicher Hang zur Intrigue fand eine Nahrung, die ihn immer in Athem erhielt. Seine Studien waren zum größten Theil abspringend und oberflächlich gewesen. Zu ihnen zurückzukehren war ihm um so weniger Bedürfniß, als ein angeborner, gutgeschulter Geist ihn auch der Nothwendigkeit zu überheben schien, nur todte Materialien zu sammeln. Dieser scharfe Kopf übersah die Zeit vollkommen. Er war vollkommen überzeugt, daß die Welt ein großes Chaos erwarte und daß der ganze Wirrwarr des Tages eigentlich leer und erbärmlich zu nennen sei. Après nous le déluge! war seine stehende Redensart. Er erklärte hundert Mal des Tages, daß ihn ein Grauen überfiele, wenn er dächte, daß die Schläuche des Äolus sich einst entladen und über die Welt hin die Stürme der demokratischen Bewegung blasen würden, und so weit ging er schon vor Dystra, ja vor[2967] Voland sogar, daß er die Berechtigung dieser Bewegung anerkannte und welthistorisch auf demselben Standpunkte sich befand, den er in Folge seiner Stellung bekämpfte. Diese Intelligenz schrieb dennoch Depeschen und Cirkularnoten in dem Style, wie ihn Metternich und Gentz eingeführt hatten. Sie nannte die Revolution eine Hydra, die Revolutionäre die Sendboten der Hölle und im Stillen konnte es dem Ritter dennoch kommen, als wenn Niemand bemitleidenswerther wäre als grade die Fürsten, die angestammte Liebe und Treue verlangten, naiv durch die Städte reisten, vom guten Geist der Unterthanen redeten, Verweise ertheilten, Beamte, Magistrate brüskirten und nach seiner innersten Idee doch in einem wahrhaft babylonischen Irrthume und blinden Wahne lebten. Völlig abweichend von General Voland war er Neolog, las lieber Volney und Payne, als Burke und Haller, und hatte dabei in seinem ganzen Wesen das Kleinliche, Verzärtelte, Pedantische, Leichtverletzbare der alten Garçons in völligem Gegensatze zu dem Garçon Otto von Dystra, den die Natur verwahrlost hatte, der seiner selbst spottete und die Bequemlichkeit nur liebte, um sich für Entbehrungen schadlos zu halten, die er eben so gut auch ertragen konnte.

Die tiefe Lüge in diesem Chevalier Rochus vom Westen wich von der Lüge in dem General Voland außerordentlich ab. General Voland von der Hahnenfeder glaubte an positive Möglichkeiten. Seine Phantasie war so schöpferisch, daß er sogar die Wiederbelebung des Todten für möglich [2968] hielt. Er lebte in einem ewigen Flammenschein und hatte immer Dunkel um sich, wie ein nächtlicher Adept, der über den Stein der Weisen brütet. Er suchte eine Tinktur des Lebens auf für die Geschichte, für die Menschheit selbst. Er glaubte an Formeln, die wie ein Ecce homo, ein Bild des Gekreuzigten, auf Verdammte wirkten. Er war ein romantischer Spätling der Wöllner'schen Periode und würde Geister citirt haben wie Bischofswerder, wenn nicht der Fluch der Lächerlichkeit auf einer solchen Nachahmung gelegen hätte, die er origineller gestaltet hätte; denn er hätte sicher gesagt, wir wissen, daß Das Lüge ist, was wir sehen, aber unser Schauer, unsre Erwartung, unser Zittern über das Mögliche ist keine Lüge und die Dämmerung ist die eigentliche Poesie des Geistes. Auch ihm ging die Zeit in ganz andrem Lichte auf, als man auf der Rednerbühne und Ministerbank der Kammern sagen durfte. Auch ihm war der Glaube der absoluten Monarchie an ihre Unfehlbarkeit eben so rococo, wie das konstitutionelle Wesen der Neuzeit platt und unromantisch; er wühlte in den Offenbarungen seines Jahrhunderts und lag immer mit dem Ohre auf der Erde, um den Maulwurf des Weltgeistes zu hören, immer auszuspüren, wo er die Wünschelruthe des Schatzgräbers hinlegen sollte. Eine kurze Zeit hatte man ihn einmal in die Lage gebracht, handeln zu sollen, Entschlüsse für den nächsten schwierigen Augenblick zu fassen. Da war erst eine entsetzliche Angst, ein Zittern und Zagen über ihn gekommen. Das Regieren in alter Form, bureaukratisch, war ihm sonst [2969] eine Geschmacklosigkeit gewesen. Aber was sollte er an die Stelle setzen? Es ergriff ihn, da er nicht Rath wußte und sich tief des alten Materials der Regierungskunst schämte, plötzlich die Idee von einem allgemeinen Weltbrand. Tod, Vernichtung, Völkerkampf und aus ihm erst ein Neues, wie ein Dämon, der sich aus dem Brande erhebt, jenem Typhon gleich in Calderon's wunderthätigem Magus. Großartigkeit der verworrenen Anschauungen ließ sich dem General nicht absprechen. Auch bezweifelte man eine gewisse Güte des Herzens nicht und fand das Teuflische, das ihm Viele imputirten, nur in seinem Namen, d.h. – seinem Rufe. Er wirkte auf die Vögel der Unbedeutendheit wie der Blick der Schlange. Sie zitterten vor ihm und stürzten todt auf seine ausgestreckte Zunge.

Merkwürdig, wie solche so Ungeheures in sich schließende Naturen so ruhig dasitzen, so plaudern, so erst Austern essen, dann Kaffee trinken können! Dankmar betrachtete darauf den General und den Ritter scharf genug. Der Erste war über funfzig Jahre alt und eher von hoher als mittler Statur, ohne jedoch durch seine Größe aufzufallen. Sein Wuchs war breitschulterig, der Kopf von bedeutendem Umfang. Ein struppiges, fast negerartiges Haar bedeckte seinen Schädel, der sich durch eine sehr breite, Verstand und Combination verrathende Stirn auszeichnete. Die Nase, die Backenknochen kräftig. Über der Oberlippe stand ein kleiner Bart, der mit dem hie und da etwas grauen Haupthaare durch seine penetrante [2970] Schwärze im Widerspruche stand und ohne Zweifel mit dem besten militärischen Hülfsmittel gefärbt war. Die Hautfarbe des Gesichts war eher grau als weiß. Ein gelblicher Schimmer fuhr über die fast erstarrten und todten Züge, die sich immer gleich blieben, immer eine scheinbare innere Regungslosigkeit bezeichneten, in Wahrheit aber nur von der großartigsten Selbstbeherrschung und einer wühlenden, lauernden Beobachtung herrührten. Die Augen, die aus kleinen Höhlen funkelnde Blitze schossen, widersprachen der kirchhofähnlichen Ruhe dieses Antlitzes. Der Mund bewegte sich, wenn der General sprach, nur mäßig. Es schien ihm unbequem, daß die Lippen die Reserve dieser Gesichtszüge stören sollten. Selbst wenn der General etwas Heitres äußerte, bewegten sich die Flächen um die Mundwinkel nicht im Mindesten in jene mephistophelischen Falten hinüber, die oft die gutmüthigsten Menschen satyrischer erscheinen lassen, als ihr Herz denkt. Man kann nicht sagen, daß der General nur etwas Unheimliches hatte. Im Gegentheil flößte sein beobachtendes Wesen Vertrauen ein, er war zuvorkommend, ohne zudringlich zu erscheinen; er wollte gewinnen und gewann oft. Nur in den Augen lag eine unheimliche Glut und das hochaufgebäumte wirre Haar gab ihm etwas Ängstliches. Er bewegte sich in der Uniform, die neu und sehr geschmackvoll war, mit etwas beklommener Haltung. Man sah ihm an, daß er nur durch Zufall, nicht aus besondrer Leidenschaft Militär war und daß er sich im Frack, den er auf seinen vielen offnen und geheimen Missionen trug, [2971] freier bewegte. In bürgerlicher Kleidung mußte General Voland noch einen bedeutenderen Eindruck machen.

Dankmar, Louis und Rudhard wußten, daß der General, der zufälligerweise Katholik war, in dem Rufe stand, der Hierarchie Vorschub zu leisten und eine große Vorliebe für das Mittelalter zu hegen. Er war der Erzieher des jungen Königs gewesen und hatte wohl verstanden, ihm jene träumerische Richtung und jene Neigung zu aparten Liebhabereien einzuflößen, durch welche man Zeitlebens einen einmal auf so hohe Herrschaften errungenen Einfluß auch dauernd behaupten kann. Der König sammelte schon als Kind Käfer und Schmetterlinge, als Jüngling Siegel und Wappen, als Fürst Münzen, Waffen, Urkunden, Manuscripte, Glasmalereien. Gab es keine politischen Meinungen auszutauschen, so tauschte man alte Siegel und Gemälde aus. Jedes Ministerium, das mit Verzweiflung seine Maßnahmen von dem Spiritus familiaris der »kleinen Cirkel« durchkreuzt sah, war in seinen Vorwürfen und Anklagen dadurch widerlegt, daß der General Voland mit dem Könige ja nur über wissenschaftliche und künstlerische Zwecke korrespondire. Schon oft war es geschehen, daß eine Berechnung des Generals nicht zutraf, seine politischen Rathschläge Mistrauen erregten; eine streng lutherische Partei, die immer daran Anstoß nahm, daß man einen Katholiken so nahe an die Person des Monarchen herantreten ließ, unterließ niemals, jede Blöße, die sich der allweise und allberechnende Rathgeber doch oft genug gab, schonungslos aufzudecken (und in [2972] früheren Jahren that dies Niemand rücksichtsloser als Propst Gelbsattel), allein der General war nicht zu entfernen; denn wer durfte dem Fürsten zumuthen, seine kleinen Neigungen und harmlosen Studien aufzugeben? Voland reiste auch wohl, wenn ihm irgend eine Berechnung misglückt war, auf irgend einen außerordentlichen Botschafterposten oder mit einem militärischen Auftrag, den man ihm nach Außen hin gab, allein wer konnte hindern, daß er ein altes Breviarium fand mit schönen Miniaturen, das er der Königin schickte oder an den König selbst ein paar alterthümliche eiserne Sporen, deren der König nicht genug sammeln konnte? So erhielt sich immer der vertraulichste Verkehr. General Voland war niemals abgenutzt und bei allen seinen gescheiterten Plänen und Rathschlägen immer neu, immer interessant, immer dem Hofe nach tiefster Neigung willkommen.

Ritter Rochus vom Westen, eine glatte Salonfigur, mit reizbar beweglichen Mienen, stechenden Augen verschwand neben dem General, der seit einiger Zeit über den allgemeinen Weltbrand grübelte. Man konnte beide berühmte Männer so unterscheiden: Jeder glaubte an den Untergang aller Dinge; aber Voland durch Feuer und Ritter Rochus durch Wasser. Der mystische Krieger war in dieser Art Vulkanist, der skeptische Diplomat Neptunist. Après moi l'enfer! sagte der Eine. Après moi le déluge! der Andre.

Die genauere Angabe, in wiefern Dankmar hoffen könne, von der Stadt eine so gewaltige Summe, wie Voland [2973] eben gesagt, zu gewinnen, führte den General gleich mitten auf ein Terrain, wo er heimisch war und wo ihm Niemand gleichkommen konnte. Er hatte die genaueste Kenntniß über den Dystra so überraschenden Wildungen'schen Prozeß und schien sogar die Akten zu kennen, ohne dies jedoch einzugestehen. Er besaß die Gabe einer fließenden Darstellung und war mit einem milden wohltönenden Organe ausgestattet. Man hörte ihn gern reden. Er sprach ohne Leidenschaft, immer anregend und aus der Fülle der Thatsachen heraus, die ihm wie Keinem zu Gebote standen. Er sprach sogleich über die Templerei und die Johanniter wie ein Eingeweihter und veranlaßte seinen Jugendfreund Otto von Dystra, mit dem er zusammen in der Schweiz (nicht bei den Jesuiten, sondern in Hofwyl bei Fellenberg) erzogen war, zu der Frage:

So wäre wol auch bei dem königlichen Schlosse Buchau im Westen die alte Ruine, der Tempelstein genannt, im Zusammenhang mit ...

Der Tempelstein ist eine alte Kommende des im Jahre 1310 in Deutschland de jure, aber nicht de facto aufgehobenen Tempelherrenordens, begann der General sogleich im sichersten Vollgefühl der Thatsachen. Jener Tempelstein diente mehr der ritterlichen Bestimmung des Ordens, während die an seinem Rücken gelegenen Trümmer einer Abtei angehörten, an die sich die kirchliche Bestimmung desselben schloß. Der Tempelstein lieferte die zahlreichsten Contingente nach dem gelobten Lande und entsprach in dem im Ganzen schon damals geistig trägen [2974] westlichen Theile Deutschlands noch am Meisten der Bestimmung der Tempelhöfe, nämlich nur Werbeplätze zu sein für die Kreuzzüge. Da sollte die Trommel mit der Predigt, das Exercitium auf dem Waffenplatz mit der Messe abwechseln ...

Der Ritter Rochus lachte über die beginnende Salbung des Vortrags und die Fährte der Ideen, in die hier der General gerieth ...

Ganz so wie manche fromme Generäle es jetzt bei Euch hier halten wollen, bemerkte Otto von Dystra zu nicht geringem Erstaunen des fein lächelnden Dankmar, der entweder bei ihrem sonst so freundlichen Wirthe eine offenbare satyrische Absicht auf den General voraussetzte oder annehmen mußte, daß Otto von Dystra die gegenwärtige ideelle Stellung seines Jugendfreundes nicht kannte ...

Vom Beten, bemerkte Rudhard, mag damals doch wol nicht viel geworden sein, soviel Breviere die Ritter auch in ihrem Sattelzeuge versteckt haben mochten. Die Templer sind als übermüthige Kumpane im ganzen Mittelalter verschrieen gewesen und das Sprichwort ging überall: Er trinkt, wie ein Templer!

Diese rationell-kritische Bemerkung streifte natürlich den Duft sehr von den Erinnerungen ab, auf die General Voland mit besondrer Vorliebe einging.

Ausnahmen! sagte er, den dunkelschwarzen Kaffee schlürfend. Späterer Verfall! Unter den Johannitern schlummerte leider der große welthistorische Zweck dieses [2975] Ordens immer mehr ein und zur Zeit der Reformation waren seine Besitzungen nur eine Beute der Habgier und Gewissenlosigkeit von Seiten der untreuen Ritter selbst. Ihr Ahn, Hugo von Wildungen nur, blieb mannhaft und stät ...

Wir sind hier in der Stadt Rom, bemerkte Dystra, der die Genealogie der Wildungen'schen Ansprüche nun kannte. Stocken Sie nicht, Voland! Man darf hier Das scheinen, was man ist.

Die Weine des Hotels schienen auf ein gewisses Negligé der Verhältnisse und Äußerungen gewirkt zu haben.

Doch nicht Jesuit? sagte Rudhard gereizt. Ich gönne unsern Freunden Dankmar und Siegbert alle Schätze dieser alten Verlassenschaft aus dumpfen und geistesunfreien Zeiten, aber im Grunde stammen Ihre Ansprüche von der jesuitischen Pfiffigkeit her, daß Rom sagte: Hugo von Wildungen hat mannhaft und stät gehandelt, wie der Herr General sagen, allein die Klugheit gebeut, in partibus infidelium, unter den Ketzern, festen Fuß zu behalten. Wir dispensiren ihn von dem Ordensgelübde persönlichen Nichtsbesitzes und gestatten ihm, sein Theil zu nehmen, wie die andern Räuber auch.

Ritter Rochus, der im Cigarrendampf sich etwas unbehaglich fühlte, horchte auf. Dieser Erguß sprach seine Ansicht aus, er kam ihm nur etwas zu scharf stylisirt vor. Er war solcher Derbheiten im Urtheilen entwöhnt und hatte sie früher nur als Gelehrter oder in Korrespondenzen an Zeitschriften gekannt.

[2976] Ich bezweifle, sagte General Voland mit der ihm eignen Ruhe, daß diese Licenz des päpstlichen Stuhles eine jesuitische Einflüsterung war.

Ich bezweifle es nicht, sagte Rudhard mit Nachdruck;

aber der General erwiderte:

Mein Grund ist der, daß jene Licenz des Komthurs Hugo von Wildungen aus dem Jahre 1539 stammt, die Bulle aber, die den Orden der Jesuiten bestätigte, vom Jahre 1540 herrührt, dem 27. September 1540.

Dankmar staunte theils über die Bekanntschaft mit seinen Angelegenheiten, theils über des Generals vielseitigste Kenntnisse, und Dystra mußte über diese treffende Widerlegung lachen. Er bat den Pfarrer, sich mit dem General, der sehr wenig gegessen hatte, an dem Brete mit Dessertweinen zu versöhnen, das eben Spartakus voll kleiner geschliffener Gläser servirte und damit den ganzen Beifall des Ritters Rochus fand, der über Weine und Süßigkeiten so scharfsinnig sprechen konnte wie ein Philolog über verschiedene Lesarten.

Rudhard war aber in seinem Fahrwasser. In solchen Ideengängen gab er sich nicht zufrieden und stieß mit Niemand gleich versöhnt an. Er behauptete, es hätte Jesuiten gegeben, lange vor der förmlichen Anerkennung des Ordens. Der Jesuitengeist, sagte er sogar mit Paradoxie, ist älter als Loyola. Hildebrand und Innocenz waren schon Jesuiten ...

Wenn Sie es so meinen, Herr Pfarrer, bemerkte der Chevalier vom Westen, so haben Sie Recht. Geben Sie [2977] nach, Herr General! Bei einem Glase so vortrefflichen Curaçao kann man die Jesuiten nur deshalb leben lassen, weil sie sich um die Bodenkultur Amerikas verdient machten.

Der General war aber in seinem Vortheil. Siegreich wie ein Wörterbuch, majestätisch wie ein Conversations-Lexikon, äußerte er Folgendes:

Loyola nahm die Idee der geistlichen Ritterorden wieder auf, aber in andrer Gestalt. Er wollte mit den Waffen des Geistes kämpfen. Der Geist jener Zeiten war der Glaube. Loyola, selbst Soldat, von unbestrittner Tapferkeit, ist – ich theile seinen Fanatismus sonst nicht, ob ich gleich Katholik bin – Loyola ist deshalb ein so merkwürdiger Mensch, weil er im Stande war, als Krieger die Macht der geistigen Waffen anzuerkennen. Es verräth viel Einsicht, daß er fühlte, wie sehr das Ritterthum der Waffen im Abnehmen war. Er ahnte schon das Schicksal des Don Quixote, den Cervantes zum letzten Ritter des Mittelalters machte, und zog für sich ganz allein nach dem gelobten Lande, um die Türken nicht mit dem Schwerte, sondern durch den Glauben zu bekehren. Er war ein Kreuzfahrer auf eigne Hand. Als er sich natürlich überzeugt hatte, daß es ihm unmöglich war, einen Türken zu bekehren (aus Rücksicht auf unsre Bedienung, sagen Sie wol nicht: Einen Mohren weiß zu waschen? schaltete der Chevalier unruhig ein und setzte seinen Curaçao auf den Tisch zurück), kehrte Ignaz nach Europa zurück und beschloß, das Kreuz unter den Christen selbst zu predigen.

[2978] Die inzwischen eingetretene Reformation bot ihm für diese eigenthümliche Auffassung der Kreuzzüge – später haben die Freimaurer sehr geistlos dieses nach innen gewandte Tempelbauen und Tempelpflegen nachgeäfft – bot ihm, sag'ich ...

Rudhard biß sich auf die Lippen und räusperte sich.

Ich sage, fuhr der General fort, später bot ihm die Reformation ein günstiges Schlachtfeld und wiederum ehrte es den Krieger, daß er geistige Waffen vorzog –

Gift und Dolch! schaltete Rudhard heftig ein.

Voland ließ sich nicht aus seiner Ruhe bringen.

Nennen Sie Das Gift und Dolch, sagte er, daß Ignaz, ein drei und dreißig Jahre alter Soldat, in Barcelona sich in eine kleine Knabenschule setzte, unter Kindern ein Fibelschütz wurde und lateinisch lernen wollte? Ignaz zog nach Alcala und Salamanca als alter bemooster Bursch, in der einen Hand den heiligen Augustinus, in der andern seinen alten Hieber, der ihm noch manche schlimme Händel zuzog und manchen Rückfall in die alte Landsknechtssitte zu verantworten gab. Überall zog der alte lateinische Knabe ein consilium abeundi und wanderte mit ein paar Commilitonen nach Paris, wo er endlich mit den Wissenschaften Ernst machen mußte und in seinen harten, des Denkens ungewohnten Kopf wenigstens so viel Logik und Scholastik hineinbrachte, daß man ihm bei den Jakobinern die Magisterwürde ertheilte.

Bei den Jakobinern? bemerkte der Ritter Rochus künstlich erschreckend. Er war aus seinen Depeschen[2979] und Zeitungsnachrichten her gewohnt, mit diesem Namen jede Debatte abzuschließen. Bei den Jakobinern, General? Schlimme Vorbedeutung!

Ignaz, fuhr aber Voland unbekümmert fort, Ignaz behielt seinen Zweck, einen neuen geistlichen Ritterorden, einen Orden des damaligen Geistes, zu stiften, im Auge, fand jedoch üble Aufnahme bei den bequemen Professoren der Sorbonne, die lieber in Ruhe ihre Pfründen verzehrten und die Ketzer mit Traktaten widerlegen wollten. Man drohte ihm oft mit Ruthenstreichen. Dennoch fand er Anhänger. Nicht viel. Ihrer fünf bis sechs ...

Fünf bis sechs? fuhr fast unwillkürlich Dankmar auf, der gespannt zuhörte und den bekannten Thatsachen, die er von dieser Seite aus sonst nie beurtheilt hatte, ein neues Licht abgewann.

Nicht mehr, HerrWildungen! erzählte der General. Mit diesen wenigen Männern verabredete sich der alte lateinische Haudegen zu einem Bunde, der später so allmächtig wuchs. Sie gingen aus Paris in ein entlegenes Kloster, stiegen dort in unterirdische Kapellen, nahmen das Abendmahl und schwuren, entweder nach Jerusalem zu wallfahrten oder nach Rom, um sich dem heiligen Vater zu Füßen zu werfen und ihre Dienste ihm anzubieten.

Sie zogen die kürzere Reise nach Rom vor, bemerkte Rudhard nicht ohne Bitterkeit.

Nicht ohne anderswo erst jene Anerkennung zu verdienen, sagte Voland, die sie später in Rom allerdings fanden. Sie gingen nach Venedig und andern Städten [2980] Oberitaliens, wo sie predigten, eine Art innerer Mission trieben und von Visionen sprachen, die ihnen geworden wären. Man hat diese Visionen für Lügen erklärt. Ich glaube wohl, daß sich die jungen spanischen und französischen Schwärmer selbst belogen. Aber ich weiß nicht, ob es nicht aufrichtiger, jedenfalls poetischer ist zu sagen:

Ich sah die Mutter Gottes und hörte ihre Worte, die mir Ermunterung zusprachen, mich im Dulden stärkten, mich mit der künftigen Märtyrerkrone trösteten, oder, wie dies bei den Freimaurern der Fall ist, mit geheimnißvollem Grauen und eleusinischen Enthüllungen zu locken und das Nichtssagende, oft Triviale in ein Gewand allegorischer Bedeutsamkeit zu hüllen. Das Auge sieht den Himmel offen! So spricht der Mensch vermöge seiner höhern Inspiration und seiner Ahnung eines großen Jenseits. Aber das Auge sieht einen Vorhang offen, eine Gardine, einen Lappen offen – welche Thorheit!

Diese Äußerung verrieth eine innere glühende Schwärmerei, die sich hinter Kälte und weltmännischer Glätte verbarg.

Wie kommen Sie zu dieser Polemik gegen die Freimaurer? fragte der Ritter Rochus. Die Freimaurer haben sich in jüngster wilder Zeit außerordentlich bewährt!

Und ich fürchte fast, sagte der Wirth, der seine kurzen Beine übereinanderschlug und in einer Sophaecke fast verschwand, Rudhard ist selbst ein Freimaurer ...

Ich muß in diesem Falle um Entschuldigung bitten, bemerkte angeregt der General. Ich bewege mich auf diesem [2981] ganzen Gebiete religiöser Wirren und Streitfragen nur als Dilettant und Geschichtsfreund. Allein das Kapitel von den geheimen Gesellschaften führt unwillkürlich auf Vergleiche und ich weiß den Orden der Jesuiten mit keiner andern historischen Erscheinung in Analogie zu bringen, als daß ich ihn an die alten geistlichen Ritterorden anknüpfte und endlich andeutete, wie der letzte Versuch, die Templerei wieder in Schwung zu bringen, eben die Freimaurerei ist. Lassen Sie uns alle Ausartungen des Jesuitenordens bei Seite stellen, vergleichen Sie, was dieser Orden, der, als ihn der Papst bestätigte, zehn, sage zehn Mitglieder zählte und was die Freimaurerei bewirkte?

Ich bin, nahm Rudhard jetzt das Wort, kein leidenschaftlicher Maurer. In Rußland sind alle geheimen Gesellschaften verboten und mit Recht. Die Menschheit soll in offner Form leben und ihr Licht da leuchten lassen, wo es die Finsterniß bedarf. Sie hören daraus nochmals, daß ich kein leidenschaftlicher Maurer bin. Aber Sie sind ungerecht, Herr General! Die Jesuiten hatten in ihrer Art trefflich gewirkt. Der Kreuzzug gegen die Ketzer war mit Blut, Scheiterhaufen, Folterqualen bezeichnet. Ganze Länder fielen in die Nacht des Irrthums, in die Fallstricke Roms zurück. Die Rückbekehrung hat z.B. Böhmen zu einem düstern tückischen Czechenlande gemacht, während es ein freiblickendes, edles Hussitenvolk sein konnte. Der jesuitische Geist pflanzte sich in die Kirchenverbesserung über. Pfaffenthum überall! Nirgend ein freier [2982] Lichtstrahl mehr und keine Tugend außer im christlichen Gewande der Demuth. Da trat die Freimaurerei auf. Sie kam von England, dem Lande der klaren Begriffe. Ich will nicht leugnen, daß sie eine Frucht jenes Freigeistes war, der damals von England sich auf den Kontinent verpflanzte. Man wollte die Lehren von Bolingbroke und Locke zu einer neuen Religion erheben, man fand eine Symbolik, die man von äußern Zufälligkeiten hernahm, von einer Art von Ressource oder Casino und übertrug in ein heitres geselliges Zusammenleben allegorische Wahrheiten. Wir sind in der That an Bruderliebe nicht so gesegnet in unserm Dasein, daß wir nicht eine systematische Beförderung derselben gern begrüßen sollten. Ich verwerfe jeden alten Ursprung der Maurerei. Es ist Thorheit, sie an die Tempelherren anzuknüpfen. Es ist sehr fraglich, ob die Baugilden des Mittelalters irgend etwas mit ihr gemein haben. Allein wenn sie auch nur aus dem veredelten Prinzipe der Geselligkeit entspringt und sich mit affektirtem Ernste spielende Formen gab, die sie selbst bei ihrer ersten Stiftung belächelte und die nur später wie Geheimnisse erfaßt und fortgepflanzt wurden, so hat sie Segensreiches gewirkt. Ich will von den gespendeten Wohlthaten und beförderten Humanitätszwecken nicht reden. Ich will nur darauf hindeuten, was sie in der Geschichte der Kultur und der freien Geistesentwickelung gewesen ist ....

Ja, rief Ritter Rochus vom Westen plötzlich wie elektrisirt und von Eifersucht gegen den General angeregt. [2983] Ja, ich bin sicher kein Maurer. Aber bester General, die Logik, die gesunde Vernunft hat die Maçonnerie befördert. Sie hat den Menschen als Menschen erfaßt und ihn vom Gängelbande der Konfession und der Vorurtheile der Stände befreien helfen. Sie arbeitete allerdings der französischen Revolution, aber der guten und lobenswerthen Phase ihrer Entwickelung vor. Sie hat das Gemeingefühl der Geister gestärkt, die die Aufklärung fördern wollten und ohne die Unterstützung der Logen allein gestanden hätten und bald verzweifelt wären. Die Logen waren eine Ergänzung der historischen Gesellschaft, wie sie einmal geworden ist und ohne blutigen Umsturz, den wir verabscheuen, nicht geändert werden kann. Sind die größten Geister der Literatur ohne den Zusammenhang mit den Logen zu denken? Lessing, Herder, Wieland, Goethe waren Logenbrüder. Der hohe Geist, der in ihnen wirkt, pflanzte sich durch die geheime Verbrüderung gleichgestimmter Seelen rascher fort als auf der freien Arena des Marktgewühles, wo die Kritik und der Neid der Schulen ihr Wirken begeiferte ...

Der General blickte lächelnd auf den Ritter, in dem sich der alte, vorurtheilslose Gelehrte regte. Alle staunten, Niemand mehr als Dankmar, der, ein einfacher Referendar, so in die Lage kam, einen berühmten Diplomaten einmal frisch von der Leber weg reden zu hören. Man sah die Wirkung der Tafel, der Natürlichkeit des Wirthes. Die Reserve war aufgehoben. Es regte sich in dem Gesandten »wie der Wein im Fasse, wenn die Reben blühen.«

[2984] Er vergaß, welche Thatsachen er in der Welt zu vertheidigen hatte und welche Grundsätze ihm bezahlt wurden.

Dystra hielt es seiner Wirthspflicht für angemessen, den Ernst dieser Unterhaltung, die für Louis und Dankmar grade in den Gegensätzen so spannend war, etwas zu mildern und sagte:

Ich versichre Sie, meine Herren, wenn ich den Tempelstein accaparire – ich hoffe, Freund Voland, Sie verwenden Ihren Einfluß, daß mir dies Vorhaben gelingt – so werd' ich dort weder einen Jesuitensitz noch eine Freimaurerloge etabliren, sondern auf die alten Zeiten zurückkehren und mich an das Sprichwort halten, das Rudhard vorhin erwähnte: Er trinkt wie ein Templer!

Man lächelte ...

Diese alten Templer waren viel vernünftigere Personen als Eure Loyoliten und Eure Salomonischen Meister vom Stuhle! fuhr Dystra fort. Sie liebten die Freude, den Wein, den Gesang, die Weiber! Sie bauten sich Werbeplätze für den Sarazenenkrieg, exercirten die Mannschaften und blieben zuletzt zu Hause! Sie wählten sich die besten Aussichten zu ihren Burgen und Abteien. Sie hatten Geschmack für natürliche Veduten. Die Sünden, die sie als Ritter begingen, konnten sie sich als Priester gleich selbst wieder vergeben. Ich finde, daß die Wiederherstellung dieses Ordens im uralten Sinne mir eine liebe Aufgabe auf dem Tempelstein sein könnte. Ich baue die Ruine aus, trotz Rheinstein und Stolzenfels. Die Erker, Thürmchen, gezackten Mauern behalt' ich bei. Der Burggarten [2985] mit Springbrunnen, die Altanen, Söller, das Alles waren sehr amüsante Ideen des Mittelalters. Nur in dem Burgverließe würde ich vorziehen, meinen Champagner kühl und petillant zu erhalten. Die steinernen Fußböden würd' ich mit wärmern Parquets vertauschen. Die Öfen würd' ich mir in neuester Konstruktion ausbitten und vielleicht, um mich ganz mit dem Mittelalter zu befreunden, eine Petersburger Luftheizung versuchen. Hinten auf der Abtei mach' ich eine bequeme Neusiedelei mit englischem Comfort. Eine Bibliothek soll da sein für Sie Alle! Alle Kirchenväter, alle Streitschriften der Jesuiten; aber auch alle Werke Voltaire's, Hume's, Locke's und wiederum alle Predigten Bossuet's. Ich wette, Freund Voland liest da nicht einmal die Kirchenväter! Ebensowenig, wie ich Ihnen gestehe, lieber Rochus, daß ich die Maurerreden in den deutschen Klassikern ... immer übersprungen habe.

Mit einem ganz natürlichen Instinkt, lieber Dystra, nahm der General den Gegenstand wieder auf. Sie haben wahrscheinlich immer gefühlt, daß diese Maurerreden in der That Dasjenige, was wir an Herder und Goethe bewundern, nicht ausdrücken. Wahrlich, durch diese Reden ist Das nicht hindurchgegangen, was an unsern deutschen Klassikern so groß, so befruchtend war. Ich will nicht von der romantischen Schule sprechen und den Nachdruck darauf legen, daß man sich Tieck, Schlegel, Brentano, Novalis, Schenkendorf nicht als Maurer denken kann. Aber auch Jean Paul, Herder, Goethe! Jean Paul, der [2986] Herrliche, Geistesreiche, trug in Alles seine bedeutsame, kindliche Auslegung hinein. Herder ist nur befruchtend und anregend gewesen in den Bestrebungen, die ihn uns als den Erwecker der verstummten Völkerstimmen zeigen. Goethe vollends als Maurer hat sich im Großkophtha selbst persiflirt, wie er sich im zweiten Theil des Faust als Minister persiflirte. Der große allgewaltige Olympier, den wir in ihm bewundern, hat mit der Loge nichts gemein. Man zeigte mir einmal in Weimar Goethe's Schurzfell; es hat mich nicht erbaut.

Ebensowenig, bemerkte Rudhard, wie mich der Franziskanerstrick erbauen würde, den Zacharias Werner in Wien trug.

Diese Entgegnungen waren wieder herausfordernd. Der General warf einen scharfen Blick auf den Ritter, der sich inzwischen besonnen zu haben schien und seiner öffentlichen Funktionen eingedenk wurde. Rochus von Westen, der mit Voltaire'schem Esprit Zacharias Werner'sche Zeitauffassung vertreten mußte, schwieg ...

Sehen Sie, wandte sich Dystra jetzt zu Louis Armand, Das sind die Gegensätze, die uns dies sonderbare Deutschland so verworren erscheinen lassen! Ich bin durch die halbe Welt gereist, habe die Pyramiden Ägyptens und die heißen Fontainen in Island gesehen, überall streitet man sich, aber nirgends so viel wie in Deutschland und nirgends spukt noch das tolle Ritter-und Mönchswesen wie bei uns, während unsre ganze Tournierfähigkeit jetzt kaum noch darin besteht, daß wir im Lesekasino ... wissen [2987] Sie, Rochus, worin wir uns im Kasino als die letzten Ritter erscheinen müssen?

Man horchte gespannt ...

Unser letztes Ritterthum besteht in dem Rest der Kunst des Ringelstechens, vermöge dessen wir die Journale, die wir gelesen haben, wieder an die Haken hängen, von wo wir sie herabgenommen. Meine Ahnen können nicht künstlicher in den Karroussels nach dem Ring gestochen haben, wie ich jedesmal angeln muß, um die Times wieder an ihren Riegel Nr. l zu hängen.

Während man diesem Einfall applaudirte, fragte Dystra Louis:

Sie sind aus Lyon gebürtig?

Aus Lyon, mein Herr!

Sie sprechen vortrefflich deutsch.

Es ist die Sprache meiner nächsten Verwandten.

Louis litt unter der Vorstellung, daß Otto von Dystra vielleicht nicht wußte, daß er die Ehre seiner Einladung einem in der Gesellschaft so tiefstehenden Arbeiter hatte zu Theil werden lassen. Rudhard, Dankmar, selbst Voland fürchteten dieselbe Aufklärung. Sie wußten wohl, daß Dystra keine Vorurtheile hegte, dennoch würde er seiner Gäste wegen sich vielleicht betroffen gezeigt haben. Deshalb ergriff Dankmar sogleich das Wort und lenkte das Gespräch auf Egon, den Beschützer Armand's, hinüber.

Als dieser Name ausgesprochen wurde, wandte General Voland seine durchdringenden Augen zu Dankmar und hörte mit Spannung, was über den jetzt die Geschicke des [2988] Landes lenkenden jungen Fürsten würde gesprochen werden. Rudhard ertheilte aber dem neuen Premierminister sogleich die entschiedensten Lobsprüche. Er besitze ganz jene zähe Ausdauer, sagte er, ohne welche man jetzt nicht Politik treiben könne. Er hätte der Hydra der Revolution auf den Nacken getreten, er werde es bändigen, das Ungethüm, das in seinen Verheißungen die Sprache der Engel rede, in Wahrheit aber eine blutige Wolfsnatur wäre.

O wie stimmten die beiden vornehmen Gäste bei! Wie überschüttete man Rudhard mit Dank, mit Bewunderung! Aber gerade in dem Übermaaß lag der Mangel an Aufrichtigkeit ... Man stockte sogleich. Man ließ Rudhard reden, preisen. Man schwieg, bis General Voland zu Louis sagte:

In Lyon machten Sie des Fürsten Bekanntschaft? Wie schön dies Lyon! Wie eigenthümliche historische Luft weht in jenen südlichen Abdachungen, die von da mit den großen Strömen sich zum Meere hinuntersenken! Lyon ist eine der ältesten Städte Frankreichs. Der Zusammenfluß der Saone und der Rhone bietet dem Auge ein gefälliges Schauspiel. Noch sind hier die Überbleibsel der alten römischen Niederlassungen sichtbar. Mancher römische Kaiser hat in Lyon gewohnt, manches christliche Märtyrerblut ist dort geflossen, wofür denn freilich diese Stadt die Ehre genießt, von sich rühmen zu dürfen, daß sie die erste christliche Kirche Galliens aufzuweisen hat. Ich kenne nur zwei Empfindungen, die mich bei Wanderungen [2989] und Reisen ganz erfüllen können. Die eine ist Die: historische Luft zu athmen. Wo genösse man diese Wonne in größeren Zügen als im Süden Europas? Wie ich in Lyon war, sah ich Königreiche vor mir wieder neu erstehen, die nun mit dem Schutt der Vergessenheit bedeckt sind. Ich sah das Arelatische Reich, das hier blühte, ich sah Burgund, dessen Kraft an den Morgensternen der Schweizer bei Murten zersplitterte – 1476 – Wie weht da ein Geist der Kraft, der Auferstehung, der Verjüngung! Wie sieht das Auge reisige Geschwader herniederkommen von den Bergen und Alles drängt sich dem Mittelpunkte der großen Weltbegebenheiten zu, dem Mittelländischen Meere, um das herum doch eigentlich allein nur wahre Geschichte gemacht wird! Das zweite nicht minder erhabene Gefühl hab' ich beim Anblick jener Uranfänge des Christenthums, die uns aus alten Mauern und Kapellen noch entgegentreten. Die großen Münster, die aus der Blütezeit der Kirche herrühren, machen mir lange nicht den Eindruck, als wenn ich jene kleinen, oft ganz versteckt liegenden, niedrigen Kapellen und Kirchen mit Kreuzgängen sehe, die noch fast das Ansehn alter Kastelle haben und sozusagen die cyklopische Zeit der Kirchenbaukunst bedeuten. So empfand ich in Mailand bei jener entlegenen Kirche, die einst der heilige Ambrosius vor dem Kaiser Theodosius schloß und ihm nicht gestattete, früher den heiligen Boden zu betreten, ehe er sich nicht von dem in Thessalonich vergossenen Märtyrerblute gesühnt hatte. Wie jung war damals die Christuslehre! Wie neu und[2990] frisch der Eindruck einer Begebenheit, die in die alte erstorbene Welt der Heiden wie ein junges Reis hinein sich rankte und bald lebenskräftig die ganze gebildete Welt der Erde mit grünem Laube umzog! Auch in Pavia, Genua, vor allen Städten aber in Rom folgt man mit Wonneschauern diesen allerersten Fußtapfen der Kirche und kann sich mit etwas Phantasie aus schwarzen, niedrigen, byzantinisch gerundeten Bauten die ganze Vergangenheit zusammensetzen, die wir kaum kennen würden, wenn nicht irgendwo doch ein sinniger Mönch in einem Kloster die Erzählungen durchreisender Pilger als Schreib- und Stylübung verzeichnet hätte.

Wahrlich, fiel Otto von Dystra, des Ritters ironisches Niederblicken bemerkend, lachend ein, ich muß sagen, Voland, Ihre poetische Spürkraft hat sich merkwürdig ausgebildet. Für einen Offizier ist so viel Studium heterogener Dinge aller Ehren werth! Aber es ist wahr, Sie schmachteten schon in Hofwyl unter dem Druck der rationellen Erziehung Fellenberg's und sehnten sich zu jenen jungen Fürsten und Grafen hin, die in Freiburg erzogen wurden ...

Das nicht, Dystra, sagte der General, der auch im Pädagogischen sattelfest war. Aber ich fand früh heraus, daß Fellenberg uns Alle täuschte. Fellenberg gab sich die Miene, zwischen Pestalozzi und den bestehenden Kastenansprüchen der Gesellschaft hindurchsegeln zu können und wollte gleichsam Jeden für seinen von dem Zufall ihm vorgezeichneten Stand erziehen. Ich will nicht sagen, daß [2991] ich schon damals die Einsicht besaß, diesen Widerspruch zu durchschauen, aber ich fand, daß die Jesuiten in Freiburg mit mehr Wahrheit, mit mehr Gleichheit in besserem Sinne er ziehen. Sie stellten die Stände gleich und gaben dem Fürstensohne, wie dem künftigen Priester dieselbe Erziehung ...

Das ist ja grade das Gewagte, Herr General, erlaubte sich Dankmar dem in allen Standpunkten seiner Zeitgenossen dilettirend Herumtastenden zu bemerken. Wir erhalten aus jener Gegend her Priester, die wie Fürsten regieren wollen und Fürsten, die wie Pfaffen denken ...

Sehr wahr, sehr wahr, bemerkte Dystra. Schelten Sie mir nur unsern alten Fellenberg nicht, Voland! Sie machen unsrer Schweizererziehung auch durch Ihren Appetit keine Ehre! Sie scheinen von Nichts zu leben. Sie lassen mir jede gute Schüssel, jedes Glas aus Küche und Keller der »Stadt Rom« vorübergehen. Die alten Mönche tranken Wein, wenn sie auch noch so fromm waren.

Otto von Dystra war völlig unbekannt damit, daß der General der Mann der Fabel hieß. Er verstand des Ritters halb verlegenes, halb schadenfrohes Lächeln nicht, verstand nichts von der eigenthümlichen Ruhe, mit der Dankmar seine Cigarre rauchte und gewissermaßen Louis Armand ermunterte, nur auszuharren und sich nicht einschüchtern zu lassen. Er ahnte nicht, daß Ritter Rochus vom Westen, médisant, anekdotenhaschend, negativ wie er war, sich auf die Lippen biß, um die Bemerkung zu unterdrücken: Wissen Sie denn nicht, daß General Voland [2992] in dem Rufe steht, wie der Graf St.-Germain durchaus nichts zu genießen und nur von einem himmlischen Manna zu leben, das er zuweilen aus einer in seiner Uniform verborgenen Dose nimmt?

Der Ritter trennte sich gewaltsam von dem Gelüst, diesen Gedanken auszusprechen und fragte den Baron, wie lange er in Europa bleiben würde und ob er nicht Kalifornien gesehen hätte? Kalifornien war dem General so gleichgültig, wie z.B. Rudharden die Kirche San Ambrogio in Mailand. Aber dem Ritter Rochus war Kalifornien die eigentliche wahre Errungenschaft des Zeitgeistes.

Otto von Dystra sprach von dem Versuche, in Deutschland zu leben, wenn er hoffen dürfte, sein Vermögen aus Rußland herauszuziehen und gewisse Familienfragen auf deutschem Boden zu lösen.

Dankmar wollte etwas von den Schwierigkeiten solcher russischen Prozeduren bemerken und fand bei den hochgestellten Herren, die sich zum Gehen rüsteten, eine Beistimmung, die ihn überraschte. Rudhard aber nahm Veranlassung, wiederum die strenge, gegliederte Ordnung des russischen Militairstaates und den unromantischen, aber beglückenden Absolutismus zu preisen. Die Diplomaten nickten, suchten nun aber doch davonzukommen. Eben im Begriff, die Hüte zu ergreifen und sich zu empfehlen, hörte man draußen auf der Straße plötzlichen Lärm. Man stutzte. Die Bedienten hatten schon lange nach den Fenstern gesehen und durch ihre Bewegungen [2993] die Aufmerksamkeit der Herrschaften auf die Vorgänge lenken wollen, die sie in den Straßen beobachteten. Erst ein Murmeln, dann ein Sausen, immer hörbarer anwachsend und an den Häusern des Platzes, an welchem die Stadt Rom gelegen war, widerhallend. Ein Rauschen und Brausen. Das Getümmel wuchs. Man hörte rufen, man hörte schreien, die Gesellschaft, statt sich aufzulösen, eilte an die Fenster. Der Platz wimmelte von Menschen ...

Was ist Das?

Man drängt sich an jenes Haus –

Ein Auflauf –

Wer wohnt dort?

Bediente aus dem Hotel waren von den Vorgängen unterrichtet. Sie sagten, dort an dem umstandenen Hause pflegten Maschinenarbeiter ihre Versammlungen zu halten. Ihr Verein wäre heute aufgehoben, weil man wieder drohende Reden gehalten. Die Polizei überwache die Sitzungen und schlösse sie jedesmal, wenn etwas Anstößiges gesprochen würde. Heute hätte man nicht auseinandergehen wollen ...

Indem kam schon eine Kolonne Militair und trieb erst die neugierigen Massen auseinander, dann rückte sie auf das Haus selbst zu. Die Agenten der Polizei waren in voller Thätigkeit und soweit die nur matte Erleuchtung des Platzes die Übersicht gestattete, sah man, daß unter Geschrei, Pfeifen, Lärmen, zahlreiche Verhaftungen vorgenommen wurden ...

[2994] Das ist so schon das dritte Mal! berichtete der Bediente und Voland sagte mit einem eignen sardonischen Lächeln:

Man gewöhnt sich an dies Chaos. Es stört Niemanden mehr in seiner Abendruhe.

Der Ritter Rochus vom Westen aber zitterte. Er hatte in einem solchen Sturm vor wenigen Monaten sein Portefeuille verloren. Er wußte an Beispielen, daß man dabei auch sein Leben verlieren konnte, trotz der Privatverehrung von Voltaire und Bolingbroke.

Abscheulich, sagte Dystra, einen Staat in solchem ewigen Kriege gegen sich selber zu wissen! Hören Sie nur das Pfeifen, dies Höhnen, das Zertrümmern der Fensterscheiben! Die Trommel wirbelt. Es kann nicht lange währen, so hört man eine Salve und wir sehen Todte und Verwundete ...

Ritter Rochus gerieth außer sich. Meinen Sie? rief er und trippelte hin und her ...

Das ist modernes Staatsleben! sagte Voland fast triumphirend.

Im Mittelalter war es nicht besser! rief Rochus ärgerlich –

Ehe man Macchiavelli kannte! warf Rudhard da zwischen.

Allerdings, sagte Voland, den Militairmantel überwerfend, allerdings in kleinen Staaten. Man hat gezählt, daß in Pisa allein vom Jahre 132O bis 152O über dreihundert Aufstände vorgekommen sind ...

Ha! schrie Ritter Rochus. Es trommelt!

[2995] Eine Salve krachte. Verzweiflungsruf, eine allgemeine rasende Flucht. Der Platz leer. Ein paar Verwundete, ein Todter, den man der Polizei übergab. Die Ruhe schien auf dem Platze hergestellt. Exaltirte Köpfe rannten durch die Straßen und riefen: Waffen!

Die Thoren! sagte Dankmar. Waffen! Sie wissen nicht, was Das für ein Anachronismus ist! Die Zeit der panischen Begeisterung und die der panischen Furcht ist auf lange vorüber. Die Regierungen gewinnen da nur an Kraft, wo sich die Demokratie einbildet, mit dem alten Apparate, Waffen und Barrikaden, noch kämpfen zu können ...

Und ist es nicht ein Glück, daß sie an Kraft gewinnen? sagte Rudhard streng.

Mein Bester! Die Ruhe der Welt dankt Ihnen für Ihren Zögling! rief der Ritter Rochus und schüttelte Rudhard's Hand. Das Ministerium Hohenberg bezeichnet eine Epoche der Geschichte. Nur Ruhe!

Wie würden Sie diese Verwirrung lösen, General? sagte Dystra, indem er einen schwachen Versuch machte, seine Gäste wieder zum Sitzen zu bringen – Sie stehen über dem Momente, Sie haben die Jahrhunderte vor Augen, was erwarten Sie von dieser Zeit?

Eine Droschke! rief der Ritter, wenn mein Wagen nicht da ist!

Die Bedienten sagten, er wäre in's Thor des Hotels gefahren, weil man draußen Barrikaden fürchtete ... Jetzt wäre alle Gefahr vorüber.

[2996] O sehr gut! Sehr gut! Guten Abend, Baron!

Dankmar und Louis, obgleich im höchsten Grade aufgeregt von dem Vorfall vor dem Wirthshause, wo sich der Maschinenarbeiterverein versammelte, ängstlich ohnedies um die Verwundeten und den Todten, horchten gespannt, was der General antworten würde, allein dieser lehnte freundlichst ein längeres Bleiben ab. Er berief sich auf seine gemessene Zeit, seine Berufspflichten, seine besetzten Abende. Sein Abschied, sein Dank für die Bewirthung war einfach und wohlwollend. Er sagte Dankmarn und Louis gleich Verbindliches, bewahrte aber bei aller Freundlichkeit einen so eigenthümlichen Ernst, daß man unwillkürlich staunend hinter ihm hersagen mußte: Er sagt fast Alles, was er weiß und von Dem, was er nicht weiß, muß man doch noch glauben, daß er es nur verschweige! Der General schloß sich dem Ritter an.

Rudhard, der das Anliegen Louis' und Dankmar's bei Dystra nicht stören wollte, ging mit den Worten:

Baron, Sie sind ein Neuling in Europa! Sie werden Ihre Jugendfreunde kaum wieder erkannt haben.

Dystra lachte und sagte:

Der General hätte Priester werden sollen. Ich sagte es ihm schon bei Fellenberg.

Wer weiß, ob er es nicht ist! meinte Rudhard. Rußland hat ganz Recht, daß es die Freimaurer und die Jesuiten verbannt. Ich möchte dem General Voland nicht das Schicksal dieses Staates anvertraut wissen und finde es ganz in der Ordnung, daß Egon vor einem Manne, [2997] der sich des Wirrwarrs zu freuen scheint, auf der Hut ist.

Es ist kein Jesuit, eher ist es Ritter Rochus, der die Jesuiten bestreitet, sagte Dystra. Glauben Sie mir! Ich fange an, Europa zu begreifen! Mein alter Kamerad von Hofwyl lebt nur zum Schein vom Geiste; er ißt nicht, er trinkt nicht. Dieser Mann scheint eine Abstraction geworden zu sein. Aber ich wette, daß er eben einige Beafsteaks gegessen hatte, ehe er zu mir kam. Jetzt geht er schlafen und um zehn Uhr ist er bei Hofe, um bis ein Uhr nach Mitternacht mit dem Könige Gold zu kochen. Mein alter Freund aus Athen und Stambul, der Ritter Rochus, fährt jetzt nach Hause und chiffrirt unsre ganze Unterhaltung nach seiner Hauptstadt, wo sie nicht die Minister, wohl aber deren Frauen allenfalls interessiren könnte.

Rudhard ging mit einigen Fragen nach Siegbert kopfschüttelnd. Dystra, aufhorchend wegen Olga's, doch sich zurückhaltend, begleitete ihn ...

Als der Baron zurückkehrte, zog er Louis und Dankmar zu sich auf das Sopha nieder und hörte nun von ihnen mit Erstaunen, daß jener Murray, von dem ihm schon Mangold so Sonderbares erzählt hatte, der ihm wohlbekannte Morton aus New-York war. Er hielt Morton für verschollen, für todt. Er erklärte sich mit Freuden bereit, seine Bemühungen mit denen der Freunde zu verbinden, um Murray, dessen deutscher Ursprung ihm kein Geheimniß war, aus einer so gefährlichen Lage und jedenfalls einem, wie es ihm vorkam, vorgefaßten Misverständnisse [2998] über seine Person zu erlösen. Er erklärte sich bereit, jede nur irgend verlangte Caution zu hinterlegen, damit Murray auf freien Fuß gestellt würde. Die Verabredung, morgen in der Frühe gemeinschaftlich auf das Profoßamt zu gehen und sich für den Gefangenen zu verbürgen, war ihm ganz genehm. Er trennte sich von seinen neuen Bekannten mit der Bitte, ihm ferner ihr Vertrauen zu schenken und ihm zu gestatten, ihre Zeit zuweilen in Anspruch zu nehmen.

Dankmar fand an dem offnen, gentlemännlichen Benehmen des von der Natur vernachlässigten und doch durchaus nicht ungefälligen Barons große Freude und schlug in die dargebotene Rechte herzlich ein. Louis aber zog seine Hand zurück und sagte, um endlich ein ihn peinigendes Gefühl los zu werden, in französischer Sprache, sicher und fest:

Herr Baron, wir sind Ihrer Einladung gefolgt, sind geblieben, wir wußten nicht wie. Ich für mein Theil mit großem Widerstreben. Verzeihen Sie mir meine Dreistigkeit! Sie hat mich während des ganzen Abends genug gefoltert. Ihre Güte haben Sie einem Manne gewidmet, der darauf nach den Regeln der Gesellschaft keine Ansprüche hat. Sie haben diesen beiden großen Staatsmännern durch meine Schuld eine Unannehmlichkeit zugefügt. Ich bin ein einfacher Handwerker.

Ein Handwerker?

Dystra blickte wirklich erschrocken auf.

Glauben Sie Das nicht, fiel Dankmar ein, mein Freund [2999] Louis Armand ist ein Philosoph, ein Dichter. Aus Laune der Natur und des Zufalls lernte er das Handwerk eines Tischlers, das er indessen zu einer Kunst erhoben hat und alle Welt weiß, daß ihn Bande der innigsten Freundschaft an Fürst Egon festhalten ...

Mein Herr, antwortete Dystra, der sich rasch gesammelt hatte, wenn Sie nur der Freund des Herrn Wildungen sind, so brauchten Sie nicht einmal eine Merkwürdigkeit zu sein, die den General Voland interessirte, ich würde Sie schon mit offnen Armen aufgenommen haben. Der Ritter Rochus, seien Sie versichert, schreibt in diesem Augenblicke an die Für stin ...: »Das neue Ministerium läßt zwar auf der Straße die Emeute bekämpfen, aber in den Salons ist die Emeute siegreich. Ich habe bei einem Diner Veranlassung gehabt, zum Nachtisch mit einem Handwerker Kaffee zu trinken. Es ist dies der bekannte »Ouvrier«, der in keinem modernen Ministerium fehlen darf und dem auch hier das Portefeuille der öffentlichen Bauten oder der Gewerbe würde übertragen werden, wenn er nicht zufällig ein Ausländer wäre.« Bei Alledem morgen auf Wiedersehen!

Auf Wiedersehen! widerholte Dankmar lachend.

Die Freunde schieden.

Dystra aber, innerlichst bewegt, aufgeregt sogar durch diesen Abend, »revoltirt« durch das Gespräch, durch die Scene auf dem Platze, durch den Gedanken an die Familie Wäsämskoi und den ihm durch den Bruder nun schon so naherückenden Nebenbuhler Siegbert Wildungen, an das [3000] Schicksal Murray's, sprach, den Arm aufstützend, vor sich hin:

Du bist doch ein Neuling in dieser modernen Welt, Dystra! Du hast viel versäumt, viel nachzuholen oder viel zu vermeiden! Bau' dir den Tempelstein aus und vergrabe dich dort als Einsiedler! Kosmopoliten sucht jetzt Niemand. Mit dieser Welt werden bald Baschkiren und Mongolen reden müssen! Noch trinkt Asien Opium oder Stutenmilch; aber bald werden wir das furchtbare Pferdegetrappel von den Steppen des Ostens hören. Bis nach Chalons kommen sie wieder, diese Hunnenzüge, bis nach Chalons, wo der Champagner wächst! Da muß es sich entscheiden, ob das neue Weltalter von der Natur, der ewig wiederkehrenden, oder dem Geiste, dem endlich durchgerungenen, siegend wird bestimmt werden!

Die beiden Schwarzen wünschten ein Urtheil über das Diner zu hören und eine Ansicht über die Scene auf dem Markte. Dystra merkte Das an den Fragezeichen, die auf ihren glänzenden Gesichtsfratzen standen, als sie so leise heranschlichen ...

Alles gut gewesen, bis auf den Todten draußen! Laßt anspannen! Hut und Stock! Ich will noch für einige Akte in die große Oper fahren. Begleitet mich!

Spartakus und Cicero eilten, die Befehle ihres Herrn zu vollziehen. Er hatte ja dem Intendanten versprochen, sich von ihm sagen zu lassen, wie seine ihn umgebende artistische Verschwörung die Idee von der Mitwirkung lebendiger Meerkatzen im Faust und der neuen Scenirung [3001] der Zauberflöte durch eine entsprechende Menagerie aufgenommen hätte!

Dystra bedurfte heute dieser Anknüpfung an Herrn von Harder, um wieder zu seinem gewohnten Humor zurückzukommen und glücklicherweise hatte der Vorfall auf dem Platze am Hotel de Rome die Vorstellung in der großen Oper nicht gestört. Die Zeit war eisern geworden. Die Nerven gewöhnten sich schon.

[3002]
12. Capitel. Zwei Todte
Zwölftes Capitel
Zwei Todte

Seit vierzehn Tagen hatte Hackert vergebens versucht, den gefangenen Murray zu sprechen und sich der von Madame Ludmer ihm gegebenen Aufträge zu entledigen. Assessor Müller war streng. Er anerkannte Hackerten nicht offiziell, da er ihm nur eine Privatbeziehung zum Oberkommissär Pax einräumen konnte. Pax kehrte noch immer nicht zurück. Ohne dessen Vermittelung litt das Untersuchungsamt keine Konfrontation mit einem Manne, der allerdings durch seine ruhige und ergebene Haltung, seine gebildeten Antworten, seine Auslegung des Vorfalles im Plessener Walde die Justiz fast schon entwaffnete. Die über den Schmied Zeck eingezogenen Nachrichten lauteten alle ungünstig. Herr von Zeisel stellte Murray schon um Louis Armand's und des Prinzen Willen im günstigsten Lichte dar. Die Ludmer erfuhr diese Wendung. Ungeduldiger, immer dringender wurde ihr Ersuchen an Hackert. Da aber Pax nicht zurückkehrte, konnte von dieser Seite ihrer geängsteten Wißbegier nicht geholfen werden.

Wie sich heute, an einem Sonntage, Hackert dem[3003] Profoßhause näherte, bemerkte er Menschen, die zahlreicher als sonst durch die Thür des alterthümlichen Gebäudes aus- und eingingen.

Eine öffentliche Gerichtssitzung, dachte er, oder was gibt's da?

Indem läuteten die Glocken; er besann sich, daß Sonntag war. Und dennoch diese Bewegung?

Wie er das Profoßhaus betrat und in eine große steinerne Halle zur Linken eintrat, bemerkte er, daß sich die Menschen um einen dort aufgestellten Gegenstand versammelten.

Es ist gestern Abend geschossen worden, sagte er sich. Wahrscheinlich einer von Denen, die dabei blaue Bohnen gegessen haben!

In der That war es der Leichnam eines jungen Handwerkers, der gestern, wie er hörte, bei der Sprengung des Maschinenbauervereins entweder zufällig oder als ein Opfer seiner Widersetzlichkeit gefallen war.

Viele Andre, hörte er, wären verhaftet, noch Einige verwundet worden ...

Wie er noch so in der Ferne mit einer Miene voll Gleichmuth und achselzuckend zu der Gruppe hinblickte, die ab- und zugehend ihre Theilnahme nicht auszusprechen wagte, da Schildwachen und Polizeidiener genug in der Nähe standen, sieht er mit ängstlichem vorsichtig behendem Schritt Louise Eisold über den Marktplatz schreiten, an dem das Profoßhaus liegt. Sie hat vier ihrer Geschwister an der Hand, Wilhelm und Karoline, die [3004] Zeitungsträger, und die noch kleineren, Friederike und Heinrich ...

Wie Louise in das gewölbte Portal des Profoßhauses tritt, wendet sie sich fragend nach der Halle und sieht die Gruppe der Neugierigen ...

Ein so junges Blut! heißt es.

Sie hört Das ... Sie tritt näher ...

Die Geschwister wollen sie der Menschen wegen zurückhalten. Sie reißt sich von ihnen los, drängt sich heran, beugt den Kopf über die Tragbahre, hält sich wie schwindelnd an einem der ihr nahestehenden Menschen, blickt noch einmal auf die Leiche und stößt einen Schrei des Entsetzens aus.

Karl! rufen die Kinder und brechen in ein herzzerreißendes Weinen aus.

Karl! ruft Louise und faßt die Leiche, um sie emporzurichten; die Halle war niedrig, spärlich durch kleine runde Fenster erleuchtet, vom trüben Wetter fast düster ... Sie hält den Kopf des Todten wie gegen das Licht, streift an den Kleidern entlang, sieht die Züge des kalten Angesichts noch einmal prüfend durch und hat von dem an der Brust geronnenen Blute die Merkmale seiner tödtlichen Wunde in der Hand ... Der Todte war Karl Eisold, ihr Bruder. Sie mußte es so hinnehmen. Es war so. Gott hatte Das gegeben. Gott oder Wer? Es war so. Ihr Bruder Karl war todt.

Die Theilnahme der Umstehenden zeigte sich freilich als die innigste; aber was half Das? Louise lag über die [3005] Leiche hingestreckt und betrachtete sie stier. Dann redete sie wie im Wahnsinn mit dem Todten, als wenn er lebte, als wenn er selbst Auskunft geben könnte.

Karl hörst du nicht? Karl!

Sie schluchzte nun wenigstens und sprach doch wieder. Erst schien sie selber leblos.

Der Todte kalt und stumm. Das Blut quoll noch ein wenig aus der Wunde. Es war in größeren Massen die Nacht über auf eine Strohmatte gerieselt, die man unter die Bahre gelegt hatte. Das blasse Antlitz des sechzehnjährigen Jünglings war milde und wie verklärt. Er schien zu schlafen. Das blonde Haar hing schlicht, blutdurchronnen über die Stirn. Die Mütze, die er zu tragen pflegte, mit einer kleinen schwarz-roth-goldnen Cokarde, lag neben ihm. Der graue Tuchrock mit weißen Metallknöpfen war von Blut und Schmuz besudelt. Es war da nichts mehr zu ändern. Karl Eisold war das Opfer jener ersten energischen That des neuen Ministeriums gewesen.

Hackert, hinter einem von den kurzen Gewölbepfeilern der Halle verborgen, beobachtete mit sich verdüsternden Blicken die herzzerreißende Scene. Er hatte den jungen Arbeiter so gut gekannt. Wie rüstig war er, wie ernst und streng in seinem Berufe! Wie streng gegen ihn, den trägen Tagedieb! Er sah ihn, wie er zeitiger aufstand als alle Andern, die in jenem Hause beisammen wohnten! Er hörte ihn nebenan in der Küche sich schon waschen, während er im Bett sich noch wälzte und zum Frühschlummer sich auf die andre Seite warf! Er sah ihn an [3006] seinem Gitterfenster auf der Galerie vorbeigehen in die Willing'sche Maschinenfabrik ... Er sah ihn nach Hause kommen, Abends, ermüdet, nur nach seinem Nachtessen fragend, das mit Ernst und schweigsam verzehrend und dann bald zur Ruhe gehen ... Dies gegen zwanzig Millionen Seelen im Staate ganz unbedeutende, überflüssige Leben war nun beendet. Und doch war der Jüngling die Hoffnung, die Stütze einer Familie gewesen. Auf ihn bauten diese armen, verlassenen, elternlosen Kinder ihre Hoffnung. Eine kleine Rauchwolke war's. Nun verzogen! Hackert mußte sich unwürdig fühlen, die wahre Trauer um diesen Jüngling auszusprechen; doch grollte er mit dem Schicksal und erschrak fast vor der Majestät des Todes.

An Louise war es herzzerreißend zu sehen, wie die Phantasie des Mädchens sich in den schrecklichen Moment nicht finden konnte. Mullrich, ihr Vizewirth, der Polizeidiener, stand daneben und erzählte den Leuten, daß sie gestern Abend im Hause herumgesucht und gefragt hätte, daß sie eine jammervolle Nacht ausgestanden und am frühen Morgen schon wieder gesucht, schon in die Willing'sche Fabrik geschickt hätte – wo aber am Sonntag Niemand arbeitete – Er hätt' ihr gerathen, hier in's Profoßamt zu gehen. Bei dem Kommentar ihres Leids aus diesem Munde schwieg Louise und sah den Bruder starr an, als wenn sie sagen wollte: Das ist unser Loos! Nicht Eures, nicht das Loos der Reichen und Vornehmen, es ist das Loos der Armen und Verfolgten!

[3007] Kümmerlein, der neben Mullrich stand, erzählte den Vorfall von gestern Abend und berichtete, daß noch einige Verwundete und Viele gefangen wären.

Auch der große Breitschultrige, sagte er mit Beziehung, wißt Ihr Mullrich, damals vom Fortunaball, der den Hackert heraushieb? Er war erst vor vierzehn Tagen entlassen ...

Danebrand! sagte sich Hackert in seinem Versteck. Er kämpfte mit sich, ob er näher treten sollte ... Zum ersten Male fühlte er, daß er unwürdig war, sich dem heiligen Unglück zu nähern.

Louise, die auf der Leiche lag, sah nicht, daß die schluchzenden Kinder von den Umstehenden Gaben der Liebe empfingen, hörte nicht, daß Danebrand saß ...

Der Verein sollte geschlossen werden, erzählte Kümmerlein, da ging's wieder her wie gewöhnlich. Lärmen, Toben, Schreien. Einem von uns griffen sie an den Säbel. Da pfiffen wir. Es kam Hülfe. Da sie den Aufrührern gegenüber zu schwach war, wuchs ihnen der Kamm. Sie warfen die Gensdarmen zum Hause hinaus. Nun aber: fliegende Kolonne! Vor'm Hause ein Geschrei, Reden, Winkelzüge, Fluchen, Hohngelächter. Drei Mal Auseinander! Nichts Auseinander. Ratsch! Zwölfe brannten los. Der Arme da war nicht der Schlimmste. Er ließ die Andern räsonniren und stemmte nur die Hände in die Hosentaschen und sah an der Thür zu. Die Rädelsführer rissen gleich beim ersten Trommelschlag aus. Der hat nun in's Gras gebissen ...

[3008] Louise richtete den Kopf auf und sah sich im Kreise um. Alle redeten ihr zu, sich zu fassen, nach Hause zu gehen und sich in das Unabänderliche zu finden. Und wie sie so die sanften und gutgemeinten Worte hörte, fragte sie mit leiser Stimme den Mann, der eben so laut gesprochen:

Wo ist Danebrand?

Wo Danebrand wäre? wiederholten die Umstehenden fast einstimmig. Die geringen Leute sind dem Schmerz so aufmerksam, dem Leid so hülfreich ...

Danebrand! meinte Kümmerlein. Den haben sie bei den Ohren festgehalten, meine Beste! Er sah den armen Jungen da fallen, rannte grade auf ihn zu, hob ihn auf die Schulter und wollte fort damit. Da tritt die Kolonne gegen ihn an und streckt ihm die Bayonnete entgegen. Er legt die Leiche – Der war gleich todt – legt sie auf die Erde, brüllt wie ein Stier und packt zwei, drei Gewehre und will sich Luft machen. Sie traten ihn aber doch nieder und haben ihm dann mit Schnupftüchern die Arme gebunden und fortgeführt. Wie er gebunden war, gab er nach.

Hackert wußte, daß Danebrand für Karl Eisold arbeiten half und sich dem Wohle dieser unglücklichen Familie ganz gewidmet hatte. Gern wär' er nun doch fortgeschlichen ...

Aber jetzt grade schien Louise von der starren Betäubung des ersten Schreckens freigelassen. Sie brach in ein lautes Lachen und Weinen aus und rief:

[3009] Haben sie dich gemordet, Karl? Dich nun auch, wie so Viele, die in den zwei Jahren hingingen? Bist auch gefallen, wie schon die Tausend?

Mamsell! sagte Mullrich, gehen Sie nach Hause!

Lügt Ihr Menschen? fuhr sie fort, versteckt Ihr Euch hinter Eurer Furcht! Ihr Alle zittert und bebt vor dem Fluch, der über uns gekommen ist! Was haben wir Armen?

Geht, geht, Mamsell! drängte Kümmerlein ...

Die Halle füllte sich von Menschen ...

Die Kinder und die Alten, fuhr Louise mit bitterster, aus ihrem Innersten hervorbrechender Wehklage fort, die Kinder und die Alten holt die Krankheit, die uns Arme dahinrafft, die Jungen, unsre Brüder und Söhne, trifft die Kugel ...

Laßt's jetzt gut sein! sagte Mullrich. Geht Kinder, geht nach Hause!

Die Halle füllte sich immer mehr ... Hinaus da! riefen schon einige Polizeidiener. Zurück da! hier gibt's nichts!

Aber die Leute drängten ... Louise schluchzte mit den Kindern laut und wollte sich von der Leiche des Bruders nicht trennen.

Klag' ich Euch denn allein an? sagte sie und lachte fast wie im Irrsinn. Ich, ich hab' ihn ja gemordet, Ihr nicht! Ich bin Schuld an deinem Tod, Karl! Karl! Ich bin Schuld!

Sie sank dabei so schwer nieder, daß die Leute sie aufgriffen und forttragen wollten ...

[3010] Ich habe den Großvater umgebracht, stöhnte sie und murmelte nun Worte fort, die Niemand verstand.

Hackert hörte Alles hinter seinem entlegenen Pfeiler. Er verstand sie in der Halle von den hundert versammelten Menschen ganz allein. Auch fiel ihm der Mann mit rothem Barte und das Wort vom Punsch ein. Er konnte sich denken, daß Karl, der sittenstreng war und Danebrand liebte, diese Bekanntschaft nicht billigte. Vielleicht war er gestern deswegen nicht nach Hause gegangen, vielleicht deswegen nur in den Verein gegangen, den er seiner Jugend wegen und als Lehrling sonst nicht besucht hatte. Hackert, hinter dem Pfeiler schielend, sah das Anschwellen der Menge ...

Louise gab dem Drängen der Polizeidiener, sich zu entfernen, nicht nach. Erst als der Assessor Müller erschien, die Wache herausrief und mit dem Bayonnet die Halle räumen zu lassen drohte, zogen sich die Neugierigen und offnen Tadler der Gewaltscene zurück. Kümmerlein mußte einen Fiaker für die Geschwister holen, die, um alles Aufsehen und alle Aufwiegelei, wie der Assessor sagte, zu vermeiden, sich im Wagen entfernen sollten.

Die Leiche wird heut Abend in das Todtenhaus auf den neuen Kirchhof gefahren! hieß es. Und nun fort! Fort hier! Keinen Auflauf!

Somit gingen auch allmälig die Menschen ...

Die Geschwister, die sich plötzlich in der Halle fast allein sahen, zogen die Schwester von der Leiche fort ...

Müller sprach von Leichenbeschau, Begräbniß, Bekleidung, [3011] neuem Kirchhof, ungestörtem Besuche daselbst, Armenrecht, Armenbehörde ... Louise erwiderte mit den ihr so liebgewordenen Versen Louis Armands:


Des Volkes Tochter, arme Bettlerin!
Du bist nicht arm, was auch dein Elend spricht ...

Gehen Sie jetzt! Da fährt der Wagen vor! Geben Sie keinen Anlaß zum Zusammenlauf! Fort Kinder, in den Wagen!

Auf die Straße will ich, rief Louise, auf dem Markt will ich ausschreien: Rache! Rache! Ihr habt meinen Bruder gemordet! Was that er Euch?

Man wollte das Mädchen mit Gewalt hinausführen. Ein Fiaker wartete. Das aus der Halle getriebene Volk mehrte sich nun draußen zu dichten Haufen am Eingang ...

Laßt mich! schrie Louise und warf sich wieder auf den Bruder. Karl! Nicht einmal eine arme Hütte haben wir, in die wir dich tragen dürfen, wo du drei Tage bei uns bleibst, bis sie dich unter die Erde holen! Aber an deinem Grabe sollen sie zittern; da sollen sie's hören, die Feigen, die dich gemordet haben! An die Mauer sollen sie dich nicht werfen, wie einen todten Hund. An deine Grube sollen die Freunde treten, die freie Gemeinde soll singen, der Prediger reden und die Frauen werden Blumen bringen! Laßt mich, Schändliche! Wer gibt mir meinen Bruder wieder! Karl, ich lasse dich nicht!

Schon drängten vom Volke Muthigere herein, um das jammernde Mädchen, das da Allen das unverstandene [3012] Weh der Nichtbefriedigung im Volke austobte, vor der Polizei zu schützen, die sie mit Gewalt entfernen wollte. Die Wache im hintern Hofe trat in's Gewehr und entsandte eine Verstärkung zur Thorbesatzung. Louise aber schleuderte ihren Zorn heraus.

Und wenn Ihr Euch rüstet mit Kanonen und Mordfackeln gegen Weiber und arme Kinder! rief sie. Euer Tag wird hereinbrechen! Eure Haare sind gezählt, nicht blos von Gott, auch von uns! Hetzt uns nur, jagt uns nur wie das Wild! Stört uns nur in unserm reinen Glauben! Euer Glanz wird düster werden, wie Sturmgewitter! Eure kostbaren Gewänder werden Euch wie Spinnweben zerrissen werden und Euer Purpur wird Euch von den Schultern fallen! Auch unser Gott ist langmüthig, aber sein Gericht wird schrecklich sein, Ihr Tyrannen, Meineidigen, Gottesleugner!

Eben warf man krachend die Thorflügel zu, um die zuströmende Menge zurückzuhalten. Louise wurde von den Händen der Polizei ergriffen. Aber Riesenkraft fühlend, wand sie sich los, nahm die Geschwister mit Gewalt unter ihren Schutz und flüchtete sich zu der Säule hin, hinter der eben Hackert hervortrat.

Hackert! rief sie schaudernd ...

Das Gefühl, einem Mädchen, das ihn so hoch verehrte, beizuspringen, hatte den fast kalten Beobachter hervorgetrieben. Die Aufwallung eines edlen Zorns kannte Hackert nicht, aber eine Vernunftreflexion, Mahnung zur Besonnenheit, stand ihm vollkommen zu Gebote.

[3013] Was ist denn? sagte er ruhig, die Hände aus den Taschen ziehend und wandte sich, da er Louisen's vorwurfsvollen Blick nicht ertragen konnte, zu den Polizeidienern und Soldaten. Laßt doch die Arme sich ausjammern! Injurien von Unzurechnungsfähigen steckt man nach Landrecht Theil 3, Titel so und so, geduldig ein! Ja, liebe Louise, das ist Malheur. Der arme Karl! Fassen Sie sich! Ich wünschte, ich könnte ihn mit einer Rede aufwecken; aber Sie wissen wohl, ich kann schlecht trösten. Guten Tag Riekchen! Guten Tag Wilhelm! Ja, Das ist schlimm! Es ist nun aber. Faßt Euch! Kommt! Hier! Geht hier heraus! Hier ist eine Seitenthür! Kommen Sie, Louise! Wenn Eins helfen könnte! Aber es ist so. Man verwindet's wieder. Was ist Leben? Nichts, als daß man weiß, daß man lebt. Wenn der Karl wüßte, daß er nicht lebt, und nichts Besseres hätte, Das wäre schrecklich; aber in Dem ist Nacht, da ist's dunkel. Sie glauben ja, Louise, an's Paradies; es läutet jetzt eben von allen Kirchen ganz feierlich. Hier auf Erden ist der Himmel und die Hölle beisammen, dacht' ich mir. Aber die Glocken draußen singen dem guten Karl ein besser Grablied. Kommt, Kinder, der Gang da! So! Die Droschke fährt uns schon nach. Ich führe mit Ihnen, liebe Louise, wenn ich ein Tröster wäre ...

Und so sprach Hackert blasirt durcheinander fort und Louise schwieg und die Kinder faßten ihn bei der Hand und sie waren von dem Schauplatz des Jammers entfernt, sie wußten nicht wie. Und für Louise ... für sie lag in Hackert's Art doch ein Trost. Er wiederholte ihren [3014] Schmerz nicht, er unterstützte ihre Verzweiflung nicht durch gleiches Entflammen. Und grade dadurch bot er eine wirkliche Anlehnung. Louise mochte nicht nach seiner Lage fragen. Sie konnte es auch nicht, da ihr dazu die Sammlung fehlte. Der Wagen war an eine entgegengesetzte Thür des weitläufigen Gebäudes gefahren, wo sie jetzt das Gebäude verlassen mußten, die Menschen hatten sich verlaufen ...

Seht, Ihr Kinder, sagte Hackert ruhig mit gewagter Wirkung, als Louise einstieg, Euch tröstet schon die Gelegenheit, einmal fahren zu können! Das muß Euch erst geschehen, wenn Euer Karl todt ist! Brandgasse Nr.9!

Hackert bezahlte den Kutscher, die fünf waren untergebracht, der Wagen fuhr fort. Louise sah nicht mehr zu dem Polizeiagenten auf. Die Kinder schluchzten noch, aber schon nur noch deshalb, weil die Schwester weinte. Das Fahren war ihnen in der That ... ein Trost!

Hackert, der die schwache Menschennatur so traurig gut kannte, kehrte in die Halle zurück, die inzwischen leer geworden war. Der Thorweg blieb geschlossen. Es sah düster, fast fürchterregend in der Halle aus. Er trat an die Tragbahre, auf die blutige Strohmatte. Unwillkürlich war's ihm, als sollte er zu dem blassen, wachsgelben Antlitz sagen: Karl, stehen Sie auf! Es schlägt fünf Uhr! Großvater hustet schon, wie er immer thut, wenn der Hahn kräht und die Uhren aufgezogen werden sollen ... Er kannte den grauen Rock mit weißen Knöpfen, die schwarze losgeknöpfte Halsbinde, die Mütze mit der [3015] kleinen Cokarde ... Die Kugel war durch die Gegend der oberen Rippen gefahren ...

Stumm und nachdenklich sah Hackert auf das arme Opfer politischer Aufregungen, die seinem Sinne fremd waren. Es war eine andre Welt, in der Karl Eisold gelebt hatte, eine andre, in der sich Hackert tummelte. Wie die Sonntagsglocken draußen so dumpf läuteten, war's ihm, als flüsterte ihm eine Stimme zu:

Fehlt dir Elenden nicht die Liebe? Du bist nicht einmal werth, so wie Der zu sterben! Es gibt ein Jenseits, wo die Rollen sich umtauschen und dieser Jüngling im weißen Gewande mit der Märtyrerpalme in die Hallen der Seligen tritt! Was ist diese Welt? Was sind diese Anmaßungen? Was sind diese Häuser, diese Bayonnete dort, diese Eisenstäbe vor den Fenstern? Höre die Glocken! Sie mahnen dich an eine andre Welt!

Es überkam Hackerten wirklich ein geistiger Zustand wie der seiner physischen Krankheit. Er wandelte wie im Traum. Er fühlte, daß er wachte, aber er war seiner nicht mächtig. Er verließ die blutige Strohdecke, die einsame Halle, das Profoßhaus. Er dachte nicht mehr an den Assessor, nicht an sein Anliegen, endlich Murray zu sprechen. Er irrte so über die Straßen hin. Erst im Gewühle der lebhaftesten Stadttheile kam er zu sich und mußte sich's von den Augen wegwischen, so stand's ihm wie ein Bild vor ihnen. Der graue Novemberhimmel tröpfelte. Es fror ihn. Er sah sich um, wo er war. Er stand grade vor des Justizraths Wohnung. Die Glocken läuteten [3016] in nahen und fernen Stadttheilen. Die hinter dem alten Tempelhause gelegene Johanniskirche war schon lebendig vom brausenden Orgelstrom ...

Da gedachte er der neulichen Aufforderung seines Pflegevaters, ihn zu besuchen, wenn Sonntags in der Kirche gepredigt würde.

Er schellte also an dem Hause seiner Jugend. Es öffnete sich. Er trat ein. Niemand da. Er klopfte an die Geschäftsthüren. Sie waren verschlossen. Er ging an die hintere Thür, wo Schlurck arbeitete. Auch sie verschlossen ...

O, sagte er sich, wenn du nur nicht irgend Einem begegnetest, der dich aus deinem Traume risse! Nur Bartusch, nur Jeannette nicht! Nur nicht Menschen! Nur nicht Erinnerungen von sonst! Wär's Melanie! ... Ganz wohl that ihm, daß Alles so öde und einsam in dem Hause war. Die Treppen zu ersteigen wagte er nicht. Er sah die alten bekannten Bilder, die auf den Wänden der Treppen hingen. Er hörte Niemanden. Daß die Hausthür aufgegangen war auf sein Schellen, war wie von Geisterhand geschehen.

Aber zuletzt war es doch Jeannette, die die Treppe herunterrief:

Wer ist da?

Hackert stand zur Hälfte oben und fragte nach dem Justizrath.

Staunen, Verwundern, Zögern –

Er hat mich bestellt – Wie geht's? Was sagte der Stallmeister?

[3017] Neumann ist bei Lasally – ich zieh' auch zu ihm, Fritz! Hier wird's still – öde – die Justizräthin ist in der Kirche – Melanie liest den ganzen Tag Bücher und spielt Harfe wieder und Klavier – Hören Sie – da – da spielt sie ...

Melanie, die im Klavierspielen sonst so Träge, spielte ein träumerisches Adagio. Auch sie schien die Predigt in der Kirche durch die Wahl des Musikstücks zu ehren ...

Er hat Sie bestellt? sagte Jeannette staunend. Hackert, ist's auch wahr? Haben Sie doch nichts Schlimmes im Sinn –?

Hackert lauschte den Tönen und blinzelte nur mit den grauen Augen –

Bartusch ist auch in der Kirche und die Justizräthin – Hackert, soll ich Sie wirklich melden?

Hackert nickte.

Man hörte einen Schlafrock rauschen. Er kam von oben her. Es war der Justizrath, der rasch, scheinbar in großer Aufregung, mit Papieren in der Hand, von einer Corridorthür oben in die von Jeannetten geöffnete eintreten wollte.

Herr Justizrath –

Was ist? rief Schlurck auffahrend, fast wild ...

Hackert ist da ...

Wer? Was? rief Schlurck und blickte um sich wie irrsinnig und sah den auf der Treppe stehenden Pflegesohn ...

Was wollen Sie? fuhr er mit plötzlich leichenblasser Miene den ihn auf seine eigne Aufforderung Besuchenden [3018] an und doch erstarb ihm das Wort auf der Zunge. Er war von Hackert's Begegnung an dieser Stelle, um diese Stunde so betroffen, wie damals, als er ihn auf dem Heidekrug um Mitternacht hatte schlafwandeln sehen ...

Hackert, befremdet über diese Aufnahme, mit dem ihm immer gegenwärtigen Zorne auflodernd, ließ die tonlosen Worte fallen:

Es ist ja Sonntag Vormittag, Herr Justizrath! Die Glocken läuten ja! Aus der Johanniskirche hört man die Orgel ...

Schlurck besann sich auf seine eigne Aufforderung und suchte sich zu fassen. Er schien zu bereuen, daß er sich auf einem so heftigen Erschrecken über Hac kert's Anwesenheit hatte ertappen lassen ...

Ich störe Sie! Ein ander Mal! sagte Hackert und wollte gehen ...

Nun aber schien über den Justizrath eine neue Gedankenreihe zu kommen. Er rückte die goldne Brille in die Höhe, strich sich die spärlichen grauen Haare und sagte:

Nein, nein, ich besinne mich ja! Ja wohl, ja wohl! Jeannette geh' Sie! Was lauert Sie! Fort! Aber daß Sie Melanie nichts sagt! Hört Sie?

Jeannette hielt diese Aufregung des Justizrathes für völlig in der Ordnung. Sie wußte, wie gewagt es von Hackert war, in diesem Hause zu erscheinen. Sie wandte sich nach den Zimmern, die zum Hofe hinaus lagen ...

Daß du auch grade heute – begann Schlurck und schien [3019] wiederum zu überlegen, ob er Hackert in die Zimmer lassen sollte oder nicht. Melanie spielte am Klavier. Das beruhigte ihn wenigstens ... es klang so wehmüthig, so schmelzend, so sanft aus den vordern Zimmern her ...

Ich wollte nur wegen des Rings, von dem Sie neulich sprachen, sagte Hackert, als der Justizrath ihm zuwinkte, leise aufzutreten, und ihn auf die Thürschwelle nöthigte.

Welcher Ring? Ah so! Ja! ja! Das kann ja geschehen. Komm, mein Sohn! Leise! Leise! Sie spielt ...

Alle diese Worte sprach Schlurck durcheinander wie Jemand, der seiner selbst nicht bewußt war ...

Was ist ihm nur? dachte Hackert und trat in die ihn so traulich begrüßenden Räume ... hier auf gebohnte Fußböden, dort auf bunte Teppiche. Er sah die überwinternden Blumenstöcke, die Porzellananhäufungen hinter Glasschränken, die Gemälde, die Vasen in den kleinen niedrigen, aber kostbar austapezierten Zimmern. Ein Papagey in einem großen Messingbauer kreischte auf, als wenn er Hackerten erkannte ...

Schlurck ging voran. Sein Auftreten war schwankend. Er hielt sich zuweilen und blieb wieder stehen, sah Hackerten an und rückte die Brille hin und her ...

Sind Sie krank, Herr Justizrath?

Schlurck hörte nicht, sondern brummte nur vor sich hin:

Der Ring! Warum auch grade heute ... was sagst du Hackert? Nein, nein, rede nicht! Sei still! Sie könnte hören ...

[3020] Damit waren sie an jenes Zimmer gekommen, von wo aus eine Wendeltreppe in die untere Arbeitsstube des Justizraths führte. Beide Gemächer gehörten ihm selbst an. Er schien in der Meinung zu sein, den Ring in dem obern Zimmer zu finden ...

Er schloß einen Schrank auf und suchte überall, indem seine Hände zitterten ...

Hackert kannte seinen Pflegevater hinlänglich, um sich zu sagen, daß eine solche Aufregung nur mit einem seltsamen, ganz unerhörten Vorgange in Verbindung stehen konnte. Noch vor wenig Tagen war ihm Schlurck so nicht entstellt, so todtenbleich, so abgefallen nicht erschienen. Er erklärte auch, sich entfernen zu wollen und ein ander Mal wieder zu kommen ...

Nein, nein, Hackertchen, sagte der Justizrath, es liegt so viel auf mir. Deine Stelle ist noch immer nicht würdig besetzt. Der Ring! Ich entsinne mich doch ... ein rothes Etui war's, worin ich ihn aufbewahrte ... ich gratulire, wenn du deinen Stammbaum entdeckst. Ich habe mir Mühe genug gegeben, dir einen bessern Vater zu verschaffen, als ich bin, Fritz ...

Und während der Justizrath noch so plaudernd und seine Erregung bergend suchte und suchte, hielt er plötzlich inne, sah Hackerten mit einer Miene fast des Mitleids an, schlug sich an die Stirn und ließ die Worte fallen:

Nein aber, daß grade Du ...

Ich? Was ist?

[3021] Eben so rasch wollte Schlurck den Eindruck seiner Worte verwischen.

Warum ich?

Nichts! Nichts!

Sie finden den Ring nicht! Er liegt unten ...

Unten? Nein!

In dem Depositenschrank ...

Was weißt du? fuhr Schlurck auf.

Ein rothes Etui! Im Fach Nr. 13 links liegt ein rothes Etui!

Du irrst, du irrst! lenkte ungeduldig, fast zitternd der Justizrath ein, wühlte noch einige Augenblicke in dem Sekretär, erklärte das Etui nicht finden zu können und wollte eben zuschließen und Hackerten wieder zurücklassen nach vorn, als er hörte, daß Melanie mit dem Klavierspiele aufgehört hatte. Thüren gingen. Schlurck's Unruhe verrieth, daß er annahm, seine Tochter suchte ihn vielleicht und könnte den ihr so tödtlich verhaßten Hackert hier finden ...

Er winkte fast mechanisch dem Besuch, näher an die Wendeltreppe zu treten, hielt ihn dort aber zurück und bedeutete ihn zu schweigen. Er flüsterte, er wollte selbst hinuntergehen, um unten nach dem Etui zu suchen ...

Sonntags pflegte dies untere Kabinet durch die vorgelegten und geschlossenen Fensterläden dunkel zu sein. Heut' war es hell. Um so auffallender mußt' es Hackerten erscheinen, daß der Justizrath ein weiteres Nachfolgen auf der Wendeltreppe entschieden verbot ...

[3022] Bleibst da! Bleibst da! sagte er fast schnarrend und heftig.

Ich kann ja unten gehen, wenn ich doch ...

Bleibst da! Bleibst da!

Hackert begriff nicht, was hier vorging. Unten hörte er den Justizrath rumoren. Er selbst blieb erst oben, dann auf der viertel, zuletzt auf der halben Treppe. Schon entdeckte er eine sonderbare Unordnung in dem Kabinet, eine Verwirrung, die sonst nie in ihm herrschte. Papiere mit Siegeln lagen auf der Erde. Die Schubläden sonst verschlossener eichner Schränke waren aufgezogen, ein Sessel umgestürzt, die Fensterläden nur leise angelehnt, Geld klimperte, wie wenn es auf der Erde läge und der nach dem rothen Etui Suchende darüber stolperte. Endlich schien Schlurck das Kästchen gefunden zu haben, sah sich um und bemerkte, daß Hackert gefolgt war. Er erstarrte darüber.

Bleibst oben! rief er tonlos. Verdammter ...

Und wie Schlurck eben so fluchend hinaufstieg, hörte man ganz in der Nähe Thüren gehen und Kleider rauschen. Jemand schien den Justizrath zu suchen. Vielleicht Melanie. Unwillkürlich trat Hackert trotz des Verbotes niedriger und war mit seinem Kopf schon in ebner Linie mit der ersten Stufe der Treppe, so hurtig, so behend, daß ihn die etwa eintretende Melanie nicht sehen konnte. Und im selben Augenblick erscholl ihre Stimme:

Papa!

[3023] Schlurck konnte nicht hindern, daß Hackert nun mit zwei Sprüngen unten war.

Papa! rief es wieder von oben.

Ich kann ja hier unten gehen, sagte Hackert und wollte durch jene Thür sich entfernen, durch welche damals der Justizrath dem draußen lärmenden Bello des Fuhrmanns Peters Ruhe gebot. Er wußte, daß der Schlüssel von innen stak.

Doch fehlte dieser Schlüssel und Schlurck stand da, rathlos, wie vom Donner gerührt, wohl lächelnd, aber wie in wahnsinniger Verlegenheit.

Zum Glück hörte man Melanie nicht wieder, aber die Unordnung, die hier unten herrschte, war doch nicht mehr zu verbergen. Durch die nichtgeschlossenen Fensterläden brach ein Lichtschimmer, hell genug, um den ohnehin an das Dunkel inzwischen schon gewöhnten Augen Dinge zu zeigen, die befremdlich genug waren ...

Aber, zum Teufel, Justizrath, brach Hackert aus. Hier möchte man ja meinen, hier ist Einer eingebrochen!

Wie? Was? stotterte Schlurck und versuchte, aufathmend, daß wenigstens Melanie fernblieb, einige Scherze in seiner alten Art ...

Hier ist der Ring, sagte er zu dem dämonisch aufblickenden Hackert und stieß zu gleicher Zeit, während er diesem ein Etui reichte, einige Schlüssel und eine eiserne Stange hinterrücks von sich. Siehst du? Dieses zerbrochene Stück ... Komm jetzt hinauf!

Lassen Sie doch noch! Ihr Fensterladen ist ja offen ...

[3024] Hackert trat an's Fenster und hatte durch eine zerbrochne Scheibe nur nöthig, den Laden zurückzustoßen. Da sah man denn den Zustand des Zimmers. Nur eines einzigen Überblicks bedurfte es für den gewandten jungen Spürkopf, die Situation zu übersehen. Der furchtbarste Verdacht wurde ihm zur augenblicklichen Gewißheit. Schlurck wollte die Miene annehmen, als wär' er an diesem stillen Sonntagsmorgen durch Einbruch beraubt worden. Das stand ihm im Nu fest. Und eben so rasch schoß ihm wie mit einem Tigersprunge der Gedanke durch den Kopf: Wärst du nicht hier unten, dem Justizrath gegenüber, nun selbst gewesen, so hättest du in die Lage kommen können, für den Dieb zu gelten! Und darum hergelockt an einem Sonntag Vormittag? Darum die Versuchung mit dem Ring? Darum ...

Er riß das Etui an sich mit krampfhafter Wuth, sprang auf Schlurck zu, daß dieser zurücktaumelte und rief:

Schlurck!

Was ist?

Ein durchbohrender, tief in alle Falten der Seele wie mit tausend Pfeilen zugleich zielender Blick aus Hackert's starren Augen auf den Justizrath ...

Aber zu sagen wagte er doch nicht, was er dachte ...

Schlurck aber verstand ihn sogleich, bebte und meinte nur:

Welche Unordnung! Hilf mir aufräumen, Fritz! So, so! Wie müde bin ich! Schon frühmorgens! Hilf doch! Aber denke nur nicht, ich wäre gewissenlos. Ich habe viele [3025] Clienten verloren! Da lagen sonst Tausende, jetzt sind's Papierschnitzel. Hast den Ring! Sieh nach! v.R.v.R. Weiter nichts, aber viel gesagt! Prinzessin von Rudolstadt, von Rußland ... ho! ho! Junge! Siehst du, hier hast du oft genug gesessen und die Feder gekaut. Die Welt, mein Sohn, ist ein Dudelsack, bei dem der Wind die Hauptsache ist. Nur Luft, nur Wind, dann pfeift sich's und tanzt sich's! Hast den Ring? Adieu, mein Sohn! Adieu! Mußt oben gehen! Leise! Leise! Hier fehlt der Schlüssel! Leise! Leise!

Und dies »Leise!« war's, was Hackert nicht ertragen konnte. Er hätte sich in Alles gefunden, jeden Verdacht niedergeschlagen, er hätte mit Schlurck Mitleid haben können, sich selbst überwunden, aber jetzt: leise? Immer leise? Ewig leise?

Und doch sagte er noch nichts, sondern hielt an sich und lugte nur zu den Schränken und sprach:

Justizrath, ich weiß noch Alles! Da lagen die Mündelgelder der minorennen Grafen Werdenbach; da lag eine Erbschaft, die so viel Prozesse kostete; ist sie nun entschieden? Da weiß ich, in Nr. 9, die angesammelten Zinsen und Kapitalien der polnischen Äbtissin Sybille im Kloster zum Herzen Jesu, die für die Nachkommen eines gewissen Kaminski ausgesetzt waren, der nach Frankreich floh ...

Recht! Recht, mein Junge! Warst ein Genie! Kennst Alles: Jetzt aber leise! Leise!

Leise! Zum Teufel! wandte sich Hackert. Vor wem hab' ich mich denn zu fürchten?

[3026] Fritz, misbrauche meine Gutmüthigkeit nicht!

Gutmüthigkeit, daß ich hierhergelockt wurde, während hier Alles vorbereitet wird, zum Schein, als wär' ich's, der hier gestohlen ...

Hackert! stieß Schlurck halb ohnmächtig heraus. Seine Lippen bebten, sein Auge blickte starr. Er mußte das Geländer der Wendeltreppe fassen, um sich zu halten. Er begriff jetzt doch erst ganz, was in Hackert's Seele vorging. Von dem Gedanken: der Unglückliche glaubt, ich wollte ihn zum Verdächtigen eines Verbrechens machen, das vielleicht in seiner eignen Brust noch schlummerte und vielleicht eben erst halb ausgeführt war, war er bis zur Ohnmacht überrascht und überwältigt ...

In dem Augenblick ging oben eine Thür. Gewänder rauschten. Melanie rief ... Väterchen! Sie war an der Treppe. Sie kam. Hackert springt in eine Ecke des Zimmers, wo jener Schirm stand, hinter welchem einst Dankmar's Schrein mit dem Kreuze gestanden.

Melanie beugte den Kopf über das Geländer der Treppe ... ein paar Sprünge ... sie war unten ...

Schlurck wie todt taumelte in einen Sessel.

[3027]
13. Capitel. Auferstehung
Dreizehntes Capitel
Auferstehung

Wie dumpf und stickig das hier ist! sagte Melanie, als sie beim Vater unten war und sich staunend umblickte. Und eine Scheibe zerbrochen! Ei welche Nachlässigkeit! Du arbeitest, Vater?

Schlurck hatte sich in der Vernichtung, die ihn auf den Sessel geworfen, wenigstens das Ansehen gegeben, als läse er in den durcheinander geworfenen Akten.

Hackert blieb in seinem Versteck unbeweglich.

Die Kirche dauert lang, sagte Melanie etwas aufräumend, und ich glaube fast, die Mutter wird noch Besuche machen.

Schlurck nickte. Er hatte sich noch immer nicht sammeln können.

Väterchen, es ist recht lange her, daß wir uns nicht im Stillen gesprochen haben!

Schlurck seufzte und schauderte grade über die Todtenstille im Zimmer.

Warum sind wir nur seit geraumer Zeit so unglücklich! Mit diesem letzten Sommer sind alle unsre Freuden abgeblüht.

[3028] Schlurck sammelte sich, griff mechanisch nach der goldnen Dose und stotterte, sich zu künstlichem Humor zwingend, den Vers:


Des Lebens Mai blüht einmal und nicht wieder –


Hackert hätte dazwischen springen und rufen mögen, daß dies Wort auf Melanie nicht passe. Ihr schien ein ewiger Mai zu blühen. Wol ruhte auf der edlen Stirn eine Wolke von Melancholie, wol schienen die Formen des Antlitzes etwas herabgezogen, etwas in jenes Oval gesenkt, das den Kummer der Seele verräth; aber ein geminderter Schönheitsglanz war darum doch nicht sichtbar. Es war die alte sylphidische Gestalt, es waren die gewölbten Schultern, der stolze Nacken, das reiche, kunstvoll verschlungene dunkle Haar, die vollen Arme, die unter einem leichten Hauspelzüberwurfe in schöner Rundung hervorschimmerten und sich über den Sessel des Vaters lehnten ... Hackert hielt den Athem an.

Darf ich dir eine Neugier verrathen, Väterchen? begann Melanie. Was hast du kürzlich mit dem Fürsten bei der Geheimräthin in dem türkischen Zelt verhandelt?

Schlurck's erster Gedanke war nun, zu erwidern, sie wollten hinaufgehen. Doch hinderte ihn die Angst vor Hackert. Er kannte ihn genug, um sich zu sagen, daß seine tückische Natur zu schonen war. Aber nicht nur Furcht vor dem versteckten Lauscher, sondern auch Mitleid bestimmte ihn, nicht vom Hinaufgehen zu reden. Er malte sich Alles aus, was in Hackert's Innern vorgehen mußte [3029] und gleichviel, welches der Grund seiner vorherigen Aufregung gewesen war, gleichviel welches Verbrechen der zerstörten, jetzt leidlich wiederhergestellten Ordnung des Zimmers zum Grunde lag, die Vorstellung war ihm fremd gewesen, Hackert zu sich zu locken und ihn in der Art, wie der Mistrauische es andeutete, verdächtig zu machen! Er litt ernstlich ebenso unter dieser Vorstellung, wie er ohnehin halb verzweifelnd sich schon vor Schaam fühlen mußte. Und so sagte er nur:

Ah! Bah! Laß diese Sachen! Erzähl' mir heitre Geschichten! Was hat dich denn plötzlich so musikalisch gemacht? Ich habe dich abonnirt auf die Symphoniesoireen. Siehst du! Wo sind nur die Billete? Hier, hier ...

Er suchte ...

Das ist sehr schön von dir, sagte Melanie. Aber jetzt weiche mir nicht aus, Väterchen, sondern sprich: Was hattest du so lange mit dem Fürsten?

Frag' ihn Das selbst! sagte Schlurck und faßte das Kinn seiner Tochter, es noch zitternd emporhebend.

Nein, Vater, antwortete Melanie ernst und unter dem Pelz die Arme zusammenschlagend; nein, ich frage den Fürsten nie nach solchen Dingen, die er mir nicht selbst erzählt. Ich habe gefunden, daß dies ein Mann ist, der seine eigne und höchst wunderliche Behandlung erfordert.

Unter andern Umständen hätte Schlurck zu dem Lächeln seiner Tochter selbst mitgelächelt. Diesmal standen ihm seine Mienen, die er zu einer feinen Anerkennung der [3030] Philosophie seines Kindes verzog, mehr schmerzlich als erfreulich.

Melanie wiederholte ihre Bitte und Schlurck, fast die Gelegenheit ergreifend, vor der anwesenden, so gefährlichen, so tief ihn durchschauenden dritten Person eine Rechtfertigung zu versuchen, antwortete:

Mein gutes Kind! Ich war kürzlich unten in meinem Keller, dem einzigen Orte, wo wir Männer uns sorglos der Gefahr aussetzen, den Schnupfen zu bekommen. Wie ich auf den Gestellen die umgelegten Sorgenbrecher sah, schlanke, lange, kleine, kurze, die geschmacklosen Boxbeutel aus Würzburg und was sonst dort zur Ansprache an Herz und Gemüth ausgelegt ist, überfiel mich recht der Kummer, daß der alte Rapport zwischen mir und meinen Zöglingen da unten hin ist. Wie behaglich wählt' ich sonst aus, was die Tafel schmücken, die Gäste erfreuen sollte! Wie schwelgte ich in den langen spanischen und portugiesischen Etiketten, die unsre Leute beim Serviren meiner Kostbarkeiten den Gästen gravitätisch zuflüstern mußten! Jetzt sagen alle diese Herrlichkeiten: Don Ranudo de Colibrados! Zu meiner Zeit war Das ein beliebtes Theaterstück, Kind, in dem ein pauvrer Edelmann vorkam, der auf seine Würde hielt, aber sich die Löcher seiner Kleider mit Tinte verschmierte. Liebes Kind, auf meine Würde fühl' ich leider, werd' ich in unsrer jetzigen Lage nicht viel halten können. Die Emporkömmlinge haben nichts von der Grandezza des gebornen Adels. Ich nun vollends, meine gute Melanie, bin zum Komödianten [3031] in einem Grade untauglich, daß ich im Stande wäre, aus der einfachsten und leichtesten Rolle zu fallen. Deine Mutter hätte wol allerdings das Talent, alle Welt glauben zu machen, daß wir nur in Folge unsrer veredelten Grundsätze, in Folge unsrer geistlichen Umkehr und Einkehr uns einzuschränken anfingen. Sie könnte die Rolle einer aus himmlischen Rücksichten sich beschränkenden irdischen Glückseligkeit vortrefflich durchführen. Ich kann Das nicht. Ich war früher in meinen guten Zeiten wahr, prahlte nie, sondern gab und freute mich des blauen Sonnenscheins; jetzt, wo mir soviel verloren gegangen ist, wo die Papiere im Werthe sanken, meine Administrationen neu geordnet werden und wohl ganz eingehen dürften ...

Vergiß dein letztes Opfer nicht, warf Melanie trübe den Kopf aufstützend dazwischen, Lasally!

Es kam Eins um's Andre, Kind! Genug ... Nein, grade diese Summe in jetziger Zeit so baar auf den Tisch gelegt, ohne deshalb Anleihen machen zu dürfen, die du deines Credits wegen vermeiden mußtest ...

Zehntausend Thaler sollten eine Bagatelle für mich sein ...

Und sind es nicht, wenn sie plötzlich da sein mußten ...

Da sein mußten! Ah! Ja, ja! Ich fand es in der Ordnung, daß sich dies Verhältniß so löste. Es ist ja erbärmlich, einen Bewerber seiner Tochter dulden, der von der Voraussetzung großen Vermögens ausgeht und ihm hernach sagen: Da hast du nun mein Kind! Das ist ein [3032] Kapital! Im Übrigen findest du reinen Tisch! Ich verurtheile Lasally nicht, daß er die Summe forderte. Er ist Philosoph wie ich. Er gehört einer andern Sekte an als ich; aber System war immer in seinen Demonstrationen. Sie waren ruhig, kalt bis zum Prügelnswerthen, aber in seiner Voraussetzung, daß ich reich wäre, hatte er Recht, sich nur mit jener Anleihe, wie er es nennt und ein Paar von deinen getragenen langen Handschuhen abfinden zu lassen ...

Hackert empfand eben ein Gelüst, als hätte er in der Ottokarstraße mögen Feuer anlegen ...

Genug, lenkte Schlurck, der sich vor seinem Pflegekind in diesen Dingen um so weniger Zwang auferlegte, als er sich rechtfertigen mußte, wieder seufzend ein, genug ich besitze das Talent nicht, mit dem Gefühl der Beengung Komödie zu spielen. Nur aus der Fülle heraus kann ich fröhlich sein. Wohl gibt es einen Ausweg, den große Geister in solchen Fällen oft mit Geschick eingeschlagen haben. Es gibt bewunderungswürdige Genies des Schuldenmachens. Auch zu diesen gehör' ich nicht. Die Elasticität, die zum Lügen gehört, kann ich mir nicht geben. Ich kann nicht bei Juden und Wucherern herumfahren, große Manieren, augenblickliche Verlegenheiten affectiren, ich kann Das nicht. Ich habe zeitlebens auf meine guten Eigenschaften gehalten und meine schlechten nie verdeckt. Ging' es nach mir, Herzlieb, ich spielte jetzt die Rolle des Parasiten, dem seine Gönner gekündigt haben, ich ginge in Lumpen über die Gasse ...

[3033] Vater! unterbrach Melanie den schmerzlichen, von Thränen untermischten Humor des leichtsinnigen, so schlaff und doch wehmüthig haltlosen Justizrathes.

Gut, gut, gut! sagte er beschwichtigend. Ich thu' es nicht, ich weiß, daß die Rücksicht auf Euch mir den Übergang von der Schule Epikur's zur cynischen verbietet. Da ich also konsequent sein soll, was that ich neulich bei der Geheimräthin? Geh weg, der Fürst wird dir davon nicht gesprochen haben!

Nein, nein, Vater!

Aber Kind, du willst geheimnißvoll gegen deinen Vater sein!

In Schlurck's Blicken – die Brille lag vor ihm oder wurde in gewaltiger Aufregung mechanisch mit seinem ostindischen Taschentuche geputzt – spielten die kleinen Schlangen der Frivolität mit den Merkmalen der Trauer durcheinander. Er zupfte Melanie flüchtig am Ohr und da sie schwieg, sagte er, trotz Hackert, der athemlos lauschte:

Wirst doch mit deinem Vater nicht schäkern?

Schlurck wußte, wie Hackert zu Melanie stand. Tief durchschaut von einem jungen leichtsinnigen Manne, den er im Grunde liebte wie seinen Sohn, wollt' er ihn wieder, wie sonst, in die ganze Lage seines Hauses einblicken lassen. Er wußte, wie Menschen nie so verwildert und gewissenlos sind, daß sie nicht dem Gefühle der Großmuth noch zugänglich blieben. Er ahnte, daß Hackert von ihm in Güte scheiden, sich mit ihm aussöhnen, ihn, komme was [3034] da wolle, nimmer verderben würde, wenn er ihn Zeuge dieser Geständnisse bleiben ließ. Jetzt hinaufgehen – Das hätte den Lauscher gefährlich gemacht.

Melanie begann mit schmerzlichem Ausdruck:

Papa, dies Verhältnis ist ein närrisches Buch, in dem Vielerlei zu lesen ist und doch weiß man nicht, was der Verfasser eigentlich will.

Schlurck ergriff die Dose und horchte auf. Seine Blicke waren auf den dunklen Winkel gerichtet, wo Hackert mit einer Zurückhaltung, die den Justizrath ermuthigte, lauschte ...

Ich sah diesen Egon zum ersten Male auf einem Ritt nach Solitüde. Neben ihm saßen die beiden Wildungen ... Dankmar Wildungen ...

Der Vater seufzte. Melanie schlug die Augen nieder.

Es hätte Dankmarn herabdrücken sollen, ein Geringerer neben einem Vornehmen zu sitzen. Und ich hatte den Abend doch nur Augen für ihn!

Für den Abscheulichen, sagte Schlurck, der in diesem Raume, dort auf deinem Sessel einst saß und ...

Er brach ab, um Melanie nicht zu verwunden und nicht zu viel zu verrathen. Die Liebe für Dankmar war bei Melanie das heilige Kleinod, die wunderbare Reliquie, die im Schreine ihres Herzens, wenn auch mit hundert Gehäusen umschlossen, unentweiht ruhen geblieben. Die Sommertage von Hohenberg und Plessen konnte ihr kein Glanz überblenden. Keine Fürstenhuldigung, keine Anbetung des wirklichen Egon konnte jenem magischen [3035] Zauber gleichkommen, der diesen Erinnerungen geblieben war. Mit Dankmar hätte Melanie ihres eigensten Wesens sich entkleiden können, wie es der so heiß Geliebte nur von ihr fordern mochte! Der Vater kannte diesen Schmerz, kannte diese Anbetung, diese feste, unausrottbare Wurzel eines einmal empfangenen Eindrucks. Er sagte einmal: Mit diesem Dankmar bricht die Poesie meiner Tochter zusammen! Er wußte nicht recht, was er damit bezeichnete. Die Schönheit, die Anmuth, die Wirkung, auch der Leichtsinn, auch die Tändelei, jede flüchtigste Neigung blieb ihr; aber das Eine, das letzte allein mächtige Wort des Lebens lag doch nur in jener ihr erst den innern Halt gebenden Liebe, die wie auf verborgenem Meeresgrunde gebettet war und für diese Erde nun nicht mehr sein sollte! Damals nach den poetischen Tagen von Hohenberg hatte Schlurck Nächte daran gesetzt, Dankmarn für seinen spröden Übermuth in jener Frühstunde zu züchtigen. Er hatte mit einem Fleißaufwande, der ihn alle seine andern Angelegenheiten vernachlässigen ließ, daran gearbeitet, daß Dankmar den Prozeß mit der Stadt in beiden Instanzen fast so gut wie schon verloren hatte. Und dennoch, ihm gegenüber Sieger zu bleiben, schmerzte ihn fast um Melanie, die Dankmarn ihre stille, geheimnißvolle Liebe bewahrte und um einen Augenblick wie jenen, als sie in der Mondnacht an der Marmorvase im Hohenbergischen Garten von Dankmar's Arm ergriffen eine Weile an seinem Herzen ruhte, mit Freuden all' die Huldigungen hingegeben hätte, die ihr jetzt [3036] von einem wirklichen Fürsten so überraschend zu Theil wurden.

Sie erzählte:

Bei der Geheimräthin sah ich den Fürsten einige Tage nach dieser Begegnung auf dem Solitüder Wege. Ich erkannte ihn kaum wieder. Er war sehr artig, sehr zuvorkommend. Als ich ihm dann auf's Neue begegnete, schien er sich über mich orientirt zu haben. Er beklagte die Misverhältnisse, die ihn von dir getrennt hätten. Er erwähnte Dankmar Wildungen, Hohenberg und lachte über meine Täuschungen mehr, als mein Stolz ertragen mochte. Sein Selbstvertrauen, mich um meiner Eitelkeit willen schneller erobern zu können, reizte mich. Ich war ablehnend, spröde sogar bis zur ungnädigen Rüge der Geheimräthin, die mich fast zu benutzen scheint als ein Mittel, ihre Häuslichkeit dem plötzlich so ergebenen Prinzen behaglicher zu machen ...

Die Verbindung des Fürsten mit Pauline von Harder war genugsam schon im Schlurck'schen Hause ihrer Seltsamkeit wegen besprochen worden. Schlurck ermunterte durch sein Schweigen zum weitern Bericht ... Er prüfte dabei still für sich, wie das Alles auf den nicht zu entfernenden Lauscher wirken mußte.

Als ich Egon sah, seinen Bruch mit jener Gräfin Helene aus Paris erfuhr, sein Bedürfniß, wie die Geheimräthin es nannte, mich jeden Abend bei ihr zu finden, beobachtete, entstanden bei mir Reflexionen, deren Ernst mich mögen recht langweilig gemacht haben, Väterchen! [3037] Sie legte den Arm über den Nacken des Justizraths ...

Lasally wurde entfernt und ich begann mit Egon von Hohenberg zu philosophiren. Ich wollte ihn nie anders sehen als in Gegenwart der Geheimräthin. Ich duldete von ihm nie eine Wildheit. Mag es nun sein, daß die meisten Frauen in der Ablehnung von Zärtlichkeiten es versehen oder ...

Melanie stockte fast erröthend. Der Vater ergriff ihre Hand und half nach.

O, sagte er, kein Oder! Das nur allein ist's! Die gewöhnliche Sprödigkeit der Frauen ist ja gleich abkühlend wie Eis. Ich glaube, daß mein Kind tugendhaft ohne Pedanterie war ...

Das Lachen, in das Melanie ausbrach, dauerte nur kurz und war recht listig ... Hackert spitzte die Ohren ... Drei frivole Menschen, die sich hier so bald verstanden! ... Melanie fuhr ernster fort:

Dieser Egon ist ein wunderlicher Heiliger und nach meinem Gefühl durch und durch unliebenswürdig. Die wahnsinnige Liebe einer Grisette und die noch tollere einer Gräfin haben ihn so verhätschelt, so verzärtelt, daß in ihm jede Fähigkeit eines leidenschaftlichen Aufflammens fast erstorben ist. Das ist ein Pedant, Vater, ein langweiliger, phrasenhafter, durch und durch von sich eingenommener Mensch, dem ich versucht bin, jeden Abend eine Douche zu geben aus allen Fontainen des Witzes, wenn ich ihn besäße, oder sogar aus allen Wasser-Karaffinen der Geheimräthin, die man ihm in einer Stunde [3038] dreimal füllen muß. Aber ich halte an mich, ich schone Se. Durchlaucht und langweile mich an den quälenden Gesprächen über Politik und Parteiwesen, die dort bis in die Nacht geführt werden ...

Schlurck lächelte ein wenig ...

Wenn Ritter Rochus vom Westen, sagte er, auf die Dose klopfend, uns eine Summe zahlte, daß du Egon's langweilige Gespräche ihm mittheiltest, ich glaube, wir würden sie durch Dich nicht einmal verdienen können ...

Nein! Ich behielte nichts. Ironie, Schalkheit, Scherz sind dem Fürsten gänzlich fremd. Er faßt Alles im Ernste auf, geht an Jedes mit einer umständlichen, systematischen Vorbereitung und ist dabei von einer Grausamkeit auch gegen sich selbst, daß er sich um alle Freuden des Lebens bringt und billigerweise in einem Kloster und zwar in einem von der strengsten Regel endigen müßte.

Schlurck warf nur dazwischen:

Die Ehe wird doch nicht ein solches Kloster sein? Da würden seine Geißelhiebe immer gleich zwei Menschen treffen.

Melanie seufzte ... und lachte doch auch. Sie lachte so schalkhaft, so aus ihrer innersten schadenfrohen Schlauheit heraus, so sich auf den Vater mit übermüthigem Triumphe lehnend, daß sie in diesem Augenblicke eine hinreißende Liebenswürdigkeit entfaltete.

Was hast du nur? fragte der Justizrath, der sich in diesem Augenblicke sagte: Hackert hat hundert solcher Scenen beigewohnt! Er war mein Sohn, Melanie's Bruder, [3039] sah, hörte Alles, er kann diese Geständnisse nicht misbrauchen!

Warum lachst Du? wiederholte Schlurck ...

Papa! sagte Melanie. Ich habe dir oft meine künftigen Männer geschildert. Lasally war eigentlich das Modell. Männer ohne Vorurtheile, die mich lieben um meiner selbst willen! Fürst Egon von Hohenberg ist keiner von Denen, die auf dies Modell passen.

Er wird dich ... Schlurck unterbrach sich selbst. Er wollte sagen: Er wird dich zu seiner Geliebten machen wollen! ... Er besaß bei aller Leichtigkeit seiner Den-kungsart die Kraft nicht, diese vernichtenden Worte auszusprechen.

Melanie verstand aber schon vollkommen, was er sagen wollte. Sie schwieg. Nach einer Weile schüttelte sie das Haupt und flüsterte:

So nicht!

Wie nicht?

Träumerisch wiederholte Melanie:

So nicht!

Und als Schlurck ungläubig über die Idee, der Fürst könnte Melanie zur legitimen Gemahlin erheben, aufschaute, die Brille, die er sich wieder aufgesetzt hatte, auf die Stirn zog und sein Kind mit den wasserglänzenden Augen fixirte, brach Melanie in eine Wehmuth aus, die ihn zum Tod erschreckte ...

Was hast du? rief er und hielt das plötzlich umgewandelte Mädchen, das sich auf die Kante des Schreibtisches [3040] beugte und ihr Antlitz unter den gekreuzten Armen verbarg ... Noch verstand er nicht recht, was sie bewegte.

Unmöglich! sagte er hastig. Wie kann dieser Kalte, Feindselige eine solche Aussicht im Ernste bieten! Ich war an jenem Abend mit ihm allein. Ich bat ihn um einige vertrauliche Worte. Er war die Sprödigkeit, die Feindseligkeit selbst. Voll Mistrauen begrüßte er mich. Wie so gern hätt' ich das Gespräch sogleich auf dich gelenkt, seine Gesinnungen über dich erforscht! Vergebens, er wich mir aus und blieb bei dem Schlurck, der seinem Vater diente, den er im Heidekrug hatte in einer Nacht Champagner trinken, Trüffeln essen sehen. Ich sagte ihm: Durchlaucht, Sie irren sich, wenn Sie glauben, daß ich in der Verwaltung Ihrer Güter leichtsinnig verfuhr. Schreiben Sie die heillose Verschleuderung nur Ihrem Vater zu! Mein Vater war brav! fuhr er auf. Durchlaucht, ich denke nicht daran, ihn herabzusetzen. Mein Vater war der edelste der Menschen, er wurde betrogen, getäuscht, hintergangen von aller Welt und von Keinem mehr als Denen, die ihm am nächsten standen! Einen solchen Zornausbruch zu bestreiten, war unmöglich. Ich mußte mildere Saiten aufziehen. Ich mußte ihm sagen: Durchlaucht, die Administration Ihrer Güter war die Hauptaufgabe meiner geschäftlichen Thätigkeit! Ich habe um ihretwillen meine Praxis vernachlässigt. Die Gläubiger schenkten mir ihr ganzes Vertrauen. Ich war fast der Minister dieser kleinen Besitzungen, deren schwierige finanzielle Verwickelung ich in einer Reihe von Jahren zu [3041] lösen hoffte. Nun ist Das hin! Abgeschnitten mit einem Scheerenschnitt! Ein Fremdling erntet die Vorbereitungen meines Fleißes! Geben Sie mir diese Administration zurück! – Der Fürst überlegt sich den Antrag eine Weile, eine düstre Wolke lagert sich auf seiner Stirn, er schüttelt das strenge, kalte, blasse Haupt. Nein! sagt' er. Nun dann, sagt' ich, Durchlaucht, dann ein Andres! Sie sind Minister. Lassen Sie den Prozeß des Staates wegen der Johannitererbschaft fallen! Ich komme an den Rand des Abgrundes, gestand ich ihm, wenn mir auch diese Hülfsquellen versiegen. Melanie, dasselbe Wort braucht' ich! Einem Menschen zum ersten Male dieses Wort! Dieses Geständniß der elendesten Situation, in der sich meine Angelegenheiten befinden, ihm!

Und? warf Melanie gespannt ein, um den in stiere Abwesenheit und träumerisches Brüten versinkenden Vater aufzurichten. Schlurck erschrak fast über dieses Und?

Er schlug mir auch diese Bitte ab. Kalt wünschte er mir einen guten Abend! Kalt entließ er mich! O, Melanie, wie es da in mir gährte! Ach, verdammt! Nicht zu einer großen und edlen Handlung gährte es. Wo hätt' ich die Kraft dazu! Aber an das Äußerste ... an den Tod dacht' ich –

Vater! Vater!

Melanie war hier aufgesprungen. Sie warf sich, erschüttert von der Andeutung ... vielleicht eines Selbstmordes ... über den Unglücklichen, der nicht arm sein[3042] konnte. Sie streichelte seine Wange, liebkoste sie, lachte unter Thränen ...

Nein, nein, so nicht! sprach sie zärtlich. So nicht, Vater! Ich ergründe diesen Egon nicht. Die Grausamkeit gegen dich und seine Liebe zu mir! Nach jener Seene im türkischen Zelt kam er blaß und kalt in den Saal zurück und würdigte mich keines Blickes. Am folgenden Tage ließ er die Worte fallen: Ihr habt so recht Eure Fäden um mich gesponnen und wißt Euch Alle im Preise zu halten! Daraus entnahm ich, daß ihn Euer Gespräch verstimmt hatte. Und nun bitt' ich, Vater, um Eines! Es ist hier ein Ziel zu erreichen, das uns wenigstens vor der Welt nicht gering erscheinen darf. Aber es gehört Weisheit und Selbstbeherrschung dazu! Jede Andeutung eines persönlichen Vortheils, den wir etwa suchten, jede Gier der Eroberung, jedes marktende und schachernde Selbstgefühl wäre hier ein heißer Stein, auf dem alle Möglichkeiten in Dampf auseinander zischten ...

Welche Möglichkeiten?

Daß ich den Mann, der mich einst tyrannisiren, quälen, morden würde, wirklich fände, aber ich müßte ihn doch wol nehmen, weil er – ein Fürst ist.

Schlurck erhob sich. Er begriff nicht ganz den Zusammenhang dieser verworrenen Kombination.

Wie ist Das? fragte er, sich an seinen Sessel lehnend. Dich morden?

Egon von Hohenberg liebt mich, Vater! sagte Melanie ruhig. Ich verrathe ihm, daß ich meinen Werth zu hoch [3043] halte, um ihn ohne Bedingung zu erhören. Er sinnt über die Möglichkeit einer Ehe. Zu werben um ebenbürtige Geschlechter ist er zu träge, zu lebensdüster geworden. Er haßt die Frauen sogar, vollends, da sich ihm jetzt Alle, Alle aufdrängen. Auch Pauline von Harder hat Angst vor der Anknüpfung neuer Verbindungen, die ihr den angebeteten Mann entführen. Als er dir so rundweg alle deine Bitten abschlug, war es erst der Zorn über eine Konspiration, der ihn so reden ließ; dann aber auch, ich ahn' es, ein edleres Gefühl. Er denkt, an mir gutzumachen, was er gegen dich seinem sonderbaren Pflichtgefühl, seiner staatsmännischen Würde schuldig zu sein glaubte.

Eine solche Idee würde Schlurck unter andern Verhältnissen nach seiner, etwas Großes und Stoisches nicht begreifenden Philosophie für Narrheit erklärt haben. Jetzt war er zu zerknirscht glücklich dafür. Er athmete auf, wie wenn tausend Lasten von seiner gequälten Brust fielen. Und nur das Eine noch preßte ihm die unendliche Wonne zurück:

Aber warum sollte dich Egon denn tyrannisiren, dich so mit Füßen von sich stoßen, daß dir nichts bliebe, als der in solchem Falle erbärmliche Titel einer Fürstin?

Es war todtenstill im düstern Gemach ... Hackert wußte, was Melanie sagen wollte ... Als Melanie eine Weile schwieg und dann in heiße Thränen ausbrach ... ahnte es Schlurck.

Vaterzorn gegen Hackert brach so furchtbar jetzt in Schlurck hervor, wie damals, als er den aufgenommenen, [3044] wie einen Sohn behandelten und so früh verwilderten Findling fast mit Füßen trat und aus dem Hause warf. Es wallte in ihm auf wie siedende Glut. Er fühlte die Kraft, in den Winkel zu springen und den Lauscher, der so früh die Ehre seines geliebten Kindes zerstört hatte, zu erwürgen; aber ein Blick auf die zerbrochene Scheibe, auf die unter den Schrank gestoßene Brechstange, die Besinnung über die That, die er an diesem Sonntagvormittage wollte zu einem scheinbaren Ausbruch kommen lassen – Simulation eines Einbruchs in sein Comptoir – lähmte seine Kraft. Er konnte nichts, als sich über Melanie beugen, ihr Haupt erheben, ihre Stirn küssen, mit ihr weinen ...

Da schellte es am Hause. Melanie erhob sich. Rasch gefaßt sagte sie zum Vater:

Papa, nur noch einige Wochen Muth und Selbstbeherrschung!

So war sie geschwind wie eine Gazelle auf die Wendeltreppe gesprungen und hinauf zum oberen Zimmer verschwand sie ...

Noch vergeblich nach Fassung ringend wandte sich Schlurck, als er Hackerten schon vor sich stehen sah. Er erwartete von dem Elenden, der den Werth seines Kindes so tief herabgesetzt, ein Verbrechen an ihr begangen hatte, ein höhnisches, boshaftes, teuflisches Grinsen. Er fand dies aber nicht. Ruhig schlug Hackert die Arme unter und eher furchtsam, nicht drohend war sein Blick. Dieser Blick ermuthigte doch den von den [3045] innersten Qualen zerrissenen Mann und stachelte ihn zu der Anrede:

Bube! Hast du nun Alles gehört, was ich dir danke?

Hackert fuhr nicht auf. Er sah sich nur ruhig im Zimmer um ...

Einen Fürsten als Schwiegersohn, sagte er dann mit der ihm eignen heiseren, kalten Tonlosigkeit. Ist Das so wenig? Aber es ist wahr. Sie hätten mich lieber im Waisenhause lassen sollen, Justizrath! Ich will gehen. Durch diese Thür kann ich's nicht. Das Schloß ist ja prächtig verdorben. Na! Ich will mich oben durchschleichen. Ich denke, Sie schicken heute noch nicht auf die Polizei, um den Einbruch anzuzeigen. Sonst, Schlurck, legen Sie sich keinen Zwang an! Ich glaube, daß Sie nur sich, nicht mich in's Unglück bringen wollten. Vom nächsten Sonntag an will ich jeden Morgen daran denken, daß ich für mein Alibi Zeugen habe. Sonst können Sie thun, was Sie wollen! Es ist wahr, ich habe nichts in Ihrer Schule getaugt, Justizrath! In Ihrer! Ihrer! Aber Eins kennt auch Melanie an mir, ich bin diskret. Ja, Schlurck! Ihre verdammte Dose da, aus der Sie bei jedem Besuche eine Prise nahmen und Witze niesten. Ich naschte aus derselben Dose und war zu jung mit meiner Nase, ich mußte nur Dummheiten niesen. Ihr gabt mir Wein statt Milch. Juchhei am Morgen. Juchhei am Abend. Des Nachts lief ich sogar im Schlafe um und konnte aus dem Jubel nicht mehr herauskommen. Melanie kam einst mit mir von einem Kinderball. Sie war grade vierzehn Jahre! Ich hatte getanzt, daß [3046] ich trotz meiner Haare der Abgott der – Kinder war! Das vierzehnjährige Kind ... Genug! Justizrath, weinen Sie nur nicht! Sonst thaten Sie's ja nur, wenn Ihr Geburtstag war und Melanie Ihnen ein Paar Hauspantoffeln gestickt hatte! Oder bei Ihren Jugenderinnerungen weinten Sie ... Jetzt ... sammeln Sie sich! Versuchen Sie's noch zu guter Letzt, ein Herz von Stahl zu haben! Adieu, Justizrath! Alibi oder nicht ... Lassen Sie unterwegs, was Gefahr bringt. Ich möchte nicht, daß Sie auf Ihre alten Tage ... Justizrath, lieber keine Seide mehr spinnen, als ... Wolle! Wir sehen uns wieder, wo's der Teufel bescheert; nur nicht in ... Bielau!

Schlurck blickte nieder, wollte Hackert's dargereichte Hand nicht nehmen und sagte nur:

Hast den Ring?

Ich hab' ihn; antwortete Hackert fast hohnlächelnd und triumphirend. Dann schlich er wie eine Katze über die Wendeltreppe und durch die Zimmer, die er wie seine Tasche kannte, zum Hause hinaus.

Schlurck folgte vernichtet. Er sann darüber nach, wie er bis zu einer Entscheidung über Melanie's seltsame Andeutung den Zustand seiner Angelegenheiten verdecken sollte. Zum zweiten Male verdankte er seinem geliebten Kinde einen großen moralischen Sieg über sich selbst! Vor Hackert hatte er niemals Furcht gehabt ...

Hackert schwankte seiner kaum selbst bewußt durch die Straßen. Er war nicht im Stande, zum Profoßhause zurückzukehren. Es war ihm, als sprächen Stimmen mit [3047] ihm aus der Luft. Was ihn sonst von ähnlichen bewegten Regungen auf frivole Stimmungen gebracht hatte, verfehlte heute seine Wirkung. Wie malte er sich aus, was er erlebt hatte! Erst den blutigen Tod, die Trauer, dann ein Verbrechen, erstickt wol nur im ersten Keime, dann Melanie und ihre Geständnisse! Wie einsam, wie jammervoll sah es in allen diesen Herzen aus! Zum ersten Male kam es ihm, daß er sich selbst fast ohne Schuld, ohne Reue erschien. Ein junger Lebensmuth konnte sich über Das, was Melanie beklagte, keine Vorwürfe machen. Es rührte ihn, aber es peinigte ihn nicht.

So bracht' er den Tag bis zum Abend hin, wo in den Straßen die Zeitungen ausgeboten wurden, die die Geschichte vom gestern gesprengten Maschinenarbeiterverein erzählten. Am Schloß des Königs standen die kleinen »fliegenden Buchhändler«, unter ihnen trotz der Trauer, trotz ihres häuslichen Leids, Wilhelm und Karoline, die eignen Geschwister des Getödteten. Sie riefen ihres eignen Bruders Tod aus ...

Und Hackert kaufte ihnen ihre Blätter ab und hörte, daß sie eigentlich deshalb weinten, weil sie heute zum letzten Mal die Zeitungen auf der Straße verkaufen durften.

Und Euer guter armer Bruder Karl? Darauf sagten sie nichts, als weinend die Worte:

In der heutigen Zeitung steht Alles ... Es ist aber die letzte ...

Und indem verkauften sie ihr Leid. Daß die Regierung [3048] den Straßenverkauf der Zeitungen heute zum letzten Male gestattete, war ihnen fast größerer Kummer ...

Hackert wollte bitter werden. Er fand im Menschen Etwas, was vom Uranfange an zum Schlimmen zieht. Er sagte sich, daß die Lage, in der wir uns der Materie gegenüber befinden, unsre Tugenden und unsre Laster bedinge. Der Mann mit dem rothen Barte! spottete er. O! O, Louise!

