Georg Forster
Die Kunst und das Zeitalter

[123] Vos exemplaria Graeca

Nocturna versate manu, versate diurna.

HORAT.


Von allen zarten Blüthen, welche den Garten des geselligen Lebens schmücken, von allen die zarteste, die schönste, die vergänglichste ist die Blüthe der Kunst. Vor dem Entfalten scheint ihre Knospe nur ein dunkles Chaos, welches sich mühsam zu formen beginnt. Was auf den Augenblick ihrer Vollkommenheit folgt, ist nur entseelte Gestalt. Vergebens wünscht man diesen glänzenden Moment zu verlängern oder festzuhalten; nicht einmal ihn wiederzubringen steht in menschlicher Hand. Unter einem glücklichen und in seiner Art einzigen Zusammenfluß von Umständen erhoben sich die Griechen ganz allein zur höchsten Vollkommenheit des Ideals. Was von ihren göttlichen Werken der Zerstörungswuth der Jahrhunderte entgangen, oder auch nur in Nachahmungen den Spätlingen des Menschengeschlechts erschienen ist, bewahrt noch die heilige Glut, an welcher der Genius der neueren Kunst seine Fackel zu zünden versuchte. Allein was bleiben die Kunstepochen des alten und des neuen Roms, was die späteren Frankreichs und Grosbritanniens, sobald Griechenland seine Modelle zurückfordert, und ihnen nur ihr Eigenthümliches übrig läßt? Jede Abweichung von dem Ebenmaas, welches Polyklet in seinem Kanon oder Parrhasius als anerkannter Gesetzgeber der Malerey gebot, jeder ungriechische Ausdruck der Köpfe, jede Gestalt, die nicht ihren Karakter, ihre Harmonie von irgend einer griechischen Gottheit entlehnt, sinkt unverzüglich in die Region der Verunstaltung hinab. Giebt es nur eine erträgliche Statue neuerer Zeiten, wozu die griechische Mythologie nicht den Gedanken, die Formen und Verhältnisse, griechisches Kostume nicht die Gewänder hergegeben hätte? Wo ist ein Schnirkel unserer Baukunst, wenn er das Siegel des Schönen an sich trägt, dessen Urbild nicht aus dem Kopf eines Griechen stammt? Warum endlich, steht Raphael einzig unter den Neuern? Warum hatte Guido, daß ich Mengs für mich reden lasse, soviel Anlage zum großen Mahler? Weil jener die hohe Idealisirungskunst der Alten besaß, und dieser nach ihren schönsten Werken kopirte.

[123] Unermeßlich ist die Entfernung, in welcher die moderne Kunst hinter der alten zurückbleibt; unermeßlich! denn wer getrauet sich die Kluft zu messen, die das Wahre von dem Falschen trennt? In dieser schneidenden Bezeichnung scheint etwas hartes, vielleicht sogar unbilliges zu liegen; allein retten wir in der Folge nur den relativen Werth neuer Kunstwerke, so wird man uns eine strenge Wahrheit hingehen lassen, für welche die Recriminationen des Publikums und der Künstler selbst uns Bürgschaft leisten. Die Norm des Schönen liegt schon im Innersten unseres Wesens; sie bestimmt des Künstlers Wahl und Ausführung, wie das Urtheil des Kenners. Dieses, der menschlichen Natur angeborene Gefühl zeigt ihnen untrüglich in den Überresten antiker Kunstgebilde das Schöne des inneren Sinnes, im Schönen der Gestalt,den erhabenen Einklang, den man im glänzenden Machwerk der Neuern fast gänzlich vermißt. Was bedeutet anders die allgemeine, die laute Beschuldigung, daß Gewinnsucht und Stolz den neueren Artisten beherrschen, nicht edle Ruhmbegierde und reine Begeisterung des Schönheitssinnes? Wohin anders zielt die bittere Gegenklage der Künstler über Kälte der Zeitgenossen, über Verfall des Geschmacks, über Vervollkommnung mechanischer Gewerbe, welche das Werk der höheren Kunst entbehrlich machen, indem sie einem Luxus Genüge leisten, der keines erhabenen Schwunges fähig ist? Zu welchem andern Endzweck tritt auch die Schiedsrichterin Philosophie hervor um den Streit des Zeitalters mit den Künstlern zu schlichten? Beschuldigt sie nicht den rauheren Himmelsstrich mit seinen verkrüppelten Gestalten, seinen reizlosen Verhüllungen und der steifen Ehrbarkeit seiner gleissenden Sitten? Ja, sie beschuldigt auch jene finstere Schwärmerey, die aus Furcht vor dem Mißbrauch sich von allen Naturbestimmungen lossagen, und aus Menschen sinn- und seelenlose Maschinen schaden möchte; sie beschuldigt endlich noch jenen weltlichen Despotismus, wo ein träges Rad alle Räder treibt und wenn dieses stockt, sie alle stocken. Eine Wirkung, wovon man überall die Ursache suche, muß wenigstens vorhanden, und ihre Existenz von allen Seiten anerkannt worden seyn. Nähere Bestimmung des Begrifs, den wir mit dem Endzweck der Kunst verbinden, und Winke, von [124] demjenigen, was der heutige Künstler uns gewährt, werden unsere Behauptung in ein helleres Licht setzen.

