[203] XIV.
Ja! Es war doch recht heiß bei Irmers ... in dem doch recht engen und niedrigen Wohnzimmer, in welchem die Drei, Vater, Tochter und Adam Mensch, um den runden Sophatisch beisammensaßen und einen »Imbiß« zu sich nahmen ... also einen kleinen Imbiß, den Adam wirklich etwas »frugal« finden mußte. Der Herr Doctor dachte unwillkürlich an den vornehmen Stil, an die Eleganz von Lydia's Wohnräumen zurück ... an die anheimelnde Lichtstimmung ... die behagliche, geschmackvolle Fülle, die sich im Arbeitscabinet Frau Lange's so wohlthuend dem empfänglichen Geiste mittheilte ... an das diskrete Werben des taktvoll arrangirten Reichthums um verständnißvolle Anerkennung – und ihn fror ein Wenig in dieser Umgebung, die nur von dem wehmüthigen Parfüm der notdürftig verhangenen, mühsam verschleierten Armut durchzittert wurde ...
Die Unterhaltung wollte nicht recht in Gang kommen. Hedwig schien verstimmt zu sein. Ihr Gesicht war fast noch blässer und ernster, ihr Blut fast noch schwerer, als sonst. Bläulich schwarze Halbringe unter den Augen deuteten auf schlaflos [204] verbrachte Nächte hin. Die Pflichten der Wirthin erfüllte sie mit nervöser Aufmerksamkeit. Adam fühlte sich sehr peinlich berührt. Er sagte sich, daß Hedwig unter der reizlosen, kargen Unfruchtbarkeit, unter dem Druck und der Enge ihrer Lage litt. Sie gab sich alle Mühe, es nicht merken zu lassen ... besaß aber eine viel zu spröde und ungeschmeidige Natur, um sich zwanglos hinter das Pseudonym einer geraden, reinen, zugänglichen Stimmung verstecken zu können.
Herr Doctor Irmer hustete viel ... einen kurzen, trockenen, heiseren Stoßhusten. Er sah sehr zusammengedrückt und entwaffnet aus ... sehr muthlos und ängstlich. Oefter preßte er die langen, mageren, wachsgelben Finger der rechten Hand gespreizt gegen die Brust ... und athmete fast stöhnend.
»Papa hat sich vorgestern erkältet ...« erklärte Hedwig mit einem kurzen, nicht ganz beziehungslosen Seitenblick auf Adam. Der Herr Doctor verstand. Das gnädige Fräulein hielt es also für überflüssig, auf Grund und Gelegenheit dieser Erkältung näher einzugehen. Hm! . Sie waren sich ja begegnet. Adam mußte sich das Uebrige selbst sagen können. Das that er denn auch. Zugleich ärgerte er sich aber, daß es Hedwig augenscheinlich vermeiden wollte, jene Begegnung selbst zu berühren. Sie war so harmlos. Und doch war Adam nicht im Stande, das gewiß nicht heikle, höchstens etwas pikante und widerhakige Motiv zur Sprache zu bringen. [205] Vielleicht hinderte ihn die Rücksicht auf seinen leidenden Wirth daran. Oder wollte er Hedwig nicht wehe thun? Schließlich entschuldigte er seine Feigheit mit dem lähmenden Einflusse, den diese dunstige Krankheitsatmosphäre auf ihn ausübte. Gewiß! Er hätte viel gescheiter gethan, wenn er seiner Apathie nachgegeben und sich in letzter Stunde noch entschuldigt hätte. Das wäre wohl auch den beiden Menschen lieber gewesen, die da neben ihm saßen und sich redlich bemühten, das Unglück ihres Lebens zu verhüllen ... und doch nicht Komödianten genug waren, um das scheinen zu können, was sie nicht sein konnten ...
Die Fenster standen offen. Auf der Straße war es still. Nur ab und zu stolperte ein Wagen über das Pflaster. Nun strich ein Luftzug herein, raschelte in den Papieren auf dem Schreibtische, zupfte an der grünen Gardine vor dem Bücherregal und gab der Lampenflamme ein kurzes, stechendes Zusammenzucken. Adam fühlte sich mit einem Male sehr angeheimelt von dieser einfachen, mit verhalten geschwätzigem Schweigen erfüllten Umgebung. Eine gewisse Stimmung ... ein zartes Fluidum rührender Poesie ließ sich schließlich auch aus dieser Gruppirung der Atome herausfühlen ... Der Herr Doctor wurde wärmer ... er erinnerte sich einiger Träumereien seiner Jugend ... einiger Träumereien, die ihm als Ideal ein schlichtes, bücherüberfülltes Arbeitszimmer vorgegaukelt ... und er saß unter seinen Schätzen, weltentrückt, [206] weltentfremdet, unversuchbar ... aber viel Drang zu suchen und forschen war in ihm ... und viel tiefe Herzensstille – und Adam beneidete einen Augenblick seinen Wirth um die Enge und Weltabgekehrtheit seiner Klause ... und um eine Natur, die sich in ihren besten Stunden durch ernste, neutrale Betrachtung alles Seins und Werdens und gesammeltes Versenktsein in die Räthsel des Kosmos erlösen durfte vom Staube und der beklemmenden Enge des Daseins ... Oh! Er genoß dieser großen Stunden manche nicht minder. Aber immer wieder ließ er sich in das Leben ... in dieses fade, ermüdende, abflachende und wurzelausrodende Werkeltagsleben hinausverführen ... Und darum denn so oft dieser Ekel ... und darum so oft diese namenlose, zermarternde Angst vor einem Verhängnisse, das über ihm schwebte – und dem zu trotzen er doch keine Waffen besaß ... keine Waffen mehr besaß ... Nein! Er hatte nicht mehr die Kraft, mit souveräner Ironie auf das Leben zu verzichten – auf seine kargen Reize und Freuden, welche er aufsuchte, um sie einfach hinzunehmen ... kaum, um sie mit vollem, starkem, innerem Dabeisein zu genießen – und die er trotzdem so oft auch mit wahnsinniger Wuth und Gier aufsuchte, um sich zu vergessen – um sich zu betäuben ... um seine harte Seelennoth ... das bohrende Grübeln über die Fruchtlosigkeit seines Arbeitens ... die Unzuverlässigkeit seines Temperaments ... die sociale Lüge und Aussichtslosigkeit seiner Lage durch physische Ausschweifungen abzustumpfen ...
[207] »Wollen Sie nicht etwas Caviar nehmen, Herr Doctor –?«
»Ich danke recht sehr –«
Eigentlich aß Adam Caviar sehr gern. Aber der ihm von Fräulein Hedwig angebotene sah nicht besonders appetitlich aus ... schien doch schon ein Wenig alt, trocken, zähe, salzig geworden zu sein.
»Aber etwas Wurst oder Käse oder etwas Beef nehmen Sie doch noch – ja? . Bitte! .«
»Wenn Sie gütigst gestatten –« Adam bediente sich.
»Papa, Du vergißt Dein Bier ganz ... willst du nicht 'mal trinken? . Es ist zwar etwas warm ... unser Keller taugt nicht viel –«
»Mir ist gar nicht recht, Kind ... Du weißt ja ... und Bier – ich glaube, es ist besser, wenn ich's stehen lasse – es könnte mich noch mehr reizen – gieb mir bitte lieber noch einen Schluck Thee – obwohl Thee meinen Nerven – aber verzeihen Sie nur, Herr Doctor! Wir haben's diesmal schlecht getroffen ... Sie hätten uns übrigens schon längst wieder einmal aufsuchen sollen ... Hedwig sprach öfter von Ihnen – ich bin heute leider sehr unpäßlich – vorgestern fühlte ich mich so wohl und frisch, wie lange nicht – und nun –«
Ein neuer Hustenanfall unterbrach die mühsam, schleppend, unter stoßendem Athmen hingelispelten Worte Irmers.
Adam sah zu Hedwig hinüber. Sie hatte sich zu ihrem Vater gekehrt und wischte diesem mit einem frischen, leinenen Tuche den Schweiß von der in[208] krankhafter Blässe glänzenden, dick überperlten Stirn. Jetzt fühlte sie den unangenehm scharfen Blick Adams. Sie wurde unruhig ... in ihr Gesicht trat ein seltsamer Ausdruck, der zugleich Scheu, Aengstlichkeit, Verlegenheit ... einen leisen Aerger über die Ungeschicklichkeit ihres Vaters ... und doch auch eine gewisse Freude – aber worüber? – verrieth.
»Was arbeiten Sie jetzt, Herr Doctor?« fragte Irmer nach einer kleinen Weile und sah mit müdem, erloschenem Blick zu seinem Nachbar hin.
»Ach Gott! Dies und Das! Es ist nicht der Mühe werth. Ich mache jetzt anthropologische Studien – die sind werthvoller und ... nothwendiger –« bemerkte Adam kurz.
Hedwig sah mit unsäglich wehmüthigem Blicke zu ihrem Vater hin.
Eine längere Pause entstand. Adam betrachtete mit sehr gemischten Empfindungen die beiden Menschen, die da vor ihm saßen. Er fühlte sich nicht wohl bei ihnen – nein! Ihre Hülflosigkeit machte ihn nervös ... peinigte, beklemmte ihn. Und doch appellirten sie, gewiß ganz, ohne daß sie es wollten, an sein Mitleid. Sie erwählten ihn unwillkürlich zum Vertrauten ihrer Schmerzen ... und sie wandten sich, gewiß nicht minder unbewußt, an ihn um Hülfe ... um Linderung ... Rettung ... Nun fiel es Adam schwer aufs Herz ... nun that es ihm sehr weh, daß er nicht helfen konnte ... Das »Schicksal« mußte wieder einmal seinen üblichen Lauf nehmen. Eines Tages würde Irmer sterben und [209] seine Tochter mittellos ... aussichtlos ... zukunftslos zurücklassen. Und doch war es vielleicht das Beste, wenn der Vater bald starb ... und Hedwig bald in neue Verhältnisse, in eine neue Umgebung eintreten mußte. Hier verwelkte und verkümmerte sie ganz ... an der Seite eines Sterbenden ... unter dem steten Einflusse seiner Krankheit und seiner weltabgewandten Schattenphilosophie. Aber, wie würde es dieser spröden, schweren Natur draußen in der Welt ergehen ... unter den Menschen, denen sie dienen sollte? Die Leute, die sichs gestatten können, »dienstbare Geister« zu halten, verlangen offene, empfängliche Charaktere ... Temperamente, die gleichsam mit großen, blanken Fensterscheiben ausgestattet sind, durch welche das volle Licht der Sonne in breiten Massen hereinfallen kann ... Adam sagte sich, daß Hedwig sehr wenig Glück und Erfolg unter den Menschen finden würde. Sollte er aber darum sein Schicksal mit dem dieses armen, hülflosen,verlassenen Weibes verknüpfen? Er, der selbst schwer genug an seinem eigenen Leben trug? Daran war doch nicht zu denken. Gesetzt selbst, daß er seinen ästhetischen und metaphysischen Widerwillen überwand – daß er es für eine »ethische« Forderung erkannte, der Verlassenen Stütze und Zuflucht zu werden: schon aus materiellen Gründen war es ihm unmöglich, diese Forderung zu erfüllen. Und dann –: schließlich das Opfer eines moralischen – Hirngespinnstes werden? Da wurde ja alle Natürlichkeit über den Haufen geworfen. Daß er Hedwig [210] liebte – davon konnte ja nicht die Rede sein – ebensowenig, wie davon, daß er sich intimer an Lydia oder an Emmy gefesselt fühlte. Je nachdem die Stunde die Stimmung brachte, dünkte er sich zu der einen oder anderen der Damen hingezogen. Die Stimmung lief ab – und über die Theilnahme triumphirte wieder die alte, müde, einfältige, unfruchtbare und doch so praktische Gleichgültigkeit ... Woher das nur kam? Das hatte wohl seinen Grund zumeist darin, daß seine feine, ästhetische Natur zu hohe Anforderungen stellte ... daß sie zusammenzuckte, zurückführ, sich unbefriedigt ... oft verwundet und beleidigt fühlte, wenn einem, ob auch an sich noch so geringfügigen Bedürfnisse nicht genügt wurde ... Oh! Er hatte es ja so oft in älteren und jüngeren Tagen mit Freunden und Bekannten durchgekaut, das ehrenwerthe Motiv von dem »hehren« Frauen-Ideale, das sich ein Jeder zusammenträumt und zusammendichtet in der großen Zeit seines geistigen und sinnlichen Aufwachens und Umsichgreifens ... in der großen Zeit seiner ersten gewaltigen Jugendschauer! Und das beschworene Bildniß läßt nicht von dir. Es folgt dir zur Seite überallhin ... es zwingt dir Maß und Urtheil auf ... es beeinflußt alle deine »Beziehungen« und »Verhältnisse« zu den wirklichen, fleischgewordenen Töchtern der Erde –: das dein Glück dereinst gewesen, ist dir zum Fluche geworden. Es rächt seine Schattenexistenz, seine vage Unkörperlichkeit an dir ... es flößt dir eine brennende, namenlose [211] Sehnsucht nach seiner Verkörperlichung in die Seele – die reifsten, saftigsten Früchte giebst du aus der Hand, weil dein Auge auf der Schaale einen leisen, winzigen Makel entdeckt, der dich beleidigt ... Aber warum bauest du dir überhaupt, weltseliger, menschengläubiger Jüngling, ein solches despotisches »hehres Frauen-Ideal« auf –? Ja! Warum –?
Doch nein! Das ging zu weit. Das war überflüssig. Was sollten diese tragikomischen Betrachtungen hier? Adam sagte sich nicht mehr klar, fühlte aber instinktiv, daß er auf diesem Wege wieder einmal zu jenem Gebiete gelangen würde, mit dem er sich so oft in lautem Wort und leisem Gedanken beschäftigt: eben zu dem leidigen Verhältnisse, in das die beiden Geschlechter zu einander von Jugend auf durch Herkommen und Erziehung gestellt werden. Ach ja! Er hatte dieses Thema heute Abend Fräulein Irmer gegenüber auf's Tapet bringen wollen! Nun! Vielleicht kam die Gelegenheit dazu noch ...
Adam fühlte Hedwigs fragenden Blick auf sich. Das hülflose, verlassene Weib hatte plötzlich alle Konvenienz bei Seite geschoben. Nichts mehr lag zwischen ihm und dem Manne, der ihm in ernstem, bewußtem Schweigen gegenübersaß. Nichts mehr sollte nach diesem Blicke, der zugleich unendlich trostlos und unendlich begehrend, zwischen ihnen liegen. Adam fühlte sich gewaltig ergriffen. Es wäre ein Frevel gewesen, ein Verbrechen an dem »heiligen Geiste der Menschheit« – an den Adam allerdings in seinen [212] besseren und größeren Stunden doch noch glaubte – ließ er thatlos untergehen, was dem Untergange – trotz alledem unabänderlich verfallen war ... Ja! Er wollte ... was wollte er? ... er wollte wenigstens sein »Gewissen« salviren. Er wollte sich sagen können, daß er Alles gethan hätte, was er zu thun vermocht habe. Er wollte der Selbstvorwürfe überhoben sein. Oder ... wenn er jetzt beschloß, in das Schicksal Hedwigs einzugreifen – bestimmte ihn dazu sein Egoismus ... seine geschmeichelte Eitelkeit ... die heiße Bitte, die in Hedwigs Blick gelegen ... das Versprechen, welches ihm dieser brüsterschütternde Blick nicht minder gegeben? Es stieg glühend auf in Adam ... er hätte das Weib, das ihm bisher immer so spröde, so zurückhaltend begegnet war ... und das sich jetzt in seiner Noth und Verzweiflung ihm ergeben wollte ... gewiß! sich ihn zu eigen geben wollte – er hätte es an sich reißen mögen – und mit ihm zu Füßen des armen Mannes stürzen: dem Sterbenden zu schwören, daß sein Kind nicht verlassen wäre, daß er über sein Kind liebend wachen werde in allen kommenden Tagen ...
Die Kuckucksuhr über dem Sopha vermeldete glucksenden, mürrisch-verrosteten Tones die neunte Stunde.
Hedwig erhob sich leise seufzend und wünschte mit müder, klangloser Stimme »Gesegnete Mahlzeit!«
Adam war unschlüssig. Sollte er noch bleiben oder sollte er lieber gehen? Diesem Gefängniß ... [213] diesem Lazareth entfliehen? Sich draußen rein- und freiathmen von den hier eingeschluckten Miasmen? Es war sicher das Gescheiteste. Und doch gewann er es nicht über sich, so hart abzubrechen ... so auffällig, so indiscret zu zeigen, daß sich ihm der Eindruck von Hedwigs stummer Augenbitte schon wieder stark verwischt hatte.
Adam verspürte einen bezwingenden Appetit nach einer guten Cigarre. Doch ... hier im Krankenzimmer wurde nicht geraucht. Er mußte sich den Appetit schon verkneifen. Das ärgerte ihn ein Wenig. Und nun knurrte er sich im Geiste schon wieder an, daß ihn eine solche Bagatelle überhaupt ärgern konnte. Allein er kam nicht über das peinigende Gefühl des Mangels hinweg. Was kümmerte ihn jetzt das Schicksal Hedwigs? Und der Anblick dieses leidenden, zusammengedrückten Mannes war ihm jetzt über Alles lästig.
Um die unbequeme Stimmungsscene zu wechseln, wandte sich Adam eine Andeutung nach rechts und streifte mit müder, zögernder Hand die grüne Gardine vom Bücherregal zurück. Langsam drehte ihm Doctor Irmer sein bleiches, weißes Gesicht zu.
Jäh ließ Adam die Gardine fahren. Er mußte seinem Impulse folgen. Er konnte nicht widerstehen. Er fühlte sich plötzlich auf's Tiefste durch die Geduld beleidigt, mit der Irmer sein elendes Leben trug, weitertrug, weiterschleppte. Nichts von Mitleid mehr und Verständniß war in ihm. Ein kochender Groll über dieses reizlose, werthlose Ertragen und [214] Aushalten siedete plötzlich in seiner Seele empor. Er konnte nicht an sich halten.
Hedwig hatte mit dem Mädchen, welches die zusammengestellten Teller abgeholt, das Zimmer verlassen. Sie trat in dem Augenblick wieder ein, als Adam ihren Vater, ohne jede äußere Vermittlung, barsch anfuhr: »– Aber ich bitte Sie, Herr Doctor – warum haben Sie diesem Hundeleben nicht schon längst ein Ende gemacht –?«
Hedwig blickte halb erschreckt, halb erstaunt zu Adam hinüber, der, von seiner Offenheit selbst ein Wenig betroffen, wieder an der grünen Gardine zupfte. Ein leichtes Verlegenheitsroth stand doch auf seinem Gesicht.
Irmer schien den psychologischen Proceß, der sich in Adams Brust abspielte, zu begreifen, zu durchschauen. Ein verhaltenes, nur markirtes, aber doch unverkennbar souveränes Lächeln legte sich auf eine kleine Weile über seine scharfen Dulderzüge.
»Sie täuschen sich, Herr Doctor«, antwortete er nun mit seiner müden, schleppenden, heiseren Stimme, »– wenn Sie glauben, daß Ihr Leben etwa weniger elend sei, als das meine ... Ich leide nur sichtbarer, als Sie ... erkennbarer für jedes Laienauge – Sie – –«
»Pardon! Ich fühle mich sehr wohl auf der Welt ... Aber verzeihen Sie mir meine brutale Geradheit – es fuhr mir so heraus –«
»– Als Sie mich wie ein Häufchen Unglück vor sich sitzen sahen – ich begreife, Herr Doctor –«
[215] »Oh!« stotterte Adam.
»Was ist's denn, daß Sie noch an diesem Hundeleben festhält, wie Sie sagen –? Was denn –?«
»Eigentlich nichts ... uneigentlich sehr viel –« erwiderte Adam gleichmüthig. Er hatte seine volle Selbstbeherrschung wiedergewonnen.
»Mit dem ›uneigentlich‹ – das ist so 'ne Sache! Nun – Sie werden sich wohl ebenso täuschen, wie ich mich getäuscht habe, als ich in Ihren Jahren war ... Damals waren mir einzelne pessimistische Ahnungen und Stimmungen gleichsam Surrogate, wenn's mit dem Leben selber einmal nicht recht klappen wollte ... So wird's bei Ihnen auch sein. Aber Sie werden so sicher wie ich zu der Erkenntniß kommen, daß Sie sich belogen – allerdings Ihrer psychischen Combination gemäß belügen mußten ... Das ist ja eben das sogenannte ›Glück‹ der Jugend, daß sie sich an jedem Daseinsmomente zu sättigen vermag ... nach der Kette der Entwicklung aber, dem logischen Zwange der Fortbildung, nichts fragt. Es giebt natürlich noch Millionen andere Spielarten von Seelenanlage. Aber ich ging jetzt von der meinen aus und von der Ihrigen, die, wenn ich mich nicht sehr täusche, der meinen doch immerhin ziemlich verwandt ist ... Und darum werden Sie, Herr Doctor, mit der Zeit, früher oder später, zu denselben Resultaten kommen, zu denen ich gelangt bin. Ihr Selbstbetrug besteht nur darin, daß Sie Ihre Weiterentwickelung jetzt noch nicht voraussehen können. Jawohl: können! [216] Sie sind für Ihre Verblendung nicht verantwortlich – sie liegt in der Natur der Sache –«
Adam dünkte diese Ausführung Doctor Irmers gar seicht und oberflächlich. Was sollte er darauf erwidern? Hatte denn Irmer gar nicht herausgefühlt, daß er jene barsch herausgeschleuderte Vorwurfsfrage in tiefstem Grunde nur an sich selber gerichtet? Oh! Er war trotz seinen jungen Jahren in der »Erkenntniß« schon weiter vorgeschritten, als dieser arme, eingekapselte Entsagungsfanatiker und Kartoffelsuppenmeergreis glaubte. Ihre Seelenanlagen waren doch wohl unter sich ausnehmend verschieden. Allein – es tickte ihn, den Unmündigen und Kurzsichtigen zu spielen – sich so zu geberden, als coquettire er eigentlich nur mit seiner Blasirtheit ... als sei er noch voll von flammendem Jugendfeuer ... als halte er es wirklich noch der Mühe für werth, für ein Dutzend »bedeutender Ideale« einzutreten.
Hedwig hatte sich einen Stuhl an den Tisch gerückt und eine Häkelarbeit vorgenommen. Sie hielt den Kopf über die Arbeit gebeugt ... sah nur zuweilen zu ihrem Vater auf ... und in ihrem Blick lag dann die ganze Sorge um den Leidenden, zugleich aber auch, wie es Adam schien, ein Wenig Ungeduld, ein Wenig Zorn. Selten schielte sie einmal zu Adam hinüber. Blendend hob sich das weiße Garn von der kirschbraunen Tischdecke ab. Mit diesem dunklen Untergrunde, den weißen Fingern, dem blaßgelben Teint und dem schwarzen Haar Hedwigs bildete es eine Farbengruppe voll einfach-bizarrer Plastik.