So leicht bizarre Äußerungen bei Hackert den Übergang zu seinem genußsüchtigen, gedankenlosen Leichtsinn bezeichneten, heute verlockten sie ihn nicht recht. Er ergab sich nur der Verachtung aller Lebensverhältnisse und beschloß, am Montag zu Assessor Müller zu gehen und ihn zum letzten Male, da Madame Ludmer ihm wiederholt geschrieben hatte, um Einlaß bei Murray zu bitten.

Wie er am Montage in der Frühe an das Profoßhaus kam, ging eben eine Gruppe von Menschen aus dem Hause tretend an ihm vorüber. Die Menschen schienen ihm bekannt. Der, welcher ihm am meisten auffiel, war Murray selbst; er erkannte ihn an der schwarzen Binde. Die Übrigen waren Dankmar Wildungen, der von Melanie so Heißgeliebte; jener wunderliche, verwachsene Fremde, den er in die Stadt hatte einfahren sehen und ein ihm Unbekannter, wir kennen ihn, Louis Armand. Louis hatte den gebückten, lächelnden Gefangenen unter'm Arme gefaßt und führte ihn wie im Triumph. Auch Otto von Dystra schien den Befreiten wie einen längst Bekannten zu begrüßen und Dankmar betrachtete ihn so forschend, daß er [3049] Hackerten übersah, obgleich dieser dicht an ihm stehen blieb und verwundert den Vieren nachsah. Am Portal des Profoßhauses erführ er, daß man auf eine persönliche Bürgschaft jenes Herrn im Schnurrock und die Niederlegung einer großen Summe eingewilligt hätte, Murray während seiner Untersuchung, die sich ohnehin schon zu seinen Gunsten gewandt hätte, auf freien Fuß zu stellen ...

Zu spät gekommen! sagte er und gedachte des üblen Eindrucks, den er mit diesem so gescheiterten Auftrage bei der Verwandten seines Vorgesetzten Pax machen würde. Diese Entdeckung war ihm nicht gleichgültig; ja, als er lauernd jenen Vieren folgte und Murray's Ruhe, die Freundschaft und Zuvorkommenheit jener Ehrenmänner für den Verdächtigen beobachtete, witterte er schnuppernd die Fährte neuer Lügen und Laster. Doch zu nahe wagte er sich den ruhig Dahinschreitenden nicht. Es war ihm, als könnte sich Dankmar wenden und ihm ein Wort zurufen wie einst auf dem Hohenberg. Wenn er dich einen elenden Spion hieße, was könntest du erwidern?

Die Möglichkeit mehrte doch seine Pein. Louisen's Jammer an der Leiche ihres Bruders, die sittliche Gefahr des Justizraths, Melanie's Thränen hatten sein Inneres nicht erweicht, aber ein wenig erhellt. Er wurde Andern ein Licht, wie sollte es in ihm selber dunkel bleiben! Er sah sich wenigstens wie im Spiegel und war aus der brütenden Ruhe seiner Unmittelbarkeit aufgeschreckt. Da überfiel ihn eine solche Angst, daß er jener Frau, die ihm [3050] so viel Vertrauen geschenkt hatte und beunruhigt einmal über das andre in seine Wohnung schickte, ob Herr Hackert nicht sogleich zur Geheimräthin von Harder kommen wollte, keine Anzeige von Murray's Freiheit zu machen wagte, ihm aber nachschlich und außerhalb des Gefängnisses, in das ihn die Richter nicht hatten einlassen wollen, sich ihm irgendwie zu nähern suchte.

Am Mittwoch früh fand das Begräbniß des Karl Eisold statt unter Umständen, die die ganze Bevölkerung in Bewegung setzten und Veranlassung wurden, daß Hackert den Privatauftrag erhielt, die am Grabe gehaltenen Reden zu überwachen. Die Sicherheitsbehörde hatte keinen feierlichen Leichenzug dulden wollen und deshalb sogleich den Todten auf den neuen Kirchhof schaffen lassen, wo er bis zum Begräbniß im Leichenhause beigesetzt blieb. Die Arbeiter der Willing'schen Fabrik aber hatten den Todten bei Nacht aus jenem Hause mit Gewalt entfernt und ordneten ein Begräbniß an, das durch die ganze Stadt gehen sollte. Es war eine eigenmächtige Handlung, die später einer strengen Untersuchung verfiel. Ein Ministerrath verbot das öffentliche Begräbniß, bis bei Hofe jene religiöse Scheu vor Allem, was Leben und Sterben berührte, entschied und man von dorther wünschte, es sollte dem Drange jener Menschen, diesen Todesfall in ihrer Weise aufzufassen, kein Hinderniß gesetzt werden. So fand denn jenes Begräbniß unter Vortragung von Insignien aller Art und mit Begleitung einer Trauermusik unter dem Zustrom von Tausenden Statt. Alle Maschinenarbeiter [3051] folgten. Sogar einige elegante Trauerkutschen schlossen sich an. Am Grabe wurden Reden gehalten, Choräle gesungen. Man bemerkte überall die Zeichen einer an diesem Trauergepränge sich aussprechenden Demonstration der erzürnten Gemüther.

O, rief ein junger Redner, der auf die feuchte gelbe Erde der Grube trat, das Haupt entblößte und die zuckenden Mienen seines blassen Antlitzes kaum vor innerer krampfhafter Erregung bemeistern konnte. O, so kommen sie denn immer näher die Boten des Sturmes, der bald uns Alle wie Staub aufwirbeln und durcheinander treiben wird! Noch eine kurze Ruhe und die Zornschaalen der Prophezeiung werden ausgegossen werden! Bis dahin, Brüder, wankt und verzagt nicht! Der Tod hält seine Ernte. Wie ein Schnitter fährt er dahin und mäht mit seiner Sichel schonungslos und grausam! An das Leben muß sich nun schon Niemand mehr klammern. Die Zeiten sind vorüber, wo ein Jeder sich hütete, unter den Dächern der Häuser zu gehen, um nicht von einem fallenden Ziegel erschlagen zu werden. Die Zeiten sind vorüber, wo man sei nes Leibes und Lebens schonte und pflegte und sich vornahm, gebessert, reich an Tugenden und gesammelt vor den Thron des ewigen Richters zu treten. Jetzt geht es im Fluge. Das Leben ist nichts. Die Kugeln werden Niemanden schonen. Eine Leiche? Hunderte werden wir begraben sehen, Tausende! Die Wuth der Menschen, die es ahnen, daß ihre Stunde schlug, ist grenzenlos. Nicht mehr Könige und Könige bekämpfen sich, nein, [3052] alle Monarchen, alle Reichen, alle Großen werden Frieden unter einander schließen und die Armeen sind nur noch da, um Schlachten den Brüdern zu liefern. Unsre Plätze und Straßen, unsre Stuben und Kammern werden die Schlachtfelder werden, wo künftig die großen Feldherren ihre Lorbeern sammeln. Tod ist nichts mehr, Brüder! Wo wir hinblicken, krachen die Flinten der Executionen. Die Diplomaten schreiben die Bluturtheile auf ihren seidnen Polstern, ihre Chokolade schlürfend. Die Maschinen dieser Menschen vollführen es und jeder Soldat sieht auf seine Büchse, sein Pulverhorn, drückt los; was geht ihn die Kugel und ihr Ziel an! O Brüder, verzagt nicht! Zittert nicht, daß Ihr Euch erscheint wie zusammengetriebenes Wild in einem Walde. Alle Wege sind umstellt. Unser Denken, unser Fühlen, unser Reden ist ein Verbrechen! Wir stören den Staat, wenn wir uns versammeln. Wir sollen nur arbeiten. Hört Ihr, nur arbeiten! Arbeite und iß dein Brod im Schweiße deines Angesichtes, Das ist der Fluch, mit dem du in die Welt getreten bist! Aber die Stunde wird schlagen mit ehernem Glockenschlag, furchtbar dröhnen wird sie durch alle Lande die Sonntagsfrühe der Erlösung ...

Weiter konnte der Redner nicht sprechen. Denn eine Anzahl der Polizeidiener, die in der Nähe stand, trat auf den Hügel und zog mit lärmender Unterbrechung den jungen Mann von ihm herunter.

Dies wurde das Signal eines allgemeinen Tumultes, der mit der Ruhe des Friedhofes und mit dem Schmerz der [3053] auf dem Sande knieenden Louise und ihrer Geschwister in schreiendem Widerspruche stand. Man entriß den Häschern ihre Waffen, man tobte, schrie, stieß Verwünschungen aus. Die Häscher ließen ihre Nothpfeifen ertönen, um von der Wache eines nahegelegenen Thores Hülfe zu bekommen. Die Wächter der öffentlichen Ordnung waren so bedrängt, daß ihnen fast nichts übrig blieb, als sich an den durch diese Scenen entweihten Sarg zu flüchten, der auf den Brettern über der Grube stand und eben hinabgelassen werden sollte.

In diesem Tumult riefeine donnernde Stimme:

Ruhe! Friede am Grabe! Achtung vor den Todten!

Es war Leidenfrost, dessen Autorität unter diesen Menschen Wunder wirkte. Seine gewöhnlich nur polternde Art hatte ihn ganz verlassen. Der Augenblick begeisterte ihn. Er war nur bei der Sache und ganz von ihr durchglüht.

Wenn mein Wort unter Euch etwas gilt, rief er, so steht von Aufruhr und Empörung ab! Ehret den Schmerz der Leidtragenden, die dort auf dem kalten Boden verhindert sind, ihre Andacht zu verrichten! Schreckt den Schlummer des gebrochenen Auges nicht auf! Wir kommen so nicht fort, wie Ihr meint, wir nützen uns nichts und Denen nicht, die nach uns kommen werden! Glaubt doch nicht, daß Ihr allein dasteht mit Eurem Kummer um diese Zeit! Gebt dies weichliche Jammern um Eure Lage auf und erschließt Euern Geist einer höhern Betrachtung. Es arbeiten mehr, als Ihr denkt, wenn auch nicht mit [3054] Schwielen in der Hand. Aber es denken auch mehr und hoffen auch mehr. Ihr seid nicht die Einzigen und seid nicht verlassen! Ihr fahrt nicht wie dieser Jüngling in die Grube und düngt nur die Erde! Haltet Schritt mit dem Allgemeinen! Folgt nicht dem nächsten Gelüst Eures Zornes, sondern glaubt an den im Stillen arbeitenden Weltgeist, der uns mit Schöpfungen überraschen wird, von denen Ihr keine Ahnung habt. Eine Ordnung in diesem Leben muß sein! Sie beruht nicht auf der Vertheilung der Güter, die nur Mord und Brand erzeugen würde, sie beruht auf dem geänderten Begriffe vom Staat. Dahin arbeitet! Nicht zur Auflösung, sondern zur neuen Bildung hin! Gehorchen wollen wir, dienen, uns beherrschen, Das ist das Ziel, das wir nur im Siege des Geistes, nicht dem Siege der Materie finden können. Die rechte Freiheit und die rechte Begrenzung! Darin liegt Glück, darin die Bürgschaft neuen Friedens. Die Römer wußten, was sie wollten; die ersten Christen wußten, was sie wollten; wir wissen noch nicht, was wir wollen. Deshalb entwaffnet die materielle Kraft, die Euern Forderungen gegenüber steht, entwaffnet sie nicht durch die schwache, sogleich besiegte Faust, sondern durch den milden Sonnenschein des Geistes und der Verständigung. Der Sonnenschein blies dem Wanderer den Mantel ab, den der Sturm nicht abblasen konnte. Gebt Ruhe, Friede den Todten! Scheidet von diesem Grabe mit der Hoffnung auf einen neuen Frühling und werfe Jeder eine Handvoll Erde dem edlen Jünglinge nach, als Zeichen, daß wir Erde werden, wie er [3055] und uns versöhnen wollen mit unserm Loose, das uns diese Welt gab als einen Schauplatz der Entsagung und eine dunkle Kammer räthselvoller Hoffnung!

Diese wie ein Strom hervorquellenden Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Einer nach dem Andern trat an die Grube und warf eine Handvoll Erde über den Sarg. Louise und die Kinder schütteten Blumen. Die Frauen vieler Arbeiter umringten die Weinenden und führten sie an das Thor des Friedhofes zurück, wo einer der schönsten Wagen, dem ein zweiter, in welchem Mangold saß, folgte, sie aufnahm. Die verstärkte Thorwache machte Spalier. Die Arbeiter gingen ruhig auseinander. Leidenfrost erhielt den Handschlag Dankmar's und jenes kleinen mit dem Offizier der Wache sich unterhaltenden Fremden, in dem Hackert wieder den vornehmen Reisenden erkannte, den er in die Stadt Rom gewiesen hatte.

Als der Kirchhof von dem Menschengewühl sich entleerte und nur noch die Todtengräber thätig waren und das Grab zuschütteten, bemerkte Hackert in einiger Entfernung einen einsamen, zurückgebliebenen Wanderer. Es war Murray, der Alte mit der schwarzen Binde. Er sah, daß er die Hände über den Rücken zusammenschlug und von Grab zu Grab trat trotz der Kälte, trotz der schon schneidenden trocknen Winterluft. Er hatte ihn schon vorher im Auge gehabt und nur im Tumult nach der ersten Grabrede verloren. Jetzt schlich er sich ihm nach. Jetzt spornte ihn Neugier und die Eitelkeit, sich das Haus einer Geheimräthin verbindlich zu machen ... Doch immer stand [3056] der Alte, wenn er dicht an ihn heran kam, an einer Grabschrift und las sie, was ihm schwer zu werden schien, da er sich nur eines Auges bedienen konnte.

Hackert fühlte, daß er über den Tod, über diese Grabschriften mit ihm reden mußte, wenn er ihn ansprechen wollte. Dazu konnte er sich trotz der auch in ihm durch die Grabesscene hervorgerufenen Erschütterung nicht entschließen. Religiöse Empfindungen waren ihm fremd.

Murray las unter dem feuchten, modernden Blätterabfall hinschreitend zuweilen die Grabschriften halblaut.

Derselbe Mann, den er als zweideutigen Gauner im Gefängnisse besuchen sollte, der ihm als hochfahrend, anmaßend, frech bezeichnet war, sprach, indem er bei einer entblätterten Trauerweide stand und er ihm von ferne zuhörte:

»Sanfter Schlaf halte dich umfangen bis zum Tage des Wiedersehens.«

Es war eine Grabschrift auf ein junges Mädchen ...

Hackert blickte zu Murray hinüber, der weiterging und sprach vor sich hin:

Es ist kein Engländer! Das hör' ich doch wol schon ...

Murray stand vor einem Kreuze und las wieder halblaut:

»Seit ich entbehre, glaub' ich.«

Murray stand nachdenklich, überlegte offenbar diese Worte und ging wieder weiter.

Hackert vergegenwärtigte sich die Kennzeichen, die ihm die Ludmer genannt hatte.

[3057] Das Haar ist nicht echt, sagte er sich und las nun selbst die Inschrift, die Murray vor ihm gelesen hatte ...

Murray war inzwischen weiter gegangen und flüsterte vor einem andern Denkstein die Inschrift lesend.

Hackert bemerkte, daß sich das Haar verschob und unter ihm ein helleres sichtbar wurde. Er ist's! sagte er sich.

Indem murmelte Murray vor einem Kreuze von Gußeisen:


Anbetung Ihm, der die große Sonne
Mit Sonnen und Erden und Monden umgab,
Der Geister erschuf,
Ihre Seligkeit ordnete,
Die Ähren hebt, der dem Tode ruft,
Zum Ziele durch Einöden führt und den Wandrer labt,
Anbetung Ihm!

Finden Sie nicht, sagte nun Murray, sich selbst zu dem nahegetretenen jungen Manne wendend, der wie er an den Gräbern Interesse zu nehmen schien, finden Sie nicht, daß alle diese Denksteine sich recht an den Tod anklammern wie an den einzigen Enthüller des großen Lebensräthsels? Es ist doch schlimm damit. Man glaubt erst, wenn man an die Schwelle unsres Daseins tritt und in der Stille, die um einen Sterbenden waltet, es doch so gar sonderbar rascheln und flüstern hört, grade wie Sie immer so hinter mir her raschelten, ohne daß ich Sie sah.

Hackert konnte nicht recht antworten. Er bemerkte, während Murray sprach, die Ohrlöcher, von denen ihm die [3058] Ludmer gesagt hatte. Sie waren verwachsen, aber unverkennbar.

Murray ging ohne die Antwort abzuwarten weiter und sprach, halb lesend, an einem kleinen sehr geschmackvollen Denkmal von Marmor:

Ein Kind von drei Jahren? Der kurze Traum eines Schmetterlings! Sehen Sie die Idee des Künstlers! Ein Kind mit einem Schmetterling! Wie es fürchtet, daß eben der Schmetterling von der erhobenen linken Hand fliegen will! Es will ihn haschen! Knabe, die Seele entfliegt dir nicht! Tröste dich! Aber nach mußt du ihm!

Hackert bemerkte, daß Murray fast keine Augenbrauen hatte. Und damit er doch nicht zu lange schwieg, äußerte er kalt:

Ganz hübsch!

Haben Sie die Reden an dem Grabe gehört? fragte Murray den ihm sonderbar nun sich anschließenden jungen Mann mit den magern Gliedern, dem durchglasten Auge, dem blassen Gesicht, dem rothen Haar, in einfacher Tracht mit schäbigem Paletot ...

In zu großer Entfernung! sagte Hackert.

Die Scene war ein Bild unsrer Zeit, fuhr Murray fort. Noch Kampf am offnen Grabe! Der besänftigende Redner fand gute Wendungen, aber die Wechsel, die er ausstellte, haben zu lange Sicht. Da werden die Zinsen so groß wie das Kapital.

Hackert, in der sichern Überzeugung, daß die Vermuthung jener Frau über diesen Mann vollkommen zuträfe, [3059] konnte natürlich solche Art, sich zu äußern, solche stille Ergebung und philosophirende Ruhe nicht begreifen. Von einer Verstellung, ihm gegenüber, konnte doch wol kaum die Rede sein. Er mußte sich gestehen, daß er hier ja ein ganz kindlichgestimmtes, frommes, ergebenes Gemüth vor sich hatte, von dem Schlimmes zu denken er sich schämen mußte ...

Murray wanderte immer so fort. Hackert folgte ihm und hörte forschend zu, wenn er sprach oder Grabschriften las. Manche schrieb sich Murray auf.

Er zog sein Portefeuille und merkte sich manchen Gedanken, manches tröstende Bild.

Hackert wurde davon fast ergriffen. Er hörte keinen Frömmler sprechen, keinen phrasenhaft Gläubigen, sondern einen Mann, der das Leben und die Welt als ein Geheimniß nahm und deshalb, weil er mit zu diesem Geheimniß der Welt gehörte, ein höheres Walten, eine Harmonie des uns nur unharmonisch klingenden Lebensspieles voraussetzte.

Und doch verließ Hackerten noch immer nicht die schlimme Vorstellung, die ihm die Ludmer eingeflößt hatte. Er sah, daß Murray schön schrieb und bemerkte dies, ihm über die Schulter schielend ...

Ich bin ein Kupferstecher, antwortete Murray in aller Ruhe und steckte den Bleistift durch die Löcher, die sein Portefeuille zusammenhielten.

Auch diese freiwillig eingestandene Beschäftigung paßte ...

[3060] Murray schien von dem heftig brausenden Novemberwind, der die Blätter aufwirbelte, nichts zu fühlen. Hier und da hatte sich noch ein Blumenstock von den vielen, die hier auf den Rasenhügeln welkten, frischer erhalten. Er verweilte dann bei ihm und lobte seinen Widerstand gegen den Sturm.

Halt aus! Halt aus! sagte er. Aber noch zwei Tage, so mußt du dich auch ergeben!

Dann wandte er sich an Hackert mit den freundlichen Worten:

Glauben Sie denn an ein Wiedersehen nach dem Tode, junger Mann?

Hackert war betroffen, faßte sich rasch und schüttelte entschieden den Kopf.

Ich kann Sie nicht widerlegen, mein Lieber, nahm Murray sein Bekenntniß entgegen; allein denken Sie sich doch einmal, als wäre die Menschheit vielleicht ein Baum oder ein großes Wachsthum, will ich sagen, das immer steigt, immer neu ansetzt, immer drängt und drängt und irgend etwas werden will – was, weiß ich nicht. Aber es ist ein Geheimniß damit. Ich glaube, unser physisches Leben ist der Durchgang eines großen räthselhaften Naturtriebes, eines Dranges zur Unsterblichkeit. Sehen Sie, es ist mir fast, als wenn diese Erde, deren beste Produkte wir doch sind, etwas aufhat, ein Thema, nämlich das, uns so vollkommen hinzustellen als nur möglich, möglicher Weise unsterblich. Die Erde kann Das nun nicht vollbringen. Da sinkt Einer hin, da und dort. Meinen Sie nun wirklich, [3061] daß der unglückliche Knabe, der so mit sechszehn Jahren sterben mußte, nun rein ausgeblasen ist? Hier ist er's. Das, was in ihm irdisch war, ist hin. Aber wenn Einer so stirbt an einem ererbten Übel, an der Schwindsucht, an unverschuldeten Fehlern der Organisation, bei einem Eisenbahnunglück – kommt da der schwachen Erde, die uns so gibt, wie sie eben kann, nicht vielleicht doch ein höherer Geist zu Hülfe und nimmt Die in seine rettenden Arme, die die Erde nicht fertig bringen konnte und führt uns in andern Verhältnissen, andern Bedingungen fort und hinüber in andere Substanzen?

Hackert hörte ruhig zu.

Ich philosophire stümperhaft, sagte Murray. Was kann man auch anders, als sich hier der Natur gefangen geben und sagen: Da hast du mich mit gefesselter Vernunft! Liefre mich dem Tode aus auf Gnade oder Ungnade! Wenn man aber doch ein Bild für diese Hoffnungen haben möchte, so mein' ich immer, man nimmt getrost die christlichen Bilder und überantwortet sich einem liebenden Vater, einer allwaltenden Fürsorge und sagt: Durch Christus, durch seine Lehre ist dafür gesorgt, daß wir nicht zu Staub verwehen! Es sammelt uns schon Jemand irgendwie in dem Schooße Gottes.

Alsdann sprach Murray ein altes Lied, von dem er sagte, daß man es zu seiner Zeit gesungen hätte. Es war Salis' schönes Lied: »Das Grab ist tief und stille.« Murray sprach alle Verse ohne Pathos, ohne Übertreibung, melodisch und weich. Als er mit dem Verse geschlossen hatte:


[3062]
Das arme Herz, hienieden
Von manchem Sturm bewegt,
Erlangt den wahren Frieden
Nur, wenn es nicht mehr schlägt –

war es Hackerten doch, als wühlte eine Geisterhand sonderbar sein Inneres um. Thränen, die, wie er oft gesagt hatte, nicht in sein Herz wären gesäet worden, meldeten sich freilich nicht, leise quillend und unwillkürlich, aber er mußte doch zu Murray sagen:

Sie sind ein Priester von der Art, wie wir keine haben! So wär's mir schon recht. Jeder müßte eigentlich seinen eignen ...

Hackert stockte; aber Murray verstand und fuhr rasch fort:

Seinen eignen Erlöser finden ...

So etwas! sagte Hackert; wenigstens Einen, der ihn hinausführte in die Natur und ihn durch Milde bekehrte!

Junger Mann, sagte Murray ... Suchen Sie nur die Einsamkeit, dann ist der Priester immer bei Ihnen.

Hackert dachte an den schönen Julitag, wo er zu Tempelheide im Korne unter den blauen Blumen lag und sich an Siegbert anschließen wollte, aber nicht konnte, da es noch viel zu wild in ihm damals tobte ...

Indem fesselte Murray eine neue Inschrift. Er zog sein Portefeuille, um sie aufzuschreiben. Indem er es aufschlug, klang etwas auf dem Grabstein, vor dem er stand. Etwas Metallenes war ihm entfallen.

Hackert hob es auf.

[3063] Es war ein halber goldner Ring ...

Wie Murray diesen halben goldnen Ring, den ihm Louis Armand nach dem Wiedersehen und dem Erörtern des im Schranke der Jägerwohnung Gefundenen gegeben hatte, von Hackert empfing und wieder in das Portefeuille legen wollte, sah er in dem jungen Manne eine seltsame Bewegung.

Was ist Ihnen? fragte Murray.

Unwillkürlich griff Hackert in seine eigne Rocktasche und zeigte mehr wie zu spielendem Zufall die andre von Schlurck empfangene Hälfte eines Ringes.

Murray erst scherzend, hielt seine Hälfte an diese, sagte aber nun plötzlich erschreckend, während seine Hand zitterte:

Gott! Sie passen ja!

Hackert, wirklich nicht minder bewegt, blickte in den innern Rand. Wie er die Buchstaben P.v.R. deutlich zusammengefügt erblickte, mußte er sich an einem Kreuze halten, so erschütterte seine schwachen Nerven dies Zusammentreffen ...

Und Murray rief mit schon ersterbender Stimme:

Was ist Das? Woher haben Sie die Hälfte dieses Ringes?

Dabei streifte er mit der Hand die Binde zurück, sein Hut entfiel, die Binde entfiel, die Gestalt hob sich ...

Ich bin ein Findelkind, sagte Hackert. Wie man mich an der Thür des Waisenhauses dieser Stadt aussetzte, fand sich in dem Korbe, in dem ich schlief, die Hälfte dieses Ringes ...

[3064] Und Murray sank schon halb auf einen Leichenstein, halb hielt er Hackert's Arm, bohrte seine Augen in die des jungen Mannes, hob die Lippen, als wollte er sprechen, wischte die Augen, als wollten sie weinen, lachte, griff nach seiner Stirn, betrachtete den Ring –

Paul? rief er endlich.

Nicht Paul ... sagte Hackert ...

Gütiger Heiland, nicht Paul Zeck ... stammelte Murray erblassend.

Paul Zeck? Paul Zeck? ... rief Hackert sich besinnend.

Und schon wühlte er in den Papieren seines Portefeuille.

Der Schein, den Hackert in jener Nacht Bartuschen abgenommen, zitterte in Murray's Händen ...

Dann sammelte sich Der aber und sprach, indem er krampfhaft Hackert's Hand ergriff:

Diesen Ring gab ich einst meiner Schwester Ursula Zeck. Paul Zeck ist nicht ihr Kind; es ist mein Sohn und der Sohn dieser Frau, deren Name P.v.R. lautete. Es sind jetzt drei Fälle! Entweder: Paul Zeck ist durch Naturgesetze todt, oder Ursula Zeck hat ihn ermordet, oder sie setzte Paul Zeck am Waisenhause dieser Stadt aus und machte den Ursprung des Kindes kenntlich durch die Hälfte dieses Ringes, die andre wurde bei ihr gefunden ...

Hackert blickte bald auf die Ringtheile, bald auf Murray und sagte dann leise:

Ihr Sohn? Sie? Und ich? Ja, ich bin ja dieser ausgesetzte, erst im Waisenhause erzogene Findling ...

[3065] Es war das erste reine Gefühl der gebrochenen Eiseskälte des Herzens, das erste Herzensbeben dieses jungen Mannes, indem er diese Worte sprechen mußte.

Murray betrachtete den Sprecher, die Gestalt, die Züge des Antlitzes ... Auch das Haar ging ihm plötzlich wie in Flammen auf ... Ha! sagte er. Daher!Daher! Von jener Nacht! Lichterlohes Haar! Du bist's! Bist – mein Sohn?

...Die Todtengräber überraschten eine Gruppe. Sie wollten das Thor schließen, das auf zwei Schritte in der Nähe war. Unwissentlich hatten der Vater und der Sohn diesen Weg genommen ... Sie halfen Hackerten, der sich bald sammelte, den ohnmächtigen Mann, der seinen Sohn gefunden und seine Freude nicht auszujubeln wagte, an das Thor führen, wo noch Miethwägen hielten ...

Die beiden verspäteten Theilnehmer des Leichenzuges fuhren, wie Hackert dem Fiaker zugerufen, nach der Brandgasse Nr. 9, wo Murray ja noch wohnte ...

Die Todtengräber fanden die Scene, die Ausrufungen, die Umarmungen seltsam. An der Stelle, wo alles Das vorfiel, fand sich nichts zur Aufklärung, kein Leichenstein, kein Denkmal, nur ein Blättchen Papier, auf dem mit Bleistift eine der Grabschriften ihres Friedhofes in der Nähe aufgeschrieben stand. Sie lautete:

»Den Lebenden ist Nacht. Den Todten bricht,

Den Schlummernden ein neuer Morgen an.«

[3066]
14. Capitel. Wolken
Vierzehntes Capitel
Wolken

Der umsichtige, thätige Oberkommissär Pax saß eines Morgens bald nach dem Begräbniß des Karl Eisold noch im Schlafrock und blätterte in gemischten Papieren. Sieht es bei alten von Frauen verwöhnten Junggesellen ohnehin schon in ihrer Behausung behaglich und mit pedantischer Ordnungsliebe gepflegt aus, so hat ein hochgestellter Diener der öffentlichen Sicherheit vollends Gelegenheit, sich eine comfortable Existenz zu begründen. Herr Pax schlüpfte über Teppiche, lehnte die Arme auf Stickereien, den Rücken an schwellende Kissen, die ihm von seinen Verehrern, den reichen Bürgern der Stadt, Sollicitanten und selbst dann und wann Contravenienten zum Geschenke gemacht wurden. Da waren die Glasschränke voll Porzellan, voll Gold und Silber. Kostbare Blumentöpfe beschatteten die Fenster, die mit Ampeln und hängenden Rankengewächsen geziert waren. Selbst ein Papagey, vor Allen aber Schooßhunde und Katzen fehlten nicht, wie bei einer alten Jungfrau, die ihren reichen Schatz an Liebe zuletzt doch mit irgend Jemand in der Welt theilen muß. Charlotte Ludmer hatte den ehemaligen derbauftretenden [3067] Wachtmeister doch zum verweichlichten Junggesellen erzogen, und die halbe Stadt wußte, wann Herr Pax seinen Geburtstag feierte. Die guten Bürger erdrückten ihn dann mit Überraschungen, von denen ihn die Naturalgeschenke trotz seines guten Appetits oft in Verlegenheit setzten, da sie zur Verköstigung für Monate ausreichen konnten. Eben trug ihm eine junge Haushälterin in silbernem Service den Kaffee herein, als ihn Hackert freundlich begrüßte und ihm Glück wünschte zu den wahrscheinlich sehr reichen Fängen, die er auf seiner Rundreise gemacht hätte.

Pax lächelte mit dem Bewußtsein eines Mannes, der das Wohl des Staates an seinen Fingern hat und, wenn er nicht Acht gäbe, das ganze Gewebe der öffentlichen Ordnung fallen lassen könnte ...

Er rückte einen kostbaren Fauteuil seinem Protégé zu und fragte ihn, ob er schon gefrühstückt hätte. Die Sahne war schäumend. Das Weißbrot war das zarteste. Der Mocca vom schönsten Rothschwarz. Die Haushälterin allerliebst. Doch lehnte Hackert ab.

Schmelzing hat mir schon gestern Abend mancherlei erzählt, sagte der Oberkommissär. Was haben denn inzwischen Sie erlebt?

Hackert zog seine Liste verdächtiger Personen und die Notizen noch verdächtigerer Zustände hervor und bat den Oberkommissär, ihm nur auf den Zahn zu fühlen. Er würde ihm dann eine reiche Ernte mittheilen können.

[3068] Das ist ja charmant. Die Zeiten sind schlimm! Die Umtriebe wachsen immer gefährlicher. Setzen Sie sich, Hackert. Wirklich? Haben Sie schon gefrühstückt?

Damit wollte der freundliche Herr, der wie Mancher erst im Schlafrock Gemüth hatte, an einem kostbar gestickten Schellenzuge klingeln und hatte schon den krystallnen Ring in der Hand ...

Hackert lehnte ab ...

Wie Sie wollen! sagte der freundliche Wirth und lenkte zu den Geschäften ein. Schmelzing erzählt mir ja Wunderdinge von dem Karl Eisold'schen Begräbniß. Er hat alle Namen aufgeschrieben, die er erkannte –

Ich sah Schmelzing nicht –

Er war zugegen. Es ist erstaunlich, was sich für Menschen kompromittirt haben. Der Staatsanwalt wird zu thun bekommen.

Es ist viel gesprochen worden, sagte Hackert ruhig, aber Aufregendes?

Hackert, entgegnete Pax herablassend, aber doch drohend. Sie haben keine Neigung für politische Fragen. Sie sind Schmelzing überlegen in der Auffassung, aber Schmelzing beobachtet schärfer ...

Ohne hören und sehen zu können?

Pax lächelte und schlürfte seinen Mocca, den er stark trank, da es ihm an Bewegung nicht fehlte ...

Sie wissen doch, sagte er, daß es in der Gaunersprache der Revolutionärs ein Auf- und Abwiegeln gibt. Nichts ist gefährlicher als das Abwiegeln. Da werden die Leidenschaften [3069] zurückgedrängt und brechen nur um so gefährlicher in unbewachten Augenblicken hervor ...

Aha! sagte Hackert ruhig.

Leidenfrost soll in dieser Art am Grabe abgewiegelt haben.

Er ist, berichtete Hackert, mit einer Sendung von Maschinen auf die Güter unsres Premierministers, um sie dem dortigen Generalpächter Ackermann zuzuführen. Zwei Arbeiter, Heusrück und Alberti, begleiten ihn ...

Der dritte im Bunde, Danebrand, soll sitzen ...

Man beschuldigt ihn, den Karl Eisold durch eine Heldenthat haben rächen zu wollen, die an die bekannte Geschichte von Arnold von Winkelried erinnert. Kennen Sie diese Geschichte, Herr Oberkommissär?

Der ehemalige Wachtmeister schien die Geschichte der Schweiz nicht studirt zu haben, ob er gleich mit ihr in naher Verbindung stand und einen lebhaften Briefwechsel über das »Treiben« der Flüchtlinge daselbst unterhielt.

Die Geliebte Danebrand's hat einen andern Verehrer gefunden, fuhr Hackert fort; einen Inspektor auf dem königlichen Schlosse Buchau. Es ist derselbe Mann, der jene Auguste Ludmer heirathen wollte ...

Apropos, Hackert, unterbrach Pax die unangenehme Erinnerung an seine Pseudo-Schwester, ich habe ein Briefchen von der Familie des Geheimraths von Harder vorgefunden. Man dankt mir sehr für Ihre Empfehlung; aber Sie haben sich einem Auftrage nicht unterzogen, den man Ihnen daselbst ertheilte –

[3070] In Betreff jenes zweideutigen, falschen Engländers –

Ganz Recht! Das Briefchen ist schon einige Tage alt. Dieser Mensch ...

Den man auf Caution freigelassen hat ...

Etwas voreilig – Assessor Müller ließ sich von hohen Personen imponiren –

Die Identität des Individuums, das jene charmante Dame, Madame Ludmer, zu erkennen wünscht, paßte nicht auf diesen Murray – es sind völlig verschiedene Personen ... auch wollte mich Müller in keiner Beziehung zur Justiz anerkennen.

Hm! Ich meine denn doch, der Fall war wichtig. Ich habe in Hohenberg diesen Mann mit großem Aufwand beobachten lassen und seine Gefangennehmung ist mit einem Verbrechen verbunden gewesen.

Gegen alles Das hat ein ehemaliger Diplomat, Baron von Dystra, durch sein Zeugniß und eine enorme Kaution den Beweis besseren Sachverhalts geführt.

Hab' ich gehört und beauftrage Sie auch, diesen Dystra in's Auge zu fassen. Alles, nachgrade Alles wird verdächtig!

Einstweilen weiß ich, daß dieser Sonderling sich beim königlichen Schlosse Buchau ankaufen will und eine gewünschte Parzelle dazu erhalten hat. Er interessirt sich für das Unglück der Eisold'schen Familie und hat Louisen vorgeschlagen, sie möchte in seinem Auftrage mit ihren Geschwistern nach Buchau gehen und ihm dort Vorbereitungen treffen, dem Bau, den er auf der Ruine Tempelstein [3071] für den Sommer vorbereitet, mit Bequemlichkeit anwohnen zu können.

Sie sind gut unterrichtet – sagte Pax. Doch find' ich darin nichts Staatsgefährliches – wenn nicht diese Nähe von Demokraten bei einem königlichen Schlosse ...

Ich meine, sagte Hackert mit bittrer Ironie, es ist sehr nützlich, daß eine neue Tochter Jephtha's, eine Jeanne d'Arc der Arbeiter, von hier entfernt wird –

Pax schwieg bedeutungsvoll. Er stellte sich, als verstünde er die geschichtlichen Anspielungen seines Volontairs, der eigentlich mit ihm wie die Katze mit der Maus spielte.

Das Mädchen wird schon dieser Tage gehen, erzählte Hackert. Mangold ist voraus und Baron von Dystra hat den Tempelstein gekauft. Er wird ihn im Frühjahr ausbauen lassen. Einstweilen sammelt er Handschriften, was bedenklich ist ...

Wie so?

Er sammelt Handschriften! wiederholte Hackert trocken. Ich fürchte, er wird einmal einen gewissen Brief des Majors Werdeck finden und dann einen Brief von Schmelzing's Hand mit ihm zusammenlegen und einen Kenner fragen, ob beide Hände Ähnlichkeit miteinander haben oder nicht.

Hackert hatte diese Worte ruhig hingeworfen.

Pax aber blickte groß auf und schien überrascht ...

Was ist Das? Schmelzing, Werdeck?

Ich wollte nur bemerken, sagte Hackert ruhig und sehr [3072] einfach, daß Schmelzing zwar ein durchtriebener Spitzbube ist und die Kunst, falsche Handschriften nachzuahmen, aus dem Grunde versteht, aber er soll sein Geschäft vorsichtiger betreiben und nicht Aldenhoven, Lieutenant Flottwitz, Major Türk und ähnliche Mitglieder des Reubundes zu oft besuchen –

Hackert! Hackert! sagte Pax erstaunt. Sie haben Katzenaugen! Ist gegen den Major von Werdeck – Was ist denn? –

Hackert schwieg ...

Werdeck ist ein eid- und pflichtvergeßner Offizier, fuhr Pax heraus. Er hat einen Umgang, den ein Mann in seiner Stellung nie haben darf – Dankmar Wildungen, Louis Armand, Leidenfrost – Diese Menschen! Was ist Das für ein Brief?

Es circulirt, erzählte Hackert, seit einigen Tagen unter den Offizieren ein aufgefangener Brief, den man zuerst bei einer Parade, als die Parole ausgetheilt wurde, mit Erstaunen herumreichte. Diesen Brief soll der Major Werdeck an einen im Auslande lebenden Flüchtling geschrieben haben. Er bietet ihm darin die Ergebenheit einer großen Partei in der Armee an und wünscht die genauere Angabe der Zeit, wann man hoffen könne, loszuschlagen. Eine Untersuchung wird später folgen. Vorläufig ist dem Major von Werdeck der Degen abgefordert worden ...

Ist es möglich! Aber Schmelzing?

Einige Reubündler leiden an dem Wahn, sich periodisch [3073] für Dichter zu halten. Schmelzing schrieb ihnen holprige Verse ab, aber gestern fand ich bei Schmelzing ein Billet des Majors, das unverfänglich und echt und irgend Jemandem, der es von dem Major empfangen hat, entwendet war. Schmelzing entriß mir den Fetzen, dem ich ansah, daß er ihn durch Fließpapier durchgezeichnet hatte, um sich – in des Majors Handschrift einzuüben ...

Hackert! Sie sind ein Hauptfänger! rief Pax und stand aus seinem schwellenden Kissen auf. Aber auf diesem Gebiete lassen Sie weitres Forschen! Die Armee wird schon Grund haben, Werdeck zu überwachen. Les' ich doch in diesen Papieren, daß der Kommunist Louis Armand, den der Fürst Hohenberg jetzt gänzlich von sich entfernt hält, sogar mit Werdeck's Familie verkehrt, Zutritt in seinem Hause hat –

Er ist verwandt mit der Frau des Majors.

Und mit einem Pfarrvikar in Plessen bei Hohenberg, Namens Oleander ... Das schwarze Kabinet in der Post überwacht die Korrespondenz, die an Louis Armand eintrifft. Diese Verfügung soll von hoher Stelle ausgehen. Man traut selbst Egon, dem gegenwärtigen Premierminister, nicht und kann der Besorgniß noch immer nicht entledigt werden, daß Fürst Hohenberg auf ein doppeltes Spiel setzt! Da ist an Louis Armand ein Brief aus Plessen gekommen, worin jener Pfarrvikar ihm sozusagen politische Aufsätze schreibt. Selbst von einem Bunde ist darin die Rede ...

Hackert gedachte des Bundes der Ritter vom Geiste, [3074] brach rasch ab und bemerkte auf Veranlassung des Pfarrvikars:

Guido Stromer steht auch auf meiner Liste. Streichen wir ihn nicht? Er soll den Titel eines Hofraths von einem kleinen Fürsten an der Donau erhalten haben. Der Minister dieses Fürsten ist von Frau von Harder darum angegangen worden. Auf der Straße sieht man den Hofrath Stromer in seinem neuen kostbaren Biberpelze nun wie einen Narren. Jedes Mädchen macht ihn stutzig. Die Augen verdreht er wie ein Kalb und über die einfachsten Dinge soll er einen Schwall von Worten gießen, wie ein Überspannter ...

In der Provinz wird Guido Stromer bewundert, sagte Pax. Seine Aufsätze im »Jahrhundert« liest alle Welt. Jedermann will wissen, ob man ihm nichts von Guido Stromer erzählen könne – besonders die Damen –

O erzählen Sie ihnen doch, sagte Hackert, der in der That über Alles unterrichtet schien, daß dieser Hochfliegende die Seinen daheim in einem armseligen Dorfe sitzen hat, sein Amt von Oleander verwalten läßt und hier eine prächtige Wohnung bezog, die für ihn zwei Damen Wandstablers gemiethet haben – Sie kennen sie –

Die Wandstablers ... vom Fürsten?

Die Dore ist im Palais geblieben – die Lore aber und Flore haben ein Stockwerk für sich allein gemiethet. Köstlich meublirt vermiethen sie es nun scheinbar an Hofrath Stromer, dem seine Ideen mit Gold aufgewogen werden. Er hat drei mit Sammttapeten geschmückte Zimmer der [3075] beiden Damen gemiethet und wohnt bei ihnen, man sagt, mit unverschlossener Verbindungsthüre. Sie müssen ihm jeden Morgen den Kaffee in idealischer Tracht bringen, bald griechisch, bald orientalisch. Das Gefäß ist von Silber und es ist schon vorgekommen, daß er sich des Morgens an der Wellenlinie einer neuen Milchkanne gestoßen und aus beleidigtem Schönheitsgefühl lieber kein Frühstück genossen hat. Die beiden Wandstablers müssen dann vor ihm knieen und mit einem eignen Tonfall bitten: Trink, Guido! Dann hält er seinen rothen Pantoffel über den Nacken der Flora, legt sie in eine Attitüde, wünscht sich Bildhauer herbei und möchte die Gruppe ausgehauen haben –

O, rief Pax, der sich vor Lachen kaum halten konnte und etwas Sardanapalisches in sich selber aufgeregt fühlte, Das ist ja auch prügelnswerth – woher wissen Sie denn diese Tollheiten?

Die Leute sind sehr unvorsichtig, sagte Hackert. Sie wechseln alle acht Tage mit ihren Dienstboten. Der schwärmerische Ex-Geistliche will nur Ideale zur Umgebung haben und doch sind die Wandstablers eifersüchtig. So gibt es ewig Zank, unaufhörlich Abschied, folglich Geschichten. Wenn dieser große Mann sich nicht bei Zeiten besinnt, kann es noch dahin kommen, daß ihn die beiden Demoiselles jeden Abend gemeinschaftlich durchwalken, während Hunderttausende bewundernd seine Artikel lesen.

Pax hatte an diesen Schilderungen, die Hackert mit[3076] aller Anschaulichkeit fortsetzte, seinen Spaß. Er mußte nun aber in seinen Dienst und sich ankleiden. Er lobte Hackerten für seine eben so reichhaltigen wie amüsanten Mittheilungen. Er hatte Stoff, nun wieder seinen Vorgesetzten zu unterhalten. Dieser unterhielt dann wieder seinen Vorgesetzten. Dieser wieder den seinen und so fehlt es in einem geordneten Staatswesen nicht an harmonischem Zusammenhang und prächtig schließenden Kettengliedern. Geld lehnte Hackert heute wieder ab. Er sagte, er hätte dessen noch hinlänglich ...

Hackert's heit're Laune, die acht Tage lang von dem wundärztlich Zipfel'schen Ehepaar bewundert wurde, schien nur einigermaßen getrübt, als er nach Hause zurückkehrte und die Frau Wirthin etwas schmollend von – durchnäßten Fußböden anfing. Durchnäßt waren die Fußböden in Hackert's Zimmer durch nasse Tücher, die er sich Abends wieder um sein Bett legen mußte ... Sein Vater hatte ihn nach den Eisenstäben der früher von ihm bewohnten Zimmer gefragt und mit Schaudern und Wehmuth von seiner Mondsucht gehört ... O, hatte er ihm seufzend gesagt, mein Sohn, auch darüber sollst du Aufschluß haben, wenn es Zeit ist, dir Die zu nennen, die dir das Leben gab! Ich bin Schuld auch an diesem grauenvollen Übel! Und als der Sohn darüber erstaunte, hatte Zeck erklärt: Dunkel und tief ist das Reich der Natur. Wie ich dich so wiederfinde, mein Sohn, bist du wie unmittelbar erst aus der Hand der Schöpfung hervorgegangen. Du bist noch wie ein Kind vor Angst und Gelüst. Ein [3077] Zauberer würde dich erziehen mit Hülfe eines reinen Lichtwesens, das unter Musik aus den Wolken steigen und dich sänftigen müßte. Ach, deine Eltern sind dein Schicksal! Wo anders her kann es kommen, daß dich ein schlimmer Geist der Unruhe mitten im Schlafe befällt und dich dir selber unbewußt von deiner Schlummerstätte treibt, woher anders, als daß deine Mutter in jener Nacht, als sie dich unter dem Herzen trug, von einem Entsetzen ergriffen war – einem Entsetzen – doch genug –! ... Hackert hatte auch nicht forschen mögen. Er ehrte den Wunsch seines Vaters, ihm mit allen seinen Enthüllungen Zeit zu lassen. Und einstweilen hatte der wunderliche Alte mit dem Sohne fast einen ähnlichen Pakt eingegangen, wie mit Auguste Ludmer, die er nach seinem festen Glauben zu einem Engel umgewandelt hätte, wenn ihm nicht Mangold und die Intrigue seiner Feinde den Rettungsplan zerstört hätten. Auch so, sagte er sich oft zum Troste, auch in diesem Irrsinn, der sie dahin raffte, war sie reiner denn vordem. Was ist Irrsinn? Wer deutet dies Dunkel? Auguste kam ihm immer nur wie im weißen reinen Gewande vor die Seele, nicht als die verworfene Sünderin. Grade daß ihr der Himmel den irdischen Verstand nahm, machte ihm in der Erinnerung den Eindruck, als hätte sie eben die Sprache des Urgeistes schon reiner verstanden als die vernunftklaren Menschen.

An Paul, seinem Sohne, entdeckte Zeck freilich bald alle moralischen Fehle und schauderte vor seinem geistigen Tod. Er hatte gefürchtet, in seinem Kinde, wenn es noch [3078] lebte, vielleicht einen gemeinen Verbrecher zu finden. Das war Hackert nicht. Er hatte aber, wie Zeck sagte, an seiner Seele tiefen Schaden gelitten und bewies ihm dies, als Hackert ihm gestand, in welchem Incognito, vor aller Welt verborgen, er lebte. Ein Spion, hatte er ihm gesagt, allmächtiger Gott! Ein Spion ist nach meinem Begriffe eines der elendesten Geschöpfe der Welt! Du bist in diese Bahn gerathen aus sittlichem tiefstem Verfall. Du liebtest nur sinnlich. Dieser Schlurck hat durch seinen Leichtsinn und seine Schwäche, die er Herzensgüte nannte und die es wohl auch ist – denn, ewiger Gott, schaltete Zeck ein – die Geheimnisse der Seele sind unergründlich! – durch diese Mischung von Gut und Böse hat er dich um dein wahres geistiges Wachsthum gebracht. Deine Seele, mein Sohn, kommt mir vor wie jenes Tuch, das einst dem Apostel Petrus in der Stadt Joppe vor den Augen vom Himmel nieder gelassen wurde. Darin sah er allerlei Gethier der Erde, schlimmes Gewürm, aber auch Vögel des Himmels. Und er hörte eine Stimme, die sprach zu ihm: Stehe auf, Petre, schlachte und iß! Petrus aber sprach: O nein, Herr; denn es ist nie Gemeines noch Unreines in meinen Mund gegangen. Aber die Stimme antwortete Petro zum andern Male vom Himmel: Was Gott gereinigt hat, Das soll dir nicht gemein sein. Das geschah aber dreimal und als Petrus vom Geiste getrieben war, eben der Stimme zu folgen, da ward Alles in dem Tuche wieder hinauf gen Himmel gezogen.

Hackert hatte diese und ähnliche Reden seines Vaters, [3079] die er von einem Andern nicht ohne Lachen würde haben vernehmen können, ruhig und befremdet hingenommen. Er fühlte, daß grade sein Herz ein solches Tuch voll unheimlicher wimmelnder Unruhe und ängstlichsten unreinen Lebens war. Murray aber nahm ihn noch, wie er war und ohne daß er einzuräumen brauchte, er sollte sich verachten oder hassen. Der Vater beschloß, ihn gewähren zu lassen, so lange er wollte und wie er wollte. Fahre in deinem Leben so fort, sagte er. Verlange Geld von mir! Ich bin nicht reich und würde die große Bürgschaft des edlen Otto von Dystra nicht sogleich haben leisten können, aber ich habe so viel, um leidlich auszukommen. Und versprich mir, jeden Morgen aufrichtig zu erzählen, was du am Tage vorher gethan, wofür du Geld ausgegeben, was du mit Pax verhandelt hast! Ich werde dich über Nichts tadeln, ich versichre dich, mein Sohn, über Nichts. Ich werde auch Nichts verrathen. Aber die Nothwendigkeit, dich auszusprechen, wird dir lehrreich sein. Du wirst dadurch, daß du nicht Alles in dir ersterben, ersticken lässest, dein Herz zum Gegenstande deiner längeren Betrachtung wählen und dir selbst in's Auge sehen. Wo ein Geist der Spiegel des andern ist, findet sich der Eingang zur Wahrheit ... Und für seinen ängstlichen Zustand des träumenden Wandelns und Aufstehens gab ihm der Vater den einfachen und praktischen Rath, sein Lager mit jenen Tüchern zu umlegen, die Frau Zipfel so ärgerten. Lächelnd und milde sagte der Vater: Sieh, Fritz – ich nenne dich so lieber, als Paul – sieh, Fritz, da erschrickt [3080] sogleich der nackte Fuß und es bedarf der eisernen Riegel und Stangen nicht, die ja an ein Gefängniß erinnern.

Unmuthig über die Neugier seiner Wirthsleute ging Hackert eben in die Brandgasse zu seinem Vater. Er hatte, ihm gegenüber, ein Beichtbedürfniß bekommen, das seine ganze Seele erweiterte und leichter athmend machte. Er reflectirte zuweilen schon ohne Spott. Er urtheilte objectiv nach üblichen Voraussetzungen. Murray konnte erwarten, daß er sich bald von selbst von seiner gegenwärtigen Bahn abwenden und ganz an seinem warmen Vaterherzen vielleicht aufthauen würde.

In der That war Louise Eisold im Begriff, in den dem Schlosse Buchau nahe gelegenen Ort gleiches Namens zu reisen und ihre Geschwister mitzunehmen. Es drängte sie fort von hier und selbst der rauhe Winter schreckte sie nicht. Sie hatte Hackert wiedergesehen, ihn weicher, sanfter gefunden – von seinem Verhältniß zu Murray erfuhr sie nicht die volle Wahrheit – ihre Neigung für den dämonischen Jüngling war trotz seiner Beziehung zu Pax gestiegen. Da sie aber sah, daß nur Mitleid, nicht Liebe für sie in diesem Herzen schlug, nahm sie den Vorschlag Otto von Dystra's an, der sie besuchte, die Kinder kleiden, reichlich ausstatten ließ, ihr Mittel, soviel sie nur wünschte, zu Gebote stellte. Auch Dankmar Wildungen gehörte zu Denen, die ihr zusprachen, nach Buchau zu reisen. An eine Erfüllung der Wünsche des innigst betrübten Mangold dachte sie nicht. Auch saß ja noch der gute Danebrand ...

[3081] Dankmar und Hackert trafen nicht zusammen. Jenen machte die zweite verlorne Instanz seines Prozesses menschenfeindlich und düster. Er bedurfte recht der endlichen Ankunft seines Bruders Siegbert, um von seiner eisigen Verstimmung aufzuthauen. War auch die erste Stunde ihres endlichen Wiedersehens durch das Andenken an die verstorbene Mutter getrübt, so heiterte sich doch Dankmar's Stirn auf, als Siegbert von Plessen, von Randhartingen und vor Allem vom Ullagrunde erzählte. Seine Angst, der Bruder möchte von Selma liebend befangen sein, hatte sich gemildert, seit ihm Dystra den Brief zeigte, den Siegbert ihm über Olga und die Fürstin schrieb. Es leuchtete aus ihm unverkennbar das Interesse für Olga, den naiven, leider in eine gefährliche Schule gerathenen schönen Flüchtling hervor. Dankmar fragte nach Selma und hörte das Erfreulichste; der Zusatz, daß Selma ihm, dem Erzähler, abgeneigt wäre, machte ihn lachen und er gestand dem Bruder, daß in all seine innere Finsterniß der Gedanke an diese Begegnung mit Ackermann und dem Knaben Selmar ihm doch wie ein mildes Sternenlicht flösse. Erstaunen erregte ihm freilich anfangs die Mittheilung, daß Ackermann und Selma nie lange von ihm gesprochen hätten, ihn vielleicht gar nicht gründlicher kannten. Dann aber besann er sich und sagte lachend: Himmel, das ist ja natürlich! Sie halten mich für den Fürsten Egon!

Es versteht sich von selbst, daß Dankmar kein Recht zu haben glaubte, irgendwie Selma, die ihm als Ackermann's [3082] Tochter völlig Fremde, an sich zu erinnern. Auch Siegbert schrieb wol nach Hohenberg, aber nur an Oleander, mit dem sich ein inniger und gedankenreicher, wie wir sahen, leider schon bewachter Briefwechsel entspann. Louis Armand, der fast nur in seiner Werkstatt zu treffen war, tauschte mit Oleander nicht nur Gedichte und ästhetische Ansichten, sondern auch die Freude, ihn in den Kreis der Ideen eintreten zu sehen, der die Freunde verband. Je länger Oleander die Geistesleere und eitle Gesinnung der Vornehmen beobachtete, mit denen ihn die Winterzeit zusammenführte, je mehr er sich an Ackermann's klarer und ruhiger Objectivität stärkte und erhob, desto bekehrter fühlte er sich zu jenen Ansichten, die er früher mehr mit Gründen des Gemüths, ja wie er sich gestand, auch mit dem Vorurtheile eines gewissen Gelehrtenstolzes bekämpft hatte.

Während Dankmar ungetheilt strebsam arbeitete, wollte Siegbert auch wieder bei Professor Berg seinen alten Platz im Atelier einnehmen, wurde aber freilich durch die Beziehung zu Otto von Dystra, zu Rudhard und vor Allem zur Fürstin Wäsämskoi in seinem Schaffen oft gestört ...

Die Fürstin Adele Wäsämskoi hatte in der That mehr durch den Gegendruck ihres Kindes, das ihr plötzlich unter der Hand so jungfräulich sich entwickelte, als durch eigne bewußte Gefühlswärme für Siegbert Wildungen eine leidenschaftliche Neigung gefaßt. Im ersten Augenblick der Abreise Siegbert's gerieth sie in Verzweiflung. [3083] Sie glaubte, diese Abreise stünde im Zusammenhange mit Olga's Flucht. Als sie aber gewiß war, daß Olga bei ihrer Schwester, Siegbert auf dem Lande war, kämpfte sie mit dem Plan, ihn zu überraschen. Ihre Briefe, in denen freilich ihr Stolz und ihr Schicklichkeitsgefühl sich nichts vergab, waren voll Neckereien, sie werde ihm folgen, sein Treiben untersuchen, seine neuen Bekanntschaften prüfen. Dann aber zerstreute sie Otto von Dystra's Ankunft und das Studium dieses sonderbaren Charakters. Das innerste Wesen dieses Mannes war, schien es, die Universalität. Ein echter Sohn des neunzehnten Jahrhunderts begrüßte er jede nur irgendwie über das Gewöhnliche hervorragende Lebensäußerung wie ein Phänomen, das sein ganzes Interesse in Anspruch nahm. Mit Leidenfrost, den er einst aus Polen als Bedienten entführt hatte und den er als so vielseitig gebildeten Geist wiederfand, konnte er die bizarrsten Ideensprünge versuchen, mit Rudhard philosophiren, mit Dankmar über Rechtsfragen, mit Louis Armand über die Gewerbe reden, er war die verkörperte geistige Gourmandise dieser Zeit. Er schlürfte Alles ein, was die Zeit an seltsamen Gestaltungen bot. Er sammelte Kupferstiche mit Gelbsattel, Autographen mit Voland, Münzen, phrenologische Abgüsse, Alterthümer mit einer Menge von alten und neuen Bekanntschaften, die ihm alle selbst wieder von psychologischem Werthe waren. Sein Ideal waren Kongresse, große Industrieausstellungen, gemeinschaftliche Reisen, Vereinswirksamkeiten aller Art, wobei ihm selbst der [3084] Sozialismus Bedeutung gewann und überhaupt die Ideen der Neuerung nichts Schreckhaftes boten. Sein Tisch war von Prospekten, Aktien, Cirkulären zu Unterschriften nie leer. Jede angekündigte Schaustellung mußte er sehen, jede berühmte Persönlichkeit sprechen und sollte er sie mit seinem verwachsenen, aber behenden Körper erst unter einem Dache aufsuchen. Dystra war ein liebenswürdiger Mensch, voll Gemüth und Verstand, duldsam, theilnehmend an jedem Schmerz, hülfreich, wo er konnte. Für jeden Angriff hatte er eine Vertheidigung, für jeden Irrthum eine Entschuldigung. Die Frauen stritten um ihn, weil er witzig, voll treffender und doch Niemanden verwundender Einfälle war. Man machte ihm Geschenke, neidete sich um seine kleinen Billets, die immer einen witzigen Einfall brachten, und dennoch versank er nicht in Egoismus, sondern gehörte dem Allgemeinen. Auch gegen die Fürstin war der Freund ihres verstorbenen Gatten voller Aufmerksamkeit und ließ sie nicht im Mindesten fühlen, daß Rudhard, im Drange der Aufrichtigkeit, ihn, als einen edlen Menschen, den man nicht täuschen durfte, über den Stand der ganzen Familie au fait gesetzt hatte. Auch Anna von Harder, die den Winter in der Stadt wohnte, lernte Dystra kennen, obgleich die Musik das Einzige war, dessen Organ ihm zu fehlen schien. Dennoch trug er viel dazu bei, daß die Fürstin sich Anna immer inniger anschloß. Anna weckte wieder die musikalischen Talente der jungen Frau, die eingeschlummert waren. Sie gab ihr Anknüpfungen für das Bedürfniß, aus [3085] einer gewissen geistigen Ohnmacht herauszukommen und sich in klaren Empfindungen zu stärken ... Anna von Harder hatte nichts, was im Mindesten an das Bestreben erinnerte, für ihre, allerdings mehr religiöse, als poetische Weltauffassung Proselyten zu machen, aber diese Proselyten kamen von selbst. Ihre Ruhe, ihre erprobte Kraft im Dulden, ihre heitre Gottergebenheit und das emsige Walten um den weltscheuen, nur seinem Berufe und seinen Liebhabereien lebenden uralten Greis, ihren Schwiegervater, den wir bald näher kennen lernen werden, gaben ihr das Wesen eines so festen Mittelpunktes, daß sie unwillkürlich magnetisch anzog und sich eine Menge kleinerer, schwächerer Naturen an sie ansetzten. Die Fürstin Wäsämskoi gefiel sich alle Mal darin, von ihr wie ein Kind behandelt und wie neu erzogen zu werden und Rudhard, so sehr er der Geistesrichtung Anna von Harder's abgeneigt war, ließ Das gehen. Er störte sie nicht. Sah er doch, wie beruhigend dieser Umgang wirkte, wie der aufgeregte Vulkan ihrer Gefühle nachließ zu kochen und zu drohen. Er sah, wenn er an die Verirrung von diesem Herbste dachte, schon nur noch die Asche davon.

Nun kam freilich Siegbert zurück! Er war durch den Trauerfall, durch den Aufenthalt unter bedeutenden Menschen und die Abwechselungen der Reise männlicher, gereifter geworden. Er hatte immer etwas von jenen sanften, bestrickenden Männernaturen, die man mit den Christusköpfen vergleicht und sah dem Heilande, wo er [3086] mit blondem Haar dargestellt wird, in der That so ähnlich, daß ihn jede am Manne Gemüth und Nachgiebigkeit, nicht Witz und Thatkraft allein schätzende Frau hochverehren und lieben mußte. Aber nun war er männlicher denn je. Otto von Dystra erkannte seine siegende Wirkung auch sogleich und machte sich ihrer in Siegbert's Gegenwart kein Hehl ...

O mein Himmel, sagte er ihm mit der größten Aufrichtigkeit, als er neben ihm im Hotel de Rome um einen Kopf niedriger auf dem Sopha saß (Dankmar'n, der ihn einführte, gegenüber), o mein Himmel, was ist Das für ein ungleicher Wettkampf! Es gab Zeiten, wo ich den ansprechenderen Erscheinungen meines Jahrhunderts beigezählt wurde. Sie sind noch nicht gar zu lange vorüber; aber ich habe in dem Sande Arabiens und in Nubiens Wüsten zu schlechte Haar- und Hautpflege gehabt. Ich bin eine etwas lederne Mumie geworden und kokettire eigentlich schon mit meiner Glatze à la père Enfantin. Ich verdenk' es Olga nicht, daß sie Geschmack hat und jedenfalls ist die jetzige Chance, daß sie sich in Sie, Wildungen, verliebt hat, doch noch viel vortheilhafter für die Familie, als wenn wir in Odessa erlebt hätten, sie hätte sich liebend für irgend einen jungen tscherkessischen Häuptling erklärt und ihrem Kaiser die Schmach angethan, mit irgend einem Schamyl in den Kaukasus durchzugehen.

Siegbert sprach sich auf diese Selbstpersiflage offen dahin aus, daß er kaum annehmen dürfte, Olga würde in den Zerstreuungen Italiens und bei den eigenthümlichen [3087] Auffassungsweisen ihrer Tante lange ihm die Gesinnung erhalten, deren sie ihn hier gewürdigt hätte. Und Dankmar meinte gradezu, es ginge das Gerücht, der Maler Heinrichson wäre der Freund und Begleiter der Frau Gräfin d'Azimont und noch stünde es dahin, ob nicht sein gewählter Geschmack dabei eigentlich Olga im Auge hätte. Doch wurde diese vorschnelle Äußerung Veranlassung, daß Dystra sagte:

Nein, nein! Man irrt in allen diesen Voraussetzungen. Lesen Sie, was Olga hierüber an Rudhard geschrieben hat. Es ist ihr zweiter Brief, originell wie der erste und in der festgerannten eigenthümlichen romantischen Auffassung wiederum komisch genug. Ich gestehe dabei freilich, daß das Burleske in dem Gegensatz zu dem prosaischen nüchternen und aller Schwärmerei baaren und abholden Erzieher liegen mag.

Lieber Papa Rudhard, schreibt sie, lesen Sie! ...

»Lieber Papa Rudhard, dein Brief wurde uns nach Rom gesandt, in diese große und allmächtige Stadt, die Gott der Herr mit allen seinen himmlischen Heerschaaren selbst erbaut zu haben scheint. Hier ist nichts Gemeines! Hier ist Alles groß und unsterblich! Ach, Papa, ich las deine Warnungen und guten Lehren mit der Geduld, die man fühlt, wenn man Menschen reden hört, die Italien nicht gesehen haben. Es ist grade, als wenn du mir vom Nutzen eines transportablen Ofens sprächest und mir Vorwürfe machtest, daß ich nach Rom trotzdem, daß wir eine Espece von Winter auch hier haben, keine nordische [3088] Feuerung mitgenommen hätte. Ich bin, seit ich Italien sehe und alle diese herrlichen Kirchen, diese Villen, diese Paläste und den Baldachin des blauen Himmels und die dunkle Azurfläche des großen Meeres, mit Euch Allen eigentlich versöhnt und fühle nur noch Mitleid, keinen Haß mit Euch. Mein Tagebuch wird Euch vielleicht einst die Empfindungen sagen, die ich an jeder berühmten Statue, an jedem bewunderten Bilde, das ich sehe, in meinem Herzen belauschte. Ich ergreife alle Gelegenheiten, etwas zu lernen und antworte den dummen Stutzern, die uns besuchen und den Hof machen – es drängen sich in allen Städten besonders die Engländer und Russen an uns – immer mit antiquarischen Gegenständen, wodurch sie sich sogleich entfernen, wie Ungeziefer vor scharfen Gerüchen. Ich finde, daß ich dadurch vielen Vortheil vor andern Mädchen voraus habe, die sich nur darin gefallen, von hundert Männern immer dieselben faden Schmeicheleien zu hören. Diese Frauen sprechen immer nur von Musik, von schönen Gegenden, von guten Gasthöfen, ich aber lese Homer und Virgil und spreche dann auch darüber, was die Elegants nicht gut vertragen können. Natürlich wollen sie dann nicht ganz dumm erscheinen, aber sie wissen nur über England und seine Staatsverfassung, über Rußland, den Kaiser und das Militär zu sprechen, was ich ruhig, aber kalt anhöre. Baron Krutusoff führt mich jetzt durch die Museen und muß mir Alles sagen, was er über die Museen von Paris und Wien gelernt hat. Ich erstaune oft, wie unterrichtete Menschen, und ein [3089] solcher ist Krutusoff doch schon, dennoch so fade sein können und einer jungen Frau gegenüber immer sogleich ihren Verstand verlieren. Die Tante hört, weil sie schon sehr viel weiß, diese Schmeicheleien ruhig mit an.«

Weil sie schon sehr viel weiß! unterbrach Dystra lachend die Naivetät auch dieses Briefes. Dankmar und der Baron mußten Siegbert um Verzeihung bitten, der lächelnd erwiderte:

Wie könnt' ich über diesen Spott empfindlich sein! Ich habe Olga nie anders betrachtet, als wie ein gutgeartetes Kind, dem man nur Zeit lassen muß, seinen Weg zu gehen.

Darauf hin, sagte Dystra Beifall nickend, ist Ihr Bruder so gütig und fährt fort.

Dankmar las:

»Die Tante wird, weil sie schön und gut ist, von den eitlen Männern sehr belästigt, aber sie lebt nur ihren Erinnerungen und ihrem Schmerze. Oft beobacht' ich sie im Traume und höre, daß sie still für sich hinseufzt und ruft: Mein Egon! Mein Egon! Dann weint sie und ich weine mit ihr, weil ich sie ganz verstehe und ihr Schicksal in dem Leben selbst, in der Natur und in der Kunst wiederfinde. Denn alles Schöne ist traurig, ihr Menschen! Immer, wenn ich sehe, daß Andre bewundern, möcht' ich weinen. Die schönsten Madonnen und die edelsten Physiognomieen unsres Heilandes sagen alle: Unser Erbtheil ist der Schmerz und auf den weiten Ebenen, wo Kirchen, Kapellen, Ströme, Felder und Wälder sichtbar sind, liegt eine Melancholie ausgebreitet, die mich an meine früheste [3090] Kindheit erinnert, wo mir innerlich etwas wehe that, ich wußte nicht was, wo ich weinen mußte, ich wußte nicht wie, und wo ich nur Eines klar verstand: Deinen Tadel, Papa Rudhard, deine schneidenden Proteste gegen meinen stillen Hang zur Einsamkeit!«

Dankmar mußte inne halten und voll Überraschung Dystra und den Bruder anblicken ...

Charmant! charmant! sagte Dystra beistimmend und fast von aufwallender Liebe bewegt. Drei Männer, so die Entwickelung eines Mädchens kritisirend, boten Siegbert fast den Stoff eines Gemäldes. Er selbst blickte tief innenwärts und gedachte des Augenblicks, wo dies träumerische Kind einst an seine Brust sank und mit den großen braunen Augen ihn wie in eine unergründliche Tiefe blicken ließ. Dann horchte er dem Folgenden:

»Viel Belehrendes über das Schöne erfuhr ich auch von Heinrichson, der ein berühmter Maler ist und uns in Mailand begegnete, weil er auch nach Rom reist. Dieser Mann ist sehr schön und ich höre ihn gern reden, weil er Kenntnisse und Witz besitzt. Auch lieb' ich an ihm, daß er ...«

Lesen Sie's nur! rief Dystra dem stockenden Dankmar zu, der Siegbert sich entfärben sah ...

»Ich liebe an ihm, daß er der Freund meines Freundes ist« ...

Das geht doch noch! sagte Dystra und nickte Siegbert zu.

[3091] Siegbert fand, um auszuweichen, es vollkommen im Charakter Heinrichson's, sich bei Olga unter dem Schutze einer Lüge einzuführen. Mein Freund! sagte er staunend.

»Die Tante, fuhr Dankmar zu lesen fort, ist gegen Herrn Heinrichson kühl und gleichgültig. Er muß uns jetzt in Rom, wo wir ihn wiedergefunden haben, oft den Shawl und die Operngläser tragen. Ich glaube, daß er dies, so lächerlich es ist, gern thut, weil er die Tante liebt. Aber die gute Helene wird nie mehr lieben. Ihr Andenken ist dem unvergeßlichen Egon geweiht, den ich doppelt und dreifach hasse, weil er so viel Zärtlichkeit mit Geringschätzung erwidern konnte. Oft weint meine gute Helene, nimmt mich dann auf den Schooß und erzählt mir, worin Alles Egon so liebenswürdig gewesen ist. Seine Seele war kindlich und rein, spricht sie dann, er tändelte durch's Leben und Alles, was er wie im Spiele ergriff, hatte hohe Bedeutung. Ich weiß es auch, wenn ihn jetzt der Beifall eines ganzen Volks begrüßt und sein König ihm gestattet, alle Orden der Welt zu tragen und ihm den besten, den er selbst besitzt, umhängen mag, sein Herz wird nicht Ruhe haben. Ich weiß es, selbst im Besitz der schönen Melanie wird ihm oft weh um sein Inneres werden und in stillem Schmerze wird er ausrufen: Helene! Helene! Und dann tröst' ich sie, so gut ich es kann, indem ich ihr von den Schicksalen Valentinen's, Indianen's, Faustinen's erzähle. Auf alle diese edlen Frauen, deren Leiden Georg Sand und die deutsche Gräfin beschrieben haben, senkte sich das himmlische Manna der Ergebung und Erlösung herab. [3092] Ach, Papa Rudhard! Warum zürnst du so den Mönchen und Nonnen! Klöster hab' ich gesehen, Klöster ... mit Gärten, mit kleinen Cellen, mit heiligen Kirchen, in denen die Lichter brennen und Weihrauchdüfte die Seele emporziehen. Ach! so einen stillen Platz wie in Florenz und Genua oft die frommen Schwestern haben, Weinranken um das kleine Fenster, jeder Schwester ein Blumenbeet gehörend und das Alles jetzt, wo bei Euch der Winter schon tobt, noch so frühlingsfrisch, so maiblühend ... ich bin gewiß, die Tante bliebe in einem solchen Kloster, wenn sie nicht in Paris noch gebunden wäre« ...

Aha! sagte Dystra, Das ist das bekannte Ende! Das arme Kind wird methodisch ruinirt!

Aber Bitte! sagte Siegbert. Das noch einmal! Gebunden in Paris?

Dankmar und Dystra mußten gestehen, daß der Ausdruck: »Wenn sie nicht in Paris noch gebunden wäre« für eine eheliche Verpflichtung ein Triumph der modernen gesellschaftlichen Freigeisterei war. Siegbert aber im Stillen war über die Klosterschwärmerei seiner Olga doch tief ergriffen; denn er fühlte, daß diesem Triebe alles Das zum Grunde lag, was ihn selber beseligte, mochte er auch mit Klöstern nur in ästhetischer und kunstidealer Verbindung stehen.

Wir sind sogleich zu Ende, sagte Dankmar und schloß die Vorlesung:

»Ich wünsche Rurik und Paulowna die besten Weihnachtsgeschenke und bitte dich, Papa Rudhard, aus meiner [3093] Sparbüchse etwas für sie zu kaufen. Herr von Dystra hat sie, wie ich höre, sehr reich beschenkt. Es ist die Art der Menschen, die« ...

Lesen Sie nur! sagte Dystra, als Dankmar stockte ...

»Es ist die Art der Menschen, die nicht durch sich selber Interesse einflößen können« ...

Abscheulich! ... Dystra trat vor den Spiegel, seine Toilette musternd und auf den Fußspitzen sich erhebend ...

»Sich auf die Wirkung ihrer Geschenke zu verlassen. Wenn dieser Herr glaubt, dadurch auf mich vortheilhaft zu wirken, so bedaur' ich die Verblendung. Nach Allem, was ich von dem Baron höre, glaubte er in mir ein Kind zu finden, das ihm für seine Liebe die Hand küssen würde. So habt ihr mich ihm dargestellt ... nein, ich will diese Zeilen mit keinem Miston schließen. Sie kommen aus dem Lande der Harmonieen! Grüßt Die, die mich verstehen! Und wo meine Seele weilt, weißt du, Vater Rudhard! Ein Gott undeine Liebe! Das ist der Wahlspruch Eurer Olga Wäsämskoi.«

Als Dankmar geendigt hatte, bemerkte Dystra, zu Siegbert gewandt, der nachdenklich das Haupt stützte:

Sie werden gestehen, daß mich diese kleine Emanzipirte sehr falsch beurtheilt, wenn sie glaubt, daß ich nur gemeiner Empfindungen fähig bin! Gibt es etwas Heroischeres, als den Reiz, den mir dieser allerliebste Flüchtling verursacht, unterdrücken und dem Manne, dem sie ihr Herz so offen und frei anträgt, den ganzen Einblick in ihr Inneres zu gönnen, ja dasselbe ihm darzubieten? Ich [3094] bitte mir aus, daß Sie einen Dichter für diesen Gegenstand interessiren!

Herr Baron, sagte Siegbert und drückte dem wirklich trotz der Ironie bewegten Dystra die Hand, ich selbst werde volle Kraft besitzen, diese Neigung in mir zu ersticken. Wenn Olga unter allen Schmeicheleien, denen sie sich durch ihren gewagten Schritt ausgesetzt hat, die Ägide einer ihr heiligen Neigung durch mich sich schmiedete, so ist Das auf dem gefährlichen Boden, Heinrichson gegenüber und in der Umgebung der excentrischen Helene, vorläufig vortheilhaft. Ich bin der Stab, an dem das Pflänzchen aufwachsen mag. Ist es erstarkt, so wird es Ihnen ohne mich blühen. Warum sollten Sie nicht der Gatte Olga's werden? Es wird so kommen, nicht anders und seien Sie versichert, Ihre Güte, Ihr Vertrauen ist an keinen Unwürdigen verschwendet ...

Dystra schien nicht ohne Trauer. Offenbar waren seine Scherze über dies Verhältniß nur Deckmäntel seiner wahren Gesinnung, die in der That in alle Dem, was der dem Sonderbaren geneigte Mann von Olga erfuhr, einen lebhaften Stachel seines Interesses fühlte. Er hörte aber darum nicht auf, den Brüdern Wildungen mit voller Seele anzugehören und wurde nicht nur ihr »Freund«, wie der oberflächliche Ausdruck der großen Welt wohl lautet, sondern ihr geheimster Vertrauter und ihnen auch der Gesinnung nach wenigstens gleichgestimmt, wenn auch sein Skepticismus keine politische Schwärmerei aufkommen ließ.

[3095] Schwieriger war Siegbert's Begegnung mit der Fürstin. Die mußte doch endlich auch stattfinden. Die mußte doch irgendwie eingeleitet werden. Rudhard fühlte dies selbst, obgleich er inständigst bat, das Wiedersehen nicht zu übereilen und Siegbert's Rückkehr so lange geheim zu halten als nur möglich. Der rationalistische Kopf, der in seinem Priesteramte nur im Grunde einen Beruf sah, die Menschen aus unklaren religiösen Stimmungen aufzustören und Das für Religion gelten zu lassen, was Begriff, logische Thatsache war ... ihm geschah die wunderliche Nothwendigkeit, Siegberten zu rathen, am zweiten Adventssonntage in die Stadtkirche zu gehen und dort nicht weit von dem Stuhle, der Anna von Harder gehörte, die Fürstin zuerst flüchtig und vorläufig zu begrüßen. So vertraute er schon dem mildernden Gegendruck der religiösen Stimmung. Siegbert war nicht abgeneigt, die Fürstin auf diese Art zuerst zu sehen. Propst Gelbsattel predigte und diesem hatte er ohnehin der Schönau'schen Empfehlung wegen zu danken. Anna von Harder und die Fürstin, in Pelze gehüllt, waren unter dem immer gefüllten Auditorium, das der gefeierte Kanzelredner trotz seiner Opposition gegen die Zeit und ihre Strebungen versammelte. Siegbert grüßte sie, als die wie immer geistreiche, aber innerlichst unwahre Predigt vorüber war. Die Fürstin erblaßte und wartete den Segen nicht ab, ohne den Anna von Harder nicht gehen wollte. Auch Anna erkannte Siegbert und grüßte mit der ganzen Huld, die ihr immer in jeder Lage eigen war ... Nun sah Rudhard freilich [3096] mit Schrecken, daß die Fürstin, kaum nach Hause gefahren – die Livrée Grün mit Gold trug noch immer Peters – in einen heftigen Weinkrampf ausbrach, nicht zu Tisch kam, die Kinder von sich wies, sich einschloß und mit allen Leidenschaften ihrer aufgeregten Brust kämpfte; allein es war doch, als Siegbert dann einige Tage später wirklich kam und nun vor ihr saß, der erste Sturm glücklich vorüber und gefaßter und würdiger konnte ihm Adele Wäsämskoi die Hand reichen und mit ihm über ihr Leben, ihren mannichfach veränderten Umgang, über seine inzwischen erfahrenen Schicksale sprechen ... Dann kam Weihnachten heran ... Die Kinder schmiegten sich wieder dem alten Freunde an ... Rudhard zwar zuckte die Achseln und die Fürstin nahm Siegberten wie früher als ein Element, das zu ihrem Leben gehörte, wenn auch ohne Leidenschaft, ohne irgend eine Zumuthung ihrer schlummernden Gefühle. Doch von Olga durfte nicht gesprochen werden, auch von Dystra nicht viel, der ihr, wie sie sich auch schon ausdrückte, nicht »sympathisch« war. Rudhard blinkte Siegberten bei diesem Worte zu und sagte ihm später im Vertrauen, daß dies eines jener Wörter wäre, die Adele hier nun auch schon aufgriffe und gegen die er vergebens den Don Quixote, den Gil Blas, Tausend und eine Nacht und ähnliche, wenn auch altbackne, doch bewährte Lectüre empföhle, deren Wirkung sich bei Peters noch immer sichtbar zeige, denn Der ließe seine Frau ruhig schalten und walten in dem Etablissement der Herren Hitzreuter und Niemand ertappe ihn mehr [3097] auf melancholischen Scheidungsgedanken, im Gegentheil spekulire er, wenn seine Katherine einige Tausend Thaler zusammengebracht hätte, sich irgendwo auf eine solide Ökonomie zurückzuziehen ...

Von Dankmar berichten wir noch, daß er gegen Weihnachten mit Siegbert eine jener Ausstellungen, die um diese Zeit die vornehme Welt zur Unterstützung wohlthätiger Zwecke veranstaltete, besuchte und dort auch Fräulein Friederike Wilhelmine von Flottwitz wiedersah. In einem großen Saale, wo Gräfinnen und Baronessen vor zierlichen kleinen Boutiken die eingelieferten Gegenstände verkauften, behauptete sie einen Stand, der dicht an einer großen Blumendecoration errichtet war, die dem Gipsbrustbilde des Königs galt. Dankmar, der sich dieser Begegnung nicht versah, grüßte lächelnd. Das Fräulein erwiderte hocherröthend. Der Saal war nicht übermäßig gefüllt, doch auch nicht leer. Die Mode dieser Verkäufe war schon etwas im Absterben, sie erschien als ein zu weltlicher Vorläufer der »innern Mission.« Es fand sich Gelegenheit, daß Dankmar an den Verkaufstisch des Fräuleins treten konnte, wie dieser grade leer war – seinen Bruder Siegbert fesselte Frau von Trompetta an einem andern Stande – zum Schrecken für seine Börse, die nicht ausreichte für die Fülle von jolis riens, die Frau von Trompetta schmetternd anzupreisen wußte. Die Trompetta wollte um jeden Preis das reichste Ergebniß der Ausstellung erzielen. Ihre Kasse mußte die einträglichst gewesene sein und dadurch verfiel die gute Frau förmlich [3098] in ein Locken, Zwitschern und Verführen jedes Vorübergehenden, sodaß man in ihr wirklich ein Talent für den Handelsstand entdeckte und es von den andern verletzten vornehmen Damen vielfach rühmen hörte, wie gut sie »schachern« könne. Den armen Siegbert ließ die Trompetta unter fünf Thalern wenigstens nicht von dannen. Das war ein Preisen, ein Schäkern, ein Kichern und dabei ein Predigen über Liebe und Wohlthätigkeit, Das war ein Forschen, ein Fragen nach den Schicksalen des so lange nicht Gesehenen! Und als sie ihm nun gar noch mit Gewalt einen bunten Lappen zum Tinteausspritzen um einen Thaler empfehlen wollte, kam ihm glücklicherweise die Fürstin Wäsämskoi, mit der er sich hier ein Rendezvous gegeben hatte, zu Hülfe und kaufte so stark, so guten Humors, daß die Trompetta alle Chronique scandaleuse über ihre guten Geschäfte vergaß und im Jubel über die gefüllte Kasse alle sittlichen Irrthümer der Welt mit dem Schleier der Vergessenheit bedeckte ... Dankmar'n aber ging es nicht so gut.

Fräulein Wilhelmine, hocherröthend über diese ihr trotz der entgegengesetzten Meinung so theure Begegnung, hätte von den Offizieren, die bei ihr hatten kaufen wollen, vielleicht nicht einmal viel eingenommen. Sie hielt sie aber auch nicht fest, selbst wenn sie gefülltere Börsen hätte voraussetzen dürfen. Dankmar'n aber ließ sie nicht, was ihm Geld kostete. In ihrem fesselnden Gespräche mußte er doch wol Falzbeine, Briefbeschwerer, Börsen, Federputzer, eins nach dem andern erstehen. [3099] Das politische Thema war dabei sogleich im Gange, sogleich mußte sie den kleinen Scherzen Dankmar's über die Gypsbüste des Königs in ihrer Nähe Rede stehen und ihm die Lehre geben:

Sie Unverbesserlicher! Spotten Sie schon wieder? In diesem Bilde liegt der allmächtig ausströmende Zauber einer Persönlichkeit, die der Träger unsrer theuersten Begriffe ist! Für mich knüpft sich an diesen edlen Jünglingskopf, der so traurig auf seine ernste Lebensaufgabe herniederzublicken scheint, doch die ganze Geschichte unsres Vaterlandes, die Vergangenheit und die Zukunft und der regelmäßige Gang unsres früheren Staatslebens und der Schmerz um die gestörte Ordnung dieses Ganges und die Verzweiflung über die neuen Bahnen, die er jetzt wandeln soll und die, wir ahnen es, zu seinem Verderben führen werden. Ja! Ja! Sie Böser! In den wogenden Schwankungen des öffentlichen Lebens was bleibt sicherer, als die geheiligte Person des Monarchen, der da sagen kann: Ich, der Fürst und der Herr? Wo ist denn auch ein Wesen, das öffentlich wirkt und von uns mit ganzer Liebe erfaßt werden kann? Sie sprechen vielleicht von Ihrem Freunde Egon von Hohenberg, wenn er noch Ihr Freund ist? Er ist lobenswerth, seit er seinem Könige und Herrn dient, aber wer kann sich an ihm wie an einem Anker halten? An diesem Bilde halten wir uns. Wo der Herr und König steht, da stehen unsre theuersten Güter, da steht das Vaterland, die Ehre der Monarchie, der Ruhm des Kriegsheeres, Güter, die Sie gering achten mögen, die [3100] aber in den Zeiten der Gefahr die einzige sittlichberechtigte Entscheidung geben.

Dankmar zog die Börse und zahlte schon den dritten Thaler für einen kleinen Wandhaken, um eine Uhr daran zu hängen. Seine Finanzen waren seit geraumer Zeit so schwierig, daß ihm diese Uhr selbst in Gefahr scheinen durfte, nun trotz des Wandhakens.

Sie sind eine Schwärmerin, mein Fräulein, mußte er sagen, als sie ihm den Haken in eine reaktionäre Zeitschrift wickelte. Sie huldigen Ihren Göttern wie eine geweihte Priesterin. Ich ehre Ihre Weihe, fliehe aber Ihre Altäre. Diese Altäre verlangen Menschen-und Begriffsopfer. Dieser Kultus gibt verbrecherisch Alles hin, was seit Jahrhunderten von der Menschheit für die Menschheit erstrebt wurde. Ihre Freunde sind mir grauenvoll; ich hasse sie. Verrathen Sie mich da dem Rathe, dort jenem Obersten, dem Kammerherrn ... ich mache Platz; ich hindere Sie am Verkaufen.

Nein, bleiben Sie! ... Also keine Abhängigkeit, keinen Gehorsam, keine Liebe mehr?

Abhängigkeit, Gehorsam, Liebe! Auch diese Empfindungen sollen in's öffentliche Leben zurückkehren, ja sogar seine Stütze werden. Aber da – diese Reubündler, sie wollen ja nur vom Fürsten und seinem Glanze abhängig sein, um in der Sonne der Majestät mit zu glänzen. Diese abscheuliche royalistische Eitelkeit! Zu tief in das feudale Europa hat sie sich eingenistet! Sie sind auf dem Wege, daß der Glanz der Dynastieen zu einer allgemeinen [3101] Landes- und Volkssache erhoben werden soll und in gräßlicher Überspannung ein Staatsleben geschaffen wird, das eine Sünde gegen Gott ist.

So gereizt war Dankmar seit einiger Zeit, daß er selbst bei solcher Gelegenheit nicht mehr spielen und tändeln konnte. Die Gruppe der Blumen und des Monarchen war von vornehmen Damen und Herren umstanden und mit Entzücken betrachtete man den Einfall, auch das Landeswappen aus einigen Kränzen darzustellen.

Sie sehen, sagte Fräulein von Flottwitz, Sie kommen mit Ihrer destruktiven Kälte hier nicht durch. Ein Ewiges, das in die Herzen der Menschen gepflanzt wird, widerlegt Sie.

O, ich kenne dies Ewige und ehr' es, antwortete Dankmar, der sich gereizt entschloß, noch einen halben Thaler an einen bunten Kalender für's neue Jahr zu wagen. Ich will die Bescheidenheit, das Abhängigkeitsgefühl, die Hingebung nicht ausrotten; aber es soll hinübergelenkt werden in Gebiete, die unsrer würdig sind. Da! Dies ist ein reicher Leinenhändler, der dem Hofe das Tischzeug liefert. Er kauft eine Kokarde bei Gräfin Mäuseburg! Er zahlt einen Louisdor. Guter Hoflieferant! Du widerlegst den Rousseau nicht mit deinem Louisdor! Das da ist der Meister von Tisch und Stuhl im Reubund; er ist Seifenlieferant der Prinzen und muß sich gut stehen mit dem Tischzeughändler. Einer verräth des Andern schlechte Waare nicht. Sie geben sich den brüderlichen Handschlag! Kennen Sie jenen Regierungsrath? Er ist von Adel, hat [3102] aber kein Vermögen. Dem ist Alles gleichgültig, Geschichte, Philosophie, Politik, Alles ist ihm dummes Zeug, nur am ersten jedes Quartals sein Gehalt vom Kanzleidiener gebracht, das Übrige kümmert ihn nichts. Denken Sie, wenn diese Menschen fürchten sollten, fürchten zu müssen! Sie kämpfen für den Heerd, das Leben ihrer Familien! Sehen Sie jetzt die Sicherheit jener Frauen! Wenn solche Ober- und Vice- und wirkliche Geheime je etwas entbehren sollten, wenn einst der Mann sagen sollte: Kind, von Neujahr an müssen wir uns einschränken! Die Demokratie setzt die Gehalte herab, besteuert sie, wie jedes Einkommen besteuert wird! Ich sehe da Furien, nicht Weiber mehr. O mein Fräulein, nicht Alle schwärmen, wie Sie! Blicken Sie auf jenen Professor! Er trägt einen berühmten Namen, ist aber auf die Orden, die seine Brust schmücken, eitler als auf die Werke, mit denen er die Wissenschaft bereicherte. Jener Geistliche! O diesen veracht' ich vollends. Die Polizei schickt ihn in die Volksversammlungen und Clubs, um sich der Debatte zu bemächtigen. Hören Sie dies Organ, diese Lunge, diese Stentorstimme und diese Grobheit bei aller scheinbaren Artigkeit, mit der er eben eine Streusandbüchse von Frau von Trompetta erhandelt. Lesen Sie doch ein wenig in den Mienen jener geschmeichelten Pfahlbürger und Rentiers, die jetzt eintreten, um hier so nahe bei Excellenzen und Beamten weilen zu dürfen. Dort jene Gruppe! Hohe Offiziere, dicht nebeneinander. Ich wünsche ihnen den Ruhm der besten Schlachtfelder, aber ich bestreite, daß diese [3103] alten Herren berechtigt sind, Meinungen über den Staat auszusprechen. Sie haben Söhne, sie haben Enkel zu versorgen. Der Staat, wie er jetzt einmal ist, gibt ihnen die Bürgschaft leidlicher Erfüllung ihrer Hoffnungen, warum sollten sie das dumme ideale Zeug denn nicht hassen, das jetzt in den Menschen sich einzunisten droht? Kennen Sie jenen Mann mit dem Schnurrbart? Er vertritt mir jene jungen Beamten, die Carrière machen wollen und den auf den Universitäten eingesogenen Corpsgeist auf das gemeine Leben übertragen und grob und malitiös fortpflanzen. Ach, mein Fräulein! Soll jener Spekulant da die Zeit nicht hassen, die ihn zwang, seinen Wagen und seine Pferde abzuschaffen? Und jene Offiziere, die dort Wühlhuber's und Robert Blum's Bildnisse aus Dragée kaufen! Ich gönne ihnen allen Humor und alle Genüsse der Jugend; aber welcher Übermuth spricht aus ihren schlechten Witzen! Wie rasseln sie mit ihren Friedenssäbeln! Wie ersetzen sie das bescheidene Nachdenken, das ihnen schön stehen würde, mit der Prahlerei einer ultra-konservativen Gesinnung! Es sind Offiziere von der Garde, alle sind sie adlig, ihre Väter und Onkel sind Offiziere, Beamte, Landräthe ... Mein Fräulein, wenn ich mir sagen muß, daß die Zeit noch mit diesen Elementen fertig werden soll, so gerath' ich in Verzweiflung. Ich sehe hier nur einen Kampf auf Leben und Tod. Ich begreife, wie es in Frankreich bis zur Guillotine kommen konnte. Sagen Sie mir, welche Aussöhnung soll es noch geben, wenn die Monarchie diese Idolatrie duldet, die Ministerien sie gestatten, [3104] hervorrufen, sich auf ihre Demonstrationen stützen? Oder wo wird der Begriff herkommen, der sich einst vom hohen Himmelsthron herabsenken müßte, um hier eine friedliche Ausgleichung zweier Extreme in einem höheren Dritten möglich zu ma chen? Es wird keiner kommen oder es ist der Begriff der Barbarei, die Invasion der orientalischen Horden oder die entfesselte Wuth der sozialen Gleichmacher. Wir stehen hier unter Blumen, Glaskronen, umrauscht von einer versteckten sanften Musik, aber ich sage Ihnen, in zwanzig Jahren wehen hier Trauerfahnen und wir Alle sind weggemäht vom Schnitter, dessen Sichel ich schon in furchtbarster Arbeit sehe, ohne zu wissen, wo sie Alles einst hinfahren wird und von wannen sie einst kommt!

Dankmar ergriff, um seine Aufregung zu verdecken, einige der ausgestellten Gegenstände ...

Wilhelmine schwieg. Sie war so erschüttert, daß sie das Auffallende dieses langen Verweilens eines jungen Käufers an ihrem Stande nicht merkte und die über den ganzen Saal hinübergeschossenen Blicke der im Verkaufe glücklichen Trompetta nicht verstand ...

Alle seine heftigen Äußerungen verband Dankmar dann wieder mit scheinbar gleichgültigen Fragen und Erwiderungen, die er über den Tisch hinweg wegen entfernter oder näherer Spielereien that. Niemand im Saale, außer Friederike Wilhelmine konnte ahnen, wie bewegt er war ...

Sie können sich so mäßigen, Herr Wildungen! sagte [3105] sie. Sie können so den Ton treffen, der immer der gute ist! Wie oft hab' ich Sie beobachtet! Alle Welt kennt Ihre Gesinnung und sonderbar, Niemanden verletzt sie. Und ich nenne Das an Ihnen aristokratisch. O, Sie wissen gar nicht, wie aristokratisch Sie sind.

Dankmar mußte lachen ...

Lachen Sie nicht! Ich wünschte wol, Jeder wüßte sich zu beherrschen ... Sie haben Takt – Takt ist eine der schönsten Tugenden des Menschen! Ich wiederhole ein Wort der edlen Anna von Harder: Takt ist der Verstand des Herzens. Den Verstand des Verstandes kennen wir, den haben Tausende! Den Verstand des Herzens haben Wenige; Wenige dies sichre Gefühl, was Andern wohlthun, was sie verletzen könnte. Der echte, wahre Takt ist keine kalte Welttugend, keine bloße Formenglätte des Benehmens. Der Taktvolle kann im Grunde nur ein guter Mensch sein und ein bescheidner. Wie hab' ich bei der Fürstin Wäsämskoi Ihren Takt bewundert! Sehen Sie! Sie kommt daher ...

Dankmar zahlte eben den vollen vierten Thaler für einen Scherz, den er Armand verehren wollte und wollte nun gehen, da er die Fürstin zu vermeiden wünschte. Doch fesselte noch eine andere »Boutike« die Fürstin ...

Noch Eins! sagte Fräulein von Flottwitz. Beruhigen Sie mich, daß Sie sich nicht in Gefahren begeben. Vermeiden Sie diesen Louis Armand, diesen Leidenfrost, den verrätherischen Major von Werdeck – ich beschwöre Sie – es ziehen sich Ungewitter über Ihnen Allen zusammen –

[3106] Wildungen! Lassen Sie von dieser entsetzlichen Verblendung Ihrer Gesinnungen! Werdeck hat sich nicht vertheidigen können. Er behält den Hausarrest, seine Papiere sind in Beschlag genommen ...

Dankmar wollte erwidern. Sie wurden von Offizieren gestört, die ihre Freischärler und Wühlhubers von Chokolade und Dragée durch den Saal wie Siegstrophäen trugen und die Bärte dieser wilden Kerle analysirten ... Sie blieben bei Fräulein von Flottwitz stehen.

Dankmar ging. Mit flüchtigem Gruß huschte er an der Trompetta, die ihn doch auch noch ausbeuten, wenigstens nach seinem Prozeß fragen wollte, vorüber. Wehmuth ergriff ihn über die Welt, die Zeit, auch über dies vielbewunderte und vielverspottete Mädchen. Ob seine Einwände auf Friederike Wilhelmine von Flottwitz Eindruck gemacht und ihre Ansichten berichtigt hätten, mußte er bezweifeln. Solchem Fanatismus gegenüber war keine Verständigung möglich, selbst durch die Liebe nicht und wahrhaft schmerzlich ergriff es ihn, daß ein Wesen so reiner, lichtreiner Natur, so liebenswürdig, so aufopferungsfähig, so heroisch und charaktervoll, ein Wesen, vielleicht ganz geschaffen, auch ihn zu verstehen, ihn selbst glücklich zu machen, doch durch den Zwiespalt der Zeit ewig von ihm getrennt und für ein Andersdenken völlig unempfänglich war ... Ein Weib in seinen Armen zu halten, das eine von seinem innersten Menschen getrennte Selbständigkeit beanspruchte, wäre ihm fürchterlich gewesen. Dies Mädchen, so reizend, so poetisch, so weihevoll [3107] gestimmt ... es liebte ihn ... er sah es ... und ihn selbst durchzuckte es, als er einen Augenblick beim Berichtigen seiner Einkäufe leise ihre Finger berührte. Er konnte sich denken, wie treu, wie hingegeben, wie seelenvoll Wilhelmine an ihm hängen konnte; er fühlte die Kraft ihres Willens, ihrer hohen Weiblichkeit in ihn überströmen durch diese einzige Berührung, durch den wehmüthigen Abschiedsblick und doch getrennt – doch furchtbar getrennt! – Es überrieselte ihn kalt, als er solcher Geheimnisse der Zeit gedachte und es bedurfte mehrer Tage, bis er sich von dem schmerzlichen Eindruck dieser Begegnung erholen konnte. Ein weibliches Bild, das ihm da dann immer lächelnd und tröstend entgegentrat, blieb Selma. Wie sehnte er sich nach dieser Gestalt, nach diesem Wiedersehen! Doch nahm ihn der Ernst des Augenblicks zu sehr in Anspruch ... Über Werdeck's Brief las man in allen Zeitungen das Empörendste. Und Dankmar wurde sogar von dem halbgefangenen Major ersucht, sich ihm eine Weile fern zu halten ... In wenig Tagen hofften die Freunde die Berichtigung dieser gefahrdrohenden Irrungen.

[3108]
15. Capitel. Stürme
Fünfzehntes Capitel
Stürme

Fürst Egon von Hohenberg ging auf der Bahn, die er sich einmal vorgezeichnet hatte, unerschrocken weiter. Das sichre und feste Auftreten, das jeden seiner Schritte bezeichnete, verlieh ihnen eben so vielen Erfolg, wie die allgemeine Abspannung einer Zeit, die nach manchem Sturm und Wirbelwinde sich auf dem noch so haltlosen Platze, wo sie sich grade befand, doch erst zurechtfinden und mit dem nächsten Bedürfnisse wieder vermitteln wollte. Major von Werdeck bezeichnete Das in seiner Weise einst unter den Freunden, die voll Kummer die über ihn verbreiteten falschen und lügnerischen Berichte vernahmen, mit den Worten:

Es muß doch nun Jeder erst wieder sehen, was inzwischen aus seinem Kraut- und Rübenacker geworden ist! Die gekündigten Kapitalien müssen doch erst wieder neu angelegt werden, die Staatspapiere ein wenig höher auf der Skala des Vertrauens steigen. So rasch geht Das nicht Alles! Wenn man marschirt, macht man immer nur so lange Tour, bis die Arrièregarde, das Bagage- und Trainwesen in Ordnung ist. So lange ruht man. Dann geht's weiter.

[3109]

Und ... setzte er in seinem noch ungestörten Humor damals hinzu. Die vielen Mädchen, die inzwischen mannbar geworden sind! Für die muß doch auch erst wieder ihre Zeit kommen. Es müssen doch erst wieder Hochzeiten gemacht werden. Der große Lebenszweck darf doch nicht aussterben. Das geht nicht, daß sich Alles ewig und immer in prekärer Unklarheit so fortwälzt und nicht mehr Bälle und Verlobungen stattfänden. Nein, da sorgen schon die Mütter für. Die stemmen sich mit Riesenkraft gegen den rollenden Wagen der Zeit und legen seinen Rädern ihre Hauspantoffeln als Hemmschuhe unter. Die eigentliche Aufgabe des Menschengeschlechts, die Familie und ihre Versorgung, darf nicht zu kurz kommen und die Kaufleute und Krämer und Handwerker wollen doch auch einmal erst ihre Handlungsbücher wieder revidiren und ihre Kundschaft begrüßen; hernach mag's weiter gehen!

Werdeck behielt seinen Gleichmuth trotz drohender Vorboten einer Katastrophe, die ihn gegen das Frühjahr vernichtend traf. Man hielt ihm mehre Briefe entgegen, in denen seiner als eines Vertrauten und Eingeweihten fremder Emissäre Erwähnung geschah. Ja von einem Briefe war die Rede, den er selbst an Flüchtlinge geschrieben hätte. Zwar bekam der Angeschuldigte namenlose Zuschriften, die ihm anzeigten, daß es sich hier um ein boshaftes Komplott und eine großartige, weitverzweigte Fälschung handelte, aber ein Eklat war doch grell genug gegeben und Werdeck mußte sich einstweilen zur [3110] Disposition stellen lassen. Er schied mit Schmerz von seinen Kriegern, aber auch voll Bitterkeit. Die Untersuchung wurde parteiisch geführt, aber es fanden sich doch Zeichen, daß Werdeck's Verbindung mit irgend einem Geheimwesen nicht aus der Luft gegriffen war – ein Bund war da – Werdeck war das erste Opfer des Kleeblattsymboles – er mußte seinen Degen geben und, als er ihn später wieder empfangen sollte, sich einen Hausarrest gefallen lassen. Im Zorn zerbrach Werdeck diesen Degen und verschlimmerte dadurch seine Sache. Man nahm seine Papiere in Beschlag; man fand Aufsätze über Veränderung der Heerverfassung, Tagebücher über Dienstverhältnisse, die alle nur dazu beitragen konnten, den Triumph seiner Gegner zu erhöhen. Die ganze Schmach, die über einen aus dem Bann seiner Dienstetikette herausgerissenen Krieger von den üblichen feudalen und kriegsrechtlichen Vorurtheilen verhängt werden konnte, lag schwer auf dem unglücklichen Manne, der nach der Befürchtung seiner Freunde leicht damit enden konnte, sich eine Kugel vor den Kopf zu brennen. Werdeck konnte sich nicht ganz vertheidigen. Er war in der That Mitglied eines Bundes, über den er jede Auskunft verweigerte ...

Auch den Freunden drohte Gefahr. Ihre Verbindung mit Egon war für immer abgebrochen. Einmal noch hatte Egon, der Allmächtige, an Louis Armand im alten Tone geschrieben und ihn gebeten, zu einer bestimmten Stunde sich bei ihm einzufinden, sich mit ihm zu verständigen. Er [3111] hatte ihn gewarnt vor Verbindungen, die er nicht näher angeben wollte. Er hatte ihn nicht ohne Herzlichkeit bei der alten Freundschaft beschworen, zu ihm zurückzukehren und sich durch den Weg, den er als Staatsmann genommen, nicht beirren zu lassen. Louis Armand hatte ihm herzlich, aber ablehnend geantwortet.

Du hast, mein Egon, schrieb er ihm, den Traum deiner Jugend ausgelebt! Er war schön ... und heilig bleib' uns die Erinnerung! Deine Fußtapfen werd' ich einst in Frankreich wiederfinden und Thränen sollen sie benetzen. Ich denke mir, es ist nur der irdische Stoff, der unsre Seelen auseinander trieb. Unser Ideal ist vielleicht noch immer dasselbe, nur daß ich mit einer Handvoll Arbeiter und einigen unabhängigen Denkern philosophire, du aber mit einem mächtigen Thron, einer stattlichen Kirche, einem gerüsteten Heere – ich glaube wohl, daß die positive Welt ihre eignen Bedingungen hat. Du besitzest einen hohen Bildnergeist. Du willst schaffen und achtest des Materials nicht viel, wenn es nur die Spuren deiner Hand annimmt. Die find' ich reichlich in deiner Regierung und die Art, wie du willst, macht dir alle Ehre, wenn auch Das, was du willst, mich anweht, wie das kalte gräßliche Wort: Wir haben uns furchtbar aneinander getäuscht! Ein Fürst, der die Laune hatte, Arkadien zu spielen, konnte in arkadischen Zeiten ewig der Freund des armen Ziegenhirten bleiben, den er in den Bergen liebgewann. Jetzt aber, wo die Ziegenhirten, barfuß und in Lumpen, selber aus den Bergen hervorkriechen und die Anmaßung [3112] besitzen, über die Welt, nicht blos über eine Panflöte, eine Meinung zu haben, jetzt hält sich ein solches Arkadien nicht lange, seine Ölbäume hängen trauernd ihre Zweige und seine Gipfel sind in Schnee gehüllt ...

Egon hatte auf diese theilweise in Versen geschriebene Epistel immer noch warm und bittend geantwortet. Louis verstummte. Später schrieb ihm der Fürst noch einmal, er müsse ihn wegen seines Umgangs mit Leidenfrost, Dankmar, Werdeck, besonders aber wegen seiner Besuche in der Willing'schen Fabrik und seiner Einwirkungen auf die Arbeiter warnen, er schickte sogar Agenten und Vertraute zu ihm. Louis erklärte, er wäre sich keines Misbrauchs der ihm hier bewilligten Gastfreundschaft bewußt, ja er hätte Beziehungen seines Ursprungs entdeckt, die ihm Heimatsrechte gäben. Tags darauf bekam er die Ausweisung aus der Stadt und der ganzen Monarchie. Es war dies dieselbe Zeit, wo Werdeck schon vor dem Kriegsgericht stand. Louis war zu stolz, Einspruch zu thun. Er nahm Abschied von Dankmar, Siegbert, Dystra, der sich den Freunden theilnehmend erhielt, wollte auch zu Leidenfrost, erfuhr aber, daß dieser, der schon seit seiner Rückkehr vom Ullagrunde seiner Grabesrede wegen unaufhörlich verfolgt und natürlich auch sogleich von der Excellenz von Harder aus seiner offiziellen Sphäre verbannt war, bereits gefangen säße. So blieb ihm nur Zeit, noch die uns bekannten Zeilen an Franziska Heunisch zu schreiben, Jagellona Werdeck zu trösten, die heldenmüthig jeden Trost ablehnte, von Murray [3113] Abschied zu nehmen, der absichtlich die Wohnung der Louise Eisold behielt, sich unter seinem englischen Namen als Kupferstecher behauptete und über das Vorhandensein eines Paul Zeck unter dem Siegel der Verschwiegenheit an Louis überraschende Mittheilungen machte, seine geschäftlichen Angelegenheiten zu ordnen und eine Stadt zu verlassen, die er unter so völlig entgegengesetzten, Gemüth und Geist so völlig anders ergreifenden Verhältnissen begrüßt hatte. Er begab sich vorläufig nach Belgien mit einer Empfindung, an die sich unsre Zeitgenossen gewöhnen müssen. Es ist dies das plötzliche Entrücktwerden aus einer im vollen Gange begriffenen Lebensthätigkeit, mitten aus dem angefangenen Worte, mitten aus dem kaum sich selbst klar gewordenen Gedanken heraus, mitten aus der liebenden Einwurzelung und Verrankung in theuerste Herzen, in häusliches Glück.

Dankmar und Siegbert waren gefaßt auf's Äußerste. Weichen wollten sie nicht. Sie lebten in ruhiger Pflichterfüllung eine Weile hin, wirkend zwar für den großen Bundeszweck der Brüder und Ritter vom Geiste, wirkend und werbend für dessen immer größre und in der That wunderbar wachsende Verbreitung, aber besonnen, emsig beschäftigt mit Kunst, Wissenschaft und der Aufgabe, nun noch den letzten Versuch zu machen, ob nicht vor dem Obertribunal, vor jenem geheimnißvollen Oberpriester des Rechts, dem uralten Greise von Tempelheide, jener Anspruch geltend gemacht werden konnte, an den [3114] sich Dankmar jetzt schon krampfhaft klammerte nicht als Anker für sich, sondern als Steuerruder für das Fahrzeug seines Ordens vom vierblättrigen Kleeblatt. Wie war's damit? Wie man auf die Wiese geht und sieht in den Millionen Kleeblättern gleichsam die eine, große, ganze Menschheit, so harmlos, oberflächlich, einig, gleichbedeutend war den Uneingeweihten der Anblick des Lebens. Dankmar aber und sein Bund sah in den Millionen Dreiblättern die heimlichen Vierblätter der Verständigung, diese verkörperten Heurekas der Liebe, diese idealen Gefundenen, denen hier und dort, ohne daß sie von ihm geworben waren, zu begegnen, ihn oft mit Bewunderungsschauern vor der Macht einer Idee erfüllte. Der Tempelstein im Westen trat in Verbindung mit dieser Erfahrung. Dankmar hatte den Plan, den ersten großen Bundes- und Erkennungstag dorthin auszuschreiben. Siegbert, der am unangefochtensten schien, bezweckte zum Frühjahr eine Reise nach Buchau und diesem Tempelstein, um mit Dystra gemeinschaftlich die großen dort projektirten Bauten zu beginnen. Die Wolken mehrten sich freilich. Immer düstrer drohte der Horizont. Unter dem Symbol des vierblättrigen Kleeblattes erhielt Dankmar eine ernste Warnung nach der andern. Er sollte sein Heil in der Flucht suchen. Siegbert's Rath, Egon, dem doch einst so edel erfundenen Egon sich noch einmal anzuvertrauen, verwarf Dankmar als eine unwürdige Reminiscenz. Der folge seiner Bahn! Wir gehen die unsrige. Aber ich müßte doch an irgend einem sichern Rückhalt, [3115] wie ein Luther auf der Wartburg, die Entwirrung dieses Knotens abwarten ...

Siegbert sprach von Angerode. Dystra, der der ängstlichen Berathung beiwohnte, rieth, zu Mangold, Louise Eisold, zum Tempelstein zu fliehen. Dankmar aber, wie von einem Offenbarungsgedanken ergriffen, rief:

Ich gehe grade in die Höhle unsrer Gegner selbst, mitten in die Gefahr! Ich gehe nach dem Ullagrund! Dort wohnt ein Ehrenmann ... und zu Selma zieht es mich, wie zu meinem Schutzgeiste. Ackermann war in Amerika! Er lauscht dem Leben der Natur! Er wird sich dem Gesetz der Freiheit nicht entziehen. Dort kenn' ich Weg und Steg. Selige Erinnerung! Der Frühling ist da! Ich fliehe in den Ullagrund –

Und als die Freunde Bedenklichkeiten äußerten, sagte Dankmar:

Man soll mich für einen jener Arbeiter halten, die Ackermann um sich versammelt – eine Jacke her, eine Blouse, ein Wanderstab! Ich will nach Hohenberg wandern, wie Egon einst wanderte; aber reineren Herzens, treuer der Sache des Volkes hingegeben, kein sich zum Volk herablassender Aristokrat, nicht haschend nach dem Scheine, nicht weglügend die eigne innere Leere – dort unter den Arbeitern, die diesem Undankbaren den Acker bestellen, will ich selbst für ihn arbeiten und Selma, ihr Vater werden mir Bürge sein, daß ich unter dieser Wahl eines schweren Berufes nicht zusammenbreche ...

So entwich Dankmar nach dem Ullagrunde, kurz vor [3116] jenem wirklich in den Zeitungen hervortretenden Steckbrief ...

Und Murray, den so viel Gefahren umgeben hatten, grade Der blieb unter all den Bedrängnissen, die seine Freunde und Gönner trafen, fast allein unversehrt. Er hatte, als Louise Eisold mit ihren Geschwistern nach Buchau gezogen war, deren ganze Wohnung, mit all' ihrem armseligen Hausrath, für sich behalten und lebte nur der abwartenden Beobachtung über die Entwickelung seines Sohns. Dem Drängen desselben nach den näheren Umständen seiner Geburt gab er zur Zeit nicht nach. Er bat ihn selbst um ein großmüthiges Aufgeben jeder weiteren Forschung, der nächste Zweck seiner Rückkehr von Amerika war erreicht. Er hatte sein Kind lebend und, wie er erwartete, in der Irre gefunden; er hatte genug zu thun, Körper und Geist bei ihm auf die Bahn zu lenken, die ihm die allein gesunde schien. Die einzige Störung seiner Ruhe, die den Apostel einer eigenthümlichen, heitern und menschlich milden Religiosität noch zuweilen traf, war die fortgesetzte Untersuchung über die noch immer dunkel bleibenden Vorfälle im Forsthause, die indessen, da Murray sich so ganz in der großen Stadt verlor, ohne Mistrauen und mit Bequemlichkeit geführt wurde. Dystra, der dem wunderlichen Heiligen seine an allen Curiositäten Geschmack findende Theilnahme erhielt, forderte ihn vielfach auf, zu seiner in Amerika mit Meisterschaft geübten Kunst zurückzukehren und gab ihm mehr zu thun, als Murray aus Furcht vor Entdeckung [3117] seines wahren Ursprungs und des noch immer nicht beruhigten, noch immer ihn umschleichenden Mistrauens der Ludmer übernehmen mochte. Murray arbeitete wie der erste Künstler seines Faches, unterhielt sich im Verkehre bald mit Louis Armand, bald mit Dystra und nur die Erholung erlaubte er sich, daß er manchmal weite Spaziergänge machte, am liebsten nach der zwei Meilen entfernten kleinen Festung Bielau, wo er mit Wehmuth den Fluß, das Zuchthaus, die von ihm durchbrochene Mauerwand in der Ferne betrachtete. In die Festung sah er dann lustig und fröhlich zuweilen Soldaten ziehen – die Garnison wurde von den in der Hauptstadt liegenden Truppen in bestimmten Zwischenräumen ergänzt – sah auch wol einmal einen verschlossenen, von Gensdarmen geleiteten Wagen über die Fallbrücke fahren; verglich fremdes Loos und eignes, verglich den Strom des Flusses und den der Welt ... und kehrte dann spät Abends heim, nicht ohne bei der Wohnung seines Sohnes zu horchen und zu spähen, ob er wol schon zur Ruhe wäre oder schwärme ... er hatte beschlossen, ihn noch mindestens ein Jahr ganz allein sich entwickeln und ihn an seiner ihm täglich bewiesenen Liebe allmälig aufthauen zu lassen.

Mitten in diese Auflösung einer Menge von bisher so traulich beisammen bestandenen Beziehungen kam eine Botschaft von Olga Wäsämskoi, die neue Sorgen wecken mußte. Als Dystra eines Abends zur Fürstin kam, hörte er, daß Rudhard trotz seiner Jahre und zunehmenden [3118] Schwäche sich eben aufgemacht hatte, um ohne Abschied in höchster Eile nach Wien zu reisen. Die Fürstin vermied Auskunft zu geben, da Siegbert zugegen war. Sie schützte eine Veranlassung vor, die Siegbert nicht kennen konnte. Sie war aber so unruhig, so bewegt, sie wandelte in dem Garten, den sie nach langem Winterschlafe wieder zum ersten Male begrüßte, so unsicher an seiner Seite, daß er irgend eine neuerstandene Schwierigkeit fürchtete. Einige Tage darauf las er bei Dystra einen Brief, den ihm der treue Gönner und im innersten Herzen vielbedrängte Freund nicht vorenthalten zu dürfen glaubte. Olga schrieb an Rudhard:

»O Vater Rudhard, ich ergreife mit Zittern heute die Feder und möchte sie statt in Tinte, in Blut und Thränen tauchen. Wie bin ich betrogen worden! Welchen Schmerz hat mir die Tante bereitet! Ich kann nicht mehr in ihrer Nähe bleiben, ich hasse nun die treulose Verrätherin. Ach, Himmel und Erde! Helene ist ja nicht was sie scheint. Gott! Gott! Daß Engelzüge lügen können! Du weißt, wie wir litten, Papa! Du weißt, wie wir den Mond und die Sterne beschworen haben und unserm Schmerze einen ewigen Kultus widmen wollten. Ach, Helene hat ihren Schwur gebrochen. Es war eine Lüge, daß sie sich nach den Zellen der Klöster umsah, Lüge, wenn wir Kirchen besahen, daß sie sich in die Beichtstühle setzte, bis ein Kirchendiener kam und ihr sagte: die Patres hörten grade keine Beichte oder ob sie sie rufen sollten? Dann sprang sie unmuthig auf und ich [3119] glaubte, sie würde die Religion unsrer Väter wechseln. Es ist Täuschung gewesen, Papa! Helene liebt wieder! Sie liebt! Wie an einem erstarrten Baume, sagte sie mir, als ich ihr zornig gegenüber trat, geschieht an mir das Wunder, daß er einen neuen Keim trieb. Nein, sagt' ich, Tante, dein Herz ist ein Polyp. Er lebt im Sterben und wächst durch den Tod, er bedarf der grausamen Zerstückelung, um zu wachsen. Aber was hilft's! Du entsinnst dich jenes Heinrichson. Ich sprach nicht mehr von ihm, weil seine Huldigungen mir nicht gefielen und ich den Schein vermeiden wollte, als rühmte ich mich meiner Erfolge. Diesen Heinrichson liebt die Tante! Ich entdeckte eines Abends, daß ich betrogen bin ... Vor diesem Anblick schauderte mich's. Ich nahm meinen Hut, einen Mantel und floh von dem Landhause, das wir so schön, so reizend an einem kleinen Wasserfalle unter Oliven- und Kastanienbäumen gemiethet hatten. Ich wußte nicht, wohin ich fliehen sollte. Aber Das wußte ich, zurück zu Helenen, die den Schmerz um Egon in den Armen eines Heinrichson zu ersticken sucht, kehrt' ich nicht wieder. Mein Instinkt trieb mich auf unsre Gesandtschaft. Ich warf mich der Baronin von S. zu Füßen –

Der Gesandtin in Rom, erklärte Dystra ...

»Und flehte sie an, mich zu beschützen. Sie nahm diese Bitte gnädig auf, unter der Bedingung, daß ich mit einer befreundeten Familie nach Wien reise und dort von dir, Papa, mich abholen lasse. Ich mußte diese Bedingung eingehen, so entsetzlich mir der Gedanke ist, ein Land [3120] wiederzusehen, wo dieser Teufel Otto von Dystra wohnt. Ich werde kommen, aber ich schwöre Euch beim ewigen Gott, eher durchbohrt mich eine Dolchnadel, die ich auf meinem Herzen trage, eh' ich in eines Eurer grausamen Verlangen willige. Die Tante ist außer sich. Sie will mich nicht lassen. Sie fährt vor. Ein gewisser Herr Rafflard, den ich schon bei Euch gesehen, ihr zur Seite. Sie wollen die Baronin sprechen, mich – ich höre Alles – der Kurier geht ab. Ich fliehe! Ich fliehe! Ich muß schließen. Olga.«

Das sind ja entsetzliche Zustände! sprach Siegbert, als er den so abgerissen endenden Brief staunend noch einmal überflog ...

»Ein Land wiedersehen, wo dieser Teufel Dystra wohnt«, wiederholte der so schlimm Angefeindete. Wo denken Sie, daß dieser kleine Grobian jetzt schon ist?

Rafflard in Rom! Sie ist doch in Rom geblieben; sie ist Zeuge dieser ...

O nein! Die Konsequenzen der Freiheit bringen dies tolle Mädchen zur skrupulösesten Tugend, sagte Dystra. Kann eine Dame, die in einer Pensionsanstalt mit lauter Gefühl, Bibelsprüchen, Musik, Goldschnittlyrik, Sonntagsmoral und sogenannter edler Weiblichkeit aufgezogen ist, prüder denken als diese kleine Emanzipirte, die durch die Konsequenz ihrer unmoralischen Ideen über Liebe und Weltschmerz strengmoralisch wird? Wenn da nicht eine Eifersucht wegen Heinrichson's im Spiele istNein, [3121] rief Siegbert mit innigster Wärme und zitternd vor Sehnsucht, Olga wiederzusehen; darin widersprech' ich Ihnen auf das Feierlichste. Ich glaube in der That, daß Olga leidet bei dem Gedanken, diese Helene d'Azimont, in der sie die ewige Resignation unglücklicher Liebe zu erblicken glaubte, könnte wieder lieben, könnte einen Heinrichson für einen Egon wählen und alle ihre Thränen Lügen strafen ... es ist wirklich die sittlichste Entrüstung, die Olga von Rom treibt!

Wenn Das wäre, Freund, schieß' ich mich mit Ihnen! Ich liebe Olga!

Dystra sagte diese Worte scherzhaft, aber mit heimlichen Spuren des Ernstes ...

Siegbert entdeckte diese Spuren wohl und ging trotz aller Zureden des Barons mit wehmüthigem Nachdenken von ihm. Ihm war Olga ein Ideal geworden, der Sammelpunkt aller seiner zerrissenen Gefühle. Wie es den Bruder zu Selma trieb, sich ein Asyl zu suchen, da am Herzen eines edlen Mädchens auszuruhen von seinem unermüdeten Streben, da in's Auge seiner Geliebten blickend die Wunden zu heilen, die das Misgeschick ihm schlug, eben so drängte es Siegberten nach der Gegend hin, wo Olga weilte. Wie gern wär' er in Rom gewesen! Um wieviel lieber hätt' er am Strande des Meeres mit ihr Muscheln gesucht und die Brandungen der Wogen gezählt, als hier in das Faß der Danaiden Hoffnungen und Wünsche zu füllen und sich am tiefsten Weh des Lebens zu verzehren ... Dystra rief ihm zwar noch nach:

[3122] Siegbert, Siegbert! Bleiben Sie doch! Sie soll zwischen uns wählen!

Allein grade das Beispiel Helenen's zeigte ihm, welcher Metamorphosen, welcher Gewöhnungen die Herzen fähig sind. Er mied Dystra voll Trauer, voll sichrer Erwartung Dessen, was ihm schien nun kommen zu müssen. Der unermeßlich Reiche, der durch seinen Geist seine äußere Unförmlichkeit bei längerer Bekanntschaft ganz vergessen ließ, suchte ihn zwar auf. Er beschwor ihn, kein Mistrauen zu hegen. Er bot ihm scherzend sogar an, ihm zu Liebe, um recht abschreckend zu erscheinen, eine lockige blonde Perrücke zu tragen und in dieser Olga zu begrüßen, wenn sie ankäme und nicht der Jesuit Rafflard, die verletzte Eitelkeit Helenen's und hundert dunkle Räthsel sie zurückhielten ... Siegbert nahm diese komischen Anerbietungen für Erleichterungen und Übergänge zu Dem, was nicht zu ändern wäre und versicherte Dystra, daß er seine Träume schon würde beherrschen lernen.

In diesen edlen Wettstreit kam ein Brief von Dankmar aus dem Ullagrunde.

Sie fanden ihn, als Siegbert Dystra eines Tages in seine Wohnung zurückbegleitete. Er war der Vorsicht wegen an Otto von Dystra adressirt und lautete:

* * * * »Diese vier Punkte sollen Blumen sein! Keine Kugeln, Bruder! Nicht Kugeln in's Herz, nicht Kugeln an den Fuß, wie sie die Züchtlinge tragen! Nicht Tod, nicht Gefängniß, nein Freiheit und Liebe! Siegbert, der Baron [3123] und wer sonst noch diesen Brief liest und wär' es ein Agent am geheimen Dechiffrir-Bureau, wo man im Angesichte Europas und der Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts falsche Briefe schmiedet, die Ehrenmänner in die Gefängnisse führen ... lest und hört es Alle, ich halte mich für geborgen und glücklich! Du weißt es, Bruder, wo ich bin: du weißt, was mich glücklich macht. Ich nenne keinen Namen, bezeichne die Gegend nicht: nimm die Landkarte und schreibe »Arkadien« über den Platz, wo ich ackre und die Kühe hüte! Das goldne Zeitalter kehrt wieder, Bruder. Ich bin ein Hirt und sitz' im Haberrohr und weide Schafe. Ich schrieb dir einst von hier: Lies den Ariost, um dich auf meine Abenteuer vorzubereiten. Jetzt schreib' ich: Lies den Virgil, den Theokrit, Bruder! Nicht Geßner! Nein, Bruder, in rothseidenen Bändern tanz' ich nicht und meine Phyllis ist durchaus nicht des Reifrocks würdig und schreitet nicht in bemalten Stelzenschuhen – wir sind ein echtes, wirkliches bukolisches Paar und alle Hecken an dem kleinen Bach, der sich durch unsern Grund zieht, wissen von uns zu plaudern, wissen von uns zu flüstern. Ich liebe, Bruder und ich darf lieben! Man nahm mich für etwas Andres, als ich bin. Man nahm mich für Den, der uns ein großer Feind geworden ist und sich selbst ein noch größerer – man liebte und haßte mich – eine Locke meines Haares blieb der mystische Schlüssel der Versöhnung, des Glaubens, der Hoffnung auf mich und mein nicht zu tief verlornes Herz! Da kam ich und bin Der, der ich nicht bin, ein Andrer und doch [3124] ich selbst – Was schwatz' ich – was plaudr' ich dir in Räthseln! Löse sie dir nur ganz einfach mit der Gewißheit: dein Bruder hat Ursache, an der Welt noch nicht zu verzweifeln. Eines Mädchens treueste Liebe umfängt ihn. Er ward zum Kinde an ihrem Herzen. Verstand, Zweifel, kalte Berechnung, Alles ist aus der Deichsel gegangen und grast nun unter Blumen, Kraut, Rüben, Raps, Sommer- und Wintersaat und neckt sich nur noch mit den Bienen. Wenn ich sonst ausspannte, Bruder, d.h. die Waffen, mit denen man die böse Welt bekämpft und ihren Angriffen Widerstand leistet, so kam ich mir wunderlich vor. Ich sagte dann: Dankmar, das Kindische steht dir nicht! Jetzt steht es mir prächtig, wenigstens nach meinem eignen Geschmack; ich lache nicht mehr über mich, ich habe keine spöttischen Falten mehr um den Mund, ich glaube, ich liebe in Liebe liebend. Und nicht nur für Augenblicke hab' ich zu danken; nein für ein ganzes Leben, das mir neu geschenkt wird. Die Liebe, die ich sonst empfand, Alter, war so ein blitzendes Streiflicht, das einen Wonnemoment übergoldete. Jetzt ist aber mein ganzes Dasein in Verklärung getaucht: ich kann diese Liebe unterbringen bei meiner Vergangenheit und Zukunft. Ich kann sie mir denken, wie sie mir in Glück und Freude, wie sie in Noth und Elend mir folgt. Ich kann mir denken: dies Mädchen ist jung und lieblich; aber sie wird dir auch werth sein, wenn es ein altes Mütterchen geworden ist und du selbst graue Haare trägst! Das springt um mich, Das athmet Lust und Leben, Das ist gut und gefällig, [3125] heiter und dienstbeflissen, Das schmollt ein Viertelstündchen, zankt ein Weilchen, fährt auf und will Recht haben und küßt dann doch wieder alle Launen weg und gesteht dir offen, es könne nur sein und fühlen durch Unsereins, auch wenn wir Unrecht hätten. Da widerstehe nur und wirf nicht deine ganze Lebensphilosophie wie alten Plunder über den Heckenzaun! Und denke nur nicht, Bruder, daß ich darum im Idyllischen wie marklose Poeten zu Grunde gehe! Ich behalte mein Auge klar und den Verstand offen. Das ist eben das Wesen einer gesunden und reinen Liebe, daß sie uns nichts von unserm Besten nimmt, sondern daß sie Alles zum Schüren ihres eignen Brandes brauchen kann. Mein Mädchen fühlt das Alles mit klopfendem Herzen mit, was mich bewegt und so wachsen wir Beide zum Hören und Sehen, und lehnen und trösten uns recht aneinander. Unsern Bund, den des Herzens und den andern, den des Geistes, hab' ich dem Vater natürlich verrathen. Der Hohe, Edle nahm beide ernst und sinnend auf. Dem ersten gab er selbst den Segen, für diesen zweiten erfleht er ihn. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich annehme, daß wir nun schon weit über einige hundert Bekenner haben, die ein gemeinsames unsichtbares Band verbindet, ein Gedanke, eine Führung, die Niemand kennt, die auch nirgends da ist, als in dem Bewußtsein, dem Glauben einer Führung. Der Geist ist es, der fortwirkt und eine Stunde wird kommen, wo seine Werke, die jetzt noch in der Stille sich vorbereiten, an das Tageslicht treten. Noch in diesem Jahre, [3126] jedenfalls im nächsten, hoff ich auf den ersten großen Bundestag, wo wir uns durch Abgeordnete begrüßen und eine Form für das bewußte Fortschreiten unsrer Entwickelung aufzustellen hoffen. Könnt' ich dann dieser Schöpfung gegenüber treten und mit dir sagen: Hier schütt' ich aus dem Füllhorn Fortunens auch jene irdischen Güter, die uns den Kitt für den geistigen Bau geben sollen! Könnt' ich dann sagen: Hier ist eine kräftige Hand, die über die Länder und Völker hin das Flammenschwert des Erzengels Michael zücken und den ewigen Sündenfall aus dem Paradiese jagen will! Ich verzweifle nicht; so wie ich mich rühren kann, beginnt die letzte Entscheidung. Der Vater meines Mädchens behauptet, zum Präsidenten des Obertribunals, zu unserm greisen Rhadamanthus von Tempelheide, in einem eigenthümlichen Verhältnisse zu stehen, das uns nützen soll. Mit seinen Raben und Adlern kommt mir dieser letzte Richter vor wie der greise Johannes auf Pathmos, neben dem der Adler horstet, wenn er über Meere hinweg die Gesichte der Offenbarung schaut. Viel Persönliches, was ich sonst auf dem Herzen habe, muß ich lassen, bis ich weiß, ob der Weg, den ich wähle, um mich dir verständlich zu machen, sicher ist. Tausend Grüße von und an! Von Denen, die du dir denken kannst, auch Oleandern, der zum Dichter auch ein Denker geworden ist, und an Die, die unsre Grüße verdienen!«

Während Siegbert mit bebender Freude diese Zeilen für sich gelesen hatte und sich einen Augenblick besann, [3127] ob er wol wagen könnte, sie Dystra zu zeigen und ihn in das Geheimniß eines Bundes der Ritter vom Geiste zu ziehen, warf dieser eine neueste Zeitung, die er eben gelesen, auf den Tisch und rief:

Gott! Gott! Der unglückliche Mann!

Ich beschwöre Sie, sagte Siegbert erschreckend, jetzt keine Hiobspost! Was ist?

Dystra ging im Zimmer auf und ab. Siegbert ergriff die Zeitung ...

Eine Meuterei in Bielau! Eine Militärrevolte!

In Bielau?

Siegbert durchflog die Zeitungen.

Die Darstellung mag noch hinter der Wahrheit zurückbleiben, ergänzte Dystra. Der Geist dieser Mannschaften soll wild, ganz unzuverlässig sein, wie mich Voland noch kürzlich versicherte. Man läßt diese kleine Festung der Reihe nach von der hiesigen Garnison besetzen und die dritte Compagnie des Leibregimentes –

Es ist dieselbe, die zu Werdeck's Bataillon gehört ...

