Georg Forster
Über den gelehrten Zunftzwang

Vorrede zu Volneys Ruinen

[369] Das Gesez der Vernunft kann nur Eines seyn: ihre Anwendung auf alles was ist, auf alles was durch die Sinne unmittelbar wahrgenommen oder mit Hülfe der Reflection als existirend gedacht werden kann. Das Gegentheil, die Behauptung, daß wir diese Anlage empfangen hätten, um sie nicht zu benutzen, ist so widersprechend in sich selbst, daß man sie keiner ernsthaften Widerlegung würdigen kann. Je künstlicher jemand diesen Saz vertheidigte, desto mehr Ausbildung seiner eigenen Vernunft würde selbst dieser Misbrauch derselben verrathen; die Vernunft aber gegen sich selbst sprechen lassen, heißt wohl mehr nicht, als einen metaphysischen Selbstmord begehen, der, wenn man auch die Befugnis dazu sehr glimpflich beurtheilen wollte, doch immer nur als Ausnahme von der Regel gelten kann. Dagegen ist der Durst nach Erkenntnis und Wahrheit so tief in unsern unwillkührlichsten Trieben gegründet, so innig verwebt mit den wesentlichsten Bedürfnissen unserer Existenz, daß sogar die Völker Asiens, denen wir an Kultur und Energie des Geistes so weit überlegen sind, die Erweiterung des Wissens zu einer Vorschrift ihres Sittengesetzes erheben, daß es in Indien die unerlaßliche Pflicht des gelehrten Brahmen ist, Lehre und Unterricht zu verbreiten, und daß der schwärmerische Prophet Arabiens allen seinen Gläubigen im Koran gebietet, »nach Erkenntnis zu forschen bis an die entferntesten Enden der Erde«. Wäre es hier erlaubt, auf Kosten des Menschengeschlechts zu scherzen, so könnte man sagen, daß das positive Gebot vermuthlich an der schlechten Befolgung Schuld gewesen sey. Wir haben keine ausdrükliche Vorschrift dieser Art; allein unsere Moralität ist überhaupt keinem Gesez unterworfen; unsere höhere Empfänglichkeit wurde vorausgesezt, als man uns, statt aller Pflichten, das sanfte Geheis der freien Humanität auferlegte: uns zu lieben untereinander. 1 Diese Emancipation vom blinden Gehorsam die alle Zwangmittel und alle Befehle überflüssig macht, sezt zugleich voraus, daß wir die Richtschnur unseres Verhaltens in unserm Innern besitzen und ruht mit Zuversicht in der Überzeugung, daß wir mit dem Pfunde, welches uns anvertraut [369] ist, nach der Freisprechung von jedem dogmatischen Zwange wuchern, jedesmal nach bester Einsicht handeln und unaufhörlich streben werden, diese zu berichtigen und zu erweitern.

Demungeachtet giebt es schwerlich eine Gefahr, welche die Europäer noch zur Zeit weniger zu befürchten hätten, als die Erschöpfung aller Quellen ihres mannichfaltigen Wissens. Auf die Erhaltung der Unwissenheit scheint sogar von jeher eine größere Anzahl Menschen absichtlich bedacht gewesen zu seyn, als auf die Erweiterung der Gränzen menschlicher Erfahrung; wenigstens giebt die Geschichte, von den ältesten bis auf unsere Zeiten, das merkwürdige Zeugnis, daß wo man von der Verbindung des Eigennutzes mit der Macht die eifrigste Betriebsamkeit um Berichtigung und Vermehrung der gemeinschaftlichen Masse von Kenntnissen hätte erwarten sollen, gerade dort der gänzlich fehlende Wille mehrentheils diese Erwartungen kläglichst getäuscht habe. Dieses langsame Fortschreiten, diese immer wieder in den Weg tretenden Hindernisse denken wir uns in der weitesten Zusammenfügung aller Glieder der großen Schiksalskette schon vorherverordnet; nicht, als ob wir eine Regel hätten, nach welcher sich die Moralität (daß ich so sage) dieser Anordnung a priori darthun ließe, sondern weil wir gezwungen sind, zu unserer Beruhigung jene Moralität in das Geschehene hineinzutragen. Die Werkzeuge aber, deren Gleichgültigkeit, Schwäche oder Unart bei dieser Verzögerung im Spiele war, können uns, wie viel wir auch von ihren Werken auf des Schiksals Rechnung setzen, doch darum keinen Augenblik ehrwürdiger scheinen; vielmehr, da der Aufschub uns höchstens nur als Bedingung des endlich zu erreichenden Guten erträglich werden kann, so bleibt uns dasjenige, was ihn verursacht, ein Gegenstand des Misfallens und dafern es ein freies denkendes Wesen ist, der Verachtung. Wenn indessen hienieden unversöhnliche Feindschaft zwischen den Reichen der Wahrheit und der Unwissenheit besteht; wenn die Einsammlung aller vereinzelten Stralen der Erkenntnis in Einen Brennpunkt der Erleuchtung – dieses herrliche Ziel menschlicher Wisbegierde – nur im erhabenen Kampfe der Geduld und des Ausharrens errungen werden kann und jeder Schritt [370] zu diesem Ziele mit neuen Opfern der Selbstverläugnung erkauft werden muß: so begreift man wohl, daß eine Begeisterung, die sich selbst belohnt, aber weiter keinen Lohn zu hoffen hat, ziemlich selten seyn müsse; allein man ahndet zugleich das schöne Bewußtseyn eines Geistes, der so viele Triumphe als Anstrengungen zählt.

