EINLEITUNGEN UND MERKSPRÜCHE DER BLÄTTER FÜR DIE KUNST

Erste Folge. Erstes Heft. 1892

[7] ERSTE FOLGE · ERSTES HEFT · 1892

Der name dieser veröffentlichung sagt schon zum teil was sie soll: der kunst besonders der dichtung und dem schrifttum dienen, alles staatliche und gesellschaftliche ausscheidend.

Sie will die GEISTIGE KUNST auf grund der neuen fühlweise und macheeine kunst für die kunst – und steht deshalb im gegensatz zu jener verbrauchten und minderwertigen schule die einer falschen auffassung der wirklichkeit entsprang. sie kann sich auch nicht beschäftigen mit weltverbesserungen und allbeglückungsträumen in denen man gegenwärtig bei uns den keim zu allem neuen sieht, die ja sehr schön sein mögen aber in ein andres gebiet gehören als das der dichtung.

Wir halten es für einen vorteil dass wir nicht mit lehrsätzen beginnen sondern mit werken die unser wollen behellen und an denen man später die regeln ableite.

Zwar werden wir auch belehrend und urteilend die neuen strömungen der literatur im in- und ausland einführen, uns dabei aber so sehr wie möglich aller schlagworte begeben 1 die auch bei uns schon auftauchten und dazu angetan sind die köpfe zu verwirren.

Es sei hervorgehoben dass wir jeder fehde abgeneigt sind: wenn wir diese blätter verbreiten so geschieht es um zerstreute noch unbekannte ähnlichgesinnte zu entdecken und anzuwerben.

Welche gestalt das unternehmen (ob einfacher ob vergrössert) gewinnt wird unsern lesern mitgeteilt.

Enthalte man sich auch allen streites und spottes über das leben wobei – wie Goethe meint – nicht viel herauskommt.

In der kunst glauben wir an eine glänzende wiedergeburt.

Fußnoten

1 Symbolismus Dekadentismus Okkultismus usw.

Erste Folge. Fünftes Heft. 1893

ERSTE FOLGE · FÜNFTES HEFT · 1893

Vor dem sommerlichen verlassen der stadt nehmen wir von unsern lesern urlaub und danken ihnen für die häufigen zeichen ernster teilnahme und eines geneigten ergänzens unsrer bestrebungen.

Wiewol die bis jezt erschienenen beiträge der zahl nach gering, auch das andeutende oft dem feststehenden vorgezogen wurde so glauben wir doch bereits hinlänglich gezeigt zu haben auf welche bahnen wir dichtung und rede leiten möchten.

Wir schmeicheln uns sogar eine lücke auszufüllen, da gegenwärtig es bei uns kaum ein blatt gibt wo eine dichterische kunst-schöpfung aufnahme fände geschweige denn eines wo ein künstler ihre aufnahme wünschte.

Hat man auch von freundes seite das zu starke vorwalten der reimwerke in unsern heften gerügt so erinnern wir an ›die oft vergessene tatsache dass es keine bessere erziehung für höhere prosa gibt als die strenge beschäftigung mit dem vers.‹

Wir werden auch fernerhin regeln und schulnamen sein lassen, uns verschliessen gegen das flache und alte sowol als gegen das derbe und niedre des zeitgenössischen schreibewesens aber aller jugend offen stehen die nach dem schönen und neuen sucht.

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Zweite Folge. Erstes Heft. 1894

ZWEITE FOLGE · ERSTES HEFT · 1894

Wir eröffnen die zweite folge unsrer blätter mit unveränderter führung und den bereits ausgesprochenen ansichten. obzwar nun nach und nach auch die grösseren dem schrifttum zugetanen kreise diese hefte in augenschein genommen dünkt es uns noch müssig für deren weitere verbreitung sorge zu tragen: wird ja zur zeit das künstlerische in der dichtung besonders vom jüngeren geschlechte gestandenermaassen hintangesezt und verwahrlost.

Von unsrer kleinen arbeiter- und leserschaft aus werden wir so sehr uns jede eigentümliche geistesäusserung willkommen ist ernstlich auf die forderungen der dichterischen erziehung und des geschmackes hinweisen und nach ›jener höchsten freiheit der bewegung‹ streben woraus erst das Werk entsteht.

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Zweite Folge. Zweites Heft. 1894

ZWEITE FOLGE · ZWEITES HEFT · 1894

Nicht bloss in zeiten des übergangs sind die schwankenden bohrenden andeutenden sätze den schulmässig feststehenden vorzuziehen: sie sind die sibyllinischen zeichen aus denen die jugend ihre tiefste anregung empfängt.


NIEDERGANG (dekadenz) in verschiedener hinsicht ist eine erscheinung die man unklugerweise zum einzigen ausfluss UNSRER zeit machen wollte – die gewiss auch einmal in den rechten händen künstlerische behandlung zulässt sonst aber ins gebiet der heilkunde gehört.

Jede niedergangs-erscheinung zeugt auch wieder von höherem leben.


Das SINNBILD (symbol) ist so alt wie sprache und dichtung selbst. es gibt sinnbild der einzelnen worte der einzelnen teile und des gesamt-inhalts einer kunst-schöpfung. das lezte nennt man auch die tiefere meinung die jedem bedeutenden werk innewohnt.

Sinnbildliches sehen ist die natürliche folge geistiger reife und tiefe.


Zwischen ÄLTERER UND HEUTIGER KUNST gibt es allerdings einige unterschiede:

Wir wollen keine erfindung von geschichten sondern wiedergabe von stimmungen keine betrachtung sondern darstellung keine unterhaltung sondern eindruck.

Die älteren dichter schufen der mehrzahl nach ihre werke oder wollten sie wenigstens angesehen haben als stütze einer meinung: einer weltanschauung – wir sehen in jedem ereignis jedem zeitalter nur ein mittel künstlerischer erregung. auch die freisten der freien konnten ohne den sittlichen deckmantel nicht auskommen (man denke an die begriffe von schuld usw.) der uns ganz wertlos geworden ist.

Drittens die kürze – rein ellenmässig – die kürze.


Das GEDICHT ist der höchste der endgültige ausdruck eines geschehens: nicht wiedergabe eines gedankens sondern einer stimmung. was in der malerei wirkt ist verteilung linie und farbe, in der dichtung: auswahl maass und klang.

[10] Viele die über ein zweck-gemälde oder ein zweck-tonstück lächeln würden glauben trotz ihres leugnens doch an die zweck-dichtung. auf der einen seite haben sie erkannt dass das stoffliche bedeutungslos ist, auf der andern suchen sie es beständig und fremd ist ihnen eine dichtung zu GENIESSEN.


ERZÄHLUNG. Man verwechselt heute kunst (literatur) mit berichterstatterei (reportage) zu welch lezter gattung die meisten unsrer erzählungen (sogen. romane) gehören. ein gewisser zeitgeschichtlicher wert bleibt ihnen immerhin obgleich er nicht dem der tagesblätter richtverhandlungen behördlichen zählungen u.ä. gleichkommt.


Eine neubelebung der BÜHNE ist nur durch ein völliges in-hintergrundtreten des schauspielers denkbar.

Warum gerade die bühnen-dichtung die HÖCHSTE sein soll?


KUNSTWERT besizt die arbeit die menschen oder dingen irgend eine neue unbekannte seite abzugewinnen und als möglich darzustellen weiss.


Unsre KUNSTRICHTER (kritiker) bedeuten deshalb so wenig weil sie meist verkümmerte künstler sind die andrer werke bereden und tadeln in der ohnmacht eigne hervorzubringen.


Wenn wir alle FREMDWÖRTER auch die eingewurzelten – alle schlagworte gehören hierzu – wegliessen so bliebe vieles leere ungesagt. wenn ein satz der eines solchen wortes nicht entbehren kann fortfällt so wird weder sprache noch gesellschaft dadurch einen verlust erfahren.


REIM ist ein teuer erkauftes spiel. hat ein künstler einmal zwei worte miteinander gereimt so ist eigentlich das spiel für ihn verbraucht und er soll es nie oder selten wiederholen.


Wir bemerken nun schon seit jahren: in keinem nebenstaate – auch den stammverwandten nieder- und nordländischen nicht-dürfen der gleichen leserstufe solche erzeugnisse als dichtungen dargeboten werden wie bei uns. daraus ergibt sich für die nächstfolgende zeit die verschiedenheit unsrer kunstaufgabe von der unsrer nachbarn.

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Zweite Folge. Fünftes Heft. 1895

ZWEITE FOLGE · FÜNFTES HEFT · 1895

Im verwichenen jahr wurde uns von einigen lesern zugeflüstert dass sie jezt wo wir werke vorzüglicher vertreter der verschwisterten künste angeschlossen hätten auch den erklärenden teil unseres unternehmens gern erweitert sähen. sie bemässen des öfteren nach ihrer eignen die ratlosigkeit der jüngeren anhänger und der älteren freunde. nun scheint uns aber fast das wesentliche in unseren ›Blättern‹ wie in unserer ganzen kunstübung: die verdehnte hergebrachte redeweise zu missachten und vom selbverständlichen genugsam behandelten endlich einmal zu schweigen.

Über unsere jüngeren anhänger – deren gewiss einige erfreuliches gelernt haben – erfuhren wir dass es nicht so sehr das einzelne der GEHALT war, wie das allgemeine DIE HALTUNG was sie schnell bemerkt und sich lebhaft angeeignet haben. und die freunde und wissenden gönner? sie würden uns den lästigen ausleger kaum verdanken: wir wollten sie in einen saal geleiten mit seltenen und wie wir glauben manchen schönen dingen.

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Dritte Folge. Erstes Heft. 1896

DRITTE FOLGE · ERSTES HEFT · 1896

Müssten wir beim beginn unseres fünften jahres nachdem werke von reicher mannigfaltigkeit für uns gesprochen haben noch einmal mit dem bescheid vortreten WELCHE kunst denn in diesen blättern dargestellt sei, wenn nicht einige der besseren schriftkundigen sich immer wieder gemüssigt sähen uns etwas wie eine scheu vor dem wirklichen und eine flucht in schönere vorzeiten als losung unterzuschieben! zu dieser oberflächlichen bemerkung wurden sie wol dadurch verleitet dass manche unserer künstler sich gelegentlich aus einer ferne und einer vergangenheit die sinnbilder zur wiedergabe ihrer stimmung holten.

Wie nun gar häufig, vornehmlich in eben erscheinenden erzeugnissen, das schildern von gegenwart und wirklichkeit diesen gerade so wenig entspricht als losestes träumen, so rückt andrerseits jede zeit oder jeder geist indem er ferne und vergangenheit nach eigner: nach seiner weise gestaltet ins reich des nahen persönlichen und heutigen. wesentlich ist die künstlerische umformung eines lebens – welches lebens? ist vorerst belanglos.