Kaum dort angekommen ... und der Major ...

Siegbert hatte sich von dem Vorgefallenen unterrichtet. Er war so erschüttert, daß er sich auf einen Sessel niederlassen und zu Worten erst sammeln mußte ...

Das Vorgefallene bestand in einem Vorgang, der dem seit einigen Tagen wirklich kassirten und wegen Antheilnahme an einer »Verschwörung« für mehre Jahre auf die Festung Bielau geschickten Major von Werdeck eine Flucht hatte erleichtern sollen. Die Nähe dieser Festung [3128] begünstigte das Einvernehmen der Soldaten, die in Werdeck's Verhaftung nur einen, ihren eignen Interessen geführten Schlag sahen. Bei dem ersten Spaziergange, den Werdeck, um sich zu erholen, auf dem Walle der Festung machte, war eine Wache, aus zwölf Soldaten bestehend, zufällig von seinen eignen früheren Leuten besetzt gewesen. Bielau's übrige stehende Besatzung war nur ein Invalidenkorps. Die Ergänzungen desselben kamen der Reihe herum an die in der Residenz befindlichen Truppenkörper. Viele hatten, des demnächst abzuführenden Gefangenen von Werdeck wegen, widerrathen, sein eignes Bataillon nach Bielau zu schicken; doch da die Reihe einmal an diesen Truppentheil kam, wollte man am wenigsten einen öffentlichen Beweis von Unzuverlässigkeit der so hochgepriesenen Armee geben. Ein Komplott zur Befreiung des wegen Mitgliedschaft eines Geheimbundes, Korrespondenz mit auswärtigen Revolutionären und Zerbrechens seines Degens kassirten und zu sieben Jahren Festung verurtheilten Majors machte sich wie von selbst. Das Loos traf eine Wache, die dem Spaziergänger das Thor freilassen, alle Ausgänge öffnen konnte. Ein Sergeant war mit der Ausführung beauftragt. Werdeck kommt, tumultuarisches Geschrei begrüßt ihn, man gibt ihm die Gelegenheit zur Flucht. Aber Werdeck weigert sich. Der Major ermahnt seine alten Krieger selbst, ihrer Pflicht treu zu bleiben. Aber schon hatte der Kapitän von Aldenhoven von dem Vorfall an dem sogenannten Sternwall Kunde. Die Sternwall-Wache wird vom Invalidenkorps [3129] abgelöst, einige der verzweifelnden Soldaten versuchten Gegenwehr, andre die Flucht ... Der Sergeant wird verhaftet ... Werdeck in einen engeren Gewahrsam geführt ... So viel ließ sich den Zeitungen entnehmen.

Es entspann sich zwischen Siegbert und Dystra ein Gespräch über die möglichen Folgen dieses Vorfalles, über die Ursachen des Unglücks, das den Major betroffen, über den Geist der Pflicht und die Gefahren der freien Selbstbestimmung. Der schnell gewonnene Freund und Gönner zeigte sich so voll Antheil, blickte so frei über die Widersprüche des Lebens hinweg, hatte so von jeder Meinung und Überzeugung, die in ihm lebte, die schroffen Kanten und Ecken des Vorurtheils und des Egoismus abgeschliffen, daß ihn Siegbert den Brief seines Bruders lesen ließ und in das Geheimniß des Bundes vom vierblättrigen Kleeblatt einweihte.

Dystra erstaunte. Er gedachte seines eignen Tempelsteins und wie er an dessen Ruinen das dreiblättrige Kleeblatt am Kreuze oft genug beobachtet hätte. Er war erfüllt von der Bedeutsamkeit dieser Mittheilung und äußerte, ehe er zustimmte, fast erschrocken:

Ein Vierblatt ist selten, mein Freund!

Selten ist alles Neue und Große! antwortete Siegbert, von dem Wirken seines Bruders ergriffen, erschüttert von Werdeck's Schicksal, das ihm Thränen abgewann ...

Ernst und in Gedanken verloren prüfte Otto von Dystra die empfangene Mittheilung. Schon zitterte Siegbert, daß er hier eine Übereilung zu bereuen hätte, schon wollte er [3130] Dystra beschwören, ihm, wenn nicht Übereinstimmung, doch Verschwiegenheit zu geloben, als der Baron das Wort ergriff:

Ich bin, sagte er, durch Sie und Ihre Freunde etwas stark aus meinem bisherigen geistigen Schlummer geweckt worden. Ich interessirte mich bisher für Alles und deshalb im Grunde für Nichts. Ich schlug heute das wirkliche Buch der Natur, morgen Kupferwerke auf, die mir Das ergänzten, was ich noch nicht kannte. Ich glaube, ich bin in der Lage mit vielen, vielen Tausenden, die sich von der Zeit und der Wirklichkeit, so gut es geht, fernzuhalten suchen und sich mit ihren Abbildern begnügen lassen. Uns interessirt erst dann Alles, wenn es historisch geworden ist. Wir sind gerecht sogar gegen Das, was uns widerstrebend ist und dennoch wären wir selbst für Das, was uns zusagt, nicht im Stande einzustehen, so lange es im Entstehen, im Werden begriffen. Ein Haus soll uns, wenn wir mit ihm in Berührung kommen, gleich fertig sein. Staub, Schutt, Mörtel, der Lärm des Schaffens, des Niederreißens und Aufbauens ist uns widerwärtig und wir genießen Jedes, nur in Ruhe, nur in Behaglichkeit, auf einem Sopha, unter Teppichen, unter Polstern. Das ist die Stellung der sogenannten Bildung zu den Fragen der Gegenwart! Aber wohlan! Es soll nicht so sein. Es kommt die Reihe nun auch an uns! Wir sollen mit angreifen, auch wir sollen Partei halten und uns schämen, immer nur zu reflectiren und unsern einsiedlerischen geistigen Genüssen zu fröhnen. Wenn ich erst erschrak über Das, was [3131] Ihr Bruder da angelegt hat und was ich nun schon so im Keimen und Wachsen sehe, so fühl' ich wol die Bedeutung seines Gedankens. Ich finde Europa zerrüttet. Ich sehe einen Welttheil, der nicht leben, nicht sterben kann. Irgendwie muß ihm geholfen werden, dem Verlebten zur Bahre, dem Neuen zur bequemeren Wiege. Ich will es mir noch einen Tag überlegen, Wildungen, was ich von Ihrem Bunde des Geistes denken soll. Weigr' ich meinen Beitritt, so stirbt das Geheimniß mit mir. Tret' ich aber bei, so gehör' ich ihm mit ganzer Seele und sollt' es auch sein, wie Byron einst seine letzten Flammen aus einem zwecklosen Leben zusammenraffte und sich läuternd im Brande Griechenlands zu Grunde ging.

Siegbert dankte für diese offne, unter Dystra's Verhältnissen bedeutsame Erklärung ...

Beide erhoben sich. Der Baron, um sich nach dem Schicksal des gefangenen armen Leidenfrost zu erkundigen, in dem er so frühe schon eine künstlerische Entwickelung geahnt hatte und den er mit innigstem Bedauern in einem allgemeinen Scheitern seiner Fähigkeiten und Lebensentwürfe antreffen mußte. Das Leben dieses so vielseitigen Genies lag vor ihm aufgeschlagen wie das Werk eines Dichters, der vom Himmel die prometheische Flamme nur entwandt hat, um sich in ihr selbst zu verzehren. Er kannte den wirren vielverschlungenen Lebenslauf des Max Brüning, mit dem er die Verwandtschaft einer großen Seele und einer gewöhnlichen, ja abstoßenden Hülle derselben gemein hatte. Er kannte [3132] das Band der Wehmuth, das dies Soldatenkind an Werdeck knüpfte ...

Siegbert aber eilte zu Jagellona von Werdeck, einer Frau, die über zwei Männer, die sie zu gleicher Zeit, wenn auch mit tiefstverschiedenen Organen der Seele, liebte, das dunkelste Loos geworfen sah.

[3133]
16. Capitel. Ein Nachtgemälde
Sechszehntes Capitel
Ein Nachtgemälde

Es warf auf offner Gasse eine Löwin

Und Gruft' erlösten gähnend ihre Todten.

Wildglüh'nde Krieger fochten auf den Wolken

In Reih'n, Geschwadern und nach Kriegsgebrauch,

Wovon es Blut gesprüht auf's Kapitol.

Das Schlachtgetöse klirrte in der Luft;

Es wiehern Rosse, Männer röcheln sterbend

Und Geister wimmerten die Straßen durch.

Julius Cäsar.


Daß wir den Vorhang könnten fallen lassen über ein dunkles Grauenbild!

Aber die Zeit ist eisern. Unheildeutende Raubvögel sieht der Augur zur Linken fliegen. Er sieht die unglücklichen Zeichen. Er sieht in nächtlicher Stille rothe Flammen am Himmel. Darf er verschweigen, was er sah?

Ein stiller Junimorgen. Tiefe Ruhe, morgenrothe Dämmerung auf den Fluren. In der kleinen Veste Bielau ein schauerliches Schweigen. Die Sonne naht. Es künden die purpurnen Wolkenboten erst ihr Kommen an. Es singt ihr auf dem Lindenbaum am Wall entgegen die wachende Nachtigall.

Die Sängerin ist's der Liebe und der Sehnsucht! Es ist der blühende, der duftende Lindenbaum –

[3134] Aber auf dem Glacis graben zwei Männer stumm und traurig eine Grube – Sie tragen die bunten Röcke des Kriegers ...

Die Erde blinkt und funkelt unter dem Spaten von Glaskörnchen, von Metallstückchen, von Schnecken, von Kieselsteinen – was ist da zu weilen! Einen Hügel nur von Erde soll es geben und neben ihm eine Grube, so tief, wie die beiden Krieger in ihr stehen ... Sie ist fertig. Die Spaten liegen auf der frischen Erde ... Die Krieger gehen traurig.

Die Sonne nähert sich. Es ist, als rauschte sie empor mit Donnerton. Und doch ist Alles still, nur die Nachtigall singt, der Lindenbaum säuselt und nur die Welle des Flusses, an dem die kleine Veste sich erhebt, kann man plätschern hören.

Da Männertritt ... In gleicher Ordnung ... aus einem verdeckten Gange, der zu den Kasematten führt, zwanzig, dreißig Mann ... wozu sie zählen!

Sie umstehen die Grube. Nur dem aufgeworfenen Hügel bleibt der Rücken frei ...

Ein metallner Klang – ein Klingeln fast – die Ladstöcke fahren in die Musketen – Acht Krieger haben geladen.

Die Nachtigall singt Liebe und Sehnsucht ...

O sänge sie Muth dem Armen in leinenem Kittel, der aus dem verdeckten Gange tritt! Ein Jüngling, gebräunten Antlitzes, spärlich der Bart, blond das Haar, das Auge voll Wehmuth, aufgeschlagen gen Himmel, zum ersten Lichtstrahl der Sonne, der ihm grade über den Scheitel [3135] fährt wie ein Glorienschein! Umschlungen hält ihn eine lange Gestalt im Priesterkleide, ein ernstes liebevolles Haupt, niedergebeugt zu dem schwankenden Wandrer, der sich in den Reihen der Krieger umsieht und sie voll Trauer und Ergebung begrüßt ...

Der Jüngling schreitet den Todesgang –

Ein Bauer, in greisem langem Haar, liegt in den Armen eines rüstigen Jägers mit rothem Barte, der ihn führt. Wie kann er sich halten, wie noch leben – es ist ja sein Sohn, sein Stolz, seine Ehre, die ihm geraubt wird – seine Knie wanken. Er stammelt Gebete, die er selbst nicht hört –

Mein Sohn! Mein Sohn!

Der junge ernste Priester tröstet. Er redet laut. Seine Stimme klingt wie Orgelklang, wie Cherubströstung ... Der Jüngling, der zum Tode geht, er klammert sich fest an seine willensstarke Hand ...

Vater und Sohn umarmen sich zum letzten Male. Die Sonne verklärt den Abschied. Alles weint und auch die Nachtigall schweigt nun. Sie läßt die Menschen still ihre Fragen an das Jenseits richten: Muß Das sein? Soll Das sein? Was lohnt uns dafür? Was finden wir dort?

Der Sohn spricht die letzten Worte zum Vater. Der Alte hört sie nicht mehr. Er sank schon zusammen und liegt in den Armen des guten treuen Jägers, dem die Thränen den rothen Bart befeuchten, und der keine Hand frei hat, sich ihn zu trocknen. Er muß sie rinnen lassen ...

Der junge Geistliche vernimmt des Sohnes letzte[3136] Wünsche, hört seine letzten Grüße – ein Vermächtniß seines ganzen Erbes an ein Mädchen, das er liebt, ein Vermächtniß aller seiner fahrenden Habe an eine arme Tischlerfamilie in der Stadt, das Andenken eines einfachen Instruments, einer Flöte, an einen in der Ferne jetzt weilenden Fremdling, Namens Louis Armand ...

Der junge Geistliche kennt die so leidvoll Bedachten Alle und segnet den milden Geber, zu dem ein Kamerad tritt, ihm die Augen zu verbinden ...

Noch ein Blick! Der letzte! Dort an jenem Fenster hoch über den Kasematten steht ein Mann mit wehmüthigem Auge. Hinter Eisenstäben winkt er mit seinem Tuche. Ach, es ist kein Tuch der Gnade! Er selbst ist ja gefangen ... Der Jüngling weiß es wohl. Die Liebe zu ihm gibt ihm ja den Tod.

Er kniet nieder. Acht Schüsse strecken ihn zu Boden. Er hat ausgelebt. Den ohnmächtigen Vater führt der Waidmann hinweg, der kaum sich selber hält. Solch Wild sah er nie! Der Geistliche bleibt ... bleibt auch bei der Leiche, sorgt für ihre Ehre, ihre Bestattung ...

Und der Gefangene, der oben mit dem Tuche Abschied winkte, muß er nicht ausrufen:

Gott im Himmel! Erfindet Das eine grausame Phantasie, nur um mich zu martern, oder ist Das Wirklichkeit? Ist's ein Traum oder ist's Leben und heißt jetzt so die Ordnung dieser rasenden Welt? Wer ist der Dämon, der uns diese Grauenbilder schuf? Welchem erbarmungslosen Moloch bringen wir diese furchtbaren Opfer eines kalten [3137] rücksichtslosen Ideengesetzes? Nur wegen der Worte: Meuterei im Heere! Bestand der eisernen Ordnung! Ein Beispiel! Ein Beispiel! Wie ein Denkmal hingestellt die grause Warnung! Was ist Euch, die Ihr so sprachet, so zu Gericht saßet, so die Kugeln zur Abstimmung zähltet, die Feder ergriffet zur Unterschrift, was ist Euch eine Person? Eine Null! Ein Nichts, gekleidet bei diesem Fall in eine bunte Jacke, die Hunderttausend tragen! Sind wir nicht mehr Menschen, nicht eingebürgert auf der Erde zur Erfüllung irgend eines hohen Zweckes, den wir doch ahnen? Und welche Sitten, welche Institutionen, welche Einrichtungen treiben uns hinweg von der friedlichen Vorbereitung auf diese unsre stillgeahnte Bestimmung! In mein Ohr tönt es wie eine Disharmonie von tausend durcheinander fahrenden Instrumenten! Mußte Das sein, du gutes, treues, bescheidnes Herz, das da unten für mich, zum Jammer für Menschen, deren Existenz auf dem großen Markt kalt ignorirt wird, verblutete! Was löst diese Dissonanzen in einen reinen Akkord? Was gießt wieder Wohllaut in diese friedlichen Herzen, Öl über diese stürmischen Fluten? Worin begegnen wir uns zu unsrer wahren, sittlichen Menschenaufgabe? Da liegen Bücher vor mir. Ich denke nicht mehr an die Lüge eines falschen Briefes, die mich hierher gebracht hat, an die Richter, die sie nicht glaubten, die mich aber doch verurtheilten, weil ich verurtheilt sein sollte. Ich schlage diese Bücher auf, die die Geschichte erzählen. Wo ich hinblicke, Dissonanz! Menschen, die man liebt, niedergeschmettert von jenem [3138] Blitzstrahl des Himmels, den frevelnde Menschenhände wie einst Prometheus meist nur gestohlen haben, um das Schicksal nachzuäffen. Nero, Alba, Philipp, Das ist bekannt, Das ist von Allen verflucht – nein aber auch die glücklichsten Zeiten wimmeln von Schmerzen und grausamen Irrthümern. Soll Das ewig bleiben? Ewig? Nichts uns gewiß, als der ungewisse Blick empor und das dunkle, räthselvolle, ewig stille Grab?

So klagt der Gefangene ... Sein Auge kann das gräßliche Bild nicht mehr bannen. So lieblich die Sonne scheint, so blau der Himmel, so trostreich ihm anfangs der Blick über Wall, Fluß und Städtchen war, er konnte nicht mehr an's Fenster treten. So blieb er den Tag über ... Gegen Abend erinnert ihn der täglich wechselnde Gefängnißwärter, heute ein steinalter Invalide, an seinen vergessenen Spaziergang. Der Major lehnt ihn ab. Der Wärter soll gehen ... Es ist Abend geworden ... Der Alte im weißen Barte, die Brust mit Ehrenbändern geschmückt ... bleibt stehen ...

Es wünscht Sie Jemand zu sprechen, Herr Major –

Und schon war ein Offizier eingetreten in Mantel, in Uniform, mit Federhut –

Der Major wendet sich. Der Greis zieht sich zurück. Der Besucher schlägt den Mantel auf ... Ein kurzer prüfender Blick des Auges ... eine Umarmung ... hervorstürzende Thränen ...

Jagellona!

Werdeck!

[3139] Der Invalide hatte sich entfernt. Die Thür war ins Schloß gefahren ...

Der abgelegte Hut, der weggeworfene Mantel enthüllt eine zierliche Gestalt, der unter der schützenden Verkleidung die Brust vor wildmächtigster Erregung klopft. Die Mienen des entschlossenen Antlitzes todtenbleich. Die Augen zitternd vor glühendem Eifer. Jede Muskel des Halses, jede Sehne der Hand heldisch gespannt und doch zittert der ganze Körper vor Fieberangst. Das kurzgeschnittne schwarze Haar steht dem edlen Haupte jugendlich schön. Diese Frau, nicht mehr in erster Jugend, hat sich die Jugend des Charakters erhalten und wenn sie auch zittert, so hat sie recht zu sagen:

Werdeck, es sind die Nerven, die zittern; mein Herz zittert nicht. Du mußt fliehen. Weißt du, daß der Sergeant, der dich retten wollte, zum Beispiel für den gefährdeten Geist der ganzen Armee erschossen werden soll?

Werdeck zeigte zum Fenster ... Die Blutspuren im Sande auf dem Glacis wären noch sichtbar gewesen. Aber es war inzwischen Nacht geworden ... Wieder sang schon die Sängerin im Lindenbaum ...

Der Major besaß die Ruhe und Ergebung, die sich in Gefängnissen so von selbst findet. Die Angehörigen ahnen kaum diese schmerzlichste Umwandlung des Gemüths. Aber jetzt die Flucht ablehnen, dem heldenmüthigen, geliebten Weibe, ihr, ihr – diesen kühnen Eingriff in sein Schicksal abschlagen?

[3140] Es ist ein Bund des Geistes, sagte er, den man mir als Verschwörung auslegte! Ich werde jene Ehre, die unter meinen Standesgenossen gilt, nicht wieder gewinnen, wol aber einst die Freiheit ... die mich rechtfertigen wird. Laß mich bleiben, dulden ... Und auch, wie könnten wir fliehen?

Die muthige Frau spricht nicht von der Möglichkeit, sondern von der Nothwendigkeit. Sie weint, sie klagt. Ihn auch schon erschlafft, ergeben, demüthig zu finden, ihn, den sie in den vollen Flammen des Zorns und der Begeisterung der Unschuld, in der lodernden Gluth der Rache zu finden gehofft hatte! Ist Das denn wahr, was man von den Gefängnissen erzählt!

Da ermannt sich Werdeck ... Er verläßt die Zelle, den Corridor, den Wall, die Veste, stolz, emporgerichteten Ganges, den Mantel seines Weibes umgeschlagen; sie, als Offizier gekleidet, neben ihm. Er unkenntlich im Mantel ... Sie sind beschützt. Es folgt ihnen Jemand ... Es ist der Invalide ...

Er folgt nicht bis zum Thor ... er folgt weiter ... weiter als die Parole gefragt wird ... die Parole, die alle drei kennen ...

Der Strom rauscht. Es ist derselbe, auf dem einst Murray entflohen ... Ein Kahn steht am Ufer ... Rasch gleitet er die Strömung hinunter ... Der Alte rudert ...

Wer ist dieser Retter, Jagellona? Wer fährt uns da?

Die Heldin schmiegt sich an die Brust des Gatten und sagt nur:

[3141] Dieser Alte hat mich schon einmal vom Tode gerettet ...

Werdeck sann hin und her. Vom Tode schon Einmal? Wer ist der Alte?

Eine halbe Stunde vorüber ... Die Flüchtlinge steigen an einer einsamen Fischerhütte aus ... betreten die menschenleere aber erleuchtete Hütte und finden Kleider, die für sie bestimmt sind.

Wer ist der Greis? fragt Werdeck wiederholt, als er sein muthvolles Weib nun in Frauentracht in die Arme schließt.

Wir brauchen einen Zeugen für unsre Erzählung, sagte sie. Komm nur!

Damit folgen sie dem Alten, der eine Blouse übergeworfen hat, folgen über ein sandiges Ufer, dann einen Wiesenrain, zuletzt stehen sie auf der Landstraße. Ein Wagen mit zwei Pferden, dessen Zügel Jemand, unkenntlich in der Nacht, wartend in der Hand hält ...

Der Major tritt näher ... forscht ... Es ist Leidenfrost?

Aber rasch! Rasch!

Der Invalide spricht's, ergreift die Peitsche, springt mit noch jugendlicher Kraft auf den obern Sitz und während Leidenfrost, Werdeck und Jagellona, die drei im Geist Verbundenen, rasch in den Wagen steigen, spricht die muthige Frau endlich mit erleichtertem Herzen, weinend in ihrer Freude, erlöst von den bangendsten Gefühlen:

Wir sind in Sicherheit. Die Schläge des Geschickes, das so gespenstisch mit uns redete, machen endlich eine [3142] Pause. Die zerrissenen Bruchstücke dieser Tage, wo der Eine hier, der Andre dort die grausame Hand eines uns wahrlich zuweilen wahnwitzig erscheinenden Verhängnisses fühlte, bilden doch ein Ganzes, ein Großes, die Einheit eines Zieles, an das wir nun wol werden Alles geben müssen. Freiheit höre! Die Liebe will dir erzählen!


Ende des achten Buches. [3143] [3147]

Neuntes Buch

1. Capitel. Tempelheide
Erstes Capitel
Tempelheide

Des Herbstmorgens erste Frische war vorüber. Die Nebel, die der Sonne Aufsteigen umschleierten, sanken auf die große Ebene nieder, in deren breiter Ausdehnung die Hauptstadt hingegossen lag mit ihren Kirchthürmen, ihren Riesenschornsteinen, dem Dampf der Essen, dem aufgewirbelten Staub der Straßen und Plätze, einer Hülle, die den schärfsten Pfeilen des Sonnengottes Widerstand leistete und mit ewigem Grau, zu jeder Jahreszeit, selbst gegen die reinste Bläue des Himmels Einspruch that. Rings aber um die große Ebene und ihr Gewühl zog sich ein grüner Rand, unentweihter, je entlegener von der Berührung mit den Menschen des Trottoirs. Am westlichen Ende Solitüde mit seinem Park, seinen Niederungen, seinen Eichenhainen; am östlichen eine Aufdachung von Sand- und Kalksteinbergen, dicht bewaldet, von Straßen, von Eisenbahnenkerfen durchschnitten. Tempelheide dieses Aufganges Beginn. Wie eine Hüterin lag die alte Kirche mit ihren Linden oberhalb der Landstraße, die an Lebendigkeit gewonnen hatte, seit der allmächtige Fürst Egon von Hohenberg sich von den Mühen eines nun fast [3147] einjährigen Regimentes für einige Wochen auf seinem väterlichen Schlosse ausruhte. Wie ruhig liegt die Stadt da unten, die Egon gebändigt hatte! Nach Solitüde, wo jetzt die königlichen Herrschaften wohnten, sprengten nicht so viel Kuriere, Gendarmen, reitende Boten, wie hier an der alten Kirche mit dem Dreiblattkreuze, dem Gartenpavillon und dem Tannenparke des alten Obertribunalspräsidenten von Harder vorüber nach Hohenberg.

Doch da es hier bergauf ging und Alles langsamer fahren und mäßiger reiten mußte, so wurde der Friede der ländlichen Besitzung nicht zu sehr gestört. Anna von Harder war ohnehin keine krankhafte Einsiedlerin. Sie liebte den Zusammenhang mit der Welt, wenn sie auch nicht an die Welt verloren gehen mochte. Sie saß gern unter dem kleinen Schirmdache, von dem herab sie einst Siegbert Wildungen in der heißen Julihitze einen Becher Weins gespendet hatte. Sie erwiderte gern jeden Gruß, den man ihrer würdevollen hohen Gestalt mit den einfachen Trauerfarben ihrer schlichten Kleidung bot. Zuweilen stand, ein stolzes Rad schlagend, der von glänzenden Farben übersäete Pfau aus dem Hühnerhofe hinter ihr, wie neben der Juno; aber die edle Frau hatte nur die Haltung, nicht den Stolz der Beherrscherin des Olymps. Sie dachte auch von dem majestätischen indischen Vogel anders als die Kinderlehre. Sie gab dem gekrönten Thiere mit dem klugen schüchternen Auge freudig Körner aus ihrer Hand – im Schlitz des Kleides war eine nie leere Vorrathskammer für die Thierwelt ihres greisen Pfleglings –

[3148] und fand den stolzen, wiegenden Gang des schönen Thieres, während das emporgehaltene mit blaugrünen Augen eingefaßte Rad in der Sonne funkelte und wie ein Fächer schwankte, sich hob und sich senkte, eben so würdig wie lehrreich, und oft genug hatte sie die kleine Paulowna Wäsämskoi auf den Pfauengang aufmerksam gemacht, als eigentlich den Gang, der sich in Gesellschaften, Vorstellungen, bei Hofe und mit gesenktem Haupte auch in der Kirche zieme. Die gewöhnliche Thiermoral existirte nicht in Tempelheide. Hier vertrug sich Reh und Hund, Hund und Katze, ja hier war schon vorgekommen, daß eine Katze die Jungen eines Mäuschens aufgezogen hatte.

Für den Tannenhain, der die einfache Besitzung mit ihren grünen Rabatten, dem kleinen Gemüse- und Blumengarten, dem einem Jagdschlosse ähnlichen, gedrückten Hause und die großen Räumlichkeiten des Hofes rings umgab und sie von dem unmittelbar daran stoßenden großen Walde trennte, hätte man freilich lieber ein Gehölz von Buchen, von Linden und Eichen wünschen mögen. Anna selbst hätte diese rauschenden vollen Blätterwipfel sicher lieber über sich schwanken gehabt als diese ewig gleichen, ewig düstern Tannen, unter denen man oft, wenn die Nadeln reichlich gefallen waren, wie auf dem ihr so wenig mehr geläufigen glatten Parkett der Salons wandelte. Tannenzapfen, hölzerne, trockne, kleine Schuppenpyramiden waren ihre einzige Belohnung für die Liebe, mit der sie dennoch auch die Hut dieses Haines führte. Und der alten Excellenz war grade diese durchsichtige [3149] Baumwelt die genehmste. Wie durch einen Mastenwald im Seehafen sah er durch diese lichten, oben röthlich, unten grau schimmernden Stämme. Wie mit staubigen Kamaschen, wie aus der schmuzigsten Straße in die Stadt gekommen, seht ihr aus, ihr schlanken, hölzernen Grenadiere, sagte Anna wol, wenn sie mit dem Alten durch den Park schritt und er sich an ihrem Arme führte. Aber er lobte für seine Zwecke grade diese Durchsichtigkeit. Sein zahmes Reh konnte nicht die jungen Eichenblätter fressen, seine Hühner konnten sich hier nirgend verstecken, seine Katzen nicht auf lauernden Raub gehen, seine Hunde witterten und schnoberten hier nicht wie auf den Anschlag, und fremdes Gevögel, fremde Maulwürfe, Iltisse, Marder waren leicht beobachtet und aus dem offnen Bereich entfernt. An Singvögeln fehlte es auch in den Tannenwipfeln nicht. Die alte Excellenz liebte grade die Kreuzschnäbel und die Holzheher, die unter Tannen am liebsten weilen. Für das süße Rauschen und Flüstern der grünen unzähligen Blätterwelt hatt' er ja seiner guten, bei ihm so liebevoll ausharrenden Schwiegertochter am Ende des Parks auf einer künstlichen Erhöhung von Felssteinen, alten Baumrinden, durchbrochenem Mauerwerk, gleichsam wie in einem alten gothischen Thurmgemäuer – denn das Ganze war auch vom treuen Zeitenbegleitenden Epheu umrankt – harmonisch gestimmte Windharfen aufhängen lassen, die sie für das ewige Gekrächz, Gebelfer, Geschmetter, Gegurr und Gegacker im Vorderhause schadlos halten mußten.

[3150] An dieser melancholischen künstlichen Ruine, die den Blick zunächst auf einen grünen Wiesenplatz und dann in den dichten Tannen-, hier und da von weißen schimmernden Erlen unterbrochnen Wald streifen ließ, suchte eben Anna von Harder ein junges Mädchen auf, das auf einer Bank von ungeschälten Baumästen an einer Lehne von starken geflochtenen Weiden saß, ein Buch in der Hand und bald in die düstre Waldung, bald zum blauen Himmel, bald zu jenem Raben aufsehend, den wir schon als den treuen Begleiter des hier waltenden wunderlichen alten Philosophen kennen. Die Luft war so still, daß die in ihr aufgehängten Leiern nur zuweilen einen ganz leisen, aber auch dann unendlich wehmüthigen Ton erklingen ließen.

Wie blau ist der Himmel! rief Anna schon von unten herauf, die Hand auf die epheubewachsene Treppenlehne stützend. Hier weilst du und liest? Die Bücher über Italien, die aus den Bibliotheken nicht endigen wollen! Komm und zerstreue dich an dem Pavillon! Das ist ein Reiten, ein Fahren nach dem Schlosse Hohenberg! Die schöne Fürstin wird ihre Flitterwochen nicht in Ruhe genießen können.

Statt aller Antwort drückte das junge Mädchen Anna neben sich nieder, legte den Arm um ihre Schulter und preßte sie an ihr Herz.

Ein sanfter Akkord der Luftmusik begleitete den stummen Gruß ...

Sieh! Draußen steht unser Mentor und wartet, daß er folgen darf! sagte Anna lächelnd und zeigte die Ruine [3151] hinab an die erste Stufe der steinernen Treppe auf einen magern, grauen, stelzbeinigen Vogel mit gewundenem Hals und spitzem Schnabel, der hin und her sprang, bald auf das eine, bald auf das andre Bein sein Gewicht legte und sich wie ein Tanzender geberdete.

Als das junge Mädchen schwieg und nur Anna'n inniger die Hand drückte, sagte diese:

So froh solltest du sein wie unsre Thiere! Das springt heute und freuet sich des sommerlichen Tages! Biche und Alkmene jagen sich und spielen wie wilde Buben! Hektor hat Lust, seiner alten Dressur sich zu erinnern, die ihm doch Großpapa um jeden Preis austreiben will. Er zaust die Hühner fast über die Gebühr. Unser Jupiter kann nicht Räder genug schlagen und sich dem Vorüberfahrenden in seinem besten Staate zeigen. Und das Wetter wird sich halten. Die Laubfrösche sitzen auf der obersten Sprosse ihrer kleinen Leitern im Glase. Isis und Osiris putzen sich den Bart und selbst der gespenstische alte große Bafomet, vor dem du sonderbarerweise nicht die geringste Furcht hattest, als du zu uns kamst, selbst Der besinnt sich in seiner majestätischen Würde, daß er den Schöpfer loben muß und spinnt, spinnt, was er seit Jahren nicht gethan hat und was uns Glück bedeuten muß. Komm! Unser stelzfüßiger Lakai wartet draußen. Wollen wir Solitüde besuchen? Wollen wir anspannen lassen und einmal an die Terrasse fahren, die du so liebst? An den Teich, wo man Schwäne füttert, die wir leider nicht halten können, wär' es auch nur, um zu sehen, was wol an dem Schwanengesang [3152] vor'm Sterben Wahres ist! Ach, ich Abscheuliche! Ich wünsche doch immer auch noch Thieren den Tod, um Experimente zu machen! Wenn Das Großpapa hörte! Er hielte mir gleich eine Vorlesung über das Naturrecht! Komm! Komm! Wenn du gesprächig wirst, wie ich, die ich heute wie unsre Elstern plaudere, so erzähl' ich dir auch, was mir den heutigen Tag so ganz besonders lieb und werth macht.

Das junge Mädchen stand schweigend auf. Sie drückte der guten Anna, die so viel Worte seit Jahren nicht in einer einzigen Rede verbunden hatte, mit einer gewissen Feierlichkeit wieder die Hand und ging dann, an ihren Arm sich hängend, die steinernen Stufen hinab, begleitet von dem Nachruf eines Akkords aus den Lüften ...

Anna von Harder wandte sich und sah zu den Schallöffnungen, die den Wind zum Musiker machen, noch einmal stehenbleibend empor ...

Ja! Ja! Ich kenne den Zauber dieser stillen Warte, sagte sie zu dem jungen Mädchen. Wie gern hab' ich auch sonst stundenlang hier geweilt und beim Erwachen der Abendwinde, die meist mit dem Untergang der Sonne eine Weile lebendiger wehen, bis gleichsam die Sterne Kraft gewinnen und wieder Ruhe auf der Erde gebieten, wie oft hab' ich da den Tönen gelauscht, in denen die Luft hier zu uns spricht! Ich wußte freilich, es ist das Alles nur künstlich hervorgerufen, es kommt nicht von selbst, eine menschliche Vorrichtung eroberte sich diesen Gruß der Winde. Und doch ist der Ton als solcher so selbständig, [3153] als Gewordenes doch so ein Ureignes, so ein von Menschenhänden gar nicht zu schaffendes Geschaffenes. Wir können das Licht absperren, ab- und zulassen, anzünden, auslöschen, aber wir können das Licht selbst nicht machen. Kein Seifensieder, kein Kerzenzieher erschafft das Licht. Auch den Ton macht kein Instrumentenmacher. Man erobert ihn nur, man fängt ihn ein, man läßt ihn hinaus, man gewinnt ihn sich und Andern.

Das blasse junge Mädchen hörte und schwieg. Der Vogel, ein Kranich war's, sprang voraus mit seinen wunderlich tanzenden Sprüngen.

Ach, sagte Anna, des Mädchens träumerische Empfindungen unterbrechend, wie gut es unser armer Lakai meint! Der gute Vogel! Sein Tanzen ist keine angeborne Freude. Großpapa kaufte ihn von einem Vogelabrichter, der das arme Thier zum Tänzer für Jahrmärkte gezogen hatte. Auf einen Fußboden von heißen Blechplatten hatte er das Thierchen, als es jung war, eingesperrt. Entsetzt von der Hitze, die sein an Sümpfe und Moor gewöhnter Fuß nicht verträgt, fing es an zu hüpfen und hüpfte und hüpfte so lange, bis es nicht mehr gehen konnte. Armer Schelm, wie bin ich froh, wenn ich dich vor wirklicher Freude tanzen sehe und nicht an die glühenden Kohlen denken muß, die deinen Schmerz zu einer nur scheinbaren Freude machten!

In die ernsten, fast unbeweglich starren Züge des jungen Mädchens schlich sich bei diesen Worten jetzt ein außerordentlich feines, fast bittres Lächeln. Es war als [3154] wollte sie sagen: Das ist die Lustigkeit der Weltbildung, des Zwanges, der Convenienz! Das sind die Bewegungen des scheinbaren Tanzes, die nur von den brennenden Kohlen unter uns kommen!

Anna verstand dies Lächeln und seine Bedeutung sehr wohl. Sie wollte aber, daß Heiterkeit waltete ...

Nein, sagte sie, man soll nicht lügen! Man kann in der Freude und auch im Schmerze zu unwahr sein! Ich mache mir Vorwürfe, daß ich viel zu oft unter meinen Windharfen saß und mich zur Sklavin ihrer traurigen Töne machte! Dann und wann! Wenn die Seele nicht übervoll, sondern wenn sie leer ist! Wenn die Alltäglichkeit uns übermannt, das tiefste Leid, die heiligste Pflicht vergessen ist, dann ein solcher Akkord und gleich haben wir uns wieder gefunden! Ich würde nicht immer in den Büchern über Italien lesen, um mich in Italien heimisch zu fühlen. Ich würde vorziehen, der Gegenwart, der nächsten Umgebung anzugehören und dann und wann plötzlich einen Lichtstreifen, einen solchen goldnen, daß er gleich ganz Rom und alle Seen des Südens uns vorzaubert, über mich fallen lassen. An einen einzigen Lichtstrahl knüpft sich eine ganze Welt! Ich brauche nur einen gewissen Akkord zu hören und gleich weckt er mir eine ganz bestimmte Empfindung. Ich schlage auf dem Klavier einige Töne in A-Moll an und ich sehe gleich aus den Fluthen und Nebeln ein wunderbares Eiland steigen, das Land meiner Jugend, meines Glückes, meiner seligsten Hoffnungen. Fast glaub' ich, daß das Übermaß der in [3155] diesen Ton gesetzten Rhythmen das Bild verscheucht, den Zauber der Erinnerung abstumpft. Ich bin viel zufriedener mit mir, seit ich Pflichten der Gegenwart habe und meinem stillen Kultus der Trauer um die Vergangenheit nur manchmal lebe.

Das junge blasse Mädchen hörte ruhig dem bezüglichen Wort zu und erwiderte den Handdruck, den sie von Anna empfing, die ihren rechten Arm in ihrem linken trug. Sie lächelte ein wenig, als Anna beim Hinausschreiten aus dem Parke, sich umsehend, sagte:

Der grillenfängerische Rabe ist uns nicht gefolgt! Der Schelm trauert, daß man ihm seine Sucht zu stehlen abgewöhnte. Ihm ziemt es, unter den Tannen zu philosophiren. Unser Kranich aber hüpft zum Pavillon. Er weiß, daß wir dort mehr Zerstreuung finden. Sieh, sieh, er ist doch vergnügt der Schelm! Er wirft kleine Steine in die Luft und fängt sie auf! Der Herr Balletmeister amüsiren sich, obgleich Sie pensionirt sind! Ich habe dem Großpapa erst glauben mögen, daß die Thiere der Erziehung fähig sind, als ich sah, daß sie spielen. Gibt es einen redenderen Beweis für eine gewisse Freiheit auch innerhalb der sonst gebundenen Thierseele? Hunde und Kätzchen spielen, Hasen treiben die tollsten Possen, Goldfische mögen sich langweilen, wie alle Vornehmen, aber Forellen wahrlich nicht! Forellen tummeln sich. Und was spielen nicht die Vögel! Auch Pferde spielen und reiben sich mit den Köpfen, selbst wenn sie vor den Häusern der Reichen bis tief in die Nacht frieren müssen und eigentlich ungeduldig [3156] und zornig über uns sein sollten. Nein sieh, sieh, Olga! Sieh den Kranich! Jetzt wirft er ein Hölzchen empor und duckt sich unter ihm weg, daß es ihn im Fallen nicht trifft! Du närrischer Patron du!

Olga Wäsämskoi war es, die eben mit der so freundlich ihr zuredenden und wie wir wol bemerken werden, mit Absicht sie erheiternden Anna von Harder auf den kleinen Rasenhügel stieg, wo jenes Schirmdach stand, unter welchem man im heißen Sommer einigen Schutz vor den Sonnenstrahlen fand. Olga hatte sich zur vollkommnen Jungfrau entwickelt. Zwar nur klein waren alle ihre Formen geblieben, doch zeugten sie von vollendeter Reife; der Bau ihrer Schultern war kraftvoll, der Nacken sicher, das Antlitz von einer Bestimmtheit, die leider, um noch kindlich erscheinen zu können, zu sehr vom auffallendsten Ernste beherrscht war. Die Haut zart, von jenem braungelben Schimmer, wie das Inkarnat des Südens. Die Augen noch schwärzer beschattet als im vorigen Jahre. Die Hüften wölbten sich im schwarzen, sehr langen Atlaskleide, in der Sonne glänzend, von der nicht sehr engen Taille ab. Sie bot das Bild einer südlichen Schönheit, die von unsrer nordischen wespenartigen Grazie kein Merkmal hat. In dichten Flechten war das schwarze Haar im Nacken festgebunden ohne Gefallsucht. Ihr ganzes Wesen schien innerlich und nur zu sehr vergeistigt, nur zu sehr der Wirklichkeit entrückt, von der man nicht wußte, verachtete oder bemerkte sie sie nur nicht.

Das Wesen Olga's seit ihrer Rückkehr von Wien, bis [3157] wohin ihr Rudhard im Frühjahr entgegengereist war, hatte sich als das seltsamste von der Welt angekündigt. Ihren Briefen zufolge hätte man die lebhafteste Empfänglichkeit für alle ihre Umgebungen, ein gewisses Aufthauen aus ihrer früheren oft eisigen Lethargie, eine große Lust der Mittheilung erwarten sollen. Von dem Allen fand sich nichts. Olga war nicht nur ganz in ihre frühere träumerische Art zurückgesunken, sie war viel weiter zurückgegangen, sie zeigte einen apathischen Zustand, der an Starrheit grenzte. Sie war krank, nervenkrank. Sie litt an sich selbst, ohne sich in ihrem Schmerze äußern zu können. Sie bot einen erschreckenden Anblick. Schön, fesselnd, träumerisch, in jeder Beziehung ein weibliches Ideal, entsetzte an ihr eine tödtliche Kälte, die fast wie ein Krampf, wie eine Starrsucht zu nehmen war. Rudhard brachte sie so von Wien zurück. Sie hatte die abenteuerlichste Fahrt von Rom aus gehabt und Rudhard deutete an, daß ihr Zustand mit Erlebnissen zusammenhing, die er verschwieg. Er hätte von Siegbert die einzige günstige Einwirkung auf die in solchem Zustand Wiedergewonnene hoffen müssen. Aber Siegbert Wildungen war bald nach der Flucht seines Bruders durch geheime Warnungen, denen er Glauben schenken durfte, veranlaßt worden, sich von der Hauptstadt und ganz aus dem Lande zu entfernen. Er war erst mit Otto von Dystra nach dem Schlosse Buchau, an die im äußersten Westen Deutschlands liegende Tempelsteiner Ruine gereist, die in voller Wiederherstellung begriffen war. Dann hatte sich Siegbert [3158] zu Louis Armand nach Belgien begeben. Beide lebten in Antwerpen, wo sich Siegbert mit erneutem Eifer auf seine Kunst warf und zu gleicher Zeit für die Zwecke des Bundes so wirkte, wie ihm sein Bruder Dankmar die briefliche Anleitung gab. Als Dystra zurückkehrte, fand er zwar Olga, aber nicht mehr Rudhard. Dieser hatte sich, da die Fürstin Wäsämskoi nicht im Stande war, sich irgendwie mit ihrer Tochter zu verständigen, entschließen müssen, sie und die jüngeren Kinder gleichfalls nach Westen zu begleiten, zum großen Ärgerniß der Welt, die, wir wissen noch nicht, mit welchem Rechte, behauptete, Siegbert Wildungen wäre die Veranlassung dieser Reise. Aber Anna von Harder hatte den Einfluß, den ihr die Fürstin auf sich zugestand, selbst dahin benutzt, ihr diese Reise anzurathen, ihr sogar Paris als künftigen Aufenthaltsort umsomehr vorzuschlagen, als die Gräfin d'Azimont wieder aus Italien zurück war, in Paris lebte und es sich ihrem versöhnlichen Herzen als eine Möglichkeit einschmeichelte, diese Schwestern würden sich eher versöhnen, als es ihr mit der ihrigen, Paulinen, möglich war. Und Olga hatte sie für sich behalten. Jetzt vollends, wo Olga Liebe, Schonung, Pflege verlangte! Olga war von einer Reizbarkeit der Nerven, die die Mutter nimmermehr würde geschont haben. Adele war ergebener geworden, beruhigter durch Anna; sie hatte sich den jüngern Kindern angeschlossen, aber vom Herzen kam ihr der pflegende Muttertrieb nicht. Wie hätte sie Geduld gehabt mit Olga, die jetzt Geduld bedurfte! Im Laufe des [3159] Sommers kehrte Dystra, der in seiner Gewissenspflicht, Olga zur Gattin zu wählen, von dem sich beherrschenden Siegbert nicht gehindert wurde, vom Tempelstein, der im großartigsten Style hergestellt wurde, nach der Residenz zurück und sah nun Olga zuweilen. Er hatte von ihrem so plötzlich verwandelten Wesen gehört. Als er sie in Tempelheide zuerst begrüßte und von ihr mit der Geringschätzung, die er voraussetzen konnte, behandelt wurde, erschrak er, sie in einem Grade abstoßend zu finden, der ihn gleich zu der Bemerkung veranlaßte: Das hat sich gut getroffen! Ein Wesen dieser Art mußte in eine Anstalt kommen, wo man wilde Thiere bändigt! ... Er begriff nicht, wie von diesem Mädchen jene Briefe hatten herrühren können, die ihn so fesselten. Er hatte noch auf der Reise nach dem Tempelstein zu Siegbert gesagt: Wildungen, wir führen zusammen einen psychologischen Konflikt auf, an dem mir nur störend ist, daß er zu sehr an die Gefühlswelt des achtzehnten Jahrhunderts erinnert! Sie wissen, ich halt' es mit dem neunzehnten und erlebe auch noch die zeitgemäße Ummodelung, daß Sie von Olga vergessen werden oder daß Sie sie selbst vergessen! ... Nun aber Olga wirklich sehend, fand er es auch unmöglich, daß sie noch Siegberten fesseln würde. Er schrieb ihm nach Antwerpen, er wisse nicht, was er von diesem erstarrten Zustande denken sollte. Er hätte ein Leben voll Beweglichkeit, Geist, Phantasie, auch manche Thorheit erwartet und fände nun ein todtes, kaltes Marmorbild! Dystra konnte die Geduld, die Anna von [3160] Harder hier entfaltete, nicht genug rühmen. Und doch zeigte er dieselbe Geduld, ohne sein Verdienst zu wissen. Er fuhr alle drei, vier Tage nach Tempelheide, brachte immer etwas Anregendes, etwas Überraschendes mit und begnügte sich, nach Olga zu fragen. Sie selbst sah ihn nicht. Wie sie nur des kleinen, aber elegant sich haltenden, mit Grazie sich bewegenden Mannes ansichtig wurde, entfernte sie sich, was Dystra immer auf Rechnung seiner Mohren schrieb. War es Liebe, war es Pietät für seinen verstorbenen Freund, den Fürsten Wäsämskoi, war es der Reiz ein Räthsel zu lösen, er konnte sich der Hoffnung, in Olga wieder einen Lebensfunken geweckt zu sehen, nicht erwehren, so sehr er auch zugestehen mußte, daß eine Heirat mit einer so eigenthümlichen Organisation ein Opfer war, für das man nicht Dank, sondern Spott ernten mußte. Drommeldey, der vielgesuchte, Alles begutachtende Arzt der Mode, hatte gesagt: Bei dieser Krankheit heißt es: Ce n'est que le premier pas, qui coute! Dies Mädchen muß heirathen, dann wird sich das Übrige finden.

Starr wie jene Brunhild der Sage, die Jedem, der sie freien wollte, einen Ringkampf anbot und die Männer an dem Gürtel aufhenkte, den sie ihr lösen wollten, saß Olga neben der zutraulichen, durch sie ganz aus ihrer bisherigen Gewohnheit gekommenen Anna, die von dem Mädchen, trotz des Scheines ihres liebevollsten Antheils für sie, nicht einmal die Frage abgewinnen konnte: Was wolltest du mir von der Wichtigkeit des heutigen Tages für [3161] dich sagen? Sich aufdrängen mit einem innersten Herzensinteresse war Anna's Art nicht. Sie nahm das Körbchen mit Handarbeiten, das sie hier oben zurückgelassen und begann Spitzenbesätze zu nähen, während Olga ihren Worten ruhig zuhörte und nur die Zwirnrolle zuweilen ergriff und mit ihr ein gedankenloses Spiel trieb ...

Daß hier die Stelle war, wo Siegbert Wildungen einst Anna von Harder zuerst gesehen, wußte Olga. Sie kannte aus dem Skizzenbuche ihres Freundes diese Kirche, den Friedhof mit der unregelmäßigen, zerfallenen Mauer und den schon längst wieder abgeblühten weißen Fliederhecken. Sie kannte die Stelle, wo in der Skizze Hackert im Korn liegend angedeutet war. Es waren ihr das Alles heilige Plätze, schon lange, lange geweiht; denn Siegbert besaß eine Gemüthlichkeit guter Herzen, die von ihren angenehmen Erinnerungen erzählen und Jeden, den sie lieb haben, gern in den ganzen Zusammenhang ihres Lebens versetzen. Er hatte längst schon im vorigen Jahre Olga auf diesen Punkt aufmerksam gemacht, wo man die gewaltige Ausdehnung der Stadt am reichsten übersehen und ihr inneres Leben gleichsam wie einen fernen unsichtbaren Wasserfall rauschen hören konnte. Ob sie jenen Erinnerungen nachhing? Sie verrieth nicht eine Spur von Dem, was in ihrem Herzen lebte.

Anna hatte grade heute wieder eine ihrer musikalischen Akademieen. Dann wurde ausnahmsweise um zwei Uhr gegessen, um drei Uhr kamen die Mitglieder des Gesangvereins, der bis fünf, sechs Uhr dauerte, weil es [3162] mit der Regelmäßigkeit des Kommens sehr schlimm aussah. Jene gelüfteten Fenster des Parterre gehörten zu dem Musikzimmer, das Anna schon geordnet hatte. Da waren die Tische und Stühle schon aufgestellt, schon mit den Noten belegt, die heute gesungen werden sollten. Sie sprach davon, wie sie immer in bangsüßer Erwartung einer solchen Übung, in Freude und Furcht zugleich, entgegenharre und beklagte, daß Olga weder Freude an diesen Musiken empfand, noch selbst an ihnen Theil zu nehmen versuchte.

Du erinnerst mich darin, sagte sie noch heute wieder, an die schöne Melanie, die jetzige Fürstin von Hohenberg! Diese von vielen Frauen verabscheute, aber nicht so schlimme gefeierte Schönheit war ohne Stimme, ohne musikalisches Gefühl, aber sie nahm Antheil an unsern Übungen und nützte durch ihr vortreffliches Pausiren. Sie, die ein Recht hatte, die Zerstreuteste von Allen zu sein, zählte am besten.

Olga hätte nun Gelegenheit gehabt, lebendig zu werden. Jene Melanie wurde erwähnt, die sie selbst in ihren Briefen als letzte Zuflucht jenes von ihr in so grellen Farben geschilderten Egon bezeichnet hatte. Sie hätte doch ausrufen müssen: Also wirklich ist Melanie die Fürstin von Hohenberg? Wie kam Das? Wie war Das möglich? Um Melanie diese Bewegung hier auf der Landstraße? Um sie diese trappelnden Pferde, diese rollenden Reisewägen, dies Detachement Dragoner, das sich auf der Straße bis Hohenberg vereinzelt zu postiren scheint?

[3163] Um Melanie dieser Staub, der glücklicherweise uns hier unter dem Pavillon nicht erreicht? Nichts von alle Dem. Sie hörte nur, wickelte an der Zwirnrolle, las eine Weile im Buche, hörte den Verhandlungen Anna's mit der zuweilen Raths erholenden Dienerschaft zu, folgte alle Dem, was sie da vernehmen konnte, aber selbst schwieg sie. Sie schwieg zur lauten Erörterung manches Billets, das von der Stadt kam. Frau von Dahlen entschuldigte ihr Ausbleiben bei der Akademie. Frau Gräfin Mäuseburg im Gegentheil versprach nächstens eine junge Diakonissin, die eben erst vom Rheine gekommen war, mitzubringen und sie für die Akademie vorzuschlagen. Aktien, Loose, Unterschriften wurden angeboten oder von Anna gewünscht, wie Das im Leben eines mildthätigen Wesens den ganzen Tag nicht abreißt. Schriftchen wurden geschickt von Geistlichen, von Vereinen, sogar zwanzig-, dreißigfach kleine Traktätchen, die Anna befördern, verbreiten sollte. Eine Gesindebelohnungsanstalt schickte Rechnungsabschlüsse. Und dann das Klingeln am großen Hofthor, wenn der Aktenwagen vom Obertribunal kam und für die greise, in der Stadt befindliche Excellenz die Akten repositorienhoch hereinfuhr und diese Ballen abgeladen wurden in der großen Aktensammlung rechter Hand beim Eintritt in das zweistöckige Wohnhaus! Und wieviel kleine Miethswägen fuhren nicht vor und brachten nichts, als von jungen angehenden Rechtspraktikanten, neubeförderten Unter- und Hülfsarbeitern, jungen beim Obertribunal zugelassenen Advokaten Visitenkarten, [3164] um sich dem Chef der Landesjustiz zu empfehlen! Dazu dann der ewig bewegte Verkehr mit dem lebendigen Hofe, seinen Ställen und kleinen Käfigen! Auch heute mußte Anna lachen, wie sie schon von der Straße her einen Mann mit einem Tragkorbe auf dem Rücken erkannte, einen Thüringischen Vogelhändler, der regelmäßig des Jahres einmal bei ihnen vorsprach und dem alten Herrn seine neuesten Gesangskünstler aus dem Harze vorführte. Der Mann schwang schon in der Ferne die Mütze und grüßte mit seinem Vogelgesichte. Er hatte selbst die Physiognomie seiner Vögel angenommen, war zum Thiere herabgestiegen, während bei ihm die Thiere emporstiegen. Dem altbekannten Papageno aus Thüringen ging Anna selbst entgegen, empfing ihn im Vorhofe, hob die Decke von seinem Vogelkasten, in dem es hinund her zwitscherte und lustig auf- und niederhüpfte, ließ ihm von dem ältesten Bedienten, der in jungen Jahren selbst ein gelernter Jäger war und über diesen Gruß aus dem Walde seine innigste Freude hatte, – war er doch die rechte Hand des Präsidenten bei seinen Lieblingsexperimenten – ein vollständiges Frühstück vorsetzen und vertröstete ihn, seinen vieljährigen Gönner, der ihm immer abkaufte und noch lieber sich mit ihm unterhielt und von seinen Beobachtungen in der Vogelwelt sich erzählen ließ, nach zwei Uhr sprechen zu dürfen ...

Der Vogelhändler stellte seinen Kasten in die Hausflur, dicht neben ein großes Drahtgitter, hinter dem es unten von Kaninchen, im zweiten Stockwerke von Dohlen und [3165] Raben, im dritten von kleinen Singvögeln lustig genug wimmelte. Biche und Alkmene, zwei hohe wie die schönsten englischen Misses schlanke Windspiele, umhüpften den Wohlbekannten freudig. Die drei Hauskatzen, Isis, Osiris und der große augenfunkelnde Bafomet, ein Kater, wie ihn die Egyptier mochten verehrt haben, schlugen mit ihren langen Schweifen hoch auf voll Gelüst und Erregung über die appetitliche gefiederte Zufuhr des Käfigs. Aber sie bezähmten sich, da der alte Diener Sorge trug, ihnen grade im erwachenden Gelüst ihre Mittagsration vorzusetzen. Der Vogelhändler bekam auf einem Tisch in der steingepflasterten Hausflur seinen Imbiß ...

Es schlug eben ein Uhr; eben wollte Anna die Begleitung der Musikstücke, die heute in diesem wilden Bereich, fast wie Amphion that vor den Thieren, die er durch die Leier zähmte, aufgeführt werden sollten, noch einmal durchspielen, eben trieb der alte Diener eine kleine Schildkröte, die seit Jahr und Tag im Hause frei herumlief und von Musik wie die Spinnen nahe gelockt wurde, zum Saale hinaus – die Akademie hatte die Bedingung jeder Sicherheit vor etwaigen thierischen Überfällen in der Luft oder wol gar vor kriechendem Auditorium auf der Erde – als zwei rasch daher fahrende Wägen Anna's Aufmerksamkeit fesselten, sie sich erheben und dem Sanitätsrath Drommeldey und Otto von Dystra, die eben zusammen durch das von den beiden herabgesprungenen Mohren schon geöffnete Hofthor eintraten, entgegen gehen mußte.

[3166]
2. Capitel. Die Natur und das Wunder
Zweites Capitel
Die Natur und das Wunder

Anna von Harder empfing ihren Besuch im Musiksaale, einem geräumigen Eckzimmer, das trotz seiner vier Fenster etwas Düstres hatte, denn das Glas der Scheiben war nicht das weißeste, die Fensterrahmen, wie am ganzen Landhause, waren grün angestrichen.

Dystra und Drommeldey hatten sich erst auf der Chaussée getroffen. Seit Drommeldey die Vermuthung des Barons, man könnte mit Olga vielleicht eine magnetische Kur beginnen, entschieden abgelehnt hatte, war zwischen ihnen die Erörterung ihres offenbar krankhaften Zustandes nicht mehr zur Sprache gekommen ...

Dystra, der Anna einen großen Strauß der ausgezeichnetsten Blumen überreichte – die Gärtnerei wurde in Tempelheide vernachlässigt – erklärte sogleich, er wisse, daß Drommeldey irgend etwas Geheimnißvolles mit der Frau Landräthin von Harder zu verhandeln hätte. Er wäre heute gekommen, um auf längere Zeit sich zu einem Ausfluge nach dem Tempelstein, zu einem Besuche der Fürstin in Brüssel zu empfehlen. Wo Olga wäre? Er müsse sie doch wenigstens zum Abschied sehen.

[3167]

Und Drommeldey bestätigte zum Schrecken Anna's, die etwas Unglückliches erwartete und auch von Abschieden immer sehr bewegt war, wie vielmehr an diesem Tage, den sie so hoch erhob, eine geheime Absicht. Sie wußte kaum, was sie erwiderte, als sie sagte, Herr von Dystra würde Olga unterm Pavillon finden ...

Der Baron, im schwarzem Schnurrock, weißem Kastor, die citronengelb gantirten Hände in die mächtige Brust steckend, wandte sich dem Pavillon zu, um einen Versuch zu machen, mehr als jenes halbdutzend Worte von Olga herauszubekommen, das er bis jetzt erst aus ihrem Munde gehört hatte. Während wir ihn seinem guten Glück überlassen, sah sich Drommeldey, als er allein mit Anna von Harder war, lächelnd in dem Zimmer um, betrachtete mit satyrischem Wohlgefallen die aufgeschlagenen Notenblätter und sagte mit einer fast verschmitzten Vertraulichkeit:

Gnädige Frau, nicht wahr, Sie haben heute Akademie?

Pergolese, Bach und ein Hallelujah von Händel.

Sehr gut! Rüsten Sie sich auf Besuch!

Besuch? Wir schließen jeden Besuch aus, Sanitätsrath! Es sind unsre Statuten –

Es gibt Personen, die über Ihre Statuten erhaben sind!

Sanitätsrath!

Liebe Landräthin, ich kann Ihnen nicht verschweigen – um drei Uhr beginnt Ihre Akademie – gegen halb vier Uhr werden gewisse Herrschaften vorüberfahren – man wird die Klänge von Pergolese, Bach und Händel hören – diese [3168] Herrschaften werden aussteigen – rüsten Sie sich, von Ihren Statuten eine Ausnahme zu machen!

Anna von Harder war fast auf einen Sessel zurückgesunken. Ihren gereizten Nerven bot diese Nachricht zuviel. Was jede Andre mit Jubel, mit freudestrahlendem Enthusiasmus aufgenommen hätte, warf sie nieder; sie konnte nur vorwurfsvoll, fast bittend zu dem Arzte, dem Seelen-Diplomaten des Hofes, emporblicken, als wollte sie sagen: Drommeldey, wie konnten Sie mir Das thun!

Sie sind selbst Schuld an diesem Überfall, sagte das kleine magere Männchen, rückte an seiner weißen Halsbinde und wischte sich von dem Jabot einige Reste der letzten Prise, die er unterwegs Jemandem, vielleicht Schlurck, abgenommen – Drommeldey trug selbst keine Dose, weil er Fälle hatte, daß ihm nervenschwache Damen bei seiner ihn nun genug folternden Liebe zum Schnupfen die Praxis gekündigt hatten – Sie sind selbst Schuld daran, liebe Frau Landräthin! Sie wissen, wie Sie der Hof verehrt! Sie wissen, wie oft man es Ihnen nahe gelegt hat, Sie sollten der Königin die Freude einer näheren Beziehung gönnen! Sie glauben nicht, wie sehr man in dieser Sphäre nach Gründen sucht, warum sich der Mensch täglich zwei, drei Stunden der Nothwendigkeit, über Toilette sprechen, Kleider an- und auszuziehen, Proben mit neuen Mustern machen zu müssen, auszusetzen hat! Alle Tage drei Mal umkleiden, das erfordert ein bedeutendes geistiges Gegengewicht! Seit Frau von Altenwyl am Hofe im vorigen Jahre von der Mauerschwalbe, von Shakespeare, [3169] von Ihrem Tempelheide, der Thierseele, Pergolese, Bach und Händel erzählte, wuchs die Sehnsucht, Sie kennen zu lernen, bis zur Ungeduld. Der schlimme Winter, die politische Gährung dieses Frühjahrs, die mancherlei herbe bittre Erfahrung auf und an dem Throne trotz seiner erhöhten Sicherheit kam störend dazwischen. Nun aber ist der Wunsch dieser respektablen Menschen auf's Neue rege geworden. Entziehen Sie sich ihm nicht ...

Was kann ich ... was soll diese schwache Musik ... und der alte Herr ... unsre stillen Gewohnheiten ... diese Unordnung ...

Lassen Sie das Alles gut sein, meine Beste! sagte Drommeldey. Ich kann Ihnen, ohne Sie erröthen zu machen, den Reiz nicht analysiren, den Sie auf die Herrschaften ausüben! Es liegt Das sehr tief und geht bis in die magnetischen Strömungen. Wenn ich bei meinem alten Freunde, dem Justizrath Schlurck wäre und er nicht seit dem glänzenden Avancement seiner schönen Tochter einen Hang zur Schwermuth bekommen hätte, so würden wir über diese magnetischen Strömungen, ihren Zusammenhang mit dem Zeitgeiste, über Hofromantik und die christliche Staatstheorie sehr viel humoristische Knallbonbons wie beim Dessert eines guten Diners gegenseitig aufziehen. Allein Ihnen selbst gegenüber, die Sie diesen Zauber ausüben, Ihnen kann ich nur als Arzt sagen, daß Sie mir einen Gefallen thun, wenn Sie geduldig abwarten, was dieser Nachmittag über Sie verhängen wirdDas[3170] war das rechte Wort! sagte Anna von Harder und seufzte tief auf und sprach die Worte aus der Bibel, die Johannes der Täufer zu den Neugierigen sagte: Was seid ihr in die Wüste gekommen, um einen Mann zu sehen, der von Heuschrecken lebt? Ich bin nicht werth, Denen, die wirkliche Anerkennung verdienen, die Schuhriemen aufzulösen.

Drommeldey, der die Bibel kannte, wie Voltaire und Kaunitz, aber nur um sie zu komischen Bildern zu benutzen, Drommeldey lächelte und warf eine Bemerkung dazwischen, die Anna nicht einmal verstand:

Brav! Bleiben Sie bei Johannes dem Täufer! Wäre nur der Papa Methusalem zu bewegen, auch Stand zu halten. Der König hat die Absicht, ihn nach dem Prozeß über die Johannitererbschaft zu fragen, die jetzt auf seiner Entscheidung beruht! General Voland ist voll von den neuen Gesichtspunkten, die der alte Herr für diese Angelegenheit gefunden haben soll und studirt alle alten Turnierbücher, um sich zu überzeugen, was propinqui equites sind und hat wie gewöhnlich fünf bis sechs Standpunkte darüber, die er bei Hofe sonderbarerweise alle zugleich vertritt.

Auch Das noch! sagte Anna tonlos und fügte hinzu, daß den Präsidenten Erörterungen über Gerechtigkeitsfragen, selbst dem Landesherrn gegenüber, verstimmen würden ...

Nur Muth! Nur Muth! rief Drommeldey und reichte Anna die Hand. Nur unbefangen! Die Mitglieder der[3171] Akademie dürfen kein Wort von der Überraschung wissen! Verstehen Sie? Befangenheit würde den ganzen Eindruck stören –

Aber warum unterrichten Sie mich zuerst selbst, lieber Mann?

Das will ich Ihnen sagen, Frau von Harder. Ihr Tempelheide kommt den Menschen wie ein verzaubertes Schloß vor. Der Hof möchte es gern auch nur als verzaubertes Schloß auffassen und gefällt sich darin, drei Tage lang von Nichts als von einem verzauberten Schloß zu sprechen ...

Sie sind schlimmer als die Demokraten, Sanitätsrath!

Beste! Ich gehöre nur einer andern Philosophie an als der des Hofes! Ich bin kein Pythagoräer wie Ihr alter Schwiegerpapa, ich bin kein absoluter Epikuräer wie Schlurck, kein relativer wie Otto von Dystra, kein Neuplatoniker wie Voland von der Hahnenfeder, kein dialektischer Eleat wie Rochus oder Stromer, ich bin meiner Stellung gemäß Eklektiker. Dieser Besuch bei Ihnen thut den mannichfach verstimmten, an wahrer Befruchtung armen Gemüthern dieser hohen Personen wohl. Doch, fürcht' ich, denkt man sich Ihre Existenz romantischer und fabelhafter, als sie ist. Als Katharina von Rußland nach der Krim reiste, ließ ihr Potemkin gemalte Städte in die Ferne als Vexierprospekte russischer Volkswohlfahrt stellen. Belügen wollen wir die Herrschaften weder mit der Musik noch mit den gezähmten Thieren, aber nothwendig wird es sein, daß Ihr hiesiges Gewimmel und [3172] Gekrabbel, das Gebelfer und Gezwitscher nicht gefährlich erscheint. Den Tanzmeister mein' ich, die drolligen Puterhähne, die Windspiele Biche und Alkmene – Sie wissen nicht, wie unbeliebt ohnehin alle Erinnerungen an Friedrich den Großen sind – auch die gebesserten Raben müssen in Obhut bleiben und besonders hoff ich, daß die Schildkröte, obgleich sie dem Apollo heilig ist und die erste Veranlassung der Musik wurde, ja sogar von Phidias für seine berühmte Statue der Aphrodite als Piedestal benutzt wurde – worin mein Freund Schlurck einen gewissen Zusammenhang zwischen Venus und den Mokturtelsuppen entdecken würde – ich sage, daß Sie diese schreckliche Bestie gleichfalls nicht als Wirklichkeit in den schönen Traum, der hier geträumt werden soll, hineinkriechen lassen.

Anna von Harder war nicht so reflektiv und politisch gestimmt, daß sie etwa hier eingeschaltet hätte: Also so würden die Großen bedient, so würden ihnen die romantischen Täuschungen erleichtert, so würde in den Waisenhäusern die Suppe erst kräftiger gekocht, wenn sie eine Prinzessin kosten sollte ... Sie erinnerte nur an die Statuten, die schon die Sicherheit aller Sänger und Sängerinnen vor den Liebhabereien des Großpapas bedingten; genug, Drommeldey konnte schließen:

Also sammeln Sie sich! Es bleibt dabei! Gegen vier Uhr kommen die Herrschaften und verrathen Sie uns Niemanden!

Damit erhob sich Drommeldey, fragte noch flüchtig [3173] nach Olga, wollte keine Begleitung dulden und eilte aus dem Musikzimmer, verfolgt von dem bittenden, vorwurfsvollen Blick der in Erschöpfung niedergesunkenen, von solcher Aussicht auf ihr so nahe bevorstehendes »Glück« fast vernichteten Anna ...

Draußen aber hielt Dystra den schnell dahineilenden Eklektiker mit einer Entschiedenheit auf, die ihn verhinderte, nur an eine kleine Plauderei zu denken ... Was? Eine Konsultation? sagte der Arzt.

Dystra zog Drommeldey vom Hofe über die Rasenbeete zu dem Pavillon hinauf ... Spartakus und Cicero, seine Mohren, unterhielten sich inzwischen mit dem zahmen Reh, lachten über den Kranich und erkundigten sich in der Küche nach etwaigen Rum- und Arracvorräthen.

Wie mich meine Verlobte an dieser Stelle sah, berichtete Dystra, ergriff sie die Flucht. Zwar würdevoll, majestätisch, aber so entschieden negativ, daß ich die Lächerlichkeit scheute, sie zu verfolgen. Sie huschte unter die Tannen, wie die Pfauen da, die ein häßliches Geschrei verführen ...

Sie werden magerer, Baron! Diese Liebe ruinirt Sie ...

Ich kenne jetzt, antwortete Dystra, Drommeldey auf einen Gartenstuhl drückend, ich kenne jetzt die Geschichte der Rückreise Olga's von Rom und muß sie Ihnen andeuten, damit Sie eine Ansicht aussprechen.

Wohlan! sagte nach der Uhr sehend, der ärztliche Rathgeber, der in der Kenntniß der geheimen Verwickelungen des Lebens von keinem Beichtvater der Welt übertroffen [3174] wurde. Aber schade, daß Sie nicht schnupfen, Baron!

Und in der That sprach Drommeldey, der mit allen Geruchsnerven seiner gehobenen Nase Schnupfer war, den alten Bedienten des Hauses, der um die Erlaubniß bat, Wein oder Wasser auftragen zu dürfen, nur um seine Dose an und regalirte sich im Vorrath mit einer solchen Befriedigung an diesem pikanten Blätterdünger, wie sie seine ganze Natur, auch seine geistige, zu bedürfen schien.

Dystra erzählte nun, daß er von Rudhard aus Brüssel einen Brief erhalten hätte, der ihm den Schlüssel dieses sonderbaren Benehmens der aus Italien heimkehrenden Olga gegeben. Die Familie, der man Olga in Rom anvertraut, hätte aus mannichfachen Elementen bestanden. Statt Schutzes hätte sie von Seiten einiger jüngerer Mitglieder jene quälende Huldigung erfahren, die zuletzt ein Mädchen, das auf die begehrte Hinneigung nicht einginge, wahrhaft erschöpfen und in einem Grade abspannen könne, daß sie einen Ekel und Überdruß an sich selbst empfände. In Venedig hätte Olga die unausgesetzten Galanterien zweier jungen Söhne der Herrschaft, mit der sie reiste, nicht mehr ertragen mögen und das Leiden eines selbständig in der Welt auftretenden weiblichen Wesens, da ihr die Waffen des Humors fehlten, so lästig gefunden, daß sie mit Freuden auf den Vorschlag eines älteren Mannes eingegangen wäre, sie bis Wien in seinen Schutz zu nehmen. Ohne Abschied von der Familie zu [3175] nehmen, rücksichtslos, frank und frei, ganz in Olga's Art, die das Tragische hätte, daß sie aus dem empfindlichsten Zartgefühl für Tugend leichtsinnig erschiene, wäre sie von jenen Menschen geschieden und hätte den Vorschlag eines älteren Mannes, sie nach Wien zu führen, angenommen. Sie kannte diesen Mann als zuverlässig von Rom aus: es war ein Jesuit, der Professor Sylvester Rafflard ...

Himmel! unterbrach Drommeldey erschreckend ...

Kennen Sie ihn?

Erzählen Sie! Das Mädchen ist die neue Clarisse Harlowe ...

Dystra fuhr fort, nach Rudhard's Mittheilungen zu berichten, daß Olga diesen Mann nur von Rom und dem Hause der Gräfin d'Azimont gekannt hätte. Sie hätte mit Freuden von ihm vernommen, wie er immer gegen den Fürsten Egon gesprochen, wie er der damals noch von ihr verehrten Helene die Charakterlosigkeit dieses Treulosen unbarmherzig vorgehalten, bis Helene selbst »charakterlos« geworden. Damals schon hätte sie zu jenem gefälligen Hausfreund ihre Zuflucht nehmen, seinen Rath begehren wollen. Nun fand sie ihn in Venedig auf dem Balkon eines Hotels, wo sie schwermüthig in den großen Kanal blickte und ihn für einen Retter vor den Unarten zweier jungen modern erzogenen Söhne der schwachen Dame, mit der sie reiste, ansah ...

Sie kam aus dem Regen in die Traufe! unterbrach Drommeldey mit prosaischer Wahrheit einen Zustand, [3176] der in der auf den gefährlichsten Bahnen wandelnden Olga tragisch genug zum Bewußtsein gekommen schien. Dieser gefährliche Mensch! Ich lernte ihn bei Helene d'Azimont kennen und wurde so mit der Beschleunigung des Wiedersehens zwischen ihr und dem damals fieberkranken Prinzen Hohenberg gedrängt, daß ich, um diese Krisis minder gefährlich zu machen, zur List und Verschlagenheit greifen mußte. Noch ist mir ein Räthsel, welche Rolle jener Faun in diesem Verhältnisse spielen wollte.

Und diesen Mann, sagte Dystra, hab' ich von bedeutenden Notabilitäten der Residenz rühmen hören, habe Rochus vom Westen entrüstet gesehen, als es hieß: Ein Jesuit ist ausgewiesen. Auf dem Wege nach Wien, wohin ihn wol geheime Aufträge führten, muß er seiner ganzen Natur die Zügel haben schießen lassen. Das arglose Mädchen wollte sich von den Nadelstichen kindischer Huldigungen befreien und verfiel in eine Gefahr, die Sie ermessen können, wenn Sie Rudhard's Geständniß hören, das ungefähr in der Thatsache besteht: Er kam nach Wien, fand Olga nicht in dem Gasthofe, wo die aus Rom rückkehrende Familie hatte absteigen wollen. Diese Familie traf endlich ein. Olga blieb aus. Wie bebte sein Herz, als er den Namen Rafflard nennen hörte! Der alte Pädagog, ewig geneckt von den Extremen der Zeit! Sein Zögling in solcher Gefahr! Die Taube in den Krallen des Geyers! Was sollte er thun? Bleiben, reisen? Er suchte den Beistand der Regierung. Er bot Alles auf, zu einer genauen [3177] Kenntniß der Route zu kommen, die Sylvester Rafflard mit Olga genommen hatte. Oft wär's ihm, dem besonnenen, kalten Manne gewesen, als hätt' er mit der Stirn gegen die Wand rennen müssen! Endlich hätte er erfahren, daß ein älterer Herr mit einem jungen Mädchen von Triest über Udine nach Steiermark gereist wäre. Aus spätern fragmentarischen Berichten ergab sich, daß Rafflard die katholische Schwärmerei Olga's zu irgend einem Lebensplane nutzte, ihr eine Rundreise durch Klöster und Abteien als eine romantische Verschönerung ihres nächsten Reisezweckes vorhielt und gradezu auf eine Eroberung nicht nur für die Kirche, sondern vielleicht gar für die Heiligengeschichte zusteuerte.

Drommeldey blickte fragend auf ...

In der That, Doktor! sagte Dystra. Es ist schaudervoll, wie weit die mittelalterlichen Rückfälle gehen. Man wird mit ihnen grade wieder bei Thümmel's Reisen ankommen. Rafflard hatte in Rom die Leidenschaft Olga's für die katholische Kirche bemerkt. Der Kriticismus ihres Erziehers hatte ihr keine Waffen in die Hand gegeben gegen den verführerischen Reiz der Musik und des entzündeten Weihrauchs. Da findet er in Venedig dies Kind wieder, das sich ihm mit seinem ganzen schwärmerischen Unbedacht in die Hände liefert. Weit entfernt, sich ihr durch seine schlimme Natur verdächtig zu machen, legt es Rafflard darauf an, Olga's Überspannung bis zum Visionären zu steigern und sich in der hierarchischen Sphäre, wie man das jetzt sehr gut durch Extreme kann, einen Namen zu [3178] machen. Er spricht bei Geistlichen mit ihr vor, die die Sehnsucht des Mädchens nach diesem Extremen steigern. Hier und da eine aus den höheren Ständen in den geistlichen getretene Nonne muß Olga in dem Vertrauen auf innere Offenbarungen stärken. Sie wissen, daß jetzt überall Wunder der katholischen Kirche wieder auftauchen! Bilder schwitzen Blut, an visionären Mädchen auf dem Lande zeigen sich die Leidensmale Christi, es ist, als schwankten wieder alle festen Normen und Naturgesetze, als ergriffe die Menschen in gewissen Gegenden der St.-Veitstanz der Ideen, die Alles im Wirbel mit ihnen umdrehen. Dieser Rafflard soll alle Stadien eines pädagogischen Abenteurers durchgemacht haben und als wahrer Seelenverwüster nun damit enden wollen, Heilige zu schaffen. Er fand in jenen mit Geistlichkeit jedes Ordens gesegneten, zur Donau auslaufenden Bergthälern Hülfe genug, Olga zu fesseln, bei ihrem aus Liebesgründen nicht gesteigerten Verlangen nach der Rückkehr zu den Ihrigen sie planlos umherzuführen, bis sie in einen Zustand kommen mußte, den ich mit jener Zähmung der Schlangen in den Kästen der indianischen Zauberer vergleichen möchte, mit jener Erstarrung durch umhüllende Decken, die eine Lethargie, eine Geistesohnmacht, eine Willenlosigkeit zurücklassen, an welcher man erlebt hat, daß Frauen für heilig galten, sie wußten nicht wie und daß sie sich inspirirt glaubten, sie wußten nicht von Wem, wol aber an sich selber glaubten, an ihre eigne Geistesverwirrung wie an ein Evangelium, das Unsichtbare [3179] ihnen zuriefen, ja daß sie stigmatisirt waren, ohne es zu wissen ...

Drommeldey sprang auf. Er hatte erst gelächelt, erst wirklich an Thümmel's Reisen, die er und Schlurck ausnehmend liebten, gedacht. Nun aber überwältigte ihn der Zorn. Er erging sich in Verwünschungen eines wahnsinnigen Zeitalters – und hatte doch eben selbst diesem wahnsinnigen Zeitalter sich zum Opfer dargebracht, seine Logik, seinen klaren Verstand, seinen Voltaire dem Mittelalter und einer am Throne doppelt gefährlichen Romantik preisgegeben!

In Linz, fuhr Dystra fort, entdeckte endlich Rudhard die Flüchtlinge. Die Jesuiten, die oben auf der schönsten Aussicht über die Donau und die Steiermärker Berge wohnen, mögen Rafflard angezogen haben. In der Wohnung einer besonders bigotten vornehmen Sternkreuzordens-Dame war Olga wie eingebürgert und wurde von dieser und einem Dutzend hoher Geistlicher gleich einer Heiligen behandelt. Ich zweifle gar nicht, daß es darauf abgesehen war, das Kind in einen magnetischen Zustand zu versetzen. Rudhard fand sie, wie sie schlummernd auf einem Ruhebett lag, die Brust mit einem Kreuze bedeckt ...

Das Kreuz war ein Magnet!

Das vermuthet Rudhard selbst und beklagt sich, desselben sich nicht bemächtigt zu haben. Er wäre im Hotel abgestiegen, schreibt er mir, hätte sich bald von Olga's Anwesenheit unterrichtet, wäre ohne lange zu forschen, [3180] ohne sich um die hohen Titel jener bigotten Frau zu kümmern, in die Zimmer eingetreten, hätte in stürmischer Hast nach Olga verlangt, sie im Nebenzimmer entdeckt, aus einem Schlafe wachgerufen, der sie, selbst als sie die Augen aufschlug, noch nicht zu verlassen schien. Sie wäre ihm gefolgt, hätte seine Ansprüche auf sie ruhig anerkannt, hätte mit sich geschehen lassen, was geschah. Rafflard wagte sich, als er Rudhard's Namen hörte, oben von den Jesuiten nicht wieder in die Stadt hinunter. Auch hätte Olga nicht nach ihm verlangt. Mit einer an Starrsucht grenzenden Ergebung wäre sie Rudhard gefolgt und mit ihm über Prag und Dresden hierher zurückgekehrt, wo er neue Verwirrungen, neue Pflichten genug gefunden hätte und dem Ewigen danken wolle, wenn es Anna von Harder gelänge, in die phantastische Nacht, die um Olga zu schlummern scheine, einen Lichtstrahl der Erleuchtung und wiederkehrenden freien heitren Selbstbestimmung innerhalb der sittlichen Schranken zu wecken. Ihnen, Sanitätsrath, schloß Dystra, konnte ich, da ärztliche Anknüpfungspunkte hier nun endlich gegeben sind, diese Geschichte nicht verschweigen, bitte Sie aber, Drommeldey, bewahren Sie den Vorfall wie ein Geheimniß, das die Ehre einer ganzen Familie betrifft.

Drommeldey, düster blickend, ernst gestimmt, dankte für das ihm geschenkte Vertrauen und versprach über den empörenden Vorfall nachzudenken. Er zweifle gar nicht daran, daß man, wie man hier in Tempelheide die Thierwelt dem Menschen näher brächte, so es in Klöstern und [3181] bigotten Konventikeln jetzt mehr wieder denn je verstände, den Menschen aus dem Bewußtsein seines klaren Ichs, seines unsterblichen Cogito ergo sum, hinunter zu drücken zu einer rein animalischen Vegetation, wo nur die Schauer des Erdenlebens durch die Seele spukten und statt Offenbarung eines höhern Lebens, die man von der gestörten Ordnung der Sinne erwarte, nur die Verdunkelung unsrer Sehnsucht und Hallucinationen abgestumpfter Sinne empfinge. Ja, fuhr er, begeistert sich erhebend, fort, ja, mein guter Baron, wenn hier etwas helfen kann, so ist es wol zunächst ein Umgang, wie der Anna's von Harder, nicht, weil diese Frau selbst gesund ist, sondern weil auch sie geistig kränkelt. Es ist hier ein Fall, wo sozusagen die Homöopathie hilft. Lächeln Sie nicht, Baron! Nur die Tollheit unsrer Menschen zwingt den Arzt zur Charlatanerie. Wenn Sie wüßten, was sich Alles Hülfe begehrend dem Arzte zuwendet, Sie würden erstaunen, daß wir nicht noch weit öfter auf unsre Recepte schreiben: Aqua fontana! O tolle, tolle Zeit! Hat die gleichartige Schwärmerei Anna's wie ein Impfstoff auf Olga gewirkt, so muß dann freilich noch ein Element hinzutreten, ich meine eines, das alle Organe des Menschen hebt, alle Sinne veredelt, alle Gedanken zum Lichte emporzieht, die Liebe! Bester Baron, Sie blicken ernst. Vergeben Sie mir! Wenn Olga gezwungen wird, die Baronin von Dystra zu werden, so erleben Sie eine Zukunft, die von der Hölle nicht viel Unterschied haben wird, oder Sie müßten eine Philosophie besitzen, wie jener gute Graf Desiré [3182] d'Azimont in Paris. Die Liebe ist dies allmächtige Gefühl, das im Menschen die wahren und einzigen Wunder wirkt! Die Liebe erhebt zum sittlichen Stolze und drückt auch wieder herab zur gern gehorchenden Demuth. Die Liebe ist jenes dritte Höhere, das zwischen den beiden Gegensätzen Gift und Gegengift, Krankheit und Remedium in der Mitte liegt, scheinbar wieder Krankheit weckt und doch zu einer göttlichen Gesundheit erhebt. Der Goldregen Jupiters wirft alle metallischen Reste jenes Kreuzes, das auf dem Nervengeflechte Olga's lag, hinaus aus dem mishandelten Körper dieses armen närrischen kleinen liebenswürdigen Kindes! Jupiter, bester Baron! Nicht Pluto's Goldregen! Geben Sie dem Mädchen Jemanden, den sie liebt, lieber jetzt, als erst dann, wenn sie Ihre Frau ist. Nichts aus der Apotheke kann hier helfen, Baron, sondern Weisheit, die sich Jeder selbst verschreiben muß.

Damit reichte Drommeldey, wahrhaft erschüttert, dem Baron die Hand und entfernte sich zu seinem Wagen, der den in äußersten Fällen alle Diplomatie über Bord werfenden Mann rasch die Anhöhe hinab entführte.

Dystra aber war bewegt. Er mußte Siegbert's gedenken, der sich aus Rücksicht auf ihn und die Fürstin der Hoffnung, jemals Veranlassung einer so auffallenden Mesalliance zu werden, entschlagen hatte, so lebendig in ihm das Bild Olga's auch fortlebte. Olga war unglücklich ebensowohl über den geringen Muth des Freundes, dem sie ihr ganzes Leben gewidmet hatte, wie über sein nahes Verweilen bei der Mutter. Sie vergab ihm nicht, daß er [3183] nichts, auch gar nichts gethan, eingedenk sich zu zeigen jenes Abends unter den Hängeweiden, wo sie ihm ein Herz für's ganze Leben geschenkt hatte. Ihre Begriffe von Schwärmerei und waghälsiger Liebe verstanden nicht, wie Siegbert ihr nie schreiben, nie ihr ein Anerbieten von Hülfe in ihren bedrängten Herzensgefahren machen konnte. Daß er sich bekämpfte, der unpassenden Verbindung auswich, keinen Anstoß in der Gesellschaft erregen wollte, verstand sie nicht. Als sie in Venedig erfahren, daß Siegbert und die Mutter nach Belgien gegangen waren, gab sie die Hoffnung auf irgend noch ein Glück des Lebens auf und folgte Rafflard, der sie zur Nonne machen wollte, aus Verzweiflung. Nach der gefährlichen Schule, in der sie zum Leben erwacht war, nach der Schule Helenen's, mußte Siegbert alle Rücksichten aufgeben, ihr auf Wolkenflügeln entgegeneilen, seinen starken Arm um sie schlingen und diese gemeine Erde wie mit den Füßen von sich stoßen! Siegbert, der der Politik, der Kunst, seinem Prozesse leben konnte, erschien dem Mädchen schon wie Egon, das Prototyp alles männlichen, herzlosen, blutsaugenden Vampyrismus, der in allen Romanen, die sie gelesen hatte, schrecklich genug geschildert war. Und ehe Olga, sagte sich der durch väterlichen Willen ihr bestimmte Verlobte, neue Thorheiten begeht, wieder ausfliegt, wieder in die Hände eines Höllensohns geräth, sollte da nicht die Tochter eines Fürsten lieber einmal einen Maler heirathen? Oder gar, wenn die Brüder jenen Prozeß gewännen, der sie fast so reich macht, als ich es [3184] bin! Wenn es wahr wäre, was man sich erzählt, daß der alte Obertribunalspräsident an diesem Prozesse einen so auffallenden Antheil nähme? ... Längst schon hatte Dystra auf den Lippen, Anna von Harder um diese Angelegenheit zu befragen. Aber das eine Mal, daß er von der Familie Wildungen anfing, befremdete ihn, wie schnell die sonst jeder Frage gern ihr Ohr leihende und sich immer um eine ausführliche und gründliche Antwort fast bekümmernde Frau, dem Gegenstande auswich. Er erfuhr inzwischen, daß ein Oheim der Wildungen die Tochter der Landräthin Anna von Harder wider ihren Willen geheirathet hatte. Da gab er es auf, mit ihr über einen Gegenstand zu sprechen, der in ihr schmerzliche Erinnerungen weckte. Aber ihrem alten Schwiegervater hoffte er sich zu nähern und wie sehr auch Anna hervorhob, daß er völlig ungesellig wäre, keinen Umgang liebte, er kam immer wieder auf den Wunsch zurück, ihm vorgestellt zu werden und heute war es der letzte Moment.

Indem kam Olga mit ihrem Buche über Italien aus dem Tannenparke zurück; der Kranich begleitete sie, ohne daß sie auch nur über seine Sprünge die Miene verzog. Sie hatte nur die eine Absicht, Dystra zu fliehen, ihn nicht zu sehen, kein Wort der Anrede von ihm zu vernehmen ...

Dieser entsetzliche Ernst! sagte er sich. Diese Leidenschaft, Alles so zu nehmen, wie es ist! Kein Humor, kein Lachen, keine Abweichung von der Regel! Sie kommt mir da vor wie ein Zugvogel, der plötzlich, ehe wir's uns versehen, sich in die Lüfte hebt und indem sie eben noch [3185] vielleicht mit den Täubchen spielt, die sie füttert, ein Locken, ein Schwärmen in der Luft hört von Vögeln, die wir kaum kennen und auf und davon ist sie, man weiß nicht wie und wohin.

Olga hatte auf's Geflissentlichste den Baron vermieden und war an den demüthig sich verneigenden Mohren vorüber in den Hof gegangen, um sich auf ihr oben gelegenes Zimmer zu flüchten ... Der Weiser der Kirche zeigte bald auf zwei Uhr. Anna in ihrer Beklemmung schien den Besuch Dystra's fast vergessen zu haben. Wie sie eben Befehle gab, die Hausflur in noch größere Ordnung zu bringen, als sie ohnehin für die Tage der Akademie statthaben mußte, sah sie den Baron erst wieder. Und nun gar zu hören, daß Der auch bleiben wolle, sich scherzhaft selbst zu Tische lud, mit jeder Kost sich befriedigen zu wollen erklärte, nur müsse er den Präsidenten heute kennen lernen, mit Olga die Füße unter einen Tisch stellen, diesem Zustand der Entfremdung ein Ende machen und als er sagte: Ich erzähle dem Greise über Löwen und Panther. Ich war auf einer Tigerjagd in Bengalen. Ich kann über die Wandertauben am Missouri wie ein Stratege sprechen; denn die Züge dieser Thiere sind marschirende Armeen ... ich feßle den Greis so, daß er mich dableiben heißt ... Da blieb ihr nichts übrig, als ihm zu sagen, er möchte in Gottes Namen thun, was er wolle, sein Heil versuchen und einstweilen in die oberen Zimmer gehen und auf den Präsidenten warten, den sie eben schon von unten her anfahren hörte. Das Lärmen und [3186] Bellen der Hunde, das Flattern des Federviehs im Hofe, das Springen und Hüpfen der Vögel, das freudige Radschlagen der Pfauen bezeichnete den wirklichen Moment der Ankunft des alten Herrn. An dem thüringischen Papageno mit dem freudestrahlenden Zeisiggesichte vorüber betrat Dystra die mit einem grauen Teppich belegte Treppe und stieg zu dem ersten Stockwerk eines Hauses empor, das ihm wie ein altes verwunschenes Jagdschloß vorkam ...

Zunächst suchte er oben Olga – Er hörte eine Thür zuschlagen ...

Mais Mademoiselle! Mais Olga! Mais ...

Die Bitten des Barons, ihm Gehör zu geben, wurden von einer oben in ein Zimmer Gehuschten durch einen Riegel abgeschnitten, dessen rasches Vorschieben laut hörbar wurde.

Vous me traitez en loupcervier –

Keine Antwort ...

On croirait, que je mange les petits enfans ...

Tiefe Stille ...

Dystra trat in das erste beste offne Zimmer. Es war dunkel wie das ganze Haus. Die Fenster, auch von innen grün angestrichen, waren nur in kleine Scheiben getheilt. Rings an den Wänden hingen alte Familienportraits, in denen er hie und da eine gewisse Ähnlichkeit auch mit dem Intendanten der königlichen Schauspiele und seiner stolzen adelsbewußten Haltung zu erkennen glaubte. Es waren hier die Harder's zu Harderstein so recht unter [3187] sich. Eine alte bronzene Uhr, braungebeizte Schränke boten die einzige Abwechselung an den Wänden. Die Schränke waren mit ausgestopften Thieren, Vögeln, kleinen Vierfüßern, Käfern und Reptilien, angefüllt. Im dunkelsten Eck stand ein Bücherrepositorium, das ein grünseidner Vorhang verhüllte. Es waren alte Ganzfranzbände, die hier standen, Schriften des vorigen Jahrhunderts, meist in französischer und englischer Sprache. Les Oeuvres de Frédéric le Grand fehlten nicht.

Dystra setzte sich auf einen der sauber gepflegten, ursprünglich weißlakirten und vergoldeten Sessel. Durch und durch ein moderner Mensch, hatte ihm diese ganze Wirthschaft hier auf Tempelheide etwas Komisches und doch war er befangen, wie er sich nun mit diesem alten Herrn, der hier im Style seiner verschollenen Zeit wie es schien mit majestätischem Selbstgefühle lebte, vermitteln sollte. Er zupfte an seinen gelben Handschuhen, er roch an seinem parfümirten Taschentuche, er spiegelte sich in seinen gefirnißten Stiefeln und gefiel sich offenbar in der Beobachtung seines zierlichen kleinen Fußes. Den sauber gefärbten Kinnbart konnte er seiner Handschuhe wegen nicht streicheln. Er hätte gern die Thüren rechts und links aufgeklinkt, um nach Olga zu sehen. Sie mußte doch in der Nähe sein. Es war ihm, als huschte bald da, bald dort etwas an den Wänden. Zuletzt entdeckte sich die gespenstische Gesellschaft. Zwei Katzen, die das Mittagessen zu wittern schienen, standen plötzlich vor ihm mit langniederhängenden Schweifen. Er hatte sie auf ihren [3188] sammetweichen Pfoten nicht hereinschleichen hören. Er sah, daß sie durch die eine Thür, die nicht ganz fest zugeklinkt gewesen, gekommen sein mußten. Die Thiere sahen ihn mit Befremden an. Sie waren schön gestreift, der Rücken tigerartig, der Bauch weiß. Ihre Schnurrbärte standen ihnen husarenartig keck, während sie im Übrigen etwas weiblich Gelassenes, Sanftes, Unaufgeschrecktes hatten. Dennoch wagte sich Dystra nicht recht an die Thür, um in das Arbeitszimmer des Präsidenten zu blicken, denn offenbar aus diesem waren die beiden Katzen, die wir unter dem Namen Isis und Osiris kennen, hereingekommen. Dystra fühlte etwas von der Apprehension, die wir diesen schleichenden Haus- und Küchenhüterinnen gegenüber empfinden. Es rieselte ihm über den Rücken. Sein Muth, von bengalischen Tigern und Löwen zu prahlen, entfiel ihm vollends, als sich zu den beiden Katzen noch ein ungeheurer, schwarzer, grüngelbblickender Kater gesellte. Dieser dritte Gesellschafter war fast so groß wie die beiden andern zusammengenommen. Aber auch dieser war ruhig und ernst und duldsam über den Besuch und schien sogar an dessen blanken Stiefeln so viel Wohlgefallen zu finden, daß er sich Dystra bedenklich näherte. Jetzt hier so allein zu stehen mit den drei unheimlichen Katzen, erfüllte den Baron mit leisem Schauder. Wetter, dachte er, du hast doch Schakals heulen hören und in gemessenen Distanzen auf dem Nilsande Krokodille sich sonnen sehen, aber diese drei zahmen Katzen in unmittelbarster Nähe machen dir mehr Angst als die [3189] Schrecken der Wildniß! Die Thür, die offen blieb, ließ das Arbeitszimmer da noch räthselhafter erscheinen, als noch auf dem Fußboden ein Vogel hereinsprang, schwarz mit gelben Pünktchen gezeichnet, mit klugen Augen, beweglich munterm Schwanze, eine Amsel. Ohne daß die Katzen nach ihr haschten, setzte sich die Amsel traulich auf den Rücken des großen Katers, der sich nach ihr umwandte mit einer gelassenen Ruhe, die eines Philosophen würdig war. Dystra scheute sich, einen Blick in das offne Zimmer zu werfen. Er dachte schon an die Möglichkeit, darin plötzlich noch irgend etwas ganz Ungeheures zu sehen, als auch in der That wieder ein Hund hereintrat, ein Hühnerhund, von derselben ruhigen und nicht einmal neugierigen, sanften, schleichenden Ergebenheit wie die übrigen Thiere. Dystra kam sich jetzt in der That wie Äsop unter seinem moralisirenden Vieh vor und dachte sich irgendwo die spottende Olga, die ihn belausche oder ihm wol gar diese Bestien alle auf den Hals schickte. Es war für seine in der That ergriffenen Nerven die höchste Zeit, daß Anna von Harder eintrat und ihn ersuchte, ihr zu folgen. An eine ceremonielle Vorstellung war jetzt nicht zu denken. Sie würden, sagte sie, den Großvater unten in der Hausflur bei dem thüringischen Vogelabrichter finden; vorbereitet hätte sie ihn schon auf einen berühmten Reisenden, der für Olga's Beaufsichtigung Rechte in Anspruch nehmen dürfe; sein ferneres Glück müsse er nun selbst versuchen.

[3190]
3. Capitel. Die Akademie
Drittes Capitel
Die Akademie

Dagobert von Harder, der Obertribunalspräsident, war von kleiner gedrungener Figur, ganz im Gegensatz seines zweiten Sohnes, des langaufgeschossenen Kurt Henning Detlev. Der große Kopf saß tief in dem gewaltigen Brustumfange. Hände und Füße waren zierlicher, letztere besonders weiß und zart gepflegt, fast sammetweich. Den Schädel bedeckte kein Härchen mehr. Ein sammtnes Käppchen schützte das glänzende, mit Äderchen unterlaufene Haupt. Das Antlitz zeigte die Spuren des hohen Alters. Es war wie ein durchfurchtes Feld, wie eine Netzzeichnung, so in tausend kleine Quadrate getheilt, die alle länglich von den Schläfen herab sich senkten. Die Augen quollen, wie von Hautsäcken umgeben, etwas hervor und hatten einen Anflug von Blödsichtigkeit. Die Lippen waren fast mit den Zähnen verschwunden und ganz in die Höhlung zwischen Backenknochen und Unterkiefer verloren gegangen. Der Kopf senkte sich ein wenig über. Ein Diener mußte immer in der Nähe sein, dem über Achtzigjährigen den Arm zu bieten und ihn zu führen.

[3191] Bei dem Vogelhändler stand der Präsident. Die Erörterung schien ihm Elastizität zu geben. Der Abrichter hob wol an dreißig kleine hölzerne Käfige auf einem Tische auseinander und pries unter steter Wiederholung der Anrede: Excellenz! die Leistungen seiner Kanarienhähne, Dompfaffen, Zeisige, Rothkehlchen und Stieglitze. Daß sich Excellenz aus den kleinen Späßen mit dem Aufziehen eines Futterkarrens und dergleichen nicht viel machten, wußte der Thüringer schon, aber mit den Vögeln, die ihm Melodieen nachpfiffen, legte er mehr Ehre ein und erwarb sich mit Fug den Thaler, den ihm die alte Excellenz jährlich schenkten, wenn er vom Harze kam und seine neuen Virtuosen vorführte. Gekauft wurde nichts mehr in Tempelheide, der Präsident erklärte sich für zu alt, um noch in seine schon vorhandene Gesellschaft neue Elemente einzulassen; denn sein Zähmungsprinzip war grade die allmälige Gewöhnung und für diese blieb ihm, der stündlich die Augen zuschließen konnte, keine Muße und Aussicht mehr. Mit einer weichen, sehr leisen, von vielem Räuspern unterbrochenen Stimme lobte er den Thüringer, warnte ihn vor Anwendung grausamer Mittel und entließ ihn mit dem üblichen Thaler, zu dem er noch die für Dystra und sein Anliegen spannenden Worte fügte:

Kommt Er auch durch Angerode?

Angerode, Excellenz? Ja wohl, Excellenz, Angerode! Grade von da bin ich.

Keine weitere Frage. Papageno mit dem Zeisiggesichte war entlassen ...

[3192] Nun erst wandte sich der alte Herr an der Hand des zweiten Bedienten, der mit ihm aus der Stadt gekommen war, zu Dystra und wiederholte, die weißschimmernden Augen aufziehend, das leichte Kopfnicken, mit dem er den von oben herabkommenden Dystra begrüßt hatte ...

Baron essen mit uns? wandte sich der Alte fragend zu Anna, die über diese unerwartete Wendung noch in Schrecken war, da sie Dystra's Gourmandise kannte und nicht wußte, wie sich bei einer solchen Änderung der sonst so einfachen Tafelordnung Olga benehmen würde.

Der Alte wurde langsam die Treppe hinaufgeführt. Anna bot ihm selbst den Arm. Dystra flüsterte, folgend, dem Bedienten zu, man möchte etwas für seine Mohren sorgen, damit deren menschliche Ungeduld von der Zahmheit der hiesigen Thiere nicht beschämt würde ...

Von einer weitern Unterhaltung, längern Vorstellung war keine Rede. Der Greis wurde sogleich ins Eßzimmer geführt. Er nahm Dystra für einen Besuch bei Olga, den man Anstandshalber, der Entfernung von der Stadt wegen, dabehalten müsse und begann seine Suppe aus einem mächtigen halben Vorlegelöffel mehr zu schlürfen, als zu essen.

Anna winkte Dystra, sich des Olga'schen Couverts zu bedienen. Denn der zweite Diener hatte schon angezeigt, die junge Comtesse ließe sich entschuldigen. Punktum! sagte Dystra leise und biß sich auf die Lippen.

Nach einer Weile erst bemerkte der Greis die Abwesenheit [3193] einer ihm liebgewordenen, immer stillen Gesellschafterin und fragte:

Comtesse Olga?

Nicht wohl! sagte Anna, deren Geduld heute auf die großartigsten Proben gestellt wurde.

Die Bedienten nahmen die Suppenteller fort. Dystra hatte das kräftige Consommé nicht verschmäht. Man schenkte Wein ein, dem Greise in einem großen silbernen Becher, den er mit beiden Händen erfaßte ...

Onkel von Comtesse? fragte er Dystra nach einer Weile, als man kleine Pasteten aufsetzte.

Dystra, der nur horchte, beobachtete, sich umsah, staunte, erwiderte mit einer Dreistigkeit, die Anna erröthen machte:

Vergebung, Excellenz, Cousin!

Diese Unwahrheit konnte Anna kaum dulden und nicht ohne Schärfe bemerkte sie, als sie die kleinen, weichen, gar mürben Pasteten austheilte:

Großväterchen liebt alle Namen, in denen der A-Laut liegt; er behauptet, daß alle Menschen gewisser maßen aus einem Vokale komponirt sind und im A läge – die Wahrheit!

Dystra! sagte keck der Getroffene und betonte die Endsylbe.

Der Name thut's allein nicht, sagte der Greis mit einem leisen Aufflammen des Auges, der Charakter, der ganze Ton des Wesens und Redens muß es machen. Die gute kleine Olga ist noch zu sehr in O und U gesetzt ...

[3194] Dystra verstand noch nicht recht, was Das für kuriose musikalische Schlüssel sein sollten und bat um genauere Erläuterung.

Anna gab sie dahin, daß nach dem Präsidenten alle Menschen sich aus einem bestimmten Laute zu geben pflegten, je nach ihrem Charakter; bei den Sanguinischen hörte man nichts als I-Laute, bei den Cholerischen, Mäkelnden, Nergelnden ein ewiges widerliches E, bei den Melancholischen und Hypochondern die klagenden für sie wahrhaft herzzerreißenden Unkentöne in U ...

Und den A-Laut?

Liebt Großpapa als den klaren Ton der Wahrheit, des echten Maßes und der richtigen Mitte ...

Anna von Harder, geborne von Marschalk! sprach der Greis, langsam die A hervorhebend, mit einem Anflug von alter ritterlicher Galanterie.

Es schien, als wenn der Präsident bei einem gedankenmäßigen Gespräche recht aufthauen konnte.

Dystra aber wagte kaum zu sprechen, aus Furcht, zu den I- und E-Menschen zu gehören. Alle seine Bekannten, besann er sich wirklich, besonders die Russen, waren meistens in I und E gesetzt, wie die ewig zwitschernden und zankenden Vögel. Voland von der Hahnenfeder war tief in U. Dumme Menschen meist in O, z.B. der eigne Sohn des Greises, der Intendant von Harder. Klare, besonnene, rüstige, konsequente, wohlwollende wie Rudhard, Siegbert, Dankmar, Leidenfrost, wenn nicht im Namen, doch im Wesen alle aus dem A. Es ärgerte ihn [3195] fast, daß ihm sein ganzes Wesen wie eine Resonanz von I und E klang.

Der Greis erschöpfte sich jetzt in freundlichen Betrachtungen über Olga und beschämte Dystra mit der Voraussetzung, daß er ihm verpflichtet sei, von Anna's Pflegebefohlener zu erzählen. Der Greis hatte die Natur derselben sehr wahr erkannt. In kurzen abgerissenen Sätzen ließ er soviel treffende Andeutungen über Erziehung und Mädchencharakter fallen, daß Dystra im Hinblick auf den Intendanten erstaunte, wie die Praxis hier hinter der Theorie zurückgeblieben war ... Das bescheidene Gemüse, das er jetzt verzehren konnte, wenn er Appetit gehabt hätte, ließ ihm Zeit, über ein Mittel nachzudenken, wie er wol, ohne absichtlich zu erscheinen, auf den Prozeß der Gebrüder Wildungen kommen konnte.

Überrascht mußte Dystra sein, als der Greis von den Thieren anfing, die Herr von Dystra seinem Sohne für die königliche Bühne verehrt hätte. Als er die Überraschung über diese seine plötzliche Bekanntschaft bei dem Greise aussprach, erwiderte Anna:

Wir lesen mit Aufmerksamkeit die Zeitungen. Wenn die große Welt sich in den Theatern und Salons bewegt, holen wir nach, was die Menschen alles unsrer Lektüre zu Gefallen Schönes oder Häßliches anstellen. So hat uns auch Ihre Unterstützung der darstellenden Künste sehr unterhalten. Alle Blätter erwähnten den Vorfall mit den Meerkatzen.

Das Feld war für die Thierliebhaberei des Greises nun [3196] offen. Angeregt durch den Besuch und eine kurze Mittheilung der Reisen, die Dystra gemacht hatte, sprach Dagobert von Harder sich dahin aus, daß ihn seine Väter und Ahnen, die alle im Forstfache dienten, früh auf die Naturbetrachtung hätten führen müssen. Dann, sagte er, kam mir als Juristen das Naturrecht in der alten römischen Definition entgegen. Sie wissen,mon cher Baron, daß das Natur- oder Völkerrecht bei den Alten das Recht alles Lebendigen war. Was da athmet, was zu dem großen schönen Bau der Erde, zu dem herrlichen Kosmos des Daseins gehört, hat ein Recht der Pflege, der Schonung, soweit seine Freiheit die Freiheit der Andern nicht beschränkt. Das Recht ist sozusagen der unsichtbare Genius, der seine schützenden Fittiche über Alles, was ist, ausbreitet. Von der Natur fängt es an und wo es in der Natur nicht ist, wird's im Geiste nicht sein. So hab' ich schon früh als Jurist gedacht und wenn wir weise werden wollen, wo können wir denn auch anders anfangen, als mit dem Leben der Natur? Die Brücken, die ein Kind, hab' ich noch jüngst zu Ihrer Cousine gesagt, Herr Baron, die Brücken, die du dir bauen willst in das unendlich Leere, sind wie Regenbogen, an deren Ende ich als Knabe immer glaubte Gold zu finden. Die Leute sagten's. Ich lief und lief, um die Stelle zu erreichen, wo der Bogen, der bunte, schöne Reif sich endlich zur Erde senkt; ach und ein Sonnenblick und die ganze täuschende Phantasmagorie war mit dem Golde verschwunden! Nicht in's Leere baue, sondern in das Gegebene! Wenn ich nun Ordnung und Gesetz, [3197] Harmonie und Verständniß in den Wesenstufen der vorhandenen, unsern Sinnen zugänglichen Schöpfung entdecke, soll mich Das nicht mit Ehrfurcht vor dem Räthsel des großen Weltenplanes erfüllen? Und jemehr ich Seele, Seelentrieb, Bewußtsein entdecke, desto geringfügiger kann mir doch die innere, sie belebende Flamme der Materie nicht erscheinen? Nein, im Gegentheil! Je mehr Millionen dieser kleinen Flämmchen selbst im Wurme, in Insekten und Fischen leben, desto höher wächst mir das große Centralfeuer der sich selbst erkennenden Gottheit. Was ich in Allem finde, muß ein Großes, ein Lichtgebornes, Ewiges sein. Und wenn ich dem Astronomen, Geologen, Botaniker überlassen will, in seinem Bereiche die Harmonie der Gesetze, das Streben nach Individualisirung und nach kosmischer Schönheit in den oft so bewundernswürdigen Gattungsregeln zu entdecken, so hab' ich mit Liebe mich der Thierwelt angeschlossen und ein Mysterium darin gefunden, daß in ihr gebunden dieselbe Seele schlummert, die uns für Halbgötter hält, während die ganzen Gottheiten wol wieder über uns Thiermenschen lächeln.

Anna von Harder zerschnitt eben in kleinste Stückchen die Portion Braten, die der in's Redefeuer gerathene Greis mit dem Löffel aß, da das Aufstecken auf die Gabel der zitternden Hand nicht geschwind genug gelang ... Sie verrieth eine innerste Genugthuung über diese Worte des Alten, die so bedeutungsvoll waren, daß sie Dystra mit seiner Moquerie beschämten.

[3198] Ich dachte, Excellenz, sagte Dystra trotzdem witzhaschend, ich dachte, Excellenz wären ein Pythagoräer und enthielten sich des Fleisches, wie noch jetzt die Hindus.

Ah bah! Ah bah! antwortete der Greis. Daß ich ein Narr wäre! Zur Sentimentalität soll uns die Liebe zum Geschaffnen nicht verführen. Das Vollgefühl der Race, das Bewußtsein und der Erhaltungstrieb der menschlichen Gattung erfordert die Thiernahrung. Grade weil wir Raubthiere sind, haben wir Geist. Die Wiederkäuer, die Schaafe, die Rinder sind von geringem Geiste. Verloren gehen soll der Mensch an das Thier nicht, wenn wir auch mehr als dünkelhaft sind in dem blinden Ignoriren alles Dessen, was um uns fliegt, kriecht, schwimmt, hüpft und bellt. Es liegt hierin eine Offenbarung, die in tausend Zungen so vernehmlich spricht, daß wir selbst verwildern, wenn wir zu unsern Füßen nur Verwilderung sehen. Die dumme Lehre vom Instinkt hat uns der ganzen unermeßlichen Pflicht des Niederblickens mit einer Phrase überheben sollen. Wo ist mehr von diesem mechanischen Instinkt als beim Menschen? Der Instinkt lehrt uns, auf zwei Beinen gehen und den Kopf hochtragen. Der Instinkt lehrt uns, des Nachts schlafen und nicht am Tage. Der Instinkt lehrt uns die Furcht und die Bewaffnung gegen Alles, dem unsre Kräfte nicht gewachsen sind. Unsre Paarung, unsre Kindesliebe, unsre Todtenbeseitigung ist Instinkt, wie auch das Grundprincip unsrer Staaten, unsrer Rechtspflege, unsrer meisten Sitten [3199] und Gebräuche. Was uns die Vernunft erfunden zu haben scheint, ist der Trieb der Gattungserhaltung. Wüchse nur die Liebe zu allem wahrhaft Lebendigen, wir würden nicht so viel geistig Todtes haben, nicht so viel verblendete méchante Hypothesen aufstellen und uns nicht so sehnen, aus diesem Chaos von Lüge und Irrthum, Misbrauch der Vernunft, Umgehung der Natur, bei Zeiten herauszukommen!

Anna, noch bewegt von dem Stolze, wie der edle Greis Dystra's geringe Meinung von der ihm gebührenden Rücksicht beschämte, erschreckt von der dem Präsidenten eignen Todessehnsucht, die er oft äußerte, ergriff die zarte kleine Hand, sie bittend und liebevoll streichelnd ...

Großväterchen, sagte sie, will mich einmal wieder mein Vielliebchen nicht gewinnen lassen und wir haben doch gewettet, daß die hundert Jahre voll werden!

Da sei Gott für! antwortete der Greis und sah sich, weil man das Dessert brachte, Früchte und Bisquit, nach seinen gewöhnlichen Dessertgästen um. Die Thüren wurden geöffnet und Noah's ganze Arche schien sich zu entleeren. Selbst die Schildkröte wurde auf Anna's besondern Befehl von dem Bedienten in den obern Stock getragen ...

Der Greis fütterte seine Gäste. Man hatte ihm Schüsseln mit Körnern hingestellt. Er gab reichlich, strafte aber jeden Näscher und gab jedem Gehorsamen mit Schmeichelreden ...

[3200] Es ist die Liebe, sagte er zu dem erstaunt blickenden Dystra, den seine Beklommenheit verließ, es ist die Liebe, die die ganze Thierwelt nur zu sehr an uns vermißt. Wenn wir uns vor Dem, was außer uns lebt,fürchten, so geht Das noch, es ist eine Idiosynkrasie der Gattung; aber wir hassen die Thiere; wir toben unsre Leidenschaften an ihnen, wie nur zu oft auch an unsern Kindern aus. Kein Wunder, daß Alles um uns her dann tückisch, zornig, rachsüchtig wird und nun auch wieder seine Leidenschaft gegen das noch Schwächere austobt! Wodurch verbind' ich Hund und Katze? Dadurch, daß ich sie nicht aufeinanderhetze, nicht Gefallen an ihren Unarten finde. Ich verweise Sie auf den Blick des Thieres. Finden Sie da in meinem großen schwarzen Bafomet – der Greis nahm den riesigen Kater und stellte ihn dicht vor sich auf den Tisch – nicht einen Ausdruck der stillen Ergebung, des geduldigen Tragens dieser Erdenhülle..?

Daß man fast an die Seelenwanderung glauben möchte? sagte Dystra forschend, ob nicht dies alte ägyptische Dogma in dem etwas ketzerisch sich äußernden Alten zum Vorschein käme ...

Da erhob sich aber eben Anna. Sie hatte es drei Uhr vom Kirchthurme schlagen hören und schon erblickte sie einen Wagen, der von der Landstraße ablenkend zum Hause herauffuhr ... Vielleicht der der Frau von Trompetta, die immer die Erste war.

Sie wissen, Baron, sagte sie mit hocherröthenden Wangen, daß wir heute unsre musikalischen Übungen haben; [3201] aber ich bedaure, daß die Anwesenheit ungeladner Zeugen ...

Das sind strenge Gesetze, warf der Greis, sich erhebend, scherzend ein, aber ich zeige Herrn von Dystra einen Winkel, wo wir unbelauscht zuhören können oder ...

Unsern Mittagsschlaf halten, ergänzte Dystra mit Beziehung auf den Greis.

O nein! O nein! lehnte dieser ab. Mein Ohr hört nie schärfer, als wenn die Augen zufallen. Ich schließe die Augen, Baron, in dem kleinen Winkel, den ich Ihnen zeigen werde, aber wenn man Bach und Händel singt, schlaf' ich nicht.

Dystra war weder für Bach noch für Händel besonders eingenommen, aber er sah, daß die Excellenz gesprächig werden konnte. In der Hoffnung, daß eine Erörterung, die schon bei der Seelenwanderung angekommen war, sich auch noch auf das Mittelalter, das heilige Grab und die Tempelherren würde ausdehnen lassen, erklärte er, die Winke der Frau Landräthin nicht zu verstehen und sich ganz im Verborgenen halten zu wollen. Sein Spartakus und Cicero säßen hoffentlich bedacht in der Küche ...

Die Nachricht von den Mohren machte dem Alten große Freude. Er wünschte sie später zu sehen ...

Hätte Dystra ahnen können, was Alles die arme Kapellmeisterin bestürmte, er würde sie mehr geschont haben! Sie sollte ihm jetzt sagen, was Olga triebe, warum sie nicht gekommen wäre, ob sie bei Tisch immer schwiege, ob sie vor den Thieren nicht Apprehensionen [3202] empfände, ob er wagen dürfte, sie in ihrem Zimmer zu überraschen, wo hinaus es läge, ob sie jetzt äße ... Alle diese Fragen erwiderte sie mit dem einfachen Bescheide, Olga male, sie würde zu ihr gehen und ihr leider wol wiederholt die Versicherung geben müssen, daß man sie betrachten wolle wie eine Einsiedlerin ...

Also nach Norden liegt ihr Zimmer! sagte Dystra und wollte trotzdem folgen, wenn nicht der Greis sich erboten hätte, ihm jetzt den Versteck zu zeigen, aus dem er gewohnt wäre, den Akademieen zuzuhören. Dystra mußte ihm schon den Arm bieten. Sie gingen über den Corridor, eine kleine versteckte Treppe hinunter ...

Inzwischen hatte sich die Zahl der Wägen, die vorfuhren, ansehnlich vermehrt ... Anna hatte Olga ersucht, an der Akademie Theil zu nehmen ... Sie schlug die Aufforderung aus ... es bebte ihr durch's Herz, als das träumerische Mädchen, ihr fast stereotypes Schweigen brechend, gesagt hatte:

Dein Haus ist wol ein Gefängniß für mich; aber die gefiederten Sänger der Luft wohnen gern in ihm. Ich gehöre zu den Stillen, die man nur muß gehen lassen, wenn sie Jeden erfreuen sollen. Ich weiß, jener Dystra ist bei Euch, dem sie mich vermählen wollen, weil er Schätze besitzt. Ich fliehe vor ihm, wie vor der Klapperschlange die Thiere fliehen, über die ich dem Großpapa zuweilen vorlese. Deine Welt, in der du lebst, liebe Anna, ist wunderbar. Weißt du, daß ich manchmal Muth bekomme, weit, weit über die Thiere und Menschen hinaus, die [3203] sich vor Schlangen fürchten? Ich bin gar nicht erschrocken vor den Mädchen, die, wie Großpapa erzählt, mit Schlangen sich umringeln, kleine Vipern als Halsschmuck, große als Shawls tragen! Ich möchte so mitten inne in der Wildniß sitzen, ich wüßte, ihre Bewohner schonten mich. Ach, sind denn die Menschen nicht viel schrecklicher? Von diesem Dystra mit seiner geckenhaften Eleganz, seinen parfümirten Redensarten, seiner Eitelkeit auf seine kleinen Füße red' ich nicht. Er ist nur lächerlich und ich wurde mich schämen, wenn ich ein Wort mit ihm redete. Aber es gibt größere Ungeheuer! Laß mir die Einsamkeit, gute Anna! Ich habe so viel erlebt, so viel in meinem innersten Herzen zurecht zu legen, daß ich dieses verzauberten Schlosses recht bedarf, um mich zu sammeln. Es ist mir bei Euch, wie ich von der Höhle des Trophonius gelesen habe, in der man die Stimme des Erdgeistes hörte.

Dabei zeigte Olga rund herum auf ihr gemüthlich eingerichtetes Zimmer, das immer für fremden Besuch auf Tempelheide eingerichtet war und in Nebenkämmerchen noch Raum für zahlreichere Gäste bot. Die Meubles waren hier moderner als im übrigen Hause, die Bilder zeigten auch einmal andre als naturhistorische Gegenstände, und an den nach Norden gelegenen Fenstern gediehen in kühlem Schatten einige Blumenstöcke von ausgesuchterem Werthe. Auf einem dicht ans offne Fenster gerückten Tische malte Olga in Aquarellfarben, deren Anwendung sie von Siegbert Wildungen gelernt hatte, eine italienische [3204] Fernsicht. Das dunkelblaue Meer und einen einzigen darüber hinweg schwebenden Vogel erklärte sie für das Abbild ihres eigenen Lebens. Und als Anna sie nicht bewegen konnte, der Versammlung unten, deren bevorstehende Überraschung sie freilich verschweigen mußte, beizuwohnen und gehen wollte, rief ihr Olga plötzlich wie aufthauend noch nach:

Und dein heutiges Freudenfest?

Anna drückte das Mädchen bewegt an ihr Herz und erwiderte:

Viele Jahre hindurch, ich kann sagen wieviel, siebzehn Jahre hindurch war der heutige Tag ein Freudentag. Dann hab' ich länger als zwölf Jahre an diesem Tage bitter geweint, vor aller Welt mich abgeschlossen, Niemanden sehen mögen, als die Bilder, die vor meinem innern Auge lebten. Zuletzt, je näher ich dem Ziele unsrer allgemeinen Pilgerschaft komme, hab' ich von diesem Tage nur noch die alte Freude behalten und feiere ihn still innerlich wol, aber mit Ergebung, wie wenn Alles so wäre, wie es nicht ist.

Olga wußte nun, daß Anna von dem Geburtstage ihrer Tochter sprach, über deren Leben und Tod Anna seit Jahren nichts mehr vernommen hatte ...

Schon war die würdige Frau gegangen. Auf der Stiege sich sammelnd, den Dienern jede nöthige Aufmerksamkeit einschärfend, das Vorzimmer des Musiksaales im Vorübergehen noch etwas aufräumend trat sie zu mehren schon unten anwesenden Damen und Herren ein.

[3205] Der Chor schien heute besonders stark zu werden. Das unverändert schöne Wetter lockte jedes Mitglied, die Veranlassung einer so angenehmen Spazierfahrt nicht zu versäumen. Nur ein Billet, das sich vorfand, war ein absagendes, grade von der Trompetta! Diese schrieb, ihr stünde der überraschende Besuch ihres Vetters, wie sie sagte, »des Chefpräsidenten von Trompetta Excellenz« bevor, einer bekannten, in der Provinz im Sinne der äußersten Reaktion wirkenden Persönlichkeit, die man schon oft als eine Ministerchance genannt hatte, ebenso wie einen Verwandten des Fräuleins von Flottwitz, den Oberpräsidenten von Flottwitz, der gleichfalls in der Provinz zu den letzten Trümpfen gehörte, die die Äußersten gern ausgespielt hätten, wenn nicht Egon von Hohenberg zur Zeit noch unerschütterlich erschien. Die arme Trompetta! Die Bedauernswerthe! Wenn sie ahnen konnte, was sie heute versäumte! Wagen an Wagen fuhr vor. Bediente sprangen von den vordern Böcken und öffneten die Schläge. In der Hausflur saßen schon fast ein Dutzend gallonirter weißer Sklaven, die bald die Nähe der schwarzen in der Küche gewittert hatten und ihr Übergewicht zu Hänseleien benutzten, grade wie sie der alte Oberpräsident im Umgang der Menschen mit der Thierwelt als die Quelle der Verwilderung derselben bezeichnet hatte. Die Kammerdienerssöhne der Majestät von Angora nahmen die Späße, die man sich mit ihnen erlaubte, nicht zu übel auf, sondern genossen ihr Vorrecht, sich mit den Speiseschränken auf Tempelheide vertrauter gestellt zu [3206] sehen, als die Europäer, in einem Grade, der den Neid der letzteren, deren Herrschaften alle erst um sechs dinirten, sehr rege machte und sie um so mehr verstummen ließ, als die beiden alten Diener des Hauses, die ihre beste blaugelbe Livree angezogen hatten, auf Ruhe und Ordnung hielten in dem Augenblick, wo vom Musiksaale her die ersten Töne des Pianos erklangen.

Vor dem Schlosse eines Fürsten, wenn seine höchsten Räthe bei ihm versammelt sind, kann es nicht belebter aussehen als jetzt vor dem kleinen Landhause von Tempelheide. Die gewählteste Gesellschaft wurde an den Wappen von mehr als zwanzig Wägen erkennbar. Auch die Männer gehörten nicht alle dem bescheidenen Stande der jungen Offiziere und Referendare an, sondern mancher Rath, mancher jüngere Präsident übte noch die Fertigkeit seiner Stimme und hielt treu bei diesen fashionablen Tonübungen aus. Die Dorfbewohner, ja städtische Lustwandelnde horchten zu vom Hügel der Kirche, vom Friedhofe und den beiden Linden herüber. Die Jugend staunte der Wägen, der stolzen Rosse und Bedienten. Dies wunderreiche kleine Schloß, sonst so still, wie belebt war es heute! Die Thiere wurden eingehalten oder ihr Gackern und Lärmen erstickte in den entfernten Ställen oder der häßliche Schrei des Pfauen in den hohen Wipfeln des Tannenparks ... Es schlug halb vier Uhr. Die Akademie begann ... Fräulein von Flottwitz kam noch in einem unscheinbaren Wagen etwas verspätet. Wahrscheinlich hatte ihr die Trompetta den Streich gespielt, ihr die Mitbenutzung [3207] ihres Wagens unmöglich zu machen. Dadurch hatte sie einen Miethwagen nehmen, sich ängstigen müssen ... Aber welche frohe Botschaft brachte sie auch mit! Sie hatte ja den Hof über die Felder hinausfahren sehen, die um Tempelheide lagen, die königlichen Wagen sechsspännig mit Vorreitern und mit zwei Wägen voll Kammerherren und Hofdamen. Und nun, wie gehoben konnte sich die junge Aristokratin fühlen schon durch den Anblick der andern Wägen, die vor Tempelheide standen! Welch' Gefühl der Exclusivität, so in einen Saal zu treten, wo es nur Mitglieder der höhern Gesellschaft gab, ja sogar unter sechs bis acht Gräfinnen eine Fürstin, vielleicht eine Fürstin von Sein-Haben-Werden! Sie kam grade zurecht, in ein Miserere mit einzustimmen, dem es gut that, bei der Stelle dele iniquitatem meam durch ihre helle hochliegende Stimme in der rechten Lerchen-Wirbel-Schwebe gehalten zu werden.

Anna dirigirte mit Feuer und Begeisterung. Was auch kommen und drohen mochte, in der Musik hoben sich ihr alle Schwingen. Da hörte der kleine Flug über die Erde auf, da wurde nicht mehr mit den Fittichen über die Rücksichten leise hinweggeflattert, da schlug sie Akkorde, die die Seele entfesselten und emportrugen in die Welt der Ahnungen und des lebendigsten Gottvertrauens. Sonst ihre Stimme im Reden so weich und fast tonlos, jetzt markvoll und schmetternd Befehle ertheilend! Cis! Cis! Cis! so durchgedonnert durch die falschgreifenden Baronessen und Gräfinnen, ein Zu früh! den [3208] Räthen, Präsidenten, Kapitäns, Assessoren, Sekondelieu-tenants und Kadetten – wieder einem Flottwitz hatte sich endlich die Stimme gesetzt zu einem recht brauchbaren Falsett-Tenor – so ein Zu früh! das war wie der Tuba-Ton eines Jahrhunderts, der diesen Herrschaften sonst gewöhnlich nur zuzurufen pflegt: Zu spät! Freilich auch Zu spät's! kamen genug vor, besonders bei den etwas nachmittagsschläfrigen Bässen, die ihr exultabunt ossa mea ganz im Gegensatz zur Bedeutung dieser Worte etwas gar zu sehr wie wiederkäuendes bequemes Hornvieh hervorbrummelten. Am meisten Noth hatte die gute Anna mit der Fürstin Sein-Haben-Werden, die die Musik leidenschaftlich liebte und die heilige vollends mit Auszeichnung, aber an einer für Menschen fast instinktwidrigen musikalischen Gehörlosigkeit litt und im Vergreifen des Einsetzens im Laufe der Übung es in der That für den Zusammenhang der Töne zuweilen zu einem wirklichen kompletten Miserere brachte.

Dystra inzwischen litt nicht nur an seinem höchst geringen Interesse für geistliche Antiphonieen und Responsorien, sondern in noch erhöhterem Grade in seinem ganzen, von dem Lokale, wo er sich befand, in Belagerungszustand gesetzten Nervensystem. Der ihm so wohlwollend zugewandte Greis hatte sich von ihm die kleine Haustreppe hinunter in ein Gemach führen lassen, das zwar eine sehr angenehme Kühle verbreitete, aber bald für ihn ein Gegenstand des Schreckens werden sollte. Der Alte hatte es die Spinnstube genannt. Dystra folgte [3209] in Bewunderung vor der ländlichen Patriarchalität dieser Wohnung, wo noch gesponnen wurde, wie im Zeitalter der Königin Bertha.

Wie erschrak er aber, als er sich auf einen Stuhl neben einem Sessel, in den sich der Alte niederließ, warf und entdeckte, daß dies nicht die Spinn-, sondern die Spinnenstube war! Wirkliche Spinnen waren es, die hier spannen, und welche Ungeheuer, welche achtbeinigen Arachniden, welche Netze! Quer über das ganze Zimmer hingen die Fäden und junge und alte Kreuzspinnen schaukelten sich auf ihnen. Es ist wahr, der Greis sprach sehr schön über den Ton und dessen Einwirkung auf die Thierwelt. Er verglich den Ton mit dem Lichte und erklärte, daß Ton und Licht dem Thiere zusammenflösse, dem Fische, dem Käfer, der Spinne. Es ist wahr, man konnte bei den ersten Takten, die in dem Musiksaale nebenan angeschlagen wurden, die Bewegung sehen, wie die Spinnen stutzten und der Thür sich zuwandten. Aber der unheimliche Eindruck blieb doch und wurde gesteigert, als der Präsident auf ein kleines Loch am Fußboden zeigte und sagte:

Geben Sie jetzt Acht! Er gab Acht und errieth fast, daß aus diesem Loche noch ein Freund der Musik erwartet wurde, aber am liebsten hätt' er sich einen Kehrbesen und eine muthige Magd gewünscht, die hier die Wände rein gefegt hätte. Es half nichts, er mußte die Spannung des Alten theilen, der aus diesem Loche den Besuch einer kleinen Maus erwartete, die nie ausblieb, wenn die Akademie im Gange war. Es dauerte heute lange. Der Alte [3210] bekam schon Bedenken, fürchtete für die Rückfälle seiner Katzen, schalt über die Hunde, die Mägde, die Ratten, die Diener, Alles in einem Tone. Er hörte nichts von den majestätischen Hymnen, die nebenan mit allen Unterbrechungen eines möglichsten Strebens nach Correkt-heit gesungen wurden, bis endlich wirklich zu seiner innigsten Freude ein kleines graues Mäuslein sich hervorwagte, klug die Äuglein um sich warf, den Boden prüfte, den Schweif ringelte und sich den an der Thür wie verzaubert lauschenden Spinnen als alter bekannter Musikfreund hinzuzugesellen suchte. Schon längst hatte man nebenan einen Versuch in mehr unserm Jahrhundert sich annähernder Musik gemacht, schon längst hatte Dystra soviel gewonnen, daß er mindestens eine durchgebildetere Verschlingung der von den einzelnen Stimmen getragenen Tonfiguren zu bemerken glaubte, als dem Greise sein Experiment gelungen schien und er sein Mäuschen wie einen alten Bekannten begrüßte. Nur dauerte die Freude nicht lange. Denn ... plötzlich stockte der Gesang, die Spinnen bewegten sich erschrocken auf den hohen Stelzbeinen, das Mäuschen stutzte, eine kräftige Hand pochte an die Thür, ein Bedienter öffnete ... eine Überraschung ... der Hof ... Was? ... Der König ... Wie? ... Die Königin ... Himmel? ... Anna näherte sich schon dem Papa – es ist ja nicht glaublich! Doch! Doch! Der Hof eben vorübergefahren, schon bei dem Magnifikat still gehalten ... jetzt wo es an Händel ginge, ließe man fragen, ob ein Besuch der Herrschaften erlaubt und Zuhörer [3211] gestattet wären ... Staunen, Bewegung, Unentschlossenheit ... endliche Fassung ... zwei Minuten darauf hatte sich die Scene merkwürdig geändert ... dem Schlosse von Tempelheide war großes Heil widerfahren.