[217] Adam aber begann also zu sprechen – allerdings nicht ohne vorher noch einmal im Stillen bedauert zu haben, daß ihm keine gute Cigarre die Rede begleiten und würzen sollte –:
»Sie beurtheilen mich vielleicht doch etwas zu sehr nach sich, Herr Doctor – verzeihen Sie, daß ich sogleich mit einer deductio ad personam beginne. Es klingt ein Wenig paradox, enthält jedoch sehr viel Richtiges, wenn ich behaupte, daß wir, das heißt: ich und verschiedene Andere meiner Generation – wir sind übrigens so frech, uns immerhin zu den Besten des jungen Nachwuchses zu zählen! – also daß wir mit dem Momente – ich möchte beinahe sagen: angefangen haben, mit dem Sie und mit Ihnen gewiß Unzählige Ihrer Generation aufhören. Ihre Entwicklung hat sich den individuellen Verhältnissen gemäß, von denen Sie ausgingen, ganz organisch, ganz normal vollzogen. Aber die unsere nicht minder. Zu Ihren Resultaten sind wir in unserem Gedanken- und Gefühlsleben schon vor Jahr und Tag gelangt. Ineinem Punkte mögen Sie allerdings Recht haben: die Jugend, das heißt: unsere allerdings vielfach lädirte, durchbrochene, beeinträchtigte Kräftegruppe, läßt sich nicht verleugnen – sie muß sich nach den natürlichen Gesetzen alles Geschehenen auslösen und in Handlungen umsetzen. So arbeiten wir trotz all' unserer Müdigkeit ... und ›Blasirtheit‹ – arbeiten ... einmal zielbewußt ... zumeist aber nur im Zwange jenes so genannten metaphysischen Stadiums, wo das Individuum über sich [218] hinausgeht ... wo sein Wille waltet und wirkt, ohne jedoch eine klare Tendenz zu besitzen. So sind wir denn vorwiegend auch in der Arbeit Aesthetiker – den ethischen Effekt bedingen ja so wie so die Gesetze, nach denen der sociale Zellenverband funktionirt! . Aber wir arbeiten eben ... wenn auch stets der Gefahr ausgesetzt, das uns eine schwere, dunkle Stunde der Verzweiflung ... des erneuten Durchschauens ... der gespanntesten Sammlung und klarsten Umsicht in alle Horizonte – daß uns eine solche Stunde, sage ich, die Waffe zur letzten, realsten und ... reellsten Abfuhrthat in die Hand preßt ... die Waffe, die wir als Sclaven kleinlicher Umstände und Verhältnisse so oft schon bei Seite werfen mußten ... Es ist eben nicht nur sehr gut möglich – es ist sogar beinahe selbstverständlich, daß eine Erkenntniß einmal so intensiv und überzeugend wirkt, daß unter ihrem heißen Athem auch die letzte Rücksicht und Beanstandung dahinschmilzt ... Dann ist's eben aus – dann heißt es nur noch: ›tirez le rideau! La farce est jouée!‹ – wir empfehlen uns auf gut Rabelais'sch ... Aber vor der Hand ist ja dieser letzte Knalleffekt noch unvollbracht. Und wir müssen mit den Thatsachen rechnen ... so, wie sie liegen. Wir ›sättigen‹ uns durchaus nicht ›an jedem Daseinsmomente‹ in dem Sinne, wie Sie es vorhin meinten, Herr Doctor. Wir können uns eigentlich gar nicht mehr begeistern. Wohl sind wir noch großer, starker Gefühle fähig ... eben weil wir noch eine Fülle gesammelter, großer, unverbrauchter Kräfte besitzen. [219] Aber wir stellen diese Gefühle zumeist in den Dienst des Intellekts, wenn ich mich so ausdrücken darf. Wir haben die historische Entwicklung der Philosophie vom Dogmatismus über den Skeptizismus zum Kritizismus in unserem individuellen Sonderleben in schneidender Schärfe und Betonung durchgemacht. So sind wir – und mag das noch so widerspruchsvoll klingen – hagebüchene Individualisten – geblieben ... und doch zugleich auch Positivsten und Phaenomenalisten geworden. Sie haben sich gerade umgekehrt entwickelt, Herr Doctor. Und ... offen herausgesagt: von der social-ethischen Bedeutung Ihres Resignationsstandpunktes verspreche ich mir nicht viel – mögen Sie Ihre Anschauungen nun im Sinne Schopenhauers, Hartmanns oder Mainländers krönen ... Kann sein, daß das sogenannte ›Volk‹ für die Ethik eines Hartmanns eines Tages ›reif‹ geworden ist – ich wüßte nicht, ob ich mich darüber freuen, oder ob ich es bedauern sollte ... Sie sind Aristokrat, Herr Doctor – wir sind auch Aristokraten. Aber wir sind Aristokraten der Zukunft ... vielleicht der nächsten – Sie dürfen, höchstens erst am jüngsten Tage in die Urne greifen und das große Loos der geistigen Weltherrschaft ziehen ... Nun ja! Sie können uns bemitleiden ... Sie können über unsere Bescheidenheit ... über unseren ›praktischen‹, ›realistischen‹ Sinn mit souveräner Erhabenheit lächeln ... Wir verstehen Sie verhältnißmäßig sehr gut, Herr Doctor. Denn wir haben einmal mutatis mutandis Ihnen sehr ähnlich gedacht und gefühlt. Mein Gott! [220] Die Entwicklung eines modernen Menschen, der einigermaßen außergewöhnlich ... einigermaßen über den Durchschnitt hinausragt, vollzieht sich ja verhältnißmäßig sehr einfach. Das mit reichen Kräften ausgestattete Individium entfaltet sich gewöhnlich in der ersten Zeit unter relativ guten Bedingungen. Dadurch wird ein ebenso hochgradiger, wie einseitiger Idealismus provocirt – ein Idealismus, der sich über Alles gern in Thaten setzen möchte ... dem aber Gott sei Dank! vorläufig noch alle Thaten allergnädigst geschenkt bleiben. Allmählich kommt das arme-reiche Individuum mit der Welt in Berührung ... mehr und mehr. Natürlich stößt es an allen Ecken und Enden an ... findet allorts Widerspruch ... und zieht sich, in der Regel noch dazu sehr zart, sehr fein, sehr sensitiv von Natur, wieder scheu zurück ... Aber der heißen Schwüre, die es sich und Seinesgleichen in den großen Schwärmertagen seiner Jugend gegeben hat, kann es nicht vergessen. So stürzt es sich in die Welt zurück ... und tritt jetzt gewöhnlich sehr kühn und selbstbewußt auf – was dann natürlich die Sippschaft der guten Freunde, getreuen Nachbarn und ähnlicher Consorten, die sich auch ›Menschen‹ tituliren, ›brutal‹, ›anmaßend‹ und weiß der Teufel! wie noch nennen. So ein armes, wirklich ganz messianisch veranlagtes; mit dem wüthendsten Drange zu helfen, zu erhöhen, zu versöhnen, ausgerüstetes – von allen Welträthseln gequältes ... von tausend Ahnungen, Stimmungen, Erwartungen, Hoffnungen, Entsagungen ... von tausend Tendenzen ... von einer Unzahl von [221] Gefühlen, Gedanken und Problemen hin- und hergeschütteltes Individuum wird dann gewöhnlich nebenbei auch noch für ›verrückt‹, ›unzurechnungsfähig‹, ›unnormal‹, ›überspannt‹, ›pathologisch‹ u.s.w. erklärt. Doch schiert es das im Ganzen wenig – es hat eben genug mit sich selber und seinem Skeptizismus zu thun. Manchmal wohl ... manchmal fährt es auf in seinem Grimme und zertritt einer zu unverschämt gewordenen Natter den Kopf. Natürlich wird es dabei stets höchsteigenkörperlich in die bewußte Ferse gestochen. Das Gift ist nicht gerade tödtlich ... aber es macht doch müde, blasirt, welk ... ›blasirt‹ vor der Zeit ... es entkräftet, zehrt auf vor der Zeit ... Indessen – das arme, gemißhandelte, unverstandene Individuum wird dadurch zugleich auch so etwas wie ›weltklug‹ ... Es fällt in allerlei Schrullen und Grillen seiner Jugend zurück, kramt seinen alten, verstaubten ›Idealismus‹ wieder aus ... stutzt ihn ein Wenig ›modern‹ auf: vertieft, erweitert ihn hier ... verflacht ihn dort ... schlägt ›für vorkommende Fälle‹ eine Brücke nach Walhall – und paßt sich doch im Großen und Ganzen in einer stattlichen Reihe von Punkten der ›positiven‹ Welt an ... versucht mannigfache ›realpolitische‹ Experimente, Kunststücke und Sperrenzchen –: jetzt ist es glücklich in sein phaenomenalistisch-kritisches Zeitalter eingelaufen – daß heißt: die Welt ist ihm furchtbar gleichgültig, aber es rechnet doch mit ihr ... es analysirt sie ... es findet sie sehr oft sehr abscheulich ... mitunter aber auch wiederum ›zu den schönsten Hoffnungen berechtigend‹ – es [222] glaubt dabei immer noch, daß sich einige seiner neuaufgefärbten ›Ideale‹ einmal erfüllen werden ... es lebt sehr ästhetisch-epicureisch – zugleich in gewisser Hinsicht sehr moralisch ... interessirt sich stark für alle möglichen nationalen und ... internationalen Fragen, die jedenfalls immer sehr ›brennende‹ sein müssen – – kurz: das Individuum lebt ... erlebt ... trägt ... erträgt ... leidet – arbeitet ...«
Adam unterbrach sich. Er wischte sich mit dem Taschentuche über die schweißfeucht überlaufene Stirn und nippte an dem Bierglase, das Hedwig vorhin wieder frisch gefüllt hatte. Im Allgemeinen war er mit sich ganz zufrieden. Er fühlte zwar sehr gut heraus, daß er hier und da den Nagel durchaus nicht auf den sogenannten Kopf getroffen hatte ... daß mancher Wurf fehl gegangen ... daß mancher Hieb abgerutscht war ... Vieles hatte er, ein Opfer seiner augenblicklichen, durchaus nicht so unbequemen, immerhin ganz »gemüthlichen« Situation, nur logisch aus der Erinnerung nachkonstruirt – Schwere, Tiefe und Ernst seines Motivs keineswegs erschöpft. Halb bewußt, halb unbewußt hatte er hier ein Zuviel, dort ein Zuwenig gegeben ... manchen Accent falsch aufgesetzt ... Lichter und Farben öfter etwas willkürlich vertheilt ... Aber das ist ja schließlich unvermeidlich, tröstete sich Adam. Im Monolog wie im Dialog ist die Anknüpfung und Fortführung der Gedankenreihe eine mehr oder weniger zufällige ... von der Associationsgewohnheit des Individuums abhängige ... Nicht die innere Geschlossenheit und [223] logische Unantastbarkeit des Gefüges – vielmehr nur die auftretende Masse und Fülle wirkt ... das Pathos bedingt den Eindruck. Und wußte Adam auch, daß er im Ganzen ohne Glanz und Schwung gesprochen – so ohne all' und jeden Eindruck auf die beiden Menschen, die, eine besondere, fremde, ihm mehr unsympathische, als sympathische Welt darstellend, ihm da gegenübersaßen, – ohne all' und jeden Eindruck auf sie glaubte er wohl doch nicht geblieben zu sein.
Aber welchen Eindruck hatte er denn eigentlich erzielen ... was hatte er bekämpfen ... wofür hatte er eintreten wollen? Adam mußte lächeln. Er kam sich einen Augenblick fast wie ein Beamter einer hochwohllöblichen Missionsgesellschaft vor. Doch ... zu Ruinen von der Zukunft predigen? Aber das war ja eben das Komische. Und nun stieg es also wieder wie Mittleid in ihm auf ... wie Mitleid vor Allem mit Hedwig, die verwelkte und verkümmerte ... und es so gar nicht verdiente. Und eine Art von sentimental-cynischem Erlöserdrang kam über ihn ... und er beschloß, um dieses Leben, dieses arme, verblühende Leben, für eine kleine Weile einen breiten, goldenen Sonnengürtel zu legen ... einen Sonnengürtel erheuchelter Liebe ... Dann konnte die Kerze ja langsam ausflackern, langsam verknisternd erlöschen ....
»– Der Unterschied zwischen Ihnen und mir,« begann jetzt Irmer, nachdem er sich ein Wenig emporgerichtet und einmal tief aufgeathmet hatte, »ist nur der, daß mein Resignationsstandpunkt mehr ein [224] intellektualer ist, der Ihrige dagegen nur einer des Herzens, des Gefühls, des Willens –«
»– Das ist doch aber natürlich genug«, bemerkte Adam entgegen – »Sie scheinen ganz zu vergessen ... Herr Doctor, daß die Entwicklung des Individuums doch eine ausgemacht psychophysiologische ist! Das Alter ist eben etwas total Anderes, als die Jugend – sein specifisches Organ ist der Intellekt – Alter und Jugend, deren specifisches Organ meinetwegen dasHerz ist, um mich der herkömmlichen Terminologie zu bedienen, verstehen sich im Grunde überhaupt nicht ... kommen sich nur durch gewisse logische Schlüsse in Diesem und Jenem näher – ebensowenig wie zum Beispiel der Kulturmensch unserer Tage seinen Urururahn, ich meine die Sippschaft der sogenannten ›ersten Menschen‹, versteht ... der ersten Menschen, bei denen das Gefühl jedenfalls auch das Primäre gewesen ist – das Gefühl, welches, in den ersten sprachlichen Tastversuchen objectivirt, zur Ausbildung des Denkververmögens als eines Organes, wenn ich so sagen darf, führte – was dann wiederum zurückwirkte und in seinem Reagens zur Differenzirung der Sprache Anlaß gab ... Wenn es möglich wäre – aus gesellschaftlichen und socialen Gründen ist es eben unmöglich –: dann sollten Alter und Jugend höchstens eine Partie Scat miteinander spielen, sich aber um Gotteswillen nicht auf irgendwelche ›tieferen‹ Gespräche, auf ›wesentliche‹ Debatten, kurz! auf einen intimeren Verkehr miteinander einlassen [225] – das ist ganz unfruchtbar und macht zumeist nur böses Blut ... wenn ich auch nicht verkenne, daß sich Alles nur per Reibung entwickelt – und somit das Alter ein ganz brauchbares – Feuerzeug für die Jugend abgiebt ... Aber mit dem Kultus des Alters ... mit dem Respect, der Ehrfurcht vor ihm ... mit der Rücksicht auf dasselbe – damit sollte doch im Namen einer vernünftigen, keimkräftigen Zukunftsethik einmal gründlich aufgeräumt werden. Ruinen studirt man nur – betet sie aber nicht an – –«
»Nun begreife ich allerdings Ihre erste Frage, Herr Doctor, erst vollständig – die Seite, die Sie eben berührten, hatte ich bisher ganz außer Acht gelassen –«
Adam fühlte sich von diesem Vorwurfe seines Wirthes – denn als etwas Anderes konnten die Worte kaum aufgefaßt werden – sehr unangenehm berührt. Nun blickten ihn auch die ernsten, schweren Augen Hedwigs fragend und zugleich bittend an. War er zu weit gegangen –? Eine Reihe vererbter, sogenannter »Anstandsgefühle« nahm von ihm Beschlag. Aber er war einmal im Zuge. Und er spürte, wie er lebendiger, wärmer, leidenschaftlicher geworden. Uebrigens – was wissen Herbst und Winter eigentlich vom Frühling? Aber er – verkörperte er in seiner Natur nicht alle vier Jahreszeiten zugleich? Und doch! Gab dieses Moment, wenn es thatsächlich existirte, nicht einen Widerspruch zu der von ihm Doctor Irmer gegenüber ausgesprochenen Anschauung ab? Es nahm sich fast so aus. Nein! [226] Nein! Die Jugend war noch voll in ihm – und was bedeutete denn seine phänomenalistische Betrachtungsweise, wenn sie hier nicht Stich hielt?
In einem Zuge trank Adam sein Bier aus. Gedankenverloren spielte er mit den Fingern noch an dem Henkel des Glaskruges herum. Hedwig erhob sich, eine neue Füllung zu besorgen. Zufällig ... wie zufällig berührten sich beider Hände. Sie sahen sich an. Grüßte die Jugend die Jugend? Sie wollten wenigstens beide jung sein. Das lag in diesem tiefen, sich einbohrenden Blick, mit dem sie umeinander warben. Ein diskreter Luftzug strich zu den offenen Fenstern herein. Die Lampe flackerte ein Wenig. Irmer lag wieder ganz zusammengesunken im Lehnstuhl und hatte die Augen geschlossen. Adam fühlte sich von einem Schwarme heftiger, unklarer Gefühle bestürmt. Es ging auf zehn Uhr.
Langsam schlug Irmer seine Augen wieder auf und blickte ausdruckslos vor sich hin.
»Willst Du Dich nicht lieber zurückziehen, Papa –? Du bist schläfrig –« fragte Hedwig.
Adam erhob sich und bekundete damit, daß er sich empfehlen wollte.
»Na! der Wink mit dem Zaunpfahl war eigentlich überflüssig,« knurrte er in sich hinein, natürlich verstimmt von der Taktlosigkeit Hedwigs.
»Aber bitte, Herr Doctor–« begann jetzt diese ... und brach dann jäh ab. Sie konnte Adam doch unmöglich zum Bleiben auffordern. Der wußte nicht recht, was er machen sollte –
[227] »Ja! bitte, Herr Doctor – leisten Sie meiner Tochter noch etwas Gesellschaft! Wenn Sie gestatten – ich möchte allerdings doch lieber zu Bett gehen – das ist so meine gewohnte Stunde – ich kann ja nicht viel schlafen – der Husten – die Gedanken und manches ... manches Fremde haben Sie meinem alten Kopfe heute doch aufgegeben, Herr Doctor ... Es ist mir Vieles aus meiner Jugend wieder eingefallen ... ich hätte Ihnen auch Dies und Das erwidern können – es ist zu spät ... zu spät für heute Abend ... und wohl auch zu spät – für immer ... Ich muß der Jugend die Arbeit überlassen ... zu früh vom Leben gebrochen. Auch Sie werden sich müde arbeiten ... müde ... müde ... Sie sind es ja jetzt schon, wie Sie sagen. Aber arbeiten Sie sich Ihre Jugend erst tüchtig herunter von Seele und Leib ... und Sie kommen schließlich zu mir zurück – vielleicht von einem anderen Punkte aus – vielleicht auf einem anderen Wege – aber gewiß zu demselben Ziele, zu dem die Weisen aller Zeiten noch zurückgekommen sind. Und nun leben Sie für heute wohl, Herr Doctor, und schenken Sie mir recht bald wieder einmal die Freude Ihres Besuches. Ich denke, wir haben noch Mancherlei miteinander auszumachen ...«
Hedwig führte ihren Vater, der mit Mühe einen Hustenausbruch unterdrückte, hinaus. Adam war allein. Er trat an's Fenster und legte sich weit über die Brüstung. Die Nacht war schwül. Am Himmel ein einförmiges Wolkengewirr ... schwere, [228] blauschwarze Massen. Es schlug zehn Uhr. Mechanisch zählte Adam die sonor widerhallenden Schläge. Und er wußte, daß er die Entscheidung über ein Frauenschicksal in der Hand hielt. Das schmeichelte ihm ... das machte ihn ein Wenig eitel ... ein Wenig stolz – und doch zugleich merkwürdig ängstlich und beklommen. Er brütete eine Weile vor sich hin, in die schwarze, schweigende Nacht hinein. Da fühlte er einen leisen Luftzug seinen Hals bestreichen. Hedwig war wieder eingetreten. Er wandte sich um. – Mochten die Würfel denn fallen. –
»Ich habe Ihrem Herrn Vater doch nicht weh gethan vorhin, mein gnädiges Fräulein? Ich war einige Male allerdings ziemlich offen und geradezu – –«
»Ach bitte, Herr Doctor! Uebrigens ... sagten Sie nicht selbst, daß es keine Brücke zwischen dem Alter und der Jugend gebe – da mußten Sie doch offen und geradezu sein – nicht ...?«
»Sie zürnen mir doch, mein Fräulein ... Ich höre es aus Ihren Worten heraus – ich bedauere sehr – aber Geschichten, die Einem am Herzen liegen ... und die Einem so sonnenklar sind – und die doch – – aber – – und dann nimmt man ja immer nur ein winziges Moment aus der ungeheuren Fülle der Gegensatzmotive heraus – gerade das Moment, auf welches man durch eine, allerdings nur scheinbar zufällige Ideenassociation trifft – so macht sich dem überall eine gewisse Willkür breit – eine Willkür, die aber [229] andrerseits auch wiederum das Leben in allen seinen Aeußerungen bunter und reizvoller stimmt. Leider giebt es Naturen, welche das Bewußtsein, daß Alles in der Welt nur successiv und Nichts simultan geschieht, einfach wahnsinnig machen kann. Vielleicht gehöre ich zu diesen Naturen. Man hat sich für ein Moment entscheiden müssen – man nimmt es heraus – tausend andere drängen nach – die nächsten hat man schon in's Auge gefaßt – das erste ist bewältigt – man will zum zweiten, das Einem schon entgegenblitzt, greifen – und trifft auf ein ganz fremdes –: die Kombination ist unterweilen eben eine völlig andere geworden. Das ist Tragik. Es läßt sich nichts in der Welt ganz erfassen – nichts erschöpfen ...«
Eine kleine Pause entstand. Hedwig lehnte am Tische und nestelte gedankenversponnen an ihrem Garnknäuel herum. Auch Adam war an den Tisch getreten. Er sah dem Spiel ihrer weißen Finger zu. Bunte Gedanken flogen durch seine Brust.
