Vorrede des Übersetzers. 1782

Das Buch: Des Erreurs et de la Vérité ist ein sonderlich Buch, und die Gelehrten wissen nicht recht was sie davon halten sollen, denn man versteht es nicht, und man soll doch eigentlich verstehen was man richten will.

Hin und wieder tut wohl der Verfasser seinen Mund auf und spricht, wie in der Erklärung von dem Ursprung des Bösen, von der Freiheit des Menschen und an verschiednen andern Orten; und da befriedigt er mehr, als was bisher über die Dinge im Umlauf war. Meistens aber geht er wie ein Geist, mit verschlossenem Munde und aufgehabenem Zeigefinger, auf etwas hinweisend da wir nicht von wissen; und seine Winke und Äußerungen sind allerdings groß und erfreulich wie die Gipfel der väterlichen Berge, aber zu gleicher Zeit so exzentrisch und wunderbar, daß unsre Vernunft ihren Zirkel nirgend anlegen, und sie nicht zusammenhängen und reimen kann.

[212] Dies nun hat, an und für sich, nichts zu sagen. Denn wenn unsre Vernunft nur in der Wüsten der materiellen Natur einigen Bescheid weiß und geben kann; so geht eigentlich da, wo sie die Zähne blöckt und die Hände übern Kopf zusammenschlägt, das Gelobte Land allererst an, und wenn auf dem Acker landesüblicher Gelehrsamkeit die Weisheit nicht wächset, wie das wohl schwerlich der Ackersleute einer in Ernst denken wird; so müssen natürlich Winke und Äußerungen von ihr wunderbar dünken. Indes bleibt immer doch vorher die Frage über die Authentizität solcher Winke und Äußerungen, und man muß freilich nicht gleich für Feuer vom Himmel nehmen, was auch vielleicht nur Irrlicht und Johanneswürmchen – Feuer sein kann.

Viele Leser wollen diesem Verfasser gar kein Feuer zugestehen sondern nur Rauch, und sie vergleichen sein Buch einem Gemälde wo der Himmel um und um mit Wolken bedeckt ist. Sie haben dazu ohne Zweifel ihre Ursachen; übrigens ist die Vergleichung mit dem Wolkengemälde gar nicht so übel, und gibt es einige Gemälde dieser Art wo aus den Wolken eine Hand vorkommt die etwas geben will.

Die Sinnesart eines Schriftstellers: was ihn treibt: was er will: ist über ihn der sicherste und beste Meilenzeiger, den auch gewöhnlich ein jeder, freilich sehr oft nicht zu seinem Vorteil und wider sein Wissen und Willen, für kundige Leser seiner Karte beifügt.

Ich verstehe dies Buch auch nicht; aber, außer dem Eindruck von Superiorität und Sicherheit, finde ich darin einen reinen Willen, eine ungewöhn liche Milde und Hoheit der Gesinnung, und Ruhe und ein Wohlsein in sich. Und das geht einem zu Herzen; wir wollen doch alle gerne wohl sein, suchen doch alle Ruhe und finden sie nicht! Auch gibt es keine Reinheit, keine Ruhe, und kein Wohlsein außer dem Guten.

Mit uns Gelehrten sieht es in diesem Stück sehr zweideutig aus. Die Gelehrsamkeit mag ehedem ein Ding gewesen sein, das den Menschen in sich zurechtsetzte, das ihn wandelte und züchtigte zu suchen und zu haben eine eigne innerliche Herrlichkeit, und zu verschmähen, würklich und von Herzen, die Herrlichkeit des Bassa von drei Roßschweifen; nach dem dermaligen Lauf der Dinge ist sie ein nützliches Hausgerät, ein honetter Filzhut auf dem Gelehrten ihn wider Frost und Kälte zu decken, viel oft auch ein Paradehut, und zuweilen gar ein Chapeaubashut mit dem er vor dem Bassa wedelt und sich beliebt macht. Unsre Bücherschreiberei ist eitles Selbstbedürfnis, [213] aus den oder jenen Gründen, eine Kunst auf der Maultrommel zu spielen und das Publikum tanzt! und inwendig sehen Schriftsteller und Leser, Gelehrte und Ungelehrte sich einander ziemlich gleich; denn ob einer auf einen Schnurrbart oder auf eine Metaphysik und Henriade eingebildet und ein Narr ist, ob einer über einen größern Kürbis oder über die Erfindung der Differential – und Integralrechnung hasset und neidet; kurz, ob man sich von seinen fünf Jochochsen oder von seiner Polyhistorei am Seil halten und hindern läßt, das scheint im Grunde einerlei zu sein und nicht zweierlei.