[3212]
4. Capitel. Die beiden Jahrhunderte
Viertes Capitel
Die beiden Jahrhunderte

Im Vorzimmer des Musiksaales zu Tempelheide bei geöffneten Thüren sitzt das Monarchenpaar, andächtig lauschend einem mit unendlich gesteigertem Eifer wieder begonnenen Händelschen Psalm, einem Musikstücke, auf das sich die im Innersten bebende Anna verlassen konnte ... Die Altenwyl, freudestrahlend über den gelungenen Überfall, denn grade in dem Plötzlichen, dem Unvorbereiteten lag der Reiz, lag der Zauber, der allein die Herrschaften in dem Glauben erhielt, sie beglückten sehr die Menschheit und verstünden sie in ihrem tiefsten und geheimsten Walten ... Eine Ankündigung dieses Besuchs, wen hätte sie nicht Alles verletzt, wieviel Neid hätte sie erweckt und wie leicht hätte sie das Zustandekommen vereiteln können, da Anna so schwer zugänglich war ... Nun aber war der kühne Wurf gelungen ... Der Monarch blickt gläubig, seine Gattin erbaut sich an der Sache selbst und an der Andacht des Gemahls ... Zwei Kammerherren in bescheidner Entfernung, zwei Hofdamen sitzend hinter der Herrscherin und alle mit denselben Mienen wie diese, dieselben Achs! Dieselben Os!

[3213]

wie jene, ja als sich die Augen der Königin bei einem Adagio mit Thränen füllten, weinten auch die weiblichen Umgebungen ... Die Kammerherren waren etwas selbständiger; sie fühlten dem Monarchen nach, daß seine Empfindung eine getheilte war. Halb war sie der altklassischen Musik, halb dem greisen Obertribunalspräsidenten zugewandt, der von seinem Gaste, dem russischen Staatsrathe Otto von Dystra, geführt, neben den Majestäten saß und mit sicherm ruhigen Bewußtsein, ja mit einer gewissen vornehmen Fassung die Ehre entgegennahm, die seinem Hause so überraschend widerfuhr ... Dystra war längst dem Hofe vorgestellt und seiner halbverwachsenen Figur wegen sogleich als der Sonderling erkannt, von dem man glücklicherweise seine Bekanntschaft mit gewissen zweideutigen Elementen der Gesellschaft noch nicht in Erfahrung gebracht hatte ... Die Königin irrte sich gar nicht, wenn sie bei ihrem Gemahl voraussetzte, daß ihm diese unmittelbare Annäherung an den Chef der Gerechtigkeit in seinen Staaten außerordentlich wohl that und er sich in dem Bewußtsein betraf: Du lehnst dich da an das Gute und das Edle, an das von Gott Eingesetzte und ewig Gewollte, an den Widerschein der himmlischen Ordnung und du bist in der Weise, wie du nun einmal regierst oder regieren lässest, nicht nur in deinem göttlichen Rechte, sondern auch in der wahren Bahn deiner urweltlich prädestinirten Pflichten! ... Und nun dazu diese Musik, diese alte bewährte Tonschöpfung eines großen Meisters! Welche Sicherheit gewährte ihm [3214] diese Anlehnung an eine Jakobsleiter, die gleichsam in den Himmel selber führte! Ach, es sah so düster auf dem Gebiete der täglichen Erfahrung aus. Die Ruhe war hergestellt, aber theilweise mit gewaltsamen Mitteln. Man hatte in Egon von Hohenberg eine seltne Kraft des Willens, der Durchführung, des Vertrauens sogar gewonnen, aber selber wollte man nicht vertrauen. Man fühlte sich einsam, leer, beängstigt wie immer. Man hatte einen Staat, aber kein Volk mehr. Man sah Gehorsam, aber so wenig Begeisterung bei Denen, die gehorchten, weil sie mußten. Man hatte Beispiele von Strenge geben müssen. Bis in das Heer, das man den Kern und die Blüthe des Volkes zu nennen pflegte – der Kern und die Blüthe des Volkes ist die Schule, hatte dagegen Egon selbst einmal eines Abends in den kleinen Cirkeln mit Reizbarkeit gesagt – bis in das Heer war das »Gift der Neuerung« gedrungen. Es waren Beweise von Verrath gegeben worden, die man zum abschreckenden Beispiele hatte mit buchstabenscharfer Rücksichtslosigkeit strafen »müssen«. Noch beunruhigend genug war die Sage von einem großen geheimen Bunde, der bis in die weiteste Verzweigung aller Stände griff und den Boden, auf dem man täglich wandelte, unsicher machte. Egon selbst, der nicht blos das Land, sondern auch zuweilen den Hof, wenigstens dessen liebste Angehörige, tyrannisirte, der Premierminister, dies allbewunderte, strahlend aufgegangne Gestirn, das weithin am europäischen Himmel leuchtete, Egon von Hohenberg selbst hatte eines Abends, als von [3215] gewissen strafenden Worten die Rede war, die ein Prinz des Hauses in der Provinz zu einem Gemeinderathe gesprochen, gesagt: Hüteten sich doch die Fürsten, mit ihren persönlichen Ansprüchen auf die Empfindungen der Menschen jetzt noch zuweit sich hervorzuwagen! Es kann eine Zeit kommen, wo das Fürstenwesen von Allen, vom Bürger, Bauer, Adel und der Bureaukratie umgangen worden ist und es plötzlich in einer Vereinsamung dasteht, die es vor der Treulosigkeit seiner besten Freunde wird erschaudern lassen! Solche Egon'schen Worte waren längst die Veranlassung einer geheimen Hofverschwörung gegen den Staatsretter geworden, wie man ihn öffentlich nannte. Die Königin stand selbst an der Spitze dieser Opposition, die zunächst eine sittliche war und von der Gräfin Altenwyl von dem Augenblick offen bekannt wurde, als sich der Fürst mit dem schönsten Mädchen der Residenz vermählt hatte, dem man die bürgerliche Abkunft nachgesehen hätte, wenn nicht Melanie's Ruf, der Ruf jener Pauline, unter deren Auspicien diese Ehe zu Stande kam, Anstoß hätte erregen müssen. Es war eine Demonstration gegen Pauline und gegen Egon selbst, daß man Anna von Harder heute besuchte, sittliche Elemente schützte, die seelenreinigende Musik verehrte und in dem uralten Chef der Justiz gleichsam jenen alten Staatsorganismus, durch den das Land groß geworden, an Macht und wahrem Glücke gewonnen hatte, selbst der konservativen Neuerung gegenüber in Ehren hielt. Und das Alles schwamm so in den Tönen Händel's mit! Das[3216] Alles floß so sanft in den Strom der Harmonieen über, die auch unter der Direktion eines Pianos an ihrer rauschenden Würde und Feierlichkeit nichts verloren! »Jauchzet dem Herrn alle Lande und singet dem König der Ehre!« Es fehlten hier nur noch einige bunte Kirchenfenster, einige Kartons etwa zum Heilande in der Vorhölle, die Sammlungen und diskursiven Erörterungen Voland's von der Hahnenfeder und der ganze Apparat war beisammen, mit dem aus dieser Gegend her gegen die Stürme der Zeit ein Zion voll Kraft und Herrlichkeit erbaut werden sollte.

Und die Sprache der suchenden Empfindung blieb auch nicht zu lange aus. Nach Beendigung des sehr gelungenen präcisen Vortrags erhob sich der Hof, betrat nun den Musiksaal selbst, rühmte die Kraft, die Ausdauer, den Geschmack der Führung und ließ sich von der in der Musik nun recht erstarkten und gehobenen Anna die Damen und Herren vorstellen, meist bekannte, hoffähige Namen, deren Jedem ein anerkennendes Wort, eine Frage, eine jener kleinen Nippsachen der Konversation, die eine Cour für die Großen zu einer Aufgabe macht, zu Theil wurde. Dann aber wurde doch der Greis der Hauptmittelpunkt. Ihn selbst verjüngte die Spannung und erhielt ihn frei, ohne Unterstützung des beobachtenden und vielbeobachteten Dystra ... Fräulein von Flottwitz sagte auch den hohen Herrschaften, als an sie die Reihe des Lobes und der Anerkennung kam und ihre »Gesinnung« und die ihrer Anverwandten und ihrer Onkel, ihrer Brüder, ihrer [3217] Vettern, namentlich des auch in der Presse wirksamen Oberpräsidenten gepriesen wurde: Welche ausströmende Kraft in der Nähe eines geliebten Herrscherpaares liegt, beweist das Lazaruswunder an dem Greise da! Wie erstanden ist er vom Tode! Alle Krücken sind gleichsam weggeworfen! Sein König sagt: Stehe auf und wandle! ... Man belächelte diese etwas pathetischen Worte der Flottwitz, aber sie sagten Das, was man so gern hörte in diesem Kreise. Ja, wie manche Bittschrift wurde nicht erhört, die man statt an den Landesfürsten an seine Gemahlin richtete! Man fand damit ein Prinzip der persönlichen Huldigung ausgedrückt, das leider zu sehr abhanden kam. Ein junger Sänger, der ein Gedicht schrieb: »Die Farben meiner Königin«, erhielt für diese Huldigung im alten troubadourischen Style eine ganz moderne Wechselanweisung zu einer Reise nach Italien. Kurz man steuerte jener Egon'schen Prophezeiung von der poetisch-romantischen Isolirung des Monarchenthums mit vollen, rauschenden Segeln zu und hätte, wenn die heute so unendlich verkürzte Trompetta dagewesen wäre, zwar nicht von ihrem Album, nicht von ihrem zweideutigen Kanonenboot, wol aber schon von dem Chefpräsidenten gesprochen, der zu der Richtung der Persönlichkeit im Staate sich hielt und kürzlich sogar gegen Egon eine Opposition in Steuerfreiheitssachen des Grundbesitzes mit angeführt hatte.

Konnte es da fehlen, daß nun durch die Altenwyl auch die Thierseele, auch die Mauerschwalbe, auch die [3218] Äolsharfe im Tannenparke zur Sprache gebracht wurde? Ach, dieser vorschnelle neologische Dystra! ... Der platzte mit seinen Beobachtungen über die Spinnen und die kleine Maus hervor. Er wurde belächelt, aber dies Lächeln war nur gnädig, nicht ganz zustimmend. Die Thierseele! Die Thierseele! Man sollte darüber viel zarter, viel milder, viel duftender sprechen. Der alte Herr begann schon selbst davon, Anna unterstützte ihn, man horchte, man lauschte, man gestand zu, es wäre wol das Rührendste, was die Thierwelt darböte, wenn eine Katze die Jungen einer von ihr gebissenen Ratte aufsäugte. Aber da errötheten doch immer noch Einige der Damen. Man wollte die Wissenschaft, die Wahrheit, aber nur nicht zu wissenschaftlich, nicht zu wahr. Man suchte etwas mehr Dämmerndes, Umflortes und da hatte die Gräfin Mäuseburg, die an der Spitze einer großen Anzahl von Vereinen stand, den Muth, auf die Hunde des St.-Bernhard zu kommen, jene edlen Neufundländer, die die in den Lawinen verschütteten Unglücklichen im Schnee aufsuchten, aus dem Körbchen, das sie um den Hals trügen, sogleich mit Speise und Trank erquickten, bis die Mönche kämen und das Werk der Liebe und Rettung vollendeten. Das war denn ein Wort! Das öffnete gleich das ganze Gebiet, auf dem man der Menschheit hier Wunder glaubte zu nützen, das große herrliche Gebiet der innern Mission. Die St.-Bernhard's Hunde auch in ihrer Art innere Missionäre! Nun strömten alle losgelassenen Schleusen der Übereinstimmung über das Seelische und so rauschend [3219] quollen sie, daß die Gräfin Altenwyl fast Mühe hatte, mit dem Anliegen durchzudringen, den edlen Greis möchte man doch über die Mauerschwalbe fragen, die Shakespeare so schön beschrieben in Versen, die General Voland damals sogleich, wie Alles, auswendig gewußt hätte. Aber o Jammer! Der alte rationalistische Herr aus Friedrich's des Großen Zeit zerstörte den schönen Traum von der an Mauern schmiegsamen Mauerschwalbe und nannte sie frischweg nur die Maurerschwalbe, weil sie maure wie mit Kelle und Mörtel, nicht Mauerschwalbe, weil sie sich liebend an Mauern schmiege. Und was er auch nun Rührendes erzählte von der Schwalbe und ihrer Anhänglichkeit an ihre Jungen, von jenem Schiff, an dessen Masten sich einst im Hafen eine Schwalbe genistet hätte, die ihre Jungen durch vom Lande geholten Proviant ernährte, von jenem Schiff, das dann in See gegangen wäre und von der Schwalbe, die bald zum Lande, bald zum Schiffe flog, um Nahrung zu holen, bis sie todt niedersank im Meere, weil die Entfernungen zu weit wurden, ja was er auch von der kunstvollsten Methode des Nestbauens durch Schwalben erzählte, die Maurerschwalbe war Das nicht, was man wollte. Die Maurerschwalbe, ach, die stand ja gleichsam im Schurzfell, mit Kalk bespritzt und der Kelle in der Hand vor diesen Damen, deren Phantasie nur das absolut Schöne und das englische Lovely wollte, die Natur gleichsam in Goldschnitt gebunden wie eine Gedichtsammlung über die Sonntagsfeier oder über die Märchenwelt oder was sich der Wald [3220] erzählt! ... Nur der Monarch gehörte nicht zu den »Des-illusionirten.« Er wußte, daß die greise Excellenz Chef aller Landeslogen war und in der Maçonnerie hoch verehrt. Ihn brachte grade doch die Maurerschwalbe auf ein stilles Nachsinnen ... die Maçonnerie ... und schon schwebte ihm, schon im Voraus gestachelt vom wundersüchtigen Voland, die Bemerkung auf den Lippen, daß die Welt auf die Entscheidung des großen Johanniterprozesses sehr gespannt wäre ... als die junge Gemahlin den Wunsch ... wieder nach Musik, jetzt nach Pergolese, äußerte, man sich wieder setzte und Pergolese sang. Man sang Pergolese.

Die weichen Töne des Stabat mater nach des alten Hiller Instrumentirung zum Klavier wurden in sanftester Modulation, schwellend und absteigend, in den Tuttis und den Solis vollkommen sicher vorgetragen. Es war eine der fertigen Kompositionen, die Anna von ihrer Akademie zu jeder Zeit und auch Jedem darbieten konnte. Diese Töne waren gewiß schmelzend. Gewiß, Baron Dystra, hätte ihm eine Stimme sagen sollen, wen der Schmerz Mariens, die am Kreuz des Sohnes stand, in diesen Tönen nicht rührte, verdient den Antheil nicht am gesitteten Menschenbund. Der Baron glossirte auch wirklich nicht die Thränen der Frauen. Ergriff ihn doch selbst das Verhallen des auch dichterisch so wohlgefügten Liedes, dies sanfte, stille Ausathmen der Komposition, nach dem man nur abbrechen, gehen, knieen, predigen, beten, nichts Gemeines mehr beginnen kann. Die Damen wären auch[3221] zerknirscht so am liebsten nun gegangen, so mit feuchten Augen am liebsten von der bewegten und ruhig gewordenen Anna geschieden, aber den Monarchen fesselte es an den greisen Obertribunalspräsidenten. Es that ihm so wohl, sich durch ihn im Zusammenhange mit der Geschichte seines Hauses zu wissen. Er begann, um nur noch zu bleiben, jetzt von den Windharfen und bedauerte den für den Greis zu entlegenen Weg. Doch dieser machte dem Worte der Flottwitz Ehre. Er stand und ging wie der Rüstigsten Einer und als der Fürst sogar selbst seinen Arm ergriff, ihn selber führte, gab er seine bereitwilligste Absicht zu erkennen, seinem Herrn und Könige auch mit Freuden jene Zähmung der Luftgeister zu zeigen. Nun war Alles wieder erfrischt, wieder erquickt nach dem schmerzlichen Drucke Pergolese's. Der König will noch bleiben! Alles athmete beseligt. Draußen vollpulsirende Bewegung. Hunderte von Menschen, die an den Spalieren standen und leidlich ehrerbietig gafften. Die ganze Akademie folgte, weil es gewünscht wurde. Die Diener machten Spalier. Es ging in den Tannenpark. Auch Dystra folgte mit den Kammerherren, die er obenhin kannte. Anna blickte zu Olga hinauf, die hinter ihren Blumen stand, sich getrost das Alles entgehen ließ und sich vor einem Schauspiel, das ihr wenig Interesse einflößte, still verbarg. Als im Gehen der Großpapa eine Erzählung begann, die sie ohne Erschütterung nie hören konnte, die Geschichte der beiden Schwestern Philomele und Prokne, erschrak sie recht ...

[3222] Der Greis kam sehr einfach auf diese Geschichte. Der König hatte ihn nach den allgemeinen religiösen Resultaten seiner Lieblingsneigung gefragt. Dagobert von Harder antwortete darauf:

Manchmal, Majestät, wünscht' ich, die Christuslehre hätte die Menschen nicht zu sehr auf das Reich der unsichtbaren Geistigkeit verwiesen. Es ist nicht gut, wenn wir uns zu sehr aus den Banden der gegebenen Sinnengrenze entfernen. In den heidnischen Vorstellungen über Religion hat mir immer gefallen, daß ihnen eine allbelebende Phantasie in der Natur bestimmte Ruhepunkte anwies, die unmittelbar anzubeten freilich eine blinde Abgötterei war, während leider auch wir in unserm Glauben vom Hylozoismus nicht ganz frei sind. Die Alten haben sich selbst gehoben, als sie die Thierwelt zu Mittelstufen der Götterlehre machten. Jedem Gotte war irgend ein gefiederter Bewohner der Lüfte oder das schnaubende edle Roß oder die wilden, von des Gottes Bedeutung gebändigten Einsiedler der Wüste beigegeben. Der Lehre von den Verwandlungen liegt ein Prinzip zum Grunde, das im Thiere eine Offenbarung anerkannte. Und wie artig sind die Sagen der persönlichen Auffassung des Welt-und Erdenlebens! Schiller singt: Wo jetzt nur, wie unsre Weisen sagen, seelenlos ein Feuerball sich dreht, lenkte damals seinen goldnen Wagen Helios in stiller Majestät. Gibt es eine schönere Sage als die von Philomele und Prokne?

Der Monarch, der mit dem General Voland die Belesenheit [3223] gemein hatte, kannte sie, doch nicht vollständig genug, um sie den Damen mitzutheilen.

Philomele und Prokne, erzählte der Greis, waren Schwestern, Beide Töchter eines Königs von Athen. Prokne an einen benachbarten kleinen Fürsten vermählt, Namens Tereus. Tereus wurde seiner Gattin überdrüssig. Es verlangte ihn auch nach Philomelen. Er beredete bei einem Besuch in Athen den Schwiegervater, ihm die Schwägerin auf die Reise mitzugeben, da Prokne, seine Gattin, sich zu sehr nach ihrer Schwester sehne. Man gab ihm Philomelen mit und setzte sie seinen bösen Gelüsten aus. Da Philomele tugendhaft widerstand, ließ der rachsüchtige Mann ihr die Zunge ausschneiden und warf sie in einen einsamen Thurm. Durch eine Stickerei verrieth sich aber Philomele ihrer Schwester Prokne, die sie zu retten wußte. Prokne voll Wuth über ihren Gemahl tödtete ihm den eignen Sohn, ließ ihm diesen als Speise für seine Tafel zurück und entfloh mit ihrer Schwester. Beide wären von der Rache des Tereus unfehlbar ereilt worden, wäre Philomele von den Göttern nicht in eine Nachtigall verwandelt worden. Prokne aber wurde die Schwalbe. Ihr ängstliches Flattern rundum im Kreise deutet auf die Reue über ihren begangnen Frevel; sie sucht das Kind wieder, das sie so grausam gemordet hatte.

War bei dieser mit Interesse vernommenen Erzählung das Auge Aller, die die Verhältnisse kannten, auf Anna von Harder gerichtet, deren Beziehung zu einer Schwester und zu einem verlornen Kinde zur Chronik der Welt [3224] gehörte, so machte es nach dieser trüben Anwendung fast einen komischen Eindruck, als in dieser Fabel gewissermaßen auch eine Anspielung auf den Intendanten der Bühne, den entarteten Sohn des Redners selbst, zum Vorschein kam; denn der König selbst war es, der da sagte:

Und jener Tereus, Schwager der Prokne, wurde ja wol in einen Wiedehopf verwandelt?

Man forschte, ob man lächeln durfte. Diese Menschen hatten Alles in Bereitschaft, Lächeln, Weinen, Ernst, je nachdem es auf dem Zifferblatt der Uhr, nach der sich hier Jeder richtete, aussah ... Aber Kurt Henning Detlev von Harder als Wiedehopf? Alle lächelten diesmal von selbst.

Otto von Dystra erlaubte sich nun die Bemerkung, daß doch ein letzter Rest der Ehrfurcht vor den Thieren die Heraldik wäre, und hatte mit dieser Anmerkung seinem Freunde, dem General Voland, eben so viel Ehre gemacht, wie dem Fürsten Vergnügen, der dies Thema als Kenner verfolgte. Alle Ritter- und Wappenbücher wurden gleichsam in dem Gange über die Kiefernadeln nun auch aufgeschlagen, während Pfauengeschrei den Damen nach Pergolese wehe that. Man schritt des Greises wegen so langsam, daß bis zur künstlichen Ruine und zu den Windharfen dieser noch mit einer gewissen Feierlichkeit sagen konnte:

Vergebung, Majestät! In die Wappen hat man die Thiere in ihrer ganzen Wildheit aufgenommen.

Aber ist es nicht schön, wagte eine Damenstimme – es [3225] war wieder die der Flottwitz, die allgemein heute bewundert wurde – ist es nicht schön, die Thiere so zu nehmen, wie sie die Natur geschaffen hat, das Pferd so stolz wie in Arabien, den Adler so königlich, wie er auf den Felsen horstet?

Die ganze Gesellschaft murmelte Beifall. Alles war entzückt. Die Wappenthiere aller Anwesenden rührten sich. Jeder verrieth, daß er seinen Habichten, seinen Falken, seinen Auerhähnen auf den Wagenschlägen draußen Ehre zu machen hätte.

Der Präsident blieb stehen und sah sich im Kreise um. Die Königin erschrak vor dem Blicke, der aus den zusammengefallenen Runzeln schoß; sie fürchtete eine Polemik, die ihr in neuester Zeit reizbarer gewordene Gemahl liebte, ja herausforderte. Sie hatte eigentlich schon an dem Ausdruck des Präsidenten »Christuslehre« genug gehabt und fürchtete Konflikte.

Nun, Excellenz, reden Sie! sagte der König. Sie lasen die Sibyllinischen Bücher! Wir sollten öfter auf die Sprache der Erfahrung hören.

Majestät, erwiderte der Greis sich ehrerbietig verneigend, ich wünschte nur das Eine nicht, daß unser Jahrhundert in seinem frischen und kräftigen Selbstgefühl zu wild, zu zornig sich zuweilen gebehrdete. Ich kümmere mich wenig um die Händel des Tages, aber was davon in meine Klause dringt, flößt mir zuweilen den Schrecken ein, daß wir wol glauben möchten, auch alle unsre Zähne wären für die Verzehrung der Thiere bestimmt. Etwas [3226] mehr Pflanzenkost, etwas mehr indische Brahminenlehre würde dieser Zeit nicht schaden.

Man lachte ...

Aber der Greis, den, da der König bewegt schien, Otto von Dystra führte, ließ sich nicht irre machen. Halbscherzend und des Fußes auf diesem neuen Zeitboden nicht ganz gewiß sagte er:

Ja! Ja! Lachen Sie nur! Ich gehöre noch zu den alten Heiden, Majestät, zu den Heiden, die bei Ew. Majestät Vorfahren das Recht hatten, sich für Weise zu halten. Jetzt freilich wird uns bewiesen, daß wir damals ganz dumme, oberflächliche Narren waren.N'importe! Es ist möglich. Aber ungläubig waren wir eigentlich doch nicht! Wir glaubten mehr, als jetzt die Leute glauben, nur Anderes. Ich hatte eine Jugend, wo ich nur an die Götter glaubte, die im Bardenhaine Thuiskon's verehrt wurden. Klopstock war mein edler großer Sänger. Dann schlug ich, besonnen geworden, um. Ich fand, daß mein Odin und die holde Freya meine Beförderung auf dem Kammergerichte nicht recht in Gang bringen wollten. Da ging ich zu den Griechen über und habe mit meinem Homer in der Hand zum Vater Zeus gebetet, wenn blauer ionischer Himmel auf der Erde lag, und zu Poseidon, wenn es regnete, und zu Ceres und Bachus, wenn die Arbeit gethan war und der grüne Römer winkte ... Dann wurde die Welt wieder was Anderes, nämlich indisch. Ein wenig macht' ich diese Religion auch noch mit, aber die Indier in Asien und München führten mich zu tief in die Katakomben [3227] des Mysticismus. Da blieb ich draußen und kam glücklicherweise weder in Herrenhut noch in der Siebenhügelstadt wieder ans Tageslicht.

Man lachte wieder, zum Schrecken der Gräfin Altenwyl. Die Akademie schien nicht zu wissen, daß nur der erste Theil dieser humoristischen Rede bei Hofe komisch sein durfte, die Schlußbemerkung aber bedenklich. Es fehlte wirklich jetzt eine Trompetta, um hier die Grenze zu ziehen, bis wieweit das bekannte, vielbesprochene, nun sich deutlich herausstellende Heidenthum des alten Obertribunalspräsidenten unterhaltend gefunden werden durfte. Die Gräfin wechselte nicht unbedeutende Blicke mit Anna von Harder und flüsterte ihr zu:

Ich wette doch! Er glaubt an die Seelenwanderung.

Die hohen Herrschaften waren in einer eignen Lage. An einem Manne, den sie seines Alters und seiner Stellung zur Monarchie wegen hochverehrten, entdeckten sie eine Geistesrichtung, die ihnen nicht nur völlig rococo, sondern sogar gefährlich erschien. Dies war wirklich noch der alte Neolog der »Zopfzeit,« der unverbesserliche Rationalist, der an dem Revolutionszeitalter wahrlich auch sein Schuldtheil trug. Wo war nun die Thierseele, die Mauerschwalbe, der Nachschauer des Stabat mater hin?

Glücklicherweise hatte man die Ruine erreicht. Gott sei Dank, diese war im Geschmack des ritterlichen Mittelalters! Da gab es doch Mauerzacken und Rundformen, eine Altane, und das Prächtigste war, ein leiser Wind bestrich [3228] die im schönsten Lichte sich noch immer sonnenden Tannenwipfel und wie zum Gruße des hohen Besuches kamen die Luftgeister geflogen und breiteten ihre klingenden Schwingen aus. Wie hallte Das in dem stillen Walde wider! Wie sanftes Moll bebte und schrillte in der Luft! Man söhnte sich mit Tempelheide aus, man hatte die Anknüpfung wieder an die letzten gesungenen Worte gefunden:Quando corpus morietur, fac, ut animae donetur paradisi gloria!

Befriedigt wollte die Königin nach einigen noch mit Dystra aus Veranlassung des gothischen Geschmacks über seine Tempelsteinbauten gewechselten Worten sich empfehlen. Sie hatte viel Sachgemäß-Architektonisches über Buchaus Umgebung und die Tempelsteinruine gesprochen ... Aber ihr hoher Gemahl besaß zwei treffliche Eigenschaften, denen nur nicht immer die Gelegenheit zur vollkommnen oder richtigen Anwendung gegeben wurde. Er liebte erstens die Gerechtigkeit und besaß zweitens einen unergründlichen Schatz von Pietät. Die zwischen ihm und dem alten, von seinen Vorfahren so gefeierten und noch so geistesfrischen Herrn obwaltende Meinungsverschiedenheit reizte ihn. Er brachte auf dem Rückwege von den Windharfen das Gespräch wieder auf jene Idealität des Greises, die gewissermaßen am Eingange der Katakomben stehen geblieben war und grübelte darüber, wie er, da ihm Scherzformen nicht gegeben waren, es anzustellen hätte, auf General Voland's Äußerung einzulenken, derzufolge der Johanniterprozeß mit [3229] den Lieblingsneigungen des Greises, der Freimaurerei und der Thierseelenkunde, zusammenhinge. Gradezu, wußte der König wohl, konnte er weder von der Freimaurerei noch von jenem Prozeß und der Meinung des obersten Gerichtshofes, ohnehin vor so vielen Zeugen, beginnen; doch wagte er den kleinen Scherz:

Die aufgeklärte Zeit war gezwungen, weil sie Gott den Herrn nicht erkannte, sich andre Götter zu schaffen. Voltaire soll vor seiner Katze mehr Respekt gehabt haben als vor den Heiligen. Ja wenn ich Voland glauben darf, so beteten die Tempelherren die Katzen wirklich an und hatten ein Idol, das sie den Bafomet nannten, eine Art von Götzen, toller als die Kalmücken, dieselben Tempelherren, die die Keime der Freimaurerei nach England verpflanzten!

O Majestät, erhob sich jetzt der Greis in seiner ganzen gebückten Gestalt und warf seine hellblauen Augen in die Höhe des Lichts, daß sie wie verklärt schimmerten, o Majestät, wer sagte Ihnen Das? Wenn der Herr General Voland die Akten der Ketzerrichter, die den edlen Jakob von Molay durch Feuer hinrichteten, für vollgültige Beweise nehmen will, so hat er Recht, Mährchen für Wahrheit auszugeben. Aber die Geschichte hat jenen elenden Papst verurtheilt, der aus der schmählichsten Erniedrigung des apostolischen Stuhles zu Avignon auf Geheiß jenes tyrannischen Philipp von Frankreich einen Orden zerstörte, der nur einer Reform bedurfte, um der Geschichte eine andre Bahn vorzuzeichnen, als sie die der [3230] Staaten und der Religion später gegangen ist. Man fand in den Tempelhöfen Thiersymbole, man spricht von einem im Pariser Tempel gefundenen metallenen Kopf, den man Bafomet nannte. Aus Scherz hab' auch ich einen alten treuen Kater Bafomet genannt. Die Templer zogen in den Orient als fanatische Christen, sie kamen tolerant zurück. Sie hatten in den Moslem Brüder, Menschen, Helden kennen gelernt. Sie hatten so viele Beispiele von Großmuth der Emirn erfahren, daß sie mit Achtung vor jeder Religion, die den Menschen veredelt, von der Küste Asiens schieden. O Mahomet liebte die Thiere! Er war der Apostel einer nicht übergeistigten Religion, der Prophet einer Lehre, die den Menschen an die Sinnenschranke bindet, damit er im geistigen Fluge nicht taste, luftige Wolken für feste Eilande halte, nach Sternen hasche und sich die Blüthen der Erde in der Hand verwelken lasse. O Majestät, Mahomet war ein sehr weiser Gesetzgeber, ein sehr großer Staatsmann und er liebte die Thiere. Was ist der Araber ohne sein Pferd? Warum hielt Mahomet die Katze hoch? Weil er den Hund nicht kannte und weil er in der Gewöhnung der Katze ein mildes Prinzip des Hauses sah. Die Tempelherrenbauten – dort drüben jene Kirche vom uralten Tempelheide – haben überall Spuren von Anwendung der Thiere zu Ausschmückungen der Architektur. Die Übergeistigung hielt sich an die Blumen, die Menschenreligion an die Thiere. Und wohl uns, wenn wir Duldung lernen und die gezogene Grenze unsrer Sinne! Ach, das Gebiet der Nacht ist so groß, so unheimlich, so [3231] gefahrvoll. Die Tempelherren mußten dem Islam weichen; sie mußten das Grab des Erlösers im eignen Herzen finden und der Menschheit die Lehre von den in ihr selbst ruhenden Heiligthümern predigen. Richard Löwenherz kam mit einem gezähmten Löwen heim. Der Blick erweitert sich, wenn man die Natur belauscht und die stumme Sprache selbst des Thieres zu verstehen sich müht. Kein großer Naturforscher hat einem Tyrannen schmeicheln können. Das Recht, das ewige Recht leitet seine Quelle von Dem her, was allem Lebenden gemeinsam ist, von der Luft, dem Feuer, dem Wasser und der Erde. O wehe, wehe einem Zeitalter, das sich von der Duldung entfernt, wehe Denen, die um der falschverstandenen oder innerlich nie gefühlten Liebe willen Haß predigen! Wehe Denen, die eine Wahrheit, die nicht Alle erkennen, auf irgend einen Thron der Welt setzen! Daß wir Menschen sind, schwache, endliche Werkzeuge eines großen uns nur ahnungsweise faßbaren Weltenplanes, das ist die einzige Wahrheit und diese macht uns demüthig, tolerant, nachgiebig gegen Andersdenkende, zugänglich dem Bessern und den Keimen neuer geschichtlicher Regungen! Ich weiß es nicht, ob die Maurerei durch flüchtige Tempelherren nach England verpflanzt wurde, aber ich wünschte, es wäre so. Ob Jude, ob Christ, ob Muselmann, es ist ein Gott, der uns Alle erschaffen hat, erhält, zerstört, zu neuem Leben verwendet, verklärt, erlöst, wie man es nennen will. O, o dieser General mit seinen Katzen! Mein Bafomet sagt mir keine Mysterien, nichts über den Stein [3232] der Weisen, nichts über die Quadratur des Cirkels, er sagt mir: Liebet Euch untereinander, duldet Euch und bessert Euch durch die Erkenntniß Eurer irdischen Schwächen und einer selbst in Thieren durch Menschenliebe möglichen Vollkommenheit!

Die Wirkung dieser mit Begeisterung gesprochenen Worte des Greises, die ihn trotz seiner kleinen Figur zum Seher erhoben, war verschieden. Die Frauen empfanden etwas, das halb aus Spott, halb aus Mitleid zusammengesetzt war; nur als sie die Liebe erwähnt hörten, blickten sie auf die Herrscherin, um gleichsam die Verhaltungsregel ihrem Antlitz abzumerken. Die junge, hohe, schlanke Frau blieb aber streng. Sie war von der neuen Zeit und ihren Wirren, von den Gefahren des Königthums zu sehr gereizt, sie erkannte nur gefährliche Irrthümer in dieser kühnen Rede eines Achtzigjährigen ... Ihr Gemahl jedoch war erschüttert. Seine Bildung sagte ihm, daß er die Theorie Lessing's, Mendelssohn's, jenes Reimarus, der in der That über Vernunftreligion und Thierseele zugleich geschrieben hat, vor sich hatte, er sah Nathan, Saladin, den Tempelherrn aus Lessing's schönem Gedichte, er gedachte der Thränen, die ihm die Erzählung von den drei Ringen als Knaben gekostet hatte, wenn er sie von einem großen Künstler gesprochen hörte und dargestellt sah. Trotzdem, daß seine Gemahlin ein andres Gespräch, ein leichteres und wieder über den Tempelstein und die Nachbarschaft des Herrn von Dystra bei Buchau anknüpfte, umarmte er beim Abschiede den Greis voll [3233] Rührung, Zerknirschung; denn es waren zwei Seelen in ihm ... Die eine wollte sich manchmal zum Entsetzen der Ultrapartei von der andern trennen ... Dann überschlichen ihn Entsagungsgedanken. Wie sollte er auch jetzt die Achtung vor der philosophischen Größe des achtzehnten Jahrhunderts vermitteln mit der leidenschaftlichen, sich allein weise dünkenden Staatstheorie der Absolutisten, die in der Kammer, der Presse, auf dem Richterstuhle Egon's von Hohenberg Schleppe trugen oder gar noch weiter als dieser gingen? War nicht schon soviel Blut geflossen für diese Gegensätze alter und neuer Zeit? Was konnte nicht noch kommen? ... Der Monarch brach ab. Kein von der Altenwyl in Anregung gebrachtes Sanctus, kein Dies irae mehr konnte ihn halten ... er war erschüttert, er umarmte den Präsidenten, sagte Anna von Harder das Verbindlichste, grüßte dankend die Übrigen, entschuldigte den Überfall und fuhr ernst und ergriffen rasch von dannen.

An eine Wiederaufnahme der Akademie war heute nun nicht mehr zu denken. Das war ein Ereigniß gewesen, das gleich in alle Welt mußte! Man küßte, man herzte Anna. Man schüttelte, unbekümmert über Das, worauf sie gedeutet hatte, die Hand der greisen Excellenz. Man hatte eine unendliche Ehre genossen. Ja, die Flottwitz, die die Gegenwart, die Praxis im Auge hatte, rief sogar, ob aus Liebe zu Dankmar oder einen Augenblick die Demokratie vergessend aus:

Excellenz, gewinnen denn die Wildungen den Prozeß?

[3234] Ist es denn wahr, daß es sich nur noch um einige wenige Buchstaben in einer alten Urkunde handelt?

Der Greis lächelte nur mild, schwieg und entfernte sich an Dystra's Hand ...

Dystra hatte ihn verstanden. Der sonst so spöttische Dilettant, der Alles von der Seite der bloßen Kuriosität, nur als Sammler für das Herbarium seines Gedächtnisses auffaßte, war ergriffen von der Lebenswahrheit, die ihm hier, auch aus einer Liebhaberei, entgegensprang. Das waren auch Allotrien, auch Nebenstunden, auch Sammlungen und wie hoben sie die geistige Thatkraft, die sittliche Überzeugung! Er kannte hinlänglich diese neuere vornehme Geistesrichtung der Politiker, die bei Hofe so maßgebend waren. Er kannte Voland's thatlose Reminiscenzendoktrin und sein objektives Meinungskaleidoskop, kannte Rochus vom Westen in seiner gesinnungslosen Skepsis, kannte die Loyalitätsdoktrin junger Publizisten, die Carriere machen wollten und den Staat auf die Säbelspitze oder das Bayonnet steckten, er kannte den Geist des neunzehnten Jahrhunderts als einen tieferen, bedeutenderen als den dieses Greises, und doch wie wenig Liebe und Gerechtigkeit in diesem Geist! Auch Dystra's Fragen über jenen Prozeß wich der hochgestellte Richter als einem Amtsgeheimniß aus, aber Dystra schied doch mit dem gesteigerten Gefühle der Anhänglichkeit an die Brüder Wildungen und den mit so vielen Gefahren bedrohten Bund der Ritter vom Geiste. Noch heute wollte er in den Ullagrund an Dankmar und nach Antwerpen an [3235] Siegbert schreiben ... Als er von Anna Abschied nahm, fand er sie allein. Er sagte zwar nur: Excellenz waren charmant, waren süperbe! aber er meinte etwas unendlich Größeres damit. Er plauderte Späße mit Spartakus und Cicero, er nickte zu den Fenstern Olga's hinauf, er moquirte sich über die Hofdamen, über die Spinnen, über Pergolese's langweiligen Styl, über die Blicke, die die Fürstin von Sein-Haben-Werden auf ihn geschossen hätte, als von Verwandlung des Tereus in einen Wiedehopf die Rede gewesen wäre, als wenn sie nicht viel eher Ursache hätte, den Vortrag einer Geschichte der Verwandlungen in eine Schnepfe oder eine Gans zu fürchten, kurz er versteckte sein Gefühl in ein Hanswurstkleid, das ihm, wie er dachte, besser stand als der Ernst. Anna seufzte über die »Gesellschaft« Olga's wegen ... Erschüttert in allen Nerven ging sie erst zur alten Excellenz, die schon in ihren Arbeiten vertieft war und sich mit Behagen die merkwürdigen Scenen noch einmal vergegenwärtigte, dann aber rief sie Olga, um ihr zu erzählen, was sie versäumt hatte und zu staunen, als sie vernehmen mußte, daß ihr die Fortschritte, die sie inzwischen an ihrem Bilde gemacht hätte, lieber wären als alle Schauspiele der Verstellungskunst bei Hofe.

Du hast Recht! sagte Anna, betrachtete das Bild, ergriff Olga's Arm, nahm einen großen runden italienischen Hut, den sie ihr sanft auf das schwarze Haar legte und zog sie mit sich die Stiege hinunter in die freie Luft ... Sie hätte es in den schwülen niedrigen Zimmern nun [3236] nicht aushalten können. Ihr Blut wallte. So heiß war es ihr seit Jahren nicht durch die Adern gerollt. Jetzt hätte sie einer liebevollen Kindesseele bedurft, die sie zärtlich umfangen, ihr die Stirn geküßt, das Haar, die Wangen, die Hände gestreichelt hätte. Sie sagte es auch der nicht so wie sie angeregten und sie nicht verstehenden Olga. Sie sagte ihr:

Ach, hätt' ich meine Selma jetzt!

Auf dem kleinen Hügel sammelte sich Anna. Die Sonne war im Sinken begriffen. Die fernen Thürme der Stadt wie erleuchtet von ihren letzten rothen Strahlen. Erst Alles ringsumher so geräuschvoll, nun wieder die alte, ihr so wohlthuende Stille ... Es ging dem Winter zu. Wie doppelt genießt man den freundlichen Abschied des Herbstes! Man möchte ihn festhalten, mit ihm ringen, daß er bleibe, aber in dem Kampfe fallen vom Haupte des gebräunten Knaben aus seinem Erntekorbe erst die Früchte, die Birnen, die Äpfel, die rothbraunen und grünen Trauben, zuletzt aber auch die Blätter selbst ... Olga aß von einem Teller Trauben. Sie hatte Tage, wo sie nichts genoß als Früchte. Sie hielt Anna's Hand, fühlte ihre Pulse klopfen, aber sich ihr hinzugeben, sie wie das Kind zu umarmen, das Anna'n heute vor mehr als dreißig Jahren geboren war, das vermochte sie nicht, in der Voraussetzung der sie umgebenden prosaischen Dinge. Doch einmal sagte sie:

Warum soll denn Selma todt sein?

Ein Akkord wehte grade herüber vom Tannenpark ...

[3237] Sie ist todt! sagte Anna. Ich mußte sie hingeben schon damals, als ich dem Manne ihrer Liebe sie versagen wollte! Es war ein mächtiger Geist, um den sie flatterte, wie der Schmetterling um die Lichtflamme. Ich sagte ihr, daß er sie verzehren würde. Sie glaubte es nicht. Ich schilderte ihr sein regelloses, kometenartiges Leben. Sie liebte ihn doch. Ich tadelte sie in ihrer blinden Wahl, ich enthüllte ihr Alles, was ihr diesen Geliebten verdächtigen konnte. Sie haßte mich dafür; denn so lieben Liebende! Sie folgte seiner Werbung, in weite Fernen. Wohin? Wer weiß es? Nie schrieb sie mir. Ich war todt für sie, sie todt für mich. Und ich weiß es, in Worten, geschriebenen Worten, ließ sich nicht sagen, was mein verlornes Kind mir zu sagen hatte. Ihr Gatte war ihr ein Gott. Ihn betete sie an. Konnte sie so treulos sein, nachdem ich ihn als den Verabscheuungswürdigsten ihr hingestellt hatte, vor seinen Augen sich mit den Frevlern an ihrem Heiligthume auszusöhnen? Erst war ich trotzig, dann wurd' ich zaghaft, zuletzt weint' ich, und als ich nicht mehr weinte, weiß ich, war sie gestorben. Eine Stimme sagt mir's. Das hört sich. Das sieht sich auch. In stillen Nächten kommen die Bilder. Ich weiß, Selma ist nicht mehr.

Olga brach sich Blumen und wand einen Kranz; dieser Ton hatte ihr gefallen. Ihren geistigen, poetischen Stolz überwand sie etwas, sie gedachte, der alten Dame, die so überfliegend und ätherisch sprechen konnte, mit einem Kranz zu huldigen ...

Es schlug schon sieben vom Thurme ... im Hofe war [3238] Alles ruhig ... auf der Straße unten dann und wann ein Wagen noch, ein Reiter ... der Greis zündete Licht an. An seinem Fenster wurd' es hell. Er studirte ...

Der Abend war nicht kühl. Es war eine verspätete Sommernacht; aber das Dunkel kam früh ... Olga's Kranz war fertig ... Von den Tannen würziger und melodischer Hauch ...

Eben will Anna Olga's Arm ergreifen und sich dem Hause zuwenden, um Abends, wie sie gewohnt, dem Greise beim Thee noch etwas vorzulesen, als ein kleiner Wagen, ein Einspänner, von der Chaussee aus dem Walde herkommend, zum Landhause einlenkt ...

Welcher späte Besuch? frägt Anna und wendet sich der Eingangspforte zu.

Der Wagen fährt näher. Er ist halb offen. Ein älterer Herr, eine verschleierte Dame sitzen im Hintergrunde. Sie beugen sich vor. Die Dame ist jung ... sehr jung ... sie schlägt den Schleier zurück ... es ist noch ein Mädchen. Anna kann nicht genauer forschen, der Wagen wendet rasch und hält vor'm Thore ... Der Herr steigt aus. Groß und stattlich seine Gestalt; das Antlitz bleich. Seine Hände zittern, als er den Schlag hält und dem jungen Mädchen den Arm zum Aussteigen bietet ... Diese hüpft von dem Fußtritt zur Erde nieder ... ein bewegtes Auge schaut unter dem Strohhute empor ... Der Besuch nähert sich dem Thore ... An der Pforte zu klingeln ist nicht nöthig ... Anna öffnet schon selbst ... Die hohe Dame von vornehmer Haltung, in schwarzem Seidenkleide, die [3239] reiche Spitzenhaube auf dem Haupte, blickt fragend ... Der Herr hatte den Hut schon in der Hand, als er ausstieg; das junge Mädchen zieht den ihrigen, da die Schleife losgegangen, mit einer einzigen Handbewegung herab ... die prächtigsten braunen Ringellocken fallen von einem Engelskopf herab, der freudestrahlend und mit feuchtem Auge die edle Dame zu erkennen, aus ihr ein unendlich Liebes herauszufinden scheint ... Anna, zum Tode erschrocken, hält sich an dem Gitter der geöffneten Thür ... Die alten Diener nähern sich ... ein leises Ach! das Anna's Brust entfährt, ein fragender Blick auf einen der Diener, der ihre Tochter kannte ... eine Ahnung, ein Zucken des Auges nach jenem Manne hin, der stumm und ruhig auf dies Mädchen, wie auf ein ihr opfernd Dargebrachtes zeigt ... Anna versteht, besinnt sich auf zwanzig entschwundene Jahre, die ihr entfallen schienen bei dem ersten Gedanken, Das ist ja dein Kind, deine Selma!

Selma's Tochter? ruft sie. Rodewald?

Ackermann beugt bejahend das Haupt und spricht:

Selma's Erbschaft an ihre Mutter ...

Thränen füllten sein Auge ...

Olga hebt den Hut des Mädchens von der Erde und muß nach Anna greifen, der Großmutter, die vor Schmerz und Freude im Anblick ihrer Enkelin weinend zusammenbricht.

[3240]
5. Capitel. Don Juan und Faust
Fünftes Capitel
Don Juan und Faust

Der Erntesegen war ja eingetrieben. Jubelnde Menschen, von hochaufgethürmten Kornwägen herab mit geschwungenen, bebänderten Hüten grüßend, hatten ja in die Scheuern des Ullagrundes, von Randhartingen, Schönau, Plessen die ersten Erfolge eingefahren, die Ackermann für seine Betriebsamkeit lohnten ... Die Fruchtbarkeit des Jahres hatte sich mit dem Eifer der Kultur in Wettlauf gesetzt, um ein überraschendes Resultat zu erzielen. Ein neuer Geist wehte über diese Landstrecken hin, die so viel pflegende Hände, so viel wartende und hütende Augen nie gekannt hatten. Von der ersten Ernte der ölbringenden Rapssaat bis zur Kartoffelfrucht, die den Schluß der Einsammlung machte, hatte sich Ceres in ihrer ganzen reichsten Gunst gezeigt. Sie schien Ackermann ihre eigne Sichel in die Hand gedrückt zu haben.

Zwar noch nicht am Ziele seiner Wünsche war Heinrich Rodewald angelangt, doch steuerte er ihnen mit glücklichem Winde nach. Zuviel Sternennächte, wo er im Abendwinde hätte träumerisch seines wunderbaren Lebens gedenken können, fand er nicht; er arbeitete selbst und erlag dann auch den Geboten der Natur, die ihre [3241] Tribute verlangte. Es war ihm ja bei jedem Gang durch's Feld, bei jedem Liedchen, das er pfiff, bei jedem Gruße Selma's, bei jedem Handschlag eines jungen ihm zugesellten Arbeiters im leichten Kittel, gelbem Sommerhut, bartlosem Kinn, eines halben Feld-, halben Stubenarbeiters, in dem wir Dankmar Wildungen wiederfinden, gegenwärtig, was ihn daher geführt hatte, die Hunderte von Meilen zurück, durch die er wie jener Knabe im Märchen, um den Weg wieder zu finden, wenn er zurück wollte, doch eigentlich nichts Andres gestreut hatte, als was die Vögel – wegnaschen konnten. Dachte er an Wiederkehr? ... Ein jugendlicher Heros, rüstig an geistiger und körperlicher Kraft, war seine Entwickelung in jene Zeit gefallen, wo die Wissenschaft dem Leben dienen sollte, die Begeisterung für die Musen die geheime Waffenübung halten für den einst hervorbrechenden Angriff auf die französische Usurpation des Vaterlandes. Er hatte sein Elternhaus, die Wohnung eines kleinen Stadtrichters am Fuße des Harzes, einst als Schüler verlassen, später einer schönen Schwester, die mit den Eltern in Leipzig und Halle, wo er studirte, ihn besuchte, unter einer großen Zahl von Freiern den Faden der Ariadne in die Hand gegeben, sie von solchen seiner Genossen wie Gelbsattel entfernt, aber auch vor dem kränklichen träumerischen Wildungen sie gewarnt, den sie dann doch wählte, um mit ihm ein in damaliger Überschwänglichkeit nicht geahntes Leben voller Mühen zu theilen. Von Halle folgte Heinrich dem Aufruf zu den Fahnen, als die Rückkehr Napoleon's von [3242] Elba einen neuen Kampf der Völker in Aussicht stellte. Die Schlacht bei Belle Alliance war die einzige, an der er Theil nehmen konnte. Bis in das Jahr 1816 blieb er in Frankreich und kehrte mit einem Ehrenzeichen und dem Entlassungspatente als Offizier zurück an den Heerd der Musen. Aber diesen Heerd fand er nicht so still, wie ihn die Eule Minervens liebt. Das aufgeregte Kampfblut wallte stürmisch in den Adern der damaligen Jugend. Auch ein neues Volksleben, eine Wiedergeburt des Vaterlandes wollte man erkämpft haben. Rodewald, Offizier, mit einem Ehrenzeichen geschmückt, fügte sich nicht den engen Schranken, die die bureaukratische Inquisition der Kabinette den Akademieen stecken wollte. Er studirte Philosophie und die Rechte. Er trieb sein Studium in der damaligen weltstürmenden Titanenhaftigkeit, zugleich aber doch als Forscher; er zielte auf einen Lehrstuhl. Der Gegenwart entzog sich dabei sein freier unerschrockner Sinn um so weniger, als ihn, wie alle Edlen damals, der Drang beseelte, die gewonnenen Ergebnisse des Wissens in die offnen Furchen des mit Blut gedüngten und neugeackerten Vaterlandes zu werfen. Wenn eine Zeit günstig war, den Völkern Freiheit und Einheit zu geben, war es nicht diese? Heinrich Rodewald beendete seine Studien mit einer sehr ehrenvollen, durch bizarre, damals beliebte Paradoxen auffallenden Promotion. Er war der Liebling, ja der Beherrscher Halles, er war der mit Jubel empfangene Gast in Jena geworden; ja in Würzburg, Gießen, Marburg holten ihn Komitate der Studentenschaft [3243] ein, wenn er die Kreise des neu erwachten höheren Jugendlebens besuchte, wo man in die jungen politischen Doktrinen die Sätze Hegel's, Steffens', Schelling's, Baader's mischte. Bald aber verwandelten sich diese Olympischen Kränze in prosaische Dornen. Die bekannten Verfolgungen begannen. Schon stand Rodewald als Gelehrter den kleinen Quälereien der Jugend entrückt, doch bezeichnete auch ihn die gemeine Servilität der damaligen meist neueingesetzten Behörden mit ihrem gefährlichen Hic niger est! Rodewald lebte jetzt in der Hauptstadt. Seine erste Schrift über einen Gegenstand des römischen Rechtes im Mittelalter erregte Aufsehen. Man bemühte sich, ihn für jene bald um sich greifende absolutistisch mystische Theorie zu gewinnen, die von obenher so begünstigt, so reich mit Auszeichnungen belohnt wurde, diese Philosophie vom objektiven Gedanken, diese beflissene Wiedererweckung der alten Kunst und Literatur, diesen neuen Kultus vor den großen Genien der vergangenen Literaturepoche, besonders dem weltbezwingenden, aber höfischen Goethe, in dessen west-östlichem Divan auch Rodewald ebenso schwelgte, wie ihn Faust und Tasso umstrickten. Der junge, schöne, hochgewachsene Gelehrte mit dem feurigen Auge, dem braungelockten Haare, den feinen, weltmännischen Manieren, der gewaltigen einschmeichelnden Rede wurde fast gegen seinen Willen vom politischen Makel befreit, in die genialkünstlerischen Cirkel gezogen, den Räthen der Krone vorgestellt. Rodewald gewann eine Professur, wie man [3244] dem wilden Rosse der ungarischen Ebene eine Schlinge über den Kopf wirft. Andre sah er zurückgesetzt, ihn den nicht mehr Verdächtigen hob man. Andre wurden verfolgt, ihn, den vom burschenschaftlichen Standpunkt auf den philosophisch-ästhetischen Übergesprungenen zog man hervor. Rodewald gerieth in Widersprüche mit seinen Freunden, mit seinem eignen Schwager Wildungen, in dessen Hause er nie mehr genannt werden durfte, er gerieth in Widersprüche mit sich selbst. Die Verhaftungen, die Absetzungen – erschreckten ihn endlich. Er sann ernster über die Zeit nach und hoffte einen Ausweg in dem System der konstitutionellen Politik zu finden, deren Lehre damals neu war. Aber nun kam er wieder in Konflikte mit den Ministern und Räthen, die ihm seiner wissenschaftlichen Richtung wegen so wohlwollten. Um ein gefährliches Element zu entfernen, gab man ihm auf drei Jahre die Mittel, in Italien zu reisen, Handschriften zu vergleichen, Klöster und Abteien zu durchstöbern, den Wandelungen des alten Rechts in den italienischen Municipalinstitutionen nachzuforschen. Rodewald, einen Bruch ahnend, nahm diesen Vorschlag an. Die Frauenwelt, die Lust, das Leben ergriffen ihn. Auf der Reise an den Ufern des Oberrheins, im Kanton Graubündten, im Abteigarten von Ragaz, an dem Sturz der von Pfäffers herabschäumenden wilden Tamina lernte er Pauline von Ried, eine leidende, aber interessante und sehr reiche junge Wittwe, eine geborne von Marschalk, kennen. Die Rosen- und Epheukränze, mit denen sich Faust schmücken [3245] wollte, als ihm das Studirzimmer zu eng wurde, wand ihm die Hand einer poetisch gestimmten, bizarren Frau. Drei Jahre blieb Rodewald mit der reichen, leidenschaftlichen, in Allem excentrischen Pauline in Italien, bald in Rom, bald in Florenz, bald in Neapel wohnend. Charlotte Ludmer sorgte für die großartigste Bequemlichkeit, die das liebende Paar mit Poesie und Schwärmerei genoß. Rodewald konnte sich sagen, daß er damals ein Wesen unendlich glücklich machte, Pauline hätte erwidern müssen, daß sie es nicht immer verdiente. Ihre Launen und Kapricen waren die einer Frau, die in einem Augenblick zu sterben fürchtet und im andern eine Lebenslust zeigt, die sie zum Trotz, zur Eitelkeit, zu hundert kleinen Konflikten mit der Gesellschaft hinriß. Es ist ein unverwüstlicher Trieb vieler Frauen, die bedeutendere Natur der Männer sich gleich zu machen, die allzuhohen Thürme und Dächer in der Manneskraft abzutragen und die Stockwerke des gegenseitigen Baues zu nivelliren, wenn nicht gar den Mann ganz auf das Erdgeschoß zu verweisen. Sie ruhen nicht, bis derselbe Mann, den sie zu lieben vorgeben, klein, endlich, geringfügig vor ihnen steht. Sie ruhen nicht, bis es nicht den Anschein hat, daß ein Mann mit all seinen irdischen oder geistigen Vorzügen, mit allen seinen Erfahrungen und seinem gereifteren Wissen doch ihrer als tief-bedürftig und vor ihnen pygmäenhaft klein erscheint. Dasselbe Gefühl, das hochherzige Frauen treibt, den Mann ihrer Liebe zu schmücken, ihn zu erheben, sein Wesen zu verschönern, [3246] ihn bedeutend selbst im Kleinen, liebenswürdig selbst in Schwächen zu finden, wird bei Andern durch das Streben ersetzt, die Gegenstände ihrer Liebe hülflos, arm, pedantisch, komisch, kleinlich darzustellen ... bis dann endlich die Vergleichung eintritt, bis der Schleier der Selbstlüge fällt und erkannt wird, was man verlor, vergleicht, was man besitzt und besaß, bejammert, daß man sich den schönen Traum des Glückes, das Ideal der möglichen Vollkommenheit, muthwillig zerstörte ... Pauline kehrte nach drei Jahren mit Rodewald in den Norden zurück. Der Erfolg dieses Wiedersehens des vaterländischen Bodens und seiner Verhältnisse war kein glücklicher. Heinrich Rodewald fand in den officiellen Meinungen und herrschenden Thatsachen nichts, was ihm wohlthun konnte; doch versuchte er eine Anknüpfung an seinen alten Lebensberuf, der ihm unter dem italienischen Himmel fast abhanden gekommen war. Darauf blickte Pauline von Ried mit Mistrauen, sah seinen Fleiß sogar mit Neid an. Während sie an Brustkrämpfen auf ihrem Sopha, im innersten Athem zusammengeschnürt, lag und stöhnte, litt sie noch qualvoller an der Vorstellung: Dein Angebeteter weilt jetzt in dieser Gesellschaft, wird bewundert, verehrt, hervorgezogen in jener! Sie konnte nicht hören, daß man seinen Geist, seine Schönheit rühmte. Alle Frauen erschienen ihr Feindinnen, die ihr den Tod geschworen hatten. Sie fesselte Niemanden, sie war nie schön. Nur ihre Gestalt hob sie und ihr Reichthum; und da sie kränkelte, konnte sie weder jene, noch diese geltend [3247] machen. So endete die Krisis damit, daß die Ärzte ihr einen dauernden Aufenthalt im Süden vorschrieben. Von Heinrich Rodewald wurde stillschweigend vorausgesetzt, daß er sie begleite. Als er zögerte, welche Scenen! Welche Thränen, welche Kämpfe! Er widerstand diesem Jammer nicht. Ohnehin in keiner der Voraussetzungen des damaligen politischen und religiösen Lebens sich zurechtfindend, folgte er Paulinen willenlos. Welche qualvollen vier Jahre! Eben der Anblick irgend eines reizenden oder majestätischen Schauspiels der Natur, dann Eifersucht, physische Leiden, lange Reisepausen in kleinen elenden Städten, um nur Paulinen Ruhe zu gönnen, bis sich ihre unverwüstliche Natur erholt hatte. Er war in Paris, in Spanien sogar, in der Schweiz, in Italien und Griechenland mit dieser Frau, die ihn nicht heirathete, eingestandenermaßen, um ihrem Adel nicht zu entsagen. Es folgten ihnen immer zwei Fourgons mit Geräthschaften, zwei Bediente, zwei Kammerzofen außer der Ludmer und einem Kurier. Es war die Zeit der großen Reisen. Die Friedensepoche, der Sturz und Tod Napoleon's hatten wie nach einem Gewitterregen das ganze Erdreich lebendig gemacht. Es wimmelte von Anmaßungen, Verschwendungen, Tollheiten und dazwischen stand Absolution ertheilend eine Religion, die den unbedingten Glauben lehrte, und eine Philosophie, die, Austern und Gänseleberpasteten verzehrend, vor Geheimrathspolitik sich beugend, behauptete: »Alles was ist, ist vernünftig.«

Zu Paulinen's Eigenthümlichkeiten gehörte ein ausgedehnter [3248] Briefwechsel. Sie hatte große Befriedigung davon, mit aller Welt in Verbindung zu stehen. Da sie wußte, daß das beste Mittel, Briefe zu ernten, Das ist, Briefe zu säen, so war Rodewald froh, sie sich doch am Schreibtisch sammeln, da sich bilden und beruhigen zu sehen. Ihre Nerven bedurften der Schonung. Ihr Leben war nicht ohne Gefahr. Sie befand sich in jenen Krisen eines Körpers, der lange mit drohenden Übeln kämpft, bis die Natur sich gleichsam gefunden hat und nach solchen Störungen oft ein wunderbar gutes Befinden zurückläßt. Aus diesen Briefen ergab sich eine sehr zärtliche Beziehung zwischen Paulinen und Amanda von Bury, einer jungen, schönen Adligen, die das Glück hatte, man nannte es Glück, den Liebling der damaligen Monarchenwelt, den tapfern Haudegen Grafen von Hohenberg, zu fesseln und seine Gemahlin zu werden. Wir kennen jenes Glück! Die junge Gräfin hatte einige Jahre der Qual durchgelitten, als sie es bei den für sie immer beschränkten Mitteln ihres Gatten durchsetzen konnte, eine Schweizerreise mit einem Aufenthalt in Landeck zu verbinden und ihre geliebte Freundin, Pauline von Ried, dort wieder zu sehen. Wir kennen die Geschichte dieses Wiedersehens ... Der menschliche Geist hat seine geographischen Bedingungen. Was ihm unter einer deutschen Eiche zu fassen, zu empfinden unmöglich ist, weht ihm die Luft unter einem italienischen Orangenbaume zu. Heinrich Rodewald lernte eine vornehme, aber gedemüthigte, mishandelte, ihre Hand hülfeflehend nach [3249] Schutz und Rettung ausstreckende junge Frau kennen; ein gutes, sanftes, schwärmerisches Herz, aber einen wenig gebildeten Geist. Ihm that diese Mischung wohl, er liebte Amanda von Hohenberg. Pauline wurde getäuscht. Sie hatte das Recht, in ihrer Sprache von Dolchen zu sprechen, sie dachte an Gift, Mord und Verrath und doch glaubte sie nicht. Sie war zu stolz dafür, anzunehmen, daß in vier Wochen, während ihr das Wiedersehen der Freundin durch ein Krankenlager verdorben wurde, sich ein so folgenreicher Roman anspinnen konnte wie der zwischen Rodewald und der Gräfin Hohenberg, die in dem stolzen Manne einen Unglücklichen, einen nach Erlösung von sich selbst Schmachtenden antraf. Es stand zwischen ihnen fest, daß sie das damals nicht seltene Schauspiel einer Ehescheidung und einer Mesalliance aufführen wollten. Und bald sollte Das geschehen, in kürzester Frist, mit offnem Geständniß aller dabei nothwendigen Rücksichten. Amanda reiste ab. Der erste Brief schon kommt verspätet: der Graf – ist ein Millionär geworden! Der zweite kommt noch verspäteter: der Graf – ist Fürst geworden! Pauline ahnte ... triumphirte ... Rodewald bekämpfte seinen Schmerz und brütete über einen Entschluß. Schon jetzt hätt' er ihn ausgeführt, schon jetzt sich losgewunden, aber Pauline war krank, wurde bedenklicher, mußte nach Haus zurück, glaubte zu sterben. Die Entdeckung, die sie über Landeck machte, stieß ihr das Herz ab. Das Verlangen nach Rache zerwühlte die Eingeweide. Sie sah, daß die Fürstin Amanda sich mit Rodewald verständigen,[3250] nach ihrem möglichen Tode oder selbst wenn sie noch siechte, mit dem Vater ihres Kindes sich aussöhnen und sich die Anlehnung an eine bedeutende ihr so nahestehende Persönlichkeit nicht würde entgehen lassen. Da fiel sie auf den Gedanken, ein junges Mädchen, das zu ihrer Pflege nach Ems gekommen war, das von ihrem Leben, ihrem Vermögen abhing, die Nichte ihrer armen Schwester, einer Wittwe des jung verstorbenen Landraths von Harder, zu Rodewald's Frau zu machen. Dieser in solchen äußersten Lagen oft vorgekommene Plan gelang ihr. Dem jungen sechszehnjährigen Kinde wurde Rodewald als das Ideal eines Mannes geschildert, als eine in menschlicher Gestalt auf Erden wandelnde Gottheit ... Rodewald, erschöpft und lebensüberdrüssig, zwischen Faust und Don Juan schwankend, ließ sich die Liebe dieses reinen Kindes gefallen ... Egon von Hohenberg wurde inzwischen geboren. Pauline sah Rodewald's Bewegung, zitterte vor seiner Unruhe, die Ludmer entdeckte Briefe der Fürstin, er schien ihnen verloren für sie und ihre maßlosen Bedürfnisse ... er grübelte so verdächtig, er brütete so wehmüthig, er schloß sich so oft ein, er sah so ernst auf Karten, die vor ihm ausgebreitet lagen ... Wenn er sich mit Amanda wiederfände? Nein! Selma von Harder mußte ihn umschweben wie ein neckender Luftgeist, der ihn in heitre Regionen zog. Er sah des Kindes Verehrung, des Mädchens reine Liebe. Selma erkannte, daß dieser Mann von acht und zwanzig Jahren wie ein hohes Standbild unter dem gemeinen Gestrüpp [3251] der Alltäglichkeit emporragte. Sie liebte den Mann, den auch ihre Tante – so hoch verehrte. Der Einspruch ihrer Mutter, die in der Ferne von diesen Wirren erfuhr, war der entschiedenste. Selma wurde zurückgefodert, aber von Paulinen nicht gegeben. Anna kam selbst. Sie verrieth ihren tiefsten Abscheu vor Rodewald, einen Abscheu, den er unter Umständen bis zur Vernichtung begründet erkannte. Aber Selma blieb von ihm bezaubert. Festgebannt von seinem Auge, von seinem Ernst, von seinem ganzen Wesen gebunden, blieb sie in der Residenz nur bei Paulinen. Anna hatte alle Mutterrechte verloren. Damals jünger, eifriger, noch nicht gebrochen wie jetzt, noch nicht geknickt in ihren Aufflügen zu einem freien eignen Willen, benutzte Anna alle Mittel ihrer natürlichen Autorität. Sie verfehlten aber ihren Zweck. Die Verbindung zwischen Rodewald und Selma hatte Pauline einmal als Mittel erfaßt, sich diesen Mann auf immer zu sichern, ihn wenigstens nicht Denen preiszugeben, die sie betrogen hatten. Die Fürstin von Hohenberg, noch nicht wiedergeboren, noch nicht versöhnt mit ihrem Erlöser, lechzte nach Aussöhnung mit dem Vater Egon's. Sie schrieb, sie bat, endlich war der Augenblick einer Wahl über die Zukunft seines Herzens so dringend vor seinen nächsten Willen gestellt, daß er tief über sich selbst erschaudernd den Entschluß faßte, diesem Elend ein Ende zu machen, sich zu einem neuen Leben zu sammeln, mit Selma von Harder über die Meere in einen neuen Welttheil zu ziehen.

[3252] Das reine, hingegebene Herz hatte keinen andern Willen als den des geliebten, angebeteten Mannes. Sie entfloh mit ihm. Anna, ihre Mutter, glaubte die Spur in Frankreich suchen zu müssen, sie verlor sie und konnte sich nur trösten in der Ergebung an das Unabänderliche.

In Amerika begann der Vater Egon's von Hohenberg jene Läuterung, zu der empor sich nur Derjenige schwingen kann, der einst nicht aus Armuth, sondern aus Überfülle des Herzens fehlte. Ein karges Gemüth, eine leere Phantasie kann nie anders als nur einmal leben. Ein reicher glühender Geist setzt wie der Baum Ring an Ring und baut auf Trümmer neue Welten. Rodewald war ein Sieger, wo er auftrat. In seinem alten Sinne wollte er nicht mehr siegen, er wollte kämpfen und sah im Siege nur den Lohn der Mühe. Menschenfeindlich war allerdings sein Herz geworden; Das mußt' er sich zum Vorwurf machen und an diesem Übel krankte er lange. Er suchte die Einsamkeit, er floh die Menschen, er haßte sie. Amerika bot ihm die Fülle neuen Lebens, aber den Egoismus sah er grade hier in seiner vollsten Blüthe und so erfüllt von Poesie und Romantik war noch sein Herz, daß er sich in die neuen Formen des Staates, der Gesellschaft, der Sitten hier nicht finden konnte. Die Schauer der Natur suchte er, die hoben ihn. Dem Urgeist sich nahend, der in den Wäldern, an den wallenden Strömen rauschte, beugte er sein Knie und sein Haß milderte sich, da er Manchen sah, den es wie ihn getrieben hatte, sich in diese Uranfänge des Lebens zu flüchten. Manches Jahr blieb [3253] seine Ehe kinderlos. Dann wurde ihm Selma geboren, er nannte sie wie die Mutter. Er sagte sich: Du bist zuweilen noch zornig, zuweilen noch aufbrausend, du willst dein Kind nennen wie die Mutter; so wirst du erschrecken, wenn du mit dem Kinde sanfter sprichst wie mit deinem Weibe, oder sanfter mit deinem Weibe wie mit deinem Kinde; also ein Ton für Beide! ... Rodewald kaufte nach manchem gescheiterten Experiment, nach mancher harten Erfahrung eine Niederlassung am Missouri. Diese erweiterte sich. Hier begünstigte ihn das Glück. Er fand gute Nachbarn, die ihm Geschäftsgenossen wurden. Es bildete sich eine Kolonie von Freunden, die das Glück in guter Laune erhielt ... Auch die Herzen trüben sich so, wenn der Himmel trübe wird. Diesen Genossen blieb er heiter. Sie verkauften Bauholz, Getreide, Thierhäute; sie erwarben Alle. Es war ein Landstrich von einigen Meilen; zwischen jeder Niederlassung ein Stück Wald und Feld; aber meilenweit machte der ganze Bund sich verständlich. Sie hatten Zeichen, die immer den Zusammenhang sicherten. Viele Bürger der Union, viele Reisende besuchten Missouri-Garden, wie die Kolonie sich nannte, und Meister Harry war der Gärtner dieses Gartens oder in ihm die majestätische Baumkrone. Hier war es, wo Otto von Dystra zuweilen vorsprach, zuweilen jener Morton aus Newyork, in dem sich ein Deutscher vermuthen ließ, ohne daß der doch gleichfalls deutsche Farmer Harry forschte. Harry erwarb, wurde wohlhabend, für den Kontinent vermögend. Aber Selma starb und mit ihrem Tode [3254] bedrängte den Vater der Gedanke an die Zukunft seines Kindes. Er hatte dem Chaos der eignen Brust genug gethan. Mit dem Tode der Frau, die er sich durch eine Umwälzung der Seele gewonnen, war ein alter Ring seines Lebensbaumes abgesetzt, ein neuer drängte. Er wollte zurück um seines Kindes willen. Er hatte der Mutter versprochen, sich mit Anna von Harder auszusöhnen und ihr Selma zu bringen, falls sie sie besitzen, die Enkelin anerkennen wollte. Er rechnete auf eine harte Prüfung. Er wollte sie tragen.

Amanda's Tod hatte Rodewald erfahren, auch Paulinen's neue Heirath mit Anna's Schwager. Diese Verbindung schien bedenklich. Er beschloß, erst unter dem Namen Ackermann den Kontinent wiederzusehen. Der Pächter Harry verpachtete seine Niederlassung in Missouri-Garden, nahm nicht für immer von dort Abschied, erhielt mancherlei Aufträge für Europa, auch jenen von dem unglücklichen Morton und kehrte auf den Boden der Heimat zurück mit seinem Kinde, das ihn als Knabe begleitete. Er sah die Residenz später als Schloß Hohenberg. Er war in Plessen, betrachtete das Denkmal der heimgegangenen Fürstin; wir sahen seine Rührung. Er erfuhr die Wendung aller der Verhältnisse, die einst hier geherrscht hatten, er entdeckte Irrthümer, Wahn, Verblendung, Elend sogar und Armuth da, wo sein Herz so betheiligt schlug. Er lernt Dankmar Wildungen kennen. Der junge Mann fesselt ihn; er fesselt sein Kind. Sie liebt ihn schon, als er mit bebendem Entsetzen erfährt, damals [3255] am gelben Hirsch erfährt, dies wäre Prinz Egon. Fast besinnungslos folgt er dem Zuge, der vom Schlosse in die Residenz fuhr, nach dem Heidekrug. Er will seinem Sohne, wenn er es wäre, sich zu nähern suchen. Er kommt zu spät in der Herberge an. Es ist schon Nacht ... es ist Mondschein ... Alles schläft. Daß Egon unter diesen zusammengewürfelten Menschen der Alltäglichkeit, diesen Gläubigern des Fürsten Waldemar, im Incognito lebte, schien ihm so natürlich! Wie lockte ihn der Familienzug, der in Dankmar Wildungen, seinem Neffen lag, schon mit natürlicher, blutsverwandter Gewalt! Er kommt in die Lage, Abends, als er Geräusch auf dem Korridor hört, im Mondschein sich Dankmar's Schlafzimmer zu nähern, er empfängt von dem schönen, vor dem unheimlichen Störenfried Hackert erschreckenden Mädchen ein Bild, das er bedeutet wird, in jenes Zimmer zu tragen. Sie entschlüpft. Er betrachtet das Bild. Es ist die Fürstin Amanda! Zitternd nähert er sich dem nun gewiß gefundenen, schlummernden Sohne, legt das mit seinen Küssen bedeckte Bild unter Dankmar's Haupt und nimmt eine Locke von seinem Haupte. Diese Locke, wie hielt er sie hoch! Wie verehrte er sie als das Einzige, was er von Egon besitzen durfte, von Egon, auf den er Dankmar's Männlichkeit und Adel übertrug! Daß er sich entschloß, seine Kenntnisse von der Pflege des Bodens der Rettung seines Kindes zu widmen, war ein Gedanke, der ihn mit blitzschneller Begeisterung ergriff. Da ist mein Geld, da meine Hand, nimm, mein Sohn, dein Vater wird für dich[3256] sorgen! So hätte er sprechen mögen zu dem kranken Prinzen im Schlosse, als er diesen Schlurck fast vor Zorn niederwarf. Aber konnte er so sprechen? Konnte er sich verrathen, als Louis Armand die Nachricht brachte: Dein Wunsch ist erhört! Wie glücklich war er in der Werkstatt der Maschinenbauer in jener Nacht, als er bei Willing und Leidenfrost die Hülfsmittel seines ihm liebgewordenen Berufes bestellte! Wie freudig griff er seine schwere dem früheren idealischen Leben so fremde Aufgabe an, wie ergeben räumte er die sich ihm bald darstellenden Schwierigkeiten aus dem Wege! Es gilt deinem Sohne, dachte er, deinem Sohne, der dir gehört vor Gott und Amanda's unsichtbarem Genius! Kein Mensch auf Erden kann wissen, welcher innern Mahnung du hier folgst und welches der wahre überschwengliche Lohn deiner Mühen, die gottgefällige Himmelsblüthe deiner Arbeit ist!

Freilich bekümmerte ihn nun Alles, was er von Egon erfuhr. Er erlebte das Verletzendste. Nichts konnte so gefährlich sein als die Entdeckung, die er über Selma und des Mädchens liebende Neigung machte. Schaudervoll ergriff es ihn, als er dies keimende Regen und Wachsen in des Mädchens Brust beobachtete. Die Tragödie der alten Welt, der Fluch des Schicksals schien mit dunkeln Fittichen über ihn niederzuschweben. Welcher Beherrschung bedurfte er damals, als Louis Armand zum Besuche kam, die Anklagen gegen Egon wuchsen und Selma, sein Kind, immer parteiischer, immer gereizter für das Ideal aufloderte, das einmal von ihrem Auge nicht [3257] weichen wollte. Ein qualvoller Winter für ihn, der ihn unfähig machte, irgend etwas zu beginnen, was nicht in nächster Verbindung mit seiner Pachtung stand. Er hätte doch nun seinen wahren Namen sagen, Verbindungen mit Anna von Harder anknüpfen, Erkundigungen einziehen müssen; er war nicht im Stande sich zu sammeln, nicht fähig, den geringsten auf die Lösung die ser Herzensaufgabe bezüglichen Entschluß zu fassen. Dann aber – die Wonne – die Erleichterung der beschwerten Brust! Dies selige, jauchzende Aufathmen des gepreßten Herzens, als Selma in den Armen eines jungen Mannes lag, der sie zu umarmen den Muth besaß, weil er sie nur für den Knaben nehmen wollte und sie, sie nahm ihn für ein Wunder; denn Egon, der Verfolger seiner Freunde, konnte ja nicht der Verfolgte selber sein, es war ein Wildungen, Dankmar, der Sohn der eignen Schwester des Vaters, Dankmar, des Vaters Neffe!

Der Flüchtling wurde auf die leichteste Art verborgen gehalten. Der entfernte Bart, die gestutzten Haare, eine sommerliche ländliche Tracht, ein großer, breitrandiger Strohhut gaben ihm bald ein Ansehen, das Niemanden an den im vorigen Sommer hier so räthselhaft aufgetauchten Doppelgänger des Fürsten erinnern konnte. Die Zahl der Menschen, die vom Generalpächter zu seinen Unternehmungen verwandt wurden, war über Hundert gewachsen. Unter ihnen verlor sich Dankmar um so mehr, als er nicht etwa im Ullagrunde bei Ackermann wohnte, sondern in dem entlegeneren Randhartingen, wo er für einen jungen [3258] Ökonomen galt, der sich besonders im Schreiberfach dem Generalpächter nützlich erwies. Glücklicherweise hatte Dankmar eine Wohnung gefunden, die ihm gestattete, fast in allen seinen Bedürfnissen für sich selbst zu sorgen. Mehr, als er wünschen konnte, fühlte er sich allerdings im Verkehr mit Selma gehemmt. Allein ohnehin lag es schon in der nothwendigen Rücksicht auf den Vater begründet, daß zwischen ihnen, gleichfalls still und verborgen, mehr die verwandtschaftlichen Bande, als die der Liebe geltend gemacht wurden. Rodewald hatte die Freude, als er sich Dankmarn in seiner Eigenschaft als jener schlimmberufene Oheim zu erkennen gegeben hatte, in diesem Verwandtschaftssinne die zwischen den jungen Liebenden herrschende Vertraulichkeit mehr deuten zu dürfen, als in dem leidenschaftlichen Charakter eines die Andern ausschließenden zärtlichen Besitzes. Es ist ein so wehmüthiges Gefühl für einen Vater, der seines Gemüthes einzige Befriedigung in der Liebe seines Kindes fand, diese plötzlich mit einem Eroberer theilen, ja wol ganz an ihn verlieren zu sollen. Ein Vater, der einzige Schutz und Hort seines Kindes, sieht, ist dies Kind ein Sohn, diesen plötzlich nur für das Wohl und Wehe einer fremden Familie, deren schönstes Kleinod er liebt, erglühen, oder es geschieht, daß seine einzige Tochter, das Pfand der Liebe eines dahingeschiedenen Weibes und die letzte Erinnerung an seine eigne Jugend, ihm an einen Mann verloren geht, der unter seinen eignen Augen die reinen Lippen, die nur ihm sonst in kindlicher Liebe schmeichelten, mit [3259] seiner Leidenschaft bestürmt. Manche Väter, manche Mütter wissen oft nicht, daß das Gefühl, das sie gegen einen Bewerber um die Gunst ihres Kindes hart erscheinen läßt, eine in ihnen tief wurzelnde Eifersucht ist. Dankmar, mit dem in allen Dingen ihm innewohnenden Takt, erkannte dies Gefühl. Wo ihn nicht Ort und Stunde begünstigten, verlangte er für seine heiße Liebe nie die Linderung durch sichtbare Zärtlichkeit. Und weil Rodewald diese Schonung fühlte, wurde ihm der wackre Sinn des neugewonnenen Sohnes nur um so ehrenwerther und mit wahrer Freundschaft schloß er ihn in sein Herz.

Es gibt auch wenig so gefällige Verhältnisse im Leben, als in dem mystischen Bunde, dem vielverspotteten und zur Prosa des Lebens herabgewürdigten Schwieger- und Schwäherbunde, Gleichartigkeit der Gesinnung und Stimmung. Rodewald hatte die Freude, in Dankmar einen Sohn zu gewinnen, der neben ihm stand wie das jüngere Abbild seiner selbst. So fast nahm er selbst einst das Leben, ehe seine Bahn von Andern durchkreuzt wurde. So fast ging, stand, hielt er sich, wie Dankmar! Welche ruhige Erörterung mit ihm über die nächste und entferntere Zukunft! Welches Maß in der richtigen Abschätzung des Möglichen! Welche besonnenen Zumuthungen an das Leben, welche richtigen Voraussetzungen über die Charaktere, ihren Egoismus, ihre Schwächen, wenn es sich um Personen handelte! Dankmar war durch Natur, durch Studium und frühe Lebenserfahrung der Philosoph, der sein Oheim erst durch die bittersten Prüfungen und jene [3260] läuternde edle Reue wurde, die Dankmar nicht in sich mit Beklommenheit zu hegen brauchte, da er, was er begann, immer besonnen überdacht und auf ein ehrliches Gelingen angelegt hatte. Es ist ein Himmelssegen für einen Mann in den Jahren Rodewald's, sein Kind unter der Leitung eines Charakters zu wissen, wie Dankmar Wildungen war.

Wol gab es auch zwischen ihnen manche Differenz. Die noch jugendliche Auffassung mancher Dinge, besonders der Gefahr, der lebendigere Farbensinn für das Kolorit und die Poesie des Lebens, die Pläne über den Abschluß einer Verbindung mit Selma gaben noch Gelegenheit zu manchem Widerspruch. Doch hoben diese streitigen Ausnahmen nur die herrschende Regel des Friedens. Einer verstand den andern; beide lebten sich wie in eine Seele ein. Selbst der Prozeß, selbst die Sache des Bundes gab keinen Anlaß zu einem Scheidewege. Dankmar sprach über beide Angelegenheiten mit der dem Juristen eignen kritischen Prüfung aller Möglichkeiten. Die Entgegnungen Rodewald's widerlegte er nicht durch einen blinden, den Thatbestand übersehenden Enthusiasmus, sondern ließ Das, was unwiderleglich war, gelten und gestand es zu, wenn sein Suchen nach Abhülfe vergeblich gewesen war. Rodewald kannte die Familientradition und lobte Alles, was Dankmar zu ihrer Geltendmachung versucht hatte. Der Prozeß schwebte nun in dritter Instanz beim Obertribunal. Ein räthselhaftes Dunkel umspann eine Angelegenheit, die um so verwickelter wurde, seit Dankmar [3261] und sein Bruder Flüchtige, Verfolgte waren. Doch wußten Beide, daß darum eine civilrechtliche Frage nicht stocken konnte. War sie doch aus dem trüben Sumpf der ersten Gerechtigkeitsstadien, wo die polizeiliche Gewalt an der Waagschale der Themis nur zu oft die Gewichte zu verfälschen sucht, glücklicherweise herausgetreten zu einer Region, wo man ein Europäisches Aufsehen wol fühlen mußte und eine Entscheidung zu geben hatte, ähnlich der, wie über die bekannte Mühle bei Sanssouci! Bedenklicher konnte die Anwendung scheinen, die Dankmar einem möglichen Gewinne bestimmt hatte. Es war die Überzeugung in den Brüdern fest, daß mit Ehren diese Güter nur zum Besten einer Idee verwandt werden konnten und diese Idee, wie war sie gewachsen, wieviel Blüthen und Früchte trieb sie nicht schon, wie konnte sie sich entfalten, wenn das Erbtheil des Komthurs Hugo von Wildungen in den Bund zurückfloß, der sich an die Ritter vom Grabe zu Jerusalem anschließen sollte! Aber Rodewald folgte auch diesem Labyrinthe von Träumen und gefährlichen Hoffnungen nicht mit der platten Logik der Alltagsüberlegung, die hier unbedingt gesagt haben würde: Ihr seid Thoren! Er dachte sich in den Zusammenhang der Ideen Dankmar's hinein, staunte, daß er selbst die Veranlassung gegeben, diese Gedankenreihe einst anzuspinnen, bewunderte, wie weit schon ein nur so flüchtig in einige Gemüther geworfener Funke gezündet hatte ... War ihnen Beiden doch geschehen, daß sie bei einem kleinen Ausfluge in nahegelegene Ortschaften Spuren entdeckten, [3262] daß der Bund der Ritter vom Geiste da lebte und wirkte, wo sie den Weg der Verbreitung kaum ahnen konnten! Es ist damit, sagte Rodewald, wie mit dem Entstehen von Wäldern an Orten, wo sie Niemand säete. Die Vögel tragen den Saamen durch die Luft! Eine eigenthümliche auf das vierblättrige Kleeblatt deutende Handbewegung hatte Beide, Rodewald und Dankmar, schon mit Begegnungen in Verbindung gebracht, die sonst die flüchtigsten gewesen wären. Sonst stumm und kaum grüßend an ihnen vorübergegangene Menschen waren ihnen durch ein einziges Wort vertraut geworden. Man sprach allgemein von einem weitverzweigten Bunde, dessen Obere Niemand kannte, dessen Statuten noch ungeschrieben waren, der aber mächtiger hervortreten würde, wenn eine gewisse Hoffnung, über die verschiedene Versionen liefen, sich erfüllen würde. Nicht einmal, daß diese Hoffnung der Prozeß der Gebrüder Wildungen war, ja nicht ein mal, daß Dankmar Wildungen für den Stifter des neuen Templerordens gelten mußte, war Jedem außer der forschenden Regierung bekannt. Dennoch blieben die Pflichten des Bundes kein Geheimniß. Die Theilnehmer wußten Alle, daß er auf den Grundsatz geschlossen war: Du sollst Gott mehr dienen, als den Menschen! Du sollst die grade Straße deiner Überzeugung gehen, nicht Noth, nicht Überfall und Gewaltthat auf ihr fürchten, sondern in jedem Loose auf die Hülfe warten, die dir zur rechten Stunde von Denen wird, die über dir wachen!

[3263] Rodewald, seit lange schon so wenig Idealist, wie es ein auf Erde, Regen und Sonnenschein angewiesener Arbeiter nur sein kann, Rodewald ging in seiner Übereinstimmung mit Dankmar so weit, daß er gradezu von unsrer Zeit zugab, sie wäre reif zu einer neuen Messiasoffenbarung. Was würden denn die Mächtigen der Erde beginnen mit einer Persönlichkeit, die alle Bedingungen eines großen Propheten trüge? Sei er nur rein in seinen Anfängen, achtbar in seiner Bildung, begabt mit der Macht der Rede, sei er nur tief in seinen Studien, um vor dem Dünkel der Gelehrsamkeit nicht erschrecken zu dürfen, sei er nur sittenrein in seinem Wandel, enthaltsam, bescheiden, feßle er den Menschen durch eine gewinnende Persönlichkeit und sei er ein großer Dichter des Lebens, der würdig ist, sein eigner Gegenstand zu sein, wer wollte ihn dann in Banden halten, fesseln, vernichten, mürbe machen durch die kleine Quälerei unsrer Civilisation? Er würde nur zu lehren brauchen: Ich komme als ein andrer Christus, der Das der Welt sein muß, was dieser den Juden war! Ich komme als ein Richter und Strafredner über den Pharisäismus dieser Tage, der mit den Unterdrückern des geistigen Lebens buhlt, statt die Menschen von der Geschichte zu befreien, das Individuum von der Gesellschaft, die Gesellschaft vom Staate, den Staat von den Personen und den Vorrechten der Geburt! Was würde man ihm denn Höheres thun können als sein Leben nehmen? Würde dieser Tod, freudig ertragen nicht grade zu den Merkmalen gehören, die ein neuer Erlöser der Menschen [3264] tragen müßte? Es ist eine Stille in den Seelen der Menschen eingetreten, die das Ohr schärft, das Wehen und Nahen der Gottheit zu vernehmen.

Und wenn Dankmar fortfuhr, daß jetzt nicht mehr ein Individuum allein Das vermöchte, was ein Märtyrer vor zweitausend Jahren, sondern daß sich wol der rein und klar herausgestellte Begriff der Menschheit an sich selber zum Befreier würde, so widersprach Rodewald nicht, sondern dachte nur darüber nach, wie man den Bund der streitenden Brüder vom Geiste zum möglichen Abbild der reinen Menschheit, zum Sammelplatze aller wahren Lebenskeime der Geschichte erheben und man nach Abzug der endlichen Bedingungen, die allerdings jede irdische Unternehmung verkürzen, mit der Zeit diejenigen Wohlthaten segnend über die Jahrhunderte ausgießen könnte, die nicht mehr in der Macht eines einzelnen Messias liegen würden. Die stillen Abendstunden und der Sonntag wurden dem Austausch von Gedanken und Vorschlägen für diesen Zweck gewidmet. Die Erfahrungen der Politik, der Theologie, der Seelenlehre, des Rechtslebens wurden zwischen ihnen ausgetauscht. Dankmar, der für den Schreiber des Generalpächters galt, las und schrieb genug, aber es waren Studien über die Gesellschaft. Was er von Büchern brauchte, verschaffte Rodewald aus Bibliotheken, selbst entfernten. Er entlieh für sich, was für Dankmar bestimmt war. Auch der Briefwechsel, den Dankmar zu führen hatte, nahm seine Zeit in Anspruch. Auf Umwegen, mit schützenden Adressen [3265] kamen ihm Nachrichten von den Freunden, vom Bruder zu. Die Rettung Leidenfrost's und des Majors von Werdeck, herbeigeführt durch Jagellona, die auf der Veste Bielau einen greisen Invaliden entdeckt hatte, Max Brüning, den Vater Leidenfrost's, jenen Bayer, der nach französischer Gefangenschaft und langem Krankenlager in der Fremde die Spur der im Kloster zum Herzen Jesu niedergelegten Kinder, jenes auf den Eisfeldern Rußlands dem sterbenden Stanislaus Kaminski abgenommenen Mädchens und seines eignen ihm von seinem in Gnesen gestorbenen Weibe hinterlassenen Sohnes, nach Polen hin verloren hatte und für eine Befreiung des Majors leicht zu gewinnen war, nachdem sie selbst mit Hülfe des von Schlurck endlich erhobenen Geldes Leidenfrost's Fesseln zu sprengen gewußt hatte, diese fernweilenden Menschen vergrößerten den Kreis Derer, mit denen Dankmar in Beziehung bleiben konnte. Man drängte in ihn, jetzt ihnen nachzufolgen, man fand sein längeres Verweilen auf einem Boden, den der reaktionäre Terrorismus Egon's von Hohenberg so gefährlich gemacht hatte, für Vermessenheit. Er schrieb den Freunden, er fände schwerlich im Auslande die Muße, so im Zusammenhänge der Aufgabe zu bleiben, die er sich zunächst hätte stellen müssen, die Vorarbeiten zu zeitigen zum ersten großen Bundestag, den er auf den September des nächsten Jahres ansetzte.

Rodewald freilich hatte einen andern Grund, Dankmar'n oft an die Nothwendigkeit, nun doch in's Ausland [3266] zu gehen, zu erinnern. Die Zeit rückte heran, wo er über Selma einen Entschluß fassen mußte. Er fühlte, daß an seiner einmal festgehaltenen Absicht, sein Kind zu Anna von Harder zu führen, nichts geändert werden durfte. Auch entging seiner Erinnerung an die Sitten und die Bildung der großen Welt keineswegs, wie sehr Selma noch die nachhelfende Hand einer höhern weiblichen Erziehung bedurfte. Zwar sagte Dankmar auf solche bang' ihn erschreckenden Worte: Du wirst mir den Blüthenstaub von meinem Mädchen streifen! Du wirst ihr nehmen, was grade ihr schönster Schmuck ist! Aber bei aller Freude an der Selma eignen, heitern kindlichen Naivetät schüttelte der Vater das Haupt und blieb dabei, sie hätte erst noch eine Prüfungszeit zu überstehen unter den Augen ihrer Großmutter, wenn sie sie annehmen will. Es ist das Haus, wo ich um ein lateinisches Wort: propinqui equites den Prozeß verliere! sagte Dankmar. Und Rodewald erwiderte: Wenn sie Selma wie ihr Kind begrüßt und mir vergibt, so laß' es uns ein gutes Zeichen sein, daß wir beweisen: Hugo von Wildungen trat die Erbschaft seiner ganzen Familie und nicht den im Orden befindlichen Verwandten ab, die du in den Verzeichnissen von Angerode nicht hast entdecken können, falls in der That die Equites geistliche Ritter sein sollen und nicht vielmehr Adlige und Ritterbürtige überhaupt, denen allein die Erbfolge in großen Lehnen gestattet sein konnte ... So mischte sich auch der alte Sachsen- und Schwabenspiegel in die Idylle des Herzens.

[3267] Selma sah mit Bangen den Tag heranrücken, wo sie vom Vater und Geliebten zugleich scheiden sollte. Jenen konnte sie doch wiedersehen! Dieser aber, auf die Verborgenheit angewiesen, verbannt in die Ferne, verschwand ihr, wie die rettende Hand einem Ertrinkenden verschwinden mag, sie glaubte ohne ihn vergehen zu müssen. Dankmar! Dankmar! So bebend, so jammernd konnte sie diesen Namen rufen, als wenn sie sich auf ewig nun von ihm hätte trennen sollen und sie jener Königstochter gliche, die, von den Göttern als Opfer für die glückliche Fahrt der Griechen gefordert, von den herzlosen Eltern auch auf den Altar der Diana hingegeben wurde! Ihre Seele war in dem letzten trüben Winter zu schwer belastet gewesen. Es waren Klänge durch ihr Herz gezogen, wunderbar traurige Klänge, die das Glück der Täuschung, des wunderbaren Entdeckens eines ihr verwandten, sie liebenden Mannes wol mit leichten Melodieen verdeckte; nun aber brachen sie melancholisch, klagend genug wieder hervor und oft sagte sie zum Vater: Laß uns ewig Ackermann heißen, laß uns bleiben, was wir sind, die Mutter segnet das Glück ihrer Tochter! Nur du, nur Dankmar haben Ansprüche auf mich! ... Es war ein ernstes Sinnen, das nach diesem im Spätsommer fast täglich wiederholten Drängen seines Kindes den Vater überfiel, aber immer entschied für die alte Verabredung das Gelöbniß an die sterbende Mutter, der Hinblick auf Selma's nicht ausreichende Bildung und ein Ahnen, das der Vater in den Worten aussprach: Ich weiß nicht, was [3268] mich in die verschwiegene Behausung zieht, die Anna von Harder vor den Thoren der Residenz bewohnt! Wir fuhren zwei Mal an ihr vorüber. Weißt du, einmal mit jenem unheimlichen Begleiter, dem Nachtwandler, der uns den Namen Tempelheide und die Bewohner nannte und dann, als wir von der Maschinenfabrik kamen, von der rauschenden Musik des wilden Balles? Jedes Mal klang ein melodischer Lufthauch von dem dunklen Gehöfte her. Du schliefst. Aber mir war's, als mahnten mich die Töne, die ich hörte, als riefen sie: Du gehst hier vorüber, richtest nicht die Grüße deines sterbenden Weibes aus? Hörst sie nicht, wie sie dich mahnt? Es muß sein, Selma! Die Liebe wird sich bewähren. Es hindert mich nichts, nichts, Rodewald zu heißen. Dankmar wird in zwei Jahren dich heimführen in eine Welt, die bis dahin in tausend Dingen kann eine andere und unendlich bessere Gestalt gewonnen haben.

So blieb es bei der Trennung. Sie konnte nichts auflockern, was zwischen den Liebenden feststand. Selma war Dankmar'n gleich anfangs als das Abbild jener Weiblichkeit erschienen, die dem starken und gesunden Mannesgeist allein genügen kann. Fern von jeder grellen, berechnenden Gefallsucht hatte sie ihr gut Theil Evanatur, wie alle aus der Rippe Adam's Gebornen. Sie sah weit lieber, daß sie gefiel, als daß sie abstieß oder gleichgültig ließ. Aber sie eroberte ihren Beifall nicht durch unerlaubte Mittel. Sie gab sich kein Air von Empfindungen, die ihr fremd waren. Sie schlug die Augen nicht auf, [3269] um schwärmerisch zu erscheinen, sie lächelte nicht süß, um ihre blendenden Zähne zu zeigen, sie kämpfte ihre Wallungen, ihre Meinungen, ihre kleinen Reizungen sogar nicht nieder, sondern gab sich, wie sie dachte und wie sie oft nur zu natürlich empfand. Da fehlte es an Thorheiten gar nicht, besonnener Zuspruch fand bei ihr immer zu thun. Nur kam es auf den Redner an, auf seinen Ton, seine Lehre, seine Absicht. Selma sprang mitten in eine Predigt ihres Vaters und erstickte sie mit Küssen und Thränen. Wie flogen da die braunen Locken, wie glänzten die dunkelblauen Augen, wie lieblich klangen die Schmeichelworte und wie konnte sie dann bitten, sie nur ja nicht an Dankmar zu verrathen! Grade verrathen! Grade, weil du den Freund täuschen willst! sagte dann Rodewald. Nein Vater, weil er schon soviel selbst an mir zu dulden hat und weil ich ihm keinen Abscheu vor mir einflößen will; sprach sie. Aber Dankmar duldete und trug gar nicht, wie sie fürchtete. Wenn er in seinem kurzen Sommerrock und unter seinem breitrandigen Strohhut so spät Abends mit ihr die Ulla hinauf schritt, dem stilleren Waldrücken zu, und die Cigarre weggeworfen hatte, um am Duft seiner Lippen nicht unwürdig zu erscheinen einer flüchtig erhaschten Zärtlichkeit, lächelte er nur. Er hatte eine Ruhe Selma gegenüber, die sie oft Phlegma nannte und wegen der sie ihn durch tausend kleine Neckereien in Harnisch zu bringen suchte. Es gelang ihr aber nicht. Dankmar setzte allen ihren Seitensprüngen von der geraden Straße der Langenweile und Monotonie, an der [3270] die sogenannten gediegenen Frauennaturen oft bis zum Nichts zu Grunde gehen, nur ein ruhiges ergebenes Lächeln entgegen, nicht etwa das träge Lachen des Phlegma, sondern ein Lächeln, von dem Selma einmal in wirklichem Zorn sagte: Und meinem glühendsten Behagen streckst du die kalte Teufelsfaust entgegen! (Sie hatte eben Göthe's Faust zum ersten Male kennen gelernt;) aber der Vater nannte dies Lächeln der Überlegenheit den höchsten Sieg, den die Majestät der Leidenschaft, die Löwenhoheit einer bedeutenden Natur, über sich selbst gewinnen könnte. Da zerfloß sie denn in Liebe und schmiegsame Anmuth. Dankmar besaß in Selma eine Natur. Von der Lüge der Salons, von der Prüderie der üblichen Erziehung war ihr nichts angeweht. Sie stand im unmittelbarsten Verkehr mit den Dingen, wie sie sind. Und viele hüteten sich vor ihr; die Schlechten, die Trägen, die Lügner gewiß. Gewisse Mittlere schwankten noch. Aber die Guten trugen sie auf den Händen, nannten sie einen Engel und priesen Den glücklich, der sie einst gewinnen würde. Daß dies schon des Generalpächters hübscher Schreiber war, sah man nicht.

Das Glück dieser stillen, verschwiegenen Liebe und eines süßen, heimlichen Trostes für manche grobe äußere Mühe, der sich Dankmar des Scheines wegen unterziehen mußte, wurde nur gestört durch den Hinblick auf die Zeit und Egon's Art sie zu lenken. Verschiedenartig wirkte diese schmerzliche Erfahrung. In Dankmar war es der beleidigte getäuschte Freund, der die Möglichkeit eines [3271] solchen Irrthums, solcher trügerischen Voraussetzungen, wie sie bei dem Fürsten Egon stattgefunden, in einem Menschen kaum begreifen konnte. In Rodewald dagegen war es noch ein herberer Schmerz. Er konnte wohl zu Dankmar sagen: Sieh da die Macht der Umstände, den furchtbaren Zwang der Stellungen! Aber was er selbst innerlich fühlte, war noch ein Anderes. Egon von Hohenberg stand ihm durch die dunkelsten Verirrungen seines Lebens so nahe! Er bereute jene Tage nicht, in denen diesem jetzt gereiften jungen Manne das Leben gegeben wurde; sie waren ihm nur von Wehmuthsschleiern überwoben. Könnten diese Schleier je sich heben! hatte er gedacht, könnte je das helle Licht der Sonne und der Wahrheit bescheinen und an den Tag bringen, wer du diesem jungen, so rauh über die Erde fahrenden Staatenlenker sein könntest! Er dachte sich, wenn du nun einst einmal vor ihn hinträtest! Wenn er dich empfangen wird, hier im Schlosse oder in der Residenz, falls er deine Gegenwart wünscht, und nun steht er gnädiglächelnd, leidlich wohlwollend, viel leicht aber auch gereizt, vielleicht streng vor dir? Wenn er wüßte, daß du Dankmar Wildungen bei dir aufnahmst? Wenn er wüßte, warum du dich jetzt Rodewald nennst und wie du auf diese Wandelungen deines Wesens gekommen bist? Pauline von Harder, (die einzige, deren Leben Rodewald fürchtete) diese dir jetzt so Verbundene, sie wird nie, nie sagen, daß du mein Sohn bist, aus Haß gegen die Mutter nicht! Und sonst kennt keine Seele die Tage von Landeck vor dreißig Jahren.

[3272] Ich und du! Du und ich! Wir Beide durch ein Geheimniß verbunden! Wenn ich es ausspräche, wenn ich im Zorn über deinen Stolz, deinen Hochmuth, deinen Dünkel, deine Unsittlichkeit, deine Herzlosigkeit, deine männliche Schwäche, die eine Melanie Schlurck zur Fürstin von Hohenberg erheben konnte – und diese That kommt nicht aus meinem Blute, nicht aus dem Blute des Plebejers, der mehr Stolz hat als du – wenn ich mich hinreißen ließe und Vaterrechte geltend machen wollte, wenn auch nur unter vier Augen ... Und dann? dann? ... Wenn dieser junge Tyrann dich von seinen Dienern zur Thüre hinauswerfen ließe ... ha, und du griffest in deine Brusttasche und zögest die Papiere hervor, die deine Behauptung beweisen, die Briefe der Fürstin ... Und dann? dann? ... Wenn er die Säcke Geldes nähme, die du für ihn erwarbst, in hingebender, nur vom Himmel erkannter Liebe und Aufopferung für ihn sammeltest, um der innersten Pflicht zu gehorchen, und er dies Geld vor dir hinschüttete und riefe: Da behalte, Elender, aber schweige! Schweige oder meine Rache ist gränzenlos ... Diese Gedankenreihe, furchtbar peinigend für seinen Stolz und für sein Herz, verließ Rodewald nicht mehr, steigerte sich sogar, als der Herbst nahte, alle seine Pläne reiften, gesegnete Früchte sanken und Egon ihm schrieb, er würde bald selbst auf seinem Schlosse erscheinen, sich eine Weile von seinen Mühen ausruhen und ihm für »die guten Geschäfte,« die er mache, danken ... Rodewald kannte bei allen diesen Voraussetzungen die Natur Egon's, die ohne[3273] Zweifel tiefe und bedeutsame Entwickelung auch dieses Charakters noch nicht.

Aber des Fürsten eisernes Walten war nicht hinwegzuläugnen. In nächster Nähe ja sah Rodewald die traurigsten Spuren davon. Sein Nachbar, der Bauer Sandrart, der Reiche, Überzufriedene, Stolze, der auf seinen Sohn so stolze Vater, wie schlich der Ärmste, zum Tod gebeugt, an einem Stabe von Haus zum Bach, vom Bach zum Hause, und blickte kaum auf, wenn man ihn grüßte: Vater Sandrart, wie geht's? Was macht die Ernte? Thut Euch der Sonnenschein gut? Ihm that nur gut, wenn er sich die Augen wischen und Niemanden sehen konnte, als zwei Menschen, die ihm nun die liebsten auf dieser Erde geworden waren, den Jäger Heunisch und Franziska, des Jägers Nichte. Der Dritte von Denen, die er liebte, auf die er alle seine Sehnsucht nach dem einzigen, unglücklichen, unwiederbringlich geopferten Sohn übertragen hatte, der Vikar Oleander, war nicht mehr in Plessen. Es hieß, er hätte die Stelle eines Gefängnißpredigers in der Residenz übernommen. Der hatte sich recht das Schwerste unter den Ämtern der Diener am Worte auserlesen ... Und nicht, weil es der Sohn so geheißen in seiner letzten Stunde, sondern der innere Drang schon machte, daß der unglückliche, um seine liebsten Hoffnungen betrogene Vater Heunisch, den Guten und Sorglosen, und Fränzchen, die Bewährte, auch beim Nachbar Treuerfundene, wie die Seinigen annahm und erbenlos den Besitz des Sohnes ihnen vermachte. Franziska war zwischen dem [3274] Generalpächter und dem Bauer, der sie liebte wie ein Kind seines Kindes, fast so getheilt, wie einst zwischen Louis Armand und Heinrich Sandrart. Jener schrieb zuweilen von der Fremde. Der immer wiederkehrende Schmerzenston seiner Briefe lautete: Ein Meer ist zwischen uns! Ich darf nicht in das Land, wo Sie weilen, Franziska, und Sie bindet die Pflicht, ja selbst das Glück an ein Unglück, das Sie trösten sollen und Sie mit Schätzen belohnt, die Ihre Flügel schwer macht: Gold ist schwer ... Die reiche Erbin denkt wohl des fernen Freundes nur mit Schonung. O Franziska, diese rauhe Welt! Diese elenden Götzen der Pflicht, denen zu Liebe man so kalt morden konnte! Das Bild steht unverwischt vor meinen Augen. Der Gute, der sterben mußte, weil ihn für Andere das Loos traf und ein Beispiel gegeben werden sollte, ein Beispiel der Abschreckung für Menschen ... Menschen! Alle Bitten an Egon, alle Briefe der Besten blieben unerhört. Das Kriegsrecht hatte seinen Lauf, wie die Kugel! Ich denke des Tages, wo ich in der Werkstatt bei Märtens mit ihm über den Eid sprach! Und was muß uns trösten? Daß das Unglück nicht allein steht, daß es eine täglich wachsende Reihe von Gräbern gibt, eines neben dem andern. Vergeben Sie, Franziska, wenn ich Ihnen, der Reichen, solche Worte schreibe! Vergessen Sie das Loos der Armen nicht! – Louis schrieb diesen Brief aus Antwerpen, wo er bei Siegbert verweilte und für die Einrichtung des Schlosses Tempelstein thätig arbeitete.

Franziska hielt auf diese Empfindungen, deren zweifelnden [3275] Theil sie mit ihrer Feder widerlegte, wie auf ein Evangelium, aber Der, der es lehrte, war jetzt ihr verloren. Im Ullagrunde fesselte sie die ernsteste Pflicht. Das große Hauswesen des Generalpächters hatte aus der kleinen Nähterin ein Verwaltungstalent hervorgelockt, das zwar manche Personen, die um Ackermann festen Fuß zu gewinnen gehofft hatten, sehr verletzte, diesen selbst aber aufs angenehmste überraschte. Fränzchens Herzensgüte im Verkehr mit dem gebrochenen, an sie voll Wehmuth sich anklammernden Sandrart rührte alle Herzen. Und Onkel Heunisch, der taumelte gar wie in der Irre! Die »gute« Urschel war ihm nun hin, aber seine Hunde waren ihm doch geblieben und es hieß sogar, wenn der Winter käme und er mit einem Burschen, den er sich nahm, im Amt nicht fertig werden könne, sollte ihm Drossel die beste seiner Töchter, das flinke Linchen, geben zur Führung seiner Wirthschaft! Aber nur Franziska gab ihm rechten Ersatz für eine Lebensgewohnheit, deren Schattenseiten seinem gläubigen Sinne nie eingehen wollten; ihm scharrte sich nichts aus der Erde heraus, unter der Jakob und Ursula Zeck schliefen, ihm kam der Glaube an den Doppelmord, den Jakob Zeck und Ursula Marzahn an seinen beiden Verlobten begingen, indem sie auf dem Gelben Hirsch Feuer anlegten und an dem Waldbache die zur Kirche gehende Tochter des Sägemüllers vom Felsen stürzten, nie zu klarem Gemüth. Die Beweise fehlten. Die Untersuchung wegen Tödtung des Schmied's im Forsthause wurde von der Residenz [3276] aus, wo man mehr, als man wissen wollte, zu entdecken fürchtete, plötzlich abgebrochen, und Herr von Zeisel, der bequeme, seinen Garten, seinen Schlafrock, seine Whistpartieen liebende Justizdirektor, an dem auch glücklicherweise die Gefahr einer nicht verbessernden Versetzung vorüberging, Herr von Zeisel war nicht der Mann, der solchen Dingen à tout prix auf den Grund zu kommen trachtete. Nur Pfannenstiel, Drossel, der Sägemüller grübelten. Die lärmten, die drohten, aber nicht im Einverständniß. Die Polizei ging mit der Demokratie nicht Hand in Hand. Onkel Heunisch mit der Meerschaumpfeife und dem rothen, nun recht winternden Fuchsbarte genoß in vollen überfließenden Zügen das Glück seiner Nichte, so schmerzlich es erkauft war. Er hatte die Hinrichtung mit angesehen, war voll Jammer über sie, aber doch wurde er fast eifersüchtig auf den alten Bauer und grämelte mit ihm. Er sah nur Das, was auf sein nächstes Behagen ging. Seine Hunde, sein Wild, seinen Wald kannte er. Aber mit Menschen konnte er reden, die er kennen sollte und er hätte geschworen, daß er sie nie gesehen. So mit Dankmar, der oft an derselben Stelle mit ihm stand, wo er ein Jahr vorher mit ihm geplaudert hatte. Aber den Veränderten und Umgestalteten für den Doppelgänger Sr. Durchlaucht zu nehmen, wäre ihm nicht im Traume eingefallen. Er war für ihn ein völlig Anderer, als der er jetzt, ein ahnungsreicher Jurist, die Data über die in Liebe zu einem so guten Waidmanne entbrannte Ursula und ihren heimtückischen Bruder wohl am klarsten in[3277] Händen hatte, ohne daß er jedoch in der Lage und Laune sein konnte, sie öffentlich zu verknüpfen und von Andern seinen Scharfsinn prüfen zu lassen.

In diese Zustände der Ruhe, des Schmerzes, der Freude, des Harrens und Hoffens kam dann die Ankunft des Fürsten auf dem Schlosse. Rodewald hatte die Sammlung nicht, sie abzuwarten. Auf einem Wege, wo er ihm zu begegnen vermied, entschloß er sich, Selma ihrer nächsten Bestimmung entgegen zu führen. Der Abschied von Dankmar war der schmerzlichste. Denn auch ihn mußte es drängen, von einem Orte sich zu entfernen, wo ihm die Luft nun den Athem abpressen mußte. Melanie als Fürstin Hohenberg, Egon selbst, Selma von ihm hinweggenommen – er wartete nur des Vaters Rückkunft ab, um sich nach dem Westen nun auch zu entfernen. Hatte er doch hier und da schon Verdacht erregt und glaubte er doch von einer Person, die noch dazu nicht die beste von Sinnesart war, halberkannt zu sein, von jener Liese, die früher im Heidekrug bei dem jetzt schmollenden konstitutionellen Patrioten Justus diente und zu Fränzchen Heunisch's Erhebung immer nur scheel genug gesehen hatte. So war denn Rodewald von seinem Hause endlich frei geworden und hatte die in Schmerz zerflossene Selma mit der Zukunft getröstet, mit jenem Zauberbalsam, der sich kühl und linde auf alle Wunden legt.

Anna von Harder nahm die ihr so wunderbar Geschenkten nicht wie eine Genugthuung des Schicksals, sondern [3278] wie eine Mahnung, sich zu demüthigen, auf. Die Freude und der Schmerz, die Wonne, in Selma ein Abbild zu besitzen von der, deren Tod sie zu bitterster Gewißheit nun bestätigt sah, alle diese Empfindungen machten sich in denselben Thränen geltend und jede Betrachtung, jeder erörternde Rückblick blieb ausgeschlossen von den ersten Schrecken und Wonnen dieser Begegnung. Rodewald wollte sogleich scheiden, Anna ließ ihn nicht. Sein Pferd wurde von den Dienern versorgt, doch wollte er zur Stadt, Selma sollte da bleiben, wenn Anna sie zu behalten gedächte. Anna war keiner Anordnung fähig, nur Das wußte sie, daß sie das jetzt Gewonnene nur mit dem Leben wiedergeben wollte. Die edle Frau umhalste Selma und hielt sie gegen das Sternenlicht, gegen den Lampenschimmer im Hause, um sich an den Ähnlichkeiten, deren sie Hunderte mit ihrem Kinde schon entdeckte, zu erheben ... aber daß dies Kind wirklich todt war, daß es auf fremder Erde, zerstoben und verwesend schon, ruhte, Das umwehte sie mit Geisterhauchen, als müßte sie nun bald selbst hingehen in die Wohnungen des Friedens und könnte sich nicht mehr zurechtfinden in dieser schmerzlichen Sinnenwelt.

Olga nahm ihr etwas von den nächsten Pflichten, die sie fühlen mußte, auffallender Weise schon ab. Olga begrüßte den Ankömmling mit einem Ton, der ihrer geistigen Vornehmheit sonst nicht eigen war. Sie bewirkte sogar, daß man die Geräthschaften abpackte, erinnerte an Vergessenes, reichte dar, was ihr Selma entgegenzunehmen [3279] zu wünschen schien, Dinge, die sie kaum nennen konnte. Sie schlang zuletzt sogar ihren Arm um Selma und führte sie mit einem allerdings sonderbaren, stummen Willkommen an der Hand ihren Zimmern zu, wo sie hoffte, die Enkelin Anna's als Nachbarin zu gewinnen. Anna ließ Alles geschehen und Selma hatte nur Augen für den Vater, der ihr so tief zu leiden schien und der von Abschied sprach. Ich sehe Dich morgen früh wieder! beruhigte er, aber ihre erste Freude zeigte sich bald als die Erregung des Momentes; die aufgespannten Nerven ließen nach und die Lust verwandelte sich in Wehmuth. Wie war dies Haus so düster, so einsam, wie dunkel diese Wände, wie fremdartige Töne vernahm sie da und dort ... die alten Bedienten, das leise Sprechen, um den Greis nicht zu stören, den man morgen erst langsam vorzubereiten gedachte, alles Das erfüllte sie mit einer Beklommenheit, die fast den Wunsch auszusprechen schien: Laßt mich beim Vater bleiben, hier wohnt der Tod und ich will dem Leben angehören!

Anna sammelte sich mit Olga's Hülfe. Olga schien ein wenig aufgeweckt aus ihrer Traumwelt. Sie sah etwas, was sie verstand, mit der höheren Poesie ihrer Empfindungen vergleichen konnte, wenn auch Kaktus, Pinien, Palmen und das Meer dabei fehlten. Aber die Enkelin Anna's kommt aus Amerika und bringt sich selbst für die todte Mutter! Sie fühlte eine solche Erfahrung fremden Lebens wie ihre eigne nach und war so voll Eifers, das Rechte und Nothwendige zu treffen, daß Selma schon die [3280] sie umschlingende und nur ruhig neben ihr hingehende Großmutter fragen mochte: Welches seltsame Wesen hast du nur da bei dir? Und wem hab' ich da gleich an Werth für dich und Vollkommenheit nachzueifern? Dystra, hätte er die Scene beobachtet, würde gesagt haben: Comtesse Olga ist wie die Memnonssäule, à l'ordinaire kalt und starr, wohllautend aber doch, wenn nur die rechten Sonnenstrahlen auf sie fallen!

Während sich Selma in der für sie vorläufig bestimmten Lokalität zurecht fand, wollte Rodewald gehen, aber Anna zog ihn in den stillen klaren Abend, zog ihn unter den Pavillon und drückte ihm voll Vergebung die Hand. Er wollte sprechen, erzählen. Anna duldete es nicht, weil er sich selbst anklagte. Ich bin Schuld, sagte sie, ich, daß ich an der unverwüstlichen sittlichen Kraft eines edlen Mannes zweifelte! Welcher Hochmuth war es, der mich trieb, Sie zu verurtheilen, Rodewald! Alle Steine, die die Welt auf Sie warf, hätten sich mir selbst in Blumen verwandeln sollen, da mein Kind Sie liebte. Pauline konnte nichts erfinden, als sie vor Selma von Ihnen wie von einem Ideale sprach! Ich zerstörte es, aber mit ohnmächtigen Werkzeugen. Jeder Fehler, den ich Ihnen nachsagte, verwandelte sich vor dem einmal bezauberten Kinde in eine Tugend. Ich war so durchdrungen von Paulinens Verrätherei, ich glaubte nichts Anderes, als, sie bindet, wie Das täglich geschieht, den Mann ihrer Liebe an ein unbedeutendes Mädchen, um ihn stets in ihren Fesseln zu behalten, nie mehr zu verlieren, denn selbst die Rechte [3281] der Verwandtschaft mußten Sie zuletzt in ihre Nähe bannen. Ich sah Das vor mir, sah Arrangement, sah Verabredung frivoler Gemüther. Ich habe nie so in Flammen gestanden wie damals, als ich in meinem Zorn mich selbst verzehrte und all mein Lebensglück. Ich danke Ihnen, Rodewald, daß Sie mir verziehen und mir auf die letzten Tage meines Lebens diese überschwängliche Gnade schenken, Ihr Kind bringen, Selma's Kind, und daß Sie's Selma nannten!

Thränen erstickten die Stimme der Vielgeprüften, die seit dem frühen Tode eines jungen, gutmüthigen Gatten ihr Leben zu einer Schule der Entsagung gemacht hatte. Rodewald gestand ihrer Abneigung gegen ihn jede Berechtigung zu. Das Tragische unserer Lebenserfahrungen, sagte er, bestünde eben in dem Zusammenstoß von Interessen, wo jedes auf seinem Standpunkt rein und wohlbegründet wäre, und das seinige wäre es nicht einmal im Anfange gewesen, sondern erst geworden durch die Hingebung, die unaussprechliche Güte und das kindliche Vertrauen jenes Mädchens, das er zur Gattin wählte und dem er kein besseres Angebinde hätte verehren können als einen neuen Menschen. Fort von diesem Boden der Lüge, fort aus diesen Fallstricken ewig wiederkehrender Gefahr – denn, beste Mutter, sagte Rodewald, Das werden Sie auch als nothwendig im Leben anerkannt haben, die Versuchung darf nicht zu nahe stehen, wenn zweifelnde Augenblicke über uns kommen. Oft hatt' ich selbst noch in Amerika, nachdem wir Frankreich, England bereist [3282] hatten, irgend eine kleine Irrung mit Selma, irgend einen nicht stimmenden Akkord, aber wir mußten ihn unter uns auflösen, wir konnten nicht mit unserm Kummer falsche Tröster finden, die die Wunde statt zu heilen, nur weiter aufrissen, wir mußten uns selber wieder erkennen und es ging. Diese Ehe hat mir nach vielfach zerfahrner, oft poetischer Irrung – ich will nicht wie ein Büßender sprechen – die Sammlung meiner selbst gegeben. Ich wurde zufrieden und lernte die Grenze würdigen, die dem Leben gezogen ist.

Anna hielt Rodewald's beide Hände und saß so ruhig neben ihm unter den Sternen. Noch sprach er von der nächsten Zukunft, Anna billigte Alles, wenn sie nur Selma behielt. Ihr will ich mich widmen, ihr die letzte Kraft meines Lebens geben! sagte sie und erst nach längerm Träumen kam ihr die Frage: Und Sie, Rodewald? Der Vater, der höhere Rechte hat, als ich? Vergeben Sie, wenn ein Jahrelang so ungestilltes Sehnen unersättlich ist!

Wie staunte Anna, als Rodewald von seiner Pachtung der Hohenbergischen Güter sprach! Sie wußte nichts von Rodewald's Beziehung zur Fürstin Amanda, die ihr eine theure Freundin in erster Jugend gewesen, aber seit der Heirath des Generalfeldmarschalls entrückt war. Sie konnte mit stiller Freude vernehmen, daß Selma's Vater in ehrenvollen Verhältnissen ihr so nahe bleiben würde und als sie von seinem vorläufig angenommenen Namen Ackermann hörte, als sie sich beklagte, daß ihr über ein [3283] Jahr lang Selma entzogen war, wo Ackermann schon in Deutschland weilte, hatte sie jetzt nur die eine Sorge noch auszusprechen, die sich in dem Namen Schwester Pauline! kundgab.

Wie lebt Pauline? fragte Rodewald.

Sie lebt, wie sie als Kind lebte! sagte Anna. Nach jedem zerbrochenen Spielzeug ein neues. Es verschenken, verlieren, oder selbst zerstören, gleichviel, nur rasch ein Ersatz! Ihr Leben liegt wie ein aufgeschlagenes Buch vor der Welt. Ich mag Ihnen nicht darin blättern, Rodewald! Lesen Sie es bei Andern. Manches hat sie selbst verrathen, im günstigeren Lichte darstellen wollen, sie hat die Feder ergriffen und geschrieben. Ich konnte mich erst nach Jahren, wo alle Welt ihre Bücher vergessen hatte, entschließen, sie zu lesen. Da fand ich mehr in ihnen, als Bosheit und der Neid in ihnen hatte wollen gelten lassen. Ich fand ein wirklich unglückliches, nur durch die Eitelkeit und früheste Verwöhnung verdorbenes und unverbesserliches Herz. Mich rührte das Meiste von Dem, was Andere belachten. Ich haßte sie weder, noch verachtete ich sie, aber ich mußte sie meiden. Ihre Nähe wirkte auf mich, wie die Nähe der Mörder auf die Erschlagenen wirken soll. Die Wunden fangen wieder an zu bluten. Ich mied sie nur. Sie war zu stolz, zu schwindelnd hoch in ihrer wilden Lebensphilosophie, als daß ich jemals auf das Anerbieten einer Versöhnung hätte rechnen können. Jetzt, wo sie auf's Neue eine große Rolle spielt ...

[3284] Rodewald wußte, daß Egon ihr ganz gehörte ...

Jetzt sucht man selbst von Seiten des Hofes mich für eine Annäherung zu gewinnen; ich weiche aus. So lange Dämonen wie jene Charlotte Ludmer in ihrer Nähe weilen ...

Lebt die Ludmer noch? sagte Rodewald gelassen staunend ...

O die ist zäh wie Schlangen, die auch zerstückt noch nicht sterben können, sagte Anna. Ich tröste mich immer, wenn ich von dem Vielen, was die Welt Bedenkliches über Paulinen sich erzählt, die Schuld auf jenes Wesen werfen kann, das wohl zu tief mit Paulinens Vergangenheit verwachsen ist, als daß sie jemals wagen könnte, sich von ihm zu befreien.

Rodewald kannte Paulinens Lage und Verhältnisse. Von der Irrung, die der seinigen folgte, von der Geschichte des Baron Grimm, den er so oft am Missouri in der Person jenes Morton erblickt hatte, während Morton in ihm den englisch gewordenen Master Harry, jetzt nur den Generalpächter Ackermann kannte, wußte er nichts. Anna fühlte sich nicht veranlaßt, über das Leben ihrer Schwester dem Manne Enthüllungen zu geben, den sie in diesem Augenblick froh und glücklich sehen wollte. Sie gestand zu: Es wird Aufsehen machen, großes Aufsehen, wenn es heißt, jener einst von der schönen Welt ebenso wie von den Staatsmännern und Gelehrten bewunderte Heinrich Rodewald ist zurückgekehrt, ist ein einfacher Ökonom geworden, hat die Güter des Fürsten von Hohenberg [3285] gepachtet, hat der alten Landräthin von Harder auf Tempelheide ein Abbild ihrer hingeschiedenen Tochter, eine Enkelin, überbracht ... ja, Rodewald, sagte sie, als dieser lächelte, ja man hat das Gedächtniß für die alten Tage nicht ganz verloren und spricht Das, dessen man sich fernher erinnert, mit großer Schonungslosigkeit aus ...

Nein, nein, unterbrach Rodewald, die neue Freiheit Deutschlands macht nur, daß solche Verhältnisse geringfügig erscheinen ...

Anna aber ließ sich nicht nehmen, daß noch Tausende lebten, die da staunen, die Köpfe zusammen stecken würden ... Und schon die einzige Pauline, die Ludmer! sagte sie. Erschrecken Sie nicht, ihnen wieder zu begegnen?

Meine Wege sind nicht die ihren ...

Aber Selma! Ich gestehe, daß ich mich rüsten muß! Die überfallen mich gewiß und geben sich das Ansehen, dies Kind mit ihrer Liebe erdrücken zu müssen! Wenn Das wäre – ha, ich werde bitter ... Kommen Sie, Rodewald!

Anna wollte aufstehen, aber eben kam Selma und Olga Arm in Arm aus dem Hause ihnen entgegen. Rasch benutzte Anna die noch übrige Zeit, dem Schwiegersohne zu sagen:

Dies blasse Mädchen ist die Tochter einer Fürstin Wäsämskoi, die mir dies Kind, weil es aufmerksamer Führung bedarf, zur Pflege hinterließ. Ich bin erstaunt, welchen Eindruck Selma schon auf diese eigne Natur gemacht hat! Ich wäre glücklich, wenn sich diese Mädchen [3286] verständen und jede zu ihrem Guten noch das Gute der Andern sich hinzuthäte.

Indem noch Rodewald lächelnd sagte: an Schlacken, die dann ausgestoßen werden müßten, würd' es auch bei Selma nicht fehlen, kamen die Mädchen und gaben die Absicht zu erkennen, durch das offen dargestellte Bild ihrer schnell gewonnenen Vertraulichkeit die Ältern zu erfreuen. Selma sagte, daß sie schon wisse, wo sie nun der erste Morgenstrahl wecken würde, aber sie wäre unruhig und würde ihre Nachbarin viel plagen, von der sie hörte, daß sie bis neun Uhr schliefe. Mit der Möglichkeit zu scherzen war hier schon viel gewonnen. Rodewald lehnte jede weitere Gastfreundschaft ab, trat an seinen Wagen, mit dem er in der Residenz einzukehren gedachte und verließ Tempelheide mit dem Versprechen, morgen in den ersten Stunden wieder bei den Frauen zu sein.

Drei Tage hatte Rodewald für diese Reise bestimmt. Er fühlte die Nothwendigkeit, sich bei Zeiten am Fuße des Hohenbergs einzufinden und dem Fürsten seine Aufwartung zu machen. Dennoch hinderte ihn daran eine unüberwindliche Befangenheit. In Tempelheide hob ihn Alles, auf dem Hohenberg hätte ihn Alles erniedrigen müssen. Dort konnte er sein Haupt erheben und im Licht der Wahrheit verklärt wandeln, hier hätte er die Augen niederschlagen, sich vor sich selbst entwürdigen müssen. So wurden aus drei Tagen fünf, aus fünf acht. Es fesselte ihn außer Oleandern wenig in der großen Weltstadt. Er sah sich wohl die neuen Denkmäler und Bauten, die [3287] Sammlungen der Kunst an, aber die Eindrücke konnte er erst bei Anna und den Kindern zurecht legen. Auch dem Obertribunalspräsidenten wurde er vorgestellt und, wie sich von dem Humanitätsfreunde erwarten ließ, mit Nachsicht beurtheilt. Die Urenkelin stand dem Greise bald näher als Olga, nicht durch die Verwandtschaft allein, sondern auch durch die leichtere Art, aus sich herauszugehen. Wie aufmerksam lauschte Rodewald dem weisen Freunde der Natur und des Lebens! Wie schnell fand er sich in die wunderliche Neigung zu den Thieren! Er verglich diese Richtung einer auf die allgemeine Seelenlehre sich gründenden Weltauffassung mit den herrschenden Doktrinen des Tages, dieser größeren Fülle an Material, strikteren Form der Beweisführung, aber geringeren Rückwirkung auf die Bildung des Herzens. Da Rodewald zufällig in der amerikanischen Union Freimaurer geworden war, konnte er sich bald überzeugen, daß in der alten Excellenz der Naturalismus seiner Anschauungen nicht ohnmächtig als todtes Pfund in der Erde lag, sondern oft genug nach außen hin auch über die Grenze seines nächsten durch die Gesetze gebundenen Berufes gewirkt hatte. Der Greis klagte über die Richtung der Loge. Er hatte sie ganz an Gelbsattel, Rodewalds Schulpforter Genossen, überlassen müssen. Sie hat, sagte er, einen Trieb zur Nüchternheit, zur leersten Verschönerung des Lebens bekommen, der mich abschreckte, länger für sie zu wirken. Ich weiß wohl, die tiefere und geheimnißvolle Richtung der Loge ist zu unwürdigen Zwecken [3288] misbraucht worden, die sich in Lug und Trug verloren. Aber so ganz diesen Bund auf Nichts zu stellen, wie es jetzt eingerissen ist, so ganz ihn alles Zusammenhanges mit großen geschichtlichen Ideen entkleiden und ihn nur in eine Art feinerer Liedertafel umzuwandeln, wer möchte da noch mitgehen? Man hat Diejenigen steinigen wollen, die wie einst Bruder Krause und Moßdorf unsere Geheimnisse verriethen, aber man ist hinter diesen, die nur zur Reform unsres Bundes Öffentlichkeit wollten, weit zurückgeblieben. Wohl weiß ich, daß das graue Alter unsrer Kunsturkunden nicht zu ermitteln ist, aber der Geist, der sich in der Loge sammelte, war jener immer landflüchtig gewordene Geist der Johanneslehre, die vor Christus schon bei Plato, Sokrates, Virgil christlich dachte, d.h. jener Lehre der überall vorhandenen Christlichkeit, wo reines Menschenthum waltet. Das ist der Angelpunkt der Welt und der Geschichte. Die Humanität beginnt mit Duldung gegen Alles, was außer uns lebt, mit dem Thiere, der Pflanze. Was ist der Mensch? Ein Ursachenthier, sagt Lichtenberg. Die andern Thiere sind Wirkungsthiere. Wir sehen, was da wird, blüht und vergeht. Wir fragen, warum ist die Schöpfung? Aber daß wir keine Auskunft wissen, stellt uns allem endlich Lebenden gleich. Dieser allgemeine Glaube ist der, der immer parallel ging mit den rohen und brutalen Erscheinungen der Geschichte, der Theologie, der Politik, der Sittenlehre. Neben dem Heiden- und Christenthum, neben den Staaten der Griechen, Römer, Franken, zog sich doch dieser [3289] einige Faden der reinen Menschheitslehre von Pythagoras und Thales herab bis auf diejenige Philosophie unserer Tage, die des Namens würdig ist. Für diese Lehre ist der Menschheitsbund die größte Geschichtsthat. Zu ihr gehörte Jeder, der Humanität übte. Die Loge wollte die Lehre vom wahren Tempel wieder aufnehmen. Wie oberflächlich hat sie es gethan! Sie konnte Größeres wirken. Das Christenthum war erst auch ein Geheimbund. Es war erst auch eine Religion bei verschlossenen Thüren. Das Christenthum war auf Logen begründet, die man Agapen nannte. Man speiste zusammen und feierte seine Erinnerungen. Die Loge hat viel gut zu machen, wenn sie nicht zerfallen will. Als sie vor vierzig Jahren in Deutschlands wüstester Zeit sich weigerte, ihre Mission zur Heranbildung eines Menschenbundes anzuerkennen und sich nur der Lehre von einer laxen Brüderlichkeit und gegenseitigen Förderung innerhalb der gegebenen Lebensverhältnisse ergab, hatte sie ihre Bedeutung für die Geschichte verloren und wird in Apathie, Überschuldung und bei vielen Einzelnen in Mangel an Appetit zu Grunde gehen.