Wenn nun solche die sich berufen glauben eine reinere sowol wiedererweckte als neugeborene kunstauffassung zu geltung zu bringen sich mit einer halbschlächtigen sachführung begnügen, beständig vom zipfel statt vom gewande d.h. vom allernichtigsten nie aber vom allerwichtigsten handeln und unbestrittene errungenschaften mit ohnmächtigen bemühungen in einem atem nennen, können sie der ganzen entwicklung unserer dichtung und unseres schreibtumes zum hemmnis werden. wie sehr diese beiden aber der pflege und entfaltung bedürfen das weiss jeder der ihren heutigen zustand der welkheit mit ihrer eignen ehemaligen oder mit der fremden augenblicklichen blüte vergleicht.

Einfach liegt was wir teils erstrebten teils verewigten: eine kunst frei von jedem dienst: über dem leben nachdem sie das leben durchdrungen hat: die nach dem Zarathustraweisen zur höchsten aufgabe [13] des lebens werden kann: die nach dem unsterblichen Meister des Titan sogar im gewaltigen und schrecklichen ›nicht umwölken und verdunkeln sondern erheitern und erhellen‹ soll: eine kunst aus der anschauungsfreude aus rausch und klang und sonne.

NACHRICHTEN

Unseren mitgliedern gegenüber bleibt uns noch zu reden von einer bevorstehenden erweiterung unsrer hefte ohne abänderung der verbreitungsart, von einer erfreulichen zunahme unsres anhanges vorzüglich seitens der bildenden künstler, von gewichtigen anerkennungen vorzüglich seitens der stammverwandten nord- und niederländischen kunst-richter, schliesslich auch von anzeichen als ob bei uns der ›höhere stil und der feinere ton‹ in dichtung und rede allgemein ersehnt werde: hörten wir doch kürzlich von alten heiligen lehrkanzeln herab mit einem hinweis auf unsre neuen bestrebungen eine bedeutsame aufmunterung die gesetze der verfeinerten rede zu erforschen. auch geht das gerücht dass der unsrigen sehr ähnliche zeitschriften aufgetaucht wären oder bald auftauchen würden. doch was bis jezt an dichterischen werken aus weiteren kreisen auf uns kommt, ist allüberall ein so kindliches spiel oder ein so barbarisches stammeln, was (auch da wo unsre blätter gelesen werden) von verbreitetsten veröffentlichungen über dichtung sich vernehmen lässt entbehrt so sehr des verständnisses für deren einfachste gesetze und klarste ziele dass nicht aus der mangelhaften verbreitung unsres unternehmens die geringe zahl unsrer anhänger abgeleitet werden darf. nur ganz langsam können wir dahin wirken dass die laue teilnahme welche die ernste kunst und dichtung in diesen tagen hierorts findet wärmer und tiefer werde.

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Dritte Folge. Zweites Heft. 1896

DRITTE FOLGE · ZWEITES HEFT · 1896

Mit ernst und heiligkeit der kunst nahen: das war dem ganzen uns vorausgehenden dichtergeschlecht unbekannt. keiner der ›Epigonen‹ – so wenig der hochgeborene Schack wie der bescheidene bürgerliche reimer – ist frei von der abstossenden behäbigen bravheit und diesem rest von barbarentum den von Goethe bis Nietzsche alle grossen Deutschen getadelt haben.

Läge der grund weshalb im kaiserlichen Deutschland das schrifttum auf so niedrer stufe steht darin dass jeder mit irgend welchen fähigkeiten geborene sich einer staatlichen laufbahn zuwendet und das schrifttum fast einzig der geistigen hefe überlässt oder darin dass der schwerpunkt deutschen strebens nach gebieten verlegt wurde wo die kunst nie gedieh und in absehbarer zeit nicht gedeihen kann?


Die tatsache dass es bei uns kein künstlerisches und dichterisches ereignis geben kann beweist dass wir uns in einem bildungsstaat zweiter ordnung befinden.


Unser ganzes schrifttum von gestern ist sittlich (sogar das behördlich verbotene) bürgerlich-pöbelhaft und unterhaltend-belehrend. wir können nur eines fassen das schön vornehm beeindruckend ist 1.


Heute einseitig auf den volkston hinzuweisen wäre gerade so verkehrt als auf griechentum mittelalter u.ä. – denn er liegt uns in gleicher weise fern.


Vom nordischen geist bleibt dem deutschen nicht viel zu lernen was er nicht schon besizt ohne die verzerrungen. vom romanischen jedoch die klarheit weite sonnigkeit.


Der ›naturalismus‹ hat nur verhässlicht wo man früher verschönte aber strenggenommen nie die wirklichkeit wiedergegeben. dem Franzosen ist er das absichtliche zusammentragen von in wahrheit nie [15] sich folgenden begebnissen, dem Norweger ist er das ausschweifendste spiel mit möglichkeiten, dem Russen der beständige alpdruck.


Wir sind bereit manche heilsamen einflüsse des ›naturalismus‹ anzuerkennen vergessen aber einen unberechenbaren schaden nicht: dass er uns daran gewöhnt hat gewisse begleitende bewegungen einer handlung zur vollständigkeit zu fordern, die aber wenn sie vom dichter berücksichtigt werden jedes werk grossen zuges unmöglich machen.


Praerafaeliten und ähnliche: das gewollte hervortretenlassen gewisser wesentlicher eigentümlichkeiten für beschauer die das genaue sehen verlernt und für die man schon sehr stark auftragen muss um bemerkt zu werden.


Um einen gedanken auszudrücken, eine geschichte zu erklären: den tatsächlichen worten takte und reime einzupressen ist ein mittelmässiges handwerk. wäre das spiel mit takten und reimen überhaupt eines vernünftigen wesens würdig wenn diese sich nicht unwiderstehlich als sangesweise aufdrängten? oft dienen worte gedanken ja bilder nur zur körperlichen darstellung der sangesweise.


Jungen dichtern: ihr tut euch unrecht eure werke zu früh zu veröffentlichen. denn ganz bald werdet ihr bereuen dass ihr eure liebsten gedanken wie ihr sie vielleicht nie grösser fassen werdet in einer ungenügenden form bereits verraten habt.


Einigen dichtern an dieser stelle: wir loben euch dass ihr uns wenig von euren schönen ansichten und viel von euren schönen liedern gegeben habt. denn eure schönen ansichten werden sich ändern eure schönen lieder aber werden bleiben.


Vielen sogenannten ›jüngsten‹: was ihr am wenigsten geben wolltet was ihr am sorgfältigsten zu zerdrücken suchtet: das ist noch das einzige was uns an euch gefallen kann: der duft eurer jugend und eurer einfalt.


Bevor in einem land eine grosse kunst zum blühen kommt muss [16] durch mehrere geschlechter hindurch der geschmack gepflegt worden sein.


Das verwerfen jeder übereinkunft in gesellschaft und kunst ist entweder sehr jung oder sehr gemein. leute von niederer abstammung haben keine überlieferung.


Man hat uns vorgehalten unsere ganze kunstbewegung der ›Blätter‹ sei zu südlich zu wenig deutsch. nun ist aber fast die hervorragendste und natürlichste aller deutschen stammeseigenheiten: in dem süden die vervollständigung zu suchen, in dem süden von dem unsere vorfahren besitz ergriffen, zu dem unsre kaiser niederstiegen um die wesentliche weihe zu empfangen, zu dem wir dichter pilgern um zu der tiefe das licht zu finden: ewige regel im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation.

Fußnoten

1 Im deutschen würde man dafür die worte moralisch plebejisch-bourgeois belletristisch-didaktisch usw. einsetzen.

Dritte Folge. Viertes Heft. 1896

DRITTE FOLGE · VIERTES HEFT · 1896

Die ursachen die unser volk und heutiges geschlecht zur aufnahme von Kunst so besonders unfähig machen haben wir erwogen und schon manche davon an dieser stelle gestreift, doch werden wir nicht erschrecken vor prophezeiungen vom völligen dahinschwinden der dichtung und der kunst, versuchte man auch die notwendigkeit ihres untergangs mit gewichtigen und verführenden gründen darzutun. Solche meinung – möge sie nun von denen herrühren die nie des schaffens kraft besessen oder von denen die sie eingebüsst haben – würde sogar wenn einer der unsrigen später sie zu teilen sich unterfinge nur geringe bedeutung haben. denn die werdende jugend wird darüber lächeln und den vom alter tot zurückgelassenen formen in unerwarteter weise neues und glühendes leben einhauchen.


Unsren grossen vorfahren in der kunst war es gegeben auf jungfräulichen und unerschöpften welten ein gebäude – ein ganzes – aufzuführen. daher ihre heute so unnahbare uns so oft entgegengehaltene grösse. ihnen beizukommen ist uns nur möglich durch innigere empfindung liebevolleres anschauen zusammengefasstere ausführung. was sie aus ungehauenen wäldern unausgebeuteten feldern entnahmen, müssen wir aus den tiefen zu gewinnen suchen.


Die einen zu uns: eure haltung ist uns denn doch zu kalt und ruhig und zu wenig der jugend angemessen. wir zu ihnen: Seid ihr noch nicht vom gedanken überfallen worden dass in diesen glatten und zarten seiten vielleicht mehr aufruhr enthalten ist als in all euren donnernden und zerstörenden kampfreden?


Wir nehmen es gern auf uns noch manchmal mit dem äusseren als dem nietrügenden spiegel des innern zu unterhalten. seht ihr also noch immer nicht, dass eure deutschen buch- und zeitschriftausgaben die schönheitswidrigsten sind, sowol der rohe flitter- und emporkömmlingsprunk der einen als die platte und nüchterne alltäglichkeit der andern?


Man wollte uns beweisen dass wir durch verbannen der gewöhnlichen [18] beliebteren schriftart die bequemlichkeit der einen davon abhalten sich unsren werken zu nähern und bei anderen als gegnern des absonderlichen anstossen. an den ersten glauben wir kaum viel zu verlieren, den zweiten sagen wir dass nicht wir zu dieser neuerung den anschlag gegeben haben und dass uns ein wort eines altvordern zu sehr im gedächtnis ist: den Deutschen werde eher der geschmack nicht kommen bis sie sich diese geschmacklose sogenannte deutsche schrift abgewöhnt hätten.


BERUF DER HALB-FÄHIGEN. das schicksal lässt es häufig zu dass halbfähige die neuen und grossen gedanken in der weise verallgemeinern dass sie das fremde neue mit bekanntem altem vermischen und nach und nach in immer stärkeren gaben der menge eintröpfeln. diese geniesst dann vorerst in verdünntem zustand den wein der rein für sie zu schwer war.


