Charlotte Brontë
Jane Eyre,
die Waise von Lowood
(Jane Eyre)

[3] Erstes Kapitel

Es war ganz unmöglich, an diesem Tage einen Spaziergang zu machen. Am Morgen waren wir allerdings während einer ganzen Stunde in den blätterlosen, jungen Anpflanzungen umhergewandert; aber seit dem Mittagessen – Mrs. Reed speiste stets zu früher Stunde, wenn keine Gäste zugegen waren – hatte der kalte Winterwind so düstere, schwere Wolken und einen so durchdringenden Regen heraufgeweht, daß von weiterer Bewegung in frischer Luft nicht mehr die Rede sein konnte.

Ich war von Herzen froh darüber: lange Spaziergänge, besonders an frostigen Nachmittagen, waren mir stets zuwider: – ein Greuel war es mir, in der rauhen Dämmerstunde nach Hause zu kommen, mit fast erfrorenen Händen und Füßen, – mit einem Herzen, das durch das Schelten Bessie's, der Kinderwärterin, bis zum Brechen schwer war, – gedemütigt durch das Bewußtsein, physisch so tief unter Eliza, John und Georgina Reed zu stehen.

Die soeben erwähnten Eliza, John und Georgina hatten sich in diesem Augenblick im Salon um ihre Mama versammelt: diese ruhte auf einem Sofa in der Nähe des Kamins und umgeben von ihren Lieblingen, die zufälligerweise in diesem Moment weder zankten noch schrieen, sah sie vollkommen glücklich aus. Mich hatte sie davon dispensiert, mich der Gruppe anzuschließen, indem sie sagte, [3] daß es sie tief unglücklich mache, gezwungen zu sein, mich fern zu halten; daß sie mich aber von Vorrechten ausschließen müsse, zu deren Genuß nur zufriedene, glückliche, kleine Kinder berechtigt seien, und daß sie mir erst verzeihen würde, wenn sie sowohl durch eigene Wahrnehmung wie durch Bessie's Worte zu der Überzeugung gelangt sein würde, daß ich in allem Ernst versuche, mir anziehendere und freundlichere Manieren, einen kindlicheren, geselligeren Charakter – ein leichteres, offenherzigeres, natürlicheres Benehmen anzueignen.

»Was sagt denn Bessie, daß ich gethan habe?« fragte ich.

»Jane, ich liebe weder Spitzfindigkeiten noch Fragen; außerdem ist es gradezu widerlich, wenn ein Kind ältere Leute in dieser Weise zur Rede stellt. Augenblicklich setzest du dich irgendwo hin und schweigst, bis du freundlicher und liebenswürdiger reden kannst.«

An das Wohnzimmer stieß ein kleines Frühstückszimmer: ich schlüpfte hinein. Hier stand ein großer Bücherschrank. Bald hatte ich mich eines großen Bandes bemächtigt, nachdem ich mich zuerst vorsichtig vergewissert hatte, daß er Bilder enthalte. Ich stieg auf den Sitz in der Fenstervertiefung, zog die Füße nach und kreuzte die Beine wie ein Türke; dann zog ich die dunkelroten Moiree-Vorhänge fest zusammen und saß so in einem doppelten Versteck.

Scharlachrote Draperien schlossen mir die Aussicht zur rechten Hand; links befanden sich die großen, klaren Fensterscheiben, die mich vor dem düstern Novembertag wohl schützten, mich aber nicht von ihm trennten. In kurzen Zwischenräumen, wenn ich die Blätter meines Buches wendete, fiel mein Blick auf das Bild dieses winterlichen Nachmittags. In der Ferne war nichts als ein blasser, leerer Nebel, Wolken; im Vordergrunde der feuchte, freie Platz vor dem Hause, vom Winde entlaubte Gesträuche, und ein unaufhörlicher vom Sturm wildgepeitschter Regen.

Ich kehrte zu meinem Buche zurück – Bewicks Geschichte [4] von Englands gefiederten Bewohnern; im allgemeinen kümmerte ich mich wenig um den gedruckten Text des Werkes, und doch waren da einige einleitende Seiten, welche ich, obgleich nur ein Kind, nicht gänzlich übergehen konnte. Es waren jene, die von den Verstecken der Seevögel handelten, von jenen einsamen Felsen und Klippen, welche nur sie allein bewohnen, von der Küste Norwegens, die von ihrer äußersten südlichen Spitze, dem Lindesnäs bis zum Nordkap mit Inseln besäet ist.


Wo der nördliche Ozean, in wildem Wirbel

Um die nackten, öden Inseln tobt

Des ultima Thule; und das atlantische Meer

Sich stürmisch zwischen die Hebriden wälzt.


Auch konnte ich nicht unbeachtet lassen, was dort stand von den düsteren Küsten Lapplands, Sibiriens, Spitzbergens, Novazemblas, Islands, Grönlands, mit dem weiten Bereich der arktischen Zone und jenen einsamen Regionen des öden Raums – jenem Reservoir von Eis und Schnee, wo fest gefrorene Felder – die Anhäufung von Jahrhunderten von Wintern – alpine Höhen auf Höhen erfroren, den Nordpol umgeben und die vervielfachte Strenge der äußersten Kälte konzentrieren. Von diesen todesweißen Regionen machte ich mir meinen eigenen Begriff: schattenhaft, wie all jene nur halb verstandenen Gedanken, die eines Kindes Hirn kreuzen, aber einen seltsam tiefen Eindruck hinterlassend. Die Worte dieser einleitenden Seiten verbanden sich mit den darauf folgenden Vignetten und gaben allen eine Bedeutung: jenem Felsen, der aus einem Meer von Wellen und Wogenschaum emporragte; dem zertrümmerten Boote, das an traurig wüster Küste gestrandet; dem kalten, geisterhaften Monde, der durch düstere Wolkenmassen auf ein sinkendes Wrack herabblickt.

Ich weiß nicht mehr, mit welchem Empfinden ich auf den stillen, einsamen Friedhof mit seinem beschriebenen Leichenstein sah, auf jenes Thor, die beiden Bäume, den [5] niedrigen Horizont, der durch eine zerfallene Mauer begrenzt war, auf die schmale Mondessichel, deren Aufgang die Stunde der Abendflut bezeichnete.

Die beiden Schiffe, welche auf regungsloser See von einer Windstille befallen werden, hielt ich für Meergespenster.

Über den Unhold, welcher das Bündel des Diebes auf dessen Rücken fest band, eilte ich flüchtig hinweg; er war ein Gegenstand des Schreckens für mich.

Und ein gleiches Entsetzen flößte mir das schwarze, gehörnte Etwas ein, das hoch auf einem Felsen saß und in weiter Ferne eine Menschenmasse beobachtete, die einen Galgen umgab.

Jedes Bild erzählte eine Geschichte: oft war diese für meinen unentwickelten Verstand geheimnisvoll, meinem unbestimmten Empfinden unverständlich, – stets aber flößte sie mir das tiefste Interesse ein: dasselbe Interesse, mit welchem ich den Erzählungen Bessie's horchte, wenn sie zuweilen an Winterabenden in guter Laune war; dann pflegte sie ihren Plätttisch an das Kaminfeuer der Kinderstube zu bringen, erlaubte uns, unsere Stühle an denselben zu rücken, und während sie dann Mrs. Reeds Spitzenvolants bügelte und die Spitzen ihrer Nachthauben kräuselte, ergötzte sie unsere Ohren mit Erzählungen von Liebesgram und Abenteuern aus alten Märchen und noch älteren Balladen, oder – wie ich erst viel später entdeckte – aus den Blättern von Pamela, und Henry, Graf von Moreland.

Mit Bewick auf meinen Knieen war ich damals glücklich: glücklich wenigstens auf meine Art. Ich fürchtete nichts als eine Unterbrechung, eine Störung – und diese kam nur zu bald. Die Thür zum Frühstückszimmer wurde geöffnet.

»Bah, Frau Träumerin!« ertönte John Reeds Stimme; dann hielt er inne; augenscheinlich war er erstaunt, das Zimmer leer zu finden.

»Wo zum Teufel ist sie denn?« fuhr er fort, »Lizzy! [6] Georgy!« rief er seinen Schwestern zu, »Joan ist nicht hier. Sagt doch Mama, daß sie in den Regen hinaus gelaufen ist – das böse Tier!«

»Wie gut, daß ich den Vorhang zusammengezogen habe,« dachte ich; und dann wünschte ich inbrünstig, daß er mein Versteck nicht entdecken möge; John Reed selbst würde es auch niemals entdeckt haben; er war langsam, sowohl von Begriffen wie in seinem Wahrnehmungsvermögen; aber Eliza steckte den Kopf zur Thür hinein und sagte sofort:

»Sie ist gewiß wieder in die Fenstervertiefung gekrochen, sieh nur nach, Jack.«

Ich trat sofort heraus, denn ich zitterte bei dem Gedanken, daß der erwähnte Jack mich hervorzerren würde.

»Da bin ich, was wünscht Ihr?« fragte ich mit schlecht erheuchelter Gleichgiltigkeit.

»Sag: was wünschen Sie, Mr. Reed,« lautete seine Antwort. »Ich will, daß du hierher kommst,« und indem er in einem Lehnstuhl Platz nahm, gab er mir durch eine Geste zu verstehen, daß ich näher kommen und vor ihn treten solle.

John Reed war ein Schuljunge von vierzehn Jahren; vier Jahre älter als ich, denn ich war erst zehn Jahr alt; groß und stark für sein Alter, mit einer unreinen, ungesunden Hautfarbe; große Züge in einem breiten Gesicht, schwerfällige Gliedmaßen und große Hände und Füße. Gewöhnlich pflegte er sich bei Tische so vollzupfropfen, daß er gallig wurde; das machte seine Augen trübe und seine Wangen schlaff. Eigentlich hätte er jetzt in der Schule sein müssen, aber seine Mama hatte ihn für ein bis zwei Monate nach Hause geholt »seiner zarten Gesundheit wegen«. Mr. Miles, der Direktor der Schule versicherte, daß es ihm außerordentlich gut gehen würde, wenn man ihm nur weniger Kuchen und Leckerbissen von Hause schicken wollte; aber das Herz der Mutter empörte sich bei einer so roh ausgesprochenen Meinung und neigte mehr zu der feineren [7] und zarteren Ansicht, daß Johns blaßgelbe Farbe von Überanstrengung beim Lernen und vielleicht auch von Heimweh herrühre. –

John hegte wenig Liebe für seine Mutter und seine Schwestern, und eine starke Antipathie gegen mich. Er quälte und bestrafte mich; nicht zwei- oder dreimal in der Woche, nicht ein- oder zweimal am Tage, sondern fortwährend und unaufhörlich; jeder Nerv in mir fürchtete ihn, und jeder Zollbreit Fleisch auf meinen Knochen schauderte und zuckte, wenn er in meine Nähe kam. Es gab Augenblicke, wo der Schrecken, den er mir einflößte, mich ganz besinnungslos machte; denn ich hatte niemanden, der mich gegen seine Drohungen und seine Thätlichkeiten verteidigte; die Dienerschaft wagte es nicht, ihren jungen Herren zu beleidigen, indem sie für mich gegen ihn Partei ergriff, und Mrs. Reed war in diesem Punkte blind und taub: sie sah niemals, wenn er mich schlug, sie hörte niemals, wenn er mich beschimpfte, obgleich er beides gar oft in ihrer Gegenwart that: häufiger zwar noch hinter ihrem Rücken.

Aus Gewohnheit gehorchte ich John auch dieses Mal und näherte mich seinem Stuhl: ungefähr zwei bis drei Minuten brachte er damit zu, mir seine Zunge so weit entgegenzustrecken, wie er es ohne Gefahr für seine Zungenbänder bewerkstelligen konnte; ich fühlte, daß er mich jetzt gleich schlagen würde, und obgleich ich eine tödliche Angst vor dem Schlage empfand, vermochte ich doch über die ekelerregende und häßliche Erscheinung des Burschen, der denselben austeilen würde, meine Betrachtungen anzustellen. Ich weiß nicht, ob er diese Gedanken auf meinem Gesichte las, denn plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, schlug er heftig und brutal auf mich los. Ich taumelte; dann gewann ich das Gleichgewicht wieder und trat einige Schritte von seinem Stuhl zurück.

»Das ist für die Frechheit, daß du vor einer Weile gewagt hast, Mama eine Antwort zu geben,« sagte er, »und [8] daß du gewagt hast, dich hinter den Vorhang zu verkriechen, und für den Blick, den ich vor zwei Minuten in deinen Augen gewahrte, du Ratze, du!«

An Johns Beschimpfungen gewöhnt, fiel es mir niemals ein, irgend etwas auf dieselben zu erwidern; ich dachte nur daran, wie ich den Schlag ertragen sollte, der unfehlbar auf die Schimpfworte folgen würde.

»Was hast du da hinter dem Vorhange gemacht?« fragte er weiter.

»Ich habe gelesen.«

»Zeige mir das Buch.«

Ich ging an das Fenster zurück und holte es von dort.

»Du hast kein Recht, unsere Bücher zu nehmen; du bist eine Untergebene, hat Mama gesagt; du hast kein Geld; dein Vater hat dir keins hinterlassen; eigentlich solltest du betteln und hier nicht mit den Kindern eines Gentleman, wie wir es sind, zusammen leben, und dieselben Mahlzeiten essen wie wir, und Kleider tragen, die unsere Mama dir kaufen muß. Nun, ich werde dich lehren, zwischen meinen Büchern umherzustöbern, denn sie gehören mir, und das ganze Haus gehört mir, oder wird mir wenigstens in einigen Jahren gehören. Geh und stell dich an die Thür; nicht vor den Spiegel oder die Fenster.«

Ich that, wie mir geheißen, ohne eine Ahnung von seiner Absicht zu haben; als ich aber gewahrte, daß er das Buch emporhob und mit demselben zielte, sprang ich instinktiv zur Seite und stieß einen Schreckensschrei aus; jedoch nicht schnell genug; das Buch wurde geschleudert, es traf mich, und ich fiel, indem ich mit dem Kopf gegen die Thür schlug und mich verletzte. Die Wunde blutete, der Schmerz war heftig; mein Entsetzen war über den Höhepunkt hinausgegangen; andere Empfindungen bemächtigten sich meiner.

»Du böser, grausamer Bube!« schrie ich. »Du bist wie [9] ein Mörder – du bist wie ein Sklaventreiber – du bist wie die römischen Kaiser!«

Ich hatte Goldsmiths Geschichte Roms gelesen und mir meine eigene Ansicht über Nero, Caligula und andere gebildet. Im Stillen hatte ich Vergleiche gezogen, welche laut zu äußern allerdings niemals meine Absicht gewesen.

»Was! Was!« schrie er. »Hat sie das zu mir gesagt? Habt ihr es gehört, Eliza und Georgina? Das will ich der Mama erzählen! – Aber erst noch – –«

Er stürzte auf mich zu: ich fühlte, wie er mein Haar und meine Schulter faßte; er kämpfte mit einem verzweifelten Geschöpfe. Ich sah wirklich in ihm einen Tyrannen, – einen Mörder. Dann fühlte ich, wie einzelne Blutstropfen von meinem Kopfe auf den Hals herabfielen, und empfand einen stechenden Schmerz: diese Empfindungen siegten für den Augenblick über die Furcht und ich trat ihm in wahnsinniger Wut entgegen. Was ich mit meinen Händen that, kann ich jetzt nicht mehr sagen, aber er schrie fortwährend »Ratze! Ratze!« und brüllte aus Leibeskräften. Hilfe war ihm nahe: Eliza und Georgina waren gelaufen, um Mrs. Reed zu holen, die nach oben gegangen war. Jetzt erschien sie auf der Scene, und ihr folgten Bessie und ihre Kammerjungfer Abbot. Man trennte uns: dann vernahm ich die Worte:

»Du liebe Zeit! Du liebe Zeit! Welch eine Furie, so auf Mr. John loszustürzen!«

»Hat man jemals ein so leidenschaftliches Geschöpf gesehen!« –

Dann fügte Mrs. Reed hinzu:

»Führt sie in das rote Zimmer und schließt sie dort ein.« Vier Hände bemächtigten sich meiner sofort und man trug mich nach oben.

[10] Zweites Kapitel

Auf dem ganzen Wege leistete ich Widerstand; dies war etwas Neues und ein Umstand, der viel dazu beitrug, Bessie und Miß Abbot in der schlechten Meinung zu bestärken, welche diese ohnehin schon von mir hegten. Thatsache ist, daß ich vollständig außer mir war, wie die Franzosen zu sagen pflegen; ich wußte sehr wohl, daß die Empörung dieses einen Augenblicks mir schon außergewöhnliche Strafen zugezogen haben mußte, und wie viele andere rebellische Sklaven war ich in meiner Verzweiflung fest entschlossen, bis ans Äußerste zu gehen.

»Halten Sie ihre Arme, Miß Abbot; sie ist wie eine wilde Katze.«

»Schämen Sie sich! Schämen Sie sich!« rief die Kammerjungfer. »Welch ein abscheuliches Betragen, Miß Eyre, einen jungen Gentleman zu schlagen! Den Sohn Ihrer Wohlthäterin! Ihren jungen Herrn!«

»Herr! Wie ist er mein Herr? Bin ich denn eine Dienerin?«

»Nein. Sie sind weniger als eine Dienerin, denn Sie thun nichts, Sie arbeiten nicht für Ihren Unterhalt. Da! Setzen Sie sich und denken Sie über Ihre Schlechtigkeit und Bosheit nach!«

Inzwischen hatten sie mich in das von Mrs. Reed bezeichnete Gemach gebracht und mich auf einen Stuhl geworfen; mein erster Impuls war, wie eine Sprungfeder wieder von demselben empor zu schnellen; vier Hände hielten mich jedoch augenblicklich wieder wie mit eisernen Klammern.

»Wenn Sie nicht still sitzen, werden wir Sie festbinden,« sagte Bessie. »Miß Abbot, borgen Sie mir Ihre Strumpfbänder; die meinen würde sie augenblicklich zerreißen.«

Miß Abbot wandte sich ab, um ein starkes Bein von den notwendigen Banden zu befreien. Diese Vorbereitungen, [11] um mir Fesseln anzulegen, und die neue Schande, die dies für mich bedeutete, diente dazu, meine Aufregung ein wenig zu mindern.

»Nehmen Sie sie nicht ab,« schrie ich, »ich werde ganz still sitzen.«

Um ihnen für dies Versprechen eine Garantie zu bieten, hielt ich mich mit beiden Händen an meinem Sitz fest.

»Das möchte ich Ihnen auch raten,« sagte Bessie; und als sie sich überzeugt hatte, daß ich wirklich anfing, mich zu beruhigen, ließ sie mich los; dann stellten sie und Miß Abbot sich mit gekreuzten Armen vor mich und blickten finster und zweifelnd in mein Gesicht, als glaubten sie nicht an meinen gesunden Verstand.

»Das hat sie bis jetzt noch niemals gethan,« sagte endlich Bessie zur Abigail gewendet.

»Aber es hat schon lange in ihr gesteckt,« lautete die Antwort. »Ich habe der gnädigen Frau schon oft meine Meinung über das Kind gesagt, und sie hat mir auch beigestimmt. Sie ist ein verstecktes, kleines Ding: ich habe noch nie ein Mädchen in ihrem Alter gesehen, das so schlau wäre.«

Bessie antwortete nicht; nach einer Weile wandte sie sich zu mir und sagte:

»Fräulein, Sie sollten doch wissen, daß Sie Mrs. Reed verpflichtet sind, sie erhält Sie. Wenn sie Sie fortschickte, so müßten Sie ins Armenhaus gehen.«

Auf diese Worte fand ich nichts zu erwidern; sie waren mir nicht mehr neu; so weit ich in meinem Leben zurückdenken konnte, hatte ich Winke desselben Inhalts gehört. Dieser Vorwurf meiner Abhängigkeit war in meinen Ohren fast zum leeren, bedeutungslosen Singsang geworden, sehr schmerzlich und bedrückend, aber nur halb verständlich. Nun fiel auch Miß Abbot ein:

»Und Sie sollten auch nicht denken, daß Sie mit den Fräulein Reed und Mr. Reed auf gleicher Stufe stehen, [12] weil Mrs. Reed Ihnen gütig erlaubt, mit ihren Kindern erzogen zu werden. Diese werden einmal ein großes Vermögen haben, und Sie sind arm. Sie müssen demütig und bescheiden sein und versuchen, sich den andern angenehm zu machen.«

»Was wir Ihnen sagen, ist zu Ihrem Besten,« fügte Bessie hinzu, ohne in hartem Ton zu reden, »Sie sollten versuchen, sich nützlich und angenehm zu machen, dann würden Sie hier vielleicht eine Heimat finden; wenn Sie aber heftig und roh und ungezogen werden, so wird Mrs. Reed Sie fortschicken, davon bin ich fest überzeugt.«

»Außerdem,« sagte Miß Abbot, »wird Gott Sie strafen. Er könnte Sie mitten in Ihrem Trotz tot zu Boden fallen lassen, und wohin kämen Sie dann? Kommen Sie, Bessie, wir wollen sie allein lassen: um keinen Preis der Welt möchte ich ihr Herz haben. Sagen Sie Ihr Gebet, Miß Eyre, wenn Sie allein sind; denn wenn Sie nicht bereuen, könnte etwas Schreckliches durch den Kamin herunterkommen und Sie holen.«

Sie gingen und schlossen die Thür hinter sich ab.

Das rote Zimmer war ein Fremdenzimmer, in dem nur selten jemand schlief; ich könnte beinahe sagenniemals oder nur dann, wenn ein zufälliger Zusammenfluß von Besuchern auf Gateshead-Hall es notwendig machte, alle Räumlichkeiten des Hauses nutzbar zu machen. Und doch war es eins der schönsten und prächtigsten Gemächer im Herrenhause. Wie ein Tabernakel stand im Mittelpunkt desselben ein Bett von massiven Mahagonipfeilern getragen und mit Vorhängen von dunkelrotem Damast behängt; die beiden großen Fenster, deren Rouleaux immer herabgelassen waren, wurden durch Gehänge und Faltendraperien vom selben Stoffe halb verhüllt; der Teppich war rot; der Tisch am Fußende des Bettes war mit einer hochroten Decke belegt; die Wände waren mit einem Stoffe behängt, der auf lichtbraunem Grunde ein zartes rosa [13] Muster trug; die Garderobe, der Toilettetisch, die Stühle waren aus dunklem, poliertem Mahagoni angefertigt. Aus diesen düsteren Schatten erhoben sich weiß und hoch und glänzend die aufgehäuften Matratzen und Kopfkissen des Bettes, über die eine schneeweiße Decke gebreitet war. Eben so unheimlich stach ein großer, gepolsterter, ebenfalls weißer Lehnstuhl hervor, der am Kopfende des Bettes stand und vor dem sich ein Fußschemel befand; damals erschien er mir wie ein geisterhafter Thron.

Das Zimmer war dumpf, weil nur selten ein Feuer in demselben angezündet wurde; es war still, weil es weit von der Kinderstube und den Küchen entfernt lag; unheimlich, weil ich wußte, daß fast niemals jemand dasselbe betrat. Nur am Sonnabend kam das Hausmädchen hierher, um den stillen Staub einer Woche von den Möbeln und den Spiegeln zu wischen; und in langen Zwischenräumen kam auch Mrs. Reed hierher, um den Inhalt einer gewissen Schieblade zu revidieren, in welcher sich verschiedene Urkunden, ihre Juwelenschatulle und ein Miniaturbild ihres verstorbenen Gatten befand. In diesen letzten Worten liegt das Geheimnis des roten Zimmers, der Zauberbann, weshalb es trotz seiner Pracht so einsam und verlassen war.

Mr. Reed war seit neun Jahren tot; in diesem Gemache hatte er seinen letzten Atemzug gethan; hier lag er aufgebahrt; von hier hatten die Leichenträger ihn hinausgetragen – und seit jenem Tage hatte ein Gefühl trauriger Weihe jeden unberufenen Besucher von seiner Schwelle fern gehalten.

Der Sitz, auf welchen Bessie und die bitterböse Miß Abbot mich gebannt hatten, war eine niedrige Ottomane, welche nahe dem weißen Marmorkamin stand; das Bett türmte sich vor mir auf; zu meiner Rechten befand sich ein hoher dunkler Garderobenschrank, auf dessen Tafelwerk sich die leisen, düsteren Lichter brachen; zu meiner Linken waren die verhängten Fenster; ein großer Spiegel zwischen [14] denselben wiederholte die totesstille Majestät des Bettes und des Zimmers. Ich war nicht ganz sicher, ob sie die Thür zugeschlossen hatten; und als ich wieder Mut genug hatte, um mich zu bewegen, stand ich auf und ging um nachzusehen. Ach ja! Keine Kerkerthür war jemals sicherer verschlossen! Als ich wieder an die Ottomane zurückging, mußte ich an dem Spiegel vorüber, mein gebannter Blick bohrte sich unwillkürlich in die Tiefe desselben ein. In ihm sah alles noch kühler und hohler und düsterer aus als in Wirklichkeit, und die seltsame, kleine Gestalt, die mir aus ihm entgegenblickte, mit weißem Gesicht und Armen, die grell aus der Dunkelheit hervorleuchteten, mit Augen, die vor Furcht hin- und herrollten, wo sonst alles bewegungslos war – diese kleine Gestalt sah aus, wie ein wirkliches Gespenst; ich dachte an eins jener zarten Phantome, halb Elfe, halb Kobold, wie sie in Bessies Dämmerstunden-Geschichten aus einsamen, wilden Schluchten und düsteren Mooren hervorkamen und sich dem Auge des nächtlichen Wanderers zeigten. Ich kehrte auf meinen Sitz zurück.

In diesem Augenblick bemächtigte der Aberglaube sich meiner, aber die Stunde seines vollständigen Sieges über mich war noch nicht gekommen: mein Blut war noch warm; die Wut des empörten Sklaven erhitzte mich noch mit ihrer ganzen Bitterkeit; ich hatte noch einen wilden Strom von Gedanken an die Vergangenheit zu bändigen, bevor ich mich ganz dem Jammer über die trostlose Gegenwart hingeben konnte.

Wie der schmutzige Bodensatz aus einem trüben Brunnen, so stieg aus meinem bewegten, aufgeregtem Gemüt alles an die Oberfläche meines Empfindens: John Reeds wilde Tyrannei, die hochmütige Gleichgiltigkeit seiner Schwestern, die Abneigung seiner Mutter, die Parteilichkeit der Dienstboten! Weshalb mußte ich stets leiden, stets mit verächtlichen Blicken angesehen werden, immer beschuldigt, [15] immer verurteilt werden? Weshalb konnte ich niemals etwas recht machen? Weshalb war es immer nutzlos, wenn ich versuchte, irgend eines Menschen Gunst zu erringen? Man hatte Achtung vor Eliza, die doch so eigensinnig und selbstsüchtig war. Jedermann hatte Nachsicht mit Georgina, die stets übelgelaunt und trotzig und frech war. Ihre Schönheit, ihre rosigen Wangen und goldigen Locken schienen jeden zu entzücken, der sie anblickte und ihr Vergebung für all ihre Mängel und Fehler zu erkaufen. John wurde niemals bestraft, niemand widersprach ihm jemals, obgleich er den Tauben die Hälse umdrehte, die jungen Hühner umbrachte, die Hunde auf die Schafe hetzte, den Weinstock im Treibhause seiner Trauben beraubte und von den seltensten Pflanzen die Knospen abriß; er nannte seine Mutter sogar »liebe Alte«; nahm durchaus keine Rücksicht auf ihre Wünsche; zerriß und beschmutzte ihre seidenen Kleider nicht selten, – und doch war er »ihr einziger Liebling«. Ich wagte niemals, einen Fehler zu begehen; ich bemühte mich stets, meine Pflicht zu thun, und mich nannte man unartig und unerträglich, mürrisch und hinterlistig, vom Morgen bis zum Mittag, vom Mittag bis zum Abend.

Mein Kopf schmerzte noch und blutete nach dem erhaltenen Schlage und dem Falle, welchen ich gethan; niemand hatte John einen Verweis erteilt, weil er mich grundlos geschlagen; aber weil ich mich gegen ihn aufgelehnt hatte, um seiner weiteren unvernünftigen, besinnungslosen Heftigkeit zu entgehen, hatten alle mich mit den lautesten Schmähungen überhäuft.

»Ungerecht! – ungerecht!« sagte meine Vernunft, welcher die fortwährende, qualvolle Aufreizung eine frühzeitige, wenn auch vorübergehende Kraft verliehen hatte; und die Entschlossenheit, welche auch geweckt war, ließ mich allerhand Mittel ersinnen, um eine Flucht aus diesem schier unerträglich gewordenen Drucke zu bewerkstelligen – ich [16] dachte daran, auf und davon zu laufen, oder wenn dies nicht möglich, wenigstens niemals wieder Speise und Trank zu mir zu nehmen und auf diese Weise zu Tode zu hungern.

Wie bestürzt war meine Seele an diesem traurigen Nachmittag! Wie erregt war mein Gemüt, wie furchtbar empört mein Herz! Aber in welcher Düsterheit, welcher Verblendung, welcher unglaublichen Unwissenheit wurde dieser Seelenkampf ausgekämpft! Ich hatte keine Antwort auf die sich mir unaufhörlich aufdrängende Frage, weshalb ich so viel leiden mußte. Jetzt nach Verlauf von – nein, ich will nicht sagen, von wie vielen Jahren – habe ich die Antwort gefunden!

Ich war ein Mißton in Gateshead-hall. Ich war ein Nichts an diesem Orte; ich hatte keine Gemeinschaft mit Mrs. Reed oder ihren Kindern oder ihren bezahlten Vasallen. Sie liebten mich nicht, und in der That, ich liebte sie ebensowenig. Es war auch nicht ihre Pflicht, mit Liebe auf ein Geschöpf zu blicken, welches mit keiner einzigen Seele sympathisieren konnte; ein heterogenes Geschöpf, welches ihr direktes Gegenteil in Temperament, in Fähigkeiten und Neigungen war; ein nutzloses Geschöpf, welches ihrem Interesse nicht dienen, zu ihrem Vergnügen nichts beitragen konnte; ein strafbares Geschöpf, welches die Keime der Empörung über die ihm widerfahrende Behandlung in sich nährte, ein Geschöpf, das die tiefste Verachtung für ihren Verstand, ihr Urteilsvermögen nährte. Ich weiß wohl, daß, wenn ich ein sanguinisches, geistreiches, herrisches, schönes, wildes Kind gewesen wäre – wenn auch ebenso abhängig und freundlos – so würde Mrs. Reed meine Gegenwart in liebenswürdigerer Weise ertragen haben; ihre Kinder hätten für mich ein freundlicheres Gefühl der Gemeinsamkeit gehegt; die Dienstboten wären weniger geneigt gewesen, mich zum Sündenbock der Kinderstube zu machen.

Das Tageslicht begann aus dem roten Zimmer zu schwinden; es war nach vier Uhr, und auf den bewölkten [17] Nachmittag folgte die trübe Dämmerung. Ich hörte, wie der Regen noch unaufhörlich gegen das Fenster der Treppe schlug, wie der Wind in den Laubgängen hinter dem Herrenhause heulte; nach und nach wurde ich so kalt wie Marmor, und dann begann mein Mut zu sinken. Die gewöhnliche Stimmung des Gedemütigtseins, Zweifel an mir selbst, hilflose Traurigkeit bemächtigten sich meiner und fielen dämpfend auf die Asche meiner dahinschwindenden Wut. Alle sagten ja, daß ich boshaft sei – vielleicht war es der Fall, denn hatte ich nicht soeben den Gedanken gehegt, mich zu Tode zu hungern? Das war doch gewiß ein Verbrechen: denn war ich bereit zu sterben? oder war das Gewölbe unter der Kanzel in der Kirche von Gateshead ein so einladendes Ende? In diesem Gewölbe lag Mr. Reed begraben, wie man mir gesagt hatte; dieser Gedanke führte mich dazu, sein Andenken herauf zu beschwören; und mit wachsendem Grauen verweilte ich bei demselben. Ich konnte mich seiner nicht erinnern; aber ich wußte, daß er mein Onkel gewesen, – der einzige Bruder meiner Mutter – daß er mich in sein Haus aufgenommen, als ich ein armes, elternloses Kind gewesen; und daß er noch in seinen letzten Augenblicken Mrs. Reed das Versprechen abgenommen hatte, mich wie ihr eigenes Kind zu erziehen und zu versorgen. Mrs. Reed war höchstwahrscheinlich der Überzeugung, daß sie dieses Versprechen gehalten habe, und so weit ihre Natur ihr dies erlaubte, hatte sie es auch gethan; aber wie sollte sie denn auch in Wirklichkeit für einen Eindringling Liebe hegen, der nicht zu ihrer Familie gehörte und nach dem Tode ihres Gatten durch keine Bande mehr an sie gekettet war? Es mußte allerdings ärgerlich sein, sich durch ein unter solchen Umständen gegebenes Versprechen genötigt zu sehen, einem fremden Kinde, das sie nicht lieben konnte, die Eltern zu ersetzen, und es ertragen zu müssen, daß eine unsympathische Fremde sich unaufhörlich in ihren Familienkreis drängte.

[18] Eine sonderbare Idee bemächtigte sich meiner. Ich zweifelte nicht – hatte es niemals bezweifelt – daß Mr. Reed, wenn er am Leben geblieben, mich mit Güte behandelt haben würde; und jetzt, als ich so dasaß und auf die dunklen Wände und das weiße Bett blickte, zuweilen auch wie gebannt ein Auge auf den trübe blinkenden Spiegel warf – da begann ich mich an das zu erinnern, was ich von Toten gehört hatte, die im Grabe keine Ruhe finden konnten, weil man ihre letzten Wünsche unerfüllt gelassen, und jetzt auf die Erde zurückkehrten, um die Meineidigen zu strafen und die Bedrückten zu rächen; ich dachte, wie Mr. Reeds Geist, gequält durch das Unrecht, welches man dem Kinde seiner Schwester zufügte, seine Ruhestätte verließ – entweder in dem Gewölbe der Kirche oder in dem unbekannten Lande der Abgeschiedenen – und in diesem Zimmer vor mir erscheinen könne. Ich trocknete meine Thränen und unterdrückte mein Schluchzen; denn ich fürchtete, daß diese lauten Äußerungen meines Grams eine übernatürliche Stimme zu meinem Troste erwecken oder aus dem mich umgebenden Dunkel ein Antlitz mit einem Heiligenschein hervorleuchten lassen könne, das sich mit wundersamem Mitleid über mich beugte. Dieser Gedanke, der in der Theorie vielleicht ganz trostreich, würde entsetzlich sein, wenn er zur Wirklichkeit werden könnte, das fühlte ich: mit aller Gewalt versuchte ich, ihn zu unterdrücken – ich bemühte mich, ruhig und gefaßt zu sein. Indem ich mir das Haar von Stirn und Augen strich, erhob ich den Kopf und versuchte in dem dunklen Zimmer umher zu blicken: in diesem Augenblick sah ich den Wiederschein eines Lichtes an der Wand! – War es vielleicht der Mondesstrahl, der durch eine Öffnung in dem Vorhang drang, fragte ich mich? Nein, die Mondesstrahlen waren ruhig unddies Licht bewegte sich; während ich noch hinblickte, glitt es zur Decke hinauf und erzitterte über meinem Kopfe. Jetzt kann ich freilich begreifen, daß dieser Lichtstreifen aller Wahrscheinlichkeit nach [19] der Schimmer einer Laterne war, welche jemand über den freien Platz vor dem Hause trug; aber damals, mit dem auf Schrecken und Entsetzen vorbereiteten Gemüt, mit meinen vor Aufregung bebenden Nerven, hielt ich den sich schnell bewegenden Strahl für den Herold einer Erscheinung, die aus einer anderen Welt zu mir kam. Mein Herz pochte laut, mein Kopf wurde heiß; in meinen Ohren spürte ich ein Brausen, das ich für das Rauschen der Flügel hielt; ein Etwas schien sich mir zu nähern; ich fühlte mich bedrückt, erstickt; mein Widerstandsvermögen gab nach; ich stürzte auf die Thür zu und rüttelte mit verzweifelter Anstrengung am Schlosse. Eilende Schritte kamen durch den äußeren Korridor daher; der Schlüssel wurde im Schlosse umgedreht, Bessie und Miß Abbot traten ein.

»Miß Eyre, sind Sie krank?« fragte Bessie.

»Welch ein fürchterlicher Lärm! Ich bin ganz außer mir!« rief Abbot aus.

»Nehmt mich mit hinaus! Laßt mich in die Kinderstube gehen!« schrie ich ununterbrochen.

»Weshalb denn? Ist Ihnen irgend etwas geschehen? Haben Sie etwas gesehen?« fragte Bessie wiederum.

»O, ich sah ein Licht und ich meinte, daß ein Geist kommen würde.« Ich hatte mich jetzt Bessies Hand bemächtigt, und sie entwand sie mir nicht.

»Sie hat mit Absicht so geschrieen,« erklärte Abbot mit einigem Abscheu. »Und welch ein Geschrei! Wenn sie große Schmerzen gehabt hätte, so könnte man es noch entschuldigen, aber sie wollte weiter nichts, als uns alle herbeilocken. Ich kenne ihre bösen Streiche schon.«

»Was giebt es denn hier?« fragte eine andere Stimme gebieterisch; und Mrs. Reed kam mit flatternden Haubenbändern und wehendem Kleide durch den Korridor daher. »Abbot und Bessie, ich glaube, daß ich Befehl gegeben habe, Jane Eyre in dem roten Zimmer zu lassen, bis ich selbst sie holen würde?«

[20] »Miß Jane schrie so laut, Madame,« wandte Bessie zögernd ein.

»Laßt sie los,« war die einzige Antwort. »Laß Bessies Hand los, Kind: verlaß dich darauf, auf diese Weise wirst du nicht hinaus gelangen. Ich verabscheue solche List, besonders bei Kindern; es ist meine Pflicht, dir zu beweisen, daß du mit derartigen Ränken und Schlichen nicht weit kommst. Jetzt wirst du noch eine ganze Stunde hierbleiben, und auchdann gebe ich dich nur frei, wenn du mir das Versprechen giebst, vollkommen ruhig und unterwürfig zu sein.«

»O, Tante, hab Erbarmen! Vergieb mir doch! Ich kann, ich kann es nicht ertragen. – Bestrafe mich doch auf andere Weise! Ich komme um, wenn – –«

»Sei still! Diese Heftigkeit ist ganz widerlich und empörend!« und ohne Zweifel hegte sie auch Abscheu gegen mein Betragen. In ihren Augen war ich eine frühreife Schauspielerin; sie sah in der That auf mich wie auf eine Zusammensetzung der heftigsten Leidenschaften, eines niedrigen, gemeinen Geistes und gefährlicher Falschheit.

Als Bessie und Abbot sich zurückgezogen hatten, warf Mrs. Reed, die meiner wilden Angst und meines lauten Schluchzens wohl müde geworden sein mochte, mich rasch in das Zimmer zurück und schloß mich ohne weitere Erklärungen und Worte wieder ein. Ich hörte noch, wie sie davon rauschte; und bald nachdem sie gegangen war, muß ich in Krämpfe verfallen sein: Bewußtlosigkeit machte der Scene ein Ende!

Drittes Kapitel

Dann erinnerte ich mich an nichts mehr. Als ich erwachte, war es mit dem Gefühl eines schrecklichen Alpdrückens, vor mir sah ich eine unheimliche rote Glut, von der sich dicke, schwarze Stangen abhoben. Ich hörte Stimmen, die hohl an mein Ohr klangen, als würden sie durch das [21] Rauschen des Wassers oder Toben des Windes übertönt. Aufregung, Ungewißheit und ein alles beherrschendes Gefühl des Entsetzens hielt alle meine Sinne gefangen. Es vergingen nur wenige Augenblicke, und dann gewahrte ich, daß jemand mich berührte, mich aufhob und mich in eine sitzende Stellung brachte, und zwar viel zärtlicher und sorgsamer, als mich bis jetzt irgend jemand gestützt oder emporgehoben hatte. Ich lehnte meinen Kopf gegen einen Arm oder ein Polster und fühlte mich unendlich wohl.

Noch fünf Minuten und die Wolken der Bewußtlosigkeit begannen zu schwinden. Jetzt wußte ich sehr wohl, daß ich in meinem eigenen Bette lag, und daß die rote Glut nichts anderes war, als das Feuer im Kamin der Kinderstube. Es war Nacht, eine Kerze brannte auf dem Tische; Bessie stand am Fußende meines Bettes und hielt eine Waschschüssel in der Hand, ein Herr saß auf einem Lehnstuhle neben mir und beugte sich über mich.

Ich empfand eine unbeschreibliche Erleichterung, eine wohlthuende Überzeugung der Sicherheit und des Beschütztseins, als ich sah, daß sich ein Fremder im Zimmer befand, ein Mensch, der nicht zum Haushalt von Gateshead, nicht zu den Verwandten von Mrs. Reed gehörte. – Mich von Bessie abwendend – obgleich ihre Gegenwart mir weit weniger unangenehm war, als mir zum Beispiel Abbots Gesellschaft gewesen wäre – prüfte ich die Gesichtszüge des Herrn; ich kannte ihn, es war Mr. Lloyd, ein Apotheker, den Mrs. Reed zuweilen rufen ließ, wenn ihre Dienstboten krank waren. Für sich selbst und ihre Kinder nahm sie immer nur die Hilfe des Arztes in Anspruch.

»Nun, wer bin ich?« fragte er.

Ich sprach seinen Namen aus und streckte ihm zu gleicher Zeit meine Hand entgegen; er nahm sie, lächelte und sagte: »Ah, wir werden uns jetzt langsam erholen.« Dann legte er mich nieder, wandte sich zu Bessie, empfahl ihr, sehr vorsichtig zu sein und mich während der Nacht nicht zu stören. [22] Nachdem er noch weitere Weisungen erteilt und gesagt hatte, daß er am folgenden Tage wiederkommen würde, ging er fort; zu meiner größten Betrübnis; während er auf dem Stuhl neben meinem Kopfkissen saß, fühlte ich mich so beschützt, so sicher, und als die Thür sich hinter ihm schloß, wurde das ganze Zimmer dunkel und mein Herz verzagte von neuem, es unterlag der Last eines unbeschreiblichen Grams.

»Glauben Sie, daß Sie schlafen können, Miß?« fragte Bessie mich ungewöhnlich sanft.

Kaum wagte ich, ihr zu antworten, denn ich fürchtete, daß ihre nächsten Worte wieder rauh klingen würden. »Ich will es versuchen,« sagte ich leise.

»Möchten Sie nicht irgend etwas essen oder trinken?«

»Nein, ich danke, Bessie.«

»Nun, dann werde ich auch schlafen gehen, denn es ist schon nach Mitternacht; aber Sie können mich rufen, wenn Sie während der Nacht irgend etwas brauchen.«

Welche seltene Höflichkeit! Sie ermutigte mich, eine Frage zu stellen.

»Bessie, was ist denn mit mir geschehen? Bin ich sehr krank?«

»Ich vermute, daß Sie vor Schreien im roten Zimmer krank geworden sind; aber Sie werden ohne Zweifel bald wieder ganz gesund sein.«

Bessie ging in das anstoßende Zimmer der Hausmädchen. Ich hörte, wie sie dort sagte:

»Sarah, komm und schlaf bei mir in der Kinderstube, und wenn es mein Leben gälte, so könnte ich diese Nacht nicht mit dem armen Kinde allein bleiben; es könnte sterben! Wie sonderbar, daß Miß Jane einen solchen Anfall haben mußte! Ich möchte doch wissen, ob sie irgend etwas gesehen hat. Mrs. Reed war dieses Mal aber auch zu hart gegen sie.«

Sarah kam mit ihr zurück; beide gingen zu Bett; sie [23] flüsterten wenigstens noch eine halbe Stunde mit einander, bevor sie einschliefen. Ich hörte einige Bruchstücke ihrer Unterhaltung, und aus diesen schloß ich auf den Hauptgegenstand ihrer Diskussion.

»Etwas ist an ihr vorübergeschwebt, ganz in Weiß gekleidet, dann ist es verschwunden.« – – »Ein großer, schwarzer Hund hinter ihm.« – »Dreimal hat es laut an der Zimmerthür geklopft.« – »Ein Licht auf dem Friedhofe gerade über seinem Grabe« – u.s.w., u.s.w.

Endlich schliefen beide ein. Feuer und Licht erloschen. In schaurigem Wachen ging die Nacht für mich langsam hin; Entsetzen und Angst hielten Ohren, Augen und Sinne wach. – Entsetzen und Angst, wie nur Kinder es zu empfinden imstande sind.

Diesem Zwischenfall im roten Zimmer folgte keine lange, ernste, körperliche Krankheit; nur eine heftige Erschütterung meiner Nerven, deren Widerhall ich noch bis auf den heutigen Tag empfinde. Ja, Mrs. Reed, Ihnen verdanke ich gar manchen qualvollen Schmerz der Seele. Aber ich sollte Ihnen verzeihen, denn Sie wußten nicht, was Sie thaten, während Sie jede Faser meines Herzens zerrissen, glaubten Sie nur meine bösen Neigungen und Anlagen zu ersticken.

Am nächsten Tage gegen Mittag war ich bereits aufgestanden und angekleidet und saß in einen warmen Shawl gehüllt vor dem Kaminfeuer. Ich fühlte mich körperlich schwach und gebrochen, aber mein schlimmstes Übel war ein unaussprechlicher Jammer der Seele, ein Jammer, der mir fortwährend stille Thränen entlockte, kaum hatte ich einen salzigen Tropfen von meiner Wange getrocknet, als auch schon ein anderer folgte. Und doch meinte ich, daß ich augenblicklich glücklich sein müßte, denn keiner von den Reeds war da, alle waren mit ihrer Mama im großen Wagen spazieren gefahren; auch Abbot nähte in einem anderen Zimmer, und während Bessie hin und her ging, [24] Spielsachen forträumte und Schiebladen ordnete, richtete sie dann und wann ein ungewöhnlich freundliches Wort an mich. Diese Lage der Dinge wäre für mich ein Paradies des Friedens gewesen, für mich, die ich nur an ein Dasein voll unaufhörlichen Tadels und grausame Sklaverei gewöhnt war, – aber in der That waren meine Nerven jetzt in einem solchen Zustande, daß keine Ruhe sie mehr sänftigen, kein Vergnügen sie mehr freudig erregen konnte.

Bessie war unten in der Küche gewesen und brachte mir jetzt einen Kuchen herauf, der auf einem gewissen, bunt gemalten Porzellanteller lag, dessen Paradiesvogel, welcher sich auf einem Kranz von Maiglöckchen und Rosenknospen schaukelte, stets eine enthusiastische Bewunderung in mir wach gerufen hatte. Gar oft hatte ich innig gebeten, diesen Teller in die Hand nehmen zu dürfen, um ihn genauer betrachten zu können, bis jetzt hatte man mich aber stets einer solchen Gunst für unwürdig gehalten. Jetzt stellte man mir nun diesen kostbaren Teller auf den Schoß und bat mich freundlich, das Stückchen auserlesenen Gebäcks, welches auf demselben lag, zu essen. Eitle Gunst! Sie kam zu spät, wie so manche andere, die so innig erwünscht, und so lange versagt worden war! Ich konnte den Kuchen nicht essen, und das Gefieder des Vogels, die Farben der Blumen schienen mir seltsam verblaßt – ich schob sowohl Teller wie Gebäck von mir. Bessie fragte mich, ob ich ein Buch haben wolle. Das Wort Buch wirkte wie ein vorübergehendes Reizmittel, und ich bat sie, mir »Gullivers Reisen« aus der Bibliothek zu holen. Dieses Buch hatte ich schon unzählige Male mit Entzücken gelesen; ich hielt es für eine Erzählung von Thatsachen und entdeckte in ihm eine Ader, die ein weit tieferes Interesse für mich hatte, als dasjenige, welches ich in Märchen gefunden hatte; denn nachdem ich die Elfen vergebens unter den Blättern des Fingerhuts und der Glockenblume, unter Pilzen und altem, von Epheu umrankten Gemäuer gesucht, [25] hatte ich mein Gemüt mit der traurigen Wahrheit ausgesöhnt, daß sie alle England verlassen hätten, um in ein unbekanntes Land zu gehen, wo die Wälder noch stiller und wilder und dicker, die Menschen noch spärlicher gesäet seien. Liliput hingegen und Brobdignag waren nach meinem Glauben solide Bestandteile der Erdoberfläche; ich zweifelte gar nicht, daß, wenn ich eines Tages eine weite Reise machen könnte, ich mit meinen eigenen Augen die kleinen Felder und Häuser, die winzigen Menschen, die zierlichen Kühe, Schafe und Vögel des einen Königreichs sehen würde, und ebenso die baumhohen Kornfelder, die mächtigen Bullenbeißer, die Katzen-Ungeheuer, die turmhohen Männer und Frauen des anderen. Und doch, als ich den geliebten Band jetzt in Händen hielt – als ich die Seiten umblätterte und in den wundersamen Bildern den Reiz suchte, welchen sie mir bis jetzt stets gewährt hatten – da war alles alt und trübselig; die Riesen waren hagere Kobolde; die Pigmäen boshafte und scheußliche Gnomen, Gulliver ein trübseliger Wanderer in öden und gefährlichen Regionen. Ich schloß das Buch, in dem ich nicht länger zu lesen wagte und legte es auf den Tisch neben das unberührte Stück Kuchen.

Bessie war jetzt mit dem Abstauben und Aufräumen des Zimmers zu Ende, und nachdem sie ihre Hände gewaschen hatte, öffnete sie eine gewisse kleine Schieblade, welche mit den schönsten, prächtigsten Lappen von Seide und Atlas angefüllt war, und begann einen Hut für Georginas neue Puppe zu machen. Dann begann sie zu singen; das Lied lautete:


»Als wir durch Wald und Flur streiften,

Vor langer, langer Zeit.«


Wie oft hatte ich dies Lied schon gehört, und immer mit dem größten Entzücken; denn Bessie hatte eine süße Stimme – wenigstens nach meinem Geschmack. Aber jetzt, obgleich ihre Stimme noch immer lieblich klang, lag [26] für mich eine unbeschreibliche Traurigkeit in dieser Melodie. Zuweilen, wenn ihre Arbeit sie ganz in Anspruch nahm, sang sie den Refrain sehr leise, sehr langsam: »Vor langer, langer Zeit«; dann klang es wie die Schlußkadenz eines Grabliedes. Endlich begann sie eine andere Ballade zu singen, diesmal eine wirklich traurige.


Mein Körper ist müd und wund ist mein Fuß,

Weit ist der Weg, den ich wandern muß,

Bald wird es Nacht, und den Weg ich nicht find',

Den ich wandern muß, armes Waisenkind!


Weshalb sandten sie mich so weit, so weit,

Durch Feld und Wald, auf die Berg', wo es schneit?

Die Menschen sind hart! Doch Engel so lind,

Bewachen mich armes Waisenkind.


Die Sterne, sie scheinen herab so klar,

Die Luft ist mild! Es ist doch wahr:

Gott ist barmherzig, er steuert dem Wind,

Daß er nicht erfasse das Waisenkind.


Und wenn ich nun strauchle am Waldesrand

Oder ins Meer versink, wo mich führt keine Hand',

So weiß ich doch, daß den Vater ich find',

Er nimmt an sein Herz das Waisenkind!


Das ist meine Hoffnung, die Kraft mir giebt,

Daß Gott da droben sein Kind doch liebt.

Bei ihm dort oben die Heimat ich find',

Er liebt auch das arme Waisenkind!


»Kommen Sie, Miß Jane, weinen Sie nicht,« sagte Bessie, als sie zu Ende war. Ebensogut hätte sie dem Feuer sagen können »brenne nicht!« aber wie hätte sie denn auch eine Ahnung von dem herzzerreißenden Schmerz haben können, dessen Beute ich war? – Im Laufe des Morgens kam Mr. Lloyd wieder.

»Wie? Schon aufgestanden?« rief er, als er in die Kinderstube trat. »Nun, Wärterin, wie geht es ihr denn eigentlich?«

Bessie entgegnete, daß es mir außerordentlich gut gehe.

[27] »Dann sollte sie aber fröhlicher aussehen. Kommen Sie her, Miß Jane. Sie heißen Jane, nicht wahr?«

»Ja, mein Herr, Jane Eyre!«

»Nun, Sie haben geweint, Miß Jane Eyre, wollen Sie mir nicht sagen, weshalb? Haben Sie Schmerzen?«

»Nein, Herr.«

»Ah, ich vermute, daß sie weint, weil sie nicht mit Mrs. Reed spazieren fahren durfte,« warf Bessie hier ein.

»O nein, gewiß nicht, für solche Albernheit ist sie denn doch zu alt.«

Das dachte ich auch; und da meine Selbstachtung durch die falsche Beschuldigung verletzt war, antwortete ich schnell: »In meinem ganzen Leben habe ich noch keine Thränen um solche Dinge vergossen. Ich hasse die Spazierfahrten. Ich weine, weil ich so unglücklich bin.«

»Schämen Sie sich, Miß!« rief Bessie.

Der gute Apotheker schien ein wenig verwirrt. Ich stand vor ihm; er heftete seine Augen fest auf mich. Diese Augen waren klein und grau, nicht sehr leuchtend, aber ich glaube, daß ich sie jetzt sehr klug finden würde. Trotz der harten Züge hatte er ein gutmütiges Gesicht. Nachdem er mich lange mit Muße betrachtet hatte, sagte er:

»Was hat Sie gestern krank gemacht?«

»Sie ist gefallen,« sagte Bessie wieder einfallend.

»Gefallen! Nun, das ist gerade wieder wie ein Kind! Kann sie bei ihrem Alter denn noch nicht allein gehen? Sie muß doch acht oder neun Jahre alt sein?«

»Jemand hat mich zu Boden geschlagen,« lautete die derbe Erklärung, welche der Schmerz gekränkten Stolzes mir wiederum entriß, »aber das hat mich nicht krank gemacht,« fügte ich hinzu, während Mr. Lloyd bedächtig eine Prise Tabak nahm.

Als er die Tabaksdose wieder in seine Westentasche schob, rief der laute Klang einer Glocke die Dienstboten zum Mittagessen; er wußte, was es bedeutete: »Das gilt Ihnen, [28] Wärterin,« sagte er, »Sie können hinunter gehen; ich werde Miß Jane einige Lehren geben, bis Sie zurückkehren.«

Bessie wäre lieber geblieben, aber sie war gezwungen zu gehen, weil die Pünktlichkeit bei den Mahlzeiten eine Sache war, auf welche in Gateshead-Hall strenge gehalten wurde.

»Der Fall hat Sie nicht krank gemacht? Nun, was war es denn?« fragte Mr. Lloyd weiter, nachdem Bessie gegangen war.

»Ich war in einem Zimmer eingesperrt, wo ein Geist umgeht – und es war schon lange dunkel.«

Ich sah, wie Mr. Lloyd lächelte und zugleich die Stirn runzelte. »Ein Geist! Was! Sie sind am Ende doch nichts anderes, als ein kleines Kind! Sie fürchten sich vor Geistern?«

»Ja, vor Mr. Reeds Geist fürchte ich mich. Er starb in jenem Zimmer und lag dort auf der Bahre. Weder Bessie noch sonst jemand geht am Abend hinein, wenn es nicht dringend notwendig ist; und es war so furchtbar grausam, mich dort allein, ohne Licht, einzuschließen – so grausam, daß ich glaube, ich werde es niemals vergessen können.«

»Unsinn! Und macht das Sie so elend? Fürchten Sie sich jetzt bei Tage auch noch?«

»Nein. Aber es dauert nicht lange und dann wird es wieder Nacht. Und außerdem, ich bin unglücklich, sehr unglücklich um anderer Dinge willen.«

»Was für Dinge denn? Können Sie mir die nicht nennen?«

Wie sehr wünschte ich, offen und ehrlich auf diese Frage zu antworten! Wie schwer war es aber, Worte für eine solche Antwort zu finden! Kinder können wohl empfinden, aber sie können ihr Empfinden nicht zergliedern; und wenn ihnen die Zergliederung zum Teil auch in Gedanken gelingt, so wissen sie nicht, wie sie das Resultat dieses Vorganges in Worte kleiden sollen. Da ich aber fürchtete, [29] daß ich diese erste und einzige Gelegenheit, meinen Kummer durch Mitteilung zu erleichtern, ungenützt vorübergehen lassen könnte, gelang es mir nach einer unruhigen Pause, eine unzulängliche, aber wahre Antwort hervorzubringen.

»Erstens habe ich keinen Vater, keine Mutter, keinen Bruder, keine Schwester.«

»Aber Sie haben eine gütige Tante und liebe Vettern und Cousinen.«

Wiederum hielt ich inne, dann rief ich kindisch aus:

»Aber John Reed hat mich zu Boden geschlagen und meine Tante hat mich im roten Zimmer eingesperrt.«

Zum zweitenmal holte Mr. Lloyd seine Schnupftabaksdose hervor.

»Finden Sie denn nicht, daß Gateshead-Hall ein wunderschönes Haus ist?« fragte er. »Sind Sie nicht dankbar, an einem so schönen Orte leben zu können?«

»Es ist nicht mein eigenes Haus, Sir; und Abbot sagt, daß ich weniger Recht habe, hier zu sein, als ein Dienstbote.«

»Dummes Zeug! Sie können doch nicht so dumm sein, zu wünschen, daß Sie einen so herrlichen Ort wie diesen verlassen dürften?«

»Wenn ich nur wüßte, wohin ich gehen sollte, ich wäre wahrhaftig froh zu gehen; aber ich darf Gateshead erst verlassen, wenn ich erwachsen bin.«

»Vielleicht doch früher – wer weiß? Haben Sie außer Mrs. Reed keine Verwandte?«

»Ich glaube nicht, Sir.«

»Niemanden, der mit Ihrem Vater verwandt war?«

»Ich weiß es nicht. Einmal fragte ich Tante Reed, und da sagte sie, daß ich möglicherweise irgend welche arme, heruntergekommene Verwandte, namens Eyre, haben könne, daß sie aber nichts über sie wisse.«

»Möchten Sie denn zu ihnen gehen, wenn Sie solche Angehörige hätten?«

Ich besann mich. Armut hat etwas abschreckendes für [30] erwachsene Menschen; für Kinder aber noch mehr; sie haben nicht viel Sinn für fleißige, arbeitsame, ehrenhafte Armut; dies Wort erweckt in ihnen nur den Gedanken an zerlumpte Kleider, kärgliche Nahrung, einen kalten Ofen, rohe Manieren und entwürdigende Laster: auch für mich war Armut gleichbedeutend mit Entehrung.

»Nein. Ich möchte nicht bei armen Leuten leben,« war meine Antwort.

»Auch nicht, wenn sie gütig gegen Sie wären?«

Ich schüttelte den Kopf. Ich konnte nicht begreifen, wie arme Leute überhaupt die Mittel haben, gütig zu sein. Und dann – sprechen lernen wie sie – ihre Manieren annehmen – schlecht erzogen werden – aufwachsen wie eins jener armen Weiber, die ich zuweilen vor den Thüren der Hütten ihre Kinder warten und ihre Kleider waschen sah? – nein, ich war nicht heroisch genug, meine Freiheit um den Preis meiner Kaste zu erkaufen.

»Aber sind Ihre Verwandten denn so arm? Gehören sie zur arbeitenden Klasse?«

»Das weiß ich nicht; Tante Reed sagt, wenn ich überhaupt Angehörige habe, so müssen sie Bettlergesindel sein. Nein, nein, ich möchte nicht betteln gehen.«

»Möchten Sie nicht in die Schule gehen?«

Wiederum dachte ich nach; kaum wußte ich, was eine Schule denn eigentlich sei; Bessie sprach zuweilen davon wie von einem Orte, an dem man von jungen Damen erwartet, daß sie außerordentlich manierlich und geziert sind; John Reed haßte seine Schule und schmähte seinen Lehrer, aber John Reeds Ansichten und Geschmack waren keine Regel für die meinen, und wenn Bessies Berichte über Schuldisziplin (diese stammten von den Töchtern einer Familie, in welcher sie gedient hatte, bevor sie nach Gateshead kam) etwas abschreckend lauteten, so waren ihre Erzählungen von verschiedenen Talenten und Kenntnissen, welche diese selben jungen Damen sich angeeignet hatten, andererseits [31] höchst verlockend. Sie prahlte von wunderschönen Gemälden, von Landschaften und Blumen, welche sie vollendet, von Liedern, die sie singen und Klavierpiecen, die sie spielen, von Geldbörsen, die sie häkeln, von französischen Büchern, die sie übersetzen konnten, bis mein Gemüt, während ich ihr lauschte, zur Nachahmung aufgestachelt wurde. Außerdem wäre die Schule doch eine gründliche Abwechselung: damit war eine lange Reise verknüpft, eine gänzliche Trennung von Gateshead, ein Eintritt in ein neues Leben.

»Ich möchte in der That in eine Schule gehen,« war die hörbare Schlußfolgerung meines Nachsinnens.

»Nun, nun, wer weiß denn, was geschieht!« sagte Mr. Lloyd, indem er sich erhob. »Das Kind braucht Luft- und Ortsveränderung,« fügte er hinzu, mit sich selbst redend, »die Nerven sind in einer bösen Verfassung.«

Jetzt kam Bessie zurück; in demselben Augenblick hörte man Mrs. Reeds Wagen über den Kies der Gartenwege rollen.

»Ist das Ihre Herrin, Wärterin?« fragte Mr. Lloyd, »ich möchte noch mit ihr reden bevor ich gehe.«

Bessie forderte ihn auf, ins Frühstückszimmer zu gehen und geleitete ihn hinaus. Wie ich aus den nachfolgenden Begebenheiten schloß, wagte der Apotheker während der Unterredung mit Mrs. Reed ihr anzuempfehlen, daß sie mich in eine Schule schicke; und ohne Zweifel wurde dieser Rat sehr bereitwillig angenommen, denn als ich an einem der folgenden Abende im Bette lag, und Bessie und Abbot mich schlafend glaubten, sagte letztere: »Ich glaube, die gnädige Frau ist nur zu froh, solch ein langweiliges, boshaftes Kind los zu werden; sie sieht immer aus, als beobachte sie jeden Menschen und schmiede heimliche Pläne.« – Ich glaube wahrhaftig, daß Abbot mich für eine Art kindlichen Guy Fawkes 1 hielt.

[32] Bei dieser Gelegenheit erfuhr ich auch aus Miß Abbots Mitteilungen an Bessie, daß mein Vater ein armer Prediger gewesen; daß meine Mutter ihn gegen den Willen ihrer Angehörigen geheiratet habe, welche diese Heirat für erniedrigend gehalten; daß mein Großvater Reed so erzürnt über ihren Ungehorsam gewesen, daß er sie gänzlich enterbte; daß mein Vater, nachdem er kaum ein Jahr mit meiner Mutter verheiratet gewesen, ein typhöses Fieber bekommen, während er die arme Bevölkerung einer großen Fabrikstadt, in welcher seine Pfarre lag, besuchte; und daß meine arme Mutter kaum einen Monat später ihrem Gatten ins Grab folgte.

Als Bessie diese Erzählung mit anhörte, seufzte sie und sagte: »Abbot, die arme Miß Jane ist auch zu bedauern.«

»Ja, ja,« entgegnete Abbot, »wenn sie ein liebes, gutes, hübsches Kind wäre, so könnte man Mitleid mit ihr haben, weil sie so gänzlich verlassen ist; aber solch eine scheußliche kleine Kröte kann Einem doch unmöglich Erbarmen einflößen.«

»Nein, nicht viel,« stimmte Bessie ihr bei, »auf jeden Fall würde eine so prächtige Schönheit wie Miß Georgiana in einer solchen Lage viel rührender sein.«

»Ja, ja, ich bete Miß Georgiana an!« rief die begeisterte Abbot. »Der kleine süße Liebling! – Mit ihren langen Locken und blauen Augen, und den süßen, lieblichen Farben, gerade als ob sie angemalt wäre! – Bessie, ich hätte wahrhaftig Appetit auf einen gerösteten Käse zum Abendbrot.«

»Ich auch, ich auch – mit geschmorten Zwiebeln. Kommen Sie, wir wollen hinunter gehen.«

Und sie gingen.

Fußnoten

1 Guy Fawkes, geboren 1570, Haupt der Pulververschwörung in London, 1605 hingerichtet.

Viertes Kapitel

Aus meiner Unterredung mit Mr. Lloyd und der soeben wiederholten Konferenz zwischen Abbot und Bessie schöpfte ich Hoffnung genug, um den Wunsch nach Genesung [33] zu hegen; eine Veränderung schien bevorstehend – ich wünschte und wartete im Stillen. Die Sache verzögerte sich indessen. Tage und Wochen vergingen; mein Gesundheitszustand war wieder ein normaler, aber ich vernahm keine Anspielung mehr auf den Gegenstand, über welchen ich brütete. Oft betrachtete Mrs. Reed mich mit strengen, finsteren Blicken aber nur selten sprach sie zu mir. Seit meiner Krankheit hatte sie eine schärfere Grenzlinie denn je zwischen mir und ihren eigenen Kindern gezogen; mir war eine kleine Kammer als Schlafgemach angewiesen worden; man hatte mich verdammt, meine Mahlzeiten allein einzunehmen, und ich mußte allein in der Kinderstube verweilen, während meine Vettern und Cousinen sich stets im Wohnzimmer aufhielten. Indessen fiel noch immer kein Wink über den Plan, mich in ein Erziehungsinstitut zu schicken; und doch hegte ich die instinktive Gewißheit, daß sie mich nicht mehr lange unter ihrem Dache dulden würde; denn mehr als je drückte ihr Blick, wenn er auf mich fiel, einen unüberwindlichen und eingewurzelten Abscheu aus.

Eliza und Georgiana handelten augenscheinlich nach Instruktionen, indem sie so wenig wie möglich mit mir sprachen; John streckte die Zunge aus sobald er mich erblickte und versuchte sogar einmal mich zu züchtigen; da ich mich aber augenblicklich gegen ihn wandte und er in meinen Blicken dieselbe Wut wahrnahm, in welcher ich mich schon einmal gegen ihn aufgelehnt hatte, hielt er es für besser, abzulassen und unter lauten Verwünschungen davon zu laufen, während er schrie, ich habe ihm das Nasenbein zertrümmert. Allerdings hatte ich nach diesem hervorragendsten Gesichtszuge einen Schlag geführt, so heftig wie meine Knöchel ihn auszuteilen vermochten; und als ich sah, daß entweder dieser Schlag oder meine Blicke ihn eingeschüchtert hatten, spürte ich die größte Neigung, meinen Vorteil noch weiter auszubeuten; er war indessen schon zu seiner Mutter [34] gelaufen. Ich hörte, wie er mit stammelnden Lauten eine Geschichte begann »wie diese abscheuliche Jane Eyre« einer wilden Katze gleich auf ihn gesprungen sei; mit strenger Stimme unterbrach ihn seine Mutter.

»Sprich mir nicht von ihr, John; ich habe dir gesagt, daß du ihr nicht zu nahe kommen sollst; sie ist nicht einmal deiner Beachtung wert; ich will nicht, daß du oder eine deiner Schwestern mit ihr etwas zu thun haben.«

In diesem Augenblick lehnte ich mich über das Treppengeländer und schrie plötzlich ohne im geringsten über meine Worte nachzudenken:

»Sie sind nicht wert, mit mir zu verkehren.«

Mrs. Reed war eine ziemlich starke Frau; als sie indessen diese seltsamen und frechen Worte vernahm, kam sie ganz leichtfüßig die Treppe herauf gelaufen, zog mich mit Windeseile in die Kinderstube und indem sie mich an die Seite meines kleinen Bettes drückte, verbot sie mir mit pathetischer Stimme, mich von dieser Stelle fortzurühren und während des ganzen Tages auch nur noch ein einziges Wort zu sprechen.

»Was würde Onkel Reed jetzt sagen, wenn er noch lebte?« war meine fast willenlos gethane Frage. Ich sage, »fast willenlos«, denn es war, als spräche meine Zunge diese Worte aus, ohne daß mein Wille darum wußte. – Es sprach etwas aus mir, worüber ich keine Gewalt hatte.

»Was?« zischte Mrs. Reed fast unhörbar; in ihrem sonst so kalten, ruhigen, grauen Auge blitzte etwas auf, das der Furcht glich; sie ließ meinen Arm los und blickte mich an, als wisse sie nicht recht, ob ich ein Kind oder ein Teufel sei. Jetzt faßte ich Mut.

»Mein Onkel Reed ist im Himmel und kann alles sehen, was Sie thun und sagen; und mein Vater und meine Mutter auch; sie wissen, daß Sie mich dengan zen Tag einsperren und daß Sie nur wünschen, ich wäre tot.«

Mrs. Reed war schnell wieder gefaßt; sie schüttelte mich [35] heftig, sie ohrfeigte mich aus allen Kräften und verließ mich dann ohne eine Silbe zu sprechen. Bessie füllte diese Lücke aus, indem sie mir eine stundenlange Strafpredigt hielt, in welcher sie mir ohne jeden Zweifel bewies, daß ich das elendeste und pflichtvergessenste Kind sei, das jemals unter einem Dache erzogen worden. Halb und halb glaubte ich ihr; denn ich empfand selbst, wie in diesem Augenblick nur böse Gefühle in meiner Brust tobten.

November, Dezember und die Hälfte des Januar gingen vorüber. Das Weihnachtsfest und Neujahr waren in Gateshead in der üblichen fröhlichen Weise gefeiert worden; Geschenke waren nach allen Seiten hin ausgeteilt und Mittag- und Abendgesellschaften gegeben. Von jeder Feier und Festlichkeit war ich natürlich ausgeschlossen; mein Anteil an diesen bestand darin, daß ich täglich mit ansehen mußte, wie Eliza und Georgiana auf das schönste herausgeputzt in ihren zarten Muslinkleidern und rosenroten Schärpen, mit sorgsam gelocktem Haar, in den Salon hinabgingen; und später horchte ich dann auf die Töne des Klaviers oder der Harfe, die zu mir herauf drangen; hörte, wie der Kellermeister und die Diener hin und her liefen, wie die Teller klapperten und die Gläser klangen, während die Erfrischungen umher gereicht wurden; und wenn die Thüren des Salons geöffnet und wieder geschlossen wurden, drangen sogar abgebrochene Sätze der Konversation an mein Ohr. Wenn ich des Lauschens müde geworden, verließ ich meinen Posten auf dem Treppenabsatz und ging in die stille, einsame Kinderstube zurück; dort, wenn ich auch traurig war, fühlte ich mich wenigstens nicht elend. Offen gestanden, hegte ich nicht das leiseste Verlangen, in Gesellschaft zu gehen, denn in der Gesellschaft schenkte mir selten irgend jemand Beachtung; und wenn Bessie nur ein wenig liebenswürdig und freundlich gewesen wäre, so hätte ich es für eine Bevorzugung angesehen, die Abende ruhig mit ihr anstatt unter den gefürchteten Augen von Mrs. Reed, in[36] einem Kreise von mir unsympathischen Herren und Damen zubringen zu dürfen. Aber sobald Bessie ihre jungen Damen angekleidet hatte, pflegte sie sich in die lebhafteren Regionen der Küche und des Zimmers der Haushälterin hinunter zu begeben und gewöhnlich auch noch die Lampe mit fortzunehmen. Dann saß ich da mit meiner Puppe im Arm, bis das Feuer herabgebrannt war und blickte zuweilen ängstlich umher, um mich zu vergewissern, daß sich nichts schlimmeres als ich selbst in dem düsteren Zimmer befand; wenn sich dann nur noch ein Häufchen glühend roter Asche auf dem Roste befand, entkleidete ich mich hastig, riß und zerrte aus allen Kräften an den Bändern und Knöpfen meiner Röcke und suchte in meinem Bettchen Schutz vor der Kälte und der Dunkelheit. In dieses Bettchen nahm ich auch stets meine Puppe mit; jedes menschliche Wesen muß etwas lieben, und da mir jeder andere Gegenstand für meine Liebe fehlte, fand ich meine Glückseligkeit darin, ein farbloses, verblaßtes Gebilde zu lieben, das noch häßlicher als eine Miniatur-Vogelscheuche war. In der Erinnerung scheint es mir jetzt unbegreiflich, daß ich mit so alberner Zärtlichkeit an diesem kleinen Spielzeug hängen konnte; oft bildete ich mir ein, daß es lebendig sei und mit mir empfinden könnte. Ich konnte nicht schlafen, wenn ich es nicht in die Falten meines Nachthemdchens gehüllt hatte, und wenn es dort sicher und warm lag, fühlte ich mich verhältnismäßig glücklich, weil ich glaubte, daß es ebenfalls glücklich sein müsse.