Und ein bezwingendes Träumen kam über ihn ... ein bezwingendes Träumen, das doch zugleich ein helles und klares Wachen war. Und es ergriff ihn, zu diesem Weibe zwanglos von dem zu reden, was ihn erfüllte ... zwanglos, so wie es in ihm aufstieg und von ihm sich löste. Närrisch dünkten ihn die Schranken, die sich die Menschen zwischen einander aufbauen. Mit einem leisen Fingerdruck stieß er sie nieder. Und er sprach zu dem Weibe, das neben ihm stand –:
[230] »Nicht, Hedwig, so sind wir zwei Kinder derselben Generation. Und wir müßten uns doch eigentlich recht gut verstehen. Eine Fülle gleichartiger Zeitkeime hat Dich und mich befruchtet. Und doch sind wir so sehr entfernt von einander. Ich stehe ja viel mehr im fließenden Leben, als Du. Deine Heimath ist enger – ich habe im Grunde keine Heimath mehr. So sollte ich keine Schranken spüren ... und spüre und finde allenthalben doch nur – Schranken. Das ist ein Widerspruch, an dem ich noch zu Grunde gehe. Das Leben ist so wahnsinnig komplicirt. Und doch hat Jeder, der sich nur ein Bissel in's allgemeine Daseinsgetriebe hineindenkt, das Gefühl, als müßte Alles ungeheuer einfach sein. Und – ja! – ja! – es wäre in Wirklichkeit auch Alles ungeheuer einfach – wenn es nur Menschen auf der Welt gäbe ... und nicht Zweibeinler, die ihr Menschenthum in die Zwangsjacke einschnürender Formen und Vorurtheile versteckten ... Du bist am Morgen vom langen Schlafe aufgewacht und sinnst nach, welche Träume Dir in der Nacht erschienen waren. Die Erinnerung ist schroff und widerspenstig – und Du findest keine Anknüpfung. Der Tag nimmt von Dir Beschlag ... und er zwingt Dich ganz in seinen engen und doch so weiten Kreis hinein. Da plötzlich löst ein zufälliges Bild, das sich Dir vor's Auge schiebt im hellen Spiele der Tagesdinge, die Erinnerung an eine Traumscene aus ... und sie fliegt an Dir vorüber ... langsam und doch zu schnell. [231] Bald ist sie wieder aufgeschluckt von dem fließenden Wirrwarrwandel der Tagesdinge. Auch die Seele hat einmal von der Einfachheit und der Freiheit des Lebens geträumt. Aber dann kam das Leben selbst und löschte mit seinem bunten Zuviel alle diese vagen Träume aus. Nur manchmal flattert noch ein verlorener Traumfetzen durch Deine Welt der wirklichen Dinge und mahnt Dich an einstige Sehnsuchten, Hoffnungen, Erwartungen, an einstige Gewißheiten. Merkwürdig verstören diese Erinnerungen und stärken doch zugleich. Schmerzlich gebären sie Ideale. ... oder erneuern, vervollkommnen verblichene wieder und verkümmerte. Wie ein metaphysisches Erzittern feinsten, sublimsten Nervenlebens ist es in Dir ... wie ein Erzittern, das aber immer weitere Kreise schlägt und immermehr hinein in den Fluthspiegel der realen Welt. So wird man wieder zum bewußten Kämpfer, wo man vorher nur unfreiwilliger Arbeiter gewesen war. Der, den sich die Welt unterworfen hatte, hat nun die Welt sich unterworfen. Und die Zeit ist wahrhaftig dazu angethan, daß man einKämpfer in ihr ist! Wie oft habe ich sie schon packen wollen in ihrem innersten Nerv – diese merkwürdige Zeit – unsere Zeit! Es gelingt mir nicht. Indizienkrumen sammeln ... Brocken ... Steinchen ... Steinchen auf Steinchen kleben – das kann ich nicht. Von ihren großen Strömungen lasse ich mich gar gern ergreifen. Vieles ... zu Vieles darf ... muß hier an uns rühren. Es [232] gilt Mancherlei gutzumachen und noch Mehr auszugleichen. Die moderne Wissenschaft ist für einen ästhetisch ... für einen künstlerisch veranlagten Geist ein Ungeheuer. Sie fordert stille, dauernde Arbeit ... ein stetes Bemühtsein ... ein Wachbleiben durch viele einsame Nächte hindurch und immer erfrischte Geduld. Wo sollen wir da hin mit unserem bis in's Feinste nüancirten Stimmungsleben ... mit unseren stürmischen Affekten ... mit den großen und kleinen – mit den ganzen und halben Wünschen unseres Blutes? Und unser Auge liebt noch viel zu sehr das Sehen nach innen ... und ist noch so ungeschickt im scharfen Erfassen der Außendinge, die doch jetzt so sehr alle Welt beschäftigen und so diktatorisch Respekt verlangen. Wir müssen die klare Linienwelt der Antike und die verschwommene Flächenwelt der Romantik mit ihren kosmischen Verallgemeinerungen und ihren radicalen Principien schon hinter uns lassen ... und müssen uns schon bemühen, mit der nüchternen Korrektheit des Psychologen den Objecten auf den Leib zu rücken. Das wird uns vorwiegend ästhetisch angelegten Naturen recht ... recht schwer werden – aber das einzige Heil für uns wird es doch wohl sein. In diesem Sinne müssen wir uns unsere Zeit analytisch zu unterwerfen suchen. In diesem Sinne müssen wir an ihre großen Probleme herantreten. Gewaltiges bereitet sich vor ... eine neue Zeit liegt in den Geburtswehen. Wo sind die unglücklichen Opfer, die jede Uebergangsepoche fordert? Wir sind es, [233] hier sind sie. All' unser Wünschen und Wollen gehört der Zukunft – wenigstens in unseren besten und größten Stunden – aber unserem Können giebt Richtung und Ziel so oft nur die ererbte Vergangenheit. In diesem Zwiespalt werden wir an uns irre, zweifeln ... verzweifeln wir hundert und tausend Mal ... und kommen schließlich dazu, einen schrankenlosen Individualismus zu kultiviren, einen Individualismus, der im Grunde doch nur ein verunglückter, versetzter Sozialismus ist ... der aber zugleich die dumme Angewohnheit hat, daß er uns zerfleischt, aushöhlt, entnervt ... Aber wir fühlen so tief und sehen so scharf gerade in den Stunden, wo wir spüren, daß Alles in uns auseinanderreißt und aufbricht – und alle Irrthümer, Widersprüche und Vorurtheile der Welt erkennen wir nie klarer und bedauern wir nie aufrichtiger, als gerade in diesen Stunden, wo die innere Zerklüftung am heftigsten brennt. Da sind wir zugleich Besiegte und Kämpfer – Kämpfer mit Siegeshoffnungen und Anwartschaften auf Zukunftstriumphe. Nun ja! Wir werden unter unsäglichen Schmerzen zwischen dem Alten und dem Neuen hin- und hergezerrt ... aber wir denken in diesen schweren Stunden doch darüber nach, wie wir das Kommende am Schärfsten erfassen ... wie wir das ›Moderne‹ erschöpfend definiren – und wir erstaunen freudig über die Fülle der uns zuströmenden Begriffe, die im Wörterbuche der Zukunft einen anderen Werth, einen anderen Inhalt, eine andere Erklärung besitzen werden. Und sind [234] uns auch nur Mosesblicke vorbehalten – wir glauben an das Germanenthum, das seine höchste Mission: die Ueberwindung und Knechtung des semitischen Geistes, erfüllen wird – mag dann nachher der Konflikt zwischen germanischem Nationalismus und europäischem Internationalismus gelöst werden ... Allerdings! ein Bedenken dürfen wir nicht verschweigen: vielleicht kann der semitische Geist in seinen Wurzeln nur durch die gewaltsamen Expropriationsakte der Zukunftsdemokratie ausgerodet und ausgerottet werden. Ohne jene Gewaltakte wird es aber überhaupt nicht abgehen, wenn einmal der Versuch gemacht wird, einige allzu hagebüchene Unterschiede auszugleichen, einige allzu freche Ungerechtigkeiten zu sühnen. Und dieser Versuch wird allem Anschein nach gemacht werden müssen. Am Ende dieses Jahrhunderts – wie wird es da in Europa aussehen? Eins ist jedenfalls gewiß: eine ganz ansehnliche, gar nicht so minorenne Menge irriger Anschauungen und eingewurzelter Vorurtheile wird dann beseitigt sein. Z.B. die von gewissen Zöpfen und Perrücken heute noch mit sperrangelweit aufklaffenden Mäulern beanstandeten ›materialistischen‹ Auffassungen in puncto der Beurtheilung von sogenannten ›Verbrechern‹ – überhaupt von allen ›Gesetzesübertretern‹ – sie werden natürliches Gemeingut Aller geworden sein. Die Aera der seelischen Vertiefung und Erkenntniß – des psychologischen Verständnisses wird gekommen sein. Die Märchen vom ›freien Willen,‹ von ›persönlicher[235] Schuld‹, von ›persönlicher Verantwortung‹ – sie hat ein freier und klarer und gegenständlicher denkendes Geschlecht in die Rumpelkammer der Vergangenheit geworfen. Oh! Es könnte immerhin eine Lust sein, in dieser neuen Epoche zu leben! ... in dieser Zeit, wo auch die Schranken zwischen den beiden Geschlechtern gefallen sein werden – diese dummen, einfältigen, nichtswürdigen Schranken, die jeden natürlichen, naiven Verkehr zwischen Mann und Weib unmöglich machen ... Das wiedergeborene germanische Grundgefühl wird das barbarisch unappetitliche, über Alles ekelhafte Verhüllen und Verschweigen, das in der christlich-semitischen Auffassung der Sinnlichkeit die Hauptrolle spielt, als brutal unsittlich erkannt und zurückgewiesen haben. Es wird – verzeihen Sie, liebe Hedwig, meine Offenheit ... und lächeln Sie zugleich – – nein! wenden Sie sich nicht ab und erröthen Sie nicht! – beschämen Sie mich vielmehr und lächeln Sie darüber, daß ich Sie um Entschuldigung bitte ... als hätte ich das Gefühl ... das Bewußtsein – was ich leider, offen gesagt, auch habe – daß ich hier ein ›unanständiges,‹ ›heikles‹ Thema berühre, wo ich doch nur von den natürlichsten Dingen der Welt spreche! – also – aber was wollte ich sagen –? Ja –!, es wird – es wird – nein! es wird dann keine ›verbotenen Genüsse‹ – keine heimlich großgezogene, versteckte Lüsternheit – keine – also ... ich darf ganz offen sein –? keine künstlich gezüchtete Selbstbefriedigung mehr geben ... Unendlich Viele [236] Ihres Geschlechts werden von den scheußlichsten, unerträglichsten Qualen befreit sein – und unendlich Vielen meines Geschlechts wird der Gang durch die ... die ... also durch die Bordelle erspart bleiben – durch diese zweifelhaften ›Rosenhage‹, welche bis dato Generation auf Generation absolviren mußte. Von dem furchtbaren Drucke, den uns die so grausam unnatürlichen Verhältnisse unserer Zeit auf die Brust gewälzt, haben diese Menschen der Zukunft aufathmen dürfen. In dem klaren Erkennen der Natur, welche die Geschlechter zueinander zwingt, werden sie die Gesetze ihres Lebens natürlich einrichten und gestalten ...«
Adam brach ab. Hedwig hatte ihren Platz am Tische, den sie bis dahin unverändert innebehalten, bei der letzten Wendung, die Adam's buntförmige Rede genommen, verlassen und war an das offene Fenster getreten. Sie stützte die rechte Hand auf den Schreibtisch ihres Vaters.
Adam fühlte sich doch ein Bissel beklemmt. Er bereute fast seine Offenheit ... er konnte jetzt seine Kühnheit kaum begreifen ... er ärgerte sich über sich und zugleich über Hedwigs Prüderie. Sie verstand ihn also doch nicht. Aber er – verstand er sich denn noch in diesem Augenblick? Und doch hätte er noch so Manches auf dem Herzen gehabt und sehr gern noch eine kleine Weile weiterdozirt, wie er sein breitspuriges, allerdings sehr doktrinäres Schwatzen und Salbadern im Stillen titulirte. Und nun wurde es ihm wieder zu Sinn, als wäre Hedwig weniger [237] prüde gewesen, als wäre sie vielmehr von einem halb ehrlichen, halb sentimentalen Mitleid mit sich selber ergriffen worden. Das stimmte ihn weich, zärtlich, hingebend und verlangend – und er trat zu dem Weibe, dem er einen Augenblick früher wiederum fast fremd gegenübergestanden hatte, ans Fenster – ein dunkles Wollen und Müssen in der Brust. Adam trat dicht an Hedwig heran und flüsterte ihr leise zu, den Nachdruck der Innigkeit und Ergriffenheit in der Stimme: »Habe ich Dir wehgethan, Hedwig? Sei mir nicht böse –«
Hedwig hatte die linke Hand über die Augen gelegt. Den Kopf hielt sie gebeugt. Ein leises, verhaltenes Schluchzen ging jetzt von ihr aus. Adam athmete schwer auf.
Draußen lag die Nacht ... die letzte Mainacht ... ruhig, schwarz. Nur ein nervöses Erzittern der Schwüle prickelte zuweilen durch die Luft.
Adam Mensch verspürte sich wieder einmal ganz im Zwange seiner Stimmung. Wie ein unendliches Mitleid mit sich selber ergriff es auch ihn. Unklare, halbfertige Sinnlichkeitsaffekte lösten sich in ihm aus. Diese nächtige Schwüle bedrückte ihn. Dieses schluchzende Weib quälte ihn ... und beglückte ihn doch zugleich unsäglich. Eine schicksals-mächtige, fanatische Nothwendigkeit bändigte ihn jetzt zu Hedwig hin. Aber nein! Er durfte sich nicht überwältigen lassen. Er dachte an Lydia, er dachte an Emmy. Ach! es ekelte ihn vor sich. Das war [238] ein wüstes, wahnwitziges Hin- und Herirren von Einer zur Anderen ... ein verzehrendes Suchen ohne eigentliche Absicht zu finden – zu finden, um dann fest– ... festzuhalten. Und doch: hatte er nicht schon tausend Mal die Sünden bereut, die er nicht gethan? Er hatte Gewalt über dieses Weib. Es war in seiner Hand. Und er lechzte nach – wonach? Nach den sogenannten »Freuden«, den »Amusements« der Liebe? Das nun weniger. Jedoch! Er unterlag. Er mußte nachgeben. Er mußte das an sich reißen, was ihm den Weg kreuzte und sich ihm zuwandte. Er konnte ja auch gar nichts Gescheiteres thun. Und er nahm dem weinenden Weibe die Hand von den Augen und raunte ihm zu: »Ich habe Dich sehr lieb, Hedwig ... weine nicht! ... Wir gehören doch zusammen! Komm!«
»Adam!« sträubte sich Hedwig.
»Hast Du mich denn nicht ein Wenig lieb –?« Die Worte waren leise, langsam, stehend gesprochen, eine große Traurigkeit und Bekümmerniß verrathend ... und wie eine schwere Enttäuschung zugleich.
Hedwig stand da, den Kopf gesenkt, ihre Hände lagen auf dem Fensterbrett.
Und Adam nahm diese kleinen, mageren, blaßgelben Hände und zog an ihnen das Weib, das er liebte, an seine Brust. Und er berauschte es mit glühenden, stechenden Küssen. Die Lippen wollten nicht von einander lassen, und es war, als wollten sich die Beiden gegenseitig das Leben aussaugen und auftrinken.
[239] Adam war es sehr mild und weich zu Sinn. Er hatte eine gute That vollbracht. Er hatte diesem armen, eintönigen, farblosen Dasein ein großes Erlebniß, eine große seelische Erschütterung gegeben.
Hedwigs Arme umschlangen seinen Hals. Eine unendliche Hingebung und Zärtlichkeit sprach und bat aus ihren verthränten Augen.
»Nun haben wir uns doch gefunden –« flüsterte sie und legte den Kopf an Adams Brust, als schämte sie sich ihrer Worte ... als wollte sie sich vor sich selber verstecken.
»Jawohl!« antwortete Adam sehr laut und lächelte eine Stecknadel lang spöttisch. Das kleine Weib war doch eigentlich etwas zu sentimental.
Langsam lockerten sich Hedwigs Arme. Der Herr Doctor verstand. Hm! So leicht zu verletzen? Aber da packte ihn auch wieder die Leidenschaft – und von Neuem riß er das Liebste, was er zu dieser Frist auf der Welt besaß, an sich und erstickte es fast mit seinen Küssen und Umarmungen.
»Mein Weib! Mein süßes, einziges Weib!« stieß er gepreßt hervor und zwang Hedwig mit Ueberkraft zu sich heran ... bis ihnen der Athem abriß und sie langsam von einander lassen mußten.
Nun standen sie neben einander und sahen in die Nacht hinaus, die ruhig, schwarz, schwül zwischen Himmel und Erde hing.
»Was soll mit uns werden, Adam –?« kam es nach einer kleinen Weile leise von Hedwigs Lippen.
[240] Adam antwortete nicht sogleich. Wußte er denn etwa selbst, was mit ihnen werden sollte?
»Du antwortest nicht –« begann Hedwig wieder. Mühsam unterdrücktes Aufschluchzen gab ihrer Stimme etwas Hartes, Rauhes, Gezacktes.
»Was mit uns werden soll, mein Lieb? Aber wir wissen doch, daß wir zu einander gehören! Ist das vorläufig nicht genug? Wollen wir uns die Schönheit und Größe dieser Stunde durch kleinliche, philiströse und trivial-prosaische Erwägungen stören lassen? Zwei Lebensläufte sind nun zusammengeflossen und haben eine Richtung erhalten ... und ein Ziel ... Und ... nun ja! – aber wirklich, meine Liebe – laß das jetzt – ja? Wir sehen und sprechen ... und ... küssen uns ja nun alle Tage ... und da werden wir wohl gelegentlich schon 'mal eine Stunde finden, wo wir so einfältig und nüchtern und ... und so kalt und trocken sind, daß wir auch einige unvermeidliche praktische Fragen erledigen können. Komm, mein Lieb – gieb mir jetzt lieber noch einen recht herzigen Kuß –!«
Hedwig trat einen Schritt zurück und wehrte sanft ab. »Das ist es nicht, Adam, was ich meine – das nicht. Wir müssen tiefer gehen. Ich weiß: Du fühlst den Zwiespalt ebenso gut, wie ich ... und willst ihn Dir wohl jetzt nur nicht eingestehen. Du weißt ebenso gut, wie ich, was uns trennt ... was uns immer trennen wird. Deine jähe Leidenschaftlichkeit hat mich besiegt – ich habe Dir nachgegeben. Es war ja auch nicht so schwer, mich zu [241] besiegen. Denn ich habe Dich nicht minder liebgewonnen, Adam. Zuerst – ja! – da hast Du mich abgestoßen ... Du hast doch öfter mein Feingefühl sehr beleidigt. Trotzdem habe ich mich seit jenem Abend bei Quöck stärker und tiefer für Dich interessiren müssen. Ich ahnte zuerst ... und nachher wurde es mir immer klarer, daß wir manches Gemeinsame besäßen. Eine unglückliche Natur bist Du ... wie ich es bin. Ich kann Dir in Vielem sehr gut und sehr fein nachfühlen, Adam. Ich verstehe Dich vielleicht besser, als Du Dich selbst verstehst – jedenfalls ebenso gut. Nur hätte ich tapferer Dir gegenüber sein sollen. Ich hätte Dich um jeden Preis abweisen müssen, Dein Werben und Betheuern nur für das nehmen sollen, was es in Wirklichkeit allein ist: ein Produkt Deiner Stimmung, die morgen wieder eine ganz andere sein kann – ja! – sicher eine ganz andere ist, als sie es heute gewesen. Nein! Bitte, lieber Adam! unterbrich mich jetzt nicht – laß mich einmal ausreden. Aber ich habe doch nicht widerstehen können. Das Jahrelang verleugnete. Weib in mir konnte sich nicht länger verleugnen. Ich fühlte noch zu heftige Jugendbedürfnisse in mir ... und fühle sie noch. Du kannst jetzt mit mir machen, was Du willst, Adam. Ich sage Dir das ganz offen. Und nicht etwa, um Dich um Schonung zu bitten. Mein Schicksal liegt in Deiner Hand. Ach! Das unnatürlich Niedergezwungene sprengt ja mit einem Rucke seine Ketten, wenn man sie ihm nur ein [242] Wenig lockert. Alle philosophischen Erziehungsversuche meines Vaters sind vergeblich gewesen. Das Blut meiner Mutter – das sagt Alles. Ich bin nicht zu dem Frieden gekommen, den mir mein Vater gegeben zu haben glaubt. Ich verbarg und versteckte die letzten Funken meiner Jugend vor ihm – die letzten Funken, die Du angefacht hast, Adam. Es war ja nicht schwer, sie vor dem alten Manne zu verheimlichen. Er lebt ja nur in seiner Welt – und unsere engen, kargen, farblosen Verhältnisse brachten es mit sich, daß ich äußerlich ruhig und ernst und zufrieden erscheinen konnte. Und doch – und doch – Adam – trotz alledem habe ich das Gefühl, daß ich zu welk und zu alt bin für Dich. Laß die letzten Flammen erstorben sein – und ich falle ganz zusammen. Das traurige, eintönige Leben, das ich seit Jahren habe führen müssen und das ... wenigstens anfangs ... dem innersten Grundzuge meiner Natur ganz entgegengesetzt war – mit der Zeit paßt man sich eben mehr und mehr an – dieses Leben konnte nicht ohne abtödtende Einflüsse auf mich bleiben. Ich bin nur ein Schatten noch von dem, was ich einst war. Ich gehe durch die Welt ... durch die reale Welt der Sinne wie im Traume ... Wie eine Nachtwandlerin ... ich habe kaum Fühlung mit dem, was die Zeit bewegt. Nur ein dunkles Ahnen ... ein gewisser Instinkt sagt mir noch Manches. Ich bin vielleicht keine verlorene Seele, aber sicher eine verlegene ... eine verwelkende und verkümmernde. Das ist Alles, Alles so traurig – so unsäglich [243] traurig. Nun ich mich an Dir messen kann, fühle ich meine Kraftlosigkeit doppelt. Aber auch Du, Adam – auch Du bist nicht gesund – ich meine: bist nicht so, wie die Anderen – wie die Mehrzahl – die Masse. Robustes und Dickhäutiges – nein! das hast Du gar nicht. Du bist viel zu sein und zart organisirt, um Dich in dieser rauhen Zeit so behaupten zu können, wie Du es wohl verdientest. Wenn Du wirken ... noch wirken willst – wenn Du noch mit Deinen Kräften für jene Ideale eintreten willst, die Du vorhin erwähntest, muß Dir die Sonne scheinen ... mußt Du in die volle, warme Mittagssonne gehen. Bei mir findest Du nur Schatten. Wir beide zusammen – wir empfänden die Schwere und Reizbarkeit unserer Naturen nur doppelt scharf – wir wären nur doppelt unglücklich. An einer endlosen Kette unerträglichen Elends würden wir zu schleppen haben. Mit mir kannst Du Deine Kräfte nicht flüssig machen. Ich stehe dem Leben zu skeptisch gegenüber, obwohl ich es fast gar nicht kenne. Meine Zweifel würden auf Dich fallen ... würden Dich hemmen, wenn Du einmal Deine eigenen glücklich vergessen hättest. Um für Deine Ideale eintreten zu können, mußt Du mit neuen Illusionen rechnen dürfen. Das ist mir sehr klar. Und um Dir diese Illusionen zu schaffen, bedarfst Du der Fülle, des Glanzes, des Reichthums, der Dich aller kleinlichen Alltagssorgen überhebt und Dir die gröbsten Reibungen des Lebens beseitigt. Wenn Du nicht in den Besitz von Gold, von Mitteln kommst, gehst Du [244] unter. Ohne diese stärkste Waffe im Leben verblutest Du vor der Zeit. Nun sieh: wir beide – Du und ich – und ich mittellos, wie Du – wir beide mit unseren müden Herzen und müden Sinnen ... mit unseren feineren, aristokratischen, differenzirten Naturen – wir sollten uns nun ordinär wie zwei gewöhnliche Arbeiter ums tägliche Brot abplagen, damit wir überhaupt nur leben könnten? Es ist zu viel Schatten um mich, Adam – zu viel. Gar keine Sonne – gar keine. Der Kampf würde uns aufreiben ... würde uns mit seinen Faustschlägen und Nadelstichen zu Tode martern. Und dann: ich kann meinen armen, hülflosen Vater auch nicht verlassen. Ich bin gebunden. Verkehren – ja! vielleicht können wir in Zukunft öfter ... und intimer mit einander verkehren – und es ergiebt sich vielleicht auch manches Gute aus diesem zeitweiligen Verkehr. Und das Letzte, Adam – der letzte und schwerste und triftigste – wenigstens vor der Welt triftigste Grund, warum ich Dir nicht angehören kann: ich bin nicht die mehr, für die Du mich wohl bisher gehalten hast – ich habe – o Gott! – ich habe auch schon eine – Vergangenheit ...«
Adam hatte die Auseinandersetzung Hedwigs schweigend angehört. Er hatte sie einige Male unterbrechen wollen, auf ihre Bitten aber immer wieder an sich gehalten. Ja! Gewiß! Sie hatte in Vielem ... wohl schließlich in Allem Recht – er mußte ihr beistimmen, wenn er ehrlich gegen sie und gegen sich selber sein wollte. Nur – nur mit der [245] Erwähnung ihrer »Vergangenheit« – was hatte sie denn damit sagen wollen? Ihre Schlußworte hatten ihn doch frappirt. Eh bien – eine »Vergangenheit« – eine »Vergangenheit« hat schließlich Jeder ... und es ist immerhin besser, eine hinter sich, als eine vor sich zu haben ... Aber ... aber es ist doch ... doch immerhin mißlich für einen Mann, wenn eine Frau, mit welcher er verkehrt – und die er ... die er also liebt – wenn eine solche Frau eine »Vergangenheit« hat. Das kann unter Umständen sehr weh thun. Aber es ist eigentlich zu dumm ... zu dumm ... Sitzen denn diese verfluchten Vorurtheile so fest – sind sie so eingewurzelt – so die ganze Natur durchtränkend und überklettend vererbt? Entsetzlich ist dieser Zwang des Gewesenen – und lächerlich – über alle Begriffe lächerlich dazu! Und doch – – und doch – – ach! Wer hat schon gegen das »ewig Gestrige,« das allem Geborenen eingeimpft wird, mit Erfolg gekämpft –?
Adam athmete schwer. Er wollte einen leichten, lustigen, burschikosen Ton anschlagen, aber es gelang ihm nicht.
»Eine Vergangenheit –?« fragte er ebenso leise, wie Hedwig ihre letzten Worte geflüstert hatte.
»Ja! –«
»Aber zum Teufel –« nun brach der Grimm über seine altehrwürdige Auffassung bei Adam doch durch – »aber zum Teufel, mein Lieb, – was geht mich denn Deine sogenannte ›Vergangenheit‹ an? Oder glaubst Du etwa, ich hätte keine ›Vergangen heit‹? Da irrtest Du Dich doch gewaltig–«
[246] »Du bist auch ein Mann, Adam – aber ich –«
»Ach so? Na! das ist wieder einmal die bewußte alte, aber Gott sei's geklagt! ewig neue Geschichte! Dir ist verwehrt, was mir erlaubt ist? – Hm! das kann vielleicht eine Formel aus dem ›Guten Tone‹ – oder ein lobesamer Passus in dem Moralexercitium eines philosophasternden Theologen sein – aber vernünftig ist dieser ekelhafte Gemeinplatz – diese abgedroschene Trivialität beileibe nicht – und zwei Menschen wie Du und ich sollten sich am Allerwenigsten von dieser capitalen Dummheit irre machen lassen. Habe ich nicht Recht –?«
»Vielleicht, Adam – aber – –«
»Aber? Ihr Weiber seid doch Alle über einen Leisten! Und meine Hedwig ist um kein Haar klüger ... denkt um kein Haar freier, als die ganze andere Gesellschaft! Nur so weiter, mein Lieb! Da wirst Du schon ganz ›vernünftig‹ werden mit der Zeit – paß 'mal auf –«
»Adam! –«
»Nun ja! . Oder hätte ich Unrecht? Ich wüßte nicht ... Wenn das am grünen Holz geschieht – –«
»Adam! ...«
»Pardon! ›Grünes Holz‹ – – ich werde unangenehm – ich werde boshaft – verzeih, mein Lieb! Aber im Unrecht bist Du doch. Ich hätte ... wahrhaftig! ich hätte Lust, Dir 'mal einige pikante Geständnisse zu machen – weißt Du: ›pikant‹ hinsichtlich – – –«
[247] »Nein! – Nein, Adam! –«
»Nicht? Aber warum denn nicht? Nun erst recht! ... Ich sehe: man muß auch Dich noch erziehen, Hedwig – Dein Vater – –«
»Ich ertrage es nicht, Adam – sei still! . bitte! ... Ja? ...«
»Nun – wenn Du absolut willst – – aber sage mir nur – –«
»Ich habe Dich so unendlich lieb, Adam – und – und – –«
»Nun – und? Und, Hedwig –?«
»Wenn – wenn – – ach, Adam – laß mich doch! ... laß mich! –«
»Ich verstehe Dich nicht –«
»Nun denn: Wenn Deine Vergangenheit in die – Gegenwart eingriffe – – Adam! – ich ertrüge es nicht! . Nein! ich ertrüge es nicht. Ich bin nur ein Weib – nur ein Weib, was Dich – –«
»Aha! . Daher weht der Wind? Verzeih', daß ich brutal bin, mein Kind! . Da scheint doch eine Radicalcur sehr nothwendig zu sein – also –«
»Adam! –«
»Nun? .«
»Du liebst mich nicht! –«
»Sei ohne Sorge, Hedwig! Ich habe immer schöne Formen ... und ... und eigenartige Charaktere ... und ... und seltsame Schicksale geliebt – immer, Hedwig! –«
»Du bist furchtbar, Adam! –«
»Furchtbar? Warum? –«
[248] »Du bist jetzt so ganz anders, als vorher –«
»Oder Du ... aber –«
Adam unterbrach sich und wandte sich ab. Er legte sich weit über die Fensterbrüstung, sah auf die stille Straße hinab – nur ein welliges Wipfelrauschen summte von den Linden, die da unten standen, herauf – und blickte empor zum Himmel. Im Nordosten hatten sich die Wolken zu schwarzen, gewaltigen Polstern zusammengeknäuelt. Die Luft war fast noch heißer und schwüler geworden. Adam athmete tief auf. Ein Reichthum verhalten brennender Gefühle stand in seiner Seele. Er hätte so gern, an harmloseren Fäden seiner Vergangenheit angeknüpft. Die Gegenwart zerschnürte ihn fast mit ihren Unklarheiten, mit ihren verschwommen, zerrissen aufgurgelnden Geräuschen. Nein! Nein! Das drängte sich Alles zu dicht an ihn heran! Er sah sich um. Er sah diesen engen, frugalen Raum, der eng und frugal blieb, ob ihn auch das gedämpfte Licht der Lampe anheimelnder stimmte – – er sah dieses Weib an seiner Seite – dieses schluchzende Weib, das ihn mit seiner thörichten Liebe quälte – – es war unerträglich! Ein Gedanke befiel ihn.
