Die Zauberin im Walde

»Schon vor vielen, vielen Jahren
Saß ich drüben an dem Ufer,
Sah manch Schiff vorüberfahren
Weit hinein ins Waldesdunkel.
Denn ein Vogel jeden Frühling
An dem grünen Waldessaume
Sang mit wunderbarem Schalle,
Wie ein Waldhorn klang's im Traume.
Und gar seltsam hohe Blumen
Standen an dem Rand der Schlünde,
Sprach der Strom so dunkle Worte,
's war, als ob ich sie verstünde.
Und wie ich so sinnend atme
Stromeskühl und Waldesdüfte,
Und ein wundersam Gelüsten
Mich hinabzog nach den Klüften:
Sah ich auf kristallnem Nachen,
Tief im Herzensgrund erschrocken,
Eine wunderschöne Fraue,
Ganz umwallt von goldnen Locken.
[296]
Und von ihrem Hals behende
Tät sie lösen eine Kette,
Reicht' mit ihren weißen Händen
Mir die allerschönste Perle.
Nur ein Wort von fremdem Klange
Sprach sie da mit rotem Munde,
Doch im Herzen ewig stehen
Wird des Worts geheime Kunde.
Seitdem saß ich wie gebannt dort,
Und wenn neu der Lenz erwachte,
Immer von dem Halsgeschmeide
Eine Perle sie mir brachte.
Ich barg all' im Waldesgrunde,
Und aus jeder Perl der Fraue
Sproßte eine Blum zur Stunde,
Wie ihr Auge anzuschauen.
Und so bin ich aufgewachsen,
Tät der Blumen treulich warten,
Schlummert oft und träumte golden
In dem schwülen Waldesgarten.
Fortgespült ist nun der Garten
Und die Blumen all' verschwunden,
Und die Gegend, wo sie standen,
Hab ich nimmermehr gefunden.
In der Fern liegt jetzt mein Leben,
Breitend sich wie junge Träume,
Schimmert stets so seltsam lockend
Durch die alten, dunklen Bäume.
Jetzt erst weiß ich, was der Vogel
Ewig ruft so bange, bange,
Unbekannt zieht ew'ge Treue
Mich hinunter zu dem Sange.
[297]
Wie die Wälder kühle rauschen,
Zwischendurch das alte Rufen,
Wo bin ich so lang gewesen? –
O ich muß hinab zur Ruhe!«
Und es stieg vom Schloß hinunter
Schnell der süße Florimunde,
Weit hinab und immer weiter
Zu dem dunkelgrünen Grunde.
Hört' die Ströme stärker rauschen,
Sah in Nacht des Vaters Burge
Stillerleuchtet ferne stehen,
Alles Leben weit versunken.
Und der Vater schaut' vom Berge,
Schaut' zum dunklen Grunde immer,
Regte sich der Wald so grausig,
Doch den Sohn erblickt' er nimmer.
Und es kam der Winter balde,
Und viel Lenze kehrten wieder,
Doch der Vogel in dem Walde
Sang nie mehr die Wunderlieder.
Und das Waldhorn war verklungen
Und die Zauberin verschwunden,
Wollte keinen andern haben
Nach dem süßen Florimunde. –

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TextGrid Repository (2012). Eichendorff, Joseph von. Gedichte. Gedichte (Ausgabe 1841). 7. Romanzen. Die Zauberin im Walde. Die Zauberin im Walde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-9873-C