68. Die Frau von Alvensleben
Vor etlichen hundert Jahren lebte zu Kalbe in dem Werder aus dem Alvenslebischen Geschlecht eine betagte, gottesfürchtige, den Leuten gnädige und zu dienen bereitsame Edelfrau; sie stand vornehmlich den Bürgersweibern bei in schweren Kindesnöten und wurde in solchen Fällen von jedermänniglich begehrt und hochgeehret. Nun ereignete sich aber folgendes: Zu nächtlichen Zeiten kam eine Magd vor das Schloß, klopfte an und rief ängstlich: sie möge ihr doch nicht zuwider sein lassen, womöglich alsobald aufzustehen und mit hinaus vor die Stadt zu folgen, wo eine schwangere Frau in Kindesnot liege, weil die äußerste Stunde und Gefahr da sei und ihre Frau ihrem Leibe gar keinen Rat wisse. Die Adelfrau sprach: »Es ist gleich mitten in der Nacht, alle Stadttore sind gesperrt, wie wollen wir hinauskommen?« Die Magd antwortete: das Tor sei schon im voraus geöffnet, sie solle nur fortmachen (doch sich hüten, wie einige hinzusetzen, an dem Ort, wo sie hingeführt werden würde, nichts zu essen noch zu trinken, auch das ihr Angebotene nicht anzurühren). Darauf stand die adlige Frau aus dem Bett, zog sich an, kam herunter und ging mit der Magd fort, welche angeklopft hatte; das Tor fand sie aufgetan, und wie sie weiter ins Feld kamen, war da ein schöner Gang, der mitten in einen Berg führte. Der Berg stand aufgesperrt, und ob sie wohl sah, das Ding wäre unklar, beschloß sie doch unerschrocken weiterzugehen, bis sie endlich vor ein kleines Weiblein gelangte, das auf dem Bette lag in großen Geburtswehen. Die adlige Frau aber reichte ihr Hilfe (nach einigen brauchte sie nur die Hand ihr auf den Leib zu legen), und glücklich wurde ein Kindlein zum Tageslicht geboren. Nach geförderter Sache sehnte sie sich wieder aus dem Berg heimzugehen, nahm von der Kindbetterin Abschied (ohne etwas von den Speisen und Getränken, die ihr geboten waren, berührt zu haben), und die vorige Magd gesellte sich ihr aufs neue zu und brachte sie unverletzt nach dem Schlosse zurück. Vor dem Torweg aber stand die Magd still, bedankte sich höchlich in ihrer Frauen Namen und zog einen [87] güldenen Ring vom Finger herab, den verehrte sie der adligen Frau mit den Worten: »Nehmet dies teure Pfand wohl in acht und lasset es nicht von Euch noch von Eurem Geschlecht kommen; die von Alvensleben werden blühen, solange sie diesen Ring besitzen; kommt er ihnen dermaleinst ab, so muß der ganze Stamm erlöschen.« Hiermit verschwand die Magd.
Dieser Ring soll noch heutigestages richtig und eigentlich bei dem Hause verwahrt werden und zu guter Sicherheit in Lübeck hinterlegt sein. Andere aber behaupten, er sei bei der Teilung in zwei Linien mit Fleiß entzweigeteilt worden. Noch andere: die eine Hälfte sei zerschmolzen, seitdem gehe es dem einen Stamm übel, die andere Hälfte liege bei dem andern Stamme zu Zichtow. Auch wird erzählt: Die hilfreiche Frau war ein Ehweib; als sie drauf den folgenden Morgen ihrem Ehherrn die Geschichte erzählt, die ihr nachts begegnet, habe er ihr's nicht wollen glauben, bis sie gesprochen: »Ei, wollt Ihr mir nicht glauben, so holt nur die Schlüssel zu jener Stube vom Tische her, darinnen wird der Ring noch liegen.« Es befand sich so ganz richtig. Es ist ein Wunderliches um die Geschenke, die Menschen von den Geistern empfangen haben.