»Hedwig! –«
Und nun noch einmal, aber in leiserem, ernsterem, bittendem Tone:
»Hedwig! –«
Die Angerufene richtete langsam den Kopf in die Höhe.
»Ich will Dir einen Vorschlag machen. Es ist [249] so heiß und so eng hier. Komm! Laß uns noch ein Wenig hinausgehen! Draußen ... draußen wird uns freier werden – ich ersticke hier fast ... und wir haben wohl noch so Manches miteinander zu reden, mein Lieb! ... Komm! Ja –?«
»Aber, Adam –!« Hedwig wischte sich mit ihrem Taschentuche die Thränen aus den Augen und trocknete sich die Stirn. Nun nestelte sie mit den Händen an ihrem Haar herum und sah Adam erschrocken an.
»Nun ja! ... Erscheint Dir mein Vorschlag so ungeheuerlich? Mein Gott! Es ist doch weiter nichts dabei! Wir gehen nachher noch in 'n Café – ich muß noch andere Menschen sehen ... muß auf andere Gedanken kommen – 'n bissel fremdes Leben um mich spüren – 'n Glas Absynth trinken – 'ne gute Cigarre rauchen – – und ich dächte: auch Dir thäte eine Abwechslung wohl ... Also komm! Ja –?«
»Um diese Stunde, Adam –!«
»Es ist eben erst Zwölf. Und dann – – ich weiß nicht – Du bist doch in meiner Gesellschaft! Da kann Dir doch weiter Nichts passiren ... In ein Nachtcafé zu gehen – nun ja! es mag für eine Dame, wie für Dich, liebe Hedwig, vielleicht nicht gerade, wie man sagt: ›anständig‹ sein – aber ich sollte doch meinen: diese dummen Philisterflausen hätten für Dich weiter keine Geltung! Ich würde es wenigstens sehr bedauern, wenn Du noch in All' und Jedem mit den verbohrten Anschauungen der alten Generation rechnetest. Also bitte –!«
[250] »Ich kann doch meinen Vater nicht allein lassen – –«
»Der wird jedenfalls schlafen – und wenn er irgend welcher Hülfe bedarf – er kann ja das Mädchen rufen –«
»Aber was würde Papa sagen –«
»Immer neue Bedenken! Ihr Weiber habt das Talent, am allererbärmlichsten Sandkorn festzurennen, wenn es Euch gerade 'mal in den Kram paßt! Bist Du denn um gar nichts anders, als die Andern, Hedwig –?«
»Nein, Adam –«
»Nicht? Das ist allerdings sehr schlimm –!«
»Ich meine – Du mißverstehst mich –«
»Na! Wohl kaum –«
»Und wie lange – wie lange würden wir bleiben –?«
»Gott! Das läßt sich doch wahrhaftig auf die Secunde nicht bestimmen vorher –«
Hedwig war unschlüssig. Adams Vorschlag reizte sie immerhin. Diese schwüle Atmosphäre lag auch auf ihr schwer und drückend genug. Die starke seelische Aufregung ... der brennende, stechende Sinnlichkeitsaffekt, welcher sie vorhin durchkrampft, hatte sie müde, abgespannt gemacht, wie zerschlagen, zerfasert, zerrupft. Zu Bett gehen konnte sie in dieser fiebernden Stimmung kaum. Sie athmete langgezogen auf. Aber ihr Vater – und weiter: wenn es zufällig Jemand von den Hausgenossen bemerkte, daß sie so spät noch wegginge – mit einem fremden Herrn – und dann [251] womöglich erst mitten in der Nacht nach Hause käme – nein! nein! – es war doch nicht möglich –
»Nun? Also –?«
»Adam! Bitte – laß mich hier! Thue es mir zur Liebe – ja? Ich wollte ja gern – aber es geht wirklich nicht! Ich riskire zu viel –«
»So? Du riskirst zu viel? Hm! Und das sagt ein Weib, das eine ... das eine – ›Ver‹ – na! ich hätte beinah' was gesagt – verzeih' meine Derbheit, Hedwig! Aber mir liegt eben viel daran – sehr viel sogar, daß ich noch eine kleine Weile mit Dir zusammen sein darf, mein Lieb! Wir haben uns eben erst gefunden – und sollen nun schon wieder auseinandergehen! Das ist doch hart – nicht wahr –? sehr hart! Laß Dich doch endlich erweichen, Kind! Soll ich Dich fußfällig bitten? Mein Stolz verböte es mir eigentlich – doch – wenn Du es durchaus willst – –«
»Laß die Komödie, Adam! ... Aber sage mir noch Eins: wenn ich nicht mitginge – was thätest Du dann –?«
»Aha! ... die Frage ist nicht übel ... Schon der conditionale Conjunctiv Imperfecti! ... ›Wenn ich nicht mitginge –‹ Na! das ist ja quasi gewonnen Spiel! ... Uebrigens – wenn Du nicht mitgingst, Kind – ja! ... dann müßte ich wohl allein gehen. Eins plus Null bleibt Eins, nach Adam Riese. Aber Du könntest Dich doch wirklich 'mal dazu bequemen, Hedwig, mehr als eine – Null zu sein ... Willst Du –?«
[252] Hedwig lächelte doch ein Wenig. »Du bist drollig, Adam –« antwortete sie.
»Das ist eine ganz neue Eigenschaft bei mir, mein Lieb! Du scheinst Talent dafür zu haben, Entdeckungen zu machen. Vielleicht tüftelst Du auch noch alles mögliche Andere bei mir aus. Vielleicht manches ganz Löbliche und Brauchbare. Das wäre ja sehr nett. Ich bliebe sonst auch ein verzweifelt einseitiger Bursche! Wahrhaftig! ich wäre Dir sehr dankbar, wenn ich mich unter Deinem ... Regimente noch ein Bissel vervollkommnete. Das könnte mir gar nichts schaden. Kleine, weiße Frauenhände besitzen eine entzückende Fertigkeit darin, selbst aus den reservirtesten, versteinertsten Felsenwänden noch neue Quellen zu schlagen ...«
»Spotte doch nicht so, Adam –«
»Ich spotte gar nicht –«
»Also ... Du würdest auch ohne mich noch in ein Café gehen – nach dem heutigen Abend noch Abwechslung ... Unterhaltung suchen –?«
»Was bliebe mir denn weiter übrig, Kind? ›Abwechslung‹ – meinetwegen! ... ›Unterhaltung‹ – hm! – warum wählst Du nicht lieber gleich das wunderschöne Wort ›Vergnügen‹? Ich liebe dieses Wort nämlich leidenschaftlich ... Man hört es nur so selten heute ... die Leute nehmen es so ungern in den Mund ... Also – Du kommst mit –?«
»Adam –!«
»Dann leb' wohl, mein Lieb! Und nun gehören wir zusammen, Hedwig – nicht wahr? Und [253] die Dame meines Herzens ist in Zukunft nicht mehr so spröde, wie sie es einmal gewesen! ... Aber – in Diesem und Jenem – in Diesem und Jenem – exempla sind wieder einmal odiosa –: da lernst Du noch ein Wenig freier und selbstständiger denken – gelt, Kind? Du thust mir den Gefallen – ja? Grüß Deinen Vater herzlich von mir! Und laß mich nur machen! Ich werde schon einen einigermaßen annehmbaren modus vivendi für uns finden. Es geht Alles, wenn man nur ernstlich will. Sind wir erst einmal ... einmal ver – –«
»Ach! belüge Dich doch nicht so absichtlich, Adam – das kann ja nicht sein –«
»›Belügen‹ – der Ausdruck ist etwas ... etwas stark, Hedwig –«
»Verzeih', Adam! Aber ich habe Dich ja so unsäglich lieb! Du bist ja in all' diesem Elend – in all' dieser entsetzlichen Noth mein einziger Halt – meine einzige Hoffnung! Ich ertrage es nicht, Dich zu verlieren – ich ertrage es nicht! Wenn Du mich verließest, Adam – mich verließest – – ich – ich – – o Gott! – und doch ganz klar voraussehen müssen, daß Du es thun wirst – – daß Du es thun wirst, Adam – daß es doch so kommen wird – das ist zu viel – das geht über meine Kraft! Adam! Adam! oh! wie das in mir wühlt und zerrt und sticht! – – Ich – ich ersticke – Adam! – Und wenn es mein Unglück ist – –: ichkann dieses Leben nicht mehr ertragen – ich will dieses Leben nicht mehr ertragen [254] – ich – ich – – hier hast Du mich – ich kann Dich jetzt noch nicht lassen – noch nicht – Alles empört sich in mir gegen diesen Zwang – die Jahre der Entsagung, der Erstarrung –: eine einzige Viertelstunde des Glücke soll sie vergessen machen – eine einzige, winz'ge Viertelstunde – – ich bin von Sinnen, Adam – – komm! – komm! – oder – – nein! – nein! – das nicht – das doch nicht – doch nicht – – aber – aber – warte! ich gehe mit Dir – ich komme mit – ich muß – ich muß – mag werden was will – –«
Adam war von diesem elementaren Leidenschaftsausbruche der »Dame seines Herzens« ... von diesem Ausbruche, in dem sich eine tolle Hingebungswuth, trunkenes Entzücken und eine fanatische Verzweiflung zugleich durchrangen ... mehr betroffen, als erfreut. Er hatte sich mit dem Gedanken, allein zu gehen, schon halb und halb vertraut gemacht. Ja! Er hatte sich seiner Freiheit eigentlich schon gefreut ... und allerhand Erwartungen daran geknüpft. Gewiß! Der Abend war ja noch ganz interessant geworden. Aber die letzten Scenen, die er soeben durchlebt, legten Adam doch allerlei Verpflichtungen für die Zukunft auf – Verpflichtungen, die anzuerkennen, er sich im Grunde schon sträubte – und die erfüllen zu wollen, es ihn doch merkwürdig reizte.
Hedwig war nach dem Flurraume gestürzt. Nun stand sie im Rahmen der offenen Thür, knöpfte ihr Jaquet zu und setzte ihren Hut auf.
[255] Adam trat auf seine Braut zu. »So gefällst Du mir, Kind! Das ist doch Leidenschaft, Verve, Temperament! Das ist doch Muth –!«
»Wo habe ich nur meine Handschuh' –?«
»Ach was – Handschuhe! Heute Abend, Hedwig – ich bitte Dich!«
»Willst Du die Lampe ausdrehen –?«
»Wenn Du fertig bist –«
»Und recht leise, Adam – ja –? Tritt recht leise auf, damit Papa Nichts hört! Es wäre entsetzlich, wenn er – –« Hedwigs Stimme ging doch wieder etwas heiser und stockend, stolpernd, sie fieberte gleichsam.
Adam ließ einen halbfertigen Seufzer fahren. Es war ihm gar nicht behaglich zu Sinn. Seine arme, unvorsichtig hingeopferte Freiheit! Das kleine Wesen that ihm sehr leid. –
Die Treppenstufen knarrten und knackten recht impertinent. Adam tappte und tastete sich unbeholfen vorwärts. Er wurde ärgerlich. Nun blieb er stehen, suchte nach seinem Feuerzeuge und ließ ein Streichholz aufflammen.
»Um Gotteswillen! – lösch aus – schnell!« fiel Hedwig ... wie zum Tode erschrocken ... ein.
»Na aber – das ist doch –« knurrte der gemaßregelte Herr Doctor. Und neues Dunkel war um die Beiden zusammengeronnen. Sie standen auf einem Treppenabsatze.
»Nimm Dich in Acht, Adam – falle nicht! – es ist hier etwas steil –«
[256] Der siegreiche Entführer hatte indessen ganz andere Gedanken. Er suchte recht intime Fühlung mit seiner Herzallerliebsten zu gewinnen. Er legte seinen Arm um ihre schlanke, vielleicht ein Wenig zu schlanke Taille und preßte das Weiblein in wüthender Glut an sich.
»Laß mich –! nicht hier–« sträubte sich Hedwig. »Adam –!«
Endlich standen sie auf der Straße. Es war so still. Der Hausschlüssel ging schwer und kreischte mit belegter Stimme. Schlaftrunken blätterte der Nachtwind im schwarzgrünen Laube der Linden. –
»Gieb mir den Arm, mein Lieb!«
»Wo gehen wir hin, Adam –?«
»Nun – ich denke: wir athmen uns erst 'mal recht tüchtig aus – die Luft ist zwar schauderhaft dick und heiß, aber doch nicht ganz so drückend, wie bei Euch oben. Und nachher – nachher können wir ja in ein Café spazieren – vielleicht ist auch noch 'ne Weinstube auf – –«
»Du bist überall bekannt –?«
»Hier und da –«
»Du verkehrst wohl viel in den Cafés –?«
»Das macht sich so ... mein Gott! Dann und wann ... Man geht 'mal mit Ander'n hin, 'mal allein – es ist ja überall nicht viel zu holen ... Man langweilt sich ... spielt eine Partie Billard – liest 'ne Zeitung – am Angenehmsten ist es noch, wenn man eine oder ... oder auch ... mehrere Damen [257] bei sich hat – die gehören nun einmal zum Besuchsinventar derartiger Lokäler ...«
Nach einer kleinen Pause ließ sich Hedwig leise vernehmen, und ihre Stimme hatte den Tonfall des Vorwurfes, der Anklage: »Und da willst Du jetzt mich hinführen, Adam, wo Du wohl schon öfter mit – mancher anderen Dame gewesen bist –?«
»Aber Hedwig! Du bekommst Rückfälle! Die Sache ist doch einfach die – wir geben doch weiß Gott! kein ganz gewöhnliches, kein ganz communes Verhältniß zusammen ab! Du weißt ja: ich habe die ehrlichsten Absichten von der Welt Dir gegenüber! Ob da nun aber so 'n paar Menschen angetanzt kommen und uns mit demselben niedrigen Maß messen, das sie bei sich selber anzulegen gewohnt sind – mein Gott, das kann uns doch furchtbar gleichgültig sein! Daß Du an innerem Werth verlörest, wenn Du Dich an einen Tisch mit Menschen setz'st, welche so etwas wie – meinetwegen! wie: ›stigmatisirt‹, ›gebrandmarkt‹, die ausgestoßen sind von der ›Gesellschaft‹ – das glaubst Du doch selber nicht, Hedwig! Ich hätte übrigens nicht gedacht, daß in der Praxis das Nachwirken von Anschauungen, die Du intellektuell, theoretisch, längst zum alten Eisen geworfen hast – nicht wahr das hast Du doch gethan? – daß dieses Nachwirken noch so intensiv bei Dir wäre! Es geht ja mir zum Theil auch noch so – gewiß! Aber darum gerade ärgert mich diese Inconsequenz, ärgert mich dieser Zwiespalt doppelt – bei mir – und leider auch bei Anderen ...«
[258] »Leider? –«
»Nun ja! Man hätte genug mit sich selber zu thun, wenn man's ernst und gewissenhaft nähme! Aber da bindet man sich auch noch Peter und Paul, Hinz und Kunz vor – drechselt sie hübsch unter's Mikroskop –«
»Du ging'st doch jetzt von mir aus – und ich – –«
»Verzeih! Hedwig! Was über meine engste persönliche Sphäre hinausgeht, wird mir immer 'gleich zum prinzipiellen Motiv –«
»Das verstehe ich nicht recht –«
»Das verstehst Du nicht? Du – meine kleine Philosophin –? Und es ist doch so dämonisch einfach! Allein jetzt – nein! – die Geschichte würde zu gelehrt. Lassen wir den Unsinn! Wir wollen lieber ein Wenig plaudern ... une petite causerie anspinnen ... uns ein Wenig amüsiren – wir wollen uns lieber recht von Herzen freuen, daß wir beisammen sind, Hedwig ... so recht ungestört beisammen sind – in Liebe und Eintracht ... eng aneinandergeschmiegt ... einherwandeln dürfen – daß wir zärtlich sein dürfen ... sehr zärtlich sogar, mein Lieb – und kein neidisches Männlein und kein neidisches Weiblein gelbgeärgert uns zuschauen kann – wir wollen lieber – – übrigens, Hedwig – hast Du denn noch gar keine Gewissensbisse – hm?«
»Gewissensbisse –?«
»Nun ja! Wenn Dein armer Papa nun doch etwas merkte! – nun doch Lunte röche, daß sein [259] braves Töchterlein bei Nacht und Nebel auf und davon gegangen ist – –«
»Aber Adam! –«
»Verzeih', mein Lieb! Teuflisch, daß ich Dir damit komme – ich, der – – aber ach! es ist mein Verhängniß, das zu martern und zu quälen, was ich liebe! Und je mehr ich so ein menschliches Wesen liebe, desto mehr muß ich es peinigen. Schrecklich, aber wahr? Diese schöne Eigenschaft haben mir alle Weiber –«
»›Weiber‹! Adam! – ›Weiber‹! –«
»Nun ja! ›Weiber‹! Oder beleidigt Dich das Wort –?«
»Es klingt so häßlich –«
»Häßlich? Finde ich nicht im Geringsten! Mir klingt es sehr voll, dick, rund, massiv – zudem recht deutsch –«
»Was wolltest Du vorhin sagen –?«
»Nun ja! . also: meinen Hang, mich zeitweilig ein Wenig à la monsieur diable aufzuspielen, haben wir bis jetzt alle ... meinetwegen also ... wie Du willst: alle Damen, mit denen ich in den Läuften der Zeit enger ... intimer verkehrt habe, zum Vorwurf gemacht – und doch hat sich die ganze Gesellschaft mit der größten Bereitwilligkeit von mir ärgern lassen – ich sage Dir: Stunden- – Tage- – Wochenlang ärgern lassen –«
»Du hast wohl schon viel Damenverkehr gehabt?«
»Aha! Köstlich, Hedwig, daß Du Dir die Frage doch nicht verkneifen kannst! Ich habe sie längst [260] erwartet. Viel Damenverkehr? Na! Es geht immer noch. Soll ich ausführlicher sein? Wenn es Dir daran liegt – von Herzen gern! Die Sache macht mir selber Spaß! Riesigen Spaß sogar –«
Die beiden Nachtwandrer waren in den engeren Lichtkreis einer Laterne getreten. Adam prüfte den Gesichtsausdruck seiner Dame. Aber er konnte beim besten Willen die Wirkung seiner Worte auf Hedwigs Zügen nicht deutlich erkennen. Sie hielt den Kopf gebückt und einen knappen Winkel nach rechts gewandt. Diese Abkehrung mußte Adam für eine stumme Abweisung halten. So ärgerte ihn die Abweisung. Und der Aerger löste wiederum eine größere Fülle des Dranges in ihm aus – des teuflichen Dranges, vor seiner Herzallerliebsten einmal alle ... oder wenn nicht alle, so doch immerhin eine schwere Menge interessanter ... pikanter Trümpfe auszuspielen. Sein fahriges Vagantenleben ... diese überflüssige, gottlose Irrfahrt des Leibes und der Seele, hatte ihm sotane Trümpfe ja in verschwenderischem Reichthum zugeloost.
»So still, Hedwig? Woran knabbert denn wieder 'mal Dein kleiner Querkopf –?«
»Ach laß mich! –«
»Ueber diese Töne verfügst Du also auch, Kind? Ich hätte sie bei Dir kaum gesucht. Wenn meine schöne Freundin, Frau Lydia Lange – diese ›Dame von Welt‹ ... diese ›vornehme Frau‹ ... dieses ›edle Weib‹ – oder wenn ... wenn meine kleine Emmy also schmollt – dann – –«
[261] »Deine Emmy? – Was? – –«
»Nun ja! . Das ist nämlich ein wunderhübsches und dazu ein äußerst vorurtheilsloses Kind – ein ›Weltkind‹ – ein ›Kind der Sünde‹ – wie Du willst, Hedwig, – aber entzückend, sage ich Dir, entzückend – leider von Natur ebenso zur Untreue und Unbeständigkeit angelegt, wie ich – ich habe wirklich sehr pikante Stunden mit dem emancipirten Fräulein verlebt, kann ich Dir sagen –«
»Aber Adam! Nein! Ich gehe keinen Schritt weiter mit Dir! – Das sagst Du mir?! Waren denn alle Deine Worte vorhin Lügen –?«
»Lügen? Warum Lügen? Ich habe Dir doch soeben nur ein harmloses historisches Faktum mitgetheilt – daß auch ich so etwas wie eine ›Vergangenheit‹ besitze – nun! – ich habe mir schon erlaubt, Dir vorhin davon Andeutungen zu machen, dächte ich. Oder hast Du's überhört? Das wäre schlimm –«
»Die Vergangenheit scheint aber noch stark genug Gegenwart bei Dir zu sein ...« erwiderte Hedwig, sehr entrüstet und sehr erbittert, wie es schien.
»Vergangenheit und Gegenwart lassen sich bekannntlich nicht haarscharf trennen von einander – ja! im Grunde überhaupt nicht trennen – seien wir nicht so hagebüchen unlogisch, mein Lieb! Alles Gewesene wirkt nach. Wie sollten wir sonst Rassenfeindschaften, Krebsgeschwüre, Knochenverkalkungen und allerlei seelische Blutvergiftungen erklären? Wir schleppen die Bagnokugel unserer speziellen Vergangenheit Alle mit herum. Das Ding wächst sogar [262] noch ... wächst mit jeder Stunde, jeder Minute ... Was ist denn Gegenwart schließlich Anderes, als aufgesummte Vergangenheit –?«
»Dann ist es ein Verbrechen, Adam, das ein Jeder von uns an sich und dem Andern begeht, wenn wir noch länger mit einander verkehren –«
»Nimm doch die Sache nicht so tragisch, Hedwig! Du kommst aus Deiner Sphäre – ich aus meiner. Die Lauflinien unseres Lebens haben sich gekreuzt ... haben sich für uns durch einen Zufall gekreuzt. An sich war es ja durch die Voraussetzungen – und die Vergangenheit ist auch in der Welt der neutralen Objekte immer Voraussetzung der Gegenwart – an sich war es also bedingt, daß wir uns begegneten. Gewisse Neigungen und Tendenzen zogen den Einen zum Andern hin. Es ist ja Alles nur nothdürftigste Anpassung in der Welt! Und weil das so ist – nun, darum mußten wohl jene Neigungen und Tendenzen schon einmal vorher durch andere Erscheinungen, die ihnen einigermaßen Wurzelbedingungen boten, provocirt und ausgelöst werden. Ich nun für meine Person – – aber ich habe Dir ja schon gesagt, Hedwig, daß ichimmer schöne Formen, merkwürdige Schicksale und eigenartige Charactere geliebt habe ... Ich konnte nicht anders – und ich werde nie anders können. Und wirklich – Du darfst es glauben, Hedwig –: meine kleine Emmy hat einen wundervollen Leib ... ist auch sonst nicht übel – nur eben viel geistiges, tieferes, verinnerlichtes [263] Verständniß darf man nicht von ihr erwarten – das – –«
»O Gott! machst Du mich unglücklich, Adam! Das kann Dir überhaupt nie verziehen werden. Wenn ich mich nicht so an Dich klammern müßte – – habe doch nur ein wenig Mitleid mit mir –!«
Hedwig schluchzte laut auf. Adam schüttelte ärgerlich den Kopf. Das Weib ist überreizt, sagte er sich. Es muß 'mal ordentlich befriedigt werden. Und doch schmeichelte es seiner Eitelkeit, daß er so leidenschaftlich geliebt ... so brennend begehrt wurde. Jene Doppelstimmung des abweisenden Aergers und des unwiderstehlichen Dranges, entgegenkommend, liebevoll, zärtlich zu sein, befiel ihn.