Wie erfinderisch die mittelmässigkeit wird wenn es gilt sich zu verhüllen! – Hält man uns nun die dichtung von bauern und bäuerinnen entgegen die alle kunst in schatten stelle, wahreres und endgültigeres es doch nichts gebe! mit demselben recht könnte man aller weltweisheit die kernsprüche des volkes entgegenhalten als schon alle menschliche erkenntnis in sich bergend. aber ganz abgesehen davon dass diese scheinbar so einfachen werke oft mit der äussersten mühsamkeit und künstlichkeit zu stande gebracht werden, und dass gerade die ungeschicklichkeit (über die sich jeder leser im geheimen erhaben glaubt) es ist welche die wirkung hervorbringt – so handelt es sich doch nicht blos darum gold und edelstein aufzufinden sondern auch darum sie von rohen beimischungen und schlacken zu befreien und durch schleifen oder schmelzen ihnen den rechten glanz zu verleihen.

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Dritte Folge. Fünftes Heft. 1896

DRITTE FOLGE · FÜNFTES HEFT · 1896

Insofern dürfte dieses unternehmen bald aus seinen schranken heraustreten als man mit uns zu bemerken und zu bedauern beginnt dass hinter allen gebildeten ländern das unsrige in stil und geschmack seit jahren zurückgeblieben ist: als in weiteren denkenden kreisen empfunden wird dass durch die ausschliessliche erziehung eines geschlechtes zu wechselseitigem hartem kampfe ein wichtiges etwas verloren ging – ja schon auf einigen ragenden gipfeln ein dunkles gefühl dämmert es möchte das grösste und edelste einer rasse sein was da einer allmählichen verflachung und vertrocknung entgegenläuft.

Wir suchten die umkehr in der KUNST einzuleiten und überlassen es andren zu entwickeln wie sie aufs LEBEN fortgesezt werden müsse.

Wir wollen hier noch einige von der torheit verschobene punkte richtig setzen und uns gegen einige anschuldigungen verwahren die schein und missverständnis auf uns luden. wenn wir unserem volke mit der erlahmung des weiten und freien gedankens 1 seine kunstlosigkeit und seine durch fremde einflüsse in bösen zeiten angenommenen schönheit-tötenden unsitten (die durchaus nicht in das tagende jahrhundert fortgeschleppt zu werden brauchen) manchmal nach drücklich entgegenhielten so haben wir alle unsere grossen förderer von Goethe bis Nietzsche mit ihren oft furchtbaren worten zu verteidigern und – wie sie – taten wir es nicht etwa aus einer missachtung unseres volkes sondern aus hoher liebe zu ihm und seiner angestammten guten art.

Auch den anschein möchten wir nicht erwecken als ob wir die uns in der kunst vorausgehende gruppe von dichtern mit geringschätzung betrachtet hätten. dass sie uns nicht verstehen ist ein zeitlicher fehler der sie nicht schändet so wenig wie den weisen von gestern dies: dass ihm was heut eines schülers eigentum ist nicht zu ergründen [20] gelang. wir lobten in ihnen (soweit sie nicht in spielerei und greisentum versanken) die treuen wahrer einer gewissen überlieferung die mit der hinterlassenschaft der ahnen ihre häuslichkeit verschönten doch können wir ihnen nicht anrechnen was wir nie in ihnen fanden: einen einzigen für unsere kunst fortwirkenden lebenbringenden hauch.

Diesen können wir den unmittelbar um uns sich regenden – sie trugen schon alle namen – noch weit weniger nachrühmen. erfüllt von ganz ausserkünstlerischen bestrebungen sind sie in ihren schriften gewöhnlich und in ihren spärlichen anschauungen über kunst veraltet und ungebildet. ihre gründungen die seit kurzem allerdings mit nachahmender treue auch etwas andres bieten wollen als gesellschaftliche rednerei, zuweilen mit einem sehr äusserlichen schein der neuheit bedeckt sind und sich vorderhand nur durch schlechten geschmack auszeichnen, suchen ihr gedeihen durch ein herabsteigen zur menge und kommen für die weiterentwicklung unseres schrifttumes nicht in betracht. doch auch diesen männern gegenüber liegt alle unachtung weit von uns. beklagen können wir nur das nutzlose verschwenden so vieler kräfte die in anderer tätigkeit als der dichtenden und schreibenden rühmliches zu leisten gewiss nicht verfehlt hätten.

Was an unseren blättern das wertvollste scheinen wird möge dies sein: dass sie von IHR allein angeregt an die grosse und ewige kunst wieder anbauen wollten und deren grundfeste die ernste dichtung stüzten, so tuend was seit jahrzehnten keinem mehr tuens würdig war. sie holten die werke derjenigen dichter aus dem dunkel hervor aus denen der neue frische geist in besonderer und bedeutsamer weise wiederschien. ihnen ward das seltene glück zu teil mitten in winter und wüste reiche duftende blumen zu finden. sie zeigten in den verschiedensten formen eine neue Schönheit.

Was die minder starken beiträge betrifft so wurden sie zur bildung des nötigen hintergrundes zugelassen, stets aber nur dann wenn wir darin ein erkennen der vorläufig einzig richtigen bahnen gewahrten oder ein gutes versprechen für die zukunft. sie anzustreichen ist leicht wie es denn leichter ist die kleinen vorsprünge und lücken zu bemängeln als deren bauliche notwendigkeit und dienlichkeit am ganzen denkmal zu begründen.

[21] Mit grosser vorsicht haben wir die ausländischen hervorragenden meister eingeführt, die hochverehrten helfer und ergänzer damals als unsere einheimischen erzeugnisse an zahl wol noch gering waren. vor nichts aber hüteten wir uns mehr als vor einem sinnlosen blossen herübernehmen und brachten nur das was durch die art der übertragung eigenster besitz geworden für unsere sprache unser schrifttum und unser Werk im einzelnen natürlich und zuträglich war.

Kleine äusserliche seltsamkeiten die anfänglich fragen hervorriefen hat der einsichtige längst gebilligt wenn er sie auch nur auffasste als bollwerk gegen den ansturm wilder horden deren sich noch männiglich erinnert und deren laute zügellosigkeit den erbarmenswertesten teil unserer schrifttum-geschichte füllen wird.

Dass unser anhang nur langsam wuchs war uns so sehr freude dass wir ein schnelleres zunehmen sogar für bedenklich gehalten hätten. auch dürfen wir es uns fast als gewinn anrechnen dass wir von zwei berufsscharen noch wenig beobachtet worden sind: gewissen gelehrten die wol nach äusserlichen merkzeichen in klassen sondern können aber zu eng sind um nach der bildungsstufe die sie voraussezt eine erscheinung zu bewerten – und den gewöhnlichen beschreibern und mittelspersonen geistiger schöpfungen, den verlegenen tastern in dem ihnen dunklen und unbekannten land der kunst.

Ohne besonderen belang erscheint es uns dass gewisse arten der erzählung und der für die schaubühne gedachten dichtwerke nur wenig raum inne haben, für uns mehr zufällige arten der gruppierung aus vorliebe oder zweck. das vornehmste ist der neue sich deutlich äussernde geist aus dem wie unsre sänge und reden so auch unsre schaustücke flossen und fliessen werden.

Wir sind des stolzen glaubens dass wir für diese jahre nicht nur das höchste gesammelt haben was in einem bestimmten fache menschlichen könnens eine ganze stämme-vereinigung hervorzubringen fähig war sondern wir hoffen auch den werdenden und kommenden die pfade geebnet zu haben auf denen sie weiterschreiten können zur entdeckung neuer immer reinerer kunsthimmel.

Fußnoten

1 Anzubiegen ist hier dass man gerade in dem lager weite und freihielt am meisten vermisst wo sie ausschliesslich als fahnenschmuck prangen sollen und wo alles was über höhere werte laut wird nicht nur gemeinplätzlich klingt sondern auch engherzig und über alle maassen bürgerlich.

Vierte Folge. Erstes und Zweites Heft. 1897

VIERTE FOLGE · ERSTES UND ZWEITES HEFT · 1897

Dies sei uns noch immer anfang und ende: von DER Kunst zu reden: den künsten in ihren beziehungen und ihrem zusammenwirken eine die andre anregend und vor erstarrung bewahrend. nie wäre bei uns schrifttum und dichtung von heute in so traurige verödung geraten wenn ihre vertreter zu den gleich-lebenden meistern der bildenden und tonkunst den blick erhoben hätten.

Andrerseits hat es sich an diesen gerächt dass sie keine ebenbürtigen werke des schrifttums um sich sahen. so blieb auch unseren besten meistern manchmal der weg zum höchsten verlegt und sie mussten mitten unter werken ersten ranges immer wieder in jene bestürzende tüdeske plumpheit verfallen.

Auch alles frühere schöne in einem zweige der kunst ist für ein volk für einen zeitabschnitt gleichsam gebunden wenn nicht in diesem zweig ein grosser schönheit-finder ersteht der mit dem was er fürs heute entdeckt auch alles frühere schöne erlöst. das belegt uns sogar der all-umfassende Goethe der für malerei nur ein geringes verständnis haben konnte. so sind wir sehend geworden durch männer wie unser Böcklin.


Unsere unduldsamkeit gegenüber dem was in schrifttum und dichtung neben uns herläuft leitet sich daraus ab dass diese andren zielen zustrebenden erzeugnisse beständig mit kunst verwechselt werden und so jedes verständnis für die kunst abstumpfen. alle kunst hört auf wenn sie um dem ausspruch eines berühmten tondichters zu folgen ›real-programmatisch-tendenziös‹ wird. ein ganzes geschlecht ist noch nicht willens diesen bequemen standpunkt zu verlassen.

Auch denen die jezt zur allgemeinen umkehr mahnen ist durch die lange gewohnheit so das gefühl erstarrt und der blick getrübt dass ehe sie sich wieder mit kunst beschäftigen man ihnen raten muss sieben jahre hindurch über nichts nachzudenken als über das: warum ein gedicht schöner sei als eine gleiches sagende rede ein gemälde schöner als das genauere farbige lichtbild ein bildwerk schöner als die treuere wachsform.

[23] So werden jezt eigentümliche übergangsarbeiten hervorgezogen: mit eifrigem bemühen sich äusserlich als neue einzuführen und noch ganz im alten barbarischen geist befangen. die gefühle verworren die anschauungen verwischt die stile vermengt – mit hier und dort einem dämmern des neuen geistes in entwürfen ansätzen und flecken: vielfarbige stücke stürze und splitter.


Einigen die mit zu raschen schritten die schwenkung mitmachen wollen: ihr dürft anmut (grazie) nicht an fremden kunstwerken absehen wollen, denn es wird nie gelingen. lernet zuerst anmut (grazie) der eigenen haltung und bewegung. es ist bedeutsam dass ihr merket wie sehr sie euch fehle doch ist es langwierig den reigen zu erlernen mit nicht mehr jungen gliedmaassen.