Wie lang schienen mir die Stunden, wenn ich auf das Fortgehen der Gesellschaft wartete und auf den Wiederhall von Bessies Tritten auf der Treppe horchte. – Zuweilen kam sie auch in der Zwischenzeit herauf, um ihren Fingerhut und ihre Schere zu suchen oder mir irgend etwas zum Abendbrot, vielleicht einen Käsekuchen oder ein Milchbrot herauf zu bringen; dann pflegte sie auf der Bettkante zu sitzen, während ich aß, und wenn ich fertig war, wickelte [37] sie mich fest in die Decken und küßte mich zweimal und sagte: »Gute Nacht, Miß Jane.« Wenn Bessie so sanft war, erschien sie mir wie das beste, hübscheste, freundlichste Geschöpf auf der Welt; und dann wünschte ich so innig, daß sie stets so fröhlich und liebenswert sein und mich niemals wieder umherstoßen oder schelten oder mich ungerecht beschuldigen möchte, wie es doch meistens ihre Gewohnheit war. Ich glaube, daß Bessie Lee ein Mädchen mit guten natürlichen Anlagen gewesen sein muß, denn in allem, was sie that, war sie flink und geschickt, außerdem hatte sie ein wundersames Erzählungstalent oder wenigstens schien mir es so nach dem Eindruck, welchen ihre Kinderstubengeschichten auf mich machten. Auch war sie hübsch, wenn weiter die Erinnerung an ihre Gestalt und ihr Gesicht mich nicht täuscht. Sie steht vor mir wie ein schlankes, junges Weib mit schwarzem Haar, dunklen Augen, sehr hübschen Zügen und einer klaren, gesunden Gesichtsfarbe; aber sie war von heftigem und launenhaftem Temperament und sehr unausgeglichenen Begriffen von Gerechtigkeit und Grundsätzen – und doch, wie und was sie auch sein mochte, sie war mir lieber, als irgend ein anderes lebendes Wesen in Gateshead-Hall.

Es war am 15. Januar, ungefähr gegen neun Uhr morgens. Bessie war zum Frühstück hinuntergegangen; meine Cousinen waren noch nicht zu ihrer Mama gerufen worden; Eliza zog gerade ihren warmen Gartenmantel an und setzte ihren Hut auf, um hinunterzugehen und ihr Geflügel zu füttern – eine Beschäftigung, welche sie sehr liebte – und ebensoviel Vergnügen machte es ihr, der Haushälterin ihre Eier zu verkaufen und das Geld, welches sie auf solche Weise erlangte, zusammen zu sparen. Sie hatte viel Sinn für den Handel und einen ausgesprochenen Hang zur Sparsamkeit; dies zeigte sich nicht allein im Verkaufen von Hühnern und Eiern, sondern auch in scharfem Handeln mit dem Gärtner um Blumenpflanzen, Samen und [38] junge Schößlinge; dieser Funktionär hatte von Mrs. Reed den strengen Befehl erhalten, der jungen Herrin alle Produkte ihres kleinen Gartens, welche sie etwa zu verkaufen wünschte, abzukaufen – und Eliza würde jedes einzelne Haar von ihrem Kopfe verkauft haben, wenn sie einen namhaften Profit dabei erzielt hätte! Anfänglich hatte sie ihr Geld in allen möglichen Winkeln und Ecken, in altes Lockenpapier oder in Lumpen gewickelt, versteckt; aber als einige dieser aufgespeicherten Schätze von dem Stubenmädchen entdeckt worden, willigte Eliza, welche fürchtete, eines Tages ihr ganzes Hab und Gut zu verlieren, darein, es ihrer Mutter gegen unerhörte Wucherzinsen – fünfzig oder sechzig Prozent – anzuvertrauen. Diese Zinsen trieb sie regelmäßig jedes Vierteljahr ein und führte mit ängstlicher Sorgfalt in einem kleinen Notizbuche hierüber Rechnung.

Georgiana saß auf einem hochbeinigen Stuhl und ordnete ihr Haar vor dem Spiegel; in ihre Locken flocht sie künstliche Blumen und verblichene Federn, von denen sie einen ganzen Vorrat in einer Kiste auf der Bodenkammer gefunden hatte. Ich brachte mein Bett in Ordnung, denn Bessie hatte mir den strikten Befehl erteilt, damit fertig zu sein, bevor sie zurückkommen würde; sie benutzte mich jetzt häufig wie eine Art von zweitem Stubenmädchen, um das Zimmer aufzuräumen, den Staub von den Möbeln zu wischen u.s.w. – Nachdem ich die Bettdecke ausgebreitet und mein Nachtkleid zusammengefaltet hatte, ging ich an das Fensterbrett, um einige Bilderbücher und Möbel aus der Puppenstube, welche dort umherlagen, fortzuräumen; aber ein lauter Befehl Georgianas, ihre Spielsachen nicht anzurühren (denn die Liliput-Stühle und Spiegel, die Feen-Teller und Tassen waren ihr Eigentum) gebot meinem Thun Einhalt. In Ermangelung jeder anderen Beschäftigung fing ich jetzt an, auf die Eisblumen, welche die Kälte auf die Fensterscheiben gezaubert hatte, zu hauchen, [39] und mir so eine kleine Öffnung auf dem Glase zu verschaffen durch welche ich in den Garten blicken konnte, wo der harte Frost alles getötet und versteinert hatte.

Durch dieses Fenster war die Loge des Portiers und die Fahrstraße sichtbar und gerade als ich so viel von dem silberweißen Laubgewinde, das die Scheiben verschleierte, fortgehaucht hatte, um hinausblicken zu können, sah ich, daß die Pforten geöffnet wurden und ein Wagen durch das Thor rollte. Mit größter Gleichgiltigkeit verfolgte ich ihn, wie er vor das Haus rollte: es kamen ja so oft Wagen nach Gateshead, aber niemals brachten sie Besucher, für die ich auch nur das geringste Interesse hegte. Er hielt vor dem Hause, die Glocke wurde heftig gezogen; der Besucher erhielt Einlaß. Da dieser ganze Vorgang mich nicht kümmerte, fand meine jetzt unbeschäftigte Aufmerksamkeit bald lebhaftere Anziehungskraft in dem Anblick eines kleinen, hungrigen Rotkehlchens, das sich piepend auf die entlaubten Zweige eines Spalierkirschenbaumes nahe am Fenster setzte. Die Überreste meines Frühstücks von Brot und Milch standen auf dem Tische und nachdem ich eine Semmel in Krümel zerrieben hatte, zog ich an dem Klappfenster, um die Brosamen auf das Fenstersims streuen zu können, als Bessie atemlos in die Kinderstube stürzte.

»Miß Jane, nehmen Sie Ihre Schürze ab; was machen Sie da? Haben Sie heute morgen Gesicht und Hände schon gewaschen?« – Bevor ich antwortete, zog ich noch einmal an der Fensterklinke, denn ich wollte dem Vogel gern sein kleines Mahl sichern; die Klinke gab nach, ich streute die Brosamen aus, einige auf das steinerne Gesimse, andere auf die Zweige des Kirschbaumes; dann erst schloß ich das Fenster und entgegnete:

»Nein, Bessie, ich bin erst jetzt mit dem Aufräumen fertig geworden.«

»Unartiges, unordentliches Mädchen! Und was machen Sie da jetzt? Sie sehen so rot aus, als hätten Sie irgend [40] ein Unheil angerichtet. Weshalb haben Sie das Fenster aufgerissen?«

Die Antwort blieb mir erspart, denn Bessie schien zu große Eile zu haben, um meinen Erklärungen Gehör schenken zu können; sie zerrte mich an den Waschtisch, unterwarf meine Hände und mein Gesicht einer erbarmungslosen aber glücklicherweise kurzen Waschung mit Seife, Wasser und einem groben Handtuch; ordnete meinen Kopf mit einer scharfen Bürste, entkleidete mich meiner Schürze und riß mich dann schnell an die Treppe, wo sie mir gebot, eilig hinunter zu gehen, da man mich im Frühstückszimmer erwarte.

Ich hätte gern gewußt, wer mich erwartete; gern hätte ich gefragt, ob Mrs. Reed dort sei; aber Bessie war schon wieder davon gelaufen und hatte die Kinderstubenthür hinter sich geschlossen. Langsam stieg ich die Treppe hinunter. Seit fast drei Monaten hatte Mrs. Reed mich nicht mehr rufen lassen; seit dieser Zeit war ich auf die Kinderstube angewiesen gewesen, und das Frühstückszimmer, der Speisesaal und der Salon waren für mich Regionen geworden, die ich nur mit Schrecken und Angst betreten konnte.

Ich stand jetzt in der leeren Halle; vor mir war die Thür des Frühstückszimmers, zitternd und furchtsam hielt ich inne. Welch einen elenden kleinen Feigling hatte die Furcht vor ungerechter Bestrafung in jenen Tagen aus mir gemacht! Ich fürchtete mich, in die Kinderstube zurückzugehen; ich fürchtete mich, in das Wohnzimmer einzutreten! Zehn Minuten stand ich ängstlich zögernd da; das heftige Klingeln der Glocke im Frühstückszimmer entschied: ich mußte eintreten.

»Wer konnte nach mir verlangen?« fragte ich mich, als ich mit beiden Händen die Thürklinke erfaßte, welche mehre Sekunden meinen Anstrengungen widerstand. »Wen würde ich noch außer Tante Reed in dem Zimmer erblicken? – Einen Mann oder eine Frau?« – Die Klinke gab nach, [41] die Thür sprang auf, ich trat ein, machte einen tiefen Knix, blickte auf und sah – einen schwarzen Pfeiler! – Als ein solcher erschien mir wenigstens auf den ersten Blick die lange, schmale, schwarzgekleidete Gestalt, welche kerzengerade vor dem Kamin stand: das ernste Gesicht, welches dieselbe krönte, sah aus wie eine geschnitzte Maske, die als Kapitäl auf die Säule gestellt war.

Mrs. Reed hatte ihren gewöhnlichen Platz neben dem Kamin inne. Sie machte mir ein Zeichen, näher zu treten. Ich that es und sie stellte mich dem steinernen Fremden mit den Worten vor: »Dies ist das kleine Mädchen, um dessentwillen ich mich an Sie wandte.«

Er, denn es war ein Mann, wandte den Kopf langsam nach der Seite, auf welcher ich stand, und nachdem er mich mit zwei neugierigen, unter einem Paar buschiger Augenbrauen funkelnden Augen geprüft hatte, sagte er feierlich mit einer tiefen Stimme: »Sie ist klein von Gestalt, wie alt ist sie?«

»Zehn Jahre.«

»So alt?« lautete die zweifelnde Antwort, und dann fuhr er noch einige Minuten fort, mich schweigend zu prüfen. Darauf redete er mich an:

»Ihr Name, kleines Mädchen?«

»Jane Eyre, mein Herr.«

Als ich diese Worte aussprach, blickte ich auf; er erschien mir wie ein großer Mann, aber ich war ja so klein; seine Züge waren groß und wie alle übrigen Linien seiner Gestalt hart und scharf.

»Nun, Jane Eyre, sind Sie ein gutes Kind?«

Unmöglich, diese Frage bejahend zu beantworten; die kleine Welt, die mich umgab, war anderer Meinung – ich schwieg. Mrs. Reed antwortete für mich mit einem ausdrucksvollen Schütteln des Kopfes, gleich darauf fügte sie hinzu: »Je weniger man über diesen Punkt spricht, Mr. Brocklehurst, desto besser.«

[42] »Thut mir in der That leid zu hören! sie und ich müssen ein wenig mit einander reden,« damit brachte er sich aus der perpendikulären Stellung und installierte seine Person in dem Lehnstuhl, welcher Mrs. Reed gegenüber stand. »Kommen Sie hierher,« sagte er.

Ich ging über den Kaminteppich; er stellte mich gerade und aufrecht vor sich. Welch ein Gesicht hatte er, jetzt wo es sich in gleicher Linie mit dem meinen befand! welch eine ungeheure Nase! und welch ein Mund! welche großen, hervorstehenden Zähne!

»Es giebt keinen schrecklicheren Anblick, als den eines unartigen Kindes,« begann er, »besonders eines unartigen kleinen Mädchens! Wissen Sie, wohin die Gottlosen kommen, wenn sie gestorben sind?«

»Sie kommen in die Hölle,« lautete meine schnelle und orthodoxe Antwort.

»Und was ist die Hölle? Können Sie mir das ebenfalls sagen?«

»Eine Grube voll Feuer.«

»Und möchten Sie wohl in diese Grube hineinfallen und dort für ewig brennen?«

»Nein, Sir.«

»Was müssen Sie denn thun, um das zu vermeiden?«

Einen Augenblick überlegte ich meine Antwort; als sie kam, war gewiß viel gegen sie einzuwenden: »ich muß gesund bleiben und nicht sterben.«

»Wie können Sie denn gesund bleiben? Täglich sterben Kinder, die jünger sind, als Sie. Erst vor zwei oder drei Tagen habe ich ein kleines Kind von fünf Jahren begraben – ein gutes Kind, dessen Seele jetzt im Himmel ist. Es steht zu befürchten, daß man dasselbe nicht von Ihnen sagen könnte, wenn Sie aus diesem Leben abberufen würden.«

Da ich nicht in der Lage war, seine Zweifel zu beheben, schlug ich nur die Augen nieder und ließ sie auf den beiden [43] ungeheuerlichen Füßen ruhen, die sich in den Kaminteppich eingegraben hatten. Dann seufzte ich tief auf. Ich wünschte mich weit, weit fort.

»Ich hoffe, daß dieser Seufzer aus der Tiefe Ihres Herzens kommt und daß Sie bedauern, die Quelle so vieler Unannehmlichkeiten für Ihre ausgezeichnete Wohlthäterin gewesen zu sein.«

»Wohlthäterin! Wohlthäterin!« wiederholte ich innerlich. »Jedermann nennt Mrs. Reed eine Wohlthäterin; wenn sie das war, so ist eine Wohlthäterin eine sehr unangenehme Sache.«

»Sprechen Sie Abends und Morgens Ihr Gebet?« fuhr mein Examinator fort.

»Ja, Sir.«

»Lesen Sie Ihre Bibel?«

»Zuweilen.«

»Mit Freude? Lieben Sie Ihre Bibel?«

»Ich liebe die Offenbarung, und das Buch Daniel und Genesis und Samuel, und ein wenig vom Buch der Prediger und einen Teil der Könige und der Chronik, und Hiob und Ruth.«

»Und die Psalmen? Ich hoffe, Sie lieben sie auch?«

»Nein, Sir.«

»Nein? o, entsetzlich! Ich habe einen kleinen Knaben, viel jünger als Sie, der sechs Psalmen auswendig weiß. Und wenn Sie ihn fragen, ob er lieber eine Pfeffernuß zum essen, oder einen Vers aus den Psalmen zum auswendig lernen haben möchte, so sagt er: ›O, den Vers aus den Psalmen! Die Engel singen ja Psalmen,‹ sagt er, ›ich möchte schon hier auf Erden ein kleiner Engel sein‹, und dann bekommt er zum Lohn für seine kindliche Frömmigkeit zwei Pfeffernüsse.«

»Psalmen sind nicht interessant,« bemerkte ich.

»Das beweist, daß Sie ein bösartiges Herz haben und Sie müssen Gott bitten, daß er Ihnen ein besseres giebt, [44] ein neues, ein reines; daß er Ihnen Ihr Herz von Stein nimmt und Ihnen ein Herz von Fleisch giebt.«

Ich war gerade im Begriff, eine Frage in Bezug auf die Art und Weise zu thun, wie die Operation, mir ein neues Herz einzusetzen, vor sich gehen solle, als Mrs. Reed mich unterbrach, indem sie mir gebot, mich zu setzen, dann fuhr sie fort, selbst die Unterhaltung zu führen.

»Mr. Brocklehurst, ich glaube, daß ich in dem Briefe, welchen ich Ihnen vor ungefähr drei Wochen schrieb, schon angedeutet habe, daß dieses kleine Mädchen nicht ganz den Charakter und die Eigenschaften hat, welche mir wünschenswert erscheinen. Wenn Sie sie in die Schule von Lowood aufnehmen sollten, so würde ich Ihnen dankbar sein, wenn Sie die Vorsteherin und die Lehrer ersuchen wollten, ein scharfes Auge auf sie zu haben und vor allen Dingen, ihrem schlimmsten Fehler, einen Hang zur Lüge und Verstellung, entgegen zu arbeiten. Ich erwähne dieser Sache in deiner Gegenwart, Jane, damit du nicht versuchst, auch Mr. Brocklehurst täuschen zu wollen.«

Wohl war ich berechtigt, Mrs. Reed zu fürchten, eine tiefe Abneigung gegen sie zu hegen, denn es lag in ihrer Natur, mich stets aufs grausamste zu verletzen. Niemals fühlte ich mich glücklich in ihrer Gegenwart; wie sorgsam ich mich auch bemühte, ihr zu gefallen, ihr aufs Wort zu gehorchen – meine Anstrengungen wurden stets nur durch solche Redensarten wie die obigen belohnt. Und jetzt schnitt diese Beschuldigung, vor einem Fremden ausgesprochen, mir tief ins Herz. Ich sah genau, wie sie schon wieder jegliche Hoffnung aus der neuen Lebensphase, in welche ich einzutreten im Begriff war, verbannte; ich fühlte, obgleich ich für diese Empfindung keine Ausdrucksweise gefunden hätte, daß sie bemüht war, Abneigung und Unfreundlichkeit auf meinen künftigen Lebenspfad zu säen; ich sah, wie ich mich in Mr. Brocklehurst's Augen in ein verschlagenes, eigensinniges Kind verwandelte; – und was [45] konnte ich thun, um diesem gegen mich begangenen Unrecht abzuhelfen?

»Nichts, in der That!« dachte ich, als ich kämpfte, um ein Schluchzen zu unterdrücken und hastig einige Thränen, die ohnmächtigen Beweise meiner Herzensangst, abtrocknete.

»Verstellung ist in der That ein trauriger Charakterfehler bei einem Kinde,« sagte Mr. Brocklehurst, »ein Fehler, welcher mit der Falschheit und Lügenhaftigkeit nahe verwandt ist und alle Lügner werden ihren Anteil haben an dem See, in welchem Pech und Schwefel brennen; sie soll indessen sorgsam bewacht werden, Mrs. Reed; ich werde mit Miß Temple und den Lehrern und Lehrerinnen sprechen.«

»Ich wünsche, daß sie in einer Weise erzogen wird, welche mit ihren Lebensaussichten übereinstimmt,« fuhr meine Wohlthäterin fort, »sie soll sich nützlich machen und demütig bleiben. Die Ferien soll sie stets mit Ihrer Erlaubnis in Lowood bleiben.«

»Ihre Bestimmungen, Madame, sind durchaus vernünftig,« entgegnete Mr. Brocklehurst. »Die Demut ist ein Schmuck der Christen und einer, der ganz besonders für die Schülerinnen von Lowood passend ist; ich gebe daher die Weisung, daß ihrer Pflege eine besondere Sorgfalt gewidmet wird. Ich habe ein Studium darauf verwendet, zu ergründen, wie das weltliche Gefühl des Stolzes und des Hochmuts am besten in ihnen zu ersticken ist. Und vor wenigen Tagen erst hatte ich eine angenehme Probe meiner Erfolge. Meine zweite Tochter, Auguste, ging mit ihrer Mama, um die Schule zu besuchen und bei ihrer Rückkehr rief sie aus: ›O mein teurer Papa, wie ruhig und einfach all die Mädchen in Lowood aussehen! Mit ihrem Haar, das glatt hinter die Ohren gestrichen ist und ihren langen Schürzen und den kleinen Taschen, welche sie über ihren Kleidern tragen – sie sehen beinahe aus, wie die Kinder armer Leute! und,‹ fuhr sie fort, ›sie starrten Mamas und mein [46] Kleid an, als ob sie in ihrem ganzen Leben noch kein seidenes Kleid gesehen hätten.‹«

»Das ist eine Einrichtung der Dinge, welche meinen ungeteilten Beifall hat,« erwiderte Mrs. Reed, »wenn ich ganz England durchsucht hätte, so würde ich kein System gefunden haben, das für ein Kind, wie Jane Eyre es ist, so vollkommen gepaßt haben würde. Konsequenz und Festigkeit, mein lieber Mr. Brocklehurst, ich befürworte Konsequenz in allen Dingen!«

»Konsequenz, Madame, ist die erste der christlichen Pflichten, und sie wird in dem Etablissement von Lowood bei jeder Anordnung in erster Linie berücksichtigt, einfache Kost, einfache Kleidung, einfache Einrichtungen, fleißige Gewohnheiten – das ist die Tagesordnung für das Haus und seine Bewohner.«

»Ganz in der Ordnung, Sir. Ich kann mich also darauf verlassen, daß dieses Kind als Schülerin in Lowood aufgenommen und dort ihrer Stellung und ihren Lebensaussichten angemessen erzogen wird?«

»Ja, Madame, das können Sie. Sie soll an jene Pflegestätte auserlesener Pflanzen versetzt werden – und ich hoffe, daß sie sich dankbar zeigen wird für das unschätzbare Privilegium, welches ihr dadurch zu Teil wird.«

»Ich werde sie also so bald wie möglich schicken, Mr. Brocklehurst, denn ich versichere Sie, ich hege das innigste Verlangen, so schnell wie irgend thunlich von einer Verantwortlichkeit befreit zu werden, welche mir endlich zu lästig geworden ist.«

»Ohne Zweifel, Madame, ohne Zweifel und jetzt will ich Ihnen guten Morgen wünschen. In ungefähr zwei bis drei Wochen werde ich nach Brocklehurst-Hall zurückkehren; mein guter Freund, der Erzbischof, wird mir kaum erlauben, ihn früher zu verlassen. Übrigens werde ich Miß Temple ankündigen, daß sie ein neues Mädchen zu [47] erwarten hat, damit bei ihrem Eintritt keine Schwierigkeiten entstehen. Leben Sie wohl.«

»Leben Sie wohl, Mr. Brocklehurst; machen Sie Mrs. und Miß Brocklehurst und Augusta und Theodora und Ihrem Sohn Broughton Brocklehurst meine Empfehlungen.«

»Das werde ich thun, Madame. Mein kleines Mädchen, hier ist ein Buch mit dem Titel: ›Des Kindes Führer‹; lesen Sie es mit Gebeten, besonders jenen Teil, welcher von dem fürchterlichen, plötzlichen Tode Marta G.s handelt, einem unartigen Kinde, welches der Falschheit und Lüge ergeben war.«

Mit diesen Worten legte Mr. Brocklehurst ein Pamphlet, welches sorgsam in einen Umschlag genäht war, in meine Hand; dann ließ er seinen Wagen vorfahren und entfernte sich.

Mrs. Reed und ich blieben allein; mehre Minuten verharrten wir im Schweigen; sie nähte, ich beobachtete sie. Mrs. Reed mochte zu jener Zeit ungefähr sechs- oder siebenunddreißig Jahre alt sein; sie war eine Frau von robuster Gestalt, breiten Schultern und starken Knochen, nicht schlank und obgleich üppig, nicht zu fett. Sie hatte ein ziemlich großes Gesicht, der Unterkiefer war hervortretend und stark entwickelt; ihre Stirn war niedrig, das Kinn breit, Mund und Nase waren ziemlich regelmäßig; unter ihren farblosen Augenbrauen blitzte ein Auge, das wenig Herzensgüte verriet; ihre Haut war dunkel und matt, das Haar flachsblond; ihre Konstitution war fest und gesund – eine Krankheit nahte sich ihr niemals. Sie war eine strenge, pünktliche Hausfrau, der Haushalt und die Dienerschaft standen vollständig unter ihrer Kontrolle; nur ihre Kinder trotzten zuweilen ihrer Autorität und verlachten sie höhnisch; sie kleidete sich hübsch und verstand es, eine schöne Toilette mit Anstand zu tragen.

Wenige Schritte von ihrem Lehnstuhl entfernt saß ich auf einem niedrigen Schemel und ließ meine Blicke prüfend [48] auf ihrer Figur und ihren Gesichtszügen ruhen. In der Hand hielt ich das Traktätchen, welches von dem plötzlichen Tode der Lügnerin handelte; meine Aufmerksamkeit war ganz besonders auf diese Erzählung gelenkt, weil sie eine passende Warnung für mich enthalten sollte. Noch war meine Seele wund und schmerzhaft von dem, was soeben geschehen war, was Mrs. Reed in Bezug auf mich mit Mr. Brocklehurst gesprochen, von dem ganzen Inhalt ihres Gesprächs. Ich hatte jedes Wort ebenso klar empfunden wie ich es gehört, und das leidenschaftlichste Rachegefühl begann sich in mir zu regen.

Mrs. Reed blickte von ihrer Arbeit auf; ihr Auge bohrte sich in das meine, ihre Finger hielten in ihrer geschäftigen Bewegung inne.

»Verlaß das Zimmer! Geh wieder in die Kinderstube zurück!« In meinem Blicke oder in meinen Bewegungen mußte sie etwas herausforderndes gesehen haben, denn sie sprach in heftigster, wenn auch unterdrückter Bewegung. Ich stand auf; ich ging an die Thür; ich kam wieder zurück; dann ging ich an das Fenster, durch das Zimmer, dicht an ihren Lehnstuhl.

Sprechen mußte ich, man hatte mich zu schmerzhaft verletzt, ich mußte mich auflehnen, doch wie? Welche Mittel hatte ich denn, um meine Gegnerin wirksam zu treffen? Ich faßte meinen ganzen Mut, meine ganze Energie zusammen und schleuderte ihr folgende Worte ins Gesicht:

»Ich bin nicht falsch, nicht lügnerisch, wäre ich es, so würde ich sagen, daß ich dich liebe, aber ich erkläre dir, daß ich dich nicht liebe, ich hasse dich mehr als irgend jemanden auf der ganzen Welt, John Reed ausgenommen, und dieses Buch hier mit der Geschichte einer Lügnerin, das kannst du deiner Tochter Georgiana geben, denn sie ist es, die dich und alle anderen belügt, nicht ich.«

Mrs. Reeds Hände ruhten unthätig auf ihrer Arbeit; ihr eisiges Auge bohrte sich erstarrend in das meine:

[49] »Hast du sonst noch etwas zu sagen?« fragte sie mich in jenem Tone, den man wohl Erwachsenen gegenüber, niemals aber im Gespräch mit einem Kinde anzuwenden pflegt.

Ihre Augen, ihre Stimme wühlten all den Haß, der in mir lebte, auf. Von Kopf bis zu Fuße bebend, von einer Erregung geschüttelt, deren ich nicht mehr Herr werden konnte, fuhr ich fort:

»Ich bin glücklich, daß Sie nicht meine Blutsverwandte sind. Niemals, so lange ich lebe, werde ich Sie wieder Tante nennen. Niemals, selbst wenn ich erwachsen bin, werde ich kommen, um Sie zu besuchen, und wenn irgend jemand mich fragen sollte, ob ich Sie liebe und wie Sie mich behandelt haben, so werde ich antworten, daß der Gedanke an Sie allein schon genügt, um mich todkrank zu machen, und daß Sie mich mit elender Grausamkeit behandelt haben.«

»Wie kannst du es wagen, Jane Eyre, das zu behaupten?«

»Wie ich es wagen kann, Mrs. Reed? Wie ich es wagen kann? Weil es die Wahrheit ist. Sie glauben, daß ich kein Gefühl habe, daß ich ohne die geringste Liebe und Güte leben kann, aber so kann ichnicht leben – – und Sie kennen kein Mitleid, kein Erbarmen. Ich werde niemals vergessen, wie Sie mich heftig und rauh in das rote Zimmer zurückstießen und mich dann einschlossen – bis zu meiner Sterbestunde werde ich es nicht vergessen. Obgleich die Todesangst mich verzehrte, obgleich ich vor Jammer und Entsetzen fast erstickend aus allen Kräften schrie und flehte: ›Hab Erbarmen, Tante Reed! Hab Erbarmen!‹ Und diese Strafe ließen Sie mich erdulden, weil Ihr boshafter, schlechter Sohn mich schlug – mich ohne Grund und Ursache zu Boden schlug. Und diese Geschichte – gerade so, wie ich sie jetzt erzähle – werde ich jedem erzählen, der mich frägt. Die Leute glauben, daß Sie eine gute Frau sind, aber Sie sind schlecht! Sie sind hartherzig! Sie sind lügnerisch und falsch!«

[50] Ehe ich noch mit dieser Antwort zu Ende war, begann ein seltsam glückseliges Gefühl der Freiheit, des Triumphes sich meiner Seele zu bemächtigen. So hatte ich noch niemals empfunden. Es war als wenn unsichtbare Fesseln und Bande plötzlich zerrissen wären, und ich mir endlich den Weg zur unverhofften Freiheit erkämpft hätte. Und dieses Gefühl kam nicht ohne Veranlassung über mich, denn – Mrs. Reed schien erschrocken und furchtsam; die Arbeit war von ihrem Schoße gefallen, sie erhob die Hände und wiegte sich hin und her, ihr Gesicht verzerrte sich, als wolle sie anfangen zu weinen.

»Jane, du irrst, du irrst dich, Kind! Was ist mit dir vorgegangen? Weshalb zitterst du so heftig? Möchtest du einen Schluck Wasser trinken?«

»Nein, Mrs. Reed.«

»Möchtest du irgend etwas anderes, Jane? Du kannst mir glauben, ich wünsche nichts anderes, als dir eine Freundin zu sein.«

»Nein, das ist nicht wahr. Sie haben Mr. Brocklehurst gesagt, daß ich einen lügnerischen, bösen und falschen Charakter habe. Aber ich werde jedem Menschen in Lowood erzählen, was Sie sind, und was Sie gethan haben! Das schwöre ich Ihnen.«

»Jane, du verstehst solche Dinge nicht. Kinder müssen von ihren Fehlern geheilt werden.«

»Falschheit ist aber nicht mein Fehler!« schrie ich mit lauter, wilder, gellender Stimme.

»Aber du bist leidenschaftlich und heftig, Jane, das mußt du zugeben. Und jetzt geh wieder in die Kinderstube – so – das ist ein gutes, liebes Kind! – Geh und ruh dich ein wenig aus.«

»Ich bin nicht Ihr gutes, liebes Kind! Ich kann mich nicht ausruhen! Schicken Sie mich bald in die Erziehungsanstalt, Mrs. Reed, denn das Leben hier ist mir unerträglich und verhaßt geworden.«

[51] »Wahrhaftig, ich will sie bald in die Schule schicken,« murmelte Mrs. Reed, sotto voce. Dann raffte sie ihre Arbeit zusammen und verließ hastig das Zimmer.

Ich blieb nun allein, ich behauptete das Schlachtfeld. Es war der erbittertste Kampf, den ich jemals gekämpft, und der erste Sieg, den ich je errungen. Einige Augenblicke stand ich vor dem Kamin auf derselben Stelle, wo Mr. Brocklehurst gestanden, und genoß die Einsamkeit des Sieges! Zuerst lächelte ich still vor mich hin und fühlte mich gehoben; aber diese trotzige Freude schwand dahin in demselben Maße, wie das beschleunigte Tempo meines Pulsschlags nachließ. Ein Kind kann nicht mit älteren Leuten streiten, wie ich es gethan – kann seinen unbemeisterten Gefühlen nicht ungehindert Ausdruck verleihen, wie es soeben von mir geschehen – ohne daß es nachher die Qualen der Gewissensbisse, den Schauder der Reaktion empfindet. Ein Streifen brennenden Heidelandes, glühend, tobend, verzehrend – das wäre eine passende Verbildlichung meines Gemüts gewesen als ich Mrs. Reed anklagte und bedrohte. Und dasselbe Heideland, schwarz und versengt, nachdem die Flammen erloschen, würde ebenso treffend meinen späteren Gemütszustand versinnlicht haben, nachdem die Ruhe und das Nachdenken einer halben Stunde mir den Wahnsinn meines Vorgehens und die Trübseligkeit meiner verhaßten Lage und hassenden Stimmung vor Augen geführt hatte.

Zum erstenmal hatte ich die Süßigkeit der Rache empfunden; aromatischer Wein dünkte sie mich, der während des Trinkens süße und feurig ist; sein Nachgeschmack aber ist herbe und metallisch – so hatte ich das Gefühl, als ob ich vergiftet sei. Gern wäre ich gegangen, um Mrs. Reeds Verzeihung zu erbitten, aber ich wußte, teils aus Erfahrung, teils aus Instinkt, daß sie mich dann nur mit doppelter Verachtung zurückstoßen und dadurch jedes meiner Natur innewohnende heftige Gefühl aufs neue erwecken würde.

[52] Gern hätte ich eine andere mir innewohnende Fähigkeit geübt als die des heftigen, trotzigen Sprechens; gern hätte ich Nahrung für ein sanfteres Gefühl gefunden, als das der finsteren Empörung. Ich nahm ein Buch – es waren arabische Erzählungen; ich setzte mich und war bemüht zu lesen. Ich konnte den Sinn des Ganzen nicht verstehen; meine eigenen Gedanken schwebten fortwährend zwischen mir und den Zeilen, die mich sonst stets gefesselt hatten. Ich öffnete die Glasthür, welche aus dem Frühstückszimmer in den Garten führte; die jungen Anpflanzungen lagen so still da; der düstere Frost, weder durch Sonne noch Wind gestört, hatte sein Reich im Garten aufgeschlagen. Ich bedeckte meinen Kopf und meine Arme mit dem Rock meines Kleides und ging hinaus, um in einem abgeschiedenen Teil des Parks zu spazieren – aber ich fand keine Freude an den stillen, bewegungslosen Bäumen, den herabfallenden Tannenzapfen, den erstarrten Reliquien des Herbstes, den braunen, welken Blättern, welche der Wind in Haufen zusammen gefegt und der Frost bewegungslos gemacht hatte. Ich lehnte mich gegen eine Pforte und blickte auf eine einsame Weide, auf welcher keine Schafe mehr grasten, wo das kurze Gras geschwärzt und welk und traurig aussah. Es war ein sehr grauer Tag; ein matter Himmel, der voll Schneewolken hing, wölbte sich über die Landschaft; dann und wann fielen einige Schneeflocken, die auf den hartgefrorenen Wegen und Büschen und Bäumen liegen blieben, ohne zu schmelzen.

Da stand ich, ein unglückliches Kind und flüsterte immer wieder: »Was soll ich thun? – Was soll ich thun?«

Plötzlich hörte ich eine helle Stimme rufen: »Miß Jane! Wo sind Sie? Kommen Sie zum Gabelfrühstück herein!«

Ich wußte sehr wohl, daß es Bessie sei, aber ich rührte mich nicht von der Stelle; dann ertönte ihr leichter Schritt auf dem Gartenwege.

[53] »Sie unartiges, kleines Ding!« sagte sie. »Weshalb kommen Sie nicht, wenn man Sie ruft?«

Bessies Gegenwart war erheiternd im Vergleich zu den düsteren Gedanken, die meine Gesellschaft gewesen, selbst dann, wenn sie, wie gewöhnlich, etwas zornig war. Die Sache war nämlich die, daß ich mir nach meinem Konflikte mit Mrs. Reed und meinem Sieg über dieselbe nur noch sehr wenig aus dem vorübergehenden Zorn des Kindermädchens machte. Ich war vielmehr geneigt, mich in ihrer jugendlichen, beneidenswerten Leichtherzigkeit zu sonnen. So schlang ich denn meine beiden Arme um ihren Hals und sagte schmeichelnd: »Komm Bessie, schilt mich nicht!«

Diese Bewegung war natürlicher und furchtloser als irgend eine, die ich mir bis jetzt erlaubt hatte; sie mußte auch dem Mädchen gefallen.

»Sie sind ein sonderbares Kind, Miß Jane,« sagte sie, indem sie zu mir herabblickte, »ein kleines ruheloses, einsames Ding; also vermutlich wird man Sie jetzt in die Schule schicken?«

Ich nickte.

»Und wird es Ihnen nicht schwer, Ihre arme Bessie zu verlassen?«

»Was kümmert Bessie sich um mich? Sie schilt mich ja immer nur.«

»Weil Sie ein so furchtsames, scheues, sonderbares, kleines Ding sind. Sie sollten dreister sein.«

»Was? Um noch mehr Schläge zu bekommen?«

»Unsinn! Aber es ist wahr, es wird hart mit Ihnen umgegangen. Als meine Mutter mich vorige Woche besuchte, sagte sie, daß sie keins von ihren kleinen Kindern an Ihrer Stelle wissen möchte. – Aber kommen Sie jetzt nur herein, ich habe Ihnen etwas angenehmes zu erzählen!«

»Ach nein, Bessie, das hast du nicht.«

»Kind! Was fällt Ihnen denn ein? Mit welch traurigen Augen Sie mich ansehen! Nun, die gnädige Frau[54] und die jungen Damen und Master John fahren heute Nachmittag zum Thee aus, und Sie sollen mit mir Thee trinken. Ich werde die Köchin bitten, daß sie Ihnen einen kleinen Kuchen bäckt, und später sollen Sie mir helfen, Ihre Schränke und Schiebladen durchzusehen; denn ich werde bald Ihren Koffer packen müssen. Die gnädige Frau hat beschlossen, daß Sie in ein bis zwei Tagen Gateshead verlassen sollen; Sie dürfen alle Spielsachen aussuchen, die Sie mitnehmen möchten.«

»Bessie, du mußt mir versprechen, mich nicht mehr zu schelten, so lange ich noch hier bin.«

»Nun, das will ich Ihnen versprechen! Aber nun müssen Sie auch ein gutes Kind sein und sich nicht mehr vor mir fürchten. Schrecken Sie nicht immer gleich auf, wenn ich einmal ein bißchen scharf spreche, das ist so ärgerlich!«

»Nein, ich glaube nicht, daß ich mich jemals wieder vor dir fürchten werde, Bessie; ich habe mich jetzt an dich gewöhnt, und gar bald werden andere Leute da sein, vor denen ich mich zu fürchten habe.«

»Wenn Sie sich vor ihnen fürchten, so werden die Leute Sie niemals lieb haben.«

»Wie du es thust, Bessie?«

»O, ich habe Sie lieb, Fräulein, ich glaube, ich halte mehr von Ihnen, als von all den anderen!«

»Aber du zeigst es mir nicht.«

»Sie kluges, kleines Ding! Sie sprechen mit einem Male ganz anders. Was macht Sie denn so mutig, so waghalsig?«

»Nun, ich werde ja bald weit von hier sein, und außerdem« – ich war im Begriff etwas von dem zu sagen, was zwischen Mrs. Reed und mir vorgefallen war, aber bald fühlte ich, daß es doch besser sei, über diesen Punkt Schweigen zu bewahren.

»Sie sind also froh, mich zu verlassen?«

»O gewiß nicht, Bessie; in der That, in diesem Augenblick thut es mir beinahe leid.«

[55] »In diesem Augenblick! und ›beinahe!‹ Wie ruhig die kleine Dame das sagt! Ich glaube wahrhaftig, wenn ich Sie in diesem Augenblick um einen Kuß bäte, so würden Sie ihn mir nicht geben. Sie würden dann sagen, beinahe lieber nicht.«

»Ich will dich küssen, und gern küssen; komm, biege deinen Kopf zu mir herunter.« Bessie neigte sich, wir umarmten uns, und ich folgte ihr ganz getröstet ins Haus. Dieser Nachmittag verging in Frieden und Eintracht, und am Abend erzählte Bessie mir einige ihrer bezauberndsten Geschichten und sang mir ihre süßesten Lieder vor. Sogar auf mein Leben fiel dann und wann ein Sonnenstrahl.

Fünftes Kapitel

Am Morgen des 19. Januar hatte es kaum fünf Uhr geschlagen, als Bessie ein Licht in meine kleine Kammer brachte und mich bereits außer dem Bette und halb angekleidet fand. Ich war schon eine halbe Stunde vor ihrem Eintritt aufgestanden, hatte mein Gesicht gewaschen und mich beim Scheine des grade untergehenden Mondes, der seine Strahlen durch das schmale Fensterchen neben meinem Bette warf, angekleidet. An diesem Tage sollte ich Gateshead mit einer Postkutsche verlassen, die um sechs Uhr morgens an dem Parkthor des Herrenhauses vorüberfuhr. Bessie war die einzige Person, die aufgestanden war; sie hatte in der Kinderstube ein Feuer im Kamin angezündet und bereitete jetzt mein Frühstück an demselben. Nur wenige Kinder vermögen zu essen, wenn sie von dem Gedanken an eine Reise beherrscht sind, und ich konnte es auch nicht. Umsonst bat Bessie mich, nur einige Löffel voll von dem Milch- und Brotbrei zu essen, den sie für mich bereitet hatte; ich weigerte mich hartnäckig; dann wickelte sie einige kleine Brötchen und Zwieback in ein Papier und schob es in meine Reisetasche. Darauf bekleidete sie mich mit Hut und Pelz, hüllte sich in ein dickes Tuch und verließ [56] mit mir die Kinderstube. Als wir an Mrs. Reeds Schlafzimmer vorüberkamen, sagte sie: »Wollen Sie hineingehen und Ihrer Tante Lebewohl sagen?«

»Nein, Bessie. Als du gestern zum Abendbrot in die Küche hinunter gegangen warst, kam sie an mein Bett und sagte, daß ich weder sie noch meine Cousinen heute morgen zu stören brauche, und dann ermahnte sie mich, nie zu vergessen, daß sie stets meine beste Freundin gewesen, und dankbar von ihr zu sprechen und an sie zu denken.«

»Was antworteten Sie darauf, Fräulein?«

»Nichts. Ich bedeckte mein Gesicht mit der Decke und wandte mich von ihr ab.«

»Das war nicht recht, Miß Jane.«

»Es war ganz recht, Bessie. Mrs. Reed ist niemals meine Freundin gewesen, sie war meine erbittertste Feindin.«

»O, Miß Jane, das dürfen Sie nicht sagen!«

»Lebewohl Gateshead!« rief ich, als wir durch die Halle gingen und durch die große Hausthür hinaustraten.

Der Mond war untergegangen und es war sehr dunkel. Bessie trug eine Laterne, deren Licht auf nasse Stufen und einen durch plötzlichen Thau aufgeweichten Kiesweg fiel. Feucht und rauh war dieser Wintermorgen, meine Zähne schlugen vor Kälte zusammen, als wir den Fahrweg hinuntereilten. Aus der Loge des Portiers glänzte ein Licht. Als wir näher kamen, sahen wir, daß die Pförtnersfrau gerade ein Feuer machte. Mein Koffer, welcher schon am Abend vorher hinuntergetragen war, stand mit Stricken geschnürt vor der Thür. Es fehlten nur noch wenige Minuten an sechs Uhr, und kurz nachdem die volle Stunde geschlagen hatte, verkündete das ferne Rollen der Räder das Nahen der Postkutsche. Ich ging an die Thür und beobachtete, wie die Laternen des Wagens schnell durch die Dunkelheit daher kamen.

»Fährt sie allein?« fragte die Portiersfrau.

»Ja.«

[57] »Und wie weit ist es von hier?«

»Fünfzig Meilen.«

»Welch weiter Weg! Mich wundert es nur, daß Mrs. Reed es wagt, sie die lange Strecke allein fahren zu lassen.«

Die Kutsche hielt an; da stand sie mit ihren vier Pferden und dem von Reisenden besetzten Dach vor der Thür; der Kutscher und der Kondukteur trieben laut zur Eile an; mein Koffer wurde hinauf gehißt; man zog mich von Bessie fort, deren Nacken ich umklammert hielt und die ich mit Küssen bedeckte.

»Daß Ihr nur gut acht auf das Kind gebt!« rief sie dem Kondukteur zu, der mich in das Innere des Wagens hob.

»Ja! Ja! Ja!« war seine Antwort. Die Thür wurde wieder zugeschlagen, eine Stimme rief »Fertig«, und vorwärts ging es. So trennte ich mich von Bessie und Gateshead – so rollte ich davon, unbekannten und wie ich damals glaubte, fernen und geheimnisvollen Regionen entgegen.

Von jener Reise erinnere ich mich nur noch an wenige Einzelheiten. Ich weiß nur noch, daß der Tag mir von einer unnatürlichen Länge erschien, und daß es mich dünkte, als ob die Landstraße, auf welcher wir dahinfuhren, hunderte von Meilen lang sei. Wir kamen durch verschiedene Städte, und in einer derselben, einer sehr großen, hielt die Kutsche an; die Pferde wurden ausgespannt und die Passagiere stiegen aus, um zu Mittag zu essen. Ich wurde in ein Wirtshaus geführt, wo der Kondukteur mich aufforderte, mich zum speisen hinzusetzen; da ich jedoch keinen Appetit hatte, ließ er mich in einem großen Zimmer allein, an dessen beiden Enden sich je ein Kamin befand; ein Kronleuchter hing von der Decke herab, und oben an der Wand war eine kleine, rote Galerie angebracht, auf der verschiedene musikalische Instrumente lagen. In diesem Gemach ging ich lange auf und ab; mir war gar seltsam zu Mute und ich hatte eine Todesangst, daß jemand hereinkommen könne, um mich zu [58] rauben und fortzuführen, denn ich glaubte an Kinderdiebe; ihre Thaten hatten in Bessies Kaminfeuererzählungen stets eine hervorragende Rolle gespielt. Endlich kam der Kondukteur zurück, noch einmal wurde ich in die Kutsche gepackt; mein Beschützer stieg auf seinen eigenen Sitz, ließ sein Horn erklingen, und fort rasselten wir über die steinigen Straßen von L.

Naß und nebelig kam der Nachmittag heran; als die Dämmerung hereinbrach, begann ich zu fühlen, daß wir in der That schon weit von Gateshead entfernt sein mußten; wir hörten auf, Städte zu passieren; die Landschaft veränderte sich; große, graue Hügel begannen den Horizont einzuschließen. Als es dunkler und dunkler wurde, fuhren wir in ein düsteres, dicht bewaldetes Thal hinab, und lange nachdem die Nacht sich herabgesenkt hatte und jede Aussicht unmöglich machte, hörte ich den wilden Sturm durch die Bäume rauschen.

Dieses Rauschen lullte mich ein, endlich schlief ich fest. Doch hatte ich noch nicht lange geschlummert, als das plötzliche Aufhören der Bewegung mich weckte. Der Schlag der Postkutsche war geöffnet und eine Person, die wie eine Dienerin gekleidet war, stand daneben. Beim Schein der Laterne sah ich ihr Gesicht und ihre Kleidung.

»Ist ein kleines Mädchen hier, welches Jane Eyre heißt?« fragte sie. Ich antwortete »ja«, und wurde dann herausgehoben; man setzte meinen Koffer ab, und augenblicklich fuhr der Postwagen weiter.

Ich war steif vom langen Sitzen und ganz betäubt vom Lärm und von der Bewegung der Kutsche; nachdem ich mich einigermaßen erholt hatte, blickte ich umher. Regen, Wind und Dunkelheit füllten die Luft; trotzdem unterschied ich eine Mauer vor mir und eine geöffnete Thür in derselben. Durch diese Thür schritt ich mit meiner neuen Führerin; sie verschloß dieselbe sorgsam hinter uns. Jetzt wurde ein Haus oder ein Komplex von Häusern sichtbar – denn [59] es war ein Gebäude von großer Ausdehnung – mit vielen, vielen Fenstern. Durch einige derselben fiel Lichterschein. Wir gingen einen breiten, mit Kies bestreuten Weg hinauf und wurden durch eine Thür in das Haus eingelassen, dann führte die Dienerin mich durch einen Korridor in ein Zimmer, wo ein helles Kaminfeuer brannte. Und nun blieb ich allein.

Ich stand und wärmte meine erstarrten Finger an der Glut, dann blickte ich umher. Es brannte kein Licht, aber bei dem unsicheren Schein des Kaminfeuers konnte ich tapezierte Wände, einen Teppich, Vorhänge und glänzende Mahagoni-Möbeln unterscheiden. Es war ein Wohnzimmer, zwar nicht so geräumig und prächtig wie der Salon in Gateshead-Hall, aber dennoch hübsch und gemütlich. Ich war grade damit beschäftigt, einen Kupferstich, welcher an der Wand hing, genau zu besichtigen, als die Thür geöffnet wurde und eine Gestalt eintrat, welche ein Licht in der Hand trug; eine zweite folgte ihr auf dem Fuße.

Die erste war eine schlanke Dame mit dunklem Haar, dunklen Augen und einer weißen, hohen Stirn; ihre Gestalt wurde zum Teil durch einen Shawl verhüllt; ihr Gesicht war ernst, ihre Haltung gerade.

»Das Kind scheint doch zu jung, um diese Reise allein zu machen,« sagte sie, indem sie das Licht auf den Tisch stellte. Mehrere Minuten betrachtete sie mich aufmerksam, dann fügte sie hinzu:

»Es wird gut sein, wenn sie bald zu Bette geht, sie steht so müde aus. Bist du müde?« fragte sie und legte ihre Hand auf meine Schulter.

»Ein wenig, Madame.«

»Und auch hungrig, ohne Zweifel. Sorgen Sie dafür, Miß Miller, daß sie etwas zu essen bekommt, bevor sie sich schlafen legt. Ist es das erste Mal, daß du deine Eltern verlassen hast, mein kleines Mädchen, um hier in die Anstalt zu kommen?«

[60] Ich erklärte ihr, daß ich keine Eltern habe. Sie fragte mich, wie lange sie schon tot seien; dann wie alt ich sei, wie ich heiße, ob ich lesen könne und auch schreiben und ein wenig nähen. Endlich berührte sie meine Wange sanft mit ihrem Zeigefinger und sagte, »sie hoffe, daß ich ein gutes Kind sein würde,« und dann schickte sie mich mit Miß Miller fort.

Die Dame, die ich soeben verlassen, mochte ungefähr neunundzwanzig Jahre alt sein. Die, welche mit mir ging, konnte um einige Jahre weniger zählen; die erstgenannte machte durch ihre Mienen, ihren Blick und ihre Stimme einen großen Eindruck auf mich. Miß Miller war von gewöhnlicherem Schlage, ihr Teint war gesund, obgleich ihre Züge die Spuren von Kummer und Sorgen trugen; sie war hastig in Gang und Bewegungen wie jemand, der fortwährend eine Menge der verschiedensten Dinge zu besorgen hat; in der That, man sah auf den ersten Blick, daß sie war, was ich späterhin erfuhr – eine Unterlehrerin. Von ihr geführt, ging ich von Zimmer zu Zimmer, von Korridor zu Korridor durch ein großes, unregelmäßiges Gebäude. Endlich hörte die vollständige und trübselige Stille des von uns durchschrittenen Teiles des Hauses auf, und bald schlug ein Gewirr von Stimmen an unser Ohr. Wir traten in ein großes, langes Zimmer, in welchem an jedem Ende zwei große, hölzerne Tische standen; auf diesen brannten zwei Kerzen und rund um dieselben saßen auf Bänken eine Menge von Mädchen jeden Alters, von neun, zehn bis zu zwanzig Jahren. In dem trüben Schein der Talgkerzen schien ihre Anzahl mir Legion, obgleich ihrer in Wirklichkeit nicht mehr als achtzig waren. Sie trugen sämtlich eine Uniform von braunen wollenen Kleidern nach ganz altmodischem Schnitt und lange, baumwollene Schürzen. Es war die Stunde, in welcher sie ihre Aufgaben für den morgenden Tag lernten und das Gesumme von Stimmen, welches ich zuerst vernommen, [61] war das vereinigte Resultat ihrer geflüsterten Repetitionen.

Miß Miller machte mir ein Zeichen, mich auf eine Bank nahe der Thür zu setzen; dann ging sie an das obere Ende des großen Zimmers und rief mit sehr lauter Stimme:

»Aufseherinnen, sammelt die Schulbücher zusammen und legt sie an ihren Platz!«

Augenblicklich erhoben sich vier große Mädchen von verschiedenen Tischen, nahmen die Bücher zusammen und legten sie fort. Von neuem ertönte Miß Millers tönendes Kommandowort:

»Aufseherinnen, holt die Bretter mit dem Abendessen!«

Die großen Mädchen gingen hinaus und kehrten augenblicklich zurück. Jede trug ein großes Präsentierbrett mit Portionen von irgend welchem Essen – ich konnte nicht unterscheiden, was es war – und in der Mitte eines jeden solchen Brettes stand ein Krug mit Wasser und ein Becher. Die Portionen wurden umher gereicht, wer wollte, konnte auch einen Schluck Wasser trinken, der Becher war für alle gemeinsam bestimmt. Als die Reihe an mich kam, trank ich, denn ich war durstig; die konsistentere Nahrung ließ ich unberührt. Aufregung und Ermüdung machten es mir unmöglich zu essen, indessen sah ich jetzt, daß es ein dünner Kuchen von Hafermehl war, der in Stücke geschnitten worden.

Als die Mahlzeit vorüber war, las Miß Miller das Abendgebet vor, und die Klassen gingen in Reihen von zwei und zwei nach oben. Jetzt hatte die Müdigkeit mich vollständig überwältigt, ich bemerkte kaum, welche Art von Aufenthaltsort das Schlafzimmer eigentlich war; ich sah nur, daß es ebenso lang war wie das Schulzimmer. Diese Nacht mußte ich das Bett mit Miß Miller teilen, sie half mir beim entkleiden. Als ich mich niederlegte, blickte ich auf die lange Reihe von Betten, von denen jedes schnell [62] mit zwei Teilhabern sich füllte, nach zehn Minuten wurde das einzige Licht ausgelöscht. Stille und vollständige Dunkelheit herrschten; ich schlief ein.

Die Nacht verstrich schnell. Ich war sogar zu müde und abgespannt, um träumen zu können. Nur einmal erwachte ich und vernahm, wie der Wind in wütenden Stößen durch die Bäume brauste. Der Regen fiel in Strömen. Jetzt gewahrte ich auch, daß Miß Miller ihren Platz an meiner Seite eingenommen hatte. Als ich die Augen wieder öffnete, schlug der laute Ton einer Glocke an mein Ohr. Die Mädchen waren bereits aufgestanden und kleideten sich an; der Tag war noch nicht angebrochen, und ein oder zwei Lichter brannten im Zimmer. Widerwillig erhob auch ich mich, es war bitter kalt, und ich kleidete mich an so gut wie ich es vor Kälte bebend vermochte. Als eine Waschschüssel frei geworden war, wusch ich mich. Allerdings mußte ich lange auf diese glückliche Fügung warten, denn auf den Waschtischen, welche durch die Mitte des Zimmers entlang standen, befand sich nur immer eine Schüssel für je sechs Mädchen. Wieder ertönte die Glocke. Alle traten wie am vorigen Abend zwei und zwei in die Kolonne, und in dieser Ordnung gingen sie die Treppe hinunter. Sie traten in das trübe erhellte und kalte Schulzimmer; hier las Miß Miller das Morgengebet vor; dann rief sie laut:

»Bildet die Klassen!«

Hierauf folgte ein großer Tumult, der einige Minuten anhielt. Inzwischen rief Miß Miller zu wiederholten Malen: »Ruhe!« und »Ordnung!« Als diese endlich eingetreten, sah ich, daß alle sich in vier Halbkreisen vor vier Stühlen aufgestellt hatten, welche vor vier Tischen standen. Alle hielten Bücher in den Händen und ein großes Buch, einer Bibel ähnlich, lag auf jedem Tisch vor dem leeren Stuhl. Nun entstand eine minutenlange Pause, während welcher man nichts vernahm, als das leise Gemurmel von [63] Zahlen. Miß Miller ging von Klasse zu Klasse und machte diese unbestimmten Laute verstummen.

Aus der Ferne ertönte eine Glocke. Gleich darauf traten drei Damen ins Zimmer. Jede derselben ging an einen der Tische und nahm ihren Platz ein. Miß Miller nahm den vierten Stuhl, welcher der Thür am nächsten stand und um den die kleinsten Kinder sich versammelt hatten; dieser letzten Klasse wurde auch ich zugewiesen und zwar als letzte in derselben.

Jetzt begann die Arbeit. Die Kollekte des Tages wurde wiederholt, dann wurden mehre Texte aus der heiligen Schrift hergesagt, und endlich folgte das Lesen von Kapiteln aus der Bibel, welches eine ganze Stunde dauerte. Als wir mit dieser Übung zu Ende gelangt, war der Tag vollständig angebrochen. Die unermüdliche Glocke ertönte jetzt zum viertenmal. Die Klassen sammelten sich und marschierten in ein anderes Zimmer, wo das Frühstück eingenommen wurde. Wie froh war ich bei der Aussicht, jetzt endlich etwas zu essen zu bekommen. Der Hunger hatte mich beinahe schon krank gemacht, denn Tags zuvor hatte ich fast gar keine Nahrung zu mir genommen.

Das Refektorium war ein großes, niedriges, düsteres Gemach. Auf zwei langen Tischen dampfte etwas Heißes in kleinen Näpfen, das indessen zu meiner größten Enttäuschung einen Geruch ausströmte, der nichts weniger als einladend war. Als der Dampf dieser Mahlzeit in die Geruchsorgane derjenigen drang, welche bestimmt waren, selbige zu vertilgen, bemerkte ich eine allgemeine Kundgebung der Unzufriedenheit. Aus dem Nachtrab der Prozession, den die großen Mädchen der ersten Klasse bildeten, hörte man die geflüsterten Worte:

»Ekelhaft! Der Haferbrei ist schon wieder angebrannt!«

»Ruhe!« gebot eine Stimme. Es war nicht diejenige Miß Millers, sondern sie gehörte einer der Oberlehrerinnen, einer kleinen dunklen Person, die hübsch gekleidet war, hingegen [64] sehr mürrisch und unangenehm aussah. Diese nahm an dem oberen Ende an einem der Tische Platz, während eine behäbigere Dame an dem anderen präsidierte. Umsonst hielt ich Umschau nach der Gestalt, welche ich am ersten Abend gesehen hatte, sie war nicht sichtbar. Miß Miller hatte am unteren Ende des Tisches Platz genommen, an welchem ich saß und eine seltsam fremdartig aussehende, ältliche Dame – die französische Lehrerin – wie ich später erfuhr – nahm denselben Platz am nächsten Tische ein. Ein langes Gebet wurde gesprochen, eine Hymne gesungen, dann brachte eine Dienerin den Thee für die Lehrerinnen herein und die Mahlzeit nahm ihren Anfang.

Vollständig ausgehungert und ermattet verschlang ich mehrere Löffel voll von meiner Portion, ohne an den Geschmack zu denken; als aber der erste, quälende Hunger gestillt war, bemerkte ich, daß ein übelriechendes Gemisch vor mir stand. Angebrannter Haferbrei ist beinahe ebenso abscheulich wie verfaulte Kartoffeln; selbst die Hungersnot schreckt davor zurück. Die Löffel wurden ganz langsam in Bewegung gesetzt, ich sah, wie jedes Mädchen die ihr vorgesetzte Nahrung kostete und versuchte, sie hinunterzuschlucken, aber in den meisten Fällen wurden diese Bemühungen aufgegeben. Das Frühstück war vorüber und niemand hatte gefrühstückt. Wir sprachen das Dankgebet für etwas, was wir gar nicht bekommen hatten, und nachdem eine zweite Hymne abgesungen worden, leerte das Refektorium sich und wir begaben uns in das Schulzimmer. Ich war eine der letzten, die hinausging und als ich die Tische passierte, sah ich, wie eine der Lehrerinnen einen Napf mit Haferbrei nahm, um den Inhalt desselben zu kosten; sie blickte die anderen an; die sämtlichen Gesichter drückten Entrüstung aus, und eine der Damen, die behäbige, flüsterte:

»Abscheulicher Mischmasch! Das ist empörend!«

Eine Viertelstunde verging, bevor die Stunden wieder begannen. Während dieser Zeit herrschte in dem Schulzimmer [65] ein glorreicher Aufstand! In dieser Viertelstunde schien es nämlich erlaubt, frei und laut zu sprechen; und die Mädchen machten den umfassendsten Gebrauch von diesem Privilegium. Die ganze Konversation drehte sich um das Frühstück, auf das eine und alle ungeniert schalten. Die armen Dinger! Es war der einzige Trost, den sie hatten! Außer Miß Miller war keine andere Lehrerin im Zimmer. Einige der erwachsenen Mädchen bildeten eine Gruppe um sie und sprachen mit ernsten, trotzigen Geberden. Ich hörte von einigen Lippen den Namen Mr. Brocklehursts. Miß Miller schüttelte mißbilligend den Kopf, aber sie machte keine großen Anstrengungen, um die allgemeine Wut und Empörung zu dämpfen; ohne Zweifel teilte sie dieselbe.

Eine Uhr im Schulzimmer schlug die neunte Stunde. Miß Miller verließ den Kreis, welcher sich um sie gebildet hatte, trat in die Mitte des Zimmers und rief mit lauter Stimme:

»Ruhe! Auf die Plätze!«

Die Disziplin trug den Sieg davon. Nach fünf Minuten war Ordnung in die wirre Menge gekommen, und verhältnismäßige Ruhe folgte auf die Sprachenverwirrung von Babel. Die Oberlehrerinnen nahmen jetzt pünktlich ihre Posten ein, und doch schienen alle noch auf irgend etwas zu warten. Auf den Bänken, welche sich an den Seiten des Zimmers entlang zogen, saßen achtzig Mädchen bewegungslos und kerzengerade; eine seltsame Versammlung in der That – allen war das Haar glatt aus der Stirn gekämmt, nicht eine Locke war sichtbar – in ihren braunen Kleidern, die bis an den Hals reichten und oben mit einer schmalen Rüsche abschlossen – mit kleinen Taschen aus baumwollenem Stoffe, (ungefähr so geformt wie die Säcke der Hochländer) die an der Vorderseite des Kleides befestigt waren und den Zweck hatten als Arbeitstasche zu dienen – dazu die wollenen Strümpfe und die einfach gearbeiteten [66] Schuhe, welche mit Messingschnallen befestigt waren – ja, in der That, eine seltsame Versammlung! – Ungefähr zwanzig der auf diese Weise gekleideten Mädchen waren erwachsen oder eigentlich schon über die allererste Jugend hinaus; das Kostüm kleidete sie schlecht und gab selbst der hübschesten unter ihnen ein sonderbar abstoßendes Aussehen.

Ich betrachtete sie noch, und dann und wann auch die Lehrerinnen, von denen keine einzige mir besonders gefiel, denn die Behäbige hatte etwas gewöhnliches, die Dunkle sah sehr trotzig aus, die Fremde heftig und grotesk und Miß Miller, das arme Ding, sah blaurot und abgehärmt und überarbeitet aus – da plötzlich, als meine Blicke noch von einem Gesicht zum anderen wanderten, erhob die ganze Schule sich gleichzeitig und wie auf Kommando, als hätte eine einzige Sprungfeder sie alle in die Höhe geschnellt.

Was war denn geschehen? Ich hatte keinen Befehl vernommen – ich war ganz bestürzt. Bevor ich mich noch gesammelt und orientiert hatte, saßen die Klassen schon wieder. Da sich jetzt aber alle Blicke aufeinen Punkt richteten, so folgten auch die meinen jener Richtung – und fielen auf die Dame, welche mich am vorhergehenden Abend empfangen hatte. Sie stand am Kamin, am unteren Ende des Zimmers, an jedem Ende desselben befand sich nämlich ein Kaminfeuer. Ernst und ruhig musterte sie die beiden Reihen der Mädchen. Miß Miller näherte sich ihr und schien eine Frage zu thun. Nachdem sie die Antwort erhalten, ging sie an ihren Platz zurück und sagte laut:

»Aufseherin der ersten Klasse, gehen Sie und holen Sie den Globus.«

Während diese Weisung befolgt wurde, ging die Dame, welche befragt worden war, langsam durch das Zimmer. Ich glaube, mein Organ der Ehrerbietung muß stark entwickelt sein, denn noch heute erinnere ich mich des Gefühls von staunender Bewunderung, mit welchem ich ihren [67] Schritten folgte. Jetzt im hellen Tageslicht sah sie schlank, groß und stattlich aus. Braune Augen mit wohlwollendem, klarem Blick und fein gezeichnete Wimpern, welche sie umgaben, hoben die schneeige Weiße ihrer Stirn noch besonders hervor. Nach der Mode jener Zeit, wo weder glatte Scheitel, noch lange Schmachtlocken en vogue waren, trug sie ihr schönes, dunkelbraunes Haar in kurzen, dicken Locken an den Schläfen zusammengefaßt. Ihre Kleidung, ebenfalls nach der Mode des Tages, bestand aus dunkel-violettem Tuch mit einer Art von spanischem Besatz aus schwarzem Sammet. Eine goldene Uhr (Uhren wurden in jenen Tagen noch nicht allgemein getragen) hing an ihrem Gürtel. Um das Bild vollständig zu machen, muß der Leser sich noch feine, vornehme Züge hinzudenken, eine bleiche, aber klare Gesichtsfarbe, eine stattliche Haltung und Gestalt – und dann hat er, so deutlich wie Worte ihn zu geben vermögen, einen richtigen Begriff von dem Äußeren der Miß Temple – Maria Temple, wie ich später einmal in einem Gebetbuche las, welches mir anvertraut wurde, um es in die Kirche zu tragen.

Die Oberin oder Vorsteherin von Lowood (denn dieses Amt bekleidete die Dame) nahm ihren Sitz vor einem Globus ein, der auf einem der Tische stand, rief die erste Klasse auf, sich um sie zu sammeln, und begann dann, eine Unterrichtsstunde in Geographie zu geben. Die niederen Klassen wurden von den Lehrerinnen aufgerufen: Repetitionen in der Weltgeschichte, Grammatik u.s.w. Dies dauerte eine Stunde. Dann folgte Arithmetik und Schreibunterricht, und Miß Temple gab einigen der größeren Mädchen Musikstunde. Die Dauer jeder Unterrichtsstunde wurde nach der Uhr bemessen. Endlich schlug es zwölf. Die Vorsteherin erhob sich:

»Ich habe einige Worte an die Schülerinnen zu richten,« sagte sie.

Der Tumult, welcher stets nach Beendigung der Schulstunden [68] einzutreten pflegt, hatte sich bereits erhoben, aber er legte sich sofort beim Klange ihrer Stimme. Sie fuhr fort:

»Ihr habt heute morgen ein Frühstück gehabt, welches ihr nicht essen konntet, ihr müßt hungrig sein – ich habe befohlen, daß für euch alle ein Gabelfrühstück von Brot und Käse aufgetragen wird.«

Die Lehrerinnen richteten Blicke auf sie, welche das größte Erstaunen verrieten.

»Es soll auf meine Verantwortung geschehen,« fügte sie hinzu, gewissermaßen in einem erklärenden Tone für die Damen; gleich darauf verließ sie das Zimmer.

Brot und Käse wurden alsbald hereingebracht und verteilt, zum größten Ergötzen und zur höchsten Befriedigung der ganzen Schule. Und nun erging die Ordre: »In den Garten!« Jede Schülerin setzte einen groben, häßlichen Strohhut mit Bändern von buntem Kaliko auf und band einen Mantel von grauem Fries um. Ich wurde in gleicher Weise equipiert, und dem Strome folgend machte ich meinen Weg in die frische Luft hinaus.

Der Garten war ein weiter Plan, der mit so hohen Mauern umgeben war, daß er jeden Blick in die Außenwelt unmöglich machte; eine überdachte Veranda zog sich an der einen Seite entlang, und breite Kieswege umschlossen einen Mittelraum, der in unzählige, kleine Beete abgeteilt war. Diese Beete waren den Schülerinnen zum Bebauen und zur Pflege übergeben, und jedes Beet hatte eine Besitzerin. Ohne Zweifel waren sie sehr hübsch, wenn sie mit blühenden Blumen bedeckt waren, aber jetzt gegen Ende des Monats Januar boten sie dem Auge nur ein Bild der winterlichen Zerstörung und des traurigen Verfalls. Es durchschauerte mich, als ich so dastand und umherblickte. Der Tag war der Bewegung im Freien durchaus nicht günstig, es war kein ordentlicher Regen, der alles durchnäßte, sondern ein dicker, gelber, herabrieselnder Nebel. [69] Der Boden unter unseren Füßen war durch den gestrigen Regen noch gänzlich durchweicht. Die kräftigeren unter den Mädchen liefen umher und belustigten sich mit fröhlichen Spielen: aber unter der Veranda stand eine ganze Schar bleicher, magerer Gestalten, die ängstlich zusammenkrochen, als suchten sie hier Schutz und Wärme. Oft ertönte aus ihrer Mitte, als der dichte Nebel ihnen fast bis auf die Haut drang, ein hohler, böses verkündender Husten.

Bis jetzt hatte ich noch mit niemand gesprochen und niemand schien mir sonderliche Beachtung zu schenken, ganz einsam stand ich da; aber an dieses Gefühl der Vereinsamung war ich ja gewöhnt, es bedrückte mich nicht mehr als sonst. Ich lehnte mich gegen einen Pfeiler der Veranda, zog meinen grauen Mantel fest um mich zusammen und indem ich versuchte, die Kälte, die mich von außen schmerzte, und den unbefriedigten Hunger, der von innen an mir nagte, zu vergessen, gab ich mich ganz der Beschäftigung hin, zu beobachten und nachzudenken. Meine Reflexionen waren zu unbestimmt und zu fragmentarisch, als daß sie einer Erwähnung verdienten. Ich wußte noch kaum, wo ich mich eigentlich befand. Gateshead und mein bisheriges Leben schienen in einer unermeßlichen Ferne zu verschwinden, die Gegenwart war seltsam und vag und von der Zukunft wagte ich nicht, mir irgend ein Bild zu machen. Ich blickte in dem klösterlichen Garten umher, dann zum Hause hinauf. Es war ein großes Gebäude, dessen eine Hälfte grau und alt erschien, während die andere ganz neu war. Dieser neue Teil, welcher das Schulzimmer und den Schlafsaal enthielt, hatte vergitterte Bogenfenster, die ihm ein kirchenähnliches Aussehen gaben. Eine steinerne Tafel oberhalb der Thür trug die Inschrift:

»Institut von Lowood. – Dieser Teil des Hauses wurde wieder erbaut an. dom ... durch Naomi Brocklehurst von Brocklehurst-Hall in dieser Grafschaft.«

»Lasset euer Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure [70] guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.« Ev. Matthäi, 16.

Wieder und wieder las ich diese Worte. Ich fühlte, daß sie noch eine Erklärung haben mußten, und war außer stande, ihren ganzen Inhalt zu erfassen. Noch dachte ich über die Bedeutung des Wortes »Institut« nach und bemühte mich, einen Zusammenhang zwischen den ersten Worten und dem Bibelvers zu finden, als ein hohler Husten hinter mir mich veranlaßte, den Kopf zu wenden.

Ich sah ein Mädchen auf einer nahen Steinbank sitzen, sie war über ein Buch gebeugt, dessen Inhalt sie vollständig zu fesseln schien. Von der Stelle aus, wo ich stand, konnte ich den Titel lesen – es war »Rasselas«, ein Name, der mich seltsam dünkte und mich infolgedessen fesselte. Als sie ein Blatt umwandte, blickte sie zufällig auf, und sogleich sagte ich:

»Ist dein Buch interessant?« Ich hatte bereits den Entschluß gefaßt, sie eines Tages zu bitten, daß sie es mir leihen möge.

»Mir gefällt es,« sagte sie nach einer Pause von einigen Sekunden, während welcher sie mich angeblickt.

»Wovon handelt es denn?« fuhr ich fort. Noch weiß ich kaum, woher ich den Mut nahm, in dieser Weise eine Konversation mit einer gänzlich Unbekannten anzufangen, – es war so gänzlich meiner sonstigen Gewohnheit und meiner Natur entgegen, aber ich glaube, daß ihre Beschäftigung irgend eine sympathische Seite in mir berührt hatte, denn auch ich liebte die Lektüre, obgleich die meine stets kindisch und nichtssagend gewesen war; die schwere und ernste konnte ich weder verstehen noch verdauen.

»Du darfst es dir ansehen,« sagte das Mädchen und gab mir das Buch.