Das Kunstwerk im Verhältnis zu seinem Urheber ist die Schöpfung seiner individuellen Kräfte in einer schon gegebenen Materie; Umwandlung derselben nach den Bildern, welche seine Phantasie, vom Anschauen geschwängert, als ihre geistigen Kinder gebahr; empfangener Eindrücke Darstellung im Äußern. Dieser sittliche Bildungstrieb ist wie der physische in jedem einzelnen Menschen von höchstverschiedener Intension, und überdies entwickelt er sich anders in jedem, nach der mannichfaltigen Verschiedenheit des äusseren Verhältnisses. In manchem Griechen gieng vielleicht ein Lysander oder Apelles nur darum verloren, weil er nicht als Alexanders Zeitgenosse die Hallen und Tempel in Athen durchwandelte; dahingegen auch mitten im Genuße des attischen Ideenreichthums ein schwacher Kunsttrieb in unfruchtbarer Ruhe dahin starb. Intension der wirkenden Kräfte, Zartheit und Schärfe des äussern und innern Sinnes und höchste Perfectibilität des dienenden Mechanismus der Gliedmassen, mit einem Worte, die sittliche und physische Vollkommenheit des Künstlers, ist folglich nur das erste Erfordernis der Kunst. Er empfinde lebhaft, empfange zahllose Eindrücke und setze sie schöner zusammen; seine künstliche Hand gehorche willig dem schaffenden Triebe und ihr materielles Gebilde versinnliche treu und vollkommen das Geschöpf seiner Phantasie: wenn die Natur, aus welcher er schöpfen muß, ihm ihre schönsten Formen vorenthält, verloren ist dann alle seine Mühe.