Es ist ein irrtum dass nur grosse geister ein unternehmen mit grossem gedanken zu fördern vermöchten. von aller wichtigkeit ist es die kleineren zu erziehen und hinzuleiten auf dass sie die luft bilden in denen der grosse gedanken atmen kann.

Wir wissen wol dass der schönste kreis die grossen geister nicht hervorrufen kann, aber auch dies dass manche ihrer werke nur aus einem kreis heraus möglich werden.

Bedeutender trost für die kleineren: wenn ihr das höhere leben eurer führer begriffen habt so seid ihr nicht nur dazu nötig das feld frisch und locker zu erhalten sondern ihr sammelt gar oft blumen und früchte die – wenn ihr es selber nicht vermögt – ein grösserer später in seinen kranz flicht.


Ein weiterer ring der gesellschaft ist für kunst noch nicht zu gewinnen solange man nicht zu scheiden vermag zwischen der wesentlichen wirkung des kunstwerkes und der gemeinen stofflichen anregung durch das erzählte (anekdotische). kunstverständnis ist nur da zu finden wo ein kunstwerk als gebilde (rhythmisch) ergreift und ergriffen wird.

Des grossen kunstwerks beide geistige wirkungen sind folgende:

das begeisternde feuer: oft ohne verständnis
augenblicklich
nie wiederkehrend
[24] das klare geniessen: durch eindringen
nach und nach
immer wieder zu empfinden.

Einige hatten durch jahre an uns auszusetzen: das stete fehlen der äussersten schärfe – das häufige andeuten – das spröde nicht-ganz-erkennen-lassen. wir aber entdecken heute darin begrüssend das gewisse herbe mit dem zeitalter der wiedergeburt sich allemal eingeleitet haben.


Eine ganze niedergehende welt war bei allen ihren einrichtungen aufs ängstlichste bedacht den armen im geiste gerecht zu werden: möchte eine aufgehende sich vornehmen der reichen im geiste zu gedenken.


Dass ein strahl von Hellas auf uns fiel: dass unsre jugend jezt das leben nicht mehr niedrig sondern glühend anzusehen beginnt: dass sie im leiblichen und geistigen nach schönen maassen sucht: dass sie von der schwärmerei für seichte allgemeine bildung und beglückung sich ebenso gelöst hat als von verjährter lanzknechtischer barbarei: dass sie die steife gradheit sowie das geduckte lastentragende der umlebenden als hässlich vermeidet und freien hauptes schön durch das leben schreiten will: dass sie schliesslich auch ihr volkstum gross und nicht im beschränkten sinne eines stammes auffasst: darin finde man den umschwung des deutschen wesens bei der jahrhundertwende.

NACHRICHTEN

... Auch von einer erleichterung der aufnahme in unseren mitgliederkreis sehen wir ab da erfahrung uns lehrte dass noch keinen ernsthaften uns wertvollen teilnehmer die mühe verdross sich den weg zu uns zu bahnen.

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Vierte Folge. Fünftes Heft.1899

VIERTE FOLGE · FÜNFTES HEFT · 1899
BÜHNE DER BLÄTTER FÜR DIE KUNST

›Ich hasse das moderne theater weil ich scharfe augen habe und über pappendeckel und schminke nicht hinauskomme. Ich hasse den dekorations-unfug mit allem was dazu gehört von grund meiner seele. Er verdirbt das publikum · verscheucht den lezten rest von kunstgefühl und erzeugt den barbarismus des geschmacks von dem die kunst sich abwendet und den staub von ihren füssen schüttelt.‹ So fühlte damals Anselm Feuerbach und das heutige theater der ›naturwahrheit‹ weit entfernt diesen missbräuchen entgegen zu treten schaffte die lezten reste des guten ab. Von einem halbgebildeten volke liess man sich belehren der vers habe die schauspielkunst vernichtet · man gewöhnte sich rhythmen zu sprechen gleichsam um entschuldigung bittend und verlor damit jeden festen grund: das schauspiel wurde ersezt durch die vorführung körperlicher oder geistiger gliederfertigkeit des einzelnen. Mag man auch die anstrengung und eigenart mancher brettergrösse bewundern · keine hat eine ernstliche neuerung gewagt und vor allem scheint uns keine geschickt zur hersagung der neuen klanglichen gebilde.

Bedeutsame zeichen des rückzuges sind sichtbar geworden: berühmte spieler kehren von ihren ›naturalistischen‹ hetzjagden und triumphen zurück um zu erklären das heil liege allein in der einfachheit der griechischen bühne · und alle vornehmen und verfeinerten geister sprechen vom theater wie von einem schlechten ort.

Wir haben nun im anschluss an die neue dichterische bewegung (vorerst in dazu geeigneten wohnräumen mit nicht berufsmässigen auftretenden) eine bühne der ›Blätter für die Kunst‹ ins leben gerufen zu der wir unsere mitglieder nach und nach zuziehen werden. Wir erinnern zur vorbereitung noch einmal an unsere auslassungen im dritten Bande der ersten Folge – besonders an den grundsatz von der wiedergeburt des schauspiels durch den VERS. Wir halten in diesen vorführungen zuvörderst auf die abrichtung der stimme zum hersagen der neuen rhythmischen gebilde – das hervortreten der körperlichkeit in einem schönen licht – das beschränken der bewegungen [26] als strenge begleiter des wortes · vorläufig in kleinen auftritten mit möglichst einfachen gegenüberstellungen. Wol meinen wir nicht mit vielen dass stil und geschmack sich wie kleider wechseln lassen · doch alle keime die vorhanden sind hoffen wir in kleinem kreise reifen zu sehen und erwarten durch zusammenwirken allmähliche förderung. ›Strenge überlegung · kalte schlichtheit · selbst absichtlich bis an die grenze hinab · das kann allein helfen ...‹

NACHRICHTEN

Wie in den vergangenen jahren werden wir heuer eine reihe von vorlesungen und aufführungen abhalten. Eine angenehme vermehrung der möglichkeiten danken wir unseren ausländischen freunden die durch das hersagen in ihrer vers-sprache über das unsre vielleicht noch manche lehre geben können. Vortrag und bewegung stehen auch diesmal unter der leitung der dichter und bühnen-ausschmükkung und anordnung werden ausschliesslich durch unsre bildenden künstler bestimmt. Die einladungen an unsere mitglieder ergehen wieder durch Reinhold und Sabine Lepsius.

[27]

Fünfte Folge. 1901

FÜNFTE FOLGE · 1901
GEISTIGE UND KÜNSTLERISCHE GESELLSCHAFT

Langsam sehen wir aus kleinem kreise sich in unsern deutschen mittelpunkten entwickeln was wir seit jahren nur in den nachbarländern bemerken konnten: jenseits einer blossen zusammenrottung gewisser berufsklassen zu berufs- und unterhaltungszwecken eine geistige und künstlerische gesellschaft die sich verbunden fühlt durch ganz bestimmte ablehnungen und bejahungen: durch ein besonderes lebensgefühl.

AUSSICHTEN

Dies lässt in uns die hoffnung aufkommen dass einige kunstschöpfungen die nicht durch das starke einzelwesen allein sondern nur auf der grundlage einer solchen gesellschaft entstehen (vor allem das drama) auch bei uns wachsen können. Denn was wir jezt als bühnenwerke sehen ist bei den mindern schöpfungen eine verarbeitung nach dem muster der alten tragödie · bei den besseren ein lyrismus der zufällig in die gesprächsform gegossen wird.

NEUER BILDUNGSGRAD (KULTUR)

entsteht indem ein oder mehrere urgeister ihren lebensrythmus offenbaren der zuerst von der gemeinde dann von einer grösseren volksschicht angenommen wird. Der urgeist wirkt nicht durch seine lehre sondern durch seinen rhythmus: die lehre machen die jünger.

DIE ZWEI LINIEN DES DEUTSCHEN GEISTES

Es ist eine billige vorspiegelung: formreinheit sei etwas dem deutschen geiste unangemessenes mehr dem Süden eigenes: die [28] frühen kölner und andern rheinischen meister sind so formstreng wie die gleichzeitigen italienischen primitiven – ebenso der gipfel der ganzen deutschen kunst: Hans Holbein. Es gibt allerdings zwei linien des deutschen geistes – und nur durch den beständigen hinweis auf die eine kam man zum glauben dass die andere nicht bestehe: freilich nach den staatlichen und glaubenswirren des 16. jahrhunderts machte sich im Deutschtum eine vorliebe geltend für alles platte eckige vernünftelnde.

PREUSSENTUM

Wenn wir von den schädlichen einflüssen des Preussentums reden so weiss jeder verständige dass wir uns gegen keine person – nicht einmal gegen einen volksstamm richten sondern gegen ein allerdings sehr wirksames aber aller kunst und kultur feindliches system.

VERDREHTHEIT (PERVERSITÄT) DES BÜRGERTUMS

Oft tadelt man die künstler wegen ihrer perversen neigungen. Wir aber stehen mit staunen vor den vielen grossen und kleinen dingen die der bürger liebt. Welche fülle von verdorbenheit und perversität gehört zu den sinn- und geschmacklosen vorspiegelnd unechten zusammenhäufungen mit denen er sich als mit seiner ›einrichtung‹ umgibt.


DIE GESTALT DES DICHTERS


scheint den Deutschen ganz verloren gegangen zu sein. Es gibt jezt nur den gelehrten · beamten · bürger der gedichte macht und das schlimmste: den deutschen litteraten der gedichte macht.

DIE DEUTSCHE GESTE

Dass der Deutsche endlich einmal eine geste: die Deutsche geste bekomme – das ist ihm wichtiger als zehn eroberte provinzen.

[29] ABKEHR VOM LEBEN

einer der vorwürfe welche man den künstlern unseres kreises am häufigsten macht. Der grund liegt darin dass das schrifttum von gestern fühlbar plebejisch das von heute fühlbar aristokratisch ist. Der geistigen hefe die jezt fast ausschliesslich litterarische meinungen verbreitet muss jede höhere art des lebens gekünstelt und unlebendig erscheinen.

BILDENDE KÜNSTE UND DICHTUNG

In den bildenden künsten hat man nach und nach ein gewisses urteil erlangt. Jeden maler vom selben untersten grade wie unsre meisten dichter würde man nicht etwa auf die akademie sondern auf seine anfängliche talentlosigkeit im zeichnen und kolorieren zurückweisen. Sogar unsere besten musikalischen und malerischen beurteiler sind einer dichtung gegenüber erstaunlich ratlos.