Das that ich. Eine kurze Besichtigung überzeugte mich, daß der Inhalt weit weniger fesselnd war als der Titel. »Rasselas« schien meinem seichten Geschmack höchst langweilig; [71] ich fand nichts von Feen, von Genien, die eng gedruckten Seiten schienen keine fröhliche Abwechselung zu bieten. Ich gab ihr das Buch zurück. Sie nahm es ruhig und ohne ein weiteres Wort zu sprechen war sie im Begriff, sich ganz ihrer früheren Beschäftigung wieder hinzugeben, als ich noch einmal wagte, sie zu stören:

»Kannst du mir sagen, was die Inschrift dort auf dem Stein über der Thür bedeutet? Was ist ›Institut von Lowood?‹«

»Es ist das Haus, in welchem du hier lebst.«

»Und weshalb nennen sie es Institut? Ist es denn in irgend einer Weise von anderen Schulen verschieden?«

»Es ist zum Teil eine Mildthätigkeits-Schule. Du und ich und alle übrigen sind Mildthätigkeits-Zöglinge. Ich vermute, daß du eine Waise bist; ist nicht dein Vater oder deine Mutter tot?«

»Sie sind beide tot, schon lange, ich habe gar keine Erinnerung mehr an sie.«

»Nun, all die Mädchen hier haben entweder Vater oder Mutter oder beide Eltern verloren, und man nennt dies ein Institut für die Erziehung von Waisen.«

»Bezahlen wir denn kein Schulgeld? Werden wir hier umsonst erhalten?«

»Wir oder unsere Verwandten bezahlen fünfzehn Pfund Sterling jährlich.«

»Weshalb nennt man uns denn Mildthätigkeits-Kinder?«

»Weil fünfzehn Pfund nicht hinreichend sind für Kost und Schule – und das Fehlende wird durch Subskriptionen aufgebracht.«

»Wer subskribiert denn?«

»Verschiedene barmherzige Damen und Herren in dieser Gegend und in London.«

»Wer war Naomi Brocklehurst?«

»Die Dame, welche den neuen Teil dieses Hauses gebaut [72] hat, wie die Inschrift besagt, und deren Sohn hier alles überwacht und anordnet.«

»Weshalb thut er das?«

»Weil er der Schatzmeister und Verwalter des ganzen Instituts ist.«

»Dann gehört dieses Haus also nicht der großen, schlanken Dame, welche eine Uhr trägt, und die sagte, daß wir Brot und Käse bekommen sollten?«

»Miß Temple? O nein! Ich wollte, es gehörte ihr! Sie ist Mr. Brocklehurst für alles, was sie thut, verantwortlich. Mr. Brocklehurst kauft alle Nahrungsmittel und alle Kleider für uns.«

»Wohnt er hier?«

»Nein – zwei Meilen von hier, in einem großen, prächtigen Herrenhause.«

»Ist er ein guter Mann?«

»Er ist ein Geistlicher, und man sagt, daß er sehr viel Gutes thut.«

»Sagtest du, daß die schlanke Dame Miß Temple heißt?«

»Ja.«

»Und wie heißen die anderen Lehrerinnen?«

»Die eine mit den roten Wangen heißt Miß Smith, sie muß auf die Handarbeiten achten und schneidet zu – denn wir nähen unsere eigene Wäsche, unsere Kleider und unsere Mäntel – kurzum alles; die kleine mit dem schwarzen Haar heißt Miß Scatcherd, sie lehrt Geschichte und Grammatik und überhört die Repetitionen der zweiten Klasse; die dritte, die ein Tuch trägt und das Taschentuch mit einem gelben Bande an der Seite festgebunden hat, ist Madame Pierrot, sie kommt aus Lisle in Frankreich und lehrt Französisch.«

»Liebst du die Lehrerinnen?«

»O ja, so ziemlich.«

»Liebst du auch die kleine Schwarze und die Madame[73] – – –? Ich kann ihren Namen nicht so gut aussprechen wie du.«

»Miß Scatcherd ist heftig – du mußt dich hüten, sie ärgerlich zu machen. Madame Pierrot ist gerade keine böse Person.«

»Aber Miß Temple ist die beste – nicht wahr?«

»Miß Temple ist sehr klug und sehr gut; sie steht über all den anderen, weil sie viel mehr weiß, als sie.«

»Bist du schon lange hier?«

»Zwei Jahre.«

»Bist du eine Waise?«

»Meine Mutter ist tot.«

»Fühlst du dich hier glücklich?«

»Du thust eigentlich zu viele Fragen. Für jetzt habe ich dir genug geantwortet. Jetzt will ich lesen.«

In diesem Augenblick erklang die Glocke, die uns zum Mittagessen rief. Alle kehrten zurück in das Haus. Der Geruch, welcher jetzt das Refektorium füllte, war kaum appetitlicher als jener, welcher unsere Nasen beim Frühstück regaliert hatte. Das Mittagessen wurde in zwei unendlich großen Zinnschüsseln serviert, aus denen ein scharfer Dampf aufstieg, der stark an ranziges Fett erinnerte. Ich fand, daß dieses Gemengsel aus bedeutungslosen Kartoffeln und seltsamen Fetzen rötlichen Fleisches bestand, die untereinander gerührt und zusammen gekocht waren. Von dieser köstlichen Speise wurde jeder Schülerin eine ziemlich große Portion vorgesetzt. Ich aß so viel ich konnte und fragte mich still verwundert, ob die Kost der anderen Tage nicht besser sein würde als diese.

Nach dem Mittagessen verfügten wir uns sofort in das Schulzimmer. Die Stunden begannen von neuem und dauerten bis fünf Uhr.

Die einzig bemerkenswerte Begebenheit des Nachmittags bestand darin, daß ich sah, wie das Mädchen, mit dem ich in der Veranda gesprochen von Miß Scatcherd mit Schimpf [74] und Schande aus der Weltgeschichtsstunde gejagt wurde und inmitten des großen Schulzimmers stehen mußte. Die Strafe schien mir im höchsten Grade entehrend, besonders für ein so großes Mädchen, das mehr als dreizehn Jahre zu zählen schien. Ich erwartete bei ihm Anzeichen von großer Scham und Verzweiflung zu sehen, aber zu meinem größten Erstaunen weinte sie weder noch errötete sie; gefaßt, wenn auch ernst, stand sie da, aller Blicke waren auf sie gerichtet. »Wie kann sie das so ruhig – so gefaßt tragen?« fragte ich mich. »Wenn ich an ihrer Stelle wäre, so würde ich doch gewiß wünschen, daß die Erde sich öffnen möchte, um mich zu verschlingen. Sie sieht aus, als dächte sie an etwas, das über ihre Strafe hinaus liegt – – über ihre ganze Lage, an etwas, das nicht um sie, nicht vor ihr ist. Ich habe von wachen Träumen gehört – träumt sie jetzt einen solchen Traum? Ihre Augen sind auf den Boden geheftet, aber ich bin überzeugt, daß sie ihn nicht sehen – ihr Auge scheint nach innen gewendet, in ihr Herz gesenkt, sie sieht nur die Dinge, die in ihrer Erinnerung leben, nichts, was die Gegenwart ihr bringt. Ich möchte doch wissen, was für ein Mädchen sie ist – ob gut oder unartig.«

Bald nach fünf Uhr Nachmittags hatten wir wieder eine Mahlzeit, die aus einem kleinen Becher Kaffee und einer halben Schnitte Schwarzbrot bestand. Ich verschlang mein Brot und trank meinen Kaffee mit wahrem Ergötzen. Aber ich wäre froh gewesen, wenn ich doppelt so viel gehabt hätte – ich war noch hungrig. Darauf folgte eine halbstündige Erholung, und dann begannen die Studien von neuem. Schließlich kam das Glas Wasser mit dem Stückchen Haferkuchen, das Gebet und das Schlafengehen. – Das war mein erster Tag in Lowood.

[75] Sechstes Kapitel

Der nächste Tag begann wie der vorige. Wir standen beim Lampenlicht auf und kleideten uns an, aber an diesem Morgen mußten wir von der Zeremonie des Waschens dispensiert werden – das Wasser in den Wasserkrügen war gefroren. Am Abend vorher war eine Veränderung im Wetter eingetreten, und ein scharfer Nordostwind, der die ganze Nacht durch die Ritzen in unseren Schlafzimmerfenstern gepfiffen, hatte uns in unseren Betten vor Kälte beben und den Inhalt der Waschkrüge zu Eis gefrieren gemacht.

Bevor die langen anderthalb Stunden des Gebets und des Bibellesens zu Ende waren, war ich nahe daran, vor Kälte ohnmächtig zu werden. Endlich kam die Frühstückszeit, und an diesem Morgen war der Haferbrei nicht angebrannt, die Qualität war eßbar, die Quantität ließ viel zu wünschen übrig. Wie klein erschien mir doch meine Portion! Ich wünschte, sie wäre doppelt so groß gewesen.

Im Laufe des Tages wurde ich der vierten Klasse als Schülerin eingereiht, und regelmäßige Aufgaben und Beschäftigungen wurden mir angewiesen; bis jetzt war ich nur Zuschauerin bei den Vorgängen in Lowood gewesen, jetzt sollte ich eine der Mitspielenden werden. Da ich wenig daran gewöhnt gewesen, auswendig zu lernen, schienen die Aufgaben mir unendlich lang und schwer, auch der häufige Wechsel des Gegenstandes der Lektionen verwirrte mich; ich war daher froh, als Miß Smith mir gegen 3 Uhr Nachmittags einen zwei Ellen langen Streifen weißen Mußlins samt Fingerhut und Schere gab und mir gebot, mich in einen stillen Winkel des Schulzimmers zu setzen, wo sie mir Anweisungen gab, wie ich säumen sollte. Um diese Zeit nähte auch die Mehrzahl der anderen Mädchen, nur eine Klasse war noch um Miß Scatcherds Stuhl gruppiert und mit lesen beschäftigt. Da tiefe Stille herrschte, konnte man den Gegenstand des Unterrichts deutlich vernehmen [76] und ebenso die Art und Weise, wie jedes Mädchen sich ihrer Aufgabe entledigte, oder Miß Scatcherd ihre Mißbilligung oder Anerkennung zu verstehen gab. Es war die englische Weltgeschichte. Unter den Leserinnen bemerkte ich meine Bekannte von der Veranda; beim Beginn der Lektion hatte sie ihren Platz als Erste der Klasse gehabt, aber wegen irgend eines Irrtums in der Aussprache oder einer Unaufmerksamkeit in Bezug auf Interpunktion wurde sie plötzlich an das Ende der Schülerinnenreihe geschickt. Und selbst noch in dieser obskuren Stellung blieb sie unausgesetzt ein Gegenstand für Miß Scatcherds beständige Aufmerksamkeit; fortwährend richtete sie Worte wie die folgenden an sie:

»Burns,« (dies schien ihr Name zu sein; die Mädchen wurden hier, wie anderswo die Knaben, mit ihren Familiennamen angeredet). »Burns, du stehst schon wieder einwärts, augenblicklich die Fußspitzen nach außen.« – »Burns, weshalb steckst du das Kinn in so häßlicher, unangenehmer Weise vor? Halte den Kopf gerade!« – »Burns, ich bestehe darauf, daß du dich gerade hältst, ich will dich in solcher Stellung nicht vor mir sehen,« u.s.w., u.s.w.

Als ein Kapitel zweimal durchgelesen war, wurden die Bücher geschlossen und die Mädchen geprüft. Die Lektion hatte einen Teil der Regierung Karls I. umfaßt, und es waren unterschiedliche Fragen über Tonnengeld und Pfund- und Schiffszoll gestellt worden, welche die meisten der Mädchen zu beantworten außer stande gewesen. Jede kleine Schwierigkeit jedoch wurde gelöst, wenn sie zu Burns kam; ihr Gedächtnis schien die Substanz der ganzen Lektion gefaßt zu haben, und sie hatte für jeden Punkt eine Antwort bereit. Ich saß da und wartete freudig erregt, daß Miß Scatcherd ihre Aufmerksamkeit rühmen würde, statt dessen rief sie plötzlich aus:

»Du schmutziges, widerwärtiges Mädchen! Heute morgen hast du deine Nägel wieder nicht gereinigt!«

[77] Burns antwortete nicht, ich wunderte mich über ihr Schweigen.

»Weshalb,« dachte ich, »erklärt sie denn nicht, daß sie weder ihr Gesicht waschen noch ihre Nägel reinigen konnte, da das Wasser gefroren war?«

Hier wurde meine Aufmerksamkeit durch Miß Smith abgelenkt, welche mich bat, ihr beim Abwinden des Zwirns behilflich zu sein. Während sie ihn abwickelte, sprach sie von Zeit zu Zeit mit mir, fragte, ob ich schon früher eine Schule besucht habe, ob ich zeichnen, sticken, stricken könne u.s.w.; als sie mich endlich entließ, konnte ich meine Beobachtungen über Miß Scatcherds Verhalten nicht fortsetzen. Als ich auf meinen Sitz zurückkehrte, erteilte diese Dame gerade einen Befehl, dessen Inhalt ich nicht verstehen konnte. Burns verließ jedoch augenblicklich die Klasse und trat in ein kleines, inneres Zimmer, wo die Bücher aufbewahrt wurden. Nach kaum einer halben Minute kehrte sie zurück und trug in ihrer Hand ein kleines Reisigbündel, das an einem Ende zusammen gebunden war. Dieses ominöse Werkzeug überreichte sie Miß Scatcherd mit einem respektvollen Knix, dann löste sie schweigend, ohne daß es ihr befohlen wurde, ihre Schürze – und augenblicklich versetzte die Lehrerin ihr mindestens ein Dutzend scharfer Streiche mit der Rute auf Arme und Nacken. Nicht eine einzige Thräne trat in Burns Augen und während ich mit meiner Arbeit innehielt, weil ein Gefühl ohnmächtigen, hilflosen Zorns meine Finger erbeben machte, veränderte nicht ein einziger Zug in ihrem nachdenklichen, ernsten Gesicht seinen Ausdruck.

»Verhärtetes Mädchen!« rief Miß Scatcherd aus, »nichts kann dich von deinen unordentlichen Gewohnheiten heilen! – Trage die Rute wieder fort.«

Burns gehorchte. Ich sah ihr scharf ins Gesicht, als sie wieder aus der Bücherkammer heraustrat. Sie schob gerade ihr Taschentuch wieder in die Tasche, und eine Thräne [78] glänzte in ihrem Auge und rann langsam über ihre hohle, bleiche Wange.

Die Spielstunde am Abend galt mir als der angenehmste Teil des ganzen Tages in Lowood. Wenn das kleine Stück Brot, der Schluck Kaffee, den ich um fünf Uhr genossen, meinen Hunger auch nicht gestillt, so hatte er wenigstens meinen Lebensmut neu beseelt. Der lange Zwang des Tages fiel fort. Das Schulzimmer war wärmer als am Morgen, denn die Feuer in demselben durften heller brennen, weil sie in gewissem Maße die Lichter ersetzen sollten, die noch nicht eingeführt waren. Der rötliche Feuerschein, der gestattete Lärm, die Konfusion vieler Stimmen rief ein wohliges Gefühl von Freiheit hervor.

Am Abend des Tages, an dem ich gesehen hatte, wie Miß Scatcherd ihre Schülerin Burns mit der Rute gezüchtigt hatte, ging ich wie gewöhnlich ohne Gefährtin zwischen Tischen und Bänken und lachenden Gruppen umher, ich fühlte mich indessen nicht einsam. Wenn ich an den Fenstern vorüberging, hob ich dann und wann einen Vorhang in die Höhe und blickte hinaus. Der Schnee fiel in dichten Flocken, vor den unteren Fensterscheiben lag bereits eine hohe Schicht; wenn ich mein Ohr dicht an das Fenster legte, konnte ich durch den fröhlichen Tumult im Zimmer das traurige Sausen und Toben des Windes draußen unterscheiden.

Wenn ich ein glückliches Heim und gütige Eltern verlassen hätte, so wäre dies wahrscheinlich die Stunde gewesen, in der ich die Trennung am bittersten und schmerzlichsten empfunden hätte. Dieser draußen tobende Sturm würde mir das Herz schwer gemacht haben, dieses düstere Chaos würde meinen Frieden gestört haben – wie die Dinge aber lagen, rief das Getöse eine seltsame Erregung in mir wach. Ich wurde unruhig und fieberhaft, ich wünschte, daß der Wind lauter heulen, die Dämmerung zur Dunkelheit werden und der Lärm in Toben ausarten möchte.

[79] Über Bänke fortspringend und unter Tischen weiterkriechend bahnte ich mir einen Weg zu einem der Kamine. Dort fand ich auf dem hohen Fender knieend Burns, welche bei dem matten Schein der glühenden Asche über der Gesellschaft ihres Buches alles vergessen hatte, was um sie her vorging.

»Ist es noch immer Rasselas?« fragte ich hinter ihr stehend.

»Ja,« sagte sie, »ich bin gerade damit zu Ende.«

Nach weiteren fünf Minuten schlug sie das Buch zu. Ich war froh darüber.

»Jetzt,« dachte ich, »kann ich sie vielleicht zum Sprechen bringen.« Ich setzte mich neben sie auf den Fußboden.

»Welchen Namen hast du noch außer Burns?«

»Helen.«

»Bist du von weit hergekommen?«

»Ich komme von Norden her, von der schottischen Grenze.«

»Wirst du jemals wieder nach Hause gehen?«

»Ich hoffe es, aber niemand kann in die Zukunft sehen.«

»Wünschest du nicht sehr, Lowood zu verlassen?«

»Nein, weshalb sollte ich das wünschen? Ich bin nach Lowood geschickt worden, um eine gute Erziehung zu bekommen, und was würde es nützen, fortzugehen, wenn dieser Zweck nicht erreicht ist.«

»Aber jene Lehrerin, Miß Scatcherd ist doch so grausam gegen dich?«

»Grausam? Durchaus nicht! Sie ist strenge. Sie hat einen großen Widerwillen gegen meine Fehler.«

»Und wenn ich an deiner Stelle wäre, würde ich sie hassen, ich würde mich gegen sie auflehnen; wenn sie mich mit jener Rute schlüge, würde ich sie ihr aus der Hand reißen, vor ihrer Nase würde ich das Ding zerbrechen.«

»Wahrscheinlich würdest du nichts von alledem thun, aber wenn du es thätest, so würde Mr. Brocklehurst dich [80] mit Schimpf und Schande aus der Schule jagen. Und das wäre doch ein großer Kummer für deine Angehörigen. Es ist viel besser, einen Schmerz mit Geduld zu ertragen, den niemand fühlt, als du selbst, denn eine unüberlegte That zu begehen, deren böse Folgen alle treffen, die dir verwandt sind – und überdies gebietet die Bibel uns, Böses mit Gutem zu vergelten.«

»Aber es ist doch entehrend, mit Ruten gepeitscht zu werden und in der Mitte eines Zimmers stehen zu müssen, das voller Menschen ist, und du bist schon ein so großes Mädchen; ich bin viel jünger als du und ich könnte es nicht einmal ertragen.«

»Und doch wäre es deine Pflicht, es zu ertragen, wenn du es nicht vermeiden könntest. Es ist schwach und albern zu sagen, daß du nicht ertragen kannst, was das Schicksal dir auferlegt.«

Staunend hörte ich ihr zu. Ich konnte diese Lehre der Duldsamkeit nicht begreifen; und noch weniger konnte ich die Versöhnlichkeit, mit welcher sie von ihrer Quälerin sprach, verstehen, noch mit derselben sympathisieren. Doch fühlte ich, daß Helen Burns alle Dinge in einem Lichte sah, das meinen Augen nicht sichtbar war. Ich vermutete, daß sie Recht hatte und ich Unrecht; aber ich wollte nicht tiefer über die Sache nachdenken – wie Felix schob ich es für eine passendere Gelegenheit auf.

»Du sagst, daß du Fehler hast, Helen, nenne sie mir doch. Mir erscheinst du so gut.«

»Dann lerne von mir, daß man nicht nach dem Schein urteilen darf. Ich bin, wie Miß Scatcherd sagt, sehr unordentlich; selten nur mache ich Ordnung zwischen meinen Sachen und niemals erhalte ich diese Ordnung; ich bin unachtsam; ich vergesse die Vorschriften; ich lese, wenn ich meine Aufgaben machen sollte; ich habe keine Methode und zuweilen sage ich wie du, ich kann es nicht ertragen, mich systematischen Einrichtungen zu unterwerfen. Alles[81] dies ist sehr ärgerlich für Miß Scatcherd, welche von Natur sauber und reinlich und pünktlich ist.«

»Und böse und grausam,« fügte ich hinzu, aber Helen Burns wollte diesen Zusatz nicht gelten lassen, sie schwieg.

»Ist Miß Temple ebenso streng gegen dich, wie Miß Scatcherd?« fragte ich wieder.

Bei der Nennung von Miß Temples Name flog ein sanftes Lächeln über ihr sonst so ernstes Gesicht.

»Miß Temple ist voller Güte; es bereitet ihr Schmerz, gegen irgend jemanden strenge sein zu müssen, selbst gegen die schlechteste Schülerin der ganzen Schule. Sie sieht meine Fehler und belehrt mich mit Sanftmut über dieselben; wenn ich aber irgend etwas lobenswertes thue, so ist sie sehr freigebig mit ihren Lobeserhebungen. Ein starker Beweis für meine unglückselig elende, fehlerhafte, schwache Natur ist es, daß sogar ihre Vorstellungen, so milde, so vernünftig, nicht genug Einfluß haben, um mich von meinen Fehlern zu kurieren. Und sogar ihr Lob, obgleich ich es so hoch schätze, kann mich nicht zu andauernder Sorgsamkeit und Überlegung anspornen.«

»Das ist seltsam,« sagte ich, »es ist doch so leicht, sorgsam zu sein.«

»Für dich ist es das ohne Zweifel. Ich habe dich heute Morgen in deiner Klasse beobachtet und sah, wie unverwandt aufmerksam du warst. Deine Gedanken schienen niemals abzuschweifen, während Miß Miller die Lektion erklärte und dich befragte. Und die meinen wandern fortwährend; wenn ich Miß Scatcherd zuhören und mit Sorgfalt alles in mich aufnehmen sollte, was sie sagt, höre ich oft sogar den Laut ihrer Stimme nicht mehr; ich versinke in eine Art von Traum. Manchmal glaube ich, daß ich in Northumberland bin und daß der Lärm, den ich um mich herum höre, das Plätschern und Rieseln eines kleinen Baches ist, der durch Deepden, ganz nahe unserem Hause, fließt: – – wenn dann die Reihe an mich kommt zu [82] antworten, muß ich erst geweckt, werden und weil ich dann von allem, was gelesen wurde, nichts gehört habe, weil ich dem Rauschen des imaginären Baches lauschte, so habe ich niemals eine Antwort in Bereitschaft.«

»Aber du hast doch heute Nachmittag so gut geantwortet.«

»Das war ein reiner Zufall. Der Gegenstand, über den wir gelesen, hatte mein ganzes Interesse geweckt. Anstatt von Deepden zu träumen, dachte ich heute Nachmittag verwundert darüber nach, wie ein Mann, der so innig wünschte, das Gute zu thun, oft so ungerecht und unklug handeln konnte wie Karl I. es gethan; und ich dachte, wie traurig es gewesen, daß er bei all seiner Rechtschaffenheit und Gewissenhaftigkeit nicht weiter blicken konnte, als bis zu den Prärogativen der Krone. Wenn er nur im stande gewesen wäre, in die Ferne zu blicken und zu sehen, wohin das, was man den Geist der Zeit nennt, eigentlich strebte! Und doch – ich liebe Karl – ich achte ihn – ich bedauere ihn, den armen gemordeten König! Ja, seine Feinde waren die schlimmsten; sie vergossen Blut, welches zu vergießen sie kein Recht hatten! Wie konnten sie es wagen, ihn zu töten!«

Helen sprach jetzt mit sich selbst; sie hatte ganz vergessen, daß ich wohl kaum im stande war, sie zu verstehen – daß ich unwissend war, daß der Gegenstand, über den sie diskutierte, mir fast unbekannt war. Ich rief sie wieder auf meinen Standpunkt zurück.

»Wandern deine Gedanken auch, wenn Miß Temple dich unterrichtet?«

»Nein, gewiß nicht, oder doch nur selten. Miß Temple hat immer etwas zu sagen, das für meine eigenen Reflexionen noch neu ist. Ihre Sprechweise ist mir seltsam angenehm, und die Belehrung, welche sie erteilt, ist meistens grade das, was ich zu lernen wünschte.«

»Also mit Miß Temple bist du gut?«

»Ja, in einer passiven Weise. Ich mache keine besondere [83] Anstrengung, ich folge nur, wohin meine Neigung mich führt. In solcher Güte liegt doch kein besonderes Verdienst.«

»Ein großes Verdienst! Du bist gut mit denen, die gut mit dir sind. Wahrhaftig, ich wünschte nur, daß ich das sein könnte. Wenn die Menschen stets gut und gehorsam den Ungerechten gegenüber wären, so ginge den bösen Menschen ja alles nach ihrem Kopfe; sie würden vor nichts zurückschrecken und sich niemals bessern, sondern immer schlechter und schlechter werden. Wenn man uns ohne Grund schlägt, so sollten wir mit aller Macht wieder schlagen. Ganz gewiß – das sollten wir thun, so kräftig, daß die Person, welche es gethan hat, sich wohl hüten würde, es jemals wieder zu thun.«

»Ich hoffe, du wirst anderen Sinnes werden, wenn du älter wirst, bis jetzt bist du ja nur ein kleines, unwissendes Mädchen, das es nicht besser gelernt hat.«

»Aber das fühle ich doch klar, Helen, daß ich die hassen muß, die fortfahren mich zu hassen, trotzdem ich alles thue, was ihnen Freude machen kann; ich muß mich auflehnen gegen die, welche mich ungerecht bestrafen. Es ist ebenso natürlich, wie daß ich jene liebe, die mir Liebe zeigen oder daß ich mich ruhig einer Strafe unterwerfe, wenn ich fühle, daß sie verdient ist.«

»Heiden und wilde Stämme huldigen solcher Doktrin, aber Christen und civilisierte Nationen erkennen sie nicht an.«

»Wie? Ich verstehe das nicht.«

»Nicht Heftigkeit oder Gewalt vermag den Haß am besten zu besiegen – nicht befriedigtes Rachegefühl heilt die geschlagenen Wunden.«

»Was sonst?«

»Lies das Neue Testament und merke, was Christus sagt, wie er handelt – mache sein Wort zu deiner Richtschnur, sein Thun zu deinem Beispiel.«

»Was sagt er?«

[84] »Liebet eure Feinde, segnet die, so euch fluchen, thut wohl denen, die euch hassen und euch beleidigen.«

»Dann müßte ich Mrs. Reed lieben und das kann ich nicht; ich müßte ihren Sohn John segnen, und das ist unmöglich.«

Ihrerseits bat Helen Burns nun, mich ihr zu erklären, und sofort begann ich in meiner eigenen Weise ihr die ganze Geschichte meiner Leiden und Qualen, das ganze Register der mir widerfahrenen Unbill zu erzählen. Wild und bitter, wenn ich erregt war, sprach ich, wie ich fühlte, ohne Beschönigung, ohne Zurückhaltung.

Geduldig hörte Helen mir bis zu Ende zu. Ich erwartete dann, daß sie irgend eine Bemerkung machen werde, aber sie verharrte schweigend.

»Nun,« fragte ich ungeduldig, »ist Mrs. Reed nicht ein herzloses, böses Weib?«

»Sie ist nicht gütig gegen dich gewesen, ohne Zweifel, weil sie – das mußt du begreifen lernen – deinen Charakter ebenso widerlich findet wie Miß Scatcherd den meinen. Wie genau du dich aber an alles erinnerst, was sie dir gethan, was sie dir gesagt hat! Welch einen seltsam tiefen Eindruck ihre Ungerechtigkeit auf dein Herz gemacht zu haben scheint! So tief vermag die Erinnerung an erlittenes Unrecht sich meinem Gefühl nicht einzuprägen. Würdest du nicht glücklicher sein, wenn du versuchtest, ihre Strenge zu vergessen, sowie die leidenschaftlichen Empfindungen, welche diese wachrief? Das Leben scheint mir doch zu kurz zu sein, um es damit hinzubringen, Feindseligkeit zu nähren und erduldete Unbill zu verzeichnen. Ein jeder von uns ist auf dieser Welt mit Fehlern beladen und er muß es sein; – aber bald wird die Zeit kommen, das hoffe ich zuversichtlich, wo wir sie ablegen zusammen mit unserem vergänglichen, irdischen Leibe; wo wir Vergänglichkeit und Sünde mit diesem hinfälligen Fleische von uns streifen, und nur der Geistesfunke zurückbleibt – dieser unerschütterliche, [85] unverrückbare Grundstein des Lebens und des Gedankens, so rein geblieben wie er war, als er vom Schöpfer ausging, um die Kreatur zu beleben; er wird dorthin zurückkehren, von wannen er kam – vielleicht um in ein Wesen überzugehen, das höher und erhabener ist als der Mensch – vielleicht um durch alle Phasen der Ewigkeit zur Herrlichkeit einzugehen, von der ohnmächtigen menschlichen Seele bis hinauf zum Seraph zu steigen! Denn gewiß, nimmer kann es doch sein, daß wir umgekehrt vom Menschen zum Teufel degenerieren? Nein. Das kann ich nicht glauben. Mein Glaubensbekenntnis ist ein anderes. Niemand hat es mich jemals gelehrt, und nur selten spreche ich davon, aber es ist meine ganze Glückseligkeit, und ich klammere mich fest daran, denn es gewährt allen Hoffnung – es macht die Ewigkeit zur Ruhe, zum Frieden – zur himmlischen Heimat, nicht zum Schrecken, nicht zum Abgrund. Und außerdem gewährt dieser Glaube mir die Fähigkeit, zwischen dem Verbrecher und seinem Verbrechen zu unterscheiden. Ich bin im stande, ersterem von Herzen zu vergeben, während ich seine That verabscheue. Und dieser mein Glaube macht auch, daß Rachegefühl mein Herz niemals quält, Zurücksetzung mich nicht zu tief verwundet, Ungerechtigkeit mich niemals ganz zermalmen kann: ich lebe in Frieden und denke an das Ende!«

Helens Kopf, den sie immer ein wenig gesenkt trug, sank noch tiefer herab, als sie die letzten Worte sprach. Ich sah es ihren Blicken an, daß sie kein Verlangen trug, noch länger mit mir zu reden, daß sie gern mit ihren eigenen Gedanken allein sein wollte. Man ließ ihr jedoch nicht Zeit zum Nachdenken. Eine Aufseherin, ein großes, grobes Mädchen trat in diesem Augenblick an sie heran und rief im ausgeprägten cumberländischen Accent:

»Helen Burns, wenn du nicht hinauf gehst und augenblicklich Ordnung in deiner Schieblade machst und sofort deine Arbeit sauber zusammenfaltest, so werde ich [86] Miß Scatcherd rufen und sie bitten, sich die Sache anzusehen.«

Helen seufzte, als ihre Träumereien ein so jähes Ende nahmen, aber sie erhob sich und gehorchte der Aufseherin ohne Zögern, ohne Erwiderung.

Siebentes Kapitel

Das erste Vierteljahr in Lowood dünkte mich ein Menschenalter, aber durchaus kein goldenes Zeitalter; es bedeutete einen ermüdenden Kampf mit der Schwierigkeit, mich in neue Regeln und ungewöhnte Aufgaben hineinzuarbeiten. Die Furcht in diesen Punkten zu unterliegen, quälte mich mehr, als die physischen Mühseligkeiten und Entbehrungen, die mein Los waren. Und auch diese waren wahrlich keine Kleinigkeiten.

Während der Monate Januar, Februar und März hinderten der tiefe Schnee und, nachdem er fortgeschmolzen, die fast unpassierbaren Straßen uns daran, weiter zu gehen, als bis an die Mauern des Gartens – nur der sonntägliche Weg in die Kirche machte eine Ausnahme – aber innerhalb dieser Grenzen mußten wir jeden Tag eine Stunde in freier Luft zubringen. Unsere Bekleidung war nicht hinreichend, um uns gegen die strenge Kälte zu schützen. Wir hatten keine Stiefel, der Schnee drang in unsere Schuhe und schmolz darin; unsere unbehandschuhten Hände erstarrten und bedeckten sich nach und nach mit Frostbeulen, ebenso unsere Füße. Ich erinnere mich noch der verzweifelten Schmerzen, welche ich aus dieser Ursache jeden Abend erduldete, wenn meine Füße sich entzündeten, und der Schmerzen, wenn ich die geschwollenen, wunden und steifen Zehen am Morgen in die Schuhe zwängen mußte. Auch die Kargheit der Nahrung brachte uns fast zur Verzweiflung; wir hatten den regen Appetit von im Wachstum begriffener Kinder, und man gab uns kaum genug, um einen schwachen Kranken damit am Leben zu erhalten. [87] Aus diesem Mangel an Nahrung entstand ein Mißbrauch, welcher schwer auf den jüngeren Schülerinnen lastete. Wenn sich nämlich den größeren, heißhungrigen Mädchen eine Gelegenheit dazu bot, so brachten sie die Kleinen durch Schmeicheleien oder Drohungen dahin, ihnen ihren Anteil abzutreten. Gar manchesmal habe ich zwischen zwei Anspruchmachenden den kostbaren Bissen Schwarzbrot geteilt, den wir zur Theestunde bekamen, und nachdem ich dann noch einer dritten die Hälfte vom Inhalte meines Kaffeenapfes gegeben hatte, schluckte ich den Rest zusammen mit bitteren, geheimen Thränen hinunter, welche der Hunger mir im wahrsten Sinne des Wortes erpreßte.

Die Sonntage waren trübe Tage in dieser Winterzeit. Wir mußten zwei Meilen bis zur Kirche von Brocklehurst gehen, wo unser Schutzherr den Gottesdienst verrichtete. Halb erfroren machten wir uns auf den Weg, noch erfrorener langten wir in der Kirche an; während des Morgengottesdienstes lähmte uns die Kälte beinahe. Der Weg war zu weit, um zum Mittagessen nach Lowood zurückzukehren, daher reichte man uns zwischen den beiden Predigten eine Ration von kaltem Fleisch und Braten, welche in derselben kärglichen Proportion gehalten wurde, die man bei unseren gewöhnlichen Mahlzeiten zum Maßstab genommen.

Nach dem Schluß des Nachmittagsgottesdienstes kehrten wir über eine hügelige, dem Winde ausgesetzte Straße nach Hause zurück. Der eisige Wintersturm, der über eine Kette schneebedeckter Hügel von Norden her blies, riß uns beinahe die Haut von den Wangen.

Ich erinnere mich noch Miß Temples, wie sie fest in ihren schottischen Mantel gehüllt, den der Wind ihr fortwährend zu entreißen drohte, leichtfüßig und schnell an unseren ermatteten Reihen entlang ging und uns durch Worte und Beispiel ermunterte, Mut zu behalten und vorwärts zu schreiten »tapferen Soldaten gleich,« wie sie [88] zu sagen pflegte. Die übrigen Lehrerinnen, die armen Dinger, waren gewöhnlich selbst zu niedergeschlagen, um das Unternehmen zu wagen, andere zu ermutigen und zu trösten.

Wie wir uns nach dem Licht und der Wärme eines hellen Feuers sehnten, wenn wir nach Hause kamen! – Aber dieser Genuß blieb uns versagt – den Kleineren wenigstens. Jeder Kamin im Schulzimmer war augenblicklich von einer doppelten Reihe großer Mädchen belagert und hinter diesen krochen die kleinen Kinder in trostlosen Gruppen umher, ihre abgemagerten Arme in ihre Schürzen hüllend.

Ein schwacher Trost ward uns in der Theestunde in Gestalt einer doppelten Brotration – eine ganze Scheibe anstatt einer halben – mit der köstlichen Zuthat einer dünnen Schicht von Butter; es war ein allwöchentlicher Genuß, dem wir von Sabbath zu Sabbath sehnsuchtsvoll entgegensahen. Gewöhnlich gelang es mir, die Hälfte dieses lukullischen Mahls für mich zu behalten, die andere Hälfte mußte ich unabänderlich jedesmal verschenken.

Der Sonntagabend wurde dazu verwandt, den Kirchenkatechismus, das fünfte, sechste und siebente Kapitel des Evangeliums St. Matthäi auswendig zu wiederholen, und eine lange Predigt mit anzuhören, welche die arme Miß Miller, deren nicht zu unterdrückendes Gähnen ihre Müdigkeit verriet, uns vorlas. Ein häufiges Intermezzo dieser Leistungen bildete die Aufführung der Rolle des Eutychus durch ungefähr ein halbes Dutzend der kleinen Mädchen. Überwältigt von Müdigkeit pflegten sie von der Bank zu fallen – wenn auch nicht vom dritten Stockwerk – und halbtot wieder emporgehoben zu werden. Die Abhilfe hiergegen bestand darin, daß man sie in das Centrum des Schulzimmers hineinstieß, wo sie gezwungen wurden auszuharren, bis die Predigt zu Ende war. Zuweilen versagten die Füße ihnen den Dienst und sie sanken in einen [89] hilflosen Klumpen zusammen; dann pflegte man sie durch die hohen Stühle der Aufseherinnen zu stützen.

Noch habe ich der Besuche Mr. Brocklehursts nicht Erwähnung gethan; und in der That war dieser Ehrenmann während des größten Teils meines ersten Monats in Lowood von Hause abwesend; vielleicht zog sein Besuch bei seinem Freunde dem Erzbischof sich so sehr in die Länge.

Seine Abwesenheit war in der That eine Erleichterung für mich. Ich brauche wohl nicht zu sagen, daß ich meine eigenen Gründe hatte, um sein Kommen zu fürchten. Aber endlich kam er doch.

Eines Nachmittags – ich war damals gerade drei Wochen in Lowood gewesen – saß ich mit der Tafel in der Hand da und zerbrach mir den Kopf über ein langes Divisionsexempel, als meine Blicke sich ganz gedankenlos auf das Fenster richteten. In diesem Augenblick schritt eine Gestalt an demselben vorbei. Fast instinktiv erkannte ich diese hageren Umrisse, und als zwei Minuten später die ganze Schule mit Inbegriff der Lehrerinnen sich erhob, en masse erhob, brauchte ich nicht aufzublicken, um mich zu vergewissern, wessen Eintritt denn auf diese Weise begrüßt wurde. Ein langer Schritt durchmaß das Schulzimmer und gleich darauf stand neben Miß Temple, die sich ebenfalls erhoben hatte, dieselbe schwarze Säule, welche vor dem Kamin im Herrenhause von Gateshead-Hall so finster und unheilvoll auf mich herabgeblickt hatte. Jetzt blickte ich von der Seite auf dieses architektonische Werk. Ja, ich hatte mich nicht getäuscht, es war Mr. Brocklehurst, fest in seinen Überzieher geknöpft, und länger, schmäler und steifer aussehend denn je.

Ich hatte meine besonderen Gründe, beim Anblick dieser Erscheinung zu erschrecken. Ich erinnere mich nur zu wohl der perfiden Winke, welche Mrs. Reed ihm über meinen Charakter gegeben hatte, und des von Mr. Brocklehurst gegebenen Versprechens, Miß Temple und die Lehrerinnen [90] von meiner lasterhaften, verderbten Natur in Kenntnis zu setzen. Während der ganzen Zeit hatte ich schon die Erfüllung seines Versprechens gefürchtet; täglich hatte ich nach dem »Manne, der da kommen sollte«, um durch seine Auskunft über mein vergangenes Leben und mein Betragen mich als ein schlechtes Kind zu brandmarken, ausgesehen – jetzt war er da! Er stand neben Miß Temple; er sprach leise zu ihr ins Ohr. Ich zweifelte keinen Augenblick daran, daß er ihr Enthüllungen über meine Schlechtigkeit machte; mit qualvoller Angst beobachtete ich ihre Blicke, jede Minute erwartete ich, ihr dunkles Auge sich voll Abscheu und Verachtung auf mich heften zu sehen. Auch horchte ich. Und da ich am oberen Ende des Zimmers saß, konnte ich den größten Teil des von ihm geführten Gesprächs hören. Der Inhalt desselben befreite mich wenigstens von der augenblicklichen Furcht.

»Ich hoffe, Miß Temple, daß der Zwirn, den ich in Lowton gekauft habe, genügen wird. Es fiel mir ein, daß diese Qualität gerade für die Calikohemden gut sein werde und ich habe auch die dazu passenden Nadeln ausgesucht. Wollen Sie Miß Smith sagen, daß ich vergaß, mir die Stopfnadeln zu notieren; nächste Woche wird sie indessen mehre Päckchen derselben bekommen, und sagen Sie ihr auch, daß sie jeder Schülerin unter keiner Bedingung mehr als eine Nadel zur Zeit giebt, wenn sie mehre davon haben, werden sie oft nachlässig und verlieren sie nur. Und dann, o, Miß Temple! Ich wünschte wirklich, daß den wollenen Strümpfen mehr Beachtung geschenkt würde! – Als ich das letztemal hier war, ging ich in den Küchengarten und besah mir die Wäsche, welche auf der Leine trocknete. Eine ganze Menge der schwarzen Strümpfe war auf die mangelhafteste Weise gestopft. Aus der Größe der Löcher, welche ich in ihnen bemerkte, schloß ich, daß sie nicht gut ausgebessert sein konnten.«

Hier hielt er inne.

[91] »Ihre Weisungen sollen befolgt werden, Sir,« sagte Miß Temple.

»Und, Madam,« fuhr er fort, »die Wäscherin erzählt mir, daß einige der Mädchen zwei reine Halskrausen in der Woche gehabt haben; das ist viel zu viel. Die Hausregel beschränkt sie auf eine.«

»Ich glaube, Sir, daß ich diesen Umstand genügend erklären kann. Am vorigen Donnerstag waren Agnes und Catherine Johnston eingeladen, bei ihren Freunden in Lowton den Thee zu nehmen. Ich gab ihnen die Erlaubnis, für diese Gelegenheit reine Halskrausen anzulegen.«

Mr. Brocklehurst nickte.

»Nun, für einmal mag es hingehen, aber ich ersuche Sie, diesen Fall nicht zu oft eintreten zu lassen. Noch eine andere Sache hat mich höchlichst überrascht. Indem ich die Rechnung mit der Haushälterin abschloß, fand ich, daß während der letzten zwei Wochen den Schülerinnen zweimal ein Gabelfrühstück serviert worden ist, welches aus Brot und Käse bestand. Was bedeutet das? Ich habe die Statuten durchlesen und fand dort keiner Mahlzeit erwähnt, die sich Gabelfrühstück nennt. Wer hat diese Neuerung eingeführt und auf welche Autorität gestützt?«

»Für diesen Umstand bin ich verantwortlich, Sir,« entgegnete Miß Temple, »das Frühstück war so außergewöhnlich schlecht zubereitet, daß die Schülerinnen es nicht essen konnten, und ich durfte nicht zugeben, daß sie bis zum Mittagessen fasteten.«

»Miß Temple, gestatten Sie mir einen Augenblick zu reden. – Sie wissen, daß es meine Absicht bei der Erziehung dieser Mädchen ist, sie nicht an Luxus und Wohlleben zu gewöhnen, sondern sie abzuhärten und sie selbstverleugnend, geduldig und entsagend zu machen. Sollte nun einmal zufällig solch eine kleine Enttäuschung des Appetits vorkommen, wie z.B. das Verderben einer Mahlzeit, das Versalztwerden eines Fisches u.s.w., so sollte [92] dieser kleine, unbedeutende Zwischenfall nicht neutralisiert werden, indem man den verlorenen Genuß noch durch einen größeren Leckerbissen ersetzt und damit den Körper verweichlicht und den Zweck und das Ziel dieser barmherzigen Stiftung verrückt. Man sollte ein solches Vorkommnis dazu benützen, den Schülerinnen eine geistige Erbauung zu schaffen, indem man sie ermutigt, auch bei temporären Entbehrungen ihre geistige Kraft zu behaupten. Eine kurze Ansprache bei solchen Gelegenheiten würde sehr angemessen sein. Ein kluger Lehrer würde z.B. auf die Leiden und Entsagungen der ersten Christen hinweisen; auf die Qualen der Märtyrer, ja, sogar auf die Gebete unsers gesegneten Heilands selbst, der seine Jünger ermahnt, ihr Kreuz auf sich zu nehmen und ihm zu folgen; auf seine Warnungen, daß der Mensch nicht vom Brote allein lebt, sondern von einem jeglichen Worte, so aus dem Munde Gottes gehet; auf seine göttlichen Tröstungen ›glücklich seid ihr, so ihr für mich Hunger oder Durst leidet!‹ O, Miß Temple, wenn sie anstatt des angebrannten Haferbreis Brot und Käse in den Mund dieser Kinder legen, so füttern sie allerdings ihre sündigen Leiber, aber Sie denken wenig daran, daß sie ihre unsterblichen Seelen verhungern lassen.«

Mr. Brocklehurst hielt wieder inne – – wahrscheinlich von seinen Gefühlen übermannt. Beim Beginn seiner Rede hatte Miß Temple zu Boden geblickt; jetzt aber sah sie gerade vor sich hin, und ihr Gesicht, welches von Natur bleich wie Marmor war, schien auch die Kälte und Unbeweglichkeit dieses Materials anzunehmen; besonders ihr Mund schloß sich so fest, als hätte es des Meißels eines Bildhauers bedurft, um ihn wieder zu öffnen, und auf ihrer Stirn lagerte eine versteinerte Strenge.

Inzwischen stand Mr. Brocklehurst vor dem Kamin, die Hände hatte er auf den Rücken gelegt und majestätisch ließ er seine Blicke über die ganze Schule schweifen. Plötzlich zuckte er zusammen, wie wenn sein Auge geblendet oder [93] schmerzhaft berührt worden sei; dann wandte er sich um und in schnelleren Accenten, als er bisher gesprochen, sagte er:

»Miß Temple, Miß Temple, was – was ist jenes Mädchen da mit dem lockigen Haar? Rotes Haar, Madam, lockig – ganz und gar lockig?« – Mit diesen Worten streckte er seinen Stock aus und zeigte nach dem entsetzlichen Gegenstande. Seine Hände zitterten vor Erregung.

»Es ist Julia Severn,« entgegnete Miß Temple sehr ruhig.

»Julia Severn, Madam! Und weshalb hat sie oder irgend eine andere gelocktes Haar? Weshalb bekennt sie sich so offen allen Vorschriften und Grundsätzen dieses Hauses entgegen zu den Gelüsten der Welt – hier in einem evangelischen Institut der Barmherzigkeit – daß sie es wagt, ihr Haar in einem großen Wust von Locken zu tragen?«

»Julias Haar ist von Natur lockig,« entgegnete Miß Temple noch ruhiger.

»Von Natur! Ja! Aber wir sollen uns der Natur nicht anpassen. Ich wünsche, daß diese Mädchen Kinder der Gnade werden. Und wozu jener Überfluß? ich habe doch zu wiederholten Malen angedeutet, daß ich das Haar einfach, bescheiden, glatt anliegend arrangiert zu sehen wünsche. Miß Temple, das Haar jenes Mädchens muß augenblicklich abgeschnitten werden, förmlich rasiert; morgen werde ich einen Barbier herausschicken, und ich sehe noch andere, die viel zu viel von diesem Auswuchs haben – das große Mädchen dort zum Beispiel; sagen Sie ihr, daß sie sich umdreht. Sagen Sie den Mädchen der ganzen ersten Bank, daß sie sich erheben und die Gesichter der Wand zuwenden.«

Miß Temple fuhr mit dem Taschentuch über die Lippen, als wollte sie ein unwillkürliches Lächeln verjagen, daß dieselben kräuselte; indessen erteilte sie den gewünschten Befehl, [94] und als die erste Klasse verstanden hatte, was man von ihr verlangte, kam sie demselben nach. Ich lehnte mich ein wenig auf meiner Bank zurück und konnte die Blicke und Grimassen wahrnehmen, mit welchen die Mädchen dies Manöver begleiteten, schade, daß nicht auch Mr. Brocklehurst diesen Genuß haben konnte; vielleicht würde er dann eingesehen haben, daß was er auch mit der Außenseite der Schale und der Schüssel thun mochte, die Innenseite seiner Einmischung weiter entrückt war, als er zu begreifen im stande war.

Ungefähr fünf Minuten lang betrachtete er den Revers dieser lebenden Medaillen mit prüfenden Blicken – dann fällte er das Urteil. Die Worte wirkten wie die Posaune des jüngsten Gerichts:

»All diese Haarflechten und Knoten müssen abgeschnitten werden!«

Miß Temple schien ihm Vorstellungen zu machen.

»Madam,« fuhr er fort, »ich diene einem Herrn, dessen Reich nicht von dieser Welt ist; meine Mission ist es, in diesen Mädchen die Lüste des Fleisches zu ersticken – sie zu lehren, daß sie sich mit Ehrbarkeit und Schamhaftigkeit kleiden, nicht mit gesalbten Haaren und köstlicher Gewandung; aber jede dieser jungen Personen da vor uns hat ihr Haar in Flechten gedreht, welche die Eitelkeit dieser Welt geflochten hat – und diese, ich wiederhole es, müssen abgeschnitten werden, denken Sie an die Zeit, welche damit verloren geht, an – –«

Hier wurde Mr. Brocklehurst unterbrochen. Drei neue Besucher, Damen, traten ins Zimmer. Sie hätten ein wenig früher kommen sollen, um diesen Vortrag über Kleidung zu hören, denn sie waren köstlich in Samt und Seide und Pelze gekleidet. Die beiden jüngeren Damen des Trios (schöne Mädchen von sechzehn und siebzehn Jahren) hatten graue Biberhüte, damals die neueste Mode, mit wallenden Straußenfedern, und unter dem Rande dieser [95] graziösen Kopfbedeckung hervor fiel ein Reichtum von goldenen, künstlich gelockten Haaren. Die ältere Dame war in einen kostbaren Samtshawl gehüllt, der mit Hermelin verbrämt war; auf ihre Stirn fiel eine Wolke von falschen französischen Locken.

Diese Damen wurden von Miß Temple mit großer Hochachtung als Mrs. Brocklehurst und ihre Töchter begrüßt und dann auf die Ehrensitze am oberen Ende des Zimmers geleitet. Es scheint, daß sie mit ihrem hochehrwürdigen Anverwandten in der Equipage gekommen waren und die oberen Zimmer einer durchstöbernden, eingreifenden Besichtigung unterworfen hatten, während er mit der Haushälterin die Geschäfte ordnete, die Wäscherin ausfragte und die Vorsteherin des Instituts maßregelte. Die Damen begannen jetzt Miß Smith, welcher die Verwaltung der Wäsche und die Beaufsichtigung der Schlafsäle anvertraut war, einige scharfe Verweise zu erteilen, aber ich hatte keine Zeit, auf das zu horchen, was sie sagten; andere Dinge nahmen meine Aufmerksamkeit in Anspruch und fesselten dieselbe vollständig.

Während ich dem Gespräch zwischen Miß Temple und Mr. Brocklehurst lauschte, hatte ich es bis jetzt dennoch nicht versäumt, Vorsichtsmaßregeln für meine eigene persönliche Sicherheit zu treffen. Ich glaubte auch, daß dieselben wirksam sein würden, wenn es mir nur gelänge, der Beobachtung zu entgehen. Zu diesem Zweck hatte ich mich auf der Bank zurückgelehnt, und während ich mit meinen Rechenexempeln beschäftigt schien, hielt ich meine Tafel so, daß sie mein Gesicht gänzlich verdecken mußte. Wahrscheinlich wäre ich seiner Wachsamkeit auch entgangen, wenn meine verräterische Tafel nicht durch einen unglücklichen Zufall meiner Hand entglitten und mit einem lauten Krach, dem kein Ohr sich verschließen konnte, zu Boden gefallen wäre. Sofort waren aller Augen auf mich gerichtet. Ich wußte, daß jetzt alles zu Ende sei. Während ich mich bückte, um die [96] Fragmente meiner Tafel zusammenzusuchen, sammelte ich meine Kräfte für das Schlimmste. Es kam.

»Ein nachlässiges Mädchen!« sagte Mr. Brocklehurst, und gleich darauf – »Ah, ich bemerke, es ist die neue Schülerin.« Bevor ich aufatmen konnte, »ehe ich es vergesse, ich habe noch ein Wort in Bezug auf sie zu sagen.« Dann laut, ach, wie laut erschien es mir! »Lassen Sie das Kind, das seine Tafel zerbrochen hat, vortreten!«

Aus eigenem Antriebe hätte ich mich nicht bewegen können; ich war gelähmt, aber die beiden großen Mädchen, die mir zur Seite saßen, stellten mich auf die Füße und schoben mich vorwärts dem gefürchteten Richter entgegen, dann führte Miß Temple mich sanft dicht vor ihn, und wie aus weiter Ferne vernahm ich ihr geflüsterten Rat:

»Fürchte dich nicht, Jane, ich habe gesehen, daß es ein unglücklicher Zufall war, du sollst nicht bestraft werden.«

Wie ein Dolch drang dieses gütige Flüstern mir ins Herz.

»Noch eine Minute und sie wird mich als eine Heuchlerin verachten lernen,« dachte ich und bei dieser Überzeugung tobte eine namenlose Wut gegen Mrs. Reed, Brocklehurst und Compagnie durch meine Adern. Ich war keine Helen Burns.

»Holt jenen Stuhl,« sagte Mr. Brocklehurst auf einen sehr hohen Stuhl deutend, von dem eine Schulaufseherin sich soeben erhoben hatte. Er wurde gebracht.

»Stellt jenes Kind hinauf.«

Und hinauf gestellt wurde ich, von wem weiß ich nicht; ich war nicht in der Verfassung, die begleitenden, näheren Umstände wahrzunehmen; ich fühlte nur, daß ich ungefähr bis zur Höhe von Mr. Brocklehursts Nase emporgehißt wurde, daß er kaum eine Elle lang von mir entfernt stand und daß unter mir eine Wolke von silbergrauen Federn, dunkelrotem Seidenpelze und orangegelben Kleidern durcheinander wogte.

Mr. Brocklehurst räusperte sich.

[97] »Meine Damen,« sagte er zu seiner Familie gewandt, »Miß Temple, Lehrerinnen und Kinder, ihr alle sehet dieses Mädchen?«

Natürlich sahen sie es; denn ich fühlte ihre Augen wie Brenngläser auf meine versengte Haut gerichtet.

»Ihr sehet, daß sie noch jung ist; ihr bemerkt, daß auch sie die gewöhnliche Gestalt eines Kindes hat; Gott in seiner Gnade hat auch ihr die Form gegeben, die er uns allen gewährt; keine abschreckende Häßlichkeit kennzeichnet sie als einen gezeichneten Charakter. Wer würde glauben, daß der Teufel in ihr bereits eine Dienerin und ein williges Werkzeug gefunden hat? Und doch – es schmerzt mich, es sagen zu müssen – ist dies der Fall.«

Eine Pause. – Ich versuchte, der Lähmung meiner Nerven Einhalt zu thun und mir zu sagen, daß der Rubikon überschritten, daß ich der Prüfung nicht mehr entgehen könne, sondern sie jetzt standhaft ertragen müsse.

»Meine Kinder,« fuhr der schwarze, steinerne Geistliche mit Pathos fort, »dies ist eine traurige, eine betrübende Angelegenheit, denn es ist meine Pflicht euch vor diesem Mädchen zu warnen, das eins von Gottes auserwählten Lämmern sein könnte und jetzt eine Verworfene ist – kein Mitglied der treuen Herde, sondern augenscheinlich eine Fremde, ein Eindringling. Ihr müßt auf eurer Hut sein ihr gegenüber; ihr müßt ihrem Beispiel nicht folgen; wenn es notwendig ist, meidet ihre Gesellschaft, schließt sie von euren Spielen aus, habt keine Gemeinschaft, keinen Umgang mit ihr. Jetzt zu den Lehrerinnen. Sie müssen sie überwachen, ihr Thun beobachten, ihre Worte wohl erwägen und prüfen, ihre Thaten untersuchen, ihren Leib strafen, um ihre Seele zu retten – wenn in der That eine solche Rettung noch möglich ist, denn – meine Zunge scheut sich, es auszusprechen – dieses Mädchen, dieses Kind, diese Eingeborene eines christlichen Landes, schlimmer als manche kleine Heidin, die ihr Gebet zu Brahma [98] spricht und vor Inggernaut kniet – dieses Mädchen ist – eine Lügnerin!«

Jetzt folgte eine Pause von zehn Minuten. – Ich war wieder im Vollbesitz meiner Sinne, meines Verstandes und bemerkte, wie all die weiblichen Brocklehursts ihre Taschentücher hervorzogen und sie an die Augen führten, während die ältere Dame sich hin und her wiegte und die beiden jüngeren flüsterten: »Wie entsetzlich!«

Mr. Brocklehurst begann von neuem.

»Dies alles erfuhr ich durch ihre Wohlthäterin; durch die fromme und barmherzige Dame, welche sich der verlassenen Waise annahm, sie wie ihre eigene Tochter erzog, und deren Güte, deren Großmut dieses unglückliche Mädchen durch eine so schwarze, so schändliche Undankbarkeit vergalt, daß ihre ausgezeichnete Beschützerin gezwungen war, sie von ihren eigenen Kindern zu trennen, aus Furcht, daß ihre lasterhafte Verderbtheit die Reinheit der Kleinen besudeln könne. Sie hat sie hierher gesandt, um geheilt zu werden, wie die Juden des Altertums ihre Aussätzigen an den wogenden See von Bethesda schickten. Und daher, Vorsteherin, Lehrerinnen, ich flehe Sie an, lassen Sie die Wellen um dieses Kind nicht zum Stillstand kommen.«

Mit diesen erhabenen Schlußworten knöpfte Mr. Brocklehurst den obersten Knopf seines Überziehers zu, und murmelte etwas zu seiner Familie gewendet. Diese erhob sich, verneigte sich gegen Miß Temple – und dann segelten all die vornehmen Leute mit großem Pomp zur Thür hinaus. Mein Richter aber wandte sich noch einmal um und sagte:

»Laßt sie noch eine halbe Stunde auf jenem Stuhl stehen, und daß keiner von euch während des ganzen übrigen Tages mit ihr spricht.«

Da stand ich also, hoch erhoben über alle; ich, die ich so oft gesagt, daß ich die Schande nicht ertragen würde, auf meinen eigenen, natürlichen Füßen in der Mitte des Zimmers zu stehen – ich stand nun da, allen Blicken ausgesetzt [99] auf einem Piedestal der Schande. Worte vermögen nicht zu beschreiben, welcher Art die Gefühle waren, die in mir tobten; aber gerade in dem Augenblick, wo sie mir die Kehle zusammenschnürten und mir den Atem zu rauben drohten, ging ein Mädchen an mir vorbei. Und im Vorbeigehen richtete sie ihre Blicke auf mich. Welch ein seltsames Licht strömten sie über mich aus! Welch ein wunderbares Gefühl weckten ihre Strahlen in mir! Und wie stark dies bis jetzt ungekannte Empfinden mich machte! Es war, als sei ein Held, ein Märtyrer an einem Sklaven oder an einem Opfer vorübergegangen und hätte ihm dadurch Mut und Kraft eingeflößt. Ich beherrschte und überwältigte den Weinkrampf, der sich meiner bemächtigen wollte, erhob das Haupt und stand dann fest und ohne Beben auf dem Stuhl. Helen Burns stellte eine unbedeutende Frage über ihre Arbeit an Miß Smith, wurde wegen der Trivialität derselben gescholten, ging an ihren Platz zurück und lächelte mir im Vorübergehen wiederum zu. Welch ein Lächeln!! Noch heute erinnere ich mich dessen und ich weiß, daß es der Ausfluß eines großen Geistes, eines wahren Mutes war; es verklärte ihre scharfen Züge, ihr abgemagertes Gesicht, ihre eingesunkenen, grauen Augen wie der Wiederschein von der Gestalt eines Engels. Und doch trug Helen Burns in diesem Augenblick die »Binde der Unordnung« an ihrem Arm; vor kaum einer Stunde hatte ich erst vernommen, wie Miß Scatcherd sie für den morgenden Tag verdammte, ein Mittagmahl von Wasser und Brot zu halten, weil sie eine Übung beim Abschreiben mit Tinte befleckt hatte. Dies ist die unvollkommene Natur des Menschen! Solche Flecke giebt es auf der Scheibe des strahlendsten Planeten, und Augen wie Miß Scatcherds sind nur imstande diese kleinlichen Mängel und Fehler zu entdecken; für den vollen Glanz des Gestirns sind sie blind!

[100] Achtes Kapitel

Ehe noch die halbe Stunde zu Ende war, schlug es fünf Uhr. Die Klassen wurden entlassen, und alle begaben sich zum Thee ins Refektorium. Jetzt wagte ich, herabzusteigen: es herrschte tiefe Dunkelheit. Ich ging in eine Ecke und setzte mich auf den Fußboden. Der Zauber, der mich soweit aufrecht erhalten hatte, begann zu schwinden; die Reaktion trat ein, und so überwältigend war der Schmerz, der sich meiner bemächtigte, daß ich auf das Antlitz zu Boden fiel. Jetzt weinte ich, – Helen Burns war nicht mehr da; nichts, niemand hielt mich aufrecht; mir selbst überlassen, gab ich mich dem Jammer hin, und meine Thränen netzten den Fußboden. Ich hatte die feste Absicht gehabt, gut und brav zu werden, in Lowood so viel zu lernen; mir viele Freunde zu erwerben, Achtung zu erringen und Liebe zu ernten. Schon hatte ich sichtbare Fortschritte gemacht; noch an demselben Morgen war ich die Erste in meiner Klasse geworden; Miß Miller hatte mich warm gelobt; Miß Temple hatte mir Beifall zugelächelt; sie hatte mir versprochen, mich zeichnen zu lehren und mich französisch lernen zu lassen, wenn ich noch zwei Monate fortfahren würde, solche Fortschritte zu machen. Meine Mitschülerinnen waren mir freundlich gesinnt; meine Altersgenossinnen behandelten mich als ihresgleichen, niemand quälte, niemand belästigte mich – und jetzt lag ich hier zertreten, zermalmt! Würde ich mich jemals wieder erheben können?

»Niemals,« dachte ich; und brennend, glühend wurde der Wunsch in mir rege, sterben zu können. Während ich in gebrochenen Lauten diesen Wunsch hervorstammelte, näherte sich mir jemand; ich fuhr empor – wiederum war Helen Burns mir nahe; das erlöschende Feuer ließ mich gerade noch erkennen, wie sie durch das große, leere Zimmer daher kam, sie brachte mir Kaffee und Brot.

[101] »Komm, iß ein wenig,« sagte sie; aber ich schob beides zurück; mir war, als hätte ein Bissen, ein Tropfen in meinem gegenwärtigen Zustande eine Erstickung herbeiführen müssen. Helen sah mich wahrscheinlich mit Erstaunen an; wie sehr ich mich auch bemühte, jetzt konnte ich meiner Erregung nicht Herr werden. Ich fuhr fort laut zu weinen. Sie setzte sich zu mir auf den Fußboden, schlang die Arme um ihre Kniee und legte ihren Kopf auf dieselben; in dieser Stellung verharrte sie regungslos wie ein Indianer. Ich war die erste, die sprach:

»Helen, weshalb bleibst du bei einem Mädchen, das jedermann für eine Lügnerin hält?«

»Jedermann, Jane? Nun, es sind doch nur achtzig Wesen, welche dich so nennen hörten, und die Welt trägt ihrer Hunderte von Millionen.«

»Aber was habe ich mit Millionen zu thun? Die achtzig, welche ich kenne, verachten mich.«

»Jane, du irrst; wahrscheinlich ist nicht eine einzige in der ganzen Schule, die dich verachtet oder dich haßt; viele – dessen bin ich gewiß – bedauern dich von ganzem Herzen.«

»Wie können sie mich nach dem, was Mr. Brocklehurst gesagt hat, noch bedauern?«

»Mr. Brocklehurst ist kein Gott; er ist nicht einmal ein großer und bewunderter Mensch; man liebt ihn hier nicht; er hat auch niemals irgend etwas gethan, um sich beliebt zu machen. Wenn er dich wie seinen besonderen Liebling behandelt hätte, so würdest du rund umher nur Feinde gefunden haben, offene oder heimliche, – wie die Dinge jetzt aber liegen, würden die meisten Mädchen die Sympathie gern beweisen, wenn sie nur den Mut dazu hätten. Möglich ist es, daß Lehrerinnen und Schülerinnen dich während der nächsten zwei, drei Tage mit kalten Blicken betrachten, aber glaub mir, freundliche Gefühle und Gesinnungen tragen sie für dich im Herzen. Und wenn du fortfährst, gut und [102] fleißig zu sein, so werden diese Gefühle binnen kurzem um so augenscheinlicher zu Tage treten, weil sie eine Zeitlang unterdrückt werden mußten. Außerdem, Jane« – – – sie hielt inne.

»Nun, Helen?« fragte ich und legte meine Hand in die ihre; zärtlich rieb sie meine Finger, um sie zu erwärmen und fuhr dann fort:

»Wenn die ganze Welt dich haßte und dich für böse und gottlos hielt, so würdest du doch Freunde haben, solange dein eigenes Gewissen dich von Schuld freispricht und dir Recht giebt.«

»Nein; ich weiß, daß ich selbst dann gut von mir denken würde; aber das ist nicht genug; wenn andere mich nicht lieben, so will ich lieber sterben als leben – ich kann es nicht ertragen, einsam und gehaßt und verachtet zu sein, Helen. Sieh doch – um von dir oder Miß Temple oder sonst jemand, den ich wirklich liebe, ein wenig wahre, aufrichtige Liebe zu erringen, würde ich mir gern den Knochen meines Arms zerbrechen oder mich von einem wilden Stier aufspießen lassen oder mich einem scheu gewordenen Pferde in den Weg werfen und meine Brust von seinen Hufen zertreten lassen – –«

»Still Jane, still! Du denkst zu viel an die Liebe der Menschen; du bist zu stürmisch, zu heftig, du läßt dich zu sehr von deinen Empfindungen beherrschen. Die allmächtige Hand, die deinen Leib erschaffen und ihm Leben eingehaucht hat, gab dir andere Stützen als dein schwaches Selbst oder Wesen; diese sind ebenso schwach wie du. Außer dieser Welt, außer dem Menschengeschlecht giebt es eine unsichtbare Welt und ein Reich der Geister; diese Welt umgiebt uns, denn sie ist überall, diese Geister bewachen uns, denn sie sind da, um uns zu behüten; und wenn wir in Kummer und Schande stürben, wenn Verachtung von allen Seiten auf uns eindränge, wenn Haß uns zermalmte – so sähen Engel unsere Qualen, erkennten unsere Unschuld, wenn wir [103] unschuldig sind – und ich weiß, du bist schuldlos; diese Anklage, welche Mr. Brocklehurst aus zweiter Hand von Mrs. Reed hat und so jämmerlich und schwach und pathetisch gegen dich wiederholte, – sie trifft dich nicht; denn auf deiner reinen Stirn, in deinen lebensvollen Augen steht es geschrieben, daß du eine wahre offenherzige Natur bist – und Gott erwartet nur die Trennung der Seele vom Fleische, um uns mit dem höchsten Lohn zu krönen. Nun denn, weshalb von Leid überwältigt zu Boden sinken, wenn das Leben so bald zu Ende ist, und der Tod uns den Eintritt zu Seligkeit und Herrlichkeit bedeutet?«

Ich schwieg. Helen hatte mich beruhigt; aber die Ruhe, welche sie mir gegeben, hatte einen Zusatz von unsäglicher Traurigkeit. Ich fühlte den Eindruck von Weh als sie sprach, aber ich konnte nicht sagen, woher er kam; und als sie mit ihrer Rede zu Ende, ein wenig schneller atmete und trocken und kurz hustete, vergaß ich für einen Augenblick meinen eigenen Kummer und gab mich einer unbestimmten Furcht und Unruhe in Bezug auf sie hin.

Meinen Kopf an Helens Schulter lehnend, schlang ich meinen Arm um ihre Taille; sie zog mich an sich, und so ruhten wir lange schweigend. Nach Verlauf von ungefähr einer Viertelstunde trat eine dritte Person ins Zimmer. Ein frischer Wind hatte einige schwere Wolken vom Horizont fortgetrieben, und der Mond ging klar auf; durch ein nahes Fenster warf er seine hellen Strahlen auf uns und die nahende Gestalt, in welcher wir sofort Miß Temple erkannten.

»Ich kam, um dich zu suchen, Jane Eyre,« sagte sie, »du sollst in mein Zimmer kommen, und da Helen Burns bei dir ist, mag sie uns begleiten.«

Wir gingen. Unter Führung der Vorsteherin hatten wir unseren Weg durch ein Labyrinth von Korridoren zu suchen und eine Treppe emporzusteigen, bevor wir ihr Zimmer erreichten. Ein helles Feuer brannte in demselben; [104] es sah freundlich und behaglich aus. Miß Temple bedeutete Helen Burns, sich in einen niedrigen Lehnsessel an einer Seite des Kamins zu setzen; sie selbst nahm einen zweiten und rief mich an ihre Seite.

»Ist es jetzt vorüber?« fragte sie und blickte mir ins Gesicht. »Hast du deinen Kummer fortgeweint?«

»Ich fürchte, das werde ich nicht können.«

»Weshalb?«

»Weil ich ungerecht und fälschlich beschuldigt worden bin; und jetzt werden Sie, Madame, und alle anderen Menschen mich für böse und gottlos halten.«

»Wir werden dich für das halten, mein Kind, als was du dich erweis't. Fahre fort, dich wie ein gutes Mädchen zu betragen und du wirst mich zufrieden stellen.«

»Gewiß, Miß Temple?«

»Gewiß, Jane,« sagte sie und schlang ihren Arm um mich. »Und jetzt erzähle mir, wer die Dame ist, die Mr. Brocklehurst deine Wohlthäterin nannte.«

»Mrs. Reed, die Gattin meines Onkels. Mein Onkel ist tot, und er ließ mich in ihrer Obhut zurück.«

»Sie nahm dich also nicht aus eigenem Antrieb an Kindesstatt an?«

»Nein, Madame; sie hat es sehr ungern gethan; aber wie ich die Dienstboten oft erzählen hörte, nahm er ihr kurz vor seinem Tode das Versprechen ab, stets für mich sorgen zu wollen.«

»Nun also, Jane, du weißt ja, oder ich will es dir sagen, daß wenn ein Verbrecher angeklagt wird, man ihm stets gestattet, seine eigene Verteidigung zu führen. Man hat dich der Falschheit, der Lügenhaftigkeit angeklagt; verteidige dich vor mir so gut du kannst. Sag alles, was dein Gedächtnis als wahr rechtfertigen kann; aber füge nichts hinzu, verschweige nichts, übertreibe nichts.«

In der Tiefe meines Herzens beschloß ich, mich zu mäßigen, so korrekt wie möglich zu sein; und nach dem ich [105] einige Augenblicke nachgedacht hatte, um das, was ich zu sagen hatte, zusammenhängend zu ordnen, erzählte ich ihr die ganze Geschichte meiner traurigen Kindheit. Durch die Erregung sehr erschöpft, sprach ich in gemäßigteren Ausdrücken, als ich es sonst zu thun pflegte, wenn ich auf dieses qualvolle Thema kam; und Helens Warnung gedenkend, mich dem Rachegefühl nicht rückhaltslos hinzugeben, ließ ich viel weniger Galle und Wermut in die Erzählung einfließen, als es sonst wohl geschah. So vereinfacht und beschränkt, klang sie sehr glaubwürdig: während ich sprach, empfand ich, daß Miß Temple mir vollen Glauben schenkte.

Im Laufe der Erzählung hatte ich erwähnt, daß Mr. Lloyd gekommen sei, um mich nach jenem Krampfanfalle zu besuchen; denn niemals vergaß ich die für mich so entsetzliche Episode in dem roten Zimmer; wenn ich diese Details erzählte, konnte ich gewiß sein, daß meine Erregung in einem gewissen Grade die Grenzen überschritt; denn selbst in meiner Erinnerung noch hatte die Todesangst sich frisch erhalten, welche sich meiner bemächtigte, als Mrs. Reed mein wildes Flehen um Verzeihung verlachte und mich zum zweitenmal in das düstere, gespenstische Zimmer sperrte.

Ich war zu Ende. Schweigend betrachtete Miß Temple mich einige Minuten; dann sagte sie:

»Ich habe von Mr. Lloyd gehört; ich werde an ihn schreiben; wenn seine Antwort mit deinen Angaben übereinstimmt, so sollst du öffentlich von jeder Anklage freigesprochen werden. Für mich, Jane, stehst du schon jetzt unschuldig da.«

Sie küßte mich und behielt mich noch an ihrer Seite Mir gewährte das Betrachten ihres Angesichts, ihres Kleides, ihrer wenigen prunklosen Schmuckgegenstände, ihrer weißen Stirn, ihrer dicken, glänzenden Locken und strahlenden schwarzen Augen ein kindliches Vergnügen.

