[233] Gleim an Göckingk

Halberstadt, den 2. November 1781. Abends.


Du Lieber! der die Menschen lehret,
Vergnügt zu seyn in Gott, und sich!
Und den nicht Einer singen höret,
So lauschend, und so froh, als ich!
Was machst du? Singst du neue Lieder
Den Nymphen an der Zorga vor?
Hört Chloe zu? Sind Musenbrüder
Bei dir? Ist es das Musenchor?
Wüßt' ich's, o Freund, ich flöge, flöge
Noch diesen Abend spät, zu dir!
Ich faßte dich beim Arm, und zöge
[234]
Mit deinen Musen dich zu mir!
Versteht sich, wenn die neuen Lieder
Gesungen wären, morgen früh –
Und Abends, spät erst, wär' ich wieder
In meiner Closterzelle, die
Mit Kaiser Nero's goldnen Sälen 1
Ich nicht vertauschte.
Sorgen quälen
In meiner Closterzelle mich
Nur manchen Tag, wenn Herzen fehlen,
[235]
In die mein Herz, wenn's voll ist, sich
Ergießen kann.
In Nero's Sälen,
Und wär' ich Uz auch, würden sie,
Glaub' ich, mich alle Tage quälen.
Erfahrung lehrt's; ich habe nie
Ein hohes Dach, ein prächtig Haus
Von Sorgenschwärmen leer gefunden,
Die meisten oft bei einem Schmaus.
Und, Lieber, ohne Zweifel hast
Auf deinen Reisen in den Stunden
Der Muße, wenn von Hirsch und Hunden
Zurück du warest, halb geschunden,
Auch du derselben wohl gefunden
In einem fürstlichen Pallast!
Und also, weil Erfahrung lehrt,
Daß eben in die goldnen Säle
Die Freude nicht war eingekehrt,
So tausch' ich nicht!
[236]
Die kleine Kehle
Der Virtuosin Philomele
Hör' ich so gut, bei meiner Seele,
Das kleine Ding hör' ich so gut
In meinem kleinen Sanssoucis,
Als Friederich sie hören thut
In seinem großen!
Also zieh,
Mein Göckingk, weiser Biedermann!
Den alten Reiserock nur an!
Und komm gegangen, komm geritten,
Daß ich mein Herz in deines schütten,
Und dich nach Königen in Hütten,
Und meinem Bodmer fragen kann.

Fußnoten

1 Man nannte den goldnen Saal des Kaisers Nero,domus aurea, das goldne Haus. Die zirkelförmigen Bewegungen der Seitenwände dieses Saales, und die Decken desselben, ahmten die Bewegungen des Himmels nach, und stellten die Jahreszeiten vor, die bei jeder Schüsseltracht sich veränderten, und den Frühling über die Gäste mit einem Regen von Blumen und Spezereyen ausbreiteten. – Ut subinde alia facies atque alia succedat, et toties tecta, quoties fercula mutentur. Coenationes laqueatae tabulis eburneis versatilibus, ut flores ex fistulis et unguenta desuper spargerentur. Seneca. ep. 90.

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TextGrid Repository (2012). Goeckingk, Leopold Friedrich Günther von. Gedichte. Lyrische Gedichte. Zweites Buch. Gleim an Göckingk [1]. Gleim an Göckingk [1]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-E061-9