Wir wollen nicht hinabsteigen in die Tiefen der Metaphysik, um dort zu erfragen, was Schön genannt zu werden verdiene. Das Wesentliche der Empfindung reicht über die Gränze der messenden und vergleichenden Vernunft hinaus. Die verschiedene Brechbarkeit der Lichtstralen erklärt uns eben so wenig wie die Vorstellung ihrer verschiedenen Farben in uns entsteht, als die logische Definition des Schönen jenes untheilbare, ihm immanente Wirken in einen für dasselbe geschaffenen Sinn. Mit dem Schönen verbrüdert sind die Begriffe des Ganzen, Harmonischen, Vollkommenen. Diese Verhältnisse beschäftigen den Verstand; er findet die Schönheit in ihrer Mitte; aber lange zuvor fand sie das Herz und schmolz in [125] namenlosem Entzücken. So umschweben Cytheren die Grazien und Nymphen; doch wehe dem, der nur an ihren Gespielinnen die Göttin erkennt! Um die Schönheit zu empfinden, müssen wir sie anschauen in der Natur oder im Wercke des Künstlers; wenn wir hingegen von ihr reden, bezeichnen wir nur die Verhältnisse der begleitenden Erscheinungen. Demzufolge ist die Empfindung des Schönen die reinste, wenn ihr Gegenstand ein Ganzes bildet, das durch seine inneren und äusseren Beziehungen unserer Vernunft vor allen anderen richtig ist. Also nicht die ganze, unermeßliche, heilige Natur, denn wir erkennen sie nur in abgerissenen Theilen; nicht die leblosen Felsenmassen des Erdballs, denn auch ihnen fehlt die wesentliche, bestimmbare Einheit; nicht die gefälligeren Gestalten des Pflanzenreichs, denn ihre Form hat noch kein strenges Gesetz, und sie sind gefesselt an der Erde mütterlichen Schoos; selbst thierisches Leben nicht, des Daseyns unbewußt, an inneren Beziehungen arm; sondern der Mensch, der sich von allem Coexistirenden unterscheidet und gleichwohl ausser sich nur Correlate seiner innern Harmonie erblickt, – der Mensch ist der höchste Gegenstand der schönheitbildenden Kunst.

Was man auch über den Ursprung der Menschengattung wähnen mag; es sey, daß jedes Land seine Bewohner als Autochthonen aus eigenem Schlamm hervorgehen ließ, oder daß von Einem gemeinschaftlichen Stamm, oder von etlichen wenigen Urältern das ganze Heer der Nationen entsproß und sich allmälich über alle Weltgegenden verbreitete: so mußte doch bei der vielfältig verschiedenen Beschaffenheit der Länder und ihrem wirksamen Einfluß auf innere und äussere Bildung, die Gegend irgendwo zu finden seyn, wo die menschliche Organisation mit der Lage, den Erzeugnissen, dem Himmelsstrich, vor allen übrigen harmonirte, wo alles zusammenstimmte, sie zur höchsten Vollkommenheit und Schönheit zu bilden. Es dürfte nicht schwer halten, nach den Merkmalen, welche der Vernunft die Gegenwart des Schönen bezeichnen, mit überführender Klarheit darzuthun, daß Griechenland jenes beglückte Ländchen war, wo dieschönsten Formen der Menschengattung einst entstehen mußten. Das milde gemäßigte Klima, die zum Handel und Verkehr [126] mit entfernten Völkern, mithin zur Entwicklung der Kräfte und Vermehrung der Kenntnisse so bequeme Lage, die Freiheit der Verfassungen, das daraus entstehende schöne Gleichgewicht der physischen und sittlichen Kultur, der Gedankenreichthum bei der höchsten Reitzbarkeit des Gefühls; kurz, alles deutet hin auf dieses Ziel.

Hier also vereinigten sich jene Bedingnisse, welche zur Schöpfung eines vollendeten Kunstwerks unentbehrlich sind. Der Künstler, reich an innerer Voll kommenheit und Harmonie, fand um sich her Gestalten, die seinem Sinne für das Schöne entsprachen, und durch ihre Nachbildung konnte er anschaulich machen, wie er das Schöne empfände. Nun blieb er nicht mehr knechtisch bei der einzelnen Form; von mühsamer Nachahmung schwang er sich empor zur edlen Freiheit der Wahl; das Schönste erkohr er unter dem Schönen. So stellte Zeuxis die Töchter von Agrigentum in blendender Schönheit vor sich hin, um aus ihren verschmelzten Reitzen für den Tempel der Juno Lucinia sein bewundertes Gemählde zu entwerfen. Denn ohne leisen Mißton ist keine, selbst nicht die lieblichste Form, in der Natur; vielleicht, weil auch das vollendetste irdische Wesen nur ein Akkord ist jenes großen Zusammenklangs, in dessen Rauschen unser Geist versinkt!