DEUTSCHE LITTERATUR

Dass die deutsche litteratur etwas sprunghaftes trümmerhaftes hat kommt nicht so von dem deutschen kantongeist als einem falschen originalitätsstolz einem oft kindischen wirtschaftenwollen auf eigne faust einer scheu vor der einordnung aus dem gefühl der unsicherheit.

ÖSTREICHISCHE LITTERATUR

gibt es so wenig als eine preussische oder bayrische. Ein dichter aus dem Östreichischen hat entweder eine bedeutung als deutscher dichter oder keine. Wer heute die jugend zu einem anderen glauben verleiten will lese seinen Grillparzer nach wo ebenso wahre als trostlose worte dem jungen Östreicher seinen weg weisen.


VORZUG DER KLEINSTAATEN


Ihnen wird es leichter möglich geistige werte auszubilden als den [30] grossen die in beständiger äusserer und innerer abwehr nie dazu die ruhe erlangen.

NEUE TRÄUME

Die jugend die wir vor uns sehen gestattet uns den glauben an eine nächste zukunft mit höherer lebensauffassung vornehmerer führung und innigerem schönheitsbedürfnis. Sollten aber grosse umwälzungen und ausbrüche entstehen so wissen wir dass diese ganz anderer art sein müssen als die staatlichen und wirtschaftlichen plänkeleien die heute die gemüter erfüllen.

[31]

Sechste Folge. 1903

SECHSTE FOLGE · 1903
NACHRICHTEN

An die verse niederländischer dichter aus dem dritten bande der dritten folge und dem fünften der vierten schliessen wir diese auszüge aus dem gesamten werk von Albert Verwey der aus der ruhmvollen für uns vorbildlichen kunsterhebung der 80er jahre als der wesentliche dichter übrig geblieben. diese umschreibungen ins hochdeutsche unterscheiden sich von jeder übersetzung aus fremden sprachen · da die annäherung an die urworte sogar in unklingender und unbeholfener form einem vollständigen umguss vorgezogen werden muss. doch sprechen wir die hoffnung aus es werde die nächste und glorreichste schwester der deutschen dichtung bald so einheimisch dass sie unmittelbar zu verstehen uns allen als pflicht erscheint.

[32]

Siebente Folge. 1904

SIEBENTE FOLGE · 1904

Nachdem die Blätter für die Kunst ihre siebente folge abgeschlossen haben kehren sie zu ihrem ausgangspunkt zurück: wol hat sich der kleine kreis zu einer geistigen und künstlerischen gesellschaft erweitert die sich verbunden fühlt durch ein besonderes lebensgefühl · doch liegt uns der gedanke einer verbreitung der kunst in die massen noch ebenso fern wie vorher. in den lezten jahren war der irrtümliche glaube entstanden dass wandlungen eintreten sollten · wenn aber durch die naturgemässe erweiterung immer grössere kreise einbezogen wurden: niemals wurde das ursprüngliche ziel aus den augen gelassen und stets nur das gesehen was vom selben heiligen strom getragen und mitgerissen wird. heute ist es leichter unsere dichterischen bestrebungen innerhalb der ganzen kunstentwicklung zu verfolgen zumal ihr einfluss auf das werdende dichtergeschlecht unverkennbar ist. das süssliche bürgertum der nachfahren wurde verdrängt durch das formlose plebejertum der wirklichkeitsapostel und dieses durch die dichterische und schönheitliche wiedergeburt.

Als wir vor etwa zwölf jahren einsezten war die gesamte uns wichtige europäische poesie der zeit (von den taglöhnern der feder wurde sie später abwechselnd Neu-idealismus Neu-romantik Symbolismus genannt) für die Deutschen ein noch unbekanntes gebiet. wir haben nach und nach die Engländer Franzosen Niederländer in entsprechenden übertragungen eingeführt und uns dann mehr und mehr auf die dichter unsres landes beschränkt die den neuen dichterischen gedanken erschufen oder weitertragen halfen.

Manche mitarbeiter haben ihre kräfte inzwischen in den dienst von unternehmungen gestellt die uns hier nichts angehen – was wir für ihre essenz erkennen ist entweder in den Blättern enthalten oder durch unsre deutlichen hinweise leicht aufzufinden.

Allen kämpfen abhold haben wir uns dennoch gegen einige vorwürfe verwahrt im hinblick auf eine jugend die sich leicht verwirren lässt. den der unlebendigkeit wird heute kaum noch einer erheben nachdem uns ein längeres dasein beschieden wurde als allen uns äusserlich ähnlichen veröffentlichungen und manchen alten gegner trennt [33] von uns nur noch die schranke seiner unzureichenden begabung. Wir haben zur genüge bewiesen dass wir immer nur das aufgenommen haben was im gegebenen augenblick eine neue note · eine neue schattierung · ein höchst-maass von geleistetem darstellte: wobei wir freilich nur berücksichtigen konnten was sich irgend geoffenbart hat. doch hat uns die zeit belehrt dass wir kein fernbleiben zu bedauern · keine ausschliessung zu bereuen hatten.

Wurde uns aber eingewandt in den Blättern seien wol einige wichtige persönlichkeiten für die eine notwendigkeit der gruppierung nicht bestehe · das andre seien versübungen mehr oder minder begabter: so können wir darin nur die auslassungen der oberflächlichen tatsachen-fremden gedanklichkeit erblicken die nicht weiss wieviel spiel und arbeit · suchen und haschen · wieviel ›exercitium‹ jede kunstübung · auch die allergrösste · einleiten und begleiten muss.

Dass wir dem Theater wie es gegenwärtig öffentlich bei uns gepflegt wird keinen platz in der kunst und dichtung anweisen konnten · haben wir an verschiedenen stellen auseinandergesezt und die bahnen bezeichnet auf denen in erwartung des DRAMAS heute etwas erspriessliches getan werden kann.

Ebenso betrachteten wir die erfundene geschichte: die erzählung als nicht hierher gehörig · am wenigsten die sogenannten ›romane‹ · diese bürgerlichen ausdeutungen der lebensvorgänge. Welches ziel wir mit unsren ausgaben der alten dichter sowie unsren buchausstattungen im auge hatten · darüber belehren die vorreden dieser werke und das jüngst erschienene VERZEICHNIS.

Was wir endlich in den ›Neuen Träumen‹ andeuteten · jene ausbrüche umwälzungen und erneuerungen die nach uns gebären sollen was uns noch verboten blieb: davon hatte bereits dieser und jener unsrer dichter vieles geahnt und hier in seinen versen niedergelegt wenn auch nur wenig menschen etwas wissen von der unmerklichen schwalbe die dem sturme vorausfliegt.

DER KÜNSTLER UND DIE ZEIT

Der heutige geistige und künstlerische mensch muss seine werte ausbilden in völliger loslösung von der allgemeinheit · von allen [34] öffentlichen und tagbedingten forderungen (dem ›Offiziellen‹ und ›Aktuellen‹) wobei wir vorläufig ganz unerwähnt lassen dass jeder befruchtende · jeder befreiende gedanke aus geheimkreisen (zenakeln) hervorkam. er darf sich durch die heuchlerische klage nicht beirren lassen: so ginge jede berührung mit dem ›volk‹ verloren – denn die ungeheuren menschenanwüchse dieser zeit enthalten keine spur mehr von den spannkräften eines ›volkes‹. dass er die millionen die er in einigen mustern zur genüge kennen lernt als ein nichtbestehendes übergeht · wird für ein wissendes zeitalter sowenig ein anstoss sein als was der Antikische tat mit der überwiegenden menge der sklaven und haustiere (pecus et mancipium).

LOB UNSRER ZEIT

Obwol es zeichen dieser zeit ist · jede grösse herabzureden und nur für die erhaltung des mittelmaasses zu sorgen: vergessen wir nicht einen ungeheuren vorteil der freilich für die kleinen erneute gefahren bringt: noch nie soweit wir geschichte kennen konnte der einzelne solche freihielten · solche bewegungs-erleichterungen geniessen · noch nie so sicher der plumpen übermacht sich entziehen und bei verhältnismässig geringen anstrengungen sein leben führen in einer fast unumschränkten oberherrlichkeit.

DER DEUTSCHE UND DIE KULTUR

Die schöpferischen geister eines volkes geben die bildungseinheit (kultur) durch wegräumung gewisser scheinbar äusserlicher widerstände und legung gewisser grundlagen ohne die ihnen das äussere leben unerträglich wäre. der schöpferische Deutsche aber vermeidet diese anstrengung und flüchtet in das reich der entrücktheit übersinnlichkeit: Musik. solangeder schöpferische Deutsche ausschliesslich Musiker bleibt braucht er keine bildungseinheit.

KULTURMACHER

Sogar einige unserer lichtesten geister können wesensunterschiede nicht mehr herausfühlen · setzen waffenbrüderschaften an die stelle [35] der blutsbünde und finden artgemeinschaft zwischen denen die mit den gleichen äusseren widerständen zu kämpfen haben.

EINSAME GRÖSSE

Mancher sondert sich aus dem kreis der ihm einzig taugt weil er in ›Rom nicht der erste‹ sein kann. aber von allen die so taten schlug es nur Einem an · denn der wurde der Erste. und in Rom.

HELDENVEREHRUNG (PERSONENKULTUS)

Läufte in denen selbst siegreichen faustkämpfern erzbilder errichtet wurden um ihr lob durch die jahrhunderte wachzuhalten: wie hoch ragen sie über einer grämlich ichsüchtigen zeit die bemängelt wenn dem meister die jünger sich in ehrfurcht neigen · wenn dem schöpfergeist mit kranz und reigen alle danken die durch sein wirken erst erfahren haben dass leben ein fest sei.

NUR-KUNST

Immer wieder muss es sich die Kunst gefallen lassen · auf werte geprüft zu werden die ausserhalb ihres lebensbereiches liegen. wie auch die tageslosungen lauten: Heimatkunst Anwendekunst Urlautkunst – alle verlangen was von keinem menschlichen tun sonst gefordert wird: noch ein andres zu leisten als in sich selbst vollkommen zu werden.

VOLK UND KUNST

›Alle Kunst hat ihren ursprung im volke‹ ist entweder eine selbstverständlichkeit (plattheit) oder eine längst überführte lüge. Kunst ist höchster ausdruck eines volkes.

Kunst ist weder für hungrige leiber noch für fette seelen.

VOLK: Seine aufgabe ist die ausbildung gewisser ursprünglicher fähigkeiten handgrifflicher fertigkeiten u.s.w.

VOLKSLIED: Lieder des 16. und 17. jahrhunderts (von andern völkern [36] richtig old songs vieilles chansons genannt) bei den Deutschen ein verworrener sammelbegriff. Entweder versteht man darunter gassenhauer die damals nicht anders entstanden sein wer den als heute oder gedichte bekannter und unbekannter verfasser die oft durch leichte kompositionen in schwang kamen oder endlich solche lieder die ihren reiz aus der lückenhaftigkeit der überlieferung ziehen und dadurch ihre augenscheinliche plattheit verdecken.