In der That gebricht es unserm Zeitalter nicht gänzlich an dieser unbefangenen Wahrheitsliebe; fast möchte ich auch behaupten, daß die neuesten Versuche geistlicher und weltlicher Unterdrücker, dem freien Untersuchungsgeiste Fesseln anzulegen, so verabscheuungswürdig sie an und für sich seyn mögen, an dem unvollkommenen Zustande unseres Wissens weniger Schuld haben, als jene andere, weit allgemeinere Äusserung der angeborenen Herrschlust, welche die Resultate ihres Forschens zu Machtsprüchen und Gesetzen erhebt, von denen keine Appellation statt finden soll. Ich rede daher auch nicht an diesem Orte von der Beeinträchtigung der Preßfreiheit und noch viel weniger von dem zweklosen Bestreben, dasjenige, was seiner Natur nach das freieste auf Erden ist, den Glauben, an ein gewisses Symbol zu binden. Diese Künste der Regierung, wenn es ja Künste seyn sollen, kommen jezt um ein ganzes Jahrhundert zu spät und sind der wahren Aufklärung so wenig gefährlich, daß sie ihr vielmehr, obgleich wider des Erfinders Absicht, dienen müssen. Wie der finstere Körper eines Planeten, der im Lichtmeere schwimmt, ohne sein Verdienst die Sonnenstralen, die sich an ihm brechen, zurückwirft und die Dunkelheit der Nacht zerstreuen hilft; so muß in einem erleuchteten Zeitalter der Fanatismus der Unvernunft, wenn er sich hinein verirrt, den Abstich des Guten vom Schlimmen, des Wahren vom Falschen, des Brauchbaren vom Unnützen nur noch unverkennbarer machen.

Die Tyrannei der Meinungen war aber von jeher dem Menschengeschlechte um so viel gefährlicher, je künstlicher sie sich hinter der Larve der Vernunft selbst zu verbergen wußte. Ein Phantom, welches unter dem Namen allgemeine Vernunft, die unbedingteste Huldigung verlangt, scheint noch jezt die Freiheit jeder wirklich existirenden subjektiven Vernunft beeinträchtigen zu wollen. Nicht genug, daß alle[371] Zweige unserer Erkenntnis zu den allgemeinen Gesetzen des Denkens zurückgerufen und wie es recht ist, mit der systematischen Form einer Wissenschaft neu ausgeprägt werden; soll dieses Gepräge nun auch jeden anderweitigen Gebrauch der Verstandskräfte theils entbehrlich machen, theils die Resultate desselben ausser Curs setzen und zur verrufenen Münze herabwürdigen; gerade, als ob sich für die transcendente Verschiedenheit der Menschen, in Absicht auf die Intensität und Proportion ihrer Kräfte und für die Wirkung der coexistirenden Dinge auf jedes Individuum, von einem Geiste, der nicht alle mögliche Combinationen umfaßt, eben so gut eine Regel a priori entwerfen ließe, wie für das bedingte Subjektive unserer Vorstellungen, welches sich aus den allgemeinen Einschränkungen der menschlichen Natur entwickeln läßt. Auf diese Weise wirkt die scharfsinnigste Anwendung der Vernunft, wodurch sie, zum unschäzbaren Gewinn der Wissenschaften, eine Gränzbestimmung ihres eigenen Vermögens zu Stande brachte, sehr nachtheilig auf den Verstand zurück und hemmt den freien Gebrauch seiner Kräfte, wenn die Bedingnisse zur Gültigkeit der angemaaßten Urtheile ausser der Sphäre des Richters liegen. Die Trägheit und die Eitelkeit finden sich beide geschmeichelt durch jene Theorien, die als Fäden, woran wir unsere Erfahrungen reihen können, so brauchbar sind, aber ihrer Natur nach, weil sie auf unvollständigen oder gar auf falschen Prämissen ruhen, mit jeder neuen Entdeckung schwanken oder einstürzen müssen. Mit Recht warnt daher die Philosophie, die auf die Erhaltung der Freiheit und der Eigenthümlichkeit im Menschen bedacht ist und kein despotisches Interesse hat, ihre individuellen Überzeugungen allgemein geltend zu machen, vor jenem in allen Wissenschaften noch so wirksamen zünftigen Despotismus, der genau wie der politische und hierarchische, darauf ausgeht, die Menschen in den Zauberkreis eines Systems zu bannen, ausser welchem die Wahrheit nicht anzutreffen seyn soll, und innerhalb dessen Bezirk gleichwohl die Beschränktheit des Raums und die Armuth der Ideen die Hälfte unserer Anlagen zur Unthätigkeit verdammen, indeß die andere ein mechanisches opus operatum treibt.