Der Greis hatte seine Rüge scherzhaft geendet, zum Bedauern Rodewald's, der von einer Annäherung an Dankmar's Ideen überrascht war und fast verstummte über die wunderbare Fügung, daß der Präsident, er wußte es selbst nicht, die Gelegenheit in der Hand hatte, seinen Traum von einer großartigeren Entwickelung der Freimaurerei wahr zu machen. Gern hätte er Dankmar'n Kunde von etwaigen Aussichten seines Prozesses gebracht, [3290] aber Otto von Dystra, den er in seiner Wohnung in der Stadt Rom begrüßte, bemerkte ihm sogleich, daß ihr gemeinschaftliches Interesse für die Gebrüder Wildungen von diesem in Amtssachen drakonisch strengen und gewissenhaften Greise nichts hervorlocken würde. Dystra's Beziehung zur Comtesse Olga schien Rodewald, der an die anorganischen Verbindungsgesetze der großen Welt gewöhnt war, nicht so komisch wie dem Touristen selbst. Von Siegbert's Beziehung zu Olga wußte Rodewald nichts. Dankmar hatte sich wohl gehütet, seinem im Ullagrunde nicht sehr empfohlenen Bruder noch die Bürde einer solchen in der Luft schwebenden Liebe aufzuhängen. Dystra war in der Hauptsache der Alte, an Allem interessirt und für nichts auch nur einen Tropfen Bluts, dafür mit Freuden einen Beutel Geld lassend, ganz wie es in der Oberflächlichkeit einer Zeit liegt, die auf Kommunikation und Beschleunigung der Mittheilungen, auf den leeren Formalismus der Gedankenwelt, auf Stenographie, Autographie, Lichtbildnerei u.s.w. ihr größtes Gewicht legt; doch überraschte ihn Dystra eines Abends durch das Zeichen der Ritter vom Geiste. Sind Sie Mitglied des Bundes? fragte Rodewald erstaunt. Ich baue vorläufig dem Bunde eine Kapelle, sagte Dystra, ich baue ihm ein Archiv für seine Statuten, im Nothfalle Kasematten für seine Märtyrer. Sie werden staunen, wenn wir den ersten Bundestag halten. Am Ufer eines majestätischen Stromes erhebt sich, in der Nähe des Königlichen Schlosses Buchau, ein bewaldeter Bergesrücken, auf dessen [3291] Mitte der Tempelstein eine Warte des schon staunenden Reisenden ist! Schon erheben sich Mauern und Thürme. Arkaden verbinden die Höfe, die vom Schutte gereinigt sind und neu wieder sprudelnden Quellen Raum lassen mußten. Die Sommerhalle und die Winterhalle harren schon des wohnlichen Schmuckes, den ich in Belgien, Holland, am Mittelrhein und in Franken für sie fertigen lasse. Parkanlagen schafft ein königlicher Gärtner, er weiß es nicht, welche Orakel unter diesen Bäumen gesprochen werden sollen. Rodewald, es war schön unter Ihren rothbraunen Urwaldsbäumen! Aber es ist schöner, sich einen Garten zu zaubern, wo uns nicht Wilde, höchstens die Häscher der weltlichen Hermandad überfallen können. Komme, was kommen mag! Ich eröffne im nächsten Jahre zum September Nachts um zwölf Uhr meinen Tempelstein. Unten an meiner interimistischen Wohnung melde sich wer kommen will, Ritter oder Knecht, Mönch oder Laie, vermummtes Visir oder offnes, eine Reiterstandarte in der Hand oder eine Oriflamme oder eine Orlogsflagge! Von meiner untern Villa schreitet man über eine Brücke, die ich zwischen zwei Abgründen aufführen lasse mit hochgeschwungenen Bögen, dem Untenwandelnden scheinen sie ein Thor. Dann hinauf zur Burg! Die Zacken, die Mauern, die Verzahnungen sollten Sie sehen, die unter hundert hämmernden und klopfenden Händen schon aufwachsen! Die Säulen dann umwunden mit Kränzen, von Altane zu Altane Guirlanden wie zu einem Sängerkriege, die Fahne mit dem vierblättrigen [3292] Kleeblatt hoch vom Söller wehend ... Sie lachen? Genug Meister Harry! Vorläufig fühl' ich mich nur verpflichtet, für den Komfort dieser neuen Institution zu sorgen und es den Geistern der alten Ritter, die bei uns zur Nacht speisen werden, auch nach Rumohr's Geist der Kochkunst bequem zu machen. Sorgen Sie nur dafür, daß Dankmar endlich sein Arkadien bei Ihnen aufgibt und sich an die Sicherheit der Grenze begibt, die mein Tempelstein fast selber ist. Auf waldiger Höhe, zugänglich nur den Schmugglern und Grenzwächtern, liegt eine einsame Grenzhütte, bewohnt nur von einem Greise in weißem Bart! Halte man ihn für einen Verwandten Rübezahl's oder einen Gnomen andrer Seitenlinien, der Alte vom Berge empfängt Besucher, deren Namen nur in Steckbriefen zu lesen. Dankmar wird von dem Greise längst erwartet; längst hat er das Wort, das ihm oben an der Tannenhütte Einlaß verschafft bei'm Alten am Kaffeetopf, den er immer sieden hat, man sagt, um den fernen Gästen durch den Rauch die fast unzugängliche Lage der Hütte zu verrathen. Es ist Zeit, den Alten mit dem Wort aufzujagen und Dankmar'n alle kleinen Bequemlichkeiten zu verschaffen, die die Gäste der Hütte vom Tempelstein geliefert erhalten. Sie sollten unsre kleine romantische Existenz dort unter den Eulen und Füchsen kennen! Ich nehme Abschied, weil meine Anwesenheit dort nöthig wird; ich reise, um die Zimmer zum Empfang der Baronin Dystra herzurichten.

Rodewald würde schon, gedrängt von diesem neuen [3293] Beweis der wachsenden Idee des Bundes, beruhigt über Selma's nächste Zukunft und Anna's sorgfältig mit ihm besprochenen weitern Bildungsplan der Tochter, zurückgereist sein, hätte ihn, nach einem Besuche bei dem in Trauer um Selma's ihm abgewandtes Herz vom Ullagrund geschiedenen und in Liedern und dem schwersten Lebensberuf sich tröstenden Oleander, nicht Murray gefesselt, den er zu seinem wunderbarsten Erstaunen von Dystra als jenen todtgeglaubten Morton bezeichnen hörte. Sie leben, alter Freund? rief er Murray zu. Sie leben als Geizhals in dieser Mördergrube? Sie stellen sich todt, um von Ihren Verwandten bei Ihrer Rückreise nicht geplündert zu werden? Was treiben Sie hier? Wer ist um Sie? Wer sorgt für Sie? Erfuhren Sie, daß ich Ihr Geld richtig abgegeben, an Menschen, die sie für Ihren Bruder erklärten? Sind Sie der Bruder jenes Schmieds, der von der Hand eines Fremden tödtlich getroffen wurde? Und Sie waren wirklich selbst dieser Fremde, Sie selbst das Werkzeug dieser Strafe, die einen Menschen traf, der, wie Louis Armand beschworen hat, eben die eigne Schwester tödten wollte? Sie heißen Friedrich Zeck, nicht Morton, nicht Murray, wie ich nicht Harry, nicht Ackermann, sondern Rodewald?

Die Folge dieser Begegnung, die Wirkung dieser Fragen war für Murray, der an einer Kupferplatte saß und wie aus Träumen auffuhr, so furchtbar, daß sich zwischen ihm und Rodewald dieselben Stunden wiederholten, die im vorigen Herbst zwischen ihm und Louis Armand auf [3294] dem Schlosse von Hohenberg nur der Sturmwind, der an den Fenstern rasselte, die knisternde Flamme des Ofens, das singende Heimchen im siedenden Theetopf belauscht hatten ...

Sie jener Rodewald, auf den Baron Grimm folgte? sagte Friedrich Zeck fast sprachlos.

Rodewald wußte nichts vom Baron Grimm ... aber was er von ihm, über und durch ihn jetzt erfuhr, ließ ihn schaudern. Diese Pauline! rief es in ihm wie im wildesten Aufruhr aller Seelenkräfte. Und Ihr Sohn?

Ist gefunden ... Lebt!

Die Thür ging auf. Hackert trat ein ...

Das ist er! sagte der Vater, der ihn vor Rodewald nicht verläugnen wollte.

Rodewald stand wie erstarrt. Er erkannte diesen blassen, jungen, verdrießlichen Mann. Er erkannte dies röthliche Haar, dies hellblaue Auge, dieses fragende, bittre Lächeln ... Es war der Gefährte von der Landstraße, der Nachtwandler vom Heidekrug ...

Hackert erkannte auch den Fremden und grüßte ihn mit dem Scheine, als wollte er sagen: Was ändert denn nun Das? Ihr hättet mir die Theilnahme, die ich jetzt finde, auch früher schenken können, denn ich denke doch, ich bin derselbe Mensch!

Aber Rodewald erkannte mehr in ihm, er erkannte Paulinen ... er sah sich Egon, dem Fürsten von Hohenberg, gegenüber, Paulinen diesem Hackert ... er unterdrückte, was er empfand.

[3295] Er mußte sprachlos scheiden von dieser ihm jetzt aus Friedrich Zeck's Mittheilungen über den mit dem Sohn befolgten Erziehungsplane erklärlichen armseligen Raume, er mußte scheiden voll innigsten Jammers, herzzerreißenden Schreckens, er bedurfte der ganzen friedlichen Sammlung, die in Tempelheide über ihn kam, um sich endlich, gehoben nur durch das Gefühl, daß das Gute in der Welt mit dem Bösen zwar mit ungleichen Waffen, aber doch nicht ganz ohne siegreiche Erfolge kämpfe, auf den Weg zu machen, die verhängnißvolle Rückreise nach dem Schlosse Hohenberg zu dem Ullagrunde anzutreten zur Meldung bei dem Fürsten Egon.

[3296]
6. Capitel. Die Meldung
Sechstes Capitel
Die Meldung

Gravitätisch, wie ein Uhu im Walde, rings von Elstern, Dohlen, Krähen, andrem vorwitzigen Gevögel umflattert, gefürchtet zugleich und verspottet, vom Jäger ausgestellt zur Lockung, wenn er zahm ist, oder in der Wildniß sich selbst preisgebend, wenn ihm die blöden Augen Tageshelle blendet, – sitzt auf dem Korridor des Schlosses Hohenberg bei Plessen unter muthwilligem, hin- und hergejagtem, sich und Andre neckendem Dienstpersonale, unter betreßten Jägern, bunten Heiducken, weiß verhangenen Köchen, Küchenjungen, die wie junge Kakadus den alten nachspringen, unter Kammerzofen und alten borstigen Scheuerfrauen der von der Residenz mit Sr. Durchlaucht gleichfalls angekommene Haushofmeister und Ex-Husarenwachtmeister Wandstabler.

Strohmatten trennen seine schon in aller Frühe eines Sessels bedürftige Person von dem steinernen Estrich der Korridore, die trotz der den ganzen Sommer hier betriebenen Reparaturen und Vorbereitungen zum würdigen Empfang ihres Herrn nicht jenen luftdichten Thür- und Fensterschluß haben wie das hochfürstliche Palais [3297] in der Residenz. Da lagen zwar viel neue Teppiche auf den Treppen, die Wände waren frisch getüncht, die Plafondsstukkaturen in ihren Defekten ergänzt, Blumen und Vasen zierten nach den Angaben der jungen Fürstin jede unschöne Nische, jeden harten Winkel, jedes kahle Fenster, aber die gebrannten Geister zwickten und zwackten schon in aller Frühe an der menschlichen Aufschwemmung, die da im schwarzen Frack, in Schuh und Strümpfen im Sessel sitzt mit gewichstem Schnautzbart, wie in dieses Fürstenthums militärischen Zeiten, und sich bei jedem Klingeln in und außer dem Schlosse erhebt, um der Würde, die ihr der junge Fürst aus Gnaden gelassen hatte, doch einigermaßen noch zu entsprechen. Aber es zwickte hier, es zwickte dort in den alten Gliedern. Alle Kriegsthaten, alle Kriegsstrapazen regten sich und wenn auch Doktor Reinick erklärte, in diesen Schultern, den Armen und den Füßen rumorte weit mehr die behagliche und frohgenossene Metternich'sche Friedensepoche, die verschiedene Erklärung der Ursachen hob die Wirkung nicht auf. Die beste Behandlung hatte Drommeldey in diesem Falle in der homöopathischen gefunden. Hier ließ er die Wirkung durch die ihm wahrscheinlichere Ursache bekämpfen. Er rieth, den Schrank nicht zu vergessen, in dem Wandstabler die Schlüssel des Residenzpalais bewahrte, und Dore Wandstabler, die Älteste, verstand den Wink; die gebrannten Geister folgten nach Hohenberg und hielten die rheumatischen Störungen noch in der That am besten ab, eine Methode, die Herr von Sänger, [3298] Wandstabler's früherer Ritt-, jetzt Rentmeister, als er bei Sr. Durchlaucht zu Tische und fast jeden Abend zum Thee, aber mit vielem Rum, geladen war, dem treuen Wachtmeister als die beste für den Fall zugestand, daß man nicht in der Lage wäre, auf die zarten Nerven und die empfindliche Laune eines drittgeheiratheten Weibes Rücksicht zu nehmen.

Dore, die Allwaltende in der Residenz, war es auch seit den rasch vorübergeschwundenen acht Tagen hier auf Hohenberg. Schon vierzehn Tage war sie von der jungen liebenswürdigen Fürstin (die bei Egon Alles nahm, wie sie's fand) vorausgeschickt worden, um einen Komfort herzurichten, wie ihn auf dem Schlosse ein Herbstaufenthalt, Egon's erster offner Besuch seiner Herrschaften, bedingte. Die Fürstin hatte nur Komfort verlangt, Pauline von Harder aber, die leider selbst zu kommen sich nicht entschließen konnte, Pauline hatte Pracht bestellt. Der Fürst hielt eine Mittelstraße. Er wünschte viel Menschen um sich her, viel Leben und Bewegung, Zerstreuung, Übertäubung vielleicht, wenn man seine Gedanken ganz errieth. An Einsamkeit fehlte es dem jungen Staatsmann schon nicht. Sein ganzes Herz war schon einsam genug. Es fror schon recht auf den höchsten Gipfeln seiner Wirksamkeit. Er fand dort oben an den Gletscherrändern die Alpenrose Melanie, die durch Selbstbeherrschung, klügste Berechnung aller Umstände und die Förderung der mit Egon wie mit einem Sohne verbundenen Geheimräthin von Harder es dahin gebracht hatte, [3299] unter legitimen Bedingungen dem Verfechter alles Legitimen für das Leben anzugehören; aber die Gletscher starrten doch und todtes Schweigen ruhte doch auf ihnen, tiefe urweltliche Stille. In Hohenberg wollte Egon Leben, Bewegung, Zerstreuung, und so war bei seinen geringen Mitteln doch nichts gespart worden, um den Sommer über dies verfallne Schloß, den verwüsteten Garten leidlich wieder herzustellen und den Mittelpunkt der Besitzungen auch zum würdigsten Haupte jener Umwälzungen und neuen Bildungen zu machen, die sich von des Generalpächters gesegneter Hand hervorgerufen hier überall ersichtlich darstellten.

Dorette Wandstabler war ein Genie des Dienens. Den Vater, so lächerlich und so gefährlich sein Beispiel dem ganzen Hausgesinde, das ihn verspottete, blieb, duldete man theils aus Pietät, theils aus Dank für das Talent der Tochter, das selbst die junge Fürstin anerkannte. Es will viel sagen, von einer neuen Herrschaft bewährt erfunden werden, geduldet bleiben nicht aus vorläufiger Politik, sondern aus nachhaltiger Überzeugung. Dorette diente und liebte das Wohlergehen Derer, denen sie diente. Florette und Laura, vulgo Flore und Lore, die beiden jüngeren Schwestern, genossen die Früchte der Mühen ihrer älteren Schwester und konnten mit ihr in Nichts verglichen werden. Die Zeiten der Dore, Flore, Lore waren im Palais des Fürsten von Hohenberg vorüber. Die letzteren wohnten nicht mehr in diesem Palais. War nicht ohnehin der geistreiche Hofrath Stromer im Begriff,[3300] vielleicht gar eine von Beiden zu seiner neuen Gemahlin zu erheben? War nicht die schwierigste Aufgabe eines Familienrathes der Wandstablers gewesen, zu entscheiden, wer, wenn Hofrath Stromer den glänzenden Anträgen des Ritters Rochus vom Westen nach der südlichen Hauptstadt folgte, die ostensible Gemahlin des gefeierten, weder dem Islam, noch dem Katholicismus abgeneigten Enthusiasten in der dortigen Gesellschaft und für die Eröffnung seiner projektirten »Cirkel« vorstellen sollte? Man erzählte sich, daß Hofrath Stromer oft von den Diskussionen über die Wahl der eigentlichen künftigen Hofräthin handgegriffne Spuren davontrug. Man setzte seinen phantasievollen Vermittelungen der Gegensätze, seinen Blumenkränzen der Rhetorik, die er um die Schwierigkeiten, zwischen Aspasia oder Diotima zu wählen, versöhnend hing, meist nur Rückfälle in die alte unvermittelte Menschennatur entgegen und stellte ihn, den zwischen silbernen Äpfeln in goldnen Schaalen oder zwischen goldnen Äpfeln in silbernen Schaalen verlegen Wählenden, eher wie Buridan's Esel hin, der zwischen zwei Bündeln Heu in zwei Krippen in der Mitte verhungerte. Aber glücklicherweise rettete ihn und sein ergrauendes flatterndes Haar der Ritter Rochus vom Westen, der ihm als erste Bedingung zum Eintritt in die höchste, wieder weltbewegende Sphäre seines Staates die Ehelosigkeit vorschrieb. Und von einer Erörterung dieser eigenthümlichen, von der ältesten Wandstabler vollkommen standesgemäß erfaßten Wendung [3301] der Schicksale des vielgesuchten Halb-Schwagers kam eben die Lore, als ihr Vater wie eine Vogelscheuche unter dem Geschwirr des Schlosses stand und eigentlich nur so lange mitfühlender Mensch war, als sein Ohr die verschiedenen Klingeln unterscheiden konnte, die des Fürsten Durchlaucht, die des vortragenden Rathes erster Klasse, des vortragenden Rathes zweiter Klasse, des ersten und zweiten Sekretärs, des Expedienten A., des Expedienten B.; die drei Supernumerare nicht zu vergessen und die Kanzleiboten, die hier nicht zu laufen, sondern nur zu siegeln hatten, kurz der ganzen komplizirten Maschinerie, die dem Staatsminister auch hierher hatte folgen und von ihm würdig untergebracht werden müssen.

Dorette kam vom Amtshause, war nur eine Stunde fortgeblieben und was fand sie nicht gleich wieder zu ordnen, zu befehlen, zu verhindern! Zwei Kuriere angekommen, einer sogleich abzufertigen; der Staat betraf Doretten nicht, aber es gebührte sich doch ein Frühstück, bis die Depeschen herunter kamen von der Kanzlei ... und diese Besuche, diese Anfragen! Ein Diner von dreißig Kouverts für die mitgebrachte Bureaukratie und den Adel der ganzen Umgegend täglich! Frau von Zeisel und von Sänger, Das ginge noch, die sind zufrieden mit ihren Tischnachbarn und der Ehre ... aber Graf Bensheim, die Sengebusch's, die von Busche's täglich, täglich ein Gesandter, der hierher kommt, seine Aufwartung zu machen, täglich ein Attaché, ein Präsident und dann wol gar wieder[3302] einmal Einer, wie Ritter Rochus selbst, der, wie die Sage ging, selbst kochen konnte, selbst, wie jene Abbé's der alten Schule, in den Gesellschaften die Schürze vorband und einen Salat, eine italienische Olla Potrida anrührte ... alle diese Möglichkeiten und Wirklichkeiten durcheinander und doch keinen rechten Schutz, keine Anlehnung an den Vater, ja noch hindernde Überflüssigkeiten, wie diese alte Beschließerin Brigitte, der halbtaube Gärtner Winkler! Dorette hatte Mühe, die versäumte Amtshausstunde einzuholen.

Und nun nicht einmal eine Seele, der man sich über das dort oben Vernommene ausschütten konnte? Köchen, Bedienten, Kanzleiboten sagen, was sie erlebt hatte? Das ging nicht. Herr Pax, der Oberkommissär, der politische Spürer, der in der Nähe des Premierministers nicht fehlen durfte, Herr Pax war der Einzige, der würdig schien, wenigstens die Mittheilung zu empfangen:

Dreihundert Thaler, Herr Oberkommissär, finden Sie Das zu wenig?

War man nicht zufrieden? lautete im Vorüberschießen die Antwort.

Die Frau wol, sie weinte nur ... aber Herr von Zeisel blieb bei vierhundert und rechnete an den Fingern die Kinder vor ...

Der Hofrath kann's geben ... Aber die Scheidung ...

Die Frau will nicht, will nicht klagen ...

Ihre Aussagen werden sie dazu zwingen ... Wenn Sie die Briefe zeigen, die Ihre Schwestern vom Hofrath besitzen, [3303] wenn ich selber bezeuge, daß diese Ehe längst gebrochen ist ...

Länger dauerte diese Unterredung nicht. Pax wurde von Gendarmen, Dorette von den Wäscherinnen abgerufen ... nur die Worte bekam sie zu ihrem Erstaunen von Pax noch in das Kellergeschoß nachgerufen:

Machen Sie, daß die Sache fertig wird! Ich glaube fast, Durchlaucht bleiben nicht lange. Die Geschäfte in der Residenz sind zu dringend ...

Pax sah die über seine Meldung erstaunte Miene nicht mehr, sondern wandte sich dem Amthause zu. Mit der Aufgabe, sich immer in der Nähe eines Staatsmannes zu halten, der mit Dem, was ihm an der Gesellschaft schädlich erschien, kurzen Prozeß machte, verband Pax Zwecke, auf die ihn eigner Instinkt führte. Er war allein hier, ohne Hackert, ohne Schmelzing, ohne Mullrich und Kümmerlein. Aber er forschte mit doppelten Fühlhörnern nach zwei Richtungen hin. Einmal hatte er von dem Assessor Müller und Frau Charlotte Ludmer, seiner Gönnerin, den Auftrag, zu erforschen, ob man sich dabei beruhigen könnte, daß jener Engländer, Namens Murray, für den so große Summen und so ehrenvolle Zeugnisse deponirt waren, in der That den Schmied Zeck nur niedergeschossen, weil dieser in der Absicht betroffen wurde, dessen Schwester Ursula Marzahn bei Beraubung ihres geheimen Schrankes zu tödten? Zweitens, ob der Inhalt jenes Schrankes in nichts als alten medizinischen Rezepten bestanden hätte, was der Blinde, der Geld vermuthete, [3304] nicht wissen konnte? Drittens, ob jener Murray, dessen mögliches Inkognito in der Residenz keine Macht der schlauesten Inquisition lüften konnte, niemals von einem Friedrich Zeck gesprochen hätte, dem Bruder des Schmieds, der in der Fremde, wahrscheinlich in England, wenn nicht in Amerika lebte oder einer von den Zeck's erhobenen Erbschaft zufolge gestorben wäre? Viertens, wie sich der Förster Heunisch, der taube junge Zeck und die alte Magd des Schmieds Anneliese über diese Vorfälle ausließen und ob Louis Armand in der That nur zufällig bei dem Forsthause mit seinem Freunde dem Engländer erschienen wäre, weil er ein flüchtiges Interesse an der Nichte des Jägers gehabt hätte und bei solcher Gelegenheit den Schmied überraschte? ... Mit dieser Kriminal-Aufgabe verband Pax dann noch eine politische Nachforschung. Es war den Behörden nicht entgangen, daß über das Postamt zu Plessen und zu Schönau hin sich gewisse Briefe kreuzten, die oft in rätselhaftesten Formen des Styls jenem großen Geheimbunde anzugehören schienen, auf dessen Sprengung die Behörden alles Gewicht legten. Ja es war vorgekommen, daß eine Zeit lang diese Korrespondenz mit adligen Wappen, längere Zeit sogar mit dem eignen Siegel der Polizeibehörde geschlossen war. Und grade die gefährlichsten Mittheilungen von einer nun bald bevorstehenden großen Zusammenkunft dieser Geheimbundsglieder waren über Plessen und Schönau mit dem Siegel derjenigen Polizeiabtheilung geführt worden, der Pax selber angehörte, sodaß Pax[3305] schon auf den Schreiber Schmelzing, dessen Käuflichkeit aus dem Briefverfälschungsbubenstück gegen den Major von Werdeck sattsam bekannt war, Verdacht faßte, wenn nicht gar auf Hackert, der doch sonst sein ganzes Vertrauen besaß!

Über die Sache der Ludmer hatte Pax nur geringfügige Ergebnisse gewonnen. Ursula Marzahn war todt. Der taube Sohn des Zeck war im Augenblick der Forsthausvorfälle grade im Ullagrunde gewesen, nur die einzige Magd des Schmieds hatte ausgesagt, daß Louis Armand den Schmied, um mit ihm in den Wald zu gehen, abgeholt hätte, sonst wäre zwischen ihm und dem Fremden nichts weiter verabredet worden, als ein Ding zu schmieden, das auf jene Stimmschraube hinauskam ... Ergiebiger war Paxen's Forschung auf dem politischen Gebiete. Hier ergab sich Drossel's, des Gelben Hirschenwirths, trotzigste Gesinnung, die sich vermehrt haben sollte, als er die Vortheile der Mitverwaltung des Heidekrugs so allzukurz nur genießen konnte und Justus dafür eine Art Kompromiß in politischen Dingen mit ihm geschlossen hatte. Ein Geldvorschuß von Heunisch, dem Drossel gradezu die Veranlassung des Todes seiner Schwester Schuld gab, rettete ihn, wie auf einige Zeit den eben so »wühlerisch« gesinnten Sägemüller, der gleichfalls unheimliche Sagen benutzte, den leicht eingeschüchterten, seit dem Tode Heinrich Sandrart's und dem Glücke Franziska's von jeder Willenskraft verlassenen alten Junggesellen Leberecht Heunisch zu schrauben und [3306] gleichsam über den Löffel zu barbieren. Ja Pax ging soweit, in den Generalpächter, so sehr er von dem ganzen Fürstenthum angebetet und vom Minister mit wahrem Bedauern vermißt, ja auf das Ungeduldigste erwartet wurde, Mistrauen zu hegen und es wenigstens vorläufig höchst sonderbar zu finden, daß dieser ohnehin für einen Republikaner geltende Einwanderer sich grade in dem Augenblick von seinem Sitz im Ullagrunde entfernte, wo der Chef der Regierung, sein Herr, sein Patron, sein Richter, der Fürst erwartet wurde. Und nun der murmelnden Misstimmung zu schweigen, die Pax überall wegen des jungen Sandrart antraf, dessen Schicksal man im ersten Augenblick streng, aber unvermeidlich und nach den Gesetzen gerecht, im Verlaufe der Zeit aber viel zu grausam und von dem Geiste, der jetzt im Lande herrschen sollte, viel zu rachsüchtig diktirt gefunden hatte.

Wie mußte sich der thätige, jeder Ehre, die der Staat nur zu verleihen hatte, würdigste Sicherheitsagent auf das Angenehmste überrascht fühlen, als er auf dem Amtshause Zeuge einer Scene wurde, die seine kühnsten Erwartungen übertraf! Beim Justizdirektor in sein Verhörzimmer eintretend, vernahm er den wüsten Lärm eines Bauernmädchens, das gewählter gekleidet als üblich, keckerer Zunge, als ihrem Stande geziemte, vor den Schranken einem jungen, schönen, in Schwarz gekleideten weiblichen Wesen eine Menge von jähzornigen Reden anzuhören gab, die der Herr Aktuar Weiße schon mit dem runden Befehl abschnitt:

[3307] Ruhe hier! Fräulein wird Sie gehen lassen, wohin Sie will! Unverschämte Person! Hat Sie die Redensarten bei dem Heidekrüger gelernt?

Man sah, der sonst so untergebene Aktuar war derselbe Despot von Oben, wie er selber Knecht von Unten war. Diese Stufenfolge ist ganz hergebracht. Und als der Justizdirektor vom Seitenzimmer, wo er eben Butterschnittchen gefrühstückt hatte, eintrat, bekam er vom Aktuar in drastischen Umrissen den Bericht: Die Magd da, Liese Dammler oder Rammler, was wisse er, diene beim Generalpächter, hätte sich dem Fräulein Franziska Heunisch da ungehorsam erwiesen und wolle mit Gewalt fort. Sie behauptete sogar vom Schreiber des Generalpächters geschlagen zu sein. Wie Dem sei, Fräulein Franziska bestehe darauf, daß sie bliebe. Sie wisse wohl, daß es das aufsätzige böse Mädchen zöge, wieder beim klüger gewordenen Heidekrüger Justus ihren alten Dienst anzutreten, aber vor der Rückkehr des Herrn Ackermann ließe sie Niemanden vom Hofe und sie müsse ihrem Dienst vorstehen bis nach ausgemachter Sache mit dem Herrn.

Herr von Zeisel fand diesen Bescheid ganz in der Ordnung, lobte Fränzchen's tapfern Zusammenhalt ihres großen, ihr jetzt schon seit länger als acht Tagen ganz allein überlassenen Wirthschaftswesens, erkundigte sich voll Antheil nach der Rückkehr des Generalpächters, den Se. Durchlaucht mit einer unglaublichen Ungeduld erwarteten, und entließ Fränzchen mit dem Bescheide, daß die Magd ihr zu gehorsamen hätte bis zum Ablauf ihrer [3308] Dienstzeit und daß ihr wieder, nämlich der Liese Dammler oder Rammler, unbenommen bliebe, sich wegen etwaiger Ohrfeigen oder sonstiger Denkzettel von der Hand des Schreibers beim Generalpächter, im äußersten Falle einer satisfactio denegata, hier beim Amte Genugthuung zu holen.

Fränzchen ging nun. Sie empfahl sich voll Artigkeit. Sie hatte die Pfarrerin am Fenster weinen sehen, sie wollte zu dieser Armen ...

Die Magd aber polterte sich nun erst recht aus und wäre leicht nach Requisition Pfannenstiel's mit Gewalt entfernt worden, wenn Pax nicht, der den stummen Zuhörer und Beobachter eines ländlichen mündlichen Verfahrens abgab, auf gewisse höhnische Bezeichnungen des Schreibers aufmerksam geworden wäre und nach mehren leichthingeworfenen Fragen herausbekommen hätte, daß jener Schreiber wol längst seine Aufmerksamkeit verdient hätte. Die Liese nannte ihn gradezu einen Vagabunden, der sich schon im Heidekrug einmal für den Prinzen ausgegeben. Man horchte, man forschte, Herr von Zeisel kam auf die Zeit des Inkognitos Sr. Durchlaucht, der grade eintretende Pfannenstiel auf den Doppelgänger, den Besuch im Thurme, es fehlte nur noch der Name Dankmar Wildungen, um hier eine Identität herzustellen, die der überraschendste und glücklichste Fund war, der dem Oberkommissär nur gelingen konnte. Gensdarmen wurden sogleich gerufen, wurden instruirt, zum Ullagrund vorausgesandt, Pax folgte, begleitet von der jetzt [3309] plötzlich vom Sonnenschein der Huld begnadigten Liese Dammler oder Rammler; Pfannenstiel staunte und rieb sich mehrere: War mir's doch immer mit dem Schreiber! hinter den Ohren heraus; Herr von Zeisel lief zu seiner Frau und theilte ihr eine wunderbar überraschende Möglichkeit mit, die tausend andre Möglichkeiten in sich schloß. Der Schreiber beim Generalpächter Dankmar Wildungen? Der Freund des Prinzen auf den Gütern des Prinzen verborgen? Aber mein Gott, wie ist Das nur? Herr von Zeisel fühlte, daß hier besonders zwei Möglichkeiten waren, entweder der Miskredit des Generalpächters als eines Flüchtlinghehlers oder wiederum eine furchtbare Bêtise seinerseits, indem er einen Flüchtling aufstöberte, der, weil er einst der Freund des Fürsten war, von diesem selbst in alter Anhänglichkeit grade bei den Seinen am sichersten verborgen bleiben sollte ... Frau von Zeisel fühlte dieselbe entsetzliche Alternative, sah das Grauengespenst einer neuen aufsteigenden Dienstgewitterwolke und erholte sich nur erst durch die Einladung, die eben vom Schlosse kam: Heut' Abend um acht Uhr Thee. Die Liste des gallonirten Lakaien, die sie sich zeigen ließ, war so lang, daß sie vor Erwägung ihrer Toilette nun keine andern Gedanken mehr hatte als die: Wie vertret' ich mich und die Nutzholz-Dünkerkes! Geh' mir weg, Zeisel, mit deinen Bedenklichkeiten! Ich habe für mich und meine Geburt zu sorgen!

Fränzchen aber, in ihren um das Leid des Adoptiv-Vaters, den sie seit dem Frühjahr gefunden, noch nicht [3310] abgelegten Trauerkleidern, genug auch trauernd im Herzen über Anlaß und innere Folge dieses äußeren Glückes, wandte sich während dieser Enthüllungen und ihrer gefährlichen Folgen zum Pfarrhause, wo sie am Fenster unter den schon herbstlich welken Linden Thränen gesehen hatte. Sie wußte, was diese Thränen bedeuteten. Es that ihr wohl, als sie eintretend und von dem Leide dieser Frau beginnend von ihr aufgefordert wurde, um der Kinder Willen mit ihr hinauszugehen in den Garten. Dieser Garten lag am Friedhofe. Sonst hatte Guido Stromer hier Rosen geschnitten für Melanie Schlurck, die ihn auf dem Gewissen hatte, den unglücklichen, aus Rand und Band gekommenen Genius. Noch blühten Astern, da und dort dunkle Georginen, trauernde Blumen des Scheidens und des Lebewohls, noch einmal zusammenfassend alle bunten Farben des Frühlings, kaleidoskopisch durcheinander würfelnd von jeder Blume Etwas, aber duftlos, keine ganzen Veilchen, keine Maiblumen, keine Rosen mehr ... Alle hatten dies Ende des Stromer'schen Hauses kommen sehen nach Dem, was man vom wildgewordenen Guido erfuhr. Nun war es da und es kam so grausam wie doch unerwartet. Was hätte die Frau nicht vergeben, vergeben um diese Kinder ohnehin, vergeben auch um sich! Sie wußte, wie wenig sie Guido bot, sie hatte immer gelitten unter dem Schmerz, daß ein Ehrgeiziger sich in ihrer Wahl vergriff und daß die Quellen seiner höhern Erquickung ihr nicht entströmten. Warum aber so enden, so gewaltsam, so grausam? Stromer hätte selbst am [3311] liebsten die geräuschloseste Trennung gewünscht. Er hatte wirklich einen Schwall von glänzenden Worten dem Weibe geschrieben von der unwiderstehlichen Macht des Berufes, dem innern Orakel, dem Dreifuß der Sibylle, die über dem hohlen Herzen throne, er hatte sich mit dem heiligen Patriarchen verglichen, der auf Gottes Geheiß Hagar in die Wüste sandte, hatte seine Kinder eine Ismael-Bürde der Mutter genannt, hatte von der Feigheit des Entschlusses gesprochen, an der sein ganzes Dasein gekränkelt, von dem Geyer des Prometheus, der einzig und allein einen Titanen strafen könne, und dieser Geyer wäre die auch ihm gewiß noch einst kommende Reue, – die Reue hacke wahrhaft dem Großen die Leber aus, daß es nicht leben, nicht sterben könne, – noch aber fühle er sie nicht, noch müsse er langen nach dem Sitz der Götter, wo diese ihr heiliges Feuer hütheten ... all dies Durcheinander wurde von den Betheiligten, von Manchen, bei denen die Frau Raths erholte, ganz so feierlich genommen, wie es da stand, bei Jenen aus Verehrung, bei Diesen aus Schonung; aber die Quintessenz, die etwa, wenn z.B. Doktor Reinick wäre gefragt worden, gelautet hätte und die auch bei Ackermann im Stillen lautete: Dieser Mann ist ein echt deutscher Lumpen-Titan, in dessen Gefolge sich eine große Erbärmlichkeit unsrer Nation zieht! regte sich nun allmälig doch auf dem Grunde des Für und Wider selbst auch bei seiner Geopferten. Herr von Zeisel hatte jährlich vierhundert Thaler für sie und die Kinder verlangt. Sie selbst wollte, da Hofrath Stromer in [3312] eine auswärtige deutsche Staatskanzlei zog, in die Residenz, wo ihr Oleander, der Gefängnißprediger, versprochen hatte, väterlichst die Erziehung der Kinder zu überwachen ... Und Franziska Heunisch hatte so an Umsicht, Lebensblick, Erfahrung gewonnen, daß sie die jetzt weinende Frau durch manches treffende Wort erheben konnte. Sie pries sie sogar glücklich, von solchem Misverhältniß freizukommen und beklagte nur die Umständlichkeit des Scheidens, wo immer etwas Schamloses erst gerichtlich zur Sprache gebracht werden müßte, bis die Trennung erfolge, die doch wie mürber Zunder sich von selber ergäbe. Das war grade der Pfarrerin ein Kummer. Sie hatte klagen sollen! Sie hatte die Beweise führen sollen! Man gab ihr den Beweis der Ehescheidungsgründe in die Hände und zwang sie fast, sich um das Leben des Vaters ihrer Kinder zu bekümmern, wie sie gar nicht mochte! Sie war eine wirkliche Gläubige. Sie wollte nichts Böses von Guido wissen. Wozu denn? sagte sie. Was quält man mich? Warum ist die Gesellschaft und das Gesetz liebloser als der Mensch selbst!

Fränzchen entfernte sich und tröstete die bedrängte Frau mit der Nachricht, daß Herr Ackermann sicher noch heute Abend zurückkäme und von Oleander'n Grüße wie seine eignen Rathschläge ihr bringen würde ... Streng hatte auch Franziska gesprochen, aber so streng doch nicht, wie eben ein Mann zur Pfarrerin sprach, der sie vom Kirchhofe her über die niedrige zerbröckelte Gartenmauer anrief und den sie nicht kannte, obgleich sie die [3313] Dame kannte, die an seinem Arme hing. Dieser Mann war hoch, schlank gebaut, aber gebückt im Gang, hinfällig in der Haltung. Er schien jung und dennoch hing sein Haar nur spärlich von den Schläfen und wo es im Nacken saß, war es ergraut. Er trug einen Oberrock und fröstelte fast. Sein Schritt war sicher, aber das Auftreten schien den ganzen Körper zu erschüttern. Die Reizbarkeit seiner Nerven sprach sich in einem lauten fast schreienden Tone aus. Die ihn fast überragende, weibliche Begleiterin in graugerippter, hochzugehender, seidner Herbstrobe mit seidnen Schnüren und eben solchen Knöpfen auf der Brust, mit dem weißen kleinen Hütchen, dem feinen Battisttaschentuche und dem schwebenden sylphidenartigen Gange kannte die Pfarrerin wohl – und so war es denn der Fürst, der, eben aus dem Mausoleum seiner Mutter tretend, den Kopf emporhob, sein blasses Antlitz über die niedrige Mauer richtete und etwas sehr barsch, etwas sehr rauh die Frage an sie stellte:

Sind wol die Frau Pfarrerin?

Und noch ehe die Eingeschüchterte, den Fürsten Egon jetzt voraussetzend, sich sammelte, hatte mit freundlichem Tone, mildem Gruße, die silbergraue Glaçehandschuhhand über die Mauer reichend, schon die junge, schöne Fürstin gesprochen:

Guten Tag, liebe Frau Pfarrerin! Wie geht es Ihnen? Es ist ein Jahr her, daß wir uns sahen. Fast hätt' ich so ohne Begrüßung von dannen müssen! Der Fürst spricht von einer nothwendigen Beschleunigung der Rückreise.

[3314] Vergessen Sie uns nicht! Wie geht es Ihren Kindern? Grüßen Sie sie bestens! Sie hätten uns doch oben besuchen sollen! Adieu, Frau Pfarrerin!

Und so wäre die Fürstin Melanie am liebsten rasch über eine Erinnerung, die ihr peinlich war, hinweggekommen, hätte gern den von dem Kirchhof und dem Mausoleum der Mutter verstimmten Gemahl von diesen Gräbern hinweggezogen – eben standen sie an Gräbern, wo die einfachsten Menschen begraben waren, der Schmied Zeck, Lene Drossel vor Jahren, Nantchen von Sägemüllers, Ursula Marzahn, die Müllerin, Alle still, sanft und auf Gott wartend beisammen – aber der Fürst blieb stehen und sagte zu der den Handdruck der Fürstin zaghaft erwidernden Frau:

Thut mir leid, daß Sie die Wohnung verlassen sollen! Dem Hofrath hätt' ich vor einem Jahre sagen müssen: Ihr Genius ist da, wo Ihre Kinder sind! Der Mann hat viel Geist, hat aber auch schon viel Verwirrung damit angerichtet und wird deren noch mehr anrichten ...

Die Pfarrerin schlug die Augen nieder ... Die Fürstin trat verlegen etwas zur Seite ... Egon zu hindern, daß er etwas that, was er thun wollte, war ihre Sache nicht.

Der Hofrath ist in der Lage, sprach der Fürst in seinem kurzen, polternden Tone weiter, für Sie sorgen zu können, liebe Frau! Fassen Sie diese Sache von ihrer besseren, nützlicheren Seite! Sie werden, hör' ich, in die Stadt ziehen, die Kinder werden einen geregelten Unterricht erhalten. Wieviel Kinder haben Sie?

[3315] Die Pfarrerin nannte die Zahl ... Die Fürstin trat noch mehr bei Seite ...

Der Hofrath ist ein reichbegabter Kopf, der eine umgekehrte Entwickelung macht, wie Andre, die von der Wildheit anfangen und im Zahmen aufhören. Das wird nicht hindern, ihn noch in vielerlei Wirrniß und zuletzt in die katholische Kirche eintreten zu sehen.

Wäre Das möglich? konnte erschreckend die Verlassene doch nun nicht umhin zu erwidern und ihren Schmerz noch deutlicher in den Mienen auszudrücken.

Sie werden bald davon hören, gute Frau! sagte Egon. Ohne Extrem geht es bei diesen Naturen nicht ab. Das ist die übliche deutsche Entwickelung, die Genialität, der Universitätsdünkel des aparten Geistes, dem die gegebene Welt nicht genügt und der sich luftige Bahnen baut, auf die leider, wie unsre ganze deutsche Geschichte zeigt, Kirche, Staat, Wissenschaft, Schule und Leben mit in die Lüfte nachgeschleppt werden! In Kunst und Poesie derselbe Dünkel, dieselbe Kritik, die nur Das für genial hält, was entweder im Irrenhause endet oder sich eine Kugel vor den Kopf schießt. Zittern Sie nicht, liebe Frau! Dieser Phantast endet so nicht, der endet behaglicher. Die ewig unbefriedigte Sehnsucht wird bei ihm zuletzt durch Würden, durch äußern Glanz, durch eine Art von Ruhestand, in den sich auch das Denken versetzt, befriedigt werden. Danken Sie Gott, liebe Frau, daß Sie von diesen Fesseln erlöst sind. In allen halben Dingen ist reine Rechnung das Sicherste. Sich hinschleppen [3316] zwischen der Erkenntniß und der Furcht vor ihr, hinschleppen zwischen Dem, was man sieht und nicht sehen will, sich das Leben verbittern durch ewige Befangenheit, die den Muth nicht hat, das für besser Erkannte wirklich zu wagen, das heißt den schönsten Theil des Lebens gradezu verlieren. Ergreifen Sie diese Nothwendigkeit des Bruches mit Heroismus! Geben Sie Ihre gerichtlichen Depositionen mit der ganzen Würde einer tiefverletzten Frau! Ich versichre Sie: Sie gewinnen sich ganz und verlieren nur Halbes.

Mit diesen Worten trat der Fürst von der Mauer zurück und glaubte die überraschte Pfarrerin mit einer innem Erhebung, mit gewonnenem Muthe zurückgelassen zu haben. Und in der That! Hätte er nur liebevoller gesprochen, die Wahrheit seiner Worte fühlte sie schon; sie erwartete Ackermann, um sie ihm wiederzuerzählen und vielleicht nach ihnen zu handeln.

Als Egon seinen Arm der Fürstin wieder gereicht hatte und mit ihr den Friedhof verließ, um sich dem Schloßgarten zuzuwenden, brach er, dann und wann hüstelnd und wie es schien, in einer andauernden Reizbarkeit, in die Worte aus:

Dieser Elende! Wenn mir irgend etwas den Geist der Konfusion, der in der ganzen Welt die Köpfe verwirrt, vergegenwärtigt, so ist es dieser wildgewordene, von Dünkel und lächerlicher Selbstüberschätzung aufgeblasene Halbpoet! Unfähig, nur eine einzige dauernde Schöpfung hervorzubringen und wär' es ein Gedicht von einigen Versen, [3317] zerschlägt er die ganze Welt in Trümmer und macht diese jeder Halbheit, jedem Verbrechen zu einer beschönigenden Anlehnung. Jede Partei, die seiner Eitelkeit schmeichelte, hatte ihn. Eine Zeit lang wünschte man, daß er die Kritik der schönen Künste übernahm. In jeder Schöpfung sah der Schwätzer nur den Verstand, nur die Kombination, immer schrie er: Offenbarung, Genie, Genie! Jeder sich seiner Kraft bewußte und mit ihr harmlos spielende Geist war ihm ein Rechnenkünstler. Alles, was Logik und Zusammenhang hatte, wies er mit dem Wort zurück: Poesie fehlt! Ah, dies Guido-Stromerisiren ist die deutsche Erbsünde. Der Kerl war dabei voll Eitelkeit wie ein Komödiant. Jede Schauspielerin, die ihn besuchte, jede Tänzerin, die ihm gestattete, ihre Hände zu küssen, wurde im »Jahrhundert« dafür gepriesen. Man mußte ihm, weil er vor Eitelkeit halb wahnwitzig wurde, diese Branche förmlich mit Gewalt nehmen. Er wollte nun zur Politik, zu mir, zu Pauline'n zurückkehren. Aber keine einzige positive Thatsache war ihm anzuvertrauen. Er hatte nichts, was ihm treu blieb, nichts als seinen Styl. Eine Mischung von Naivetät und Erhabenheit, von Bildern und von Abstraktionen war ihm immer das einzig Gegenwärtige, wie einem Arzt sein Latein, auch wenn er noch gar nicht weiß, welche Krankheit er vor sich hat. Mit diesem Styl, den zuletzt auch Pauline wegen seiner Indiskretionen verwarf, lief er in allen Zirkeln, die sich ihm durch uns eröffnet hatten, wie ein herrenloser Hund umher, der ein Halsband sucht, und klagte uns der Undankbarkeit [3318] an, drohte sogar. Seinen Styl bot er dem Meistzahlenden an und in der That hat der Ritter Rochus vom Westen gut daran gethan, ihn für die Sophistik seines Kabinets zu gewinnen. Er wird dort viel Geld verdienen, es durchbringen mit den Frauen, deren Schönheitslinien er seit Jahren zu studiren vorgibt, mit Bildern, die er vielleicht kauft, mit Gourmandise und wird im Übrigen jede Sache mit scheinbarer Gluth vertheidigen, sie mag noch so schlecht sein und innerlichst ihn noch so kalt lassen. Ah pfui! Die Lüge dieser Menschen ist fürchterlich und vielleicht fängt bei diesem Stromer für die Welt und ihr Urtheil die Wahrheit damit an, daß er uns, die wir ihn emporzogen, nun haßt, nun verfolgt, nun in verzerrten Schattenrissen an die Wand malen wird. Meine Feinde, die Äußersten, haben ihm auch schon Offerten gemacht. Sie würden ihn gewonnen haben, wenn dieser Präsident von Flottwitz, diese Excellenz von Trompetta in der Provinz nicht so arm wie die Kirchenmäuse wären und der Hof sich zur Zeit noch schämte, Geld herzugeben, um mich bekämpfen zu lassen. Rochus hat mit seinen Dukaten mehr Glück gemacht und nur Schade, daß man dem Hofrath unsrerseits nun nicht noch offen mit dem Staubbesen ein Buon viaggio! nachrufen kann.

Melanie erwiderte auf diesen Zornausbruch nichts. Sie gedachte, zum Schlosse aufblickend, jenes Abends, wo sie durch eine ihrem Haar entnommene Rose, die sie von den kleinen Ohren des Intendanten zuletzt als Preis gewinnen ließ, in Guido Stromer die Geister des irren [3319] Schönheitsdranges und einer noch einmal vor dem Ende sich sammelnden Idealität weckte und sie selbst es war, die ihn, ohne es zu wollen, in die Residenz lockte. Mit den Gedichten hatte ihr Gemahl Unrecht. Melanie besaß einen Stoß gereimter Verherrlichungen ihrer Schönheit von diesem Musenpriester; selbst nach ihrer Verheirathung noch empfing sie anonym, doch mit leicht erkannter Handschrift, Apotheosen ihrer Vollkommenheit, z.B. diese humoristische, als sie sich lange nicht hatte im Theater blicken lassen, mit der doppelsinnigen Aufschrift:

An eine Schönheit ersten Ranges.

Von einem jetzt

gehaßten kritischen Opponenten.


Wie Venus stieg aus weißem Wellenschaume,
Vom Rosenlicht Auroren's überhaucht,
Halb noch den Fuß in Meeresfluth getaucht,
Halb siegend schon auf festem Muschelraume,
So schienst du mir, als ich am rothen Saume
Der Loge (leider ist der Sammt verbraucht,
Die Muschel viel zu Lampenrußbehaucht!)
Dich endlich wiedersah fast wie im Traume!
O strahlte mir gleich Licht aus gold'nen Thoren
Entgegen doch aus Deiner Formen Hülle
Wie einst der hold'sten Zaubereien Fülle!
O könnt' ich wieder Deinen Lippen lauschen!
Wie wollt' ich, Schaumgeborne, Dich umrauschen
Als Welle, fließend, ewig so verloren!

[3320] Die Fürstin hütete sich wol, Guido Stromer's Dichterehre zu retten. Sie hätte sonst fürchten müssen, Egon so zu reizen, daß er wie Plato alle Poesie aus seinem Staate verbannte. Litt sie nicht genug an seiner scharfen Kritik des Lebens, an seiner zersetzenden, wenn auch oft sehr wahren Auflösung aller Charaktere! Sie hatte seit dem Jahre, daß sie Egon kannte, seit den drei Monaten, daß sie seine Gattin war, die Maxime angenommen, ihm nur dann zu widersprechen, wenn er zum Seherze aufgelegt war. Diese Stimmung kam selten bei ihm. Sie ließ den reizbaren, von Nachtwachen, von Krankheit, Gemüthszerrüttung geschwächten Fürsten in seinen heftigen Invectiven sich nach Lust ergehen und gab nur zuweilen eine scherzende Ergänzung zu Dem, was ihn mit bitterm Ernst erfüllte. So jetzt, indem sie aufsteigend zum Schlosse, an dem Pavillon, an den Marmorvasen, an der Springkaskade vorüber, wo sie bebend Dankmar's gedenken mußte, plauderte:

Ja! Ja! Der Hofrath wäre, wenn du ihn nicht so tragisch ansähest, die spaßhafteste Episode eines Lustspiels. Ich will von seinen Umgebungen nicht sprechen, die er eben so wunderlich zu bilden sucht, als wenn wir den Versuch machen wollten, Doretten die Schönheiten von Goethe's Fischer beizubringen oder den westöstlichen Divan zu erklären, den sie jetzt noch für ein Tapeziererhänden entstandenes Möbel halten würde. Er läßt sich seine Mühe nicht verdrießen. Aber drollig ist gewiß, daß Stromer im Winter heimlich tanzen lernte. Er wollte auf den Bällen [3321] nicht zurückstehen und den lateinischen Zuschauer machen. Whist zu spielen unter den Herren und gesetzten Damen schien ihm mit Recht langweiliger, als sich unter den tanzenden Paaren zu tummeln und schon Wochen lang vor einem Ball bei jungen Damen durch Huldigungen aller Art sich eine Française, eine Polka zu erbitten. Mit größerem Triumph hat Guido nie auf seine neuesten Artikel geblickt wie auf die Tourenkarte, die er beim Eintreten in die Säle, alle jungen Männer fast umreißend, triumphirend vorzeigte; denn jede Tour war ihm besetzt. Man denke sich Hofrath Stromer auf seinen heimlichen Tanzübungen! Der Balletmeister des Hoftheaters, den er dafür überrühmend anerkannte, mit der Violine, die dieser glücklicher Weise selber spielte – sonst hätte sich der strenge Recensent auch bei der Kapelle kompromittirt – der Balletmeister Befehle gebend: Glissez! Marchez! En avant! und unser Guido mit den langen blondgelben Haaren und der ganzen Wucht seines gelehrten Wissens hopsend, walzend, chassirend, springend bis zum Entrechat!

Die Fürstin lachte selbst. Egon schüttelte nur den Kopf ...

Inzwischen aber waren schon Diener, Sekretäre, ihnen entgegengekommen. Wo man des Allgewaltigen nur ersichtlich wurde, gab es sogleich zu fragen, Befehle zu holen, Mittheilungen zu machen. Eben so ging es der Fürstin, die schon einige Damen der Umgegend vorfand, die ihre Aufwartung zu machen wünschten. Ohne zu [3322] wissen wie, war das hohe Paar auseinander und Jedes in die Zimmer getreten, die in gewähltem Geschmack für sie neu hergestellt waren. Die Fürstin bewohnte die so verhängnißvoll gewordenen Zimmer der Mutter Egon's und fand sich in der gebliebenen gothischen, kirchlichen, ihren Neigungen sonst nicht entsprechenden Ausschmückung bald zurecht, da sie schon nach ihrem Sinne befriedigt war, wenn sie nur Eignes, Ungewöhnliches, Gepflegtes sah. Da gab es denn Visiten und kleine Plaudereien, Glückwünsche und Verheißungen, versicherte Hingebung und lauschende Prüfung genug. Von dem forschenden Blicke, wie diese Standeserhöhung hätte kommen können, warum sie kam, ob sie sich zum Guten anließ, ob nicht, war Niemand frei und die Fürstin hielt ihm mit ruhiger Selbstbeherrschung Stand. Sie war die unruhige, von sich selbst hin- und hergejagte Melanie nicht mehr. Ihr Gemahl aber, dem es schon zur andern Natur geworden, nach solchen Dingen, die ihn quälten, immer mehr zu suchen, als nach solchen, die ihm wohlthaten, hatte sich von ihr bis zur Tischzeit mit dem täglich wiederholten Bedauern entfernt, daß ihn nichts so verstimme wie die Abwesenheit des Generalpächters, eines Mannes, dessen Rückkehr er mit Ungeduld erwartete und dessen so unendlich werthvolle Bekanntschaft, da er Alles, was Ackermann hier unternahm, bewunderte, ihm wol gar verloren gehen könnte, wenn ihn, was er nicht hoffe, dringende Depeschen zeitiger vom Schlosse Hohenberg abriefen, als zu bleiben seine Absicht gewesen war.

[3323] Die Fürstin fand nach den mannichfachen Konversationen über Nichts, in denen sie bei solchen Standesbesuchen Meisterin war und nur zu lange, zu bezaubernd die Menschen fesselte, kaum noch Zeit, ihre Mittagstoilette mit Muße und Umsicht herzustellen. Sie hatte neue Umgebungen. Von jener Jeannette, die einst hier gewaltet hatte und bei dem jetzt arrangirten Lasally Faktotum geworden schien, war hier keine Rede mehr. Neue Verhältnisse, neue Menschen. Und neue Kleider! Die Putzsucht war Melanien geblieben. Der Fürst bestärkte sie darin, da ihm ihre Metamorphosen gefielen. Sie verrieth auch durch ihr Wesen nie, wenn sie ein neues Kleid trug. Sie kam mit Stoffen, die eben noch fast schon am Körper von den Nätherinnen fertig geworden waren und wo noch möglicherweise irgendwo zum Entsetzen der Kammerjungfern ein Seidenfädchen konnte unausgezogen geblieben sein, aber sie kam so in den Salon, als wenn diese neue Tracht schon längst mit ihr verwachsen war, ja als wäre sie mit ihr auf die Welt gekommen. Dieser letztere Ausdruck gehörte ihrer guten Mutter, Johanna Schlurck, geboren Arnemann. Diese brave Frau war in der Erziehung ihrer Tochter immer nach dem Prinzip verfahren: Einem Mädchen muß man es ansehen können, ob es mit Glaçeehandschuhen auf die Welt gekommen!

Diese guten Justizraths! Sie existirten für Hohenberg nicht. Fürst Egon schloß sie von allen Beziehungen zu sich, zu seinem Palais, zu seiner Existenz radikal aus. Die Mutter litt darunter und zwar furchtbar, entsetzlich.

[3324] Nicht deshalb, weil ihre Tochter eine Fürstin war: an alles Außerordentliche gewöhnt sich der Mensch sehr rasch; sondern weil die Fürstin nicht mehr, wie sonst, ihre Tochter sein durfte. Aber Franz Schlurck fand diese Trennung ganz in der Ordnung. In dem Briefe, den seine Tochter nach abgehaltener Tafel z.B. heute von Hause vorfand, sagte er ihr: »Mein gutes Kind! Dein Leben wird von tausend vereinzelten Kleinigkeiten so in Anspruch genommen sein, daß du solche Gedankenstriche und Ausrufungszeichen, wie sie in deinem letzten Briefe vorkamen, ganz aus deinem Systeme der Interpunktion entfernen solltest. Du hast nie gegrübelt, warum willst du es jetzt thun? Du bist die Fürstin von Hohenberg, Durchlaucht. Basta! Den Groll der Mutter, die nach ihrem sonst vernünftigen Naturell sich mit der Zeit in ihre Zurücksetzung finden wird, ertrage als eine vorübergehende Frauenlaune und sei versichert, daß ich dich in dem großen und wahrhaft philosophischen Lehrgange, den du mit deinem hohen Herzens- und Pflegebefohlnen befolgst, immer unterstützen werde. Den tiefern Sinn deines Wahlspruches: Entweder ein Bettler oder ein Fürst! hab' ich nie ergründen mögen, die Alternative war so schroff gestellt, daß ich jedenfalls lieber der zurückgesetzte Schwiegervater eines Fürsten, als der geliebkoste eines Bettlers bin. Also! Weiter im Text! Die Gedankenstriche, die bei der Stelle über meine Lage stehen, hab' ich eher verstanden. Doch waren deren drei nicht nöthig. Ich hielt schon den einen für überflüssig. In [3325] meiner juristischen Praxis, wenn ich alte Briefschaften und Familiennachlässe zu durchstöbern hatte, waren mir als die gemeinsten Briefe immer die erschienen, wo Väter und Mütter an ihre gutverheiratheten Kinder um Unterstützung schreiben. Du wirst sie auch in keinem gedruckten Briefsteller verzeichnet und in etwaigen Schematen dazu vorgemerkt finden. Und doch werden sie unglaublich oft geschrieben, was wiederum nicht für die Armuth mancher Eltern, wol aber für die Herzlosigkeit vieler Kinder ein schlimmer Beweis wäre. Bei uns ist Das anders. Ich weiß, meine Melanie ließe mich, wie es irgendwo heißt, mit Kapaunen und Nichtsthun auffüttern, selbst wenn beide, weil sie zu fett machen, überhaupt meine Sache wären. Herzenskind, laß das Alles gehen, wie's geht! Ordne dein überraschendes Verhältniß, wappne dich gegen die neidische Welt, schmiege dich unter deinen erzwunderlichen Gatten, ohne seine Sklavin zu werden und lausch' ihm die kleinen Lichtschimmer seiner mir eigentlich wie der Saturn so dunklen, aber ohne Zweifel doch großen Natur ab, für das Übrige müssen unsre unfreiwilligen guten Grundsätze sorgen. Die Mutter war von jeher für das Wasser und ein gewisser Pindar schon, ein alter Odensänger, der die irdische Belohnung der Dichter bereits zu kennen schien – trotz Guido Stromer's neulicher Anstellung im Süden mit 5000 Silbergulden – Pindar schon sagte: Wasser bleibt immer das Beste! Er hatte Recht. Der Mensch ist Erde und nichts ist der Erde nothwendiger als Wasser, wenn sie nicht – Staub werden [3326] soll. Sieh, die verdammten Gedankenstriche! Da mach' ich eben selber einen und einen recht kläglichen. Noch aber ist Das nichts als dumme Koketterie von mir. Ich denke nicht an's Sterben; ich lebe, wenn auch nicht vom Wasser, wie die Mutter, doch von der Luft. Die Luft ist klar und blau und hell, ich gehe viel spazieren. Schulden machen will ich nicht. Meine Prozesse haben abgenommen. Entweder ist die Welt friedlicher geworden oder die jungen Advokaten verstehen noch mehr Einreden als in den Pandekten und im Schmidt stehen. Mit meiner mündlichen Vertheidigung hab' ich Fiasko gemacht. Meine Jungfernrede vor den Assisen war Kinderlallen. Ich weinte, als ich nach Hause kam, obgleich mein Klient freigesprochen wurde. Die Qual, die ich letzten November ausstand, als die angeschwollenen, polnischen Zins-auf-Zins-Summen der Äbtissin Sibylle vom Kloster zum Herzen Jesu da sein sollten, dieselben Summen, die Jahre lang entweder Max Leidenfrost oder Jagellona Kaminska heben konnten, aber nicht heben wollten, weil Einer sie ganz dem Andern gönnte, Werdeck arm ist und der tolle Maler, der dich einmal verspottet hat, nicht reicher – lebendiges Beispiel, daß Großmuth und schrankenlose Tugend nur Unheil in der Welt stiften – ich sage, die Qual, die ich ausstand, weil diese Summe nicht da war und doch nur möglicherweise, furchtbare Hypothese! möglicher Weise gestohlen sein konnte – Melanie, als Alles verkauft werden mußte, was man sich entziehen kann, ohne daß es die Menschen sehen und darüber mit häßlichen [3327] schwarzbeflorten Redensarten kondoliren, wie man mir bei Abschaffung unsrer Equipage kondolirte und ich mit Anspielung auf Lasally sagte: ich habe das Kapitel des Pferdestalles satt und will nicht mehr an den Hufbeschlag erinnert werden, da – sieh, meine Perioden verwickeln sich – immer wenn vom Gelde die Rede ist, verläßt mich die Kraft des Styles – ganz im Gegensatz zu Hofrath Stromer, dem der Styl grade recht erst kommt, wenn das Geld im Kasten klingt – damals, damals, Melanie, als alles Das da war und nicht da war, damals hab' ich mir eine Empfindsamkeit zugezogen wie einen nicht endenden Katarrh. Ich bin wehmüthig gestimmt, selbst wenn ich Prozesse gewinne. Den Johanniterprozeß hab' ich halb und halb verloren, noch nicht für die Stadt – denn propinqui equites bleiben ein Räthsel. »Ritter und Reisige als Verwandte!« – aber verloren für mich. Die Administration wird neu beschaffen und wer weiß, was in Tempelheide jetzt aus dem großen Straußenei schlüpft, das dort von einem Kater, Namens Bafomet, ausgebrütet werden soll! Wenn die Wildungen wirklich gewönnen? ... Denkst du noch an den Morgen damals in meinem Zimmer? ... Neueres aus dieser Residenzwelt weiß ich nicht, als daß man sagt: Unterschlagen in diesem Prozesse wurden von Schlurck vielleicht einige Kommata, aber kein einziges Dokument fehlte – ich küsse deine süßen Hände, Kind – verschmitzt benutzt hat er sie und manchen absichtlichen Sprachschnitzer sich zu Schulden kommen lassen, der alte Lateiner ... sagt die öffentliche Meinung!

[3328] Was öffentliche Meinung! Frage den Fürsten, was öffentliche Meinung! Von Politik nichts – du sitzest ja in ihrem Centrum. Rathe dem Fürsten, sich mit dem Heidekrüger Justus und seiner Sorte auszusöhnen! Die Politik der Landwirthe, die nicht mehr und nicht weniger als circa 100 Morgen haben, entscheidet die Welt, d.h. die Mittelsorte! Oder darfst du nicht über das Rad sprechen, mit dem dein Ixion sich quält, es den Berg hinan zu wälzen? Neues? Unsre Katze hat wieder Junge und die Mutter sträubt sich jetzt gegen das Ersäufen. Ach, Kind, wo sind die Zeiten hin? Wenn Mietz sonst Junge hatte! Das Laufen und Rennen im Hause! Diese Freude und dieser Kummer! Es war als sollt' es Kindtaufe geben und als zankte man sich über die Namen und die Pathen. Jetzt aber – Mutters alte Art, diese Streitigkeiten durch einen Kübel Wasser und ein gründliches erstes und letztes Bad der jungen Brut zu enden, hat uns verlassen. Frau von Trompetta will die Mutter für einen Thierquälerverein gewinnen, in den die Mitbegründerin der deutschen Flotte sich zu stürzen beabsichtigt, seitdem sie eine Anwesenheit des Hofes in Tempelheide verpaßte und ihr Vetter immer noch nicht Minister ist. Der Hof besuchte die Akademie in Tempelheide, an einem Tage, wo grade Frau von Trompetta abwesend war! Das sagt Alles, was ein Leben in Verzweiflung stürzen und zum Thierquälerverein reifmachen kann. Sie hat sich erkundigt, was Alles die Königin in Tempelheide äußerte. Man hatte von der Thierseele gesprochen. Das war ihr genug, sich mit Propst [3329] Gelbsattel zu vermitteln, der kürzlich ersucht worden ist, die Initiative eines Vereines zum Schutze der Thiere zu übernehmen. Da man ihn über Nichts mehr um Rath frägt, den guten Propst, da er selbst beim Kunstverein das Präsidium verloren hat, so wurde er um so eher Präsident jener Verbindung, als die bevorstehende Entscheidung des Johanniterprozesses ihn um die von der Stadt ihm gehaltene Equipage und selbstredend dadurch allein schon um die Gelegenheit, Pferde zu quälen, bringen wird. Bartusch hat eine Anstellung im Rathhause. Der Alte ist bei der Statistik der Getauften, Gebornen und Verstorbenen angestellt. Sein Sprichwort: »Allerlei Gemenschel« kommt in glorreiche Anwendung. Seit ihm nicht gelang, den Taufschein eines gewissen Paul Zeck aufzufinden, der in der Biographie deiner hohen Gönnerin, deines Glücksschmieds Pauline eine Rolle spielt – ich kitzelte sie schon oft mit dem Namen Zeck, da ich weiß, daß Das ein Blitz über ihre dunkelste Lebensphase war – seitdem hat auch unsre Verbindung mit den Geheimnissen der hohen Aristokratie aufgehört. Sie wendet sich an jüngere Rechtsbeistände, die nichts erlebt haben, nichts von den Antecedentien wissen und blindlings glauben, wenn Matronen die Hände falten und von dem Rufe sprechen, wie von einem Spiegel, den ein Hauch trüben könne. O der Ruf! Dieser unsichtbare Galgen, an dem die zartesten Hände nach Herzenslust die Menschen stranguliren und lustig von unten nach oben rädern! Von wem willst du sonst hören? Von der Mutter? Sie projektirt, dir ein Opfer zu [3330] bringen. Sie will, daß wir auf's Land ziehen und dort Kinderzeug nähen. Wäre dein Gatte so grausam, unsre Verbannung zu wünschen? Es thäte mir leid, wie ein alter Pensionär in die Provinz zu ziehen. Aber sprich es aus, wenn es sein muß! Es ist auch vielleicht besser, ich läse nicht mehr an den Läden die nun erst gar mit den Eisenbahnen frisch angekommenen Austern und sähe nicht auf den Straßen sogar, denke aufunsern Straßen! – Seefische, die man auch sonst nur in unsrer Komthurei zuzubereiten verstand! Von Hackert erfuhr ich lange nichts. Ich hätt' ihn gern nach einem gewissen Ringe gefragt. Er lebt meist in der Brandgasse, jagt Mäuse und Ratten. Pax wird ihn so lange an sein Herz drücken, bis er sich seinen Henker und Nachfolger in ihm großgezogen hat. Der Lauf der Welt ist so. Auf dem Markt seh' ich immer in die Körbe der Krebsfischer! Wie's darin wimmelt, so ist die ganze Erde. Aber was Krebse! Der September hat ein R! Es gibt jetzt keine Krebse. Adieu, mein Kind! Amor schütze dich!«

Wehmuthsvoll, das Haupt gebeugt, zerrissen von dem in diesen Zeilen durch tiefen Schmerz aufschreienden Humor, angekettet an ein freudenarmes Loos, das der Welt so beneidenswerth erschien, saß Melanie und hing den trübsten Empfindungen nach. Es war ihr schon lange manchmal wie einem Wandrer auf einsamer felsiger Höhe, den nie von ihm gesehene dunkle Vögel umkreisen und ihm zuzurufen scheinen: Wende um, du findest in diesem Trümmermeere keinen Ausweg und die Nacht wird dich [3331] überfallen! Was zur Fürstin sie erhoben, sah Melanie wohl im Zusammenhange vor sich, aber räthselhaft blieb ihr die Folge dieser Umstände, die Kette dieser Zufälle doch. Sie konnte sich sagen, daß sie die Männer fesselte, blendete, aber nie hatte sie Vertrauen fassen dürfen auf die Dauer der Neigungen, die sie einflößte. Sie hatte mit zu bittrer Erfahrung erlebt, daß man sich in der Liebe zu ihr beherrschen, bekämpfen, sich ganz überwinden konnte selbst dann, wenn man ahnen mußte, daß sie selbst liebte. Immer nur der Augenblick hatte ihr wie ein flüchtiger Genius, ein lachender Engel mit Schmetterlingsflügeln schwankend auf einer Blume oder gar einer großen bunten Seifenblase, unsichtbar zur Seite gestanden. Weil ihr der innere Glaube an sich selbst fehlte, weil sie sich eines Nixenlooses, eines gebundenen Sirenenschicksals fast mit Wehmuth bewußt war, hatte sie sich von dem Bedeutenden, das sie fürchtete wie das ihren Zauber lösende zerstörende Beschwörungswort, fast ängstend entfernt gehalten. Nun war ihr ein Schicksal gekommen, das sie äußerlich, ihre kühnsten Hoffnungen überflügelnd, emportrug, und innerlich schien ihr doch der Tod ihr Verhängniß zu sein, der Untergang ihr Schicksal. Sie hatte diesen Fürsten Egon, diesen ihren Beschwörer, bei der Geheimräthin kennen gelernt. Nie würde er sie gefesselt haben. Es fehlte ihm die herausfordernde neckende Elasticität, die die Frauen, selbst wenn sie wissen, daß solche Männerscherze und Männerspiele nicht immer und zu Hause am wenigsten getrieben[3332] werden, dem Charakter, der Solidität und den Tugenden der aufrichtigsten Ehrbarkeit vorziehen. Sie wollen nun einmal umflattert sein, sie wollen den Schein der Freude, sie wollen sogar die Verstellung, wenn sie nur nichts Anderes lügt als Ergebenheit und Huldigung. Dieser Egon von Hohenberg aber tändelte und scherzte so selten, er war so ernst, dabei doch so siegesgewiß, so kalt und dann doch zuweilen so seltsam heiß. Der Heiterkeit Maaß fehlte ihm dann. Sie hatte kein Vergnügen an seiner Bewerbung. Lange freilich währte es, bis sie diesen Eindruck selbst errieth. Sie gab sich Egon, wie sie sich Dankmar Wildungen, als sie ihn für Egon hielt, gegeben hatte. Der Unterschied war nur der, daß Egon gefesselt blieb, während Dankmar mistraute. Egon war der Fürst von Hohenberg, warum sollte er an Enttäuschung glauben? Er war in der That nur glücklich bei Paulinen von Harder, der Feindin seiner Mutter, nur glücklich, wenn es hieß: Ist Melanie noch nicht da, wann kommt sie, wie bleibt sie so lange, jetzt rollt ein Wagen, das ist sie nicht, das ist sie! Und dann ließ er diese beiden Frauen um sich leben und weben, walten und schalten, genoß mit Behagen, daß sie für ihn lebten und webten, für ihn walteten und schalteten. Er ruhte sich bei ihnen von seinen gewaltigen Geistes-Anstrengungen aus. Die gescheuteste und die schönste der Frauen in der Residenz gehörten ihm. Und für immer wollte er Beide an sich fesseln, nie wollte er Melanie in eines Andern Armen wissen. Aber seltsam! Sein Ideal schwang sich, grade weil sie nicht liebte, zum [3333] Charakter auf. Sie verweigerte jede Gunst, die über die Grenze einer leichten Koketterie hinausging. Sie war, allein, gegen Egon nur so, wie sie es im Beisein Paulinen's sein durfte. Lange besann sich der Fürst, was da zu thun. Er wählte den Ausweg einer Standeserhöhung. Die vielgefeierte, allerdings für verlobt, verlobt mit einem zweideutigen Charakter geltende Melanie, Tochter eines seither hochangesehenen stadt- und landbekannten Mannes, konnte dieses Vorzugs nur gewürdigt werden, wenn damit zugleich ein glänzendes Zeugniß für Melanie's Sittlichkeit ausgesprochen wurde. Man würde eine illegitime Verbindung ewig verurtheilt haben, während man sich an die legitime in Kürze gewöhnte und sich ganz einfach sagte: Fürst Hohenberg ist arm, er will eine Häuslichkeit ohne ein Haus zu machen. Er hat eine Frau genommen, die er Niemanden zu zeigen nöthig hat und macht dabei die besten Geschäfte, er spart und hält die Hausfreunde ab. So die Welt. Egon aber? Ob wol in ihm der Gedanke lebte: Nach Louison und Helene, nach der Poesie deines Lebens, jetzt nur keine Etikette mehr, jetzt nur keine Ehe mit anspruchsvollen, dich in moralische Kosten setzenden Frauen, nur keine wirkliche, dich beunruhigende Fürstin! Sein »Egoismus« ertrug eine ebenbürtige Ehe nicht. Vielleicht auch eine ihn in stillen Stunden durchschauernde Pietät des Herzens für die Vergangenheit?

Das äußere Glück war also für Melanie selten und groß, aber das innere fehlte. Die Fürstin Hohenberg hatte sich nicht umsonst so besonnen gehalten, als sie sich an [3334] die Bewerbung eines Fürsten nicht sogleich wegwerfen wollte. In flüchtige und leichtsinnige Herzen zieht die Tugend oder diejenige Reflexion, die wenigstens wie Tugend aussieht, nicht ohne große Kraft ein. Die äußere Würde genügte ihr nicht, sie wäre so gern wahrhaft glücklich gewesen. Ihr Gatte war nicht leichtsinnig genug, sich in Schulden zu stürzen. Ihr Vater entbehrte nicht nur, sondern gerieth auch, was sie wohl durchschaute, in die bedenklichsten Schwankungen seines Kredits, wenn nicht gar in Schwankungen seiner Ehrlichkeit. Es war ihr wohlbekannt, wie furchtbar der Justizrath darunter litt, daß alle Welt die bei ihm aus diesen oder jenen geschäftlichen Vertrauensgründen niedergelegten Summen jetzt plötzlich sehen, jetzt plötzlich kontroliren, wiederhaben wollte. Dies Flüssigmachen von Kapitalien, die er nicht unter sieben Siegeln gehalten hatte, sagte Schlurck einmal, schwemmt mich noch eines schönen Morgens selbst in die – er nannte den Fluß, an dem die Residenz liegt, und Weib und Kind schrieen auf, sie wußten längst, was manchmal in ihm vorging ... Egon's Abneigung gegen die Eltern war eine große Qual für Melanie. Er hätte die Familie hundert Meilen weit entfernt sehen mögen. Ihm darin widersprechen hätte ihr unwürdig und unklug geschienen. Die Macht der Ehe nach dem Altar ungroßmüthig anwenden widersprach ihrem Charakter, widersprach ihrem freien Weltblick, den sie in der That der Philosophie ihres Vaters verdankte. Es war dies nichts Geringes in ihr. Der Fürst ahnte es sogleich, erkannte sie, [3335] schenkte ihr den unbedingtesten Glauben, liebte sie. Sie selbst wußte es, sie hatte Beweise seiner ihr allein gewidmeten Herzlichkeit, er kannte ihr Leben, ihre Vergangenheit, sogar ihre Jugendverirrungen und entschuldigte sie. Was sie auch erzählte, Egon hatte Alles geahnt, er entsetzte sich nicht, dachte sich in ihre Erziehung hinein, hatte ihren Thränen unbedingtes Vertrauen geschenkt und da sie tief, tief ihm zu danken hatte, so war sie glücklich unglücklich. Die selige Übereinstimmung mit Egon's Natur fehlte und sie mußte ihn doch nehmen, wie er einmal war.

Mehrere Stunden hatte die Fürstin in trüber Schwermuth so für sich hingebracht und bei Allem, was sie vielbefragt anzuordnen, vielbeschäftigt vorzunehmen schien – die Frauen können Das – immer doch einem und demselben Gefühle nachgehangen. Sie war für den Abend in einer andern Toilette, als die sie am Mittag getragen hatte ... Es boten sich oft Tagelang keine Gelegenheiten, mit ihrem Gemahl ein einziges trauliches Wort zu sprechen. Hier in Hohenberg hatte sie darauf gehofft; hier hatte sie sich sogar möglich gedacht, Egon's tieferer Natur etwas näher zu kommen. Er war von Paulinen befreit, er befand sich in jener Gegend, an die sich seine Jugend knüpfte und wo ihm selbst in jüngster Zeit noch Abenteuer, ja Vorfälle komischer Art begegnet waren; sie hoffte auf Heiterkeit. Vergebens! Egon blieb überhäuft mit Geschäften, verstimmt, absorbirt, und die wenige Muße, die er sich gestattete, verwandte er in dem [3336] ihm angebornen und anerzogenen Instruktionseifer auf seine gutsherrliche Lage, auf die Besichtigung seiner Güter und die Prüfung der ihn wahrhaft überraschenden, ja fast beschämenden Thätigkeit jenes Generalpächters Ackermann, den er auf Empfehlung des ihm geistig verloren gegangenen Dankmar Wildungen zum Wiederhersteller, wenn nicht seines Glücks, doch seiner Ehre gewählt hatte. Die Abwesenheit dieses Mannes, den er bewunderte, peinigte ihn. Er kam zu Melanie, als sie eben mit ihrer Abendtoilette fertig war und sagte:

Es ist leider sehr wahrscheinlich, daß ich aus der Stadt Briefe über Hofintriguen empfange, die wenigstens meine Anwesenheit hier abkürzen. Es wäre mir das widerlichste Begegniß, wenn ich Ackermann nicht mehr sehen sollte. Er würde mich, da die Ernte überstanden ist, jetzt in der Stadt besuchen können, aber ich hätte ihn hier sprechen mögen, hätte so gern von ihm hier mich führen, mir Alles, was er unternimmt, zeigen und erklären lassen. Glücklicherweise war ich vorhin im Walde dem Förster begegnet, der von Briefen spricht, die für heute Abend seine Rückkehr ankündigen.

Egon erklärte nun mit der ihm eigenen Vollständigkeit Alles, was er von Ackermann's Einrichtungen schon zu übersehen glaubte. Er wiegte sich in der Vorstellung, daß diesem Manne, der so uneigennützige, fast fabelhafte Bedingungen gestellt hätte, gelingen könnte, das Erbe seiner Väter wieder herzustellen und Melanie'n das Loos, seine Frau zu heißen, auch wahrhaft zu einem fürstlichen [3337] zu machen. Melanie hielt diesen auch heute von ihm beliebten Übergang fest und malte alle die Pläne aus, die sie mit dem gesteigerten Ertrage dieser Besitzungen verbinden wollten. Diese luftigen, natürlich nur scherzweise vorgetragenen Träume waren ihr willkommener als die Rundblicke Egon's auf die ihm so wissenswerth vorkommende Systematik Ackermann's und seine Fragen, die er an Melanie, die Ackermann doch gesehen hatte, glaubte richten zu dürfen: Wie ist sein Wuchs? Ist er alt? Warum trug sich wohl sein Kind in Knabentracht? Wie lange mochte er von Deutschland entfernt gewesen sein? Gesprochen hast du nie mit ihm? Er ist doch ein geborner Deutscher? Was trieb ihn wohl von dem heimathlichen Boden? Wie kam er nur auf den Gedanken, sich grade an meine verlorenen Besitzungen zu wagen?

In diese für den Fürsten sich immer mehr steigernde Aufregung fiel bald diese, bald jene Meldung. Die wichtigste war die, daß man einen politischen Verfolgten, dessen Spur seit einem halben Jahre verloren gegangen wäre und die man selbst im Auslande nicht wieder gefunden, unter den Dienstleuten des Generalpächters entdeckt hätte und ihn eben zur Haft brächte. War die Meldung vorläufig auch nur eine gerüchtsweise, so war sie doch schon störend genug und die Räthe des Fürsten, die sich schon zur Theestunde versammelten, hatten alle Ursache, befremdet zu sein, wie der Generalpächter zu dieser Wahl seines Hülfspersonals käme. Noch kannte man den Namen des Gefangenen nicht. Die Erwähnung des [3338] Thurmes in Plessen, die Nothwendigkeit, Verbrecher so nahe am Schlosse, wenn auch nur so lange beherbergen zu müssen, bis der Befehl zur Abführung nach einem nahegelegenen Landgerichte oder der Residenz gegeben war, war Allen drückend und Niemanden mehr als der Fürstin, die die unangenehme Wirkung der Erwähnung des Thurmes in ihrem Gemahle, dessen Beziehung zu ihm sie sehr wohl kannte, deutlich genug bemerkte. Die vorfahrenden Abendgäste brachten schon Kunde von der durch diese Verhaftnahme verursachten Aufregung in Plessen. Und nun kam einer der Sekretaire mit dem soeben vom draußen harrenden Oberkommissär gemeldeten Namen: Dankmar Wildungen! Dieser selbst! Der Vielbesprochene, der Allen Bekannte, der nach so entgegengesetzten Seiten hin die Welt in Anspruch Nehmende! Dieser jetzt hier und verhaftet! Egon erblassend tritt hinaus und will Pax selber sprechen. Herr von Zeisel begegnet ihm, noch erschöpft von seinem schwierigen Vorverhör und schon gedrängt von seiner Gemahlin. Auch die Fürstin erfährt den Namen. Ihr Erblassen wird von der Gerichtsdirektorin wohl erkannt, wohl verstanden. Der Generalpächter als Hehler politischer verbotener Feuerstoffe war bald durch die ganze Gesellschaft wie ein seltsames Fragezeichen tausend Auslegungen preisgegeben. Melanie hörte nur, zitterte nur, schwankte ... Egon kam zurück ... ja, es war in der That Dankmar Wildungen, derselbe, von dem Alle wußten, daß eine Kette von Zufälligkeiten und Abenteuern ihn mit dem [3339] früheren Leben des Ministers in den seltsamsten Zusammenhang gebracht hatte ... Dieser Abend wurde eine Folter. Gespenstische, schattenähnliche Begegnungen von allerlei Menschen unter einander, deren Ja und Nein, deren Excellenz! Durchlaucht! Ja wohl! Ganz gewiß! Haben Sie von dem Wasserfall im Gebirge schon gehört? O Sie sollten einmal die Wanderung nach dem Felsengrund versuchen! Kennen Sie Randhartingen bei Abendbeleuchtung? Alles nur wie um der Worte willen geführte Gespräche gemischt mit Theetassengeklapper, Kleiderrauschen, Kommen und Grüßen, o eine Phantasmagorie des Nichtigsten und Leersten ... und Das nun aushalten zu müssen, Das schüren zu müssen, wenn der Funke zu verglimmen scheint, Das ersticken zu müssen, wenn die Flammen eines Streites vielleicht zu heftig auflodern ... Die Fürstin saß hinter ihrem Theetopf in Verzweiflung. Der Fürst konnte doch ab und zu. Es wurden doch Thüren geschlagen, Pferde trappelten, Säbel klapperten, sie wußte doch, daß Egon, der so oft ihr schon gesagt hatte: er hielte es für die glücklichste Gunst des Zufalls, daß er nicht in die Lage gekommen wäre, diesem ihm einst und noch jetzt als Charakter und Mensch gleich werthvollen Dankmar Wildungen in unmittelbarer persönlicher Feindseligkeit gegenübertreten zu müssen, seine schmerzlichste Aufregung durch Fragen, Erklärenlassen, Befehlegeben, verbergen, wenn nicht mildern durfte ... sie aber, die in Dankmar mehr als den Freund ihres Mannes ehrte, sie, die in diesem Schlosse an seinem [3340] Arme gezittert hatte, ihn liebte, noch liebte, wie fast jeder Mensch ein stilles, wenn auch entsagendes Sehnen in sich trägt, sie sollte schweigen, sollte von gewöhnlichen Dingen reden, Jeden bezaubern, Jeden gewinnen, den Adligen sich versöhnen ... Sie hielt es nicht länger aus. Gegen halb zehn Uhr sprach sie von unerträglichstem Kopfweh. Die Damen bemerkten, daß sie das Haupt aufstützte. Die Fürstin ist angegriffen! Durch den Saal flog die Trauerkunde von der Migräne der Fürstin. Aber o Himmel, man ist auf dem Lande. Man ist hier so natürlich, so theilnehmend oder so interessirt zudringlich, daß man von allerhand Mitteln spricht gegen Kopfweh; von einem flachen Messerrücken an die Stirn gedrückt, von Citronensaft, von einem zu öffnenden Fenster ... erst die Räthe aus der Stadt gaben den rechten Rath, Aufhebung der Soiree.

Nach einigen Minuten war die Fürstin allein. Egon bestätigte die Verhaftung, erklärte die Identität, verwies vorläufig auf den Thurm. Retten, helfen konnte er nicht. Es war zu spät. Melanie fühlte dies Zuspät! nicht sich, wohl aber der Pflichtenlehre und dem Charakter ihres Mannes nach. Er erklärte die Anwesenheit Dankmar's grade bei Ackermann für eine Folge der Liebe Dankmar's zur Tochter des Generalpächters. Melanie bestätigte diese Vermuthung als die wahrscheinlichste Auslegung eines Aufenthaltes, der der erste trübe Flecken auf dem von Egon so hochgehaltenen Bilde des Generalpächters war. Sie sahen beide Alles, wie es wohl war und wie es sein [3341] konnte und schieden voll Schmerz. Egon, der noch zu arbeiten und sein Schlafzimmer im andern Flügel des Schlosses hatte, die Fürstin, die mit Schrecken von ihm hörte:

Es wird diese Unbesonnenheit ihm leicht einige Jahre Gefängniß kosten können, die nicht abzuwenden sind, falls die Genossen seiner Verschwörung nicht dazwischen treten. Wenn die Wildungen den Prozeß gegen die Stadt gewinnen sollten, erleben wir Verwickelungen, die eine Stellung wie die meinige leicht zu einem Kampf gegen Geister und Zaubereien machen dürften. Ich weiß nicht, ob man nicht von Glück sagen darf, daß bis dahin vielleicht die Partei Trompetta-Flottwitz am Ruder ist. Der Hof war in Tempelheide, hat sich von Windharfen und Naturmystik unterhalten lassen; General Voland liest jeden Abend die Kapitel seines neuen Werkes über die alchymistischen Vorstellungen, die das Mittelalter mit der Natur der Steine verband; die frommen Präsidenten drängen aus der Provinz herein. Wohlan! Man kann bald Gelegenheit finden, die Politik zu behandeln, wie jene Helden, die im Zauberwalde Armidens ihre Schwertstreiche auf Feinde richteten, die vor ihnen wie die Luft zerrannen!

Die Fürstin, die ein Großes und Gewaltiges im Leben nur ertragen und durchführen konnte, wenn eine erwiderte Liebe ihren Muth beflügelte, ihren Arm stärkte, Melanie begab sich zur Ruhe. Zum Thurme gehen, eine Befreiung zu wagen, List, Verschlagenheit anzuwenden, [3342] wie damals im Heidekrug ... Diese Zeiten waren vorüber. Sie ging zur Ruhe ...

Egon aber, als Alles im Schlosse still geworden und er allein war, öffnete das Fenster und blickte zu den Sternen auf ... Nie haben wir ihn mit sich selbst beobachtet. Nur seine Worte im Gespräch mit Andern, nur seine Thaten ließen wir für ihn reden. Es gebührte diese Zurückhaltung dem Bilde einer Persönlichkeit, die Alle als den lebendig gewordenen Egoismus nehmen. Dieser Charakter, fast von Allen verurtheilt, die mit ihm in nähere oder entferntere Berührung traten, konnte nur durch die Andern geschildert werden. Aber dennoch dürfen wir an die zerrissenen Empfindungen glauben, mit denen Egon an das geöffnete Fenster seines Schlafzimmers trat, die schon kühlere Nachtluft an seine heiße Stirn wehen ließ und voll Wehmuth auf den Garten des Schlosses hinunterblickte, auf die Bäume und Boskette, hinter denen der Gerichtsthurm des Dorfes Plessen versteckt lag. Wenig über ein Jahr war vorüber und was hatte sich Alles seitdem begeben! Nur die Jedem, wieviel mehr einem Hochbegabten sich aufdrängende Überzeugung, daß wir in einer Zeit der gewaltigsten Umwälzungen inner- und außerhalb der Menschenbrust leben, konnte die Wandlungen glaublich erscheinen lassen, die seit dem Tage, wo Dankmar in die Gefängnißzelle des Fürsten trat, die er nun selbst bewohnte, diesem geschehen waren! Egon war sich selbst kein Räthsel, aber er fühlte es mit Schmerz, daß er ein furchtbares Andern sein mußte. Jener Stunden, die ihn [3343] im Thurme um die Freundschaft eines jungen, unternehmenden Kopfes werben ließen, gedachte er jetzt mit solcher Lebhaftigkeit, daß er auf einen Sessel niedersank, an der Brüstung des Fensters sein Haupt aufstützte und sich in Empfindungen wie diesen kaum zu sammeln wußte:

Du Ärmster! sagte er sich. Würde Alles so gekommen sein, wenn das Geheimniß des Bildes, das Geständniß der Denkwürdigkeiten deiner Mutter dich nicht in deiner Bahn plötzlich an einen entsetzlichen Abgrund geführt hätte, wo du die Besinnung verlorst und dich an die einzige dir nahestehende Hand klammertest! Diese Mutter, die sich einbildete, mich Demuth zu lehren und mich die Lüge lehrte! Hoffte sie, daß ich von meiner weltlichen Stellung herabsteigen, mein Leben der innern Beschaulichkeit, der entsagenden Demuth widmen würde? Sie hat sich vielleicht nicht getäuscht. Sie hat vielleicht den Punkt getroffen, der meine Zukunft, wenn ich noch eine haben werde, mehr bedingt, als die Liebe, die Bewunderung oder der Haß, den ich in meinem gegenwärtigen Mühen ernte! Aber im ersten Augenblick des Schreckens verlor ich die Besinnung. Die Lüge war hier eine nothwendige, eine erlaubte Selbsthülfe. Der Makel der Geburt brannte so auf meinen Stolz, der Zorn des Sohnes über eine durch die Religion verblendete Mutter wallte so siedend in mir auf, daß ich gerade mit Leidenschaft Das sein wollte, was ich nicht bin. Die Sitte ist auch hier das Gesetz. Die Sitte heiligt auch hier die Unsitte. Es ist wie [3344] im Staat, seine Mängel geben nicht das Recht, ihn selbst zu zerstören. Ich bin der Fürst von Hohenberg. Aber daß ich es sein wollte, daß ich mit einem Schrei der Verzweiflung gegen die Entdeckungen, die mit dieser Pauline hätten entschlummern können, mich sträubte, mich gegen mein Schicksal bäumte, Das wurde der Anfang aller Leiden meiner Seele und es ist mir wie ein Bild der Zeit, denn diese Extreme, die mich stürzen werden, verrathen noch mehr als ich, daß in ihr etwas morsch und faul ist und man die Prozedur einer sittlichen und strengen Revision mit diesen Zuständen nicht mehr wagen darf!

Es schlug schon eilf Uhr vom Dorfthurme herüber ... Nächtliche Vögel schossen, rasch im Kreise mit hängenden Flügeln sich wendend, an den Fenstern des Schlosses vorüber ... Egon träumte fort:

Auch Dankmar Wildungen wird diese Schläge der Uhr hören, er wird sie zählen wie ich, er wird auf mich vielleicht rechnen! Oder nein! Er war mir an Einsicht schon damals überlegen, als ich ihm so zerflossen, so abentheuerlich und in der Gefahr feige erschien! Wie war ich hastig, unsicher, von meiner Lage fast bis zu tragischer Besinnungslosigkeit überrascht! Wie schäm' ich mich, als dieser Posa seinem Carlos erwiderte: »Gibt es denn noch Freundschaften?« Du hast Recht. Es gibt keine, Dankmar Wildungen! Und doch ist es eine Wahrheit, daß grade wir Menschen, die die Welt als Götzendiener des Ich's verurtheilt, die unendlichste Sehnsucht nach Liebe haben! Grade wir Egoisten, wir Kaltgescholtenen schmachten [3345] nach dem Thau des Verständnisses, grade wir leiden unter der Einsamkeit, die sich um uns her wie eine wüste Steppe ausbreitet, leiden wie etwa die großen Männer leiden müssen, die man nur in ehrfurchtsvoller Ferne bewundert und denen aus Scheu Niemand sich zu nähern wagt, wie den höchsten trauernden Schneespitzen der Alpen. Ich hoffte einen neuen, deutschen Armand in dir zu finden und dachte mir darunter einen Bewunderer meines Werthes, einen Diener meiner Launen, ein Werkzeug meiner schon damals gehegten wenn auch nicht ausgesprochenen Plane. Der feine Kopf verstand die Absicht, die ich selbst nicht fühlte. Er sah an Louis Armand, was ich mir unter ihm wohl dürfte gedacht haben und mistraute der aufdringlichen Zärtlichkeit eines Hochgestellten, der in der That die Probe nicht bestand. Ich verlor ihn, mit ihm Louis Armand, mit ihm Helenen, ich verlor die selbständige Liebe und gewann vielleicht nur die sklavische ... es ist nicht gut, die Liebe Derer nicht ertragen zu können, die sich doch auch ein wenig selber achten.

Der Fürst Egon von Hohenberg war wie seine Mutter. Er wühlte in den eignen Eingeweiden und bestätigte auch darin eine Erfahrung, die man oft an großen Männern gemacht haben will, daß ihr Denken nicht ihr Handeln ist. Ihr Denken ist ein Auflockern der ganzen Innerlichkeit, ihr Handeln nur Eines, ein entschlossener Aufschwung, eine energische That. Die weiche Empfindsamkeit der Größe würde kein Geheimniß der Seelenlehre sein, wenn die großen Menschen ihre Gedanken belauschen ließen [3346] und die Fülle von Erwägungen bloßgäben, die sie im Zustande der Ruhe anstellen und die sie nur in dem Augenblick bannen, wo irgend eine Gefahr ruft, irgend ein Entschluß mit Blitzesschnelle gefaßt sein muß. Egon sprach klein, ohnmächtig, zagend von sich und in diesem Augenblick hätte das Posthorn eines Kuriers ertönen, eine Depesche hätte ihm überbracht werden dürfen, die einen raschen Entschluß erforderte, er würde sich nicht fünf Minuten besonnen haben, den Befehl zu ertheilen, der ihm der nothwendige und den Verhältnissen angemessene erschien.

Doch blieb es still. Nur ein schärferer Nachthauch fuhr durch die herbstlichen Blätter ... der Fürst schloß das Fenster ...

Noch floh ihn der Schlaf. Noch drückten zu viel der Lasten die Brust eines Mannes, der bei der eisigen Athmosphäre der Politik doch noch nicht ganz in seinem innersten Herzen erstarrt war.

Was trennt mich denn von Euch, sagte er noch hinausstarrend durch die geschlossenen Fenster in die Nacht und die Hände zusammengefaltet im Schooße ruhen lassend, was hat denn unsere Bahnen so unterbrochen, daß sie nicht mehr zusammengehen konnten? Standesvorurtheile? Die Verschiedenartigkeit der Interessen? Ihr denkt so, ich weiß es und eine Weile, als ich mit Eurer Hülfe an jenem stürmischen Abende in Paulinens Villa das Testament der Mutter erobert hatte, dachte ich selbst nicht anders. Aber schon hatte ich den Träumen widersprochen, [3347] mit denen Ihr die Welt zu bessern gedachtet, schon mein System der Pflichten aufgestellt Euerm System der Rechte gegenüber. Was ist zu thun, wenn zwei streitende Gedanken plötzlich auseinandergerissen werden von dem Leben, das dem Einen sagt: Lasse Das! und dem Andern: Thue Das! Die Aufforderung zum Handeln kommt, so lange die Erde stehen wird, wohl an jeden Gedanken zu früh. Immer wird ihm noch etwas an seiner Reife fehlen, immer wird ein Moment ihm noch zu gewinnen sein, die allgemeine Übereinstimmung, und schon soll er handeln, schon das Leben umgestalten, schon sich in der Welt, wie sie gegeben, fest bewähren. Da hatt' ich keine Möglichkeit mehr, mit Euch zu wandeln. Die große Aufgabe des Staatsmannes traf mich überraschend, aber nicht unvorbereitet. Ich hatte Das, was Genf, was Bonn und Göttingen mich lehrten, nicht vergessen, in Paris hab' ich nicht aufgehört, mein theoretisches Rüstzeug zu mehren, es zu schärfen, rein zu erhalten vom Roste der Alltäglichkeit. Das Denken, das Lernen, das Aufspeichern war mir, als ich mit dem Volke lebte, eine klösterliche Vorbereitung auf einen Beruf, den mir der Zufall schenkte, denn suchen konnt' ich ihn nicht, in dieser süßträgen Lethargie nicht, die wir unter Büchern und Frauen empfinden. Es gibt keine gefährlichere Wonne, als die Liebe einer schönen Frau verbunden mit dem Luxus der Ideenbereicherung durch bloßes geistiges Aufnehmen aus Büchern, Reisen, allen erdenklichen Wissensquellen, nur nicht dem Born des eignen Arbeitensollens, [3348] des eignen Schaffens! Ionischer Himmel, die Liebe Kleopatrens und die Bibliothek von Alexandria ... an dieser höchsten aber gefährlichen Seligkeit des Lebens, zugleichgenossen, sind die größten Genies zu Grunde gegangen ... ich wollt' es nicht, ohne darum ein Genie zu beanspruchen.

Die unwillkürliche Erinnerung an Helenen trieb Egon vom Sessel empor. Es schauderte ihn hinüberzublicken auf die Fenster, wo eben Melanie's Licht erlosch ... Helene blieb ein Akkord in seiner Seele, der, selbst wenn sie einem Maler Namens Heinrichson gehören und jetzt mit diesem in Paris weilen konnte, ihm einen Schmerz verursachte, wie wenn er sich plötzlich in einem Gefängniß erblickte. Er trat auf mit schallendem Fußtritt, er fühlte sich elektrisirt, er wußte nicht, ob vor Wonneschmerz oder vor Wuth, er hätte an Eisenstäbe greifen, an ihnen rütteln mögen ... er konnte sich nicht beruhigen, ehe er nicht die kühlen feuchtansetzenden Scheiben des Fensters an seiner Stirn fühlte. An diese lehnte er sich und dachte mit Klagen:

Was wär' es nun, wenn ich den Mantel nähme, diese Zimmer verließe, den Berg hinunterschritte, an den Thurm träte und, der Wachen nicht achtend, die ihn hüten werden, zu dem Fenster emporriefe: Schläfst du, Wildungen? Fürchte nichts! Mich schwindelt auf der Bahn, die ich wandele! Dein Märtyrerthum ist größer als meine Freiheit! Und wenn du Freiheit willst, ich will sie dir geben, will mit dir fliehen, hinaus in die Welt, in ein [3349] Felseneiland, will dies künstliche Gewebe, das mich umsponnen hat, zerreißen, dies Gehäuse zertrümmern ... ich will ein Genosse deines Bundes sein, dieser furchtbar anwachsenden, wie das Erzgeäder in einem Bergschacht verbreiteten und dich vor uns verurtheilenden Ritterschaft vom Geiste ...

Es war ein Augenblick, der ihn so überflog, so aus der künstlichen Selbstbeherrschung und der Aufgabe, die er für die Welt durchführte, hinausschleudern konnte ... Melanie, Pauline, Amanda, das waren Namen, die ihn immer nur starr machten, kalt, entschlossen ... Bei Helenens Namen aber überwehte es ihn wie einer jener weichen Südwestwinde, die wie auf feuchten Schwingen mild und lockend uns plötzlich anhauchen nach langer trockner Witterung ... Die Verführung dauerte aber nicht lange. Sie hörte mit dem Anruf der Wachen auf, die er vom Thurme hörte. Es waren Gendarmen, die die Posten wechselten ... morgen in der Frühe sollte der Gefangene in einem verschlossenen Wagen in die Residenz geführt werden.

Ah! der Fürst strich sich gleichsam das Haar von der Stirn zurück. Er vergaß, daß sich der Scheitel nach seiner Krankheit völlig gelichtet hatte, während der Rest, der ihm geblieben, schon graue Spitzen zeigte. Er runzelte die Augenbrauen und stellte die Lichter so, daß er nicht in Versuchung gerieth, sich im Spiegel zu erblicken. Er war zerfallen wie schon ein welkender Mann, während er etwa dreißig zählte. Aus jeder Kammersitzung kam er [3350] erschöpfter. Wenn er bei sich anfuhr, schlich er die Treppe hinauf, warf sich in ein Kanape und verlangte eine halbe Stunde Ruhe um sich her, da er nicht sprechen konnte und vom leisesten Geräusch gereizt wurde. Oft zuckten ihm Muskeln des Gesichts, ohne daß er es selber merkte. Wie todt streckte er sich dann, ließ die Arme hängen und staunte tief in sich selber, daß diese ohnmächtige Hülle ein ihm selbst noch fühlbares Bewußtsein enthielt. Durch narkotische Mittel hatte er oft schon auf Schlaf gehofft. Die Natur wurde aber dadurch nur noch mehr gebrochen. Die Gesichtsfarbe wurde gelb, ein Beweis, daß die Leber litt bei einem Ärger, den ihm nicht etwa der Widerstand der oppositionellen Elemente verursachte, sondern die Treulosigkeit seiner eignen Bundesgenossen und die Undankbarkeit Derer, für die er wirkte. Egon stritt gern über Prinzipien. Eine Rede gegen die Demokratie hob ihn, erheiterte ihn. Eine Rede gegen die Parthei der reinen Konstitutionellen, gegen die Fractionen Justus und Ähnliche verursachte ihm Appetit für den Mittag, denn er gab Diners, bei denen er kaum mehr als einige Löffel Suppe aß. Aber Das, was an seiner Leber nagte, war die Überzeugung von der tiefen innern Verdorbenheit des Staates, den er vertheidigte, und seiner Organe selbst. Der Ehrgeiz der Beamten, die heimlich den Boden unter ihm durchwühlten, konnte ihm Anfälle von Raserei machen. Er sah da Menschen, die in stillen Zeiten emporgekommen waren, nie ein Prinzip hatten als das der Beförderung, auch nie um ein anderes gefragt wurden, da die alte Zeit[3351] alle Berufung an die Gewissen der Menschen ausschloß, Menschen, die nun auf bedeutenden Posten stehend sich bei dem großen Kampfe, den er auszufechten hatte, wie müßige Zuschauer gebehrdeten. Man beneidete ihm hier seine Stellung, die rein eine Folge des parlamentarischen Lebens war. Ohne für das Beamtenthum gebildet gewesen zu sein, war er Staatsmann geworden. Seine Jugend, sein Mangel an Bekanntschaft mit dem gewöhnlichen Geschäftsgange der Ressorts, die er durch Ministerialvorstände verwalten ließ, während er sich die Prinzipien vorbehielt, nach denen die einzelnen Fälle entschieden wurden, sein Terrorismus, der in der That von Monat zu Monat zugenommen hatte und in eine brüske Reizbarkeit ausartete, alles Das hatte angefangen, ihm seine Stellung sehr schwierig zu machen. Er nannte die neutrale Gleichgültigkeit hochgestellter Beamten Buhlerei mit der Revolution. Er sprach von der mephistophelischen Bosheit der gewesenen Minister, die Gott und dem Genius des Vaterlandes hätten danken sollen, daß er das ihnen mislungene Werk vollführte, die Hydra der Revolution bändigte, und die statt dessen in den Kammern und der Gesellschaft eine gravitätische Ruhe affektirten, jeden seiner Anträge erst prüften, in den Commissionen die gründlichsten Ausweise verlangten und ihn so hinstellten, als wenn er zwar die Ausübung der Macht, sie aber die Macht selber wären. In der That hatte sich bei Hofe und in der Adelskoterie auch schon die Meinung festgestellt, daß diese ganze Politik des Fürsten Egon von [3352] Hohenberg nur von der Gnade der großen durch die Umstände zum Feiern gezwungenen Köpfe lebe, die sich wie Pairs des Reiches im alten catalonischen Sinne gebehrdeten. Die Art Ständevertretung, die Egon selbst früher bezweckt hatte, war eine Idee gewesen, die man, als er sie den nächsten Rathgebern des Königs vorschlug, erst bewunderte. Als aber die Emeuten besiegt waren, als man einige Beispiele von Kraft auf der Straße und in den Vestungen gegeben hatte, als sich tonangebende selbst hochgestellte Demokraten nicht mehr aufrecht erhalten konnten, sondern im Auslande lebten oder sich durch einen Bund nur stärken konnten, der in diesem Augenblicke die einzige Beunruhigung der Gesellschaft war, da drang auch Egon mit seiner Theorie der Arbeit nicht mehr durch und war schwach genug, verwöhnt genug schon durch die Macht, gereizt genug schon durch den Zorn, seine übrigen Werke den Nachfolgern überlassen zu sollen, daß er sich anbequemte und Gedanken annahm, die eben auch in der konservativen Sphäre die üblichen Allerweltsgedanken waren. Die Freunde, Dankmar an der Spitze, der nun in seine Hand Gegebene, hatten ihm diese Wendung vorausgesagt. Er konnte sie nicht vermeiden, haßte darum aber auch nicht wenig die Urheber dieses Zerwürfnisses mit sich selbst und diese Urheber saßen dicht in der Nähe des Monarchen, buhlten um seine Gunst, waren die tägliche Genossenschaft der auch ihm unzerstörbaren kleinen Cirkel. Der Hof genoß die Ruhe, die Egon dem Lande schaffte, in brusterlösenden, athembefreienden [3353] Zügen. Das war eine Seligkeit, so die Gefahren allmälig verschwinden zu sehen, wie verrollende Donner. Die großen Mächte hatten sich wieder gefunden, die Höfe sich ausgesöhnt, die nationalen Reibungen wurden für falsche Deckmäntel der Revolution ausgegeben. Die Monarchen wollten sich unter sich selbst verstehen, sie schlossen sogar die Minister aus und erklärten, wohl zu verstehen, worauf es in Europa ankäme, nämlich lediglich auf ihre Selbsterhaltung. Sie wollten nur Armeen, nur Soldaten, nur Kanonen, nur Orden, nur Geld. Das Übrige, selbst an den ihnen ergeben scheinenden und doch nicht ganz spezifisch geläuterten Staatsmännern, war überflüssig und nicht selten verdächtig. Ganz besonders war es die junge Königin, die genug mit tonangebenden Fürstinnen dieser Zeit korrespondirte, um diese Idee energisch zu vertreten. Es kostete Mühe, wenigstens dem Könige noch den General Voland und seinen weltträumerischen, sentimental haltlosen Standpunkt zu retten. Die Königin verdächtigte Alle, ausgenommen einige Kammerherren, einige Offiziere, einige Präsidenten und Räthe, einige Professoren, einige Zeitungsschreiber. Sie erklärte, daß im Augenblick der Gefahr sich im Grunde Niemand bewährt hätte, und als der König erwiderte: Aber General Voland würde es, wenn er nicht gerade auf Reisen gewesen wäre! widersprach sie zwar nicht, bemerkte aber, der Staat käme ihr vor wie ein schwankendes Schiff, Alles renne auf ihm hin und her, Jeder wolle helfen und grade von dem Rennen, grade von dem Helfenwollen verlöre [3354] das Fahrzeug das Gleichgewicht und schlüge über; es solle daher nur Jeder ruhig auf seinem Platze sitzen bleiben, dann würden Alle gerettet werden. So konnte sie auch an Fürst Egon zwei Dinge durchaus nicht ertragen. Einmal: seine mangelnde »Sittlichkeit« und zweitens die geringe patriotische Schwärmerei. Grade das Tiefsittliche in Egon, grade das gegen den Hang der Natur in ihm fortwährend Rebellirende verstand sie nicht. Sie wollte die Demonstration der allgemein herrschenden Sittlichkeits-Grundsätze. Sie wollte Kirchenbesuch, Adelsgefühl, die Theilnahme an dem Esprit de corps jenes moralischprüden Wesens, wie man es einmal eingeführt und festgehalten wünschte. Egon paßte in diese Kategorieen nicht. Er besuchte die Kirche nicht, er that nichts für die innere Mission, er heirathete ein schönes, den verschiedenartigsten Urtheilen ausgesetztes Mädchen. Er führte diese Frau zwar nirgends ein, muthete Niemanden zu, ihr zu huldigen, ließ sie nur da gelten, wo man sich ihr zu nähern sich selbst gedrungen fühlte; aber auch in diesem Stolz lag etwas Verletzendes für die hochgestellten Menschen, die unbedingt einmal nicht wollen, daß sie in irgend einem Vorfall der Welt umgangen, in irgend Etwas unberücksichtigt, vermieden bleiben. Dieser Stolz des Fürsten wurde vollends beleidigend für die Sphäre des Hofes, wenn Egon von Hohenberg gar so that, als wäre der Staat ein Erstes und die Monarchie doch erst ein Zweites und nun gar dies Königshaus wohl selbst erst ein Drittes. Die reaktionäre Wildheit und Blindheit hatte [3355] grade umgekehrt nicht nur die Monarchie, sondern grade diese Monarchie, dies Herrscherhaus grade mit seinen Erinnerungen, seinem historischen Gepränge, seinen Wappen und seinen Bannerfarben für das Erste im Staate und den Staat selbst erst als das Zweite erklärt und in einer solchen Ideenwelt stand Egon trotz seiner Demokratenverfolgung, trotz seiner rücksichtslosen Bekämpfung der ihm anarchisch scheinenden Gesellschaftselemente, gradezu wie ein Fremdling da. Und sonderbar, Pauline von Harder hatte Recht, als sie ihm einmal, da er bei irgend einem Anlaß von seinem wahren Vater Heinrich Rodewald gesprochen hatte, erwiderte: Im Gegentheil, Egon! Sie besitzen ja einen Adelstolz, wie ich ihn bei keinem Marschalk, keinem Harder angetroffen habe! Sie sind ja das ganze Bild jenes unabhängigen Adelsgeistes, den die Fürsten im Grunde so sehr fürchten, wenn er nicht zu Hofe hält und von der Sonne ihrer Huld sich bescheinen läßt! Wissen Sie denn, daß Amanda von Bury stolz war und ihren Adel höher hielt als den der Hohenbergs, bis in der That die Fürstenkrone sie ganz verwirrte? Ihr tiefes Körperleiden, ihre geringen gesellschaftlichen Erfolge untergruben sie. Voll Schmerz und Zorn floh sie auf die ländliche Zurückgezogenheit ihrer Güter und ich kann mir's denken, daß trotz aller Selbstkasteiung, trotz alles Beichtbedürfnisses sie eine eigenthümliche Befriedigung darin gefunden hat, Ihnen zu sagen, daß Sie ihr Sohn, nicht der des gefürsteten Grafen Waldemar von Hohenberg sind! ... Egon lehnte diese Vermuthung, lehnte [3356] seinen Adelsstolz ab und nannte sich nur einen Staatsphilosophen, der an seiner eignen Geschichte erkenne, was eigentlich den modernen Staat wurme und an ihm zehre; es wäre dies das tiefe Gefühl seines eignen innerlichsten Irrthums! Am Hofe mußte er bei solchen offnen und verschwiegenen Auffassungen längst für einen Grillenfänger gelten, den man nur noch zu schonen hatte. Man schonte ihn, weil man noch keinen Nachfolger hatte und erst allmälig die Menschen, die besonders die Königin ihm aus den Reihen der frömmelnden und servilen Beamten oder der bramarbasirenden Junker gern substituirt hätte, von ihren niedrigen Stellungen in der Beamten-Hierarchie emporsteigen lassen mußte. Egon erkannte diese Politik sehr wohl und unterschrieb die Beförderungspatente von Legationssekretären, Subaltern-Offizieren, bisherigen Landräthen, reaktionären Zeitungsredakteuren einst mit einem Worte, das man am Hofe sehr abscheulich fand: Jeder Mensch ernährt mit seinem besten Lebensblut die Würmer, die ihn tödten, die aber dafür auch zuletzt den hohen Genuß haben, an seinem Leichnam sich selber todt speisen zu dürfen.

Mit düstrer Verbitterung sich in alles Das ergebend, was sich in seinen Verhältnissen zu den früheren Freunden nun einmal so und nicht anders gestaltet hatte, ging der Fürst gegen zwölf Uhr endlich zur Ruhe. Hatte ihn gleichsam die eigne Schuld Dankmar's an dessen Loose beruhigt, hatten ihn wieder die Papiere versöhnt, die er über Ackermann's Verwaltung neben seinem Bette [3357] liegend fand, er schlief besser als jemals und hörte am Morgen spät erwachend mit ruhiger Gelassenheit, daß der Gefangene schon in aller Frühe in einem Wagen zur Residenz abgeführt war.

Er fährt einer Überraschung entgegen, sagte einer seiner in der Frühe mit ihm arbeitenden Räthe, er wird den Prozeß gegen uns und die Stadt vielleicht gewinnen! Der Generalpächter soll gestern Abend die Nachricht mitgebracht haben, daß zwei kleine Pünktchen in den alten lateinischen Urkunden die Entscheidung herbeigeführt hätten.

Ist Ackermann also da? fragte Egon, trotzdem, daß sich Dankmar bei diesem verborgen gehalten, von der Nachricht seiner Ankunft angenehm berührt. Er hoffte, sich gegen ihn aussprechen zu dürfen. Er hoffte, ihm sagen zu können, daß er seine Nachsicht aus Liebe zu Selma, seinem Kinde, verzeihlich finde. Er hoffte, Versicherung geben zu können, daß gegen Dankmar nur der Verdacht vorläge, Stifter eines geheimen, den Staat bedrohenden Bundes, keiner eigentlichen Verschwörung zu sein ... er hoffte auf eine, seine Brust erleichternde Unterredung mit diesem Landwirth, der ihm unter so vielen Querköpfen, mit denen er zusammenstieß, seit lange die gediegenste und tüchtigste Natur erschien ...

Er hatte die Absicht, im Laufe des Tages das Schloß zu verlassen und in die Residenz zurückzukehren, wo seine Gegenwart bei der wühlerischen Unruhe der Königin und ihrer Partei nothwendig schien ...

[3358] Eine Anfrage an die Fürstin, ob sie geneigt wäre, für heute schon die gemeinschaftliche Rückreise zu gestatten, brachte die Antwort: Mit Freuden!

Egon fühlte, daß Melanie unter Dankmar's Schicksal litt. Er wußte nicht, daß sie ihn geliebt hatte, er wußte nicht, wie sie ihm jenes Bild der Mutter erobern half, aber er wußte, daß er ihr werth war und zu seiner Philosophie gehörte es, einem Weibe, das man liebt, nicht die Vergangenheit vorzuhalten. Er hatte Das auch bei Helenen nie gethan und bei Melanie dafür neue Beweise gegeben.

Um neun Uhr wollte er die Fürstin sprechen ... es hieß, sie hülfe räumen, einpacken ...

Um zehn fragte er ungeduldig, wann denn endlich Ackermann käme ...

Um halb eilf kam Herr von Zeisel und berichtete über Dankmar Wildungen und seine ruhige Ergebung in das ihm widerfahrene Geschick. Überraschend war die Mittheilung, daß der Generalpächter schon gestern Abend, als er Herrn von Zeisel mit dringender Theilnahme wegen des Gefangenen im Amthause befragte, die sonderbare Enthüllung über seine Person gegeben hätte, daß er bisher von Verhältnissen gedrungen gewesen wäre, einen andern Namen zu führen, als der ihm eigentlich gebühre. Er bäte davon Act zu nehmen. In der Residenz hätt' er sich aus Ursachen seinen Verwandten erst jetzt entdecken können und bäte ihn nun ... zu nennen ... aber wie?

Egon fand es sehr in Herrn von Zeisel's Art, daß er[3359] den zu seinem neuen Befremden erst jetzt angegebenen wahren Namen des Generalpächters nicht behalten hatte.

In demselben Augenblicke aber wurde von dem Bedienten der Generalpächter Rodewald genannt, als derjenige, den Se. Durchlaucht jetzt in der That sprechen könnten, er stünde im Vorzimmer ...

Wer? fragte der Fürst und glaubte nicht recht gehört zu haben ...

Richtig! Rodewald! sagte Herr von Zeisel und gab nun mehrmals den Namen an, der ihm entfallen war. Rodewald! Der Generalpächter erzählte mir in der Theilnahme für das Geschick seines vermeintlichen Schreibers, den er duldete, weil er seine Tochter liebte, daß er vor dreißig Jahren auswanderte, der Sitten und Beziehungen der Heimath unkundig, nicht ahnend, daß er die Verantwortlichkeit einer Schuld auf sich lade, die auch vielleicht geringer wäre, als sie die Gesetze darstellten ...

Welcher Name? sagte der Fürst fast schon tonlos ...

Rodewald! wiederholte der Justizdirektor. Ich werde die Verdienste und das Genie dieses Mannes nie in Abrede stellen. Er hat sich eine Aufgabe gestellt, die über meine Kräfte gegangen wäre. Es ist ein Kameralist in der besten Bedeutung des Wortes. Nach seinen Mittheilungen glaub' ich zu schließen, daß diese Übernahme der Güter Ew. Durchlaucht ihm rein eine Sache der Liebhaberei und dabei ein heiliger, ja edler Ernst ist und ich möchte bitten, meinem guten Nachbar das Versehen ...

Aber Herr von Zeisel mußte eine eigenthümliche Wirkung [3360] seiner freundlichen Rede bemerken. Er sah, daß der junge Fürst schwankte, sich zum Herzen griff, nach seinem Stuhle langte ...

Um's Himmelswillen, was ist Ihnen, Durchlaucht? rief der gutmüthige Mann und wollte klingeln.

Der Bediente entfernte sich rasch, wollte Wasser holen, rief ohne Zweifel dem wahrscheinlich noch mehrere Zimmer entfernten Rodewald zu, er möchte später kommen ...

Der Sekretair des Fürsten begegnete aber dem Bedienten schon und hatte eine Karte in der Hand, die er dem Fürsten von dem Harrenden noch übergeben sollte ...

Egon erholte sich etwas und vernahm, was ihm unter Fragen nach seinem Befinden gemeldet wurde ...

Der Generalpächter hätte diese Karte abgegeben, die den vollständigen Namen enthalte, den er seit acht Tagen führe ... er bäte Se. Durchlaucht um Verzeihung über sein langes Ausbleiben ... Familienverhältnisse hätten seine Rückkehr verzögert ...

Indem las Herr von Zeisel die Worte:

Heinrich Rodewald, Generalpächter der Besitzungen Sr. Durchlaucht des Fürsten von Hohenberg ...

Egon griff nach der Karte, überflog sie ... man brachte Wasser ... Er schien sich aber erholt zu haben. Die Hülfe war nicht mehr nöthig. Der Justizdirektor glaubte sagen zu dürfen:

Es nimmt allerdings gegen eine Persönlichkeit ein,[3361] wenn sie gleich Anfangs nicht offen und wahr uns entgegen tritt und dennoch glaub' ich, dieses kleine aus Familienrücksichten beobachtete Stratagem des Herrn Heinrich Rodewald doch der Nachsicht Ew. Durchlaucht anempfehlen zu müssen ...

Diese Vermittelung des wohlwollenden Diplomaten war aber nicht nöthig. Egon hatte schon entschieden. Ein furchtbarer Verdacht, nicht mehr Herr seiner selbst, außer Paulinen von Harder, nicht einziger Besitzer seines Geheimnisses zu sein, hatte ihn wie ein Blitz ergriffen. Das erste Gefühl bei dem Namen Rodewald war das des Entsetzens, der Furcht, der Liebe, der Rührung. Als er aber wieder hörte: Heinrich Rodewald, als er Dankmar Wildungen mit Dem, der ohne Zweifel Der war, der ihm das Leben gegeben hatte, in Verbindung sich dachte, ergriff ihn die entsetzliche, ihn nicht zu Boden schmetternde, sondern zum Zorn, ja zur Wuth aufstachelnde Vorstellung von einem geheimen ihn umspinnenden Netze einer bösen verrätherischen Absicht ... und nun gar das Wort: Generalpächter der Besitzungen Seiner ...

O sagen Sie dem Generalpächter ...

Der Name erstickte auf der Zunge. Dennoch raffte er sich auf und fuhr zu dem Sekretair fort:

Sagen Sie Herrn Heinrich Rodewald, daß ich ihn jetzt nicht mehr sprechen kann. In einer Stunde reis' ich ab. Nach der Residenz würd' ich ihm den Tag melden lassen, wo ich ihn zu sehen wünsche, falls ihn der Ruf der Gerichte nicht früher dorthin vor die Schranken fordern sollte.

[3362] Der Sekretair ging mit dieser den Umständen angemessenen Antwort. Herr von Zeisel wurde leidlich freundlich entlassen ...

Keiner Besinnung mehr fähig, gab Egon die Befehle zur Abreise. Er war wie ein zur Flucht Gehetzter ... Melanie erstaunte ... begriff den Zusammenhang nicht ... Nur fort! fort! herrschte der Fürst in dem ihm eignen kalten und unerbittlichen Tone, wenn ein Gedanke ihn einmal mit dem Drang der Nothwendigkeit ergriffen hatte. Er aß nichts. Er stand Niemanden Rede. Jedermann glaubte, nur ein Staatsgeheimniß könnte ihn so erschüttern, so aufregen. Man gehorchte seinen Befehlen. Aus einer Stunde wurden aber doch zwei, drei, vier, fünf ... trotz Dorette Wandstabler, die Wunder wirken konnte, wenn man ihr etwas aufgab, wie eine solche plötzliche Abreise. Um ein Uhr fuhr man in der That erst vom Schlosse ab. Zuerst wenigstens Fürst Egon und seine Gemahlin, die in die Residenz zurückkehrten nach einem Aufenthalte, der statt drei beabsichtigter Wochen wenig über zehn Tage gedauert hatte. Alle hatten sich dies Wiedersehen anders gedacht, selbst der alte Winkler und Mutter Brigitte, die von den Zeiten des Feldmarschalls her sich viel schöne Erinnerungen an Trinkgelder und allerhand Lustbarkeiten erhalten hatten. Selbst ihre Frömmigkeit hätten Beide dem neuen Regimente zum Opfer gebracht, wenn es doch nur auch einigermaßen nach alter fürstlicher Art und Hoheit hergegangen wäre. Es war aber nicht gewesen und Allen blieb ein Erstaunen, ein tiefstes [3363] Befremden, ein Kopfschütteln, ein Rathen und Klagen über gute alte, nie rückkehrende Zeit zurück. Die größte Bestürzung setzte man aber im Ullagrunde voraus bei dem neuen Herrn Rodewald! ... Fränzchen Heunisch sah auch bei ihm nur Thränen und deutete sie auf den guten, immer so heitern, freundlichen, gerechten Dankmar Wildungen und sein Schicksal. Sie war es, die darüber an Selma schrieb. Sie war die einzige Vertraute dieses stillen, Allen jetzt erst sich aufklärenden Verhältnisses zwischen ihr und dem unglücklichen Dankmar gewesen. Als sie den Brief geendet hatte, fragte sie den tief in Gedanken versunkenen Generalpächter, ob er nicht selbst noch ein Wort beifügen wollte ...

Er hörte nicht ... Sein Kopfschütteln nahm sie für eine Verneinung. Sie schloß selbst den Brief an Selma Rodewald auf Tempelheide und trug ihn nach Plessen, von wo die Briefe auf das Postamt zu Schönau befördert wurden.

[3364]
7. Capitel. Der Spruch des Obertribunals
Siebentes Capitel
Der Spruch des Obertribunals

Zu einer für die Sitten der höhern Stände außerordentlich frühen Stunde fuhr am Palais des Fürsten von Hohenberg in der Stadt ein Wagen vor, dem eine hohe, schlankgewachsene, schon ältere weibliche Erscheinung entstieg. Sie fand die Dienerschaft in voller Bewegung. So schnell hatte man die Rückkunft der Herrschaften nicht erwartet. Um Mitternacht waren sie angekommen nach einer Fahrt ohne Aufenthalt, fast wie vom Sturmwinde dahergeführt ...

Es war ein regnerischer Tag. Die Aussteigende achtete kaum des Schirmes, den der Bediente über sie hielt. Mit raschen Schritten war sie unter dem Säulenportal, die Stiegen hinauf, an die Zimmer der Fürstin gekommen, wo sie trotz der frühen Stunde Einlaß fand. Die Kommende war eine Frau, der das ganze Palais wie ihre eigne Wohnung offen stand, Pauline von Harder.

Die Fürstin, eben erst nach der ermüdenden so plötzlich anberaumten Rückfahrt von Hohenberg von ihrem Lager erstanden, ordnete in einer Anzahl von Paketen und Zusendungen aller Art, die sie auf dem Hohenberg nicht hatte empfangen wollen. Sie war in ihren Räumlichkeiten [3365] etwas beschränkt. Das große Palais trug überall die Spuren des langen Alleinbesitzes durch den Generalfeldmarschall. Das hier den Frauen gebührende untere Stockwerk war vernachlässigt und bedurfte eines Umbaues, zu dem dem Fürsten jetzt die Mittel und die Muße fehlten. So war sie auch auf kaum drei Zimmer und eine Anzahl Kabinette beschränkt, deren Ausstattung nach den Anforderungen des neuesten Komforts viel zu wünschen übrig ließ. Die übergroßen, hohen, oben gerundeten Fenster hatten etwas Peinlich-Feierliches, in das sich Pauline von Harder am wenigsten finden konnte. Jedes Mal, wenn sie zur Fürstin kam, war ihr erstes Wort eine Anklage ihrer Zimmer. Nein, diese Reitsäle, nein, diese Kirchenfenster, nein, diese Laternen-Existenz! Ihr müßt bauen lassen, dieser alte Palast-Styl ist zu rococo geworden, zu unbequem! Alle Zimmer wie Eßsäle in den Kasernen, wie die Räume eines anatomischen Museums! Hier könnt' ich nicht leben! Wie Das hier zieht! Nein, treten Sie hierher, Melanie, wie hier die Fenster wackeln! Halten Sie die Hand dahin! Und diese Parketts, diese Thüren, diese Plafonds! Hier brecht Ihr einmal förmlich durch oder die Decke fällt Euch eines schönen Morgens gradezu auf den Kopf!

Heute machte die Geheimräthin eine Ausnahme von dieser fast stereotypen Regel. Sie überraschte die Fürstin auf ihrem gewöhnlichen Etablissement, einem an ein großes Fenster gerückten Durcheinander von Stühlen, Halbsophas, Chaiseslongues, »Balzacs«, die rings um [3366] einen Tisch gerückt waren und so standen, daß man auf ihnen sitzend oder liegend ein volles Licht genoß. Die Fürstin war nach ihrem häuslichen Winkelwerk in der alten Komthurei sehnsüchtig nach dem Lichte geworden und lebte hier wie eine Blume dem hellen Tage zugewandt. Und die Geheimräthin tadelte beim Eintreten gewöhnlich auch diese Niederlassung. Immer trat sie mit dem zweiten Theile ihrer Predigten ein: Aber, Beste! Sie sitzen schon wieder auf der Straße! Ich sehe Sie schon wieder zum Fenster hinausfallen! Sie haben nun das Einzige, was diese alte Kommode von Palais noch brauchbar macht, die dunkeln Winkel und dennoch – rücken Sie doch die Etage?re da fort und stellen Sie das Kanape dahin – Himmel, wie könnt' ich so aushalten! Ich würde die Chaise longue umwenden, so fällt das Licht besser, hier die Tabourets, da der Spiegel! Die Konsolen müssen drüben hin an den Blumentisch, mit dem würd' ich die Chaise longue maskiren und den Balzac, den würd' ich dorthin schieben, wo der Fürst das Licht auf sich fallen hat! Welche Frau läßt denn immer das Licht auf sich fallen und die Männer im Dunkeln sitzen! Grade umgekehrt!