Eine Stufe war noch zu ersteigen übrig, und auch zu dieser hob sich die griechische Kunst. Das Gefühl des Künstlers war bereits vertraut mit jenen feineren Zügen, in denen sich die Lebenskraft offenbart. Es gnügte ihm nicht länger, nur einen schönen Leichnam zu formen; den schönen Körper belebte die schönere Seele und vor seinem Marmorbild ahndete der Zuschauer zum erstenmal, wie größere Menschen empfinden. »Diese Stirne birgt hohe Weisheit«, rief man einander zu; »jener Blick ergründet die Gedanken und enträthselt die Zukunft; Überredung fleußt von solchen Lippen! Den Schleier der Gestalten durchschimmern hier Leiden und Genuß; aber sie stören nicht das schöne Ebenmaas ihrer Züge, entadeln nicht ihre Stellung: so leidet und so genießt der Held und der Weise!« Von gehaltener Wirkung ist jeder Karakter, wenn Schönheit seinen Ausdruck begränzt. Die ernste Jungfräulichkeit scheuchet nicht mehr das Auge des Staunenden [127] zurück. Auch die reitzenden Formen der Liebe wecken nicht den Sturm unedler Begierden, sondern flößen das stille Sehnen der Zärtlichkeit in das Herz. List und Trug werden im Sohn der Maja zur anschmiegenden Grazie der Jugend. Des Rebengottes Trunkenheit ist nur Frohsinn und Freude. Auf Apollons, des Fernhertreffenden, Lippe verschwindet im Siegeslächeln der Zorn. So gelang es den kühnen Künstlerphantasien, berauscht von den Göttergesängen ihres Homers, eine Schönheit zu dichten, die für Sterbliche zu rein, zu wunderbar, zu göttlich ist. Entfesselt von dem gröberen Körper, allwirksam stand die Lebenskraft vor ihnen da, in ätherischen Umrissen noch sichtbar, wie sie im Ichorstrom die schöne Form erfüllt. An der furchtbaren Gränze, wo die Schönheitslinie wieder in Misgestalt übergeht, ergriffen sie die möglichen Gestalten des Erhabenen, deren Urbilder die Natur nicht in sich faßt, und schufen ahndungsvoll das hohe Ideal!

Schön ist der Lenz des Lebens, wenn die Empfindung uns beglückt und die freye Phantasie in rosigen Träumen schwärmt. Uns selbst vergessend im Anschauen des gefühlerweckenden Gegenstands, fassen wir seine ganze Fülle und werden Eins mit ihm. Nicht blos die Liebe spricht: gebt alles hin, um alles zu gewinnen! Bey jeder Art des Genusses ist diese unbefangene Hingebung der Kaufpreis des vollkommenen Besitzes. Aber auch nur was so innig empfangen, uns selbst so innig angeeignet ward, kann wieder eben so vollkommen von uns ausströmen und als neue Schöpfung hervorgehn. Diesen Ursprung erkennt man in den Werken, die ächtes Genie gebahr; sie sind die Kinder eines edlen, großen, umfassenden Sinnes und einer Bildungskraft von unaufhaltsamer Energie. Das reifere Alter ist selten jener Hingebung fähig; die Erkenntniß des Mannichfaltigen, indem sie das Selbstbewußtseyn schärfte, hat ihm seine Unbefangenheit geraubt. Vergleich und Wahl gehen vor allen seinen Handlungen her; Selbsterhaltung ist ihr Zweck und Selbstverherrlichung. Der Genuß des eigenen Daseyns schließt jedes Wirken aus, wobey die Individualität verläugnet werden muß; die Vernunft usurpirt die Rechte des Gefühls, und ihre Gesetze beschränken die Thaten des Herzens.

