Am vierzehnten Sonntage nach Pfingsten

Ev.: Vom Samaritaner.

»Welcher von diesen dreien dünkt dich der Nächste dessen der unter die Mörder fiel gewesen zu sein?« Jener sprach: »Der so ihm Barmherzigkeit erzeigte,« und Jesus sprach zu ihm: »Gehe hin und tue desgleichen.«


Wer ist es der mir nahe steht?
Wen muß ich meinen Bruder nennen?
Wem meine liebste Gabe gönnen?
Wem reichen eh er noch gefleht?
O, laß auf meine Stirne träufen,
Du Starker, deiner Weisheit Tau!
Laß mich den rechten Stein ergreifen
Zu deines Tempels ew'gem Bau!
Er den getragen gleicher Schoß,
Und der an gleicher Brust gesogen,
Ihm bin ich willenlos gewogen,
Nichts reißt des Blutes Bande los.
Auch wer die gleichen Lüfte zieht,
An gleichen Bodens Quell getrunken,
Für ihn auch hat Natur den Funken
In jedem Busen angeglüht.
So der in selben Glaubens Band
Am selben Hochaltare knieet,
Und wo mich gleiche Richtung ziehet,
Sei's an Gemüt, sei's an Verstand,
Sie alle sind mir wie gegeben
In meines eignen Herdes Hut,
Sind Fasern all von meinem Leben,
Sind Tropfen all von meinem Blut.
Doch wenn in heimatferner Luft
Sucht ängstlich ein bekümmert Wesen
[663]
Der fremden Züge Schrift zu lesen,
Wo niemand seinen Namen ruft;
Dann nahe dich, und woll' es nennen
Mit jedem Liebesworte nur,
Dann magst die Fackel du entbrennen
Die nicht entzündete Natur!
Und wenn an deines Tempels Tor
Steht einer einsam, ausgeschlossen,
Des Tränen doch vor Gott geflossen,
Des Seufzer doch erreicht sein Ohr,
Dem magst du deine Rechte reichen
Und aufwärts deuten nach dem Blau,
Wo allen glühn der Sterne Zeichen,
Für alle sinkt der linde Tau.
Und gar wenn sich gen einen regt
In dir ein heftig Widerstreben,
Weil andre Weise ihm gegeben
Als dir der Himmel zugelegt,
Wenn Fehl, mit Albernheit im Bunde,
Ersticken will der Liebe Saat;
Reich ihm die Hand! dies ist die Stunde
Wo das Gebot sich prüfend naht.
Ja, selbst an des Verruchten Blick,
Der Erd und Himmel möchte höhnen,
Mußt du in Milde dich gewöhnen,
Darfst schaudern, – aber nicht zurück. –
O, kannst du ihn in Jesu Christ
Umschleichen, spähend seine Wunden,
Dann erst hast du den Stein gefunden,
Dann weißt du wer dein Nächster ist!
[664]

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TextGrid Repository (2012). Droste-Hülshoff, Annette von. Gedichte. Geistliches Jahr in Liedern auf alle Sonn- und Festtage. Am vierzehnten Sonntage nach Pfingsten. Am vierzehnten Sonntage nach Pfingsten. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-8656-0