Aber auch diese zweiten stereotypen Eintrittsworte der Geheimräthin fielen heute fort. Sie hatte nie ein Besserwissen bei ihnen im Sinne, sondern nur ein Besserwollen, wirkliche Absicht sich nützlich zu erweisen. Der Fürst war ja fast ihr Sohn geworden und die Fürstin noch mehr, ihr Bijou. Sie hatte diese zwei Menschen von [3367] der ganzen übrigen Welt wie losgelöst und gleichsam für sich adoptirt. Gesellschaftlich existirten sie nur für sie und Diejenigen, denen sie gestattete, sich ihnen zu nähern. Und regelmäßig auch, wenn Pauline die Bauart des Palais und die Anordnung des Komforts getadelt hatte, bewunderte sie die Toilette der Fürstin und ihre Schönheit. Das stand so fest. Erst der Ausfall auf diese Treppen, diese Fenster, dann sogleich eine Polemik gegen die Chaises longues und die Balzacs, aber zur Aussöhnung dann auch: Sie haben freilich das Helldunkel der petits coins nicht nöthig! Sie sind ein Edelstein, der immerà plein jour gesehen werden muß! Und diese allerliebste gelbe Kapotte, wie lange tragen Sie die? O wie lieb hab' ich die natürliche Seide! Sie erinnert mich immer an die zarten Cocons von Italien ... charmant, diese Morgenrobe! Wie allerliebst das Gewebe dieser Brandenbourgs! O wie bewundr' ich Ihren Geschmack, Sie sind schon die Tonangeberin der Gesellschaft geworden und Alles richtet sich nach Ihnen!

Heute wurde aber auch diese Anerkennung der Schönheit, des Geschmackes und der Morgentoilette nicht ausgesprochen, obgleich grade diese neu war und für den Herbst hier schon die Fürstin erwartete.

Es war nur das Einzige: Warum sind Sie schon da? Was treibt Sie zurück? Wo ist der Fürst? Ich muß ihn sprechen. Verrieth er Nichts? Sagt' er Nichts? Hat man Nichts entdeckt? Was wissen Sie? Was weiß Egon? Reden Sie doch! Ich beschwöre Sie!

[3368] Die Fürstin schwieg jetzt vollends erst, sie war betroffen genug über die plötzliche Abreise von Hohenberg. So wie sie einst eine ganze Gesellschaft von jenem Schlosse mit dem Machtworte: Wir reisen! entführt hatte, so war sie jetzt selbst entführt worden und unmöglich konnte es wie damals Dankmar Wildungen sein, der wenn auch unter traurig veränderten Umständen die Veranlassung dieser Eile war. Einfach berichtete sie:

Wir sind Kurier gefahren. Von ein Uhr gestern Mittags bis diese Mitternacht, ohne Aufenthalt. Egon schien bewegt, gereizt, ja voll Zorn. Sie wissen, daß ich in solchen Fällen meine alten Arien trällere und durch meine schlechte Stimme sein zum Tadeln geneigtes Gemüth auf einen Gegenstand ablenke, den ich von Herzen gern dem Spott und einem Ausrufe: Verschone meine Ohren! preisgebe.

Pauline von Harder kannte diesen eigenthümlichen Pflichtenkultus, der den Frauen gestellt ist, sich in ein fremdes Männerwesen, das zufällig mit uns verheirathet wird, ohne Sympathie des Herzens hinüberleben zu müssen. Sie nannte diese Aufgabe eine von den mehreren Märtyrerschaften der Frauen. Sie wußte, daß Melanie den Fürsten nicht mit der Innigkeit des seligsten Einverständnisses liebte, sondern daß sie in Furcht und Zagen, dabei diese Furcht verbergend und hinter guter Laune versteckend, so hintastend in dem fremden, seltsamen Manne sich festzuwurzeln suchen mußte. Es ist Das unser Aller Loos, sagte sie sonst wol schon, wir [3369] müssen Alle diesen Schauder überwinden, ein durch Zufall an uns gekommenes Wesen unser zu nennen und nun zu forschen, wie sich wol dieser dunkeln Persönlichkeit menschlich beikommen läßt, bis dann gewöhnlich uns die eingefleischten Teufel angrinsen, lügnerische, gemeine Naturen erkenntlich werden, Betrüger, oft falsche Spieler, ja Räuber ... kurz, Pauline von Harder, wenn ihr die Ludmer damals nicht zugeblinkt und gleichsam gerufen hätte: Aber Pauline! würde zur Bestätigung dieser einen von den mehreren Märtyrerschaften der Frauen vielleicht gar die Geschichte des Barons Grimm erzählt haben. Sie bewunderte immer an Melanie diese große Kunst, mit der sie sich in ein ihr fremdes und innerlichst antipathisches Leben eindachte und Egon selbst einmal zu der etwas dunkeln Bemerkung veranlaßte: Ich fühle Das so, liebe Pauline, daß ich glaube, Melanie mit mehr belohnen zu müssen als nur mit meinem Fürstentitel!

Heute aber verließ die Geheimräthin sogleich das Feld der Reflexionen und wollte Thatsachen. Sie sprach von der schon in aller Frühe durch Pax und die Ludmer ihr bekannt gewordenen Verhaftung jenes Dankmar Wildungen, dessen frühere Beziehung zu Egon, besonders aber zu Melanie und die dem Fürsten unbekannt gebliebene Theilnahme desselben an der dunkelsten Geschichte der Eroberung des Bildes seiner Mutter ihr geläufig genug war. Es gab ein Geheimniß über Egon, das die Geheimräthin Melanie verschwieg, den Inhalt jenes Testamentes [3370] der Mutter, und es gab wieder ein Geheimniß von Melanie, das die Geheimräthin Egon verschwieg, die Art, wie Dankmar Wildungen zu dem Bilde, das jene Denkwürdigkeiten enthielt, gekommen war. Die Diskretion über so gewaltige Lebensfragen gehörte bei dieser in vielen Dingen einzigen Frau zu ihrer Natur. Sie machte nicht einmal Anspruch, daß ihr diese Diskretion als eine Tugend angerechnet wurde.

Pauline wollte sogleich von Dankmar reden, aber wichtiger war ihr doch, ein furchtbares Wort von der Zunge zu lösen:

Sprach der Fürst seinen Generalpächter?

Nein, erwiderte Melanie. Geschäfte hielten diesen fern und als er zurückkam, hatte der Fürst schon den Plan zur schnellen Rückreise gefaßt.

Sagte er nichts von ihm? Nannte er ihn nie?

Wen?

Sie sind so ruhig, Melanie! Nannte er nie –

Was ist nur?

Der Fürst sprach ihn nicht? Sah ihn nicht?

Dankmar Wildungen?

O Sie Gute! Woran denken Sie? Ich glaube wol, daß Sie nur an ihn denken ...

Sie sprechen von jenem Ackermann – doch nein, er heißt ...

Sie wissen? ... Egon weiß?

Mein Gott, was sind Sie aufgeregt!

Sagen Sie mir, Beste ... was red' ich denn? O, ich kann [3371] nicht da sitzen, ich kann nicht da stehen ... ich habe den Fürsten zu sprechen ...

Die Fürstin begriff die Aufregung der Geheimräthin nicht, die im Zimmer auf und ab schritt und zuletzt abbrach, um sich zu den Zimmern des Fürsten zu wenden, die ihr offen standen zu jeder Zeit.

Schon hatte sie den Drücker in der Hand, als ein Bedienter mit Papieren eintrat, Rechnungen, Büchern ...

Durchlaucht zu sprechen? Melden Sie mich ihm! sagte Pauline.

Excellenz, Bankier Reichmeyer sind drüben ...

Reichmeyer? So wie er geht, sagen Sie, ich bäte um einen Augenblick.

Der Diener ging. Pauline sank auf einen Sessel. Melanie fragte nach der Ursache ihrer Aufregung.

Nichts, Beste! Nichts! Aber Sie sagten, der Fürst weiß, daß der unter dem Namen Ackermann bei ihm in Dienste getretene Ökonom seines wahren Namens Rodewald heißt!

Rodewald! antwortete Melanie, die den Namen nicht hatte behalten können. Der Fürst schien ungehalten über ihn, sprach oft vor sich hin jenen Namen, zog eine Visitenkarte, die den Namen, richtig, Heinrich Rodewald, enthielt ...

Heinrich Rodewald!

Aber was haben Sie nur mit diesem Namen?

Er sprach ihn nicht?

Der Fürst den Verwalter? Nein!

[3372] Er vermied ihn?

Er schien erzürnt auf ihn. Das Auftreten mit einem falschen Namen schien ihm zu misfallen. Seine lange Abwesenheit, während wir in Hohenberg waren, ohnehin. Und wenn ich recht verstanden habe –

Was?

So empörte es ihn, daß Wildungen, ein Verfolgter, ein Kompromittirter sich auf seinen eignen Gütern hatte aufhalten, bei seinen eignen Beamten hatte Schutz finden können ...

Wildungen ist ja der Neffe jenes Rodewald ...

In der That? Das entschuldigt den Generalpächter. Der Neffe! Man sollte nicht zu streng sein in der Art, wie man jetzt die Verläugnung der natürlichsten Gefühle verlangt. Und Sie wissen doch, daß Wildungen die Tochter dieses Rodewald liebt ... also seine Cousine!

Meine Nichte!

Ihre Nichte?

Selma!

Selma Ihre Nichte?

Ha! Was sag' ich! Ich vergesse, daß ich in der Sphäre der Großmütter lebe. Die galante Sprache hat für die Großtanten keinen Namen, der mit dem Begriff Enkel korrespondirt. Selma Rodewald ist die Tochter meiner Nichte, die Enkelin Annen's. Sie ist draußen in Tempelheide ...

Weiter kam Pauline nicht in Aufklärungen, die die Fürstin überraschen mußten. Der Diener war zurückgekehrt.

[3373] Bankier Reichmeyer konnte nicht hindern, daß Pauline sogleich zum Fürsten eintrat. Hatte doch, wie man zugleich erfuhr, eben angespannt werden sollen, damit der Fürst grade zur Geheimräthin fuhr! Sie verschwand. Die Fürstin war allein und blickte bewegt der Eilenden nach. Sie kannte keinen Zusammenhang, suchte ihn auch nicht, forschte auch nicht. Sie begnügte sich, einen schönen vollen Blumenstrauß, den ihr eben Dorette Wandstabler hereintrug, in zwei Hälften zu theilen und die größere sauber mit einem Bändchen zu umwickeln, sie in einen feinen Briefbogen zu hüllen und in die Komthurei als Morgengruß an ihre Eltern zu schicken. Den Rest betrachtete sie voll Nachdenken. Sie mußte sich Selma's Rodewald erinnern, die sie ein einziges Mal flüchtig als Knaben gesehen hatte. Sie mußte der Freude gedenken, die dies Mädchen empfand, als sie bisher im Ullagrund Dankmar vor Gefahren schützen konnte, des Schreckens jetzt, wenn sie in Tempelheide das Schicksal des Geliebten erfuhr. Sie mußte sich sagen: Ich bin eifersüchtig auf ihr Glück und ihr Unglück.

Egon aber kam Paulinen schon auf halbem Wege entgegen. Sie brauchten sich nichts zu sagen. Beim ersten Blick wußten sie, was sie in dieser Stunde zusammenführte. Sie zogen sich, Reichmeyer war gegangen, in das entlegenste Kabinet zurück. Dort erzählte Pauline, wie sie erst vor wenig Tagen von den Vorfällen auf Tempelheide wäre unterrichtet worden, wie sie erst von Gerüchten die Ankunft einer Enkelin ihrer Schwester, dann [3374] durch die Nachforschungen der Ludmer den genauesten Zusammenhang in Erfahrung gebracht hätte. Jener Ackermann, der des Prinzen Güter mit unbestreitbarem Glücke zu bewirthschaften begonnen hätte, wäre Rodewald! Ihr wär' es gewesen, als öffneten sich die Gräber! Aber, fuhr sie fort, Rodewald ein Ökonom, ein Schaafzüchter, ein Wollhändler, ich mocht' es nicht glauben. Dennoch ist es so. Ich bin gefaßt, Egon. Aber Sie?

Ein Blick auf Egon zeigte ihr dessen tiefste Erschütterung. Er hatte die Hand auf die Sophalehne gestemmt und stützte das bekümmerte Haupt ...

Pauline fuhr fort hastig zu erzählen, von Selma, von dem Glück der Schwester, von dem Antheil, den alle Cirkel an dem Vorfall nähmen.

Egon erwiderte immer noch nichts. Er kannte alle Persönlichkeiten, die Pauline erwähnte, setzte sich aus ihren Verwickelungen ihre Verhältnisse und gegenwärtigen Situationen zusammen und ließ Pauline reden, die sich neben ihn auf das Kanape setzte und gespannt lauschte, welche Entschließungen sich auf seinem Antlitz kenntlich machen würden.

Man erzählt sich, fuhr sie fort, wie die Mädchen Selma und Olga sich und ihre nahverwandte Neigung zu den beiden Wildungen erkannten. Im Tannenpark auf Tempelheide hängen Äolsharfen. Eine überraschte die Andre öfters unter den melodischen Klanggrüßen aus unbekannten Luftreichen. So wußten sie bald, daß in ihren jungen Herzen gleiche Flammen schlugen, gleiche Sehnsucht sie [3375] in's Weite und Unendliche zog. Nun tauschten sie ihre Ideale aus und nannten sie nicht. Im Scherze aber beschrieben sie sie und da Olga eine Malerin ist und Selma von allen Talenten ihres Vaters auch das einer raschen Handhabung des Crayons sich aneignete – auf Reisen welche unschätzbare Annehmlichkeit! – so sagte Eine zur Andern: Zeichne mir Den, den du liebst! Und Beide begannen Den zu zeichnen, den sie lieben! Welch' ein Schrecken nun, als sie ihre Blätter sich zeigten und eine das Bild des Freundes der Andern getroffen hatte! Die erste Angst und Überraschung löste sich in Jubel auf, die Neuverbundenen liefen zu Anna, machten sie zur Vertrauten ihrer Neigung zu zwei sich ähnlichen Brüdern und die böse Welt zischelte schon gestern, daß es nun kein Wunder wäre, wenn die juristische Logik des alten Präsidenten eine Entscheidung des Prozesses befördert hätte, die einer Komtesse, wie Olga, statt des Narren Dystra die Hand eines plötzlich wie in Tausend und einer Nacht bereicherten Künstlers böte. Kurz, alle diese Menschen, schloß sie, kennen sich, alle treten sie in Wechselwirkungen und ziehen um uns Beide geheimnißvolle Kreise zu Zwecken, die wenigstens bei Rodewald noch ganz im Dunkeln liegen.

Diese mit der Andeutung einer bedenklichen Gefahr betonten Worte schnellten den Fürsten, der nur halb zugehört hatte, empor.

Nein! rief er; ich sollte dies elende Leben führen und vor der Enthüllung eines illegitimen Ursprungs zittern?

[3376] Tollkühne, verbrecherisch-leichtsinnige Menschen, die mir das Leben gaben, sollten mich im Wirbel kreiseln, willkürlich wie Spreu im Winde jagen und hetzen können? Dies Ich, dies festgewurzelte Ich, sollte unterwühlt werden dürfen von Menschen, die mich wie einen ihrer Gnade Überlieferten über dem Wasser hielten und drohend ausriefen: Ich kann dich jetzt, wenn ich will, fallen und ertrinken lassen?

Egon! unterbrach Pauline ...

Ich spreche nicht von Ihnen. Ich spreche von diesem Revenant Rodewald, der mich mit dem Blicke eines Dämons betrachten wird, als gehörte ich ihm! Wüßte er, wie ich im Grunde ihn haßte! Und kann ich ihm sagen, was ich so über ihn fühle?

L'amour dans la haine? sagte Pauline forschend. Aber Egon erwiderte:

Liebe? Ich will die Sitte, das Gesetz, das ewig Bindende der Tradition im großen Ganzen vertheidigen und soll in mir selbst den Makel der nagenden Lüge fühlen? Ich soll die Karikatur eines Jahrhunderts spielen, das sich auf den ewigen Zusammenhang der Zeiten, den wellenförmig gleichen Strom der Überlieferung beruft und in sich selbst nur Lüge bärge? Mitten auf der Tribüne, wenn ich von der Bedeutung des Adels, wenn er recht verstanden wird, spreche, wird mich ein innerer Fieberfrost schütteln und eben wenn ich von Quadersteinen und der grandiosen Architektur der Sitte und des Gesetzes reden will, umtanzen mich tausend Larven, äffen mich und rufen [3377] mir den Abend zurück, wo ich schon einmal in der Kammer nach drei schlaflosen Nächten plötzlich ein Riesenbild im Dämmerlicht auftauchen zu sehen glaubte, einen Teufel in rother Tracht, der auf ein Wappen zeigte, wo Fuchs und Löwe sich begatten und dabei sprach: Wir zeugen die Legitimität!

Um Gotteswillen, rief Pauline, Egon, was haben Sie? Sie sprechen irre! Geben Sie mir Ihre Hand! Ich klingle ...

Egon wehrte Paulinen ab. Ohne sich zu beruhigen, fuhr er fort:

Ich spreche meine Qualen aus. Lassen Sie mich reden! Wüßten es Alle, es würde mich erleichtern ...

Hohenberg!

Pauline hatte soviel Aufregung an dem Fürsten selbst an jenem schrecklichen Abende nicht gesehen, wo er ihr das Testament seiner Mutter abgezwungen ...

Wie ist das Leben so toll zusammengesetzt, fuhr er fort, wie ist man Seiltänzer zwischen Wahnsinn und Verbrechen, Lüge und Fratze und Jeder gibt seine Narrheit für Wahrheit aus. O Pauline, überzeugt sein von dem Richtigen und verhindert werden es auszuführen! Ich kann mir die Thaten des Tiberius, des Philipp von Spanien und der Alba's erklären. Ja, ich verstehe, was es heißt: Alles zerstampfen lassen, zertreten diese Widersprüche, die uns an jedes Dummen Meinung binden, der sich Mensch nennt und deshalb geschont sein will! Was bleibt zuletzt denn übrig? Ich kann die Schädelkränze begreifen, [3378] die die Paläste der orientalischen Dynasten schmücken. Man muß ja grausam sein, wenn man nützen will ...

Pauline war sprachlos. Sie hatte oft bemerkt, daß Egon von Hohenberg in allmäliger Folge seiner Berufung zum Minister eines großen tonangebenden Staates schon Anfälle von Geisteserschütterungen, von förmlicher Seelenstörung gehabt hatte. Sie hatte sich in Egon's Interesse von Drommeldey warnen lassen. Die Pathologie des Genius, sagte dieser oft zu ihr, bietet die schaudervollsten Erscheinungen. Ich bitte Sie, Geheimräthin, suchen Sie diesen Vulkan zu mildern. Er will durch sein Feuer die Welt zerstören; er wird sich zerstören! Denken Sie an Castlereagh, der sich das Leben nahm, an Canning, der an den Folgen seiner aufgeregten politischen Leidenschaft so früh starb! Pauline that auch seitdem Alles, was Egon nur beschwichtigen konnte. Aber dies Auftauchen eines Todtgeglaubten! Dies dreiste, rasche Eingreifen Rodewald's in das nächste Schicksal seines Sohnes! Sie entgegnete, um die wahre Ursache der Aufregung des Fürsten zu mildern:

Rodewald kann nicht geglaubt haben, daß die Fürstin von der Erde nicht hat scheiden wollen, ohne das Maaß der tiefsten Erniedrigung mit sich zu nehmen. Er hat Hohenberg gesehen, den Leichenhügel Aman da's, er hat in der Nähe dieser Erinnerungen bleiben wollen aus Liebe für Sie, Egon ...

Der Teufel! schrie Egon. Liebe für mich? Ich erwidre diese Liebe nicht. Ich würde, wenn ich ihm begegnete, [3379] nicht den mindesten Schauer von Ehrfurcht empfinden. Ich finde seine Handlungsweise, wie schön sie die Mutter auch zu entschuldigen wußte, von seiner Seite verbrecherisch unter allen Umständen und vollends – Sie sagen, er würde das Geheimniß ehren? Finden Sie darin Diskretion, daß er sich so dicht, so unmittelbar ohne Weiteres schon an meiner Existenz niederläßt?

Pauline ergriff die Hand des Tobenden und zog ihn zu sich nieder. Sie suchte den Sturm seiner Empfindungen zu mildern ...

Egon, sagte sie, am Abend, wenn die Sonne sinkt, werfen die Menschen und die körperlich irdischen Dinge Schatten über die Erde, riesengroß, erschreckend anzuschauen. In der Mittagshöhe sind die Schatten klein, geringer als sie sollten, lügnerisch, schmeichelnd unsern Fehlern, Alles verkürzend und vermindernd. Ach, mein junger Freund, ich wünsche oft, ich hätte die Abendschatten schon in meiner Jugend gesehen, dem Alter würden die Riesenschatten jetzt wie die der Zwerge erscheinen. Aber dennoch, wenn wir nur Eines, nur irgend ein uns ganz beglückendes Streben noch am Abend des Lebens erreichten, legt sich allmälig die Furcht vor Menschlichem. Nennen Sie meinen Zustand, wie Sie wollen, ich bin ruhiger geworden, ich könnte Rodewald begegnen und ihm die Hand bieten zur Versöhnung; ich könnte mein ganzes vergangnes Leben wie ein in Falten gelegtes Tuch grade ziehen, ich könnte segnen, wo ich einst fluchte, wenn nach dem Fluche unsrer Thaten nicht jede Reue zu spät [3380] käme. Ja, ich bereue meine Verblendung, meine Hast, meine immerwährende fieberhafte Sucht nach Bewährung meiner selbst und Erlebniß durch Andere; nein, ich entschuldige nicht Alles, was auf meinem Herzen lastet ... ach, Egon, seit ich glücklich bin im Bunde mit Ihnen, möcht' ich viel Gutes thun, alte Wunden heilen, alte Versäumnisse nachholen. Es ist aber gut, daß ich es nicht thue, mein eignes zerflossenes Gemüth nicht in den Dingen selbst, denen es sich nähern möchte, auch voraussetze; es gäbe nur neue bittre Erfahrungen; denn nichts rächt sich mehr, als wenn wir da gut sein wollen, Egon, wo einmal vorausgesetzt worden ist, daß wir schlimm sind. Was red' ich Ihnen? Was will ich? Ich möchte Sie bestimmen, gleichgültig zu sein. Ich möchte aus den langen Schatten des Abends und den kleinen Schatten des Mittags die Lehre ziehen, daß beide unwahr sind, nichts uns übermäßig sorglos, nichts uns übermäßig schreckhaft stimmen soll. Gott, Gott, könnt' ich mir die Vergangenheit zurückrufen und meine vergangenen Thorheiten durch diese im Alter gewonnene Philosophie ungeschaffen machen! Was wollen Sie so verzweifeln, so tief auf den Grund aller Dinge sehen, so sich von Ungeduld verzehren, daß nicht Alles eine aufgehende Rechnung gibt! Sie sind bewundert von der Welt, Sie haben sich einen Namen im Buche der Geschichte geschrieben, Sie haben Freunde, die Ihnen Gerechtigkeit werden widerfahren lassen und sollte es auch erst dann sein, wenn Andre nach Ihnen kommen werden, was, will's Gott! lange dauern soll! Sie haben [3381] philosophische Bedürfnisse, nach denen Sie sich Ihr Leben einrichten können ...

Der Fürst wollte widersprechen ...

Nein, Egon, mach' ich Ihnen Vorwürfe? Soll ich denn dies Prinzip der Selbsterhaltung, das bei Ihnen in der größten und weihevollsten Form zur Geltung kommt –

Ich bin kein Egoist, schaltete der Fürst mit Nachdruck ein. Ich bin nur in der Lage, wie alle Menschen, die nach einer gewissen Vollkommenheit strebten. Was Ihr Euch Egoismus nennt, ist uns die Gerechtigkeit und Strenge gegen uns selbst. Wir würden Euch nicht Egoisten sein, wenn wir Alles thäten, was Euch gefällig wäre und gegen unsre eigne tiefste Würde stritte. Wären wir schwach, würdet Ihr uns die Liebe selbst nennen!

Nun gut, Egon, räumte Pauline ein, die ihr Glück, mit dem wichtigsten und ersten Manne des Tages so zu stehen, wie sie mit ihm stand, in langen und seligen Zügen genoß und die aus diesem innigsten Behagen fließende Sorglosigkeit wieder eine »Läuterung« nannte; wie Sie wollen, Egon, aber gewöhnen Sie sich nur an das Unabänderliche! Lassen Sie Allegorieen, die Sie mit sich selber anstellen, diese hypochondrischen Parallelen, die Sie zwischen Ihrer Aufgabe, Ihrer Zeitauffassung und Ihrer persönlichen Lage ziehen. Warten Sie ab, was kommt! Mit dem Stolze, den Sie auf Ihren Namen haben dürfen, sind Sie gewappnet gegen jede Anmaßung, jede zweideutige Einmischung in Ihre Existenz. Ist Ihnen der Gedanke [3382] lästig, ist die Nähe dieses Mannes Ihnen störend an sich, so könnten Sie ihn ja entfernen. Oder glauben Sie, daß seine Verwaltung –

Ich gebe sie ungern auf, fiel Egon ein, allein ich opfre lieber mein ganzes Besitzthum, als in diesem geheimnißvollen, mich drückenden, meine Unbefangenheit störenden Verhältnisse ausharren. Bankier Reichmeyer war auf meinen Wunsch schon in aller Frühe bei mir. Ich will alle meine Besitzungen verkaufen, wenn es irgendwie geht ...

Der Entschluß ist rasch, Egon ...

Oft erwogen! Mein Stamm wird aussterben. Für Melanie's Zukunft wird sich sorgen lassen ... Ich gebe diesen Besitz auf.

Überlegen Sie!

Grade meinen Gegnern gegenüber, die auf den Boden basiren und Steuerbefreiungen haben wollen, geb' ich mein Besitzthum auf. Ich wäre nicht mehr Minister, wenn wir Allodial- und Majoratsvertretungen in unserm Staatsorganismus einführten, ich verließe Deutschland. Ich will kein Pair des Hofes sein, wenn erst die mittelalterliche Reaktion bis zum Pairsmachen wieder angelangt sein wird ...

Eine Unterbrechung störte diese Auseinandersetzung. Pauline wußte, daß Egon von Hohenberg keine Absicht hatte, sich durch Rodewald's Rückkehr aus Amerika von seiner Bahn des Ruhmes stören zu lassen. Sie fand ihn so erfüllt vom Standes- und Kastengeist, wie es ihr in der [3383] Ordnung schien. Für die Sentimentalität der Mutter war hier kein Raum gegeben. Trotz ihrer schönen Redewendungen über lange Abend- und kurze Mittagsschatten, trotz ihrer melancholischen Schleier, die sie auf ihre jüngere, richtiger mittlere Lebensepoche warf, hätte sie nichts dagegen gehabt, wenn der Fürst irgend eine gewaltsame Entfernung seines eignen natürlichen Vaters beantragt hätte. Sie hörte voll Zufriedenheit, daß sich der Fürst begnügen würde, das Pachtverhältniß des Ankömmlings rückgängig zu machen, lobte Egon's Entschluß, dies Vorhaben schon innerhalb der nächsten vierzehn Tage in Ausführung zu bringen, bat den Sohn ihrer Liebe, wie sie ihn gern nannte, zur Erörterung so vieler Dinge, die seit der Abwesenheit des Ministers vorgefallen, heute bei ihr wie sonst ohne seine Gemahlin ein trauliches Diner einzunehmen, erhielt die Zustimmung und verließ den Fürsten, an den inzwischen bereits auch schon wieder die mächtige Woge und durch die kurze Abstauung nur stürmischer gewordene Brandung der Geschäfte anschlug, mit vollster Zufriedenheit. Er fuhr zum König, sie ging zu Melanie.

Diese war mit ihrer Toilette beschäftigt und unterhielt sich mit ihr nur zum Abschied durch eine spanische Wand. Sie hörte die Bestimmung, daß Egon bei Paulinen äße und öffnete nur, um das schöne unfrisirte Haupt hinauszustrecken mit der leise geflüsterten Frage:

Wurde von ihm gesprochen?

Von wem?

[3384] Dem Gefangenen?

Beste! Das muß seinen Lauf gehen. Diesem Glücklichen winken so viel Lebensfreuden, blühen so viel große Hoffnungen, daß ihm für seine geheime Verbindung eine Haft von einem oder zwei Jahren – ich kenne das Strafmaaß für Verschwörungen nicht – keine so grauen Haare machen wird, wie er und das Treiben seiner Genossen schon dem Fürsten gemacht haben.

Damit, fast strafend, ging die große, schlanke, stolze Frau von Dannen.

Die Fürstin aber drückte die Tapetenthür zu, vollendete ihre Toilette und benutzte die nun bis spät gegen Abend dauernde Abwesenheit des Fürsten zu ihrer liebsten Erholung. Durch Dorette Wandstabler, die sich ihr, mit klugem Takte, unbedingt ergeben hatte, ließ sie in einem der kleinen Kabinette des Gartensalons heizen, eine ausgezeichnete Tafel zu drei Couverten herrichten und die Eltern, die so theuern, so geliebten Eltern für heute zu sich einladen. Nach einer halben Stunde schon wußte sie, daß die Mutter, schmollend, wie seit der ganzen Heirath, da Melanie keine »Ehepakten« dulden wollte, nicht kommen würde, aber der Justizrath, hieß es, würde kommen ... Schlurck kam. Es war dasselbe Palais, in dem er früher als Herrscher gewaltet hatte, dasselbe, das er mit der Bezeichnung eines Schurken einst hatte verlassen müssen; jetzt würde er es, als Vater der Fürstin, mit dem alten sichern Selbstgefühl wieder haben betreten dürfen, aber les jours de fête sont passés, sagte er oft selbst. Er [3385] war zusammengefallen, älter geworden, nachlässiger in seiner Kleidung sogar. Zwar trug er noch keine schwarzen Fräcke, er war bei seinen blauen mit Metallknöpfen geblieben, aber es saß ihm Alles weit und schlottrig. Es fehlte die alte Elastizität. Sein Wesen hatte einer ironischen Gelassenheit Platz gemacht ... Seine Plaudereien über den Pavillon, die kleinen Gemächer, die servirte Tafel waren ganz im alten Geschmack, er begrüßte die Fürstin mit Innigkeit, entschuldigte den mit den Jahren und seit den Prüfungen des Geschicks über die Mutter gekommenen Trotz mit allem Humor, meinte dann aber doch, diese ihm so von seiner Tochter in aller Stille gespendete Liebe hätte etwas dermaßen Rührendes für ihn, daß er fürchte, die Speisen würden nicht von seinem Appetit die Anerkennung finden, die der Koch des Palais' verdiente. Doch ermunterte ihn Melanie, setzte sich ihm gegenüber und genoß die Freude, den Vater eine Weile glücklich zu sehen. Die Weine machten ihn beredter. Er fragte nach dem Hohenberg, nach Frau von Zeisel, seiner letzten Herzensverirrung, über die er zu seiner Tochter wie zu seinem intimsten Freunde scherzte, er wollte von Henrietten's von Sänger gegenwärtiger Neigung hören, ob Civil, ob Militär, ob Geistlich, ob Weltlich, er wollte von Ackermann hören, über dessen Metamorphose er nicht unterrichtet war. Melanie erzählte ihm Alles. Er kannte Rodewald nur aus dunkelster Erinnerung; er besann sich, einmal den Namen in jüngern Jahren gehört zu haben. Von Dankmar's Verhaftung wußte er nichts. Er las keine [3386] Zeitungen. Er begegnete zu sehr in ihnen einem Leben, das ihm zu beweisen schien, daß die Welt in der That aus Nichts geschaffen wurde. Noch ehe die Fürstin, aus Rücksicht auf die Bedienung, von jenem sie und den Fürsten so nahe berührenden Vorfall sprechen konnte, hatte er geäußert:

Diese neue plötzliche Erhebung hat jede Narrheit mündig gemacht! Die Blätter sind weißes Papier, die nach Füllung lechzen und womit füllt man sie? Das geringste Faktum wird mit einem Schwall von Worten breitgetreten und dehnt sich immer gleich so aus, als wenn es bestimmt wäre, die ganze Geschichte des Alterthums, der Hohenstaufen, Schiller und Goethe zu ersetzen. Ich mußte früher über diese Politik lachen, jetzt ärgr' ich mich über sie. Glaubt man, irgend eine Frage in dem großen Durcheinander der Menschen und Meinungen mitbestimmen zu können, meldet man sich gleichsam um's Wort, so hat es schon ein Dutzend Andrer und mit Jedem von diesem Dutzend scheint der Gegenstand allein auf die Welt gekommen zu sein. Es ist ja ein Egoismus im Schwunge jetzt, Kind, der alle Schönheitsregeln über Bord geworfen hat! Früher waren wir auch egoistisch, wir thaten im Durchschnitt immer mehr für uns als für Andre, aber so malhonett wie jetzt ging es dabei doch nicht her. Jetzt stößt man sich auf die plumpste Art vom Brunnen weg, um Wasser zu holen, früher wartete man doch, unterhielt sich doch, plauderte, schwatzte durch gute Witze die Mägde vom Schwengel weg und ging mit seinem gefüllten [3387] Eimer lachend davon, wenn jene noch auf die Pointe warteten und das Maul aufsperrten. Ach, mein bestes Kind, diese schrankenlose Emanzipation nicht etwa der Presse, sei die frei, nicht etwa der Juden, mögen die ohne sich taufen zu lassen jetzt Kirchenvorstände werden, nicht der Frauen, eine Emanzipirte haßt die andre so, daß sie sich unter einander selbst aufheben; aber die furchtbare Emanzipation der Dummheit, siehst du, die ist schrecklich! Auf dem Kasino und in der Loge hielten sonst vier Fünftel der Mitglieder immer das Maul. Denn warum? Die Zeitfragen waren damals gleichsam eine Art Lateinisch oder Hebräisch. Jetzt solltest du dies Gesumme hören! Jeder kommt um's Wort ein und Jeder weiß auch etwas zu sagen; denn eben das Redenswerthe ist jetzt nur noch der alltägliche Zeitungsschnack ... Nun kommt man mir oft und will von den Maßnahmen des Ministeriums hören. Ich kann mit Fug und Recht fragen: Wer ist jetzt Minister? Denn wer z.B. unsre Finanzen verwaltet, das weiß ich in der That nicht. Ich erstaune über Aufstände, die längst unterdrückt sind und weiß wirklich nicht, sind die Schleswig-Holsteiner in Kopenhagen oder sind die Dänen wieder in Altona? Oft bereu' ich, daß ich damals nicht mit dem Übergang in die Politik Ernst machte. Ich glaubte nicht an die Möglichkeit, daß ich jemals meine Administrationen verlieren würde. Was ich jetzt wäre, weiß ich nicht. Vielleicht bankrott, wie jetzt eben fast auch, aber eine Nationalsubskription hätte mir vielleicht ein Landhaus gekauft, hätte meinen [3388] Wagen, meine Pferde gerettet und ich könnte auf hundert Komités Wechsel ziehen. Wer weiß, ob ich nicht einige Minister zu Tode geärgert hätte! Wer weiß, wenn es geheißen hätte: Nun fehlt nur noch eine Stimme, die des Justizraths und Obertribunalprokurators Franz Schlurck, und nun hätt' ich mich in Preis gesetzt, ich hätte für mein Ja! den Zuschlag mindestens einer Eisenbahn oder die Anwartschaft auf ein zum halben Preise zu verkaufendes Staatsetablissement oder eine feste Anstellung verlangt, etwa im Steuerfache, wo einem die Sportel-Delikatessen verfaulen, weil man die Menge nicht unterzubringen weiß und doch damit keinen Handel eröffnen kann. Warum nicht? Meiner Familie zu Liebe hätt' ich vielleicht alle Bürgerkronen der Welt ausgeschlagen, falls man mir eine fixe Anstellung von 5000 Thalern als Äquivalent geboten hätte. Dann – ah bah! – dann – dann hätt' ich immer noch manchmal ein bischen rebellisch werden können und auf Zulage, Gratifikationen hin meine Pandekten anders interpretiren als die Minister. Denn Das weißt du doch noch, liebes Kind, daß der beste Kommentar über die Pandekten aus dreißig Bänden besteht und der Verfasser desselben Glück heißt? Das Glück ist unser wahrer Professor der Rechte! Das Glück legt die Pandekten immer am Bequemsten aus, nur das Unglück weiß gleich den Sinn zu finden, der hin reicht, Einem den Hals umzudrehen. So hör' ich z.B., daß jetzt in unserm Johanniterprozesse ...

Leider wurde der Justizrath an dieser für seine Tochter [3389] fesselnden Stelle durch die Bedienung unterbrochen ... Die Speisen, die Melanie ihrem Vater bei diesen kleinen geheimen Diners zu serviren pflegte, waren so kunstvoll zubereitet, so auf seinen feinsten Kennergeschmack berechnet, daß er sich bei der Würdigung derselben, wenn sie eben aufgetragen wurden, von jeder Erörterung abstrakter Fragen entfernte und den Faden derselben in der Analyse von Zubereitungen verlor, wo er jedem Pfefferkörnchen, jeder Kaper, jeder zerriebenen Sardelle nachspürte und die Komposition und ihre Bestandtheile in die Zeit des Kochens, des Röstenlassens, des Durchseihens u.s.w. fachkennerisch auflöste. Der Champagner floß dabei und die Tochter ließ den Vater ruhig durcheinander reden. Sie gönnte ihm diese stillen Augenblicke seines verkürzten Lebensglückes. Endlich gegen Ende der Tafel, die zuletzt doch wieder alle Lebensgeister Schlurck's geweckt hatte, fand sie Gelegenheit, ihm das neueste Erlebniß auf dem politischen Gebiete, das er nicht kannte, die Verhaftung Dankmar Wildungen's, mitzutheilen. Diese würde Schlurck wenig interessirt haben, sie würde ihm sogar eine Genugthuung für all' das Unglück gewesen sein, das seit dem Schrein mit dem vierblättrigen Kleeblatt-Kreuze über sein Leben gekommen war, aber er wußte, wie Melanie für den kühnen, entschlossenen, kalten jungen Mann fühlte, dem er damals vergebens die Hand des schönsten Mädchens der Welt anbot, er sah bestürzt in ihr Auge, er wußte, daß sie litt, daß sie Egon, diesen ihm aus tiefster Antipathie verhaßten [3390] Schwiegersohn, nur aus Pflichtgefühl in Ehren hielt und voll Wehmuth ihr die Hand reichend, sagte er nach einem Rückblick auf die erste Bekanntschaft mit Dankmar:

Mit diesem abenteuerlichen jungen Manne würden wir uns in Strudel gestürzt haben, bei denen selbst das größte Glück der Erde uns keinen Genuß bereitet hätte! Schon im Heidekrug damals verrieth sich die Idee einer solchen Verschwörung, wie sie jetzt zum Schrecken aller Gewaltigen geschlossen sein soll. Diese neuen Propheten des Geistes thun schon Wunder, die Todten stehen schon auf, die Blinden sehen und die Tauben hören. Sie gehören gewiß auch zu diesem merkwürdigen neuen Bunde? sagte mir kürzlich der Propst Gelbsattel und wollte die geheimen Zeichen der Verschwornen wissen. Ich sagte ihm, ich wisse nicht mehr davon als die Kühe, von denen mir unbekannt wäre, ob sie im Klee Dreiblätter von Vierblättern unterschieden. Aber nun biß er erst recht an. Sagen Sie mir nur, rief er in seiner Geheimnißsucht, wie und wo bringen die Ritter vom Geiste ihr Symbol, das vierblättrige Kleeblatt, an? Machen Sie das Zeichen auch mit den Fingern am Halse, wie wir Freimaurer oder drücken Sie sich auch die Hände auf unsre Art? Haben Sie einen verborgenen Kultus, höhere und niedere Grade? Ist es wahr, daß Sie sich in Höhlen versammeln und von den alten Templern Ceremonieen entlehnten, die an unsre Kunst anknüpfen? Auf alle diese wundergläubige Geheimnißsucht konnt' ich nur erwidern, daß sich die geheime [3391] Vehme noch bei mir nicht hätte blicken lassen; man erzähle sich aber, sie klopfe bei Jedem an, der irgend eine kühne That unternähme, irgend eine Lanze mit den Fürsten breche, irgend ein Dogma der Kirche umzustoßen wage, besonders wenn er dabei ein Amt zu verlieren nicht achtete; solchen freiwilligen Märtyrern geschähe es augenblicklich, daß Nachts etwas an ihr Fenster poche und wenn sie hinaussähen, ständen gewöhnlich drei Vermummte auf der Straße, riefen mit Beziehung auf den in der Schlafmütze zum Fenster hinausblickenden abgesetzten Regierungsrath oder disziplinirten Appellationspräsidenten oder nicht mehr zu Hofe geladenen Kirchenprälaten: Ein Vierblatt! Und augenblicklich, sagt man, hebt sich ein Stock in der Form eines Pilgerstabes in die Höhe, an dessen krummem Endschnabel sich ein Sack mit vollwichtigen neuesten Doppelfriedrichsd'oren befände! Gelbsattel lachte ungläubig. Aber ich sagte, er möchte es nur einmal versuchen, er möchte nur einmal der Regierung den Fehdehandschuh hinwerfen für den Beweis, daß unsre Verfassung mit der Macht der Oberkonsistorien in keinem Einklang stünde und überhaupt die Wiederherstellung einer Menge von organischen Institutionen nur dazu versucht würde, um allmälig die Verfassung aufzulockern und in die inzwischen erstarkten andern Institutionen, als da sind: Kreistage, Kirchentage, Provinziallandtage u.s.w. aufzulösen, er möchte nur einmal ausrufen: Christus würde auch die Deutschkatholiken für Menschen erklärt haben! Da stutzte der Mann, erschrak, [3392] zitterte, grübelt aber doch, ich wette, Tag und Nacht, welchen kleinen Handschuh er dem Ministerium Hohenberg in's Gesicht werfen könnte, ohne dabei 1) die Gunst des Hofes, 2) seine Propstei zu verlieren und 3) wo möglich doch den nächtlichen Besuch der Ritter vom Geiste und ein Exemplar der Statuten zu gewinnen, die auf einem merkwürdigen Papiere geschrieben sein sollen, nämlich auf einem Papiere, das man das Papier der Liebe nennen sollte ...

Melanie horchte voll Spannung diesen Expektorationen der ihr bekannten Champagner- und Dessertlaune des Vaters ...

Papier der Liebe, gutes Kind, antwortete er auf die Frage seiner Tochter nach diesem eigenthümlichen Handelsartikel, Papier der Liebe ist eine Art ...

Asbest! sagte die Fürstin. Unverbrennlich, selbst im Feuer ...

Im Gegentheil! sagte Schlurck. Papier der Liebe kann unmöglich etwas Andres sein als eine Art von Daguerreotypie, ein so zartes Gewebe, ja nur ein Hauch, ein Material, das zerstiebt, verweht in dem Moment, wo das Auge seinen Inhalt gelesen hat. Freilich würden wir Advokaten wenig Ehescheidungsklagen durchführen können, wenn dies Papier der Liebe patentirt würde; denn wo sollten die Beweisdokumente, die schönen Resultate erbrochener Kaunitze, die glorreichen Trophäen, die man den Briefträgern abjagt, herkommen? Allein die Statuten der Ritter vom Geiste, sagt man, sind in der That auf [3393] einem Papiere gedruckt, das in dem Augenblicke, wo von Jemanden die Paragraphen der Verbrüderung gelesen sind, in Sonnenstäubchen zerstiebt und nur den Duft von Märtyrer-Rosen zurückläßt. Hab' ich Recht, wenn ich solches Papier das rechte Material der Liebe nenne?

Melanie ließ lächelnd den Vater so fort plaudern ...

Auch Drommeldey, sagte er, wollte mich neulich damit necken, daß er auf meine Zurückgezogenheit anspielend sagte: Sie sind wol auch schon ein Ritter vom Geiste geworden? Als ich ihn, auf seinen Wagen deutend und auf meine bestäubten Füße, einen herzlosen Spötter nannte, fing er in allem Ernste von dem Bunde an und verrieth, daß man innerhalb seiner aristokratischen Praxis von dieser Chimäre dächte wie von einer den furchtbarsten Ausbruch drohenden sizilianischen Vesper. Nur am Hofe, fügte er hinzu, nur die näheren Umgebungen des Generals Voland von der Hahnenfeder witterten etwas von einer Thatsache, die allerdings zunächst getrost die Polizei zu verfolgen hätte, die aber denn doch auch die Sammler, die Kuriositätenjäger, die Freunde des Mittelalters, die Schwärmer für Symbolik und byzantinische Geschichte, ja auch die Sammler unsrer Zeitrichtungen um so mehr interessiren dürfte, als selbst der Kommunismus bei Hofe manchmal als etwas ursprünglich doch Christliches nicht unangesehen wäre, wenn man nur wüßte, wie man ihn mit der innern Mission und dem jährlichen Millionenbedarf für die verschiedenen Ministerien in Verbindung bringen könnte. Einstweilen, fuhr mein kluger Sanitätsrath fort, [3394] behaupte man, wäre selbst die alte Excellenz von Harder auf Tempelheide für den Bund schon gewonnen, denn nach ihren neulichen, dem Monarchen gegebenen freimaurerischen Lehren wäre es keinem Zweifel unterworfen, daß dieser alte Herr in dem Bunde der Ritter vom Geiste die wahre Blüthe der Templerei und der Loge entfaltet sähe und ihr zu Liebe würden auch der Paulus und Johannes dieses neuen Evangeliums, die Gebrüder Dankmar und Siegbert Wildungen, den Prozeß gewinnen und dem Bunde wirklich möglich machen, jene Fabel von den in nächtlicher Stille an die Fenster der Märtyrer hinaufgelassenen Säcken mit Doppelfriedrichsd'oren zu bewahrheiten. Und in der That, wir wollen sehen. Man bringt mir ja da ein Billet ...

Ein Diener brachte ein Billet an den Herrn Justizrath vom Obertribunal. Ein Kollege schrieb ihm, daß der oberste Gerichtssenat soeben der Meinung seines Präsidenten beigetreten wäre und den Prozeß zu Gunsten des Klägers entschieden hätte ...

Zu Gunsten? warf die Fürstin dazwischen. Der Vater hatte laut gelesen.

Schlurck staunte eine Weile, lächelte dann, zog die goldne Brille von der Stirn und sagte:

Die besten Feldherren waren meist die, die geschlagen wurden.

Die Tochter wünschte Aufklärung, um welche Summen es sich handelte, ob diese Entscheidung auf Dankmar's Gefangenschaft einwirken würde und wie die Beweisführung [3395] für die Brüder endlich wirklich hätte so günstig ausfallen können?

Die Beweisführung? sagte Schlurck. Ich sagte dir ja schon, der Kommentator der Pandekten heißt Glück. In jenen Dokumenten, die du damals dem Glücklichsten aller Gefangenen gegen mein Wissen kopf- und herzüber nachwarfst, liegt der Nerv des ganzen Handels. Ich hätte, Bartusch und der Mutter folgend, vielleicht jene Papiere verbrannt und mich dem Schicksal ausgesetzt, daß mein Leben nicht etwa mit Mollakkorden wie jetzt, sondern mit schreienden Dissonanzen geendet hätte; in zwei Instanzen hab' ich, eigentlich nur auf den Grund von zwei Pünktchen oder Kommaten, jedes Mal den Prozeß gewonnen, von zweien Kommaten, die ich ehrlicher Esel nicht ausradirte, trotzdem, daß Herr Dankmar Wildungen sie in seiner Abschrift übersah. Erst die halbblinden Augen jenes Greises haben die beiden Kommata wieder entdeckt; seine Liebe zu diesem Prozeß kam hinzu, er kannte die Geschichte des Ordens der Templer, die der St.-Johannesritter, er wußte zu beweisen, daß es im Ordenshause zu Angerode niemals Verwandte des Ritters Hugo von Wildungen gab ... er hatte seit Jahren über diesen Gegenstand Sammlungen angestellt und bewies bei der Stelle des Komthurs Hugo, wo er in der Cessionsurkunde sagt: Cedo propinquis meis equitibus ...

Vater, was versteh' ich von diesen Dingen! Ist es möglich! Also Wildungen Erbe dieser unermeßlichen Güter?

Die Stadt wird vom Staate die Erlaubniß zu einer[3396] Anleihe begehren müssen und auf die Ameliorationen der Güter rechnen, die die Summe verkleinern dürfte. Läßt sich leugnen, daß z.B. die Komthurei, die wir bewohnen, viele Spuren unsrer glücklichen Tage zeigt und daß ich allen Grund habe, sie binnen Kurzem mit Leidwesen zu verlassen ...

Das Haus gekündigt? rief die Fürstin voll Schmerz ...

Aber Schlurck hatte schon angefangen, sich in sein Loos zu finden ... Er sagte nur:

Ich verlass' es arm, ich könnte sagen mit dem Bewußtsein, ehrlich gewesen zu sein, wenn die Grabschrift: Üb' immer Treu und Redlichkeit! nicht gar zu trivial wäre. Oft mach' ich mir Vorwürfe, daß ich den Einsatz nicht wagte, keine entschlossene That beging, auf dem Wege nicht fortfuhr, wie damals, als ich den Schrein an der Schmiede in Plessen fand und ihn aufraffte ... Das Wagniß gab mir Riesenkräfte; ich hatte nur nöthig, dem Schmied Schweigen zuzurufen; ich wußte, daß er an einer alten Falschmünzerei betheiligt war, die auch Frau Pauline von Harder berührt ... tragen konnt' ich schwacher Mann den Schrein selbst, so riesenkräftig macht die Entschlossenheit, wie Goethe sagt: Muth ruft die Arme der Götter herbei! und wenn ich bedenke ...

Nichts, nichts, Vater! beschwichtigte Melanie den immer mehr sich nun vor Mismuth aufregenden Vater, der sich jetzt von seiner Tochter entfernte, nachdem er noch einen Akt kindlicher Liebe mit diesen Worten von ihr entgegengenommen:

[3397] Vater, nach dieser Nachricht über Dankmar treibt es mich hinaus nach Tempelheide zur guten Anna von Harder. Da sind zwei Kinder, die ich trösten, umarmen muß. Beide lieben sie die Brüder Wildungen! Vater! ... Du hast neue Prüfungen zu überstehen. Du sollst das Haus meiner Jugend verlassen. Ich bin nicht reich, du weißt wohl, wie ärmlich dieser Glanz ist; der einen großen Namen trägt. Aber ich beschränke mich, ich kann sparen, ich will nicht mehr in Allem glänzen, ich lernte entbehren. Da! Nimm, Papa! Es sind meine ersten Ersparnisse! Schlage sie nicht aus! Du machst mich glücklich, wenn du sie nimmst. Verschweig' es der Mutter oder sag' es ihr, wie du willst! Du darfst dich nicht unglücklich fühlen! Weiche nicht den Leiden, die dich bestürmen! Du gingst unversehrt aus den Gefahren der Versuchung; Vater, ich kenne die Versuchung! Nimm! Nimm! Ich höre Geräusch ... wenn es Egon wäre! Leb' wohl! Auf Wiedersehen! Sei nachsichtig mit dem Anfang! Es soll besser kommen!

Damit verschwand die Fürstin. Schlurck hatte ein Päckchen in der Hand, das sie aus ihrer Brust gezogen hatte. Es war eine Anzahl von Banknoten, nicht viel, aber man sah die Liebe. Ein tiefes Gefühl der Schaam überflog den zurückgekommenen, mitten im Genuß plötzlich auf Entbehrungen verwiesenen Epikuräer. Fröstelnd, wie immer nach einem Diner, aber nie so mit Unbehaglichkeit wie jetzt, schlich er sich aus dem Pavillon, sah nieder wie ein Verbrecher, hatte all' die guten Einfälle seiner heitern [3398] Laune vergessen und ging aus dem Hause wie ein zum Tode Geknickter. Diese dreihundert Thaler von seiner Tochter, die sie ihm als eine Art Taschengeld für seine Vergnügungen geschenkt hatte, diese Summe, bei der sie voraussetzte, er brauchte davon der Mutter nichts zu sagen, sondern könnte mit ihr heimlich die alten stillen Wege seiner Laune wandeln, entwürdigten ihn nicht etwa, sie rührten ihn nur, sie untergruben seine Philosophie, sie waren bei ihm der Anfang einer ernstlicheren Betrachtung über Das, was die Erde bietet und versagt und was der Tod auf alle Fälle sicher gibt ...

Aber damals, an jenem ersten Tage, wo die Fürstin so eine dauernde Aufopferung für die Ihrigen begann, war diese hinausgefahren nach Tempelheide. Sie fand Selma über Dankmar's Schicksal in Thränen, Olga bestürzt. Die Romantik solcher Gefahren gehörte nicht in die Welt der phantastischen Träume, aus der Olga durch Selma's Natürlichkeit immer mehr zu erwachen anfing. Anna von Harder, überrascht von Melanie's, der so hoch Gestiegenen, Güte, vermittelte zwischen ihrem ungeahnten Besuche und den beiden charakterstarken, auf Egon von Hohenberg wie auf das böse Prinzip erzürnten jungfräulichen Mädchenherzen wenigstens den Waffenstillstand, daß sie den Worten der schönen jungen Frau Gehör gaben:

Nehmen Sie dies Schicksal nicht so ernst! Sie lieben jungen Engel können nur gewinnen, wenn Sie Denen, die Sie lieben, gleich Ersatz für ein ernstes Leben sind! Sie, [3399] holde kleine Selma, die Sie mir noch gar nicht die Miene machen, die ich mir im Lauf der Zeit von Ihnen zu erobern gedenke, Sie, weiß ich recht gut, entbehren in Dankmar mehr als nur den Vetter. Und Komtesse Olga hat ja das Gedicht ihres Herzens vor aller Welt aufgeführt. Zu deuten wag' ich's nicht, nicht will ich Namen nennen, die wie weiße Wölkchen in blauen Lüften schweben, aber Herrn von Dystra möcht' ich doch sagen, daß er diese holde träumerische Wasserlilie des Schwarzen Meeres nicht nach dem Tempelstein entführen wird. Die Wildungen haben den Prozeß gewonnen durch zwei kleine Pünktchen, die Sie wol selber sind, meine Damen! Wäre die Excellenz schon aus der Stadt zurück, ich nähme lateinische Stunde bei ihr. Die beiden kleinen Kommata müssen Sie sein! Bedenken Sie diesen Triumph eines Eingekerkerten und eines Flüchtlings. So lebten die alten Märtyrer in Kerkern und trugen ihren Heiligenschein um die Schläfe, daß er durch die Eisenstäbe leuchtete! Sie konnten mit ihrem eignen Abglanz alle Ketten schmelzen und wandelten frei. Denn Das wissen Sie doch, daß die Ritter vom Geiste Niemanden untergehen lassen und alle Kerker öffnen, ob nun Fee'n oder junge liebende Mädchen, Engel oder Kobolde dabei helfen.

Die Fürstin war so angeregt, daß die Mädchen Vertrauen faßten und wenigstens nicht mehr scheu zur Seite standen, wenn Anna, die Melanie immer gern gehabt hatte, mit ihr sprach. Es war fast Abend, als die Fürstin von Tempelheide schied und drei Menschen zurückließ, [3400] die auch jetzt erst, nach diesem Besuche, wagten, in der ihnen selbst seit Mittag bekannten Entscheidung des Prozesses einen Lichtschimmer am Rande der Nacht zu erblicken, die sie Alle umhüllte. Sie hatten Dankmar's Gefangennehmung nicht nur erfahren, sondern sie selbst gesehen, selbst erlebt, daß vor Tempelheide ein Wagen vorüberfuhr, aus dem ein blasses Männerantlitz sie grüßte und eine Hand hinterwärts zeigte, gleichsam nach Hohenberg zu, oder wie Olga sagte, nach dem Leben, dem Glück, der verlornen Freiheit hin ... Sogleich hatten sie anspannen lassen, waren nach der Stadt, dem Profoßamte gefahren, hatten gehört, was ihnen, als sie, ohne Dankmar sehen zu können, verzweifelnd nach Tempelheide zurückkehrten, ein inzwischen angekommener Brief von Franziska Heunisch und einige Zeilen von Rodewald ausführlicher berichteten; aber doch auch die wunderbare Nachricht über den Prozeß brachten sie zu einstweiligem Trost aus der Stadt mit.

Der alte Obertribunalspräsident kam erst am Abend spät nach Tempelheide zurück. Er war seit Jahren zum ersten Male wieder in der Loge gewesen, deren oberste Würde er für das ganze Land bekleidete. Auf die ihm dort gemachte Mittheilung vom Schicksal der Männer, die durch sein eignes theilnehmendes und begeistertes Erforschen dieser Angelegenheit eine so große Summe gewonnen hatten, auf das Forschen und Lauern über seinen persönlichen Antheil an den Brüdern Wildungen erwiderte er:

[3401] Mein Studium galt nicht den Personen, sondern der Sache.

Und jede weitere Erörterung schnitt er durch das bekannte feierliche Wort ab.

Die Loge ist gedeckt.

[3402]
8. Capitel. Eine Maurerarbeit und ihre Folgen
Achtes Capitel
Eine Maurerarbeit und ihre Folgen

Die Kunde von der endlichen Lösung eines seit so langen Jahren schwebenden Rechtsverhältnisses hatte sich mit Blitzesschnelle verbreitet. Alle Stände nahmen Antheil. Jeder war von der unerwarteten Wendung überrascht, ja sogar befriedigt. Man war durch das strenge Regiment des Fürsten von Hohenberg geneigt, diesem drakonischen Systeme denn auch nicht jeden Erfolg zu wünschen. Die Kommune war unbeliebt ihrer immer schmeichlerischen, gesinnungslosen, im Glücke übermüthigen, in der Gefahr feigen Haltung wegen. Diese städtische Verwaltung hatte nichts gemein mit jenem festen, sichern Bürgertrotz, jener unwandelbaren Selbstgenüge, an der im Mittelalter die Willkür der Fürsten sich öfters tüchtig den Schädel einrannte. Die Schöffen und Bürgermeister zerflossen in Versicherungen einer Ergebenheit, die doch in keiner wahren Prüfung Stand hielt, sondern in Augenblicken der Gefahr die persönliche Selbsterhaltung zum einzigen Ziele steckte. Warum sollte man das Ergebniß jener zweihundertjährigen Streitfrage nicht zweien jungen Männern wünschen, die allerdings die öffentliche [3403] Meinung in bedenklichster Art in Anspruch genommen hatten? Waren ihre Unternehmungen für den Bestand der Ruhe und Ordnung, wie man im Kreise der Begüterten sagte, gefährlich, so hatten sie sich doch mitten in ihren verbrecherischen Handlungen vom Arme der Gerechtigkeit schon müssen aufhalten lassen. Man verrieth auch darin die sich immer gleichbleibende Thatsache des menschlichen Gemüthes, daß man Dem, der auf irgend eine Art das öffentliche Urtheil befriedigt hat, die ganze Herbigkeit der Sühne gern erläßt, sich mit seiner allgemeinen Demüthigung begnügt und noch mehr von ihm einzufordern zuletzt sogar eine beklommene Scheu hat. Dies plötzliche nun in die Verbannung und in einen Kerker gerufene Glück hatte sogar etwas Romantisches für die Welt, die im Grunde das Regelwidrige dem Regelmäßigen vorzieht, nur darf sie es in ihren nächsten Interessen nicht berühren und ihr nicht irgend welche Opfer auferlegen.

Noch eine größere Genugthuung der öffentlichen Meinung, von der Freude der Partheigenossen der Brüder nicht zu sprechen, lag in der Verkürzung der den Erben des Komthurs Hugo von Wildungen zahlbaren Summe. Das Obertribunal hatte im ermuthigenden Gefühle seiner Beweisauffindung doch die Grenze der Mäßigung nicht überschritten. Es hatte durch eine Verringerung der beanspruchten Summen jenem Verlangen nach dem Mittelweg entsprochen, das sich niemals abweisen läßt, wenn man erhitzte Gegner lange und hartnäckig auf ihre vermeintlichen [3404] Rechte bestehen sieht. Die Gründe, die das Obertribunal für seine Ermäßigung der streitigen Werthe auf eine Million, allerdings jenes schweren im Norden üblichen Geldes, anführte, konnten von keiner billigen Einsicht getadelt werden. Man schlug vor allen Dingen nicht nur den Genuß eines dreihundertjährigen Besitzes, sondern ebenso auch die Mühewaltung an, die diesen Besitz doch immer zusammengehalten hatte. Man konnte zwar nicht in Abrede stellen, daß die Liegenschaften der St.-Johanniter von Angerode, wenn man die Güter und Gebäude nach ihrem jetzigen Werthe veranschlagte – denn eine Entäußerung der Besitzungen selbst war kaum möglich – eher im Preise zu vergrößern, als zu vermindern waren; dennoch brachte man rechtliche Bedenken genug vor, die erwiesen, daß eine fast in Verjährung gekommene Erbschaft aufhöre, ihre ursprüngliche Integrität zu behalten, wenn ihre Erträgnisse öffentlichen Zwecken zugeflossen waren, bei denen, wie z.B. die Armenpflege, es unmöglich war, sich an Die zu halten, die eben entweder todt waren oder, wenn sie lebten, nur das Beneficium inventarii, Schulden, Kummer und Elend anbieten konnten. Diese beweiskräftige Verringerung der Summe auf eine Million war in der That eine Versöhnung mit allen Partheien und trug nicht wenig dazu bei, die fast abgöttische Verehrung vor den Entscheidungen des höchsten Gerichtshofes zu erhalten und den erschreckten, in dieser Zeit der Willkür und der Rechtsverfälschung über des Lebens allgemeine unsichere Schwankung zitternden [3405] Gemüthern das Hochgefühl zu erhalten, daß es in allen diesen Wirren doch noch einen festen Anker der Hoffnung, ein unentweihtes, den Himmelswolken näher als dem Erdendunst thronendes Asyl des Rechtes gäbe. Niemand war befriedigter als der Hof und in der That konnte man Egon von Hohenberg und etwa den Probst Gelbsattel nur die einzigen Widersacher nennen.

Egon's mathematische Natur sträubte sich gleich anfangs gegen das Vorhaben der Brüder Wildungen, noch als sie ihm befreundet waren. Seinen Studien zufolge weniger Jurist als Kameralist äußerte er oft, daß nichts so sehr die Auflösung der Gesellschaft und den Theorieenschwindel befördere als die Vorstellung, daß es ein ewiges, der Zeit und ihren Bedingungen völlig entrücktes Recht gäbe. Er hatte in seinem »Jahrhundert«, dem er die schärfsten Dialektiker gewann und aus Staatsfonds theuer bezahlte, oft genug schon gegen die Juristen polemisiren lassen, als diese kalten, aalglatten Zwischenwesen, die nicht Fisch nicht Schlange wären und doch auf dem Lande und im Wasser zugleich leben könnten. Fiat justitia, pereat mundus, war ihm die Devise einer Welt, die für jedes Verbrechen einen Entschuldigungsgrund und wenn auch nur aus der Sentimentalität herzuleiten wisse, und von den Juristen stand ihm die Gesinnungslosigkeit vollends so fest, daß er bei jedem Morde, bei jeder Cause célèbre, die zur öffentlichen Debatte kam, wettete, die Advokaten würden doch wieder Alles thun, um dem einfachsten nächsten sittlichen Gefühle mit Hundert Truggründen [3406] sein Sühnopfer zu entreißen. Er war deshalb sonderbarerweise ein Freund der Geschwornengerichte, selbst wenn sie politische Verbrecher freisprachen. Er sagte sich wohl, daß es schlimm in den Gemüthern aussehen müsse, wenn man Feinde der öffentlichen Ruhe straflos haben wolle, aber er hob doch die Wohlthat hervor, wenn sich die Gesellschaft das Recht erhielte, selbst zu bestimmen, was ihr Recht schiene. Er bewies, daß die Abschaffung der Todesstrafe immer nur von Grüblern, nie von diesem Volksgefühle der Selbsterhaltung und des Rechtes als Nothwehr gegen Verbrecher wäre beantragt worden. Diese Entscheidung des Obertribunals, grade in ihrer Unabhängigkeit von den Persönlichkeiten der Gewinner so bewundert, schien ihm im Gegentheil das verderblichste Zeichen einer Zeit, die selbst nicht wisse, was sie wolle und in der Vergötterung von Abstraktionen an den faktischen Beständen zu Grunde gehen müsse. Bitter genug war auch die Art, wie er den Vorfall an die von ihm und der Hofpolitik in's Leben gerufene Volksvertretung brachte und die Ermächtigung verlangte, der Residenz die Anfertigung von einer Million Stadtkämmereischeinen zu gestatten.

Die Freude, die alle Welt theilte, daß zwei halbblinde Augen zwei kleine Punkte in einer alten Urkunde entdeckt haben konnten, kannte der Fürst nicht. Er war eines Abends empfindlich genug, sein Erstaunen auszudrücken, als er Propst Gelbsattel in den kleinen Cirkeln des Hofes eingeladen fand und er von diesem die Auseinandersetzung [3407] hören konnte, um derentwillen er grade auf Veranlassung des Generals Voland citirt worden war. Man hatte in Erfahrung gebracht, daß die alte Excellenz grade an dem Tage des Urtheilsspruches seit Jahren zum ersten Male wieder die Loge besucht hatte. Die junge Excellenz, die gleichfalls anwesend war, (man gab im Hoftheater ein klassisches Stück) wußte den Tag anzugeben, wo Papa vor zehn Jahren zum letzten Male in die Loge fuhr. Das Ereigniß schien so mystisch, daß man den Vorschlag des Generals annahm und den seit Jahren fallengelassenen Propst zum Thee befahl. Man denke sich Gelbsattel's Entzücken! Hätte man ihn gradezu um eine Enthüllung angegangen, er würde das ganze Handwerkszeug seiner Tempelbauten an den Stufen des Thrones oder auf die Präsentirteller des etwas spärlich dargereichten mürben Gebäckes niedergelegt haben. So aber sprach er, da man grade wie immer nur ein leises Lüften des Isisschleiers wünschte, etwa nur andeutend Folgendes:

Dieser Rechtsfall hat den würdigen Mann wie um zwanzig Jahre verjüngt. Ich will nicht die Gewissenhaftigkeit des Obertribunals antasten, aber ein so genaues Studium des vorliegenden Falles war nur möglich, wo die Lieblingsideen des Präsidenten mit ihm in Berührung kamen. Er hat die Geschichte der Maurerei bis in die kleinsten Details erforscht und leitet sie von den ältesten Tagen her. Es ist ihm die Geschichte der Geheimbünde derselbe Strom, der bald offen bald versteckt unter Felsen, bald [3408] gar durch Felsen selber hindurch Allen unsichtbar dahinflösse. Wie Seen auf Meilenweite mit den Wasserfällen eines großen Gebirgskammes zusammenhingen, so wäre auch die Maurerei derselbe Gedanke, der schon den Geheimbünden Indiens, Egyptens, Großgriechenlands zum Grunde gelegen hätte. Die Menschen hätten sich immer aus den herrschenden Thatsachen und deren Zwangsverbande in einen freien unsichtbaren Verband höherer Wahrheiten geflüchtet. Wie die Naturreligion ihn auf die Thierwelt führte, ist bekannt. Er sieht in den Thieren, die am Basler, Freiburger, Strasburger Münster in der Architektur angebracht sind, Symbole der Maurer und Architekten, die über ihrer Zeit gestanden hätten, wie gleichsam alle Künstler, ja besonders die Dichter und Schauspieler gewissermaßen ein Arbeiten vor und eines ja auch hinter den Coulissen hätten ...

Man blickte lächelnd auf den geschmeichelten Sohn des Vaters, der für Tempelheide nicht existirte, und sich, weil es der alte Herr wünschte, nur jährlich einmal, nämlich an dessen Geburtstage dort sehen ließ ...

Gelbsattel fuhr nach diesem theatralischen Seitenblicke fort:

Man hat in Böhmen Tempelherrnburgen und Tempelherrnkirchen gefunden, bei denen eine fast egyptische Thiersymbolik als Verzierung angebracht war. Im Prozeß gegen Jakob Molay wurden als Beweismittel seiner Ketzerei Spuren von Thierverehrung der Templer gebraucht und unwiderleglich ist die Geschichte von dem Idol, einem [3409] Kopfe, den man im Tempel zu Paris fand, einem Amuleth ohne Zweifel, das man Bafomet nannte, Mahomet's Name in syrischer Aussprache. Die Templer brachten orientalische Verwilderung mit und wurden sogar beschuldigt, der Lehre von der Seelenwanderung zu huldigen. Der Präsident läugnet diesen Götzendienst und vertheidigt die Templer nur als Anhänger der Lehre von der Duldung, die durch diese Orientalismen bewiesen wäre. Nach ihm flüchteten sich die Templer nach England und erwachten im Jahrhundert der Toleranz zum öffentlichen Leben als Freimaurer. Die Templer wurden in Deutschland Johanniter. Den Tempelstein bei Buchau, den Herr von Dystra wunderbar schön ausbauen lassen soll ...

Man bestätigte dies Urtheil und hatte seine Freude an der Nachbarschaft einer neuerstehenden Burgruine ...

Den Tempelstein warfen vielleicht die Bannbullen des Papstes nieder; doch in's Innere Deutschlands zogen die Erben der Templer. Über Angerode machte der Präsident seit Jahren Forschungen. Als die Gebrüder Wildungen in erster Instanz verloren hatten und die dunkle Kunde des wieder aufgenommenen Prozesses an den Präsidenten kam, soll er gesagt haben: Der Staat hat nicht Recht, die Kommune hat nicht Recht, schafft die Cessionsurkunden des Komthurs Hugo von Wildungen und seiner Erben, diese können den Ausschlag geben! Und grade beide hatten sich gefunden. Dennoch trug die eine Cessionsurkunde in keiner Instanz den Sieg davon, da die Interpretation des scharfsinnigen Herrn Justizraths Schlurck ...

[3410] Fürst Egon von Hohenberg ertrug ruhig, aber finsterblickend die flüsternde Wirkung dieser Namensnennung ...

Es zu beweisen schien, daß Hugo von Wildungen entweder für sich die ihm gemachte Quote der Theilung antreten wollte oder für seine »nächsten Ritter« propinqui equites entsagte, worunter man auch seine Verwandten hätte verstehen können, wenn sich Verwandte des Komthurs unter den Rittern gefunden hätten. Dankmar Wildungen, ein Abentheurer wie er ist, reiste in Folge dieser Interpretation nach Angerode, hoffte dort die Verzeichnisse der Ordensmitglieder vom Jahre 1550 zu finden, kehrte aber unverrichteter Sache zurück. Er wagte nun die letzte Instanz. Wie groß war das allgemeine Erstaunen, als der Präsident sich dieses Prozesses mit Liebe annahm! Den Gedanken an die Beziehungen seiner Familie, besonders der herrlichen Anna von Harder zu den Wildungen, muß man ganz fallen lassen, ihn trieb zum Studium dieser Sache nur seine Schwärmerei für die Geschichte der geheimen Toleranzbünde ...

Und ist es wahr, sagte die Königin, die von der Toleranz nichts wissen wollte, ist es wahr, daß zwei Interpunktionszeichen den Ausschlag gegeben haben?

Allerdings, Majestät! erklärte Propst Gelbsattel und fiel dem General Voland in's Wort, dem der Propst in seiner offenbar etwas ausgeplauderten späteren Maurerrede des Präsidenten fast schon zu lange sprach. Allerdings! Die Stelle in der Originalurkunde, datirt aus Venedig, [3411] lautet: Ich bekenne, daß ich die mir bestimmte Theilung in Besitz nehmen werde,adhuc vivus, so lange ich lebe, oder wenn ich früher sterben sollte, bewillige ich sie, cedo propinquis equitibus, wie man bisher übersetzte, den nächsten Rittern, d.h. den mir an Range Nächsten, also dem Orden wieder selbst, das heißt, den Erben von Angerode, Staat oder Stadt. So Justizrath Schlurck. Dankmar Wildungen aber sagte: die Stelle hieße: meinen anverwandten Rittern! Er forschte in allen möglichen Annalen, ob die Wildungen verwandte Ritter im Kapitel gehabt hätten, würde aber auch selbst, wenn er deren gefunden hätte, nicht durchgedrungen sein, da doch immer wieder dann die Ordenseigenschaft über die Berechtigung zur Beerbung entschieden hätte. Auf eine andere Erklärung konnte Dankmar Wildungen nicht kommen, da er die Abschrift, die er von der Urkunde nahm, zu flüchtig gefertigt hatte und sie für gleichlautend mit der Urschrift hielt. Der Präsident erst entdeckte in dem ächten Original zwei Punkte vor und nach equitibus und erläutert: Ich cedire meinen Verwandten, Rittern, d.h. Adligen, die das Recht der Ritterguts- und Dominialerbschaft haben und demnach vollkommen berechtigt waren, in meine Rechte einzutreten, diese Theilungsquote. Er wies aus gleichzeitigen Quellen nach, daß der Ausdruck equites fürnobiles öfter vorkäme, wenn unter ihm adlige Patrizier der Städte und Grundbesitzer des flachen Landes zusammengefaßt wurden, und an Beweisen, daß die Agnaten der Wildungen grade in den Städten [3412] Thüringens als Patrizier wohnten, fehlte es nicht. Eben durch ihre Wohnsitze in Bürgerkommunen verlor sich mit der Zeit ihr Adel. Die Entscheidung ist nun völlig klar, hängt mit dem Sinne der ganzen Urkunde zusammen und es fehlt jetzt nur noch das baare Geld, wofür die Stadt und ihr Credit, Se. Durchlaucht Fürst Hohenberg und ein guter Kupferstecher zu sorgen haben.

Man fühlte sich außerordentlich angeregt und befriedigt von diesem Vortrage, der offenbar aus der Loge kam. General Voland hatte eine Menge von ähnlichen Entscheidungen zur Hand, zeichnete Wappen und ließ die Herrschaften rathen, was die Rebus derselben zu bedeuten hätten. Es währte lange, bis der Premierminister mit der Bemerkung hervortreten konnte:

Ich will wünschen, daß die Ritter vom Geiste eine so harmlose Fortsetzung der Freimaurerei sind, wie der würdige Chef unserer Justiz diese aus dem Kopfe des Muhamed und der Toleranz gegen die Thiere herleitet. Ein Zusammenhang mit den Jesuiten wäre schon bedenklicher. Man muß die Untersuchung abwarten, die leider umständlicher ausfallen wird, als mir im Interesse dieser Gebrüder Wildungen lieb sein kann, die zwei reichbegabte, an sich sehr edle und sonst des vollsten Genusses ihres Glückes würdige junge Männer sind.

Es lag eine solche düstre Wahrheit in diesen kräftig betonten Worten, deren Beziehung man wohl verstand, daß das Thema verlassen wurde und Propst Gelbsattel Zeit fand, sich zu seinen Antworten über die innere Mission [3413] zu sammeln, über die er angelegentlichst befragt wurde. Früher entschiedenster Gegner derselben hatte er sich vielleicht erst unterwegs in der Kutsche, die ihn zu Hofe fuhr, eine Brücke gebaut, um nun als ihr Verehrer aufzutreten und mit General Voland und andern Elementen der kleinen Cirkel jene Dialoge aufzuführen, in welchen man die Wahrheiten und Irrthümer der Zeit von allen Seiten beleuchtete, ohne die Kraft zu besitzen, davon irgend etwas Anderes im Leben auszuführen, als was eben der rastlose Drang des Adels-, Beamten- und Militairegoismus als einzige politische Richtschnur vorschrieb ...

Fürst Egon aber konnte nicht anders erwarten, als daß die Stände ihre Zustimmung zur Emission von einer Million Stadtkämmereischeinen geben würden. Die Bedingung wurde nur gestellt, daß die Stadt nun das ihr verbleibende alterthümliche Erbe auch einer neuen Verwerthung unterwürfe und die öffentliche Kontrole gestattete. Die Häuser in der Brandgasse sollten niedergerissen, neugebaut, neuorganisirt werden. Man wollte, daß nun auch alle alten Herbergen provisorischer Zustände gelüftet, die Spelunken lichtscheuer Bettlerexistenzen gereinigt würden. Dabei traf sich der eigne Fall, daß gerade ein Mann, der statt Bartusch's, des Blutsaugers, des bösen Drängers und Quälers der Brandgasse, ein Wohlthäter, Rettungsengel und milder Richter dieser Höhlen geworden war, nun in die Lage kam, an der materiellen Befriedigung der beiden Männer, die sich als [3414] die eigentlichen Herren der Brandgasse jetzt ergeben hatten, an dem Abkaufe dieser Erbschaft betheiligt zu werden.

Es war zuerst im November des vorigen Jahres gewesen, als sich die verdächtigen Wolken, die die Erscheinung Murray's begleitet hatten, allmälig verzogen. Ein reicher, angesehener Fremder, dem die heimischen Bekanntschaften den Glanz seines Namens mehrten, erbot sich in demselben Augenblicke zu einer ansehnlichen Kaution für ihn, als er durch die Zeugnisse Louis Armand's fast gezwungen war, einzugestehen, daß er im Forsthause bei Plessen nur von einem in Amerika verstorbenen Bruder des Schmieds Jakob Zeck und seiner Schwester Ursula Aufträge zu überbringen hatte und bei dieser Gelegenheit in die Lage kam, einen tückischen, mörderischen Schlag, den der Blinde auf seine Schwester ausführen wollte, durch jedes nächste ihm zu Gebote stehende Mittel zu hintertreiben. Diese Aussagen blieben unwiderlegt, da Louis Armand damals noch in dem Ansehen stand, ein Jugendfreund des Ministers zu sein. Die Aufträge, die Pax später von Charlotte Ludmer für seine Hohenberger Reise bekommen hatte, waren nicht auf eine Gewaltthat gerichtet. Vermuthete sie Friedrich Zeck in jenem Engländer, der sich ihrer Nichte so eifrig angenommen hatte, so konnte ihr nur an dessen Beobachtung, geräuschloser, vielleicht durch Geld oder durch stille Gewalt vermittelter Entfernung, nicht aber an einer Verhaftung liegen, die zuletzt Geständnisse zu Tage gefördert hätte verletzendster [3415] Art für lebende, in sorglose Sicherheit eingewiegte Personen. Deshalb hatte sie von Fritz Hackert nur unter der Hand erfahren wollen, ob nicht dieser Murray ein Gauner und an diesen und jenen Merkmalen erkennbar wäre. Besorgniß genug erweckte ihr Hackert's Schweigen, noch größere die Freigebung des Gefangenen auf ein bedeutendes Lösegeld. Endlich aber erhielt sie die Nachricht von Hackert, daß jener Fremde ein wirklich harmloser Emissär amerikanischer religiöser Vereine wäre, der am liebsten auf Kirchhöfen weile und sich mit dem Schicksale der Armen beschäftige. Gern hätte sie ihn selbst gesprochen, gern von ihm gehört, wann, wo, unter welchen Umständen jener Friedrich Zeck gestorben wäre, auf dessen Veranlassung er die schlimme Begegnung im Plessener Forst hatte, allein der gern und öfters bei ihr gesehene Hackert brachte ihr darauf hin eine wunderlich zustimmende Antwort des Sonderlings, der sie entnehmen konnte, daß hier in der That einer jener Bußprediger vorhanden war, der diese Gelegenheit benutzen wollte, nun auch ihr recht in's Gewissen zu reden. Auf die Gefahr hin, daß ihr dieser Mann von einer jenseitigen Welt sprechen konnte, schlummerte ihre Absicht, Murray kennen zu lernen, und ihre Furcht ein. Sie mochte solche »Quäker« nicht sehen.

Friedrich Zeck hatte nie die Absicht gehabt, sich etwa an Pauline von Harder und Charlotte Ludmer zu rächen. Es war eine wirkliche Frömmigkeit, die ihn erleuchtete. Es lag ihm im Leben nur noch an dem Loose des Knaben, [3416] den aufzusuchen ihn dasselbe Pflichtgefühl trieb, das die frömmelnde Fürstin Amanda einst ihr Testament hatte niederschreiben lassen. Wie er Hackerten finden mußte, erfüllte ihn freilich mit Schmerz genug. Er fand doch zuletzt einen verwilderten, trotzigen, aller Innerlichkeit baaren Sinnenmenschen, mit dem er sich, um sein besseres Gefühl zu wecken, wohl hütete, zu verfahren wie mit Auguste Ludmer. Die gewaltsame Unterwerfung unter seinen eignen edlen Geist hätte er wohl ausgeführt, er hätte nur seine Geschichte, die Namennennung der Mutter Hackert's anwenden dürfen, um den Hochmüthigen ganz in der Gewalt zu haben, aber er lehnte diese Gewalt ab, er fürchtete, etwas Künstliches in seine Entwickelung hineinzutragen. Er wollte seinen Sohn gewähren lassen und ihm selbst nur als eine Anlehnung seines eignen Wachsthums dienen. Die Erfolge dieser Erziehung waren im Beginn wenig ermuthigend. Er entsetzte sich genug, wie verworren, ja grundverdorben diese Seele war. Vor dem tiefeingewurzelten Pessimismus derselben schauderte ihn. Alles wäre schlecht, Jeder sähe nur auf seinen Vortheil, Alles löge und die Tugend wäre Maske, die nur die Dummen blendete! So lauteten seine stehenden Sätze, die er selbst mit der Nachwirkung der Gefühle verband, die ihm die Freude geweckt hatte, seinen räthselhaft verborgenen und sich ihm noch nicht ganz enthüllenden Vater damals auf dem Kirchhofe zu finden. Seine Menschenverachtung ging soweit, daß er selbst am Vater zu bohren, an dem zu wühlen, zu untergraben anfing und [3417] ihm gleichsam Fallen stellte, um die Schadenfreude zu genießen, auch ihn straucheln zu sehen, auch ihn auf Prahlerei und Eitelkeit zu ertappen. Er konnte nicht begreifen, warum Murray in der Brandgasse wohnen blieb und die drei Zimmer der Louise Eisold behielt. Er vermittelte manche Bestellung, die vom Vater für Kupferstecherarbeiten wieder übernommen wurde; aber wenn er sie nur langsam ausführte, wenn er hören mußte, daß den Vater dieser oder jener Vorfall in den Familienhäusern, bald auf Nr. 30, bald auf Nr. 50 in Anspruch genommen hatte, so konnte er das schadenfroheste Gelächter aufschlagen und alle Bemühungen, dieser Bande, wie er sie nannte, nützlich zu sein, als rein verlorene Mühe verspotten. Diesem Vieh, sagte er, ist sein Schmuz so behaglich wie dem Reichen seine Eiderdaunen. Kein Champagner gibt dem Schlemmer die Wollust, wie Diesen hier der erwärmende, scharf alle Nerven ergreifende und die Sinne in eine exaltirte Spannung versetzende Branntewein! Seht nur dies wonnige Überbeißen der Lippen, wenn diese Männer und Weiber aus ihrer Flasche getrunken haben! Seht dies Schmunzeln des Mundes und Runzeln der Augenbrauen, als wenn der Genuß brenne und Übelbehagen erwecke, aber es ist nur die Maske der süßesten Empfindung, die sie hebt und alle Phrasen von Entsagung und wahrem Menschenglück verlachen macht. Hört nur die zärtlichen Namen, mit denen die Flasche benannt wird, wie erwärmt sie von Tasche zu Tasche im Kreise umherwandert, wie treu sie mit auf die Arbeit, mit [3418] auf den Spaziergang genommen wird und wie sie immer die Lebensgeister wach erhält, wie sie zu hoffen, zu hassen, zu lieben lehrt. Ha! So ein Fluch, aus ganzer Seele losgelassen über die Welt und Alles, was in ihr lebt und krabbelt, kann aus keinem Dichtermunde bei aller Begeisterung kräftiger kommen wie aus dem mit Spiritus stimulirten Zustand dieser Menschen, die zuletzt, wenn die Spannkraft der Nerven nicht mehr aushält, erst Morgens in ein Zittern verfallen, dann Mittags über Magendrücken wimmern und zuletzt Abends überall Mäuse, Ratten sehen, Wanzen, Flöhe, Ungeziefer und dabei heulen und schreien: Es will mich was fressen, Hülfe! Hülfe! Ha, Papa, das ist dann der Säuferwahnsinn und die Geschichte ist aus. Die Kerle kommen in's Tollhaus; aber lustig, die Jungen machen's doch den Alten immer wieder nach! Man müßte die Nester alle ausnehmen, wenn die Brut noch halb in den Eiern sitzt, müßte ihnen allen den Kopf eindrücken oder sie in eine Anstalt zusammenthun, wo sie dann freilich wieder andere Laster lernen, die auch zu keinem seligen Ende führen. Vater, es gibt für diese Canaille der Wonnen, die dabei auch nichts kosten, gar zu viel!

Das war dann freilich eine Schilderung, grauenhaft genug und leider nur zu wahr! Aber der Vater hatte den wenig ausreichenden Trost, daß solche und ähnliche Äußerungen seines Sohnes noch mehr aus dessen immer mehr zunehmender Hinfälligkeit herrührten. Die Mondsucht hatte ihn nicht verlassen. Jede Anfrage bei erprobten [3419] Ärzten führte auf das Ergebniß, man müsse die Jahre abwarten und sich mit äußern Schadenverhütungen begnügen. Hackert blieb, da der Vater sein Inkognito nicht aufgab, in seiner Wohnung bei Zipfels. Friedrich Zeck wünschte nicht, daß sie zusammenzogen. Er fürchtete, daß dann Einer vom Andern beherrscht würde und die Alltäglichkeit bald den Reiz verdränge, den es doch für den Sohn hatte, einen Ort zu wissen, wo er sich in reineren Lebensfluthen manchmal baden konnte, führte ihn auch der Weg an Schmuz und Schlamm vorüber. Der Ekel, mit dem Hackert regelmäßig bei Zeck eintrat, that diesem wohl und immer hoffte er, es würde sich endlich in ihm der Entschluß zu einer That regen, zu irgend einem Aufschwunge, zu irgend einem ihn erhebenden Berufe. Sein Verhältniß zu Pax hatte Hackert keineswegs aufgegeben. Er gefiel sich zu sehr in den Zerstreuungen, die der Wandel eines solchen geheimen Agenten mit sich brachte. Da durfte er in aller Leute Karten sehen, über Stutzer lachen, die auf den Promenaden stolzirten und das ihnen gleichsam von der Polizei umgehängte Halsband unter der seidnen Cravatte verbargen, er durfte alle Spelunken des Elends, der Gaunerei, des zügellosen Vergnügens besuchen. Er war seit Jahren an diese Orte wie gebannt. Früher zog ihn da der Trieb der Theilnahme an den Ausschweifungen hinein, jetzt brauchte er sie nur in höherm Auftrage zu besuchen, aber magnetisch zogen sie ihn. Wenn er eine dumpfe Trommel in der Ferne hörte, das Schmettern einer Trompete, wenn die Geigen so [3420] weinerlich lockend strichen, behauptete er, nicht widerstehen zu können. Wenn die eigne Kraft zur Sünde aufhört, regt sich der Trieb, Andere zu verführen. Alte Buhlerinnen kuppeln, ehemalige Verbrecher geben an. Von allen diesen Erfahrungen wiederholte sich etwas an Hackert, nur daß er durch einen gewissen, man möchte ihn philosophischen Standpunkt nennen, bewahrt blieb, dabei in das völlig Gewöhnliche und Gemeine zu verfallen. Wenn er acht Tage in der Brandgasse beim Vater nicht gewesen war, fing diesen an zu bangen; er wußte, daß Fritz dann auf schlimme Rückfälle gekommen war, irgend einer Verlockung folgte, kein gutes Gewissen hatte; aber das bessere Gewissen überhaupt bei Hackert anzunehmen war schon ein Gewinn und immer hatte Zeck die Genugthuung, daß er endlich doch kam, matt und müde zwar, angeekelt von sich selbst, mismuthig, verstimmt und meist Geschichten mitbringend, die Murray zur Anknüpfung seiner Lieblingsbeschäftigung benutzte, den Werken der innern Mission, wie sie von ihm in ganz anderm Sinne als von den Modevereinen verstanden wurde; aber er kam doch, ruhte sich beim Vater doch aus, seufzte doch und wünschte sich nicht selten den Tod.

Otto von Dystra hatte vor seinen Reisen nach dem Tempelstein Sorge getragen, seinen alten Schützling mit Persönlichkeiten und Institutionen bekannt zu machen, die ihm nach zwei Seiten hin nützlich sein konnten, sowohl seine alte Kunstübung wieder aufzunehmen, wie die ihm eigne Bekehrungsmethode unter den sittlich [3421] Verwahrlosten ungestört zu betreiben. Im Besitz eines ausreichenden Vermögens arbeitete Murray nach Neigung. Da er nur die schwierigeren Auf träge annahm und sie mit großer künstlerischer Vollendung ausführte, ließ er sich in seinen Leistungen Zeit. Die Mußestunden, die er sich reichlich gönnte, verwandte er darauf, von den Vereinen, deren Mitglied er geworden war, Aufträge anzunehmen. Anfangs fügte er sich der Methode, die hier allgemein in diesem Fache der Seelsorge schon galt. Er brachte Notizen, empfahl die Hilfsbedürftigen, zeigte bald den Behörden, bald den Vereinen auffallende Misstände an, aber bald sah er, daß das Alles nur wie ein Tropfen auf einen heißen Stein war. Man gab und die Wirkung zischte auf und ließ nichts als ein wenig Rauch von Dank zurück. In den statistischen Tabellen der Vereine, ihren Programmen und Berichterstattungen nahmen sich diese Thatsachen freilich Wunder wie großartig aus. Da hieß es: Achtzig armen Wöchnerinnen Leinenzeug gegeben, dreihundert Kranke gepflegt, dreißig begraben und so und so und so vielen Waisen oder Witwen diese oder jene vorübergehende Wohlthat erwiesen! Murray sah bald ein, daß diese Methode auch zu dem scheußlichen Lügennetze der Zeit gehörte. Nur zu wahr traf in den meisten Fällen die Spottrede seines Sohnes ein, der diesen Theil der Menschheit in solcher auf die Symptome kurirenden Art für unverbesserlich erklärte. Gern hätte er die Macht des Christenthums zu Hülfe gerufen, aber zu seinem tiefsten Leidwesen erkannte er, daß in Europa[3422] das Christenthum eine viel unreinere gesellschaftliche Gestalt angenommen hat als jenseit des Meeres, wo sich nicht soviel kirchliche und politische Verwirrung und irdische nichtswürdige Entstellung in die reine Christuslehre gemischt hat. Wenn er den Armen und ergrimmten Nothleidenden mit Christus als dem Waizenkorn und dem wahren Brote des Lebens kam, so fand er selten einen guten Boden für diese Aussaat und mußte in hundert Fällen neunzigmal erleben, daß man ihm das Christenthum als eine durch die Weltlichkeit der Kirche, den Luxus der Geistlichen, die geheuchelte Frömmigkeit der Großen, der Armuth über und über verdächtig gewordene Institution darstellte und ihm mit einem Unglauben antwortete, der an die absolute Nichtslehre seines Sohnes für ihn schaudernd genug erinnerte.

Eines Tages kam ihm ein Lichtstrahl bessrer Hoffnung. Er hatte, es war im Frühjahr schon, bei einer Versammlung einen jungen Geistlichen reden hören, der als Prediger des Gefangnenhauses erst vor Kurzem eingetreten war. Er entsann sich des Namens Oleander sehr wohl. Er erinnerte ihn an Louis Armand, diesen liebenswürdigen jungen Freund, der vor einigen Monaten hatte aus einem Lande entfliehen müssen, das er mit so viel Hoffnungen betreten durfte. Friedrich Zeck war mit Louis Armand in Verbindung geblieben, hatte manchen Brief von ihm an Dystra, von Dystra wieder Einlagen an ihn bekommen; Zeck hatte Kunde von dem Bunde der Ritter vom Geiste und durfte vermuthen, daß auch Oleander zu ihm gehörte.

[3423] Man rühmte die Standhaftigkeit, mit der Oleander auf der Festung Bielau einen jungen, wegen Meuterei erschossenen Soldaten zum Tode begleitete. Seine Predigten fanden den allgemeinsten Beifall und segensreich sollte sich auch sein Wirken in den Zellen des Gefangnenhauses erweisen. Briefe, die Friedrich Zeck von Armand für Oleander erhielt, brachten ihn diesem jungen Geistlichen näher. Er sah ihn öfter, verstand sich mit seinen Meinungen über die Zeit und über die Menschen und zweifelte nicht, daß auch er zu dem vielbesprochenen Geheimbunde gehörte; denn er rühmte von sich, daß er durch Siegbert Wildungen und Louis Armand eine große Umwälzung seines Innern erfahren. Doch rückte das eigentliche Geheimniß des Bundes Zeck selber nicht näher, er wünschte es auch nicht. Zeck sah zu sehr seine Unwürdigkeit und trug diese Erkenntniß voll Demuth. Er war in demselben Falle wie Dystra. Beide wurden von dem Bunde benutzt, ohne daß sie in ihm lebten.

Wie erstaunte Friedrich Zeck im Laufe des Sommers, als nach längerm Zusammenwirken auf dem Gebiete der innern Mission Oleander eines Tages ihm doch ein sonderbares Zeichen machte, das er nicht verstand! Oleander hatte den Kupferstecher anfangs für einen respektablen Mann angesehen, von dem er nicht voraussetzen konnte, daß er mit dem Geheimniß, in das ihn Siegbert brieflich eingeweiht hatte, bekannt war. Später, als er sich bedeutender und charakterfester entwickelte, hatte er prüfend auf ihn geblickt, endlich im [3424] Laufe des Sommers gewagt, ihn mit dem Bundeszeichen zu begrüßen. Als Murray den Gruß nicht erwiderte, sagte Oleander:

Sie dienen den Rittern vom Geiste und gehören nicht zu ihnen?

Murray bestätigte diese Vermuthung und lehnte genauere Eröffnung ab ...

Oleander aber sagte:

Diese Ablehnung hilft Ihnen nichts, liebster Murray! Sie werden gewonnen, ohne daß Sie wollen. Noch muß ich nun selbst Anstand nehmen, mich zu offenbaren. Lassen Sie mir nur noch einige Wochen Zeit und ich will Ihnen dann sagen warum?

Aus den Wochen wurden Monate. Der Herbst war da, Ackermann hatte sich in der Residenz als Rodewald enthüllt. Abschied nehmend von Oleander hatte Rodewald des Begeisterten soviel von Murray gesprochen, so sehr gerühmt, daß in ihm eine große sittliche That verkörpert wäre, so sehr die Mäßigung gepriesen, mit der er noch jetzt eine ernste Aufgabe beherrsche und verwalte, daß Oleander sich seines Versprechens entsann und eines Abends, als er mit Friedrich Zeck durch die Laster- und Elendshöhlen der Brandgasse sich müde gepilgert hatte und da, wo man früher die Sendboten der Liebe die Treppe hinunterwarf, wenigstens die persönliche Sicherheit des guten Nachbars im dritten Hofe antraf (der schon in die Lage gekommen war, beraubt zu werden und Die, die ihn hatten nächtlich überfallen, in seiner Wohnung[3425] knebeln wollen, nicht angezeigt, sondern sie zu Freunden gewonnen hatte), zu Murray sagte:

Aber Sie, Mann des Friedens, wenn es wahr ist, daß Sie diese eisernen Stäbe – es war in Murray's Wohnung – hier vor Verbrechern schützen müssen, die Sie zu Ihren Freunden zu erheben vorziehen, statt in die Gefängnisse zu schicken, so muß ich auf mein Versprechen zurückkommen, Sie mit dem Bunde der Ritter vom Geiste bekannt zu machen!

Warum thun Sie Das erst jetzt? fragte Friedrich Zeck.

Weil ich an der unverbesserlichen Eitelkeit der Studirten leide; sagte Oleander. Es ist ein Gesetz unsres Bundes, nur Die zu gewinnen, die über uns stehen. Es hieß anfangs, die gesellschaftlich über uns stehen, doch hat Dankmar Wildungen die Vorschrift verbessert und jede andre Superiorität, auch die der Sitte und der Bildung, des Geistes und des Herzens zugestanden. Ich darf also nur Menschen gewinnen für den Bund, von denen ich mir sagen muß, daß sie irgendwie über mir stehen. Und ich Eitler, ich war fast so eitel wie sonst Propst Gelbsattel. Ich sage: sonst! Denn seitdem dieser große Mann erfahren hat, Ritter vom Geiste könnte man nur durch einen Menschen werden, der unter uns stünde, bemüht er sich, die Demuth selbst zu sein. Er duckt sich gegen Jedermann, sieht überall auf die Erde wie nach einem verlornen Groschen, möchte Jeden ermuntern, sich ihm zu nähern. Aber er macht, sagte neulich der Doktor Drommeldey in Tempelheide, er macht die sonderbare Entdeckung, [3426] daß er nicht nöthig hätte, zu den unter ihm Stehenden herabzusteigen. Niemand denkt daran, ihn für einen Größeren zu halten, als sich ...

Friedrich Zeck war in der Prüfung des Satzes, man müsse immer von den unter uns sich Fühlenden geworben werden, noch so verloren, daß er kaum daran dachte, die ihm von Oleander angethane Ehre abzulehnen. Oleander aber theilte ihm Geschichte und Bestand des Bundes mit, gab ihm die Erkennungszeichen, deutete ihm die Symbolik und wollte ihm schon das Gelöbniß abnehmen, den näher bezeichneten geheimen Pflichten des Bundes sich zu unterwerfen.

Staunend hatte Friedrich Zeck zugehört. Erst jetzt fiel ihm ein, er, ein Falschmünzer, ein entsprungener Verbrecher sollte sich in diesen Bund der edelsten Menschen stehlen? Unruhig sprang er auf und lehnte seine Betheiligung ab, indem er im Übrigen die heiligste Verschwiegenheit über das bereits Vernommene gelobte.

Billigen Sie die Idee nicht? fragte Oleander.

Ich bin ihrer nicht würdig, meine Kraft ist zu schwach. Lassen Sie! sagte Zeck.

Ihre Kraft zu schwach? erwiderte der junge Geistliche. Fühlen Sie denn nicht, daß im Grunde erst durch diese Schöpfung Das, was man innere Mission nennt, ein Ziel und einen Zusammenhang erhält? Wenn irgend etwas zur Glorie des Christenthums gethan werden kann, so bin ich gewiß keiner der Letzten, der freudig Hand an's Werk legt. Aber aus dem Geiste des Christenthums allein sind [3427] diese Thaten der Liebe nicht mehr zu fördern. Sie müssen, wie die Kreuzzüge einst, damit enden, daß wir das Grab und die Wiege des Heils in der ganzen Welt finden, nicht blos in dem ungläubig gewordenen Palästina. Die alten Templer waren zu der Erkenntniß gekommen, daß sich die Mission einer rein äußerlichen Fortpflanzung des Christenthums, die Mission der Heidenbekehrung, überlebt hat. Man sprach nun von innerer Heidenbekehrung, von Ketzerverfolgung, von Urchristenthum, man stiftete Sekten, Brüdergemeinden. Es waren falsche Wege zum rechten Ziel. Die Wahrheit ist die, daß eine vereinzelte Pflege des Unheils in der Welt nur wenig hilft. Das ganze Leben muß ergriffen wer den von dem Geiste der Erneuerung und Wiedergeburt. Wir können die Schäden der Gesellschaft nur heilen, wenn wir neue Luftströmungen durch die verdumpfte Existenz der Zeitgenossen ziehen lassen. Licht der Sonne, Blau des Himmels, Frische der Luft, was gibt es bessere Hülfsmittel bei Heilung leiblicher Schäden? Und mit den geistigen beginnen die leiblichen. Ich habe sonst über die Zeit geträumt. Ich bin ihr Walten geflohen. Ich habe verurtheilt, was mich aus meinem behaglichen Dämmerleben aufschreckte. Aber durch die Lehre von einer Religion des freien Geistes ist mir ein Stern aufgegangen. Ich sehe schon Tausende sich die Hände reichen auf wenige große Wahrheiten des Einverständnisses und der felsenfesten Überzeugung. Man handelt nach diesen Wahrheiten, Jeder nach seiner Fähigkeit, seinem Berufe, seinem Triebe. Nehmen wir, mein [3428] Freund, das Gebiet der Armuth und des geistigen Elendes! Arbeiten wir nicht für das Reich Gottes im Allgemeinen, nicht auf den unnützlich geführten Namen des Heilands, sondern für das Reich des heiligen Geistes, der nach den Tagen der Apostel uns als letzte Enthüllung der Offenbarung verheißen ist! Schaffen wir Menschen, freie, bewußte, die Erde zu lieben sich gedrängt fühlende Menschen und machen wir die Erde dieser Liebe werth! O ich möchte mit Engelzungen reden, um der Menschheit zu sagen, was die wahren Unholde sind, die uns an hellem Tage auf Erden Nacht machen und diese Gebrechen der Gesellschaft, diese Armuth und dies Elend anwachsen lassen so ungebührlich, daß es keine Fabel mehr scheint, wenn man sagt, der Herrscher der Erde trägt eine dunkelglühende Krone und sein Reich ist das des Feuers und des ewigen Todes.

Aus dieser Stunde ergab sich für Friedrich Zeck eine erneute Ermuthigung, aber auch manche ernste Pflicht, mancher Schmerz. Sein Sohn, der die Betheiligung des Vaters an dem verfolgten Bunde wohl merkte, hatte dagegen das Bitterste zu sagen. Er war es gewesen, der der Zeuge der ersten Einsetzung desselben gewesen, er hätte dieses rasch erblühte Wachsthum ja im Keime ersticken können! Der Vater, ohne das Geheimnißvolle an dem Bunde zu verrathen, erstaunte. Schmerzlich berührte ihn, wie Hackert auch auf diese Erfahrung seines Lebens hin nur mephistophelische Lichter fallen ließ. Dennoch erbot er sich zu der scharfen und ihn ganz erfüllenden Ironie, [3429] die wichtigste Korrespondenz des Bundes mit dem eignen Wappen der Polizei zu befördern. Hackert drückte auf die Briefe der Bundesglieder bald das Siegel Paxen's, bald das des Assessors Müller, bei dem er sich in gutem Kredit erhielt, bald das des Gerichtes selber. Glücklicher Weise waren die Briefcouverte, die man bei Dankmar hätte finden können, von diesem regelmäßig vernichtet worden.

Friedrich Zeck sollte nicht aufhören, in Verbindung mit den Schicksalen der Gebrüder Wildungen zu bleiben. Ihm, dem von den Vornehmsten der Gesellschaft seines für »fromm« erklärten Wirkens wegen beschützten Künstler, vertraute man den Stich der Kupferplatte, von welcher die Stadtkämmereischeine abgezogen werden sollten. An derselben, vom Tageslichte hellbeschienenen, Dächern gegenüber gelegenen Fensterbrüstung, wo einst Louise Eisold unter ihren Geschwistern genäht und gestickt hatte, ätzte der Engländer Murray in städtischem Auftrag die Kupferplatte, die Fritz Hackert oft mit dem ihm eignen Humor der Schadenfreude betrachtete und sagte:

Vater, nun erkenn' ich erst meine Vorliebe für Papiergeld! Die Pfaffen sagen, Gott hat die Welt aus Nichts erschaffen. Es war Das jener Jehovah, dem Das alle seine Juden noch jetzt nachthun. Bei Schlurck aßen die Philosophen, die aus Sein, Werden, Nichts und Dessert-Tortenkrumen und Käserinden die Welt schnitten! Hätt' er nur jetzt recht viel von Denen zu Freunden, die aus Nichts Papier und aus Papier Geld machen! Der Kredit kann zum Teufel noch mehr als das Denken. Eine Million! Das gibt [3430] Thalerscheine, Fünfthalerscheine, Funfzig-, Hundertthalerscheine! Dann nimmt man die alte gelbe Blechbüchse aus der Spittelkirche und steckt die ganze Bescheerung da hinein. Die Nachmittagskollekte von Kupferpfennigen ist schwerer als die Bundeskasse der Ritter vom Geiste. Haha! Vater, wie können Sie sich nur von dem Hokuspokus foppen lassen! Es kann Ihnen noch scharf zu Leibe gehen, wenn der Tempelherr Dankmar Wildungen zu beichten anfängt. Dem stolzen, eingebildeten Zwickelbart gönn' ich's. Sie setzen ihm scharf zu. Assessor Müller bietet ihm eine Cigarre nach der andern an im Verhör, aber die alten Universitätsfreunde rauchen zusammen und wenn das Protokoll gemacht werden soll, steht nichts auf dem Bogen. Der Assessor sagt: Alter Junge, es hilft nichts, so wirst du lange im zweiten Hof Nr. 23 sitzen, was unser Staatsgefängniß, aber auch das festeste ist. Ein Mal warf ich dem Ritter hundert Thaler in's Gesicht, weil er mir kein Pferd anvertrauen wollte! Er würgte lange an dem großen Gedanken, daß ich sie gestohlen hätte. Dann, als er merkte, daß ich blos ein elender Kerl bin, höchstens vor Desperation fähig zu Allem, ging er in sich und wollte meinen innern Menschen rühren, um meine Bettelpfennige oder Dukaten aus der Gewissens-Sparbüchse herauszuluchsen ... Ich war erst breiweich; denn, weiß der Henker, ich habe vor nichts so viel Furcht als vor dem Brummenmüssen im Loch. Ich könnte das Hängen besser vertragen als das Sitzenmüssen. Er wollte mir damals einen Gefallen thun und ich that ihm wieder einen, [3431] als er im Rathskeller mit allen Geistern der Weinkarte seinen Bund machte und Schmelzing schon Tendenz gerochen hatte. Nun sind wir quitt! Wenn Einer sich merkte, Papa, wo du die geheimen Kniffe bei der Platte anbringst, die Haken und Striche, die für Falschmünzerei Fußangeln sind! Verdient so ein Schnauzbart, daß um ihn sich Einer zwanzig Jahren Zuchthaus aussetzt und so eine Platte ansehen muß wie eine Tigerkatze in der Menagerie, die ihr Fleisch vor sich liegen hat und nicht fressen darf, weil der Wärter die Gabel drauf hält? Vater, wir sollten Geld machen! Aber Das hülfe uns nichts. Wenn wir's hätten, bliebst du hier doch auf 86 und verheirathet'st dich mit der Brandgasse und brächtest mit deinem wohlthätigen Siebschöpfen mein Erbe durch. Nur gut, daß die Landkarte hier bald gesprengt wird! Pulver müssen sie dazu nehmen, wenn die Brandgasse in die Luft springen soll, tausend Centner Minenpulver! Das wird eine Bescheerung geben, wenn einmal die Dächer hier herunterfliegen und nichts übrig bleibt als ein paar alte Hausschlüssel von Frau Mullrich und die Nachttöpfe von Madame Klapperfuß. Die unausgelösten Pfandzettel, die hier herumliegen, geben allein schon ein Feuerwerk für nächsten Königsgeburtstag. Wie lange dauert denn die Million, bis sie fertig ist?

Zeck war an seinem Sohne diese Ausbrüche von Schadenfreude gewöhnt. Sie mit Gewalt in ihm zu zerstören, wagte er nicht; denn bei jedem Gedanken, das Recht des Vaters anzuwenden und seinen Sohn die Übermacht eines [3432] reinen Herzens empfinden zu lassen, kam ihm die Erinnerung an die Folgen des Tages mit Auguste Ludmer. Er begnügte sich auch jetzt, lächelnd zu erwidern:

Wir werden gegen Ostern fertig sein ...

Auch mit dem Druck? fragte Hackert.

Grade mit dem Druck. Ich steche sechs Wochen an dieser Platte, dann zwölf an den größeren, der Druck ist langsam, da er kontrolirt wird und für jedes Blatt eine neue Nummer gesetzt werden muß ...

Mit Ausnahme der Zwanziger und Funfziger?

Die wieder ihre eigne Reihenfolge haben ... ich will wünschen, daß der Empfänger dann auf freien Fuß gestellt ist ...

Das könnte leicht fehlgehen. Aber Siegbert ist der älteste ... er hat die Vorhand ...

Als Flüchtling? Ich glaube nicht, daß man Jemanden, der in Untersuchung ist, eine Erbschaft auszahlt ...

Das müßte Schlurck wissen ...

Hackert kam auf sein Steckenpferd, das Rühmen und Preisen der Kenntnisse seines Pflegevaters ... Murray ließ ihn reden. Er wußte, daß dem Menschen nichts förderlicher ist, als sich gegenständlich zu machen. Er hatte den ganzen Entwickelungsgang seines Sohnes vor sich liegen, kannte auch seine Beziehung zur jetzigen Fürstin Hohenberg und hoffte auf Krisen, wo sich im menschlichen Gemüthe Gut und Böse in Kampf setzt und Eins ausgeschieden werden muß. Dafür, daß das schlimme Element in Hackert nicht die ausschließliche Oberherrschaft [3433] gewann, glaubte er gesichert zu sein und wär' es nur die dazwischen tretende Anhänglichkeit des Sohnes an den Vater und die Spannung, in der er ihn über seine Mutter erhielt, die einen Wall gegen das Böse abgaben. Um diesen Wall in Vertheidigungszustand zu erhalten, mußte Zeck nur Sorge tragen, daß ihn der Sohn nicht zu sich herabzog. Denn darauf legte es Hackert an. Durch Späße, Schilderungen, Vertraulichkeiten hoffte er, die sittliche Grenzwand zwischen sich und dem Vater nicht selten niederzureißen. Aber Zeck war in einem solchen Augenblicke wie taub oder er nahm die Bibel und las so lange laut in ihr, bis Hackert erst vor unaufhörlichem Lachen darüber zum Ärger kam, dann mit dem Fuße stampfend vom Ärger zur boshaften Parodie, zuletzt zum Schweigen und, wenn der Vater doch nicht aufhörte, in aller Stille sich von seinem Zimmer entfernte ... Diesen Geistern absoluter Verneinung imponirt bekanntlich Nichts so sehr als die Konsequenz.

In der That zog sich das Verfahren gegen Dankmar in die Länge. Entweder hatte man die Vorstellung eines großen Gewinnes, wenn man sich seines unternehmenden, jetzt ohnehin gereizten Wagemuthes versicherte oder man besorgte vollends, daß die Brüder, wenn sie die von ihnen erworbenen Mittel zu freier Verwaltung erhielten, dem Gemeinwesen unberechenbare Gefahren bringen würden. Die Weigerung Dankmar's, sich über die von ihm gestiftete »Verschwörung« auszulassen, seine absichtliche aber aufrichtige Erklärung, daß er die Mitglieder [3434] derselben nicht kenne, zogen die Verhöre in die Länge. Man fand im täglichen Volksleben immer neue Thatsachen, denen man eine Verbindung mit der großen Verschwörung zurechnete. Der Fürst von Hohenberg an sich war allen diesen Prozeduren fern. Er konnte weder gegen den Lauf der Gerechtigkeit etwas unternehmen, noch die geheimen Kanäle aller der Parteien durchkreuzen, die neben ihm im Lande mitregierten. Am Hofe, beim Adel, in der Bureaukratie gab es ein Drängen zu gewissen Zielen hin, dem er sich vergebens würde entgegengestemmt haben. Er behielt sich das Maaß von Macht vor, das für ihn in der Initiative der großen Politik lag, aber im Kleinen fand er täglich, daß auch er den Geistern, denen zu Nutzen, wenn auch nicht zu Liebe, er geredet und gehandelt hatte, sich unterordnen mußte. Er bedauerte, erzählte man, Dankmar's Schicksal, tadelte seine Hartnäckigkeit und fand es einstweilen ganz in der Ordnung, daß man die endlich auch vollendete und möglich gewordene Emission der Stadtkämmereischeine nicht in des Gefangenen oder seines flüchtigen Bruders Hand gab, sondern sie in der scharfbewachten Kasse des Justizamtes, das Dankmar zu verhören hatte, im Profoßhause selbst noch bis auf Weiteres aufbewahrte.

Murray und Oleander sahen in den Briefen, die sie selbst empfingen oder zu befördern hatten, welchen Antheil der Bund an dem Schicksale seines Stifters nahm. Was sie von dem Generalpächter Rodewald, von Dystra an Klagen und Beileidsbezeugungen empfingen, waren [3435] Beweise persönlichsten Antheils. Murray erfuhr von Rodewald im Laufe des Winters, daß ihm Fürst Egon zum Dank für die so umfassend angeordnete Wiederherstellung seines Kredits durch die unverhohlene Absicht lohne, sich aller seiner Güter zu entäußern! Seine Bemühungen, die zehn Jahre lang allerdings an sich nicht gestört werden durften, sollten durch einen Verkauf zum Nutzen irgend eines Andern, wahrscheinlich des Bankiers von Reichmeyer, ein für alle Mal abgeschnitten werden! ... Oleander'n schrieben Siegbert, Louis Armand, Leidenfrost unausgesetzt. Dankmar's versuchte Befreiung war eigentlich eine Bewähr der gegenseitigen Hülfe, die in den Satzungen der Ritter vom Geiste gefordert war. Gelbsattel, Voland, die Wundergläubigen oder Wunderbedürftigen, die Sternenseher am Tage, die Eulen im Sonnenglanz warteten auf diese Befreiung des neuen Propheten wie einst die Juden auf die Wunder des Heilandes. Sie wollten Zeichen sehen, ehe sie glaubten. Aber man kam dem Wunder darum doch nicht entgegen, man mehrte die Zahl der Riegel und Schlösser, man wollte wol, wie einst Egon am Hofe über Voland's Koketterie des Stillstandes mit der Bewegung bitterlächelnd sagte, man wollte wol »der Zauberkünste stärkste Proben.« Endlich, als Murray die Vollendung seiner Platten durch den gelungensten Druck gekrönt sah, als man in den Schränken der Gerichtskasse auf dem Profoßamte sie niederlegte und er von seinem Sohne des Spottes genug über den Magierstab eines Bosco, den er nun dem Gefangenen[3436] wünsche, hören mußte, war ihm, als merkte er hier und da die Annäherung eines endlichen Versuches, Dankmar Wildungen die ihm so hartnäckig vorenthaltene Freiheit wiederzugeben. Friedrich Zeck war erstaunt, eines Tages in seiner Wohnung einen unerwarteten Besuch zu finden. Es war im Monat Mai. Er glaubte zu träumen, als er auf derselben Galerie, auf die er sich, wie sonst, an dem glatten Stricke »hinaufleierte« von einem freundlichen Gruße bewillkommt wurde und Louise Eisold, seine frühere junge Wirthin es war, die ihm ein herzliches Guten Tag! Guten Tag! entgegenrief. Der Diamant, den er ihr einst für ein reines Glas Wasser geschenkt hatte, funkelte an ihrer Hand, aber blitzender noch leuchtete ihr Auge, als sie ihm wiederholt: Vater Murray! Vater Murray! Kennen Sie mich noch? zurief und er, als er endlich oben war und seine gleichgefaßte Vermuthung bestätigt fand, obenein sich noch stürmisch umarmt fühlte und von dem liebevollsten Kuß begrüßt.

[3437]
9. Capitel. Knappen und Laienbrüder
Neuntes Capitel
Knappen und Laienbrüder

Louise Eisold kam von Buchau, wo ihre Geschwister vom Inspektor Mangold wie seine Kinder erzogen wurden, während sie selbst versucht hatte, dem nahegelegenen Tempelstein und seinem Wiederaufbau, besonders aber der Bequemlichkeit des einstweilen in der Nähe angesiedelten Dystra, von Nutzen zu sein. Dem Bande der Ehe, das sie mit Mangold umschlingen sollte, hatte sie sich entwunden, aber sie war dem treuen Manne ein tägliches Wallfahrtsbild, zu dem er pilgern mußte, wenn sein Tag der rechten Weihe nicht entbehren sollte. Das reizend gelegene Schloß Buchau war auf eine Stunde Weges von einem Flecken entfernt, wo Dystra ein Gasthaus schnell in eine anmuthige Villa hatte umwandeln lassen und sich an dem zauberhaft schnellen Aufsteigen seines großen Tempelsteinbaues erfreute; ja er sagte oft, wenn er rastlos mit den Architekten und Werkmeistern gearbeitet hatte: Ich verstehe jetzt das Sprüchwort, daß man seinen Tod verrathe, wenn man zu bauen anfange. Es wird mir ganz ägyptisch räthselhaft zu Muthe und wenn ich meine Pyramiden aufsteigen und dann in einen Spiegel sehe, [3438] möcht' ich schwören, daß ich schon zur kompletten Mumie und Museumsmerkwürdigkeit zusammenschrumpfe, ehe ich noch Olga in diesen Tempel einführe.

Louise Eisold gab Zeck keine klare Auskunft über den Grund ihrer Anwesenheit in der Residenz. Seit anderthalb Jahren war sie entfernt gewesen. Sie sprach von dem Grabe ihres Bruders, das sie besucht und wie von unsichtbaren Engelshänden mit den frischesten Blumen geschmückt gefunden hätte. Sie sprach von einer Unsumme von Aufträgen, die sie für Mangold und Dystra auszuführen hätte, von Einkäufen und Bestellungen aller Art. Sie erwähnte Tempelheide, wo sie schon bei den jungen Damen, auch der trauernden und weinenden Selma Rodewald, gewesen wäre. So kam sie auf Dankmar Wildungen, auf Hackert endlich und fragte Murray:

Sehen Sie Hackert noch? Besucht er Sie oft? Ist er wohl? Dient er noch dem abscheulichen Pax?

Friedrich Zeck kannte seines Sohnes Achtung vor diesem einzigen Mädchen. Er hätte ihr gern gesagt, daß sie einen wiedergebornen, neuen Menschen in ihm finden würde. Doch mußt' er die Wahrheit ehren und erwidern:

Sein Bestes ist ein Schimmer von Dankbarkeit. Er spricht mit Wärme von Ihnen.

Louise verfiel über dies Wort in Nachdenken. Eine sichtliche Unruhe sogar suchte sie hinter Rückblicken auf die Vergangenheit zu verbergen. Sie betrachtete die Wände dieser Wohnung, in der ihr so viel Leidvolles einst begegnet war! Wie sie sich selbst diesem alten, ihr [3439] so liebgewesenen armen Hausrathe gegenüber verändert hatte, sah sie an dem kleinen Spiegel, der auch noch von ihrer früheren Zeit geblieben. Wie warf er ihr jetzt ein so braunes sonnenverbranntes Antlitz entgegen gegen das frühere kreideweiße, stubenbleiche! Murray rühmte ihr Aussehen und glaubte ihr den überraschendsten Eindruck versprechen zu dürfen, den sie auf Hackert machen würde, der ihn oft besuche und die Anhänglichkeit an diese alten Wände behalten hätte.

Murray erzählte, was Louisen von seinem Leben werthvoll sein konnte. Über Fränzchen Heunisch war sie unterrichteter als er. Ja er erkannte sehr bald, daß irgend etwas auf ihrer Brust lag. Sie sprach wol von dem Ausbau des Tempelsteines, von den Tausenden, die Dystra an dies Wunderwerk verschwende, von den Ruinen der Tempelabtei, den Schauern des Waldes um sie her, dem hohen tannenbewachsenen Bergrücken, über den hinweg auf sich schlängelnden, nur dem Schleichhandel bekannten Wegen man in das Land des fränkischen Nachbars gelange, sie sprach von ihrem religiösen Glauben, von ihrem Verharren bei den vielverfolgten freien Gemeinden, bekämpfte hartnäckig, was der christlichere Murray darauf entgegnen wollte, aber unter Allem, was sie sagte, lag etwas verborgen, was wie der Drang eines sich gern lösenden Geheimnisses war.

Endlich brach sie auf. Sie wohne in der Vorstadt, sagte sie, in einer schlechten Ausspannung, dem Pelikan auf dem Wege nach Tempelheide ... ein ehemaliger Kutscher [3440] Namens Peters hielte den jetzt auf eigne Rechnung und würde ihn vielleicht ganz kaufen ... sie müsse doch Diesen und Jenen noch besuchen ...

Und Hackert? fragte Murray.

Geht er noch mit Pax, antwortete sie rasch, so sagen Sie ihm, daß ich ihn nur beklagen kann ... ich mag ihm dann nicht wieder begegnen.

Dem Mädchen kostete dies entschiedene Wort so viel Kampf, daß Murray vor Bewegung, seinen von aller Welt gehaßten und verachteten Sohn doch irgendwo freundlicher gehegt zu sehen, aufwallte, ihre Hand ergriff und sie bat, doch morgen wieder zu kommen ...

Würden Sie Bedenken tragen, auch mit Hackert zu sein? fragte er in der Meinung, daß diesem Mädchen vielleicht gelänge, aus seinem Herzen die Töne zu locken, die ihm seit dem Tage, wo Karl Eisold begraben wurde, in seinem Sohne zu selten wiederkehrten.

Louise besann sich ... Plötzlich wie von einem Gedanken ergriffen, sagte sie:

Ich will ihn allein sehen. Morgen! Wollen Sie? Aber allein!

Murray erschreckend und doch überrascht von diesem Vertrauen auf seinen Sohn versprach, die nöthige Veranstaltung zu treffen ... Sie trennten sich nach genommener Abrede und am Nachmittag des folgenden Tages saßen Hackert und Louise Eisold an der Stelle, wo früher jeden Abend eines ihrer Schwesterchen dem Urgroßvater den gelbweißen Zopf aufgelöst hatte ... es war in diesem [3441] Zimmer stiller, als in dem nach der Galerie zu gelegenen. Kein Wandnachbar horchte, kein Gegenüber störte. Hackert, überrascht von Louisen's Frische und weltkundiger Gewandtheit, hatte ihre Hand in der seinen. Nicht etwa, daß er sich beherrschte. Sie hatte genug zu wehren, seinem Ungestüm auszuweichen und nur die Worte konnten ihn zähmen:

Sie wissen, ich bin Danebrand's Verlobte.

Danebrand! rief Hackert. Ich sah ihn ja gestern ...

Wie? sagte Louise befangen und entfärbte sich. Sie irren sich wol! fügte sie hinzu und stand auf, um sich in der Küche etwas zu schaffen zu machen, denn um ganz die Erinnerung an die alte Zeit wachzurufen, hatte sie von Murray die Erlaubniß erbeten, einen so starken Kaffee zu sieden, wie ihn Hackert liebte ...

Ich sah Danebrand, bestätigte Hackert, diese Zurüstung mit Behagen wahrnehmend, und wenn ich Schmelzing wäre, würd' ich ihn anzeigen ...

Sie irren sich! rief Louise aus der Küche von der Stelle her, wo einst ihr Bruder Karl geschlafen hatte ...

Doch! Doch! Die hohe Schulter wird ihn verrathen, wenn er außerhalb der Vorstadt sich sehen läßt. Die Willing'sche Fabrik wimmelt von Spionen. Er ist für immer ausgewiesen. Sie hüthen ihn wol im Pelikan? Was? Der Fuhrmann Peters hat ihn wol dort auf der Kegelbahn im Garten untergebracht, grade da, wo Dankmar Wildungen an den Johannisbeerhecken einst den Verlust seines Schreines erfuhr?

[3442] Warum nicht besser, entgegnete Louise mit Schärfe, am Heck der Fortuna, wo Danebrand einst mit der Schürstange lauerte? Peters' Frau, die die Fortuna des Herrn Hitzreuter regiert, würde ihn vielleicht nicht sobald erkennen wie Ihr Spione!

Hackert schwieg. Die Erinnerung schmerzte ihn, schmerzte ihn noch tiefer, als Louise, ihren Vortheil wahrnehmend, fortfuhr:

Ich glaube, in den Ställen Lasally's wär' er auch sicherer. Die Jockeys, die seinen Arm fühlten, würden ihn nicht verrathen, selbst Neumann und Jeannette nicht, die ja hoch auf bei den Bereitern leben sollen! Schämen Sie sich, Danebrand zu erkennen!

Wer verräth' ihn denn? brauste Hackert auf. Was will er hier? Ein Mensch, der seinen eignen Steckbrief auf den Schultern Jedem zu lesen gibt? Sie lieben die pittoresken Schweizergegenden, Louise! Dystra hat auch so etwas Hochland im Rücken. Was will denn Danebrand hier? Man versteht keinen Spaß mit den Leuten, die hier nicht sein sollen und wiederkommen, wenn auch blos aus Neugier. Sie haben etwas vor?

Wer?

Sie und Danebrand!

Die Polizeikünste verstehen Sie perfekt. Hackert, schämen Sie sich!

Ihr Kaffee bleibt der beste, Louise, den ich seit Schlurck's getrunken habe ... Sie wissen doch von Schlurck's?

[3443] Ja, Hackert! sagte Louise, jetzt sanfter einlenkend. Melanie ist die Fürstin Hohenberg.

Das ist sie! erwiderte Hackert bitter und spöttisch.

Der Hof kommt diesen Sommer nach Buchau. Leicht möglich, daß wir dann auch den Besuch der schönen Durchlaucht haben ... Thut sie Ihnen nicht leid?

Eine Fürstin mir leid? Mir? Ich grinse sie jedes Mal an, wenn ich sie sehe. Ha, ha! Muß sie nicht einen hinfälligen Mann unter'm Arm halten, wie wenn sie seine Krücke wäre? Ich sah sie neulich in eine Kirche gehen. Ich hätte fromm werden können um so viel jämmerliche Demuth – bei Melanie!

Ich wünschte ihr, Gott nähme ihr bald die Last ab, die sie trägt, sagte Louise. Oder nein, besser ist's, daß Alle sehen, wie elend dieser scheußlichste aller Verräther hinsiecht, dies tückische, herzlose Scheusal, dieser Egon von Hohenberg!

Oho!

Gibt es einen Elenderen als diesen Menschen, der aus der Lüge seiner Jugend sich zum Volke flüchtete, das Volk in seiner Liebe, Treue und Hochherzigkeit achten lernte und es dann verrieth, dieser Judas, der noch einst eine Armensünderreue empfinden und an einem Strick enden wird!

Oho! Oho!

Warum so viel Unglück des Landes? Diese Verfolgungen? Diese Einkerkerungen? Betrogen wurde das Volk, als es glaubte, sein Freund, sein Wohlthäter ergriffe das [3444] Ruder und kämpfte am Throne für die Arbeiter ... ich kenne keine Strafe, die groß genug wäre für Den ... ja, daß er diese Melanie zur Frau bekam, das ist Strafe genug!

Oho! Louise!

Der Fürst nahm auf, was Fritz Hackert wegwarf!

Der Teufel!

Hackert sprang auf, lief im Zimmer umher, nicht zornig, sondern gekitzelt, schadenfroh, lachend ... die Hände in die Beinkleider steckend ... er verbarg nicht, welche Lust ihn erfüllte.

Louise fuhr fort:

Welche jämmerliche kleine Rolle spielen Sie, Hackert! Sie, der Sie Alle am Bändel haben, quälen, vernichten könnten! Schleichen sich gebückt durch's Leben, krumm und feig, lachen, grinsen und begehen nur im Geheimen einmal einen schlechten Streich, wenn Sie vorher Einer mit Ruthen peitschte!

Hackert lachte fort und drohte nur:

Louise!

An Thieren rächten Sie sich, nie an Menschen!

Das lassen Sie nur! lenkte er jetzt ernster ein.

Ich begreife Sie nicht, Hackert! Wie ich von hier ging und in der Ferne von Ihnen hörte, daß man Sie verurtheilte, elend und schlecht nannte, vertheidigte ich Sie immer und sagte: Laßt diesen Hackert gehen, beurtheilt ihn nicht vor der Zeit! Die Äpfel wollen bis lange zur Reife, die Trauben hängen noch in den ersten Schnee hinein; aber wie verloren Sie sich, wie bin ich Lügen gestraft, [3445] wenn ich daran denke, was ich von Ihnen noch Alles verhieß und nun höre!

Einen Mord? Einen Diebstahl?

Das nicht, Das danken Sie Vater Murray, der einen Heiligen aus Ihnen machen will! Sie werden ein Heuchler werden! Besuchen Sie noch immer das Theater nicht?

Sie sprachen ja von der Kirche?

Nein, vom Theater! Nie haben Sie sich früher ein gutes Stück ansehen können, über Scherz nicht lachen, über Ernst nicht weinen können! Wer nicht gern in's Theater geht, ist kein guter Mensch.

Ah?

Denn warum? Weil Eure Art sich fürchtet, ihren Spiegel vorgehalten zu bekommen. Kein Tyrann, kein Mörder, kein Lügner geht in's Theater. Immer schrickt er zusammen, sein Bild zu sehen. Ich wünschte, Sie fingen Ihre Religion lieber mit dem Theater an, als mit den kleinen Gebetbüchelchen, die ich hier bei Murray liegen sehe ...

Hackert lachte wieder laut auf. Es bedurfte wenig Worte, dies eigne Mädchen zu überzeugen, daß ihn die Religion mit Murray nicht verbände. Übrigens, setzte er schon etwas verdrießlicher hinzu, jeder Mensch hätte seine eigne Religion ...

Es gibt keine andre Religion, wallte Louise auf, als die, die wahren Feinde Gottes zu hassen. Die Feinde Gottes sind die Tyrannen, die Blutsauger, die Rechtsbrecher! An welcher Leine lassen Sie sich gängeln, Hackert! Der alte Mann ist gut, ich weiß nicht, was er für Sie gethan hat [3446] und warum Sie ihn nicht fliehen, wie Sie alle Menschen geflohen sind, außer Melanie. Aber daß er Ihnen nicht einmal die Schaam über Ihr elendes Handwerk, das Pax Ihrer tollen Eitelkeit aufdrängte, nehmen kann, ist Das nicht das Ohnmächtigste von der Welt? Wozu denn Ihre Vollkommenheit für den Himmel? Taug' etwas für die Erde und du hast den Himmel gewiß!

Hackert schwieg eine Weile. Dann sie scharf fixirend sagte er:

Louise, ich habe für Ihre Lehre mehr gethan, als Sie wissen. Ich habe den Rittern vom Geiste gedient, wie die Mehlsäcke in der Teufelsmühle, die ich doch noch vom Puppenspiel her kenne.

Louise erröthete über die Erwähnung des Bundes.

Ich weiß, sagte sie, daß Sie nicht warm und nicht kalt sind. Aus Schadenfreude haben Sie Ihre eignen Herren betrogen, Katze und Hund zusammengehetzt und sie wieder auseinandergetrieben, wenn sie sich ohnehin aus Müdigkeit schon versöhnen wollten ... O Hackert, daß ein Funke von Gesinnung in Ihnen wäre! Daß Sie in diesem elenden Hause des Schlurck je ein Wort des wahren Lebens mitten im Überfluß des Lebens in sich aufgenommen hätten! Denken Sie an Karl, wie er sein junges Leben dahin geben mußte für den grausamen Teufel und Götzen dieser gottverdammten Ordnung, die jetzt die tausend Menschenopfer jährlich fordert – denken Sie an Danebrand, der Ihnen selber half, ob er Sie schon hassen sollte ... was sag' ich! unterbrach sie sich ... hassen!