[106] Zu Helen Burns gewandt, fuhr sie fort:

»Wie geht es dir heute Abend, Helen? Hast du während des ganzen Tages viel gehustet?«

»Nicht ganz so viel wie sonst, glaube ich.«

»Und der Schmerz in deiner Brust?«

»Er ist nicht mehr so heftig.«

Miß Temple erhob sich, nahm ihre Hand und prüfte den Puls. Dann kehrte sie auf ihren Sitz zurück; ich hörte, wie sie leise seufzte. In Nachdenken versunken, verharrte sie einige Minuten; dann erwachte sie gleichsam und sagte fröhlich:

»Aber heute Abend seid ihr beide meine Gäste; ich muß euch als solche bewirten.« Sie zog die Glocke.

»Barbara,« sprach sie zu dem Mädchen, welches hierauf eintrat, »ich habe noch keinen Thee getrunken, bringe das Theebrett und bringe auch Tassen für diese beiden jungen Damen.«

Bald wurde das Theebrett gebracht. Wie hübsch erschienen der glänzende Theetopf und die Porzellantassen meinen Augen, als sie auf dem kleinen Tisch neben dem Kamin standen! Wie köstlich war das Aroma des heißen Getränks. Und nun erst der Duft der gerösteten Weißbrotschnitten! Zu meinem Bedauern – denn der Hunger begann jetzt, sich bei mir fühlbar zu machen – sah ich nur eine kleine Portion davon auf dem Teller; auch Miß Temple schien diese Entdeckung zu machen.

»Barbara,« sagte sie, »könntest du mir nicht noch etwas Brot und Butter bringen? Es ist nicht genug für drei.«

Barbara ging hinaus. – Gleich darauf kam sie zurück.

»Madame, Mrs. Harden sagt, sie habe die gewöhnliche Portion heraufgeschickt.«

Ich muß bemerken, daß Mrs. Harden die Haushälterin war, eine Frau nach Mr. Brocklehursts Herzen, die aus gleichen Teilen Fischbein und Eisen zusammengesetzt war.

[107] »Schon gut, schon gut!« entgegnete Miß Temple; »dann muß es wohl für uns genug sein, Barbara.« Als das Mädchen fort war, fügte sie lächelnd hinzu: »Glücklicherweise liegt es in meiner Macht, dem Mangel dieses eine Mal noch abzuhelfen.«

Nachdem sie Helen und mich aufgefordert hatte, uns an den Tisch zu setzen, und jeder von uns eine Tasse heißen Thee's und eine Scheibe köstlichen gerösteten Weißbrots gegeben hatte, erhob sie sich, öffnete eine Schieblade, nahm aus derselben ein in Papier gewickeltes Paket und enthüllte vor unseren Augen einen großen, prächtigen Krümelkuchen.

»Ich hatte die Absicht, jeder von euch ein Stück hiervon mit auf den Weg zu geben,« sagte sie, »da man uns aber so wenig Toast bewilligt hat, sollt ihr es jetzt schon haben,« und sie begann mit großmütiger Hand, den Kuchen in Scheiben zu schneiden.

Wir schmausten an diesem Abend wie von Nektar und Ambrosia; und es war nicht die kleinste Freude dieses Festes, daß unsere Wirtin uns mit freundlich zufriedenem Lächeln zusah, wie wir unseren regen Appetit an den köstlichen Leckerbissen, welche sie uns vorsetzte, stillten. Als der Thee getrunken und der Tisch abgeräumt war, rief sie uns wieder an den Kamin; wir setzten uns an jede Seite von ihr, und jetzt folgte ein Gespräch zwischen Helen und ihr, welchem lauschen zu dürfen allerdings eine Begünstigung war.

Miß Temple hatte stets etwas von Seelenfrieden in ihrem Äußeren, von Hoheit in ihrer Miene, von geläutertem Anstand in ihrer Sprache, welches jede Abweichung in das Feurige, Erregte, Ungestüme ausschloß – ein Etwas, welches die Freude jener heiligte, welche ihr zuhörten, welche sie anblickten, und allen ein Gefühl der Ehrfurcht einflößte. In diesem Augenblick war es auch meine Empfindung:[108] – was aber Helen Burns anbetraf, so überraschte sie mich aufs höchste.

Das erfrischende Mahl, das wärmende Feuer, die Gegenwart ihrer geliebten Lehrerin oder vielleicht mehr als alles dieses etwas in ihrem eigenen seltenen Gemüt, hatte alle Kräfte und Gaben in ihr geweckt. Sie erwachten, sie entflammten; zuerst glühten sie in den strahlenden Farben ihrer Wangen, welche ich bis zu dieser Stunde niemals anders als bleich und blutleer gekannt hatte; dann strahlten sie in dem feuchten Glanz ihrer Augen, welche plötzlich eine Schönheit bekommen hatten, die noch eigentümlicher war, als jene Miß Temples – eine Schönheit, die weder in der schönen Farbe noch in den langen Wimpern oder den herrlich gezeichneten Augenbrauen lag, – sondern in dem Ausdruck, in der Bewegung, in dem Glanz. Jetzt trug sie das Herz auf der Zunge und die Sprache floß – aus welcher Quelle weiß ich nicht – denn hat ein vierzehnjähriges Mädchen ein Herz, das groß genug, stark und kräftig genug ist, um den brausenden Quell der reinen, vollen, feurigen Beredsamkeit fassen zu können? Dies war die Eigenart von Helens Gesprächsweise an diesem mir unvergeßlichem Abende; es war, als wolle ihr Geist sich beeilen, in einer kurzen Spanne Zeit ebenso voll und ganz zu leben, wie die meisten Menschen während eines langen Daseins.

Sie sprachen über Dinge, von denen ich niemals gehört hatte; von längst geschwundenen Zeiten und Nationen; von fernen Ländern, von entdeckten oder nur geahnten Naturgeheimnissen – sie sprachen von Büchern. Wie viele sie gelesen hatten! Welchen reichen Schatz von Kenntnissen sie besaßen! Dann schienen sie so vertraut mit französischen Namen und französischen Schriftstellern; aber mein Erstaunen stieg aufs höchste, als Miß Temple Helen fragte, ob sie zuweilen einen freien Augenblick erübrigen könne, um das Latein, welches ihr Vater sie gelehrt hatte, zu wiederholen; dann nahm sie ein Buch von einem Bücherbrett und [109] bat sie, eine Seite des Virgil zu lesen und zu übersetzen; Helen gehorchte und mein Sinn für Verehrung und Hochachtung erweiterte sich, während ich lauschte. Kaum hatte sie geendet, als die Glocke ertönte, welche die Zeit des Schlafengehens verkündete; wir durften nicht länger verweilen; Miß Temple umarmte uns beide und sagte während sie uns an ihr Herz zog:

»Gott segne euch, meine Kinder!«

Helen hielt sie ein wenig länger ans Herz gedrückt als mich; sie ließ sie widerstrebender von sich; Helen folgte ihr Auge bis an die Thür; ihr galt der traurige Seufzer, welcher ihre Brust hob, ihr die Thräne, wel che sie schnell zu trocknen bemüht war.

Als wir das Schlafzimmer erreichten, hörten wir Miß Scatcherds Stimme; sie sah nach, ob die Schiebladen in Ordnung waren; gerade hatte sie jene von Helen Burns herausgezogen, und als wir eintraten, wurde Helen mit einem scharfen Verweise begrüßt und die Lehrerin kündigte ihr an, daß sie am folgenden Tage mit einem halben Dutzend unordentlicher Dinge an die Schulter geheftet umher gehen werde.

»Meine Sachen befanden sich allerdings in einer empörenden Unordnung,« flüsterte Helen mir zu, »ich hatte die Absicht gehabt aufzuräumen, aber ich vergaß es.«

Am nächsten Morgen schrieb Miß Scatcherd mit weithin sichtbaren Buchstaben auf ein Stück Pappe das Wort »Schlampe« und band es wie einen Denkzettel um Helens große, intelligente und milde Stirn. Geduldig und ohne Murren trug sie es bis zum Abend, es wie eine verdiente Strafe ansehend. Kaum hatte Miß Scatcherd sich nach den Nachmittags-Unterrichtsstunden zurückgezogen, als ich auf Helen losstürzte, es herabriß und es ins Feuer warf. Die Wut, deren sie nicht fähig war, hatte den ganzen Tag über in meiner Seele getobt, und große, heiße Thränen hatten fortwährend meine Wangen genetzt; denn der Anblick ihrer [110] traurigen Resignation gab mir einen unerträglichen Stich ins Herz.

Ungefähr eine Woche nach den oben erwähnten Erzählungen erhielt Miß Temple, welche an Mr. Lloyd geschrieben hatte, dessen Antwort; wie es schien, ergänzte das, was er sagte, meinen Bericht. Miß Temple rief die ganze Schule zusammen und verkündete, daß die Anklagen, welche gegen Jane Eyre erhoben, genau und sorgfältig untersucht worden, und daß sie glücklich sei, mich von jeder Schuld freisprechen zu können. Darauf schüttelten die Lehrerinnen mir die Hände und küßten mich, und ein Murmeln der Freude lief durch die Reihen meiner Gefährtinnen.

Eine schwere Last war mir vom Herzen genommen; und von dieser Stunde an begann ich von neuem ernstlich zu arbeiten; ich war fest entschlossen, mir einen Weg über alle Schwierigkeiten hinfort zu bahnen; ich mühte mich ab, und der Erfolg entsprach meinen Anstrengungen; mein Gedächtnis, welches von Natur nicht sehr stark war, besserte sich durch stete Übung; mein Verstand wurde durch die Arbeit geschärft; nach einigen Wochen wurde ich in eine höhere Klasse versetzt; in weniger als zwei Monaten gestattete man mir, mit dem Französischen und Zeichnen zu beginnen. Ich lernte die ersten beiden Zeiten des Verbums être und skizzierte meine erste Hütte – deren Mauern nebenbei gesagt in schräger Richtung den hängenden Turm von Pisa bei weitem übertrafen – an demselben Tage. Als ich an jenem Abend zu Bette ging, vergaß ich, in meiner Phantasie das Barmeciden-Souper von heißen Bratkartoffeln und Weißbrot und frischgemolkener Milch zu bereiten, mit dem ich sonst mein inneres Sehnen zu befriedigen pflegte; statt dessen ergötzte ich mich an dem Anblick idealer Zeichnungen, welche ich im Dunkeln sah, alle das Werk meiner eigenen Hand: fein gezeichnete Häuser und Bäume, malerische Felsen und Ruinen, stattliche Viehherden, reizende Malereien von Schmetterlingen, welche halberschlossene [111] Rosen umflogen; Vögel, welche an reifen Kirschen pickten, Nester von Zaunkönigen, in denen perlgroße Eier lagen, während junge Epheuranken sie umwucherten. Im Gedanken ventilierte ich auch die Möglichkeit, ob ich jemals imstande sein würde, ein gewisses kleines französisches Geschichtenbuch, welches Madame Pierrot mir an jenem Tage gezeigt hatte, fließend übersetzen zu können; – aber noch war dieses Problem nicht zu meiner Zufriedenheit gelöst, als ich sanft einschlief.

Wie richtig hat Salomo gesagt: – »Besser ein Mahl von frischen Kräutern, wo die Liebe ist, als ein gemästeter Ochse, wo der Haß ist.«

Jetzt hätte ich Lowood mit all seinen Entbehrungen nicht mehr gegen Gateshead-Hall mit seinem täglichen Luxus eingetauscht.

Neuntes Kapitel

Aber der Entbehrungen oder vielmehr der Mühseligkeiten in Lowood wurden auch weniger. Der Frühling kam – er war in der That schon gekommen; die Winterfröste hatten aufgehört; der Schnee war geschmolzen, die schneidenden Winde hatten nachgelassen. Meine armen Füße, welche die Lüfte des Januar geschunden und entzündet hatten, begannen zu heilen und unter den warmen Winden des April ihre alte Gestalt anzunehmen; die Nächte und Morgen ließen mit ihrer kanadischen Temperatur nicht länger das Blut in unseren Adern erfrieren; wir ertrugen es jetzt, die Spielstunde im Garten zuzubringen; zuweilen an besonders sonnigen Tagen begann es schon angenehm und freundlich zu werden, ein zartes Grün begann die braunen Beete zu überziehen, täglich wurde es frischer und erweckte die Vorstellung, daß die Hoffnung während der Nacht über sie hinschreite und jeden Morgen schönere Spuren ihrer Schritte zurücklasse. Unter den Blättern blickten Blumen hervor Schneeglöckchen, Krokus, dunkelrote Aurikeln und [112] goldäugige Dreifaltigkeitsblumen. An Donnerstagnachmittagen – ein halber Ferialtag – machten wir jetzt lange Spaziergänge und fanden am Feldrain, unter den Hecken noch schönere Blumen.

Ich entdeckte auch, daß ein großes Vergnügen, ein Genuß, welchem nur der Horizont eine Grenze setzte, außerhalb der hohen und mit eisernen Spitzen gekrönten Mauern unseres Gartens lag, – dieser Genuß bestand nämlich in der Aussicht, welche eine lange Reihe hochgipfeliger, grüner und schattiger Hügel bot – in einem klaren Bach voll dunkler Steine und funkelnder Wirbel und Strudel.

Wie ganz anders hatte dieses Bild ausgesehen, als ich es in Frost erstarrt, in ein Leichentuch von Schnee gehüllt unter dem bleiernen Himmel des Winters gesehen! Wenn todeskalte Nebel vom Ostwind gejagt über diese düsteren Gipfel hinzogen und über Wiesen und Anhöhen hinunterrollten, bis sie sich mit dem gefrorenen Nebel des Baches vereinigten! Dieser Bach selbst war damals ein Strom, zügellos und tobend; er durchriß den Wald und erfüllte die Luft mit tosendem Lärm und wildem Sprühregen; und der Wald an seinen Ufern war nichts als eine Reihe von Gerippen.

Aus dem April wurde Mai; ein klarer, schöner Mai; all seine Tage brachten blauen Himmel und milden Sonnenschein und leise westliche oder südliche Winde. Und jetzt reifte die Vegetation mit Macht; Lowood schüttelte seine Locken; es wurde grün und blütenreich; seine großen Ulmen- und Eschen- und Eichen-Skelette wurden majestätischem Leben zurückgegeben. Waldpflanzen sprießten in allen Ecken und Winkeln; zahllose Abarten von Moos füllten die Vertiefungen, und die wilden Schlüsselblumen bedeckten den Boden wie mit Sonnenstrahlen; oft habe ich an schattigen Stellen ihren zarten, goldigen Glanz für hellen Sonnenschein gehalten. Und alles die genoß ich oft und voll, frei, unbewacht und fast immer allein; diese [113] ungewohnte Freiheit, dieses Vergnügen hatte eine Ursache, von welcher zu reden jetzt meine Aufgabe sein muß.

Habe ich die Lage meines Wohnsitzes nicht als eine reizende geschildert, wenn ich erzählte, daß dieser in Hügel und Wald gebettet liegt und sich am Rande eines Stromes erhebt? Reizend in der That; ob aber gesund oder nicht, das ist eine andere Frage.

Jenes Waldthal, in welchem Lowood lag, war die Brutstätte von Nebeln und einer aus Nebel entstandenen Pestilenz; diese wuchs mit dem Frühling, kroch in das Waisenasyl, hauchte den Typhus in die überfüllten Schlafsäle und Schulzimmer, und bevor der Mai gekommen, war die Erziehungsanstalt in ein Hospital umgewandelt.

Durch Hunger und vernachlässigte Erkältungen war die Mehrzahl der Schülerinnen für die Ansteckung veranlagt; von achtzig Mädchen wurden fünfundvierzig zu gleicher Zeit von der Krankheit ergriffen. Die Schulstunden hörten auf, alle Regeln blieben unbeachtet. Den Wenigen, welche gesund blieben, wurde eine fast unbeschränkte Freiheit gewährt, denn der Arzt bestand auf der Notwendigkeit häufiger Bewegung in freier Luft, um sie gesund zu erhalten; und selbst wenn es anders gewesen wäre, so hatte niemand Zeit oder Lust, sie zu bewachen oder zurückzuhalten. Miß Temples ganze Aufmerksamkeit war von den Patientinnen in Anspruch genommen; sie wohnte im Krankenzimmer; niemals verließ sie es, mit Ausnahme von wenigen Stunden der Nacht, wo sie selbst die ihr so nötige Ruhe suchte. Die Lehrerinnen waren vollauf mit dem Packen oder anderen notwendigen Vorbereitungen für die Abreise jener Mädchen beschäftigt, welche glücklich genug waren, Freunde und Verwandte zu besitzen, die sie von dem Seuchenherd entfernten. Viele, welche den Keim der Ansteckung bereits in sich trugen, kehrten nur nach Hause zurück, um zu sterben; einige starben in der Anstalt und wurden schnell und ruhig begraben, da die Natur der Krankheit keinen Aufschub duldete.

[114] Während so die entsetzliche Krankheit eine Bewohnerin von Lowood geworden war und der Tod sein häufiger Besucher; während innerhalb seiner Mauern Furcht und Trauer herrschten; während die Dünste eines Hospitals durch Zimmer und Korridore zogen, und Tränke und Pastillen umsonst versuchten, der Ausdünstung des Todes entgegen zu wirken, – leuchtete draußen der strahlende Mai über stolze Hügel und herrliches Waldland. Der Garten prangte im Blumenflor: Rosenpalmen waren so hoch wie Bäume in die Höhe geschossen; Lilienkelche waren erschlossen, Tulpen und Rosen standen in Blüte; die Ränder der kleinen Beete strahlten in ihrem Schmuck von rosa Seenelken und dunkelroten Tausendschönchen; Morgen und Abend strömten die Heckenrosen ihren würzigen Duft aus – und diese blühenden Schätze waren jetzt für die meisten Bewohnerinnen von Lowood wertlos – nur zuweilen legte man ihnen eine Handvoll Blüten und Kräuter in den Sarg.

Aber ich und die übrigen, welche gesund blieben, genossen in vollen Zügen die Schönheit des Frühlings und der Gegend; man ließ uns wie Zigeuner im Walde umher streifen; wir thaten von morgens bis abends nur, was uns gefiel, gingen wohin wir wollten – und führten überhaupt ein besseres Dasein als früher. Mr. Brocklehurst und seine Familie kamen Lowood jetzt gar nicht mehr zu nahe; die Angelegenheiten der Haushaltung wurden nicht mehr geprüft; die böse Haushälterin war fort; die Furcht vor Ansteckung hatte sie fortgetrieben; ihre Nachfolgerin, welche in der Armenapotheke in Lowton Vorsteherin gewesen war, kannte die Gebräuche ihres neuen Aufenthalts noch nicht und versorgte uns mit verhältnismäßiger Freigebigkeit. Außerdem waren unserer ja weniger, die da Nahrung verlangten; die Kranken konnten wenig essen; unsere Frühstücksschüsseln wurden besser gefüllt; wenn sie keine Zeit hatte, ein regelrechtes Mittagessen herzurichten – ein Fall, der ziemlich häufig eintrat, – pflegte sie uns ein großes [115] Stück kalter Pastete zu geben oder eine große Schnitte Brot und Käse, und diesen Proviant nahmen wir dann mit uns in den Wald hinaus, wo jede von uns ihr Lieblingsplätzchen aufsuchte und ein königliches Mahl hielt.

Mein Lieblingssitz war ein breiter, glatter Stein, welcher weiß und trocken mitten aus dem Waldbache herausragte; er war nur zu erreichen, indem ich durch das Wasser watete, und diese That vollbrachte ich denn ziemlich oft und zwar barfuß. Der Stein war gerade breit genug, um außer mir noch einem anderen Mädchen bequemen Platz zu gewähren; dies war Mary Ann Wilson, damals meine auserwählte Gefährtin; sie war ein kluges, beobachtendes Geschöpf, deren Gesellschaft mir Freude machte, teilweise weil sie witzig und originell war, und teilweise, weil sie Manieren und Sitten hatte, welche mir besonders zusagten. Um einige Jahre älter als ich, kannte sie mehr von der Welt und konnte mir von vielen Dingen erzählen, die ich gern hörte; in ihrer Gesellschaft wurde meine Neugierde befriedigt; mit meinen Fehlern hatte sie die größte Nachsicht und niemals versuchte sie meinen Worten Zwang oder Zügel anzulegen. Sie hatte ein großes Erzählertalent, – ich besaß Talent für die Analyse; sie liebte es zu belehren – ich zu fragen; so wurden wir prächtig miteinander fertig und zogen wenn auch nicht viel Belehrung, so doch viel Vergnügen aus unseren gegenseitigen Verkehr.

Und wo war inzwischen Helen Burns? Weshalb brachte ich diese süßen Tage der Freiheit nicht in ihrer Gesellschaft zu? Hatte ich sie vergessen? Oder war ich so leichtsinnig, so unwürdig, daß ich ihrer veredelnden Gesellschaft müde geworden? Gewiß war die obenerwähnte Mary Ann Wilson jener meiner ersten Freundin nicht ebenbürtig; sie konnte mir nur lustige Geschichten erzählen oder irgend einen witzigen Klatsch wiederholen, der mir gerade Vergnügen machte, während Helen, wenn ich die Wahrheit über sie gesprochen habe, geeignet war, denen, welche das Vorrecht, [116] die Begünstigung ihrer Unterhaltung genossen, Sinn und Geschmack für höhere, reinere Dinge einzuflößen.

Das ist wahr, mein teurer Leser, und ich wußte und fühlte das; – und obgleich ich ein unvollkommenes Geschöpf bin mit vielen Fehlern und wenigen guten Eigenschaften, so war ich Helen Burns' doch noch niemals überdrüssig geworden; niemals hatte ich aufgehört, für sie eine Liebe zu hegen, die so stark, so zärtlich und so achtungsvoll war, wie nur je ein Gefühl mein Herz bewegt hat. Wie hätte es denn auch anders sein können, wenn Helen zu allen Zeiten und unter allen Umständen mir eine ruhige und treue Freundschaft bewiesen hatte, welche keine böse Laune je verbitterte, kein Streit jemals störte? – Aber Helen war augenblicklich krank; seit mehreren Wochen war sie meinen Augen bereits entrückt; ich wußte nicht, in welchem Zimmer sie sich jetzt befand. Man hatte mir gesagt, daß sie sich nicht in der Hospitalabteilung unter den Fieberkranken befände; denn ihre Krankheit war die Schwindsucht, nicht der Typhus, und ich in meiner Unwissenheit stellte mir unter Schwindsucht etwas mildes vor, das durch Pflege und Fürsorge mit der Zeit geheilt werden müsse.

In dieser Idee wurde ich noch dadurch bestärkt, daß sie einigemal an sonnigen, warmen Nachmittagen herunter kam und von Miß Temple in den Garten geführt wurde; bei diesen Gelegenheiten gestattete man mir aber nicht, mit ihr zu sprechen oder mich ihr auch nur zu nähern; ich sah sie nur aus dem Fenster des Schulzimmers und dann nicht einmal deutlich; denn sie war in viele Tücher gehüllt und saß in einiger Entfernung auf der Veranda.

Eines Abends im Anfang des Monats Juni war ich sehr spät mit Mary Ann im Walde geblieben; wie gewöhnlich hatten wir uns von den anderen getrennt und waren weit gewandert, so weit, daß wir den Weg verloren und denselben in einer einsamen Hütte erfragen mußten, wo ein Mann und eine Frau wohnten, die eine Herde voll halbwilder [117] Schweine zu hüten hatten, welche von der Eichelmast im Walde gemästet wurden. Als wir endlich zurückkamen war der Mond schon aufgegangen; ein Pony, welches wir als dasjenige des Arztes erkannten, stand an der Gartenpforte. Mary Ann bemerkte, daß wahrscheinlich irgend jemand schwer erkrankt sein müsse, wenn Mr. Bates noch so spät am Abend geholt worden sei. Sie ging in das Haus; ich blieb zurück, um noch eine Handvoll Wurzeln, die ich im Walde ausgegraben, in meinem Garten einzupflanzen; ich fürchtete, daß sie bis zum nächsten Morgen verwelken würden. Nachdem dies geschehen, verweilte ich noch einige Minuten; die Blumen dufteten so süß, als der Thau fiel; es war ein so wunderschöner Abend, so rein, so ruhig, so warm; und der noch gerötete Westen versprach wiederum einen schönen Tag. Im dunklen Osten stieg majestätisch der Mond empor. Ich beobachtete dies alles und freute mich daran, wie ein Kind sich zu freuen vermag, – da plötzlich kam mir der Gedanke, wie niemals zuvor:

»Wie traurig ist es doch, jetzt auf dem Krankenbett liegen zu müssen und in Todesgefahr zu schweben! Diese Welt ist so schön – wie entsetzlich wäre es, abberufen zu werden und wer weiß wohin gehen zu müssen!«

Und dann machte meine Seele die erste ernste Anstrengung, das zu begreifen, was man in Bezug auf Himmel und Hölle in sie gelegt hatte; zum erstenmal blickte ich um mich und sah vor mir, neben mir, hinter mir nichts als einen unermeßlichen Abgrund; zum erstenmal bebte meine Seele entsetzt zurück, sie empfand und fühlte nichts sicheres mehr als den einen Punkt, auf welchem sie stand – die Gegenwart, alles andere war eine formlose Wolke, eine unergründliche Tiefe – es schauderte mich bei dem Gedanken zu straucheln, zu wanken – und in das Chaos hinabzutauchen. Als ich noch diesen neuen Gedanken nachhing, hörte ich, wie die große Hausthür geöffnet wurde; Mr. Bates trat heraus, mit ihm eine Krankenwärterin. [118] Nachdem sie gewartet bis er aufs Pferd gestiegen und fortgeritten war, wollte sie die Thür wiederum schließen. Ich lief zu ihr.

»Wie geht es Helen Burns?«

»Sehr schlecht,« lautete die Antwort.

»War Mr. Bates ihretwegen gekommen?«

»Ja.«

»Und was sagt er?«

»Er sagt, daß sie nicht mehr lange bei uns verweilen wird.«

Hätte ich diese Phrase gestern gehört, so würde sie nur den Glauben in mir wachgerufen haben, daß man sie nach Northumberland in ihre Heimat bringen wolle. Ich würde nicht vermutet haben, daß es bedeute, sie sei sterbend, – aber jetzt begriff ich sofort; es wurde mir augenblicklich klar, daß Helen Burns' Tage auf dieser Welt gezählt seien, und daß sie bald hinauf in die Region der Geister gehen würde – wenn es überhaupt eine solche Region gab. Im ersten Moment bemächtigte sich meiner ein namenloser Schrecken; dann empfand ich den heftigsten Schmerz, dann einen Wunsch – den Wunsch, sie zu sehen. Und ich fragte, in welchem Zimmer sie läge.

»Sie ist in Miß Temples Zimmer,« sagte die Wärterin.

»Kann ich hinauf gehen und mit ihr sprechen?«

»O nein, Kind! Das geht nicht an. Und jetzt ist es auch für Sie Zeit, hinein zu gehen; Sie werden das Fieber bekommen, wenn Sie draußen sind, während der Thau fällt.«

Die Wärterin schloß die Hausthür; ich ging durch den Seiteneingang, welcher zu dem Schulzimmer führte; ich kam noch zu rechter Zeit; es war neun Uhr, und Miß Miller rief gerade die Schülerinnen zum Schlafengehen.

Es mochte vielleicht zwei Stunden später, ungefähr elf Uhr sein; es war mir nicht möglich gewesen einzuschlafen und aus der tiefen Ruhe, welche im Schlafzimmer herrschte, [119] schloß ich, daß meine Gefährtinnen fest schliefen; leise stand ich auf, zog mein Kleid über mein Nachtgewand und schlich mich barfuß aus dem Gemach, um Miß Temples Zimmer zu suchen. Es befand sich am entgegengesetzten Ende des Hauses; aber ich kannte den Weg, und die Strahlen des unbewölkten Sommermondes halfen mir, ihn zu finden. Ich verspürte einen scharfen Geruch von Kampher und gebranntem Essig, als ich mich dem Zimmer der Fieberkranken näherte; schnell eilte ich an der Thür vorüber, aus Furcht, daß die Krankenwärterin, welche die ganze Nacht wachen mußte, mich hören könne. Ich hatte Angst davor, entdeckt und zurückgeschickt zu werden, denn ich mußte Helen sehen, – ich mußte sie umarmen bevor sie starb, – ich mußte ihr einen letzten Kuß geben, noch ein letztes Wort mit ihr sprechen.

Nachdem ich die Treppe hinuntergegangen war, einen Teil vom Erdgeschoß des Hauses durchschritten hatte und es mir gelungen war, ohne Geräusch zwei Thüren zu öffnen, erreichte ich eine zweite Treppe; diese stieg ich wieder hinauf und befand mich gerade vor der Thür von Miß Temples Zimmer. Durch das Schlüsselloch und eine Spalte unterhalb der Thür fiel ein Lichtschein; überall herrschte tiefste Stille. Als ich näher kam, fand ich die Thür ein wenig geöffnet, wahrscheinlich um in das dumpfe Krankengemach etwas Luft dringen zu lassen. Nicht gewillt zu zögern, von ungeduldigem Drange beseelt – Seele und alle Sinne in heftigem Schmerz erbebend – öffnete ich sie ganz und blickte hinein. Mein Auge suchte Helen und fürchtete – den Tod zu finden.

Dicht neben Miß Temples Bett und mit den weißen Vorhängen desselben halb verhängt, stand ein kleines Bettchen. Ich sah die Umrisse einer Gestalt unter der Bettdecke, doch das Gesicht war durch die Gardinen verdeckt. Die Wärterin, mit welcher ich im Garten gesprochen hatte, saß in einem Lehnstuhl und schlief; eine halbherabgebrannte [120] Kerze, die auf dem Tische stand, verbreitete ein trübes Licht. Miß Temple war nicht sichtbar; später erfuhr ich, daß sie zu einer im Delirium liegenden Fieberkranken gerufen worden. – Ich wagte mich weiter ins Zimmer hinein; dann stand ich neben dem kleinen Bette still; meine Hand faßte den Vorhang, doch hielt ich es für besser, zu sprechen, bevor ich denselben zur Seite zog. Ein Schauer faßte mich bei dem Gedanken, daß ich vielleicht nur noch eine Leiche sehen könnte.

»Helen,« flüsterte ich sanft, »wachst du?«

Sie bewegte sich, schob den Vorhang zurück – – und ich blickte in ihr bleiches, abgezehrtes aber ruhiges Gesicht. Sie schien so wenig verändert, daß meine Furcht augenblicklich schwand.

»Bist du's wirklich, Jane?« fragte sie mit ihrer gewohnten, sanften Stimme.

»Ah!« dachte ich, »sie wird nicht sterben; sie irren sich alle; wäre es der Fall, so könnte sie nicht so ruhig, so friedlich aussehen; das wäre nicht möglich.«

Ich ging an ihr Bett und küßte sie; ihre Stirn war kalt und ihre Wange war kalt und abgezehrt, und ihre Hände und ihre Arme ebenfalls; aber ihr Lächeln war das alte geblieben.

»Weshalb kommst du hierher, Jane? Es ist schon nach elf Uhr; ich habe es vor einigen Minuten schlagen hören.«

»Ich kam um dich zu sehen, Helen. Ich hörte, du seist sehr krank, und ich konnte nicht einschlafen, bevor ich noch einmal mit dir gesprochen hatte.«

»Du bist also gekommen, um mir Lebewohl zu sagen: wahrscheinlich bist du gerade noch zu rechter Zeit gekommen.«

»Willst du fort, Helen? Willst du etwa nach Hause.«

»Ja, nach Hause – in meine letzte, meine ewige Heimat!«

»Nein, nein, Helen,« unterbrach ich sie jammernd[121] Während ich versuchte, meiner Thränen Herr zu werden, hatte Helen einen heftigen Hustenanfall; indessen weckte dieser die Krankenwärterin nicht; als er vorüber, lag sie einige Minuten ganz erschöpft da; dann flüsterte sie:

»Jane, deine kleinen Füße sind nackt; lege dich zu mir ins Bett und decke dich mit meiner Decke zu.«

Ich that es; sie schlang ihren Arm um mich, und ich schmiegte mich dicht an sie. Nach langem Schweigen fuhr sie flüsternd fort:

»Ich bin sehr glücklich, Jane; und wenn du hörst, daß ich gestorben bin, so mußt du mir versprechen, nicht zu trauern; denn es ist nichts zu betrauern. Wir alle müssen ja eines Tages sterben, und die Krankheit, die mich fortrafft, ist nicht schmerzhaft; sie schreitet langsam und schmerzlos fort; mein Gemüt ist in Frieden. Ich hinterlasse niemanden, der mich betrauert. Ich habe nur einen Vater; er hat sich vor kurzem wieder verheiratet und wird mich nicht vermissen. Ich sterbe jung – aber ich werde auch vielen Leiden entgehen. Ich hatte keine Eigenschaften, keine Talente, die mir geholfen hätten, einen guten Weg durch die Welt zu machen. Fortwährend würde ich das Verkehrte gethan haben.«

»Aber wohin gehst du denn, Helen? Kannst du es sehen? Kannst du glauben?«

»Ich glaube; – ich habe die feste Zuversicht: ich gehe zu Gott.«

»Wo ist Gott? Was ist Gott?«

»Mein Schöpfer und der deine, der niemals zerstören kann, was er geschaffen hat. Ich glaube fest an seine Macht und vertraue seiner Allgüte. Ich zähle die Stunden bis zu jener großen, bedeutungsvollen, die mich ihm zurückgeben soll, ihn mir von Angesicht zu Angesicht zeigen wird.«

»Du bist also sicher, Helen, daß es ein Etwas giebt, das sich Himmel nennt; und daß unsere Seelen dorthin gehen werden, wenn wir sterben?«

[122] »Ich bin sicher, daß es ein künftiges Leben giebt; ich glaube, daß Gott gut ist; ich gebe ihm mein unsterbliches Teil vertrauensvoll hin. Gott ist mein Vater; Gott ist mein Freund, ich liebe ihn; ich glaube, daß er mich liebt.«

»Und werde ich dich wiedersehen, Helen, wenn ich sterbe?«

»Du wirst in dieselben Regionen der Glückseligkeit kommen wie ich; derselbe mächtige Allvater wird auch dich an sein Herz nehmen, Jane, zweifle nicht daran.«

Wiederum fragte ich, doch dieses Mal nur in Gedanken, »wo sind jene Regionen? Sind sie wirklich?« Und fester schlang ich meine Arme um Helen; sie war mir in diesem Augenblick teurer denn je; mir war, als könne ich sie nicht fortgehen lassen; ich verbarg mein Gesicht an ihrer Brust. Gleich darauf sagte sie in ihrer süßesten Weise:

»Wie wohl ich mich fühle! Jener letzte Hustenanfall hat mich ein wenig ermüdet; mir ist, als könnte ich jetzt schlafen; aber verlaß mich nicht, Jane; es ist so schön, dich so nahe zu wissen.«

»Ich bleibe bei dir, süße Helen; niemand soll mich von hier fortnehmen.«

»Ist dir warm, mein Liebling?«

»Ja.«

»Gute Nacht, Jane.«

»Gute Nacht, Helen.«

Sie küßte mich und ich küßte sie: bald schliefen wir beide.

Als ich erwachte, war es Tag. Eine ungewöhnliche Bewegung weckte mich; ich öffnete die Augen; jemand hielt mich in den Armen; es war die Krankenwärterin; sie trug mich durch die Korridore in den Schlafsaal zurück. Man erteilte mir keinen Verweis dafür, daß ich mein Bett verlassen hatte; die Leute hatten an andere Dinge zu denken. Auf meine vielen Fragen gab man mir damals keine Erklärungen; aber einige Tage später erfuhr ich, daß Miß Temple, als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt, mich in dem [123] kleinen Bette gefunden habe; mein Gesicht ruhte auf Helen Burns Schulter, meine Arme umschlangen ihren Hals. Ich schlief, und Helen war – tot.

Ihr Grab befindet sich auf dem Friedhofe von Brocklebridge; noch fünfzehn Jahre nach ihrem Tode deckte es nur ein einfacher Grashügel. Jetzt bezeichnet eine graue Marmortafel die Stelle; darauf steht ihr Name und das Wort:

»Resurgam.«

Zehntes Kapitel

Bis hierher habe ich jede Begebenheit meines unbedeutenden Daseins bis ins kleinste Detail geschildert; – den ersten zehn Jahren meines Lebens habe ich ebenso viele Kapitel gewidmet. – Es ist aber nicht meine Absicht, eine ordentliche Autobiographie zu schreiben; ich fühle mich nur verpflichtet, mein Gedächtnis zu befragen, wo seine Antworten bis zu einem gewissen Grade Interesse bieten können; darum übergehe ich einen Zeitraum von acht Jahren fast mit Stillschweigen; nur wenige Reihen sind notwendig, um die Verbindung aufrecht zu erhalten.

Als das typhöse Fieber seine Mission der Zerstörung in Lowood erfüllt hatte, verschwand es nach und nach von dort; aber nicht, bevor seine Heftigkeit und die Anzahl seiner Opfer die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatten. Die Ursache dieser Geißel wurde genau untersucht, und so wurden mehrere Fakta entdeckt, welche die allgemeine öffentliche Empörung im höchsten Grade wachriefen. Die ungesunde Lage des Instituts; die Quantität und die Qualität der Nahrung, welche den Kindern verabreicht wurde; das schlechte, stinkende Wasser, welches bei der Zubereitung verwendet wurde; die elende, unzureichende Bekleidung der Schülerinnen – alle diese Dinge kamen ans Tageslicht, und die Entdeckung machte einen sehr beschämenden Eindruck für Mr. Brocklehurst, hatte aber eine wohlthätige Wirkung für das Institut.

[124] Mehrere wohlhabende und wohlwollende Leute in der Gegend zeichneten große Summen für den Aufbau eines passenderen Gebäudes in einer besseren Lage; neue Statuten wurden aufgestellt. Verbesserungen in Diät und Kleidung eingeführt; das Betriebskapital der Schule wurde der Verwaltung eines Komitees anvertraut. Mr. Brocklehurst, welcher seiner Famlienverbindungen und seines Reichtums wegen nicht ganz übersehen werden konnte, behielt das Amt eines Kassenverwalters; aber bei der Erledigung seiner Pflichten standen ihm Herren von sympathischerer Sinnesart und humanerem Charakter zur Seite; auch sein Amt als Inspektor mußte er mit Leuten teilen, welche Strenge mit Vernunft, Komfort mit Sparsamkeit, Mitgefühl mit Gerechtigkeit zu paaren wußten. In solcher Gestalt verbessert, wurde sie mit der Zeit zu einer wahrhaft nützlichen und edlen Gründung. Ich blieb noch acht Jahre nach ihrer Renovation eine Bewohnerin ihrer Mauern: sechs Jahre als Schülerin und zwei als Lehrerin. In beiden Eigenschaften kann ich nur ihren großen Wert und ihre Wichtigkeit bezeugen.

Während dieser acht Jahre war mein Leben außerordentlich einförmig; aber nicht unglücklich, weil es nicht unthätig war. Die Mittel, mir eine ausgezeichnete Erziehung anzueignen, waren mir an die Hand gegeben; eine Vorliebe für einige meiner Studien, der Wunsch, in allen das Höchste zu erreichen, verbunden mit dem innigen Wunsch, meine Lehrerinnen zu befriedigen, besonders jene, welche ich liebte: dies alles trieb mich vorwärts und daher benutzte ich in vollem Maße die Vorteile, welche sich mir darboten. Mit der Zeit stieg ich zum Range der ersten Schülerin in der ersten Klasse empor; dann wurde ich mit dem Amte einer Lehrerin betraut; dieser Pflichten erledigte ich mich während zweier Jahre. Doch nach Ablauf dieser Zeit wurde ich andern Sinnes.

Während all dieser Wechsel war Miß Temple Vorsteherin [125] des Seminars geblieben; ihrem Unterricht verdankte ich den besten Teil meiner Kenntnisse; ihre Freundschaft und ihre Gesellschaft waren mein immerwährender Trost gewesen; sie hatte die Stelle einer Mutter bei mir vertreten, sie war meine Erzieherin und später meine Gefährtin gewesen. Um diese Zeit heiratete sie und zog mit ihrem Gatten – einem Geistlichen, der ein ausgezeichneter Mann und beinahe einer solchen Gattin würdig gewesen wäre – in eine entfernte Grafschaft; für mich war sie folglich verloren.

Seit dem Tage, wo sie uns verließ, war ich nicht mehr dieselbe; mit ihr war jedes Gefühl der Festigkeit, jede Gemeinschaft, die Lowood bis zu einem gewissen Grade zu meiner Heimat gemacht hatte, dahin. Ich hatte einiges von ihrer Natur, viele ihrer Gewohnheiten angenommen; harmonischere Gedanken, besser geregelte Empfindungen waren die Bewohner meiner Seele geworden. Ich hatte mich der Pflicht und der Ordnung unterworfen; ich war ruhig geworden; ich glaubte, daß ich zufrieden sei; den Augen anderer, oft sogar meinen eigenen, erschien ich ein wohldisziplinierter und fester, gezügelter Charakter.

Aber das Schicksal in Gestalt Sr. Ehrwürden des Herrn Nasmyth trat zwischen Miß Temple und mich; – ich sah sie kurz nach der Ceremonie der Trauung im Reisekleide in die Postchaise steigen; ich sah den Wagen den Hügel hinauf fahren und hinter diesem Hügel verschwinden. Dann ging ich auf mein Zimmer. Und dort verbrachte ich auch in Einsamkeit den größten Teil des halben Ferialtages, welchen man uns der feierlichen Gelegenheit zu Ehren gewährt hatte.

Viele Stunden lang ging ich im Zimmer auf und ab. Ich bildete mir ein, daß ich nur meinen Verlust betrauere und daran dächte, ihn zu ersetzen; als ich aber den Schluß meiner Reflexionen zog und aufsah und fand, daß der Nachmittag hingegangen und der Abend weit vorgeschritten sei, – da dämmerte eine andere Entdeckung vor mir auf: [126] ich fühlte, daß ich in der Zwischenzeit einen transformierenden Prozeß durchgemacht habe; daß mein Gemüt abgestreift habe alles, was es von Miß Temple erborgt hatte – oder vielmehr, daß sie die reine Atmosphäre, welche ich in ihrer Nähe eingeatmet hatte, mit sich genommen habe, und daß ich jetzt in meinem eigenen natürlichen Element zurückgeblieben sei. Ich fühlte, wie die alten, wilden Gefühle wieder in mir erwachten. Es war nicht, als ob eine Stütze mir genommen sei, sondern vielmehr, als ob eine bewegende Kraft verloren gegangen; nicht als ob die Fähigkeit ruhig und zufrieden zu sein, geschwunden sei, sondern als ob dieUrsache zur Zufriedenheit dahin sei. Während vieler Jahre war Lowood meine ganze Welt gewesen; meine Erfahrung kannte nichts anderes als seine Vorschriften, sein System. Jetzt aber fiel mir ein, daß die Welt groß sei, und daß ein weites, wechselvolles Feld von Furcht und Hoffnung, von Bewegung und Anregung jene erwarte, welche genug Mut besäßen, auf diese Wahlstatt hinauszugehen, um wirkliche Lebenserfahrung und Kenntnis inmitten seiner Gefahren zu suchen.

Ich ging an das Fenster, öffnete es und blickte hinaus. Da lagen die beiden Flügel des Gebäudes, da war der Garten, dort die Grenze von Lowood, weit hinten der hügelige Horizont. Mein Auge schweifte über alle anderen Gegenstände fort, um an den entferntesten haften zu bleiben: an den Gipfeln der Berge! Diese zu übersteigen sehnte ich mich; alles was innerhalb ihrer Grenzen von Felsen und Haide lag, schien mir Gefängnisboden, Grenzen des Exils. Ich verfolgte die weiße Landstraße, welche sich an dem Fuße eines Berges dahin zog und in einer Schlucht zwischen zwei Höhen verschwand, mit den Augen. Ach! wie gern wäre ich ihr noch weiter gefolgt! Ich erinnerte mich der Zeit, da ich in einer Postkutsche auf dieser selben Straße des Weges gekommen; ich erinnerte mich, wie ich in der Dämmerung jenen Hügel herunter gefahren; ein Menschenalter [127] schien vergangen seit jenem Tage, der mich zuerst nach Lowood geführt – und nicht eine Stunde hatte ich es seitdem verlassen. Alle meine Ferien waren in der Schule dahin gegangen; Mrs. Reed hatte mich niemals wieder nach Gateshead kommen lassen und ebensowenig hatte sie oder irgend ein Mitglied ihrer Familie mich besucht. Weder durch Briefe noch durch mündliche Botschaft hatte ich einen Verkehr mit der Außenwelt aufrecht erhalten; Schulregeln, Schulpflichten, Schulgebräuche, Schulgedanken, Stimmen, Gesichter, Phrasen, Kostüme, Sympathieen und Antipathieen – das war alles, was ich vom Dasein kannte. Und jetzt empfand ich, daß dies nicht genug sei. In einem einzigen Nachmittage wurde ich des Schlendrians von acht Jahren müde! Ich ersehnte die Freiheit; ich lechzte nach Freiheit; um die Freiheit betete ich; der Wind, der sich leise erhob, schien das Gebet davon zu tragen. Dann gab ich die Freiheit auf und sprach einen demütigeren Wunsch aus: ich bat um Veränderung, um irgend ein Reizmittel. Aber auch diese Bitte schien sich in dem leeren Raum zu verlieren. »Dann,« rief in voller Verzweiflung aus, »dann sei mir wenigstens eine neue Dienstbarkeit gewährt!«

Hier rief mich eine Glocke, welche die Stunde des Abendessens verkündete, in das Refektorium hinunter.

Bis zur Zeit des Schlafengehens konnte ich meinen unterbrochenen Gedankengang nicht mehr aufnehmen; selbst dann hielt mich noch eine Lehrerin, welche das Zimmer mit mir teilte, durch einen Erguß kleinlichen, interesselosen Geschwätzes von dem Gegenstande fern, zu dem ich mich sehnte mit meinen Gedanken zurückkehren zu können. Wie wünschte ich, daß der Schlaf sie endlich zum Schweigen gebracht hätte! Mir war, als müßte mir irgend eine erfinderische Eingebung zur Hilfe kommen, wenn es mir nur möglich gewesen wäre, zu jenem Gedanken zurückzukehren, der meine Seele zuletzt beschäftigte, als ich am Fenster stand.

[128] Endlich schnarchte Miß Gryce; sie war eine schwerfällige Walliserin, und bis jetzt hatte ich ihre gewöhnlichen nasalen Töne in keinem anderen Lichte betrachtet, als in dem einer Belästigung; heute Abend aber begrüßte ich die ersten tiefen Noten mit innerster Befriedigung; ich brauchte keine Unterbrechung mehr zu fürchten; meine halbverlöschten Gedanken belebten sich von neuem.

»Eine neue Dienstbarkeit! Darin liegt etwas,« sagte ich zu mir selbst, (natürlich nur im Geiste, wohlverstanden, denn ich sprach nicht laut). »Ich weiß, daß es so ist, denn es klingt nicht allzu süß; es klingt nicht wie die Worte Freiheit, Aufregung, Genuß – – prächtige Laute in der That; aber für mich doch nichts als Laute; und so hohl, so flüchtig, daß es wahre Zeitverschwendung ist, ihnen nur zu lauschen. Aber Dienstbarkeit! Das ist eine Thatsache! Jeder kann dienen! Ich habe hier acht Jahre gedient; und jetzt wünsche ich ja nichts weiter, als anderswo dienen zu können. Kann ich meinen eigenen Willen denn nicht wenigstens so weit durchsetzen? Ist die Sache denn nicht thunlich? Ja – ja – das Ende ist nicht so schwer, wenn mein Gehirn nur thätig genug wäre, um die Mittel es zu erreichen, aufspüren zu können.«

Ich saß aufrecht im Bette, um mein vorerwähntes Hirn zur Thätigkeit anzuspornen; es war eine frostige Nacht; ich bedeckte meine Schultern mit einem Shawl und dann fing ich wieder mit allen Kräften an zudenken.

»Was wünsche ich denn eigentlich? Eine neue Stelle, in einem neuen Hause, unter neuen Gesichtern, unter neuen Verhältnissen. Dies wünsche ich, weil es nichts nützt, etwas Besseres, Größeres zu wünschen. Wie machen die Leute es nun, um eine neue Stelle zu bekommen? Sie wenden sich an ihre Freunde, wie ich vermute, – ich habe keine Freunde. Es giebt aber noch viele Menschen, die keine Freunde haben und sich selbst umsehen müssen und sich selbst helfen. Welches sind denn nun ihre Hilfsquellen?«

[129] Ja, das wußte ich nicht; niemand konnte mir antworten. Deshalb befahl ich meinem Hirn, eine Antwort zu finden, und zwar so schnell wie möglich. Es arbeitete schneller und schneller; ich fühlte die Pulse in meinem Kopf und meinen Adern klopfen; aber fast eine Stunde lang arbeitete es in einem Chaos, und all seine Anstrengungen hatten keinen Erfolg. Fieberhaft erregt durch die nutzlose Arbeit erhob ich mich wieder und ging einigemal im Zimmer auf und nieder; zog den Vorhang zurück, blickte hinauf zu den Sternen, zitterte vor Kälte und kroch wieder in mein Bett.

Während meines Umherwanderns hatte eine gütige Fee gewiß den erflehten Rat auf mein Kopfkissen niedergelegt, denn als ich wieder lag, kam er ruhig und natürlich in meinen Sinn: – »Leute, welche Stellungen suchen, kündigen es an; du mußt es im – shire Herald ankündigen.«

»Aber wie? Ich weiß nichts von Zeitungsannoncen.«

Schnell und wie von selbst kamen die Antworten jetzt:

»Du mußt die Annonce und das Geld für dieselbe an den Herausgeber des Herald einschicken; bei der ersten Gelegenheit, die sich dir darbietet, mußt du die Sendung in Lowton auf die Post geben; die Antwort muß an J.E. an das dortige Postamt geschickt werden; eine Woche nachdem du deinen Brief abgesandt, kannst du hingehen und dich erkundigen, ob irgend eine Antwort eingetroffen ist; daraufhin hast du zu handeln.«

Zwei-, dreimal überdachte ich diesen Plan; jetzt hatte ich ihn genügsam verdaut, ich hatte ihn in eine klare, praktische Form gefaßt; jetzt war ich zufrieden und fiel in tiefen Schlaf.

Mit Tagesanbruch war ich auf. Ehe noch die Glocke ertönte, welche die ganze Schule weckte, hatte ich meine Annonce geschrieben, couvertiert und adressiert; sie lautete folgendermaßen:

[130] »Eine junge Dame, welche im Lehren geübt ist (war ich denn nicht zwei Jahre lang Lehrerin gewesen?) wünscht eine Stellung in einer Familie zu finden, wo die Kinder unter vierzehn Jahren sind (da ich selbst kaum achtzehn Jahre alt war, hielt ich es nicht für ratsam, die Erziehung von Schülern zu übernehmen, welche meinem eigenen Alter näher waren). Sie ist befähigt in den gewöhnlichen Zweigen, welche zu einer guten, englischen Erziehung gehören, zu unterrichten, ebenso im Französischen, im Zeichnen und in der Musik.« (In jenen Tagen, mein lieber Leser war dies Verzeichnis, welches heute allerdings sehr unzureichend sein würde, ein sehr umfassendes.) »Gefällige Adressen sind an J.E. poste restante Lowton, –shire zu richten.«

Während des ganzen Tages lag dieses Dokument in meiner Schieblade verschlossen; nach dem Thee bat ich die neue Vorsteherin um die Erlaubnis nach Lowton gehen zu dürfen, wo ich einige Kommissionen für mich und zwei meiner Mitlehrerinnen zu machen hatte. Die Erlaubnis wurde mir gern gewährt. Ich ging. Der Weg war zwei Meilen lang; es war ein feuchter Abend, aber die Tage waren noch lang; ich ging in zwei, drei Läden, warf meinen Brief in den Briefkasten und kam in strömendem Regen mit durchnäßten Kleidern aber mit leichtem Herzen zurück.

Die jetzt folgende Woche schien endlos lang. Wie alle Dinge dieser Welt nahm sie aber auch ein Ende, und an einem herrlichen Herbstabende befand ich mich abermals zu Fuß unterwegs nach Lowton. Und nebenbei erwähnt, es war ein pittoresker Weg, der an dem Waldbach und den herrlichsten Windungen des Thals entlang führte; aber an diesem Tage dachte ich nur an die Briefe, die mich in dem kleinen Marktflecken erwarteten oder nicht erwarteten, nicht an die Reize von Berg und Thal.

Mein ostensibler Vorwand bei dieser Gelegenheit war [131] gewesen, mir das Maß zu einem paar Schuhe nehmen zu lassen; folglich machte ich dieses Geschäft zuerst ab, und nachdem es erledigt, ging ich aus dem Laden des Schuhmachers quer über die kleine, reinliche Straße in das Postbureau. Eine alte Dame verwaltete dasselbe; sie trug eine Hornbrille auf der Nase und schwarze gestrickte Pulswärmer an den Händen.

»Sind irgend welche Briefe für J.E. angelangt?« fragte ich, mir ein Herz fassend.

Sie blickte mich über ihre Brille fort an; dann öffnete sie eine Schieblade und wühlte so lange zwischen dem Inhalt derselben umher, daß meine Hoffnung zu schwinden begann. Endlich, nachdem sie ein Dokument mindestens fünf Minuten lang vor ihre Augengläser gehalten hatte, reichte sie es mir durch den Postschalter hin, indem sie diese That zugleich mit einem zweiten fragenden und mißtrauischen Blicke betrachtete – – der Brief war an J.E. adressiert.

»Ist nur ein einziger da?« fragte ich.

»Es sind keine weiteren da,« sagte sie; ich schob ihn in die Tasche und machte mich auf den Nachhauseweg. Jetzt konnte ich ihn nicht öffnen; die Hausregel verpflichtete mich, um acht Uhr zurück zu sein, und es war bereits halb acht.

Bei meiner Heimkehr harrte meiner die Erfüllung verschiedener Pflichten; ich hatte die Mädchen während ihrer Arbeitsstunde zu überwachen; dann war an mir die Reihe, das Gebet zu lesen; darauf zu sehen, daß die Schülerinnen schlafen gingen – und dann nahm ich das Abendessen mit den anderen Lehrerinnen ein. Selbst als wir uns endlich für die Nacht zurückzogen, war die unvermeidliche Miß Gryce noch meine Gefährtin. Die Kerze in unserem Leuchter war fast herabgebrannt – und ich fürchtete, daß Miß Gryce sprechen würde, bis das Licht verlöschen würde; glücklicherweise übte aber das substantielle Mahl, welches sie [132] zu sich genommen, eine einschläfernde Wirkung. Sie schnarchte bereits, als ich mich noch nicht entkleidet hatte. Noch war ein Zolllang Kerze vorhanden – ich zog meinen Brief hervor, – das Siegel trug den Anfangsbuchstaben F – ich erbrach es, der Inhalt war kurz.

»Wenn J.E., welche am letzten Donnerstag eine Annonce in den – shire Herald rücken ließ, die aufgezählten Fähigkeiten besitzt und wenn sie in der Lage ist, genügende Referenzen über Charakter und Wirkungskreis geben zu können, so wird ihr eine Stellung geboten, wo der Gehalt sich auf dreißig Pfund Sterling im Jahr beläuft, und sie nur ein kleines Mädchen unter zehn Jahren zu unterrichten hat. – J.E. wird gebeten, Referenzen, Namen, Adresse und alles Nähere einzusenden unter der Adresse:

›Mrs. Fairfax, Thornfield bei Millcote – shire.‹«

Lange prüfte ich das Schriftstück; die Handschrift war altmodisch und ziemlich unsicher, wie die einer alten Frau. Dies war ein beruhigender Umstand, denn eine heimliche Furcht hatte mich gequält, daß ich durch dieses eigenmächtige Handeln ohne irgend eines Menschen Rat eingeholt zu haben, ins Unheil geraten würde; und vor allen Dingen wünschte ich doch auch, daß das Resultat meiner Bemühungen anständig passend, mit einem Worte en règle sein solle. Jetzt fühlte ich, daß eine ältere Dame durchaus keine schlechte Ingredienz für die Sache sei, welche ich so selbständig in die Hand genommen. Mrs. Fairfax! Ich sah sie in einem schwarzen Kleide und in der Witwenhaube; vielleicht etwas steif – aber nicht unhöflich: ein Muster der ältlichen, englischen Respektabilität. Thornfield! das war ohne Zweifel der Name ihrer Besitzung, gewiß ein sauberes, ordentliches Fleckchen Erde; obgleich es mir trotz der größten Anstrengung nicht gelang mir ein korrektes Bild des ganzen Grundstücks zu machen. Millcote, – shire! ich frischte meine Erinnerung an die Karte von England auf; ja, da lagen sie vor mir, die Grafschaft sowohl wie die Stadt[133]shire war London um siebzig Meilen näher, als die entlegene Grafschaft, in welcher ich jetzt lebte: das war schon eine große Empfehlung in meinen Augen. Ich sehnte mich dorthin, wo Leben und Bewegung war; Millcote war eine große Fabrikstadt am Ufer des A... gelegen, ein geschäftiger Ort ohne Zweifel; desto besser, das würde wenigstens eine gründliche Veränderung sein. Nicht daß meine Phantasie etwa bei dem Gedanken an hohe Fabrikschornsteine und Rauchwolken in Extase geraten wäre – »aber« folgerte ich weiter, »Thornfield liegt wahrscheinlich eine gute Strecke Wegs von der Stadt entfernt.«

Hier erlosch die Kerze; vollständige Dunkelheit herrschte, – ich schlief ein.

Am folgenden Tage mußten neue Schritte gethan werden. Meine Pläne konnten nicht länger in der eigenen Brust verschlossen bleiben; um sie ihrer Ausführung näher zu bringen, mußte ich Mitteilung von ihnen machen. Nachdem ich bei der Vorsteherin des Instituts eine Audienz nachgesucht und erhalten hatte, teilte ich ihr während der Mittags-Erholungsstunde mit, daß ich Aussicht auf eine neue Stellung habe, in welcher der Gehalt das Doppelte von dem betragen würde, den ich jetzt erhielt, – in Lowood gab man mir nur fünfzehn Pfund Sterling jährlich – und bat sie, die Angelegenheit für mich bei Mr. Brocklehurst oder irgend einem anderen Mitgliede des Komitees zur Sprache zu bringen und sich vergewissern zu wollen, ob diese Herren gesonnen seien, Auskunft über mich zu geben. Sehr verbindlich willigte sie ein, in dieser Sache als Vermittlerin auftreten zu wollen. Am nächsten Tage trug sie Mr. Brocklehurst die Angelegenheit vor; dieser erwiderte, daß man an Mrs. Reed schreiben müsse, da diese meine natürliche Vormünderin sei. Infolgedessen ging eine Notiz an diese Dame ab, auf welche sie antwortete, daß ich ganz nach eigenem Ermessen handeln könne, da sie längst jede Einmischung in meine Angelegenheiten aufgegeben [134] habe. Dieser Brief machte die Runde bei dem Komitee, und nach langer, wie es mir schien, sehr unnötiger Verzögerung, erhielt ich die Erlaubnis, meine Stellung zu verbessern, wenn die Gelegenheit sich dazu böte. Dieser Einwilligung folgte die Versicherung, daß man mir, da ich sowohl als Lehrerin wie als Schülerin mir die vollständige Zufriedenheit der Lehrerinnen in Lowood erworben, unverzüglich ein Zeugnis über Charakter wie über Fähigkeiten, das von allen Inspektoren der Anstalt unterzeichnet, zustellen würde.

Nach ungefähr einer Woche erhielt ich demzufolge das Zeugnis, schickte eine Abschrift desselben an Mrs. Fairfax, und erhielt die Antwort dieser Dame, welche besagte, daß sie zufrieden sei und mich binnen vierzehn Tagen in ihrem Hause erwarte, wo ich den Posten als Gouvernante antreten könne.

Jetzt war ich mit meinen Vorbereitungen beschäftigt; die vierzehn Tage gingen schnell dahin. Ich hatte keine große Garderobe, obgleich sie meinen Bedürfnissen vollkommen genügte. Der letzte Tag genügte, um meinen Koffer zu packen – denselben, welchen ich bereits vor acht Jahren von Gateshead gebracht hatte.

Die Kiste wurde geschnürt, die Adresse hinaufgenagelt. Nach einer halben Stunde sollte der Bote kommen, um sie nach Lowton mitzunehmen, wohin ich selbst mich am folgenden Morgen in früher Stunde begeben sollte, um mit der Post weiter zu fahren. Ich hatte mein schwarzwollenes Reisekleid sorgsam ausgebürstet, meinen Hut, Muff und meine Handschuhe zurecht gelegt; in allen Schiebladen nachgesucht, damit nichts zurückbliebe und jetzt, da ich nichts mehr zu thun hatte, setzte ich mich und versuchte mich auszuruhen. Doch das war unmöglich; obgleich ich während des ganzen Tages auf den Füßen gewesen, konnte ich jetzt doch nicht einen Augenblick Ruhe finden; ich war zu heftig erregt. Heute Abend schloß eine Phase meines Lebens ab; [135] morgen begann eine andere; unmöglich in der Zwischenzeit zu schlafen. Fieberhaft mußte ich wachen, während der Übergang sich vollzog.

»Miß,« sagte ein Mädchen, welches mich in dem Korridor, wo ich wie ein geängstigter, ruheloser Geist auf- und abging, aufsuchte, »unten ist eine Person, die mit Ihnen sprechen möchte.«

»Ohne Zweifel der Bote,« dachte ich und lief ohne weitere Frage die Treppe hinunter. Ich ging an dem hintern Salon oder Wohnzimmer der Lehrerinnen vorbei, dessen Thür halb geöffnet war, um in die Küche zu gehen, als jemand aus dem Zimmer gestürzt kam.

»Sie ist's, wahrhaftig sie ist's! – Überall hätte ich sie wiederrekannt!« rief die Gestalt, die mich in meinem Laufe aufhielt und meine Hand ergriff.

Ich blickte auf. Vor mir stand eine Frau, gekleidet wie eine herrschaftliche Dienerin, matronenhaft, aber dennoch jung; sie war hübsch, schwarzes Haar, dunkle Augen, frische Gesichtsfarbe.

»Nun, wer ist's wohl?« fragte sie mit einem Lächeln und einer Stimme, die ich halb und halb erkannte; »aber Miß Jane, ich hoffe doch, daß Sie mich nicht ganz vergessen haben?«

Nach einer halben Minute umarmte und küßte ich sie voll Entzücken: »Bessie! Bessie! Bessie!« weiter konnte ich nichts hervorbringen; sie hingegen lachte bald, bald weinte sie; dann gingen wir zusammen ins Wohnzimmer. Am Kaminfeuer stand ein kleiner Bursche von ungefähr drei Jahren in schottischem Rock und Hosen.

»Das ist mein kleiner Junge,« sagte Bessie schnell.

»Du bist also verheiratet, Bessie?«

»Ja. Seit beinahe fünf Jahren mit Robert Leaven, dem Kutscher; außer dem Bobby dort habe ich noch ein kleines Mädchen, das Jane getauft ist.«

»Und du wohnst nicht mehr in Gateshead?«

[136] »Ich wohne in der Pförtnerloge; der alte Portier ist fort.«

»Nun, und wie geht es allen dort? Du mußt mir alles erzählen, Bessie; aber nimm erst Platz; und du, Bobby, komm zu mir und setze dich auf meinen Schoß, willst du?« aber Bobby zog es vor, sich neben seine Mama zu stellen.

»Sie sind nicht sehr groß geworden, Miß Jane, und auch nicht sehr stark,« fuhr Mrs. Leaven fort. »Vermutlich hat man Sie hier in der Schule nicht allzu gut gehalten. Miß Reed ist mindestens einen Kopf größer als Sie, und Miß Georgiana ist gewiß zweimal so breit.«

»Georgiana ist wohl sehr hübsch geworden, Bessie?«

»Sehr hübsch. Im vorigen Winter ist sie mit ihrer Mama in London gewesen und dort hat jedermann sie bewundert; ein junger Lord hat sich in sie verliebt; aber seine Verwandten waren gegen die Heirat; und – was glauben Sie wohl? – er und Miß Georgiana verabredeten, miteinander davon zu laufen. Aber es kam an den Tag und sie wurden aufgehalten. Miß Reed hat die Sache entdeckt. Ich glaube, sie war neidisch. Und jetzt leben sie und ihre Schwester wie Hund und Katze miteinander; sie zanken und streiten unaufhörlich.«

»Nun, und was ist aus John Reed geworden?«

»Ach, er führt sich nicht so brav auf, wie seine Mutter es wohl wünschen könnte. Er war auf der Universität und wurde fortgejagt; dann wollten seine Onkel, daß er Advokat werden und die Rechte studieren sollte. Aber er ist ein so leichtsinniger junger Mensch, ich glaube, daß niemals viel aus ihm werden wird.«

»Wie sieht er aus?«

»Er ist sehr schlank. Einige Leute finden, daß er ein schöner junger Mann ist. Aber er hat so dicke, aufgeworfene Lippen.«

»Und Mrs. Reed?«

[137] »Die gnädige Frau sieht im Gesicht dick und wohl genug aus, aber ich glaube nicht, daß sie sich im Gemüt wohl fühlt. Mr. Johns Betragen gefällt ihr nicht – er braucht sehr, sehr viel Geld.«

»Hat sie dich hergeschickt, Bessie?«

»Nein, in der That; aber ich habe schon so lange gewünscht, Sie zu sehen, und als ich hörte, daß ein Brief von Ihnen gekommen sei, und daß Sie in eine andere Gegend des Landes gehen wollten, dachte ich mir, daß ich mich auf die Reise machen müsse, um Sie noch einmal zu sehen, bevor Sie ganz außer meinem Bereich wären.«

»Und ich fürchte, Bessie, du siehst dich in deinen Erwartungen getäuscht.« Dies sagte ich wohl lachend, aber ich hatte bemerkt, daß Bessies Blicke, wenn sie auch achtungsvoll waren, in keiner Weise Bewunderung ausdrückten.

»Nein, Miß Jane, das nicht gerade; Sie sehen sehr fein aus; Sie sehen aus wie eine Dame, und mehr habe ich eigentlich nie von Ihnen erwartet. Als Kind waren Sie auch keine Schönheit.«

Ich mußte über Bessies offenherzige Antwort lächeln. Ich fühlte, daß sie treffend war, aber ich muß gestehen, daß ich doch nicht ganz unempfindlich gegen ihren Inhalt war. Mit achtzehn Jahren wünschen die meisten Menschen zu gefallen, und die Überzeugung, daß ihr Äußeres nicht geeignet ist, ihnen die Erfüllung dieses Wunsches zu verschaffen, bringt alles andere als Freudigkeit hervor.

»Aber ich vermute, daß Sie sehr gelehrt sind,« fuhr Bessie, wie um mich zu trösten fort. »Was können Sie denn alles? Können Sie Klavier spielen?«

»Ein wenig.«

Im Zimmer stand ein Instrument; Bessie ging hin und öffnete es; dann bat sie mich, ihr ein Stück vorzuspielen. Ich gab ihr ein paar Walzer zum besten und sie war entzückt.

»Die beiden Miß Reeds können nicht so gut spielen!« [138] sagte sie triumphierend. »Ich habe ja immer gesagt, daß Sie sie im Lernen übertreffen würden. Können Sie auch zeichnen?«

»Dort über dem Kamin hängt eine von meinen Zeichnungen.« Es war eine Landschaft in Wasserfarben, welche ich der Vorsteherin aus Dankbarkeit für ihre liebenswürdige Vermittelung bei dem Komitee geschenkt hatte, und die sie unter Glas und Rahmen hatte bringen lassen.

»Aber das ist wirklich schön, Miß Jane! Der Zeichenlehrer der Miß Reeds könnte es auch nicht schöner gemalt haben; von den jungen Damen selbst will ich schon gar nicht reden. Denen könnte es bald jemand nachmachen. Haben Sie auch Französisch gelernt?«

»Ja, Bessie; ich kann es lesen und auch sprechen.«

»Und können Sie auch sticken und nähen?«

»Gewiß, das kann ich.«

»O, Sie sind ja eine ganze Dame geworden, Miß Jane! Das habe ich mir immer gedacht. Ihnen wird es immer gut gehen, ob Ihre Verwandten sich um Sie kümmern oder nicht. Ich wollte Sie noch um etwas befragen. – Haben Sie jemals von den Verwandten Ihres Vaters, den Eyres etwas gehört?«

»Nein, in meinem ganzen Leben nicht.«

»Nun, Sie wissen ja, Mrs. Reed hat immer gesagt, daß sie arm und ganz gemein wären; möglich, daß sie arm sind, aber ganz gewiß sind sie ebenso fein wie die Reeds selbst; denn eines Tages vor beinahe sieben Jahren kam ein Mr. Eyre nach Gateshead und wünschte Sie zu sehen. Mrs. Reed sagte, daß Sie fünfzig Meilen weit in einer Schule seien; er schien sehr enttäuscht, denn er konnte nicht bleiben; er wollte auf eine Reise in ein fremdes Land gehen, und das Schiff sollte schon in zwei, drei Tagen von London abgehen. Er sah aus wie ein Gentleman, und ich glaube, daß er Ihres Vaters Bruder war.«

»Nach welchem fremden Lande ging er, Bessie?«

[139] »Nach einer Insel, die viele tausend Meilen entfernt ist, wo sie Wein machen – der Kellermeister hat mir das gesagt.«

»Nach Madeira vermutlich?«

»Ja, ja, das war's, so hieß sie.«

»Und dann ging er wieder fort?«

»Ja. Er blieb nicht viele Minuten im Hause. Mrs. Reed war sehr von oben herab mit ihm. Nachher sagte sie von ihm, er sei ein ›armseliger Handelsmann‹. Mein Robert glaubt, daß er ein Weinhändler war.«

»Sehr wahrscheinlich,« entgegnete ich, »oder vielleicht der Commis oder der Agent eines Weinhändlers.«

Noch eine ganze Stunde lang sprachen Bessie und ich von alten Zeiten, und dann war sie gezwungen, mich zu verlassen. Als ich am nächsten Morgen in Lowton auf die Postkutsche wartete, sah ich sie noch für einige Minuten wieder. Schließlich trennten wir uns vor der Thür des »Wappens von Brocklehurst« daselbst; jede zog dann ihre Straße; sie begab sich auf den Gipfel des Lowood-Felsens, wo der Wagen vorüber kam, der sie nach Gateshead zurückführen sollte; ich bestieg das Gefährt, das mich in die unbekannte Gegend von Millcote brachte, einem neuen Leben und neuen Pflichten entgegen.

Elftes Kapitel

Ein neues Kapitel in einem Roman ist mit einem neuen Akt in einem Schauspiel zu vergleichen; wenn ich den Vorhang wiederum in die Höhe ziehe, lieber Leser, mußt du dir vorstellen, daß du ein Zimmer im »Georgs Wirtshaus« in Millcote siehst, mit so großblumigen Tapeten an den Wänden, wie Gasthauszimmer sie gewöhnlich aufweisen; mit dazu passenden Teppichen, Möbeln, Nippesfiguren auf dem Kamin, Kupferstichen, einem Porträt von Georg III., einem zweiten des Prinzen von Wales, und einer Darstellung vom Tode des General Wolfe. Und alles dies [140] siehst du bei dem Schein einer Öllampe, welche von der Decke herabhängt, und dem eines hellen Kaminfeuers, neben welchem ich in Mantel und Hut sitze; mein Muff und Regenschirm liegen auf dem Tische, und ich versuche, mich an der Wärme des Ofens von der Steifheit und Betäubung zu erholen, welche eine sechszehnstündige Reise in kaltem Oktoberwetter bei mir hervorgerufen hatte; um vier Uhr Morgens hatte ich Lowton verlassen und die Stadtuhr von Millcote schlug jetzt gerade die achte Stunde.