Wessen Blick durchdringt die dunkele Ferne verflossener und [128] kommender Jahrhunderte, um den Lebenslauf ganzer Nationen so zu fassen und in einem großen Zusammenhange vor sich aufgedeckt zu überschauen? Wer verfolgt den zarten Faden ihrer Schicksale vom Entstehungspunkt an, von jener ersten Wildheitsepoche der fälschlich sogenannten Willkühr, wo sinnliches Gefühl die einzige unmittelbare Triebfeder ihres Handelns war, zum jugendlichen Erwachen der Mittlerin Vernunft, die mit den Sinnen spielte, bald um die Herrschaft mit ihnen rang und bald mit unumschränktem Zepter regierte; bis endlich auch ihre Kraft wieder erlischt und der Mechanismus ihrer Vorschriften allein übrig bleibt, in dessen langgewohnten Banden die geschwächte Organisation maschinenmäßig oscillirt, gleichfern von eigener Empfindung und eigenem Denken? Wagt es jemand diesen Analogien mit dem Einzelnen noch weiter nachzuspüren, und die Dauer der gesammten Menschengattung, als Einheit betrachtet, mit unseres individuellen Wachsthums und unserer Abnahme Stufen zu vergleichen, des Kindes thierische Sinnlichkeit, des Jünglings ideenreiche Blüthe der Gefühle, des Mannes richtenden Ernst und des Greises Gewohnheitsspiel in jenem großen Zirkel wiederzufinden? Wenigstens wäre es nicht ungereimt, an endlichen Dingen, die Punkte des Werdens und der Auflösung bestimmen, oder mit den Phänomenen der Geschichte ein hypothetisches Gerippe bekleiden und zu einem möglichen Ganzen verbinden zu wollen. Doch es ist mehr als Hypothese, dem Forscher wird es wahr, daß auf jenen edlen Zeitpunkt, da das Feuer der Begeisterung die Menschheit ergriff, ihr Sinn sich aufschloß dem Schönen, sich nährte von den Rhapsodien des Dichters und des plastischen Künstlers – die größte aller Veränderungen in ihr erfolgte. Die Kunst ward die Pflegerin der Wissenschaft. Das schöne Ebenmaas ihrer Bilder erzeugte jene abgezogenen Begriffe, mit denen der Mensch das Sinnenall umfaßte und bald auch die unabsehbaren Gefilde der intellektuellen Sittenwelt durchdrang. Wo der Künstler innig gefühlt, kühn geahndet und glücklich dargestellt hatte, dort bestimmte nun der Denker die Regeln des Vollkommenen, der Symmetrie und Übereinstimmung, dort abstrahirte er die ganze Kritik der Kunst. Jetzt also demonstrirte und begriff man die Tugend, das liebenswürdige [129] Sittlichschöne, welches man bis dahin in dem Rhythmus des Sängers, in des Bildhauers oder des Malers Zauberwerken empfand. Allein indem der menschliche Geist sich seiner freyesten Thätigkeit und insbesondere die Vernunft sich ihrer höchsten Entwickelung nahte, gieng unvermerkt die ästhetische Empfänglichkeit verloren. Der geistreichste Schriftsteller unseres Jahrhunderts hat irgendwo so fein als richtig bemerkt, daß auf ein geniereiches Zeitalter nur ein scharfsinniges folgen kann, und modernes Verdienst nur in der Zergliederung des Verdienstes der Alten besteht.

Griechische Weisheit hat sich daher erhalten bis auf uns, indes griechische Kunst, wie der Blüthenschnee des Frühlings dahin schwand. Die Weltbeherrscherin Rom verbreitete in ihren entferntsten Provinzen denselben Geist der Gesetze, den ihre Stifter aus Griechenland entlehnten; und die neue Religion, die mit der Schnelle des Wunders vom Morgenland aus die ganze abendliche Welt überzog, verschmähte nicht den Mantel der griechischen Philosophie. Der Sturz des Reichs, der eine unvermeidliche Folge des erstickten Schönheits- und Tugendsinnes war, vermochte nicht die Fortschritte der Vernunft zu hemmen; selbst Gothen und Sarmaten, Araber und Kreutzfahrer mußten zur Aufbewahrung und Fortpflanzung griechischer Wissenschaften beytragen, bis die erschöpfte Fruchtbarkeit des barbarenreichen Norden und die erfundene Buchdruckerkunst ihnen ewige Dauer verhießen.