»Wir wollen einen Strich durch unser Vergangenheitsconto machen, Hedwig – wenigstens für heute Abend respektive heute Nacht ... Ich werde mir alle Mühe geben, in Zunkunft nicht mehr an die schöne Frau Lydia zu denken ... und meine reizende Emmy soll auch den Laufpaß bekommen. Das kleine Ding hängt zwar sehr an mir. Aber ich hoffe, sie wird sich schon mit dem Prachtkerl von Bodenburg, meinem eminenten Freunde, trösten. Die beiden scheinen sich übrigens bereits gefunden zu haben. Verteufelt! Wenn ich mir denke, daß dieser Bursche – dieser ... dieser – ich finde gar keine Worte vor Wuth ... ach! sie konnte so lieb, so zärtlich sein – so ... na! Schwamm drüber! ... Hin ist hin – und nobel muß die Welt zu Grunde gehen! Ich habe Dich ja jetzt, Hedwig – lassen wir also [264] die schöne Sünderin schwimmen und halten wir's mit der Tugend! ... Und weiter noch in die Vergangenheit zurück: die Soubrette ... die Chansonettensängerin ... die Choristin ... die zweite Liebhaberin – die kleine Katze war nur etwas zu eifersüchtig – Ida, die Kellnerin – Pauline, die Conservatoristin – Donnerwetter! das Kind konnte verblüffend offen und geradezu sein! – Auguste, die Kindergärtnerin – Helene, die Confektioneuse – die schwarzzöpfige Maxel, die so etwas wie eine Collegin von Emmy war – Ottilie, die pralle Jüdin mit den polirten Sammetaugen und dem Teint, der wie gekochtes Hühnerfleisch aussah – Toni, das fürwitzige, verliebte Töchterlein des Herrn Polizeicommissars – – mein Gott! die Proskriptionsliste will gar kein Ende nehmen ... Wie viel vergeudete und verschwendete Zeit! Wie viel verzettelte, verpuffte Kraft! Wie viel zerquirlte Stimmung! Wie viel überflüssig verlottertes Geld! Und doch –: man hat wenigstens Etwas erlebt! Etwas erlebt, von dem tausend andere Pomadenheilige keenen blauen Dunst haben! War's auch im Grunde immer wieder dasselbe –: man hat seinen psychologischen Blick doch bedeutend geschärft – man hat die Weiber – verzeih', mein Lieb! – einigermaßen kennen gelernt – man ist hinter unendlich viele Schliche und Coulissengeheimnisse des Lebens gekommen –summa summarum: ich bereue mein fahriges Zigeunerleben keineswegs. Ich habe manche unvergeßliche Stunde durchlebt .... manches volle, große, ganze Gefühl genossen – ich habe manchen brennenden Schmerz durchkosten [265] müssen ... ich habe manche wahre Thräne fließen sehen ... und manche wohl auch selbst geweint – meine Erinnerungen werden einmal ... in späteren Tagen ... sie werden dann kaum nüchtern, kaum glanzlos und kalt sein – der Einkaufspreis, um den ich sie erstanden, thut mir nicht leid. Es trocknet übrigens nichts schneller auf der Welt, als so eine kleine, heiße, salzige Thräne. Und doch thut jede Trennung weh – man begegnet sich so selten noch einmal im Leben, wenn man's mit dem Auseinandergehen wirklich ernst genommen hat ... Und das ist auch sehr gut. Aber jede Trennung reißt doch zugleich ein Partikelchen Herz mit fort. Nun! wir Mischlinge der Romantik und des modernen ›Realismus‹ haben ja Vorrath in dieser Beziehung – wir leiden ja Alle an einem gewissen trop de coeur ... Oder würden wir uns sonst so furchtbar interessant vorkommen, wie es thatsächlich der Fall ist? Würden wir sonst so eifrig an uns herumspintisiren und herumtüfteln, herumschnüffeln und uns von hinten und von vorn begucken und behorchen? Wären wir sonst solche capitalen Narren und machten durch eine ewige Analysirungswuth aller Worte, die wir sprechen, aller Handlungen, die wir in Scene setzen – machten wir dadurch unsere Beziehungen zu einander ... unter einander ... zu den denkbar unerquicklichsten von der Welt –? Ach! Was sind wir doch für unsagbar dumme Kerls! Indessen! welche Wollust, so ein interessanter Narr sein zu dürfen! Uebrigens, Hedwig – damit ich nicht allzu sehr in [266] Deiner Achtung sinke –: ich habe nämlich auch mit sogenannten ›edlen Frauen‹ verkehrt! Diese ›edlen Frauen‹ – nein! das sind wirklich zu putzige Wesen! Das Märchen von ihnen hat mich immer sehr amüsirt. Doch das ist 'n Capitel, das sich auch zu einem ganzen Buche ... einem corpulenten Foliobande erweitern ließe. Und der ganze Band würde schließlich nichts weiter enthalten, als einen einzigen ... allerdings sehr respektablen Beitrag zur Dummheit und psychischen Kurzsichtigkeit des Menschen. Merkwürdig! Ich habe immer mehr Kraft,mehr Natur, mehr echte Wahrheitssucht und auf richtige Lebensbezeugung – mehr naives, ungebrochenes Aussichherausleben in jenen Frauenkreisen gezwungen, die durch allerlei Verhältnisse ... persönliche Sonderbedingungen, äußere Einflüsse u.s.w., dahin geführt waren, sich zu freieren Anschauungen, zu freieren Sitten und Gewohnheiten bekennen zu müssen. Das ist aber doch auch ganz natürlich. Je größer die Bewegungssphäre, desto größer damit der Spielraum der Kräfte. Nichts herrlicher, als eine Kraft, die sich tüchtig nach allen Seiten hin ausleben darf. Da liegt doch ›Musike drin‹, wie die braven Leute vom dritten, vierten und ... fünften Stande zu sagen pflegen. Aber da kommen andere Leute ... eine nicht minder üble Sippschaft ... brechen die Kraft ... und sind nun heidenfroh, daß sie sich einbilden können, sie hätten diese arme, schimpfirte Kraft in den Dienst der ›Anständigkeit‹ und wie die Larifaritugenden dieser Hundeseelen sonst alle [267] noch heißen mögen, gezwungen – und sie haben sie doch nur gemißbraucht und verstümmelt ... Unbeschnitten kommt ja Keiner durch's Leben. Aber man sollte uns doch nicht zu enge Zellen ... nicht zu enge Käfige anweisen. Indessen – schließen wir diesen Speech, mein Lieb! Riechst Du nicht die Klaue des Weltverbesserers? Du darfst stolz sein auf Deinen Herzallerliebsten, Kind! Wenn ich erst 'mal den bewußten Punkt gefunden habe, hebe ich den ganzen Krimskrams von Kosmos ... das ganze Mehltöpschen ... die ganze Würmerschüssel von Weltall aus den Angeln. Verlaß Dich drauf! Vorläufig allerdings wird nur mein Appetit auf eine gute Cigarre immer barbarischer. Wenn Du ein Nachtcafé absolut nicht goutiren kannst, gehen wir meinetwegen in eine Weinkneipe! Laß 'mal sehen! Es ist jetzt zehn Minuten nach Eins. Bis Zwei sind ja die meisten Lokale dieses Genres auf. Das nächste – ja –! komm –! Gehen wir zu Engler! Man trinkt dort eine wenigstens einigermaßen annehmbare Marke Liebfrauenmilch. Damenbedienung mußt Du allerdings mit in den Kauf nehmen. Es scheint doch noch loszugehen heute Nacht. Eben blitzte es – hast Du gesehen? Aha! Der obligate Wind! Nur nicht so eilig, ihr Herren und Damen da oben! Bitte – rechts! Und nun sei mir nicht böse, Hedwig! Sei mein kleines, herziges, lustiges Weib! Kommt Zeit, kommt Rath! Vielleicht auch Heirath, wie der Kalauer tröstet. Und gieb mir noch einen Kuß, Kind – bitte –!«
[268] Adam küßte sein Weib und drückte es fest an sich. Die edelsten, redlichsten Vorsätze, Absichten, Gewißheiten und Hoffnungen erfüllten zu dieser Frist seine Brust. –
Es blitzte wieder. Nach einer kleinen Weile rollte ein schwacher Donner nach. Heftiger kam der Wind angeblasen. Die ersten Tropfen fielen. Die beiden Wandrer beschleunigten ihre Wanderung.
»Und wenn der Wirth nun schon zu hat –?« fragte Hedwig ängstlich.
»Das wäre eine feudale Frechheit von dem Menschen –« diktirte Adam ärgerlich – »aber ich glaube nicht – – wir sind übrigens gleich da. Triumph! Es ist noch Licht – dort! kurz vor der nächsten Ecke die große, weiße Lichttraube – siehst Du: die Welt ist noch gar nicht so heruntergekommen, wie es oft den Anschein hat! Auch mit den Objekten läßt sich noch reden! Es wäre wahrhaftig fatal gewesen, nach einem Café zurückrennen zu müssen – denn von einem Droschkengaul ist natürlich wieder 'mal kein Ohrzipfel zu vernehmen. –«
»Ach Gott! Wenn das Wetter nur nicht zu arg würde – Papa wird schon längst aufgewacht sein und nach mir rufen. Adam – bitte, lieber Adam, bring' mich wieder nach Hause! Wenn Papa – ich habe ihn schon einmal – ich kann ihm nie wieder vor die Augen kommen – – o Gott! es ist zu entsetzlich! Mein armer, alter Vater –!«
»Ich verstehe Dich, Hedwig –« erwiderte Adam ernst – »aber – zur Umkehr ist es jetzt wirklich zu[269] spät! Du mußt Dich schon zu fassen suchen. Und weine doch nicht so – Du hast ja mich! Vertraue mir doch ein Wenig, mein Lieb! Man darf wirklich nicht zu sentimental sein im Leben! Wir können das Neue so oft – so unendlich oft nur durch Aufopferung des Alten erkaufen – es ist nun einmal so – Du mußt Dich an den Gedanken gewöhnen, so herb und hart er auch sein mag –«
Der Regen ging eben in den hergebrachten Gewitterrhythmus über, als die beiden das Lokal erreicht hatten.
»Guten Abend, Herr Doctor –« begrüßte der Wirth, Herr Engler, sich höflich verneigend die Eintretenden – »das war aber die allerhöchste Zeit! Noch ein paar Minuten später – und – – nicht wahr? man sollte es gar nicht glauben: wir haben doch eigentlich noch gar keine besonders heißen Tage gehabt – und nun knallerts schon los – es scheint 'n ganz hübsches Gewitterchen werden zu wollen –«
In hartem, scharfem Blauweiß prallte jetzt der Wiederschein eines Blitzes gegen die schwarzen Fensterscheiben. Aber im Innern des Raumes konnte er bei der runden Lichtfülle, die sich hier ausgab, nicht recht zur Geltung kommen. Ein dröhnender Donner rollte unmittelbar hinterher.
»Mein Gott –!« schrak die Kellnerin zusammen, die mit der Weinkarte zu Adam hingetreten war.
»Das Hat eingeschlagen!« versicherte Herr Engler sehr bestimmt. Er schien sich auf derartige Prophezeihungen zu verstehen.
[270] Adam wischte mit dem Taschentuche die Sternchenzeichnungen von seinen Kneifergläsern, die der Regen dort aufgemalt hatte.
»Wo wollen Sie Platz nehmen, Herr Doctor –? Vielleicht hier auf dem Sopha, mein Fräulein –?«
»Ja! Bitte, Hedwig! Uebrigens mein Lieblingsplatz – nicht wahr, Herr Engler? Haben so manches Glas hier geschluckt ... in angenehmster Gesellschaft ... tempi passati! Nun müssen wir halt vernünftig werden. – Aber schöne Stunden waren's doch –!«
Der Wirth schmunzelte. Er warf einen kurzen, scharfen Blick auf Hedwig. Und er sah sehr nachdenklich aus – als zählte er im Geiste alle die Damen zusammen, mit denen sein lieber Stammgast, der Herr Doctor Mensch, schon bei ihm eingekehrt war und hier in dieser traulichen Ecke gesessen ... getrunken ... geplaudert ... gekost ... und wohl auch einmal geküßt hatte. Aber diese Dame da – die sah doch gar nicht danach aus, daß sie – hm! ... Nee! so'n blasses, ernstes, mageres Frauenzimmer – ohne Feuer und Leben – Herr Engler konnte sich keinen Vers darauf machen ... Der Herr Doctor halte doch sonst einen besseren Geschmack bewiesen! Was ihm nur heute eingefallen war? Ja! Als er noch mit der Dame da drüben ... mit der Dame, die heute Abend am ander'n Ende des Zimmers an dem runden Marmortischchen mit dem eleganten Herrn zusammensaß – – ja! als der Herr Doctor Mensch noch mit diesem amusanten Dämchen verkehrte [271] – die beiden schienen ja jetzt nichts mehr von einander wissen zu wollen – wie das nur gekommen war? – – da – ja da – – aber Herr Engler hütete sich gar sehr, auch nur den kleinsten und harmlosesten seiner Ketzergedanken auszusprechen
»Also eine Liebfrauenmilch –!« bestellte Adam und sah sich im Lokale um.
»Eine Liebfrauenmilch!« bestellte die Kellnerin weiter an den Wirth, der darauf in ein Nebenzimmer verschwand.
Adam drückte die Gläser seines Kneifers dicht an die Augen heran. Irrte er sich denn – oder? Aber das war ja nicht möglich! Das konnte ja nicht sein! Der Herr da drüben – und die ... die Dame an seiner Seile – das waren doch nicht – waren doch nicht – – und jetzt sah der Herr zu ihm herüber – und nickte er ihm nicht zu? Teufel! Wahrhaftig! Nein! Aber doch! Gütiger Heiland von Plundersweilen! Das war wirklich Herr von Bodenburg – und die Dame an seiner Seite war – die Dame war wirklich Emmy! Na! Eine köstliche Bescheerung! Vorzüglich! Ganz vorzüglich! ...
Adam schnitt sein ernstestes Gesicht und grüßte wieder. Er fühlte, daß er Emmy seine sie ironisirende Verachtung zeigen müßte und sich zugleich vor Hedwig nicht verrathen dürfte.
Hm! das war aber so'ne Sache mit dem ›sich nicht verrathen dürfen‹! Warum denn nicht? Und da kam auch schon sein Dämon angekrochen und kitzelte [272] ihn. Er hatte seine kleine Braut heute Abend ja schon sattsam geärgert. Und mehr als geärgert: er hatte sie gepeinigt, gemartert, gequält – er hatte sie eigentlich scandalös behandelt. Das that ihm leid – gewiß! Aber was sollte er jetzt mit ihr reden? Sie hatten sich heute ja schon gegenseitig die längsten und tiefsten und ernsthaftesten Vorträge von der Welt gehalten! Ein pikanter Nachtisch war kaum zu verachten. Und jetzt tuschelten die Beiden drüben so impertinent auffällig. Es ging gewiß über Hedwig her – man kritisirte gewiß die »neue Dame seines Herzens« ... diese Dame, die mit ihrem herben, verschlossenen Wesen, ihrer spröden Zurückhaltung, so gar nicht in diese Umgebung paßte ... in diese Umgebung, die nur gewohnt war, ein Helles, lustiges Lachen zu hören ... und blitzende Augen zu sehen ... und die köstliche Melancholie des verschwiegenen Minnespiels zu studiren, welches in immer wieder neuer Gestalt zu erfinden und zu bethätigen, das geheime Einverständniß zweier Liebenden so unermüdlich ist und so unübertrefflich ...
Die Kellnerin brachte den Wein und schenkte ein. Ein paar gelbweiße Tropfen fielen auf die weiße Tischdecke. Das kleine Fräulein war ein Bissel unaufmerksam gewesen. Sie hatte nicht auf den Wein geachtet, sie hatte Hedwig inspizirt. Sie schien sich ein Urtheil bilden ... sich über Etwas klar werden zu wollen. Adam verspürte den Zusammenhang. Er mußte lächeln. Wie die Hunde, dachte er. Aber cosi fan tutte. Sie müssen sich erst [273] beschnüffeln, beschnuppern – obgleich sie ganz genau wissen, welch' Geistes Kinder sie sind ...
Adam war unschlüssig. Sollte er einmal zu den beiden hinüber schlendern ... das Pikante der Situation noch um einige Grade steigern ... und dann mit größtem Gleichmuth das verführerische Gebräu hinabschlürfen? ...
»Wie heißen Sie, mein Fräulein?« fragte er vorerst die Kellnerin. So thut man so oft etwas Ueberflüssiges, so lange man nicht weiß, ob man das weniger Ueberflüssige nicht für das noch mehr Ueberflüssige halten soll.
»Melitta!« antwortete die Dame.
»Donnerwetter! Melitta! Die Kellnerinnen werden immer vornehmer, Sie gefallen mir übrigens, Melitta – wollen Sie nicht 'n Glas mittrinken? –«
Das Mädchen blickte fragend auf Hedwig, die sich zurückgelehnt hatte und finster, beinah drohend zu Adam hinübersah. Der fühlte sich sehr unbehaglich. Konnte denn die Dame nicht einmal aus sich herausgehen, nicht einmal in einen lustigeren, leichteren Ton miteinstimmen? Das Leben etwas zwangloser, etwas kritikloser nehmen? Immer dasselbe gleichsam festgefrorene Abweisungs- und Entsagungspathos – es wird etwas langweilig auf die Dauer. Jawohl! Es kann sogar sehr langweilig werden. Wie? Wenn er jetzt neben Emmy säße ... und sein leckeres Weiblein an diesem köstlichen Goldwein nippte und ihm dabei über den Rand des Glases hin zublinzelte mit seinen lustigen, lockenden Augen ... so [274] verführerisch-verheißungsvoll zublinzelte – wie? wäre daß nicht ein süßer, berauschender Genuß ... eine beseligende Traumstimmung ... ein solider Augenblick des Glücks, der Illusion ... zwischen Gliedern an der Lebenskette, die entwaffnet haben und entwaffnen werden, weil sie in nüchterner, durchschauender Erkenntniß beschlossen sind? In Gesellschaft von Naturen à la Hedwig warf selbst der goldenste, göttlichste Wein keine bunten, sammtenen Lichter über das dumme, rohe, rauhbeinige Leben.
Der Regen prasselte mit derselben trockenen Dreistigkeit immer noch nieder ... und mit den rothgelben Lüstreflammen des Saales coquettirten noch immer die weißblauen Blitze. Aber der Donner nahm sich schon mehr Zeit ... schien schon vorwiegend müde geworden zu sein. Er humpelte langsamer hinter den schießenden Flammen her ... und sein Poltern klang bedeutend gemüthlicher.
»Na! das scheint ja noch 'mal gnädig ablaufen zu wollen –« meinte Herr Engler und trat an den Tisch heran, hinter dem Adam und Hedwig saßen. Melitta entfernte sich, ernstlich gekränkt, wie es schien, einen bösen Blick auf Hedwig werfend.
»Ja! .« erwiederte Adam zerstreut ... und schwang sich dann zu der Frage auf: »Wie lange haben Sie noch auf, Herr Wirth?«
»Bis halb Drei ... Drei – so genau läßt sich das nicht nehmen. Je nachdem das Local besetzt ist. Wie Viele kommen nicht erst kurz vor Thoresschluß –!«
[275] »Gewiß! Na! da dürfen wir ja noch 'ne Weile sitzen! Wie spät haben wir's denn jetzt?«
»Es geht auf Zwei! Nehmen Sie sich nur Zeit, Herr Doctor! Noch 'n Stündchen – dann müssen wir aber Schicht machen –«
»Bitte, Hedwig, trink doch! Ich glaube, Du bist noch beim ersten Glase! Nimm Dir an mir ein Beispiel! Nicht wahr, Herr Wirth – bei einer Flasche Liebfrauenmilch habe ich es noch nie bewenden lassen –?«
»Ja! Ja! Es sind wohl meistenteils ... mehrere ... Flaschen geworden ... Aber da waren Sie auch – wie soll ich sagen? – da gings flotter – lustiger her – da –«
»Pst!« drohte Adam, halb im Ernste, halb im Spaße. »Nix ausplaudern, mein Lieber –!«
»Du brauchst Dir gar keinen Zwang aufzulegen, Adam! Du weißt doch – wir haben uns ja über diesen Punkt ausgesprochen –« warf Hedwig ein, Aerger und Verbitterung in der Stimme.
»Sie sehen, Herr Engler: so ein Pantoffelheld ist man nun glücklich geworden! Ja! Die Liebe! Die Liebe! Die kriegt Alles fertig und krümmt selbst den trotzigsten Nacken –« scherzte Adam gezwungen ... »– aber ganz hast Du mich noch nicht gebändigt, liebe Hedwig – ganz noch nicht –«
»Bitte, laß das! –«
Herr Engler entfernte sich. Er konnte den Doctor nicht begreifen. Wollte der's denn wirklich nur noch mit den Philistern halten? Und der würdige Weinwirth [276] glaubte Grund genug zu der Befürchtung zu besitzen, über kurz oder lang einen seiner besten Stammgäste zu verlieren – und das würde doch sehr fatal sein.
Adam fühlte sich immer ungemüthlicher. Hedwig war so wortkarg ... starrte in Einem fort vor sich hin – und schien mehr an ihren verlassenen Vater zu denken, als an den Geliebten, der ihr zur Seite saß – eine lebendige, begehrende und gabenbereite Gegenwart ... der mit köstlichem Weine den Bund ihrer Herzen feiern wollte heute Nacht ... der die Stimmung für orgiastisches Draufgehn wachsen und wachsen spürte in sich ... wachsen mit dem genossenen Weine und der vorenthaltenen Genugthuung des Leibes, die immer heißer und brünstiger um ihr Recht warb ... Adam verbiß sich rein in seinen Aerger über Hedwigs Sprödigkeit. Er trank immer hastiger, wurde immer nervöser, suchte die Müdigkeit, die manchmal mit eingeriemter Schlinge an seinen Gelenken zerrte, durch krampfhafte seelische Sprünge und Erschütterungen zu verscheuchen. Nun schnappte ein leichter, discreter Rausch nach ihm: verhangene Fernsichten schlossen sich auf ... und tagsüber verschüttet gebliebene Gedanken, Stimmungen, Erinnerungen kamen zu ihm, flink, geschwind, behend wie Eidechsen, aus Rissen und Spaltungen, darin sie geschlummert hatten ...
Adam fühlte den Blick Emmys anhaltend auf sich. Er konnte nicht widerstehen. Das Ungewöhnliche der Situation reizte ihn zu sehr. »Verzeih, Hedwig! Ich muß erst 'mal zu meiner Emmy [277] hinüber –« entschuldigte er sich leise, verlegenhastig, und erhob sich.
Zu seiner Emmy? Hedwig fuhr zusammen und schaute Adam nach, wie er, ein klein Wenig unsicher, durch das Zimmer schritt und an den Tisch trat, an welchem, ihnen gegenüber, allerdings in beträchtlicher Entfernung, ein Herr und eine Dame saßen. Sie hatte die beiden Menschen dort bisher kaum beachtet. Und nun entpuppte sich die Dame als »seine Emmy«! Nein! das war zu viel! Am Liebsten wäre sie aufgesprungen und zum Lokale hinausgeflohen. Unwillkürlich horchte sie darauf, ob der Regen nachgelassen. Es schien so. Aber die Dachrinnen plätscherten das Wasser immer noch mit heftigem Affekt auf das Pflaster ... es tropfte und quirlte noch allenthalben. Und jetzt blitzte es auch noch, wenn auch schwächer, wie müde und gelangweilt. Das Gewitter gähnte schon. Das grauweiße Morgenlicht machte sich immer breiter und spielte immer zudringlicher durch die Vorhänge ins Zimmer, welches dadurch einen Stich ins sündhaft Uebernächtigte, ins klebrig Unreinliche erhielt.