GRENZEN

ÜBERWINDUNG DES KLASSIZISMUS: Die moderne begriffsästhetik redet viel von dem abwerfen alter und dem erfinden neuer formen. Und doch sehen wir dass der neueste schnörkel · ein bild eine zeichnung oder ein gedicht das die vordersten vordergründe behandelt für uns ganz und gar tot ist während auf der andern seite ein gräcisierender päan ein Apollo eine muse ganze fluten neuen lebens erregen kann. Eine Lechterische heilige hat genau so viel realität als ein Menzelscher handwerker.

Hier nun verfallen leicht maler in den fehler zu meinen: durch die darstellung einer kuh etwa könne soviel ausgedrückt werden wie durch den menschlichen körper · durch einen spargel soviel wie durch jede landschaft. Höchster ausdruck ist aber dort erreicht wo nach unsern menschlichen maassen am meisten ›seelenstoff zusammenschiessen‹ kann.

Dies anschiessen von seelenstoff ist der wesentliche punkt bei der begrenzung des künstlerischen des dichterischen überhaupt. Das erklärt weshalb ein ding das NUR der gegenwart angehört für diese undichterisch ist.

DRAMA

Das drama ist nicht notwendiger weise die höchste erfüllung · denn es gibt ganze völker mit blütezeiten der kultur die es nicht ausgebildet haben. Das ganze weltbild gibt die büste wie die riesengruppe ein rahmengemälde oder eine palastwand die sophokleische tragödie wie das kleine lied der Sappho.

[37] VERS ALS KUNSTMITTEL

Dies ist die unbezweifelte errungenschaft der neuen poesie dass sie im vers wieder ein kunstmittel sieht oder wie D'Annunzios glühende redekraft sagt:

Zur nachahmung der natur ist kein andres kunstmittel lebendiger geschmeidiger schärfer verschiedenartiger formenreicher körperlicher gehorsamer feinfühliger treuer als dieses: dichter als der marmor geschmeidiger als wachs feiner als ein fluidum schwingungsreicher als eine saite leuchtender als ein juwel duftender als eine blume schneidender als ein schwert biegsamer als eine gerte schmeichelnder als die welle furchtbarer als der donner: vermag und ist der vers alles. Er kann die geringfügigsten bewegungen des gefühls wie der erregung wiedergeben · das unsagbare aussprechen · er kann berauschen wie der wein · hinreissen wie die entzückung · er kann zu gleicher zeit unsern geist unsern verstand unsern körper besitzen · er kann · mit einem wort · das unbedingte erreichen.

ITALIEN UND NIEDERLAND

(Stoff-Kunst Phantasie-Kunst)


Diese scheidungsworte (halb pleonasmus halb sinnwidrigkeit) beginnt man erst auf unsre zeit anzuwenden · bei den früheren sei es Michelangelo oder Donatello Shakespeare oder Dante Tizian oder Rembrandt wagt man es nicht. Am deutlichsten glaubt man sie zu berechtigen durch die gegenüberstellung Böcklin-Manet. Meint man nun mit stoffkünstler den der die natur unmittelbar ohne zutaten gibt so hat man als besten gegenbeweis dass Manets werke zuerst für gerade so naturwidrig angesehen wurden als die Böcklins. Ist das zeichen des stoff-künstlers die tüchtigkeit des gemalten stücks (morceau peint) so braucht man nur diese und jene baumgruppe Böcklins oder einen teil seines südlichen meeres anzusehen um ihm mindestens die gleichen fähigkeiten einzuräumen. Der unterschied liegt in der seele des Nord- und des Süd-menschen. Der nordländer sieht die dinge mit der umgebenden luft · beim südländer heben sie sich scharf vom himmel ab. Vor einem französischen acker und einem flandrischen kanal hätte der pinsel Böcklins · vor den [38] sonnigen toskanischen hügeln der pinsel Manets versagt. Der nördliche mensch hat die seele des erstarkenden bürgertums des protestantismus · der südliche des aristokratischen und heldenhaften: des katholizismus. Wessen augen zu sehr auf das eine eingestellt sind nennt die farbe des andern theatralisch und geschminkt oder schmierig und verwischt. Hier liegen die gegensätze: Nord und Süd Italien und Niederland.

In den höchsten regionen der kunst aber verschwinden auch diese unterschiede · und es bedeutet etwa dasselbe wenn wir sagen: traumbilder die bezaubern wie wirklichkeiten oder wirklichkeiten die bezaubern wie traumbilder.


KUNSTBETRACHTUNG


Wer auf gedanklichem und historischem weg sich den künsten nähert läuft gefahr das allerschlechteste wie das allerbeste gleichermaassen als stoff (material) zu betrachten · wobei anschein und ersatz (apparenz und surrogat) denselben wert wie wesen und urstoff (substanz) gewinnen. So wird aus einer wissenschaft des lebendigen eine blutlose zifferkunde.

So schwachsinnig ist nur unsere forschung geworden dass sie zum verständnis eines bauwerks die leben derjenigen auskundschaftet die die steine herbeitragen halfen.

Hohe ausbildung · vielfältige geschliffenheit ist nötig um den rhythmus und die feinheit der geste zu erkennen: barbaren bleiben begriffsästhetiker.

URTEILE AUS URTEILSMANGEL

Den vorwurf der künstelei und dunkelheit sehen wir gegen die dichter schon in den tagen der alten romantik erhoben von widersachern die herkunft sitten und beanlagung von höherer führung in kunst und leben fernhalten. ihre eigenliebe verleitet zu der folgerung: ›ich erlebe · ich fühle · ich kann das nicht – also muss es schlecht sein‹ – ein schluss der freilich bürgerlich achtbarer ist als jener andre · den heutigen kunstsüchtigen emporkömmlingen geläufige: ›ich langweile mich bei diesen darbietungen · also müssen sie wert haben.‹ [39] (nur will der böse zufall dass die lezte gruppe öfter recht behält als die erste.)

FORMALE KÜNSTLER

Nur kunstarme zeiten konnten solche zusammenstellungen erfinden. Im zeitalter der Wiedergeburt hiessen eben die die grössten und einzigen die ihr handwerk am besten verstanden.

VORLAUTE WEISHEIT

Manchmal kommt es dass in einem volk weisheiten dämmern für die das neue wort und die neue geste noch nicht ausgebildet sind. Das sind dann in der tiefe gewühlte erze die nicht ans licht gefördert werden können.

VERGEWALTIGUNG DER SPRACHE

Der sprache geschieht durch tagesschreiben (aktualität) unrecht indem für gewisse neue weltgültige benennungen sofort genaue gleichsetzungen verlangt werden wo zur lösung zeit nötig ist oder nach den sprachgesetzen umschreibungen bedingt sind.


WIRKLICHKEITS-SUCHER


Gerade das gemeine leben eurer zeit habt ihr von den schreibstuben aus zusammengestellt · das höhere aber eure längste frist verschmäht und geleugnet. So seid ihr selbst da wo ihr nicht ganz unwahr seid doch unvollkommen.

BLÖSSEN

Ihr werft ab und verwerft die hüllen und weil euch da kalt ist und ungewohnt · glaubt ihr ins Unendliche zu tauchen. (gänsehaut als acherontisches frösteln.)


Ein recht gewandeter körper ist mehr nackt als ein ausgezogener. wissens-armut ist nicht gefühls-fülle. scheinlosigkeit nicht wesen. [40] kunstlosigkeit nicht natur. (ablehnung des schnürleibes gibt noch keine neue haltung.)

LIEBHABER- UND KUNSTPRUNKERTUM

(Dilettantismus)


Der liebhaber und kunstprunker (dilettant) ist nicht ein in der ausbildung unfertig gebliebener künstler sondern der spielerisch gewordene bürger oder modeherr. in zeiten und ländern alter bildung können dergleichen zwischenerscheinungen erträglich und liebenswürdig werden: bei uns da sie sich mangels sicher überlieferter formen auf schritt und tritt ins maasslose verirren sind sie die gefährlichsten feinde aufsteigenden lebens. sie sehen das kleine gross und das grosse klein und verbreiten einen zustand haltloser willkür der lähmender ist als aller zwang ›von oben‹

URGRUNDSCHWÄRMER

Setzet nicht für den Gott den götzen für den Geist das gespenst für den Seher die hexe.

KÜNSTLER UND KÄMPFER

Niemals war wie heute eine herrschaft der massen · niemals daher die tat des einzelnen so fruchtlos. wol sind zeiten und gelegenheiten denkbar wo auch der Künstler es für nötig hält das schwert des kampfes zu ergreifen: über allen diesen welten- staats- und gesellschafts-wälzungen steht er aber als bewahrer des ewigen feuers.


NACHRICHTEN


Wir verständigen unsre mitglieder dass die Siebente Folge die bekanntermassen schon bei jahresbeginn hätte erscheinen sollen durch nicht wegzuräumende hindernisse sich um einige monate verzögert hat – und dass trotzdem keine nachträglichen änderungsvorschläge das einmal festgesezte verrücken konnten.

[41] Besonders schwierig war die herstellung der ›Tafel‹ die einen lang und lebhaft ausgesprochenen wunsch erfüllt: es möchten sich die oft nur in diesen blättern vereinigt waren wenigstens im bildnis einander kennen lernen. dieses blatt nur für den engsten freundeskreis und für keine art von öffentlichkeit bestimmt ist so hergerichtet dass es der ganzen folge vorgebunden werden kann.

Die ursprünglich vorgesehene inlage musste für die nächste folge zurückgelegt werden.

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Achte Folge. 1909

ACHTE FOLGE · 1909

Die Blätter für die Kunst die während der lezten jahre nicht mehr in fortlaufenden heften erschienen haben in der herausgabe von büchern der mitarbeiter ihre fortsetzung gefunden und so von dem einzel-beitrag das auge mehr auf ein ganzes werk gelenkt. Seit ihrer lezten überschau hat sich ihre stellung bedeutend verändert und wer nicht von tag zu tag sondern aus genügender entfernung sieht bemerkt dass alles was heute unsre jüngste dichtung ausmacht hier seinen ausgang genommen oder seine anregung empfangen hat. Die bemängelnden richter entlehnen hier ihre maasse · die übriggebliebnen der wirklichkeits-schule glauben sich in den schönheitsmantel kleiden zu müssen und die hüter der alltags-lebendigkeit schreiben ›stilvolle‹ sonette. Was man noch vor zwanzig jahren für unmöglich gehalten hätte: heute machen bei uns Dutzende leidliche verse und Dutzende schreiben eine leidliche rede · ja das neue Dichterische findet wenn auch in der zehnfachen verdünnung öffentlichen und behördlichen beifall. Damit ist ein teil der Sendung erfüllt.