Wo nun immer die Staatsverfassung die Kräfte des Bürgers in Thätigkeit und Spannung versetzte, wo nach den Stürmen des Krieges ein Zwischenraum der Ruhe und des Wohlstands eintrat, wo das Glück den Völkern lächelte, dort zeigten sich zugleich wieder die ersten Keime des künstlerischen Triebes. Allein überall hatte die neuere Kunst das Unglück, daß die Wissenschaft ihr längst zuvorgeeilt war, und anstatt daß man ehmals von dem Kunstwerk Regeln entlehnte, ward jetzt der Künstler verurtheilt, in den Fesseln der Theorie einherzugehen. Drum war es nicht mehr jene ächte Kunst der Alten, die jetzt auf den Brandstätten Latiums grünte und bald im rauhen Norden als eine kranke Treibhauspflanze in Blätter und in blüthenlose Zweige trieb. Die seelenvolle Tochter der Begeisterung und des Gefühls war verschwunden; an ihrer[130] Stelle wankte mit unsicherm Tritt eine Truggestalt, die Geburt des Bedürfnisses und der Besonnenheit.

Wie Asträens Sendung an die Menschheit vollendet war, sobald die blinde Gerechtigkeit mit Wage und Schwert vor dem dürren Wort des Gesetzes im Richtstuhl saß, so war auch die erhabene Bestimmung der Kunst, die Lehrerin und Bildnerin der Menschen zu seyn, in jenem Augenblick erfüllt, da die Philosophie dieses Lehramt übernahm. Wen nimmt es Wunder, daß die Himmlische so frühe der Schwester nachzog auf den Olymp, daß sie sich nicht zum Zeitvertreib des verfeinerten Menschen herabwürdigen ließ, und seiner Üppigkeit nicht fröhnte? Wenn wir uns in Gedanken jenes frühere Weltalter vorstellen, welches noch von unserm Apparat des logischen Wissens weit entfernt, aus unmittelbarem Anschauen Belehrung und Weisheit schöpfte; wenn wir die Jugendkraft der Menschheit in jenem Volke betrachten, das mit umfassendem Sinn der einwirkenden Natur entgegenkam, mit lieblicher Phantasie die frischgesammelten Bilder verwebte, mit zartem Menschengefühl und hoher Einfalt des Geistes das Gute und Schöne überall empfand mit ungeschwächtem Triebe die Empfindung in That sich äussern ließ endlich, wenn wir dort, eh noch ein Dialektiker die Symbolik der Empfindungen bestimmte, eh noch die Theorie ersonnen ward, welche Kunst in Mechanismus verwandelt, dort die zahllosen Kunstgebilde erblicken, die jene Kraft, instinktähnlich, zu Meisterwerken stempelte; zu Meisterwerken, denen nicht etwa nur ein selbstsüchtiger Lukull in seinen Palästen huldigen ließ, sondern die mit dem Enthusiasmus der Vaterlandsliebe und Vaterlandsehre zum Genuß und zur Erweckung Aller gebildet, das ganze Volk mit Ahndung des Sittlichschönen, mit edler Ruhmbegierde, mit dem Feuereifer für das Wohl des Staats, mit dem frohen Gemisch von Ehrfurcht und Vertrauen zu seinen menschenähnlichen Göttern erfüllten: o dann! dann zweifeln wir nicht mehr, daß dieser reitzende Augenblick im Leben der Menschengattung wie die Blüthezeit der Rose vergänglich seyn, und wie ein holder Morgentraum zerrinnen mußte!