Lieber Leser, wenn es auch den Anschein hat, als ob ich mich ganz behaglich fühlte, so befindet mein Gemüt sich doch durchaus in keiner beneidenswerten Verfassung. Ich hatte gehofft, hier bei Ankunft der Postkutsche jemanden zu meinen Empfange bereit zu finden. Als ich die hölzerne Treppe hinabstieg, welche der Hausknecht zu meiner größeren Bequemlichkeit an den Wagen gestellt, blickte ich ängstlich umher, in der Erwartung, meinen Namen von irgend jemandem aussprechen zu hören und einen Wagen zu erblicken, welcher meiner harrte, um mich nach Thornfield zu bringen. Aber nichts derartiges war sichtbar, und als ich den Kellner fragte, ob jemand da gewesen, um sich nach Miß Eyre zu erkundigen, wurde meine Frage verneinend beantwortet. So blieb mir also nichts anderes übrig, als zu verlangen, daß man mir ein Privatzimmer anweise – und hier sitze ich nun, während Furcht und Zweifel aller Art meine Seele martern.

Für die unerfahrene Jugend ist es ein seltsames Gefühl, sich plötzlich ganz allein in der Welt zu sehen – von allen Bekannten getrennt – ungewiß, ob sie in den Hafen, für welchen sie bestimmt ist, einlaufen kann und durch tausend Schwierigkeiten verhindert, in den sichern Port, aus welchem sie ausgelaufen, zurückzukehren. Der Reiz der Neuheit, die Freude am Abenteuerlichen versüßt dies Gefühl, das Bewußtsein der Selbständigkeit erwärmt es – aber die Empfindung der Furcht dämpft es – und kaum war[141] eine halbe Stunde vergangen, in welcher ich noch immer allein war, so wurde das Gefühl der Furcht durchaus vorherrschend. Da fiel es mir ein, dem Kellner zu läuten.

»Ist hier in der Nähe ein Ort, welcher Thornfield heißt?« fragte ich den Aufwärter, welcher auf mein Klingeln erschienen war.

»Thornfield? Ich weiß nicht, Madame; ich werde mich in der Schenkstube erkundigen.« Er verschwand, kam aber augenblicklich zurück:

»Ist Ihr Name Eyre, Miß?«

»Ja.«

»Es wartet jemand auf Sie.«

Ich sprang auf, griff nach Muff und Regenschirm und eilte in den Korridor des Gasthauses. Ein Mann stand in der offenen Thür und auf der von Laternen erhellten Straße konnte ich die Umrisse eines einspännigen Gefährts unterscheiden.

»Dies ist wohl Ihr Gepäck?« sagte der Mann in der Thür hastig, als er meiner ansichtig wurde, und zeigte auf meinen Koffer, der im Gange stand.

»Ja.« Er hißte ihn auf den Wagen, welcher eine Art von Karren war, hinauf, und dann stieg ich nach. Ehe er die Thür hinter mir zuschlug, fragte ich, wie weit es bis Thornfield sei.

»Ein Gegenstand von sechs Meilen.«

»Und wie lange fahren wir?«

»Vielleicht anderthalb Stunden!«

Er schloß die Wagenthür, kletterte auf seinen Sitz, und wir fuhren ab. Langsam kamen wir vorwärts, und ich hatte reichliche Muße zum Nachdenken. Ich war zufrieden, dem Endziel meiner Reise so nahe zu sein, und als ich mich in das bequeme, wenn auch durchaus nicht elegante Gefährt zurücklehnte, gab ich mich ungestört meinen Gedanken hin.

»Nach der Einfachheit und der Anspruchslosigkeit des [142] Dieners und des Wagens zu urteilen, ist Mrs. Fairfax keine sehr elegante Person; um so besser; ich habe nur einmal unter feinen Leuten gelebt und bei ihnen habe ich mich sehr unglücklich gefühlt. Ich möchte wissen, ob sie mit diesem kleinen Mädchen ganz allein lebt. Wenn das der Fall und sie auch nur einigermaßen liebenswürdig ist, werde ich sehr gut mit ihr fertig werden. Ich werde mein Bestes thun. Aber wie schade, daß es nicht immer genügt, sein Bestes zu thun. In Lowood allerdings faßte ich diesen Entschluß, führte ihn aus, und es gelang mir, allen zu gefallen; aber bei Mrs. Reed erinnere ich mich, daß selbst mein Bestes immer nur Hohn und Verachtung hervorrief. Ich flehe zu Gott, daß Mrs. Fairfax keine zweite Mrs. Reed sein möge. Wenn sie es aber ist, so brauche ich nicht bei ihr zu bleiben. Kommt das Schlimmste zum Schlimmen, so kann ich ja immer noch wieder eine Annonce in den Herald rücken lassen. – Wie weit wir jetzt wohl schon auf dem Wege sein mögen?«

Ich ließ das Fenster herab und blickte hinaus. Millcote lag hinter uns; nach der Anzahl seiner Lichter schien es ein Ort von beträchtlicher Größe, viel größer als Lowton. So weit ich es überblicken konnte, befanden wir uns jetzt auf einer Art Weide; aber über den ganzen Distrikt lagen Häuser zerstreut; ich fühlte, daß wir uns in Regionen befanden, welche sehr verschieden von denen Lowoods; sie waren bevölkerter, aber weniger malerisch; sehr belebt, aber weniger romantisch.

Die Straßen waren kotig, die Nacht war nebelig; mein Kutscher ließ sein Pferd fortwährend im Schritt gehen, und ich glaube, daß aus den anderthalb Stunden mindestens zwei wurden. Endlich wandte er sich um und sagte:

»Jetzt sind wir nicht mehr weit von Thornfield.«

Wieder blickte ich hinaus; wir fuhren an einer Kirche vorüber; ich sah den niedrigen, breiten Turm sich gegen den Himmel abzeichnen, seine Glocken verkündeten die Viertelstunde; [143] dann sah ich auch eine schmale Reihe von Lichtern auf einer Anhöhe; es war ein Dorf oder ein Weiler. Nach ungefähr zehn Minuten stieg der Kutscher ab und öffnete eine Pforte; wir fuhren hindurch und sie schlug hinter uns zu. Jetzt kamen wir langsam über den großen Fahrweg des Parks und fuhren an der langen Front eines Hauses entlang; aus einem verhängten Bogenfenster fiel ein Lichtschein; alle übrigen waren dunkel. Der Wagen hielt vor der Hausthür. Eine Dienerin öffnete dieselbe; ich stieg aus und ging hinein.

»Bitte, diesen Weg, Fräulein,« sagte das Mädchen, und ich folgte ihr durch eine viereckige Halle, in welche von allen Seiten Thüren mündeten. Sie führte mich in ein Zimmer, dessen doppelte Illumination durch Kerzen und Kaminfeuer mich im ersten Augenblick blendete, denn sie kontrastierte zu stark mit der Dunkelheit, an welche meine Augen sich während der letzten Stunden gewöhnt hatten. Als ich jedoch imstande war, wieder zu sehen, bot sich meinen Blicken ein gemütliches und angenehmes Bild dar.

Ein hübsches, sauberes, kleines Zimmer, ein runder Tisch an einem lustig lodernden Kaminfeuer; ein hochlehniger, altmodischer Lehnstuhl, in welchem die denkbar zierlichste, ältere Dame saß. Sie trug eine Witwenhaube, ein schwarzes Seidenkleid und eine schneeweiße Muslinschürze: gerade so wie ich mir Mrs. Fairfax vorgestellt hatte, nur weniger stattlich und viel milder und gütiger aussehend. Sie war mit Stricken beschäftigt; eine große Katze lag schnurrend zu ihren Füßen, – kurzum, nichts fehlte, um das beau-idéal häuslichen Komforts zu vervollständigen. Eine angenehmere Introduktion für eine neue Gouvernante ließ sich kaum denken; keine Erhabenheit, die überwältigte, keine Herablassung, die in Verlegenheit setzte. Als ich eintrat, erhob die alte Dame sich und kam mir schnell und freundlich entgegen.

»Wie geht es Ihnen, meine Liebe? Ich fürchte, daß Sie [144] eine sehr langweilige Fahrt gehabt haben. John fährt so langsam; es muß Ihnen aber kalt sein, kommen Sie ans Feuer.«

»Mrs. Fairfax vermutlich?« fragte ich.

»Die bin ich. Bitte, nehmen Sie Platz.«

Sie führte mich zu ihrem eigenen Stuhl und dort begann sie, mir meinen Shawl abzunehmen und meine Hutbänder zu lösen. Ich bat sie, sich meinetwegen nicht so viel Umstände zu machen.

»O, das sind keine Umstände. Ihre eigenen Hände müssen vor Kälte ja ganz erstarrt sein. Leah, bereite ein wenig heißen Negus und streiche ein paar Butterbröte; hier sind die Schlüssel zur Speisekammer.«

Bei diesen Worten zog sie ein hausfräuliches Bund Schlüssel aus ihrer Tasche und übergab es der Dienerin.

»Und jetzt rücken Sie näher an das Feuer,« fuhr sie fort. »Nicht wahr, meine Liebe, Sie haben Ihr Gepäck mitgebracht?«

»Ja wohl, Madame.«

»Ich werde dafür sorgen, daß man es auf Ihr Zimmer trägt,« sagte sie und trippelte geschäftig hinaus.

»Sie behandelt mich wie einen Gast,« dachte ich. »Solch einen Empfang habe ich wahrlich nicht erwartet; ich sah nichts als Kälte und Steifheit voraus; dies gleicht wenig den Erzählungen, die ich von der Behandlung der Gouvernanten gehört habe; – aber ich darf nicht zu früh jubeln.«

Sie kehrte zurück; mit ihren eigenen Händen räumte sie ihren Strickstrumpfapparat und mehre Bücher vom Tische, um Platz für das Speisenbrett zu machen, welches Leah jetzt brachte, und dann reichte sie selbst mir die Erfrischungen. Ich ward ein wenig verwirrt, als ich mich in dieser Weise zum Gegenstand so zarter, ungewohnter Aufmerksamkeiten gemacht sah, und das noch obendrein von meiner Brotherrin; da sie selbst aber garnicht zu finden [145] schien, daß sie etwas that, was ihr nicht zukam, hielt ich es für das Beste, ihre Liebenswürdigkeit ruhig hinzunehmen.

»Werde ich das Vergnügen haben, Miß Fairfax noch heute Abend zu sehen?« fragte ich, nachdem ich von dem genossen hatte, was sie mir vorgesetzt.

»Was sagten Sie, meine Liebe? Ich bin ein wenig taub,« entgegnete die gute Dame, indem sie ihr Ohr meinem Munde näherte.

Deutlicher wiederholte ich die Frage.

»Miß Fairfax? O, Sie meinen Miß Varens! Varens ist der Name Ihrer künftigen Schülerin.«

»In der That? Dann ist sie also nicht Ihre Tochter?«

»Nein. – Ich habe keine Familie.«

Eigentlich hätte ich meiner ersten Frage noch einige andere folgen lassen sollen und mich erkundigen, in welcher Weise Miß Varens denn mit ihr verwandt sei; aber ich erinnerte mich glücklicherweise noch zu rechter Zeit, daß es nicht höflich sei, so viele Fragen zu stellen; überdies wußte ich ja, daß ich mit der Zeit wohl alles erfahren würde.

»Ich bin so froh« – fuhr sie fort, als sie sich mir gegenüber setzte und die Katze auf ihren Schoß nahm, »ich bin so froh, daß Sie gekommen sind. Jetzt wird das Leben hier mit einer Gefährtin ganz angenehm sein. Nun, es ist auch wohl zu allen Zeiten angenehm, denn Thornfield ist ein prächtiger alter Herrensitz; während der letzten Jahre ist es allerdings ein wenig vernachlässigt worden, aber immerhin ist es ein stattlicher Ort; aber Sie wissen wohl, selbst in dem schönsten Hause fühlt man sich zur Winterszeit unglücklich, wenn man ganz allein ist. Ich sage allein – Leah ist gewiß ein liebes Mädchen, und John und sein Weib sind anständige, brave Leute; aber sehen Sie, es sind doch immer nur Dienstboten und man kann nicht mit ihnen wie mit seinesgleichen verkehren; man muß sie sich immer zehn Schritte vom Leibe halten aus Furcht, seine [146] Autorität zu verlieren. Sie können mir glauben, im letzten Winter – er war sehr strenge, wenn Sie sich erinnern können, und wenn es nicht schneite, tobte der Wind und es regnete – kam vom November bis zum Februar nicht eine lebende Seele in dies Haus, mit Ausnahme des Schlächters und des Postboten; und ich wurde wahrhaftig ganz melancholisch, wie ich so Abend für Abend allein dasaß. Allerdings mußte Leah mir zuweilen vorlesen, aber ich fürchte, daß das arme Mädchen von dieser Aufgabe nicht sonderlich entzückt war; sie kam sich dabei wohl wie eine Gefangene vor. Im Frühling und Sommer ging es dann natürlich besser. Sonnenschein und lange Tage machen einen so großen Unterschied. Und nun zu Anfang dieses Herbstes kam die kleine Adele Varens mit ihrer Wärterin; ein Kind bringt sofort Leben ins Haus, und jetzt, da auch Sie hier sind, werden wir am Ende gar noch ganz lustig und vergnügt werden.«

Als ich die würdige alte Dame so plaudern hörte, schlug mein Herz ihr warm entgegen; ich zog meinen Stuhl näher an den ihren und sprach den aufrichtigen Wunsch aus, daß meine Gesellschaft sich wirklich als so angenehm für sie erweisen möge, als sie erwartete.

»Heute Abend will ich Sie aber nicht lange wach halten,« sagte sie; »es ist jetzt Schlag zwölf Uhr, und Sie sind den ganzen Tag unterwegs gewesen; Sie müssen ja todmüde sein. Sobald Ihre Füße ordentlich erwärmt sind, will ich Ihnen Ihr Schlafzimmer zeigen. Ich habe das Gemach, welches an das meine stößt, für Sie herrichten lassen; es ist nur ein kleines Zimmer, aber ich meinte, daß es Ihnen lieber sein würde, als eins der großen Vorderzimmer; allerdings haben diese prächtigere Möbeln, aber sie sind so düster und einsam; ich könnte niemals darin schlafen.«

Ich dankte ihr für ihre rücksichtsvolle Wahl, und da ich mich von der langen Reise wirklich ermüdet fühlte, zeigte [147] ich mich bereit, mich auf mein Zimmer zurückzuziehen. Sie nahm ihr Licht, und ich folgte ihr auf den Korridor hinaus. Zuerst ging sie, um sich zu überzeugen, ob die große Hausthür auch wirklich verschlossen sei; nachdem sie den Schlüssel aus dem Schlosse gezogen, führte sie mich die Treppe hinauf. Stufen und Geländersäulen waren von Eichenholz; das Treppenfenster war hoch und vergittert; sowohl dieses, wie die lange Galerie, auf welche die Schlafzimmerthüren hinausgingen, sahen aus als gehörten sie zu einer Kirche und nicht zu einem Hause. Eine feuchte, dumpfige Luft wie in einem Gewölbe herrschte auf der Treppe, wie in der Galerie, – eine Luft, die den Gedanken an trostlos öde Räume und düstere Einsamkeit wachrief, – und ich war froh, als ich endlich in mein Zimmer trat und fand, daß es von kleinen Dimensionen und in gewöhnlich modernem Stil möbliert sei.

Als Mrs. Fairfax mir eine herzliche Gutenacht gewünscht, und ich meine Thür sorgsam verschlossen hatte, sah ich mich mit Muße um; der Anblick meines behaglichen, kleinen Zimmers löschte bis zu einem gewissen Grade den Eindruck aus, welchen die weite Halle, die düstere, große Treppe und jene lange, kalte Galerie auf mich gemacht hatten, und endlich kam es mir zum Bewußtsein, daß ich mich nach ein paar Tagen körperlicher Ermüdung und geistiger Erregung nun endlich in einem sicheren Hafen befinden würde. Der Impuls der Dankbarkeit schwellte mein Herz, ich knieete neben meinem Bette nieder und sandte ein inniges Dankgebet zu dem empor, dem ich Dank schuldete; und bevor ich mich wieder erhob, vergaß ich nicht, weitere Hilfe für meinen Pfad zu erflehen, und um die Gabe zu bitten, mich der Güte wert machen zu können, welche mir in so reichem Maße zu teil wurde, bevor ich sie noch hatte verdienen können. In dieser Nacht lag ich auf keinem Dornenlager; mein einsames Zimmer war von Ruhe und Frieden erfüllt. Zugleich müde und zufrieden, [148] schlief ich bald und fest ein. Als ich erwachte, war es bereits heller Tag.

In dem Sonnenschein, welcher durch die hellblauen Zitzfenstervorhänge fiel, erschien mir mein Zimmer so freundlich und gemütlich; ich wurde fast mutig bei dem Anblick der tapezierten Wände und des teppichbelegten Fußbodens, welche den buntfarbigen Kalkwänden und nackten Holzböden in Lowood so unähnlich waren. Äußerlichkeiten üben einen so großen Einfluß auf die Jugend. Mir war, als müsse jetzt eine schönere Lebensära für mich anbrechen, eine Ära, welche neben ihren Dornen und Mühseligkeiten auch ihre Blüten und Freuden haben würde. All meine Seelenkräfte schienen durch die Ortsveränderung, durch das neue Feld, welches sich für meine Hoffnungen öffnete, wieder lebendig geworden. Ich könnte nicht genau definieren, was sie erwarteten, aber es war eben etwas freudiges: nicht vielleicht gerade für einen bestimmten Tag oder Monat, sondern für irgend eine unbestimmte Zeit in der Zukunft.

Ich erhob mich. Mit großer Sorgfalt kleidete ich mich an. Wenn ich auch gezwungen war, einfach zu sein – ich hatte kein einziges Kleidungsstück, welches nicht in der einfachsten Weise gemacht wäre – so hatte ich doch von Natur das größte Verlangen, sauber und nett auszusehen. Es war durchaus nicht meine Gewohnheit, achtlos in Bezug auf mein Äußeres oder unbekümmert um den Eindruck zu sein, welchen ich hervorbrachte, – im Gegenteil, ich wünschte stets, so hübsch wie möglich zu sein und so sehr zu gefallen, wie mein gänzlicher Mangel an Schönheit es gestattete. Wie oft bedauerte ich, nicht hübscher zu sein! Wie innig wünschte ich, rosige Wangen, eine gerade Nase und einen kleinen Kirschenmund zu besitzen; ich hätte schlank und stattlich, von imposanter Figur sein mögen; ich empfand es wie ein Unglück, so klein und bleich zu sein, so unregelmäßige, markierte Züge zu haben. Aber weshalb hatte ich diese Wünsche, dies Verlangen? Dieses Bedauern? [149] Das wäre schwierig gewesen zu sagen. Damals hätte ich selbst mir keine klare Rechenschaft darüber geben können. Indessen hatte ich einen Grund, und einen logischen, natürlichen noch dazu. – Als ich jedoch mein Haar sehr sorgsam gekämmt und mein schwarzes Kleid angezogen hatte, welches trotz seiner Quäkerhaftigkeit das Verdienst hatte, aufs genauste zu passen, – als ich eine reine, weiße Halskrause umgebunden, glaubte ich sauber und respektabel genug auszusehen, um vor Mrs. Fairfax erscheinen zu können. Von meiner Schülerin hoffte ich, daß sie wenigstens nicht mit Widerwillen vor mir zurückschrecken werde. Nachdem ich das Fenster geöffnet und gesehen hatte, daß ich auf dem Toiletttische alles sauber und ordentlich zurückließ, wagte ich mich hinaus.

Nachdem ich die lange, mit Teppichen bedeckte Galerie entlang gegangen war, stieg ich die glänzend blanke Eichentreppe hinunter; dann kam ich in die Halle; hier stand ich eine Minute still; ich betrachtete einige Kupferstiche an den Wänden, – noch heute erinnere ich mich derselben, das eine stellte einen finster aussehenden Mann in einem Küraß dar; das andere eine Dame mit gepuderten Haaren und einem Perlhalsband – eine Bronzelampe, welche von der Decke herabhing, eine große, alte Wanduhr, deren Gehäuse aus Eichenholz seltsam geschnitzt und durch die Zeit schwarz und blank wie Ebenholz geworden war. Alles erschien mir sehr stattlich und imposant – aber ich war ja auch so wenig an Glanz und Pracht gewöhnt. Die Thür der Halle, welche halb aus Glas war, stand offen; ich überschritt die Schwelle. Es war ein herrlicher Herbstmorgen; die Sonne schien klar auf herbstlich gefärbtes Laub und noch immer frische Felder herab; ich ging auf den freien Platz hinaus und betrachtete die Front des Herrenhauses. Es war drei Stockwerke hoch, von großen, obgleich nicht überwältigenden Proportionen, der Herrensitz eines Gentleman, nicht die feste Burg eines Edelmannes; Zinnen auf dem Dache gaben [150] dem Hause ein pittoreskes Aussehen. Die graue Front hob sich hübsch von dem Hintergrunde eines Krähengenistes, dessen krächzende Bewohner jetzt flügge waren; sie flogen über den Grasplatz und den Park, um sich auf einer großen Weide niederzulassen, von welcher erstere durch einen eingesunkenen Zaun getrennt waren; auf dieser Wiese stand eine lange Reihe alter, starker, knorriger Dornenbäume, mächtig wie Eichen, welche sofort die Etymologie der Benennung des Herrenhauses erklärten. 1 In der Ferne waren Hügel, nicht so hoch wie jene um Lowood, nicht so zackig, nicht so ähnlich Barrieren, welche einen von der übrigen Welt abschlossen, aber doch stille, einsame Hügel, welche Thornfield eine Abgeschiedenheit verliehen, die ich in der lebhaft bewegten Nähe Millcotes niemals vermutet hätte. Ein kleiner Weiler, dessen Dächer von Bäumen überschattet waren, zog sich an einem der Hügel hinauf; die Kirche des Distrikts stand näher an Thornfield, ihr alter Turm sah über einen Hügel zwischen dem Hause und den Parkpforten hervor.

Ich erfreute mich noch an der friedlichen Aussicht und an der frischen, angenehmen Luft, horchte noch mit Entzücken auf das Gekrächze der Krähen, blickte noch auf die große, von der Zeit geschwärzte Front der Halle und dachte bei mir, welch ein weitläufiger Aufenthalt es für eine einzelne kleine Dame wie Mrs. Fairfax sei, als diese Dame in der Thür erschien.

»Was? schon draußen?« sagte sie. »Ich sehe, Sie sind gewöhnt früh aufzustehen.« Ich ging zu ihr und wurde mit einem Kusse und einem herzlichen Händedruck bewillkommt.

»Wie gefällt Ihnen Thornfield?« fragte sie. Ich sagte ihr, daß ich es sehr schön fände.

»Ja,« sagte sie, »es ist ein reizender Ort; aber ich fürchte, es wird vernachlässigt werden, wenn Mr. Rochester es sich nicht in den Kopf setzt, herzukommen und permanent hier [151] zu residieren, oder es wenigstens häufiger zu besuchen. Große Häuser und schöne Parks erfordern die Anwesenheit ihres Besitzers.«

»Mr. Rochester!« rief ich aus. »Wer ist das?«

»Der Besitzer von Thornfield,« antwortete sie ruhig. »Wußten Sie nicht, daß er Rochester heißt?«

Natürlich wußte ich das nicht – ich hatte ja noch niemals von ihm gehört; aber die alte Dame schien sein Dasein für ein so allgemein bekanntes Faktum zu halten, daß jedermann es schon instinktiv kennen mußte.

»Ich glaubte,« fuhr ich fort, »daß Thornfield Ihr Eigentum sei.«

»Mein Eigentum? Gott segne Sie, Kind! Welche eine Idee! Mein Eigentum? Ich bin nur die Haushälterin, die Verwalterin. Allerdings bin ich durch die Familie seiner Mutter entfernt mit den Rochesters verwandt, oder wenigstens war mein Gatte es: er war ein Geistlicher, Pfründenbesitzer von Hay – jenes kleine Dorf da drüben auf dem Hügel – und die Kirche neben der Parkpforte war die seine. Die Mutter des jetzigen Mr. Rochester war eine Fairfax und meines Mannes Cousine im zweiten Grade; aber ich thue mir auf diese Verwandtschaft niemals etwas zu Gute und erlaube mir deshalb keine Freiheiten – in der That, ich mache mir gar nichts daraus; ich betrachte mich selbst in dem Lichte einer ganz gewöhnlichen Haushälterin; mein Brotherr ist immer höflich, und mehr erwarte ich nicht.«

»Und das kleine Mädchen – meine Schülerin?«

»Sie ist Mr. Rochesters Mündel; er beauftragte mich, eine Gouvernante für sie zu suchen. Ich glaube, daß er die Absicht hegt, sie in – shire erziehen zu lassen. Da kommt sie mit ihrer ›Bonne‹, wie sie ihre Wärterin nennt.«

Das Rätsel war also gelöst; diese freundliche, gütige, kleine Witwe war keine große Dame, sondern eine Untergebene wie ich selbst. Deshalb war sie mir nicht weniger lieb; im Gegenteil, ich fühlte mich wohliger als zuvor. Die [152] Gleichheit zwischen ihr und mir bestand wirklich, – sie war nicht das Resultat bloßer Herablassung von ihrer Seite. Um so besser – meine Stellung war deshalb um so viel freier.

Während ich noch über diese Entdeckung nachdachte, kam ein kleines Mädchen, welchem eine Wärterin folgte, über den Grasplatz daher gelaufen. Ich betrachtete meine Schülerin, welche mich anfangs nicht zu bemerken schien. Sie war noch ein Kind, vielleicht sieben oder acht Jahre alt, zart gebaut, blaß mit kleinen Gesichtszügen und einem Überfluß von Haar, das in Locken über die Schultern wallte.

»Guten Morgen, Miß Adela,« sagte Mrs. Fairfax. »Kommen Sie her und sprechen Sie mit dieser Dame, welche Ihre Lehrerin sein wird, damit Sie eines Tages eine gescheite Dame werden.« Die Kleine kam näher.

»C'est là ma gouvernante?« fragte sie zu ihrer Wärterin gewendet auf mich zeigend; diese antwortete:

»Mais oui, certainement.«

»Sind sie Ausländer?« fragte ich, ganz erstaunt, die französische Sprache zu hören.

»Die Wärterin ist eine Ausländerin und Adela wurde auf dem Kontinent geboren; ich glaube auch, daß sie bis vor sechs Monaten dort verblieb. Als sie zuerst herkam, konnte sie kein Wort englisch sprechen; jetzt hat sie es so weit gebracht, ein wenig sprechen zu können; ich verstehe sie nicht, sie vermischt es so sehr mit dem Französischen; aber ich vermute, daß Sie sehr gut begreifen werden, was sie meint.«

Zum Glück hatte ich den Vorteil gehabt, französisch von einer Französin zu lernen; und da ich es mir stets hatte angelegen sein lassen, so viel wie möglich mit Madame Pierrot zu reden und überdies während der letzten sieben Jahre täglich mehrere Seiten französisch auswendig gelernt hatte, war es mir möglich geworden, mir einen Grad der Fertigkeit und der Korrektheit in der Sprache anzueignen, [153] welcher mich in den Stand setzte, mit Mademoiselle Adele gleichen Schritt zu halten.

Als sie hörte, daß ich ihre Gouvernante sei, kam sie auf mich zugelaufen und reichte mir die Hand; dann führte ich sie in das Frühstückszimmer und richtete einige Worte in ihrer Muttersprache an sie; im Anfang antwortete sie sehr kurz, aber nachdem wir am Tische Platz genommen hatten und sie mich ungefähr zehn Minuten mit ihren großen hellbraunen Augen angesehen hatte, begann sie plötzlich ganz geläufig zu plaudern.

»Ach,« rief sie auf französisch aus, »Sie sprechen meine Muttersprache ebenso gut wie Mr. Rochester, ich kann mit Ihnen reden wie mit ihm, und Sophie kann es auch. Sie wird glücklich sein; hier kann niemand sie verstehen, Madame Fairfax ist durch und durch englisch. Sophie ist meine Wärterin; sie ist mit mir über das Meer gekommen in einem großen Schiffe mit einem Schornstein, der rauchte – und wie er rauchte! – und ich war krank, und Sophie war es auch und Mr. Rochester auch. Mr. Rochester legte sich auf ein Sofa in einem hübschen Zimmer, das Salon genannt wurde, und Sophie und ich hatten kleine Betten in einem anderen Zimmer. Beinahe wäre ich aus dem meinen heraus gefallen, es war ganz wie ein Brett. Und, Mademoiselle – wie heißen Sie doch?«

»Eyre – Jane Eyre.«

»Aire? Bah! Das kann ich nicht aussprechen. Nun also weiter: gegen Morgen, der Tag war noch nicht ganz angebrochen, hielt unser Schiff bei einer großen Stadt an – bei einer enorm großen Stadt, mit sehr düsteren Häusern, die ganz von Rauch geschwärzt waren; sie hatte gar keine Ähnlichkeit mit der sauberen, hübschen Stadt, aus welcher ich kam. Und Mr. Rochester trug mich auf seinen Armen über ein Brett ans Land, und Sophie kam hinterher; dann stiegen wir alle in einen Wagen, der uns bis an ein großes, prächtiges Haus brachte, viel größer und [154] viel, viel schöner als dieses, und es hieß ein ›Hotel‹. Dort blieben wir beinahe eine Woche. Sophie und ich gingen oft auf einem großen, grünen Platz voller Bäumen umher, den sie ›Park‹ nannten. Außer mir waren noch viele, viele Kinder dort, und ein Teich mit prachtvollen Vögeln darauf, die ich oft mit Brotkrumen gefüttert habe.«

»Können Sie sie denn eigentlich verstehen, wenn sie so schnell plappert?« fragte Mrs. Fairfax.

Ich verstand sie sehr gut, denn ich war an Madame Pierrots geläufige Zunge gewöhnt.

Dann fuhr die gute, alte Dame fort: »ich möchte gern, daß Sie ein paar Fragen über ihre Eltern an sie richteten; es soll mich doch wundern, ob sie sich ihrer noch erinnert?«

»Adele,« fragte ich, »mit wem hast du in jener hübschen, sauberen Stadt gewohnt, von welcher du mir erzählt hast?«

»Mit meiner Mama, aber das ist schon lange her; sie ist zur heiligen Jungfrau gegangen. Mama hat mich auch tanzen und singen und schöne Verse hersagen gelehrt. Viele Herren und Damen kamen stets, um Mama zu besuchen, und dann pflegte ich ihnen etwas vorzutanzen oder vorzusingen. Oft nahmen sie mich auf den Schoß, und ich sagte ihnen Gedichte her. Wollen Sie mich jetzt auch singen hören?«

Sie war mit ihrem Frühstück zu Ende, und deshalb erlaubte ich ihr, mir eine Probe ihres Talents zu geben. Sie kletterte von ihrem Stuhl herunter und kam zu mir, um sich auf meinen Schoß zu setzen; dann faltete sie ernsthaft ihre kleinen Hände, warf ihre Locken zurück, heftete ihre Augen auf die Decke des Zimmers und begann, eine Melodie aus irgend einer Oper zu singen. Es war ein Lied von einer verlassenen Frau, welche anfangs die Treulosigkeit ihres Geliebten beweint und dann ihren Stolz zu Hilfe ruft; darauf befiehlt sie ihrer Begleiterin, ihr die [155] schönsten Gewänder und ihre prächtigsten Juwelen zu bringen und beschließt, dem Falschen am Abend auf einem Balle zu begegnen und ihm durch ihre Fröhlichkeit zu beweisen, wie wenig seine Treulosigkeit sie ergriffen hat.

Das Lied schien seltsam gewählt für eine so kindliche Sängerin; aber ich vermute, daß der Schwerpunkt dieser Produktion darin lag, diese Töne und Worte der Liebe und Eifersucht von den Lippen des Kindes zu hören; und sehr geschmacklos schien mir diese Pointe zu sein.

Adele sang die Canzonette ganz geschmackvoll und mit der Naivetät ihrer Jahre. Nachdem sie damit zu Ende, sprang sie von meinem Schoße herab und sagte: »Jetzt, Mademoiselle, will ich Ihnen etwas vordeklamieren.«

Dann nahm sie eine Attitüde an und begann »la ligue des rats; fable de Là Fontaine.« Nun deklamierte sie das kleine Stück mit einer Achtsamkeit auf die Interpunktion und Betonung, einer Biegsamkeit der Stimme und einer Zartheit der Bewegungen, welche in ihren Jahren allerdings ungewöhnlich waren und deutlich bewiesen, daß sie sorgsam trainiert worden war.

»Hat deine Mama dich dieses Gedicht gelehrt?« fragte ich.

»Ja, und sie pflegte immer so zu sagen: ›Ou' avez-vous donc? lui dit un de ces rats; parlez!‹ Und dann ließ sie mich meine Hand aufheben – so – um mich daran zu erinnern, daß ich die Stimme erheben müsse bei der Frage. Soll ich Ihnen jetzt etwas vortanzen?«

»Nein. Jetzt ist es genug. Aber bei wem wohntest du, als deine Mama zur heiligen Jungfrau gegangen war, wie du sagst?«

»Bei Madame Frederic und ihrem Manne; sie hat mich gepflegt und für mich gesorgt, aber sie ist nicht mit mir verwandt. Ich glaube, daß sie arm ist, denn sie hatte kein so schönes Haus wie Mama. Ich war nicht lange dort. Mr. Rochester kam und fragte mich, ob ich mit ihm nach England gehen und bei ihm bleiben möchte, und ich sagte [156] Ja. Denn ich kannte Mr Rochester, bevor ich Madame Frederic kannte, und er war immer gütig gegen mich und schenkte mir schöne Kleider und hübsche Spielsachen. Aber Sie sehen, er hat nicht Wort gehalten, denn er hat mich nach England gebracht, aber er selbst ist wieder fortgegangen, und jetzt sehe ich ihn nie mehr.«

Nach dem Frühstück zog ich mich mit Adele in die Bibliothek zurück; wie es schien, hatte Mr. Rochester bestimmt, daß dieser Raum als Schulzimmer benutzt werden sollte. Die Mehrzahl der Bücher war in Glasschränken verschlossen; aber ein Bücherschrank, welcher offen stand, enthielt alles, was für den elementaren Unterricht gebraucht wurde, und verschiedene Bände der leichteren Litteratur, Poesie, Biographie, Reisebeschreibungen, einige Romanzeu u.s.w. Ich vermute, daß er der Ansicht gewesen, dies sei alles, was eine Gouvernante für ihre Privatlektüre brauche, und in der That genügten sie mir vollauf für den Augenblick; im Vergleich zu den kärglichen Samenkörnchen, welche ich dann und wann in Lowood zu finden imstande gewesen, schienen diese Bände mir eine reiche, goldene Ernte in Unterhaltung und Belehrung zu bieten. In diesem Zimmer befand sich auch ein ganz neues Klavier von herrlichem Ton; außerdem eine Staffelei und mehrere Erdkugeln.

Ich fand meine Schülerin außerordentlich liebenswürdig, aber sehr zerstreut. Sie war niemals an eine regelmäßige Beschäftigung irgend welcher Art gewöhnt gewesen. Ich fühlte, daß es nicht ratsam sein würde, sie im Anfang zu sehr mit Arbeit zu überhäufen; deshalb erlaubte ich ihr, als aus dem Morgen Mittag geworden war, und ich viel zu ihr gesprochen und sie ein wenig hatte lernen lassen, zu ihrer Wärterin zurückzukehren. Und dann nahm ich mir vor, bis zur Stunde des Mittagessens einige kleine Skizzen für ihren Gebrauch zu zeichnen.

Als ich hinauf ging, um mein Skizzenbuch und meine Zeichenstifte zu holen, rief Mrs. Fairfax mir zu: »Ihre [157] Morgenschulstunden sind jetzt vorüber, wie ich vermute.« Sie befand sich in einem Zimmer, dessen Flügelthüren weit geöffnet waren; als sie mich anredete, ging ich hinein. Es war ein großes, stattliches Gemach, mit purpurfarbigen Möbeln und Vorhängen, einem türkischen Teppich, nußholzbekleideten Wänden, einem großen buntfarbigen Fenster und einer reich geschnitzten Decke. Mrs. Fairfax wischte den Staub von einigen Vasen aus herrlichem Rubinglas, welche auf einer Kredenz standen.

»Welch ein prächtiges Zimmer,« rief ich aus, indem ich umher blickte, denn ich hatte noch nichts gesehen, was auch nur halb so schön gewesen wäre.

»Ja, dies ist das Speisezimmer. Ich habe soeben das Fenster geöffnet, um ein wenig Luft und Sonnenschein herein zu lassen, denn in Zimmern, die selten bewohnt werden, wird alles feucht und dumpfig. Drüben im großen Salon ist es gerade wie in einem Gewölbe.«

Sie deutete auf einen großen Bogen, welcher dem Fenster gegenüber lag und mit persischen Vorhängen, die in Festons aufgerafft waren, dekoriert war. Als ich zwei breite Stufen, welche zu demselben hinaufführten, erstiegen hatte, war mir's, als thäte ich einen Blick ins Feenreich; so herrlich erschien meinem Novizenblick der Anblick, welcher sich ihm darbot. Und doch war es nichts als ein sehr hübscher Salon mit einem Boudoir; beide waren mit weißen Teppichen belegt, die mit bunten Blumenguirlanden bedeckt schienen; die Decke war reich mit schneeigem Stuck bedeckt, welcher weiße Weintrauben und Blätter darstellte; seltsam kontrastierten damit die feuerroten Stühle und Ottomanen. Die Zierrate, welche den Kaminsims aus weißem, carrarischem Marmor schmückten, bestanden aus funkelndem, rubinrotem, böhmischem Glas, und in den Spiegeln zwischen den Fenstern wiederholte sich die allgemeine Mischung von Schnee und Feuer.

»Wie schön Sie diese Zimmer in Ordnung halten, Mrs. [158] Fairfax!« rief ich. »Kein Staub, keine Überzüge aus Glanzleinwand. Man könnte wirklich glauben, daß sie täglich bewohnt würden, wenn die Luft nicht ein wenig gruftartig wäre.«

»Nun, Miß Eyre, wenn Mr. Rochesters Besuche hier auch nur selten sind, so kommen sie ebenfalls stets unerwartet und plötzlich; und da ich bemerkt habe, daß es ihn stets schlechter Laune macht, wenn er alles eingehüllt findet und mitten in die Geschäftigkeit des Räumens hineinkommt, so dachte ich mir, es sei das Beste, die Zimmer stets in Bereitschaft zu halten.«

»Ist Mr. Rochester ein strenger und kleinlicher Herr?« fragte ich.

»Nicht gerade das; aber er hat die Neigungen und Gewohnheiten eines Gentleman und er erwartet, daß alle Dinge sich dem anpassen.«

»Lieben Sie ihn? Ist er allgemein beliebt?«

»O ja. Die Familie hat hier stets in großer Hochachtung gestanden. Seit Menschengedenken hat alles Land in der Gegend, so weit das Auge reicht, den Rochesters gehört.«

»Gut; aber lieben Sie ihn, ganz abgesehen von seinen Besitzungen? Lieben Sie ihn um seiner selbst willen?«

»Ich habe keine Ursache, etwas anderes zu thun, als ihn zu lieben, und ich glaube auch, daß seine Pächter und Untergebenen ihn als einen freigebigen und gerechten Gebieter betrachten; aber er hat niemals viel unter ihnen gelebt.«

»Aber hat er keine Eigentümlichkeiten? Kurz und gut, wie ist sein Charakter?«

»O, sein Charakter ist fleckenlos. Das glaube ich wenigstens. Vielleicht ist er in manchen Dingen ein klein wenig seltsam; ich vermute, daß er viel gereist ist und viel von der Welt gesehen hat. Ich glaube auch, daß er sehr gescheit ist, aber ich habe niemals Gelegenheit gehabt, mich viel mit ihm zu unterhalten.«

[159] »In welcher Weise ist er denn seltsam?«

»Ich weiß es nicht. Das ist nicht so leicht zu beschreiben – nichts besonders auffallendes, aber man fühlt es, wenn man mit ihm spricht. Man weiß niemals, ob er im Scherz oder im Ernst redet, ob er sich freut oder ob er sich ärgert. Kurzum, man versteht ihn nicht recht – wenigstens ich verstehe ihn nicht. Aber das schadet ja nicht; er ist ein sehr guter Herr und Gebieter.«

Dies war alles, was ich von Mrs. Fairfax über ihren Brotherrn und den meinen erfahren konnte. Es giebt Leute, welche meist nicht imstande zu sein scheinen, einen Charakter beschreiben zu können und die weder bei Menschen noch bei Dingen hervorragende Eigenschaften und Eigentümlichkeiten bemerken, – und augenscheinlich gehörte die gute Dame zu diesen; meine Fragen verblüfften sie, brachten sie aber nicht zum sprechen. Mr. Rochester war in ihrem Augen Mr. Rochester, ein Gentleman, ein Gutsbesitzer – nichts anderes; sie fragte und suchte nicht weiter und wunderte sich augenscheinlich über meinen Wunsch, einen bestimmteren Begriff seiner Persönlichkeit zu bekommen.

Als wir das Speisezimmer verließen, schlug sie mir vor, mir den übrigen Teil des Hauses zu zeigen; und ich folgte ihr treppauf, treppab und bewunderte alles im Gehen, denn alles war schön und geschmackvoll arrangiert. Besonders die großen Zimmer an der Vorderseite des Hauses erschienen mir prächtig und imposant, und einige der Zimmer des dritten Stocks, obgleich düster und niedrig, waren interessant durch ihr altertümliches Aussehen. Die Möbel, welche einst für die unteren Gemächer angeschafft worden, waren je nach den Anforderungen der Mode von Zeit zu Zeit hier herauf geschafft, und das unsichere Licht, welches durch die niederen Fenster eindrang, fiel auf Bettstellen, welche mehr als ein Jahrhundert zählten; Truhen aus Nuß- und Eichenholz sahen mit ihren seltsamen Schnitzereien von Palmenzweigen und Engelsköpfen aus wie die [160] Typen der Arche Noäh; Reihen von ehrwürdigen Stühlen mit schmalen und hohen Lehnen; noch ältere Lehnstühle, auf deren gepolsterten Lehnen noch Spuren halbverwitterter Stickereien, welche vor zwei Generationen von Fingern gearbeitet waren, die längst im Grabe moderten. All diese Reliquien verliehen dem dritten Stockwerk von Thornfield-Hall das Aussehen eines Heims der Vergangenheit, eines Schreins der Erinnerungen. Ich liebte die Ruhe, das Dämmerlicht, die Eigentümlichkeit dieser Räume während der Tageszeit; aber ich wünschte mir durchaus nicht das Vergnügen einer Nachtruhe auf diesen großen und schweren Betten, deren einige durch Thüren von Eichenholz abgeschlossen, andere mit schweren alten Vorhängen von englischer Arbeit verdeckt waren, deren Muster seltsame Blumen und noch seltsamere Vögel und die allerseltsamsten menschlichen Gestalten darstellten – wie seltsam würden erst all diese Dinge im bleichen Mondlicht ausgesehen haben!

»Schlafen die Diener in diesen Zimmern?« fragte ich.

»Nein, sie bewohnen eine Reihe kleinerer Gemächer an der Hinterseite des Hauses; hier schläft niemand; man möchte beinahe glauben, daß wenn wir in Thornfield-Hall einen Geist hätten, dies sein Schlupfwinkel wäre.«

»Das glaube ich auch. Sie haben also keinen Geist hier?«

»Ich habe wenigstens niemals davon gehört,« entgegnete Mrs. Fairfax lächelnd.

»Auch keine darauf bezügliche Tradition? Keine Legenden, keine Geistergeschichten?«

»Ich glaube nicht. Und doch sagt man, daß die Rochesters ihrer Zeit ein mehr streitsüchtiges als friedliebendes Geschlecht gewesen. Aber vielleicht ist gerade das der Grund, weshalb sie jetzt ruhig in ihren Gräbern liegen.«

»Ja, ja – sie ruhen aus nach dem verzehrenden Fieber des Lebens,« murmelte ich. – »Wohin gehen Sie denn jetzt, Mrs. Fairfax?« denn sie ging weiter.

[161] »Hinauf auf das Dach; wollen Sie mit mir gehen, um die Aussicht von dort zu genießen?« Ich folgte ihr über eine sehr enge Treppe zu den Bodenkammern hinauf, und von dort über eine Leiter und durch eine Fallthür auf das Dach des Herrenhauses. Ich befand mich jetzt auf gleicher Höhe mit der Krähenkolonie und konnte einen Blick in ihre Nester werfen. Als ich mich über die Zinnen lehnte und weit hinunter blickte, sah ich den Park und die Gärten wie eine Landkarte vor mir liegen; der helle, wie Samt geschorne Rasen, der sich dicht um das graue Fundament des Hauses zog; die Felder und Wiesen, auf denen hier und da große Haufen von starkem Bauholz lagen; der ernste, düstere Wald, durch welchen sich ein Fußsteig zog, dessen Moos grüner war als das Laub der Bäume; die Kirche an der Parkpforte; die Landstraße; die Hügel, welche majestätisch und ruhig in das klare Sonnenlicht des Herbsttages hineinragten; der weite, tiefblaue, mit leichten Federwölkchen besäete Himmelsbogen, das ganze vor mir liegende Bild hatte keinen besonders hervorragenden Zug, aber es war lieblich und wohlgefällig. Als ich mein Auge von demselben abwandte und wieder durch die Fallthür hinabstieg, konnte ich kaum meinen Weg über die Leiter hinunter finden; im Vergleich mit dem blauen Himmelsbogen, zu dem ich empor geblickt hatte, erschien die Bodenkammer finster wie ein Gewölbe; düster wie ein Grab nach jenem sonnigen Bilde des Parkes, der Weiden und grünen Hügel, dessen Mittelpunkt das Herrenhaus war, und das ich soeben noch mit Wonne betrachtet hatte.

Mrs. Fairfax blieb einen Augenblick zurück, um die Fallthür zu schließen; ich tastete mich an den Ausgang der Bodenthür und begann dann die enge Bodentreppe hinunter zu steigen. In dem langen Korridor, welcher zu dieser führte, und die Vorderzimmer und Hinterzimmer der dritten Etage trennte, hielt ich inne; schmal, lang und dunkel, mit einem einzigen kleinen Fenster am äußersten Ende, sah [162] er mit seinen beiden Reihen kleiner, niedriger, schwarzer Thüren aus wie ein Korridor in Ritter Blaubarts Schloß.

Als ich dann leise vorwärts schritt, schlug das letzte Geräusch, welches ich in diesen Regionen erwartet haben würde – ein lautes Lachen – an mein Ohr. Es war ein seltsames Lachen, deutlich, förmlich, freudlos. Ich stand still. Der Ton verhallte; doch nur für einen Augenblick; dann begann das Lachen von neuem, lauter, denn anfangs war es, wenn auch deut lich, doch nur leise gewesen. Es endigte mit lautem Schall, welcher in jedem einsamen Zimmer ein Echo zu wecken schien; es drang aber nur aus einem einzigen, und ich hätte die Thür bezeichnen können, aus welcher die Töne kamen.

»Mrs. Fairfax!« schrie ich auf, denn jetzt hörte ich sie die große Treppe herabkommen. »Haben Sie das laute Lachen gehört? Woher kommt es? Wer war es?«

»Wahrscheinlich einige der Dienstmädchen,« entgegnete sie, »vielleicht Grace Poole.«

»Haben Sie es auch gehört?« fragte ich wieder.

»Ja, ganz deutlich. Ich höre sie oft, sie näht in einem dieser Zimmer. Zuweilen ist Leah bei ihr; sie machen oft großen Lärm miteinander.«

Wiederum ertönte das leise, eintönige, schaurige Lachen, es endigte mit einem seltsamen Gemurmel.

»Grace!« rief Mrs. Fairfax.

Ich erwartete wirklich nicht, daß irgend eine Grace auf diesen Ruf antworten werde; denn das Lachen klang so tragisch, so unnatürlich, so überirdisch wie ich noch niemals eins vernommen; und wenn nicht heller Mittag gewesen wäre, und kein gespenstischer Umstand die seltsamen Laute begleitete – wenn es nicht gewesen wäre, daß weder Zeit noch Ort die Gespensterfurcht begünstigten, so würde ich mich abergläubischer Furcht hingegeben haben. Der Vorfall zeigte mir indessen, daß ich eine Närrin war, mich auch nur überraschen zu lassen.

[163] Die Thür, neben welcher ich stand, öffnete sich und eine Dienerin trat heraus; sie war eine Frau zwischen dreißig und vierzig, eine untersetzte, knochige Gestalt mit rotem Haar und einem harten, häßlichen Gesicht; eine weniger romantische oder geisterhafte Erscheinung ließ sich kaum denken.

»Zu viel Lärm, Grace,« sagte Mrs. Fairfax, »vergiß deine Weisungen nicht!« Ohne ein Wort zu sagen, machte Grace einen Knix und ging wieder ins Zimmer.

»Sie ist eine Person, die wir hier haben, um zu nähen und Leah bei ihrer Hausarbeit zu helfen,« fuhr die Witwe fort, »in manchen Dingen ist sie nicht ganz vorwurfsfrei, aber sie genügt uns. Aber ehe ich's vergesse, wie waren Sie heute Morgen mit Ihrer Schülerin zufrieden?«

So kam das Gespräch auf Adele und wir fuhren fort, über sie zu sprechen, bis wir die sonnigeren, fröhlicheren Regionen des untern Stockwerks erreicht hatten. Adele kam uns in der Halle entgegen gelaufen und rief:

»Mesdames, vous êtes servies!« Dann fügte sie lachend hinzu: »J'ai bien faim, moi!«

In Mrs. Fairfax Zimmer fanden wir die Mahlzeit angerichtet, welche bereits unserer harrte.

Fußnoten

1 Thornfield-Dornenfeld.

Zwölftes Kapitel

Die Aussicht auf einen ruhigen Verlauf meiner Tage, welche mein erster ruhiger Anfang in Thornfield-Hall zu versprechen schien, wurde nach einer näheren Bekanntschaft mit dem Orte und seinen Bewohnern durchaus nicht gestört. Mrs. Fairfax war in Wirklichkeit das, was sie zu sein schien, eine leidenschaftslose, gutherzige, sich stets gleich bleibende Frau von ziemlich guter Erziehung und einem Durchschnittsverstande. Meine Schülerin war ein lebhaftes Kind, welches verzogen und verwöhnt und deshalb zuweilen eigensinnig und widerspenstig war; da sie indessen gänzlich meiner Obhut anvertraut war und keine unberufene [164] und unvernünftige Einmischung von irgend einer Seite jemals meine Pläne und Absichten in Bezug auf ihre Erziehung durchkreuzte, so vergaß sie bald ihre kleinen Launen und wurde gehorsam und lernbegierig. Sie besaß keine hervorragenden Talente, keine scharfen Charakterzüge, keine besondere Gefühls- oder Geschmacksrichtung, welche sie auch nur um einen Zoll über das gewöhnliche Niveau anderer Kinder empor gehoben hätte; aber ebenso wenig hatte sie irgend ein Laster oder einen Fehler, welcher sie unter dasselbe gestellt hätte. Sie machte ziemlich gute Fortschritte, hegte für mich eine lebhafte, wenn auch nicht sehr tiefgehende Neigung, und flößte mir ihrerseits durch ihre Naivetät, ihr fröhliches Plaudern und ihre Bemühungen, mir zu gefallen, einen Grad von Liebe ein, welcher hinreichte, um uns ein gewisses Behagen an unserer gegenseitigen Gesellschaft finden zu lassen.

Leute, welche heiligen Doktrinen über die engelgleiche Natur der Kinder huldigen und verlangen, daß jene, welchen ihre Erziehung anvertraut ist, eine abgöttische Liebe für dieselben hegen sollen, werden – in Parenthese gesagt – meine Worte für kalt und gefühllos halten; aber ich schreibe nicht, um dem elterlichen Egoismus zu schmeicheln, um Kauderwelsch und Unsinn nachzubeten oder Humbug zu unterstützen, – ich erzähle nur die Wahrheit. Ich hegte eine gewissenhafte Sorgfalt für Adeles Wohlergehen und Fortschritte und ein ruhiges Wohlgefallen an ihrem kleinen Selbst; gerade so, wie ich für Mrs. Fairfax' Güte dankbar war und an ihrer Gesellschaft eine Freude empfand, welche sie für die Rücksichten lohnte, die sie für mich hatte, und ihr zeigte, wie sehr ich die weise Mäßigung in ihrem Charakter so wie in ihrem Gemüt zu schätzen wußte.

Mag mich tadeln, wer da will, wenn ich noch hinzufüge, daß ich dann und wann, wenn ich einen Spaziergang im Park gemacht hatte oder nach dem Parkthor hinunter gegangen war, um von dort auf die Landstraße zu blicken, [165] oder wenn Adele mit ihrer Wärterin spielte und Mrs. Fairfax in der Vorratskammer Fruchtgelee kochte – daß ich dann die drei Treppen hinauf kletterte, die Fallthür in der Bodenkammer öffnete, an die Galerie des Daches trat und weit über Felder und Hügel bis an die verschwommene Linie des Horizonts hinblickte. Dann wünschte ich mir die Gabe einer Seherin, um über jene Grenzen fortsehen zu können, dorthin, wo die geschäftige Welt und Städte und lebensvolle Regionen waren, von denen ich wohl gehört, die ich aber niemals gesehen hatte. Dann ersehnte ich mir mehr praktische Erfahrung als ich besaß, mehr Verkehr mit meinesgleichen, mehr Kenntnis verschiedener Charaktere, als ich mir hier erringen konnte. Ich wußte das Gute in Mrs. Fairfax und das Gute in Adele zu schätzen, aber ich glaubte, es müsse eine andere, eine lebensvollere Güte geben, und ich wünschte, das was ich glaubte, mit eigenen Augen zu sehen.

Wer tadelt mich? Sehr viele wahrscheinlich, und man wird mich unzufrieden und ungenügsam nennen. Ich konnte nichts dafür; die Ruhelosigkeit lag in meiner Natur; oft quälte sie mich aufs äußerste. Dann fand ich die einzige Beruhigung darin, in dem Korridor des dritten Stockwerks hin und her zu gehen, wo ich mich in der Einsamkeit des Ortes wohl und sicher fühlte, um das geistige Auge auf den herrlichen Visionen ruhen zu lassen, die sich vor demselben ausbreiteten – und es waren ihrer viele und prächtige und farbenglühende – und mein Herz schwellen zu lassen von lebensvoller Sehnsucht, die, wenn auch schmerzhaft, doch wenigstens Leben war; und vor allen Dingen mein inneres Ohr auf eine Geschichte horchen zu lassen, die niemals endigte – eine Geschichte, welche meine Phantasie schuf und fortwährend wiederholte, – eine Geschichte, in welcher all das Leben, das Feuer, die Empfindungen pulsierten, nach denen ich mich sehnte, und die mein wirkliches Dasein mir nicht boten.

[166] Es ist umsonst, zu sagen, daß der Mensch zufrieden sein sollte, wenn er Ruhe hat, – er muß auch Thätigkeit haben, und er wird sie sich schaffen, wenn er sie nicht findet. Millionen sind zu einem stilleren Lose verdammt als das meinige, und Millionen empören sich lautlos gegen ihr Los. Niemand weiß, wieviel Empörungen außer politischen Empörungen in den Menschenmassen gähren, welche die Erde bevölkern. Im allgemeinen nimmt man an, daß Frauen sehr ruhig sind, aber Frauen empfinden gerade so wie Männer; auch sie brauchen ein Feld der Thätigkeit für ihre Fähigkeiten, wie ihre Brüder es thun; sie leiden unter zu schweren Fesseln, unter vollständiger Stagnation gerade so wie Männer es thun würden; und es ist engherzig, wenn ihre begünstigteren Nebenmenschen sagen, daß sie sich darauf beschränken sollten, Puddings zu machen und Strümpfe zu stopfen, Klavier zu spielen und Tabaksbeutel zu sticken. Es ist gedankenlos, sie zu verdammen oder über sie zu lachen, wenn sie versuchen, mehr zu arbeiten und mehr zu lernen, als das, was das alte Herkommen für ihr Geschlecht nötig erachtet.

Wenn ich so allein war, hörte ich gar oft Grace Pooles Lachen, dasselbe Lachen, dasselbe leise, langsame ha! ha! das mich so seltsam erschüttert hatte, als ich es zuerst vernommen; ich hörte auch ihr excentrisches Gemurmel, das noch seltsamer war als ihr Lachen. Es gab Tage, an denen sie sich ganz still verhielt, aber wiederum andere, wo mir die Laute, welche sie von sich gab, ganz unerklärlich schienen. Zuweilen sah ich sie; dann pflegte sie mit einem Teller oder einer Schüssel oder einer Schale aus ihrem Zimmer zu kommen, in die Küche hinterzugehen und gewöhnlich – o, verzeihe mir, romantische Leserin, wenn ich die Wahrheit sage – mit einem Topf voll Porter zurückzukommen. Ihre Erscheinung dämpfte stets die Neugierde, welche ihre rednerischen und stimmlichen Seltsamkeiten erregt hatten; sie war ein starkknochiges Weib mit harten Zügen, welches in keiner [167] Weise Interesse zu wecken vermochte. Ich machte einige Versuche, sie in ein Gespräch zu verwickeln, aber sie schien eine wortkarge Person; eine einsilbige Antwort machte gewöhnlich all meinen Bemühungen dieser Art ein Ende.

Die andern Mitglieder des Haushalts, wie John und seine Frau, Leah das Hausmädchen und Sophie, die französische Bonne, waren sehr anständige Leute, aber in keiner Weise erhoben sie sich über das Gewöhnliche. Mit Sophie pflegte ich französisch zu sprechen und zuweilen richtete ich auch Fragen über ihr Vaterland an sie; sie besaß aber weder die Gabe erzählen noch beschreiben zu können und gab meistens so verwirrte und nichtssagende Antworten, daß sie meine Fragelust eher dämpften als ermutigten.

Oktober, November und Dezember gingen hin. Eines Nachmittags im Januar hatte Mrs. Fairfax um einen Ferialtag für Adele gebeten, weil diese sich eine heftige Erkältung zugezogen hatte; und da Adele diese Bitte mit einer Innigkeit und Eindringlichkeit unterstützte, welche mich daran erinnerten, wie kostbar solch ein gelegentlicher Ferialtag mir selbst in meiner Kindheit gewesen, gewährte ich denselben; es schien mir geraten, in diesem Punkte Nachgiebigkeit zu zeigen. Obgleich sehr kalt, war es ein schöner, windstiller Tag; den ganzen Morgen hatte ich ruhig sitzend in der Bibliothek zugebracht, jetzt war ich dessen müde; Mrs. Fairfax hatte gerade einen Brief beendigt, welcher darauf harrte, zur Post getragen zu werden, und so nahm ich Hut und Mantel und erbot mich freiwillig, denselben auf das Postamt nach Hay zu bringen; die Entfernung, welche ungefähr zwei Meilen betrug, sollte ein angenehmer Nachmittagsspaziergang für mich sein. Nachdem ich Adele gemütlich in ihrem kleinen Lehnstuhl vor Mrs. Fairfax' Kaminfeuer installiert und ihr die schönste Wachspuppe, welche ich gewöhnlich in Silberpapier gewickelt in einer Schublade verwahrt hielt, zum Spielen gegeben hatte und dazu noch ein Geschichtenbuch der Abwechselung wegen, [168] machte ich mich auf den Weg, nachdem ich Adelens »Revenez bientôt ma bonne amie, ma chère Mademoiselle Jeannette«, 1 noch mit einem herzlichen Kuß beantwortet hatte.

Der Boden war hart gefroren, die Luft war still, meine Straße einsam; ich ging sehr schnell bis ich mich erwärmt hatte, dann ging ich langsam, um das Vergnügen, welches Zeit und Umstände für mich in sich bargen, zu genießen und zu analysieren. Es war drei Uhr; die Kirchenuhr schlug, als ich an dem Glockenturm vorüber ging; der Reiz der Stunde lag in der herannahenden Dämmerung in der niedersinkenden und mattstrahlenden Sonne. Ich war eine Meile von Thornfield entfernt, in einem engen Heckenwege, welcher im Sommer seiner wilden Rosen, im Herbst seiner Nüsse und Brombeeren wegen bekannt war und sogar jetzt noch einige korallenfarbige Schätze in Gestalt von Hagebutten und Mehlbeeren aufzuweisen hatte; seine herrlichste Winterfreude lag jedoch in seiner vollständigen Vereinsamung und laublosen, starren Ruhe. Selbst wenn ein Lüftchen wehte, weckte es hier keinen Laut, denn hier war kein Stechpalmengesträuch, kein Immergrün, welches hätte rauschen können, und die entblätterten Weißdorn- und Haselnußbüsche lagen ebenso still da, wie die weißen, ausgetretenen Steine, mit welchen der Fußpfad in der Mitte gepflastert war. Weit und breit lagen zu jeder Seite nur Felder, auf denen jetzt kein Vieh mehr weidete; und die kleinen, braunen Vögel, welche sich dann und wann in der Hecke rührten, sahen aus wie einzelne welke Blätter, die vergessen hatten, abzufallen.

Dieser Weg zog sich hügelaufwärts nach Hay; als ich die Mitte erreicht hatte, setzte ich mich an einem Zaun nieder, welcher sich von dort quer über ein Feld zog. Ich hüllte mich dicht in meinen Mantel, verbarg die Hände in [169] meinem Muff und fühlte auf diese Weise die Kälte nicht, obgleich es scharf fror; dies bewies eine dünne Eisschicht, welche den Fußpfad, wo ein kleines jetzt gefrorenes Bächlein noch vor wenigen Tagen nach starkem Thauwetter dahin gerieselt war, bedeckte. Von meinem Platze aus konnte ich auf Thornfield hinunterblicken; das graue mit Zinnen gekrönte Herrenhaus bildete den hervorragendsten Punkt in dem Thal zu meinen Füßen, die Wälder und das dunkle Krähengeniste erhoben sich gegen Westen. Ich verweilte, bis die Sonne hinter den Bäumen versank und feurig und klar zur Ruhe ging. Dann wandte ich mich ostwärts.

Über der Spitze des Hügels oberhalb des Weges stand der aufgehende Mond; jetzt noch bleich aber mit jedem Augenblick strahlender werdend. Er blickte auf Hay hinab, das halb in Bäumen versteckt, aus seinen wenigen Schornsteinen einen bläulichen Rauch gen Himmel sandte; es lag noch eine Meile entfernt, aber in der tiefen Stille, welche herrschte, drangen die Töne des schwachen Lebens, welches in dem Orte pulsierte, bis zu mir herauf. Mein Ohr vernahm auch das Rauschen von Strömen; in welchen Tiefen und Thälern vermochte ich aber nicht zu sagen; jenseit Hay waren aber viele Hügel, und zweifellos auch viele Bäche, welche von ihren Höhen herabrauschten. In der Ruhe dieses Abends verriet sich sowohl das Rieseln der nächsten Bäche wie das Rauschen der weit entferntesten.

Plötzlich unterbrach ein brutales Geräusch dies zarte, ferne und doch so klare Flüstern und Kräuseln und Rieseln, ein positives Trampeln, ein metallisches Klirren, welches das sanfte Gemurmel der Wellen unterbrach, gerade so wie auf einem Bilde die solide Masse eines Felsens oder das rauhe Geäst einer großen Eiche, das sich in groben und kühnen Zügen im Vordergrund erhebt, die luftige Ferne blauer Hügel, den sonnigen Horizont, die klaren Wolken, wo alle Farben ineinander verschwimmen, stören.

[170] Der Lärm war auf dem Fußpfade, ein Pferd näherte sich, die Windungen des Weges verbargen es noch, aber es kam stetig näher; ich wollte gerade meinen Platz verlassen, da der Pfad aber schmal war, saß ich still, um es vorüber zu lassen. In jenen Tagen war ich jung, und tausend helle und düstere Fantasien bemächtigten sich meines Gemüts; die Erinnerung an Kinderstubengeschichten lag dort unter anderm Gerümpel aufgespeichert, und wenn sie wach wurden, verlieh die reifere Jugend ihnen eine Lebhaftigkeit und Stärke, welche die Kindheit ihnen nicht zu geben vermocht hatte. Als dies Pferd näher kam, und ich erwartete, es in der Dämmerung auftauchen zu sehen, fiel mir eine von Bessies Geschichten ein, in welcher ein Geist aus dem Norden Englands, Namens Gytrash figurierte; dieser suchte in Gestalt eines Pferdes, Maulesels oder großen Hundes einsame Wege heim und überfiel zuweilen nächtliche Wanderer, grade so wie dieses Pferd jetzt auf mich zu kam.

Es war schon sehr nahe, aber immer noch nicht sichtbar; da vernahm ich außer jenem Trapp, Trapp noch ein Rascheln unter der Hecke, und dicht an den braunen Stämmen entlang lief ein großer Hund, dessen schwarz und weiße Farbe ihn weithin kenntlich machte. Dies war nun gerade eine Maske aus Bessies Gytrash, eine löwenähnliche Kreatur mit langer Mähne und großem Kopfe; sie schlich indessen ruhig an mir vorüber und blickte mit ihren seltsam verständigen Hundeaugen nicht zu mir auf, wie ich halb und halb erwartete. Dann folgte das Pferd – ein starkes Roß, auf seinem Rücken ein Reiter. Der Mann, das menschliche Wesen, brach den Zauber sofort. Den Gytrash konnte niemand reiten, er stürmte stets allein umher, und wenn Kobolde auch in die stummen Leiber der Tiere fahren konnten, so vermochten sie doch so viel ich wußte, nicht die gewöhnliche Menschengestalt anzunehmen. Dies war also kein Gytrash – sondern nur ein Reisender, welcher den kürzesten Weg nach Millcote einschlug. Er ritt [171] vorüber, und ich ging weiter; nur wenige Schritte, dann wandte ich mich um; ein Laut, als glitte irgend etwas aus, ein Ausruf: »Was zum Teufel ist jetzt zu machen«? ein polternder Fall weckten meine Aufmerksamkeit. Roß und Reiter lagen am Boden; sie waren auf der Eisfläche ausgeglitten, welche den gepflasterten Fußpfad bedeckte. In großen Sprüngen kam der Hund zurück und als er seinen Herrn in Verlegenheit sah und das Pferd stöhnen hörte, begann er zu bellen, bis es von den Hügeln widerhallte. Er beschnüffelte die auf dem Boden liegende Gruppe und dann kam er zu mir gelaufen; das war alles was er thun konnte – keine andere helfende Hand war zur Stelle. Ich folgte ihm und ging zu dem Reiter hinunter, welcher jetzt begann, sich unter seinem Pferde hervorzuarbeiten. Seine Anstrengungen waren so kräftig, daß ich glaubte, er könne keinen großen Schaden genommen haben; aber ich fragte dennoch;

»Haben Sie sich verletzt, mein Herr?«

Ich glaube beinahe, daß er fluchte, aber ich bin meiner Sache nicht ganz gewiß; indessen bediente er sich einer Redeform, welche ihn einer direkten Antwort überhob.

»Kann ich irgend etwas für Sie thun?« fragte ich wiederum leise.

»Stellen Sie sich auf die Seite,« entgegnete er, indem er sich erhob, erst auf die Kniee, dann auf die Füße. Ich that, wie er mich hieß. Dann begann ein Heben, Stampfen, Schlagen, begleitet von einem Bellen und Springen, welches mich in der That einige Schritte vorwärts trieb; ich wollte mich jedoch nicht ganz entfernen, bevor ich das Resultat nicht gesehen. Dieses war am Ende ein glückliches; das Pferd stand wieder auf den Füßen und der Hund wurde mit einem »Couche, Pilot!« zur Ruhe gebracht. Dann beugte der Reisende sich nieder und betastete seinen Fuß und sein Bein, wie um sich zu vergewissern, ob sie heil geblieben; augenscheinlich war er von dieser Untersuchung [172] nicht befriedigt, denn er hinkte bis zu dem Platz am Zaun, wo ich bis dahin gesessen und ließ sich nieder.

Mich faßte wahrscheinlich die Laune, mich nützlich zu machen oder doch wenigstens mich gefällig zu zeigen, denn ich näherte mich ihm wiederum.

»Wenn Sie sich verletzt haben, mein Herr, oder Hilfe brauchen, so kann ich entweder aus Hay oder von Thornfield-Hall Hilfe herbeiholen.«

»Ich danke Ihnen. Ich werde allein fertig werden. Ich habe kein Glied gebrochen, sondern nur eine kleine Verrenkung davongetragen,« und wiederum stand er auf und prüfte seinen Fuß; die Untersuchung preßte ihm aber ein unwillkürliches »Au« aus.

Das Tageslicht war noch nicht ganz gewichen und der Mond schien bereits hell: ich konnte ihn deutlich sehen. Die Gestalt war in einen weiten Reitmantel mit Pelzkragen und Stahlschlössern versehen gehüllt; genau konnte ich die Proportionen nicht unterscheiden, aber ich sah, daß der Mann von mittlerer Größe und sehr breitschulterig sein mußte. Er hatte ein finsteres Gesicht mit ernsten Zügen und hoher Stirn; die Augen mit den hochgewölbten, zusammengewachsenen Brauen sprühten in diesem Augenblick Wut und Zorn; er war über die erste Jugend hinfort, das mittlere Lebensalter hatte er aber noch nicht erreicht; er mochte ungefähr fünfunddreißig Jahre zählen. Ich fürchtete mich nicht vor ihm und hegte auch keine zurückhaltende Scheu. Wäre er ein schöner, heroisch blickender, junger Mann gewesen, so würde ich nicht gewagt haben, so dazustehen und ihm meine Dienste unaufgefordert anzubieten und ihn gegen seinen Willen mit Fragen zu behelligen. Bis jetzt hatte ich kaum jemals einen schönen Jüngling gesehen und noch nie in meinem Leben mit einem solchen gesprochen. Ich hegte eine theoretische Verehrung und Hochachtung für Schönheit, Eleganz, Galanterie, Liebenswürdigkeit; hätte ich jedoch all diese Eigenschaften [173] in der Gestalt eines Mannes verkörpert gefunden, so würde ich instinktiv gefühlt haben, daß sie niemals Sympathie für irgend etwas in mir hegte noch hegen konnte, und ich würde sie gemieden haben, wie man den Blitz oder das Feuer oder sonst irgend etwas meidet, das wohl glänzend und strahlend, jedoch antipathisch ist.

Und wenn dieser Fremde mich angelächelt hätte oder freundlich gewesen wäre, als ich ihn anredete; wenn er die ihm angebotene Hilfe dankbar und liebenswürdig abgelehnt hätte – so würde ich wahrscheinlich meiner Wege gegangen sein und durchaus keinen Beruf in mir verspürt haben, mein Anerbieten zu erneuern; aber das Stirnrunzeln, die Rauhheit des Reisenden machten, daß ich ganz harmlos blieb. Als er mir winkte, bei Seite zu gehen, verharrte ich auf meinem Platze und kündigte ihm an:

»Ich kann gar nicht daran denken, mein Herr, Sie zu so später Stunde in diesem einsamen Gäßchen allein zu lassen, bevor ich gesehen habe, ob Sie imstande sind, Ihr Pferd wieder zu besteigen.«

Als ich dies sagte, blickte er mich an. Bis dahin hatte er die Augen kaum auf mich gerichtet.

»Mich dünkt, Sie sollten dafür sorgen, daß Sie selbst nach Hause kämen,« sagte er, »wenn Sie ein Haus in der Nähe haben. Woher kommen Sie denn?«

»Von dort unten; und ich fürchte mich durchaus gar nicht, spät draußen auf der Landstraße zu sein, wenn der Mond scheint. Wenn Sie es wünschen, werde ich mit Vergnügen für Sie nach Hay hinüber laufen – ich gehe in der That nach dort, um einen Brief auf die Post zu geben.«

»Sie wohnen dort unten? – Sie meinen doch nicht in jenem Hause dort mit den Zinnen?« mit diesen Worten deutete er auf Thornfield-Hall, auf welches der Mond jetzt seinen bleichen Schein warf; deutlich und hell hob es sich von den Wäldern ab, welche jetzt im Gegensatz zu [174] dem westlichen Himmel eine ungeheure, schattige Masse bildeten.

»Ja, mein Herr.«

»Wem gehört das Haus?«

»Mr. Rochester.«

»Kennen Sie Mr. Rochester?«

»Nein, ich habe ihn niemals gesehen.«

»Er wohnt also jetzt nicht dort?«

»Nein.«

»Können Sie mir denn sagen, wo er sich aufhält?«

»Nein, das kann ich nicht.«

»Natürlich sind Sie keine Dienerin im Herrenhause. Sie sind – –« er hielt inne und ließ die Augen über meine Kleidung schweifen, welche wie gewöhnlich sehr einfach war: ein schwarzer Merinomantel, ein schwarzer Filzhut; beides würde nicht im entferntesten elegant genug für eine Kammerjungfer gewesen sein. Es ward ihm schwer zu entscheiden, wer ich eigentlich sein könne. Ich half ihm.