[3447] Louise! Sie schmeicheln mir! lenkte Hackert frivol ein. Geben Sie mir die Hand! Noch mehr –

Fort! Fort von mir! rief Louise. Es ist kein reiner Tropfen Bluts in Ihren Adern! Sie sind nicht krank, Sie sind vergiftet in Ihrem innersten Leben! Ja, Sie thun das Unglaublichste, wenn Ihr Auge geschlossen ist, Sie sind ein von Gott erwählter Mensch, wenn Sie schlummern und Sie ausführen, was allen Lebenden versagt bleiben soll. Aber Siegbert Wildungen hat Recht, wenn er das Wort seines großen herrlichen Bruders wiederholt: Sie sind grade die schlechte, bewußtlose, in Sinnentaumel hindämmernde Masse, das Mittelvolk in der Erbärmlichkeit, die zu allen Jahrhunderten den Aufschwung wahrer Größe hinderte, das Edelste verkümmert, es beschnitten hat und das Beste nur, sogleich in seiner wahren Bedeutung verringert, in's Leben treten ließ ... o wie elend, Hackert, als Sie die Hand der liebsten und treuesten Menschen der Erde von sich stießen und sich aus dem Sumpfe Ihrer Sinne nicht zu den Regionen des Lichts erheben konnten. An Jedem zu mäkeln, an Jedem Etwas zu finden, Nichts anerkennen, kein größeres Verdienst, keinen edleren Willen, kein froher Geschick, schadenfroh lachend, wenn ein kühner Fußtritt ausgleitet oder eine edle Begeisterung ihr Ziel verfehlt! Sie, Hackert? Wissen Sie, was Sie tragen sollten? Den vornehmsten, anständigsten Rock vom feinsten Tuch, Glaceehandschuhe auf den Fingern, ein tänzelndes Stöckchen in der Hand. Dann wären Sie so der rechte Mittelschlag dieser erbärmlichen [3448] Welt, der uns Alle regiert, dem jeder schlimme Ausgang zu Gute kommt, der immer Recht behält, wenn ein Genie unterliegt. Ich dachte anders von Ihnen. Jener Abend hier nebenan, Hackert! Es war Ihre Sterbestunde, Ihr Untergang vor dem Richterstuhl Gottes, Ihr ewiges Todesurtheil! Sie können nie mehr zum Lichte kommen.

Hackert schwieg und schien nun ernst ... Louise Eisold hatte aus dem Geiste jener Religion gesprochen, für die Dankmar Wildungen ein noch höheres Symbol und Band suchte, als sich bei den freien Gemeinden und ähnlichen Versuchen einer modernen Religionsläuterung bisher hatte zeigen wollen. Sie sank erschöpft von einem Aufwande von Beredsamkeit, zu dem sie den ganzen Sprachschatz ihrer rastlos fortgesetzten Lektüre verwandt hatte, auf einen Sessel und stützte das glühende Haupt auf den Tisch, wo sonst des »alten Mannes« Uhren schlugen ...

Es war auch fast, als schlug eine Uhr ... die Erinnerung weckte Beiden die Vorstellung, als wär' es hier noch so wie einst ...

Und was soll ich denn nun? sagte Hackert ruhiger und mit gedämpfter Stimme. Geben Sie mir einmal eine Aufgabe! Ich will sehen, ob ich sie ausführen kann!

Louise schwieg.

Es führt Sie doch irgend eine Absicht her ... ich weiß es ja, das Alles sollte nur eine Vorrede sein, Kapitel Eins, nicht wahr?

Louise antwortete nicht. Sie war zu erschöpft von ihrer [3449] Aufregung und hätte eigentlich sagen mögen: Schon wieder legst du mir eine Absicht unter? Und grade weil du's thust, möcht' ich schweigen. Aber dennoch drückte sie eine Absicht.

Danebrand ist nicht umsonst hier ... fuhr Hackert fort.

Sie sind ein Spion! war Louisens kurze und abweisende Antwort.

Sagen Sie das dumme Wort doch nicht! fuhr Hackert auf. Ich kenne mein Leben, ich weiß, was ich zu verantworten habe.

Sie? Verantworten? lachte Louise bitter und blickte voll Hoheit zu dem gereizten jungen Manne hinüber.

Ich bin Spion aus demselben Grunde, warum der Fürst Hohenberg Ihnen ein Tyrann ist. Wir, ich und Der, sind die beiden einzigen vernünftigen Menschen der Erde. Alle andern sind Narren, die eigentlichen Verbrecher, eigentlichen Verrückten, Sie ausgenommen, Louise, die Sie immer im Sommer Noth haben, zu vergessen, was Sie im Winter für Unsinn aus der Leihbibliothek gelesen haben. Egon tritt die Volksbestie nieder, die sich Engel dünkt, weil sie nicht auf vier Füßen kriecht. Ich lache dazu. Wir kennen uns Beide nicht, aber wir stehen in geheimer Verwandtschaft. Ha! ha! Melanie wird ihm wol gesagt haben, warum ich sein Schwager bin ...

Bei diesen boshaften Worten sprang Louise auf, riß ihren Hut an sich, drückte ein Tuch, das sie in ihrer Aufregung fortwährend auf dem Tische zerknittert hatte, an die Stirn, lief zur Thür, öffnete, stürmte durch die Küche [3450] und war schon auf der Galerie, um die Gemeinschaft mit einem so grundverdorbenen Manne für immer zu verlassen. Da aber fühlte sie sich plötzlich von Hackert ergriffen, fühlte sich mit furchtbarer Muskelkraft von ihm zurückgehalten, zurückgeführt in die Küche, in das Zimmer und vernahm entsetzt die Worte von ihm:

Sie sind hier, um mit Danebrand Dankmar Wildungen zu befreien!

Starr mit weißem Auge blickte Louise den Spion wie einen Allwissenden an ...

Sie kommen im Auftrage nicht des Geheimbundes, denn er wird sich nicht an Frauen wenden, und was Jagellona von Werdeck that, kam von ihr; aber Sie kommen im Einverständniß mit den Mädchen auf Tempelheide ... Franziska Heunisch machte die Vermittlerin zwischen Ihnen und Selma Rodewald ...

Louise blieb in ihrem festen sichern Blick, aber doch zitternd ...

Dankmar wird Sie auslachen! krächzte Hackert. Hören Sie, er wird von Weibern keine Thür geöffnet haben wollen! Was kann hier eine zerfeilte Eisenstange nützen? Was ein erbrochner Riegel, wenn er zu erbrechen wäre! Das Palladium ist nicht der Apostel, sondern seine Wunderbüchse. Sprengt die Kasse, wo die Truhe mit den Papieren steht! Stehlt die Million! Das ist der Mantel, in den sich ein Freund Fortunatus hüllen muß! Sein Seckel! Sein Seckel! Mit dem davon! Der Kerl allein verlohnt sich der Mühe nicht.

[3451] Das Mädchen verstand nicht, wie sie diese an sich wahren und durch ihr mächtiges Gewicht erdrückenden Worte deuten sollte ... aber was sollte sie sagen, als Hackert ruhig eine Cigarre zog, ein Streichfeuerzeug aus der Tasche nahm, die Cigarre sich anzündete und sagte:

Die Million! Allenfalls auch Dankmar! Wir brauchen keine Feilen. Ich weiß, bei Wem die Schlüssel hängen und wünsche nur, daß in der Nacht, wo wir's machen wollen, nicht die Katzen zu verliebt schreien.

Hackert! rief Louise außer sich vor Erstaunen.

Nun ja, sagte Hackert, so wird's doch endlich recht sein! Soll mir der große bucklige Kerl immer zuvor trotten? Danebrand stiehlt Dankmar'n, ich stehle die Million und Louise gibt mir den ersten ordentlichen Kuß, bei dem ich die Uhr ziehe und zählen darf: Fünf Minuten! Was?

Louise hatte sich schon aus freiem Triebe an Hackert's Brust werfen wollen, aber das Wort: Ich stehle die Million! erinnerte wie mit einem Schlage an die Erscheinung, wie wenn an einer Stelle im Gebirge, wo von den Felsen nur gering das Wasser tröpfelt, eine plötzlich gehobene, unsichtbare Schleuse einen Wasserstrom in majestätischem Sturze niederdonnern läßt, nur umgekehrt! Hier staute plötzlich der volle Strom und wie im Nu waren die brausenden Gewässer zum unheimlichen Schweigen gebracht. Oder wie im Dunkeln an der Wand Nachts ein suchender und unverhofft anprallender Schädel, so stand [3452] Louise getroffen. Sie wußte nicht, was sie gehört hatte. Sie kannte die Wichtigkeit jener Erbschaft. Sie wußte, daß sie den Brüdern vorenthalten wurde. Sie begriff, daß Hackert in der Lage war, die einzige hier mögliche Hülfe zu bieten und daß Dankmar's Flucht ohne jenes Geld jetzt von geringer Bedeutung scheinen durfte. Aber das Wort: Die Million stehl' ich! verglichen mit Dem, der es sprach, mit der Art, wie es Hackert sprach, war wie der Einschlag eines Blitzes. Der Gedanke, daß seine Theilnahme eine Maske, seine wahre Absicht ein Verbrechen war, das seiner Absicht nach dann auf sie, auf Danebrand fallen sollte, lähmte ihr die Zunge. Ein Blick, wie die funkelnde Spitze eines Speers fiel aus ihrem Auge auf Hackert. Sie durchbohrte ihn.

Der Spion erschrak, stutzte, besann sich und verstand erst allmälig diesen Blick. Jetzt schlug er die Augen nieder. Er dachte an jene Sonntagsfrühe bei Schlurck. Er sah, daß man sein Wort misverstanden, sein Anerbieten verdächtig gefunden, und so überwältigend wirkte auf ihn die Vorstellung dieses ewigen Mistrauens in seine Ehrlichkeit, daß er mit dem Ausrufe: Nun soll mich Gott verdammen! die glühende Cigarre von sich warf, das Feuerzeug hinschleuderte, den schon ergriffenen Hut mit Füßen trat und mit einer Blässe, die ihn von der Weiße der Wand kaum unterscheiden ließ, in dem nächsten Sessel niedersank.

Louise sah diesen Schmerz, diesen Krampf, verstand ihn und rief:

[3453] Hackert, nein! Ich glaube ja!

Er hörte nicht. Sie trat zu ihm heran, ergriff zitternd seine kalte Hand, sprach ihm die mildesten, sanftesten Worte der Tröstung und gab ihm damit einen so wehmüthigen Schauer seiner Empfindungen, wie ihn seit dem Tage nicht überrieselt hatte, als man den Bruder dieses edlen Mädchens in den winterlichen Schooß der Erde senkte ... Die Thür ging auf ... Friedrich Zeck, sein Vater, trat ein, betrachtete die Scene, staunte, forschte und fragte:

Ihr scheint über Etwas einig zu sein?

Wir sind es, Papa Murray! sagte Louise, nahm ihren Hut, nannte noch einmal den Pelikan als ihre Adresse und ließ Vater und Sohn in einer räthselhaften Spannung zurück, die um so heilsamer auf Letztern wirkte, je weniger er angegangen wurde, sich auszusprechen und durch Worte zu erklären, was als eine fast bewußtlose Stimmung, als ein Unausgesprochenes und wie durch Offenbarung Gekommenes nun in ihm bebte. Es gibt eine gehobene Stimmung im Menschen, schon die ihm sein kann, wie der Tod.

Willst du sie heirathen, Junge? sagte der Vater scherzend, so denk' ich, werd' ich dich anständig aussteuern können!

Hackert blickte über diese Vermuthung zur Erde und sagte nur, sie wären noch nicht – aufgeboten, – was freilich auch bei den Spähern in diesem Hause nicht nöthig wäre. Er wollte gleich einmal hören, was Frau [3454] Mullrich unten aus dieser Kaffeevisite für Geschichten prophezeie!

Damit ging er und ließ den Vater in Zweifeln, Befürchtungen und Hoffnungen zurück, die er sich aus dem Benehmen seines Sohnes und Louisen's schneller Entfernung nicht enträthseln konnte.

[3455]
10. Capitel. Bewähr
Zehntes Capitel
Bewähr

Dreißig Wochen und mehr schon saß Dankmar unmuthsvoll und in sich selbst versunken im Kerker. Was des Zufalls Gunst ihm überraschend genug wie einen goldnen Regen und wundergleich wie aus der kahlen Decke der Mauer, die sich über ihm wölbte, herniederströmen ließ, den Gewinn des altergrauen Rechtshandels ... er nahm ihn einige Tage hin wie das Seltsamste und Trostreichste, was ihm in dieser Lage grade hätte kommen können; aber wie bald gewöhnt man sich nicht grade auch an das Glück und verbirgt seine Freude grade da auch sogleich hinter den Sorgen, die das Glück in seinem Gefolge hat! Man will Den, der ein Glück gewonnen, mit allen Bezeugungen unsrer Freude überschütten und er erwidert schon grämlich, schon verdrießlich, er hat entweder das Glück nicht ganz erobert, er hat es theilen wüssen, oder kann es nicht unterbringen und wie diese Grillen sonst sprechen, mit denen wir schlimmen Menschen gleichsam vor der Welt zeigen wollen, daß uns das Glück mehr plage als erfreue.

Ein solcher Winzer, der da nun laut geklagt hätte, daß [3456] er für seinen Herbstessegen gar nicht einmal Fässer genug hätte, war freilich Dankmar Wildungen nicht. Ihn mußte ohnehin die Sorge reizen, daß man das Errungene ihm jetzt vorenthielt. Aber auch ohne diese neue Gefahr würde sich gegenüber seinem persönlichen Loose und der Betrachtung der Zeit seine Freude gemildert haben. Daß er sie im ersten Augenblicke groß und mächtig genoß, bewiesen die Worte, die er zu Oleander, dem ihn vielbesuchenden Prediger der Gefangenen sprach:

So hätt' ich es denn erreicht, mein neuer Freund! Das dunkle Ziel, nach dem Generationen in meiner Familie steuerten wie nach einem Fabellande, für das es keinen aus irdischen Stoffen gezimmerten Nachen gäbe, verwandelt sich nun in ein wirkliches Eiland, schroff und schwer im Anfang zu erklimmen, aber an dem brandenden Ufer merk' ich durch Felsenritzen die grüne Vegetation und glaube selbst Vögelstimmen und Spuren von Leben auf dem eroberten Lande schon zu unterscheiden. Denk' ich zurück, was mußte Alles geschehen, bis es dahin kam! Nicht kann ich reden wollen von Dem, was vor meiner Zeit liegt, nein, seit ich selbst in Angerode die Entdeckung jenes Schreins machte, welche Wanderungen durch das Leben, durch die Herzen der Menschen, welche Fülle von erhebenden und beschämenden Erfahrungen in mir selbst und in Anderen! Und woran hing das Schicksal dieser Eroberung, die ich hoffe für eine große Sache gemacht zu haben? Zwei kleine Striche, übersehen, fast ausgelöscht, entscheiden Sinn und Werth, Auffassung und [3457] Anwendung! Stubenfreude des Gelehrten wird Saatkeim für die Welt! Ich überschätze diesen Handel nicht, aber mir selber darf er bedeutungsvoll sein. Ich habe an ihm meine Kraft erprobt, ein Ziel zu erringen gelernt, das Maaß der Tage verlängern, den Luxus der Nächte verkürzen, ich bin bewahrt geblieben vor der unbestimmten Leere, in der jetzt die Empfindungen der Jugend hin und her tasten. Viele rufen durch dies Chaos mit mächtigerer Stimme als die meine und man glaubt, Homerische Helden schritten zur Schlacht, und nur das Echo war es, der Widerhall der Leere, der ihrem Worte die scheinbare Größe gab, die Thaten blieben aus und nach den vorweggegebenen Prahlereien sinken die Recken nieder und ihr Leben siedelt sich am nächsten besten Heerde an, wo sie dem Weibe die Holzscheite zum Feuer tragen, das ihnen beiden die armselige Suppe kocht.

Oleander war wohl berechtigt, Dankmar'n zu erinnern, daß er trotz der von ihm gepriesenen Studien der Gelehrtenkammer doch nicht vergessen hätte, grade auch dem Idealismus der Zeit zu opfern ...

Nun wohl! Laßt uns dazu auch diese luftige Welt! sagte Dankmar. Mein Bund! Dies große Verbrechen, das mich an diesen Ort geführt! Diese Wolkenbilder, die ich den Menschen in die Hand gegeben! Diese Sternenschrift, die sie auch schon entziffert haben wollen! Sie wird mindestens nichts so Geringes enthalten wie die Inschriften der viel ehrwürdiger gehaltenen alten Hieroglyphen. Ich gab kürzlich zu Protokoll: Betrachtet uns wenigstens als [3458] Das, was Ihr ja selber seid, als Freimaurer! Wieviel habt Ihr die nicht geschmäht, die Euren Ritus, Eure Symbole, Eure Urkunden an die profane Menge verriethen! Habt Ihr auf den Universitäten, in Euren Schulstuben, auf einsamen Spaziergängen mit befreundeten Genossen nicht hundertmal darüber geklagt, daß in unsern Tagen kein Messias mehr erstehen könnte, er würde an der polizeilichen Organisation unsrer Epoche zu Grunde gehen und sich nicht lange in den Wolken bergen können, in denen sich alles Große und Bedeutende an ihm zur Mythe verwandelte? Nun, so laßt doch wenigstens einem armseligen Vorläufer künftiger Gottessöhne, einem Täufer mit gewöhnlichem Wasser, einem Heuschreckenfresser der Wüste, das Vergnügen, von Euch behandelt zu werden wie ein Wunderdoktor, dem Ihr das Handwerk nicht grade legen, aber erschweren wollt nach den und den Paragraphen der Medizinalordnung! Sucht meine Straffälligkeit aus dem Landrechts-Kapitel über Traumdeuter, Zauberer herzuleiten, seht, ob noch ein alter Paragraph über die Hexen auf micht paßt, Zigeuner, verbotene Kollektanten, fahrende Gaukler, was weiß ich! Aber eine Verschwörung! Fragen über Kommunismus, Maschinenarbeitervereine, Handwerkervereine, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Militärverschwörungen, Schilderhebungen, Flüchtlings-Umtriebe! Menschen, sag' ich, das ist ja Alles mein Kreuz und Leiden so gut wie Eures! Ich finde, daß in diesen Erscheinungen die edelsten Kräfte sich zersplittern, Leidenschaften der zweideutigsten Ichsucht [3459] genährt werden. Ich war in Handwerkervereinen und sprach, ja ich ließ durch Louis Armand eine neue Regelung der Klubs versuchen, indem ich die großen Versammlungen auflöste und nur kleine Sektionen von drei, fünf, sieben Menschen schuf, die sich in wöchentlicher Vereinigung mehr nützen, als wenn ihrer dreihundert zusammensitzen und berauscht jeder bombastischen Phrase Beifall brüllen ...

Aber ... Dankmar war selbst Schuld an der Verzögerung seines Prozesses. Er gefiel sich eben darin, Antworten zu geben, die die Richter irre führten. Seine Absicht war den Freunden in der Nähe und Ferne kein Geheimniß. Er wollte sich so nicht vertheidigen, wie er sich einzig vertheidigen konnte. Er wollte den Bund der Ritter vom Geiste nicht herabsetzen zu einem bloßen Phantome erhitzter, polizeilicher Einbildung. Er wollte nicht geringfügig sprechen von einer Thatsache, die so tiefe Wurzeln in den Gemüthern geschlagen hatte. Er sah, auch durch die Riegel seines Gefängnisses hindurch, die segensreiche Ausbreitung seines Wirkens. Er erhielt Andeutungen, daß diese Stiftung weit über die Grenzen Dessen hinausging, was man in neuester Zeit an Piusvereinen, innern Missions-, Märzvereinen, Friedensvereinen erlebt hat. Sollte er von einem Advokaten, der ihm gegen seinen Willen vielleicht bei den Assisen beigegeben wurde, hören müssen, daß dieser das Schreckphantom in eine Gaukelei auflöste und den Spott und die Ironie zu Hülfe rief, um die Sache seines Klienten als gefahrlos [3460] darzustellen? Dankmar hielt es für seine Pflicht, groß und stolz von Dem zu denken, was man in ihm fürchtete. Er erbitterte das Gericht durch seine Hartnäckigkeit, er führte es irre durch seine Aussagen, die mehr zugestanden, als man fragte. Er wollte der Träger aller der Schreckengebilde sein, mit denen sich die Feinde der Freiheit ängstigten, er wollte so lange nicht an persönliche Freiheit denken, als sein Gefängniß dazu diente, den Saamen, den die Freunde ausstreuten, zum Aufgang zu bringen. Denn die Macht, die Leidende auf höhere Fragen der Sittlichkeit ausüben, ist größer als die Macht der Glücklichen.

Freilich litt der junge Kämpfer selbst am schwersten unter diesem Opfer, das er brachte. Eine geläuterte reine Flamme der Liebe loderte in seinem Herzen für Selma, nun seine eigne Verwandte. Längst hatte sich ihm Ackermann in seiner wahren Herkunft als Rodewald enthüllt, wenn er mit ihm Abends beim Leuchten der Johanneswürmchen an den Weidenufern der Ulla entlang schritt und Dankmar seine nächtliche Lagerstatt in einem einsamen Gehöft aufsuchte. Als er später Rodewald's Kummer erfuhr über des Fürsten Egon Absicht, sich seiner Güter zu entäußern und ihn aus seinem Pachtverhältnisse zu entfernen, konnte er freilich nicht begreifen, was den Oheim so tief dabei verletzte. Dieser schrieb selten, desto eifriger Selma. Oleander war es, der den Vermittler dieser zärtlich schmerzlichen Grüße machte. Er selbst hätte, da Dankmar die Briefe nicht verbrennen mochte, die [3461] der Sicherheit wegen zurückgegebenen lesen können, er selbst, der Selma liebte und seinen Schmerz in der Dichtkunst und dem ernsten Berufe eines Seelsorgers der Gefangenen und Trösters der Leidenden zu vergessen suchte.

Jungen Liebenden kann ja nichts Glücklicheres geboten werden, als nach dem ersten aufflammenden und die Herzen entzündenden Erkennen ihrer Neigung die Trennung und in ihrem Gefolge die Nothwendigkeit eines längeren Austausches ihrer Empfindungen auf dem Papiere. Die Lüge wird hier reine Herzen nie beschleichen. Die Sehnsucht wird um den Ausdruck ihres Verlangens nie verlegen sein. Aber dazu, daß ein Verkehr der Gedanken, wie er bei dem süßen Gekose der unmittelbaren Nähe selten stattfindet, den Verkehr der Gefühle nun ablöse, bietet sich so die reichste Gelegenheit. Nun wird Das, was unbewußt und wie im Traum gekommen schien, nach seiner irdischen Möglichkeit noch einmal durchgedacht; die magnetische Kraft, die ohne Erklärung um so wirksamer fesselt, stärkt sich nun durch die sittliche Begründung Dessen, was da so eng zusammenhielt, und stählt die Herzen für eine Zeit, wo auch das Urtheil und die weisere Erwägung sich sagen sollen: Du hast das gute Theil erwählt! Das Leben selbst in seinen tausend Erscheinungen, in seinen oft grade dieser Liebe sich feindselig genug zuwendenden Stacheln wird in seinen drohenden Gefahren dann früh erkannt und die ganze Höhe schon übersehen, bis zu der die zärtliche Verschlingung [3462] der liebenden Arme ausdauern, sich stützen, sich fortgeleiten soll. Sieht man nach solchem Briefwechsel sich dann wieder, so kommt es wohl, daß man sich völlig neu und anders erscheint. Man hat ein altes Bild verloren, aber ein neues gewonnen. Es währt eine Weile, bis man sich rein menschlich wiederfindet, aber es währt nicht lange, das Befremden ist nur das des größeren Glückes, und man hat sich größer gewonnen, größer gefunden, gestärkter für des Lebens ganze Dauer und die ernsten Klippen aller seiner kommenden Prüfungen.

Selma erwartete mit krankhafter Ungeduld des Freundesschicksals endliche Entscheidung. Sie erzählte in ihren Briefen an Dankmar von Anna von Harder, von Oleander's treuen Besuchen, seinem fortgesetzten Unterricht, von Olga Wäsämskoi ... Von dieser Letztern bestätigte sie, was alle Kreise über die Freundschaft der Mädchen erfahren und selbst beobachtet hatten. Selma nannte Olga einen stillen See, den träumerisch der Mond beschiene und von dem man Märchen erzähle, die uns erschrecken sollten, wenn sie auf Wirklichkeit begründet wären. Da wären gleichsam Götzenbilder einst wie von den ersten Christen in diesen See geworfen worden und nächtlich am ersten Tage des Mai rühre und reg' es sich in dem See und die Heidengötter blickten aus dem aufgewühlten Gewässer mit düstern Augen empor und sähen sich die Welt an, wie sie nach ihrem Reiche inzwischen geworden. Aber nie wären es bei Olga doch solche Jungfrauen, die dann auftauchten mit falscher Liebe und jene Knaben in [3463] die Tiefe lockten, denen sie mit Wasserlilien gewinkt hätten oder gar böse und spukhafte Fratzen. Nein, Olga wäre wohl eine schlummernde Tragödie voll Leidenschaft, ja Zorn, ja Wildheit zuweilen, wenn sie ein schriller Ton wecke, aber ebenso auch könnte sie dem Idyll gleichen, wenn ihr ein Süßes, die Nachtigall, ein Schönes, die Kunst, riefe. Helene d'Azimont hätte dem armen reichen Mädchen den Glauben an die Menschen genommen und doch liebe sie Helenen und weine auch um deren Irrthümer! Sie hätte von Rafflard einst in Venedig das Schlimmste über Siegbert gehört, da hätte sie wollen wahnsinnig werden, sterben, hätte ein Kloster gesucht, aber – an der Hand des Teufels. Selma erzählte, daß Olga sich selbst gemalt hätte auf wilder Alpenhöhe, als Pilgerin herabblickend zu einem Kloster im Thale und der Teufel hätte ihr die Stufen gezeigt, die sie hätte betreten sollen, um hinüber zu kommen zu dem lockenden Glöcklein im Thale. Da hätte sie denn Rudhard ergriffen, gerettet vom Wahnsinn. Einer Todten gleich wäre sie nach Tempelheide zurückgekommen und Selma erst hätte sie zum Leben, wie es ist, geweckt, sie an Siegbert Wildungen wieder glauben gelehrt, den sie liebe, aber wie einen Verlornen. Olga Wäsämskoi, obgleich eine Fürstentochter, würde sich zur Königin erhoben fühlen durch die Liebe eines Künstlers und nie, nie würde man von Olga etwas Anderes vernehmen, als daß sie die Liebe selbst wäre und das Abbild der Treue. Und Siegbert schweige und thäte nichts und ließe Alles schlummern!

[3464] Oleander, Siegbert's Freund, billigte Siegbert's Handeln. Oleander hatte sich recht in diesen Bund verloren. Er sprach nie von Siegbert, wenn er in Tempelheide war und Olga seine Lehren mit denen Rudhard's verglich. Siegbert konnte ja nicht, wollte ja nicht, daß diese Leidenschaft durch ihn genährt wurde! Er war zu selbstbeherrschend, Rudharden zu sehr verpflichtet. Er hatte sich von Brüssel, wo die Fürstin weilte, wohl ferne gehalten, aber auch nichts gethan, was den Plan, aus Olga zuletzt doch die Baronin Dystra zu machen, stören konnte. Olga sah darin Schwäche, geringen Lebensmuth, das einzige Unpoetische an Siegbert. Sie ließ sich einmal ihre Welt nicht nehmen und Oleander legte, ob er gleich wie Siegbert dachte, doch ihren Empfindungen gern Gedichte unter, die er Dankmarn vorlas, wie dieses:


O laßt mich zieh'n, ich kenne meine Straße!
Was frag' ich viel! Ihr wißt nur was Ihr wißt!
Von Eurer Liebe nicht, von Eurem Hasse
Lern' ich den Weg, der mir der rechte ist!
Die Pappeln und die Weiden laß' ich Andern!
Mir duften Blumen nicht, im Staub ergraut!
Und muß ich über Strom und Felsen wandern,
Will ich die Brücken nicht, die Ihr gebaut!
Am Rand der Alpen, wo die Gletscher ragen,
Ward meinem Herzen groß und weltenweit!
Da will ich Adler, will die Gemsen fragen:
Wo geht der Weg zur ew'gen Einsamkeit?

[3465]

Dankmar freilich, in seinem unverwüstlichen Humor, sagte, er sähe doch, daß Siegbert sich noch einmal Muth fasse und zu den Adlern und Gemsen nachklettere. Ich wünsch' es dir, rief er aus, Siegbert! Olga würde deine Phantasie werden! Olga! Das ist die Königin der Kunst im Strahlenglanz, der dir gefehlt hat, guter Bruder! Dies Mädchen würde dich umschweben wie ein ewiges Madonnenbild, selbst wenn sie eine Langschläferin wäre und Morgens Federn in den Haaren hätte! Denn, bester Oleander, darauf kommt es an, daß eine Frau eine Göttin bleibt, auch wenn sie unsre Strümpfe stopft! Siegbert, diese Olga wird als dein Weib vielleicht in niedergetretenen Hausschuhen, etwas salopp in ihrem Negligé, mit ungeordnetem Haar in der römischen Villa walten, die das Ziel deiner Wünsche ist, aber sie würde immer eine Hebe, eine Psyche sein, immer die Poesie selbst und deine wahre Erhebung, Bruder, auch wenn Ihr Schulden hättet und Eure Kinder halb nackt mit den Gänsen im Hofe um die Wette schrieen. Ja, ja, so käm' es! Wenn man Euch besuchte, würde kein Stuhl zu haben sein. Da liegen deine Kleider, dort die Nähtereien der Frau, hier die Spielsachen der Kinder, Alles ist voll Farbe, voll Zeichnungen, voll poetischen Schmuzes, aber deine Bilder werden genial sein, dein Weib wird dich den Muth lehren, an die Götter der Schönheit und der Liebe zu glauben! Sie wird uns lachen machen, wenn es heißt, sie ginge selbst in die Küche und sorgte für Salat mit Eiern und holte den Wein aus dem Keller, aber wenn sie käme im blauen oder rothen [3466] Gewande, wie eine junge Römerin, wenn sie den Krug erhöbe mit schöngerundetem Arm und den Wein uns in die Gläser gösse, die wir uns inzwischen selber ausgewaschen haben, dann, Bruder, würd' es doch ein Bild zum Malen werden und wir selber würden mitten in dem Rahmen von Epheu, Myrthen und am Fenster zum Trocknen hängenden Kinderwindeln uns schön erscheinen durch Olga, dein poetisches Weib!

Aber Siegbert's Briefe sprachen nicht von Olga. Es kamen viel Briefe an Dankmar von Siegbert aus Antwerpen, von Leidenfrost vom Tempelstein, von Werdeck aus Paris, von Louis Armand bald da- bald dorther. Dankmar lebte im lebendigsten Verkehr. Auch Dystra schrieb und sprach von seinen Bauten und dem entscheidenden Ja oder Nein! das zwischen ihm und Siegbert wählen sollte, wenn die Ritter vom Geiste zum ersten Male in seiner Tempelabtei im Walde tagen oder turneien würden ... Oleander lächelte über die Theilnahme eines Dilettanten, der sich durch sein Vermögen und seine Bizarrerie über die üble Nachrede der vornehmen Welt hinwegsetzte und seit dem glücklichen Verkaufe seiner Güter in Rußland vor der Macht des Czaren geborgen war ... aber Dankmar rief aus:

O wär' ich frei, frei!

Oleander rieth zu einem Worte mit Egon von Hohenberg. Er wollte selbst zu ihm gehen, er wisse, daß er einer Erörterung zugänglich wäre, die Fürstin brächte wöchentlich Trost und Hoffnung nach Tempelheide, ja er [3467] hatte selbst sogar durch ein Gedicht eine sonderbare Beziehung zum Fürsten gewonnen, ein Gedicht, das Olga mit grausamer Bitterkeit »Cypressen am Grabe Helenen's, gepflanzt von Egon« nannte ... Oleander, der sich in die Stimmung aller dieser Seelen versetzte, hatte es eines Abends fast scherzhaft in Tempelheide improvisirt, Olga schrieb es sich sogleich verstohlen ab und schickte es anonym nach Paris; Helene, wahrscheinlich auf's Tiefste verletzt, schickte es zurück an Egon, als wenn es doch wohl nur von Diesem gekommen wäre. Egon staunend zeigte das Gedicht Melanie und Melanie erkannte der zu solchen romantischen Umtrieben über und über geneigten Olga Hand, wodurch Egon dann die Autorschaft Oleander's erfuhr und diesen veranlassen mußte, die ausführliche Erläuterung eines schlimmen Misbrauchs zu geben, den man mit seinem poetischen Interesse an fremdem Seelenleid getrieben hatte. Dies eigenthümliche Gedicht, das in Egon in der That wach rief, was er zuweilen über den Maler Heinrich Heinrichson empfand, hatte gelautet:


Wehe! Welche Lippen läßt du schlürfen
Wieder deiner Liebe Taumelwein?
Ist es denn dein innerstes Bedürfen,
Andern Alles, Nichts dir selbst zu sein?
Nichts der Frauen größtem Liebesruhme,
Nichts, Helene, dem Entsagungsschmerz?
O du stamm- und blattlosarme Blume,
Wirbelnd um dich selbst gejagtes Herz!
[3468]
Eine luftgetrag'ne Orchidee,
Schwankst und rankst du ohne sichern Wuchs,
Fühlst, ob hold die Welt dich leben sähe,
Doch den Tod des tiefsten Selbstbetrugs.
Rosen träumst du? Ach nur aufgerissen
Bluten deine Wunden, wie sich kalt
Auf des Nordpols eis'gen Finsternissen
Scheidend dunkelroth die Sonne malt.
Opfre! Doch im Leidenschaftgeloder
Opfert selber sich ein Genius.
Armes Lamm, das eine Schlachtbank oder
Einen neuen Hirten finden muß!

Dies, wenn Helene es selber las, entsetzlich grausame Gedicht hatte Oleander als einen einfachen »Schmerzensruf der schwachen Seele an die schwache« niedergeschrieben. Für Olga war es aber ein wahrer Triumphgesang geworden. Sie konnte diese Verse mit einer Gebehrde vortragen, als hätten sie ihre Tante erdolchen sollen. Oleander berichtete, der Fürst hätte ihm gütig, sogar heiter auf seine ängstliche Entschuldigung erwidert; aber Dankmar erklärte, er könnte die fast komische Veranlassung dieser Bekanntschaft zu seinem tragischen Falle nicht benutzen. Carlos und Posa würden ebenso geendet haben, wenn nicht Philipp zu früh zwischen sie getreten wäre! Er ist nicht klein, dieser Egon! sagte Dankmar. Hätte ihn Philipp leben lassen seinen Carlos, dessen erstes Wort wäre auch Aussöhnung mit Alba gewesen, Carlos wäre selbst [3469] nach den Niederlanden gezogen, hätte Egmont selbst hinrichten lassen, hätte selbst sich von ihm sagen lassen, was Egmont dem milchbärtigen Ferdinand sagte: Du wirst sie nicht verachten, weil sie mein war ... Ja! Ja! Oleander! Sie frommer, übel mitgespielter Frühlingssänger, was ist Das für eine Welt! Welche Menschen wetteifern mit dem Wesen, das sie geschaffen hat! Welche Titanen möchten den Himmel stürzen und von ihm Rechenschaft fordern für seine dunkle Geheimnißkrämerei ... ich habe Mitleid mit Egon. Er wird herabfallen von seiner Höhe, wie in seinem Gartenpavillon der gemalte Phaeton. Alle Bernsteinspitzen des Pfeifenkabinets seines Vaters werden nicht hinreichen, ihm noch einmal eine einzige Cigarre zu versüßen. Er wird ein elendes Leben führen, wenn er gestürzt ist und nur noch sich und Melanie quälen kann. Sie werden erleben, daß Melanie von Hohenberg nicht etwa in die Kirche geht, aber für sich in ihrem Kabinet fromm wird und eine gewisse Ausgabe des Thomas a Kempis mit wirklichen Schmerzensthränen benetzt. Das nenn' ich doch Herzen durcheinandergerüttelt! »O schnöde Welt!« Sagt das nicht Shakespeare? In solchen und ähnlichen Betrachtungen und Unterhaltungen, verbunden mit der Nutzung von Büchern, Federn und Papier lebte Dankmar bis in den Monat Mai. Das Erbe hatte man ihm in feierlicher Sitzung überwiesen und ihm die Gründe angegeben, warum es noch unter dem Verschluß der Richter bleiben müßte. Seine [3470] ganze Antwort war gewesen, daß er sich ein Protokoll dieser Prozedur ausbat und die Angabe eines eisernen Schreines machte, in dem die leichte Papiersumme verwahrt werden sollte; es sollten auf dem Deckel vier kreuzförmig verschlungene vierblättrige Kleeblätter von Silber ausgeprägt werden. Bis zur Anfertigung dieses Schrankes blieben die Stadtkämmereischeine, von denen man ihm vorläufig nur den mäßigsten Gebrauch gestattete und eingeschlossen in jener hölzernen Truhe, in der einst Dankmar zu Angerode die Dokumente gefunden hatte, im Gewahrsam der strengbewachten Kasse des Gerichts, die mit ihren eisernen Thüren und Schränken nur einen Hof entfernt von Dankmar's Gefängniß lag. Oleander, als er einmal Eintausend dieser Scheine in der Hand hatte, die er nach Dankmar's Wunsch an Arme geben sollte, sprach die etwas umgemodelten Verse aus dem alten bekannten Gedichte:


Nun möget ihr von dem Horte Wunder hören sagen:
Soviel zwölf ganze Wagen allenfalls mochten tragen
In vier Tagen und Nächten vom Berge zu Thal,
Und ihrer jeglicher mußte fahren an jedem Tag dreimal.
So war der Hort nichts Andres als Gestein und pur Gold
Und ob die Welt man hätte damit genommen in Sold,
Es wäre nicht einmal vermindert um eine Mark Werth,
Es hatten wahrlich die Könige seiner ohne Ursach nicht begehrt!
Wie von den Nibelungen sich da in Burgunden
Die drei Könige des Hortes unterwunden,
[3471]
Da dachten sie Land und Burgen und Recken, die viel kühnen;
Durch Furcht und Gewalten ihnen sollten damit dienen.
Aber den Wildungen allein gehörte der Hort noch im Land,
Da kamen viel fremde Recken; ihnen gab ihre Hand,
Daß man so große Milde nimmermehr geseh'n;
Sie pflogen vieler großen Tugend, das mußte man den Brüdern gesteh'n.
Den Armen und den Reichen begannen sie da zu geben,
Daß man anfing zu sorgen, ob man sie sollte lassen leben.
Da sie durch ihre Güte so manchen Mannen,
Der den Königen schadete, für ihren Dienst gewannen.
Egon-Hagen sprach zu dem König: Es sollte ein weiser Mann
So große Schätze nimmer Einem Einzigen lân;
Der bringt es mit seinem Gelde sicher noch zu dem Tag,
Daß es wohl gereuen die stolzen Burgunden mag.
Und nun schützten keine Eide des Erbes sichre Hut,
Sie nahmen Dankmar'n das viel kräft'ge Gut,
Egon sich der Schlüssel aller unterwand,
Sodaß der König sogar zürnte, als er das geschehen fand.
Der König sogar sagte viel lieber: Eh' Wir immer Müh' und Pein
Haben mit dem Golde, sollten Wir's lieber in den Rhein
Alles heißen senken, daß sein Niemand hat Gewinn!
Da geschah es auch also, daß sie gingen zum Rheine hin.
Und wie nun der grimme Egon den Hort im Rheine barg,
Hatten die Könige sich gelobet, mit Eiden also stark:
Daß er wohl verhohlen bliebe, so lang ihrer Einer möcht' leben.
So konnten sie sich selber und keinem Andern ihn geben.

[3472] Gegen Ende Mai war es dem nun erst recht in Aufregung gekommenen Gefangenen in einer Nacht, als hörte er ein sonst ungewöhnliches Geräusch. Es kam von der Verbindungsthür eines Vorplatzes seines Gefängnisses mit einem großen von Militairposten bewachten Korridor her. Dankmar glaubte, als er deutlich die Zeichen zu unterscheiden anfing, die sonst den Besuchen des Kerkermeisters, des Richters oder Oleander's vorherzugehen pflegten, an einen Irrthum in der Zeit. Es war ihm oft genug schon geschehen, daß ihm Tag und Nacht zusammenrannen und er in der im Winter dunklen Zelle Eins mit dem Andern verwechselte. Aber ein Blick an die Öffnung, die hoch oben am Ende einer in die Mauer gehenden Rundung einen Lichtschimmer zeigte, bewies ihm die Nacht, denn dieser Schimmer kam von den grellen Gaslampen des Korridors, auf den diese Fenster engvergittert hinausgingen. Plötzlich erlosch draußen das Gaslicht. Sein Zimmer war dunkel. Er stand auf, machte sich Licht. Und zugleich war es ihm, als suchte im Korridor Jemand den Schlüssel, der zu den Einlässen führte, und erprobte bald diesen, bald jenen. Brachte Dankmar die Dunkelheit, die auf dem Korridor eingetreten sein mußte, mit dieser unsichern Kenntniß der Örtlichkeit in Verbindung, so mußte die Ahnung gerechtfertigt erscheinen, die ihn plötzlich überfiel, ob nicht irgend eine böse Absicht sich ihm nähere, irgend ein ungesetzlicher Befehl oder wohl gar – sein Blick fiel in diesem Moment auf ein Portefeuille, in dem er eine ihm neuerdings zugestandene Summe von [3473] mindestens mehreren hundert Thalern aufbewahrt hielt. Wenn es unter dem Schutze der Gesetze, unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit auf diesen Besitz wäre abgesehen gewesen? Sein Verdacht verließ ihn, als er in der That die Vorplatzthür geöffnet hörte und in der tiefen nächtlichen Stille das Knirschen des Sandes unter dem Fußtritte eines sich Nähernden unterscheiden konnte. Jetzt glaubte er auf's Neue an einen Irrthum in der Zeit und sah auf seine Uhr. Aber sie zeigte Eins. Er hielt die Uhr gegen das Ohr, sie ging. Es war Eins in der Nacht. Man holt dich, um dich in irgend ein anderes Gefängniß abzuführen; diese Zelle bietet nicht Sicherheit genug oder man hat sie einem Andern bestimmt, da man glaubt, daß ich nun erst recht nicht entweiche ohne das Erbe ... Aber diese mit Beklommenheit angestellten und von der Vorstellung, es wäre wohl ein Traum, was er erlebe, unterbrochenen Vermuthungen steigerten sich zur fieberhaftesten Unruhe, als wiederum jetzt an der zweiten Thür mit Vorsicht ein Schlüssel nach dem andern erprobt wurde wie aus einem großen Vorrathe von Schlüsseln. Das war der Gefangenwärter nicht! Dieser konnte selbst in nächtlicher Verschlafenheit nicht unsicher sein in der Wahl des rechten Schlüssels. Und da diese Versuche nicht endeten, eine stille, fast geisterhafte Hand an dem Schlüsselloche immer mit neuen Schlüsselbärten kratzte und wenn sie eingingen, vergebens an den Federn drückte, so konnte er entweder nur an Befreiung oder an einen bösen Überfall denken. Was sollte er thun? War es ein Befreier, wie[3474] konnte Dankmar da in der Besorgniß eines Überfalls rufen, das Werk fremden Muthes, vielleicht einen Auftrag des Bundes zerstören! Und doch sammelte die Brust von dem stockenden Athem so viel Spannung, daß ein Schrei nach der Öffnung des Fensters zu, ein donnerndes: Wer da! schon auf seinen Lippen schwebte. Dankmar wagte ihn nicht aus Befangenheit. Er konnte nicht an ein Verbrechen glauben. Der Gedanke der Befreiung erfüllte ihn plötzlich mit einem so aufwallenden Lebensmuthe, daß er sich wohl für den Fall des Irrthums vorzusehen beschloß, sich aber auch auf den Empfang jedes bessern Besuches von Herzen rüstete. Das Licht stellte er entfernt, um es vor dem Auslöschen zu schützen. Er ergriff den hölzernen Schemel, auf dem er saß, steckte das Portefeuille in seine Brust und wandte sich eben zur Vertheidigung gerüstet gegen das unheimliche Walten der Thür, als diese aufsprang und im fahlen Dämmerlichte ein Mensch vor Dankmar stand, den in diesem Augenblicke wiederzusehen ihm das Haar emporsträuben mußte. Es war Friedrich Zeck's Sohn.

Hackert! rief Dankmar, und hob den Schemel, um diesen unerwarteten Gast beim ersten Schritte vor wärts niederzuschlagen.

Hackert hob die Hand abwehrend und zum Stillschweigen bedeutend; mit der Linken streckte er einen gewaltigen Schlüsselbund dem möglichen Angriff entgegen.

Es war in der That Hackert mit offnen Augenlidern, nicht träumend, wie Dankmar, in Erinnerung an den[3475] Heidekrug, im ersten Augenblick glauben konnte. Sein zweiter Gedanke war eine Bestätigung seiner Befürchtung, die er in den halblaut ausgestoßenen Worten aussprach:

Was wollen Sie?

Aber schon hatte Hackert die Finger an die Lippen gelegt und so entschieden die Gebehrde des Schweigens gemacht, daß Dankmar keinen Zusammenhang begreifen konnte, seine Waffe senkte und nur im Rücken das Licht zu schützen suchte ...

Hackert winkte ...

Dankmar sah nur den Überfall, nur die böse Absicht, nur den Angriff auf sein Geld, er ahnte einen Hinterhalt und blieb stehen.

Hackert winkte dringender und zog sich fast in das dunkle Vorzimmer zurück ...

Dankmar wollte ihm nicht folgen.

Spitzbube! flüsterte er, soll ich schreien? Dich an den Galgen bringen?

Hackert verzog seine blassen Gesichtszüge zu einem bittern Lachen. Er hätte mit jener Sprache reden mögen, in der er sich Schmelzingen zu verstehen gab, als er schon einmal diesem Ungläubigen einen Liebesdienst erwies. Er konnte nur winken, nur die Zeichen der dringendsten Eile machen ...

Dankmar sah die geöffneten Thüren, aber das Dunkel schreckte ihn. Hackert wird sich wie eine Katze auf dich werfen! Was sollst du thun? Die Posten scheinen [3476] verändert. Auf dem Korridor ist Alles still. Dennoch, wie von der magnetischen Kraft der Situation überwältigt, hätt' er sich jetzt entschlossen, vorzugehen, wenn ihm nicht, da sein Auge sich inzwischen an die Dunkelheit schon gewöhnt hatte, plötzlich auf fünf Schritte von Hackert im Korridor entfernt eine hohe, stämmige Riesengestalt, verwachsen und doch wie ein Hüne anzuschauen, aufgefallen wäre. Nun stand in ihm fest, daß Hackert im Bunde mit Helfershelfern ihn überfiel und nichts hielt ihn ab, ihm jetzt zuzurufen:

Denkst du, Bösewicht, daß ich so leicht wie Pferde zu morden bin? ...

Aber weiter konnte er nicht reden. Hackert sprang auf ihn zu, zeigte, um Dankmar's Aufmerksamkeit abzuwenden, auf die Fensterrundung in der obern Mauer und sprach mit heisrer, nachdrucksvoller Stimme:

Soll ich wieder hundert Thalerscheine auf's Pflaster werfen? Kommen Sie in Teufels Namen –!

Dankmar blickte ihn starr an. Der große Ungeschlachte in der Dunkelheit war verschwunden ...

Wir haben noch drei Thüren zu öffnen, fuhr Hackert heiser und leise fort. Die Schlüssel, die zu Ihrem Gelde führen, kenn' ich. Die sind's!

Und auf drei gewaltige Schlüssel, die er aus der Rocktasche zog, deutend ging er voran.

Dankmar folgte. Wie konnte er jetzt zurückbleiben! War es auf einen Diebstahl seines Vermögens abgesehen, warum sollte er den Anlaß nicht benutzen, da nun gewiß [3477] zugegen zu sein? Er fühlte Hackert's knöcherne feuchte Hand. Sie hatte ihn mit krampfhafter Aufregung ergriffen; er folgte willenlos.

Halten Sie sich an mich, sprach Hackert. Die Pantoffeln aus! Auf den Zehen! Einen Schnupfen ist die Abreise schon werth. St! Reden Sie nichts!

Dankmar ließ mit sich geschehen, was geschah. Die Erinnerung an Hackert's Rechtfertigung damals mit dem Pferde Lasally's hatte ihn entwaffnet. Er folgte und bewunderte die Gewandtheit, wie Hackert mit der einen Hand ihn, mit der andern den Unbekannten führte, der sich im dunkeln Korridor ihnen wieder zugesellte.

Dieser tappte und trat so ungeschlacht auf, daß ihn Hackert einen Bären und Elephanten über dem andern schalt.

Wer ist Das? fragte Dankmar.

Vorgesehen! war Hackert's Antwort.

Die Wanderung dauerte mehre Minuten. Endlich stand man still. Hackert flüsterte:

Das ist die Verbindungsthür! Still! Die Wache wird im Hofe abgelöst ...

Es schlug grade ein Uhr von den nahegelegenen Rathhaus- und Johanniskirchenthürmen. An die Wand gedrückt, wartete man das Verhallen der militärischen Tritte ab, die über den steinernen Fußböden der Höfe hörbar waren. Durch ein Fenster glaubte Dankmar, der diese Räumlichkeiten kannte, wol unterscheiden zu können, daß die Schildwache auch eben an dem Eingang der Gerichtskasse [3478] erneuert war. Doch auch die Thür, die Hackert eben aufschloß, führte in das scharfbewachte Nebengebäude. Jetzt versagten ihm die Schlüssel nicht. Der Große, dessen Konturen Dankmarn allmälig an irgend eine ihm schon vorgekommene Persönlichkeit erinnerten, trappte schweigend, nicht einmal auf Socken, sondern mit bloßen Füßen dem Führer nach, der endlich eine Stiege herab, dann wieder eine hinaufschritt. Alles war hier dunkel, still und schauerlich einsam. Aber Hackert kannte jeden Gegenstand. Einige Stufen empor blieb er stehen und begann die noch zwei übrigen Schlüssel erst an einer eisenbeschlagenen Thür zu prüfen. Der eine paßte. Nach kurzer Weile trat man in den Kassenraum. Ein großer Schrank wurde vom zweiten Schlüssel geöffnet. Jetzt hörte Dankmar nur die an den Andern gerichteten Worte:

Tasten Sie nach dem hölzernen Kleeblatt! Richtig! Da! Die Silberarbeiter sind mit dem Luxus noch nicht fertig. Aufgehoben!

Und der Dritte bückte sich und Hackert half einen Gegenstand den mächtigen Schultern aufladen. Dankmar wußte nicht, wo ihm die Besinnung blieb. Er fühlte den hölzernen Schrein, in dem einst seine Dokumente von Angerode gelegen hatten. Er fühlte das Kreuz auf dem Deckel. Er wußte ja, daß man zu den Dokumenten die Stadtkämmereischeine gelegt hatte. Die Truhe war trotz des papiernen Inhaltes ihrer plumpen Gestalt wegen nicht leicht.

Nun zurück! flüsterte Hackert, lehnte die Schrankthüre [3479] nur eben an, ließ den Schlüssel stecken und tappte vorwärts. Aber krachend stieß der Träger mit seinem Schrein an die Wandecken.

Donner! Wenn wir nicht Licht haben, rennt Der noch eine Säule um ...

Und Licht verräth dich! flüsterte Dankmar. Und Licht zeigt mir den Kameraden! Wer ist's? Hackert, ich folge wie ein Taumelnder; aber Gott sei deiner Gurgel gnädig, wenn Ihr die Frechheit habt, mich mit dem Schein einer Spitzbüberei, die nur Ihr, nur Ihr begangen habt, entfliehen zu lassen ...

Nur keine Reden gehalten, Herr! Es schallt hier! war Hackert's ganze Antwort.

Man ging denselben Weg zurück, den man gekommen war ...

Jetzt galt es die Korridore zu vermeiden, in denen die vielen andern Gasflammen noch brannten und die Schritte der Wachen hörbar waren. Sie befanden sich wieder im Profoßhause. Dankmar begriff nicht, wie man die Ausgänge desselben gewinnen, wie man mit einem so auffallenden Gegenstande, dem Schrein, sich aus ihm entfernen konnte.

Hackert lenkte aber in einen Seitengang. An dem äußersten Ende war ein kleines Fenster, das auf die Straße führte. Es war nur ein Luftloch, ein schmaler Streifen in der Wand. Hackert schien Dankmar'n toll, als er die Miene machte, durch diese kaum handhohe, aber breite Öffnung müßte man nun auf die Straße gelangen.

[3480] Der Schrein und wir? Hierdurch?

Der Dritte setzte den Schrein ab. Hackert deutete nur auf Stillschweigen.

Unwillkürlich schauderte Dankmar wieder vor einem Gedanken zurück, der ihn plötzlich berührte. Er kam ihm mit Stricken, die er fühlte. Wo diese Stricke herkamen, sah er nicht. Er fühlte sie nur, hörte nur das Auseinanderwinden ... er dachte sich die Folgen gefährlicher Prozeduren, die Hackert wagte, zu seinem Vortheil wagte und ihn dann allein kompromittirt zurückließen ...

Hier soll bald Licht werden, flüsterte Hackert. Wir haben vorgearbeitet. An dieser Säule machen wir die Stricke fest. Sie ist stark genug und die Stricke reichen zehnmal bis hinunter. Hinter der Johanniskirche fast an der Ecke, die zu Schlurck's führt – Sie kennen die Gasse – steht ein Wagen ... Daß wir ja zusammenbleiben! Hören Sie?

Und während Dem schon öffnete sich die Lücke. Ein Stein wich unter Hackert's Hand vom andern, immer größer, immer weiter, immer heller wurde der Raum. Bald war er so groß, daß ein Körper hindurch konnte, bald so groß, daß der Schrein sich konnte einfugen lassen, bald so, daß Dankmar schon die Johanniskirche sah und das Scharren von Pferden auf dem nächtlich stillen, einsamen Straßenpflaster hörte ...

Jetzt hieß es, Dankmar sollte zuerst durch diese im Stillen längst gebrochene Öffnung und an dem Seile, das um den Pfeiler geschlungen war, hinuntergleiten.

[3481] Ich zuerst? sagte Dankmar zögernd und auf's Neue voll Mistrauen ...

Keine Komplimente! Rasch! Rasch! Die Wachen, seh' ich, sind gar nicht schläfrig –

Hackert! sprach Dankmar mit letzter zusammengenommener Kraft. Wenn das Alles ein Bubenstück wäre –

Aber Hackert drängte ihn an die Mauerlücke mit der Antwort:

Zum Teufel! Sie sehen ja, es ist bloße Höflichkeit.

Ich bleibe zuletzt, sagte Dankmar entschlossen, ich steige nicht, ich bleibe bei meinem Schrein ...

Eine Fluth der scheußlichsten Verwünschungen kam nun aus dem Munde des von Schweiß triefenden Paul Zeck, der am liebsten dem ewigen Zweifler an die Gurgel gesprungen wäre und ihm die Halsbinde zugeschnürt hätte. Der Dritte, der mit seinem Schrein auf dem Kopfe ruhig wie eine Karyatide des Alterthums stand, diesen freischwebend und doch so festgeklammert hielt, wie Etwas, das er nur mit seinem Leben lassen würde, flüsterte in einer eigenthümlichen weichen Lispelsprache:

Steigen Sie! Steigen Sie! Die Runde kommt ...

Ich gehe nicht ... erwiderte Dankmar.

Wir kommen aber doch vom Tempelstein! sprach der Fremde jetzt mit kräftigerer Betonung und gleichsam ihren Beistand beglaubigend.

Dankmar erstaunte über dies Wort. Der Tempelstein war das Erkennungswort des Bundes für die Zeit bis zu den nächsten Solstitien ...

[3482] Vom Tempelstein? fragte er betroffen und nun glaubte er den Träger seines Schreines zu erkennen ... Sie sind ...

Danebrand! flüsterte Hackert. Hören Sie denn drüben nicht die Pferde aus dem Pelikan? Sie wittern Ihre Nähe! Peters kann sie nicht beruhigen ... es geht direkt nach Angerode zu. Hoffentlich ist Bello im Stall geblieben.

Und nun war Dankmar schon in der Lücke, schon preßte er sich auf die von Hackert nächtlich zum Zweck der Flucht mühevoll gelockerten Steine, schon glitt er das glattgestrichene Seil hinab ...

Aber die Ahnung Danebrand's, daß die Runde käme, war keine Täuschung ... Dankmar, unten auf dem Straßenpflaster angelangt, hörte Geräusch. Hackert's Kopf sah er schon durch die Bresche. Er folgte in der That. Er war nicht von ihm betrogen, aber die Eile, mit der Hackert katzengleich herunterschoß, erschreckte ihn. Hackert war unten.

Die Runde! flüsterte er drängend. Fliehen Sie! Fort! Fort!

Dankmar blieb aber. Er sah eben den Schrein durch die Lücke gedrängt, sah eine Hand um die Pranken des Holzes geklammert, sah das Seil schwanken hin und her von der gewaltigen Last ... Da donnerte oben ein vielstimmiges Wer da?

Hackert stößt Dankmarn fast gewaltsam fort und zeigt auf die Johanniskirche und ihre majestätischen Schatten ...

[3483] Der Schrein ist heraus aus der Lücke, Danebrand's Kopf wird sichtbar, die linke Hand hält den Schrein schwebend in der Luft, während die rechte halb sich stemmend in der Mauerlücke, halb das Seil ergreift ...

Da kracht ein Schuß ... Der Schrein stürzt hinunter, Hackert ruft: Fort! und man müßte die panische Gewalt des Schreckens und den Einfluß der Situationen auf die Seele selbst des Muthigsten verkennen, wenn man nicht natürlich finden wollte, daß Dankmar im Augenblick des Schusses hinübereilte zu dem Wagen. Auf halbem Wege hielt er jedoch schon inne. Er sah, daß Hackert den Schrein, den man hätte in tausend Stücke zerkracht glauben sollen, wie mit übermenschlicher Gewalt auf seine sonst so schwachen Schultern lud. Nun floh er an den Wagen, fand diesen, fand ihn schon geöffnet, es war Peters, der ihn bebend grüßte und während er kaum den Schlag mit der Hand gefaßt hatte, schon die Pferde anpeitschte ... Hackert taumelte herüber, ihm nach ... Aber Danebrand! Danebrand! ... hätte Dankmar rufen mögen ... Da erschallt ein Trommelwirbel in dem Profoßhause, Fenster werden erleuchtet, Stimmen hörbar, die Pferde ziehen an ... Hackert! Hackert! ruft Dankmar von dem nur halb betretenen Tritt herab. Er sieht ihn plötzlich nicht mehr, er hört ihn plötzlich nicht mehr ... Hackert! Hackert! ... Der Trommelwirbel wird stärker. Die Thüren des Profoßhauses öffnen sich schon. Halt! Halt! hört man rufen. Da läßt Peters die Zügel schießen und hohl und dumpf widerhallend in der [3484] nächtlichen Stille braust der Wagen davon, geschützt von den riesigen Schatten der gewaltigen Gebäude, die in diesem altergrauen Viertel fast gespenstisch nebeneinander stehen.

[3485]
11. Capitel. Die Richtung Trompetta-Flottwitz
Eilftes Capitel
Die Richtung Trompetta-Flottwitz

Ermuthigt vom Glück wagt man die größere Gefahr.

Fröhlich, heiterbewegt schritt ein Gast von der Tempelheider Anhöhe nieder, sah noch oft rückwärts, grüßte noch oft die Frauen, die ihm mit Tüchern nachwinkten. Die Zeit der Sorgen war noch nicht vorüber. Sie sollten erst noch recht in ihrer bedrängenden Schwere kommen; aber eine war doch abgeschüttelt: Dankmar Wildungen war in fremden Landen geborgen vor der Qual dieses Kerkerlebens, das selbst dem Muthigsten vor der Zeit den Glanz des Haares bleibt, vorzeitige Furchen in die kühnsten Stirnen gräbt!

Rodewald hatte seit dem Tage, wo ihn Fürst Egon in Hohenberg abwies, ein nach Außen vielbewegtes, in sich stilles Leben geführt. Das, was er von Murray beim Abschiede von der Residenz erfahren, über Pauline von Harder, über den Baron Grimm, über einen Paul Zeck, der leben sollte, war Stoff genug, um zusammenschmelzend mit Dankmar's Schicksal ihm in jede freudige Erinnerung an Anna von Harder, in jede Nachricht von Tempelheide bittern Wermuth zu mischen. Die Nachricht [3486] von dem Gewinn des Prozesses hob auf einige Zeit seine gedrückte Stimmung, aber lähmend vollends wirkte die Nachricht, die er von Herrn von Zeisel erfuhr, daß der Fürst beabsichtige, alle seine Güter zu verkaufen. Mitten in den Zurüstungen, die er auf eine zehnjährige Pachtung hin glaubte wagen zu dürfen, diese Nachricht! Mit welcher Liebe hatte er sich der Hoffnung einer Wiederherstellung der Glücksumstände Egon's gewidmet! Wie verklärt schien die Abendsonne des Lebens auf dies sein emsiges Mühen und Walten, dem er eine irdische Anerkennung niemals wünschen, nie von Denen erwarten konnte, denen zu Liebe er sich mühte und arbeitete! Rodewald war über die Beziehung seines Lebens zu weltlichen Erfolgen hinaus. Er war längst in jene geweihteren Hallen der Betrachtung getreten, wo der auch nicht feierlich emporgerichtete Blick des Auges doch immer das Ende und schon den Ausweg aus diesem Labyrinth aller Erdenräthsel zu suchen scheint und an jede That sich der Maaßstab nur noch des eignen Genügens legt. Er billigte ganz, daß der gute, sich selbst in den Andern lebende Oleander ihm einst mit der Aufschrift: »An meinen Abendstern« ein Blättchen gegeben, auf dem es hieß:


Bei einem Ziele bin ich angekommen,
Ob auch am rechten? ... weiß ich nicht zu sagen.
Zwar mit dem Strome bin ich nie geschwommen,
Doch war's die Welle, die mich so getragen!
Gescheitert hab' ich manches Riff erklommen
Und manchen Preis erwarb sich kühnstes Wagen.
[3487]
Doch muß von den erträumten schön'ren Lagen
Mir diese wol als jetzt die beste frommen.
Das Höchste suchend bald im Thatendrange,
Bald im Genuß, wo ich die Perlen wollte,
Fand ich – nur Schaalen! Ach, der Dämon grollte,
Er grollt noch jetzt und will mir Wunder lügen,
Die noch erreichbar–! Solchem Überschwange
Laß' ich genügen jetzt mein still Begnügen.

Darin, daß Egon von Hohenberg für die Legitimität stritt und sein Sohn war, sah er ein Räthsel. Ein teuflischer Gedanke hätte ihm rathen können, hohnzulachen dieser tollen Welt des Irrthums und der Lüge. Ihm war dieser teuflische Gedanke nie gekommen; ihm schilderte sein Verhältniß zu Egon das Verhältniß der ganzen Zeit zu ihren Verfechtern oder Anklägern. Er sagte sich: Das ist Euer Adel, Eure Erbberechtigung, Eure Monarchie, Eure Kirche, Eure Sitte, Euer Glaube, Eure Konvention! O die Konvention, dies Angenommene, dies einmal gelten Sollende! Und so bitter dieser Ausruf, ihn reizte er nicht, dem Teufel zu dienen, der diese Lüge schuf. Er dachte, grade in diesem Misverhältniß von Zweck und Mittel, von Absicht und Einsicht bewege sich die ganze Zeit und das Jahrhundert und still trug er die Rolle, die ihm gleich sam eine andre Ordnung des Weltenplanes auferlegt hatte, still arbeitete er auf eine innere, geistige Ausgleichung des Ungleichartigscheinenden und doch sich Angehörenden hin. Feierlich bewegt war er an die Aufgabe gegangen, jener höhern, unsichtbaren moralischen [3488] Weltordnung zu dienen, indem er für Egon väterlich handelte. Ja, er dachte sich: So wirkt ja die Gottheit ganz still und unsichtbar für sich nach ihrem Plan und verkehrt die Pläne der Menschen, und was sollte kommen, wenn die wahre gesellschaftliche Religion nicht eben die wäre, daß das Reich des Guten und Schönen dem Walten der Materie und der Leidenschaft immer entgegen arbeitete und sich schon auf Erden eine Harmonie erzeugte, die dem einst brechenden Auge wie ein Regenbogen des Friedens erscheinen, dem nicht mehr Irdisches hörenden Ohre wie Sphärenklang ertönen wird? Ach, und da nun von der Materie gestört zu werden, da nun hören zu müssen: Du wirst aus diesem stillen Zusammenhang deiner höhern Pflichten gerissen, wirst die Werke der Liebe aufgeben müssen! Es that ihm so weh, füllte sein Herz so mit Trauer, so, daß Franziska Heunisch, jetzt die Pflegerin seines Hauses, Sorge um den Edlen tragen mußte und der Tochter gern sie ausgesprochen hätte, wenn diese nicht selbst des Kummers genug hätte zu tragen gehabt.

Nun kam nach einem neuen herben Winter die dreifache Botschaft: Egon verkauft die Herrschaft, Dankmar hat das Erbe, Dankmar ist entflohen! Da hielt es Rodewald nicht länger. Er mußte in die Stadt, wenn auch nur auf einige Tage. Er wollte Selma's Freude sehen, wollte den Versuch wagen, den Fürsten zu sprechen, ihn über sein wahres Interesse aufzuklären. Frohbewegt war Alles in Tempelheide, nur den Greis hätte er gewünscht muntrer anzutreffen; er kränkelte seit der letzten Loge und [3489] schien bedenklich der Auflösung nahe ... auch über Dankmar's Verlust, den nicht aufgefundenen Schrein, war man in erklärlichster Sorge, trotzdem, daß Dankmar selbst geschrieben hatte: Ihn hätte ein edles Mädchen, Louise Eisold, versichert, daß er in Hackert Vertrauen setzen dürfte ... doch wollte er zu Egon gehen, wollte den beklemmendsten Schritt seines Lebens wagen, wollte dem Manne in's Auge blicken, den er fast haßte, ob er gleich so mahnend berufen war, ihn zu lieben.

Rodewald hatte sich in der bekannten ehrerbietigen Aufwartungstracht gekleidet, war an der Pforte des Palais gewesen ... der Fürst, hieß es, ist nicht anwesend, ist ausgefahren ... er hatte sich nicht nennen mögen ... aber nach Tisch, hieß es, um fünf Uhr, dann wäre eine gelegene Stunde ...

Er benutzte die Zwischenzeit, in dem wilden Volksgewühl der Brandgasse Friedrich Zeck aufzusuchen. Er fand ihn leicht wieder heraus aus diesen Winkeln und Gassen; denn Jeder kannte den Alten mit der schwarzen Binde, Jeder zog vor ihm den Hut, Jeder fand Gehör, wenn er sich dem stillwirkenden Freund der Armen nahte ...

Rodewald fand »Murray« in Trauer um das Schicksal seines Sohnes Hackert, der Sohn Paulinen's war verschwunden. Sein Antheil an der Befreiung Dankmar's zeigte sich dunkel, aber unwiderleglich. Der Einzige, der den sichersten Ausweis hätte geben können, Danebrand, lebte nicht mehr. Ein Schuß der Patrouille hatte ein Leben voll Aufopferung geendet. Man zog, als Licht kam, den [3490] Getroffenen aus der Bresche und fand von der besten, edelsten, gutmüthigsten und treusten Seele der Welt nur einen Leichnam ...

Rodewald entsann sich von der Willing'schen Fabrik des großen ungethümgeformten Arbeiters, der damals in Verdacht kam, sein Portefeuille genommen zu haben und sogleich gerechtfertigt wurde. Er stand für eines solchen Menschen beste Absicht und verbürgte nun fast auch Hackert's redlichen Antheil.

Dann ist mir aber meines Sohnes Verschwinden räthselhaft! erwiderte Zeck. Niemand weiß für sicher, daß er mit jener Flucht zusammenhing, ich ahnte es nur und von Ihnen erst hör' ich, daß jenes Mädchen, das ihn zu diesem Abentheuer veranlaßt zu haben scheint, den Namen Hackert's in Verbindung mit Dankmar's Befreiung nennt. Verdacht ist genug aus gesprochen worden. Pax war hier. Alle Welt ist befremdet über Hackert's Verschwinden. Man will auch einige Kennzeichen seines Antheils an jener Flucht wol gefunden haben. Man behauptet, nur ihm hätte gelingen können, sich mit den Schlüsseln zu versehen, ihm nur wäre die List und Verschlagenheit zuzutrauen, sich durch tausend Vorspiegelungen und tollste Künste in Besitz der einzigen Befreiungsmittel zu setzen. Aber der Schrein! fuhr Zeck fort. Soll ich wirklich glauben dürfen, daß ihn eine vollkommen gute Absicht bestimmte, an seiner Entwendung behülflich zu sein? In diesem Falle, wo weilt Paul, warum erfährt Wildungen nichts, was soll man von dem Allen denken?

[3491] Rodewald verhieß eine tröstliche Lösung. Wäre auch das Zeugniß jenes Mädchens zweifelhaft, von dem er sich damals auf dem Fortunaball überzeugt hätte, mit welcher Leidenschaft sie an Hackert hinge, der Keim des Besseren schiene doch durch den Vater in Ihm aufgegangen ... und nun erzählte dieser von der Vergangenheit und half Rodewald über die Stimmungen hinweg, die allzu stürmisch auch in ihm wogten und wallten.

Zuletzt dem Schicksal Dankmar's sich wieder zuwendend, sagte Rodewald:

Es nimmt mich Wunder, schon Kämmereischeine der von Ihnen gefertigten Art im Verkehr zu sehen ...

Sie waren von Dankmar ausgegeben für persönliche Zwecke, sagte Zeck. Tausend Thaler für die Armen, andre Tausend sind persönlich bewilligt worden. Ohnehin durfte er nur von drei zu drei Jahren Einhunderttausend in Verkehr bringen ...

Wenn ein Verbrechen hier stattfände, ein Unglücksfall, so müßte die Amortisationsklage zulässig sein ...

Ich zweifle ...

Wie? Das wäre ja ein entsetzliches Unglück ...

Man sieht mehr Scheine bereits in Umlauf, als Dankmar ausgegeben hat ...

Falsche?

Ächte!

So wäre der Schrein in die Hand eines Betrügers gekommen ...

Murray stand voll Bewegung auf. Das furchtbarste[3492] Mistrauen in seinen Sohn überfiel ihn wieder auf's Neue und vor Schmerz rief er:

Was ist diese Welt! Was ist all' unser Müh'n und Suchen! Oft fühl' ich, daß ich mich dem Wahnsinn nähern könnte!

Nein, nein, sprach Rodewald beruhigend. Es kann nur jenes Geld in Umlauf sein, das Dankmar selbst verausgabte ...

Viel, viel mehr ist in Umlauf ...

Und Dankmar besitzt den Schrein nicht? Hackert ist verschwunden, Danebrand todt, Dankmar weit entflohen. Wer löst diesen Zusammenhang? Wenn die bösen Mächte der Regierungsgewalt selbst –

Glauben Sie daran nicht! Der Schrein ist in die Hände eines Mannes gekommen, der ihn eröffnete und gewissenlos seinen Inhalt verschleudert!

Dann muß die Amortisation zulässig sein, sagte Rodewald aufspringend; die Papiere müssen augenblicklich entwerthet werden. Ich wende mich an den Rath der Stadt.

Diese Anzeige wird Ihnen nichts helfen. Man wird Sie immer darauf hinweisen, daß mit Verbrechern, mit Landesflüchtigen, mit Räubern in solchen Dingen keine Verhandlung möglich wäre, die echten Scheine, sie mögen kommen, woher sie wollten, würden an den Kassen der Stadt in Zahlung angenommen, vorausgesehen, daß die unbekannten gegenwärtigen Besitzer die Termine der Emission einhalten.

[3493] Voll Sorgen über diese neue quälende Erfahrung verließ Rodewald den bangen Freund, ließ sich von Wechslern und Kaufleuten dieselben Worte, die eben Murray gesprochen, wiederholen, besuchte Oleander, der gleichfalls von Dankmar beruhigende Nachrichten hatte und im Pelikan sich nach dem Fuhrmann Peters hatte erkundigen sollen, dort aber erfuhr, daß dieser in Angerode noch weile, um ein dortiges kleines Besitzthum zu veräußern. In Erörterungen über die Hoffnungen der Zukunft ging der Vormittag mit Oleandern hin ... Zu Mittag speiste Rodewald dann in Tempelheide, wo er außer großer Beunruhigung über das zunehmende üble Befinden des alten Präsidenten mancherlei andre Nachrichten fand. Daß er den Fürsten noch nicht gesprochen, befremdete nicht, denn Frau von Reichmeyer wäre in Tempelheide gewesen und hätte erklärt, der Fürst beeile sich, seine Verhältnisse abzuwickeln, es stünde eine große Krisis in der Politik bevor, die ihn vielleicht bestimme, ganz abzudanken ... Von Dankmar waren Briefe gekommen, in denen sich unter Anderem die Stelle befand: Über unser Erbe sollten wir einstweilen noch leidlich beruhigt sein. Wir empfingen einige Tausend von unbekannter Hand aus dem durch den Fall wahrscheinlich gesprungenen Schrein. Der Briefsteller ist ohne Zweifel Hackert. Er versichert das ihm anvertraute Gut zu hüthen, soweit es seine Wunden zuließen; denn daß der Schrein nicht ganz in Trümmer gegangen wäre, hätte man seiner Schulter zu verdanken, die nur noch wenige Stunden lang Kraft genug behalten [3494] hätte, das Äußerste zu wagen. Man möchte Geduld haben; er hätte die Loosung bekommen: Zum Tempelstein! und vor Louise Eisold würde er den Fund niederlegen, vielleicht zu ihrem Hochzeittage mit Mangold, da Danebrand ja hätte »dran glauben« müssen ...

Beruhigt durch diese, wie Dankmar erzählte, selbst von einem Verwundeten noch schön geschriebene, aus einem kleinen Provinzstädtchen gekommene Botschaft, wo man unter der Hand fruchtlose Nachforschungen angestellt hätte, machte sich Rodewald auf's Neue auf den Weg, um nun den Fürsten zu sprechen. Seine Mittel reichten nicht aus, mit Herrn von Reichmeyer in einen Wettkampf zu treten. Nur die Hoffnung trieb ihn, den Fürsten ermuntern zu können, daß er an der Zukunft seines Erbes nicht verzweifelte und ihn in einer Lage, einem Berufe walten ließe, den er nun einmal, fern vom Treiben der Städte, als den letzten ihm zukommenden, hätte erkennen wollen ... Rodewald versprach, sogleich zurückzukehren und in dem leichtmöglichen Falle, daß der greise Präsident in Anna's pflegenden Armen ausathme, mit den in Eile gerufenen Ärzten männlichen Beistand zu leisten.

Es war fünf Uhr. Ein heißer Junitag. Im Park hinter dem Palais des Fürsten Egon säuselte ein kühlender Luftzug in den Ulmen und Linden, die grade ihre duftigen Blüthen entfalteten. Der spät sich belaubende Ahorn, die vor der Blüthe dünn beblätterten Akazien bildeten den Übergang aus den dichtern Baumpartien in die jetzt gepflegtere Ordnung des Gartens, wo Rosen und Nelken [3495] mit üppigster Farbenpracht grade im Beginn des schönen Blüthentraumes waren, der den edelsten Pflanzen nur zu kurz gestattet ist.

Egon und die Fürstin wandelten im Garten ... Nach Tisch pflegten die guten Geister ihm näher zu sein als seine schlimmen. Nicht daß er, mit Menenius bei Shakspeare zu reden, bei »vollem Magen mehr Milde und Erbarmen hatte als bei leerem«; aber die Fürstin kredenzte ihm von den südlichen Weinen, die er liebte, er wurde gesprächiger, angeregter, bedürftiger der Zärtlichkeit, die uns nachgiebig macht auch in anderen Dingen als nur den tändelnden ...

Egon stocherte sich die Zähne, setzte sich auf jene Bank, auf der er einst ausgeruht hatte, als er von seiner Krankheit genas und er die Briefe von Helene d'Azimont nicht mehr lesen mochte ... Das Kissen, das ihm damals Louis Armand ausbreitete, legten auf die steinerne Bank jetzt zwei Bediente, die sich in gemessener Entfernung hielten ...

Die Fürstin war in guter Laune; denn Egon schien es zu sein. Er lobte die Blumen, die Luft, die Speisen, die Käfer, die Weine, die Kissen, Alles durcheinander, er, der sonst so wenig lobte, Alles tadelte, Alles gebessert wünschte ...

Ob seine Freude eine wahre oder nur eine erkünstelte war, kümmerte die Fürstin nicht. Sie erzählte in ihrer alten Art Komisches und Spöttisches durcheinander, Eins drolliger als das Andre, und schien dabei sorglos, so blau [3496] und wolkenleer, wie der Himmel über ihnen. Hatte sie doch kürzlich erst ein großes Leid glücklich überstanden ... eines Morgens war bei ihr angefragt worden, ob sie nichts vom Vater wisse? Der Justizrath, hieß es zu ihrem tödtlichsten Schrecken, müsse in der Nacht die Komthurei allein verlassen haben, wäre nirgends zu finden, hätte vielleicht ein Unglück erlebt ... Der Schrei ihrer Angst erstickte in der schaudernden Gewißheit, daß sich der Vater vielleicht ein Leids angethan hätte; die Mutter, zu der sie flog, war starr und stumm ... der Vater, hieß es, hat eine Zahlung zu machen ... er wird sich den Tod gegeben haben. Doch bald klingelte es am Hause und der Vater kam, heitrer denn je, wohlgemuth, aufgelegt, sprach von dem Sonnenaufgang, den er hätte im Walde an der Jägerei, an dem bekannten Eierhäuschen, beobachten wollen, leistete die Zahlung aus Mitteln, über die in der Freude der Erlösung von einer schrecklichen Vorstellung Niemand grübelte ... es war dies sonderbarer Weise derselbe Tag, an welchem man Dankmar's Flucht und den Raub des Schreins erfuhr ... Genug, Melanie forschte nicht, sie lebte dem Augenblick und suchte Egon zu erheitern, wo sie nur konnte. Abgegebene Visitenkarten veranlaßten sie zu folgendem komischen Bericht:

Seit Frau von Trompetta den Hof in Tempelheide versäumt hat, verliert die Gute um so mehr ihr Gleichgewicht, als ihre Formen sich immer mehr denen eines weiblichen Falstaff nähern. Aus allen Kämpfen, die uns seither bewegten, ist auch sie nicht ohne ihren Kummer [3497] hervorgegangen, aber das öffentliche und das eigne Leid bekamen ihr so wohl, daß ihr gegen die Blutfülle nichts als Kissingen übrig bleibt. In der Ideenwelt scheint sie sich erschöpft zu haben. Das Kanonenboot ist gescheitert wie die deutsche Flotte und von den Künstlern und Dichtern, die für ihre eigne Existenz zu sorgen haben, ist gratis jetzt nichts mehr herauszubekommen. Die Zeit der freiwilligen Albums ist vorüber. Auch ihre Stimme hat bei dem Embonpoint gelitten. Dennoch wagt sie jetzt den letzten Versuch, die Liebe des Hofes zu attakiren. Sie hat gehört, daß die Gräfin Altenwyl äußerte: Die Königin fände es auffallend, daß soviel hochgestellte Damen sich um die Neuerung der sogenannten Kindergärten kümmerten; ob sie denn nicht wüßten, daß diese Kindergärten zu der innern Mission der Demokratie gehörten? Wenn die edlen Damen Etwas für die Kinder thun wollten, so sollten sie sich an den Krippen oder sogenannten Crêches betheiligen. Niemand war von dieser Äußerung betroffener als Frau von Reichmeyer, der sie hinterbracht wurde in einem Augenblick, wo sie eben für die Kindergärten eine Sammlung zur Anschaffung von dem darin üblichen Gedanken-Spielzeug eröffnen wollte. Die ärmste Millionärin hatte sich in der Wahl des Mittels, um die Gunst des Hofes zu gewinnen, so entsetzlich vergriffen! Nun entwand sie sich sogleich feurigst den Armen der Demokratie, fuhr zu Frau von Trompetta und hinterbrachte ihr das Wort der Altenwyl. Jetzt haben es Beide höchst enthusiastisch mit den Milchfläschchen für Säuglinge[3498] und mit den Krippen. Gelbsattel ist dabei auch gewonnen worden, alle frommen Geistlichen, die Mäuseburg, die Fürstin von Sein-Haben-Werden, Alle, Alle wollen sie jetzt die kleinen Milchfläschchen füllen und Krippen bauen. Der Anblick der Trompetta und der Reichmeyer unter den Windeln der Creches soll höchst tragikomisch sein. Die Königin hat sämmtliche Creches unter ihre Protektion genommen und der katholische Heiligenschein um die Köpfe der vornehmen Damen nimmt in der That so zu, daß ich mir manchmal wie eine Heidin vorkomme und nicht mehr weiß, an was man nun eigentlich jetzt noch recht glauben soll.

Egon lächelte zu dem Humor der Fürstin, die nie verlegen war, ihn zu erheitern, aufzurichten, in seiner öden Vereinsamung zu trösten ...

Ich sehe, sagte er, daß meines Sylvester Rafflard Wirken für den deutschen Norden nun doch von bestem Erfolg gewesen ist. Die Intrigue gegen Helene war nicht seine einzige Aufgabe. Er hat überall schlau die Leerheit und Abspannung der Gemüther hier benutzt, um ihnen die Panacee des römischen Glaubens anzubieten. Wir bauen schon Kirchen für Rom, wir werden binnen wenigen Jahren hier einen römischen Bischof haben und das Frohnleichnamsfest öffentlich feiern sehen unter dem Schutze von Militär und Gendarmen. Die Krankenpflege erzeugt Institutionen, von denen man nicht mehr recht weiß, wurzeln sie noch in Luther oder schon wieder in Rom. Man sieht Schwestern mit wunderlichen Kopftrachten [3499] durch die Straßen gehen, als wäre man im tiefsten Süden. Man zeigt dem Volke die Uneigennützigkeit der katholischen Kirche in der Heil-, Schul- und Seelsorge. Die Kunst entschieden, die Literatur allmälig seh' ich schon hinneigen wieder zu einer gewissen unreellen Auffassung des Lebens, wie in der alten romantischen Epoche. Die Damen lesen nur Süßliches, Dämmerliches, Träumerisches. Von dem offnen Übertritt vieler Gebildeten nicht zu reden ...

Die Fürstin verstand, warum sich Egon unterbrach. Er dachte hier an Helene d'Azimont, die den neuesten Nachrichten zufolge nach Paris zurückgekehrt war, dort ihren Gatten sterbend gefunden, ihn begraben hatte und nun auch zur katholischen Kirche übergetreten war. Man hatte erfahren, daß sie sogar mit der alten Mutter Desiré's sich ausgesöhnt hatte, auf dem Quai d'Orsay gemeinschaftlich mit ihr betete und in Notre-Dame, während Rafflard vor den Thüren stände und mit den Shawls auf Beide an der Equipage wartete, in der Magdalenen-Kapelle mit zerknirschten Reuethränen oft hörbar schluchze. Heinrichson war Helenen nicht treu geblieben. Eine millionenreiche Engländerin, die für eine Malerin gelten wollte, hatte ihn geheirathet. Helene war um den Glauben an sich und die Welt gekommen ... Das grausame Gedicht des sonst so weichen Oleander hatte auch sein gut Theil Schuld daran, daß Helene für alle ihre Schmerzen auf eine letzte Abhülfe dachte und sich vor Egon, vor Olga, ihrer Schwester Adele, vor Rudhard gleichsam einen [3500] Panzer und Harnisch des neuen Lebens umschnallte, der ihr zugleich erlaubte, über alles Vergangene, wenigstens scheinbar, eine souveräne Verachtung auszusprechen.

O diese bemitleidenswerthe Haltlosigkeit der weiblichen Seele, rief jetzt Egon kopfschüttelnd aus. Wenn die Klänge der Orgel brausend strömen, die Klingel des Hochamts ertönt, der Priester im gestickten Kleide die Ränder des Altars küßt, fühlen diese Frauen wol eine Linderung ihrer Qual, ihres heißen Durstes nach Wahrheit oder Schönheit? Ich glaube nicht. Ich glaube, daß Helene im katholischen Glauben nur dieselbe Anregung findet, die Pauline von Harder bei uns in meiner Politik fand. Dieser katholische Glaube besteht nicht aus der Messe, der Beichte und dem Rosenkranz allein. Es ist eine so merkwürdig unterhaltende Institution, wenn man in ihr inneres Getriebe treten darf und die reichste, ja leidenschaftlichste Erregung für jeden übrigen Lebens-Augenblick gewinnt, auch außer der Gottesandacht. Kann etwas lebensvoller organisirt sein als das Ziel und Streben der katholischen Kirche? Ist sie nicht mit rüstigem Muthe wieder in den Wettkampf mit der Zeit getreten, hat sich an allen Vorgängen der Staaten, der Kultur, der Kunst, ja selbst der Wissenschaft um so mehr betheiligt, als wir für uns überall auf diesem Gebiete nur Niederlagen sehen? Das Palais eines Erzbischofs ist jetzt wie das eines Ministers. Boten gehen und kommen. Über Alles wird berichtet, für Alles ein Votum abgegeben und die Fürsten, die schon ihren nahen Untergang vor Augen [3501] erblicken, klammern sich an diesen Einfluß mit tiefster Unterwerfung, fördern ihn, folgen ihm, selbst wenn sie nicht zur katholischen Kirche gehören. In diesem Kirchenleben herrscht ein ewiges Kommen und Gehen, eine stete Anregung auch durch Männer, die den großen Vortheil bieten, daß ihnen häusliche und Familienbeziehungen nicht auf den Fersen folgen. Nie klappen diese Menschen gleichsam in ihren Hauspantoffeln, nie hört man von ihnen eine Berufung auf ihre Lebensstellung, auf das Loos von Weib und Kind. Meine arme Helene vielleicht sucht Gott, vielleicht sogar Christus, aber sie wird auch, in Ermangelung des rechten Heilandes, vorläufig soviel Apostel finden, daß ihr ein neues unterhaltendes Leben aufgehen muß und ihre liebeglühende, in den Extremen lebende Seele nicht Zeit er hält, noch an das Vergangene zu denken. Sie ist reich, sie wird sich das Leben nach allen Dichtgattungen, tragisch, idyllisch gestalten, wie sie es bedarf. Die Elastizität ihres Willens, die Dehnbarkeit ihres Bedürfnisses wird nie ein Ende finden. Über Gründe, Motivirungen wird sie, die im Ewignothwendigen lebt, nie in Verlegenheit sein. Geb' ihr der Himmel die reichsten Züge aus dem Quell des Vergessens und netze ihre heiße Stirn mit irgend einem Thau und wär' es das Weihwasser des Aberglaubens an den weihrauchduftenden Kirchthüren!

Die Fürstin lenkte, da Egon's Stimme vor wehmüthiger Erregung zitterte, auf Pauline ein und berichtete über die Besuche, die heute die Geheimräthin schon in der [3502] Frühe gemacht hatte, aus Furcht, Egon wolle dem Hofe offen, nicht versteckt weichen, wolle eine Kabinetskrisis eintreten lassen ...

Egon aber fuhr ausweichend fort:

Dieser tollkühne, so liebenswürdige und so gefährliche Dankmar Wildungen hatte Recht, als er mir eines Tages, da von dem Übertritt einer berühmten Frau die Rede war, sagte: Diese Frau handelte sehr inkonsequent oder sie weiß nicht, daß die Nachtigall ein Männchen ist. Überlegte sie, daß Gott es so geordnet hat, daß die Männchen im Walde die Herren, die Männchen nur schön sind und nur die Männchen singen, wüßte sie, daß nur eine ihr sonst so seltene Galanterie der deutschen Sprache aus dem Sprosser, der allein schlägt, eine Nachtigall machte, aus der Sonne, die in allen Sprachen männlich ist, bei uns allein eine Dame und den überall weiblichen, überall abhängigen Mond bei uns zum Herrn, zum Maskulinum, so hätte sie in dem konsequenten Streben nach Freiheit und Frauengröße eigentlich dem Weltenschöpfer den Handschuh zum Kampfe hinwerfen und in die Schule der neuen Atheisten gehen müssen. Aber von den Regierungen verfolgt werden, mit der Gesellschaft zerfallen, von der Aristokratie verdammt und verketzert werden, Das entspricht freilich nicht den Allüren dieser Ästhetik und so wählte sie statt der genialen Malice auf die Weltordnung, die eine charakteristische Konsequenz gewesen wäre, eine ihr gar nicht natürliche demüthige Unterordnung, statt Byron's den ihr im Stillen höchst langweiligen [3503] Thomas a Kempis, statt des unscheinbaren Doktors Feuerbach bei Nürnberg den freilich pompöseren Papst in Rom.

Das Paar stand nun auf ... Die Fürstin wußte, daß sie diese Art von Erinnerungen, wenn Egon fest dabei blieb, nicht durch Scherz stören durfte. Sie wußte, wie Egon litt unter dem Druck seiner Überzeugungen und Pflichten. Er terrorisirte sich ja selbst und weil sie die Einzige war, die seine Wahrheitsliebe mit schaudernder Verehrung anerkannte, so that es ihm wohl, sich, wenn sie ganz stumm war, an sie zu schmiegen und sich mit ihr allein im beruhigten Einverständniß zu fühlen.

Pauline, sagte er im Gehen, Pauline ist grade wie Helene. Diese ertrug nicht, daß ich handelte, Jene wird nie ertragen, daß ich liebe und nur dem Leben lebe. Erst war ich ganz der Sklave des Herzens, nun bin ich ganz der Sklave des Geistes. Ich soll mich beugen unter diese kleinen Zirkel! Ich soll eine Lüge in die wenigstens mir erwiesene Wahrheit meines Herzens aufnehmen! Ich soll die Religion, die Schule, die Wissenschaft einer Richtung überantworten, die nicht die meine ist! Und warum? Um Minister zu bleiben? Um Paulinen nicht von ihrer Höhe herabzustürzen? ... Ich habe diesen Staat gerettet. Ich begab mich in Gefahren, opferte meine Freunde, diente der Gesellschaft, indem ich die Ruhe, Ordnung, den Fleiß, die Mäßigung, die Ergebung, das Vertrauen anbahnte. Und immer die Vorwürfe, daß ich die historischen Bedingungen vergäße? Grade diese Monarchie wäre ein Andres [3504] als der allgemeine Staat der Vernunft? Grade hier gälte es, Alles in den Personen, nichts in den Dingen zu suchen? Ich ertrug diesen tollen Widerspruch, so lange ich ihn für ungefährlich erklären konnte. Aber jetzt soll ich, da diese Fanatiker des Rückganges sich unentbehrlich gemacht haben und ich auch von den Mittelparteien umgangen bin, mir Elemente aufdrängen lassen, die sich mir nur heuchlerisch unterwarfen, weil ich Muth hatte und nur warteten, bis ich von ihrem schlingpflanzenartigen Wachsthum umrankt bin und in ihren Umarmungen ersticken muß! Ich kenne jetzt den leitenden Gedanken des Hofes. Ich war gut für das Zeitalter der Polizei. Zwei Jahre galt es unterdrücken, hemmen, ablehnen. Jetzt träte die Zeit der Organisationen ein! Es ist die Contrerevolution der Adligen und der Pietisten, denen selbst Voland zu allgemein und zu phrasenhaft geworden ist. Wenn die jetzt erledigten Ministerien des Kultus und des Auswärtigen in die Hände jener Männer kommen sollen, aus deren Liste ich nicht Einen wählen würde, während der Hof nicht Einen aus der meinen mochte, so hab' ich meinen Weg vollendet und danke dem Himmel, daß Reichmeyer's Vorschlag einer Parzellirung meiner Güter und deren successiver Verkauf mir möglich macht, diese Bahn zu verlassen und Rudhard's Vorschlag, meiner Gesundheit wegen mich im südlichen Rußland, gradezu in der Krimm oder sonst wo niederzulassen, auszuführen ...

Diese unmuthsvoll ausgesprochenen Phantasieen wurden von drei Briefen unterbrochen, von denen einer in [3505] röthlicher Enveloppe der wichtigste war; Briefe von dieser Farbe kamen vom Hofe ...

Der Fürst erbrach ihn zuerst. Aus dem Kabinet des Königs wurde gemeldet, das Interesse der Dynastie verlange unbedingt die Übergabe der erledigten Portefeuilles an die Männer der vom Hofe aufgestellten Liste. Man sähe um so weniger Schwierigkeiten, als sich ja alle der Präsidentschaft des Fürsten fügen wollten ...

Der zweite Brief war von Herrn von Reichmeyer, der die endliche Möglichkeit einer großen Verkaufsoperation für die nächsten Tage bestimmt zusicherte ...

Der dritte endlich war von Paulinen und lautete:

»Zweimal war ich bei Ihnen, Egon, zweimal wollt' ich Sie beschwören: Opfern Sie diese entsetzliche Hartnäckigkeit! Ich habe Gäste zu Tisch, sonst wär' ich selber da, um Sie fußfällig zu bitten: Richten Sie nicht Alles zu Grunde! Sie zwingen den Hof nicht! Die Partei der Königin ist zu sehr erstarkt. Sie lehnt sich an die große östliche europäische Politik und hat das Einverständniß mit allen Kabinetten im Rücken. Sie selbst, Egon, haben die Verfassung für ein Konglomerat von Unsinn und Verbrechen erklärt; darin ist man mit Ihnen einverstanden. Aber Sie haben hinzugefügt: dies Konglomerat drücke für den Augenblick die Bürgschaft der Ruhe und Ordnung aus, man dürfe sie den Mittelparteien, die den Ausschlag gäben, nicht entziehen, dürfe nicht an ihr rütteln, müsse sie als Popanz regieren lassen, um die größeren Güter des Vertrauens, die Rückkehr zu den Gewerben, die Verschmelzung [3506] der Gehorchenden und Regierenden dafür zu gewinnen, bis die Zeit käme, wo die Zungen der Engel oder die Posaunen des Weltgerichtes wieder einmal mit der Menschheit reden würden. Dies zweideutige Wort ist das stündliche Thema der kleinen Zirkel. Man geht so weit, Sie des Einverständnisses mit der Revolution zu bezichtigen. Ich beschwöre Sie, Egon, lassen Sie diese Hartnäckigkeit! Wenn Flottwitz aus P. und Trompetta aus S. in's Ministerium kommen, so haben wir in der Presse und der Kammer die Mittel, diese uns aufgedrungenen Ultra-Elemente bald genug auszustoßen. Geben Sie diese Expropriation Ihres Eigenthums auf! Sie wollen das Land verlassen! Sie haben idyllische Ideen wie einst Helene d'Azimont. Sie sind muthlos geworden, Fürst! Sie beneiden Ihre alten Freunde um das Glück ihrer Märtyrerschaft! Sie finden die Schicksale dieser Wildungen wunderbar. Sie ermatten im Kampfe für Ihre unendlich wahreren Ideale! Soll ich, ein Weib, Ihnen Kraft und Ausdauer predigen? Egon, was ist Ihnen Rodewald? Seit dessen Rückkehr sind Sie ein Schatten, sind nicht der Widerschein mehr Ihrer früheren Größe! Finden Sie Rodewald ab! Ich biete Ihnen zur Lösung seines Pachtvertrages mein Vermögen! Verweisen Sie ihn auf Grund seiner verlornen Heimathsrechte, auf Grund des Schutzes, den er dem Staatsverbrecher lieh, auf Grund des Vorschubes, der von Plessen und Tempelheide aus doch unwiderleglich der Flucht Wildungen's geleistet wurde, des Landes – Egon, haben Sie Muth, Vertrauen! Nochmals, [3507] ich biete Ihnen die Benutzung meiner eignen Mittel! Befreien Sie mich von dem Verdachte, daß Sie nicht ertragen können, von mir abhängig zu sein! ...«

An dieser Stelle zerriß Egon das Billet, warf es zur Erde und würde die mit dem Fuße getretenen Fetzen aus Zorn unbedacht haben liegen lassen, wenn die Fürstin sie nicht gesammelt und ihm zurückgestellt hätte, ohne einen Blick hineinzuwerfen ...

Ohne ein weiteres Wort durchschritt Egon den Garten, verließ ihn, ging über die kleine Hoftreppe in seine Zimmer. Der Diener folgte ... Die Fürstin hielt sich zurück, treu ihrem Systeme der Nichteinmischung in Dinge, für die ihr Lust und Beruf fehlten ...

Zwei Worte genügten dem Fürsten, um dem Hofe anzuzeigen, daß er sich heute gegen Abend definitiv aussprechen würde ...

Es stand bei ihm fest, Das, was er war, ganz oder es nicht zu sein ... Pauline von Harder hatte Recht, seit Rodewald's Rückkehr war Egon ein Tyrann der Konsequenz ... das Wort »abhängig sein«, von dieser Frau gesprochen, wühlte ihm wie ein Dolch in der Brust ...

Der Bediente wollte gehen, das Billet zu Hofe tragen ... Noch zögerte er und meldete:

Der Generalpächter Herr Rodewald wünsche Se. Durchlaucht zu sprechen ...

Egon hörte nicht ... Er war in zu fieberhafter Bewegung ...

Herr Rodewald ...

[3508] Wer? ... Der Schrecken des vorigen Jahres im Schlosse Hohenberg wiederholte sich erst.

Der Bediente sprach die Meldung noch einmal; der Wunsch Rodewald's, jetzt vorgelassen zu werden, war der dringendste.

Die Wirkung dieses Namens auf den Fürsten kennen wir ... Dasselbe Erblassen, dasselbe Beben ... wie auf dem Schlosse Hohenberg ... aber die Sammlung war nach fast einem Jahre der Gewöhnung und Überlegung vorbereiteter ... Der Fürst faßte sich, winkte und ließ den Generalpächter eintreten ...

Heinrich Rodewald trat ein ...

[3509]
12. Capitel. Vater und Sohn
Zwölftes Capitel
Vater und Sohn

Rodewald hatte in denselben Zimmern gewartet, wo er einst von Louis Armand die frohe Botschaft von dem vermeintlichen Eigner jener Locke empfing, die auf seinem Herzen ruhte ... er hatte voll Trauer die alabasternen Bildsäulen betrachtet, von deren Anblick er damals gern den Knaben Selmar zurückgehalten hätte ... er war bangend über die Teppiche auf und nieder geschritten, die damals jenen dem Justizrathe zugeschleuderten »Schurken« in seinem Widerhall milderten ... dieselbe Welt und wie verändert durch die Zeit!

Wie Rodewald eintreten sollte zu Egon von Hohenberg, dem Sohne Amanden's, schlug dem Vater das Herz, er hätte es hören können, wenn nicht sein Ohr betäubt gewesen wäre. Nur unwillkürlich griff er mit der Linken nach der klopfenden Brust ... in der Rechten hielt er mit der Ehrerbietung, die seiner Stellung zukam, den Hut ... Er war schwarz gekleidet, gab sich von Natur würdevoll und überragte weit seine Stellung.

Egon stand vor ihm mit dem Stern auf der Brust ... Er hatte in der Frühe schon einer Repräsentation bei gewohnt ... Er trug diesen Stern jetzt fast wie eine Waffe.

[3510] Stumme, lautlose Begrüßung ...

Herr Rodewald? begann der Fürst mit einem unwillkürlichen Schauer. Er hatte diese Gestalt, diese imponirende Würde, diese edle Bildung des Hauptes nicht erwartet ... er wollte seinem Tone Barschheit geben ... er konnte nicht; der leise am Vater schimmernde Silberglanz des Scheitels milderte seinen strengen Vorsatz ...

Durchlaucht ... zu Befehl ... war Rodewald's fast zitternd vorgetragene Antwort.

Habe Ursache Ihnen sehr dankbar zu sein ... Ihre Verwaltung verspricht ... oder vielmehr Sie leisten schon, was Sie versprochen haben ...

Rodewald gewann an Sicherheit der Unsicherheit des Fürsten gegenüber. Dieser Empfang mußte ihn, wenn er schon von Egon's Herzen eine geringe Meinung hatte, vollends erkälten. Wozu diese kurzen, abgestoßenen Sätze! dachte er. Soll Das als Vornehmheit gelten? Soll Das Strafe für meine Beziehung zu Dankmar sein? Warum mir diese Unfreundlichkeit? An eine Bekanntschaft mit seinen Beziehungen zur Mutter dachte er nicht. Er wußte, daß die einzige Verrätherin nur Pauline sein konnte und worin grade ihr Stolz, ihre Eifersucht sich gegen Amanda gesträubt hatte, wußte er nicht minder ...

Die zehn Jahre, begann er, die mir Ew. Durchlaucht anfangs gestattet haben, sind grade nur das Maaß der Zeit, das ich brauchen würde, um Soll und Haben einigermaßen in Einklang zu bringen. Auf Gewinn würde erst nach dieser Frist zu rechnen sein.

[3511] So? sagte Egon kalt, wandte sich zum Fenster und blickte mistrauisch nur mit halbem Blicke zu dem Sprecher, der fortfuhr:

Durchlaucht haben aber, wie ich von Herrn von Zeisel höre, über Ihre Besitzungen einen andern Entschluß gefaßt ...

Egon hörte kaum. Er dachte nur an das Wort Paulinen's in dem zerrissenen Brief: Man verweist Rodewald des Landes! Er prüfte und forschte. Er wollte in die Stimmung zurück, die ihn einst veranlaßt hatte auszurufen: Du bist von Fallstricken umgeben, man wühlt in deinen gefährlichsten Geheimnissen! Was will dieser Mensch? Warum kommt er zurück? Was drängt er sich in deine Nähe?

Und nun stand der Gefürchtete vor ihm. So ruhig, so ernst, so würdevoll ... Ja, sein scharfes Auge entdeckte den Wehmuthsschleier über Rodewald's Augen und nur darin noch fühlte er seine Kraft sich sammeln, daß er dachte: Sollte er wagen, dir vertraulich zu thun? Wäre Dies, so hätte ihm ein Gedanke kommen können, der nicht viel anders gelautet hätte, als: Du könntest ihn erwürgen!

Rodewald fuhr fort:

Durchlaucht werden als Staatsmann wissen, daß in keinem Dinge eine plötzliche Reform möglich ist. Die Güter sind vernachlässigt, überschuldet, aber ihr Ertrag ist noch nicht zu ermessen. Die Bodenkraft scheint größer, als man voraussetzte. Ich fand keine gute Haushaltung und ich bringe noch mehr als ehrlichen Willen, ich [3512] bringe Kenntnisse und Erfahrungen, die sich bewähren dürften ...

Sie haben Auslagen gehabt, sagte der Fürst; ich weiß, Sie haben Maschinen bauen lassen – und die Gebäude, die Sie errichteten, ich sah sie selbst mit Vergnügen – sie werden den gegenwärtigen Kaufpreis nur erhöhen ... Sie werden schadlos gehalten werden ...

Ein Verkauf, dem man eine gerichtliche Nothwendigkeit zu Grunde legt, hebt mein Pachtverhältniß auf ...

Sie arrangiren sich vielleicht mit Herrn von Reichmeyer ...

Ich glaube nicht. Die Landwirthschaft ist so sehr meine Leidenschaft nicht. Es müssen sich die Verhältnisse schon ganz besonders nach meinem Wunsche gestalten, wenn ich mir als Ökonom gefallen soll ...

Egon, der fast nur zum Fenster hinaussah, biß sich auf die Lippen. Es lag in diesen Worten Das, was er fürchtete, der Schein von Vertraulichkeit des ihm un heimlichen Mannes und doch war die Betonung nicht auf ihn gerichtet, sie war streng, ohne Weichlichkeit, ohne Zuthunlichkeit, sie ging in's Allgemeine.

Der Überschuß, fuhr Rodewald fort, der Überschuß der Aktiva, wenn die Passiva getilgt sein werden, kann nicht so groß sein, daß der Werth einer dauernden Zukunftshoffnung aufgehoben würde. Übereilen Sie diesen Entschluß nicht, Durchlaucht!

Egon brachte jetzt polternd eine Menge von Gründen vor, die in diesen Tagen gegen den Besitz von Ländereien [3513] sprächen. Es waren darunter sogar welche aus der Zeit und dem Regierungssysteme hergenommen, sodaß Rodewald lächelnd einfiel:

Durchlaucht werden bei einer solchen Motivirung dem Besitzadel das Signal eines allgemeinen Sauve qui peut! geben. Was bliebe von dem Grundbau des Staatsgebäudes übrig, wenn diese Abneigung sich mehrte!

Es würden neue Arbeitsquellen geschaffen, sprach der Fürst jetzt rascher; es kämen die Käufer in die Nothwendigkeit, den Boden zu mehr als nur zur Unterstützung einer geselligen Repräsentation zu benutzen. Die großen Güterkomplexe sind eine mittelalterliche Idee, die ich bekämpfe. Je mehr wahre Arbeit durch die Parzellirung erzielt wird, desto mehr beschäftigte Hände und zufriedene Köpfe. Ich hatte früher auch die Professorengrillen vom Adel, dem ungetheilten Güterbesitz, den englischen Spleen von Majoraten. Ich habe mich auf der Tribüne und im Büreau überzeugt, wohin wir mit dieser Reform vom Adel kommen. Es ist besser, der Adel vermittelt seine Kräfte mit denen der modernen Arbeit und Grund und Boden wird etwas Beweglicheres als bisher.

Gern hätte Rodewald vielleicht erwidert: Und ist die Liebe zu dem väterlichen Boden nicht auch ein Bindemittel der Ordnung? Ist die pflegende und hüthende Pietät nicht in deinem Staate unterzubringen? Aber in der Nothwendigkeit zurückhalten zu müssen, vermied er Erörterungen wie diese, die wol seinen alten romantischen [3514] Doktrinen entsprochen hätten. So kam er nur auf das Wort zurück, das er schon gesagt hatte: Er würde sich mit einem Käufer des Ganzen oder Einzelnen nicht einigen.

Der Fürst wandte sich und wagte die halb lächelnden, halb verweisend ernst vorgetragenen Worte:

Das klingt ja fast, als sollte ich allein nur die Ehre haben, der Auserwählte Ihres Fleißes zu sein!

Rodewald verwand diese böse Rede mit Schmerz. Er hätte erwidern können: Allerdings! Ich kannte Ihre Mutter, schätzte sie ... er that es nicht, er versuchte auf dem geschäftlichen Standpunkte stehen zu bleiben.

Eine Zerstückelung, sagte er, hebt meine Hoffnungen auf. Wenn ich durch den Gewinn des Waldes nicht decke, was ich an der Sterilität des Feldes verliere, wenn nicht eine Lokalität der andern in die Hände arbeitet, ergibt sich kein großes Resultat. Für ein kleines hab' ich bereits zu bedeutende Anstrengungen gemacht. Durchlaucht erklären, daß ich entschädigt werde. Ihr Entschluß steht fest. So hab' ich nichts weiter zu sagen.

Und schon wollte Rodewald, tief erkältet, durchfröstelt bis in's innerste Herz sich zum Gehen wenden ...

Da sagte Egon, überrascht von dieser Entschiedenheit und durch die Abwesenheit aller weitern Wünsche des ihm so nahestehenden Mannes fast beschämt:

Bleiben Sie doch noch! Gefällt es Ihnen denn in Europa wieder? Sie waren viele Jahre in Amerika ...

Fast dreißig Jahre ...

[3515] Sie haben eine liebenswürdige Tochter zurückgebracht, eine Enkelin der Frau von Harder ...

Rodewald schwieg. Aber was er dachte, war der Wunsch: Wüßtest du, was ich gelitten, als ich glaubte, du wärest diesem Kinde, deiner Schwester, nicht fremd, diesem geliebten Kinde, das ich mein nennen darf vor der Welt und an dessen Leben sich keine Reue knüpft!

Sie haben die Aussicht, einen sehr reichen Schwiegersohn zu gewinnen, Dankmar Wildungen ... fuhr Egon fort; hatte sein Aufenthalt bei Ihnen keine gerichtlichen Folgen für Sie?

Wir haben strenge Gesetze für die Hehler von Dieben und Mördern, sagte Rodewald. Die waren hier nicht anwendbar. Im Übrigen stand Dankmar Wildungen im Begriff, sein Verhältniß zu meiner Verwaltung aufzugeben ... zuletzt bin ich sein Oheim.

Ich habe einige Monate lang mit diesem Brüderpaar einen vertrauten, geselligen und sehr wohlthuenden Verkehr unterhalten, begann Egon, jetzt etwas sich erwärmend. Den Jüngsten lernt' ich in einer Zeit kennen, wo ich der Freundschaft bedurfte, um nicht unterzugehen. Ich habe die Idealität seines Strebens immer getadelt, aber im Übrigen seinen Charakter, seine Diskretion, seine vortreffliche Haltung in jedem Lebensverhältnisse anerkannt. Mein Leben war abentheuerlich. Manches lernt' ich aus Büchern, das Meiste aus dem Leben. Ich bin streng gewesen gegen die früheren Freunde, weil ich an derselben Grenze unsrer Beobachtungen mit ihnen stand [3516] und sie mir doch immer einräumten, daß wir etwas in's Volk hineintragen, was nicht in ihm lebt. Ich liebe das Volk, ich bin kein Staatsmann der Studierstube, der Antichambres, ich schmeichle Niemanden. Ich schmeichle aber auch dem Volke nicht. Ich kenne die gefährlichsten Feinde der Gesellschaft, es sind die Lüge und die Trägheit. Früher sprach ich Das in Scherzen aus. Oft genug mit den Wildungen und mit einem gewissen Louis Armand. Lieber Himmel, wir führten das wolkenloseste Leben, wir waren glücklich, wenn unsre Scherze nicht weiter reichten als der Dampf der Cigarre, die wir rauchten. Was kommt auf den Zwiespalt der Theorieen an, wenn man in der schönen Natur lebt, wenn man von Pferden, von schönen Frauen, von Geist und Poesie im Allgemeinen spricht! Ich würze gern an der Tafel meinen Appetit mit guter Unterhaltung und immer die gleichen Meinungen, das gibt keine gute Unterhaltung. Also ich liebte diese Wildungen! Und Louis Armand! O mein Gott, was hab' ich die Freunde gewarnt und gebeten, was ihn und die Brüder an die mir schmerzlichen neuen Pflichten erinnert – aber, wenn es einmal zu einer Entscheidung kommen soll, wenn man durch den Zufall in eine Position gestellt wird, wo es ganz unermeßlich heilige Zwecke zu verwalten gibt, dann bleibt nichts Andres übrig, als es zu machen wie die Helden im Homer. Man prallt mit Schild und Speer an dieselben Heroen, denen man vor der Schlacht über ihre Noblesse, ihre Armatur, ihre gute Haltung, ihre Genealogie die anständigsten Komplimente gemacht hat ...

[3517] Es lag in diesen rasch herausgepolterten Worten so viel Natürlichkeit, daß Rodewald unwillkürlich lächeln und an ihnen eine Art Gefallen finden mußte ...

Ich habe die Halbheit nie leiden können, fuhr Egon fort. Ich lebte in Genf als junger Mensch cribblé de dettes, von Schulden fast aufgefressen. Ich hatte es satt, unter solchen Verhältnissen mich zu kompromittiren. Ich trieb nicht Romantik, sondern es war mein bittrer Ernst, als ich in die Verborgenheit flüchtete und lieber verschollen sein wollte, als unter elenden Bedingungen einen großen Namen tragen. Ich habe in der Politik immer dieselbe Loosung gehabt. Koalitionen und Fusionen, wie diese Quacksalberei der neuern Staatsweisheit heißt, sind mir zuwider. Ich wollte einen Staat der Pflichten aufbauen. Einen Staat der Arbeit nach jeder Richtung hin. Ich habe Das Ihrem Neffen hundertmal gesagt. Dankmar hat meine Theorie bestritten und mir nur negative Dinge angerathen. Man kann nicht regieren mit Negationen. Luftige Utopismen sind in den meisten Fällen Gelegenheiten zur Ausbeute für die Charlatane. Ihre Neffen haben das horrible Phantasma eines Bundes aufgestellt, der von den Gerichten wie eine Verschwörung aufgefaßt worden ist. Ich weiß sehr wohl, was er will und was er den Gerichten verschwieg. Ich sah die ersten Keime dieser Gedanken in ihm aufblühen. Hier, hier, an diesen Tisch, da an jenen Thomas a Kempis knüpften wir unsre ersten Gedankengänge an, von denen ich nicht ahnte, daß sie ihn so in die Region der Lüfte führen würden. Es ist wahr, es [3518] ist Alles geschehen, um ihn in seinem Idealismus zu ermuthigen. Er hat durch zähe Beharrlichkeit einen Prozeß gewonnen, der ihm eine wunderbar glänzende Zukunft verspricht ...

Sie wissen, unterbrach Rodewald diese aufwallende Mittheilungslust, Sie wissen, daß dies unglaubliche Glück so gut wie verronnen ist ...

Man sagt, der Bund hätte die Flucht befördert, die ein Theilnehmer mit dem Leben büßte. Aber die Scheine werden doch ausgegeben, werden doch von den westlichen Provinzen her verbreitet, ich versichre Sie, die Mitglieder des Bundes sind ohne Sorge um diese Errungenschaft, die ja, wie bekannt ist, nicht einmal den Brüdern allein, sondern der großen Chimäre von der neuen Templerei allein zu Gute kommen soll ... Können Sie denn eine solche Verwendung billigen? Was sagt Fräulein Selma dazu? Und Olga Wäsämskoi, die Ihnen, diese schlimme kleine Intriguantin, die Ehre verschaffen wird, eine Fürstin zur Nichte zu haben? ...

Egon konnte so nicht weiter; bei jeder neuen Thatsache trat er wie auf Fußangeln und dabei diese ruhige Aufmerksamkeit des würdigen Mannes, der nur hörend vor ihm stand, dies leuchtende Feuer, das in Rodewald's Augen zuckte, dies sichtliche Behagen in der Annäherung an Egon's menschlichere Regungen ... er mußte sich selbst unterbrechen und ließ Rodewald ruhig gewähren, als dieser sagte:

Ich freue mich des warmen Antheils, den Durchlaucht [3519] noch an den persönlichen Schicksalen geringerer Menschen nehmen. In dem Bunde der Ritter vom Geiste und was mit ihm zusammenhängt, liegt nicht die größte Gefahr unsrer Zeit. Verkleinern will ich die Bedeutung dieses Bundes nicht. Ich glaube, daß es schwierig ist, die Thatsachen der Gegenwart so zu verwalten, wie sie sind und dabei den Geist gegen sich zu haben. Dieser Geist, Durchlaucht, ist keine doktrinäre Wahrheit, etwa irgend eine neue Philosophie, sondern nur das Gefühl der furchtbarsten Entmuthigung, die plötzlich Jeden doch in seinem Wirken überfallen muß, wenn ihm Etwas sagt: Du irrst dich, die Geschichte hat zu allen Zeiten etwas Andres gegeben, als was selbst Die, die dem Neuen am nächsten standen, ahnten! Und Jeden schreckt so diese Vorstellung, den Geist gegen sich zu haben, zusammen. Selbst den Nüchternsten, den Erbärmlichsten der Sinnenmenschen, den Reaktionär aus Existenzinteresse, überkommt die Vorstellung, daß der Geist gegen ihn wäre, wenn auch nur unter der Vorstellung: Wenn ich todt bin, mag kommen, was da will, aber so lange ich lebe, soll Das und Das u.s.w. – und überall in alle Karten, die gemischt werden sollen, in alle lauten, in alle geflüsterten Gespräche mischt sich dieser räthselhafte Dritte, dieser große Unbekannte, der hineinsieht in Jedes und immer das Gegentheil von Dem lehrt, was grade begonnen und betrieben werden soll. Daher diese Schwankungen. Die Pole sah noch Niemand, aber die Magnetnadel, die zittert, die fühlt die Pole. Auch Sie, Durchlaucht, werden Verbindungen eingehen, [3520] die Ihrer Natur nicht gleichartig sind, auch Sie werden, um Alle für sich zu haben, den Kreis Ihrer Theorieen erweitern müssen und wenn das Gerücht wahr spricht ...

Nimmermehr! Nein, nein! unterbrach Egon und übertönte durch die Heftigkeit dieser Ablehnung ein Geräusch wie von einer nebenan geöffneten Thür, die Rodewald hörte, aber nicht Egon. Nimmermehr! Ich weiß, was Sie sagen wollen. Dies Herrschen um jeden Preis hass' ich. Sie kommen aus Amerika. Ich sage Ihnen, dies Herrschenwollen um jeden Preis wird bei uns vielleicht noch einst die Monarchie stürzen. Wir werden natürlich von der Republik immer wieder zur Monarchie zurückkehren, bis sie durch dies Herrschenwollen um jeden Preis nach Jahrhunderten doch unmöglich sein wird und sich eine Staatsform gebildet hat, die jetzt noch Niemand begreift ...

Denken Sie Das, Fürst, sagte Rodewald erstaunend, so gehören Sie zu den Rittern vom Geiste und jener geheimnißvolle Dritte ist auch bei Ihnen und Ihren Gedanken gegenwärtig. Es ist uns Allen, als trügen wir ein großes Geheimniß in uns, das wir nur noch auszusprechen nicht wagen und das mit unsrer Generation noch vorläufig in die Erde geht ...

Egon blickte auf, denn er erschrak. Diese Worte schienen absichtlich, aber sie waren es so wenig, daß Rodewald vielmehr aufhorchend sagte:

Durchlaucht werden gestört ... Ich gehe ...

Nein, nein, sagte Egon, wir sind allein ...

Es entwaffnete ihn, daß Rodewald, sein eigner Vater [3521] vor Gott, vor der Welt von einem Geheimnisse sprach, das man zu Grabe trage und ruhig von dannen gehen wollte, indem er sich ernst und bescheiden vor ihm, dem Höhergestellten, noch seinem Herrn, verbeugte. Es überflog ihn eine Ahnung von Dem, was diesen Mann bewogen haben konnte, sich seines irdischen Looses anzunehmen und nochmals wiederholte er:

Bleiben Sie doch! Was Sie von meiner Geneigtheit zu Koalitionen gehört haben, ist falsch! Wenn ich mich meiner Güter entledigen wollte, so war es nur, um mich frei zu machen und dann für immer dieses Land zu verlassen.

Aber, sagte Rodewald, angezogen von diesen wärmeren Worten, wenn Sie sich selbst bewahren wollen, Fürst, wenn Sie das Ideal von Politik, das Sie im Herzen tragen – es ist nicht das meine – nicht entweihen wollen durch Vermischung mit Fremdartigem, das Sie hassen, warum können Sie auch so nicht frei von dannen gehen? Lassen Sie Ihr Erbe einem Mann zurück, der es Ihnen erhalten wird! Sind Sie von meinem uneigennützigen Willen denn nicht überzeugt?

Es lag in diesen Worten eine so schmelzende Überredung, daß Egon einen längern Blick auf den Sprecher richtete, einen fragenden, fast flehenden, als sollte sein ganzes Dasein ihm sagen: Was willst du mir denn, du wunderbarer Mann?

Das Schweigen, das einen Augenblick eintrat, erschütterte Niemanden mehr als die Person, die in der That im Nebenzimmer stand und von Rodewald gehört worden [3522] war. Es war Pauline von Harder. Zu heftig gefoltert von ihrer Unruhe über Egon's Entschluß, benutzte sie ihr Vorrecht, im Palais Hohenberg jede Thür für eine offene zu halten, überall einzutretten, den Fürsten in seinen entlegensten Arbeitskabinetten ohne Anmeldung zu überraschen. Die Diener hatten ihr gesagt, wer beim Fürsten war. Sie schrak zusammen, als sie den ihr einst so theuren, jetzt im Gewühl der Welt, die sie umtobte, ihr gleichgültig gewordenen Namen erfuhr. Dennoch hätte sie aus Neugier Rodewald erblicken mögen, hätte sehen mögen, wie er wol geworden durch die Zeit, wie der Fürst den Verräther an ihrem Herzen wol aufnahm, wie Vater und Sohn sich wol begegneten .... Sie öffnete das Vorzimmer. Sie hörte Egon's laute, gellende, an Wohlklang täglich einbüßende Stimme. Sie kannte diese reizbare Sprache, sie wußte sogleich, daß er in Erörterungen begriffen war, die sich auf seinen Entschluß bezogen, das Ministerium niederzulegen. Ihr wäre mit diesem Schritte die schmerzlichste Erfahrung, ja eine Niederlage bereitet worden, von der sie sich in diesem Leben nicht wieder erholen konnte. In die elende kleine Theaterwelt ihres Gatten einzutreten, da zu intriguiren, da Fäden zu lenken? Welch ein Abfall von der Rolle, die sie jetzt unter den Parteien, in der Presse, im Ministerium, in der Welt spielte! Nein! Nachgeben, akkommodiren! Das ist unerläßlich! sprach sie vor sich hin und lauschte auf Rodewald's Worte, auf Egon's Erwiderungen.

Die Wendung des Gespräches hatte eine mildere Tonlage [3523] angeschlagen. Es traten Pausen ein. Man sprach leiser. Egon hatte etwas in der Stimme, wie Kleinmuth, Rodewald etwas wie zutraulich Rathendes, Tröstendes. Man schien sich zu nähern, sich besser zu prüfen. Sie begriff nicht, welchen Vortheil sie von einem offenen Austausch der beiderseitigen Geheimnisse ziehen sollte, aber so viel hörte sie, daß Egon wie ein gebeugtes Rohr dastehen mußte, das im Winde wehte. Rodewald sprach von der Sorge, die er den Gütern widmen wollte, ihr war diese Fessel schon recht, aber Egon sprach von Entsagung. Entsagung! Dies immer ihr so fürchterlich gewesene Wort! Sie hörte, daß Egon an den Tisch getreten sein mußte, auf welchem noch das verblaßte Pastellbild seiner Mutter stand. Was wird geschehen? dachte sie und überlegte einen Entschluß ...

Sie kannten also meine Mutter? hieß es drinnen mit schwacher Stimme.

Rodewald's Antwort blieb aus. Sie hörte es nur nicht, das leise hingehauchte, ernste Ja!

Finden Sie die Züge ähnlich?

Rodewald erkannte das Bild aus der Mondnacht im Heidekruge ... sprach auch etwas ... Sie aber hörte wieder keine Antwort ...

Egon sprach von Landeck, wo Rodewald die Mutter zum erstenmale sah ...

Landeck? Wie endet Das? flüsterte sie fast zu laut, erbebend, vor sich hin.

Man verließ jedoch drinnen diese gefährlichen Erinnerungen, [3524] man kehrte auf die Abdankung des Fürsten zurück, auf eine von ihm bezweckte Reise im südlichen Europa, man sprach von Melanie, der Fürstin, Egon rühmte die edle Selbstlosigkeit seiner Frau, er sprach von Freiheit und Erlösung von drückenden Fesseln, Pauline durfte jeden Augenblick erwarten, daß sein zitternder Ton, der die bewegte Rührung des Herzens verrieth, sich gänzlich der Wahrheit gefangen gab und wol gar eine Umarmung hier die Stelle der Worte vertreten konnte. Doch trat dieser Moment nicht ein; wohl aber war es ihr, als rafften sich Beide, so gegeneinanderstehend, aus ihren Träumen auf und deutlich hörte sie nun den Fürsten sagen:

Leben Sie für heute wohl, Rodewald! Ich fahre zum König, um meine Abdankung eben einzureichen. Man wird, ich weiß, sie jetzt mit Freuden annehmen. Es liegt im Wesen der Monarchie, daß sie allen Denen, die ihr Maaß im Dienen voll haben, die sich des Hasses und der Verfolgung für den Bestand der hohen Herrschaften nachgerade zu viel zugezogen haben, gern erlaubt, sich mit ihrem Übermaaß von Makel und kompromittirendem Rufe vom Throne zu entfernen, um Neue heran zu lassen, die, wenn wieder deren Maaß voll ist, wiederum das Weite suchen mögen, und so fort! Sagen Sie Herrn von Reichmeyer, daß ich also die Güter behalte, daß ich sie Ihnen dauernd überlasse. Sagen Sie Allen, daß ich reise, diesen Schauplatz meines Wirkens verlasse, müde bin einer StellungWeiter [3525] ließ aber Pauline von Harder diese Sinnesänderung nicht anwachsen. Die Eifersucht auf Rodewald überfiel sie wie in der alten Zeit die Eifersucht auf Amanda. Die Fürstin Amanda war ihr in diesem Augenblicke fast wie ein Schatten entgegengetreten, der ihr den Sohn entriß und zurück in die Arme des Vaters führte. Wie? Entsagung diesem wunderbaren Wollen und Wirken? Nein ...

Sie trat ein ... Die Männer staunten. Rodewald erkannte Paulinen sogleich, ob sie gleich furchtbar gealtert war. Doch ihre Hoheit verrieth sie sogleich. Er erkannte das düsterblitzende Auge, er sah die Momente der Eifersucht aus alten Zeiten wieder. Das ist Pauline! sagte er sich.

Fürst, die Ungeduld treibt mich ... Haben Sie einen Entschluß gefaßt?

Herr Rodewald! sagte der Fürst, den Dritten gleichsam vorstellend ...

Ich weiß, sagte sich abwendend Pauline. Rodewald! Ich bin Pauline! Sie kennen mich? Rodewald! Was wollen Sie, Rodewald? Warum sind Sie hier? Hier in diesem Hause? Was mischen Sie sich in Verhältnisse, Rodewald, die keinen Bezug auf Ihr Leben haben können – wenn Sie ein Mann von Ehre sein wollen!

Egon übersah, daß Pauline, die so losbrechend Rodewald für eine Wahnsinnige hätte halten können, gelauscht hatte ... Die Möglichkeit unzeitiger Ausbrüche von Drohungen und Enthüllungen dieser Frau war ihm peinlich genug. Aber es war Egon's Art nicht, wenn er fürchtete, [3526] gleich feige zu sein. Er stampfte fast mit dem Fuße und fragte:

Was ist? Hängen meine Entschließungen nicht von mir selbst ab?

Durchlaucht! rief Pauline in bitterm und drohendem Tone. Dann sich zu Rodewald wendend, sprach sie herrschend:

Was wollen Sie mit den Gütern? Gehen Sie! Sie haben noch keine Aufträge vom Fürsten empfangen. Herr von Reichmeyer wünscht keine Unterhändler ... Gehen Sie, gehen Sie, Herr Generalpächter! Man vermißt Sie vielleicht in Tempelheide ... ich glaube, Ihre Angelegenheit mit Sr. Durchlaucht ist im Reinen ...

Die Wirkung dieser schneidenden Worte war auf die beiden Männer die verletzendste. Sie hatten sich ja Beide nichts zu gestehen, hatten sich ja nichts zu sagen, was ihre Stellungen geändert hätte. Aber wie sich denn doch ein Drittes da so gewaltsam zwischen ihre zart in Eins gesponnenen Lebensfäden warf, zuckte es in ihren Nerven wie mit einem einzigen Schlage; sie waren verbunden und handelten übereinstimmend, sie wußten nicht wie ...

Doch mäßigte sich Rodewald. Er sagte nur, sich zum Gehen wendend:

Frau von Harder, ich bin hier, um die Befehle meines Herrn zu vernehmen ... Ich bin der Pächter Rodewald, ich trage die Spuren der Mittagssonne auf meiner Stirn und meine Hände fassen sich härter an, als einst, obgleich [3527] sie doch noch keine Schwielen haben und mich nicht zum Bauern und Knechte entwürdigen ...

Vergessen Sie nicht! rief Egon dem Scheidenden nach. Was ich von Herrn von Reichmeyer sagte ... es bleibt dabei ... Und Sie, gnädige Frau, die Zeit drängt. Ich will zum Könige ...

Damit deutete Egon an, daß er allein in seine Zim mer zurück und auch Paulinen entlassen wollte.

Diese faßte aber seine Hand ...

Er lehnte sie ab und rief mehrmals:

Ich habe Eile, ich muß zum König!

Pauline ertrug aber diese Abweisung nicht. Eine solche Form ihres Verhältnisses zu Egon, Rodewald zur Schau gestellt, ließ den Zorn in ihr überschäumen. Sie war die Allmächtige gewesen, sie hatte sich gewöhnt, Egon zu beherrschen, sie wußte, einzig, außer der Ludmer und Rodewald, welches Geheimniß auf dem Ursprunge des Fürsten lastete und in diesem Augenblicke verließ sie die Großmuth. Sie rief dem Fürsten, der schon an der Thür stand, nach:

Was ist hier beschlossen worden? Bleiben Sie! Rodewald! Ich bewundere Sie, Fürst, daß Sie mich zwingen, den Abschied zu stören, den Rodewald von den Zügen jenes Bildes zu nehmen scheint ...

Rodewald hatte sich in der That dem Bilde der Fürstin zugewandt, hatte in der That ihm gleichsam allein den Anblick seines Schmerzes in der Stille anvertraut ...

Frau von Harder! rief Egon zusammenzuckend ...

[3528] Die Erinnerungen erwachen – hüthen Sie sich, Egon! antwortete diese leise und dann steigernd. Zweimal hat dieser Mann, der in Amerika seine Vergangenheit hätte begraben sollen, das Vertrauen der treuesten Menschen betrogen ... ich kenne in diesem Hause des Fürsten Waldemar von Hohenberg keine Thür, die mich zurückführt! Fürst Egon, seien Sie besonnen ... ich meine, dem König gegenüber!

Diese zuletzt grelllauten Worte kamen wie aus der Hölle. Egon verstand sie sogleich, Rodewald errieth sie. Der Fürst erblaßte. Er sah die wuthgeborene schäumende Rache, die ihm drohen konnte: Vergiß nicht, wer du bist und wer da weiß, wer du bist! Rodewald aber, vor der Betonung des Fürsten Waldemar, des Fürsten Egon schaudernd, bebend selbst vor dem Blicke des Hohnes und der Superiorität, die in den Worten der in der Leidenschaft ihrer selbst nicht mächtigen Frau lag, überschaute sogleich das ganze Verhältniß mit einem Schlage und mit blitzschnell in ihm auffahrender Gewißheit: Allmächtiger Gott, Egon kennt sein Verhältniß zu dir und dies Weib ist die Einzige, die es ihm verrathen hat! trat er entschlossener vor, ergriff den rechten Arm der wilden Frau, hob diesen empor und rief feierlich:

Pauline von Harder!