Hedwig versuchte es, die Scene, die sich jetzt am Tische da drüben abspielte, weiter nicht zu beobachten. Sie verspürte auf einmal das brennende Bedürfniß, sich zu betäuben. Vielleicht wusch ihr der Wein das Bewußtsein der Schmach, die ihr widerfahren war, aus der Seele. Und sie spülte hastig einige Gläser furchtsam gelber Liebfrauenmilch hinab. –
Adam streckte die Hand Herrn von Bodenburg [278] entgegen. »Guten Abend, Herr Referendar! Guten Abend, Emmy! Ich freue mich, daß ich Sie einmal wiedersehe. Und noch dazu unter diesen pikanten Verhältnissen ... in diesem süßen Nebeneinander ... Darf ich einen Augenblick Platz nehmen –?«
»Bitte!«
Adam fühlte sich plötzlich sehr souverän und spottlustig aufgelegt. Ihn dünkte, er hätte die beiden Menschen da vollständig in der Hand – und ein klein Wenig mit ihnen zu spielen, müßte ein Kapitalvergnügen sein, das er sich nach den Zeiten der Dürre, die er soeben mit Hedwig durchlebt, wohl leisten dürfte. Der genossene Wein, der ihm schon eine vage Andeutung von Rausch angeheftet, machte nicht minder seinen stachelnden Einfluß gelten.
»Nun, mein gnädiges Fräulein, wie gefällt Ihnen eigentlich mein neuer Nachfolger im Amte – oder darf ich ihn nur für meinen Stellvertreter halten –?«
Adam sog nachlässig an seiner Virginia. Sie war wieder einmal ausgegangen. »Die Dinger sind wie die Weiber: man muß sie in Einemfort poussiren ... sonst gehen sie aus ... das heißt: sie gehen in ein anderes Lager über. Ich will übrigens damit beileibe nicht gesagt haben, Herr Referendar, daß bei Ihnen Nordpoltemperatur herrschte –« witzelte Adam und hielt sich ein brennendes Streichholz vor die Cigarre.
»Ich verstehe Sie nicht, Herr Doctor –« erklärte Herr von Bodenburg pikirt.
[279] »Prost, Clemens!« versuchte Emmy sehr diplomatisch zu trösten und abzulenken, dabei warf sie einen Blick auf Adam, als wollte sie sagen: »Siehst Du, so intim sind wir schon! Etsch!«
»Prost, Emmy!« kam Herr von Bodenburg nach und fuhr, als er das Glas wieder niedergesetzt, fort: »Ich muß Sie wirklich bitten, Herr Doctor –«
»Mein Gott, Herr Referendar – Sie werden mir doch gestatten, Sie ein wenig zu bewundern! Und das thu' ich mit dem redlichsten Gemüthe von der Welt! Vorgestern – es war doch vorgestern? – ja! – vorgestern also – na! da noch durch die Brust geschossen – ich meine: ohne weiter'n weiblichen Anhang – und heute schon auf stolzen Rossen – ich gratulire herzlichst –«
Emmy wurde unruhig und sah Adam an, wie drohend und zugleich gütlich abrathend, in diesem Stile fortzufahren.
Der Herr Doctor lächelte.
»Verzeihen Sie, mein Herr – so viel ich sehe, befinden Sie sich doch selbst in Damengesellschaft – wenn ich nicht irre, ist Ihre Begleiterin die Dame, die wir öfter im Café Caesar –«
»Sie haben ganz richtig gesehen, Herr Referendar, aber das hindert doch nicht – ich meine: wenn ich auch momentan versehen bin – Sie werden doch nicht glauben, daß ich so verzweifelt einseitig sei, um – nun! – nun! – ich versichere Sie, mein Herr: ich halte es für meine Pflicht, mich auch noch für ... wie soll ich sagen? – für verflossene Liebschaften [280] ein Wenig zu interessiren ... Die armen Mädels! Wenn ihnen eine kleine, harmlose Enttäuschung in der Brust herumrumort, laufen sie dem Ersten Besten in die Arme ... wie der verzweifelte Skorpion ins Feuer ...«
»Dem Ersten Besten – mein Herr –!«
»Clemens –! Ich bitte Dich! Prost!«
»Laß mich! – Dem Ersten Besten – was soll das heißen –?«
»Nun wird der auch noch katholisch! Adam! ... pardon! ... Herr Doctor –!«
»Sie wünschen, mein gnädiges Fräulein –?«
»Das gnädige Fräulein wünscht gar nichts, aberich wünsche –«
»Was denn?« fragte Adam jovial, mit größter Seelenruhe.
»Daß Sie sich menagiren – sonst –«
»Sonst –?«
»Ich sähe mich gezwungen –«
Herr Engler war hinzugetreten. »Ich bitte Sie, meine Herren – Sie werden doch nicht – – es ist übrigens Feierabend, meine Herren!«
»Darf ich bitten? – ich möchte Kasse machen –« bemerkte Melitta. Dabei sah sie Emmy an und schielte dann zu Hedwig hinüber. Das arme, verlassene Weib schien ihr jetzt sehr leid zu thun.
»So eilig, Herr Wirth?« fragte Adam und erhob sich.
»Es ist halb Drei durch – sehen Sie doch: es ist schon ganz hell draußen –«
[281] »So? Gute Nacht, Emmy! Und im Uebrigen, Herr Referendar – thun Sie, was Sie nicht lassen können! Ich stehe Ihnen zur Verfügung –«
»Nun! Das Weitere wird sich morgen finden –«
»Adieu –«
Emmy konnte sich doch nicht enthalten, ein zaghaft geflüstertes »Adieu!« zu antworten.
»Mein Herr! Pardon! –« Herr von Bodenburg eilte Adam nach. Der wandte sich um.
»Darf ich Sie um Angabe Ihrer Wohnung bitten? – ich weiß nicht mehr genau –«
»Hier ist meine Karte – meine Wohnung steht dabei – bitte! .«
»Danke verbindlichst –!«
Die Herren verneigten sich und gingen auseinander.
»Verzeih, mein Lieb – eine kleine, humoristische Scene! Hat natürlich weiter nichts auf sich ...«
Hedwig war durch die Spannung, mit welcher sie trotz alledem unwillkürlich den Vorgang beobachtet, der sich soeben zwischen Adam und dem fremden Herrn abgespielt – und durch den mit nervöser Hastigkeit genossenen Wein bedeutend aufgelockert. Das Paradoxe, Bizarre ihrer Lage war ihr erst eigentlich jetzt zum Bewußtsein gekommen. Und fast reizte sie schon das Abenteuerliche daran und dünkte sie ausnehmend pikant. Sie gewann dem, was so neu, so außerordentlich war, schon Geschmack ab. Es fiel zu sehr aus dem Zusammenhange ihres bisherigen Lebens heraus. Und zugleich wuchs in ihr [282] das Bewußtsein der inneren Fülle ... der Fülle von Erlebnissen, die ihr in wenigen, zusammengedrängten Stunden zugeflossen waren. Ihr Leben stand an einem Wendepunkte ... war vielleicht nur durch die frivole Laune eines Vabanque-Spielers dahingeführt worden – aber sie liebte nun einmal diesen Vabanque-Spieler, sie hatte sich ihm ergeben und sie mußte ihm weiterfolgen. Gleichgültig, wohin. Große Stunden schieben enge Sphären auseinander und verrücken die Maßstäbe. Ein schnaubendes Wühlen und Bohren in der Enge ists und zugleich eine weltenzusammenraffende Gipfelschau. Fast war Hedwig auf ihre Zukunft neugierig, naiv neugierig. Das Bild ihres verlassenen Vaters trat zurück und verblaßte jählings in die Vergangenheit hinein. Sie freute sich darüber und gedachte seiner wie eines Todten, dessen man sich nicht mehr deutlich zu erinnern vermag ... und auch nicht mehr deutlich zu erinnern die Pflicht hat ...
»Ihr werdet Euch doch nicht –? – –«
»Gott! wir kitzeln uns vielleicht 'n Bissel! Solche ›kleinen Scherze‹, wie mein verflossener Busenfreund, Herr Kakatus Maximilian Ritter von Stämpellstrunk, zu sagen flegte, das Stereotypen-Männchen, wie wir den Knaben seiner festgefror'nen Redensarten wegen immer nannten – solche ›kleinen Scherze‹ also erhalten die Gesundheit und befördern die Verdauung. Es ist übrigens ziemlich tiefsinnig, sich wegen einer ... einer femme pour tous eine Rippe zu zerbrechen respektive sich eine zerbrechen zu lassen ...«
[283] »Also der Dame ... Deiner ... Deiner Emmy wegen, Adam –?«
»Die Damen, mein Lieb, für die oder deren wegen sich Helden, wie wir, schlagen – diese Damen – – nun! glaubst Du etwa, Hedwig, daß ich für Dich eintreten würde – das heißt – ich meine – –«
»Wenn mich nun Jemand beleidigte –?«
»Ich würde den Kerl niederschlagn – aber wahrhaftig nicht auf den Unsinn des patentirten Mords 'reinfallen! Bei Damen dagegen à la Emmy, die Alles darauf ankommen lassen, läßt man eben auch Alles darauf ankommen – genau so zweideutig, wie der Charakter dieser Frauenzimmer ist das Duell – genau so! – ein Capitel aus den Demimondiana des Lebens, mein Lieb – weiter nichts! Dort Alternativen – hier auch! Aber nun laß uns gehen! Die theure Donna Melitta wartet schon. Trink' aus, bitte! Sieh, wie hell es schon geworden ist! Wir gehen der Frühe entgegen, dem Morgen – der Sonne! Wenn sich nur der Staub der Nacht nicht so in meine Poren eingefressen hätte! Komm! Und nun wollen wir allen Unrath aus der Seele spülen ... und weiter nichts sein, als zwei harmlose Wesen, die sich zu Tode wundern möchten, daß sie hier auf dem dummen, hökrigen Erdrücken Stehauf! und Duckdichnieder! spielen müssen ... die baß erstaunt sind, daß sie nicht gelegentlich herunterrutschen von dem Kugelwürmchen – und die manchmal, wie zum Beispiel [284] jetzt, mit dem ganzen Hokuspokus doch von Herzen einverstanden sind! Nicht wahr? mein Lieb – das Leben ist doch schön! doch! doch! doch! – Allerdings! dieses ›doch!‹ ist sehr verdächtig –!«
Adam hatte an Fräulein Melitta den Wein bezahlt und war nun Hedwig beim Anziehen des Jaquets behülflich.
Herr von Bodenburg und Emmy gingen in diesem Augenblicke vorüber.
Emmy warf einen kurzen, vorwurfsvollen Seitenblick auf Adam, der, hinter Hedwig stehend, nickte ihr zärtlich-ironisch zu. Er wußte ja: Herr von Bodenburg war nur ein »Interims-Verhältniß«.
Die Luft hatte sich kaum abgekühlt. Der Morgen war dick und schwer, der Himmel mit aufgebauscht massigen, gelbgrauen Wolkenlagern überzogen. Der Tag schien recht mürrisch und einsilbig werden zu wollen. Es war kaum Stimmung in diesem Wetter. Das junge, wachsende Licht drückte sich nur in breiten, verschwommenen Massen auseinander. Oefter kam ein warmer Wind angeblasen und furchte die Pfützen, die auf den Fahrdämmen standen. Er klopfte sanft auf die Büsche und Bäume und schüttelte einen kleinen, kitzelnden Regen hängen- und sitzengebliebener Tropfen herunter.
Adam fühlte sich doch etwas übernächtigt. Eine große Spannung wohnte kaum noch in seiner Seele. Er mußte öfter gähnen, so Vieles war ihm sehr gleichgültig, er sehnte sich nach einigen Stunden tiefen Schlafes. Er wäre jetzt so gern allein gewesen. [285] Wenn sich noch die Sonne gemeldet hätte! Oft schon war er in seinem Leben heimgegangen, wenn sie in der Frühe gekommen war. Dann waren ihm ihre ersten Scheinversuche immer so lieb gewesen, so anheimelnd. Junges, erstes Licht hat so etwas putzig Stolperndes, naiv Drauflosgehendes, es ist noch so viel Reinheit und Schmelz und Kritiklosigkeit in ihm. Und wenn sich das junge, erste Licht mit seinen blitzenden Silbergliedern gegen die Scheiben oberer Häuserfronten legte, hatte Adam oft über dieses Kecke, Backfischige dabei redlichen Ernstes lächeln müssen. Heute war Alles trüb und zusammengeronnen, wenn auch unendlich hingebend und weich ... muntere, begehrende Menschen zum Lager lockend und ladend, zum gemeinsamen Lager. Aber Adam fühlte sich eben ermattet, wie steif verholzt und zusammengedrückt, klebrig verfilzt, hier und da in seinen Gelenken überflüssig unterbunden, und dazu aufgelegt, so viel als möglich kraftverwaisten Herzens zu vernachlässigen. Auch das Weib an seiner Seite zu vernachlässigen, das er aber doch nicht gut um diese frühe Stunde allein nach Hause gehen lassen konnte. Eine Auseinandersetzung mit Hedwigs Vater war unvermeidlich. Auch er muhte dabei sein. Ja! diese Auseinandersetzung wohl eigentlich selbst einleiten. Das fiel ihm jetzt erst ein. Fatal und unbequem war's doch. Nun! – da er das auf sich nehmen mußte, konnte er die paar Schritte, die ihm noch bis zu einem gewissen, an sich selbstverständlichen Ziele zu gehen [286] blieben – dann konnte er sie nur getrost gehen. Hedwig würde wohl nicht minder im Sinne haben, die letzte Hand an ihr gemeinsames Werk mitanzulegen. Dann stimmte dieses Capitel wenigstens einigermaßen und erlebte eine Art Ende und Abschluß. Also vorwärts!
»Ich bin doch etwas müde!« begann Adam stockend und gähnte dazu ein Gähnen, das nicht recht aus sich herauskommen wollte.
»Bring mich nach Hause, Adam!« bat Hedwig leise. Sie wußte selbst nicht recht Bescheid in sich in diesem Augenblicke. Auch sie war abgespannt, und nach dem Hochschwung des kleinen Weinrausches, den ihr die goldene Liebfrauenmilch und die miterlebte Plänkelei zwischen den beiden Herren eingeflößt, litt sie jetzt nur um so mehr unter der wiederkehrenden Müdigkeit. Aber zu ihrem Vater zurück? Um diese Stunde? Doch wohin sonst? Etwa mit Adam herumspazieren, bis der Tag sich ganz breit gemacht hatte und die Menschen glaubten, es mit ihm wagen zu können? Oh! sie gingen beide schon so langsam und sehnten sich beide nach Ruhe und Rast!
Adam lachte mit forzirter Heftigkeit. »Hedwig! Ich soll Dich nach Hause bringen –? Das ist mehr als naiv, mein Kind! Hörst Du die Nachtigallen schlagen? Nun! die schlagen uns etwas Anderes und Vernünftigeres vor. Wir promeniren erst noch ein Weilchen – siehst Du: hier sind wir ja gleich am Parke – die Wege werden allerdings verdammt [287] matschig und breiig sein – na! wir wollens nur 'mal versuchen – also wir schlucken noch ein Wenig die Morgenluft ein – machen uns 'n bissel frischer und dehniger, sehniger, beweglicher – nicht wahr, Kind? – plaudern noch über Dies und Das – und nachher – nachher kommst Du mit zu mir, mein Lieb – und schläfst Dich bei mir tüchtig aus – und morgen respective heute früh gehe ich zu Deinem Papa und sage ihm ganz vergnügt, daß uns übermüthigen Menschenkindern der kleine Extra-Streich urfamos bekommen wäre! Dein Papa wird doch auch in praxi Philosoph genug sein, um unsere That, in der sich die Natur einmal so recht ausgelebt hat, nicht mit der Krämerelle zu messen. Meinst Du nicht auch –?«
»Mit zu Dir gehen – nein, Adam, das thue ich auf keinen Fall!« erklärte Hedwig sehr bestimmt und umschritt, zu Boden blickend, eine braungraue Wegpfütze, die sich in der Mitte des schmalen, glitschrigen Parksteges über Gebühr breit hingegossen hatte.
»Das thust Du nicht –? Nun! was denken das gnädige Fräulein dann zu thun –?« fragte Adam, höhnisch-verdrießlich. Er war doch im Grunde nur berechtigt, seiner Sache gewiß zu sein. Warum also überflüssige Weitläufigkeiten? Unglaublich! Aber die Weiber!
»Du hast doch gehört – ich will nach Hause gehen –«
»Um diese Stunde? Früh genug ist es allerdings. Aber wir sind schon von heute, mein Fräulein, [288] und nicht mehr von gestern. Es ist 'n viertel Vier. Sonderbar! Plötzlich genirst Du Dich nicht mehr! Und gester Abend –«
»Aber Du mußt doch begreifen, Adam, daß ich nicht mitgehen kann! Und selbst – wenn auch – nein! nein! – –«
»Ah! ›Wenn auch‹! Was denn nun noch, Hedwig –?«
»Nein! nein – –!«
Hedwig hatte sich von Adam losgemacht und war stehen geblieben. Sie ließ den Kopf auf die Brust herabhängen und streckte mit zusammengeschobenen Fingern die Hände vor sich hin.
»Ich kann nicht –!« stieß sie gepreßt hervor.
»Gieb mir nur einen einzigen, vernünftigen Grund an –«
»Adam! Von Einem zum Ander'n reißt Du mich –«
»Ist Dir das Tempo zu schnell? Mit Schnecken um die Wette zu laufen – das ist allerdings reizlos für mich ... Ueberdies mußte es so kommen! Warum sollen wir die Reise nicht an einem Tage machen? Das Leben ist so kurz. Man darf sich nicht zu viel Zeit nehmen. Nicht auf jeder Zwischenstation aussteigen. Nun komm! Hake Dich wieder ein! Bitte! Und sei meine kleine, vernünftige Hedwig! Ja –?«
»Lieber Adam –!«
»Aber, Kind – warum sträubst Du Dich denn immer noch? Unerklärlich! Du kannst doch beim [289] besten Willen jetzt nicht nach Hause gehen – siehst Du denn das gar nicht ein? Was sollen wir noch ewig debattiren darüber! Laß Dich doch überzeugen! Du verdirbst mir den letzten Rest von Stimmung! Mir war etwas viel Schöneres eingefallen. Na! Nicht gerade eingefallen. Ueber Manches hätten wir wohl noch zu sprechen, Hedwig – über manches Wichtige, Tiefe, Intime. Und wenn wir uns jetzt recht zusammennähmen – und uns so recht jung und rein, kräftig und ungebrochen zu fühlen versuchten – und so recht allein und auf uns nur angewiesen – mir schwebt noch Dies und Das vor ... dämmert zu mir herüber – ich möchte Dir aus meinem Leben erzählen ... Erinnerungen auffärben – Erinnerungen anderer Art, als vorhin, wo ich Dir von Deinen ... Deinen – Vorläuferinnen – pardon! – also – – aber bitte! – Komm zunächst! Hedwig! Komm! Komm! Komm! Komm! Mach' doch! Und thu' mir den Gefallen und weine nicht wieder! Ein furchtbar schwerer Güterzug bist Du! Donnerwetter! Die Locomotive muß eine Puste haben –«
Adam versuchte zu scherzen und machte ein gezwungen heiteres Gesicht. Warm blies ihn der feuchte Frühlingswind an. Adam nahm den Hut ab und lockerte das zusammengedrückte Haar auf. Nun gähnte er laut. Zögernd, verdrossen führte er die Hand zum Munde. Er blinzelte müden, verschwommenen Blickes zu Hedwig hinüber, die ein paar Schritte vorwärtsgegangen und dann wieder wie rathlos, zweifelnd, suchend, unentschlossen und [290] doch zugleich auch direkt abweisend stehen geblieben war. Der Tag war schon tüchtig gewachsen. Das Licht differenzirte Bäume, Büsche, Sträucher schon um Vieles zwanglos-nachdrücklicher. Das Einzelne gewann mehr und mehr seine Grenzen, ließ seine Farben spielen, schuf sich seine Umgebung. So objektivirt das Licht. Nacht, Schatten, Dämmerung sind immer subjektiv. Am Meisten aber die Dämmerung. –
Nein! Der Druck in den Augenwinkeln war unerträglich. Und die Glieder wurden dem Herrn Doctor immer steifer, zäher, widerspenstiger. Es war schon viel Selbstverständliches in ihm. Er hatte gründlich abgewirthschaftet. Sollte er das Weib lieber doch nach Hause bringen ... zu seinem verlassenen Vater ... und seinem Schicksale überantworten? Es war ja schließlich Alles so egal. Aber – besonders ehrenhaft und muthig wäre es doch wohl nicht gewesen. Allerdings – wie überreden, überzeugen, daß –? Ach! die Geschichte war verdammt langweilig und hausbacken geworden. Selbst wenn er das kleine Weib wirklich noch mit nach Hause schleppte und diese lobesam-labsälige Tragikomödie in einer gewissen Mausefalle ihren süßen Abschluß fand – besonderen Reiz hatte der Gedanke kaum noch für ihn, seine Sinnlichkeit ließ den Kopf hängen und welkte – er war nicht mehr im Stande, Etwas zu finden, das er tief durchfühlen konnte. Nur ungeduldig konnte er noch sein. Er hatte ein starkes, fein ausgebildetes Verständniß- und [291] Bedürfnißorgan für alles Weibliche – aber schließlich wird jedes sotane Weibliche doch blutig langweilig ...
»Na – wie denken das gnädige Fräulein –?«
»Adam –!«
»Wir wollen nicht wieder in krampfhafte Dialoge verfallen, Hedwig! Das ist auch so'n weltläufiger Irrthum, als ob man mit Gesprächen und Verhandlungen irgend Etwas ausrichtete! Wir monologisiren ja Alle nur – reflektiren über unsere höchst eigenhirnigen Triebe, Neigungen, Kräfte, Tendenzen – und so weiter. Das versteht sich Alles ganz von selber. Oder auch nicht. Das ist aber ganz Dasselbe. Widersprüche giebts nämlich gar nicht. Im Grunde durchaus nicht. Bloß auf der Oberfläche. Die Oberflächen drängen, stoßen, reiben, balgen sich. Das nennen wir denn begriffenes Leben. Das wesentliche Leben ist natürlich das Unbegreiflich-Unbegriffene. Das sind nämlich die verdammten Dinger an sich. Daraus folgt, mein Lieb, daß es nämlich ganz schnuppe ist, ab Du hier stehen bleibst, oder ob Du mitgehst – ob Du nach Hause fürbaß wandelst oder bei mir campirst, meine reizende Kameradin – ob Du – – na! ich will nur ruhig sein – ich hätte nämlich beinahe wieder 'mal 'was Knalliges losgelassen ... Gott verdamm mich! – bin ich zusammengehauen von den Strapazen des Abends und dieser glorreichen Nacht! Ja! Ja! –:
›So'n klenet bisken Liebe –
Ach! det macht viel Pläsir –
[292]Een Leben ohne Liebe –
Det wäre nischt for mir ...‹ –
was ich mir allerdings unterthänigst zu bezweifeln erlaube. ›Een Leben ohne Liebe‹ dürfte viel empfehlenswerther ... jedenfalls viel gesünder sein. Aber was soll die ganze Schwatzerei! Wir gehen direkt zu meiner Wohnung – nicht, Hedwig? Das ist am Gescheitesten –«
Seit einigen Minuten waren die beiden wieder neben einander vorwärtsgeschritten. Hedwig sah Adam von der Seite an.
»Adam –!«
»Nun –?«
»Ach! es ist schrecklich!«
»Immer noch? Du bist poussirlich, Kind!«
»Du weißt nicht –«
»Ich weiß nicht –? Was denn –?«
»Nicht wahr: Du läßt mich aber allein bei Dir – ich meine: allein – ja – ich – ich ruhe mich nur ein Wenig aus auf deinem Sopha – dann –«
»Selbstverständlich – wenn Du es durchaus wünsch'st – ich dachte allerdings, daß wir –«
»Oh mein Gott –!«
»Was ist denn nur so furchtbar –?«
»Meine – Ver – – ich bin ja schon – Adam! ich habe ja nichts mehr ... zu – ver ... l – –« Das war leise ... wie mit unsäglicher Ueberwindung herausgestöhnt.
