[88] An Jungfer L.A.V. Kulmus

So wahr ich redlich bin,
Entfernte Schäferinn:
Bin ich, es bleibt dabey!
Dir bis zur Grube treu.
Ach fühlte nur mein Herz
Nicht stündlich einen Schmerz,
Der täglich weiter geht,
Und bloß daher entsteht;
Daß ich den ersten Kuß
Von dir entbehren muß.
Zwar als es mir geglückt,
Daß ich dich einst erblickt;
Und dir in kurzer Zeit
Mein ganzes Herz geweiht:
Da that mein blöder Mund
Dir noch so viel nicht kund.
Ich hieß es ein Vergehn,
Und freches Unterstehn;
Aus Furcht: Ihr strenger Muth
Heißt dirs unmöglich gut.
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Denn da ichs einst gewagt,
Und dir auch ungefragt,
Mit großer List einmal
Ein halbes Mäulchen stahl:
Hilf Himmel! wie erhitzt
Hast du auf mich geblitzt;
Und mir so sehr gedroht,
Als ob der ärgste Tod
Noch lange nicht zu schwer
Für meinen Fehler wär.
Drum hab ich nach der Zeit,
Mit mehr Bescheidenheit,
Nur deiner schönen Hand
Die Küsse zugewandt.
Das ließest du zwar zu,
Doch meiner Seelen Ruh
Ward dadurch nicht gestillt:
Obgleich dein Engelsbild
Mir, bis auf diesen Tag
Noch stets im Sinne lag.
Ward mirs hernach erlaubt,
Was ich sonst nie geglaubt,
Zu sagen, Schäferinn!
Daß ich der Deine bin:
O was für Himmelslust
Ergetzte meine Brust!
Allein, was half es mir?
Ich war entfernt von dir;
Drum konnte meine Pein
Noch nicht gestillet seyn.
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Oft geb ich zwar im Traum
Den Fantaseyen Raum;
Da stellt dich Morpheus mir
Nach Herzenswunsche für.
Doch alle Lust ist hin,
So bald ich munter bin:
Da seh ich, was mir fehlt,
Und mich auch schlafend quält;
Weil mich des Schicksals Macht
So weit von dir gebracht.
Verhängniß, ändre dich!
O Schönste! tröste mich:
Denn denke nur einmal,
Was hilft dir meine Qual?
Ach gieb hinfort nicht mehr
Der Sprödigkeit Gehör;
Und schreibe mir ein Blatt,
Das diesen Inhalt hat:
Dir, Schäfer, ganz allein
Will ich ergeben seyn.
Schreib auch, dafern du meynst:
Daß du die Zeit beweinst,
Da du, aus Härtigkeit,
Mir gar zu sehr gedräut.
Dann seufz einmal nach mir:
O wär er wieder hier!
Wie er sonst bey mir saß,
Und sich fast selbst vergaß:
So gäb ich jeden Blick
Ihm doppelt stark zurück.
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Kind! seufzest du also:
So bin ich wieder froh,
Und mein erquicktes Herz,
Vergißt den alten Schmerz.
Vieleicht erblickt mich bald
Dein schöner Aufenthalt:
Alsdann thu ich mit Lust,
Die Triebe meiner Brust
Dir, durch den treuen Mund,
In tausend Küssen kund.

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TextGrid Repository (2012). Gottsched, Johann Christoph. Gedichte. Gedichte. Oden. An Jungfer L.A.V. Kulmus [2]. An Jungfer L.A.V. Kulmus [2]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-E496-2