»Ich bin die Gouvernante.«

»Ah!! die Gouvernante!« wiederholte er. »Der Teufel soll mich holen, die hatte ich ganz vergessen! Die Gouvernante! Die Gouvernante!« und wiederum unterwarf er meine Toilette einer eingehenden Prüfung. Nach zwei Minuten erhob er sich von seinem Platze am Zaun; sein Gesicht drückte den größten Schmerz aus, als er versuchte eine Bewegung zu machen.

»Ich kann Sie nicht beauftragen, Hilfe herbeizuholen,« sagte er; »aber Sie selbst können mir ein wenig helfen, wenn Sie die Güte haben wollen.«

»Ja, mein Herr.«

»Haben Sie nicht einen Regenschirm, den ich als Stütze gebrauchen könnte?«

»Nein.«

»Versuchen Sie, den Zügel meines Pferdes zu fassen und es mir herzuführen. Sie fürchten sich doch nicht?«

[175] Wäre ich allein gewesen, so würde ich mich gefürchtet haben, ein Pferd zu berühren; da mir jedoch geheißen wurde, es zu thun, war ich geneigt zu gehorchen. Ich legte meinen Muff am Zaun nieder und näherte mich dem großen Pferde; ich bemühte mich, den Zügel zu fassen, es war aber ein feuriges Tier und wollte mich seinem Kopfe nicht nahe kommen lassen; all meine Versuche blieben erfolglos; inzwischen fürchtete ich mich beinahe zu Tode vor seinen Vorderhufen, mit denen es unaufhörlich ausschlug. Der Fremde wartete und beobachtete einige Zeit; endlich lachte er laut auf.

»Ich sehe schon,« sagte er, »der Berg will sich nicht zu Mahomet bringen lassen, daher können Sie weiter nichts thun als Mahomet helfen, daß er zum Berge gehe; ich muß Sie bitten, herzukommen.«

Ich ging.

»Verzeihen Sie mir,« fuhr er fort, »die Notwendigkeit zwingt mich, Sie mir nützlich zu machen.« Er legte eine schwere Hand auf meine Schulter, und sich mit Nachdruck auf mich lehnend, hinkte er bis zu seinem Pferde. Als es ihm dann einmal gelungen war, den Zügel zu fassen, beherrschte er es sofort und schwang sich in den Sattel; zwar schnitt er die entsetzlichsten Grimassen dabei, denn der verrenkte Knöchel schmerzte heftig.

»Jetzt,« sagte er und biß sich in die Unterlippe, so daß das Blut hervorquoll, »geben Sie mir meine Peitsche; sie liegt dort unter der Hecke.«

Ich suchte sie und fand sie.

»Ich danke Ihnen; jetzt eilen Sie mit Ihrem Briefe nach Hay und dann kehren Sie so schnell wie möglich zurück.«

Eine Berührung mit dem bespornten Absatz machte, daß sein Pferd sich bäumte und dann davon sprengte; der Hund folgte wie rasend den Spuren, und alle drei verschwanden


[176]

Wie Blüten, die auf öder Haid'

Der wilde Sturm davonträgt.


Ich nahm meinen Muff wieder auf und ging weiter. Der Vorfall hatte sich ereignet und war jetzt vorüber, es war ein Vorfall ohne Bedeutung, ohne Romantik, ohne Interesse in gewisser Beziehung, und doch kennzeichnete er eine einzige Stunde eines einförmigen Lebens. Meine Hilfe war gebraucht und in Anspruch genommen worden, ich hatte sie geleistet; es machte mich glücklich, irgend etwas gethan zu haben; unbedeutend, vorübergehend wie die That gewesen war, hatte sie doch eine Leistung meinerseits verlangt – – und ich war dieser passiven Existenz so müde geworden. Auch war das neue Gesicht wie ein neues Bild, welches meiner Galerie der Erinnerungen einverleibt worden, und es war allen anderen, die dort aufgehängt waren, so gänzlich unähnlich: erstens war es ein männliches Gesicht, und zweitens war es düster, strenge und ernst. Ich sah es noch vor mir, als ich nach Hay kam und den Brief in den Schalter des Postbureaus warf; ich sah es noch vor mir auf dem ganzen Wege nach Hause. Als ich an den Zaun kam, hielt ich eine Minute inne, blickte umher und horchte; mir war, als müsse ich wiederum Pferdegetrappel auf dem gepflasterten Fußsteige vernehmen, als müsse wiederum ein Reiter im Mantel und ein Gytrashähnlicher Neufundländer erscheinen – aber ich sah nur eine Hecke und eine Pappelweide vor mir, die still und bewegungslos und gerade in das klare Mondeslicht hineinragten; ich hörte nur den leisen Windhauch, welcher eine Meile weiter hügelabwärts dann und wann durch die Bäume fuhr, welche das Herrenhaus von Thornfield umstanden, und als ich der Richtung, aus welcher das leise Murmeln kam, mit den Augen folgte, sah ich, wie ein Fenster an der Vorderseite des Hauses plötzlich erhellt wurde. Es erinnerte mich daran, daß es bereits spät sei. Ich eilte weiter.

[177] Es machte mir keine Freude, Thornfield wieder zu betreten. Seine Schwelle überschreiten, bedeutete zur Stagnation zurückkehren, durch die todesstille Halle gehen, die düstere Treppe hinaufsteigen, mein eigenes einsames, kleines Zimmer aufsuchen und später der ruhigen Mrs. Fairfax begegnen und den langen Winterabend mit ihr und nur mit ihr zubringen.

Das hieß vollständig die leise Erregung ersticken, welche mein Spaziergang in mir erweckt hatte – das bedeutete meinen Fähigkeiten abermals die traurig aussichtslosen Fesseln einer einförmigen und tötenden Existenz anzulegen, einer Existenz, deren große Vorteile der Sicherheit, des Geborgenseins und des Wohllebens ich nicht mehr zu schätzen vermochte. Wie nützlich würde es mir zu jener Zeit gewesen sein, in den Stürmen eines unsicheren, gefährdeten, mühsam kämpfenden Lebens hin und her geworfen zu werden und inmitten rauher und bitterer Erfahrung die Sehnsucht nach der Ruhe und dem Frieden zu empfinden, welche mich jetzt fast erdrückten! Ja, es wäre mir ebenso nützlich gewesen wie ein langer Spaziergang einem Manne, der es müde geworden, immer in einem zu bequemen Lehnstuhl zu sitzen, und ebenso natürlich war der Wunsch nach Bewegung bei mir, wie er es bei ihm gewesen sein würde.

An der Parkpforte zögerte ich; ich zögerte auf dem Wiesenplan; ich ging auf der Terrasse hin und her; die Jalousien der Glasthür waren herabgelassen; ich konnte nicht in das Innere des Zimmers blicken, und sowohl meine Augen wie meine Seele schienen von dem düsteren Hause – von der grauen Felsmasse, in welche dunkle Zellen hineingehauen, – (so schien es mir wenigstens damals) – fortgezogen zu werden hinauf nach jenem klaren Himmelsbogen, der sich wie ein blaues, bewegungsloses Meer vor mir ausbreitete; feierlich und majestätisch stieg der Mond empor und ließ die Spitzen jener Hügel unter sich, hinter [178] denen er hervorgekommen war; er strebte dem tiefdunklen, unermeßlich fernen Zenith entgegen, und ihm folgten die zitternden Sterne, denen ich mit bebendem Herzen, mit fiebernden Pulsen nachblickte. Gar kleine und geringe Dinge rufen uns auf diese Erde zurück; in der Halle schlug die Uhr; das genügte; ich wandte meine Augen von Mond und Sternen ab, öffnete eine Seitenthür und trat ins Haus.

Die Halle war nicht dunkel, aber ebensowenig war sie ganz erhellt durch die Bronzelampe, welche hoch oben an der Decke hing; eine angenehme Wärme herrschte sowohl hier wie auf dem unteren Teil der alten Eichentreppe. Ein heller Schein drang aus dem großen Speisezimmer, dessen hohe Flügelthüren geöffnet waren und ein lustig flackerndes Feuer im Kamin sehen ließen; in prächtigem Glanz zeigten sich die dunkelroten Draperien, die polierten Möbel, die Marmorverkleidung des Kamins. Der Schein des Feuers fiel auf eine Gruppe, welche sich vor demselben befand; kaum war ich derselben ansichtig geworden, kaum hatte ich den Ton fröhlicher Stimmen vernommen, unter denen ich jene Adelens zu unterscheiden glaubte, als die Thür auch schon wieder geschlossen wurde.

Ich eilte nach Mrs. Fairfaxs Zimmer; auch dort brannte ein Feuer, jedoch kein Licht. Keine Mrs. Fairfax war sichtbar. Statt ihrer fand ich auf dem Kaminteppich, einsam, aufrechtsitzend, ernst, einen großen, langhaarigen, schwarz und weißen Hund, ähnlich dem Gytrash aus dem Heckengäßchen. Er war ihm in der That so ähnlich, daß ich näher ging und rief:

»Pilot!« Das Tier erhob sich, kam auf mich zu und beschnüffelte mich. Ich liebkoste und streichelte den Hund; er wedelte mit seinem großen, schweren Schwanze; aber er sah doch ein wenig zu unheimlich aus, um mit ihm allein zu bleiben, und ich wußte nicht einmal, woher er gekommen. Ich zog die Glocke, denn ich wünschte ein Licht, und [179] überdies hoffte ich auch Auskunft über diesen Gast zu erhalten. Leah trat ein.

»Wo kommt dieser Hund her?«

»Er ist mit dem Herrn gekommen.«

»Mit wem?«

»Mit dem Herrn, mit Mr. Rochester, er ist soeben angekommen.«

»In der That! Und ist Mrs. Fairfax bei ihm?«

»Ja. Und Fräulein Adele auch. Sie sind im Speisezimmer und John ist eben gegangen, um einen Wundarzt zu holen; denn unser Herr hat einen Unfall gehabt. Sein Pferd ist gestürzt und er hat sich den Knöchel verrenkt.«

»Ist das Pferd in dem Heckenweg gestürzt, der von Hay herabführt?«

»Ja, als er bergab ritt, ist es auf dem Glatteise gestürzt.«

»Ah, Leah, wollen Sie mir nicht eine Kerze bringen? Ich bitte Sie darum.«

Leah brachte sie; als sie eintrat, folgte Mrs. Fairfax ihr auf dem Fuße und wiederholte die Erzählung. Sie fügte noch hinzu, daß Mr. Carter gekommen und jetzt bei Mr. Rochester sei. Dann eilte sie hinaus, um ihre Vorbereitungen für den Thee zu treffen. Ich ging nach oben, um Hut und Mantel abzulegen.

Fußnoten

1 Kommen Sie bald zurück, meine gute Freundin, mein teures Fräulein Jeannette.

Dreizehntes Kapitel

Wie es schien, befolgte Mr. Rochester den Befehl des Arztes indem er an diesem Abend frühzeitig zu Bett ging. Am folgenden Morgen stand er spät auf. Als er dann herunterkam, war es nur, um sich den Geschäften zu widmen; sein Bevollmächtigter und einige seiner Pächter waren gekommen und warteten jetzt, um mit ihm sprechen zu können.

Adele und ich mußten das Bibliothekzimmer jetzt räumen; [180] es sollte täglich als Empfangszimmer für die Besucher dienen. Im oberen Stockwerk wurde ein Zimmer geheizt; dorthin trug ich unsere Bücher und richtete es als künftiges Schulzimmer ein. Im Laufe des Morgens hatte ich noch Gelegenheit wahrzunehmen, daß Thornfield-Hall ein anderer Ort geworden; es war nicht mehr still wie in einer Kirche; zu jeder Stunde hallte ein lautes Klopfen an der Thür oder der Ton der Glocke durch das Haus; oft ertönten Schritte in der Halle; von unten herauf vernahm man den Schall fremder Stimmen. Ein Bächlein aus der Außenwelt rieselte plötzlich durch unser stilles Heim. Thornfield hatte einen Herrn bekommen. Mir gefiel es jetzt besser.

An diesem Tage war es nicht leicht, Adele zu unterrichten; sie konnte sich nicht sammeln. Jeden Augenblick lief sie zur Thür und blickte über das Treppengeländer hinab, um zu sehen, ob sie nicht einen Schimmer von Mr. Rochester erhaschen könne. Dann erfand sie allerlei Vorwände, um hinuntergehen zu dürfen; ich vermute, daß sie nur in die Bibliothek gehen wollte, wo sie, wie ich sehr wohl wußte, durchaus nicht gebraucht wurde. Als ich dann ein wenig ärgerlich wurde und ihr befahl, still zu sitzen, begann sie unaufhörlich von ihrem »Ami, Monsieur Edouard Fairfax de Rochester,« wie sie ihn taufte, zu sprechen, – ich hatte seine Vornamen bis jetzt noch nicht gekannt – und Vermutungen über die Geschenke anzustellen, welche er ihr möglicherweise mitgebracht hatte; denn wie es schien, hatte er ihr abends zuvor angedeutet, daß wenn sein Gepäck aus Millcote käme, sie eine kleine Schachtel finden würde, deren Inhalt sie möglicherweise interessieren könne.

»Et cela doit signifier,« sagte sie, »qu'il y aura là dedans un cadeau pour moi, et peut-être pour vous aussi, Mademoiselle. Monsieur a parlé de vous: il m'a demandé le nom de ma gouvernante, et si elle n'etait pas une petite personne, assez mince et un peu [181] pâle. J'ai dit que oui: car c'est vrai, n'est-ce pas, Mademoiselle?« 1

Wie gewöhnlich speisten meine Schülerin und ich in Mrs. Fairfaxs Wohnzimmer. Der Nachmittag war rauh und es schneite, und wir brachten denselben im Schulzimmer zu. Mit Dunkelwerden erlaubte ich Adele, Bücher und Arbeiten fortzulegen und hinunter zu laufen; denn aus der verhältnismäßigen Stille unten und dem Aufhören des Läutens an der Hausthürglocke schloß ich, daß Mr. Rochester jetzt unbeschäftigt sei. Allein geblieben, trat ich ans Fenster; aber man konnte nichts mehr sehen; die Dämmerung und das Schneegestöber verdunkelten die Luft und verbargen sogar das Gebüsch auf dem Wiesenplan vor dem Hause. Ich zog die Vorhänge zusammen und setzte mich wieder an das Feuer.

Aus der leichten Asche versuchte ich ein Bild zu erkennen, welches große Ähnlichkeit mit einer Ansicht des Heidelberger Schlosses am Neckar hatte. Da trat Mrs. Fairfax ein. Damit fiel das feurige Mosaik zusammen, mit dem ich mich beschäftigt hatte, und zugleich zerstoben auch einige trübe, schwere, unwillkommene Gedanken, die angefangen hatten, meine friedliche Einsamkeit zu stören.

»Es würde Mr. Rochester sehr angenehm sein, wenn Sie und Ihre Schülerin heute Abend den Thee mit ihm im Salon einnehmen wollten,« sagte sie, »er ist während des ganzen Tages so sehr beschäftigt gewesen, daß er bis jetzt keine Zeit gehabt, Sie aufzusuchen.«

»Um welche Zeit nimmt er den Thee?« fragte ich.

»O, um sechs Uhr. Auf dem Lande hält er sich an frühe Stunden. Es wäre am besten, wenn Sie jetzt schon [182] gingen, um Ihre Toilette zu wechseln. Ich werde mit Ihnen gehen, um Ihnen zu helfen. Hier ist eine Kerze.«

»Ist es denn durchaus notwendig, meine Kleidung zu wechseln?«

»Ja, es ist besser, wenn Sie es thun. Ich mache stets Toilette für den Abend, wenn Mr. Rochester hier ist.«

Diese Ceremonie erschien mir ein wenig pomphaft. Indessen begab ich mich auf mein Zimmer und mit Mrs. Fairfaxs Hilfe tauschte ich mein schwarzes wollenes Kleid gegen ein seidenes von gleicher Farbe; es war das beste und nebenbei auch das einzige, welches ich besaß, mit Ausnahme eines hellgrauen, welches nach meinen Toilettenbegriffen, die ich aus Lowood mitgebracht, zu prächtig und elegant war, um es bei anderen als höchst feierlichen Gelegenheiten zu tragen.

»Sie brauchen noch eine Brosche,« sagte Mrs. Fairfax. Ich besaß einen einzigen kleinen Schmuckgegenstand aus echten Perlen, welchen Miß Temple mir beim Abschied als Andenken geschenkt hatte; diesen legte ich an und dann gingen wir hinunter. Ich war nicht an den Verkehr mit Fremden gewöhnt, und daher war es fast eine schwere Prüfung für mich, so förmlich aufgefordert vor Mr. Rochester zu erscheinen. Ich ließ Mrs. Fairfax zuerst in das Speisezimmer eintreten und hielt mich in ihrem Schatten, als wir dieses Gemach durchschritten. Dann gingen wir unter dem Bogen durch, dessen Vorhänge jetzt herabgelassen waren, und traten in die elegante Vertiefung, welche sich hinter demselben befand.

Zwei Wachskerzen brannten auf dem Tische und zwei auf dem Kamin; in der Hitze und dem Licht eines prächtig lodernden Feuers lag Pilot – neben ihm kniete Adele. Halb zurückgelehnt auf einem Ruhebett lag Mr. Rochester; sein Fuß war durch ein Polster gestützt; er blickte auf Adele und den Hund; der Schein des Feuers fiel voll auf sein Gesicht. Ich erkannte sofort den Reiter mit der hohen [183] Stirn und den dichten, kohlschwarzen Augenbrauen wieder; das schwarze Haar ließ die Stirn noch weißer erscheinen. Ich erkannte seine scharf geschnittene Nase wieder, die mehr charakteristisch als schön war; seine vollen Nüstern deuteten auf eine cholerische Natur; sein grimmer Mund, das Kinn, die Kinnbacken – ja, alle drei waren grimmig, darüber konnte kein Irrtum obwalten. Seine Gestalt, die jetzt des Mantels entkleidet war, harmonierte an Schärfe mit seinem Gesicht. Ich vermute, daß man sie vom athletischen Standpunkt aus schön hätte nennen können, – die Brust war breit, die Hüften schmal; aber sie war weder schlank noch geschmeidig.

Mr. Rochester mußte Mrs. Fairfaxs und meinen Eintritt wohl bemerkt haben; aber ich vermute, daß er nicht in der Laune war, Notiz von uns zu nehmen, denn er wandte nicht einmal den Kopf, als wir näher traten.

»Hier ist Miß Eyre, mein Herr,« sagte Mrs. Fairfax in ihrer ruhigen Weise. Er neigte den Kopf leicht, aber immer wandte er noch keinen Blick von der Gruppe des Hundes mit dem Kinde.

»Lassen Sie Miß Eyre Platz nehmen,« sagte er, und in der förmlichen, steifen Verbeugung, in dem ungeduldigen gezwungenen Ton lag etwas, das zu sagen schien: »Was zum Teufel kümmert es mich, ob Miß Eyre da ist oder nicht? In diesem Augenblick verspüre ich keine Lust, mit ihr zu sprechen.«

Ich setzte mich und meine Verlegenheit war gänzlich geschwunden. Ein Empfang von äußerster Höflichkeit würde mich wahrscheinlich verwirrt haben; ich hätte ihn nicht durch Eleganz oder Grazie meinerseits erwidern können; aber solche schroffe Launen legten mir keine Verpflichtung auf; im Gegenteil, ich errang einen leichten Vorteil über ihn durch seinen Mangel an guter Manier, den ich schweigend zu ignorieren schien. Außerdem war mir das Außergewöhnliche [184] seines Verfahrens pikant. Es interessierte mich zu beobachten, wie es nun weiter gehen würde.

Er benahm sich also weiter, wie eine Statue es ungefähr gethan haben würde; das heißt, er sprach weder, noch bewegte er sich. Mrs. Fairfax schien es für notwendig zu halten, daß einer von uns sich liebenswürdig zeige, und so begann sie zu sprechen. Freundlich wie gewöhnlich und wie gewöhnlich auch zuerst sehr alltäglich, begann sie ihn wegen der dringenden Geschäfte zu bemitleiden, mit welchen er während des ganzen Tages überbürdet gewesen, wegen der Verrenkung, welche ihm große Schmerzen verursachen müsse, – dann begann sie, ihm Geduld und Ausdauer während des Verlaufs seiner Heilung anzuempfehlen.

»Madame, ich bitte um eine Tasse Thee,« lautete die einzige Antwort, welche sie erhielt. Sie beeilte sich, die Glocke zu ziehen; und als das Theebrett gebracht wurde, begann sie, die Tassen, Löffel u.s.w. mit geschäftiger Schnelligkeit zu ordnen. Adele und ich gingen an den Tisch; aber der Hausherr verließ sein Ruhebett nicht.

»Wollen Sie Mr. Rochester die Tasse reichen?« sagte Mrs. Fairfax zu mir. »Adele könnte den Thee verschütten.«

Ich that, was sie begehrte. Als er mir die Tasse aus der Hand nahm, rief Adele, welche den Augenblick vielleicht für geeignet hielt, eine Bitte zu meinen Gunsten auszusprechen:

»N'est-ce pas, Monsieur, qu'il y a un cadeau pour Mademoiselle Eyre dans votre petit coffre?« 2

»Wer redet von cadeaux?« fragte er rauh. »Haben Sie ein Geschenk erwartet, Miß Eyre? Lieben Sie vielleicht Geschenke?« und forschend blickte er mir ins Gesicht mit Augen, in denen Zorn und Ärger blitzten.

»Ich weiß es kaum, mein Herr; ich habe in dieser Beziehung [185] wenig Erfahrung. Aber im allgemeinen hält man sie doch für sehr angenehme Dinge.«

»Im allgemeinen hält man sie dafür!! Aber was halten Sie davon?«

»Ich müßte mir wirklich Zeit nehmen, Sir, um zu überlegen, bis ich eine Antwort finden könnte, die Ihrer Annahme würdig wäre. Ein Geschenk hat viele Gesichter. Nicht wahr? Und man sollte jedes einzelne betrachten, ehe man eine Meinung über seine Beschaffenheit ausspricht.«

»Miß Eyre, Sie sind nicht so harmlos und einfach wie Adele; sie verlangt laut ein cadeau, sobald sie meiner ansichtig wird. Sie hingegen klopfen auf den Busch.«

»Weil ich weniger Vertrauen zu meinen Verdiensten habe, als Adele; sie kann das Recht der Gewohnheit und die alte Bekanntschaft geltend machen, denn sie hat mir erzählt, daß Sie ihr stets Spielsachen zu schenken pflegten. Mir würde es aber die größte Schwierigkeit bereiten, wenn ich irgend einen berechtigten Anspruch an Sie erheben sollte, denn ich bin eine Fremde und habe nichts gethan, um eine Belohnung von Ihnen zu verdienen.«

»O, bitte, verfallen Sie jetzt nicht in das Extrem zu großer Bescheidenheit! Ich habe Adele examiniert und finde, daß Sie sich mit ihr große Mühe gegeben haben. Sie ist nicht besonders aufgeweckt; sie hat kein großes Talent, und doch hat sie in kurzer Zeit große Fortschritte gemacht.«

»Sir, jetzt haben Sie mir mein cadeau gegeben; ich bin Ihnen außerordentlich dankbar; nichts kann einem Lehrer größere Freude machen als Lob über die Fortschritte seiner Schüler.«

»Bah!« sagte Mr. Rochester und trank dann seinen Thee schweigend aus.

»Kommen Sie hierher ans Feuer,« sagte der Hausherr, als das Theegeschirr abgetragen war und Mrs. Fairfax sich mit ihrem Strickzeug in einen Winkel setzte, und Adele [186] mich an der Hand durch das ganze Zimmer führte, um mir all die prächtigen Bücher und Nippsachen auf Konsolen und Chiffonnièren zu zeigen. Wir gehorchten pflichtschuldigst. Adele wollte auf meinem Schoß Platz nehmen, aber es wurde ihr anbefohlen, sich mit Pilot zu amusieren.

»Sie halten sich jetzt schon drei Monate in meinem Hause auf?«

»Ja, Sir.«

»Und Sie kamen aus – – –?«

»Aus der Schule zu Lowood in ... shire.«

»Ah! eine Wohlthätigkeitsanstalt! – Wie lange waren Sie dort?«

»Acht Jahre.«

»Acht Jahre! Sie müssen ein zähes Leben haben. Ich meinte, daß die Hälfte der Zeit genügen müsse, um jede Konstitution aufzureiben! Kein Wunder, daß Sie beinahe aussehen, als kämen Sie aus einer anderen Welt. Ich habe mich schon ganz erstaunt gefragt, woher Sie ein solches Gesicht haben könnten. Als Sie mir gestern Abend in dem Heckenwege entgegen kamen, mußte ich unwillkürlich an Gespenstergeschichten denken und ich hatte schon die Absicht zu fragen, ob Sie mein Pferd behext hätten. Ganz sicher bin ich dessen auch jetzt noch nicht. Wer sind Ihre Eltern?«

»Ich habe keine.«

»Und hatten vermutlich auch niemals welche; erinnern Sie sich ihrer nicht?«

»Nein.«

»Das dachte ich mir. So warteten Sie also auf Ihre Leute, als Sie dort am Zaun saßen.«

»Auf wen, Sir?«

»Auf die Männchen in Grün. Es war gerade eine rechte Mondscheinnacht für sie. Habe ich vielleicht einen Ihrer Zauber gebrochen, daß Sie das verdammte Eis über den Fußsteig zogen?«

[187] Ich schüttelte den Kopf. »Die Männer in Grün haben alle schon vor hundert Jahren England verlassen,« sagte ich und sprach ebenso ernst, wie er es gethan hatte. »Und nicht einmal im Heckengäßchen von Hay oder auf den umliegenden Feldern würden Sie jetzt noch eine Spur von ihnen finden. Ich glaube, daß weder Herbst- noch Sommer- noch Wintersonne jemals wieder auf ihre Feste herabscheinen wird.«

Mrs. Fairfax hatte ihr Strickzeug auf den Schoß sinken lassen und mit emporgezogenen Augenbrauen hörte sie erstaunt auf unser Gespräch.

»Nun,« fuhr Mr. Rochester fort, »wenn Sie nun auch Ihre Eltern verleugnen, so müssen Sie doch irgend welche Verwandte haben, Onkel oder Tanten?«

»Keine, die ich jemals gesehen.«

»Und Ihr Heim?«

»Ich habe keins.«

»Wo leben denn Ihre Brüder und Schwestern?«

»Ich habe weder Brüder noch Schwestern.«

»Wer empfahl Ihnen denn hierher zu kommen?«

»Ich ließ eine Annonce in die Zeitung rücken, und Mrs. Fairfax beantwortete diese Annonce.«

»Ja,« sagte die gute Dame, welche jetzt wußte, auf welchem Boden wir uns bewegten, »und täglich danke ich der Vorsehung für die Wahl, welche sie mich treffen ließ. Miß Eyre ist eine unschätzbare Gefährtin für mich, und eine gütige, sorgsame, pflichtgetreue Lehrerin für Adele.«

»Bemühen Sie sich nicht, ihr ein Zeugnis auszustellen,« entgegnete Mr. Rochester, »Lobeserhebungen ködern mich nicht. Ich werde für mich selbst urteilen. Sie hat damit angefangen, mein Pferd zu Boden zu strecken.«

»Sir?« sagte Mrs. Fairfax.

»Ich habe ihr diese Verrenkung zu danken.«

Die Witwe blickte uns erstaunt an.

[188] »Miß Eyre, sagen Sie mir, haben Sie jemals in einer Stadt gewohnt?«

»Nein, Sir.«

»Haben Sie viel Gesellschaft gesehen?«

»Keine andere als die Schülerinnen und Lehrerinnen von Lowood; und jetzt die Bewohner von Thornfield.«

»Haben Sie viel gelesen?«

»Nur solche Bücher, derer ich zufällig habhaft werden konnte; und diese waren weder sehr zahlreich noch sehr gelehrt.«

»Sie haben das Leben einer Nonne geführt; ohne Zweifel sind Sie in religiösen Formen gut geschult; – Brocklehurst, welcher, wie ich glaube Direktor von Lowood, ist ein Prediger, wenn ich nicht irre?«

»Ja, Sir.«

»Und die Mädchen verehrten ihn wahrscheinlich, wie die Nonnen eines Klosters ihren Priester anbeten!«

»O nein!«

»Sie sind sehr aufrichtig! Nein! Was! Eine Novize, die ihren Priester nicht vergöttert! Das klingt doch fast wie Blasphemie!«

»Ich liebte Mr. Brocklehurst durchaus nicht; und ich stand mit meinem Gefühl nicht allein da. Er ist ein harter Mann, der unendlich übermütig war und sich stets Übergriffe erlaubte. Er ließ uns das Haar abschneiden, und aus Sparsamkeit kaufte er schlechte Nähnadeln und schlechten Zwirn, mit denen wir kaum nähen konnten.«

»Das war eine sehr verkehrte Sparsamkeit,« bemerkte Mrs. Fairfax, welche den Faden des Gesprächs jetzt wieder aufnehmen konnte.

»Und war dies das größte und schwärzeste seiner Verbrechen?« fragte Mr. Rochester.

»Er ließ uns beinahe verhungern, als er die alleinige Aufsicht über das Verpflegungsdepartement führte, bevor noch das Comité eingesetzt wurde; und wöchentlich einmal [189] langweilte er uns mit langen Vorträgen und mit abendlichen Vorlesungen aus Büchern, die er selbst zu wählen pflegte; diese handelten stets von plötzlichen Todesfällen und fürchterlichen Strafen, so daß wir abends stets gequält und geängstigt zu Bette gingen.«

»Wie alt waren Sie, als Sie nach Lowood kamen?«

»Ungefähr zehn Jahre alt.«

»Und acht Jahre blieben Sie dort. Da sind Sie also jetzt achtzehn Jahre alt?«

Ich nickte bejahend.

»Wie Sie sehen ist die Arithmetik sehr nützlich. Ohne Ihre Hilfe wäre ich kaum imstande gewesen, Ihr Alter zu erraten. Es ist das eine sehr schwierige Sache in einem Falle, wo Züge und Gesichtsausdruck so sehr im Widerspruch miteinander stehen, wie es bei Ihnen der Fall ist. Und nun erzählen Sie mir, was Sie in Lowood gelernt haben. Können Sie Klavier spielen?«

»Ein wenig.«

»Natürlich ›ein wenig‹. Das ist so die gewöhnliche Antwort. Gehen Sie in die Bibliothek – d.h. wenn Sie so liebenswürdig sein wollen. – Verzeihen Sie meinen Kommandoton; ich bin daran gewöhnt zu sagen: ›Thun Sie dies‹, und es ist geschehen; ich kann meine alten Gewohnheiten eines einzigen neuen Hausgenossen zu Liebe nicht ablegen – Gehen Sie also in die Bibliothek; nehmen Sie eine Kerze mit, lassen Sie die Thür offen, setzen Sie sich ans Klavier und spielen Sie ein Lied.«

Ich ging, um seinen Weisungen Folge zu leisten.

»Genug!« rief er nach wenigen Minuten. »Sie spielen allerdings ›ein wenig‹, ich sehe schon; gerade so wie jedes andere englische Schulmädchen, vielleicht noch ein wenig besser, aber durchaus nicht gut.«

Ich schloß das Klavier und kehrte in das Wohnzimmer zurück. Mr. Rochester fuhr fort:

»Adele hat mir heute Morgen einige Skizzen gezeigt, [190] von denen sie sagte, daß es die Ihrigen seien. Ich weiß nicht, ob dieselben Ihr Werk allein sind, – wahrscheinlich hat ein Lehrer Ihnen dabei geholfen?«

»Nein, gewiß nicht!« rief ich schnell.

»Ah! da erwacht die Eitelkeit. Gut also, holen Sie Ihr Portefeuille, wenn Sie dafür bürgen können, daß es nur Originale enthält; aber geben Sie Ihr Wort nicht, wenn Sie nicht ganz sicher sind. Ich erkenne sofort jedes Flickwerk.«

»Dann werde ich also gar nichts sagen, Sir, und Sie werden selbst urteilen.«

Ich holte das Portefeuille aus der Bibliothek.

»Bringen Sie mir den Tisch heran,« sagte er, und ich schob denselben an sein Ruhebett. Adele und Mrs. Fairfax kamen auch heran, um die Bilder zu sehen.

»Kein Gedränge,« sagte Mr. Rochester, »nehmen Sie mir die Zeichnungen aus der Hand, wenn ich damit fertig bin; aber drücken Sie Ihre Gesichter nicht an das meine.«

Mit Muße betrachtete er jedes Bild, jede Zeichnung. Drei von diesen legte er beiseite; die andern schob er von sich, nachdem er sie geprüft hatte.

»Nehmen Sie sie nach jenem Tische dort, Mrs. Fairfax,« sagte er, »und betrachten Sie sie mit Adele; – Sie, (mit einem Blicke auf mich) nehmen Ihren Sitz wieder ein und beantworten meine Fragen. Ich sehe, daß diese Skizzen von einer Hand herrühren; war es die Ihre?«

»Ja.«

»Und wann haben Sie Zeit gefunden, sie zu machen? Sie haben viel Zeit und auch einiges Nachdenken erfordert.«

»Während der letzten Ferien entwarf ich sie in Lowood, als ich keine andere Beschäftigung hatte.«

»Woher haben Sie die Motive genommen?«

»Aus meinem eigenen Kopfe.«

»Aus dem Kopfe, den ich jetzt da auf Ihren Schultern sehe?«

[191] »Ja, Sir.«

»Hat er noch mehr dergleichen Vorräte in sich?«

»Ich meine wohl; aber ich hoffe, daß er deren nochbessere in sich trägt.«

Er breitete die Bilder wieder vor sich aus und betrachtete sie abwechselnd.

Während er noch damit beschäftigt ist, will ich dir, lieber Leser, erzählen, was sie vorstellen, und vor allen Dingen muß ich vorausschicken, daß sie durchaus nichts wunderbares sind. Die Motive hatten sich mir lebhaft aufgedrängt. Als ich sie mit dem geistigen Auge sah, bevor ich versuchte, sie zu verkörpern, waren sie allerdings außergewöhnlich; aber mein Pinsel konnte mit meiner Fantasie nicht gleichen Schritt halten, und in allen drei Fällen war die Ausführung nur ein schwaches Abbild dessen geworden, was mir vorgeschwebt hatte.

Die Bilder waren in Wasserfarben ausgeführt. Das erste stellte düstere, blaugraue, niedrighängende Wolken über einer wildbewegten See dar. Die ganze Ferne lag in Finsternis da und ebenso der Vordergrund oder vielmehr die vorderen Wellen, denn es war gar kein Land auf dem Bilde. Ein einziger Lichtstrahl fiel auf einen halb aus dem Wasser hervorragenden Mast, auf welchem ein Wasserrabe saß, dunkel und groß, dessen Flügel mit Wellenschaum bespritzt waren; im Schnabel hielt er ein goldenes Armband, welches mit Edelsteinen reich besetzt war; diesen hatte ich die reichsten Farben verliehen, welche meine Palette herzugeben vermocht, die strahlendste Deutlichkeit, deren mein Zeichenstift fähig gewesen. Hinter Mast und Vogel schien ein ertrunkener Leichnam in dem grünen Wasser zu versinken; ein weißer Arm war das einzige Glied, das deutlich sichtbar; von ihm war das Armband herunter gespült oder gerissen.

Der Vordergrund des zweiten Bildes zeigte nur die neblige Spitze eines Hügels, von welchem einige Blätter [192] und Grashalme wie vom Winde getrieben, herabrollten. Hinter und über dem Bergesgipfel breitete sich der Himmelsbogen aus, tiefblau wie zur Dämmerzeit; in den Himmel hinein ragte das Brustbild einer Frau, in so weichen und unbestimmten Farben gemalt, wie es mir nur möglich gewesen, zusammenzustellen. Die klare Stirn war von einem Stern gekrönt, die unteren Gesichtszüge sah man nur wie durch dichten Nebel; die Augen glänzten dunkel und wild; das Haar fiel schattengleich herab, wie eine strahlenlose Wolke, welche der Sturm oder die elektrische Kraft zerrissen hat. Auf ihrem Nacken lag ein bleicher Schein wie von Mondesstrahlen herrührend; derselbe matte Glanz ruhte auf den dünnen Wolken, aus welchen diese Vision des Abendsterns emporzusteigen schien.

Das dritte Bild zeigte den Gipfel eines Eisberges, welcher in den nördlichen Winterhimmel hineinragte. Am Horizont schoß ein Nordlicht seine schlanken Lanzen dicht nebeneinander empor. Diese in die Ferne schleudernd, erhob sich im Vordergrund ein Kopf – ein kolossaler Kopf, welcher sich dem Eisberg zuneigte und an diesem ruhte. Zwei magere Hände, welche sich unter der Stirn kreuzten und diese stützten, zogen einen schwarzen Schleier vor die unteren Gesichtszüge; eine bleiche Stirn, weiß wie Elfenbein und ein hohles, starres Auge, das keinen anderen Ausdruck hatte als den der Verzweiflung, waren allein sichtbar. Über den Schläfen, zwischen turbanartigen Falten einer düstern Draperie, die in Form und Farbe unbestimmt wie eine Wolke war, glänzte ein Ring von weißen Flammen, auf dem hier und da Funken von intensiverem Glanz leuchteten. Dieser blasse Halbkreis war »das Ebenbild einer Königskrone; was diese krönte, war die Form, die keine Form hat.«

»Waren Sie glücklich, als Sie diese Bilder malten?« fragte Mr. Rochester.

»Ich hatte mich in die Arbeit vertieft, Sir; ja – ich[193] war glücklich. Als ich sie malte, empfand ich eine der höchsten Freuden, die ich jemals gekannt.«

»Das will nicht viel sagen. Nach Ihrer eigenen Erzählung sind Ihrer Freuden nicht viele gewesen; aber ich vermute, daß Sie sich in einer Art von Künstlers-Traumland befanden, als Sie diese seltsamen Farben mischten und auf die Leinwand übertrugen. Haben Sie täglich viele Stunden bei dieser Arbeit zugebracht?«

»Ich hatte nichts anderes zu thun, da es Ferienzeit war, und ich saß vom Morgen bis zum Mittag, vom Mittag bis zum Abend dabei. Die Länge der Mitsommertage begünstigte meine Neigung zum Fleiß.«

»Und waren Sie mit dem Resultat Ihrer angestrengten Arbeit zufrieden?«

»Weit entfernt davon. Der Abstand zwischen meiner Idee und meiner Ausführung quälte mich; in jedem dieser drei Fälle hatte mir etwas vorgeschwebt, was ich außer Stande gewesen zu verwirklichen.«

»Nicht ganz. Den Schatten Ihrer Gedanken festzuhalten, ist Ihnen gelungen; mehr wahrscheinlich nicht. Sie hatten nicht genug künstlerische Geschicklichkeit und Kenntnisse, um jenen vollständig Gestalt verleihen zu können; jedoch sind die Zeichnungen für ein Schulmädchen immerhin beachtenswert. Die Ideen sind vollständig elfenartig, geisterhaft. Diese Augen in dem ›Abendstern‹ müssen Sie einmal im Traume gesehen haben. Wie haben Sie es nur angefangen, diese so klar und doch nicht glänzend wieder zu geben? Denn der Stern oberhalb der Stirn schwächt ihre Strahlen. Und welche Bedeutung liegt in ihrer feierlichen Tiefe. Und wer hat Sie gelehrt, den Wind zu malen? Unter diesem Himmel und über jenem Bergesgipfel weht ein heftiger Sturm. Wo haben Sie Latmos gesehen? denn das ist Latmos. Hier – tragen Sie die Zeichnungen wieder fort.«

Kaum hatte ich die Bänder meiner Zeichenmappe wieder [194] zusammengebunden, als er auf seine Uhr sah und dann plötzlich sagte:

»Es ist neun Uhr. Was fällt Ihnen ein, Miß Eyre, Adele so lange aufsitzen zu lassen? Bringen Sie sie zu Bett.«

Adele ging und gab ihm einen Kuß, bevor sie das Zimmer verließ. Er ließ sich die Liebkosung gefallen, aber er schien kaum mehr Wohlgefallen daran zu finden, als Pilot es gethan haben würde, – oder vielleicht noch weniger.

»Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht,« sagte er und machte eine Handbewegung nach der Thür, zum Zeichen, daß er unserer Gesellschaft müde sei und uns entließe. Mrs. Fairfax legte ihre Strickerei zusammen; ich nahm meine Zeichenmappe: wir verneigten uns vor ihm, erhielten eine steife und kalte Verbeugung als Gegengruß, und zogen uns dann zurück.

»Mrs. Fairfax, Sie sagten, daß Mr. Rochester keine auffallenden Eigentümlichkeiten besitze,« bemerkte ich, als ich wieder zu ihr ins Zimmer trat, nachdem ich Adele ins Bett gebracht hatte.

»Nun, und besitzt er deren?«

»Ich glaube wohl. Er ist sehr veränderlich und launenhaft.«

»Das ist allerdings wahr. Ohne Zweifel muß er einem Fremden so erscheinen, aber ich bin schon so lange an seine Art und Weise gewöhnt, daß ich mir gar keine Gedanken mehr darüber mache. Und überdies sollte man sich nicht darüber wundern, wenn seine Laune nicht immer gleichmäßig ist.«

»Weshalb das?«

»Teilweise, weil es in seiner Natur liegt – und keiner von uns kann gegen seine Natur kämpfen; hauptsächlich aber, weil er wohl oft traurige und qualvolle Gedanken haben mag, die ihn peinigen und seine gute Laune stören.«

»Was quält ihn denn?«

[195] »Familienkummer vor allen Dingen.«

»Aber er hat ja keine Familie.«

»Jetzt nicht mehr – aber er hatte eine; – Verwandte wenigstens. Er verlor seinen älteren Bruder vor einigen Jahren.«

»Seinen älteren Bruder?«

»Ja. Der gegenwärtige Mr. Rochester ist noch nicht sehr lange im Besitz der Güter und des Vermögens; erst ungefähr seit neun Jahren.«

»Neun Jahre sind eine lange Zeit! Liebte er seinen Bruder so zärtlich, daß er noch jetzt über seinen Verlust untröstlich ist?«

»Nein, nein – das ist vielleicht nicht der Fall. Ich glaube aber, daß einige Mißverständnisse zwischen ihnen bestanden. Mr. Rowland Rochester war Mr. Edward gegenüber nicht ganz gerecht, und vielleicht war er es auch, der den Vater gegen ihn einnahm. Der alte Herr liebte das Geld gar sehr und war stets ängstlich darauf bedacht, das Familienvermögen und die Güter zusammenzuhalten. Der Gedanke, das Besitztum durch Teilung zu verringern, war ihm unangenehm, und doch wünschte er, daß auch Mr. Edward reich sein solle, um den Glanz des Namens aufrecht zu erhalten; und bald nachdem er großjährig geworden, wurden einige Schritte gethan, die nicht ganz gerecht waren und sehr viel Unheil anrichteten. Der alte Mr. Rochester und Mr. Rowland wirkten zusammen, um Mr. Edward in das zu bringen, was er eine peinliche Situation nannte, nur damit er sein Glück machen solle. Welcher Art diese Lage gewesen, habe ich nicht genau erfahren, aber sein Gemüt konnte niemals überwinden, was er durch dieselbe zu leiden hatte. Er brach mit seiner Familie und hat jetzt seit vielen Jahren ein unstätes Leben geführt. Ich glaube nicht, daß er seit dem Tode seines Bruders, der ohne Testament starb und ihn als Erben der Güter hinterließ, vierzehn Tage hintereinander in [196] Thornfield ausgehalten hat. Und in der That, es ist kein Wunder, wenn er das alte Haus meidet.«

»Weshalb sollte er es denn meiden?«

»– – Vielleicht erscheint es ihm düster.«

Die Antwort klang ausweichend – ich hätte gern etwas bestimmteres gehört; aber Mrs. Fairfax wollte oder konnte mir keine genauere Auskunft über die Ursache oder die Art von Mr. Rochesters Prüfungen geben. Sie behauptete, daß sie auch für sie ein Geheimnis seien, und daß alles, was sie wisse, nur auf Vermutungen basiere. Es war augenscheinlich, daß sie wünschte, ich möge den Gegenstand fallen lassen. – Und das that ich auch.

Fußnoten

1 Und das soll bedeuten, daß ein Geschenk für mich darin sein wird, und vielleicht auch für Sie, Fräulein. Der Herr hat von Ihnen gesprochen: er hat mich nach dem Namen meiner Gouvernante gefragt, und ob diese nicht eine kleine Person sei, ziemlich dünn und ein wenig bleich. Ich habe Ja gesagt; denn es ist wahr, Fräulein, nicht wahr?

2 Nicht wahr, mein Herr, in Ihrem Koffer liegt ein Geschenk für Fräulein Eyre?

Vierzehntes Kapitel

Während vieler der folgenden Tage sah ich Mr. Rochester wenig. Des Morgens schien er ganz von Geschäften in Anspruch genommen, und am Nachmittag kamen gewöhnlich Herren aus Millcote oder der Nachbarschaft, um ihre Besuche zu machen und zuweilen auch, um am Mittagessen teilzunehmen. Als seine Verrenkung soweit geheilt war, daß sie ihm wiederum gestattete auszureiten, machte er viele und weite Ritte. Wahrscheinlich erwiderte er jene Besuche, denn gewöhnlich kam er erst spät in der Nacht zurück.

Während dieser Zeit wurde auch Adele nur selten zu ihm geholt, und meine ganze Bekanntschaft mit ihm beschränkte sich auf eine gelegentliche Begegnung in der Halle, auf der Treppe, oder in der Galerie; zuweilen ging er hochmütig und kalt an uns vorüber und nahm von meiner Gegenwart nur durch eine steife Verbeugung oder einen kalten Blick Notiz; ein anderes Mal hingegen lächelte er wieder und begrüßte mich mit der zwanglosen Höflichkeit eines Gentleman. Seine wechselnde Laune beleidigte mich nicht, denn ich sah bald ein, daß meine Person mit diesen Wechseln nichts zu thun hatte; die Ebbe und Flut hing von Ursachen ab, mit denen ich in keiner Verbindung stand.

[197] Eines Tages hatte er zum Mittagsessen Gäste gehabt und während desselben hatte er meine Zeichenmappe holen lassen, ohne Zweifel zu dem Zweck, um ihren Inhalt zu zeigen.

Die Herren entfernten sich früh, um einer öffentlichen Versammlung in Millcote beizuwohnen, wie Mrs. Fairfax mir mitteilte; da der Abend aber naßkalt und rauh war, begleitete Mr. Rochester sie nicht. Bald nachdem sie sich entfernt hatten, zog er die Glocke. Es kam der Befehl, daß Adele und ich nach unten kommen sollten. Ich bürstete Adelens Haar und machte sie zierlich, und nachdem ich mich vergewissert hatte, daß ich in meinem gewöhnlichen Quäkerputz war, der keiner »Retouche« bedurfte, – da alles zu fest und einfach und glatt, die Haarfrisur einbegriffen, um eine Unordnung zuzulassen – gingen wir hinunter. Adele fragte mich, ob ich glaube, daß der petit coffre endlich angekommen sei; denn durch irgend einen Irrtum hatte seine Ankunft sich bis jetzt verzögert. Ihre Hoffnung ging in Erfüllung; da stand er, der kleine Karton, auf dem Tische; beim Eintritt fielen unsere Blicke sogleich auf denselben. Instinktiv schien sie ihn zu erkennen.

»Ma boîte! ma boîte!« 1 rief sie aus, und lief auf den Tisch zu.

»Ja, da ist deine ›boîte‹ endlich. Nimm sie dir in eine Ecke, du echte Tochter des schönen Paris, und amüsiere dich mit dem Auspacken,« sagte Mr. Rochester mit seiner tiefen und ziemlich sarkastischen Stimme, die aus einem großen, tiefen Lehnstuhl vom Kamin her ertönte. »Und merke es dir,« fuhr er fort, »quäle mich nicht mit den Details des anatomischen Prozesses oder irgend einer Bemerkung über die Zustände der Eingeweide; führe deine Operation unter Stillschweigen aus – tiens-toi tranquille, mon enfant; comprends-tu?« 2

[198] Es schien dieser Warnung bei Adele gar nicht zu bedürfen; sie hatte sich mit ihrem Schatz bereits auf ein Sofa zurückgezogen und war damit beschäftigt, den Bindfaden, welcher den Deckel hielt, zu lösen. Nachdem sie dies Hindernis entfernt und einige silberartige Hüllen von Seidenpapier emporgehoben hatte, rief sie nur aus:

»Oh, ciel, que c'est beau!« 3 dann blieb sie regungslos in extatischer Betrachtung stehen.

»Ist Miß Eyre da?« fragte der Herr des Hauses jetzt, indem er sich halb aus seinem Lehnsessel erhob und sich nach der Thür umblickte, neben welcher ich noch immer stand.

»O! das ist gut! Treten Sie näher, und setzen Sie sich zu mir.« Er zog einen Stuhl an den seinen heran. »Ich bin kein Freund vom Geplauder der Kinder,« fuhr er fort, »denn ein alter Junggeselle wie ich hat keine freundlichen Erinnerungen, die sich an ihr Lallen knüpfen könnten. Es wäre unerträglich für mich, wenn ich einen ganzen Abend tête-à-tête mit solch einem Kinde zubringen sollte. Ziehen Sie den Stuhl nicht weiter zurück, Miß Eyre, setzen Sie sich gerade da, wohin ich ihn gestellt habe, das heißt natürlich, wenn es Ihnen recht ist. Zum Teufel mit diesen Förmlichkeiten! Ich vergesse sie immer wieder. Für einfache, harmlose alte Damen habe ich auch keine besondere Vorliebe. Dabei fällt mir ein, für die meine sollte ich sie doch haben; es würde nichts Gutes daraus entstehen, wenn ich sie vernachlässigen wollte. Sie ist eine Fairfax, oder war doch mit einem solchen verheiratet; und Blut ist dicker als Wasser, wie das Sprichwort sagt.«

Er zog die Glocke und sandte eine Aufforderung an Mrs. Fairfax, welche gleich darauf mit ihrem Strickkorbe in der Hand erschien.

»Guten Abend, Madame; ich ließ Sie zu einem mildthätigen [199] Zwecke hierher bitten: ich habe Adele verboten mit mir über ihre Geschenke zu sprechen und sie stirbt jetzt beinahe vor verhaltener Aufregung; haben Sie die Güte, ihr als Zuhörerin und Fragestellerin zu dienen; es wäre eine der barmherzigsten Thaten, die Sie jemals vollbracht haben.«

In der That, kaum hatte Adele Mrs. Fairfax erblickt, als sie ihr schon ein Zeichen machte, an das Sofa zu kommen. Dort füllte sie ihr den Schoß mit dem ganzen Inhalt von Porzellan, Elfenbein und Wachs ihrer boîte und gab zugleich ihr Entzücken in dem kleinen Vorrat von Englisch zu erkennen, dessen sie mächtig war.

»Jetzt habe ich die Rolle eines liebenswürdigen Wirtes gespielt und meinen Gästen den Weg gezeigt, auf dem sie ihre Unterhaltung finden können,« fuhr Mr. Rochester fort, »nun sollte es mir aber auch erlaubt sein, meinen eigenen Vergnügungen nachzugehen. Miß Eyre, ziehen Sie Ihren Stuhl noch ein klein wenig näher, Sie sitzen noch zu weit zurück. Ich kann Sie nicht sehen, ohne meine bequeme Lage in diesem prächtigen Stuhl aufzugeben; und dazu habe ich allerdings keine Lust.«

Ich that, wie mir geheißen wurde, obgleich ich viel lieber ein wenig im Schatten geblieben wäre; aber Mr. Rochester hatte eine so direkte Art, seine Befehle zu erteilen, daß es die natürlichste Sache der Welt war, ihm augenblicklich zu gehorchen.

Wie ich schon erwähnt habe, befanden wir uns im Speisezimmer; der Kronleuchter, dessen Kerzen für die Mittagstafel angezündet gewesen, erfüllte das Zimmer mit einem festlichen Glanz; das große Feuer brannte rot und hell und klar; die roten Vorhänge hingen in reichen Falten vor dem hohen Bogenfenster und der noch höheren Bogenthür; ringsum herrschte Ruhe, nur Adelens leises Geplauder – sie wagte nicht laut zu sprechen – unterbrach dann und wann die Stille. Draußen schlug der Winterregen kaum hörbar gegen die Scheiben.

[200] Wie Mr. Rochester so in seinem köstlich reichen Lehnstuhl dasaß, sah er ganz anders aus, als er mir bis dahin erschienen war, – nicht ganz so strenge, weniger düster. Auf seinen Lippen ruhte ein Lächeln, seine Augen funkelten; ob dies die Wirkung des Weins war oder nicht – das weiß ich nicht; aber ich halte es für wahrscheinlich. Kurzum, er war in seiner »Nach dem Mittagessen-Stimmung« natürlicher, lebhafter, elastischer, mitteilsamer, nicht so strenge und steif und förmlich als des Morgens. Und doch sah er noch ein wenig grimmig aus, wie er seinen massiven Kopf gegen die schwellenden Polster des Lehnstuhls legte und der Schein des Feuers auf seine wie aus Granit gehauenen Züge und seine großen, dunklen Augen fiel – denn er hatte große, dunkle Augen und sehr schöne Augen obendrein; – zuweilen wechselte der Ausdruck in ihren Tiefen und wenn es auch nicht grade Weichheit war, die sich dort spiegelte, so erinnerte es doch wenigstens an diese Empfindung.

Zwei Minuten hatte er ins Feuer geblickt, und ebenso lange hatte ich ihn angesehen – da wandte er sich plötzlich um und erhaschte meinen Blick, der auf seine Physiognomie geheftet gewesen.

»Sie prüfen mein Gesicht, Miß Eyre,« sagte er, »finden Sie mich schön?«

Wenn ich überlegt hätte, so würde ich auf diese Frage mit irgend einer konventionellen Höflichkeit geantwortet haben; aber ehe ich selbst es recht wußte, entschlüpfte die Antwort meinen Lippen: »Nein, Sir!«

»Ah! Auf mein Ehrenwort, Sie haben etwas ganz eigentümliches,« sagte er, »Sie sehen aus wie eine kleine Nonne; einfach, ruhig, ernst und selbstbewußt, wie Sie so mit gefalteten Händen da sitzen und die Blicke gewöhnlich auf den Teppich heften – ausgenommen, nebenbei gesagt, wenn sie durchdringend auf meinem Gesicht ruhen wie eben jetzt zum Beispiel – und wenn man dann eine Frage an [201] Sie richtet oder eine Bemerkung macht, auf welche Sie zu antworten gezwungen sind, so kommen Sie mit einer Entgegnung, die, wenn auch nicht gerade grob, so doch wenigstens brüsk ist. Was bezwecken Sie eigentlich damit?«

»Sir, ich war wohl zu deutlich. Ich bitte um Entschuldigung. Ich hätte antworten müssen, daß es nicht so leicht ist, eine Stegreif-Antwort auf eine Frage über äußere Erscheinung zu geben; daß der Geschmack verschieden ist; daß Schönheit wenig bedeutet, oder irgend etwas ähnliches.«

»Nein, Sie hätten durchaus nichts ähnliches antworten müssen. Schönheit wenig bedeuten! In der That! Und so, unter dem Vorwande, die vorhergehende Beleidigung wieder gut zu machen, mich zu streicheln und zu beruhigen, stoßen Sie mir ein feines, kleines Messer in den Nacken! Fahren Sie fort. Welche Fehler finden Sie sonst noch an mir? Bitte, sprechen Sie. Ich vermute doch, daß all meine Gesichtszüge und meine Gliedmaßen gerade so sind wie die anderer Leute?«

»Mr. Rochester, erlauben Sie mir, meine erste Antwort zurückzunehmen; ich hatte nicht die Absicht, eine spitze Bemerkung zu machen, es war wirklich nur eine Dummheit.«

»Da haben Sie recht. Das glaube ich auch. Und Sie sollen dafür büßen. Kritisieren Sie mich. Gefällt meine Stirn Ihnen nicht?«

Er strich die schwarzen Haarwellen, welche horizontal über seine Stirn fielen, zur Seite und zeigte dabei eine ziemlich solide Masse intellektueller Organe, wo indessen das sanfte Zeichen des Wohlwollens und der Güte sich hätte erheben sollen, war ein plötzlicher Mangel sichtbar.

»Nun Fräulein, bin ich ein Narr?«

»Weit entfernt, Sir. Vielleicht halten Sie mich für ungezogen, wenn ich Sie als Erwiderung frage, ob Sie ein Philanthrop sind?«

»Also wieder! Noch ein Stich mit dem feinen, kleinen [202] Federmesser, während Sie vorgaben, meinen Kopf zu streicheln. Und das nur, weil ich gesagt habe, daß ich die Gesellschaft kleiner Kinder und alter Frauen – leise sei es gesagt – nicht liebe! Nein, meine junge Dame, ich bin kein allgemeiner Philanthrop, aber ich habe ein Gewissen;« und dabei zeigte er auf die Organe, welche diese Eigenschaft oder Fähigkeit verraten sollen – und die, zum Glück für ihn, ziemlich sichtbar waren und dem oberen Teil seines Kopfes eine bemerkenswerte Breite verliehen, »und außerdem wohnte meinem Herzen einst eine rohe Art von Zärtlichkeit inne. Als ich so alt war wie Sie, war ich ein ganz gefühlvoller Bursche; ich hatte Mitleid mit den Unterdrückten, den Vernachlässigten, den Unglücklichen; aber seitdem hat das Schicksal mich hin- und hergeworfen; es hat mich mit seinen Fäusten förmlich geknetet, und jetzt schmeichle ich mir, so hart und so zähe zu sein wie ein Gummiball. In der Mitte des Klumpens ist nur noch ein kleiner, empfindlicher Punkt, und an einer oder zwei unmerkbaren Stellen vermag noch etwas einzudringen. Ja! Und giebt es da noch irgend eine Hoffnung für mich?«

»Hoffnung auf was, Sir?«

»Auf meine schließliche Wiederumgestaltung vom Gummi zu Fleisch und Blut?«

»Ganz entschieden hat er zu viel Wein getrunken,« dachte ich bei mir und ich wußte nicht, welche Antwort ich auf seine sonderbare Frage geben sollte. Wie konnte ich denn wissen, ob er einer Wiedertransformation noch fähig sei?

»Sie sehen ganz verblüfft aus, Miß Eyre; und obgleich Sie ebensowenig hübsch sind wie ich schön bin, so kleidet diese verblüffte Miene Sie ausgezeichnet; außerdem ist sie bequem, denn sie lenkt Ihre prüfenden Blicke von meiner Physiognomie ab und beschäftigt sie mit den gewebten Blumen auf dem Kaminteppich; also seien Sie nur weiter verblüfft. [203] Junge Dame, heute Abend bin ich in der Stimmung, lebhaft und mitteilsam zu sein.«

Mit dieser Ankündigung erhob er sich von seinem Stuhl, ging an das Feuer und lehnte den Arm auf den Kaminsims. In dieser Stellung traten seine Figur und sein Gesicht besonders deutlich hervor; ebenso die ungewöhnliche Breite seiner Schultern, welche zu seiner Höhe in gar keinem Verhältnis stand. Ich bin fest überzeugt, daß die meisten Menschen ihn für einen häßlichen Mann gehalten haben würden; und doch lag in seiner Haltung so viel unbewußter Stolz, in seinen Bewegungen so viel Leichtigkeit; in seiner Miene so unendliche Gleichgiltigkeit gegen seine eigene äußere Erscheinung; ein so hochmütiges, stolzes Sichverlassen auf die Macht anderer Eigenschaften innerer und äußerer Art, die für den Mangel persönlicher Reize entschädigen konnten, daß man unwillkürlich diese Gleichgiltigkeit teilen mußte, wenn man ihn ansah, und sogar in einem gewissen, nur halbbewußten Sinne an sein Selbstvertrauen zu glauben begann.

»Ich bin heute Abend in der Stimmung, lebhaft und mitteilsam zu sein,« wiederholte er, »und das ist der Grund, weshalb ich Sie hierher bitten ließ; das Kaminfeuer und der Kronleuchter genügten mir nicht als Gesellschaft, und ebensowenig wäre Pilot es gewesen, denn keines von diesen kann reden. Adele ist um einen Grad besser, doch noch tief unter der Linie; Mrs. Fairfax dito, aber Sie können mir genügen, wenn Sie wollen, dessen bin ich gewiß. Sie verblüfften mich schon an dem ersten Abend, als ich Sie einlud, herunterzukommen. Seitdem habe ich Sie beinahe schon wieder vergessen. Andere Gedanken haben jene an Sie aus meinem Kopfe vertrieben; heute Abend aber bin ich entschlossen, mich wohl zu fühlen, alles zu verbannen, was quälend ist, das ins Gedächtnis zurückzurufen, was angenehm ist. Jetzt würde es mir Freude machen, Sie zum [204] plaudern zu bringen, Sie näher kennen zu lernen – deshalb sprechen Sie.«

Anstatt zu sprechen, lächelte ich. Aber es war gerade kein unterwürfiges oder gefälliges Lächeln.

»Sprechen Sie,« drängte er.

»Über was denn, Sir?«

»Über was Sie wollen. Das Gesprächsthema und die Art und Weise es zu behandeln überlasse ich Ihnen; wählen Sie selbst.«

Folglich setzte ich mich und sagte gar nichts: »Wenn er erwartet, daß ich sprechen soll, nur um zu sprechen und mich zu zeigen, so wird er finden, daß er an die unrechte Person gekommen ist,« dachte ich.

»Sie sind stumm, Miß Eyre.«

Ich war noch immer stumm. Er neigte den Kopf zu mir und schien mit einem einzigen hastigen Blicke in die tiefste Tiefe meiner Seele tauchen zu wollen.

»Eigensinnig?« fragte er, »und ärgerlich? Ah, ich habe es übrigens verdient. Ich stellte meine Frage in einer absurden, beinahe unverschämten Form. Miß Eyre, ich bitte Sie um Verzeihung. Ein- für allemal muß ich Ihnen nämlich sagen, daß ich Sie nicht gern wie eine Untergebene behandeln möchte. Das heißt – hier verbesserte er sich – ich nehme nur jene Überlegenheit für mich in Anspruch, welche die zwanzig Jahre Unterschied im Alter und die hundert Jahre in Erfahrung mir geben. Das ist nur gerecht, et j'y tiens, 4 wie Adele sagen würde; und kraft dieser Überlegenheit und nur dieser allein wünschte ich, daß Sie die Güte haben möchten, jetzt ein wenig mit mir zu plaudern und meine Gedanken zu zerstreuen, die durch das Verweilen bei einer einzigen Sache ganz gallig geworden sind: angefressen wie ein rostiger Nagel.«

Er hatte mich einer Erklärung gewürdigt, beinahe einer [205] Entschuldigung; ich war nicht unempfindlich für seine Herablassung, aber ich wollte es nicht merken lassen.

»Ich will Sie sehr gern unterhalten, Sir, sehr gern; aber ich kann kein Gesprächsthema wählen, weil ich nicht weiß, was Sie interessieren kann. Fragen Sie mich nur, und ich will mein Bestes thun, um Ihnen zu antworten.«

»Also in erster Reihe, stimmen Sie mit mir überein, daß ich das Recht habe, ein wenig herrisch und seltsam, zuweilen vielleicht auch ein wenig rechthaberisch zu sein, fußend auf den Gründen, die ich Ihnen angeführt habe; nämlich, daß ich alt genug bin, um Ihr Vater zu sein und daß ich mit vielen Menschen und vielen Nationen die verschiedenartigsten Erfahrungen gemacht und mehr als die Hälfte des Erdballs durchstreift habe, während Sie ruhig mit denselben Menschen in demselben Hause gelebt haben.«

»Thun Sie, was Ihnen gefällt, Sir.«

»Das ist keine Antwort, oder vielmehr eine sehr ärgerliche, weil es eine ausweichende ist, – bitte antworten Sie klar.«

»Ich glaube nicht, Sir, daß Sie ein Recht haben, mir zu befehlen, nur weil Sie älter sind als ich, oder weil Sie mehr von der Welt gesehen haben als ich; – Ihr Anspruch auf Überlegenheit entspringt dem Gebrauch, welchen Sie von Ihrer Zeit und Ihren Erfahrungen gemacht haben.«

»Bah! Das ist gut gesagt. Aber ich werde das nicht zugeben, weil ich sehe, daß es meiner Sache nicht nützen würde. Ich habe von beiden Vorteilen einen gleichgiltigen, um nicht zu sagen schlechten Gebrauch gemacht. Wenn wir die ›Überlegenheit‹ nun auch ganz aus dem Spiele lassen, so müssen Sie doch einwilligen, dann und wann meine Befehle entgegen zu nehmen, ohne sich durch den befehlenden Ton, in welchem ich sie gebe, verletzt zu fühlen; – wollen Sie das?«

Ich lächelte. Ich dachte bei mir: Mr. Rochester ist ein seltsamer Mann, – er scheint zu vergessen, daß er mir [206] dreißig Pfund Sterling jährlich zahlt, damit ich seine Befehle ausführe.

»Das Lächeln ist sehr schön,« sagte er, indem er augenblicklich den vorübergehenden Gesichtsausdruck bemerkte, »aber Sie müssen nun auch sprechen.«

»Ich dachte darüber nach, daß sehr wenig Herren sich darum kümmern würden, ob ihre bezahlten Untergebenen durch ihre Befehle verletzt und beleidigt wären oder nicht.«

»Bezahlte Untergebene! Was? Sie sind meine bezahlte Untergebene? Sind Sie das? Ach ja, ich hatte das Gehalt vergessen! Gut also! Wollen Sie mir auf diesen feilen Grund hin erlauben, ein wenig anmaßend zu sein?«

»Nein Sir; auf den Grund hin nicht; aber auf den Grund hin, daß Sie ihn vergessen konnten, und daß Sie sich darum kümmern, ob eine Untergebene in ihrer Abhängigkeit glücklich ist oder nicht, willige ich von Herzen gern ein.«

»Und wollen Sie auch einwilligen, mich von einer ganzen Menge konventioneller Formen und Phrasen zu dispensieren, ohne zu glauben, daß diese Unterlassung aus Nichtachtung entspringt?«

»Ich bin überzeugt, Sir, daß ich Formlosigkeit niemals mit Nichtachtung verwechseln würde; für das eine habe ich eine gewisse Schwäche, dem anderen würde sich kein Freigeborener fügen, nicht einmal um eines Lohnes willen.«

»Unsinn! Die meisten freigeborenen Geschöpfe würden alles ertragen um eines Lohnes willen; deshalb urteilen Sie nur für sich selbst und sprechen Sie nicht über Allgemeinheiten, über die Sie gänzlich in Unwissenheit sind. Indessen schüttele ich Ihnen im Geiste die Hand für Ihre Antwort, obgleich diese durchaus nicht treffend war, und ebensosehr für die Art, in welcher Sie es sagten, wie für den Inhalt der Rede; die Art und Weise war frank und frei und aufrichtig; man trifft sie nicht allzu oft an; nein, [207] im Gegenteil, Affektation oder Kälte, oder dummes, grobes, gemeines Mißverstehen der Absicht sind der gewöhnliche Lohn für Aufrichtigkeit. Unter dreitausend eben der Schule entwachsenen Gouvernanten würden nicht drei mir geantwortet haben, wie Sie es soeben gethan haben. Aber ich habe nicht die Absicht, Ihnen zu schmeicheln; wenn Sie in einer anderen Form gegossen sind als die Mehrzahl, so ist das nicht Ihr eigenes Verdienst, die Natur hat es gethan. Und dann bin ich auch wahrscheinlich zu voreilig in meinen Schlüssen, denn wie kann ich eigentlich wissen, ob Sie besser sind als die übrigen. Sie können ja unzählige unerträgliche Mängel und Fehler haben, welche Ihren guten Seiten das Gegengewicht halten.«

»Das können Sie ebenfalls,« dachte ich bei mir. Als dieser Gedanke mein Hirn kreuzte, begegnete mein Blick dem seinen; er schien in demselben zu lesen und er antwortete mir, als hätte ich meinem Denken Worte verliehen:

»Ja, ja! Sie haben recht,« sagte er, »ich selbst habe eine Menge Fehler; ich weiß das sehr wohl und wünsche durchaus nicht, sie zu beschönigen, dessen versichere ich Sie. Gott weiß, daß ich keine Ursache habe, andern gegenüber zu strenge zu sein. Mein früheres Dasein, eine lange Folge von Thaten, eine Färbung meines Lebens sind in meiner eigenen Brust verzeichnet, welche mein Naserümpfen und mein Urteil leicht von meinem Nächsten auf mich selbst lenken könnten. Im Alter von einundzwanzig Jahren warf man mich – denn wie andere Sünder lege auch ich gern die Hälfte der Schuld auf ein trauriges Schicksal und auf widrige Umstände – auf den falschen Pfad und seitdem ist es mir noch nicht geglückt, den rechten Weg wiederzufinden; aber ich hätte ein anderer Mensch sein können; ich hätte ebenso gut sein können wie Sie – klüger – fast ebenso rein. Ich beneide Sie um Ihren Seelenfrieden, um Ihr reines Gewissen, Ihre unbefleckte Erinnerung! [208] Mein kleines Mädchen, eine Erinnerung ohne einen dunklen Fleck, ohne Vorwurf muß ein großer Schatz sein, – eine unerschöpfliche Quelle reinster Erfrischung – ist es nicht so?«

»Wie waren denn Ihre Erinnerungen, als Sie achtzehn Jahre zählten?«

»O, damals war alles noch gut, klar, durchsichtig, gesund; damals hatte noch kein Schlagwasser sie zu einem faulen Tümpel gemacht. Mit achtzehn Jahren war ich Ihnen gleich – ganz gleich. Die Natur hatte mich im großen Ganzen zu einem guten Menschen bestimmt, Miß Eyre, zu einem von der besseren Sorte – und wie Sie sehen, bin ich es doch nicht geworden. Sie können mir nun erwidern, daß Sie es nicht sehen; wenigstens schmeichle ich mir, daß ich das in Ihrem Auge lese – nebenbei gesagt, hüten Sie sich davor, irgend etwas durch dies Organ auszudrücken, denn ich weiß seine Sprache wohl zu deuten. Aber nehmen Sie mein Wort darauf – ich bin kein Schurke, das dürfen Sie nicht voraussetzen – so viel böse Wichtigkeit dürfen Sie mir gar nicht zutrauen; nein, dank den Umständen mehr als meinem eigenen natürlichen Hange, bin ich ein ganz gewöhnlicher Sünder geworden, der in all den gemeinen armseligen Zerstreuungen abgenützt worden ist, mit denen die Reichen und Liederlichen das Leben auszuschmücken pflegen. Wundern Sie sich darüber, daß ich Ihnen dies Geständnis mache? Wissen Sie denn, daß Sie in Zukunft noch oft finden werden, daß man Sie zur unfreiwilligen Vertrauten der Geheimnisse Ihrer Freunde macht. Instinktiv werden die Menschen stets, wie ich es gethan habe, herausfinden, daß es nicht Ihre schwache Seite ist, von sich selbst zu reden, sondern aufmerksam zuzuhören, wenn andere von sich sprechen; sie werden auch herausfühlen, daß Sie nicht mit spöttischer Verachtung auf die Ergüsse ihrer Indiskretion horchen, sondern mit wirklicher Sympathie, welche nicht weniger tröstlich und ermutigend, [209] weil sie in ihren Kundgebungen weder laut noch aufdringlich ist.«

»Woher wissen Sie das? – Wie können Sie alles dies erraten, Sir?«

»Ich weiß es sehr wohl, dashalb spreche ich so frei von der Leber fort, als ob ich meine Gedanken in ein Tagebuch schriebe. Sie möchten mir gern sagen, daß ich stärker als die Verhältnisse hätte sein müssen, – ja, das hätte ich sein müssen – das hätte ich sein müssen; aber Sie sehen – ich war es nicht. Als das Schicksal mir ein Unrecht zufügte, besaß ich nicht genug Weisheit, um kalt und ruhig zu bleiben; ich geriet in Verzweiflung – dann entartete ich. Und wenn jetzt der lasterhafteste Dummkopf meinen Ekel durch seine gemeine Liederlichkeit erweckt, so kann ich mir nicht mehr schmeicheln, daß ich besser bin als er; ich bin gezwungen zu erklären, daß er und ich auf gleichem Standpunkt stehen. Ach, wie ich wünsche, daß ich standhaft geblieben! – Gott weiß, wie innig ich es wünsche! Wenn die Versuchung an Sie herantritt, Miß Eyre, so fürchten Sie sich vor Gewissensbissen! Gewissensqualen sind das Gift des Lebens!«

»Aber Sir, man sagt, daß die Reue sie heilt!«

»Nein, Reue heilt sie nicht! Besserung mag Heilung für sie sein; und ich könnte mich bessern – ich besitze noch Kraft genug dazu – wenn –, aber was nützt es denn, auch nur daran zu denken, gehindert, belastet, verflucht wie ich bin? Und außerdem, da dasGlücklichsein mir unwiderruflich versagt ist, habe ich doch das Recht, dem Leben so viel Freuden abzugewinnen, wie möglich, – und diese will ich haben, koste es, was es wolle!«

»Aber dann werden Sie noch mehr ausarten, Sir.«

»Das ist möglich! Aber weshalb sollte ich, wenn ich süße, neue Freuden haben kann? Und ich kann deren haben, so süß, so frisch, so unberührt wie der Honig, welchen die Biene im Walde sammelt.«

[210] »Aber diese Freuden werden bitter schmecken, Sir!«

»Wie können Sie das wissen? – Sie haben es ja niemals versucht. Wie unendlich ernst – wie feierlich Sie aussehen! Und Sie verstehen so wenig von der Sache wie diese Camée hier,« – er nahm eine solche vom Kaminsims.