Adam war doch zusammengezuckt. Hm! Er [293] hätte ein derartiges Geständniß nach Allem, was vorausgegangen war, allerdings erwarten müssen. Und nun berührte es ihn – ja! wie denn eigentlich? peinlich? schmerzlich? Fühlte er sich genirt – oder machte ihn die an sich kaum bedeutsame Thatsache nur schulbubenhaft verlegen? Schließlich schwang er sich zu folgender hervorragender Antwort auf:
»Das kann Dir nur zur Ehre gereichen, Hedwig! – Und Dein ... hast Du – Dein ... Kind? –«
»Starb kurz nach der Geburt –«
»Nun ... da hats Dir der liebe Gott doch bequem genug gemacht –«
»Adam!«
»Verzeih! Aber ich – sieh 'mal: ist nicht jedes Wesen beneidenswerth, das bald nach seinem Kommen wieder weggeht ... weggehen darf? . Es ist so süß, mitten in der Nacht ... nach stundenlangem Schlafen ... einmal aufzuwachen ... Man horcht gespannt in die surrende, athmende Finsterniß hinein – fühlt sich unsäglich angenehm müde – und dämmert langsam wieder ein ... Es verlohnt sich schon, die Augen einmal aufzuschlagen, wenn man so entzückend schnell und süß wieder einschlafen darf ... Aber nun hoffe ich, ist der letzte Weigerungsgrund hinfällig geworden, Hedwig – ich weiß sehr wohl, was Du mir hast andeuten wollen – komm! gieb mir den Arm endlich wieder – wir wollen uns etwas beeilen –«
Hedwig sah Adam an ... und fügte sich langsam zögernd. Vielleicht doch nicht zu ungern. – – – – – –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
[294] »Endlich!« rief Adam, tief aufathmend, aus und warf die Schlüssel auf den Tisch. »Nun mach' Dir's bequem, mein Lieb! Deine Kleider wirst Du schon irgendwo unterbringen. Aber zunächst wollen wir erst 'mal die Fenster hübsch zumachen ... und der neugierigen Welt ein Schnippchen schlagen ...«
Die Vorhänge waren zusammengezogen. Das Morgenlicht, das schon recht deutlich und grenzen-reißend im Zimmer gestanden, war wieder zu anheimelnder, welliger Dämmerung graugeronnen. Adam warf einen Blick in den Spiegel. Seine Augen waren glanzlos, sein Gesicht verquollen und unnatürlich geröthet.
»Ja! Ja! das kommt von so 'was! .« spöttelte er halblaut vor sich hin. Nun schloß er sein Cyklinder-Bureau auf und warf dabei einen Blick seitwärts auf Hedwig.
»Aber, Kind! Willst Du denn da an der Thür stehen bleiben? Gefällts Dir so wenig bei mir? Es ist doch gar nicht so übel hier! Leg Deinen Hut ab, bitte – Du hast nun einmal A und B gesagt – jetzt mußt Du das ABC auch ganz hersagen – davon hilft Dir weder Gott noch Teufel los! Sieh' mich 'mal an, Hedwig! Na? Willst nicht? Immer noch so ernst und traurig? – Mein Lieb!«
Das hatte Adam in fast innigem Tone gesprochen. Er war zu Hedwig hingetreten und begann jetzt sehr discret, bescheiden und nicht ungewandt, der Dame seines Herzens allerlei kleine Zofendienste zu leisten. Er nahm ihr den Hut ab, knöpfte ihr [295] Jaquet auf, zog es ihr aus und zupfte und nestelte an den engansitzenden Handschuhen herum, bis er zuerst den einen, dann den ander'n entfernt hatte. Hedwig ließ Alles ruhig mit sich geschehen. Sie war sehr blaß, die Lippen hatte sie fest zusammengepreßt, die Augen waren über die Hälfte von den Lidern belegt. Adam hing ihr Jaquet an seinem Kleiderhalter auf. Diese Apathie verdroß ihn. Er hatte nun sein kleines Weib im Fangeisen – aber die Geschichte kam so gar nicht in Fluß ... schien im Gegentheil pyramidal langweilig und langwierig werden zu wollen.
Hedwig kauerte sich auf ein Streifchen Sopharand hin. Adam zwang sich zu einem helleren, anregendem Tone.
»Bitte, Hedwig, sei nicht so stumm und zurückhaltend! Nicht so furchtbar starr und bewegungslos! Du bist doch die Herrin hier! Siehe! Dein Ritter und Knecht wird es sich auf dieser schreiend rothen Damastcauseuse bequem machen! Aber Dir, seiner Königin, hat er ein fürstliches Lager aufgeschlagen! Komm und staune! .«
Adam theilte die Portière auseinander und erwartete, daß Hedwig zu ihm hin und mit ihm in sein Schlafcabinet treten würde. Aber die Dame rührte sich noch immer nicht. Unwillig ließ Adam die Vorhangfalten fahren. Er setzte sich neben Hedwig auf das Sopha, zog sie ein Wenig tiefer auf den Sitz zurück, legte seinen linken Arm um ihre Hüfte und bog sanften Nachdrucks mit der rechten Hand ihr Gesicht zu sich heran.
[296] »Hedwig –!«
Sie suchte sich langsam von ihm loszumachen. »Laß mich, Adam –!«
»Fällt mir gar nicht ein! Und folgst Du nicht willig, so brauch' ich Gewalt – –«
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Nun Adam auf dem Sopha lag und sich nach Belieben recken und dehnen konnte; nun die Eindrücke der Außenwelt auf eine geringe Anzahl, die sich wohl noch bewältigen ließ, zusammengeschmolzen waren ... nun er das Weib, welches er liebte, in so enger, intimer Nähe bei sich fühlte; nun er es mit seinen Armen umschlingen und küssen durfte, siedete das Blut, dessen Leidenschaft schon erstorben war, noch einmal zischend in die Höhe – und alle geschlechtlichen Instinkte des Mannes lechzten danach, durch das Weibe erfüllt und befriedigt zu werden. – –
Endlich legten sich ihre Arme wie ein zerschnürender Ring um seinen Hals.
»Adam –! –«
»Hedwig –! –«
Die »Natur« läßt ihrer nicht spotten. –
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
Das Licht wuchs und wuchs. Die Beiden aber lagen beieinander und genossen die Süßigkeit verdienten Schlafes. Wohl war ihr Schlaf nur flach und dünn, wie eine Linnendecke, die jeder Windhauch aufscheucht und bläht ... dünn wie ein Lindenblatt, das der junge, übermüthige Morgenwind ansäuselt ... Sie begegneten sich so oft in den Bewegungen ihrer [297] Glieder und erweckten sich zu neuem Liebesleben. Dann wieder ein mähliges Ablassen von einander ... ein neues Müdewerden und Eindämmern ... und ein Neuerwachen. Sie sahen sich in die Augen, trugen keimende Küsse auf die Lippen und pflückten die süßen, berauschenden Früchte. »Aber nun wollen wir schlafen, Geliebter – –« »Ja, Hedwig! Aber erst – – –« »Nein! Laß, Bester! Mich friert so! ... –« »Mir ist erstickend heiß! ich dampfe –« und Adam küßte diskret die Brust seiner Geliebten ... diese Brust, die so weiß und so elastisch war, wie ein weichgekochtes, nervös vibrirendes Ei ...
Unerschöpflich ist die Phantasie genießender Liebe ... unermüdlich weiß sie neue Reize aufzuspüren und auszukosten.
So schliefen sie in den wachsenden Tag hinein. Es wurde lebendig auf dem Vorsaal, man lief hin und her und sprach jetzt lauter, jetzt leiser. Die bunte Welt der Geräusche durchstach so oft die zarte Schaale ihres Schlafes. Manches nahmen sie wohl mit hinüber in die gaukelnden Traumfetzen, die sie gebären mußten. Auch von der Straße herauf sprach das Leben, das die vernünftigen Menschen wieder in Angriff genommen hatten, so oft in ihre zusannnenknospende Rast hinein. Fliegen surrten um sie herum und schreckten sie auf. Und immer heißer wurde es auf dem gemeinsamen Lager.
Hedwig schlummerte. Leise und langsam gingen ihre Athemzüge. Adam stützte den Kopf auf seine rechte Hand und betrachtete die Schlafende. Ihre Haut war nicht rein ... und jetzt merkwürdig durchfaltet [298] und angerunzelt. Das Haar hatte sich verschoben und sich zu häßlicher Unordnung zusammengeknäult. Unangenehm scharf traten die Backenknochen hervor, die Wangeneinfaltungen leicht überschattend. Auf der Oberlippe erglänzten im klaren Lichte der wahren Sonne einige bläulich schwarze, indiskrete Härchen. Doch schön war der Leib dieser widerspenstigen Sünderin, etwas mager wohl, aber sehnig und zusammensaugender Kräfte reich. Und dabei gedachte Adam der Huldinnen, die alle schon hier neben ihm gelegen ... das Haupt in dieses ... in dieses selbe Kissen geschmiegt ... und er verglich ihre Reize, so gut er sich ihrer erinnerte, und durchkostete noch einmal in nachlässigem Aufstöbern und Zusammenschüren alle die Freuden und Entzückungen, die er hier schon genossen, so oft schon genossen ... Dieselben Verführungsfaktoren ... dieselbe dampfende Entzündung ... derselbe Genuß ... dasselbe Resultat ... derselbe Ekel ... ach! ein so dummes, so wahnsinnig dummes und einfältiges Genarrtwerden! Die Natur macht nicht viele Worte, ihre Sprache ist so blutarm. Sie wiederholt sich immer und plagiirt sich selber mit denselben Wendungen. Und immer wieder muß man auf den armselig geistlosen Köder 'reinfallen. Aber es ist, als ob sie, die domina natura, stets den Intellekt so lange knebelte und vergewaltigte, bis sie mit der Brandung des entzündeten Blutes ihr erhabenes Ziel erreicht hat. Und dann? Dann läßt sie stillvergnügt die genasführte Kreatur räsoniren. Das letzte Wort behält sie doch ... behält sie immer und überall. –
[299] Adam schlich sich leise von Hedwigs Seite, fuhr in die Hosen und schlürfte in sein Arbeitszimmer hinüber. Er trank ein paar Schlucke abstoßend lauwarm gewordenen Wassers, riß die Fenster auf und schaute ... bei seiner sehr primitiven Morgentoilette mit affektirter Ungenirtheit ... auf die Straße hinab, zum Junihimmel hinauf, der in sattem Stahlblau flimmerte. Es war um die neunte Stunde ... drunten hatte sich das Leben schon ganz hübsch eingerichtet. Schwerfällige Lastwagen schoben sich langsam mit widerlichem Geknarr vorüber. Da lief sein Barbier vorbei – wenn es dem Kerl nur nicht etwa einfiel, jetzt schon anzutanzen! Viel Staub und Dunst gab's ... und Menschen, die ihre Hüte in der Hand trugen und sich mit großen, massigen Taschentüchern die Stirnen wischten. Ach! Adam fühlte sich sehr miserabel. Er schauderte vor dem zurück, was ihm der Tag noch bringen würde, bringen mußte. Da im Nebenzimmer schlief das Weib, das er ... nun! das er liebte, und das er genossen hatte. Süße, selige Stunden waren es doch gewesen. Einsame Stunden, da sie sich wie herausgelöst dünken durften aus dem Zusammenhange der Menschen und der Dinge. Nun forderte die geistlose soziale Seite des Lebens wieder ihr Recht. Sich einzurenken, sich wieder auf seinen bestimmten Platz in Reih und Glied zu stellen, das galt es nun wieder. Nach rechts und links vertreten und verantworten, was man in kühner Absonderung gewagt und gethan hat. Ach! Die Scene mit Hedwigs Vater, die dem Herrn Doctor bevorstand! [300] Das war allerdings sehr peinlich. Und wenn er sich noch wohler und freier gefühlt hätte! Aber holprig und langsam war sein Denken, mühsam vorwärtskriechend und nur ganz obenhin die Dinge des Lebens betastend. Immer beschäftigte ihn nur das Nächste. Alle seine Bewegungen waren schwerfällig, träge, vollzogen sich widerwillig. Eine filzige Zähigkeit und zugleich eine nervöse, unregelmäßige Bewegungssucht, eine zitternde Unruhe spukten in seinen Gliedern, die wie dicker Brei gern in ihren Lagen verharren wollten und diese doch stetig zu wechseln strebten. Seine Hände waren schwammig und aufgequollen, seine Gesichtslinien an einzelnen Stellen, um Augen und Nase herum, schärfer markirt und zugleich widerlich verwischt. Die Lippen trocken, spröde, auf der Zunge stand ein fader, dürrer, kiesig prickelnder Sandgeschmack, die Stirn brannte von einem pressenden Drucke. Oefter mußte Adam gähnen, aber seine Kiefer schienen alle Biegsamkeit und Spannung verloren zu haben. Die Kopfhaut schmerzte, als wäre sie von einem Heere engzusammenstehender Stecknadeln durchlöchert. Zu jeder Handlung mußte sich Adam besonders zwingen. Alle Reibungen des geistigen und des thatsächlichen, praktischen Kleinlebens reizten ihn mit gesteigerter Intensität. Dabei besaß Nichts ein tieferes Interesse mehr für ihn ... und Alles, was ihn sonst zum Denken, Bedenken, Betrachten herausforderte, hatte Wert, Inhalt, Form und Farbe verloren.
Adam wusch sich Gesicht und Hände und schellte.
[301] Im Nebenzimmer raschelte es. Ein langer Seufzer zitterte herüber.
Dann rief eine müde, heisere Stimme, wie gebrochen, »Adam –!«
»Gleich, mein Lieb! Einen Augenblick!«
Es klopfte. »Herein!« Das Mädchen kam und brachte den Kaffee.
»Morgen, Herr Doctor!«
»Morgen! Und bringen Sie bitte noch 'ne Tasse, Ida!«
»Noch 'ne Tasse?«
»Ja! Ist das so merkwürdig? Ich habe Besuch –«
Das Mädchen sah sehr verblüfft aus. Es starrte Adam einen Augenblick an.
»Aber ist denn das noch nicht vorgekommen, so lange Sie hier sind –?« fragte Adam unwirsch-ungeduldig.
»Nee! In den acht Tagen, wo ich –«
»Na, also bitte –!«
Jetzt schien dem kleinen, frisch vom Lande importirten »Besen« doch ein Licht auszugehen. Er verzog den Mund und grinste tolpatschig-schnippisch.
»Rindvieh!« knurrte ihm Adam nach und trat in's Nebenzimmer.
Hedwig saß im Bett, hatte die Arme gegen die unter der Decke herausgezogenen Kniee gestemmt und die Hände vor das Gesicht gedrückt.
Adam rückte sich einen Stuhl an das Bett heran und streichelte seinem Weibe liebkosend Haar und Hals.
[302] »Nun – wie fühlt sich die gnädige Frau? Mir ist nicht so besonders – ich weiß nicht, aber –«
Hedwig nahm die Hände von den Augen. Langsam wandte sie ihr Gesicht mit den bleichen, übernächtigten Zügen und dem schweren, verthränten Blick Adam zu. Das arme Weib schien ganz muthlos, ganz »hin« zu sein. Sich im Bette eines fremden Mannes zu finden – ihm mußte doch auch die Scham in der Seele brennen –
»Mein Lieb–!«
»Das überlebe ich nicht, Adam! Mein armer – armer Vater –!«
»Nur Muth, Hedwig! Es wird schon schief gehen – pardon! wollte sagen: es wird sich Alles schon machen. Schlimmsten Fall's – also – Du hast ja immer – hast ja immer an mir Halt und Stütze! Wir werden's schon überstehen. Es wird noch Alles gut werden – laß nur jetzt den Kopf nicht zu tief hängen, Kind! . Und komm! steh' auf! Du kannst hier ganz ungenirt Toilette machen. Alles Nöthige wirst Du finden. Es wäre ja nicht das erste Mal, daß eine Da – – – man ist für solche Fälle eben vorbereitet, wie es sich geziemt ...« Der angefügte Nachsatz sollte wie ein harmloser Scherz klingen und war doch eine unwillkürlich beabsichtigte Bosheit. Der Herr Doctor mußte sich in dieser Richtung leider nur zu oft gehen lassen. Es war beinahe, als ob nur die vasamotorischen Nerven diesen Reflex auslösten, und der Wille nicht einmal die Freiheit mehr besaß, unfrei zu sei.
[303] »Soll ich Dir den Kaffee herüberbringen, mein Lieb?«
Hedwig antwortete nicht. Adam benutzte ihr Schweigen und ging auf kleinen, wohlberechneten Umwegen in sein Arbeitszimmer zurück. Es war ihm zwar zu Sinn, als ob er sich so etwas wie »gedrückt« hätte. Aber da drinnen bei dem unglücklichen Weibe hatte er sich doch zu unbehaglich gefühlt. Und er war schon so nervös heute.
Er goß sich eine Tasse Kaffee ein und trank das Gebräu, das nur noch lauwarm war, in hastigen Zügen hinter. Ein merkwürdiger Durst quälte den Herrn Doctor schon zu dieser frühen Morgenstunde. Und Adam vergegenwärtigte sich mit stiller Resignation, in der er doch aber immerhin ein Wenig zungenschnalzend schwelgte, welche Last er auf sich genommen ... und er erinnerte sich, wie so ganz anders er mit Emmy diese morgendliche Nachfeier genossen hatte – wie dieses schöne »Kind der Sünde« an den letzten verklingenden Melodien einer dithyrambischen Liebesnacht zu schlecken verstanden. Köstliche, unvergeßliche Stunden! Und heute –?
Adam lag in der Sophaecke und kaute an einer Virginia-Cigarette, die gar nicht schmecken wollte. Im Schlafzimmer ging man auf und ab. Schritte schlürften, Kleider raschelten, das Waschwasser plätscherte. Aber Alles so langsam und eintönig, so störrisch-verglast, so leblos-mechanisch. Adam besaß ein sehr feines Gehör. Das war die Nuance der Trauer, der muthlosen Gleichgültigkeit. Ach! Und das wirkt so ansteckend ...
[304] Es wurde an die Stubenthür geklopft.
»Herein!«
»Herr Doctor, 'ne Dame ist draußen, die Sie sprechen will –«
»'Ne Dame –?«
»Ja!«
»Hat sie denn ihren Namen nicht genannt –?«
»Nee! Sie sagte man bloß, sie müßte Sie sofort sprechen –«
»Nun – ich lasse bitten –«
Emmy stand auf der Schwelle.
»Emmy –!«
»Verzeih', Adam, daß ich so früh – ich komme – Ihr wollt Euch – –«
Sie war sehr verwirrt und verlegen, die schöne Sünderin – eine Erscheinung, die Adam noch gar nicht bei ihr beobachtet hatte.
Sie stand noch immer an der Thür und irrte unsicheren Blickes im Zimmer herum, schlug nun die Augen nieder und vermied es, Adam anzusehen. Jetzt entdeckte sie zufällig Hedwigs Hut, der auf einem Stuhl neben dem Sopha lag.
Adam entging es nicht, wie sie erschreckend zusammenfuhr. Er lächelte.
»Du hast, Adam –«
»Was denn, Emmy? Aber bitte – willst Du Dich nicht setzen? Und willst Du mir nicht den Grund Deines Kommens nennen? Es muß doch ... muß doch etwas Besonderes vorliegen – nicht? – oder sollte ich mich irren –?«
[305] »Du hast Besuch –?«
»Besuch? Das ist der Hut meiner Frau, Emmy –«
»Deiner Frau –?«
»Nun ja natürlich! Was weiter? Soll ich sie Dir vorstellen? Warte eine Secunde – sie macht noch Toilette ... Wir sind etwas spät nach Hause gekommen und ... und haben etwas lange geschlafen ... Uebrigens! wie geht es denn dem Herrn von und zu Bodenburg? Du kommst doch gewiß von ihm –?«
»Adam –!«
Emmy war dicht an Adam herangetreten und sah ihn mit großen, blitzenden Augen fest an. Zorn und Entrüstung brannten in diesem Blick. So spricht die Leidenschaft, die eine erlittene Schmach rächen oder die etwas Verlorenes wiedergewinnen will.
Adam konnte sich dem berauschenden Parfüm dieser Leidenschaft nicht entziehen. Da quoll ihm Blut und Leben in ungestümem Rhythmus entgegen. Da athmete ein Weib vor ihm, dessen Leib seine Reize und Schönheiten wunderbar diskret und bestimmt zugleich durch das knappansitzende Kleid zu verrathen wußte.
Er trat einen Schritt zurück. Und nun mußte er doch wieder lächeln. Fade! Wollte ihn die Dame etwa überrumpeln –?
»Nun? –« fragte er ungeduldig-pikirt.
»Du hast mich in die Arme dieses Menschen getrieben – –«
»Ich? – Aber Kind, da muß ich doch –«
»Oder etwa nicht –?«
»Liebe Emmy! Das ist doch – ich – ich [306] denke, es ist Dein Metier, heute mit dem und morgen mit dem zu ... zu – verkehren – –?«
»Und das sagst Du mir –?«
Emmy hatte sich abgewandt. Sie war glühend roth geworden. Vielleicht aus Scham und Entrüstung zugleich. Nun empfand Adam doch wieder so Etwas wie Mitleid mit ihr. Aber er wußte auch nicht sofort, was er antworten sollte
»Darf ich Ihnen eine Cigarette anbieten, mein Fräulein –?«
Emmy richtete langsam den Kopf in die Höhe. Ein sehr trauriger, vorwurfsvoller Blick stand in ihren schönen Augen.
»Sie haben ganz Recht, Herr Doctor – es ist allerdings mein ›Metier‹ – –«
»Aber bitte! lassen wir doch das! Ich möchte heute früh ... so am ersten Morgen quasi nach meiner ... nach meiner Hochzeit also ... ich möchte mich da nicht gleich wieder auf alle möglichen Scenen einlassen – Sie verstehen, mein Fräulein –«
»›Auf alle möglichen Scenen‹ – so? ›Scenen‹ – ganz recht! ... Nun, Herr Doctor –«
»Ja –?«
»Sie wollen sich mit Herrn von Bodenburg – schlagen? ...«
»Schlagen? Hui! Mir wird janz jruselig. Uebrigens – 'mal sehen ... kann wohl sein! Warum schließlich auch nicht? Ich erwarte vorläufig erst seinen Zeugen – und dann – –«
»Sie werden das Duell ablehnen, Herr Doctor –!«
[307] »Ablehnen? Wie kommst Du mir denn vor, Emmy? Diese Sprache – ich – ich verstehe Sie nicht, mein Fräulein –«
»Adam –!« Das war sehr innig, sehr rührend, sehr stehend herausgestoßen.
Im Nebenzimmer wurde heftig ein Stuhl gerückt. So hat sich eine Hand krampfhaft auf eine Lehne gelegt. Die Finger krallen sich fest, pressen sich immer fester. Jetzt schleudern sie den Stuhl im Affekte, der seinen Siedepunkt erreicht hat, von sich Die nervöse Spannung läßt nach ...
Die Beiden sahen sich an.
»Denken Sie an ... an Ihre – Frau –« bat Emmy leise, mit zitternder, stockender Stimme –
»Hm!«
»Das hatte ich Ihnen sagen wollen –«
»Ich danke Ihnen, mein Fräulein –«
»Adieu –!«
»Adieu –!«
Emmy wandte sich nach der Thür um, in deren Nähe sich die ganze Scene abgespielt hatte. Einen letzten Augenblick noch zögerte sie jetzt. Und nun kehrte sie Adam noch einmal ihr volles Gesicht zu. Thränen standen in ihren Augen, um den Mund zuckte es schmerzlich.
Und da kam es über Adam. Es gebar sich ihm plötzlich das Gefühl, als verlöre er Unersetzliches, wenn er Emmy jetzt gehen ließe. Und doch – er durfte sie nicht zurückhalten. Er war ja gebunden. Er hatte ja eine bestimmte Pflicht zu erfüllen. Dieses ›Verhältniß‹ mußte also endgültig [308] abgebrochen werden. Es liegt eine so große Wollust in diesem Abbrechen und Entsagen ... eine so berauschende Wollust, eine so nahrhafte Trauer, eine so merkwürdig fruchtbare Wehmuth ... Aber noch einen Kuß! Einen letzten Kuß! Und dann Abschied nehmen – Abschied nehmen für immer von diesen schönen, schönen Reizen! Nun mag die Erinnerung kommen – und genossene Wonnen in stillen Stunden ausschmückend noch einmal durchkosten ... all' das Liebesgeplauder wiederholen und all' die tändelnden, losen, neckischen ... halb ernsten, halb spaßigen Gespräche, die zwei Menschen zu einander gesprochen, die sich einen Augenblick liebgehabt ....
Adam küßte Emmy auf die Stirn.
»Verlaß mich nicht, Adam!« – hörte er sich mit bebender, gleichsam in höchster Angst sich anklammernder Stimme zuflüstern.
