12. Die Schlangenjungfrau.

Mündlich in Seesen.


Es war einmal ein Graf, der hatte viel Geld und Gut; doch sein höchster Schatz war seine schöne Tochter Brigitte. Nun hatte er auch einen Bruder, der war ein arger Verschwender und stürzte sie alle ins Elend; denn nachdem er sein ganzes Erbtheil durchgebracht hatte, schwatzte er auch dem Grafen das halbe Vermögen ab, und die andere Hälfte stahl er ihm und gieng damit in alle Welt. Jetzt waren Brigittens Eltern ganz arm, und hätten sie nicht ihre Tochter gehabt, sie hätten schier verhungern müßen; diese aber nähte und spann den ganzen Tag und die halbe Nacht und hielt dadurch den Hunger von der Schwelle ab. Das währte so mehrere Jahre; doch da wurde eine theure Zeit, und obgleich Brigitte spann, daß ihr das Blut an den Fingern herab lief, sie vermochte nicht so viel zu verdienen, daß sie sich täglich einmal ordentlich satt eßen konnten. Wie es ihnen ergieng, so ergieng es auch vielen anderen Leuten, und als von diesen sich große Haufen aufmachten in ein anderes Land, wollte auch der Graf mit Frau und Tochter auswandern. Das war für Brigitte ein großes Herzeleid, denn sie hatte ihre Heimat sehr lieb, und als sie eines Abends in ihrer Kammer war und spann und sich das Blut von den Händen wischte und wieder spann und dabei bitterlich weinte, erschien ihr eine Fee und sprach zu ihr: »Liebes Kind, was weinest du?« Brigitte klagte ihre Noth und setzte hinzu: »Hilf [42] mir, so du kannst!« Die Fee lächelte und antwortete: »Ich hoffe, daß ich's kann! Hier hast du einen Ring; dreh ihn dreimal am Finger, so siehst du mich wieder.« Damit verschwand sie, und Brigitte sank in einen tiefen Schlaf. Am andern Morgen kam ihre Mutter und weckte sie; denn während der Nacht war unten ein schönes Frühstück aufgetragen, das sollte nun verzehrt werden. Sie ließen sich's auch alle drei wohlschmecken, und als sie gesättigt waren, und eben ein großer Zug Auswanderer vorübergieng, sagte der Graf: »Hier ist doch unsers Bleibens nicht mehr; drum wollen wir uns denen draußen anschließen.« Brigitte erschrak; da sie aber von der Fee und von dem Ringe nichts sagen durfte, denn jene hatte es streng verboten, so sprach sie zum Grafen: »Lieber Vater, darf ich nicht noch einmal auf meine Kammer?« Der Graf erlaubte es, und als sie den Ring zum drittenmal drehte, war die Fee da und sagte: »Komm mit!« Sie stiegen die Treppe hinab, und unten standen viele tausend Dienerinnen, denen gebot die Fee: »Tragt Brigitte in meinen Palast!« und kaum, daß sie das Wort gesprochen hatte, so waren sie schon dort. Das war hier eine Pracht! Des Grafen früheres Schloß war gegen dieses nur eine ärmliche Hütte. Zu leben hatten sie nun alle, die Tochter wie die Eltern, denn auch diese fanden den Tisch so oft gedeckt, als sie nur hungerig waren; während es aber schon Brigitten nicht besonders schmeckte, rührten der Graf und die Gräfin fast nichts an, alles aus Trauer um die entschwundene Tochter, und das dauerte so mehrere Tage. Einst saßen sie und jammerten und meinten jeden Augenblick, es müße sich die Thür öffnen, und Brigitte hereintreten; die Thür öffnete sich auch, aber ein Zwerg trat ein und bat um ein Almosen. Der Graf, dessen weiches Herz jetzt noch weicher war, suchte das letzte Goldstück hervor, welches noch seine Tochter für die Reise erübrigt hatte, und fragte den Zwerg, wie er alle Leute zu fragen pflegte: »Wißt ihr nichts von meiner Tochter?« »Sehr viel«, war die Antwort, und Brigitte stand vor ihnen in seidenem Kleide und mit einer goldenen Krone; der Zwerg aber war nicht mehr da. Nun war des Fragens und Erzählens kein Ende und des Jubels auch nicht; ans Auswandern [43] wurde vollends nicht mehr gedacht, denn sie waren reicher als je im Leben. Nach einigen Jahren kam ein Königssohn, der von der schönen Brigitte gehört hatte, und nahm sie zur Gemahlin; dem gebar sie einen Sohn und noch einen, und als sie ihrer Tugend wegen von der Fee zur Kaiserin erhoben war, bekam sie noch einen kleinen Sohn und starb; der jüngste Sohn aber war das schönste Kind von der Welt und war seines Vaters ganze Freude und sein Trost bei der Trauer um seine liebe Gemahlin.