Nun muss man umgekehrt bei aller wertschätzung der schule vor einer gewissen geläufigkeit warnen die das echte überwuchert und für die alten verwirrungen neue sezt und vor einer rührigkeit die die kaum halbgebornen werte totredet. Man vergesse auch nicht dass die grenze des erreichbaren noch fern ist und dass die von diesem kreise abgesprengten die sich noch nicht zur gänzlichen entwürdigung ihrer muse entschliessen konnten vergeblich des allgemeinen beifalls harren. Das gibt denen die den tempel verlassen haben · in den vorhof ja auf die strasse geschritten sind eine mahnung sich wieder ins Innerste zurückzuziehen · und alle die es mit unsrer kunst und bildung ernst meinen werden sich der goldnen Blätterregel aus der zeit ihrer morgenfrühe erinnern: ›dass nichts was der öffentlichkeit entgegenkommt auch nur den allergeringsten wert hat‹ und dass nur eines not tut: ›ein weiterschreiten in andacht arbeit und stille‹.

[43] DER KÜNSTLER UND DIE ALLGEMEINHEIT

Man beklagt sich darüber dass der Künstler sich nicht mehr auf die herrschenden allgemeinheiten stüzt und doch folgt er dabei nur einem naturgesetz. Allgemeinheiten bestehen heute nicht mehr kraft wesenhafter normen und innrer nötigungen sondern durch zufällige übereinkünfte und wirtschaftliche bedürfnisse. Sie sind nicht mehr eingerichtet auf die stammhafte und ersterhand-leistung (originäre und primäre) auch nicht beim Künstler.

Der Künstler allein · vielleicht auch der beruflose betrachter der sich von diesen allgemeinheiten unabhängig hält hat noch die möglichkeit in einem Reiche zu leben wo der Geist das oberste gesetz gibt. Daher seine absonderung und sein stolz. Das innerste leiden der zeit kommt daher dass trotz vieler sachlicher vervollkommnungen alle allgemeinheiten ohne unterschied von stamm partei und glaubensbekenntnis nur noch die schmarotzer- und zweiterhand-leistung (parasitäre und sekundäre) hervorbringen und verwerten und kraft ihrer einrichtung keine andre hervorbringen und verwerten können: weshalb auch ihre dunkle sehnsucht nach dem Ersten hoffnungslos bleiben muss.

Heut ist wirklich ›die Kunst ein bruch mit der Gesellschaft‹.

ÜBER HERSAGEN VON GEDICHTEN

In Holland wurde durch den aufsatz von Albert Verwey in der ›Beweging‹ die aufmerksamkeit auf das hersagen von gedichten gelenkt. Er beginnt mit den sätzen: ›wenn dichter ihre verse lesen wird es von dem horchenden laien durchweg eintönig gefunden‹ und ›was der laie vortrag nennt ist ihm (dem dichter) ein greuel‹. Er führt die drei arten von vortragenden an · den sänger den redner den schauspieler die alle · jeder nach seiner weise · gedichte falsch lesen wenn sie nicht vom dichter unterwiesen werden. Das dichterische lesen · das bei uns eine durchaus unbekannte sache ist · nennt der laie der einmal zufällig etwas davon durch hören oder hörensagen vernahm eintönig (liturgisch psalmodierend): was aber an berichten über dichterisches lesen auf uns gekommen ist beweist dass ein dichter niemals anders gelesen hat und nie anders lesen kann.

[44] Bei uns holt sich wer selbst gedichte macht seine art des lesens vom schauspieler: sie ist dann nach der jeweiligen mode meiningerisch-pathetisch oder naturalistisch-prosaisch. Dazu ist freilich jeder gezwungen der nicht aus dem blut dem rhythmus sondern aus der bildung dem begriff dem geschmack also aus abgeleiteten (sekundären) kräften schafft. Das dramatische lesen lässt zwar eine grössere bewegtheit zu · aber auch hier ist es in guten zeiten so gewesen dass der dichter unterwies und den ton gab woraus sich dann die schauspielerische gepflogenheit entwickelte. Bei uns aber ist die schauspielerische gepflogenheit selbstherrlich geworden und wird unbarmherzig auf die verschiedenartigsten dichterischen gebilde angewandt.

Verwey gibt noch eine ausdeutung des Maassvollen · dasselbe was wir das Gebändigte nennen. ›Ein gedicht ist maassvolle lebensbewegung in versen. Glaubt jemand dass irgendeine lebensbewegung min der ist dadurch dass sie maassvoll ist? oder sehen wir nicht vielmehr dass völker und personen erst dann zeigen was in ihnen ist wenn schicksal und leben sie binden und einem festen maass unterwerfen? Kommt dann nicht erst ihr adel heraus · die kraft ihres widerstands · das feuer ihres laufs · die besonnenheit und bescheidenheit ihrer überlegung? Was waren die götter anders als das maass das die menschen sich gaben · worunter sie sich bückten und woran sie sich aufrichteten? Und so ist es auch mit worten: nur wenn die lebensbewegung in worten maassvoll wird kommt sie zu ihrer höchsten kraft und zu ihrem höchsten adel.‹


Der grund weshalb man in den stärker romanisierten ländern verhältnismässig gut · aber gerade im land der Dichter am wenigsten weiss was ein gedicht ist: man ist bei uns nur gewohnt · sinngemäss · skandierend (abzählend) oder schauspielerisch · nicht aber rhythmisch und dichterisch zu lesen. Auch alle hoch- und mittellehrer die zu hunderten unsrer jugend von der Antike reden können keinen begriff davon haben oder geben was ein griechischer chor eine römische ode ist wenn sie nicht einen wirklichen dichter wirklich dichterisch haben lesen hören.

[45] Ein andrer unsrer freunde sagt in seiner einleitung übers lesen von gedichten:

Nach dem gesprochenen wort als erscheinung eines dichterischen gebildes ist bei uns kein bedürfnis vorhanden. Es gibt ein verlangen nach rede als ausdrucksmittel einer meinung und es gibt ein verlangen nach vorgetragener musik. Vielleicht gibt es darum kein verlangen nach dem dichterischen rhythmus weil das verlangen nach dem musikalischen so stark vorhanden ist und befriedigt wird. Die beiden rhythmen sind selten in Einer seele lebendig · nur wenige dichter sind musikalisch · wenige musiker dichterisch. Höchster musik-rhythmus und höchster poesie-rhythmus schliessen sich aus weil sie verkörperung derselben weltsubstanz aber verschiedene aggregatzustände sind · also weil wasser nicht zugleich eis sein kann. In den stärker romanisierten ländern sowie in der Antike gab es keine ›Überladung mit Musik · welche bei uns das unzusammengehörige verdeckt‹. (Burckhardt.)

ÜBER DAS DRAMA

Wo kein dramatischer wind die gesamtheit füllt · kein dramatischer urtrieb mehr den einzelnen stösst · wie in Shakespeares tagen · wird die theatermache noch gehalten durch das schaubedürfnis der massen das sich ebensogut nach andrer seite entladen könnte · durch das gewohnheitsmässige vorhandensein von bühnen und schauspielern – zu schweigen von wirtschaftlichen nötigungen – sodann durch literarische erinnrungen und begriffe die längst mit andren hohlen schulformeln (etwa über das lehrgedicht · über geschichtsmalerei usw.) sich verloren hätten · wenn sie nicht durch das fortbestehn eben jener anstalten ein scheindasein fristen dürften. Heutige theaterstücke · auch die besten · entstehen nicht als gewächse und früchte · werden nicht mit organen aus organen gezeugt · nähren sich aus keiner luft keinem boden sondern werden gefertigt nach irgendeiner ältern oder neuern geschriebnen oder ungeschriebnen anweisung in der art von Freytags Technik des Dramas. Sie sind angewandte literaturgeschichte: alle einzelnen teile lassen sich mit mehr oder minder geschickter verdeckung der fugen und nähte zusammenstücken [46] · stoff · ›problem‹ · charaktere · ›milieu‹ · stimmung · ja selbst sprache – je nach der forderung des markts oder der erziehung des verfassers. So gibt es dramen nur weil die kostspieligen maschinen einmal da sind und weil deren umdrehung zuweilen grossen gewinn abwirft.

Das einzige wenigstens nach einer richtung hin denkbare drama ist heute das bürgerliche (das moderne sittenstück) mit dem wir uns aber nicht zu befassen haben weil es der ausdruck einer unvollständigen kümmerlichen und verfallenden welt ist von der die strebenden und einsichtigeren geister der zeit längst weggerückt sind.

Das Mysterienspiel aber auf das hier hingewiesen wurde · als den ausdruck einer eben erst sich bildenden welt · hat mit den bekannten voraussetzungen der bühne nichts zu schaffen und ist noch zu neu um ein gegenstand der betrachtung werden zu können.

›Wie können wir die deutsche malerei heben und neu beleben? durch gründung einer rahmenfabrik im grössten stil: Denn sind erst die geschmackvollen rahmen vorhanden so werden sich auch die guten bilder einstellen‹. Mit einer solchen kindlichen hoffnung geht man heut an verbesserung und erneurung des äusseren gerüsts zur neubelebung des dramas. Alle diese anstrengungen des bühnenleiters · malers und darstellers dienen nur dazu die aufmerksamkeit auf nebendinge zu schieben und des dramas wahre bestimmung in vergessenheit zu bringen. Wenn eine erneurung des dramas kommt so kommt sie nur durch den rhythmus und durch eines dichters lebendige stimme. Wer heute seinen ein- oder mehrakter zur aufführung an einer heutigen bühne einreicht und ein heutiges gemisch aus pöbel und halbgebildeten zu richtern herbeiruft beweist schon damit dass er sich nur in die wagnisse einer zweifelhaften unternehmung stürzen will · dass er aber vom wesen der dichtung · der kunst und des dramas noch nicht berührt worden ist.

›Und weil du Dionysos verlassen so verliess dich Apollo. Jage alle leidenschaften von ihrem lager auf und banne sie in deinen kreis · spitze und feile dir für die reden deiner helden eine sophistische dialektik zurecht – auch deine helden haben nur nachgeahmte maskierte leidenschaften und sprechen nur nachgeahmte maskierte reden.‹ (Nietzsche.)

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Neunte Folge. 1910

Über das Feststehende und die Denkformen
[52] ÜBER DAS FESTSTEHENDE UND DIE DENKFORMEN

Es sind anzeichen vorhanden dass unser denken nicht in der weise weiter kommt dass es immer verwickeltere fragen stellt und zu lösen sucht · sondern im hinblick auf das Feststehende derart gesundet dass es gewisse dinge nicht mehr einzubeziehen wünscht noch vermag.

