288. Der Grenzlauf

Über den Klußpaß und die Bergscheide hinaus vom Schächentale weg erstreckt sich das Urner Gebiet am Fletschbache fort und in Glarus hinüber. Einst stritten die Urner mit den Glarnern bitter um ihre Landesgrenze, beleidigten und schädigten einander täglich. Da ward von den Biedermännern der Ausspruch getan: zur Tag- und Nachtgleiche solle von jedem Teil frühmorgens, sobald der Hahn krähte, ein rüstiger, kundiger Felsgänger ausgesandt werden und jedweder nach dem jenseitigen Gebiet zulaufen und da, wo sich beide Männer begegneten, die Grenzscheide festgesetzt bleiben, das kürzere Teil möge nun fallen diesseits oder jenseits. Die Leute wurden gewählt, und man dachte besonders darauf, einen solchen Hahn zu halten, der sich nicht verkrähe und die Morgenstunde auf das allerfrühste ansagte. Und die Urner nahmen einen Hahn, setzten ihn in einen Korb und gaben ihm sparsam zu essen und saufen, weil sie glaubten, Hunger und Durst werden ihn früher wecken. Dagegen die Glarner fütterten und mästeten ihren Hahn, daß er freudig und hoffärtig den Morgen grüßen könne, und dachten damit am besten zu fahren. Als nun der Herbst kam und der bestimmte Tag erschien, da geschah es, daß zu Altdorf der schmachtende Hahn zu erst erkrähte, kaum wie es dämmerte, und froh brach der Urner Felsenklimmer auf, der Marke zulaufend. Allein im Lintal drüben stand schon die volle Morgenröte am Himmel, die Sterne waren verblichen, und der fette Hahn schlief noch in guter Ruh. Traurig umgab ihn die ganze Gemeinde, aber es galt die Redlichkeit, und keiner wagt es, ihn aufzuwecken; endlich schwang er die Flügel und krähte. Aber dem Glarner Läufer wird's schwer sein, dem Urner den Vorsprung wieder abzugewinnen! Ängstlich sprang er und schaute gegen das Scheideck, wehe, da sah er oben am Giebel des Grats den Mann schreiten und schon bergabwärts niederkommen; aber der Glarner schwang die Fersen und wollte seinem Volke noch vom Lande retten soviel als möglich. Und bald stießen die Männer aufeinander, und der von Uri rief: »Hier ist die [280] Grenze!« – »Nachbar«, sagte betrübt der von Glarus, »sei gerecht und gib mir noch ein Stück von dem Weidland, das du errungen hast!« Doch der Urner wollte nicht, aber der Glarner ließ ihm nicht Ruh, bis er barmherzig wurde und sagte: »Soviel will ich dir noch gewähren, als du mich an deinem Hals tragend bergan laufst.« Da faßte ihn der rechtschaffene Sennhirt von Glarus und klomm noch ein Stück Felsen hinauf, und manche Tritte gelangen ihm noch, aber plötzlich versiegte ihm der Atem, und tot sank er zu Boden. Und noch heutigestages wird das Grenzbächlein gezeigt, bis zu welchem der einsinkende Glarner den siegreichen Urner getragen habe. In Uri war große Freude ob ihres Gewinstes, aber auch die zu Glarus gaben ihrem Hirten die verdiente Ehre und bewahrten seine große Treue in steter Erinnerung.

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TextGrid Repository (2012). Grimm, Jacob und Wilhelm. Sagen. Deutsche Sagen. Erster Band. 288. Der Grenzlauf. 288. Der Grenzlauf. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-08F9-4