Eines Tages, als der Kaiser schon alt geworden war, sprach er zu seinen drei Söhnen: »Ich mache nicht lange mehr und möchte nun gern wißen, wer nach mir die Krone tragen soll. Durchziehet das Land, und wer mir in drei Tagen die größte Flasche mitbringt, der soll Kaiser werden, wenn ich nicht mehr bin.« Die Söhne zogen aus und kamen bald an einen Teich, der an einem großen Walde lag, und weil die beiden ältesten den jüngsten nicht leiden mochten, wollten sie ihn ins Waßer werfen. Am Boden hatten sie ihn schon; da aber stand ein Zwerg bei ihnen und sprach: »Laßt es sein, oder es geht euch nicht gut!« und dabei schnitt er so grimmige Geberden, daß sie sich aus dem Staube machten. Mit ihnen war auch der Zwerg verschwunden; der jüngste Kaiserssohn aber gieng in den Wald und gieng immerzu, bis er endlich an ein Schloß kam; hier klopfte er an und wieder an, und aufs drittemal wurde ihm geöffnet. Prachtvoll genug war's im Schloße; doch Menschen oder andere lebende Wesen fanden sich nirgends, auch nicht eine Fliege oder ein Spinngewebe, und von Speise und Trank war auch nicht die geringste Spur. Das letzte war für ihn am schlimmsten, denn er war rechtschaffen hungerig und durstig; als er aber nach Eßen und Trinken seufzte, kamen kleine Füße aus der Decke herab, an den Füßen saßen keine Beine, doch statt der Zehen hatten sie lange Finger, und zwischen den Fingern hielt jeder entweder eine Schüßel mit einem köstlichen Gerichte, oder einen Becher voll Wein, oder irgend ein Tischgeräth, und das alles setzten die Füße auf einen glänzenden Marmortisch, der mitten im Saale stand; hierauf rückte der eine Fuß einen kostbaren Seßel an die Tafel, und alle zogen sich wieder [44] durch die Decke zurück. Als der Prinz sich von seinem Erstaunen erholt hatte, nahm er im Seßel Platz und aß und trank, ja, trank, bis ihm die Augen zufielen; da kamen die Füße wieder, kleideten ihn aus und trugen ihn ins Bett, und als er morgens wieder munter geworden war, kleideten sie ihn wieder an und bedienten und besorgten ihn heute wie gestern. Um die Mittagsstunde, als er eben vom Frühstück aufstehen wollte, steckte eine Schlange an der andern Seite ihren häßlichen Kopf über den Tisch und sprach mit feiner Stimme: »Was willst du hier?« Der Prinz antwortete: »Ich suche eine Flasche, so groß wie ein Haus.« »Bleib drei Tage hier, laß dir's wohlschmecken und sei ohne Sorge«, erwiderte die Schlange und war weg. Das befolgte er und ward tags und nachts von den Füßen aufs beste bedient. Am dritten Tage um die Mittagszeit war die Schlange wieder da und sprach zu ihm: »Nun steig in den Fingerhut vor der Thür und mach, daß du heimkommst.« Er gieng hinaus und wollte auf den kleinen Fingerhut treten, der da stand; in demselben Augenblick aber saß er auf einem herrlichen Wagen, den zwei muthige Rosse zogen, neben ihm stand eine Flasche, so groß wie ein Haus, und in ein paar Sätzen waren die Hengste beim Schloße des Kaisers. Bald nach dem jüngsten langten auch die beiden andern Kaiserssöhne an, und als sie ihre beiden großen Flaschen abladen wollten, fanden sie nur zwei solche, die nicht größer waren als kleine Fingerhüte. Der Kaiser lachte sie aus und wollte dem jüngsten die Krone geben; da aber wurden die anderen zornig und schalten: »Es geht nicht mit rechten Dingen zu; der Schurke hat unsere großen Flaschen gestohlen; bestimme uns eine andere Probe.« Der Kaiser gab ihnen nach und sagte: »Wer jetzt den kleinsten und schönsten Fingerhut bringt, der soll die Krone haben.« Als die drei Brüder wieder an den Teich kamen, fielen die beiden ältesten giftig über den jüngsten her, banden ihm einen dicken Stein an den Hals und wollten ihn nun gewis ertränken. Aber wieder erschien der Zwerg und sagte: »Laßt das sein, oder es geht euch nicht gut!