Rodewald! erwiderte die Unbesonnene wie im Echo, höhnend, trotzend sich losreißend und den Fürsten so kalt, so herzlos von Unten nach Oben messend, daß Egon zitterte, Rodewald aber sich nicht länger hielt, sondern [3529] wie ein Seher in flammendem Zorn, dicht auf sie zutretend, hervorbrach:

Pauline von Harder! Ich betrachtete in diesem Augenblicke die Engelzüge Amanda's von Hohenberg! Sie flüsterten mir zu: Es gibt ein Weib, das der namenlose Drang des Ehrgeizes verführt hat, von Extrem zu Extrem besinnungslos zu taumeln! Ein Weib, das ein Erdendämon sogar den Irrweg zum Herzen meines Sohnes führte! Rodewald, sagen Sie dieser Frau, flüstert mir die Fürstin zu, sagen Sie ihr, daß Sie in Amerika wirklich Ihre Vergangenheit ließen, wirklich vergaßen, an Das zu denken, worauf Pauline noch meinem Sohne gegenüber mit giftigem Stachel deuten kann; sagen Sie ihr aber auch, daß in Amerika noch eine zweite Vergangenheit begraben liegt, die Vergangenheit Paulinen's von Harder! Ein FriedrichZeck hat gelebt und an dem Ufer des Hudson, in dem er sich das Leben nahm, ein Geheimniß hinterlassen, das einzig auf der Welt nur Sie und mein Sohn wissen sollen! Nicht genug, daß der Falschmünzer BaronGrimm auf zwanzig Jahre durch Pauline von Harder und ihre Helfershelferin Charlotte Ludmer in einen Kerker geworfen wurde, in dem der Unglückliche schon nach dem ersten Jahre hätte sterben müssen, wenn nicht Zeck, genannt Baron Grimm, die Mittel zur Flucht vor seinem gewissen Tode gefunden hätte; auch das Kind, das Pauline von Ried, geborne von Marschalk, jenem falschen Spieler und Abentheurer, dem Kupferstecher Zeck, geboren, Paul Zeck, getauft in der Stille zu Seehausen vom Pfarrer [3530] Lattorf, wurde von ihr den ruchlosen Verwandten des Betrügers übergeben, verkauft, von diesen, Mördern und Gaunern, ausgesetzt und wuchs herauf zur abschreckendsten Ähnlichkeit mit seiner Mutter! Noch lebt Paul Zeck, lebt unter uns, in dieser Gesellschaft, ein Jüngling von dreiundzwanzig Jahren, voll Lug und Trug, verschmitzt, verworfen, zu jeder Gewaltthat fähig und nichts, nichts, als den Namen seiner Mutter suchend! Jetzt geh' ich zu dem Mäkler Reichmeyer, der Fürst aber geht zum König, und Sie, Pauline, sollten gehen und Paul Zeck suchen, einen Fund, dessen Verdienst in seiner Unermeßlichkeit ich Ihnen nicht schildern kann. Denn Paul Zeck muß leben, darf nicht auf's Neue Mördern anvertraut werden, darf nicht auf's Neue um ein Judasgeld von dreitausend Thalern von der Erde weggeweht werden, Paul Zeck darf seine Mutter nur unter dem Schutze der Gerichte finden, damit er nicht verschwindet, gemordet von Charlotte Ludmer, Pax und den Helfershelfern Paulinen's von Harder!

Wenn Rodewald nach diesen Worten das Zimmer hätte verlassen wollen, würde er durch die Art, wie die Geheimräthin diese Enthüllung aufnahm, daran verhindert gewesen sein. Denn jedes seiner entsetzlichen Worte hatte ihm gleichsam Pauline abgeschnitten, jeder neuen Thatsache hatte sie sich gleichsam körperlich entgegengeworfen. Sie suchte sich dem furchtbaren Sprecher bei jedem Athemzuge zu nähern, wollte seinen Arm ergreifen, versuchte vor Verzweiflung fast mit ihm zu ringen.

[3531] Als er aber dennoch geredet, dennoch geendet und schon längst die geöffnete Thür in der Hand hatte, stürzte Pauline, die vor ihm auf der Schwelle stand, ihn zurückhalten wollte, von dannen und rannte wie eine von den Furien Gepeitschte auf die Ausgänge der Zimmer und der Etage des Hauses zu, sank wie Eine, die in der Luft dieses Palastes zu ersticken fürchtete, fast die Stiegen hinab ... Die draußen harrenden Bedienten mußten sie für wahnsinnig halten, als sie die Treppe niedertaumelte und besinnungslos vor dem Portal in ihrem Wagen verschwand.

Wie sie schon davonrollte, lag Egon noch dankerfüllt, zum Himmel aufblickend in Rodewald's Armen. Er war auf den Vater, wie befreit von Harpyenkrallen, zugestürzt, hatte in stürmischer Überwallung seiner erlösten Gefühle ihn an sein Herz gezogen, ihm Stirn und Wangen schon mit Küssen bedeckt ... schon das Wort auf den Lippen ... das entscheidende, das entsetzlich geheimnißvolle ... aber Rodewald ließ Nichts davon geschehen ... er nahm kein Recht in Anspruch, verrieth keines zu besitzen, gebot der Stimme der Natur, blieb demüthig, zog sich zurück, wollte fliehen, schwieg, indem er seine Thränen für sich reden ließ. Hinaus! hinaus! hauchte er leise ...

Nein, einen Augenblick, Vater! rief Egon mit bebender Stimme, riß sich los, stürmte in sein Nebenzimmer und kehrte nach wenigen Sekunden mit einem versiegelten Pack Papiere zurück.

Lies! sagte er. Es ist das Testament der Mutter!

[3532] Rodewald nahm schweigend und staunend die Papiere, wollte sie mit abgewandtem Antlitz ablehnen, hielt sie mit der linken Hand fest und bedeckte sich zugleich mit ihr die Augen, mit der Rechten streichelte er des Fürsten Wange, abgewandt, fast blind tastend nur, wie in den heiligen Büchern jener Erzvater that, als er die rauhe oder glatte Haut seines Sohnes fühlen wollte, um den rechten Liebling zu erkennen ...

Da mehrte sich die Scene. Die Fürstin trat hinzu ... staunend über die Scene, betroffen von Paulinen's schneller Entfernung ...

Herr Rodewald? sprach sie, den Mann prüfend und die Bewegung dieser beiden Männer nicht verstehend ...

Egon begrüßte sein Weib ...

Rodewald sich sammelnd sagte mit fester Stimme:

Durchlaucht sind zu gnädig! Ich werde diese Bedingungen lesen! Ich gehe zu dem Bankier, um ihm die Befehle des Fürsten von Hohenberg selbst zu überbringen.

Damit ging Rodewald in der That, der Fürstin sich achtungsvoll verbeugend ...

Die Fürstin, sich nicht zurechtfindend, fragte, als sie allein waren:

Aber hattet Ihr Scenen? Was war Das?

Nur eine Verständigung! sagte Egon. Ich gebe mein politisches Amt auf. Die Güter behält Rodewald. Wir Beide reisen. Jetzt zum König und das glänzende Elend auf immer geendet!

Egon rang sich von seinem zitternden Weibe liebevoll [3533] los ... Über Melanie blitzte ein Schimmer von Glück, ein Strahl von Hoffnung, von dem sie sich sagte: Endlich die Wärme des Gemüths? Was ist ihm? Was bricht da das Eis dieses ewig kalten Verstandes? Ist er denn auch der Liebe fähig und wärst du dann noch würdig, ihn zu besitzen?

Ein Glück für sie, daß sie den Namen nicht wußte, der gleichsam von Rodewald hier als ein triumphirendes Paroli gegen Egon geboten war, den Namen Fritz Hackert's, Paulinen's Sohn! ... So blieb die Freude ... ungetrübt.

[3534]
13. Capitel. Der Tempelstein
Dreizehntes Capitel
Der Tempelstein

An dem äußersten Ende eines der vielen kräftigen Nebenarme unsres großen, meergrünwallenden Stromes bilden die Uferwände einen Ausgangspaß auf fremde Länder, neue Sprachgebiete. Düster blicken wie Grenzwarten die tannengeschirmten Gipfel des Gebirgskammes, der Deutschlands natürliche Grenze ist und der im Süden uns noch Lothringen zuweist und das Elsaß. Auf diesen Höhen horsten noch Adler. Die Noth des Winters treibt noch Wölfe von ihren waldigen Schluchten herab. Niederwärts sich senkend, erheitert sich aber die Flur und dem Strome zu wächst die Rebe und der Nußbaum und volkreiche Städte, Weiler, Kirchen, Kapellen und Schlösser verrathen, wie traulich es sich am mäandrischen Versteckspiel seines Pfades wohnen läßt, unbekümmert um den Wolf und den Adler, die dem Grenzjäger oder Schmuggler begegnen mögen und Denen, die in der Höhe über Geklüft und Dickicht die verstecktesten Wege kennen. Sonst waltete hier die milde Herrschaft des Krummstabes. Noch sind die Alleen von Buchau lebendige Zeugen der Weltherrschaft des Geschmackes von Versailles, noch hat des treuen Mangold englische Naturkunst die [3535] Kunstnatur der erzbischöflichen Gärten nicht ganz austreiben können. Und zu den geschweiften Formen des Schlosses, zu diesen chinesischen Pavillons, zu diesen Friesen und Kannelirungen gehört ja auch die alte Gartenscheere, gehört ja auch der Zopf Lenotre's, der Puderstaub auf Blätterwuchs und Baumgeheg.

Schloß Tempelstein, das sich auf eine Stunde Weges vom ebengelegenen Buchau und der Krümmung des Stromes wegen doch ihm fast gegenüber erhebt, ragt schon mit Thürmen und Altanen aus Baumgruppen, Felsvorsprüngen, Waldumkränzungen frei und zwanglos empor. Noch ist der Bau nicht vollendet, den Dystra mit seltenen Hülfsmitteln sich in dieser abgeschiedenen Gegend zu einem englischen Kastell mit Jagdgeheg und Boulingreen, zu einem Alhambra mit Springquellen aus Löwenmund, Bogengängen und Blumenterrassen zaubert. Es wird lange währen bis zu seiner ganzen Vollendung. Aber in diesem Sommer ist die alte Ruine schon nicht mehr aus ihrer neuen Umkleidung zu erkennen. Der Weg empor ist schon gebahnt. Ein untres Wohnhaus für den Winter, selbst dem verwöhntesten Lebemann, bewohnbar. Bis zur Brücke, die zwei Felsen verbindet und an ihren Rändern gestattet, auf ihnen die Spitzen von tief aus der Schlucht aufragenden Buchen und rothen Blutfichten mit der Hand berühren zu können, ist Alles eben, links und rechts mit großen Gewächsvasen aus gebranntem Thon geziert. Dann kommen Stufen, die schon sicher und bequem zu betreten, wenn auch noch nicht geschmückt und eingefaßt [3536] sind. Oben schon sprudelt die Fontaine, die das große Plateau zieren wird. Auf diesem Plateau will Dystra die Dorfjugend tanzen lassen, wenn er in seinem Geschmack immermehr, wie er sagt, den »Rosen des Herrn von Malesherbes« näher käme. Wie glatt mußte dieser Marmor also geschliffen sein! Die Platten lagen schon im Vorrath und wurden schon bearbeitet. Das Burgthor öffnet sich. Das Wappen Dystra's hatte sich hier als eine verzeihliche Konsequenz seines Ahnenstolzes eingefunden, da er meinte, man sollte ihm diesen Stolz auf die Vorfahren lassen, da es doch schiene, als wenn ihm schwerlich noch etwas nachfahren würde. Die Zugbrücke war von Ketten und Eisendrähten. Alle Mauern hatten Nischen zu Statuen, Blumen, Springquellen oder, sagte Dystra, zu ewigen Lampen, wenn entweder Olga oder Paulowna oder ihre Mutter, denn Einer droht das Glück, Baronin Dystra zu werden, in Verzweiflung darüber auch katholisch würde. Nur einen Nepomuk auf die Zugbrücke, sagte er zu Rudhard, der ihn von Brüssel oft besuchte, nur den würd' ich mir verbitten; dieser Heilige macht mir bei jeder Brücke erst recht den Schwindel, den er vertreiben soll. Der dritte Theil des Schlosses war schon bewohnbar. Die ausgesuchteste Einrichtung zierte vom Dollond eines Belvedère herab bis zur praktikabelsten Kochmaschine des Kellergeschosses den linken Flügel, dessen nächste Umgebung bereits jetzt von Kalk, Mörtel und dem Lärm der Maurer und Steinmetzen verschont war. Wild und wüst freilich sah es in der Mitte und am rechten Flügel [3537] noch aus, der theilweise in einen Felsen hineingebaut wurde und einen schroffen, jähen Abhang darbieten sollte, für etwa verzweifelt Liebende, wie Dystra sagte, oder für Blaubärte, die sich hier ihrer neugierigen Frauen entledigen wollen, falls der unterirdische Gang, der hinten in den Wald und die Tempelabtei führt, nicht von strengen Ehemännern zu den Marterkammern und lebendigen Einmauerungen lieber benutzt wird. Diese Abtei war als Ruine ganz im alten Style gelassen und nur vom Schutt und Gerölle befreit und an zu schadhaften Stellen durch Ergänzungen unterstützt. Ein schöner Rest mittelalterlicher Kirchenbaukunst lag die Abtei fast schon im Walde und bot einen heiligen, das innerste Herz bewegenden Anblick.

Dystra lebte nun fast ein Jahr schon am Fuße des Schlosses Tempelstein, das selbst er nur zuerst von seiner Schicksalsverhängten aus der Familie Wäsämskoi bewohnt haben wollte, in der eleganten Villa am Aufgange, dicht am Flusse, nicht tausend Schritte weit entfernt von dem Dorfe Buchau, das den Tempelstein vom Schlosse Buchau trennt. Der Verkehr mit gegen Hundert Arbeitern bot ihm die angenehmste Zerstreuung. Im Übrigen hing er auf's Lebendigste mit allen den Beziehungen zusammen, die durch die Namen der Brüder Wildungen vertreten sind. Dankmar flüchtete sich zu ihm und wohnte drüben jenseits des Gebirgskammes. Siegbert kam zuweilen von Antwerpen. Rudhard kam mit den Kindern Rurik und der heranwachsenden Paulowna. Leidenfrost [3538] war immer zugegen; denn er war es, der den Tempelstein ausbaute. Niemand kannte ihn. Er galt für einen fremdherverschriebenen Architekten. Auch Werdeck, der in Paris lebte, ließ sich zuweilen mit Vorsicht sehen. Louis Armand lieferte die Ausstattung der Zimmer, die Boiserie, die Vergoldungen, das Glas. Er machte seine Einkäufe in Belgien und den Niederlanden. Man kannte die Hundert von Menschen nicht, die hier ab-und zugingen. Dystra machte nur die Bedingung der Vorsicht und sie wurde ihm gewährt, noch gewissenhafter befolgt. Siegbert's Zeichnungen für die Glasfenster, die Leidenfrost in einer nahegelegenen Glashütte selber brennen lassen wollte, erregten die Bewunderung der Laien und Kenner. Es hieß, sie kämen von belgischen Malern aus Antwerpen. Wer forschte da weiter? Die Fürstin Adele wäre gern von Brüssel gekommen, um die Fenster zu sehen, wie sie dann wirklich fertig waren und in den kostbaren Gemächern hingen, aber Dystra sagte: Die erste Frau, die außer Louise Eisold sein Schloß beträte, wäre ihm verfallen; wäre sie verheirathet, so müßte der Mann mit ihm hier die erste Lanze brechen, wäre sie Jungfrau oder Wittib, so dürfte nur ein Lindwurm sie ihm streitig machen und auch an den würde er sich wagen. Kurz er scherzte über eine Bedingung, die die Fürstin so ernst nahm, daß sie sich überwand nicht zu kommen und, wie einmal bedungen war, Olga die Vorhand ließ.

Durch Dankmar Wildungen erfuhr Dystra die neuesten Vorfälle des Jahres, seine Flucht, den Verlust des [3539] Schreins. An Louise Eisold sah er die Wirkung sowol des Erfolgs wie des Mislingens auf ein leidendes und in Leiden erstarktes Gemüth. Sie hatte die Flucht geordnet. Franziska Heunisch hatte ihr Anerbieten dazu mit Selma Rodewald vermittelt. Sie war in Tempelheide gewesen, hatte Peters im Pelikan gewonnen, hatte von Danebrand, der sonst am Baue arbeitete, sich begleiten lassen, hatte das Unglaubliche erreicht durch Hackert's einzig zum Ziele führenden überraschenden Beistand. Danebrand war ein Opfer dieser kühnen That geworden, die gute, treue, uneigennützige Seele ... Louise schauderte bei dem Gedanken, daß von den Beiden, die im Wege standen, Mangold's Wünsche zu erhören, der Eine vom Tod hinweggerafft war und der Andre ... Was ist nur mit ihm? Wo weilt Hackert? Hatte er Alle, auch sie betrogen? Sie allein sah an Hackert die schlimmsten Seiten nicht, sie hatte sich aus seinem Leben wie jenes Huhn im Hofe aus dem Dünger einen Edelstein gescharrt, sie glaubte fest und heilig daran, daß hier nichts als nur der Sonnenschein der Liebe gefehlt hätte. Als Hackert ihr die That gelobte und Beistand versprach, in seiner Weise ohne Emphase, ohne Begeisterung, aber sicher, schlau, pfiffig Alles berechnend, was allein zum Ziele führte, als er ihr andeutete, daß er genugsam vertraut wäre mit allen Persönlichkeiten des Gerichtshauses, um sich durch verliebte Frauen, näschige Kinder, schwachsinnige Greise, trunkene Männer, die Schlüssel der Gefängnisse und Kassen anzueignen, da hatte sie zwar nicht gesagt, nicht sagen [3540] können: Hackert, ich belohne dich für alles Das mit meinem Herzen! Aber die stürmischen und kecken Liebkosungen, mit denen sie der nie rein Denkende sogleich überschüttete, hatte sie doch fast mit den Worten abgelehnt: Lassen Sie! Lassen Sie, Hackert! Vielleicht wenn es gelungen ist, dann!

Und nun hatte die Flucht diese Wendung genommen! Danebrand das Opfer, so gestorben wie einst ihr Bruder! Der Schrein und Hackert verschollen ... ein unermeßliches Glück der Brüder Wildungen verloren, trotz des Briefes, der von Hackert's Hand einst mit dem Postzeichen eines kleinen Städtchens, wo alle Nachfrage nichts fruchtete, an sie gekommen. Noch glaubte, noch hoffte sie. Sie sagte zu Dankmar, als er eines Augusttages über den waldigen Bergwipfel kam, scheinbar als Schmuggler kam, da er so mit den Grenzwächtern – am besten stand und Siegbert gerade mit Louis Armand und dem Bruder zugleich anwesend war, um die Wirkung der Fenster zu sehen: Glauben Sie mir, Sie können vertrauen! Hackert ist zu eitel, irgend einem Menschen, der ihn für schlecht hält, Recht zu geben. Er wird ehrlich sein nicht aus Liebe zur Tugend, sondern um Sie und uns Alle zu täuschen, zu verhöhnen, nicht einmal um mich zu erfreuen. Er liegt irgendwo krank, hat sich verletzt am Tage der Flucht. Mit genauer Noth nur wird er sich irgend wohin geflüchtet haben, vielleicht zu Schlurck, der in der Nähe des Profoßhauses wohnt. Er wird langsam uns folgen, denn ich sehe ja in den Zeitungen, wie man Sie und den [3541] Schrein mit Steckbriefen verfolgt. Zu kenntlich ist Hakkert und die große Lade wäre gleich verrathen, wenn er auf gewöhnlichem Wege käme. Vertrauen Sie!

Die Freunde hörten gern ihre Ermuthigungen, hielten es indeß für hoch an der Zeit, daß etwas geschah, um über diesen unermeßlichen Verlust Gewißheit zu haben. Ihre Zuschrift an die Behörden war schnöde und ablehnend beantwortet worden. Um so mehr, hieß es, könnte die Amortisation nicht gestattet werden, als auch der Stecher der Platte zu den Stadtkämmereischeinen seit einiger Zeit verschwunden und es entdeckt wäre, daß dieser mit Hackert, dem wahrscheinlichen Beförderer der Flucht, auf das Vertrauteste bekannt war. Man verwies die Brüder auf die feierliche Übergabe, den eignen Frevel der Flucht und der Wiederaneignung, man erklärte sich nur vor einem Nichteinhalten der Emissionstermine wahren zu wollen und verwies die Bittsteller auf die Folgen ihrer Unternehmungen, die sie sich selber zuzuschreiben hätten.

Am Tage des Nikodemus, den 15. September, sollte der erste Bundestag auf dem Tempelstein gefeiert werden. Der Königliche Hof war zufällig zu gleicher Zeit in Buchau zugegen. Leidenfrost richtete es im Interesse der Sicherheit der Versammlung so ein, daß schon den 8. September alle Arbeiter des Baues auf zwölf Tage entlassen wurden. Die Löhnung wurde gezahlt, als wenn sie arbeiteten, aber die Pause sollte, hieß es, benutzt werden zu künstlerischen Arbeiten, zu denen fremde Steinmetzen, fremde [3542] Maler, fremde Bildhauer kämen, die man einige Tage allein auf dem Bau wollte walten lassen. Den 20. wieder sollten alle Arbeiter, die bisher in Thätigkeit gewesen waren, zurückkehren und bis in den Winter an einem Werke schaffen, das Jahre brauchte, um so vollendet zu werden, wie Dystra und Leidenfrost es im Geiste vor sich sahen und Dankmar Wildungen es für die Schleier, die er lange auf die hier zu haltenden Versammlungen des Bundes werfen wollte, für nöthig halten mußte.

Sein Herz bebte bei jedem Tage, den er näher zum Ziele kam. Alles fügte sich nach Wunsch, jede selbst unerwartete günstige Wendung traf überraschend ein, nur der Schrein blieb aus. Hackert war entweder todt oder verschollen oder entflohen. Dankmar's Verzweiflung gränzte an völlige Trostlosigkeit. Er hatte gerade diesen Besitz für unerläßlich zu der nächtlichen Versammlung auf der Tempelabtei im Walde gehalten, er hatte nichts zurückgenommen von den hochherzigen Verheißungen, die er und sein Bruder der Zukunft des Bundes gegeben. Hatte der Erfolg des Prozesses auch hinter den Erwartungen zurück bleiben müssen, es war genug gewonnen worden, um seine Absicht zu unterstützen, dies Erbe des Johanniter- und Templerordens den neuen Rittern vom Geiste als ein Eigenthum zuzuführen, von dem er für sich und den Bruder nur so viel beanspruchte, um als Verwalter desselben gegen Sorge und Noth sichergestellt zu sein. Er wollte auf halbem Wege nicht mehr still stehen. Was er einst verheißen, mußte erfüllt werden und jedes Bundesglied, [3543] es mochte so uneigennützig fühlen, wie die Brüder selbst, mußte doch zugestehen, daß ohne äußere Mittel ein Wettkampf mit den in Gold und Eisen gebetteten Irrthümern und Thatsachen dieser Zeit nicht möglich war.

Am 10. September, als Dankmar Wildungen schon einen Aufruf um das unwiederbringlich verlorene Vermögen für alle Zeitungen geschrieben, kam Louis Armand mit der frohen Botschaft: Noch drei Tage und Murray, Hackert und der Schrein sind da! Er zeigte einen Brief, den er durch Dystra empfangen. Murray schrieb Louis Armand von einem einsamen Fährhause am Rhein einen ausführlichen Bericht, von dem nicht Alles auf die Freunde berechnet war. Er las nur Das vor, was ihnen Beruhigung geben mußte. Der Hort ist da! rief Dankmar und halb spottend setzte Leidenfrost hinzu: Der Nibelungen Noth hat ein Ende.

Der Brief, der in seiner ganzen Ausdehnung nur für Louis Armand berechnet war, lautete so:

»Mein theurer junger Freund! Seit einem Jahr erfuhren Sie nichts von mir! Ich benutze die Adresse des Herrn von Dystra, mit dem Sie wie mit Ihren Freunden verbunden geblieben sind, um Sie mit Vorfällen bekannt zu machen, die ich Sie bitte, sogleich irgendwohin und irgendwie den Brüdern Wildungen melden zu wollen. Ich weiß von Louise Eisold, daß Sie Alle um den Tempelstein verkehren und ich schreibe lieber Ihnen, weil ich mehr sagen muß, als was den Andern verständlich ist. Kurz vor Ihrer Ausweisung aus der Residenz hatt' ich den Sohn [3544] gefunden, dessen Geschichte ich Ihnen unter Sturm und Regen in dem Eckzimmer des Schlosses Hohenberg in mir unvergeßlichen Stunden erzählte. Ja, Theurer, Ihnen dank' ich diesen Fund! Jener zerbrochene Ring, den Sie mir, als Sie aus dem Gefängniß mich erlösten, übergaben, dies Andenken an die düstre Vergangenheit, grauenhaft noch durch die letzte Erinnerung an das Forsthaus im Walde und den Tod, den ich dem eignen Bruder geben mußte, dieser Ring führte mir den Sohn zu, den ich so antraf, daß ich ihn zu bergen hatte, nicht jubelnd meinen Freunden darstellen konnte, selbst wenn ich vor Ihnen hätte wagen wollen, was ich selbst bei einem Engel an Güte und Liebe, der mein Sohn wahrlich nicht war, vor der Welt nicht wagen durfte. Ich zog mich in meinen Schmerz zurück. Ich sah in Hohenberg, wie ich verfolgt wurde. Ihr Zeugniß, das mich des Läugnens überhob, rettete mich, wenn ich Rettung diese Freiheit nennen darf, die mir die bittersten Erfahrungen zuzog. Meinen Sohn fand ich nur in dem Augenblicke bewegt, wo er einen Vater auf dem Friedhofe gefunden hatte. Nur zu bald sank er in jene sittliche Nacht zurück, die ich damals schon in Hohenberg ahnte. Gewaltsam wollt' ich diese Nacht nicht erhellen. Ich erfuhr an Auguste Ludmer, wie das Auge des Geistes nur allmälig an den Glanz der Tugend sich gewöhnt. Ich zitterte vor dem Gedanken, noch einmal ein Gefäß der göttlichen Gnade durch gewaltsamen Eifer zu zersprengen. So ließ ich den Sohn gewähren und war nur froh, daß es ihm in meiner Nähe wenigstens – wie dem Hund am[3545] Ofen war ... Ich kehrte zu meiner Kunst zurück, fand in Oleander, jenem Vikar aus Plessen, ein treues Herz, wirkte mit ihm für die Armen und Elenden und machte damit sogar ein thörichtes Aufsehen, ob ich es gleich vermied, von meinem Wirken zu sprechen und mich der Erfolge zu rühmen, die nur zu oft auf diesem Felde täuschende sind. Ich erhielt den Auftrag, die Scheine zu stechen, die die Verwirklichung der Erbschaft Ihrer Freunde wurden. Denken Sie mein Gefühl! Denken Sie an den Baron Grimm, an seine geheime Kammer, an seine falsche Kunst und jetzt derselben Gesellschaft, der ich noch meine Strafe schuldig bin, meine nun in Wahrheit dienende Hand! Sie kennen die Flucht Dankmar's, den Raub des Schreins, in dem so große Schätze aufbewahrt wurden. Der Räuber und Förderer der Flucht war mein Sohn. Man nannte ihn Fritz Hackert, nur mir galt er bisher allein für Paul Zeck; der Mutter hatte ich die Gelegenheit zu neuem Frevel nicht geben wollen, auch ihm selber nicht, ich verschwieg ihm seine Abkunft und bei seinem Sinn reicht' es hin, daß er sagte: Ich wußt' es ja immer, gestohlen hab' ich mich in die Welt, ein Bastard bin ich, ungerufen nur gekommen! Den Aufschwung meines Sohnes zu dieser That hab' ich erst verstanden, seit ich weiß, daß er damit viele seiner Leidenschaften hat befriedigen wollen. Ich weiß, der Stolz, die Eifersucht, ja sinnliche Liebe haben diese That geweckt. Stolz, daß ihn die Freunde bewundern sollen, die Eifersucht, daß ein Andrer Namens Danebrand mehr thun sollte als er; die [3546] Liebe – für ein edles seltenes, wenn auch zu weltliches und zu überreizt im Hasse lebendes und den Haß für Religion nehmendes Mädchen. Zwei Frauen waren zu allen Zeiten die, die den Sohn regieren konnten, beide muthvoll, beide dem Seltsamen und Ungewöhnlichen zugethan, jene schön, diese kaum ihr Schatten, aber schön durch Heroismus und eine amazonenhafte Tugend. Sie werden meinen Sohn sehen; Sie kennen Louise Eisold! Prüfen Sie, ob da nun Feuer und Wasser oder Stahl und Stein zusammenkommen würden! Mein Sohn erfand diese Flucht und wurde, als Danebrand vom Blei der Wächter getroffen in dem Durchbruch der Mauer ausathmete, von dem stürzenden Schrein fast erschlagen. Das Schlüsselbein der rechten Schulter fand sich später gebrochen. Dennoch rafft' er sich auf. Er hört den Lärm der Wachen, winkt, daß Dankmar sein Heil in der Flucht suche, ladet in der Erregung des Augenblicks die an einer Seite geborstene Truhe auf die linke Schulter, flüchtet in das Dunkel der Johanniskirche, irrt auf dem Platze um sie her, sieht Schlurck's Wohnung, will dort Hülfe suchend an der Klingel ziehen und hofft sich in der Komthurei bergen zu können. Da entdeckt er einen Mann, der eben bei Schlurck's das Haus verläßt. Er wankt näher, er blickt hin. Er erkennt schon den Schreitenden. In der Nacht um ein Uhr, verläßt Jemand – und Dieser! – das Haus? Was ist Das? Statt an der Komthurei sich zu verweilen, folgt Paul dem in nächtlicher Stille dahinschreitenden Mann. Was bezweckt der Mann in so tiefer Nacht? Die Spannung[3547] der Neugier gibt ihm den Muth, seine Bürde weiter zu tragen. Ohnehin ohne Schuhe auftretend folgte er dem taumelnden, wie bewußtlos schwankenden Wanderer. Das Rasseln des Wagens, mit dem Dankmar entflohen, ist längst verhallt, die Verfolger, die er wohl anfangs auf seinen Fersen merkte, verloren die Fährte, er folgt dem Mann, der einem Thore zuschreitet. Das Thor ist wie immer nächtlich nur angelehnt, man öffnet sich es selbst. Hinaus schreitet der Taumelnde in einen Wald, der am Rande des Flusses liegt; sonst war er dicht und voll von Bäumen dieser Wald, jetzt ist er durchsichtig und seines besten Schmuckes beraubt. Der Mann selbst da vor meinem Sohn, als Administrator der alten Stadt-Waldungen, hatte ihn so lichten lassen. Nichts merkt er von Hackert, der zum Tode erschöpft mit dem Schrein ihm folgt, still steht, wenn Jener steht, weiter schleicht, wenn Jener vor ihm hintaumelt. Endlich stehen sie am Ufer des Flusses. Eine verschwiegene, düstere Stelle. In einiger Entfernung das Jagdhaus, in dessen Nähe mein Sohn einst einen bösen Frevel an Pferden verübte. Ihn schauderte, je näher er der Stelle kam, die ihm die unheimlichsten Erinnerungen weckte. Der Schrein schien ihm jetzt schon gezogen wie am Lenkseil des Schicksals oder seines Gewissens. Er war durch die Brandgasse, an Lasally's Reitbahn vorüber zu diesem Jagdhaus dem Manne ächzend nachgeschlichen. Des Mannes Vorhaben war ihm sogleich bei dem ersten Erkennen kein Räthsel. An eine Eiche beim Wasser lehnt sich der nächtliche, den Lauscher nicht [3548] ahnende Wanderer. Er blickt nach der Gegend des Sonnenaufgangs, noch liegen dunkle Schatten auf dem Wasser, das ruhig dahinwogt und durch hohes Schilf sich hindurchwindet, geheimnißvoll still. Mein Sohn ahnt, was geschehen wird. Die letzte Kraft, deren sein Arm noch fähig ist, wendet er an, dem Schrein mit den Händen eine Vertiefung in der Erde zu graben. Er kratzt mit den Nägeln, gräbt mit den Füßen, er preßt den Schrein in eine Öffnung, die er mit Gras verstopft, mit Laub bedeckt und mit Zweigen, still von den Bäumen gebrochen, überbreitet. Jetzt wagt er sich dem am Ufer Brütenden, am Eichbaum Niedergesunkenen näher. Der sitzt, sieht in den rothen Osten und grübelt. Endlich erhebt er sich. Eine Stunde ernsten Nachdenkens schien vorüber. Immer mehr röthet sich der Horizont. Schon manches Vögelchen regt sich im Ast über ihm. Der Grübler erhebt sich, bindet sein Halstuch los, wirft seinen Rock von sich, tritt dem Ufer näher, späht um sich und ist eben im Begriff, in der stillflutenden, morgenrothüberschienenen Welle seinem Leben ein Ende zu machen, als ihm aus dem Gebüsche sein Name zugerufen wird. Er stutzt. Paul reißt das Strauchwerk, das ihn schützt, mit letzter Anstrengung auseinander und schwankt dem Ufer näher, halb in den Sand sinkend, halb am Eichbaum sich haltend, wo das Tuch, der Rock, der Hut liegen. Hackert! ruft der Selbstmörder und verliert den Muth zu einer entsetzlichen That, deren Schein ich mir einst, wie Sie wissen, selbst am Hudson gab. Er schwankt zurück aus dem [3549] Wasser, das schon seinen Fuß benetzt hatte, erkennt einen ihm wohlbekannten jungen Mann, findet ihn hülflos, erschöpft, stöhnend, hört die Vorwürfe, die ihm für sein Beginnen von einem Menschen gemacht werden, der eben selbst zu sterben scheint. Eine Erörterung, zu der mein Sohn keine Kraft mehr hatte, ersetzte ihm ein Gegenstand, den er halbbewußtlos stumm dem Selbstmörder darreichte. Es war ein Paket von den aus der Lücke des geborstenen Schreins entglittenen Stadt-Kämmereischeinen. Was dann mit Paul geschah, weiß er selbst nicht. Er kam erst zur Besinnung in jenem Jägerhause, hörte, daß ihn dorthin ein Mann in früher Morgenstunde zur Verpflegung übergeben, sich entfernt hatte, wiedergekommen wäre und daß er schon seit acht Tagen hier in diesem Hause verpflegt würde und meist im Fieber läge. Ihn aber quälte nur der Schrein unter den Zweigen, auf den er sich bald besonnen. Er forschte. Man sprach unverfänglich. Dennoch ließ ihm die Gefahr seines Kleinods keine Ruhe. Ohne Zweifel trieb ihn die alte Sinnenstörung, die Mondsucht, von seinem Lager, wo man ihm aus Rücksicht auf den vornehmen, wohlbekannten Mann alle Sorgfalt widmete, trieb ihn hinaus in den Wald, in's Gebüsch, wo der Schrein von ihm verborgen unter Moos und Zweigen ruhte. Dort schnupperten ihn an einem Morgen Jagdhunde auf, denn auf dem Schrein war er eingeschlafen. In der zweiten Nacht dieselbe unwillkürliche Angst im Traum, wieder findet man ihn an jener Stelle. Er ahnt, daß man Verdacht schöpft. Da treibt ihn wie rasend [3550] empor die Vorstellung der Entdeckung. Der, den er vom Selbstmorde rettete, war auf's Neue da gewesen, hatte mit ihm freundlich geredet; er besann sich wohl im Fieber der Worte: Hackert, du hast den Schrein gestohlen! Gib ihn heraus! Die Scheine, die du mir gabst, betrugen mehr als fünftausend Thaler! Was beginnen wir damit, Junge? Wo ist der Schrein? Du hast ihn? Und als Paul Zeck sich im Bett wälzte, drohte ihm, er wußte nicht ob wirklich oder nur in Phantasieen, der Gerettete, sprach von Gerichten, wollte den Wald von Oben zu Unterst kehren lassen – da war, erwachend zur Besinnung, sein Entschluß gefaßt. Unbekannt mit dem Bruch des Schlüsselbeines, einem Schaden, den man lange tragen, lange nicht merken kann, schleppt er sich endlich davon, holt den Schrein und wagt sich mit ihm in Richtungen weiter, die nach Westen gehen. Er findet da und dort einen Träger, einen Bauer, einen Burschen, Leute, die ihm helfen. Vorläufig nach dem Harze, nach Angerode zu! war seine Loosung, wenn er einen Bauernwagen traf und um Aufnahme bat. Aus Wald und Nacht wagte er sich nicht mehr hinaus. Hinter der Elbe trifft er auf einem Kreuzweg einen Mann, der traurig und nachdenklich auf einem Karren sitzt, auf dem er große Kästen voll kleiner belebter Vogelbauer fuhr. Warum seid Ihr traurig, Mann? fragte mein Sohn, sich mit seiner Bürde mühsam hinschleppend. Mein bester Freund und Gönner ist gestorben, sagte der Vogelhändler. Er nannte den Präsidenten des Obertribunals, den greisen, fast neunzigjährigen Dagobert von Harder. Er liebte [3551] die Thiere mehr als die Menschen! sagte der Mann. Wenn ich zu ihm kam mit meinen Vögeln, nahm er mich auf wie einen Freund, es wird die letzte Fahrt von Angerode sein. Paul, mein Sohn, wußte, daß diesem Greise die Entscheidung des Johanniterprozesses gebührte. Ist der Rabenvater todt? fragte mein Sohn. Er faßte aber den Vater der Raben nicht wie der Vogelfänger auf, sondern im Bezug auf den Rabenstein. Höre, sagte Paul, laß den Schrein da auf deine Karre zu den Vögeln thun: sie kommen alle aus demselben Reich der Luft und die alte Exzellenz wird um uns sein und unsre Habe beschützen! Der Vogelhändler betrachtete befremdet das seltsame Stück. Plaudernd erreichte der Kranke seinen Zweck. Der Schrein wird aufgeladen. Um den Buchfinken und Zeisigen den Wald auch auf der staubigen und sonnigen Landstraße zu zaubern, belegte ihn Paul behutsam mit abgebrochenen Zweigen, die den Schrein verdeckten. Man sah nur die hüpfenden Vögel, nicht den Schrein; der Vogelhändler schob den Karren. Paul schleppte sich hinter her. Fiebernd, elend, hinkend, mit aufgeschwollener Entzündung der Brust, aber ungefährdet kam er in Angerode an, wo der Fuhrmann Peters seine Loosung war. Er fand ihn auch, den neuen Wirth vom Pelikan, der Dankmar bis Angerode gefahren hatte und dann in der Stadt verblieb, bis er da ein kleines Besitzthum verkaufen konnte. Die schmerzende Schulter hielt Peters erst nur für verrenkt. Er nahm Paul, hob, reckte ihn, wie Fuhrleute pflegen, wenn sie einen Fall erlebten. Paul schrie so laut, daß er in dem [3552] Stall, wo ihn Peters barg, kaum sicher war. Mitleidig, sagt' er mir, schauten sich sogar die Pferde um. Im Fieber war's ihm, als wären sie alle todte Gerippe und sausten durch die Luft mit klappernden Gebeinen, bohrten die Köpfe an Eichenstämme und in die Erde und sprangen wieder empor, daß sie auf den Hinterfüßen überschlugen. Den Schrein kannte Peters wohl. Er hatte den wol hüten gelernt, er und sein Hündchen Bello, den vorbeisausend bei der Flucht am Pelikan ihnen die dort harrende Louise Eisold noch nachwarf. Er wäre vor vierzehn Tagen vom Profoßhaus lieber mit Dankmar und dem Schrein zugleich zurückgefahren. Paul galt nun bei ihm für einen verunglückten Pferdeknecht. Ärzte kamen, erkannten den Bruch, preßten die Knochen in Verbände und kühlten den Brand, den sie fürchteten. Paul lag bei den Pferden über der Futterkammer und ächzte. Vor dem Niederlegen im Verband raffte er die letzte Kraft zusammen und schrieb mit der linken Hand an Louise Eisold. Peters konnte nicht schreiben, nur ein Packet Geld legte er aus dem jetzt von dem treuen Fuhrmanne fester verschlossenen Schrein für Dankmar Wildungen bei. Peters blieb noch in Angerode. Es war sein altes Häuschen, sein alter Stall, den er verkaufen wollte. Der Brief wurde irgendwo auf dem Lande zur Post gegeben. Peters hütete den langsam Genesenden, der nie würde haben ruhen können, wenn seine ausgestreckte Hand neben sich unterm Stroh nicht das Holz, das Kreuz, das Kleeblatt des Deckels gefühlt hätte. So bekam ich endlich Nachricht von meinem [3553] Sohn durch dritte, vierte Hand. Es war die höchste Zeit, daß ich mich entfernte. Rodewald, mein alter Freund, kam eines Tages voll Erregung und gestand mir, daß er nicht anders gekonnt hätte, als der Mutter meines Sohnes das Leben wenn nicht des Vaters, doch ihres Kindes wie eine Drohung von jenseits des Grabes zuzurufen. Seine Gründe waren gerecht. Mein Entschluß mußte aber gefaßt sein. Schon lange hatte die Untersuchung der Flucht auch meine Person gefährdet; nun konnt' ich neue Schrecken ahnen. Ich wußte, wo Hülfe nöthig war. So ging ich heimlich nach Angerode, lebte dort verborgen, bis Paul zur Reise nach dem Tempelstein sich stark fühlte. Dorthin rief ja die Loosung. Louise Eisold soll den Schrein von ihm selbst empfangen, den unversehrten und nur in Dem, was ihm an jenen Mann, der sich das Leben nehmen wollte, verloren ging, an Werth verringerten. In drei Tagen, Freund, sind wir am Tempelstein. Ich hüte den Schrein am Tage, Paul des Nachts. Sein Übel ist in alter Gewalt entstanden, aber des Vaters Auge wird ihn schützen. Diese Hingebung jetzt an ein Einziges, diese Mühe und Sorge um ein verpfändetes Wort wird seine Gedanken reinigen. Ich werde nicht erröthen, Ihnen den Sohn zu zeigen, den ich Ihnen verdanke, Ihrer treuen Aufopferung, Ihrer Liebe. Empfangen Sie uns mit dem alten Herzen – darum brauch' ich kaum zu bitten – aber empfangen Sie uns auch mit Freude – das muß vom Himmel kommen.«

Sorglos, überglücklich, sahen nun die Freunde dem [3554] Tage der Entscheidung entgegen, der endlich bedeutungsvoll genug herankam.

Feuerraketen stiegen von den Bergen auf, um den Einzug der Mächtigen auf das Schloß von Buchau zu verkündigen. Die Umwohner des Tempelsteins hörten die Böller lösen, hörten das Rollen der vielen langspännigen Staatswägen, hörten die Ruderschläge auf goldgeschmückten Festesgondeln von den blauen Wogen her. Es war die alte Welt, die sieggebläht zur Herbstesfreude vom Osten einzog.

Es kam der Abend des fünfzehnten Septembers, der Tag des Nikodemus ... Schon um sieben Uhr Abends vergoldete des Mondes Licht den Wald, die Flur, den Strom, Berg, Schloß, die Ruine ... das Vergangene, das Bestehende und das Werdende ...

Ich will ein Kind sein, sagte sich Dystra, ich will diese Nacht für ein Märchen nehmen. Ich weiß, daß dort drüben heut in Buchau Leuchtkugeln steigen. Die Raketen und die Schwärmer werden prasseln. Aber ich will das Zaubervolle näher suchen. Die Fäden, die das Wunder am Drahte natürlich lenken, kenn' ich wohl, weiß auch, daß unter dem Menschenstrom, der heut nach Buchau zum Feuerwerk der Könige wallt, die Maurer und Zimmerleute nicht auffallen werden, die sich zum Schlosse Tempelstein wenden, an der Brücke vor dem Meister Leidenfrost die Kundschaft sagen, emporsteigen und hinten in die Ruinen treten, wo Dankmar Wildungen sehen will, wer sich nun meldet, wer sich enthüllt, wer zu seinem [3555] Bund gehört, den ich selber nur belausche. Ich nehme das Seltsame, wie es ist. Ich nehm' es als eine Phantasie dieser wunderlichen deutschen Nation und will von einem alten Leichenstein des Kreuzganges aus dem Herbstnachtstraume zusehen, wie ich in den Sagen lese, daß einst Hirtenknaben sich verirrten in den Untersberg oder den Hörselberg oder den Kyffhäuser und die Felsen geöffnet sahen und das Treiben der Zwerge und Kobolde belauschten. Ich will für Märchen nehmen, was ich sehe und froh sein, daß ich nicht mehr nöthig habe, mir über die Feuerwerke der Höfe den Hals auszurecken, was freilich für meinen Wuchs nützlicher wäre, wär' es nicht zu spät. Dieser Nacken bleibt leider in den Schultern sitzen und gehört zu meinem Bild: Der Narr des neunzehnten Jahrhunderts.

Das Märchen wurde in der Nacht geträumt, vielleicht erlebt ... Es war wie die Sage erzählt ... Ein Knabe verirrt sich in die Berge, die Nacht beschleicht ihn, sein Auge späht durch eine Felsenritze, er sieht, was sich begibt ... Und was begab sich? ...

Hoch ragt das gewölbte Rund der alten Tempelkirche, malerisch vom Mondlicht umwoben. Zitternd blitzen die Sterne hernieder. Die Tannenwipfel rauschen, leise vom Winde bewegt. Jeder Stein, den uraltes Moos wie eine Inschrift überzieht, spricht von vergangenen Jahrhunderten und singt in sich erklingend noch das Sanctus nach, das einst in diesen Hallen tönte. Wer pflanzte den Hollunderstrauch in jene Nische, wo einst die Heiligen [3556] aus bunten Farben in den Fenstern prangten? Wer säete Heidekraut auf diese Stufen, wo einst der aus Felsen gehauene Altar stand? Noch ist die Schaale da, in der geweihtes Wasser floß; sie und der Taufstein sind gefüllt vom letzten Regen, der an der Luft verdünstete. Sichtbare Höhlungen noch auf den Schwellen, wo einst der Priester die Messe las. Die Vögel nisten in den Blättern von Stein, die die obern Fensterrundungen schmücken, in den Rosen von Granit, die an den Pforten noch in einigen Resten erkennbar sind. Es ist als blühten sie neu wieder auf. Es rauscht von den Wänden, als spränge aus den Steinen die Orgel hervor, es lebt und ruft den frommen Wallern ... Sie kommen! Nicht um zu beten nur! Sie sind in Werkeltagstracht, Arbeiter im Schurzfell, gedungen der Kelle, angestellt bei dem Richtmaaß und dem Cirkel, sie sind Architekten, Steinmetzen, Maurer ... wie klatschen die ledernen Schurzfelle an den Füßen, wie trägt das Antlitz Spuren des Fleißes von Kalk und Mörtel und groß muß ihr Ziel sein, denn ihrer wol an Hundert sind es, die sich durch den Kreuzgang der Kirche zudrängen!

Hier werden Loosungen zugerufen; man versteht, man erkennt sich. Wer die Männer? und Von wo des Landes? Namen, gefeierte und dunkle; Mienen, freudige und hoffnungsvolle. Um die Stelle, wo einst der Priester Messe las, schaaren sich die Männer des geistigen Rütli. Etliche besteigen die Stufen. Wovon reden sie? Sie enthüllen Pläne, Zeichnungen, Pergamente mit Siegeln. Sie zeigen sich unter einander die Rollen, die im Kreise wandern und [3557] Einer ergreift das Wort und ihm antwortet der Nachbar und Alle hören und Jeder spricht und räth und Allen gefällt, was auch nicht Jeder selbst ersann und zuerst gerathen. Einige Blätter sind in Jedes Hand. Sie enthalten des Bundes geheime Symbolik.

Hundert Zeugen! Die Kubikwurzel einer Million! Wir sind Boten vom vierblättrigen Kleeblatt, dem Symbol des seltenen Fundes! Vier zu vier gesellt und viermal vier zu viermal vier und so hinauf in Gruppen, Sippen, Abstufungen, wo das Band des äußeren Zusammenhanges aufhört und die Ordnung der Natur anfängt, die dem Krystall überall sein eignes Achteck lehrte. Hat sich das so fortgesponnen? Von selbst? Wodurch? Wer bist du? Und du? Wer sandte dich? Dort kennt man uns? Auch uns? Dich gewiß! An der Donau? An der Oder? Am Neckar? Hinaus in die Alpenwelt und schon auf fremdem Boden an der Rhone und an dem Themsestrand? Willkommen, willkommen, Streiter für ein unsichtbares Palladium, das über unsern Häuptern schwebt! Willkommen Ihr Ritter und Reisige vom Geist! Hört Ihr die Feste der Großen, hört Ihr von untenher den Donner der Geschütze, seht ihr die leuchtenden Funken, die da unten von Buchau aus den Mond erreichen wollen? Ihr habt Eure Wehr und Waffen in der Brust, die da fühlt, im Haupt, das denkt! Es ist die Ordnung dieser Welt zur Ernte reif! Nicht stürze sie die schwache Menschenhand! Gestorben ist die Ähre längst, wenn sie der Schnitter mäht! Seht Ihr die gelben Felder? Seht bald die Stoppeln!

[3558] Dem festverschlungnen Bund der neuen Templer gehört die Wiege und das Grab der Menschheit!

Und einer der Maurer, von den Jüngsten Einer, trat auf und entrollte die Schrift, die er das Buch des Geistes nannte ... Es war die Symbolik des Bundes ... Man hörte sie, beschwor sie mit gehobenen Händen ... dann trat derselbe Sprecher zum zweiten Mal auf die Stufe und sprach von einem Hort, den er das Gold Fafner's nannte. Elfen hätten ihn gewoben in den tiefsten Schachten der Zeiten. Er sollte ihnen dienen als Schild im Kampfe, als Lanze zum Angriff, als Schwert des Wettkampfes. Es traten Sprecher auf, die gegen diesen Hort redeten, Andere für ihn, Alle bewunderten die Eigner und eine Selbstlosigkeit, die aber zuletzt nicht mehr allein stand, denn an Opferspenden wurde Großes versprochen nach solchem Beispiel, noch Größeres schon von Einigen geleistet.

So scholl es fort in dem todten Schiff der Kirche, lebendig wieder, lebenweckend. Es schienen nur einfache Maurer und Steinmetzen, die da sprachen, aber ihre Münster, die sie zu vollenden gedachten, ragten über die Ruine hinaus und von ihrem Wirken in Nord, Süd, Ost, West blitzte es jetzt schon hin- und herüber, als sähe man plötzlich eine Hülle von der ganzen Welt genommen und erblickte Säulen eines Zaubertempels, der dem Lauscher die Augen blendete ...

War es ein frommer Hirtenknabe, war es der Schalk Dystra, der lauschte, war es ein Engel des Glaubens oder der ewige Dämon der Ironie und Verneinung ... um zehn [3559] war es auch ihm todtenstill unter den moosbewachsenen Steinen ... wo waren sie hin, die gekommen und mit dem Rufe: Morgen! Morgen! gingen? Sie waren verweht wie die Schwärmer und Raketen, die inzwischen in dem Schlosse von Buchau platzend und schnurrend sich abgemüht, viel tausend Gaffer, viel tausend Staunende gefunden hatten, aber nicht ein Auge von Denen, die durch den Kreuzgang in die Tempelkirche schritten, nicht ein Auge, das sich auch nur nach ihrem ohnmächtigen Freudenfeuerwerk zurückgewandt hätte ...

Morgen!Morgen!

Aber ach! Ein einziger Funke! Ein einziger Funke vielleicht war von dem Feuerwerk doch ein Thatenkeim gewesen, ein einziger Funke, der in das Dorf, das menschenleere, in den kleinen Zwischenort Buchau, von dem Feuerwerk der Großen und Mächtigen niedergefallen war und still sich vielleicht in dem Schindeldach einer armen Herberge verlor. Alles war zur Ruhe, Alles träumte oder schlief mit ermüdeten Thieren um die Wette. Da lebte der versprengte Funke vielleicht in dem Schindeldache auf, verbreitete sich. Um eilf Uhr sank vielleicht ein glimmender Spahn vom Dache in den Boden. Um zwölf Uhr rauchte es vom wenigen Heu, dessen Flamme einen Ausweg suchte. Um eins wenigstens rief man auf eine halbe Stunde vom Dorfe entfernt Feuer! ... Feuer! Schrecklich pflanzte sich der Ruf von Hütte zu Hütte fort. Um zwei Uhr stand das Wirthshaus zum St.-Georg im Dorfe Buchau in lichten Flammen ... Von dem Funken aus dem [3560] Feuerwerk der Könige? Wer weiß es! Wer kennt die Macht eines einzigen Funken!

Menschen riefen, die Glocken heulten, Pferde sprengten ... hinaus, heran, ... Feuer! hallte es zum Ufer hinüber, vom Ufer herüber. Fürst, Bauer, Pächter, Soldat, Jäger, Weiber, Kinder, Greise durcheinander ... Feuer! Feuer! ... Rettet! Es brennt! In Buchau! Die Herberge zum St.-Georg! Die Hütten nebenan sind von Stroh, von Lehm, sie brennen ... von dem kleinen Funken? – Die Flammen züngeln zum Kirchthurm – von dem kleinen Funken? Wild rennt das Vieh aus den Ställen, stürzt sich zum Feuer, die Vögel umkreisen die Flammen ... Nur der Ruf: Niederreißen! Nicht löschen! Nur retten, retten, was sich erhalten läßt ... und von dem kleinen Funken? Ha! Zünden so vielleicht auch eure Funken, ihr nächtlich Tagenden in der Tempelabtei? Schwarze Wolken wallen wie Helmbüsche der Reiter im Sturm, die Flammen züngeln wie zur Umarmung sich entgegen ... sie suchen sich, gierig, zuckend, liebe- oder hassesvoll ... es gelingt ... eine einzige Riesensäule hat sich gebildet, heiß jubelnd springt sie hoch empor, umschlungen in sich selbst wirft sie sich wie gepeitscht von ihrer eigenen Leichtigkeit, wie tanzend, wie im Kreisel hin und her und küßt dieses Dach, berührt jenes und aus jeder Berührung, aus jedem Kusse wächst eine neue Flammengeburt und die Saatkörner auf den Scheunen fangen neue Funken auf und knistern schon selbst und umhüpfen die große Flamme wie ein niederperlender Feuerthau, wie ein Lichtregen, viel schöner, als [3561] vor drei Stunden im Schlosse der künstliche ... und Alles von dem kleinen Funken? Wir wissen es nicht, ob von ihm ... Aber es fehlen schon Menschen ... Man sucht sie ... man hört Stimmen ... der Frauen, der jammernden Kinder ... Vater! Mutter! Um Gott! Es fehlen schon Menschen ...

Rettet! Rettet! ruft eine verzweifelnde Stimme ... Man blickt empor zu den brennenden Hintergebäuden des Gasthofs zum St.-Georg ... Da!

Durch die flatternden im Rauch sich geisterhaft abschneidenden weißen Tauben, durch die schwarzen strömend hinwallenden Wolken hindurch sieht man, zwischen zwei brennenden Scheunenfenstern auf einem noch nicht vom Feuer ergriffenen, aber schon rußgeschwärzten Verbindungsstege, der aus jenen Fenstern Thüren macht, die sich auf diesem Stege erreichen lassen, einen jungen Mann halb nackt, im Hemde, niedergekauert an der einen Thür, einen großen alterthümlichen Schrein neben sich auf dem Stege und eingeschlafen ... oder wacht er? Oder träumt er, daß er, des Gewühles nicht achtend, der Flammen und des Rauches nicht gewahrend, auf jenem Balken da kauert, der ihm nur den Ausweg zu verkürzen schien und ihn zu einer geschlossenen Thüre führte? Man drängt sich ihm zu helfen, aber so sicher ruht er auf dem Schrein und hält ein Licht in der Hand. Ein Licht in diesem Flammenmeer? Ein Licht, ein Gluttropfe in solchen Glutströmen? Von diesem Lichte – wenn von ihm die Glutströme gekommen wären? Nicht von der Freude der [3562] Könige? Wenn ein Frevler – nein, nein, das ist die Haltung eines Frevlers nicht! Er sitzt ja mit dem Licht in der Hand auf dem Schrein, den Rücken an die Thür gelehnt, die er offen erwartete, geschlossen fand, er ist erstickt, er suchte Rettung oder ... gräßliche Ahnung, die schon einige Menschen durchzuckt, wenn er lebte, von allen diesen Schrecken schlummernd nichts ahnte, diesen schwindelnden Steg schon vor dem Brande gesucht, den Brand veranlaßt hätte – wenn er ein Nachtwandler wäre –!

Das war ein Wort, das Alle auf einmal ergriff ...

Ein Mann in schon zerrissener Tracht ruft durch den schwärzenden Qualm – Er bricht sich durch die Flammen Bahn, er erklimmt die innern Stiegen des verschlossenen Hauses, reißt die Fenster auf, langt mit der Hand fast hinüber zu dem Steg, auf dem der junge halb Geopferte, auf seiner Bürde schlafend, noch nicht erstickt ruht, den Rücken gelehnt an die geschlossene Thür. Er ruft: Paul! Paul!

Die Flammen schlagen von unten heran auch ihm in's Antlitz. Noch einmal blickt er empor. Paul! Paul! Er sieht nichts mehr. Nur Rauch, Asche, Staub, Flamme ... Ein Schrei der hülflos Zusehenden weckt ihm die schaudervollste Ahnung ... er schwankt zurück, kräftige Hände tragen ihn, retten den Rettenwollenden vor dem sichern Tode. Ein Mädchen frägt er ächzend, das ihm nachgeflogen war, ihn mit Amazonenkraft getragen hatte, er frägt Burschen, die sie an Muth heldisch überflügelte, nach dem Schlummernden, nach dem Schrein – in diesem Schrecken [3563] ist keine Besinnung möglich, keine Auskunft, es ist wie eine große entsetzengepeitschte Flucht, wo Jeder sein Heil für sich selber sucht, betet, daß Gott den Andern wahren möge, für sich aber nur nach Fassung ringt für Das, was Ruhe, Sicherheit und ist es Nacht, der hereinbrechende Morgen dem Auge Grauenvolles wird enthüllen.

[3564]
14. Capitel. Die Elemente
Vierzehntes Capitel
Die Elemente

Unabsehbar war in der Residenz das Trauergefolge gewesen, das die sterblichen Reste des greisen Obertribunalspräsidenten zur Ruhe bestattet hatte. Kein Stand, kein Alter hatte sich ausgeschlossen, die letzte Huldigung einem Manne zu bringen, der durch fast zwei Menschenalter die Waage der Gerechtigkeit nach seinem menschlichen Ermessen gerecht und weise gehalten und noch in seinem letzten Lebensjahre durch unpartheiische und scharfsinnige Entscheidung eines großen Rechtsfalles die Abendschimmer einer fast schon irdischen Verklärung um sich verbreitet hatte. Tausende von Fußgängern, fast hundert Wägen, voran das Sechsgespann des nicht grade anwesenden Königs, folgten von Tempelheide dem an dem nächsten Stadtthor gelegenen Friedhof, wo glücklicherweise, wenn auch zum Schmerze Anna's, vermieden war, den Zelotismus der Geistlichkeit wachzurufen, die ohne Zweifel an den von dem Verstorbenen ausdrücklich bedungenen Freimaureremblemen auf dem Sarge Anstoß genommen und, wie anderswo schon geschehen ist, den unchristlichen Sinn des Hingeschiedenen gerügt hätte. Gelbsattel trat vor und sprach [3565] als Maurer, nicht als Geistlicher. Er konnte nicht umhin, dem Gefühl der Ehrfurcht, das Alle empfanden, den Ausdruck der Weihe zu geben. Der Moment riß ihn fort, er trat aus dem künstlich gegrabenen Bett seiner Rhetorik diesmal heraus. Er sprach nicht so gut, als er wollte und darum eben diesmal besser. Er schien zu fühlen, daß dieser Hingegangene Das sicher besaß, was tastend er selber suchte. Rührung, die ihm nur in jungen Jahren über seine eignen Worte gekommen war, befiel den Redner mit einer Wahrheit, die den anwesenden Gegnern seines schwankenden und ehrgeizigen Sinnes schonende Achtung abgewann. Man sang am Grabe. Die ersten Künstler der Bühne hatte ein Wort der »jungen« Exzellenz vermocht, dem Vater diese Huldigung zu bringen. Der Intendant war selbst zugegen, war selbst bewegt, daß es fast schien, als wenn er die vielen Gelegenheiten, wo er dem Grab, dem Sterben, ja selbst dem Kranksein der Menschen aus dem Wege ging, in diesem einen Male nun nachholen mußte ...

Der Präsident war in seinem Jahrhundert-Glauben, dem der Duldung und der einfach ergebenen Ehrfurcht vor dem großen Baumeister der Welten gestorben. Die Priesterrede hatte er ausdrücklich verbeten. Kein Kreuz sollte sein Grab kenntlich machen, nur ein einfacher Obelisk von Granit, dessen Inschriftseite nach Osten lag, um immer von der Morgensonne begrüßt zu werden.

Anna, Selma, Olga standen am Grabe. Rodewald bot seiner Schwiegermutter den Arm. Den jungen Mädchen [3566] standen die alten Diener von Tempelheide zur Seite. Die junge Exzellenz dankte bewegt den ihm verwandten Leidtragenden. Der Name Rodewald war ihm wie eine wildentlegene Gegend, er orientirte sich mit Mühe in dieser ohnehin nicht adeligen Beziehung. Für die viele Liebe, die seine Schwägerin dem hingeschiedenen Vater gewidmet, hatte er leicht danken. Den Zoll der Ehrfurcht hatte Anna aus eignem Trieb für Alle entrichtet, die ihn dem Greise schuldeten. Herr von Harder sprach von seiner Gemahlin, Anna's Schwester. Es war in der That keine Phrase, daß er ihren Antheil rühmte. Seit der beschlossenen Abdankung Egon's von Hohenberg war die Geheimräthin wie ein irres Insekt, das auf einer Fläche hin- und herrennt und nicht weiß, wo aus, wo ein. Sie hatte zuletzt von Reisen gesprochen und vom ewigen Begrabensein in irgend einem Winkel, natürlich einem schönen Winkel der Erde. Manche Frauen schon hatten von dem Beispiele Helenen's in Paris gesprochen und von Paulinen gesagt: Auch ihr kommt nun die letzte Läuterung; sie wird katholisch.

Rodewald stand in der Nähe, als Herr von Harder, rückkehrend vom Grabe an die Wägen, vor'm Kirchhofe nicht diese, aber ähnliche Winke über das Befinden seiner Gemahlin gab, über Zustände, die er »körperlich« nannte. Se. Exzellenz bedauerten noch, daß Anna nun von den Weitläufigkeiten der Erbschaftsprozeduren sehr würde belästigt werden, bat sie, Tempelheide ganz als ihr Eigenthum zu betrachten, lobte die Sänger, die sich [3567] in ihrem De profundis und: »Wie sie so sanft ruhen!« höchst wacker gehalten, flüsterte einem nun wirklich neu angestellten Regisseur noch zu, ob auch für heute Abend im Ballet keine Störung stattfinden würde – er selbst dürfte doch wol nicht kommen und müßte sich ohnehin rüsten, dem Hofe, der noch auf Reisen war, in Buchau die Aufwartung zu machen – und gab dann, als der Wichtigste und Erste aller Leidtragenden sich sammelnd, das Zeichen einer Auflösung des Zuges, die rascher erfolgte, als er sich in Tempelheide gebildet hatte.

Die Frauen mit Rodewald kehrten dorthin zurück. Die Thiere des Verstorbenen begrüßten sie mit fast betrübteren Mienen, als sie zuletzt am Ausgang des Kirchhofes sein Sohn gezeigt hatte. Wie ließen die Vögel ihre Fittiche, die Vierfüßler ihre Ohren und Schweife hängen! Ein Glück, daß die alten Diener sich an die Liebhaberei des Herrn gewöhnt hatten und in Tempelheide das Gnadenbrot behielten. So war für diese große Familie auch aus dem Thierreich gesorgt, bis sie Alle zusammen, Thiere und Menschen, ausstarben ...

Für Anna von Harder war mit Rodewald's Rückkehr, mit der Erziehung Selma's, der Freundschaft Olga's für ihre holde Enkelin, mit den Sorgen um die Gebrüder Wildungen und ihre vielbewegten Schicksale noch einmal ein neues Leben aufgegangen. Sie hätte nie geglaubt, daß ihr so die Bande, die an dies Dasein fesseln, noch einmal angezogen werden, so noch das Gefühl einer letzten Kraft in ihr wecken konnten. Nun erschrak sie wohl über die [3568] kurze Spanne, die ihr noch zu durchwandern übrig blieb, aber sie beschloß sie zu nutzen, sich aus dämmernden, unklaren Stimmungen aufzureißen, selbst die Musik fing sie an, in froheren Rhythmen und bewegterem Takte zu begehren. Das politische Misgeschick ihres künftigen Schwiegerenkels Dankmar, der drohende Verlust seines wunderbar gewonnenen Vermögens bekümmerte sie wie eine jugendlich Fühlende. Sie hatte mehr Sorge und Eifer für die Wiederherstellung seiner Existenz und der unerwartet gekommenen seltenen Mittel, als selbst die Mädchen um sie her, von denen Olga vollends immer nur wie ein Wesen sich gab, das auch vom Thau des Himmels, vom Staube der Blumen leben konnte. Ihr grade hätte die Armuth gefallen. Ihr schienen die Briefe, die vom Tempelstein über die Pracht der dortigen Einrichtung kamen, nur geeignet, die Phantasie ihrer Mutter anzuregen. Sie selbst bedurfte nur des Mannes ihrer Liebe, eine Hütte und ein Herz; aber Siegbert blieb stumm, schrieb nicht, gab kein Zeichen, daß er wagte, in ihre Lebenskreise zu treten! Oleander, der Olga's Stolz und Schwermuth erkannte und sich nach ihrer Indiskretion mit dem Schmerzensruf Egon's an Helenen erst allmälig mit ihr wieder ausgesöhnt hatte, Oleander schrieb Siegberten über diese Stimmungen wohl:


Ich trug ihn allen Lüften auf,
Den Gruß des treusten Lieben,
Ich hab' ihn in der Sterne Lauf,
In Wolken und Wellen geschrieben.
[3569]
Ich habe den Blumen den Blüthentraum
Des Herzens zugeflüstert,
Am Meer dem einsamen Palmenbaum
Und seinem Leid mich verschwistert.
Nichts brauste so wild, nichts hauchte so mild,
Ich nannt' ihm die theuersten Namen,
Ich schloß um das geliebteste Bild
Die Welt als goldenen Rahmen.
Und wen ich unter den Weiden einst fand,
Sie lauschten und hörten es Alle!
Nur Einem, Einem zog's unbekannt
Vorüber mit leerem Schalle!
Ihn jagt des Windes Melodie,
Kein Traum von der Schlummerstätte,
Ihm ist, als wenn der Frühling nie
Die Erde umfangen hätte!
Als wenn der Seele ihr Gedicht
Die Wahrheit des Lebens nicht wäre!
Als krönte die Liebe allein uns nicht
Mit allerhöchster Ehre!

Aber Siegbert erwiderte mit Schmerz, daß er Rudhard versprochen hätte, den Schatz dieser Poesie nur für ein Allgemeines zu halten, nicht für ein dem eignen Bedarf des Herzens Dargebotenes.

Die Lösung dieser Verwickelungen war Anna's nächste Sorge. Ein ernster Briefwechsel zwischen ihr, Adele [3570] Wäsämskoi, Rudhard und Dystra hatte sich entsponnen. Von einer Beziehung Siegbert's zur Fürstin war schon lange keine Rede mehr, wenn auch die Verbindung zwischen Mutter und Tochter sich nicht hatte wiederherstellen lassen. Dennoch mußte endlich eine Aussöhnung stattfinden, mindestens eine Annäherung. Sie sollte auf dem Tempelstein stattfinden. Dystra lud die Frauen von der Residenz und von Brüssel bei sich mit Förmlichkeit ein und Rodewald begleitete die von Osten Kommenden mit noch einem Ankömmling, Franziska Heunisch, die nach dem im Gram um den Sohn erfolgten Tode des alten Sandrart seine Erbin geworden war und einstweilen den guten überglücklichen Onkel Heunisch im Ullagrunde zurückließ. Für Rodewald's großes Landwesen mußten inzwischen, wo der Besitz des Pachtes ihm gesichert blieb, neugewonnene rüstige Hände sorgen.

Als Anna mit Olga und Selma, mit Rodewald und Fränzchen Heunisch dem Westen zureisten in zwei großen, reichbepackten Wägen, ließen sie Tempelheide in der Obhut der Gerichte und der Diener zurück. Sie ließen die Stadt wie den Staat gleichsam als Schlummernde hinter sich, die man mit dem Abschied in der Frühe nicht gerne stört und, während man schon im lustigen Zuge dahin sprengt auf der Landstraße, noch in den Federn fortträumen läßt ... Es sah still und traurig aus im öffentlichen Leben. Der Fürst Egon, der zwei Jahre hindurch das Ruder mit Entschlossenheit geführt, den Geist des [3571] Widerspruchs gebändigt, eine warme, glühende Begeisterung für seine Aufgabe mit Hintansetzung seines eignen Lebensglückes wie Kohlen noch zum Feuer getragen hatte, schien von diesem Feuer wie selbst verzehrt. Er schien zu verschwinden, wie er gekommen. Er hatte dem Staate nach seiner Auffassung die letzten Reste seiner Jugend gewidmet. Die gewaltige Sphinx hatte ihn verschlungen, wie Alle, die ihr Räthsel mit der wahren Lösung: der Mensch! nicht begreifen. Dem historischen Staate, dem Gemeinwesen alter Stände, den militärischen Erinnerungen, dem Junkerthum und seinem Dünkel und Egoismus, der Beamtenmacht war er zum Opfer gefallen, wenigstens erwartete man von seiner Reise nach Buchau die noch immer verzögerte Übergabe seines Portefeuilles. Nur seine Gattin begleitete ihn. Diese hinterließ das Andenken einer der seltsamsten Metamorphosen, die ein weibliches Herz je durchmachen kann. Aus der tändelnden, leichtbeschwingten Sylphide war sie eine ernste pflichterfüllte Frau geworden, die ihr Loos, einen hinfälligen, siechen, lebensmüden, zergrämelten Mann zu pflegen, mit ruhiger Ergebung trug. Pauline von Harder bot lange nicht das gleiche Schauspiel der Resignation. Sie schien die ihr doch sonst immer gegenwärtige Besinnung verloren zu haben. Sie konnte den Gedanken, geopfert zu sein, auf Nichts zurückgeführt, verlassen von ihrem Einfluß, nicht ertragen. Die Menschen, die ihr früher huldigten, gingen zu den neuen Machthabern über. Das Journal: Das Jahrhundert verlor seine besten Kräfte an die [3572] Blätter des neuen Systems, sie mußte es verkaufen und gab alles hin, nur um vor einem Dämon zu fliehen, den Alle in ihrer Brust suchten, in ihrer Unfähigkeit, auf sich selbst bezogen zu bleiben. Rodewald, Egon aber allein wußten, daß dieser Dämon weit mehr in der Furcht vor Friedrich Zeck und ihrem Sohne lag. Die Ludmer hatte somit die glänzendste Genugthuung für ihren schon lange gehegten Verdacht erhalten! Sie mußte nach ihrer Gesinnung rathen, nun alle Minen springen zu lassen. Pax wurde mit ganzem Vertrauen bedacht, sogar Schlurck, selbst Bartusch wurden wieder um Rath angegangen. Die Entdeckung, daß der Sohn Paulinen's wohl gar selbst dieser Hackert, Murray jedenfalls der ehemalige Baron Grimm war, lag jetzt vollkommen nahe. Pax verfolgte die Spur des Einen, der schon seit dem Mai, des Andern, der jetzt eben erst abhanden gekommen war. Wie diese Jagd, die die Ludmer anstellen zu müssen glaubte, auch endete, Pauline von Harder wollte sie nicht abwarten. Sie wollte reisen, sie knüpfte in der That mit Helene d'Azimont an, die ihr wie eine Wiedergeborne und Erleuchtete schrieb und sie aufforderte, nach Enghien bei Paris zu kommen, wo sie zusammen lateinisch lernen und die Kirchenväter studiren wollten. Es bildete sich in der That fast ein Bund von römischgesinnten Frauen, die sich jetzt, wie sie sich früher in ihren starken Gefühlen nachahmten, eine der andern in der katholischen Bekehrung nachahmten. Einstweilen wollte Pauline nur aus dieser Stadt, nur aus diesem Lande heraus. Aber sie beschloß, es mit Aufrechthaltung [3573] aller Formen zu thun. Sie begleitete ihren Gemahl nach Buchau, wo sie einige Tage zu bleiben und sich dem Hof feierlich zu empfehlen beschloß. Die Ludmer folgte ungern. Sie dachte an den dortigen Inspektor Mangold. Doch die Hülfe ihres Erben und »Neffen,« des Herrn Pax stand ihr ja zur Seite. Zur Sicherung der Herrschaften war auch dieser nach jenem äußersten Grenzpunkte abgereist. So drängte es Alle nach Westen; wir wissen nicht, ob auch Oleander'n, der am Nikodemustage auf dem Tempelstein vielleicht nicht fehlte, Oleandern, der wie ein Harfner, wenn auch vielleicht unsichtbar, um alle die Gestalten, die wir in dem Schutt ihres Lebens wie vergraben finden, den Epheu seiner Poesie ranken ließ, einer Poesie, die, in den meisten Menschen unbewußt, als Stoff nur für den Seher lebt. Oleander führte Buch über die Seelen, die da an sich so wild vorüberjagten, sich niederwarfen oder vielleicht nur Einmal und dann nicht wieder berührten. Oleander war im Stande, die Empfindungen des Fräuleins von Flottwitz, wenn sie Dankmar's gedachte, ebenso nachzudichten, wie er auch, nachdem er schon die Veranlassung eines neuen Misverständnisses zwischen Egon und Helenen durch Olga geworden war, sich selbst in diesen unheilbaren, ewigen Bruch hinein fühlte mit einer Melancholie, die in gewissen Momenten sicher auch in Egon, zuweilen in Helenen auftauchte bei aller Trennung durch die Welt und das Leben. Oleander dachte wenigstens nur an Helenen und Egon, als er einst schrieb:

[3574]
Wer glaubt an Riesen, die den Himmel stürmen,
An Göttersöhne, frevelnde Titanen,
Die Berg auf Berg zum Wolkensitz der Ahnen,
Ja ihre Leiber, sich erwürgend, thürmen!
Und doch rast dies der Erde Urgewimmel
Zu jeder Stunde noch im Menschenherzen,
Das über Schädelstätten fremder Schmerzen
Erklimmt des Wahn's und seiner Träume Himmel.
Die Gräber werden Spielplatz, heiße Thränen
Wie aus dem Thonrohr steigen bunt wie Blasen,
Gehascht, gejagt auf dem zertretnen Rasen
Des heiligsten Erinnerns! Und warum? ... Ein Wähnen
Hängt Haut an Haut, wie Schlangen thun, an Bäume!
Jetzt bist du frei, jetzt steigst du auf mit Flügeln,
Nun kann dein Arm die Sonnenrosse zügeln,
Nun trittst du schon auf ros'ge Wolkensäume!
Ihr Thoren! Ob Titanenfäuste einen
Dem Ossa Pelion, ob dieser Welt nie Frieden
Der Menschengenius bietet – die Kroniden
Verhüllen sich und lächeln nur und weinen.

Die Harmonie im Menschenchaos ist nur dem Ohre Geweihter vernehmbar. Was Poesie dem Allblickenden ist, ist Dem, der sie erlebte, oft davon das baarste Widerspiel. Ihn macht dieselbe That ergrimmt, die einen Andern hebt und tröstet. Der Dichter nur ahnt, in welchem Endergebniß Aller Dasein den Sternen erscheint. In Oleander's Gemüth sammelte sich von Allem, was wir erlebten, [3575] erfuhren, mit einsahen, ein solcher Sternenwiderschein, den das Leben nicht ausspricht und die Darstellung des Lebens auch nur andeuten kann. Den Oleandergemüthern unsrer Leser überließen wir die Ergänzungen der harten und schroffen Unmittelbarkeiten und Wirklichkeiten, die wir schildern mußten. Der treue Sänger, selbstentsagend, fühlte, was Siegbert Olga auf seine Klage antworten mochte, fühlte, was der Flottwitz stumme Liebe dachte, als Dankmar in Banden saß, er sammelte sich Das, was Niemand gesagt bekommt und was doch für die Sterne ewig gesprochen und empfunden ist. Auch in dem Märchen auf der Tempelabtei fehlte er gewiß nicht. Er war dem lauschenden Dystra gewiß ein Sänger mit der Harfe, der hoch über den Trümmern stand und Andrer Loos verknüpfte, seines eignen so wenig gedenkend. Er hatte Selma an die männliche Gestalt Dankmar's abgetreten, fand lange nicht das einfache und ihn beglückende Herz, das er suchte und hatte wohl Recht, in sein altes lateinisches Kollektaneenbuch zur einstigen Mittheilung an Louis Armand und zum Gegensatz gegen dessen weltumfassendes Sehnen zu schreiben:


Ein Häuschen auf grünen Matten
In's Silber des Mondes getaucht,
Von frischen Waldesschatten
Freundnachbarlich milde umhaucht –
Ein Stübchen eng nur gezimmert,
Bescheiden das Hausgeräth,
[3576]
Nur Lampenlichtdurchschimmert,
Nur Blumenduftdurchweht –
Ein Schrank, ein Tisch, zwei Sessel,
Ein Weib dazu, an ihrer Hand
Der Ehe goldene Fessel,
Die erst ein Jährchen sie band –
Der Mann im Liederbuch blättert,
Sie strickt beim Lampenschein,
Vom Lindenbaum draußen schmettert
Die Nachtigall herein –
Horch! ruft das Weib nach der Kammer.
Was Nachtigall! Liederbuch!
Sie öffnet dem süßesten Jammer
Im Gehen ihr Busentuch.
Hold Kindlein wacht, ruft wieder!
Gib allen Dichtern den Lauf!
Ein Trunk aus Mutter-Mieder
Wiegt Hippokrenen auf!
Dem Mann, nicht lesend weiter
Legt gleicher glücklichster Trieb
Eine ganze Jakobsleiter
Als Zeichen in's Buch, wo er blieb.
Ob im Walde die Wipfel rauschen,
Ob die Nachtigall lockt und schlägt,
Sie sitzen nur Beide und lauschen
Dem Kind, ob's im Schlummer sich regt ...
[3577]
O Bild der seligsten Feier!
Ein Schattenspiel an der Wand!
An meiner Dichter-Leier
Bin ich Saite nicht – ach! nur die Hand.

Oleander sang nicht sich, sondern Andere, wenn er das Glück schilderte. Jahrelang wird er den Anblick des Poeten der Dachkammer bieten, dessen lange, ungepflegte Gestalt, schlendernd, träumend durch die Gassen schreitet, an Fremde denkend und die Nächsten zu grüßen vergessend, voller Liebe dem Einen zugewandt und kaum bemerkend den Andern, wenn dieser auch hülfefordernd die Hände nach ihm streckt. Er wird immer die Aufforderung zur That erst dann vernehmen, wenn die Gelegenheit, sich zu bewähren, schon vorüber. Vielbewundern wird man ihn und viel verspotten und schon mit bleichenden Haaren wird man ihn noch ein Kind nennen. Bei der allgemeinen Theilung des Glücks dieser Erde wird er mit leeren Händen ausgehen und sich mit dem Troste begnügen müssen, daß Zeuß zu ihm sprach:


Willst du in meinem Himmel mit mir leben:
So oft du kommst, er soll dir offen sein.

... Grade am Morgen nach dem Brande im Dorfe Buchau fuhren die beiden Reisewägen Anna's von Harder zum Tempelstein hinauf, während rechts und links um sie her Rosse und Reiter sprengten, noch die rauchende Stätte des Brandes zu sehen. Der Hof im Schlosse war voll gnadenreichster Theilnahme gewesen. Er hatte Wäsche, [3578] Betten, Geld geschickt, um die nächste Noth zu mildern. Alle seine Umgebungen wetteiferten im Antheil an dem unglücklichen Vorfall, bei dem in der That Menschenleben verunglückte und im Gasthofe zum St.-Georg manche werthvolle, ja außerordentlich hochgeschätzte Gabe einiger unbekannter Reisenden zu Grunde ging ... Anna war mit ihrer Begleitung am Orte des Schreckens angelangt, als Fränzchen Heunisch ein junges Mädchen zu erkennen glaubte, das auf der Trümmerstätte, an der steinernen Schwelle einer ausgebrannten Thür, die Hand in den Schoos gestemmt, auf der Erde sitzt, vor sich einen von vielen Menschen umgebenen mit einem Tuch bedeckten, von Allen scheu vermiedenen Gegenstand und in ihrer Nähe einen Alten, der gleichfalls auf dem Boden an dem Tuche kauert und in seinen Mienen eine Ähnlichkeit mit jenem Manne mit der schwarzen Binde darbietet, der sie einst von der Stadt nach Hohenberg begleitet hatte. Jenes Mädchen war Louise Eisold, der Alte ohne Zweifel Murray ... Fränzchen machte sogleich Rodewald aufmerksam. Dieser trat hinzu und erfuhr von den vor ihm ausweichenden Menschen, daß unter dem Tuche der Rest eines in der Nacht Verbrannten läge, eines dem Mädchen und jenem Manne sehr werthen Verwandten und daß schon in der Nacht vom Tempelstein Leute gekommen wären und das seltsamste Schauspiel der Bestürzung geboten hätten. Von einem großen Schatze, den jener Unglückliche entweder hätte vor dem Feuer bergen oder schon vorher vielleicht allzusehr schützen wollen, wäre [3579] nichts übrig geblieben als die halbverbrannten Splitter, mit denen der Alte da wie irrsinnig spiele ... in dem Schrein sollten hundert Tausende von Papiergeld gelegen haben ... aber wer wisse es ... und wer könnte es glauben ...!

Schaudernd ahnte Rodewald die Möglichkeit, daß Dankmar's Schrein verunglückte ... Er trat näher ... Fränzchen folgte ... Murray! rief Rodewald ... Fränzchen legte schon die Hand auf Louisen's Schulter ... Jener blickte auf und erkannte Rodewald, lächelte bitter, zeigte auf das Tuch, auf die verbrannten Splitter ... Louise Eisold starrte Fränzchen an, wußte erst kaum, wo sie das blühende, gewachsene, holdentwickelte Mädchen hinbringen sollte, dann errieth sie, stand auf und sagte: Franziska! ... Die Freundin aber erwiderte entsetzt: Wer verbrannte?

Louise schien gefaßt. Sie hatte in der Schule der Leiden gelernt, das Schwerste zu tragen. Dennoch sagte sie mit noch zuckendem Schmerz:

Weißt du Fränzchen? Des Volkes Tochter, arme Bettlerin! Das ist da – Hackert unter dem Tuch!

Fränzchen zuckte zusammen. Aber Friedrich Zeck bestätigte den Nähergetretenen:

Ja, diese Splitter sind der Rest vom Erbe der Wildungen! Sie wissen es schon oben auf dem Tempelstein, sie grübeln, wie man Papier wieder lebendig macht, aber Menschen, amortisirte Menschen lebendigmachen – das wird fehlschlagen, Freunde! Ah! Seht nur!

[3580]

Rodewald hatte das Tuch gelüftet und es sogleich fallen lassen. Der Anblick war zu grauenhaft ...

Der Nachtwandler! sagte er und eben hielt er inne, um das Wort: Sein Sohn! zu unterdrücken, als unter den Herrschaften, die vom Schlosse Buchau kamen, um die Brandstätte auch zu sehen und Gaben der Liebe auszutheilen, ein Wagen auffiel. Der Schlag wurde geöffnet. Eine Dame trat heraus, schwarz, trauernd, hoch, schlank, nach ihr eine gebückte Alte ... Die Polizei, beritten, sprengte heran ... Die Scene wurde lebhaft ... Menschen drängten sich an Menschen ... und Friedrich Zeck folgte wehmüthig dem Auge des hier in solchem Augenblick gefundenen Rodewald. Starr kehrte sich aber plötzlich das Weiße in dem seinen. Er ergriff Rodewald's Arm, zeigte auf einen der Wägen, auf die ihm entstiegene Dame ... es war Pauline von Harder, schon erkannt von Anna, ihrer Schwester, die sich zurückzog und die Begegnung vermeiden wollte ...

Friedrich Zeck schien bei diesem Anblick die Fassung verloren zu haben, nicht die Besinnung, sondern die Selbstbeherrschung. Seine Demuth hatte ihn plötzlich verlassen. Er sah einen Fingerzeig des Himmels, er »richtete«, wie sein Ausdruck war, statt Gott richten zu lassen, er sprang von dem grauenvollen Tuche auf, warf die verbrannten Splitter des Schreins im Kreise umher, stürzte sich vor und stand fast unmittelbar vor Paulinen, die – vor Anna's Nähe allein schon zum Tode erschrak ...

Rodewald war es, der diesmal Großmuth übte. Rodewald [3581] rettete Paulinen vor einem Augenblick, der ihr vielleicht wirklich den Tod gegeben hätte ...

Murray! rief er mit der männlichsten Überredung, hielt den wie von Raserei über Paulinen's Anblick Ergriffenen mit dem linken Arm zurück und wandte sich mit der Rechten der erblassenden, taumelnden Pauline zu, die drängenden halblauten Worte sprechend:

Steigen Sie ein! Fliehen Sie! Es ist Ihr Sohn, der da verbrannte! Fliehen Sie! Fort! Fort!

Aber Friedrich Zeck hörte nicht mehr auf des Freundes Zuruf. In dem Augenblick fielen ihm alle Hüllen, alle Masken und Verstellungen von seiner Person, die ihm nichts mehr werth war, seit der Zweck seiner Rückkehr von Amerika mit dieser fürchterlichen Nacht ein Ende hatte. Er sah nur Flammen um sich, nur Zerstörung, hörte nur das Hülfeschreien der Menschen, sah Hackerten nur unter den züngelnden Feuersäulen eingeschlummert auf dem Schrein, den er krampfhaft hüthete, als könnte in stiller Nacht – ein Käfer ihn stehlen; er hörte nur, daß Alles um ihn her zusammenkrachte, Sohn und das fremde Eigenthum in einer Zerstörung unterging, die Hackert vielleicht als Traumwandler selbst durch das Licht in seiner Hand veranlaßt hatte, vielleicht auch nicht –! was sollte er zögern, sich und Alle in die Flammen zu stürzen und unterzugehen wie Simson!

Nicht Murray, rief er auf Paulinen zuschreitend aus, nein, Der, den deine Helfershelfer suchen vom Morgen bis Abend, Der, der Euren Mörderhänden entfloh, nicht [3582] in den Wellen des Hudson schläft, nein Der, den Ihr ahntet seit dem Fortunaball, festhieltet seit dem Forsthause im Walde und nicht zu erkennen den Muth hattet, Friedrich Zeck, der Vater dieses unglücklichen Sohnes ...

Doch schon war Pauline mit Rodewald's Hülfe entfernt, losgerissen von dem Wüthenden, gesichert eingestiegen ... Zeck sprang den Pferden in die Zügel, hielt sie, die schon ansprengen wollten, zurück und rief:

Hackert! Hackert! war der Name meines Sohnes! Ich bin Zeck! Der Bruder einer Mörderin, der Bruder eines Mörders! Kennt mich Niemand? Kennst du den Falschmünzer nicht, den Vater dieses Nachtwandlers, der diesen Brand entzündete? Wir sind Schuld an diesen Lichtfunken! Ha, ha, Pauline –

Aber so maaßlos sollte der Strom der Selbstanklage nicht enden, denn schon hatte Pax, vom Pferde springend, den wilden Sprecher erkannt, ihn von hinten ergriffen und seinen Begleitern, die mit angriffen, als einen glücklichen Fund zugeschleudert ...

Die Ludmer, wie ein verwundeter Vogel hin- und hertaumelnd, konnte aus Furcht und Besinnungslosigkeit den Wagen nicht gewinnen. Sie flatterte fast hin und her und suchte sich zu bergen vor solchem Ruf aus den Gräbern ... Ihr half aber die Großmuth Rodewald's nicht. Paulinen's Rosse waren sich bäumend schon davon gesprengt, ohne die Ludmer. Kein Wagen stand bereit, auch sie zu entführen, sie mußte die Schaalen des Zorns eines Mannes, den sie nun schaudernd selbst erkannte, bis zur [3583] Neige leeren, mußte sehen, daß Mangold, jener Gärtner, in der Nähe stand und nicht half, nicht hinderte ... Aber auch die Mishandlungen der Bewaffneten hinderten Zeck nicht auszurufen:

Charlotte Ludmer! Kennst du mich, den Baron Grimm, dessen Trinkgelder du so elend vergolten hast! Komm, Unhold, leuchte mir die Treppe hinunter! Sagt' ich Das nicht in Ems drüben und sonst hundert Mal und gab dir meine erspielten, noch nicht falschen Dukaten? Und doch stecktest du über uns Allen die Welt an, läßst uns Alle verbrennen, nur weil Paul Zeck die rothen Haare verstecken sollte, die an den Abend erinnern, wo schon einmal Jemand im Feuer der Sünde aufging und Einer sich nur die Augen verbrannte? Mörderin du, die aus Rache Menschenleben wie unreines Wasser ausgoß! Elende, das Eine deiner Opfer stürzte sich vom Narrenthurm, Das da deckt ein Leichentuch und ich will der Dritte sein, will wieder Ketten tragen, will nicht von Euch losgelassen, nicht mit Gold und Gut nach Amerika befördert werden, will bleiben und reden, nur damit du einst sterben sollst, ohne ein ehrliches Begräbniß zu gewinnen!

Pax schützte jetzt die ohnmächtige Freundin, ließ sie fort tragen, die Menschen wichen ihr wie einem Unhold aus. Die Bedienten, Hofleute, Bauern, Alle sahen, Alle hörten schaudernd und lauschten noch, als Friedrich Zeck sich sammelnd und den Schweiß von der Stirne trocknend zuletzt zu dem mitleidbewegten Rodewald sprach:

Es ist geschehen! Alle Selbstbeherrschung war vergebens. [3584] Den wilden Teufel in der Brust bindet ganz auf Erden kein Engel. Zürnen Sie mir nicht, daß ich wie ein Insekt um die Flamme irrte, und nun doch hineinstürzte! Es ist ein Instinkt, der von mir verlangte einmal noch so zu reden, dann zu enden. Man wird in der Residenz in mir drei Menschen, Zeck, Grimm und Murray erkennen. Vielleicht, daß Einer für den Andern sprechen wird und sich die Gelehrten mühen, zu beweisen, daß Einer unmöglich der Andre sein konnte. Zu dem Instinkt gehört auch, daß ich möglich mache, das Unglück des für immer verbrannten Schreines zu hintertreiben. Würd' ich, der seinen Inhalt schuf, nicht unter dem Auge des Richters leben, so würden Sie nicht die Bürgschaft finden, daß von jenem Schrein auch wirklich nur noch jene verbrannten Spähne übrig sind, mit denen ich mein eignes Leben vergleichen möchte. Ich werde offen aussagen, wie Alles gekommen. Grüßen Sie die Bewohner des Tempelsteins nicht von mir! Ich sagte immer, daß zwischen jener reinen Sphäre und mir die ewige Verdammniß, wenigstens der Erde, liegt!

Zeck wurde so abgeführt ... Anna von Harder hatte längst schon in den Wagen flüchten müssen, die Mädchen folgten, Rodewald, nach schmerzlichem Abschied von dem nun wol für immer Gefangenen. Man fuhr zum Tempelstein empor. Die Menschen verliefen sich, nur Fränzchen Heunisch, die mit Louise Eisold zum Schlosse zu Fuß gehen wollte, blieb. Mangold, der die Demüthigung der Ludmer ohne Mitleid nachempfand, half den Mädchen und einigen Burschen das Tuch zusammenraffen und es in ein [3585] Haus tragen, wo der Rest von Hackert bis zu seinem Begräbniß blieb ...

Es ergab sich bald, daß Hackert an dem Versuch einer einzigen guten That, die er in seinem kurzen und dämonischen Leben gewagt hatte, zu Grunde gegangen. Die Ursache des Brandes, der den Schrein zerstörte, war in der That nicht der Funke vom Feuerwerk der Könige, sondern die schlafwandelnde Sorge gewesen, die den Schrein im überfüllten Gasthof zum St.-Georg von einer Scheune zur andern trug und gerade mit dem Lichte dem Stroh unterm Schindeldach, das Hackert im Traum hatte verlassen wollen, zu nahe kam. Er fand die Thür auf dem Verbindungsstege verschlossen, entschlief auf dem Schrein, den er niedergesetzt hatte und erwachte zum Leben nicht wieder ... Ein Dichter, wie auch wieder Oleander, sah später in diesem Zusammenhange einen ernsteren Sinn und tiefere Bedeutung. War der Schrein und sein Inhalt die irdische Hoffnung edleren Strebens für das Wohl der Menschheit, war Hackert, wie einst Dankmar an jenem Abend vor dem Fortunaball gesagt hatte, das Volk in seiner dämonischen, nicht guten, nicht bösen, räthselhaften und unheimlichen Sinnennatur, war der Aufschwung zu einer endlich reinen That in diesem Wesen Krankheit eher, als die edle Blüte der Gesundheit, so lagen die Gedanken nahe, die sich halb schon bei Oleander in Klängen austönten, daß der Geist ein Phönix wäre, der nur aus den Flammen eines irdischen Nestes zur reinen Sonnenhöhe aufsteigen könne, und daß da sterben [3586] müsse der Schlacke, was zum Lichte wolle. Wie in der Natur Das, was seinen Dienst verrichtete, sogleich verginge, wie der Wurm in der Seide stürbe, die er aus seinem Leibe und Leben spönne, wie die höchste Lust die Organe des Lebens spränge, ja ein Bettler nicht lange zu bleiben vermöchte in einem allzugeschmückten Hause, so säh' es auch immer schlimm aus, wenn man den großen Kaliban, das Volk, einmal aus seiner thierischen Vegetation aufweckte, aus einem Dämmerleben, dem das Gute und Bessere sich nur im nächtlichen Wandeln nahe! Auch erwachend würd' es dann handeln wie im Traum, würde statt eines einfachen Lichtes Fackeln, statt Fackeln Feuerbrände geben, würde wie einst Masaniello über das Maaß seiner Kraft hinauswachsen und entweder im Irrsinn oder Selbstmorde enden ....

Diese Auslegung gab Oleander Friedrich Zeck, als er ihn als Gefangenen wiedersehen mußte! Man hatte versucht, den Engländer Murray, den Freund der Armen, den Wohlthäter der Brandgasse für den Baron Grimm sprechen zu lassen, man hatte die Bibeln reden lassen wollen, die Morton sonst in seiner Armuth zu verkaufen pflegte, aber Friedrich Zeck kam dem Verlangen, sich offen, vor aller Welt in pharisäischer Christlichkeit zu gebehrden, nicht entgegen, flehte nicht, bat nicht, bereute nicht, er ertrug die Wirklichkeit, der er einst entflohen war und trug sein Kreuz unter den Gefangenen, bei denen er vielleicht für seine Auffassung des Lebens jetzt mehr Gutes that, als wär' er frei gewesen. Nicht lange nachher[3587] starb Friedrich Zeck, der Urheber der Schuld so vieler andren Menschen, auf der Veste Bielau, an demselben Flusse, dessen Ufer er einst in einem Rettungsnachen erreichte, wie später einmal auch Werdeck ...

Die Welle des Flusses war ihnen Allen freundlicher gewesen als einem letzten endenden Leben unsres Kreises, das wir nicht verschweigen dürfen, dem Leben jenes nächtlichen Wanderers, dem Hackert einst von der Komthurei vor die Thore der Stadt gefolgt war. Als Der denn doch zuletzt, wie angezogen von seinem Geschick, das wie die Magnetnadel keine Ablenkungen und Irrungen, wie noch zuletzt wieder durch Hackert, dulden wollte, nach Bielau wanderte, dieser still Verzweifelnde, der den Tod mit Ekel und Überdruß an sich selbst und der Welt nicht auf natürlichem Wege erwarten mochte, rief ihm Niemand mehr in nächtlicher Stille seinen Namen zu, Niemand schützte ihm mit einer ansehnlichen Summe Geldes noch einmal gleichsam die nach ihm verlangende Woge ab. Zuletzt zog sie ihn nieder, wie das Meerweib den vom Sang Verlockten. Diese Stimmung konnte nicht enden, wie Alle. So entbehren, so zuletzt krank auf dem Lager liegen, ächzen, so den letzten Ballast der Bagatell-Philosophie auswerfen, Epikur, Epiktet, Rochefoucauld, Hippel und Lichtenberg opfern, so immer leichter, luftiger, ohnmächtiger, ja kläglicher zu werden für Charon's Nachen ... Das ertrug Franz Schlurck nicht ... Man fand ihn eines Morgens im Uferschilfe unterhalb Bielaus, nachdem man ihn Tagelang gesucht und sich wol gesagt hatte, [3588] daß man Schlurck's letztes Wort an Drommeldey: Bester Freund, Montaigne hat Recht, das Leben ist von allen Handwerken, die wir zu lernen haben, das schwerste! nicht anders als auf den selbstgesuchten Tod deuten konnte.

[3589]
15. Capitel. Die Morgenröthe
Letztes Capitel
Die Morgenröthe

Auf dem Tempelstein lösten sich Schmerz und Freude, bangende Unsicherheit und endliche Entscheidung ... Dankmar's starres Brüten über den Verlust, konnte es andauern, als er Selma sah? ... Und Olga, wäre sie erstarrt gewesen wie Niobe, da ihr die Söhne starben, konnte sie auch noch nicht beim Anblick der Mutter, die sich streng und ernst von ihr abwandte, zum Leben erwachen, konnte sie da, als Siegbert vom bekümmerten Bruder sich losreißend in den Saal der Villa des Barons trat, da, als der Geliebteste vor Olga's entfalteter Schönheit staunend bebte, eine Jungfrau statt des Kindes fand, ihre Hand zitternd ergriff und sie zur Versöhnung in die Hand der Mutter legte, konnte sie da, die seit Jahren nicht geweint hatte, die Thränen wieder fortschleudern und ihnen sagen: Ich kenne Euch nicht? ... Und konnte, als Rudhard, ein gebückter, alter Mann, gefurcht, gebleicht von Kummer eintrat und er und Anna von Harder der Mutter sie zuführten, konnte Dystra, als Olga nun doch davon stürzen wollte, Siegbert aber sie zurückhielt und sie in seinen Armen fast [3590] ohnmächtig an's Herz drückte, etwas Andres thun, als sagen:

Chère enfant, Ihrem Vater, dem Fürsten Alexis Wäsämskoi, hab' ich einst versprochen, Rurik's Schwager zu werden! Ja, ja, Rurik! Papa Rudhard lehrte dich vielleicht aus den Alten, daß die delphischen Orakel vieldeutig waren. Ich that Alles, um dies Schicksalswort zu umgehen; ich wollte liebenswürdig, schön sein, ich hoffte irgend eine große Dame würde mich entführen. Ich wollte sterben und fing deshalb zu bauen an. Aber Alles vergebens. Was ist zu thun? Komtesse Olga hat eben, wie das dem Charakter unsrer Zeit entspricht, selbst gewählt, Paulowna zieht jedem Eheglück noch die Kunde vor, welche Torte es heute Mittag geben wird, und wo soll ich diese Gäste all' herbergen, wo anders meine Diners und Soupers nun veranstalten, als in dem fertigen linken Schloßflügel, wohin ich wiederum gelobt habe, nur die Dame zuerst zu führen, die einst die Meine sein wird?

Alles blickte auf Olga, auf die Fürstin ... Anna von Harder nahte sich aber Beiden, die sich abwandten, liebevoll ... Es war ein mächtiger Eindruck für Adelen gewesen, als sie nach so langer Trennung ihr wildes Kind wiedersah. Sie war ihr erschienen wie eine ihr fast Fremde, wie eine Jungfrau, die sie nie gesehen, nie gekannt hatte und doch war diese Gestalt die ihrer eignen Olga, das hoheitsvolle, schwärmerische Auge war das Auge ihres Kindes, dessen Erblühen zur Selbständigkeit [3591] sie nicht hatte ertragen können. Gedemüthigt durch Siegbert, der seiner Empfindungen jetzt kein Hehl mehr machte, sich würdevoll sammelnd vor Anna's sittlicher Hoheit sprach sie zum Baron:

Mon cher Baron, outre mes enfans il s'en trouve ici d'autres encore, parmi lesquels vous êtes le plus deraisonnable. Pour vous empêcher de vous ruiner par vos mille folies il vous faudrait une gouvernante, qui reglât un peu vos penchants dangereux.

Und Dystra erwiderte:

Madame, je suis ravi de vos bonnes intentions pour moi. Depuis bien longtemps il fallait un mariage de raison, comme celui que j'aurai l'honneur de contracter avec vous, pour en compléter ma collection de mille et une folies, les curiosités du siècle.

Damit gab Dystra mit der ihm eignen Grazie den Arm der Fürstin, die sich von ihm zum Schlosse hinaufführen ließ, während die Andern frohbewegt folgten. Spartakus und Cicero schritten aus Rücksichten heute in Tscherkessentracht voran ...

Das die Freude! ... Und auch Louis Armand hatte Fränzchen liebevoll begrüßt. Auch er war erlöst von seinem früheren ohnmächtigen Träumen, auch er hatte durch den Umgang mit bedeutenden Männern, die ihn zu sich emporzogen und zu einem großen Wirken verwandten, das einseitig nagende Isolirungsgefühl des begabten höherberufenen Handwerkers verloren und an seinem Beispiele gezeigt, wie alle Gefahren des Kommunismus [3592] verschwinden würden, wenn der Staatsbau auch die regste Theilnahme des heraufdrängenden vierten Standes an ihm zuließe, ordnete und regelte; auch er hätte froh sein dürfen. Aber ... die Männer kamen vom Herzensglück bald auf das Leid des Allgemeinen zurück, auf den Tod Hackert's, den Untergang des Vermögens. Dankmar gab jede Hoffnung auf. Er sagte, daß aus Rücksicht der vielen zweideutigen Umstände, die den Verlust begleiteten, keine Hoffnung auf den Erfolg eines Amortisationsprozesses und der Erneuerung der schon theilweise in Umlauf begriffenen Zahlung da wäre. Rodewald's rechtskundige Meinung sollte befragt werden. Man suchte ihn, rief ihn. Er fehlte, war eben verschwunden, hatte aber die Bitte, seinetwegen nicht bekümmert zu sein, selbst wenn er bis morgen ausbliebe, beruhigend zurückgelassen. Man rieth, daß er sich wol um das Schicksal Murray's kümmerte. In Murray den Vater des unglücklichen Hackert wiederzufinden – die Mutter blieb denn in der That Jedem unbekannt – war den Freunden eben so überraschend wie schmerzlich gewesen. Ihre Blicke gingen in die Zukunft. Jeder gedachte des Looses, das er gezogen ... Dystra blieb vielleicht mit der Fürstin und den Kindern auf dem Tempelstein, dessen Einfriedigung den Baron halb zum deutschen, halb zum fränkischen Bürger machte; denn noch tief in das jenseitige Land ging sein Besitzthum. Rudhard blieb sicher noch treu in ihrem von Frohsinn, Glücksgütern und Bildung gehobenen Kreise. Leidenfrost vollendete ohne Zweifel [3593] den Bau. Vor Entdeckung seines Namens schützte die Rückkehr zu seinem wahren: Max Brüning. Sein Vater, der greise Invalid, bewohnte eine Grenzhütte auf dem jenseitigen Abhang des Gebirges. Werdeck fehlte in diesen Tagen nicht in der Tempelabtei. Aber er kehrte nach Paris zu seinem Weibe zurück. Unterricht in der Mathematik von seiner, die Kunst, Blumen zu machen von ihrer Seite fristeten das Loos zweier Menschen, die dem Kreise der Anschauungen, in denen sie erzogen waren, sich mit einem Heroismus entwunden hatten, der Bewunderung verdiente. Wir haben von diesem Ehebund, der kinderlos blieb, den Vorhang nur dann und wann gelüftet gesehen. Bedurfte das feste treue Ausharren an einer einmal erfaßten Idee der gleichen Schilderung, wie die in Krümmungen irrende allmälige Entwickelung sich langsam läuternder Herzen? Was bedarf es auch jetzt mehr, von diesen Edlen zu sagen, als daß Werdeck die Theorie der Curven und Gleichungen in Paris lehren wird, Jagellona Blumen macht, wie sie in dem Kloster gefertigt wurden, das sie und Max Brüning erzog? Diese Flüchtlinge lebten zu Paris im fünften Stock, entbehrten, hatten Sorgen genug, aber unter dem frühgebleichten Haar glühten die alten Hoffnungen, die unversöhnten Nemesisgedanken der Geschichte. Jagellona ertrug den Widerspruch ihres Herzens mit dieser kalten Erde nicht lange. Ein Grab auf dem Père la Chaise, in der Nähe des Denkmals von Abälard und Heloise, nicht zu fern von Ludwig Börne, von Foy, Lafayette, Armand Carrel schmückten Immortellenkränze [3594] einen Hügel, auf dem sich Werdeck und Leidenfrost zuweilen des Jahres die Hände reichten und nur beklagten, daß Jagellona's Heldenseele in diesem matten Frieden, nicht im Donnerrollen großer Thaten aushauchte.. Und Louis Armand? Was konnte ihm die Zukunft Schlimmes bringen? Er nahm nur für einige Zeit in Frankreich mit seinem begüterten Weibe den Aufenthalt, er hoffte die Rückkehr auf einen Boden, der ihm zur zweiten Heimat geworden war ... Und Dankmar und Siegbert? Sie, die in der Grenzhütte des alten Invaliden auf fremdem Boden zu übernachten pflegten, verbanden sie sich nicht bald durch die Ehe mit den Mädchen ihrer Liebe? Jener rüstete sich gewiß auf die ersten großen Wirkungen des Bundes, an dessen Ausbildung er fortarbeitete; dieser beschloß, begleitet vom Bruder bis zur Schweiz, weiter zu ziehen – mit Olga – in das Land der Ideale und zu einer Kunstübung, zu der ihm Oleander einst als Regel schrieb:


Wie lieb' ich, wenn ein Mädchen auf sich hält,
Nicht jeden Tänzer nimmt, nicht jeder Fiedel tanzt!
So auch der Künstler, der nicht schmeichelt aller Welt
Und gegen Vortheil sich zumeist verschanzt!
Deshalb ist Gunst und Kunst verwandt und Gönnen Können,
Weil Können soll die Gunst dem Rechten gönnen.

Anna ließ sich doch wol Selma nicht nehmen? Sie blieb doch wol bei Dankmar, dem die Schweiz ein Asyl werden sollte bis zum Tage, wo die ersten Schranken der künstlichen [3595] Ordnung, die uns jetzt regiert, einst fallen würden. Ihm und Rodewald, der sicher nach Hohenberg zurückkehrte, schien dieser Tag nicht zu fern. Selbst Louise Eisold blieb hinter Denen nicht zurück, die auch von ihr eine Zukunft prophezeien wollten. Die Einigung mit Mangold wurde ein Liebesopfer für ihre Geschwister, wenn sie auch dann und wann wehmüthigst an Danebrand dachte und an Hackert, der ihr kein Begriff wie Oleander'n, sondern ein Mensch war, ein Mensch mit einem verhängnißvoll beklagenswerthen Leben! Ein Mensch, der, wenn all' unser Dasein ein Versuch zum Lichte aufwärts sich zu schwingen zu nennen, in diesem Fluge so früh scheitern mußte! Ein Mensch, wunderlich wie jene Pflanze, die auch halb ein Thier ist, wie jener Stein, der auch Pflanzenform angenommen, aber fühlend auch und, hätte er Liebe gefunden, nicht doppellebig! Ein Mensch, der, weil er zu früh die schönsten Blüthen des Lebens zu flüchtig abgestreift, den Rest des Daseins schaal und nichtig finden mußte!

Damals aber beim Dämmerlichte des verschleierten, hinter den Tannenwipfeln aufsteigenden Mondes versammelten sich Abends nach dem Brande aus den ringsumliegenden Weilern, Gehöften, Dörfern und Schlössern die geheimnißvollen Maurer des Tempelsteins noch einmal und eines Jünglings Stimme sprach:

Der Bund ... er ist geschlossen! Der Segen aber, den irdische Mächte darüber sprechen sollten, ist bedroht und für jetzt verloren. Der Hort – versunken! Ob Kunst [3596] der Rede, ob Auslegung der Gesetze ihn wieder heraufbeschwören werden aus den Fluthen, ich weiß es nicht. Der Bund des Geistes, ich ahn' es, soll ganz vom Geiste sein. Nicht können wir kämpfen mit goldenen Waffen, nicht mit dem Klang des Silbers locken und mit metallener Musik aufspielen, wenn wir Märtyrer ermuntern und belohnen wollen. Sie müssen leiden um ihrer selbst willen. Die Wahrheit selbst muß sie lohnen, die Dornenkrone ihr Geschmeide sein. Hunger, Entbehrung, Verachtung ... wer nennt die grauen Trabanten des Genius, die ihm das Geleite geben durch diese Erde, diese Vorschule irgend eines Himmels! Klingt mir nicht nach ein Wort aus der Jugend, ein Wort, das einst auch in diesen Räumen widerhallte, wenn die Templer hier belehrt wurden, daß das Kreuz auf ihrem Mantel das größte Lebensgut wäre, klingt mir's nicht nach, daß einst ein großer Heiland sprach: »Das Reich Gottes ist eine köstliche Perle und besser denn Silber und Gold sind seine Schätze. Das Reich Gottes ist in uns; der verborgne Mensch des Herzens, unverrückt im sanften stillen Geist, der ist kostbar vor dem Herrn!« Sanft und still kann der Geist dieser Zeit nicht sein, Ihr Brüder! Ach, daß die Zeit der Langmuth nichts gefruchtet hat zwei Jahrtausende lang und daß nicht mehr des Geistes Symbol die Taube sein darf! Wie die Möve flattert vor dem Sturme, so irrt das Denken der Gerechten hin und her und sucht und klagt und stößt Schmerzenslaute aus. Wer kann schlafen? Will es die endliche Natur auch des Geistes, so sei's mit der [3597] Hand an dem Griff des Schwertes. Wirket! Werbt! Sucht auf den Gemeinplätzen der Alltäglichkeit die Vierblätter der Gesinnung! Krieger, Gelehrte, Dichter, Künstler, Staatsmänner, Handelnde, Gewerbfleißige, daß wir Opfer bringen wollen, daß wir irdischem Lohn entsagen, daß wir nur mit dem Gedanken wirken können, kann es Euch schrecken? Bleibt Ihr heute Die, die Ihr gestern waret?

Feierlich widerhallte die Ruine von der einstimmigen Betheuerung. Es war wie der Schlag einer einzigen großen Welle, die kommt und so wie sie kam, auch wieder vom Ufer weicht.

Zwölf schlug es von den Thürmen aus dem Thal. Man hatte sich spät versammeln müssen, weil der Brand von Buchau manche Herberge entlegener gerückt hatte. Die Ritter vom Geiste trennten sich mit der Loosung der neuen Versammlung im nächsten zweiten Jahre und dem Vorsatze, auf die Zeit zu wirken mit der Lehre: Wächst nur das schnellere Einverständniß der Edlen und Guten, zielen wir nur auf einen solchen majestätischen Akkord der Übereinstimmung, wie wenn gleichsam ein Naturphänomen am Himmel von Millionen um dieselbe Minute beobachtet wird, mit denselben Empfindungen, demselben elektrischen Schauer über die halbe Welt hin, so fallen die Fesseln des Geistes von selbst und sind wie Spinnenweben!

Man staunte in allen Fremdenbüchern der Umgegend, grade in diesem Herbst so viel hochgefeierte Namen zu [3598] lesen ... man pries deshalb die bisher fast unbekannte Gegend, das grüne sonnenwarme Thal zwischen rauhen, hohen Bergebenen, die Geschichte dieses Thales, die in erwiesensten Thatsachen zurückgeht auf die Römerzeit, pries den Fluß, der, sich ringelnd wie eine gezähmte Schlange, von den Uferwänden nicht loskommen, sich nicht trennen könne von dem frohen Leben dieser Städte und Weiler und von einer Bewegung vorwärts immer wieder eine rückwärts versuche, man rühmte den klaren, perlenden hier gezogenen Wein und wie er mit Emsigkeit gewonnen würde auf den künstlich gepflegten und durchbauten Abhängen, man sang Lieder auf den Fluß, seine milde Rebe, rühmte Buchau, Dystra's Bauten ... Das Auge der Uneingeweihten wußte nichts von den beiden Mondnächten in der Abtei der alten Templer.

Nach Mitternacht stiegen Siegbert, Dankmar, Louis Armand, Werdeck und Leidenfrost zu der Höhe empor, wo sie auf fremdem Gebiet in der Hütte des greisen Invaliden übernachteten ...

Die Sonnenrosse waren fast schon sichtbar an dem rothen Glanz, den ihre Nüstern aussprühten und ihre Hufen auf das östliche Thor des Himmels schlugen, als die Freunde von dem Alten, der sie bewirthete wie bei ihm Eingemiethete, für heute Abschied nahmen ... Werdeck wollte nach Paris.

Wäre der Verlust des Schreins, das entsetzliche Ende Hackert's, die Ungewißheit über die Folgen eines Verlangens um Wiederherstellung der Stadtkämmereischeine [3599] nicht gewesen, sie hätten fröhlich blicken, glücklich sich trennen können. Aber auch so sagte Dankmar:

Freunde, mit meinem Erbe war mir's immer wie mit einem Traume! Die Wirklichkeit der Entscheidung zieh' ich allen halben und schwebenden Lagen vor. Man bindet die jungen Bäume an einen Stab, den später ihr Wachsthum und Gedeihen von selbst entfernt. So ist der Prozeß, der all' unser Streben und Wollen emporhielt, ein solcher jetzt überflüssig gewordener Stab gewesen. Nur wenn die Kinder Geschichte noch nicht fassen, naht man sich ihnen mit Mährchen.

Die Freunde aber trennten sich, auf die Wiederherstellung hoffend. Leidenfrost kehrte zum Bau zurück, um dessen wirkliche, heute rückkehrenden Arbeiter als Meister zu begrüßen. Werdeck schlug einen Seitenweg ein, um im Thal zur nächsten Post zu kommen. Die Brüder wollten eine Strecke Louis Armand begleiten, der nach einer andern Richtung im Interesse des Baus Geschäfte hatte. Jeder von ihnen Dreien hatte nun sein Lieb gewonnen, sah die Welt zu neuen Bahnen geöffnet. Die drei Stände der Gesellschaft waren in ihren Mädchen vereinigt, die Adlige, die Bürgerliche, das Mädchen aus dem Volke.

Sie hatten hinunterzuschreiten in den Tannenwald. Noch sprachen sie von Rodewald's plötzlicher Entfernung, seiner Meinung als Juristen, Murray's Zeugniß, als sie auf einer grünen Stelle zwei Männer wie auf sie wartend erblickten. Ein Fahrweg schimmerte durch die [3600] Tannen. Abseits getreten in die Waldung schien ihnen der Eine Rodewald zu sein; den Andern, der in der herbstlichen Morgenkühle einen Mantel trug, erkannten sie nicht, da er das Antlitz abwandte.

Indem kam ihnen Rodewald schon grüßend entgegen, fragte, ob sie sich drüben gesammelt, gefunden, ausgesprochen hätten? Als er leidlich wohlgemuthe Mienen fand, er auch Siegberten zu Olga's ihn nicht überraschendem Besitze Glück gewünscht hatte, antwortete er auf die Frage nach seiner Entfernung, seinem nächtlichen Aufenthalt und dem abgewandten, dort im Grünen stehenden Gaste:

Auf Eurem Tempelbau hattet Ihr diese Nacht einen Zeugen, den Ihr vor einem Jahre kaum frei aus Eurer Mitte hättet scheiden lassen ...

Statt Templer, sagte Dankmar, wären wir Assassinen geworden?

Seht ihn Euch an, sagte Rodewald und zeigte auf den Fremden, der näher tretend den Mantel auseinanderschlug.

Das Unerwartetste geschah den Freunden ... Es war Egon ...

Nur an seinem Auge, nur an seinem Gruß erkannten sie den Fürsten. Sonst erinnerte in Haltung, Frische und Lebendigkeit nichts mehr an den alten Egon, den sie zum letzten Male den Ihrigen genannt hatten, als er mit ihnen im Pavillon seines Vaters speiste und von Helenen sich losreißend zum Könige fuhr.

[3601] Euer Kleeblatt, sagte Rodewald zu den Erstaunen den, soll vier Blätter tragen ... Begrüßt Euch ohne Groll und denkt, sich so wiederzufinden ist ein Weiheaugenblick!

Rodewald selber trat, als er diese Worte gesprochen, zurück, wandte sich dem Gebüsche zu, wollte die alten, von ihrem Glauben auseinandergerissenen Freunde nicht stören. Die Gewißheit: Dieser einsame Wandrer da im Dickicht der Landesgrenze ist der vielgenannte, vielbewunderte und vielverwünschte allmächtige Egon! hatte etwas Überwältigendes. Wie kam Rodewald zu dieser nahen Verbindung? Man wußte nur, daß sie sich in jüngster Zeit erkannter gefunden hätten. Die ganze Nähe ahnte Niemand.

Egon ergriff zuerst das Wort. Er reichte Jedem die Hand und sprach:

Louis Armand, Siegbert, Dankmar Wildungen! Auf dem Schlosse Buchau hab' ich gestern die Gewalt, die ich zwei Jahre bekleidete, in die Hände des Fürsten zurückgegeben und stehe nun wieder Euch eben so frei gegenüber wie damals, als wir so eng verbunden nach dem Schlosse Solitüde fuhren. Mistraut Dem nicht, was ich Euch zu sagen habe, Euch sagen muß, um mit erleichtertem Herzen die Wiederherstellung meiner zerrütteten Gesundheit in südlichen Ländern zu suchen. Wisset zuvörderst, ich war Zeuge Eurer beiden Nächte auf dem Tempelstein!

Die Freunde erstaunten, schraken fast zurück ...

Beim Brande erkannte ich Euch und bewunderte die [3602] Großherzigkeit, mit der Ihr das Geschick Eures Erbes ertruget! Und nicht die Furcht der Entdeckung allein vor den ringslauschenden Späheraugen war es, was Eurem Schmerz die laute Sprache raubte, es war die gefaßte Ergebung. In der Reihe von Wägen, Reitern, die beleuchtet vom Flammenschein in der Ferne standen und das Schauspiel, wo Rettung vergebens, betrachteten, wurde Euer Muth bewundert, wie Ihr Drei noch überall waret, überall noch angriffet, den Nachtwandler suchtet, der schon Asche war, ihn suchtet, nicht das Eurige ... ein Unglück, das Niemand ahnte. Nach Abgabe meines Portefeuilles sprach ich Rodewald, erfuhr Alles, was geschehen, sprach in dieser Nacht auf Dankmar's Frage das majestätische Ja! das feierlich in den Ruinen widerhallte –

Ist's möglich? konnte Louis Armand nicht umhin, den alten Freund, den Geliebten seiner Schwester Louison, zu unterbrechen ...

Ja, Louis, sagte Egon, sich zu ihm wendend. Da bin ich nun von meinem Feldzuge zurück! Seht in mir den müden Kämpfer, der aus tausend Wunden blutend sein Haupt auf jenen Stein legt, den man Undank nennt. Sagt nicht, daß ich der Erste war, der auf Euch, die Ihr mich emportrugt, diesen Stein warf ...

Dankmar runzelte die Stirn ...

Dankmar, unterbrach Egon die Erregung des strenger Urtheilenden, Dankmar, wär' es meiner würdig gewesen, ein Anderer zu sein, als ich sein konnte? Mit Euch in den Hainen der Akademie wandeln und über Gott, Freiheit, [3603] Unsterblichkeit, Staat und Gesellschaft unter den von Epheu und Asphodelos umschlungenen Arkaden der Philosophie, unter dem blauen Himmel der Idealität, Sokratische Ansichten tauschen und diese feudale Welt regieren, das sind zwei Gegensätze wie Süd und Nord. Konnt' ich Euch von der Tribüne des modernen Staates in Eure luft'gen Träume folgen?

Dankmar begann die Erwiderung, daß der oben im Tempelstein geschlossene Bund ein von der sonstigen möglichen Einwirkung auf die Zeit völlig unabhängiger Traum wäre. Aber Siegbert, der milder Gestimmte und von Egon's Anblick Gerührte, schnitt die strafende Rede des Bruders sogleich ab und winkte nur Egon zu sprechen.

Haltet mir nicht entgegen die Zerrbilder, wie Ihr mich auffaßt! sagte der Fürst. Adelsstolz zuvörderst? Ich kenne die Geschichte des Adels ... Was Euch die plötzlich in mir erwachte aristokratische Regung schien, war nur mein Erstarren über die Nothwendigkeit, die Geschichte der Grundsäulen, auf denen die einmal gegebene Gesellschaft ruht, nicht lange erst untersuchen zu dürfen, den Blick abwenden zu müssen von dem Werden und nur das Gewordene festzuhalten, das Wie zu opfern, um das Was zu schützen ... Freunde, Ihr sprachet dann von Rechten, ich von Pflichten, wir waren ehrlich gegen einander und ich bin es noch jetzt, daß ich nicht die mir gewordene Offenbarung verschließend und mein Haupt verhüllend davonziehe, sondern Euch sage: Dieser Zeit muß wohl etwas kommen, wie Euer Bund oder wenigstens der Geist [3604] Eures Bundes, sonst bricht diese Gesellschaft in Trümmer!

Rodewald war näher getreten und hörte ruhig der Erörterung zu, die sich im langsamen Gehen über die Rückblicke auf die Vergangenheit ergab. Egon erklärte, daß eine Zeit, wo die Könige auf den Egoismus mehr hörten als auf die Stimme einer sich selbstbeherrschenden, auf Geschichte begründeten Weisheit, in ihrer gegenwärtigen Ordnung verloren sei. Egon war mehr Republikaner als selbst Louis Armand, der den um ihn geschlungenen Arm des alten Freundes an sein Herz drückte und die Thränen seiner Rührung nicht verbergen konnte. Dankmar aber erfreute Alle, indem er zugestand:

Egon uns also wiedergewonnen! Nie schätzte ich dich mit dem Maaße geringer Naturen! Du hast versucht, ein Staatsmann zu sein, der die Gesellschaft vor dem Schicksale einer regellosen, wilden Auflösung bewahren wollte. Du suchtest das Prinzip der Ergebung in das Bestehende, der Ordnung, der allmäligen Besserung, der Legitimität selbst bis in die Werkstatt auf, wo du patriarchalische alte Gliederung verlangtest. Du hast gesehen, daß dies System der absoluten Ordnung an dem wühlenden Zorn des sich Gott gleichmachenden Königthums und seines schlimmen Gefolges von Egoismus und falscher Lehre selbst scheitert. Die Machthaber wollen keine Begriffe sein, sondern nur Personen. Ich gebe dir die beiden Mondnächte auf dem Tempelstein Preis! Du bist noch zu erfüllt von den Mitteln, mit denen du regieren mußtest, die [3605] ganze Maschine der üblichen Gesellschaftspraxis tönt dir noch in ihrem ewigen groben Gehämmer zu dröhnend in's Ohr, du siehst deine Gendarmen, deine Richter, deine Soldaten, deine Kanonen noch zu metallen ...

Nein, nein, unterbrach Egon, diese Waffen sind nichts ohne ein strahlendes Banner, das über Aller Häuptern weht! Deine Reisige vom Geiste brauchen nicht einmal zu kämpfen. Sie haben nichts nöthig, als den Blick empor zu richten, in ein Buch, das sie studiren, zu sehen, in eine Harfe zu greifen, wo sie ihre Empfindungen austönen, in ihr Herz, das sie reinigen und läutern wollen. Sie haben nichts zu thun als nur dieser Gesellschaft der ewigen Lüge sich abzuwenden, ihr nicht zu dienen, ihr zu fehlen, stumm zu bleiben, wenn sie reden sollen, das Haus zu schließen, wenn man sie um Hülfe ruft. Dann wird sich die furchtbare Isolirung dieser herrschenden Gesellschaft bald zu Tage geben, die schaudererregende Minorität, in der sich plötzlich der Stolz und die Anmaßung betreffen müssen. Ich habe so tief in die Abgründe der Zukunft geblickt, daß ich schweige, um Euch nicht zu ermuthigen, mehr zu wagen als jetzt schon geschehen ist.

So wechselte man die Meinungen, legte die Hände ineinander, fand sich in den überraschenden Augenblick, ergriff ihn mit Liebe, mit Vorsätzen für die Zukunft, auch mit dem Austausch der gegenwärtigen Lebensschicksale. Egon sprach von der ihm zulässig scheinenden Wiederherstellung des Vermögens, von den geschlossenen Liebesbünden, von seiner Reise und machte die Freunde auf [3606] einen Wagen aufmerksam, der langsam mit ihnen zugleich bergab gefahren war auf der durch den Wald nicht ganz verdeckten tiefer liegenden Straße. Jetzt wurde das große Coupé sichtbar. Egon stand still und umarmte Jeden der Anwesenden zum Abschied mit Herzlichkeit. Und zu Louis Armand sagte er:

Auch du willst dir eine Hütte bauen mit einem deutschen Mädchen! Nach einigen Jahren hoff' ich dich wieder und dein Weib zu begrüßen. Nenne deinen ersten Knaben: Egon! Nicht um Meinetwillen! Nein! Es ist gut, daß man an sein Ich so oft erinnert wird, daß man schon darum die Welt sich ewig zurufen hört: Vergiß auch mich nicht! Louison, Helene, Ihr Alle nanntet mich das Prototyp des Egoisten und Jedes der Beklagenden hatte Ursache, sich verletzt zu fühlen. Dennoch wollt' ich zu allen Zeiten nur wahr gegen mich selber sein. Denkt über die Grenze dieses Wahrheitstriebes nach! Mir zeichnet sie leider nur meine kranke Ruhe und die Ergebung –

Man blickte auf den Wagen und vermuthete in ihm die Fürstin ... Die Umarmung Rodewald's durch Egon, der zitternd stille Abschied zwischen diesen Beiden blieb im Forschen nach der Fürstin fast unbemerkt. Mit tausend Glückwünschen für das Leben, Abschiedsworten für die nächste Trennung und den Hoffnungen des Wiedersehens schieden endlich die so wunderbar sich Wiederfindenden.

Als der Wagen dahinrollte, grüßte aus ihm ein Frauenantlitz. Es war die Fürstin, die nicht ahnte, was ihr nach [3607] Nizza, wohin die Reise zunächst ging, für eine Schmerzenskunde über den Vater würde geschrieben werden ...

Es ist Melanie! sprachen die Brüder, bewegt genug durch Das, was ihnen Beiden einst, ehe sie die festen Sterne: Selma und Olga fanden, dieser leuchtende, irrende Komet gewesen war. Dankmar gedachte der Empfindungen, die Melanie bei der Nachricht über Fritz Hackert's Ende überrieselt haben mußten ... Er konnte nicht umhin zu sagen:

Seit ich nun weiß, daß Egon in Nizza für eine entschwundene Jugendkraft und ein wilddurchkostetes Leben letzte Sammlung und Ruhe sucht, versteh' ich diesen Bund und begreife, daß es eine Stimmung im Manne gibt, wo er von den Frauen nichts, nichts als nur noch ein schönes, heitres, ihm dankbar ergebenes Umwehen und holdes, stilles Umwalten besitzen will!

Von Rodewald nahm nur Louis Armand Abschied, den die Versicherung beglückte, daß er in Franziska Heunisch ein bewährtes, treues, sinniges, deutsches Weib sich gewonnen. Die Brüder sahen Rodewald heut' Abend wieder und trugen ihm einstweilen an Selma und Olga, an Anna von Harder, Dystra, Rudhard und die so plötzlich in die Bahn der Besinnung und des sittlichen Taktes eingelenkte Fürstin Adele die liebevollsten Grüße auf.

Hinuntersteigend zu dem fränkischen Städtchen, wo sie von Louis Armand schieden und wo sie im Gasthofe an Freunde, Bundesgenossen, auch an den Wohlweisen und Wohledlen Rath der königlichen Residenz Briefe und Eingaben [3608] schreiben und zur Post befördern wollten, blickten sie noch einmal aufwärts und sahen Rodewald mit dem Tuche winken ...

Sie wußten nicht, galt dieser Gruß ihnen oder galt er Egon, dessen Wagen in den Krümmungen des absteigenden Weges noch eine Weile sichtbar blieb, bis er sich in dem Staub und den Sonnennebeln der großen nach Süden führenden lothringischen Landstraße verlor.

Rodewald's Grüßen hatte aber – dem Sohne gegolten. Wie er so einsam den Gebirgskamm überstieg, überschlich ihn der wehmüthige Gedanke: Du hast ihn zum letzten mal gesehen! In ihm hat ein vulkanisches Feuer gebrannt und die Hülle seines Geistes ist wol für immer zerstört.

Erst in den Umarmungen Selma's, in den frohen Grüßen der Jungen und Alten auf dem Tempelstein, deren regierendes und berathendes Haupt er bald geworden war und nun bleiben sollte, sammelte sich Rodewald zu seinem offen dargelegten und der Welt bekannten Leben wieder, von dem wir, da die Gränze der Gegenwart wol von uns schon längst überschritten ist, auch nur noch ahnen können, daß es reich an ernsten Pflichten und von mancher Sorge getrübt verlaufen sollte, aber doch vieler eignen Freude und des erhebenderen Blickes auf die Freude Anderer sicher nicht entbehrte.

Und Oleandern einst begrüßend in dessen kleinem Erkerstübchen, alles Nahe und Ferne, Lebende und noch Webende, Abgeschnittene und doch wie die Wiederherstellung des verbrannten Schatzes hoffnungsvoll neu [3609] sich Anknüpfende, überfliegend, klagend über die durcheinanderlaufenden Fäden des Menschengeschicks und die unbefriedigend plötzlich oft durchschnittene Lösung des Momentes, vernahm er von diesem die beruhigenden, fast lächelnd gesprochenen Worte:


Ein Faden, ewig ausgesponnen,
Ist jedes Stäubchen Sonnenlicht!
Die Ewigkeit hat nie begonnen –
Was nie begonnen, endet nicht!

Ende des Romans.

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TextGrid Repository (2012). Gutzkow, Karl. Romane. Die Ritter vom Geiste. Die Ritter vom Geiste. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-1723-B