Es raschelte in den Falten der Portière. Adam trat zurück. Emmy verließ schnell das Zimmer. –
Der Herr Doctor stand vor seinem Sophatische, auf dem es trostlos verworren aussah, und suchte Etwas, irgend Etwas, er wußte wirklich nicht, was. Seine Finger tappten zwischen den Büchern, Manuskripten, Zeitungen hin und her, griffen nach einem losen Blatt, nach einem Schlüssel, einer Cigarrenspitze, einem Bleistifte ... jetzt nach der kleinen Morphiumflasche, die sich in intimer Nachbarschaft bei Meynerts Lehrbuch der Psychiatrie niedergelassen ... und stellten Alles wieder hübsch gewissenhaft an seinen [309] Platz zurück. Nun fiel Adam die Cigarettenschachtel in's Auge. Er nahm sich eine frische Virginia heraus und pendelte sie gedankenbeklommen zwischen den Fingern hin und her. Jetzt mochte Emmy unten sein. Ob er ihr noch einmal nachblicken sollte? Ein letztes Zunicken? Ein letzter Gruß? ... Sie würde jedenfalls zu seinen Fenstern heraufsehen – vielleicht, daß er – – nein! nein! Nicht coquettiren mit der Vergangenheit, die ein für alle Mal abgethan sein sollte! Es mußte ja sein. Da nebenan ... die Dame da in seinem Schlafzimmer – zum Teufel! Es war gegen alle Vernunft und Ordnung, aber es war einzig und allein »anständig«, wenn er ihr treu blieb ... Auch das mußte eben sein. Es ist höchst empfehlenswerth, im Prinzip keine »Pflichten« anzuerkennen ... und in der Praxis möglichst viele zu erfüllen ...
»Hedwig! Bist Du fertig? Dann komm bitte! Der Kaffee wird in der That ganz kalt –«
Keine Antwort. Adam gab der Cigarette Feuer und trat in's Nachbargemach. »Himmeldonnerwetter – da soll denn doch – –«
Die Luft war heiß und dunstig hier. Eine wüste Unordnung, von dem brutalen Sonnenlicht bis in's Kleinste hinein entwirrt und umrissen, machte sich allenthalben breit. Hedwig saß an dem einen Fenster, hatte den linken Arm auf das Brett gestützt und das Kinn in die Handhöhlung gelegt. Sie starrte, wie von einem einzigen dumpfen, massiven Schmerze zusammengezwungen, ausdruckslos durch die Scheiben. [310] Das schwarze, schmucklose Kleid gab der ganzen Gestalt etwas unendlich Trauriges, unsäglich Herbes und Abgewelktes.
»Willst Du nicht?« bat Adam leise, innig. Er war hinter den Stuhl Hedwigs getreten und hatte ihr Gesicht sanft zu sich emporgezogen. »Komm, meine kleine Frau!«
Hedwig seufzte laut auf.
»Und verzeih' diese dumme Störung vorhin! Das war recht geschmacklos. Siehst Du: da hattest Du gleich so'n Stückchen rabbiater Vergangenheit! Aber es ist vorbei. Ich habe es definitiv ad acta gelegt. Du kannst wirklich ganz ruhig sein –«
»Was wird mein Vater sagen?« kam es darauf langsam und unheimlich abgewickelt deutlich von ihren Lippen.
Adam fuhr auf. Er hatte im Stillen wohl auf einen neuen, pikant-harmlosen Disput gerechnet ... der gewiß nicht ohne reizvolle Pointen geblieben wäre! Und nun wieder die alte Geschichte mit ihrem Vater, an die er am Liebsten gar nicht erinnert sein wollte. »Nimm mir's nicht übel, Hedwig – aber immer und ewig nur Dein Vater! Ich hab's Dir ja schon gesagt: ich gehe nachher zu ihm hin und setze ihm die ganze Sachlage ruhig und denkbar correkt auseinander. Dann werden wir ja sehen ... Vor Elf kann ich allerdings nicht. Bis dahin muß ich schon warten ... muß eben erst sehen, ob sich Herr von Bodenburg mit seiner kindischen Geschichte meldet. Ist das glatt, wird sich das Andere auch finden. Dein Papa ist doch kein Unmensch. [311] Ich begreife nicht, warum Du Dich darum so furchtbar absorgst und abgrämst ... Die Situation ist ein Wenig außergewöhnlich – ich gestehe es zu – das ist aber auch Alles. Sie mag nicht alle Tage vorkommen – nun ja! Aber ich danke auch dafür, alle Tage Sauerkohl und Bratwürstel essen zu müssen. Es sind schon ganz andere Geschichten aus dieser Welt passirt – sei doch nicht zu klein, Hedwig! Wir wollen nicht jeden Kram mit dem Pathos der geschichtlichen Mundvöllerei-Tragödie ausstaffiren – immer und immer wieder dieselben Phrasen, dasselbe nauséabonde, urtriste Gequatsche! Seien wir klar und nüchtern, wie es unsere Zeit verlangt – ich hasse diese banausische Sentimentalität, diese schleimige Gefühlsduselei ... Komm! Ich kann Dir zwar momentan nicht Beef und weiche Eier vorsetzen, wohl aber miserablen Kaffee und ein Brödchen mit Sardellenbutter. Das ist auch Poesie, Kind! Nun – das wird hoffentlich Alles anders und besser werden, wenn Du erst 'mal meine kleine Hausfrau bist – nicht wahr –?«
Hedwig war aufgestanden. Sie legte ihre Hände auf Adams Schultern, barg das Gesicht an seiner Brust und weinte leise in sich hinein.
»Ich habe ja nur Dich noch auf der ganzen weiten Welt, Adam – habe Mitleid mit mir!« bat sie mit thränenerstickter Stimme.
Adam drückte sein Weib zärtlich an sich.
Und nun saßen sie wieder beisammen auf der schreiend rothen Damast-Causeuse.
Adam nippte an seiner Cigarette, Hedwig trank [312] ab und zu einen Schluck kalten Kaffees und führte ein butterbestrichenes Semmeleckchen zum Munde. Sie sprachen wenig zu einander. Das war keine besonders behagliche Frühstücksstimmung. Ob Hedwig wohl viel Talent dafür besaß, die sehende, sorgende Hausfrau zu spielen? Sie schien nur immer noch über das Eine, das Schicksal ihres Vaters, nachzugrübeln. Daß Adam vor einer etwaigen Pistolenmensur stand, durch welche, wenn sie vor sich ging, ihr Verhältniß zu ihm eine andere, unter Umständen ihr keineswegs günstige Wendung erhalten konnte, – das hatte sie augenscheinlich ganz vergessen. Oder erachtete sie es unter ihrer Würde, auch in dieser Beziehung eine Bitte für sich bei Adam einzulegen, nachdem schon ... Emmy für sie gebeten hatte? ...
Es lag ein überaus discreter, nur scheu angedeuteter Moschusduft im Zimmer ... eine liebe Hinterlassenschaft Emmys. Dazu das brenzlichte Parfüm der Cigarette. Adam hatte allerlei kleine, dumme, träge, saugrüsslige ... überflüssige Gedanken ...
Es war schon über elf Uhr.
»Nun könnte sich der edle Trovatore eigentlich melden!« bemerkte Adam verdrießlich. Er hatte sich eben das Gespräch, das er mit Herrn Doctor Irmer zu führen gedachte, in den Hauptpunkten zurechtgelegt ... und hätte es am Liebsten sofort vom Stapel gelassen. Das Memoriren und Rekapituliren war so beunruhigend und peinlich. Nur neue Bedenken und Möglichkeiten gebar es, welche das Motiv immer wieder beeinflußten und verschoben.
Da schlug die elektrische Klingel an.
[313] »Ist Herr Doctor Mensch zu sprechen –?« hörte Adam eine rauche, belegt-fettige, wie verbogene Stimme fragen.
Das Mädchen gab Bescheid. Es klopfte an die Stubenthür.
Hedwig zuckte zusammen. Vielleicht eine Nachricht von ihrem Vater –? ... eine Anfrage von ihm bei Adam, ob – –? ...
»Herein –!«
Ein Herr trat in's Zimmer. »Herr Doctor Mensch –?«
»Ja! Und darf ich fragen – –« Adam hatte sich erhoben.
»Mein Name ist von Schnauzl. Habe die Ehre, von Herrn von Bodenburg – –« Herr von Schnauzl stockte. Er warf einen fragenden Blick auf Hedwig, die ihn mit ängstlicher Spannung, zugleich äußerst verlegen und genirt, ansah.
Adam fand den Zusammenhang.
»Sei so gut, mein Lieb, und laß uns einen Augenblick allein –«
Hedwig entfernte sich.
»Nun –?« fragte Adam, einen Ton beleidigender Abweisung und Ungeduld in der Stimme.
»Herr von Bodenburg –«
»Wollen Sie sich nicht setzen, Herr von ... von –«
»Von Schnauzl! Danke verbindlichst!«
Herr von Schnauzl geruhte, mit steifer Nachlässigkeit ein Fleckchen Causeuse für seine dreidimensionale Leiblichkeit in Anspruch zu nehmen.
[314] »Also fühlt sich Herr von Bodenburg wirklich beleidigt? Aber mein Gott! – wodurch denn nur –?«
»Herr von Bodenburg, mein verehrter, langjähriger Freund – wir waren Kompennäler und später zusammen aktiv in Göttingen –«
»So –?«
»Ja!« versicherte Herr von Schnauzl mit unwillkürlicher Treuherzigkeit ... und fuhr dann fort: »Herr von Bodenburg war also vorhin bei mir und ersuchte mich, Ihnen eine Pistolenforderung ... für den Fall, daß Sie nicht revociren und depreciren – natürlich in Gegenwart der bei der betreffenden Scene betheiligt gewesenen Personen – also vor Allem in Gegenwart der Dame, mit welcher mein Freund –«
»Ah! In Gegenwart meiner Emmy –?«
Adam war doch unverbesserlich. War das nun Absicht gewesen – oder hatte er wirklich ganz vergessen, daß sich Hedwig im Nebenzimmer befand und sicher auf jedes Wort, das hier gesprochen wurde, aufmerksam hörte? Aber ... schlimmsten Falls ... wenn es sich – vor ihr – nicht anders drehen und wenden ließ: schlimmsten Falls konnte er den faux pas als eine kleine, harmlose Rache hinstellen – ganz bewußt beabsichtigt – das war doch noch etwas pikant – warum hatte sie sich denn heute so ganz und gar nur von der Sorge um ihren Vater erfüllen lassen? – und ihn so gut wie gar nicht berücksichtigt? .
»Verzeihung! Ihrer Emmy, sagen Sie ... hm! –« fragte Herr von Schnauzl verblüfft und pikirt zugleich.
[315] »Ja! Natürlich! Die Mätresse des Herrn Referendars war vorher – meine Mätresse – ist es quasi eigentlich noch! Die Dame war vor einer Stunde bei mir ... Aber darf ich bitten, fortzufahren –«
Herr von Schnauzl war ein paar Finger breit aus dem Geleise gekommen. Da warfen sich ihm einige Momente mir nichts dir nichts zwischen die Beine, auf die er schlechterdings nicht im Geringsten gerechnet hatte, als er sich zur Erfüllung der ehrenvollen Mission, die ihm von Seiten seines verehrten Freundes aufgeschultert war, vorbereitet. Aber schließlich – das war ja seine Sache nicht. Mochte die Dame doch – – er hatte nur die Forderung zu überbringen ... respektive den Sühneversuch einzuleiten.
»Doch ... das hat mit dem, was mir hier zunächst obliegt, direkt nichts zu thun. Ich bin nur beauftragt, Ihnen, Herr Doctor –«
»Von Revociren und Depreciren kann natürlich keine Rede sein –« fiel Adam barsch ein. Die ganze Geschichte langweilte ihn schon ganz gehörig. Was wollten denn nur in aller Welt diese Idioten von ihm –?
»Ja – dann –«
»Verzeihen Sie, Herr ... Herr von Schnäuzl – pardon! – Schnauzl – durch welches Wort – hm! – welchen Ausdruck, welche Gesprächswendung fühlt sich denn eigentlich Ihr Herr Mandant beleidigt –?«
»Sie haben, wie mir Herr von Bodenburg mittheilte –«
»Darf ich Ihnen eine Cigarette anbieten –?«
[316] »Danke verbindlichst! Aber verzeihen Sie – ich muß doch bemerken, Herr Doctor –«
»Ja –?«
»Daß Sie den Ernst der Stunde ein Wenig zu unterschätzen scheinen –«
»Meinen Sie? – Ach nee! Doch – offengesagt –: – ich finde die ganze Geschichte dämonisch kleinlich, albern, überflüssig, trivial ... und vor Allem empörend langweilig ... Gestatten Sie übrigens, daß ich mir ein Exemplar meiner Virginia zu Gemüthe ziehe. Hoffentlich finden Sie nicht, daß unser ehrenwerther, blutrother Pistolenspeech durch ein paar blaue Rauchwolken entweiht wird – ich meine im Gegentheil: derartige Akte dürfen des Weihrauchs nicht entbehren – sie möchten sonst zu nüchtern und zu schamlos nackt sein –«
Herr von Schnauzl war etwas unruhig geworden. Er wußte nicht recht, wie er diesen Herrn Doctor nehmen sollte ... Sollte er sich durch diese Art der Gesprächsführung auch beleidigt fühlen und ... und die ganze Verhandlung abbrechen? Grund genug dazu hatte er schließlich erhalten durch die höhnisch-mo quante Art, mit welcher der Gegner seines Freundes sich aufspielte. Aber er hatte ja noch nicht einmal die Forderung selbst normirt – und darum – –
Adam hatte sich in den Sessel geworfen, der vor seinem Cylinder-Bureau stand, und betrachtete sein schräges Gegenüber.
Herr von Schnauzl machte ihm durchaus keinen sympathischen Eindruck. Das ganze Wesen dieses[317] würdigen Jünglings athmete eine gewisse Freude darüber, das er auf der Welt war ... und daß diese Welt nun gezwungen wurde, ihn ernst zu nehmen ... Von der Wichtigkeit seiner momentanen Mission schien der mittelgroße, wie durch eine unnatürliche Gliederverkürzung corpulent gewordene Herr ganz außerordentlich durchdrungen zu sein. Sein volles, möhrenrothes Gesicht hatte etwas Verschobenes, Zusammengedrücktes, gleichsam versetzt Asthmatisches, zugleich etwas unbeholfen Böckisches, schnaufend Einhackendes, das eminent komisch wirkte. Auf beiden Seiten der prachtvoll gewölbten Nasenkuppel zogen sich abwärts zu dem gewöhnlich breiten Munde zwei markante Falten, wie Pfützenrinnsale in Miniatur-Ausgabe. Das Kinn war ungefüg und schwulstig, die Stirn schmal und niedrig, hökrig, mit Hitzblüthen betupft, die Ohren auffallend klein, das kurze, röthlich blonde Haar so elegant und peinlich correkt frisirt, wie es bei seiner verschüchterten Spärlichkeit nur irgend möglich war. Hm! Idealisirter Bierhuhn-Stil. –
»Herr von Bodenburg fühlt sich durch eine Aeußerung Ihrerseits, die Sie zwar nicht direkt an ihn gerichtet haben, die er aber dem ganzen Zusammenhange nach auf sich beziehen mußte – also dadurch, daß Sie von dem ›Ersten Besten‹, sprachen, ›in dessen Arme‹ – ich glaube, so drückten Sie sich aus – –«
»Ach ja! Ich erinnere mich ... Nun, – ich weiß schon – also wie gesagt –: auf eine weitere, revocirende Erklärung lasse ich mich nicht ein. Des Kuriosums halber: Herrn von Bodenburgs Forderung –?«
[318] Adam war ungeduldig geworden und aufgesprungen. Er hatte die Komödie mit diesem dummen Jungen satt. Lächerlich! Im Nebenzimmer hörte er Hedwig hastig, aufgeregt hin- und hergehen. Die Erwartung der Entscheidung ihres Schicksals schien sie mit immer wachsender nervöser Unruhe zu erfüllen, je länger sich diese Entscheidung hinausschob. In der nächsten halben Stunde stand er vor ihrem Vater und hatte mit diesem eine ungleich ernstere und wichtigere Auseinandersetzung zu bestehen. Was gingen ihn da diese Krautjunker an, die nichts Anderes zu thun zu haben schienen, als sich in das erbärmlichste Zeug von der Welt, in den conventionellsten Phrasenschnickschnack festzubeißen? Eine Unverschämtheit, ihr lächerliches Nichts hier vor ihm zu einer Haupt-und Staatsaktion aufzublähen!
»Die Forderung Herrn von Bodenburgs: also auf Pistolen – fünfzehn Schritt Distance – zweimaliger Kugelwechsel – mit Zielen –«
»So? Danke sehr! Im Uebrigen also theilen Sie Herrn von Bodenburg nur gefälligst mit, daß ich seine Forderung nicht annehme –«
»Nicht –?«
»Nein –!«
»Und darf ich fragen, aus welchem Grunde –?«
»Aus welchem Grunde? Hören Sie 'mal, lieber Herr –: ich wäre wohl kaum verpflichtet, Ihnen meine Gründe auseinanderzusetzen. Es würde uns auch zu lange aufhalten, bin pressirt. Ich sage Ihnen nur, daß ich durchaus kein prinzipieller Gegner des Duells,[319] speciell der Pistolenmensur, bin – durchaus nicht! Aber ich halte zunächst Herrn von Bodenburg in keiner Weise für den Menschen, der würdig wäre, daß ich ihm mit der Waffe in der Hand gegenüberträte –«
»Ich muß doch bitten Herr Doctor! Ich bin hier sein Vertreter ... gleichsam in dieser Angelegenheit mit ihm identisch – und ich würde nun doch endlich gezwungen sein mich selber als beleidigt zu betrachten, wenn – –«
»Das sollte mir leid thun, Herr von ... Schnauzl – ich würde es aber nicht ändern können. Uebrigens wenn Sie mit Ihrem Mandanten identisch sind – warum kommt er denn da nicht selber zu mir? Wäre er vorhin anstatt zu Ihnen zu mir gegangen, hätte er – na! da hätte er eben unsere liebe Emmy, den kleinen, reizenden Zankapfel, bei mir antreffen können. Wir hätten dann jedenfalls sehr bald Frieden geschlossen. Frauen entzweien zwar leicht und wohl in gewissen Fällen auch nicht gerade ungern – haben aber doch auch wieder einen riesigen Versöhnungstic ... Die Emmy war ganz außer sich vor Aufregung ... Nun – und dann –«
»Ja! Ihre weiteren Gründe –?«
»Ich lasse mich nur mit – verzeihen Sie! – nur mitMeinesgleichen ein – Herrn von Bodenburg aber für Einen Meinesgleichen zu halten – ja! – es sträubt sich Etwas in mir dagegen – ich glaube übrigens wirklich – ich kann's mir wenigstens nicht anders erklären – Sie werden wohl besser orientirt sein – kennen ihn ja näher [320] – nicht? Ihr Herr Mandant kränkelt auch 'n Bissel am modernen Größenwahn –? Sich mit mir – na! – hören wir damit auf – nix für ungut, Herr von Schnauzl – ja! – also – und dann ... dann schlage ich mich noch, wenn ich die Ueberzeugung habe, daß ich für etwas Prinzipielles eintrete ... eintreten muß. Kindische Lappalien indessen –«
»Sie lehnen die Forderung also definitiv ab –?«
»Ja! – Außerdem giebt es noch einen Fall –«
»So wollen Sie mir wenigstens bestätigen, daß ich Ihnen die Forderung Herrn von Bodenburgs überbracht habe –«
»Mit Vergnügen! Wünschen Sie eine schriftliche Erklärung –?«
»Nein! Ich danke. Die mündliche Décharge genügt mir ... Ich empfehle mich! Adieu!«
»Ich habe die Ehre! Adieu! –«
Adam trat zu Hedwig in's Schlafzimmer.
»Und nun will ich mich fertig machen und zu Deinem Vater gehen, mein Lieb. Verzeih die Verzögerung – die dumme Geschichte ließ sich aber nicht fixer abwickeln. Mein Gott! Was habe ich seit gestern Abend bis heute Mittag nicht schon für Scenen erlebt! Das geht auf keine Bärenhaut. Und eine immer schöner als die andere! Na! Nächstens werde ich meine Memoiren schreiben. 'S wird Zeit. Aber der Hauptcoup kommt noch. Hm! Doch auch dieser Kelch wird sich wohl noch austrinken lassen. Himmel, hast du keine Flinte! Mir ist doch [321] immer noch nicht wohler. Diese dummen, stechenden Hitzeschauer! Die Luders springen an Einem auf und ab, als wäre man 'ne Kletterstange. Wie gefiel Dir übrigens der Herr von Schnauzl? Eine unglaubliche Leineweberseele! Nee! So'n Trauerweiderich! Eh bien! Unser'm Herrgott darf als Generallandwirth auch der zweibeinige Viehbestand nicht fehlen ... Es wird Einem manchmal wirklich zu schwer gemacht, nach Buddha's Recept ›Mit leid mit allem Erschaffenen‹ zu haben –«
»Und habe Nachsicht mit meinem armen, alten Vater, Adam! Er wird sehr unglücklich sein ... Ach! Das hätte ich ihm doch nicht anthun sollen ... Wenn Du ihn nur noch – wenn er nur noch – o Gott! der Gedanke könnte mich wahnsinnig machen, daß – – und diese Angst – diese furchtbare Angst –! Und bitte für mich bei ihm, Adam –!«
»Für Dich? Für uns, Hedwig! Am Meisten aber für mich. Denn ich habe ihm sein Kind genommen. Und nun leb' wohl, mein Lieb! Wo hab' ich nur meine Handschuhe? Du kannst unterdessen ganz ruhig hier bleiben – Du bist ganz ungenirt. Nimm Dir 'n Buch vor und ließ 'n Bissel! Da Daudets Tartarin! Der drollige Kerl wird Dich aufheitern. Ich komme sofort zu Dir zurück. Es wird sich schon Alles ordnen lassen. Adieu –!«
»Adieu, Adam! – Und – und – –«
Die Beiden küßten sich. Hedwig wandte sich laut aufschluchzend ab. –
[322] Adam ging langsam die Treppen hinunter. Das Gehen wurde ihm schwer. Er fühlte sich doch noch recht unbehaglich, so unruhig, schwül, wie charpiezerzupft. Wie ein Träumender ging er langsam durch das Leben der Straße. Er konnte sich nicht in das Treiben der Dinge um ihn herum hineinfühlen. Alles gurgelte hohl und dumpf an ihm vorüber, huschte und flirrte wie Schatten an ihm vorbei. Eine dicke, unerklärliche, nur matt transparente Schicht trennte ihn von Allem, was ihn umgab ... eine Schicht, die er fast physiologisch als eine schwankende, gallertartige, milchweiße Substanz wahrnahm. Er war ganz auf sich angewiesen, auf sich zurückgedrängt, in sich hineingeschoben. Das Alles, was da vor ihm, neben ihm, hinter ihm geschah, hatte keine Beziehungen zu ihm, ging ihn nichts an, das Alles verstand er nicht. Und nach einer halben Stunde ging er wiederum sehr langsam die Treppe zu Irmers Wohnung hinauf. In seinen Schläfen stach und zerrte es heftig. Nun stand er schwer athmend oben und hatte das blanke, messinggelbe Namensschild vor sich und daneben den kleinen, weißen, flachaus gehöhlten Porzellanknopf der elektrischen Klingel. Pfui! Wie der Kerl mit seiner eingedrückten Glatze grinste! Adam stand vor der Entscheidung. Er horchte einen Augenblick gespannt, ob er hinter dieser Thür verdächtige, auffällige Geräuschzeichen wahrnähme. Es war Alles todtenstill. Das stimmte ihn noch ernster, schwerer, machte ihn noch muthloser, erfüllte ihn mit bangen Ahnungen, Erwartungen, [323] quälenden Vermuthungen, steigerte seine Unruhe und Aufregung. Endlich raffte er sich auf und drückte mit forzirter Heftigkeit auf diesen ekelhaften, kleinen, weißen, flach ausgehöhlten Porzellanknopf. Scharf und schneidend, wie unerbittlich, schlug die Glocke an. Adam zuckte zusammen. Dort die Treppenstufen, welche er noch, indem er sich die peinliche Rechtfertigung ersparte, vor einer halben Minute hätte unbehelligt zurückgehen dürfen – diese dummen, lächerlich selbstverständlichen und neutralen Treppenstufen waren ihm jetzt ein verbotenes Reich, das verboten blieb, so heiß er es auch ersehnte ... Er dachte daran, wie er sich heute Nacht an der Seite Hedwigs an diesem Geländer hinuntergetastet. Da waren sie dem Leben, der Freiheit, dem Genuß entgegengegangen. Und nun stand er hier und stellte sich zur Abrechnung mit dem Vater, dem er sein Kind genommen. Aber jetzt wurde eine Thür zugeschlagen – Schritte schlürften heran – die innere Thürklinke ging nieder –