Es scheint besonders nöthig, diese Warnung vor einem Buche [372] her zu schicken, dessen Verfasser dem gelehrten Zunftzwange so wenig Achtung schuldig zu seyn glaubt, als den verschiedenen politischen Gesammtheiten und bürgerlichen Innungen seines Vaterlands, die er als Mitglied der constituirenden Nationalversammlung zur Gleichheit hat zurückführen helfen. Allerdings ist es Zeit, der Spiegelfechterei der Authoritäten ein Ende zu machen und der Wahrheit die Ehre zu geben, die ihr gebührt, die Ehre nämlich, daß sie blos ihrer eigenen Kraft bedarf, um sich gegen allen Irrthum und alles Blendwerk zu behaupten. Verzweifelt stünde es in der That um die Sache der Wahrheit, wenn sie irgend eines Zwangmittels vonnöthen hätte, um sich geltend zu machen, wenn sie nur da den Sieg davon trüge, wo ihre Widersacher nicht reden dürften. Ist aber vollends ausgemacht, daß es für endliche, sinnliche Geschöpfe, wie wir, nur immer eine bedingte, zufällige, keine selbstständige, absolute Wahrheit giebt – die ausgenommen, die sich nicht denken, sondern nur höchstens im geheimsten Innern des Empfindungsvermögens ahnden läßt, die folglich unbegreiflich und unaussprechlich ist und weder mitgetheilt noch geprüft und von der Schwärmerei und dem Wahnsinne nicht unterschieden werden kann – so finden wir kein besseres Mittel, unsere Vervollkommnung zu befördern, als die lehrbegierige Auffassung jeder verschiedenen Modification, nach welcher sich das All des Denkbaren in verschiednen Köpfen gestaltet. Diejenige Vorstellungsart aber, die keine andere neben sich dulden mag, die allein gelten will, wo alle gleiche Ansprüche und gleiche Mängel haben, verdient allein in die Schranken der Gleichheit zurückgewiesen zu werden.

Weit entfernt also, dem Ideengange des Verfassers das Recht einzuräumen, irgend eine andere Meinung gewaltthätig zu verdrängen, fordert man billigerweise nur für ihn das Recht, neben so vielen anderen frei aufzutreten und die Prüfung mit ihnen zugleich auszuhalten. Die Hypothese, womit er seine Landsleute bekannt macht, ist unter uns zwar nicht ganz unerhört; allein seine Gabe sie vorzutragen und auszuschmücken, macht sie zu einer unterhaltenden Lektüre. Wem es nicht um Namen und Worte zu thun ist, der wird vielleicht in manchen Stellen dem wesentlichen Inhalt des [373] Buchs und der richtigen Anwendung des Verstandes Beifall geben und mit der lauteren Humanität und Philanthropie des Verfassers auch alsdenn noch sympathisiren können, wenn das Ganze ihn ein Hirngespinnst dünkt, oder seine Überzeugung an einer andern Vorstellungsart haftet. Wer hingegen am Schlusse des achtzehnten Jahrhunderts noch Pharisäer genug ist, sich selbst oder der Welt zu heucheln: er habe die Wahrheit; den rufen wir auf, den ersten Stein auf unsern Träumer zu werfen!

Fußnote

Note:

1 Evang. Joh. XIII. 34, 35. XV. 12, 17.

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TextGrid Repository (2012). Forster, Georg. Essays und Reden. Über den gelehrten Zunftzwang. Über den gelehrten Zunftzwang. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B1DC-9