Sonder allen Zweifel wird einer oder der andre Gelehrte bedacht sein, den Verfasser zu widerlegen. Einmal aber hat schon das Widerlegen an sich seine Schwierigkeiten bei einem Buch das man nicht ganz versteht; denn, wenn man hie und da einzelne Sätze heraushebt und sie nach seinem eignen Münzfuß deutet und wie die Worte lauten, so kann gar leicht ein Fehl mit einfließen und dem Verfasser ein unrechter Sinn angedichtet werden, zumal er selbst ausdrücklich erklärt, daß er oft eins sage und ein ganz anderes meine, und überhaupt viel im Sinne behalte; und denn so ist des Verfassers seine Hauptlehre: der Mensch mache, sich selbst gelassen und ohne die Leitung der allgemeinen zeitlichen tätigen und verständigen Ursache, wie er's nennt, eitel Irrtum und Torheit, wisse und vermöge gar nichts ohne sie, so wie mit ihr alles. Dadurch verlieren denn offenbar auch die allergründlichsten Widerlegungen der Gelehrten allen ihren Stachel, und der beste und zugleich einzige Wegetwas auszurichten wäre wohl der: daß man Fleiß anwendete, diese Ursache, wenn sie da ist, zu erkennen und von ihr geleitet zu werden. Denn alsdenn würde man au fait sein, wäre dem Verfasser gewachsen, und könnte über sein Buch richten und entscheiden, nämlich ob es sei ein taubes Wetterleuchten, oder ein milder Stern aus bessern Welten.

Doch, wie könnte der Verfasser recht haben, wie könnten seine mancherlei Äußerungen über die Wahrheit in facto gegründet sein; wir wissen ja von dem allen, was er äußert und zu verstehen gibt, so gar nichts, sehen auch den Zusammenhang nicht ein.

Man mag noch beßre Gründe dagegen haben, der allein tut's nicht. Denn, Lieber! siehe an die Sonne, wie sie so herrlich und so hell scheint! und kannst du eine Faustvoll Strahlen mit den Wurzeln herausreißen, und sehen wie sie hervorwachsen? Kannst du [214] den Mond mit der Hand fassen, und seinen Saft in deinen Becher drücken? und siehe! er leuchtet in aller Welt und feuchtet die Erde und das Meer, und die Flut kommt die Elbe heraufgebraust, ob wir ihn sehen oder nicht? Ist uns aber in der materiellen Natur noch vieles verborgen, für die wir den Gebrauch von drei Sinnen haben; wie mögen wir über die immaterielle richten, für die wir nicht den Gebrauch von einem haben, den der Verfasser die sinnliche Fähigkeit oder den Sinn des Geistes nennt?

Von den menschlichen Wissenschaften denkt und spricht er gar sehr kleinlich. Viel Gönner und Freunde wird er sich nun dadurch nicht machen; bekanntlich ist das aber auch eben kein erhabenes Projekt, und es gibt wohl noch etwas Klügeres zu tun. Der Schmeichler buhlt um Beifall, macht die Menschen groß in ihrem Sinn, und sie werden klein; der beßre Mann macht sie klein, auf daß sie groß werden. Ist also schon hier in dem Gange des Verfassers ein Edles, und wer kann sagen, ob er nicht recht hat? Was er von Isolierung der einzelnen Zweige unserer Wissenschaften und von Vereinerleiung der verschiednen Klassen der Dinge an Hand gibt, leuchtet augenscheinlich als wahr ein. Sein Grundsatz: daß das Resultat aus und durch das Prinzipium und nicht das Prinzipium durch und aus dem Resultat erklärt und erkannt werden müsse, und daß die menschlichen Wissenschaften grade darum weil sie umgekehrt verfahren so krüpplicht und leblos sind, dürfte mehr Widerspruch finden. Da indes das Prinzipium doch das erste und das Resultat allererst das zweite ist; so scheint: beim Resultat anfangen, würklich beim unrechten Ende angefangen zu sein, und übrigens verrät die so beliebte mathematische Lehrart, daß die Gelehrten selbst den Grundsatz des Verfassers glauben und annehmen, nach ihrer Art. Am Ende können wir Gelehrte wohl über den Wert unserer verschiedenen Wissenschaften untereinander, und über ihren mancherlei zeitlichen Nutzen urteilen; aber über ihren eigentlichen Wert können wir nicht urteilen, denn wir kennen ja nichts weiter als sie, und der urteilt und hält allemal zu hoch von seinem Landsee, wer noch nie das offene Meer gesehen hat.