»Sie haben kein Recht, mir zu predigen; Sie sind eine Neophytin, welche noch nicht durch das Thor des Lebens eingegangen und mit seinen Mysterien gänzlich unbekannt ist.«

»Ich erinnere Sie nur an Ihre eigenen Worte, Sir. Sie sagten, daß Irren nur Gewissensbisse bringe und Sie erklärten Gewissensbisse für das Gift des Lebens.«

»Und wer spricht denn jetzt noch von Verirrungen? Ich glaube kaum, daß der Gedanke, welcher mein Hirn durchkreuzte, eine Verirrung war. Ich glaube, es war eher eine Eingebung als eine Versuchung, – es war sehr beruhigend, sehr belebend – das weiß ich. Und hier kommt dieser Gedanke schon wieder! Es ist kein Teufel, ich versichere Sie; oder wenn es einer ist, so hat er doch die Gewandung eines Engels des Lichts angelegt. Einen so schönen Gast muß ich doch einlassen, wenn er so bittend Einlaß in mein Herz begehrt!«

»Mißtrauen Sie ihm, Sir; es ist kein wahrer, kein lichter Engel!«

»Noch einmal, wie können Sie das wissen? Kraft welchen Instinkts glauben Sie zwischen einem gefallenen Engel aus dem Abgrund der Hölle und einem Boten von dem Thron des Ewigen unterscheiden zu können – zwischen einem Führer und einem Verführer?«

»Ich urteilte nach Ihrem Gesichte, Sir, und dieses sah kummervoll aus als Sie sagten, daß jener Gedanke Sie abermals heimsuche. Ich bin überzeugt, daß noch mehr Elend für Sie daraus entspringt, wenn Sie ihm Gehör schenken.«

[211] »Durchaus nicht. Es ist die lieblichste Botschaft der Welt; und überdies sind Sie ja nicht die Hüterin meines Gewissens, deshalb beruhigen Sie sich. Hier, komm herein, lieblicher Wanderer!«

Die letzten Worte sprach er wie zu einer Erscheinung, die keinem anderen Auge sichtbar als dem seinen. Dann verschränkte er die Arme, welche er halb ausgebreitet hatte, über der Brust und schien das unsichtbare Wesen in eine innige Umarmung zu schließen.

»Jetzt,« fuhr er zu mir gewendet fort, »habe ich den Pilger eingelassen – eine verkleidete Gottheit, wie ich glaube. Sie hat mir schon Liebes gethan; mein Herz war eine Art von Beinhaus; jetzt wird es ein Altar sein.«

»Wenn ich die Wahrheit gestehen soll, Sir, so verstehe ich Sie durchaus gar nicht. Ich kann das Gespräch nicht weiter führen, weil es über meine Begriffe hinausgeht. Ich weiß nur eins: Sie sagten, daß Sie nicht so gut seien, wie Sie selbst es zu sein wünschten; und daß Sie Ihre eigene Unvollkommenheit tief beklagten, – das kann ich wohl verstehen; Sie deuteten an, daß es ein ewig wirkendes Gift sei, eine Vergangenheit zu haben, welche nicht ganz rein. Mir ist's, als würden Sie es mit der Zeit möglich finden,das zu werden, was Sie selbst wünschen, wenn Sie es ernstlich versuchten; Sie würden finden, daß wenn Sie von dem heutigen Tage an den festen Entschluß faßten, Ihre Thaten und Gedanken zu bessern, Sie in wenigen Jahren einen neuen und fleckenlosen Vorrat von Erinnerungen haben würden, die Sie stets mit Freuden heraufbeschwören könnten.«

»Sehr richtig gedacht, und richtig gesagt, Miß Eyre; und in diesem Augenblick pflastere ich den Weg zur Hölle mit größter Energie.«

»Sir?«

»Ich lege gute Vorsätze nieder, welche ich ebenso hart wie Kieselsteine glaube. Ganz gewiß, meine Gefährten, [212] meine Freunde, meine Beschäftigungen sollen andere werden, als sie es bisher waren.«

»Und bessere?«

»Und bessere – um so viel, wie reines Gold besser, als schlechte Schlacken ist. Sie scheinen an mir zu zweifeln; ich selbst zweifle nicht. Ich kenne mein Ziel, ich kenne meine Motive; und jetzt, in diesem Augenblick, erlasse ich ein Gesetz, unrückbar, unantastbar wie das der Meder und Perser, daß beide die einzig richtigen sind.«

»Das können sie nicht sein, Sir, wenn es eines neuen Gesetzes bedarf, um sie zu legalisieren.«

»Sie sind es doch, Miß Eyre, obgleich sie durchaus ein neues Gesetz verlangen. Unerhörtes Zusammenwirken von Umständen und Verhältnissen verlangt auch unerhörte Regeln und Gesetze.«

»Das scheint mir eine gefährliche Maxime, Sir; weil man auf den ersten Blick sehen kann, daß sie leicht mißbraucht werden kann.«

»Wortreiche Weise! so ist es: aber ich schwöre bei den Penaten meines Hauses, daß ich sie nicht mißbrauchen werde.«

»Sie sind auch nur ein Mensch und fehlbar.«

»Das weiß ich – aber Sie sind es ebenfalls. Was dann?«

»Die, die da menschlich sind und fehlbar, sollten sich nicht eine Macht aneignen, welche nur der Ewige mit Sicherheit handhaben kann.«

»Welche Macht?«

»Jene, von seltsamen und nicht sanktionierten Handlungen sagen zu dürfen: Sie sollen gerecht sein.«

»›Sie sollen gerecht sein.‹ Ja, ja, das sind die rechten Worte: Sie haben sie ausgesprochen.«

»Mögen sie denn gerecht sein,« sagte ich, indem ich mich erhob; ich hielt es für nutzlos, ein Gespräch weiter [213] zu führen, bei welchem ich gänzlich im Dunkeln tappte; außerdem fühlte ich, daß der Charakter meines Gegenüber sich gänzlich meiner Beurteilung entzog, wenigstens meinem augenblicklichen Urteilsvermögen; und die Unsicherheit bemächtigte sich meiner, welche stets die Überzeugung der eigenen Unwissenheit begleitet.

»Wohin gehen Sie?«

»Ich will Adele ins Bett bringen; es ist schon über ihre gewöhnliche Schlafenszeit hinaus.«

»Sie fürchten sich vor mir, weil ich dunkel spreche wie eine Sphynx.«

»Ihre Sprache ist allerdings rätselhaft, Sir; aber obgleich ich verblüfft bin, fürchte ich mich doch nicht.«

»Sie fürchten sich doch; Ihre Eigenliebe fürchtet sich, einen Irrtum zu begehen.«

»Ja; in dieser Beziehung fürchte ich mich allerdings – ich wünsche nicht, Unsinn zu schwatzen.«

»Und wenn Sie dies wirklich thäten, so würde es in einer so ernsten, ruhigen Weise geschehen, daß ich es für sehr sinnreich halten würde. Lachen Sie niemals, Miß Eyre? Bemühen Sie sich nicht, mir zu antworten – ich sehe, Sie lachen nur selten; aber Sie können sehr fröhlich lachen. Glauben Sie mir, von Natur sind Sie ebensowenig unfreundlich, wie ich lasterhaft bin. Der Zwang von Lowood lastet noch immer ein wenig auf Ihnen; er beherrscht Ihre Züge, dämpft Ihre Stimme und lähmt Ihre Glieder; und Sie fürchten in Gegenwart eines Mannes und Bruders – oder Vaters oder Herrn, sei es wer es sei – zu fröhlich zu lachen, zu frei zu sprechen oder sich zu schnell zu bewegen; aber ich hoffe, daß Sie es mit der Zeit lernen werden, mir gegenüber natürlich zu sein, denn ich finde es ganz unmöglich, mit Ihnen förmlich zu verkehren, und dann werden Ihre Züge und Ihre Bewegungen mehr Freiheit und Lebhaftigkeit und Abwechselung annehmen, als sie sich jetzt erlauben. Zuweilen hasche ich durch [214] die engen Stäbe eines Käfigs den Anblick eines seltsamen Vogels; ein lebhafter, ruheloser entschlossener Gefangener sitzt drinnen; wäre er aber frei, so würde er hoch in die Lüfte steigen. – Wollen Sie noch immer gehen?«

»Es hat bereits neun Uhr geschlagen.«

»Das schadet nichts. Warten Sie noch eine Minute. Adele ist noch nicht bereit, sich schlafen zu legen. Meine Stellung mit dem Rücken gegen das Feuer und dem Gesicht gegen das Zimmer begünstigt meinen Wunsch, Beobachtungen anzustellen, Miß Eyre. Während ich mit Ihnen sprach, beoachtete ich auch gelegentlich Adele; – (ich habe meine eigenen Gründe, sie für eine eigentümliche Studie zu halten, – Gründe, die ich Ihnen vielleicht, nein, gewiß eines Tages mitteilen werde;) vor ungefähr zehn Minuten zog sie einen kleinen rosa seidenen Rock aus ihrem Koffer; Entzücken malte sich auf ihren Zügen, als sie ihn entfaltete; die Koketterie liegt in ihrem Blute, vermischt sich mit ihrer Gehirnmasse und würzt das Mark ihrer Knochen. ›Il faut que je l'essaie!‹ rief sie,›et à l'instant même!‹ 5 und mit diesen Worten stürzte sie aus dem Zimmer hinaus. Sie ist jetzt bei Sophie und unterwirft sich einem Ankleideprozeß. In wenigen Minuten wird sie wieder eintreten, und ich weiß, was ich dann erblicken werde, – ein Miniaturbild von Celine Varens, wie sie beim Aufgehen des Vorhangs auf der Bühne von – – – doch lassen wir das lieber. Indessen, meine zärtlichsten Gefühle werden einen Schlag bekommen, ich habe eine Ahnung. Bleiben Sie, um zu sehen, ob diese sich erfüllen wird.«

Nicht lange dauerte es und wir hörten Adelens kleinen Fuß durch die Halle trippeln. Sie trat ein, umgewandelt, wie ihr Vormund es vorher gesagt hatte. Ein Kleid von rosenfarbigem Atlas, sehr kurz und so faltenreich, wie der schwere Stoff es erlaubte, ersetzte das braune Kleidchen, [215] welches sie vorher getragen; ein Kranz von Rosenknospen umschloß ihre Stirn; seidene Strümpfe und kleine, weiße Atlasschuhe bekleideten ihre Füße.

»Est ce que ma robe va bien?« rief sie vorwärts hüpfend, »et mes souliers? et mes bas? Tenez, je crois que je vais danser!« 6

Und indem sie ihr Kleid emporhob, chassierte sie durch das Zimmer. Als sie Mr. Rochester erreicht hatte, wirbelte sie vor ihm leicht auf den Zehen herum, ließ sich dann vor seinen Füßen auf ein Knie nieder und rief aus:

»Monsieur, je vous remercie mille fois de votre bonté,« dann erhob sie sich und fügte hinzu: »C'est comme cela que maman faisait, n'est ce pas, Monsieur?« 7

»Gerade so!« lautete die Antwort, und comme cela lockte sie mir auch das englische Gold aus meinen brittischen Hosentaschen. – Ich war auch einmal ›grün‹, Miß Eyre – ach ja, ›grasgrün‹, und kein frühlingsfrischer Hauch schmückt Sie jetzt, der nicht auch einst auf mir geruht hätte! Mein Frühling ist dahin indessen, aber er hat mir jene kleine französische Blütenknospe hinterlassen, welche ich in manchen Stimmungen oft gern wieder los sein möchte. Ich schätze und verehre die Wurzel nicht mehr, welcher sie entsprungen; ich habe seitdem erfahren, daß jene zu einer Abart gehörte, welche nur mit Goldstaub gedüngt werden konnte, – und ich liebe die Blüte nur noch zur Hälfte, besonders wenn sie so künstlich aussieht, wie in diesem Augenblick. Ich erhalte sie und pflege sie eigentlich nur nach jener Lehre der römisch-katholischen Kirche, die da sagt, daß wir durch eine gute That unzählige Sünden zu sühnen vermögen. »Alles dies werde ich Ihnen ein andermal erklären. Gute Nacht!«

Fußnoten

1 Meine Schachtel! Meine Schachtel!

2 Verhalt dich ruhig, mein Kind; verstehst du?

3 O Himmel, wie schön das ist!

4 ich bleibe dabei.

5 Ich muß es anprobieren, und das sogleich.

6 Sitzt mein Kleid gut? Und meine Schuhe? Und meine Strümpfe? Hört, ich glaube, ich werde tanzen.

7 Mein Herr, ich danke Ihnen tausendmal für Ihre Güte. – So machte Mama, nicht wahr, mein Herr?

[216] Fünfzehntes Kapitel

Und bei einer späteren Gelegenheit erklärte Mr. Rochester mir alles.

Es war an einem Nachmittage, als er mir und Adele zufällig im Garten begegnete. Während sie mit Pilot und ihrem Federball spielte, forderte er mich auf, mit ihm in einer langen Buchenallee auf und ab zu gehen, von wo aus wir sie im Auge behielten.

Er erzählte mir also, daß sie die Tochter einer französischen Tänzerin, Cecile Varens, sei, für welche er einst, wie er sich ausdrückte, eine »grande passion« 1 gehegt hatte. Und Cecile hatte vorgegeben, diese»passion« mit einer ebenso glühenden Liebe zu erwidern. Er hielt sich für ihren Abgott trotz seiner Häßlichkeit; er sagte, er habe geglaubt, daß sie seine»taille d'athlète« 2 der Eleganz des Apoll von Belvedere vorziehe.

»Und, Miß Eyre, so sehr schmeichelte mir der Vorzug, welchen jene gallische Nymphe ihrem brittischen Gnomen gab, daß ich sie in einem Hotel installierte, ihr einen ganzen Haushalt von Dienern gab, eine Equipage, indische Shawls, Diamanten, Spitzen u.s.w. Kurzum, ich begann den Prozeß, mich in der hergebrachten Weise zu ruinieren, wie jeder erste beste Dummkopf. Wie es scheint, besaß ich nicht ein mal so viel Originalität, um einen neuen Weg zur Schande und zum Ruin zu finden, sondern ging mit stüpider Genauigkeit auf der alten Spur entlang, um nicht einen Zollbreit von der ausgetretenen Straße abzuweichen. Wie ich es verdiente, traf auch mich das Los aller anderen Tölpel. Eines Abends, als Celine mich nicht erwartete, kam ich zufällig, um ihr einen Besuch zu machen und fand sie nicht zu Hause; es war jedoch ein heißer [217] Abend, und da ich des Umherschlenderns in Paris müde war, setzte ich mich in ihrem Boudoir, glücklich, die Luft einatmen zu können, welche sie soeben noch durch ihre Gegenwart geweiht hatte. Nein, – ich übertreibe; ich habe niemals geglaubt, daß sie irgend eine heiligende Tugend besitze; es war vielmehr ein sehr süßliches Parfüm, welches sie zurückgelassen hatte, ein Duft von Amber und Moschus, der durchaus nicht an Heiligkeit erinnerte. Ich war gerade im Begriff an dem Geruch der Treibhausblumen und der versprengten Essenzen zu ersticken, als es mir noch zu rechter Zeit einfiel, das Fenster zu öffnen und auf den Balkon hinauszugehen. Der Mond schien hell, das Gaslicht ebenfalls, und die Luft war still und klar. Auf dem Balkon standen ein oder zwei Stühle; ich setzte mich, zog eine Cigarre heraus – ich werde auch jetzt eine nehmen, wenn Sie gestatten.«

Hier folgte eine Pause, welche er damit ausfüllte, daß er eine Cigarre herausnahm und anzündete. Nachdem er sie an seine Lippen geführt und den Havanna-Weihrauch in die kalte, frostige, sonnenlose Luft hinausgehaucht hatte, fuhr er fort:

»In jenen Tagen liebte ich auch sogar die Bonbons, Miß Eyre, und ich knusperte – verzeihen Sie den Barbarismus – ich knusperte abwechselnd Chokoladeconfitüren und rauchte meine Havanna, betrachtete die Equipagen, welche durch die vornehmen Straßen dem benachbarten Opernhause zurollten, als ich in einem eleganten, geschlossenen, von einem herrlichen Paar englischer Pferde gezogenen Wagen, den ich deutlich in dem strahlenden Gaslicht sah, die ›voiture‹ erkannte, welche ich Celine geschenkt hatte. Sie kehrte zurück; selbstverständlich pochte mein Herz ungestüm vor Ungeduld gegen das eiserne Gitter, auf welches ich mich lehnte. Wie ich erwartet hatte, hielt der Wagen an der Thür des Hotels; meine Flamme – das ist das richtige Wort für eine Opern-innamorata – stieg aus. Obgleich [218] sie dicht in einen Mantel gehüllt war – eine unnötige Last an einem so warmen Juniabende – erkannte ich sie sofort an ihrem kleinen Fuße, welcher unter dem Rande ihres Kleides hervorsah, als sie von dem Wagentritt herunterhüpfte. Ich war gerade im Begriff, mich über den Balkon zu beugen und in einem Tone, welcher nur für das Ohr der Liebe vernehmbar sein sollte ›mon ange‹ 3 zu murmeln, als nach ihr noch eine Gestalt aus dem Wagen sprang. Auch sie war in einen Mantel gehüllt; aber es war ein bespornter Absatz, welcher auf dem Straßenpflaster klirrte, ein mit einem schwarzen Hute bedeckter Kopf, welcher unter der gewölbten porte-cochère 4 des Hotels verschwand.

Nicht wahr, Miß Eyre, Sie haben niemals empfunden, was Eifersucht ist? Natürlich nicht. Ich brauche gar nicht zu fragen. Sie haben ja niemals Liebe gekannt. Beide Gefühle sollen Sie erst durch die Erfahrung kennen lernen; Ihre Seele schläft noch; der Schlag soll noch erfolgen, der sie wecken wird. Sie glauben, daß das ganze Leben in dem ruhigen Bache dahinfließt, in welchem Ihre Jugend bis jetzt dahinschlich. Mit geschlossenen Augen und tauben Ohren lassen Sie sich treiben, Sie sehen die Felsen nicht, welche in kurzer Entfernung unter der Oberfläche sich erheben; Sie hören nicht, wie die Fluten sich an den Wellenbrechern bäumen. Aber ich sage Ihnen – und merken Sie sich meine Worte – Sie werden eines Tages an dem felsigen Engpaß des Kanals ankommen, wo der ganze Lebensstrom sich in Wirbel und Tumult auflöst, in Lärm und Schaum und Toben; entweder werden Sie an den Felsen in Atome zerschellen – oder eine große Welle wird Sie emporheben und Sie in einen ruhigen Strom tragen – wie es mir geschehen ist.

[219] Ich liebe diesen Tag, ich liebe diesen bleiernen Himmel; ich liebe diese Ruhe, diese Stille, diese Erstarrung der Welt in diesem Frost. Ich liebe Thornfield; sein altehrwürdiges Aussehen; seine Abgeschiedenheit, seinen alten Krähenhorst und seine Dornbäume; seine graue Facade; die langen Reihen dunkler Fenster, welche jenen metallenen Himmel widerspiegeln! Und doch, wie lange Zeit habe ich den bloßenGedanken an diesen Ort verabscheut; wie lange habe ich ihn verabscheut, wie ein von der Pest befallenes Haus! Wie verabscheue ich noch heute –«

Er knirschte mit den Zähnen und schwieg; dann hielt er im Gehen inne und stampfte auf den hartgefrorenen Boden. Irgend ein verhaßter Gedanke schien ihn erfaßt zu haben und ihn so fest zu halten, daß er nicht imstande war, einen Schritt vorwärts zu thun.

Wir schritten die Allee hinauf, als er auf diese Weise im Gehen inne hielt; das Herrenhaus lag vor uns. Indem er die Augen zu jenen Zinnen erhob, warf er einen Blick auf dieselben, wie ich vorher und nachher niemals einen ähnlichen gesehen. Schmerz, Schande, Wut – Ungeduld, Ekel, Abscheu schienen in diesem Augenblick einen wogenden Kampf in den großen Augen zu halten, über denen sich die ebenholzschwarzen Brauen wölbten. Wild war der Streit um die Oberhand; dann aber erstand ein anderes Gefühl und triumphierte: etwas hartes und cynisches, eigenwilliges und entschlossenes; es dämpfte seine Leidenschaft und versteinerte sein Gesicht; er fuhr fort:

»Während des Augenblickes, wo ich schwieg, Miß Eyre, kämpfte ich eine Sache mit meinem Schicksal aus. Da stand es, an jenem Birkenstamme – eine Hexe, ähnlich einer von jenen, welche Macbeth auf der Haide von Forres erschienen. ›Liebst du Thornfield?‹ fragte sie und hob den Finger empor; und dann schrieb sie ein Memento in die Luft, welches in feurigen Hieroglyphen an der ganzen Front des Hauses entlang lief und zwar zwischen den Fenstern [220] des ersten und zweiten Stockwerks; ›Liebe es, wenn du kannst! Liebe es, wenn du den Mut dazu hast!‹«

»Ich will es lieben!« sagte ich. »Ich habe den Mut, es zu lieben, und,« fügte er düster hinzu, »ich werde mein Wort halten; ich werde jedes Hindernis zertrümmern, das sich dem Glück und dem Gutsein in den Weg stellt – ja, dem Gutsein; ich will ein besserer Mensch sein, als ich war, als ich bin – wie Hiobs Wallfisch den Speer, den Wurfspieß und die Harpune zerbrach; Hindernisse, welche andere Menschen für Stahl und Eisen halten, sollen für mich nichts anderes sein als Strohhalme, als schwaches, faules Holz.«

Hier kam Adele ihm mit ihrem Federball entgegengelaufen. »Fort mit dir!« rief er heftig, »halte dich fern, Kind, oder geh hinein zu Sophie!« Als er dann seinen Weg wieder schweigend fortsetzte, wagte ich es, ihm den Punkt seiner Erzählung wieder ins Gedächtnis zurückzurufen, wo er plötzlich abgeschweift war:

»Und verließen Sie den Balkon, Sir, als Mademoiselle Varens eintrat?« fragte ich.

Ich erwartete beinahe eine Zurechtweisung für diese schlecht angebrachte Frage; aber das Gegenteil geschah, er erwachte aus seiner düsteren Grübelei, wandte die Blicke zu mir und der trübe Schatten schien von seiner Stirn zu schwinden.

»Ah! ich hatte Celine vergessen! Also, um wieder auf die Sache zurückzukommen, als ich meine Zauberin so von einem Kavalier begleitet ins Zimmer treten sah, war mir's, als vernähme ich ein Zischen und die grünäugige Schlange der Eifersucht ringelte sich in unzähligen Windungen von dem mondbeschienenen Balkon empor, kroch in meine Weste und hatte in zwei Minuten den Weg bis in das Innerste meines Herzens gefunden! Seltsam!«

Wieder brach er ab.

»Seltsam, daß ich Sie zur Vertrauten all dieser Dinge [221] wählen mußte, junge Dame, und noch viel seltsamer, daß Sie mir so ruhig zuhören, als wäre es die natürlichste und gewöhnlichste Sache der Welt, daß ein Mann einem zarten, unerfahrenen Mädchen wie Sie es sind, die Geschichten seiner Geliebten, einer Tänzerin, erzählt! Aber diese letzte Sonderbarkeit er klärt die erste, wie ich schon einmal andeutete. Sie mit Ihrem Ernst, Ihrer Überlegung und Vorsicht sind geschaffen, um die Großsiegelbewahrerin von Geheimnissen zu sein. Und außerdem weiß ich, welcher Beschaffenheit das Gemüt ist, das ich gewissermaßen mit dem meinigen in Rapport gesetzt habe; ich weiß, daß es eines ist, welches für keine Ansteckung empfänglich ist; es ist ein seltsames Gemüt – es ist eineinziges Gemüt! Glücklicherweise habe ich nicht die Absicht, ihm Schaden zuzufügen; aber selbst wenn ich sie hegte, so würde es sich von mir nicht schaden lassen. Je mehr Sie und ich miteinander sprechen, desto besser; denn während ich Ihre Seele nicht trüben kann, besitzen Sie die Fähigkeit, die meine zu erfrischen!« Nach dieser Abschwenkung fuhr er wieder fort:

»Ich blieb auf dem Balkon. Ohne Zweifel werden sie in ihr Boudoir kommen,« dachte ich, »ich werde einen Hinterhalt vorbereiten.« Dann schob ich meine Hand leise durch das geöffnete Fenster, zog den Vorhang vor dasselbe und ließ nur eine kleine Spalte offen, durch welche ich meine Beobachtungen machen konnte; dann schloß ich das Fenster bis auf eine schmale Ritze, die grade weit genug war, um die geflüsterten Schwüre eines Liebhabers herausdringen zu lassen; dann stahl ich mich zurück auf meinen Stuhl, und kaum hatte ich denselben eingenommen, als das Paar eintrat. Schnell war mein Auge an der Öffnung. Celine's Kammerjungfer trat ein, zündete eine Lampe an, stellte dieselbe auf den Tisch und entfernte sich wieder. So konnte ich das Paar also deutlich sehen. Beide legten ihre Mäntel ab, und da stand sie, die Varens, strahlend in [222] Atlas und Juwelen – meine Geschenke natürlich – und da stand auch ihr Begleiter in der Uniform eines Offiziers.

Ich erkannte in ihm einen jungen Roué von einem Vicomte, – ein gehirnarmer, lasterhafter Jüngling, den ich zuweilen in der Gesellschaft getroffen hatte und den ich niemals geglaubt hatte hassen zu müssen, weil ich ihn so gründlich verachtete. Als ich ihn erkannte, war der Stachel der Schlange »Eifersucht« augenblicklich gebrochen, denn in demselben Augenblick sank meine Liebe für Celine unter den Gefrierpunkt. Es war nicht der Mühe wert, um ein Weib zu kämpfen, das mich um eines solchen Rivalen willen verraten konnte; sie verdiente nichts als Verachtung, aber immer noch weniger als ich verdiente, der sich von ihr hatte betrügen lassen.

»Sie begannen zu sprechen; ihre Unterhaltung beruhigte mich vollständig: frivol, eigennützig, herzlos und sinnlos, war sie nur darauf berechnet einen Lauscher zu ermüden, anstatt ihn zu empören. Meine Visitenkarte lag auf dem Tische; als dies bemerkt wurde, zogen sie meinen Namen in die Diskussion. Keiner von beiden besaß genug Witz oder Energie, um ihn gründlich zu bearbeiten; aber sie beleidigten mich so roh und gemein, wie es ihnen in ihrer kleinlichen Weise möglich war, besonders Celine, die beinahe geistreich wurde, als sie über meine äußeren Mängel und Fehler herfiel – Ungestaltheit, wie sie es nannte. Nun war es stets ihre Gewohnheit gewesen, in wortreiche Bewunderung über das auszubrechen, was sie meine ›beauté mâle‹ 5 nannte, eine Sache, in der sie sich diametral von Ihnen unterschied, die mir bei unserem zweiten Begegnen schon gradezu erklärten, daß Sie mich durchaus nicht für schön halten. Der Kontrast frappierte mich damals sehr und, –

Hier kam Adele wiederum gelaufen. –«

[223] »Monsieur, John ist eben da gewesen, um zu sagen, daß Ihr Agent angekommen ist und Sie zu sprechen wünscht.«

»Ah! in diesem Falle muß ich mich kurz fassen. Ich öffnete die Balkonthür und trat zu ihnen ins Zimmer; ich befreite Celine von meinem Schutze, zeigte ihr an, daß sie das Hotel verlassen müsse, bot ihr eine gefüllte Börse für die augenblicklichen, dringendsten Ausgaben, kümmerte mich nicht um Geschrei, hysterische Thränen, Bitten, Beteuerungen, Krämpfe und Zuckungen, und traf mit dem Vicomte eine Verabredung für den folgenden Morgen im Bois de Boulogne. Am nächsten Morgen hatte ich das Vergnügen, ihm gegenüber zu stehen, ließ eine Kugel in einem seiner beiden jämmerlichen, kranken Arme zurück, die so schwach waren, wie die Flügel eines jungen Huhns, das den Pipps hat, und glaubte dann, mit der ganzen Gesellschaft fertig zu sein. Unglücklicherweise hatte die Varens mir aber sechs Monate zuvor dieses Mädchen Adele geschenkt, von welcher sie beschwor, daß es mein Kind sei, – und vielleicht ist sie's auch, obgleich ich in ihrem Antlitz keinen Zug ihres grausam häßlichen Vaters entdecken kann; Pilot hat mehr Ähnlichkeit mit mir als sie. Einige Jahre nachdem ich mit der Mutter gebrochen hatte, verließ sie ihr Kind und lief nach Italien mit einem Musikanten oder einem Sänger. Ich erklärte, daß Adele durchaus keine natürlichen, selbstverständlichen Ansprüche habe, von mir erhalten zu werden, und ebensowenig erkenne ichjetzt solche Ansprüche an, denn ich bin nicht ihr Vater; als ich aber hörte, daß das arme Geschöpf ganz verlassen sei, nahm ich es aus dem Schmutz und dem Elend und dem Schlamme von Paris und verpflanzte es hierher, um in dem reinen und gesunden Boden eines englischen Landhauses aufzuwachsen. Dann fand Mrs. Fairfax Sie, die Sie die zarte Pflanze pflegen und erziehen wollen; aber jetzt, wo Sie wissen, daß sie der Sprößling einer französischen Sängerin ist, werden Sie vielleicht anders von Ihrer Stellung und Ihrem Schützling [224] denken; eines Tages werden Sie mir mit der Nachricht kommen, daß Sie eine andere Stelle gefunden haben – daß Sie mich bitten, mich nach einer anderen Gouvernante umzusehen u.s.w. u.s.w., nicht wahr?«

»Nein – Adele ist weder für die Sünden ihrer Mutter, noch für die Ihren verantwortlich; ich hege eine Neigung für sie, und jetzt, wo ich weiß, daß sie in gewissem Sinne elternlos ist – verlassen von ihrer Mutter und verleugnet von Ihnen, Sir – jetzt werde ich sie noch lieber haben als bisher. Wie wäre es denn möglich, daß ich den verzogenen Liebling einer reichen Familie, der seine Gouvernante wie ein notwendiges Übel hassen würde, einer armen, einsamen Waise vorziehen könnte, die an mir hängt wie an einer Freundin?«

»Ah! das ist also das Licht, in dem Sie die Sache ansehen! Nun, ich muß jetzt hineingehen, und Sie ebenfalls. Es wird dunkel!«

Aber ich blieb noch einige Minuten mit Pilot und Adele draußen, – lief mit ihr um die Wette und spielte noch eine Partie Federball. Als wir endlich ins Haus gegangen, nahm ich ihr Hut und Mantel ab und setzte sie auf meinen Schoß; dort behielt ich sie eine Stunde und erlaubte ihr, nach Herzenslust zu plaudern. Ich erteilte ihr auch keinen Verweis über einige kleine Freiheiten und Plattheiten, in die sie leicht zu verfallen pflegte, wenn sie sich beobachtet glaubte, und welche eine Oberflächlichkeit des Charakters verriet, die sie wahrscheinlich von ihrer Mutter geerbt hatte, da sie einem englischen Gemüt durchaus nicht verwandt war. Aber sie hatte doch auch ihre guten Seiten, und ich war geneigt, alles was gut war, bei ihr aufs höchste wertzuschätzen. Ich suchte in ihren Zügen und ihrem Gesichtsausdruck eine Ähnlichkeit mit Mr. Rochester, aber ich fand keine; kein Zug, keine Miene verrieten eine Verwandtschaft. Es war schade. Wenn man ihm nur hätte [225] beweisen können, daß sie Ähnlichkeit mit ihm habe, so würde er mehr Liebe für sie gehegt haben.

Erst nachdem ich mich abends in mein Zimmer zurückgezogen hatte, um mich schlafen zu legen, begann ich ernstlich über die Geschichte nachzudenken, welche Mr. Rochester mir erzählt hatte. Wie er selbst sagte, war der Kern der Erzählung wahrscheinlich gar nichts außergewöhnliches; in der Gesellschaft war die Leidenschaft eines reichen Engländers für eine französische Sängerin oder Tänzerin und ihr Verrat an ihm gewiß eine Sache, die ohne Zweifel alle Tage vorkam; aber in dem Paroxismus von Rührung, der ihn so plötzlich erfaßte, als er im Begriff war, mir die gegenwärtige Zufriedenheit seiner Seele und seine neu erstandene Freude an dem alten Herrenhause und seiner Umgebung zu schildern, lag entschieden etwas seltsames. Über diesen Umstand dachte ich verwundert nach; aber nach und nach entließ ich ihn aus meinen Gedanken, da ich ihn für den Augenblick unerklärlich fand, und wandte mich der Betrachtung über die Art und Weise zu, welche der Herr des Hauses mir gegenüber an den Tag legte. Das Vertrauen, welches er mir zu schenken für gut befunden hatte, schien ein Tribut, den er meiner Diskretion zollte: ich sah es wenigstens dafür an und schätzte es als solchen. Während der letzten Wochen war sein Betragen gegen mich gleichmäßiger gewesen als im Anfang. Ich schien ihm niemals im Wege zu sein; er bekam nicht mehr jene Anfälle erstarrenden Hochmuts; wenn er mir unerwartet begegnete, schien diese Begegnung ihm willkommen zu sein; er hatte stets ein Wort und zuweilen auch ein Lächeln für mich; wenn er mich in aller Form auffordern ließ, ihm Gesellschaft zu leisten, so wurde ich mit einem so außerordentlich freundlichem Empfange beehrt, daß ich deutlich merkte, wie ich wirklich die Macht besaß, ihn zu unterhalten, und daß er diese abendlichen Zusammenkünfte ebenso sehr zu seinem eigenen Vergnügen wie zu meinem Wohle suchte.

[226] Ich sprach in der That verhältnismäßig wenig; aber es war mir ein Genuß, ihn sprechen zu hören. Es lag in seiner Natur, mitteilsam zu sein. Er liebte es, einem Gemüte, das mit der Welt unbekannt war, Bilder und Scenen aus derselben vorzuführen, (ich meine nicht sittenverderbte Bilder und wüste Scenen, sondern solche, welche durch ihre Neuheit fesseln konnten und ihr Intresse von dem großen Schauplatz herleiteten, auf welchem sie spielten) und es war für mich eine reine Wonne, die neuen Gedanken, welche er bot, in mich aufzunehmen; mir die Bilder zu vergegenwärtigen, welche er malte und ihm durch die neuen Regionen zu folgen, welche er eröffnete. Niemals erschreckte oder bekümmerte er mich durch eine verderbliche, schädliche Anspielung.

Die Leichtigkeit und Freiheit seiner Manieren befreite mich von quälendem Zwange; seine freundliche Offenherzigkeit, die ebenso korrekt wie wohlthuend war, zog mich zu ihm hin. Zuweilen war mir, als sei er mir nahe verwandt, ich vergaß ganz, daß er eigentlich mein Brotherr; wohl war er hier und da noch gebieterisch und herrisch; aber es kränkte mich nicht mehr; ich wußte, daß dies nun einmal so seine Art sei. Ich wurde so zufrieden, so glücklich mit diesem neuen Interesse, welches mein Leben erhalten hatte, daß ich aufhörte mich nach Gefährtinnen meines Geschlechts zu sehnen; die zarte Mondessichel meines Geschicks schien zu wachsen; die Leere meines Daseins war ausgefüllt; meine körperliche Gesundheit wurde besser, ich wurde stark und kräftig.

Und war Mr. Rochester in meinen Augen noch immer häßlich? Nein, mein lieber Leser. Dankbarkeit und andere gute, freie, sympathische Regungen machten, daß sein Gesicht das wurde, was ich auf der Welt am meisten zu sehen liebte; seine Gegenwart machte das Zimmer heller und wärmer und gemütlicher, als das loderndste Kaminfeuer. Seine Fehler hatte ich jedoch noch immer nicht vergessen, [227] und ich konnte es auch in der That nicht, denn er führte sie mir beständig vor Augen. Er war stolz, sarkastisch, hart gegen Untergebene jeder Art; in der geheimsten Tiefe meines Herzens wußte ich, daß ungerechte Strenge gegen viele andere seiner großen Güte gegen mich die Wage hielt. Er war auch launenhaft und das in der unberechenbarsten Weise. Wenn er mich hatte holen lassen, daß ich ihm vorläse, fand ich ihn mehr als einmal allein in der Bibliothek, den Kopf auf die verschränkten Arme gebeugt; und wenn er dann aufblickte, verdüsterte ein mürrischer, fast maliziöser Blick seine Miene. Aber ich glaubte, daß seine Launenhaftigkeit, seine Härte und seine früheren Sünden (ich sage frühere, denn jetzt schien er sich bekehrt zu haben) ihren Ursprung in irgend einem harten Schicksalsschlage hatten. Ich glaubte, daß die Natur ihn zu einem Menschen von besseren Neigungen, strengeren Grundsätzen und reinerer Geschmacksrichtung bestimmt hatte, als die traurigen Verhältnisse später in ihm entwickelt, die Erziehung ihm eingeträufelt, das Schicksal in ihm ermutigt hatten. Ich glaubte, daß ausgezeichnete Eigenschaften in ihm schlummerten, obgleich für den Augenblick sein ganzes Innere verworren und elend schien. Ich kann nicht leugnen, daß ich um seinen Schmerz trauerte, welcher Art er auch sein mochte; und ich muß gestehen, daß ich viel gegeben hätte, wenn ich ihn hätte auf mich nehmen können.

Obgleich ich meine Kerze jetzt ausgelöscht hatte und bereits im Bette lag, konnte ich nicht schlafen, weil ich fortwährend den Blick vor mir sah, mit welchem er in der Allee stehen geblieben war und mir erzählt hatte, daß sein Schicksal vor ihm erstanden und ihn trotzig gefragt habe, ob er es wage, in Thornfield glücklich sein zu wollen.

»Weshalb nicht?« fragte ich mich; »was entfremdet ihn dem Hause? Wird er es bald wieder verlassen? Mrs. Fairfax erzählte, daß er niemals länger als vierzehn Tage hier bleibe, und jetzt residiert er schon acht Wochen hier. [228] Wenn er wieder geht, wird es eine schmerzliche Veränderung für mich sein. Wenn er nun Frühling, Sommer und Herbst fortbliebe: wie freudlos würde dann der Sonnenschein, wie traurig würden die schönen Tage für mich sein!«

Ich weiß nicht, ob ich nach diesen Reflexionen eingeschlafen war oder nicht; auf jeden Fall fuhr ich aber erschreckt empor, als ich ein undeutliches Murmeln, seltsam und unheimlich, vernahm, das, wie ich glaubte, gerade über meinem Kopfe war. Ich wünschte, daß ich meine Kerze hätte brennen lassen; die Nacht war trübe und dunkel, mein Gemüt war bedrückt. Ich erhob mich und richtete mich im Bette auf, um zu horchen. Die Töne verstummten.

Wiederum versuchte ich zu schlafen; aber mein Herz klopfte ängstlich, meine innere Ruhe war hin. Weit unten in der Halle verkündete die Uhr die zweite Stunde. In diesem Augenblick war es, als berühre jemand die Thür meines Zimmers, als hätte jemand sich durch die dunkle Galerie an den Holzverkleidungen der Wand entlang getastet. Ich rief: »Wer ist da?« Niemand antwortete. Die Furcht machte mich fast erstarren.

Plötzlich fiel es mir ein, daß es Pilot sein könne, welcher oft, wenn die Küchenthür nicht geschlossen war, seinen Weg bis an die Schwelle von Mr. Rochesters Zimmer fand. Oft hatte ich ihn am Morgen selbst dort liegen sehen. Einigermaßen durch diesen Gedanken beruhigt, legte ich mich wieder. Stille und Ruhe stärken die Nerven, und da jetzt eine ununterbrochene Stille im ganzen Hause herrschte, fühlte ich, wie der Schlaf sich wiederum auf meine Lider senkte. Aber das Schicksal hatte beschlossen, daß ich in dieser Nacht keinen Schlummer finden sollte. Kaum hatte ein Traum sich leise flüsternd meinem Ohre genähert, als er erschreckt von dannen floh, von einem markerschütternden Zwischenfall verjagt.

Es war ein dämonisches Lachen – leise, unterdrückt, tief – welches, wie es schien, durch das Schlüsselloch meiner [229] Zimmerthür drang. Das Kopfende meines Bettes stand nahe an der Thür, und im ersten Augenblick glaubte ich, daß dieser teuflische Lacher neben meinem Bette stehe – oder vielmehr auf meinem Kopfpolster krieche; aber ich stand auf, blickte umher und konnte nichts sehen; als ich noch ins Dunkel starrte, wiederholte sich der übernatürliche Laut, und ich wußte dann, daß er von der anderen Seite der Thür kam. Mein erster Impuls war aufzustehen und den Riegel vorzuschieben; der nächste wiederum auszurufen: »Wer ist da?«

Ich hörte ein Gurgeln, ein Stöhnen. Nicht lange und ich vernahm leise Schritte, die sich über die Galerie nach dem dritten Stockwerk zurückzogen; auf jener Treppe war vor kurzem eine verschließbare Thür angebracht; diese wurde ganz vernehmbar geöffnet und wieder geschlossen. Dann war alles still.

»War das Grace Poole? Und ist sie vom Teufel besessen?« dachte ich. Jetzt war es unmöglich, länger allein zu bleiben, ich mußte zu Mrs. Fairfax gehen. Eilig warf ich mir Kleid und Shawl über; mit zitternder Hand zog ich den Riegel zurück und öffnete die Thür. Draußen stand auf dem Teppich, welcher in der Galerie lag, ein brennendes Licht. Dieser Umstand setzte mich in Erstaunen; aber noch erstaunter war ich, zu bemerken, daß die Luft ganz trübe war, wie mit Rauch angefüllt; und während ich nach links und rechts blickte, um zu sehen, woher die blauen, sich kräuselnden Wolken kamen, machte sich schon ein starker Brandgeruch bemerkbar.

Ein Knarren; es war eine halbgeöffnete Thür; diese Thür führte zu Mr. Rochesters Zimmer, und von dort kamen auch jetzt dichte, schwere Rauchwolken. Ich dachte nicht mehr an Mrs. Fairfax. Ich dachte nicht mehr an Grace Poole oder an das Lachen, – in einem Augenblick befand ich mich in jenem Gemache. Rund um das Bett züngelten Flammen empor, die Vorhänge brannten [230] lichterloh. Inmitten dieses Feuers, dieses Rauches lag Mr. Rochester bewegungslos ausgestreckt; tiefer Schlaf hielt ihn umfangen.

»Wachen Sie auf! Wachen Sie auf!« schrie ich – ich schüttelte ihn, aber er murmelte nur etwas unverständliches und wandte sich um. Der Rauch hatte ihn bereits betäubt. Es war kein Augenblick zu verlieren; die Betttücher fingen bereits Feuer. Ich stürzte an die Waschschüssel und an den Wasserkrug; zum Glück war erstere groß und weit, letzterer tief, und beide waren mit Wasser angefüllt. Ich hob sie auf, überflutete das Bett und den darin Liegenden, flog zurück in mein eigenes Zimmer, brachte meinen Wasserkrug, taufte das Lager von neuem, und mit Gottes Hilfe gelang es mir, die Flammen zu löschen, welche es verzehrten.

Das Zischen des verlöschenden Elements, das Zerbrechen des Kruges, den ich aus der Hand schleuderte, als er geleert war und vor allen Dingen das Plätschern des Tropfbades, welches ich so reichlich über ihn ausgegossen, weckten Mr. Rochester endlich. Obgleich es jetzt dunkel war, wußte ich, daß er erwachte, denn ich hatte ihn seltsame Flüche murmeln hören, als er sich in einem Wasserpfuhl liegend fand.

»Ist das eine Überschwemmung?« schrie er.

»Nein, Sir,« entgegnete ich, »aber es war ein Feuer; stehen Sie auf, ich flehe Sie an, Sie sind gänzlich durchnäßt; ich werde ein Licht holen.«

»Im Namen aller Feeen der Christenheit, ist das Jane Eyre?« fragte er. »Was haben Sie mit mir gemacht, Hexe, Zauberin? Wer ist noch außer Ihnen im Zimmer? Haben Sie sich verschworen, mich zu ertränken?«

»Ich werde Ihnen ein Licht holen, Sir; und stehen Sie auf, um Gottes willen! Irgend jemand hat ein Komplott geschmiedet; Sie können nicht früh genug untersuchen, wer es, was es ist!«

[231] »So, jetzt bin ich auf; aber es geht auf Ihre eigene Gefahr, wenn Sie jetzt ein Licht holen. Warten Sie noch zwei Minuten, bis ich in trockene Kleider komme, wenn es deren hier überhaupt noch trockene giebt – ja, hier ist mein Schlafrock, jetzt eilen Sie!«

Und ich eilte. Ich brachte das Licht, welches noch in der Galerie stand. Er nahm es mir aus der Hand, hielt es in die Höhe und betrachtete das Bett, welches ganz schwarz und versengt war, die Betttücher waren durchnäßt, der Teppich rund umher stand unter Wasser.

»Was ist es? Und wer hat es gethan?« fragte er.

Ich erzählte ihm kurz, was ich bemerkt hatte, das seltsame Lachen in der Galerie, der leise Tritt, welcher in das dritte Stockwerk emporstieg; der Rauch – der Brandgeruch, welcher mich an seine Thür geführt hatte; in welchem Zustande ich ihn da gefunden hatte, und wie ich ihn mit allem Wasser, dessen ich habhaft werden konnte, überflutet hatte.

Er hörte sehr ernst zu; als ich fortfuhr, drückte sein Gesicht mehr Kummer als Erstaunen aus. Als ich zu Ende war, schwieg er noch einige Minuten.

»Soll ich Mrs. Fairfax rufen?« fragte ich.

»Mrs. Fairfax? Nein. Weshalb zum Teufel wollten Sie sie rufen? Was könnte sie thun? Lassen Sie sie unbehelligt schlafen.«

»Dann will ich Leah holen und John und seine Frau wecken.«

»Nein, durchaus nicht. Seien Sie nur ganz still. Haben Sie ein Tuch? Wenn Ihnen nicht warm genug ist, so nehmen Sie meinen Mantel, der dort hängt; hüllen Sie sich ein und setzen Sie sich in jenen Lehnstuhl; so – ich werde Sie zudecken. Jetzt legen Sie Ihre Füße auf den Stuhl, damit sie nicht naß werden. Ich werde Sie ein paar Minuten allein lassen. Bleiben Sie, wo Sie sind, bis ich zurückkomme; halten Sie sich so still wie eine Maus. [232] Ich nehme das Licht mit. Jetzt muß ich in das zweite Stockwerk hinaufgehen, um zu sehen, ob auch dort etwas geschehen. Rühren Sie sich nicht. Rufen Sie niemanden, ich bitte Sie darum.«

Er ging. Ich sah, wie das Licht sich entfernte. Leise ging er die Galerie hinauf; mit so wenig Geräusch wie möglich öffnete er die Treppenthür, schloß sie wieder hinter sich – und somit verschwand der letzte Lichtstrahl. Ich blieb in undurchdringlicher Finsternis zurück. Angestrengt horchte ich, ob ich kein Geräusch vernehmen könne, aber ich hörte nichts. Es verging eine Zeit, die mich fast eine Ewigkeit dünkte. Ich wurde müde; trotz des Mantels fror mich; und dann begriff ich auch nicht, zu welchem Zweck ich bleiben und warten sollte, wenn ich niemanden im Hause wecken durfte. Grade war ich im Begriff, Mr. Rochesters Mißfallen zu riskieren, indem ich seine Befehle nicht befolgte, als der schwache Schein des Lichts wiederum an der Mauer der Galerie sichtbar wurde, und ich den Tritt seiner unbeschuhten Füße auf dem Teppich der Galerie vernahm.

»Ich hoffe, daß er es ist,« dachte ich, »und nichts schlimmeres.«

Er trat wieder ein, bleich, düster, niedergeschlagen. »Ich habe jetzt alles entdeckt,« sagte er, indem er den Leuchter auf den Waschtisch stellte, »es ist alles so, wie ich vermutete.«

»Wie, Sir?«

Er entgegnete nichts, sondern stand mit verschränkten Armen da und blickte zu Boden. Nach Verlauf von einigen Minuten fragte er mit seltsamem Ton:

»Ich habe vergessen, ob Sie mir sagten, daß Sie irgend etwas gesehen, als Sie die Thür Ihres Zimmers öffneten.«

»Nein, Sir, ich sah nichts als den Leuchter, welcher auf dem Teppich dicht vor meiner Thür stand.«

[233] »Aber Sie hörten ein eigentümliches Lachen? Haben Sie dasselbe oder ein ähnliches schon früher gehört?«

»Ja, Sir. Hier ist eine Person, die sich mit Nähen beschäftigt; sie heißt Grace Poole – sie lacht in dieser Weise. Überhaupt ist sie ein sonderbares Geschöpf.«

»Die ist's. Grace Poole – Sie haben es erraten. Sie ist, wie Sie sagen, sonderbar – sehr sonderbar. Nun, ich werde über die Sache nachdenken. Inzwischen bin ich froh, daß Sie außer mir die einzige Person sind, welche die genauen Umstände bei den Geschehnissen dieser Nacht kennt. Sie sind keine geschwätzige Närrin – also sprechen Sie nicht darüber. Für diese Zustände hier (auf das Bett zeigend) will ich schon eine Erklärung finden. Und jetzt kehren Sie in Ihr Zimmer zurück. Ich werde es mir für den Rest der Nacht auf dem Sofa in der Bibliothek bequem machen. Es ist beinahe vier Uhr: – in zwei Stunden werden die Dienstboten wach sein.«

»Gute Nacht denn, Sir,« sagte ich im Begriff fortzugehen.

Er schien erstaunt – mir war das unerklärlich, denn er hatte mir ja soeben gesagt, ich sollte gehen.

»Wie!« rief er aus, »Sie verlassen mich schon, und in dieser Weise?«

»Sie sagten ja, Sir, daß ich gehen könne!«

»Aber doch nicht, ohne Abschied zu nehmen; nicht ohne ein oder zwei Worte des Mitgefühls, des guten Willens; kurzum, nicht in jener kurzen, trockenen Manier. Sehen Sie! Sie haben mir das Leben gerettet! – Sie haben mich einem entsetzlichen, martervollen Tode entrissen! – und Sie gehen an mir vorüber, als wären wir gegenseitig Fremde! – Wenigstens reichen Sie mir die Hand!«

Er streckte seine Hand aus; ich gab ihm die meine; er faßte sie erst mit der einen, dann auch mit der zweiten Hand.

»Sie haben mir das Leben gerettet. Es macht mir[234] Freude, Ihnen gegenüber eine so große Pflicht der Dankbarkeit zu haben. Keinem andern lebenden Wesen gegenüber hätte ich solche Verpflichtungen ertragen, aber mit Ihnen ist es anders; – Jane, die Dankbarkeit gegen Sie ist mir keine Last.«

Er hielt inne, er blickte mich an. Ich sah, wie ihm die Worte auf den Lippen zitterten, – aber seine Stimme versagte ihm den Dienst.

»Noch einmal gute Nacht, Sir. Sprechen Sie nicht von Schuld, Wohlthaten, Verpflichtungen; in diesem Falle giebt es keine solchen.«

»Ich fühlte immer,« fuhr er fort, »daß Sie mir zu irgend einer Zeit Gutes erweisen würden; – als ich Sie zum erstenmal erblickte, sah ich es in Ihren Augen! nicht umsonst – (hier hielt er inne) – nicht umsonst – (und hastig weiter sprechend) – nicht umsonst strahlte Ihr Lächeln, Ihr Ausdruck mir Wonne bis in den geheimsten Winkel meines Herzens. Die Menschen sprechen von natürlichen Sympathien; ich habe von gütigen Schutzengeln gehört – selbst in den wildesten Fabeln giebt es doch ein Körnchen Wahrheit. Meine geliebte Lebensretterin, gute Nacht.«

In seiner Stimme lag eine seltsame Energie, in seinen Blicken ein wunderbares Feuer.

»Ich bin glücklich, daß ich zufällig wach war,« sagte ich; dann wollte ich wieder gehen.

»Wie! Sie wollen gehen?«

»Mich friert, Sir.«

»Es friert Sie? Ja, – und da stehen Sie mitten in einem Wasserpfuhl! Gehen Sie denn, Jane, gehen Sie!«

Aber er hielt noch immer meine Hand, und ich konnte sie nicht frei machen. Da fiel mir ein Auskunftsmittel ein.

»Ich glaube, Sir, ich höre Mrs. Fairfax,« sagte ich.

»Gut denn. Lassen Sie mich allein,« er ließ meine Hand los, und ich ging.

[235] Ich suchte mein Lager auf, aber ich dachte nicht an Schlaf. Bis zum Tagesanbruch schaukelte ich auf einem bewegten, tobenden Meere, wo Wogen von Kummer und Sorge unter Brandungen von Glück und Wonne dahinrollten. Zuweilen war mir's, als sähe ich hinter jenen wilden Gewässern eine Küste, schön wie die Hügel von Beulah; dann und wann trug eine erfrischende Brise, durch die Hoffnung geweckt, meine Seele triumphierend der Küste entgegen, aber ich konnte sie nicht erreichen, nicht einmal im Geiste – eine hindernde Brise blies vom Lande her und trieb mich unaufhörlich zurück. Die Sinne wollten dem Delirium widerstehen: die Vernunft wollte die Leidenschaft warnen. Zu fieberhaft, um ruhen zu können, erhob ich mich mit Tagesanbruch.

Fußnoten

1 große Leidenschaft.

2 Athletengestalt.

3 mein Engel.

4 Einfahrt.

5 Männliche Schönheit.

Sechzehntes Kapitel

An dem Morgen, welcher dieser schlaflosen Nacht folgte, fürchtete und wünschte ich zugleich, Mr. Rochester wiederzusehen. Ich sehnte mich, seine Stimme zu hören, und doch fürchtete ich, seinem Blicke zu begegnen. Während der ersten Morgenstunden erwartete ich jeden Augenblick, ihn kommen zu sehen. Es war nicht seine stete Gewohnheit, in das Schulzimmer zu kommen, aber zuweilen trat er auf einige Minuten ein, und ich hatte die Idee, daß er an diesem Tage gewiß kommen würde.

Aber der Morgen ging hin wie gewöhnlich; nichts trug sich zu, das den ruhigen Verlauf von Adelens Studien hätte stören können. Nur kurz nach dem Frühstück vernahm ich einigen Lärm in der Nähe von Mr. Rchesters Zimmer, Mrs. Fairfaxs Stimme, und Leahs und der Köchin, welche Johns Frau war, – sogar Johns eigene rauhe Töne hörte ich. Ich vernahm Ausrufe, wie »Welch ein Glück, daß unser Herr nicht in seinem eigenen Bette verbrannt ist!« – »Es ist stets gefährlich ein Licht während der Nacht brennen zu lassen!« – »Welch ein glücklicher [236] Zufall, daß er Geistesgegenwart genug hatte, an den Wasserkrug zu denken!«

»Es wundert mich nur, daß er niemand geweckt hat!«

»Hoffentlich wird er sich bei dem Schlafen auf dem Sofa der Bibliothek nicht erkälten!« u.s.w. u.s.w.

Auf dies endlose vertrauliche Gespräch folgte das Geräusch von Reiben und Waschen und Aufräumen; und als ich auf dem Wege hinunter zum Mittagessen an dem Zimmer vorüberging, sah ich durch die geöffnete Thür, daß sich alles bereits wieder in der alten Ordnung befand; nur von dem Bette waren die Vorhänge heruntergenommen. Leah stand in der Fenstervertiefung und rieb die Glasscheiben, welche durch den Rauch geschwärzt waren. Ich war im Begriff, sie anzureden, denn ich wünschte zu wissen, welche Deutung der Sache gegeben worden; als ich jedoch näher trat, sah ich noch eine zweite Person im Zimmer – eine Frau, die neben dem Bette saß und Ringe an die neuen Vorhänge nähte. Diese Frau war keine andere als Grace Poole.

Da saß sie, ruhig und schweigsam wie gewöhnlich, in ihrem braunen Wollkleide, der karrierten Schürze, dem weißen Halstuche und der Haube. Sie war emsig mit ihrer Arbeit beschäftigt, in welcher alle ihre Gedanken aufzugehen schienen; auf ihrer harten Stirn und in ihren gewöhnlichen Zügen war nichts von der Blässe und der Verzweiflung sichtbar, welche man als Kennzeichen auf dem Gesichte einer Frau erwartet haben würde, die einen Mordversuch begangen hatte, und deren auserkorenes Opfer ihr am vorhergehenden Abende in ihren Schlupfwinkel gefolgt war und sie – wie ich glaubte – sie des Verbrechens angeklagt hatte, das sie zu verüben beabsichtigt hatte. Ich war erstaunt – versteinert. Sie sah auf, als ich sie noch anstarrte. Sie fuhr nicht zusammen, kein Wechsel der Farbe verriet irgend eine Bewegung, von der man auf ein Schuldbewußtsein hätte schließen können, oder auf eine [237] Furcht vor Entdeckung. Sie sagte: »guten Morgen, Fräulein,« in ihrer gewöhnlichen, kurzen, phlegmatischen Weise. Dann nahm sie einen neuen Ring und ein Stück Schnur zur Hand und fuhr fort zu nähen.

»Ich werde sie auf eine Probe stellen,« dachte ich, »eine so absolute Undurchdringlichkeit geht über meine Verstandeskräfte.«

»Guten Morgen, Grace!« sagte ich. »Ist hier irgend etwas geschehen? Mir war, als hätte ich vor kurzem die Stimmen aller Dienstboten gehört.«

»Nein. Der Herr hat nur gestern Abend im Bette gelesen; er ist eingeschlafen und hat das Licht brennen lassen; so gerieten die Vorhänge in Brand; aber zum Glück ist er aufgewacht, ehe die Betten oder das Holz der Bettstelle Feuer fingen, und es ist ihm gelungen, das Feuer mit dem Wasser aus dem Waschkruge zu löschen.«

»Eine seltsame Geschichte!« sagte ich leise, dann fuhr ich fort und blickte sie fest an: »Hat Mr. Rochester niemanden geweckt? Hat niemand das Geräusch vernommen, welches er doch notwendigerweise dabei machen mußte?«

Wiederum blickte sie zu mir auf, und diesmal glaubte ich etwas wie Schuldbewußtsein in ihren Augen zu entdecken. Sie schien mich genau zu prüfen, dann entgegnete sie:

»Sie wissen, Fräulein, die Dienstboten schlafen so weit fort; wahrscheinlich würden sie ihn nicht gehört haben. Mrs. Fairfaxs Zimmer und das Ihrige sind dem Zimmer des Herrn am nächsten; aber Mrs. Fairfax sagt, daß sie nichts gehört hat; wenn Leute älter werden, haben sie oft einen festen Schlaf.« Sie hielt inne und fügte dann mit einer gewissen angenommenen Gleichgiltigkeit, aber immer noch in sehr bedeutsamem und markiertem Tone hinzu: »Aber Sie sind jung, Fräulein, und ich sollte doch meinen, daß Sie einen leichten Schlaf haben. Vielleicht haben Sie das Geräusch vernommen?«

[238] »Das habe ich!« sagte ich so leise wie möglich, so daß Leah, welche noch immer die Scheiben putzte, mich nicht hören konnte, »und anfangs glaubte ich, daß es Pilot sei; aber Pilot kann nicht lachen; und ich bin sicher, daß ich ein Lachen vernommen habe, ein sehr seltsames noch dazu.«

Sie nahm einen neuen Faden für ihre Nadel, wichste ihn sorgsam, fädelte ihn mit fester Hand ein und bemerkte dann mit vollkommener Fassung:

»Es ist kaum denkbar, Fräulein, daß der Herr gelacht haben sollte, wenn er in solcher Gefahr war, sollt ich meinen. Sie müssen geträumt haben.«

»Ich habe nicht geträumt,« sagte ich mit einiger Heftigkeit, denn ihre eiserne Ruhe reizte mich. Wiederum blickte sie mich an und mit denselben durchdringenden, prüfenden Blicken.

»Haben Sie dem Herrn gesagt, daß Sie ein Lachen gehört haben?« fragte sie.

»Ich habe noch nicht die Gelegenheit gefunden, heute Morgen mit ihm zu sprechen.«

»Ist es Ihnen denn nicht eingefallen, Ihre Thür zu öffnen und in die Galerie hinauszusehen?« fragte sie weiter.

Sie schien ein Kreuzverhör mit mir anstellen zu wollen, indem sie mir unvermutet Antworten zu entreißen suchte. Plötzlich kam mir der Gedanke, daß wenn sie entdeckte, daß ich von ihrer Schuld etwas wisse, sie mir einige von ihren boshaften Streichen spiele würde. So hielt ich es denn für ratsam, auf meiner Hut zu sein.

»Im Gegenteil,« sagte ich, »ich verriegelte meine Thür.«

»So pflegen Sie Ihre Thür also nicht jeden Abend zu verriegeln, bevor Sie sich schlafen legen?«

»Zum Teufel! Sie will meine Gewohnheiten ausforschen, damit sie danach ihre Pläne schmieden kann!« Empörung trug wiederum den Sieg über die Vorsicht davon. Ich erwiderte scharf: »Bis jetzt habe ich es stets unterlassen, den Riegel vorzuschieben; ich hielt es nicht für notwendig. [239] Ich wußte nicht, daß in Thornfield-Hall irgend eine Gefahr oder ein Ärger zu erwarten sei; aber in Zukunft,« und ich legte einen besonderen Nachdruck auf die Worte, »in Zukunft werde ich die Vorsicht gebrauchen, nachzusehen, ob alles in Ordnung ist, bevor ich mich schlafen lege.«

»Es wird geraten sein, das zu thun,« lautete ihre Antwort, »diese Gegend ist so ruhig und sicher wie irgend eine, und seitdem Thornfield-Hall ein Herrenhaus ist, habe ich nicht gehört, daß irgend ein Raubversuch gemacht worden ist, obgleich sich in der Silberkammer Silbergeschirr im Werte von vielen hundert Pfund befindet, wie jedermann wohl weiß. Und sehen Sie, für ein so großes Haus befinden sich nur wenig Dienstboten hier, weil der Herr sich nur selten im Herrenhause aufhält. Und da er ein Junggeselle ist, braucht er, selbst wenn er kommt, nur sehr wenig Aufwartung und Bedienung. Aber ich halte es immer für das Beste, wenn man die Vorsicht ein wenig übertreibt; eine Thür ist bald geschlossen, und es kann nicht schaden, wenn man einen vorgeschobenen Riegel zwischen sich und allem möglichen Unheil hat. Es giebt eine Menge Leute, Fräulein, die dafür sind, alles der Vorsehung anheim zu stellen; aber ich sage, die Vorsehung will nicht, daß man die Mittel verschmäht, obgleich sie dieselben oft segnet, wenn sie vernünftig angewendet werden.«

Und damit schloß sie ihre Rede. Es war eine sehr lange für sie und sie hielt dieselbe mit dem Ernst einer Quäkerin.

Ich stand noch vollständig erstarrt und verdutzt über das, was ich für ihre wunderbare Selbstbeherrschung und undurchdringliche Heuchelei hielt, als die Köchin eintrat.

»Mrs. Poole,« sagte sie zu Grace gewendet, »das Mittagessen der Dienstboten wird bald bereit sein. Wollen Sie nicht herunterkommen?«

»Nein. Aber setzen Sie mir ein Viertel Porter und[240] einen Bissen Pudding auf ein Speisebrett; das will ich dann nach oben holen.«

»Wollen Sie kein Fleisch haben?«

»Nur einen kleinen Bissen und ein Stück Käse, das ist alles, was ich brauche.«

»Und der Sago?«

»Den brauche ich jetzt nicht; ich werde noch vor dem Thee hinunterkommen: ich werde ihn selbst machen.«

Hier wandte die Köchin sich zu mir und zeigte mir an, daß Mrs. Fairfax mich erwarte. Dann ging ich.

So sehr war ich damit beschäftigt, mein Gehirn über Grace Poole's rätselhaften Charakter zu zermartern, daß ich während des Mittagessens Mrs. Fairfaxs Erzählung von dem Vorhangbrand gar nicht hörte. Und noch mehr dachte ich über ihre Stellung in Thornfield-Hall nach, ich fragte mich, weshalb man sie an diesem Morgen nicht ins Gefängnis gesteckt habe, oder sie doch wenigstens aus Mr. Rochesters Dienst entlassen habe. Am vorhergehenden Abend hatte er mir ja fast mit klaren Worten seine Überzeugung von ihrer Schuld mitgeteilt; welche geheimnisvolle Ursache hielt ihn denn zurück, sie anzuklagen? Weshalb hatte er auch mir die tiefste Verschwiegenheit anempfohlen? Es war doch seltsam. Ein kühner, mutiger, rachsüchtiger, hochmütiger Gentleman schien in der Macht einer der niedrigsten seiner Untergebenen zu sein; so sehr in ihrer Macht, daß er nicht einmal wagte, sie öffentlich anzuklagen, viel weniger sie zu bestrafen, als sie ihre Hand gegen sein Leben erhob.

Wenn Grace jung und schön gewesen wäre, so würde ich geglaubt haben, daß zartere Gefühle als Furcht oder Vorsicht Mr. Rochester in Bezug auf sie beherrschten; aber häßlich und unangenehm und alt wie sie war, konnte ich einem solchen Gedanken nicht Raum geben. »Und doch,« dachte ich weiter, »sie ist einmal jung gewesen; ihre Jugend muß mit der ihres Brotherrn zusammengefallen sein; Mrs. [241] Fairfax hat mir einmal erzählt, daß sie schon seit vielen Jahren hier lebt. Ich kann nicht glauben, daß sie jemals schön gewesen ist. Aber vielleicht besitzt sie Originalität und Charakterstärke, welche für den Mangel äußerer Reize entschädigen. Mr. Rochester ist ein Liebhaber des Entschiedenen und Excentrischen; Grace ist wenigstens excentrisch. Was, wenn eine frühere Laune, möglicherweise eine Grille, wie sie bei einer so heftigen, plötzlichen Natur wie die seine wohl vorkommen kann, ihn in ihre Hände geliefert hätte und sie jetzt auf seine Handlungen und Bewegungen einen geheimen Einfluß übt, das Ergebnis seiner eigenen Indiskretion, welchen er nicht abzuschütteln und nicht zu mißachten wagt?«

Als ich aber bei diesem Punkt meiner Vermutungen angekommen war, standen Mrs. Poole's vierschrötige, flache Figur, ihr häßliches, unangenehmes, trockenes, sogar rohes Gesicht so deutlich vor meinem inneren Auge, daß ich dachte: »Nein, unmöglich! Meine Voraussetzung kann nicht begründet sein. Doch,« sagte wieder die geheime Stimme, die in unserem Herzen zu uns spricht, »auch du bist nicht schön, und vielleicht findet Mr. Rochester trotzdem Gefallen an dir; auf jeden Fall war dir oft ums Herz, als thäte er es, und diese letzte Nacht – denk an seine Worte; denk an seine Blicke; denk an seine Stimme.«

Ich erinnerte mich an alles, an seine Sprache, an seinen Blick, an seinen Ton; alles stand wieder lebendig vor mir. Jetzt war ich im Schulzimmer; Adele zeichnete; ich beugte mich über sie und führte ihren Zeichenstift. Plötzlich fuhr sie zusammen und blickte zu mir auf.

»Qu'avez-vous, Mademoiselle?« sagte sie. »Vos doigts tremblent comme la feuille, et vos joues sont rouges: mais, rouges comme des cerises!« 1

[242] »Mir ist heiß, Adele, weil ich mich zu dir niedergebeugt habe!« Sie fuhr fort mit dem Zeichnen, ich mit dem Denken.

Ich beeilte mich, den verhaßten Gedanken, welchen ich in Bezug auf Grace Poole gefaßt hatte aus meinem Gehirn zu verjagen, er ekelte mich an. Ich verglich mich mit ihr und fand, daß wir sehr verschieden waren. Bessie Leaven hatte gesagt, daß ich wie eine Dame aussähe, und sie sagte die Wahrheit: ich war eine Dame. Und jetzt war ich viel hübscher als damals, wo Bessie mich aufgesucht: ich hatte frische Farben und war stärker geworden; mein Geist war erwacht, ich war voll Leben und Lebenslust, weil ich fröhlichere Hoffnungen und innigere Freuden hatte.

»Der Abend kommt,« sagte ich und blickte zum Fenster hinaus. »Ich habe heute während des ganzen Tages weder Mr. Rochesters Stimme noch seinen Schritt im Hause gehört. Aber ich werde ihn gewiß noch vor Abend sehen; heute Morgen noch fürchtete ich die Begegnung, jetzt wünsche ich sie, weil meine Erwartung so lange getäuscht worden, daß sie in Ungeduld ausgeartet ist.«

Als die Dämmerung vollständig hereingebrochen war, und Adele mich verlassen hatte, um mit Sophie in der Kinderstube zu spielen, sehnte ich mich nach einem Wiedersehen. Ich horchte, ob die Glocke unten in der Halle nicht ertönen werde; ich horchte, ob Leah nicht mit einem Bescheid nach oben kommen würde; zuweilen bildete ich mir ein, Mr. Rochesters Schritt zu hören und ich wandte mich der Thür zu in der festen Erwartung, ihn eintreten zu sehen. Die Thür blieb geschlossen, nur Dunkelheit blickte ins Fenster. Und doch war es noch nicht spät; oft schickte er erst um sieben, acht Uhr, um mich holen zu lassen, und jetzt war es erst sechs Uhr. Heute Abend konnte er mich doch nicht umsonst hoffen lassen, heute, wo ich ihm so viel zu sagen hatte! Ich beabsichtigte noch einmal, das Gespräch auf Grace Poole zu lenken, um zu hören, was er mir [243] antworten würde; ich wollte ihn fragen, ob er wirklich glaube, daß sie den schändlichen Mordversuch von gestern Abend begangen, und wenn es der Fall, weshalb er dann ein Geheimnis aus ihrer Schlechtigkeit mache. Es sollte mich wenig kümmern, ob meine Neugierde ihn ärgerte; ich kannte das Vergnügen, ihn abwechselnd zu reizen und wieder zu besänftigen; es war eins, an dem ich besondere Freude fand, und ein sicherer Instinkt bewahrte mich stets davor, zu weit zu gehen; über die Grenze des Reizens ging ich niemals hinaus, aber ich liebte es, meine Geschicklichkeit auf der äußersten Grenze zu prüfen. Indem ich selbst die kleine Förmlichkeit der Hochachtung, jede Pflicht meines Standes beobachtete, konnte ich mich doch ohne unbehaglichen Zwang, ohne Furcht mit ihm auf Argumente einlassen, und dies unterhielt sowohl ihn wie mich.

Endlich knarrte die Treppe unter Fußtritten; Leah trat ein, aber es war nur um mir anzuzeigen, daß der Thee in Mrs. Fairfaxs Zimmer bereitet sei. Dorthin begab ich mich, froh überhaupt hinuntergehen zu können, denn ich bildete mir ein, daß dies mich wenigstens Mr. Rochesters Person etwas näher brächte.