Wie flossen die Erstlinge griechischer Kunst so sanft aus dem reichen Quell der Empfindung! Die Liebe führte dem korinthischen [131] Jüngling die Hand, als er das erste Schattenbild entwarf. Bewunderung des Helden rührte dem Künstler das Herz, als er die edle Gestalt in Metall oder Marmor zuerst verewigte. Dankbarkeit gegen die »geahndeten, besseren Wesen«, womit die Einbildungskraft den Olymp und das Empyräum bevölkerte, schuf die erste Bildsäule eines Gottes mit den Zügen der verklärten Menschheit. Jetzt ergrif diese edle Schwärmerey das staunende Volk; es belohnte die Tugend seiner Feldherren, seiner Gesetzgeber, seiner Wohlthäter und Retter durch öffentliche Denkmäler und Statuen; es lies den delphischen Tempel und das Pöcile vom Polygnot verzieren, und Phidias mußte ihm seinen Donnerer und seine Minerva von Gold und Elfenbein bilden. Bäder, Gymnasien und Tempel, die der Stolz der Baukunst waren, erhoben sich auf jener bezauberten Erde; der Pinsel und der Meißel bildeten Wunderwerke, die der asiatische Luxus mit lydischen Schätzen aufwog; die Künstler und das Volk überließen sich der Reizbarkeit des Gefühls und beeiferten sich in die Wette, das Verdienst ihrer Mitbürger zu krönen, den Glanz ihrer Religion zu erhöhen; – und fern von ihnen blieb noch jene Seuche des Egoismus, der sich am gemeinschaftlichen Genusse nicht gnügen läßt. Bis in das Zeitalter des Perikles, da das stolze Athen an die Verschönerung der Stadt und an die Pracht der öffentlichen Feste mit jugendlichem Leichtsinn Millionen verschwendete, blieb der Privatluxus in engen Schranken; die Wohnungen, die Hausgeräthe, die Gewänder, die Mahlzeiten, alles verrieth noch Mäßigkeit und Einfalt der häuslichen Sitten.

Die moderne Kunst hatte einen andern Ursprung und ein anderes Schicksal. Die Unfeinheit des Zeitalters war nicht mehr jene rohe Natureinfalt, aus welcher alles werden kann; tief in die Wurzel hinein waren bereits die Sitten verderbt, und zwar bey dem gänzlichen Mangel des ästhetischen Sinnes, durch feudalische Tyranney und immerwährende Kriege, zur thierischen Lüsternheit, zur eigennützigsten Selbstsucht, zu allen niederen Leidenschaften tief hinabgesunken. Scholastisches Scheinwissen, unheilbarer als Unwissenheit, thronte in den Lehrstülen; gekettet an den todten Buchstaben, vertiefte man sich in logische Spitzfindigkeiten und metaphysische Grübeleyen und führte unversöhnlichen Wortstreit, indes der [132] Weg der Anschauung und Erfahrung unbetreten blieb, und die Nacht der Vorurtheile ihren dichten Schleyer um die besten Köpfe zog. Mit vereinigter Macht wirkten geschmacklose Üppigkeit und kleinliche Selbstsucht in den Sitten, Thorheit in den Wissenschaften und Wahn im Volksglauben, auf die Phantasie des modernen Artisten und lähmten den Fittig, womit er sich, stolz auf bessere mechanische Hülfsmittel und beseelt vom Anblick attischer Trümmer, den Alten nachzuschwingen erkühnte.

Ein Gefühl ist es, aus welchem die Kunst und die Tugend entspringt; aber der kalte Hauch des Despotismus hatte es gewelkt. Vaterlandsliebe konnte den nicht begeistern, der kein Vaterland hatte, sondern einen Herrn. Kein befreytes Athen winkte dem Künstler, seinen Harmodius für die Nachwelt zu bilden, keine Amphiktyonen erwiesen ihm Ehre im Namen des großen Völkerbunds. Im Stahl der Rüstung, unter den unförmlichen Wolken der nordischen Kleidung suchte sein forschender Blick vergebens den Menschen; die Helden seines Zeitalters bargen vergebens ihre Blöße in diesen barbarischen Hüllen; Griechenlands Heroen waren edler und schöner in ihre Tugend gekleidet. Selbst im Heiligthum der Tempel wartete des Künstlers kein belebendes Feuer, das ihn höher als der griechische Anthropomorphismus entzückte. Im Schönsten und Besten alles Sichtbaren, in der menschlichen Form, deren erhabenste Reize die griechische Kunst den Göttern verlieh, in idealischen Verhältnißen, die den Glauben an mehr als menschliche Vollkommenheit versiegelten, sah und empfand man den gegenwärtigen Gott; in den unentwickelten Gliedern des Säuglings, in der Quaal des gefolterten Dulders bleibt die Darstellung des Göttlichen ein unauflösbares Problem. Doch hinweg mit diesen Spielen der Phantasie, aus dem Jugendalter der Menschheit; hinweg mit jedem kindischen Versuch, den reinen Vernunftbegrif in sinnliche Symbole zu bilden! Seitdem den Völkern der vier Welttheile die hohe Offenbarung: Gott ist ein Geist! gepredigt wird, entweiht ein Bild die heilige Stätte, wo man reingeistiges Urwesen verehrt.