Doch dies Buch sei, was es wolle; es läbt die Weltangelegenheiten und zeitlich Ding unangerührt, und predigt Verleugnung eignen Willens und Glauben an die Wahrheit, predigt die Nichtigkeit dieser Welt, die Blöde und Brechlichkeit der sinnlichen und körperlichen Natur im Menschen und die Hoheit seiner verständigen Natur oder seines Geistes, und leitet und treibt auf [215] allen Blättern von dem Sichtbaren zu dem Unsichtbaren, von dem Vergänglichen zu dem Unvergänglichen! und das ist doch nichts Böses, und wer möchte das nicht gerne befördert haben?

Und so habe ich dies Buch übersetzt, und wer es dazu braucht, der tut sicherlich wohl; und wer es zu eitler und törichter Absicht braucht, der tut nicht wohl, und mag sich besinnen und klug werden.

Wir Menschen gehen doch wie im Dunkeln, sind doch verlegen in uns, und können uns nicht helfen, und die Versuche der Gelehrten es zu tun sind nur brotlose Künste. Auch ist das Gefühl eigner Hülflosigkeit zu allen Zeiten das Wahrzeichen würklich großer Menschen gewesen, ist überdem ein feines Gefühl, und vielleicht der Hafen, aus dem man auslaufen muß um die Nordwestpassage zu entdecken.

Der Mensch hat einen Geist in sich, den diese Welt nicht befriedigt, der die Treber der Materie, die Dorn und Disteln am Wege mit Gram und Unwillen wiederkäut, und sich sehnet nach seiner Heimat. Auch hat er hier kein Bleiben, und muß bald davon. So läßt es sich an den fünf Fingern abzählen, was ihm geholfen sein könne mit einer Weisheit die bloß in der sichtbaren und materiellen Natur zu Hause ist. Sie kann ihm hier auf mancherlei Weise lieb und wert sein, nachdem sie mehr oder weniger Stückwerk ist; aber sie kann ihm nicht gnügen. Wie könnte sie das, da es die körperliche Natur selbst nicht kann und sie ihn auf halben Wege verläßt, und, wenn er weggetragen wird, auf seiner Studierstube zurückbleibt, wie sein Globus und seine Elektrisiermachine?

Was ihm gnügen soll, muß in ihm, seiner Natur, und unsterblich wie er sein; muß ihn, weil er hienieden einhergeht, über das Wesen und den Gang dieser körperlichen Natur und über ihre Gebrechen und Striemen weisen und trösten und ihn in dem Lande der Verlegenheit und der Unterwerfung in Wahrheit unverlegen und herrlich machen; und wenn er von dannen zieht mit ihm ziehen durch Tod und Verwesung, und ihn wie ein Freund zur Heimat begleiten.

Solch eine Weisheit wird freilich in keinem Buch gefunden, wird nicht um Geld gekauft noch mit Halbherzigkeit zwischen Gott und dem Mammon. Zeuch deine Schuhe aus, denn da du auf stehest ist ein heilig Land! Aber sie ist, das wissen wir; und wer sich des Odems in seiner Nasen bewußt ist nimmt das zu Herzen, und wenn er sie in der sichtbaren und materiellen Natur und in [216] seinem eignen Dünkel nicht findet, läßt er sich guten Rat warnen und sucht sie auf einem andern Wege.

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TextGrid Repository (2012). Claudius, Matthias. Gedichte und Prosa. Asmus omnia sua secum portans. Vierter Teil. Vorrede des Übersetzers. 1782. Vorrede des Übersetzers. 1782. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-5574-5