« und schnitt dabei so grimmige Geberden, daß die Buben davoneilten. Der jüngste Sohn gieng wieder nach dem Schloße und [45] fand es daselbst wieder gerade so, wie das erstemal: nach dem dritten Klopfen wurde ihm geöffnet, die langfingerigen Füße bedienten ihn, und des Mittags erschien die Schlange und sprach, als sie kaum von dem kleinen Fingerhut gehört hatte: »Bleib drei Tage hier, laß dir's wohlschmecken und sei ohne Sorge.« Er war dießmal auch ganz ohne Sorge, ließ sich's munden wie das erstemal und hielt also die drei Tage ganz gemächlich aus. Am dritten um die Mittagszeit kam die Schlange und sprach zu den Füßen: »Bringt die halbe Nußschale herbei!« Und sie thaten es. »Steig hinein«, sagte sie hierauf zu dem Prinzen, »und spute dich!« Er gehorchte, und in dem Augenblicke war die kleine Nußschale das herrlichste Schiff von der Welt; die Schlange zischte in das Linnen, und siehe, hoch über die Bäume hinweg segelte das Schiff dem Kaisersschloße zu und war im Nu da; und als der Prinz ausgestiegen war, sah er die Nußschale zu seinen Füßen, und als er dieselbe aufhob, war sie ein Fingerhut, aus drei Edelsteinen zusammengestückt und so klein, als sollte ihn eine Mücke aufstecken. Bald nach dem jüngsten kamen auch die beiden anderen Prinzen an; als sie aber ihre Fingerhüte vorzeigen sollten, da waren dieselben plötzlich so groß wie Bierkrüge geworden. Nun zürnten sie erst recht und baten den Kaiser noch um die dritte Probe; dieser willfahrte ihnen und antwortete: »Wer nun dießmal die schönste Jungfrau heimbringt, der erhält die Krone. Dabei aber bleibt's!« Die drei Brüder wanderten wiederum fort, und dießmal wäre der Zwerg fast zu spät an den Teich gekommen, so grimmig fielen die ältesten über den jüngsten Kaiserssohn her; doch rettete er ihn noch glücklich aus ihren Händen und trieb sie in die Flucht. Zum drittenmal gieng der Kaiserssohn nach dem Schloße und fand es gerade so, wie beim ersten-und beim zweitenmal: nach dem dritten Klopfen wurde ihm geöffnet, die langfingerigen Füße bedienten ihn, und des Mittags erschien die Schlange und sagte, nachdem sie das von der schönsten Jungfrau gehört hatte: »Bleib drei Tage hier, laß dir's wohlschmecken und sei ohne Sorge!« Dem kam er mit Freuden nach, und am Mittag des dritten Tages erschien die Schlange und sprach zu ihm: »Nun zerschneide mich [46] in zwei Stücke; das Schwanzende wirf auf den Hof, das andere verbrenne dort über dem Kaminfeuer.« Der Kaiserssohn weigerte sich; die Schlange indes bat so lange und so dringend, daß er ihr endlich nachgab. Kaum aber, daß er die halbe Schlange über das Feuer hielt, so geschah ein fürchterlicher Krach, und die Schlange war die schönste Prinzessin in der ganzen Welt, und die Füße mit den langen Fingern waren lauter flinke Dienerinnen; und die Königstochter sank dem Prinzen an die Brust und rief: »Nun hast du mich erlöst; nun werde ich deine Gemahlin!« Da gab der Prinz den Fingerhut an seine Braut zurück, aus dem wurde wieder ein prächtiges Schiff, und alle stiegen hinein und wurden hoch durch die Luft zum Kaisersschloß getragen. Die beiden anderen Prinzen waren auch bald da und hatten jeder ein schönes Bauermädchen; die aber waren gegen die Königstochter wie die Nacht gegen den Tag. Und der Kaiser nahm die Krone vom Haupt, um sie dem jüngsten zu überreichen, wobei die ältesten diesen gern mit den Augen getödtet hätten; da aber trat die Prinzessin unter sie und sagte zum Kaiser: »Die Krone bleibe dir und deinem ältesten Sohne oder dem zweiten; ich habe sechs große Reiche und schenke dir eins und jedem deiner beiden Söhne eins; die anderen drei gehören meinem lieben Gemahl.« Und es geschah also; und als die Hochzeit gefeiert wurde, da war Freude in allen Landen, und alle lebten in Frieden mit einander bis an ihren Tod.

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TextGrid Repository (2012). Colshorn, Carl und Theodor. Märchen und Sagen. Märchen und Sagen aus Hannover. 12. Die Schlangenjungfrau. 12. Die Schlangenjungfrau. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-56E3-5