So stieß die alternde Menschheit mit ihrer vernünftelnden Kälte die neugeborene Kunst in die Sphäre der Dienstbarkeit [133] hinab. Dennoch streben viele hinan den steilen Pfad zum Künstlerruhme. Ihnen winkt das Ziel der überwundenen Schwierigkeit. Nur durch das Thor der Wissenschaft dürfen sie herannahen zum Tempel der Kunst. Nach tausend erlernten Regeln wählen sie ihren Gegenstand, ordnen Stellungen und Figuren, karakterisiren die Affekten, und oft gelingt es ihnen, durch treue Nachahmung der Natur eine Täuschung zu bewirken, die dem grundgelehrten Kenner einen kalten Lobspruch abgewinnt. Aber die Palme der Simplicität errangen die Griechen, denen das beneidenswerthe Loos gefallen ist, im Chaos der unverdorbenen Natur den Keim der Sittlichkeit zu entwickeln, den Denker zur Abstraktion zu geleiten, und die Ahndungen des Wilden, womit er sich die Naturnothwendigkeit unter dem rohen Bilde allgewaltiger, menschenähnlicher Wesen träumte, in die reizende, wohlthätige Hülle der idealischen Schönheit zu kleiden.

Die schönen Stunden des unbefangenen Genusses sind auf ewig entflohn! Traure, wer seiner Jugend nicht froh geworden ist. Hohnneckend triumphire der finstre Freudenstörer, der nie empfand. Tröste sich der Weise, der im Wechsel der Dinge das Ziel herannahen sieht. 1

Fußnote

Note:

1 Die Unvollkommenheiten dieses flüchtigen Aufsatzes wird leicht eher entschuldigen, wenn man erwägt, daß er nur die ersten Ansichten der Phantasie über einen Gegenstand enthält, dessen vollständige und bestimmte Ausführung metaphysischen Ernst erheischte. Billige Richter kennen die Verwickelungen, welche den Schriftsteller oft unwillkürlich für diese oder jene Art der Composition bestimmen, und wissen, daß im Augenblick der Begeisterung manche Idee nur angedeutet werden kann, daß ein Gefühl des vorübereilenden Augenblicks, womit man Wahrheit zu ahnden glaubt, um der Mittheilung fähig zu werden, nur als ein halbdunkles Bild erscheinen darf. Allein es sey ferne, daß diese Kleinigkeit auf eine Kritik Anspruch machte. Als Meditation über eine individuelle Empfindungsart mag sie bey den Lesern anfragen, ob sich jemand unter ihnen finde, dessen Gefühl sich in ihren Gesichtspunkt versetzen kann? Der Verfasser hat es nur versucht, sich selbst das Phänomen seiner eigenen Seele zu erklären, warum ihn jedes, selbst das gepriesenste Kunstwerk kalt und gleichgültig läßt, sobald es keine Spuren jener Idealisirung an sich trägt, welche der Natur getreu, ihre Züge durch Zusammenstellung veredelt, und dem Möglichen Wirklichkeit verleiht. Für Fleiß und Geschicklichkeit hat er nur raisonnirte Bewunderung. Wer anders empfindet, wird auch anders urtheilen.

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TextGrid Repository (2012). Forster, Georg. Essays und Reden. Die Kunst und das Zeitalter. Die Kunst und das Zeitalter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-B1D3-C