DAS GÖTTLICHE

Die gewährleistung für den bestand des menschtumes (sowie jeder formierten natur) ist das Göttliche im menschen: alles fruchtbare des menschen kommt aus der pflege dieses Göttlichen. Die grosse menschheit · die herde · hat es in sich in der zweiten · abgeleiteten art · als funken der immer wieder entfacht werden muss glimmt und aufloht und strichweise erlischt: im allgemeinen neigt sie seit uranbeginn zur gleichen roheit · niedrigkeit und stumpfheit. Um diesen funken anzufachen erstehen die Schöpfer. Die Schöpfer haben das Göttliche in der ersten unmittelbaren art: sie sind urtypen und ob man sagt · sie tragen es in sich oder ein gott hat es ihnen eingegeben ist eine blosse denkform – wie das setzen eines hervorrufers hinter den dingen immer nur ein hinausrücken der grenze ist. Die Schöpfer müssen das Göttliche immer wieder neu gebären · sie geben es in der aufnehmbaren form den Hirten und diese geben es in der aufnehmbaren form der herde. Die zeiten wo die Hirten gut sind und die Hirten von der herde gehört werden nennt man die guten zeiten der menschheit. Kein Schöpfer ist so gross dass das von ihm gebrachte Göttliche für immer wirksam wäre wie es auch nie ein gleiches Göttliches für alle stufen gibt. Für zeiten die das Göttliche im menschen nicht erleben ist Gott eine blosse denkform.

DER HEILAND

Als Jesus Christus aufgetreten war erklärten die zustehenden obrigkeiten · er ist ein neurer der gefährlich werden kann und den es frommt aus dem weg zu räumen. Die gemässigten freidenkenden schriftgelehrten sagten · er ist ein essenischer schwärmer auf eigentümlich [53] ich-flüchtiger grundlage dessen gedanken sich bald klären werden oder in nichts zerfallen. Eine arme rotte von begeisterten aber sagte: du bist Christus der sohn Gottes. Die zeit hat die obrigkeit erwiesen als die stumpfsinnige gewalt die sie meist ist · die freidenkende schriftgelehrtheit · auch wenn sie recht hat · als das klägliche geschwätz das sie meist ist · die meinung der armen begeisterten aber ist die von jahrtausenden geworden: du bist Christus der sohn Gottes.

Unsere väter erklärten · Christus wollen wir anerkennen als den höchsten vertreter des menschtumes und ihm jedes menschliche lob spenden · aber dieses opfer können wir nicht bringen: anzuerkennen dass er Gott sei. Für uns von heute aber liegt das unbegreifliche darin wie ein mensch sich über die herde zu einer solchen höhe erheben konnte: der schritt von dem herdenwesen zu dem höhenwesen ist für uns der unendlich grosse · ein winzig kleiner ist uns der von dem höhenmenschen zum Gott. Drum ist es für uns kein opfer und kein zugeständnis wenn wir mit den jüngern ausrufen: du bist Gottes Sohn · du bist Gott.

DAS MODERNE

Wenn heute der mensch zu machen gelernt hat dass ein tisch sich vom fussboden erhebt und aufwärts fliegt so sind damit alle errungenschaften der modernen sachwissenschaft überflüssig geworden und die grundfesten der ganzen modernen menschheit erschüttert. Und dennoch sind solche hexereien von denen der modernen wissenschaft nicht im grund verschieden · da sie nur andre kräfte zu ganz demselben zweck benutzen. Wenn die menschheit oder wenigstens die weisse rasse willens ist auf ihre Homer Äschylus Sophokles Plato Praxiteles Phidias auf ihre Tizian Michelangelo auf ihre Dante Shakespeare Goethe auf ihre Alexander Caesar Napoleon zu verzichten · warum sollte man zweifeln dass sie dafür dinge eintauschen kann denen gegenüber das oben angeführte weltenerschütternde kunststück noch ein geringes ist? Es gibt aber eine welt für die es gleichgültig ist ob ein schiff fliegt oder ob ein tisch fliegt. Gegenüber diesen unbedeutenderen fragen tut sich die grosse frage auf: Stehen wir vorm untergang des bis heute gültigen menschtumes · des tragischen · des heldisch gehobenen menschtumes?

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Zehnte Folge. 1914

ZEHNTE FOLGE · 1914

Wenn die Blätter für die Kunst nach längerer pause wieder erscheinen · muss es ihnen vergönnt sein mit einem überblick über die dichtung der jüngsten vergangenheit zu beginnen. Als im lezten viertel des vorigen jahrhunderts die deutsche poesie in süssliches nachfahrentum und theaterhafte rednerei verfiel · folgte in den achtziger jahren jene äusserliche gegenbewegung der sogenannten wirklichkeitskunst. Sie kam aus keiner gestaltenden not · sie war verneinend oder auflösend und änderte nur die stoffe. Es ist heute nur als geschichtliche tatsache begreiflich dass damals die Jugend wie die Gebildeten in den lyrischen epischen und dramatischen erörterungen über gesellschaftliche übelstände und den missbrauch gegorener getränke eine neue kunst erblickten – ihrer sprachlichen leistung und ihrer geistigen haltung nach unterschied sie sich in nichts von schlechten Sturmunddrang-liedern den vorelterlichen leihromanen und der bekannten bürgerlichen komödie. Erst in den neunziger jahren begann mit dem erwachen der bildenden künste auch die wiedergeburt der dichtung. Der neue ton drang langsam in alle verserzeugnisse so sehr dass das gedicht vor und nach 90 sofort zu erkennen war und der neue sinn wurde wenn auch abgeschwächt in den entlegensten winkeln des schreibewesens wahrnehmbar. So erfreulich nun auch die vielen verse mit rhythmischer schulung und die vielen schriften mit durchgebildeterer sprache waren: die nur oberflächlich ergriffenen gingen bald über zu einem formalen alexandrinertum zu nervenhaftem verfeinern und zu spielerischer freude am blossen schmuck. Aber nicht einmal in dieser form ging das einmal Gewonnene · wie befürchtet wurde · sich übersteigernd weiter: alle ›die fortschreiten zu müssen‹ glaubten verfielen wieder in die anfänglichste plattheit und kinderei. So sehen wir jezt in diesen bedeutungsvollen läuften die vers-hervorbringungen nicht etwa in das immerhin stosskräftige getobe der achtziger jahre sondern in den faden singsang der siebziger jahre zurückgesunken. Unsere Blätter · die eine warte für die dichtkunst waren und sein wollen · haben heute erst recht die aufgabe zu zeigen was als mindestes geleistet werden [55] muss · und ihr selteneres erscheinen verrät nur ein stärkeres gefühl der verantwortung – keine ermüdung. Sie haben zu zeigen dass in zeiten eines kräftigen gesamtlebens die Dichtung keine gelegenheits- mache und spielerei · sondern innerste seele des volkes ist.

NACHRICHTEN

Die zehnte folge der ›Blätter‹ war bereits im vorsommer zusammengestellt. Es lag kein grund vor das erscheinen hinauszuschieben da unsere haltung vor und in den ereignissen des jahres sich gleicht. Auf den verweis dass es jezt nicht der augenblick für gedichte sei antworten wir mit Jean Paul dass vielleicht keine zeit den dichter nötiger hat als die ihn am ehsten entbehren zu können glaubt. Wie in den vorigen folgen einige so sind in dieser lezten alle verfassernamen als nicht unbedingt zur sache gehörig unterblieben.

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Elfte und zwölfte Folge. 1919

ELFTE UND ZWÖLFTE FOLGE · 1919

Zum fünfundzwanzigsten erscheinjahr der Blätter verweisen wir auf die geleitsätze der früheren bände die über das verhältnis von dichtung und kunst · von leben und kunst alles nötige anführen und begnügen uns heute mit der feststellung dass über das einzelne gelungene versgebild hinaus immer mehr der wert grösserer dichterischer zusammenhänge empfunden wird und dass jezt mit den werken der söhne zum erstenmal die der enkel auftreten – weiter reicht die erwartung eines menschendaseins kaum. Auch die zweite stufe unsrer wirkung ist inzwischen sichtbarer geworden – durch bedeutsame weithin bestaunte bücher des wissens und der überschau. Vom einfluss im lebendigen kann geschwiegen werden.. nur so viel dass in jeder beziehung eine folge: eine überlieferung geschaffen ist. Draussen aber hat wie überall sich in künsten und wissenschaften das chaos ins unabsehbare verbreitert: alles gleitend · freischwebend · vereinzelt – hier kleintierhafte tüftelei und verblüffende zerspaltung · dort auflösen und verzerren bis zu gestotter klecks und fratze. Wir haben uns nur zu beschäftigen mit dem was schon jenseits des grossen Sumpfes liegt.

Jüngst erging an uns die mehrfache mahnung dass in diesen gelockerten führungslosen zeiten es geboten sei · die ausschliessende haltung aufzugeben und an weiteste kreise sich zu wenden. Freilich ist vieles von dieser stelle aus seit jahrzehnten gesagte heut fasslicher. Doch scheint es dass unbelehrt durch die furchtbaren ereignisse das jezt dahintreibende geschlecht eher alles andre möchte als auf seine drei oder vier lieblingsgötzen aus dem vorigen jahrhundert verzichten – die es so schmählich im stich gelassen haben. Es vergeudet seinen kraftrest mit hoffnungsloser flickerei am verschlissenen · mit törichtem aufspüren einer schuld beim nebenmann und in allerlei nebendingen. Die donnernden worte der richter · voran Nietzsche · über die frevel der Neo-Europäer verklangen ungehört. Den Deutschen wurde als den ersten vom verhängnis die gelegenheit gegeben zu erwachen: doch die gemeinsamen wurzeln der übel zu erkennen – sei es oben unten rechts links oder mitte – sind erst die[57] Späteren nicht die Gegenwärtigen befähigt. Dadurch wird nach wie vor die haltung des geistigen menschen in den staatlichen und gesellschaftlichen dingen bestimmt. Es hat kaum einen sinn · in diesem allgemeinen wirrwarr wo alles sich wütend bekämpft was allzusehr dasselbe ist hineinzurufen mit einem wort der würde der edlen leidenschaft oder auch nur der vernunft. Mag auch mancher mann der öffentlichkeit schon zugestehen dass er über die ›zeichen der zeit‹ und ›was in der welt wirklich vorgeht‹ sich zuweilen besser aus gedichtbüchern unterrichtet hätte als aus zeitungspapieren: das will nicht viel besagen! Nur den wenigen dürfte es einleuchten dass in der dichtung eines volkes sich seine lezten schicksale enthüllen.

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TextGrid Repository (2012). George, Stefan. Sonstige Werke. Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-C8C9-7