»Sie müssen nach Ihrem Thee Verlangen tragen,« sagte die gute Dame, als ich zu ihr ins Zimmer kam, »Sie haben heute Mittag so wenig gegessen. Ich fürchte,« fuhr sie fort, »daß Sie heute nicht ganz wohl sind, Sie sehen fieberhaft und erhitzt aus.«

»O, ich bin durchaus wohl, ich habe mich niemals wohler gefühlt.«

»Dann beweisen Sie es mir, indem Sie einen guten Appetit zeigen; wollen Sie die Theekanne anfüllen, während ich diese Nadel abstricke?« Als sie mit ihrer Arbeit zu Ende war, erhob sie sich, um den Vorhang herabzulassen, der bis jetzt aufgezogen gewesen, wahrscheinlich um noch das letzte Tageslicht für die Strickerei benützen zu können. Jetzt ging die Dämmerung in vollständige Dunkelheit über.

[244] »Es ist ein schöner Abend,« sagte sie, indem sie einen Blick durch die Scheiben warf, »wenn es auch nicht gerade sternenklar ist. Im Ganzen hat Mr. Rochester einen sehr schönen Tag für seine Reise gehabt.«

»Reise! – Ist Mr. Rochester verreist? Ich wußte nicht einmal, daß er nicht im Hause sei.«

»Ah! er ist gleich nach dem Frühstück aufgebrochen! er ist nach Leas, 2 der Besitzung von Mr. Eshton, die zehn Meilen jenseit Millcote liegt. Ich glaube, es ist dort eine große Gesellschaft versammelt, Lord Ingram, Sir John Lynn, Oberst Dent und noch viele andere.«

»Erwarten Sie ihn heute Abend noch zurück?«

»Nein. Und morgen auch noch nicht. Ich halte es für sehr wahrscheinlich, daß er eine Woche und noch länger fortbleibt; wenn diese reichen, vornehmen, fashionablen Leute zusammenkommen, sind sie derartig von Eleganz und Fröhlichkeit umgeben, so gut mit allem versehen, was gefällt und unterhält, daß sie durchaus keine Eile zeigen, wieder auseinander zu gehen. Besonders Herren werden bei solchen Gelegenheiten oft gesucht, und Mr. Rochester ist in Gesellschaft so liebenswürdig und lebhaft, daß ich glaube, er ist ein allgemeiner Liebling. Die Damen haben ihn sehr gern, obgleich Sie vielleicht der Ansicht sind, daß sein Äußeres ihn nicht gerade in ihren Augen begehrenswert erscheinen läßt; aber ich vermute, daß seine Kenntnisse und seine Talente, vielleicht auch sein Reichtum und sein alter Name ein wenig für seinen Mangel an Schönheit entschädigen.«

»Sind in Leas auch Damen?«

»Mrs. Eshton und ihre drei Töchter sind dort, sehr elegante junge Damen in der That; und dann sind noch die hochwohlgeborene Blanche und Mary Ingram da, wie ich vermute sehr schöne Frauen; in der That, ich habe [245] Blanche einmal vor ungefähr sechs oder sieben Jahren gesehen, als sie ein junges Mädchen von achtzehn Jahren war. Sie kam hierher zu einer Weihnachtsgesellschaft mit Ball, welche Mr. Rochester gab. An jenem Tage hätten Sie sehen sollen, wie reich das Speisezimmer dekoriert war, wie herrlich es erleuchtet war! Ich glaube, es waren mindestens fünfzig Herren und Damen hier – alle aus den ersten Familien der Grafschaft. Und Miß Ingram war die Schönheit des Abends.«

»Sie sagen, daß Sie sie gesehen haben, Mrs. Fairfax? Wie sah sie aus?«

»Ja, ich habe sie gesehen. Die Thüren des Speisezimmers waren geöffnet; und da es Weihnachtszeit, war es den Dienstboten gestattet, sich in der Halle zu versammeln, um einige der Damen singen und spielen zu hören. Mr. Rochester wollte, daß ich hineinkomme, und so setzte ich mich in einen stillen Winkel und beobachtete sie alle. Niemals in meinem Leben habe ich ein prächtigeres Bild gesehen; die Damen waren in den kostbarsten Toiletten; – die meisten – wenigstens die jüngeren – sahen sehr schön aus; aber Miß Ingram war entschieden die Königin.«

»Und wie sah sie aus?«

»Groß, eine berrliche Büste, breite Schultern, einen schlanken Hals: einen matten, dunklen, klaren Teint, edle Züge; Augen, welche denen Mr. Rochesters gleichen, groß und schwarz und ebenso strahlend wie ihre Juwelen. Und dann hat sie das köstlichste Haar, rabenschwarz, und so kleidsam geordnet; rückwärts eine Krone von dicken, breiten Flechten und vorn die längsten, glänzendsten Locken, die ich jemals gesehen habe. Sie war in das klarste Weiß gekleidet; eine bernsteinfarbene Schärpe war über Schultern und Brust geschlungen, an der Seite geknüpft, und in langen Fransen bis an den Saum des Kleides herabfallend. Sie trug eine ebenfalls bernsteinfarbene Blume im Haar, [246] welche mit der rabenschwarzen Masse ihrer Locken wunderbar kontrastierte.«

»Und natürlich war sie sehr bewundert?«

»Ja, in der That, und nicht allein um ihrer Schön heit, sondern auch um ihrer Talente willen. Sie war eine der Damen, die sang, ein Herr begleitete sie auf dem Piano. Sie und Mr. Rochester sangen ein Duett.«

»Mr. Rochester? Ich wußte nicht, daß er singt.«

»O, er hat eine sehr schöne Baßstimme und ein feines Ohr für Musik.«

»Und Miß Ingram? Was für eine Stimme hatte sie?«

»Eine sehr reiche, volle und mächtige. Sie sang entzückend. Es war ein Genuß, ihr zuzuhören; und später spielte sie. Ich habe kein Urteil über Musik, aber Mr. Rochester hat ein sehr treffendes. Und ich hörte ihn sagen, daß ihre Technik eine außergewöhnlich gute sei.«

»Und diese schöne und talentvolle Dame ist noch nicht verheiratet?«

»Wie es scheint nicht. Ich glaube, daß weder sie noch ihre Schwester ein bedeutendes Vermögen haben. Die Güter des alten Lord Ingram waren zum größten Teil Fideikommiß, und der älteste Sohn hat beinahe alles geerbt.«

»Aber es nimmt mich Wunder, daß kein reicher Edelmann oder Gentleman sich in sie verliebt hat. Mr. Rochester zum Beispiel. Er ist doch sehr reich, nicht wahr?«

»O ja! Aber sehen Sie, es ist ein beträchtlicher Unterschied im Alter. Mr. Rochester ist beinahe vierzig, und sie kann nicht älter als fünfundzwanzig sein.«

»Was bedeutet das! Es werden täglich viel ungleichere Ehen geschlossen.«

»Das ist wohl wahr! Doch ich glaube kaum, daß Mr. Rochester einen solchen Gedanken hegen würde. Aber Sie essen ja nicht. Sie haben nichts gegessen, seitdem Sie sich an den Theetisch gesetzt haben.«

[247] »Nein, ich bin zu durstig, um zu essen. Wollen Sie mir noch eine Tasse Thee geben?«

Ich war im Begriff, auf die Möglichkeit einer Verbindung zwischen Mr. Rochester und der schönen Blanche zurückzukommen, als Adele ins Zimmer kam und die Unterhaltung in andere Bahnen gelenkt wurde.

Als ich wieder allein war, dachte ich über die Mitteilungen nach, welche mir gemacht worden; ich sah in mein eigenes Herz, prüfte seine Gedanken und Empfindungen, und bemühte mich ernstlich, solche, welche durch die end- und pfadlose Wüste der Einbildungskraft geschweift waren, mit fester Hand in die enge Bahn der Vernunft zurückzuführen.

Vor meine eigenen Gerichtsschranken geführt, hatte mein Gedächtnis Zeugnis abgelegt von den Hoffnungen, Wünschen und Gefühlen, die seit der letzten Nacht in mir erstanden waren – von dem allgemeinen Gemütszustand, dem ich mich seit beinahe vierzehn Tagen hingegeben hatte; die Vernunft war vorgetreten und hatte in ihrer eigenen ruhigen Weise eine einfache, ungeschmückte Erzählung gegeben, wie ich die Wirklichkeit verworfen und das Ideal mit Heißhunger verschlungen hatte – da sprach ich folgendes Urteil:

»Daß eine größere Närrin als Jane Eyre niemals auf diesem Erdenrund geatmet habe; daß keine phantastischere Idiotin jemals in süßeren Lügen geschwelgt, daß niemals ein denkendes Geschöpf mit größerer Begierde Gift verschlungen habe, als wenn es Nektar wäre.«

»Du,« sagte ich, »von Mr. Rochester wohl gelitten? Du mit der Macht begabt, ihm zu gefallen? Du von irgend einer Bedeutung für ihn? Geh! Deine Thorheit widert mich an. Du hast an zufälligen Zeichen der Bevorzugung Freude gefunden – sehr zweideutige Zeichen, welche ein Gentleman von Familie, ein Mann von Welt einer Unerfahrenen, einer Untergebenen zu teil werden läßt. [248] Wie konntest du nur? Arme, dumme Närrin! – Konnte nicht einmal dein eigenes Interesse dich weiser machen? Du hast dir heute Morgen die kurze Scene der letzten Nacht immer und immer wieder vor Augen geführt? – Verhülle dein Angesicht und schäme dich! Er sagte etwas zum Lobe deiner Augen, wie? Blinde Thörin! Öffne deine verblendeten Lider und sieh auf deine eigene verfluchte Sinnlosigkeit! Es ist keinem Weibe gut, wenn es sich von einem Höherstehenden schmeicheln läßt, der unmöglich die Absicht hegen kann, es zu heiraten; und jede Frau begeht eine Thorheit, wenn sie eine heimliche Liebe in sich wachsen läßt, die, wenn sie unerwiedert und unentdeckt bleibt, das Leben verzehren muß, durch welches es genährt wird; und welche, wenn sie entdeckt und erwidert wird, wie ignis fatuus in sumpfige Wildnis führen muß, aus der es keinen Ausweg mehr giebt.

Jane Eyre, höre also deinen Urteilsspruch: nimm morgen den Spiegel, stelle ihn vor dich und zeichne dann so getreu wie möglich dein eignes Bild, ohne irgend einen Mangel zu verdecken, ohne eine harte Linie fortzulassen; gleiche keinen unliebsamen Schönheitsfehler aus, und schreib darunter: Porträt einer armen, alleinstehenden, häßlichen Gouvernante.

Später nimm eine Platte weißen Elfenbeins – Du hast eine solche in deinem Malkasten vorbereitet; nimm deine Palette, mische deine frischesten, schönsten, klarsten – Farben; wähle deine zartesten Kameelhaarpinsel; zeichne mit Sorgfalt das schönste Gesicht, welches deine Einbildungskraft dir vorzaubert, male es in den weichsten Tönen und süßesten Farben nach der Beschreibung, welche Mr. Fairfax dir von Blanche Ingram gemacht hat. Vergiß nicht die rabenschwarzen Locken, das orientalische Auge – was! Du willst dir diejenigen Mr. Rochesters zum Vorbilde nehmen? – Ordnung! – Kein Schluchzen! – kein Gefühl! – kein Bedauern! – Ich werde nur Vernunft und[249] feste Entschlossenheit gelten lassen. Rufe dir die majestätischen und doch harmonischen Linien, den griechischen Nacken, die antike Büste ins Gedächtnis zurück; laß den runden, blendenden Arm sichtbar sein, und die zarte Hand; vergiß weder das Armband, noch den Diamantring; male getreu den Anzug, die luftig zarten Spitzen, den schillernden Atlas, die graziöse Schärpe, die goldene Rose; nenne es: ›Blanche, eine liebenswürdige und schöne Dame von Rang!‹

Wenn du dir jemals in Zukunft einbilden solltest, daß Mr. Rochester gut von dir denkt, so nimm diese beiden Bilder vor und sage: Mr. Rochester würde wahrscheinlich die Liebe dieser edlen Dame gewinnen, wenn er sich die Mühe geben wollte, dieselbe zu erobern, – ist es aber wahrscheinlich, daß er dieser armen, unbedeutenden Plebejerin auch nur einen Gedanken schenken würde?«

»Ich werde es thun,« beschloß ich, und nachdem dieser Entschluß besiegelt war, wurde ich ruhig und fiel in einen tiefen Schlaf.

Ich hielt mein Wort. Eine oder zwei Stunden genügten, um mein eigenes Bild in Crayon zu zeichnen; und in weniger als einer Stunde hatte ich ein Miniaturbild der imaginären Blanche Ingram auf Elfenbein vollendet. Es war ein gar liebliches Bild, und wenn ich es mit dem der Wirklichkeit nachgezeichneten Kopfe in Crayons verglich, so war der Kontrast so groß, wie die Selbsterkenntnis ihn nur immer wünschen konnte. Die Arbeit war eine Wohlthat für mich. Sie hatte meinen Kopf und meine Hände beschäftigt und den neuen Eindrücken, welche ich unauslöschlich in mein Herz graben wollte, Kraft und Festigkeit verliehen.

Es dauerte nicht lange, und ich hatte alle Ursache, mir zu dem Verlauf der strengen Disziplin, welcher ich meine Gefühle in dieser Weise unterworfen hatte, Glück zu wünschen. Dank ihr, war ich imstande, später folgenden Begebenheiten mit der nötigen, gebührenden Ruhe zu begegnen, [250] Begebenheiten, die, wenn sie mich unvorbereitet gefunden hätten, mir wahrscheinlich sogar jede äußere Fassung geraubt haben würden.

Fußnoten

1 Was ist Ihnen, Fräulein? Ihre Finger zittern wie ein welkes Blatt und Ihre Wangen sind rot: aber rot wie Kirschen.

2 Wiese

Siebenzehntes Kapitel

Eine Woche verging, und von Mr. Rochester kam keine Nachricht. Zehn Tage; und immer kam er noch nicht. Mrs. Fairfax sagte, daß sie durchaus nicht erstaunt sein würde, wenn er von Leas direkt nach London und von dort nach dem Kontinent gehen würde, ohne vor Ablauf eines ganzen Jahres den Fuß wieder nach Thornfield-Hall zu setzen. Schon oft habe er das alte Haus ebenso unerwartet und jäh verlassen. Als ich dies hörte, kam eine ohnmächtige Schwäche über mich, mein Herz stand fast still. Ich erlaubte mir in der That, ein betäubendes, niederschmetterndes Gefühl der Enttäuschung zu verspüren; aber all meinen Verstand zusammenraffend und mich meiner erst kürzlich gefaßten Grundsätze erinnernd, rief ich mit aller Gewalt meine Vernunft wieder zur Ordnung, und es war wunderbar, wie ich meine temporäre Tölpelei wieder gut machte; wie ich mir selbst erklärte, daß es ein grober Irrtum sei, wenn ich vermeinte, daß Mr. Rochesters Thun und Lassen ein bedeutendes Interesse für mich habe. Nicht daß ich mich mit einer sklavischen Idee von Niedrigkeit gedemütigt hätte – im Gegenteil, ich sagte nur:

»Du hast weiter nichts mit dem Besitzer von Thornfield zu thun, als das Gehalt von ihm anzunehmen, das er dir dafür zahlt, daß du seinen Schützling unterrichtest; weiter hast du ihm dankbar zu sein für die achtungsvolle und gütige Behandlung, die du von ihm zu erwarten hast, wenn du deine Pflicht gewissenhaft erfüllst. Sei fest überzeugt davon, das ist das einzige Band zwischen euch, das er in Wahrheit anerkennen wird. Mache ihn also nicht zum Gegenstande deiner zärtlichen Gefühle, deines Entzückens, [251] deiner Qualen u.s.w. u.s.w. Er ist nicht von deiner Art, bleib bei deines Gleichen, und hege zu viel Achtung vor dir selbst, um die Liebe deines ganzen Herzens, deiner Seele und all deine Kräfte da zu verschwenden, wo eine solche Gabe nicht verlangt wird und nur verschmäht werden würde.«

Ruhig verrichtete ich die Geschäfte des Tages; aber dann und wann drängten sich meinem Hirn Gründe auf, die mir als Vorwand dienen könnten, um Thornfield-Hall zu verlassen; und unwillkürlich setzte ich Annoncen auf und stellte Betrachtungen über neue Stellungen an; diese Gedanken zu unterdrücken hielt ich nicht für nötig. Sie sollten nur keimen und Früchte tragen, wenn es möglich war.

Mr. Rochester war ungefähr vierzehn Tage abwesend gewesen, als die Post einen Brief für Mrs. Fairfax brachte.

»Er ist von unserem Herrn,« sagte sie, als sie die Adresse las. »Vermutlich werden wir jetzt erfahren, ob wir ihn bald zurückerwarten dürfen oder nicht.«

Und während sie das Siegel brach und den Inhalt langsam durchlas, fuhr ich fort, meinen Kaffee zu trinken, (wir saßen nämlich beim Frühstück), er war sehr heiß, und diesem Umstande schrieb ich es zu, daß eine feurige Glut plötzlich mein Gesicht überzog. Weshalb meine Hand zitterte, und ich unwillkürlich die Hälfte des Inhalts meiner Tasse in die Unterschale vergoß – darüber wollte ich nicht weiter nachdenken.

»Nun, manchmal ist mir's, als lebten wir hier zu einsam; aber jetzt werden wir für eine kurze Weile vielleicht genug zu thun bekommen,« sagte Mrs. Fairfax, während sie noch immer den Brief vor ihre Brillengläser hielt.

Bevor ich mir noch erlaubte, um eine Erklärung zu bitten, band ich Adelens Schürzenbänder, die lose herabhingen, zusammen. Nachdem ich ihr noch einen Kuchen gegeben und ihren Becher wiederum mit Milch gefüllt hatte, sagte ich ganz nachlässig:

[252] »Vermutlich kehrt Mr. Rochester noch fürs Erste nicht zurück?«

»In der That kehrt er zurück – in drei Tagen schon, wie er sagt. Das würde also am nächsten Donnerstag sein, und zwar kommt er nicht allein. Ich weiß nicht, wie viele von den feinen Leuten von Leas mit ihm kommen, er schickt mir nur die Weisung, daß all die besten Fremdenzimmer in Stand gesetzt werden, und die Bibliothek und die Salons sollen gereinigt werden; und aus dem Wirtshause zum ›heiligen Georg‹ in Millcote soll ich mir Hilfspersonal für die Küche holen lassen, oder wenn nicht von dort, so von irgend einem andern Orte. Die Damen werden ihre Kammerjungfern und die Herren ihre Kammerdiener mitbringen; wir werden also ein volles Haus haben.« Und Mrs. Fairfax verschlang schnell ihr Frühstück und eilte von dannen, um mit den Operationen zu beginnen.

Wie sie es vorausgesagt, brachten die drei Tage Beschäftigung genug. Ich hatte immer geglaubt, daß all die Zimmer in Thornfield-Hall aufs schönste gereinigt und arrangiert gewesen seien. Aber es scheint, daß ich mich geirrt hatte. Drei Frauen wurden geholt, um Hilfsdienste zu leisten, und niemals habe ich vorher und nachher ein solches Scheuern, solches Bürsten, solches Waschen von Wänden, solches Ausklopfen von Teppichen, solches Herabnehmen und Aufhängen von Bildern, solches Polieren von Spiegeln und Kronleuchtern, solch ein Anzünden von Kaminfeuern in Schlafzimmern, solch ein Lüften von Betttüchern und Federbetten auf Küchenherden u.s.w. u.s.w. gesehen. Adele rannte inmitten all dieser Vorgänge wie wild umher. Die Vorbereitungen für die Besucher und die Aussicht auf ihre Ankunft schienen sie förmlich in Extase zu versetzen. Sie wollte, daß Sophie all ihre »Toiletten«, wie sie ihre Kleider nannte, genau durchsehen solle; jene, welche »passées« seien, seien wieder aufzufrischen und die neuen zu nähen und aufzuputzen. Was sie selbst anbetraf, that sie nichts, als in [253] den Vorderzimmern umherzulaufen, auf die Bettstellen hinauf und wieder herab zu springen und sich vor den enormen Feuern, welche in den Kaminen emporloderten, auf den aufgehäuften Matratzen und Kopfkissen und Federpolstern umherzuwälzen. Von allen Schulpflichten war sie dispensiert; Mrs. Fairfax hatte mich gezwungen, ihr Dienste zu leisten, und ich war während des ganzen Tages in den Vorratskammern, ihr und der Köchin helfend oder auch sie in ihrer Arbeit hindernd; ich lernte Käsekuchen und französische Confituren und Eierrahm machen, Dessertschüsseln garnieren und Wildbraten spicken.

Die Gesellschaft wurde am Donnerstag Nachmittag erwartet, früh genug, um das Diner um sechs Uhr einnehmen zu können. In der dazwischenliegenden Zeit hatte ich nicht Muße, meinen Chimären nachzuhängen, und ich glaube, daß ich ebenso fröhlich und thätig war wie alle anderen – mit Ausnahme Adelens. Aber dann und wann wurde meine Fröhlichkeit doch gedämpft, und gegen meinen Willen verfiel ich wieder in die Region der Zweifel und Möglichkeiten und dunklen Vermuthungen. Dies geschah immer nur, wenn mein Auge zufällig auf die Treppenthür des dritten Stockwerks fiel, und diese, die in der jüngsten Zeit immer verschlossen gewesen, sich langsam öffnete und Grace Pooles Gestalt mit sauberer Mütze, weißer Schürze und Halstuch heraustrat. Oft sah ich sie die Galerie hinuntergleiten, ihr leiser Tritt noch durch dicke Filzschuhe gedämpft; dann pflegte sie wohl in eins der Schlafzimmer zu treten, in denen alles drunter und drüber ging, und den Arbeitsfrauen Anweisungen zu geben, wie man ein Kamingitter am besten polieren oder ein Kaminsims reinigen oder Flecke von den Tapeten entfernen könne. Dann ging sie weiter. So stieg sie einmal am Tage in die Küche hinunter, aß ihr Mittagsmahl, rauchte eine kleine Pfeife in der Ofenecke und ging dann zurück, ihren Topf mit Porter zu ihrem Privat-Trost in ihren eigenen, düsteren, oberen Schlupfwinkel [254] mit sich nehmend. Nur eine einzige Stunde von vierundzwanzig brachte sie mit den übrigen Dienstboten unten in der Küche zu, ihre übrige Zeit ging in einem niedrigen, mit Eichenholz verkleideten Gemache des zweiten Stockwerks hin. Dort saß sie und nähte – vielleicht lachte sie auch in ihrer unheimlichen Weise vor sich hin – so einsam, so verlassen, wie ein Verbrecher in seiner Gefängniszelle.

Das Sonderbarste bei all diesem war, daß außer mir keine Seele im ganzen Hause ihre Gewohnheiten zu bemerken oder sich über dieselben zu wundern schien. Niemand sprach über ihre Stellung oder ihre Beschäftigung; niemand bemitleidete sie wegen ihrer Vereinsamung. In der That hörte ich einmal einen Teil des Gesprächs zwischen Leah und einer der Arbeiterinnen, dessen Gegenstand Grace bildete. Leah hatte etwas gesagt, das ich nicht vernommen, und die Arbeitsfrau bemerkte:

»Vermutlich bekommt sie hohen Lohn?«

»Ja,« sagte Leah, »ich wollte der meine wäre so hoch; nicht, daß ich mich zu beklagen hätte – in Thornfield-Hall giebt es keinen Geiz; aber er beträgt doch nicht ein Fünftel von der Summe, welche Mrs. Poole bekommt. Und sie legt viel auf die Seite. Zu jedem Quartal geht sie in die Bank von Millcote. Es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie schon genug hätte, um unabhängig leben zu können, wenn es ihr einmal einfallen sollte, aus dem Dienst zu gehen. Aber ich glaube, sie hat sich nun einmal schon an den Ort gewöhnt; und sie ist ja auch noch nicht vierzig Jahre alt, und stark und kräftig und zu aller Arbeit verwendbar. Es ist doch noch zu früh für sie, um sich zur Ruhe zu setzen.«

»Sie ist eine gute Arbeiterin, wie ich mir denken kann,« sagte die Scheuerfrau.

»Ah! sie versteht ihre Arbeit, sie weiß was sie zu thun hat – keiner versteht es besser,« fiel Leah mit einer eigentümlichen [255] Betonung ein, »und nicht jeder mann wäre imstande, ihren Platz auszufüllen; nicht einmal für all den Lohn, den sie bekommt.«

»Da haben Sie recht!« lautete die Antwort. »Ich möchte doch wissen, ob der Herr – –«

Die Tagelöhnerin wollte noch weiter sprechen, aber hier wandte Leah sich um und ward meiner ansichtig. Augenblicklich gab sie ihrer Gefährtin einen Rippenstoß.

»Weiß sie es nicht?« hörte ich die Frau flüstern.

Leah schüttelte den Kopf, und hier nahm die Unterhaltung ein Ende. Alles, was ich daraus entnommen, war folgendes: es mußte ein Geheimnis in Thornfield geben; und ich war mit Absicht von der Mitwissenschaft dieses Geheimnisses ausgeschlossen.

Der Donnerstag kam; am Abend zuvor waren wir mit aller Arbeit fertig geworden; die Teppiche waren ausgespannt, die Bettvorhänge aufgesteckt, glänzend weiße Bettdecken ausgebreitet, Toilette-Tische arrangiert, die Möbeln poliert, Blumen in Vasen gesteckt. Auch die große Halle war gereinigt, die Stufen und Geländer der Treppe so wie die alte geschnitzte Stehuhr waren so blank gerieben wie Glas; im Speisezimmer funkelte das Silberzeug auf der Kredenz; im Boudoir und Salon begegneten dem Auge überall Vasen mit exotischen Blumen.

Der Nachmittag kam. Mrs. Fairfax legte ihr bestes, schwarzes Atlaskleid, ihre Handschuhe, ihre goldene Uhr mit Kette an, denn es lag ihr ob, die Gesellschaft zu empfangen – die Damen in ihre Zimmer zu führen, u.s.w. – Auch Adele wollte angezogen sein, obgleich ich der Ansicht war, daß sie nur wenig Aussicht habe, an diesem Tage wenigstens noch in die Gesellschaft eingeführt zu werden. Indessen, um ihr eine Freude zu machen, gestattete ich Sophie, ihr eins ihrer reichen, vollen, weißen Musselinkleider anzuziehen. Was mich anbetraf, so hatte ich nicht nötig, irgend eine Änderung an meiner Toilette vorzunehmen; [256] von mir würde ja niemand verlangen, das Sanktuarium meines Schulzimmers zu verlassen – denn ein Sanktuarium war es jetzt für mich geworden – »eine herrliche Zufluchtsstätte in Zeiten der Not und des Kummers.«

Es war ein klarer, milder Frühlingstag gewesen, einer jener Tage, die sich gegen Ende März oder Anfang April strahlend über die Erde emporheben wie die Herolde des Sommers. Jetzt ging er zu Ende; aber auch der Abend war warm und ich saß mit meiner Arbeit an dem geöffneten Fenster des Schulzimmers.

»Es wird spät,« bemerkte Mrs. Fairfax, die in ihrem rauschenden Staat eintrat. »Ich bin nur froh, daß ich das Mittagessen eine Stunde später als zu der von Mr. Rochester angegebenen Zeit bestellt habe; es ist jetzt sechs Uhr vorüber. Ich habe John hinunter an die Parkpforten geschickt, um zu sehen, ob auf der Landstraße schon irgend etwas sichtbar ist. Von dort kann man in der Richtung nach Millcote sehr weit sehen.« Sie trat ans Fenster. Da kommt er schon. »Nun, John,« rief sie sich hinauslehnend, »was giebt es? Irgend etwas zu sehen?«

»Sie kommen, Madam,« lautete die Antwort. »In zehn Minuten werden sie hier sein.«

Adele flog ans Fenster. Ich folgte ihr, mich behutsam auf der Seite haltend, damit ich vom Vorhang geschützt sehen konnte, ohne gesehen zu werden.

Die zehn Minuten, welche John prophezeit, schienen sehr lang; aber endlich hörten wir das Rollen der Räder; vier Reiter sprengten den Weg hinauf und ihnen folgten zwei offene Wagen. Wehende Schleier und wogende Federn füllten die Equipagen; zwei der Kavaliere waren junge, elegante Herren; der dritte war Mr. Rochester auf seinem schwarzen Pferde Messour; Pilot sprang in großen Sätzen vor ihm her; ihm zur Seite ritt eine Dame, und sie und er waren die ersten der Gesellschaft. Ihr dunkelrotes Reitkleid berührte beinahe den Boden, ihr langer Schleier [257] flatterte im Winde; reiche, rabenschwarze Locken schienen durch seine durchsichtigen Falten.

»Miß Ingram!« rief Mrs. Fairfax aus und in der größten Eile begab sie sich auf ihren Posten unten in der Halle.

Die Kavalkade folgte den Biegungen des Fahrweges, der um die Ecke des Hauses bog, und ich verlor sie aus den Augen. Jetzt bat Adele hinuntergehen zu dürfen, aber ich nahm sie auf meinen Schoß und machte ihr begreiflich, daß sie unter keiner Bedingung daran denken dürfe, sich vor das Angesicht der Damen zu wagen, weder heute noch zu irgend einer andern Zeit, wenn man sie nicht ausdrücklich dazu auffordern lasse, daß Mr. Rochester sehr ärgerlich sein würde, u.s.w. Als ich ihr dies sagte, vergoß sie einige natürliche Thränen; da ich aber eine sehr ernste Miene machte, willigte sie endlich ein, diese wieder zu trocknen.

Jetzt tönte ein fröhliches Lärmen aus der Halle herauf; die tiefen Stimmen der Herren und die silbernen Stimmen der Damen mischten sich harmonisch, und vor allen hörbar war die sonore Stimme des Gebieters von Thornfield-Hall, der seine schönen und liebenswürdigen Gäste unter seinem Dache willkommen hieß. Dann kamen leichte Tritte die Treppe herauf, und aus der Galerie vernahm man ein Trippeln und leises, fröhliches Lachen, ein Öffnen und Schließen von Thüren und dann war für eine Weile alles still.

»Elles changent de toilettes,« 1 sagte Adele, welche aufmerksam horchte, jeder Bewegung folgend; sie seufzte tief auf.

»Chez maman,« sagte sie, »quand il y avait du monde, je le suivais partout, au salon at à leurs chambres; souvent je regardais les femmes de chambre coiffer et [258] habiller les dames, et c'était si amusant: comme cela on apprend.« 2

»Bist du nicht hungrig, Adele?«

»Mais oui, Mademoiselle: voilà cinq ou six heures que nuos n'avons pas mangé.« 3

»Gut dann; während die Damen in ihren Zimmern sind, will ich mich hinunterwagen und dir etwas zu essen holen.«

Und mit größter Vorsicht aus meinem Asyl hervortretend, suchte ich eine Hintertreppe, welche direkt in die Küche führte. In jener Region war alles Feuer und Hitze und Bewegung; die Suppe und der Fisch waren im letzten Stadium des Werdens, und die Köchin stand über ihren Schmelztiegeln in einem Zustande der Seele und des Körpers, welcher eine augenblickliche Verbrennung befürchten ließ. In der Halle der Dienstboten standen und saßen zwei Kutscher und mehrere Kammerdiener um das Feuer; die Abigails waren vermutlich oben bei ihren Gebieterinnen; die neuen Dienstboten, welche aus Millcote gemietet waren, liefen und arbeiteten überall umher. Mich durch dieses Chaos durchwindend, erreichte ich endlich die Speisekammer; dort nahm ich Besitz von einem kalten Huhn, einem Weißbrot, einigen kleinen Torten, zwei Tellern und einigen Messern und Gabeln. Mit dieser Beute trat ich eilig den Rückzug an. Ich hatte die Galerie schon wieder erreicht und schloß gerade die Hinterthür, als ein zunehmendes Stimmengemurmel mir verkündete, daß die Damen im Begriffe waren, ihre Zimmer zu verlassen. Ich konnte nicht in das Schulzimmer gelangen, ohne an einigen ihrer Thüren vorüberzugehen und somit entdeckt zu werden, wie ich mein Cargo von Lebensmitteln beiseite schaffte; so blieb [259] ich denn an diesem Ende des Ganges stehen, der keine Fenster hatte und folglich dunkel war; um diese Zeit schon vollständig dunkel, denn die Sonne war bereits untergegangen und die Dämmerung sank herab.

In diesem Augenblick traten die schönen Bewohnerinnen eine nach der anderen aus ihren Zimmern; jede einzelne kam fröhlich und lustig heraus in einer Toilette, die hell durch die Dunkelheit leuchtete. Während eines Augenblicks standen sie in einer Gruppe zusammen am äußersten Ende der Galerie und sprachen in Tönen süßer und unterdrückter Lebhaftigkeit; dann schwebten sie geräuschlos die Treppe hinunter wie helle Nebel den Berg hinunterrollen. Ihre Gesamterscheinung hatte mir den Eindruck der vornehmsten Eleganz gemacht; einen Eindruck, den ich nie zuvor empfangen.

Ich fand Adele, wie sie durch die Thür des Schulzimmers, die sie halb geöffnet hielt, blickte. »Welche schönen Damen!« rief sie auf englisch. »Ach, ich wollte, ich könnte zu ihnen gehen! Glauben Sie, daß Mr. Rochester uns nach dem Mittagessen holen lassen wird?«

»Nein, das glaube ich in der That nicht. Mr. Rochester hat an andere Dinge zu denken. Kümmere dich heute Abend nicht mehr um die Damen; vielleicht wirst du sie morgen sehen; hier ist dein Mittagessen.«

Sie war wirklich hungrig, daher dienten das Hühnchen und die Torten dazu, ihre Aufmerksamkeit für eine Weile abzulenken. Es war ein Glück, daß ich diesen Vorrat in Sicherheit gebracht hatte; sonst hätten sie, ich und Sophie, welcher ich einen Teil unserer Mahlzeit gebracht hatte, aller Wahrscheinlichkeit nach gar kein Mittagessen bekommen. Unten waren alle zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt, um an uns denken zu können. Das Dessert wurde erst nach neun Uhr hineingetragen, und um zehn Uhr liefen die Diener noch hin und her mit Speisebrettern und Kaffeetassen. Ich erlaubte Adele viel länger als gewöhnlich aufzubleiben; [260] denn sie erklärte, daß sie unmöglich einschlafen könne, wenn die Leute so hin- und herliefen, und die Thüren fortwährend geöffnet und geschlossen würden. Außerdem, fügte sie hinzu, könne Mr. Rochester sie möglicherweise doch noch holen lassen, und alors quel dommage! (wie schade alsdann) wenn sie schon ausgezogen wäre!

So lange sie mir zuhören wollte, erzählte ich ihr Geschichten, und dann führte ich sie der Abwechselung wegen in die Galerie hinaus. Jetzt war die Lampe in der Vorhalle angezündet, und es amüsierte sie, über die Balustrade hinab die Diener hin- und herlaufen zu sehen. Sehr spät am Abend ertönte Musik aus dem Salon, in welchen das Piano gestellt worden war. Adele und ich setzten uns auf die oberen Stufen der Treppe, um zu horchen. Plötzlich mischte sich der Klang einer vollen Stimme mit den Tönen des Klaviers; es war eine Dame, die sang und ihre Stimme war süß und weich. Als das Solo zu Ende war, folgte ein Duett, und dann ein Scherzgesang; ein fröhliches Summen der Unterhaltung füllte die Zwischenpausen aus. Lange horchte ich. Plötzlich entdeckte ich dann, daß mein Ohr sich anstrengte, um die verschiedenen Töne zu analysieren, aus dem Gewirr der Stimmen diejenige Mr. Rochesters herauszuhören; als ihm dies gar bald gelungen, machte es sich wieder an die Aufgabe, die Laute, welche durch die Entfernung undeutlich wurden, in Worte zu setzen.

Es schlug elf Uhr. Ich blickte auf Adele, die ihren Kopf an meine Schultern gelehnt hatte; ihre Augenlider wurden schwer, deshalb nahm ich sie in meine Arme und trug sie ins Bett. Es war fast ein Uhr, als die Herren und Damen sich in ihre Zimmer begaben.

Der folgende Tag war ebenso schön wie sein Vorgänger. Der größte Teil der Gesellschaft benutzte ihn dazu, um eine prächtige Aussicht in der Nachbarschaft aufzusuchen. Früh am Vormittag machten sie sich auf den Weg, einige zu Pferd, die meisten zu Wagen. Ich sah sowohl die Abfahrt wie [261] die Wiederkehr. Wie Tags zuvor war Miß Ingram wieder die einzige Reiterin, und wie Tags zuvor ritt Mr. Rochester wieder an ihrer Seite. Beide hatten sich von den übrigen getrennt. Ich machte Mrs. Fairfax, welche ebenfalls am Fenster stand, auf diesen Umstand aufmerksam.

»Sie sagten, es sei nicht wahrscheinlich, daß diese beiden an eine Heirat denken würden,« sagte ich, »aber wie Sie sehen, zieht er sie augenscheinlich allen anderen Damen vor.«

»Das ist wohl möglich. Ohne Zweifel bewundert er sie.«

»Und sie ihn,« fügte ich hinzu; »sehen Sie nur, wie sie ihren Kopf zu ihm neigt, als wenn sie vertraulich mit ihm spräche. Ich möchte ihr Gesicht so gern sehen; bis jetzt ist es mir nicht gelungen, einen Schimmer von ihr zu erhaschen.«

»Sie werden sie heute Abend sehen,« antwortete Mrs. Fairfax. »Zufällig bemerkte ich Mr. Rochester gegenüber, wie sehr Adele wünscht, den Damen vorgestellt zu werden, und da sagte er: ›O! lassen Sie sie nach dem Mittagessen in den Salon kommen, und bitten Sie Miß Eyre sie zu begleiten.‹«

»Ja – er sagte das nur so aus Höflichkeit: gewiß, ich brauche nicht zu gehen,« antwortete ich.

»Nun – ich bemerkte ihm, daß ich kaum glaube, es sei Ihnen angenehm, vor einer so lustigen Gesellschaft zu erscheinen – noch dazu lauter Fremde – weil Sie so wenig daran gewöhnt seien, unter Menschen zu gehen. Da antwortete er mir in seiner raschen Weise: ›Unsinn! Wenn sie Einwendungen macht, so sagen Sie ihr, daß es mein ganz besonderer Wunsch ist; und wenn sie dann noch widerspricht, so sagen Sie nur, daß ich kommen werde, sie im Falle des Ausbleibens zu holen.‹«

»Die Mühe werde ich ihm nicht machen,« entgegnete ich. »Wenn es nicht anders geht, so werde ich erscheinen; aber es macht mir durchaus keine Freude. Werden Sie auch dort sein, Mrs. Fairfax?«

[262] »Nein, ich entschuldigte mich, und er nahm meine Entschuldigung an. Ich werde Ihnen sagen, wie Sie es anzufangen haben, um ein förmliches Eintreten zu vermeiden, denn das ist das Unangenehmste bei der ganzen Sache. Sie müssen in den Salon gehen, während er leer ist und die Damen die Tafel noch nicht verlassen haben. Wählen Sie Ihren Platz in irgend einem stillen Winkel, der Ihnen gefällt, und wenn es Ihnen nicht angenehm ist, brauchen Sie ja nicht mehr lange zu bleiben, nachdem die Herren hineinkommen. Wenn Mr. Rochester nur gesehen hat, daß Sie da sind, können Sie ja gleich fortschlüpfen – niemand wird Sie bemerken.«

»Glauben Sie, daß diese Leute lange hier bleiben?«

»Vielleicht zwei oder drei Wochen; gewiß nicht länger. Nach den Osterferien muß Sir George Lynn, der vor kurzem als Parlamentsmitglied für Millcote gewählt worden ist, nach London gehen, um seinen Sitz einzunehmen. Es wundert mich, daß er seinen Aufenthalt in Thornfield-Hall schon so lang ausgedehnt hat. Vermutlich wird Mr. Rochester ihn hinaufbegleiten.«

Mit einigem Zittern und Zagen sah ich die Stunde sich nahen, in welcher ich mich mit meiner Pflegebefohlenen in den Salon hinunter begeben sollte. Adele war während des ganzen Tages in einem Zustande der größten Erregung gewesen, nachdem sie gehört hatte, daß sie am Abend den Damen vorgestellt werden sollte; und erst als Sophie mit der Operation des Anziehens anfing, begann sie, sich ein wenig zu beruhigen. Dann nahm die Wichtigkeit des Prozesses sie bald gänzlich in Anspruch, und als sie dann endlich ihr Haar in glänzenden, tief herabwallenden Locken geordnet sah, ihr rosa Atlaskleid angelegt hatte, ihre lange Schärpe geknüpft und die zarten Spitzenhandschuhe angezogen hatte, sah sie so ernst aus wie ein Richter. Es bedurfte nicht der Ermahnung, ihre Toilette nicht in Unordnung zu bringen; als sie angekleidet war, setzte sie [263] sich ernst und behutsam auf ihren kleinen Stuhl, vorher nahm sie aber sorgfältig ihr Atlasröckchen auf aus Furcht, ihn zu zerdrücken, und dann versicherte sie mich, daß sie sich nicht rühren werde, bevor ich bereit sei. Das war ich allerdings schnell: mein bestes Kleid – das silbergraue, das ich für Miß Temples Hochzeit gekauft und seitdem niemals wieder getragen hatte – war bald angelegt; mein Haar zu ordnen nahm wenig Zeit in Anspruch, dann nahm ich noch den einzigen Schmuckgegenstand, welchen ich besaß, die Perlenbrosche. Und nun gingen wir hinunter.

Glücklicherweise gab es noch einen anderen Eingang in den Salon als jenen durch den Speisesaal, in welchem alle Gäste beim Diner saßen. Wir fanden das Gemach leer; in dem Marmorkamin brannte ein großes Feuer, zwischen den seltenen, duftenden Blumen, mit welchen die Tische geschmückt waren, leuchteten Wachskerzen in fröhlicher Einsamkeit. Der feuerrote Vorhang wallte vor dem hohen Thürbogen herab; wie leicht auch die Draperie sein mochte, die uns von der Gesellschaft im anstoßenden Saale trennte, so drang von ihrer Konversation doch nichts zu uns heraus als ein ruhiges, halblautes Murmeln.

Adele, die noch unter dem Einflusse eines feierlichen Eindrucks zu stehen schien, setzte sich ohne zu sprechen auf den Fußschemel, den ich ihr bezeichnete. Ich zog mich in eine Fenstervertiefung zurück, nahm ein Buch vom nächsten Tische und bemühte mich zu lesen. Adele brachte ihren Schemel und setzte sich mir zu Füßen; nach kurzer Weile berührte sie mein Knie.

»Was willst du, Adele?«

»Est-ce-que je ne puis pas prendre une seule de ces fleurs magnifiques, Mademoiselle? Seulement pour compléter ma toilette?« 4

[264] »Du denkst viel zu viel an deine Toilette, Adele! aber ich will dir trotzdem eine Blume geben.« Und ich nahm eine Rose aus einer der Vasen und steckte sie in ihre Schärpe. Sie stieß einen Seufzer unendlicher Befriedigung aus, als wenn der Becher ihres Glückes jetzt voll wäre. Ich wandte das Gesicht ab, um ein Lächeln zu verbergen, das ich nicht unterdrücken konnte. Es lag etwas komisches und doch wiederum trauriges in dem Ernst und der wirklichen Hingebung, mit welcher die kleine Pariserin die Angelegenheit ihrer Toilette behandelte.

Jetzt vernahm man das Geräusch des Zurückschiebens der Stühle; der Vorhang vor dem Thürbogen wurde zurückgezogen; das Innere des Speisesaals wurde sichtbar; der Kronleuchter sandte sein Licht auf eine Tafel herab, auf welcher schweres, prächtiges Silber- und funkelndes Glasservice in malerischer Unordnung durcheinander standen; unter der Wölbung des Bogens stand eine Gesellschaft von Damen; sie traten ein, und der Vorhang fiel wieder hinter ihnen.

Es waren ihrer nur acht; als sie jedoch ins Zimmer rauschten, schien es, als wären sie in weit größerer Anzahl. Einige von ihnen waren sehr groß, viele von ihnen trugen weiße Toiletten, und alle waren von einem Faltenreichtum umgeben, der ihre Gestalten zu vergrößern schien, wie ein Nebelhof den Mond vergrößert. Ich erhob mich und verneigte mich vor ihnen; eine oder zwei nickten als Erwiderung mit dem Kopfe; die andern starrten mich nur an.

Sie zerstreuten sich im Zimmer; in der Leichtigkeit und Lebhaftigkeit ihrer Bewegungen erinnerten sie mich an einen großen Schwarm weißer Vögel. Einige warfen sich in halbliegender Stellung auf die Sofas und Ottomanen; einige beugten sich über die Tische und besahen die Blumen und Bücher; die übrigen sammelten sich in einer Gruppe um den Kamin, alle sprachen in leisem, klarem Ton, der [265] ihnen eigen zu sein schien. Später erfuhr ich ihre Namen, die ich ebenso gut schon an dieser Stelle nennen kann.

Vor allen Dingen war also Mrs. Eshton mit ihren beiden Töchtern da. Augenscheinlich war sie einst eine sehr schöne Frau gewesen, die sich noch jetzt wohl konserviert hatte. Von ihren Töchtern war die älteste, Amy, ziemlich klein, naiv und kindlich in Gesicht und Manieren, pikant in den Formen; ihr weißes Muslinkleid und die blaue Schärpe kleideten sie sehr gut. Die zweite, Louisa, war größer und eleganter von Figur; mit einem sehr hübschen Gesicht von jenem Typus, den die Franzosen »minois chiffonné« nennen; beide Schwestern waren weiß wie die Lilien.

Lady Lynn war eine große und starke Person von ungefähr vierzig Jahren; sehr gerade, sehr hochmütig aussehend, prächtig gekleidet in eine Robe von changeant farbigem Atlas; ihr dunkles Haar glänzte unter den Schatten einer azurfarbenen Feder, ein Reif von Diamanten schlang sich durch die Flechten.

Frau Oberst Dent war weniger auffallend, aber sie schien mir mehr lady-like. Sie war von schlanker Gestalt, hatte ein bleiches, sanftes Gesicht und blondes Haar. Ihr schwarzes Atlaskleid, ihre Schärpe von ausländischen Spitzen und ihr Perlenschmuck gefielen mir besser als die regenbogenartige Pracht der titelreichen Dame.

Aber die drei distinguiertesten Damen – teilweise vielleicht auch, weil sie die größten Gestalten der Gesellschaft – waren die verwitwete Lady Ingram und ihre beiden Töchter Blanche und Mary. Es waren die drei größten Frauengestalten, die ich jemals gesehen. Die Mutter mochte zwischen vierzig und fünfzig sein; ihr Haar war – bei Kerzenlicht wenigstens – noch immer schwarz; auch ihre Zähne waren scheinbar ganz fehlerlos. Die meisten Leute würden sie noch immer eine schöne Frau für ihr Alter genannt haben, und das war sie auch ohne Zweifel, wenn man nur [266] von ihrem Äußeren sprach; aber in ihrer Haltung und ihrem Gesichtsausdruck lag etwas unerträglich hochmütiges. Sie hatte römische Gesichtszüge und ein Doppelkinn, das in einem Halse verschwand, der stark war wie eine Säule; diese Züge schienen mir nicht nur verdunkelt und verflacht, sondern sogar durchfurcht von Stolz. Das Kinn stützte sich auf dasselbe Prinzip und zwar in einer Lage, die in ihrer Aufrechtstellung fast übernatürlich erschien. Sie hatte ebenfalls ein hartes und trotziges Auge; es erinnerte mich an dasjenige Mrs. Reeds; sie kaute ihre Worte beim Sprechen; ihre Stimme war tief, ihre Modulation sehr volltönend, sehr dogmatisch – kurzum, ganz unerträglich. Eine feuerrote Samtrobe und ein Turban, der aus einem golddurchwirkten indischen Shawl gewunden war, bekleidete sie – wie sie selbst vermutlich glaubte – mit einer wahrhaft königlichen Würde.

Blanche und Mary hatten dieselbe Figur – schlank und gerade wie Pappeln. Mary war zu mager für ihre Höhe; aber Blanche war gewachsen wie eine Diana. Ich betrachtete sie natürlich mit ganz besonderem Interesse. Erstens wünschte ich zu sehen, ob ihre Erscheinung mit Mrs. Fairfax' Beschreibung übereinstimmte; zweitens, ob sie überhaupt dem Fantasie-Miniaturbildchen ähnlich sei, welches ich von ihr gemalt hatte; und drittens – es muß heraus! – ob sie so sei, wie ich glaubte, daß sie sein müsse, um Mr. Rochesters Geschmack zu entsprechen.

So weit es ihre äußere Erscheinung betraf, glich sie Punkt für Punkt sowohl meinem Bilde wie Mrs. Fairfax' Beschreibung. Die edle Büste – die herrlichen Schultern – der graziöse Nacken, die dunklen Augen und die schwarzen Locken: alles war da – aber ihr Gesicht? – Ihr Gesicht war dem ihrer Mutter ähnlich, eine jugendliche Ähnlichkeit ohne Falten und Runzeln – dieselbe niedere Stirn, dieselben großen Züge, derselbe Stolz. Es war indessen nicht ein so strenger Stolz, sie lachte unaufhörlich; ihr Lachen [267] war satyrisch, und das war auch der gewöhnliche Ausdruck ihrer geschwungenen, hochmütigen Oberlippe.

Man sagt, daß das Genie selbstbewußt sei: ich weiß nicht, ob Miß Ingram ein Genie war, aber sie war selbstbewußt – ungewöhnlich selbstbewußt in der That. Sie begann mit der sanften Mrs. Dent ein Gespräch über Botanik. Es scheint, daß Mrs. Dent diese Wissenschaft nicht studiert hatte, obgleich sie, wie sie sagte, die Blumen liebte, »besonders die Wald- und Feldblumen;« Miß Ingram war indessen in dies Studium eingedrungen und mit einer Kennermiene ging sie das ganze Inhaltsverzeichnis durch. Ich merkte sofort, daß sie (was man im vaterländischen Dialekt so nennt) ein Treibjagen mit Mrs. Dent an stellte, das heißt über ihre Unwissenheit spottete. Dieses Treibjagen mochte geistreich sein, aber entschieden war es nicht gutmütig. Sie spielte: ihre Technik war brillant; sie sang: ihre Stimme war prächtig; sie sprach beiseite französisch mit ihrer Mama, und sie sprach es gut, fließend und mit trefflichem Accent.

Mary hatte ein milderes und offenherzigeres Gesicht als Blanche; ihre Züge waren auch sanfter, ihre Haut um einige Nüancen heller, (Miß Ingram war dunkel wie eine Spanierin) – aber Mary mangelte der Ausdruck, ihr Gesicht hatte keine Lebendigkeit, ihr Auge keinen Glanz; sie wußte nichts zu sagen, und wenn sie einmal ihren Sitz eingenommen hatte, blieb sie ruhig wie eine Statue in ihrer Nische. Die Schwestern waren beide in fleckenloses Weiß gekleidet.

Und glaubte ich nun wirklich, daß Miß Ingram die Wahl sei, welche Mr. Rochester möglicherweise treffen würde? Ich wußte es selbst nicht – ich kannte ja seinen Geschmack in Bezug auf weibliche Schönheit nicht. Wenn er das Majestätische liebte, so war sie der Typus der Majestät; außerdem war sie hochgebildet, unterrichtet, lebhaft. Die Mehrzahl der Männer mußte sie bewundern, wie ich meinte, [268] und daß er sie bewunderte, dafür glaubte ich bereits Beweise zu haben. Um den letzten Schatten eines Zweifels zu entfernen, blieb mir nur noch übrig, beide zusammen zu sehen.

Du darfst nicht glauben, lieber Leser, daß Adele während all dieser Zeit bewegungslos auf ihrem Schemel zu meinen Füßen ausgeharrt hat; nein, als die Damen eintraten, erhob sie sich, ging ihnen entgegen, machte eine stattliche Verbeugung und sagte mit dem größten Ernst:

»Bonjour, mesdames.«

Und Miß Ingram hatte mit spöttischer Miene auf sie niedergeblickt und ausgerufen: »O, welch eine kleine Drahtpuppe!«

Lady Lynn hatte bemerkt: »Vermutlich ist es Mr. Rochesters Mündel – das kleine französische Mädchen, von dem er uns gesprochen hat.«

Mrs. Dent hatte sie freundlich bei der Hand genommen und ihr einen Kuß gegeben. Amy und Louisa Eshton hatten gleichzeitig ausgerufen:

»Welch ein reizendes Kind!«

Und dann hatten sie sie auf ein Sofa genommen, wo sie jetzt saß, von beiden eingeschlossen, und abwechselnd Französisch und gebrochenes Englisch sprach. Sie nahm nicht allein die Aufmerksamkeit der jungen Damen, sondern auch jene von Mrs. Eshton und Lady Lynn in Anspruch und wurde nach Herzenslust verzogen.

Endlich wurde der Kaffee gebracht, und man rief die Herren. Ich sitze im Schatten, wenn es in einem strahlend erleuchteten Zimmer überhaupt einen Schatten giebt; der Fenstervorhang verbirgt mich zur Hälfte. Wiederum gähnt der weite Thürbogen: sie kommen. Der kollektive Eintritt der Herren ist sehr imposant, wie jener der Damen. Sie sind alle in schwarz gekleidet; die meisten von ihnen sind groß, einige jung. Henry und Frederick Lynn sind in der That sehr elegante Stutzer. Und Oberst Dent ist ein [269] schöner, militärisch aussehender Mann. Mr. Eshton, der Magistratsbeamte des Distrikts, ist sehr gentleman-like; sein Haar ist ganz weiß, seine Augenbrauen und der Bart sind noch dunkel; das giebt ihm etwas von dem Aussehen eines père noble vom Theater. Lord Ingram ist groß wie seine Schwestern, wie sie ist er ebenfalls schön, aber er hat den apathischen, leblosen Blick Marys, er scheint längere Gliedmaßen als Lebendigkeit des Bluts oder Kraft des Gehirns zu haben.

Und wo ist Mr. Rochester?

Endlich tritt auch er ein. Ich blicke nicht nach dem Thürbogen hin, aber ich sehe ihn eintreten. Ich versuche, meine Aufmerksamkeit auf diese Stricknadeln, auf die Maschen der Börse, die ich stricke, zu lenken – ich will nur an die Arbeit denken, die ich in Händen habe, nur auf die Silberperlen und Seidenfäden sehen, die auf meinem Schoße liegen – aber ich sehe so deutlich seine Gestalt und unwillkürlich rufe ich den Augenblick in mein Gedächtnis zurück, wo ich ihn zuletzt sah: gleich nachdem ich ihm einen Dienst erwiesen hatte, den er bedeutsam zu nennen beliebt hatte – und er meine Hand haltend, auf mein Gesicht blickend, mich mit Augen musterte, die ein Herz verrieten, das zum Überfließen voll war – und an dieser Rührung hatte ich einen Anteil! Wie nahe war ich ihm in jenem Augenblick gewesen! Was war inzwischen geschehen, das unsere gegenseitige Stellung ändern konnte? Und jetzt, wie fremd, wie fern waren wir einander! So fremd, daß ich nicht einmal mehr erwartete, daß er zu mir kommen und mit mir sprechen würde. Ich wunderte mich also nicht, daß er, ohne mich anzusehen, am andern Ende des Zimmers einen Stuhl nahm und mit einigen Damen ein Gespräch begann.

Kaum hatte ich bemerkt, daß seine Aufmerksamkeit auf diese gelenkt war und ich ihn ansehen konnte, ohne daß es bemerkt wurde, heftete ich meine Augen auf sein Gesicht. [270] Ich konnte ihre Lider nicht unter Kontrolle halten: sie wollten sich heben, und ihre Iris wollte auf ihm haften. Ich blickte ihn an und fand eine innige Freude am Anblick, eine köstliche, eine schmerzliche Freude; reines Gold mit einer tödlichen Spitze von Stahl; eine Freude, jener ähnlich die ein verdurstender Mensch empfindet, der da weiß, daß der Brunnen, zu welchem er gekrochen, vergiftet ist, und doch sich niederbeugt und den tödlichen Trunk trinkt.

Wie wahr ist es, daß »die Schönheit im Auge des Beschauers liegt.« Das farblose, olivenfarbene Gesicht meines Gebieters, seine eckige, massive Stirn, seine breiten, rabenschwarzen Augenbrauen, seine dunklen Augen, die starken Züge, sein fester, strenger Mund – alles Energie, Entschlossenheit und Willen – sie waren nicht schön nach allen Regeln der Schönheit; aber für mich waren sie mehr als schön; die Züge waren interessant, ein Einfluß, der mich gänzlich übermannt hatte, der meine Gefühle meiner eigenen Macht entwand und sie der seinen unterordnete. Ich hatte nicht die Absicht, ihn zu lieben; der Leser weiß, daß ich alles versucht hatte, die Keime dieser Liebe aus meiner Seele zu reißen, sobald ich sie entdeckt hatte; und jetzt, wo ich ihn zum erstenmale wiedersah, lebten sie sofort frisch und stark und neu wieder auf! Ohne daß er mich ansah, machte er, daß ich ihn lieben mußte.

Ich verglich ihn mit seinen Gästen. Was war die tapfere Grazie der Lynns, die schmachtende Eleganz Lord Ingrams – sogar die militärische Distinktion Oberst Dents, im Vergleich zu der inneren Kraft und angeborenen Macht, welche aus seinen Blicken sprach? Mit ihrem Ausdruck, ihrer Erscheinung hatte ich keine Sympathie – und doch konnte ich mir vorstellen, daß es Leute gäbe, welche sie anziehend, schön, imposant finden mußten, während sie Mr. Rochester sofort unschön und melancholisch aussehend erklären würden. Ich sah sie lächeln, lachen – es war[271] nichts; das Licht der Kerzen hatte mehr Seele in sich, als ihr Lächeln; das Klingen der Schellen ebensoviel Bedeutung als ihr Lachen. Ich sah Mr. Rochester lächeln: – seine harten Züge wurden weich, sein Auge wurde glänzend und sanft, sein Strahl süß und bis ins Herz dringend. In diesem Augenblick sprach er mit Louise und Amy Eshton. Es setzte mich in Erstaunen zu sehen, mit welcher Ruhe sie den Blick auffingen, der mir so durchdringend erschien; ich erwartete, daß ihre Augen sich senken würden, daß ihre Farbe kommen und gehen würde – und doch war ich glücklich, als ich sah, daß sie in keiner Weise bewegt waren. »Er ist für sie nicht, was er für mich ist,« dachte ich, »er ist nicht ihres Gleichen. Ich glaube, er ist von meiner Art – ich bin dessen gewiß – ich fühle mich ihm verwandt – ich verstehe die Sprache seiner Bewegungen, seiner Gesichtszüge; wenn auch Rang und Reichtum eine weite Kluft zwischen uns bilden, so habe ich etwas in meinem Hirn und Herzen, in meinem Blut und meinen Nerven, das mich ihm geistig gleich stellt. Habe ich noch vor wenigen Tagen gesagt, daß ich nichts weiter mit ihm zu thun habe, als meinen Lohn ans seinen Händen zu empfangen? Habe ich mir untersagt, ihn in einem andern Lichte zu sehen, als in dem meines Zahlmeisters? Blasphemie gegen die Natur! Jedes gute, wahre, mächtige Gefühl, das mir innewohnt, sammelt sich um ihn. Ich weiß, daß ich meine Empfindungen verbergen muß, daß ich alle Hoffnung ertöten muß; ich darf nicht vergessen, daß er nur wenig Intresse für mich hegen kann. Denn wenn ich sage, daß ich von seiner Art bin, so meine ich nicht, daß ich seine Kraft des Einflusses besitze und seinen Zauber der Anziehungskraft. Ich will nur sagen, daß ich gewisse Ansichten und Gefühle mit ihm gemein habe. Und ich muß fortwährend wiederholen, daß wir für ewig getrennt sind: – und doch, so lange ich atme und denke, so lang muß ich ihn lieben.«

[272] Der Kaffee wird umhergereicht. Seitdem die Herren ins Zimmer getreten, sind die Damen lebhaft wie die Lerchen geworden, die Konversation wird lustig und angeregt. Oberst Dent und Mr. Eshton sprechen über Politik, ihre Frauen hören ihnen zu. Die beiden stolzen Witwen, Lady Lynn und Lady Ingram fabulieren miteinander. Sir George – den ich nebenbei zu beschreiben vergessen habe – ein sehr großer und blühend aussehender Landedelmann steht vor ihrem Sofa mit der Tasse in der Hand und läßt gelegentlich ein Wort in die Konversation einfließen. Mr. Frederick Lynn hat neben Mary Ingram Platz genommen und erklärt ihr die Kupferstiche eines prächtigen Werkes; sie horcht mit Aufmerksamkeit, lächelt dann und wann, spricht aber augenscheinlich sehr wenig. Der große und phlegmatische Lord Ingram lehnt mit verschränkten Armen auf der Rücklehne des Stuhls, auf welchem die kleine, lebhafte Amy Eshton Platz genommen hat; sie blickt zu ihm auf und plaudert wie ein Zaunkönig; sie mag ihn lieber als Mr. Rochester. Henry Lynn hat zu Louisas Füßen auf einer Ottomane Platz genommen; Adele teilt sie mit ihm; er versucht, mit ihr französisch zu sprechen, und Louisa lacht über seine Ungeschicktheit und Tölpeleien. Zu wem wird Blanche Ingram sich gesellen? Sie steht allein am Tische und beugt sich voll Grazie über ein Album. Es scheint, daß sie darauf wartet, gesucht zu werden; aber zu lange wird sie nicht warten; sie selbst wählt einen Gefährten.

Mr. Rochester steht, nachdem er die Eshtons verlassen, ebenso einsam am Kamin, wie sie am Tische; sie stellt sich ihm gegenüber, indem sie den Platz an der andern Seite des Kaminsimses einnimmt.

»Mr. Rochester, ich glaubte, daß Sie kein Freund von Kindern seien!«

»Das bin ich auch nicht.«

»Wie ist es denn gekommen, daß Sie sich solch einer [273] kleinen Puppe, wie jene dort, annehmen konnten?« Damit zeigte sie auf Adele. »Wo haben Sie sie gefunden?«

»Ich habe sie nicht gefunden. Sie wurde mir hinter lassen.«

»Sie hätten sie in die Schule schicken sollen.«

»Das konnte ich nicht erschwingen. Schulen sind so teuer.«

»Nun, ich vermute, daß Sie eine Gouvernante für sie genommen haben. Soeben habe ich eine Person mit ihr gesehen – ist sie nicht mehr da? O, nein, da sitzt sie ja hinter dem Fenstervorhang. Sie müssen ihr doch wahrscheinlich auch Lohn zahlen, und ich glaube, das ist ebenso teuer und noch teurer. Sie müssen da ja beiden zu essen und zu trinken geben.«

Ich fürchtete, – oder soll ich sagen, ich hoffte, daß die Erwähnung meiner Person Mr. Rochesters Blicke nach jener Richtung lenken würden, wo ich saß, und unwillkürlich zog ich mich tiefer in den Schatten zurück, – aber er wandte sich nicht um.

»Ich habe die Sache nicht überlegt,« sagte er gleichgiltig und blickte gerade vor sich hin.

»Nein, ihr Männer überlegt niemals, was ökonomisch und was vernünftig ist. Sie sollten Mama über das Kapitel der Gouvernanten hören. Ich glaube, Mary und ich haben zu unserer Zeit mindestens ein Dutzend gehabt; die Hälfte von ihnen waren abscheulich, die übrigen nur lächerlich, und alle miteinander unerträglich – nicht wahr, Mama?«

»Sprachst du zu mir, mein einziges Kind?«

Die junge Dame, welche auf diese Weise als das ganz besondere Besitztum der Witwe-Mutter bezeichnet wurde, wiederholte ihre Frage mit einer Erklärung.

»Mein teures Kind, sprich nur nicht von Gouvernanten; das Wort allein macht mich schon nervös. Ihre Unwissenheit und Launen legten mir ein Märtyrertum auf. [274] Ich danke Gott täglich, daß ich endlich mit ihnen fertig bin!«

Hier neigte Mrs. Dent sich zu der frommen Dame hinüber und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Aus der Antwort, welche erfolgte, schloß ich, daß sie sie an die Anwesenheit einer aus der geächteten Race erinnerte.

»Tant pis!« sagte die Lady, »ich hoffe, daß es ihr nützlich sein wird!« Dann fügte sie leise hinzu, aber immer noch laut genug, um von mir gehört zu werden, »ich habe sie sehr wohl bemerkt; ich bin eine Beurteilerin von Physiognomien und in der ihren sehe ich alle Fehler ihrer Klasse.«

»Und welches sind diese, Madame?« fragte Mr. Rochester laut.

»Das werde ich Ihnen leise ins Ohr sagen,« entgegnete sie und wackelte dreimal mit ihrem Turban bedeutsam und vielsagend hin und her.

»Meine Neugierde möchte aber gern gleich befriedigt sein; sie ist ganz ausgehungert.«

»Fragen Sie, Blanche; sie ist Ihnen näher als ich.«

»O Mama, weise ihn nicht an mich! Ich habe nur ein einziges Wort für den ganzen Stamm! Sie sind einfach eine Plage! Ein notwendiges Übel! Nicht, daß ich selbst jemals viel von ihnen gelitten hätte! Nein, ich trug stets Sorge, den Spieß zu wenden. Welche Streiche Theodor und ich unseren Miß Wilsons, und Mrs. Greys, und Madame Jouberts zu spielen pflegten! Mary war stets zu schläfrig, um mit ganzer Seele an unseren Verschwörungen teilzunehmen. Den besten Spaß hatten wir mit Madame Joubert. Miß Wilson war ein armes, kränkliches, trauriges, weinerliches Ding, kurz und gut, es verlohnte gar nicht der Mühe, bei ihr zu siegen; und Mrs. Gray war roh und unempfindlich, sie spürte keinen Schlag. Aber die arme Madame Joubert! Ich sehe sie noch in ihrer tobenden Leidenschaft, wenn wir sie zum äußersten getrieben [275] hatten – sie vergoß unseren Thee, zerbröckelte unsere Butterbrote, warf unsere Bücher bis zur Decke empor und machte ein buntes Durcheinander mit dem Lineal und dem Schreibpult, dem Kamingitter und der Feuerzange. Theodor, denkst du noch an jene fröhlichen Tage?«

»Ja, gewiß thue ich das,« schnarrte Lord Ingram, »und der arme alte Krüppel pflegte auszurufen: ›O, Ihre schlechte, böse Kindern!‹ – und dann predigten wir ihr wieder, wie vermessen sie sei, solche klugen Wesen, wie wir waren, belehren zu wollen, wenn sie selbst doch so unwissend sei.«

»Ja, das thaten wir! und Theodor, weißt du noch, wie ich dir immer half, deinen Hofmeister, den blassen, grauen Mr. Vining zu peinigen und zu verfolgen? Den kranken Zukunftspastor, wie wir ihn nannten? Er und Miß Wilson nahmen sich die Freiheit, sich ineinander zu verlieben – wenigstens bildeten Theodor und ich uns das ein; wir fingen verschiedene zärtliche Blicke und Seufzer auf, die wir als Anzeichen der›belle passion‹ deuteten. Und ich kann Sie versichern, das Publikum profitierte gar bald von unserer Entdeckung; wir brauchten sie wie eine Art Krahn, um unseren Ballast aus dem Hause herauszuhissen. Meine gute Mama dort, sobald sie einen Wink von der Geschichte bekommen hatte, fand bald heraus, daß die Sache eine unmoralische Tendenz hatte. Nicht wahr, meine süße Lady-Mutter?«

»Gewiß, meine Beste. Und ich hatte auch recht. Verlassen Sie sich darauf. Es giebt tausend Gründe, weshalb eine liaison zwischen der Gouvernante und dem Hofmeister in einem wohlgeregelten Haushalte nicht geduldet werden sollte; erstens also –«

»Um der Barmherzigkeit willen, Mama! Verschone uns mit dem Herzählen der Gründe! Du reste, wir kennen sie ja alle: die Gefahr des schlechten Beispiels für die Unschuld der Jugend; Zerstreuung und darauf folgende Vernachlässigung [276] der Pflichten seitens der Verliebten – gegenseitiges Bündnis und Unterstützung; daraus entspringende Sicherheit – in Begleitung von Frechheit – Empörung, Meuterei und allgemeiner Krach! Habe ich nicht recht, Baronin Ingram von Ingram-Park?«

»Meine reine Lilie, du hast auch jetzt recht, wie immer.«

»Verlieren wir also kein Wort mehr darüber. Sprechen wir von etwas anderem.«

Amy Eshton, die dieses Diktum nicht gehört oder nicht beachtet hatte, fiel in ihrem sanften, kindlichen Tone ein: »Louisa und ich pflegten unsere Gouvernante auch zu quälen, aber sie war ein so liebes, gutes Wesen, sie ertrug alles, nichts konnte ihre gute Laune stören. Sie war niemals böse mit uns, nicht wahr, Louisa? Niemals.«

»Nein, niemals; wir konnten thun, was wir wollten; ihren Nähtisch und ihr Schreibpult durchstöbern und ihre Schiebladen umkramen und das unterste nach oben kehren; und sie war immer gutmütig, sie gab uns alles, was wir verlangten.«

»Ich vermute,« sagte Miß Ingram, indem sie die Lippen sarkastisch verzog, »daß wir jetzt einen Auszug aus den Memoiren aller lebenden und gewesenen Gouvernanten zu hören bekommen. Um einer solchen Heimsuchung zu entgehen, bringe ich noch einmal wieder die Besprechung eines neuen Themas in Anregung. Mr. Rochester, stimmen Sie meinem Vorschlage bei?«

»Madam, ich unterstütze Sie in dieser Hinsicht wie in jeder anderen.«

»Dann möge mir also gestattet sein, damit zu beginnen. Signor Eduardo, sind Sie heute Abend bei Stimme?«

»Donna Bianca, wenn Sie befehlen, werde ich es sein.«

»Dann Signor, hört also meinen königlichen Befehl, Eure Lungen und anderen vokalen Organe herauszuputzen, da sie in meinem königlichen Dienste gebraucht werden.«

[277] »Wer möchte nicht der Rizzio einer solchen göttlichen Maria sein?«

»Was soll mir Rizzio!« rief sie, den Kopf in den Nacken werfend, so daß alle Locken flatterten, als sie ans Klavier ging. »Meine Meinung ist, daß der Fiedler David ein alberner Geselle gewesen sein muß. Mir gefällt Bothwell besser. Ich liebe keinen Mann, der nicht ein wenig vom Teufel in sich hat; und die Geschichte mag von James Hepburn sagen, was sie will – ich bilde mir ein, daß er gerade der wilde, trotzige Banditenheld war, den ich zu heiraten eingewilligt haben würde.«.

»Meine Herren, Sie hören! Wer von Ihnen hat am meisten Ähnlichkeit mit Bothwell?« rief Mr. Rochester.

»Ich möchte fast glauben, daß Sie diesen Vorzug genießen,« antwortete Oberst Dent.

»Bei meiner Ehre, ich bin Ihnen sehr verbunden,« lautete die Antwort.

Miß Ingram, die jetzt mit stolzer Grazie am Klavier Platz genommen hatte und ihre schneeweiße Robe in königlichem Faltenwurf um sich ordnete, begann nun ein brillantes Präludium, indem sie weitersprach. Sie saß an diesem Abend augenscheinlich auf dem hohen Pferde; sowohl ihre Worte wie ihre Miene schienen nicht allein die Bewunderung sondern auch das Erstaunen ihrer Zuhörer herausfordern zu sollen. Augenscheinlich wollte sie einen blendenden, verblüffenden Eindruck auf sie machen.

»Ach, ich bin der jungen Männer von heute so müde!« rief sie aus, indem sie weiter über die Tasten rasselte. »Arme, kranke, verzärtelte Dinger, die nicht imstande sind, einen Schritt über die Pforten von Papas Park hinauszuthun; die ohne Mamas Erlaubnis und Schutz nicht einmal so weit zu gehen wagen! Kreaturen, die durch die Sorge um ihre hübschen Gesichter und ihre weißen Hände und ihre kleinen Füße vollständig in Anspruch genommen werden! Als wenn die Männer überhaupt etwas mit [278] Schönheit zu thun hätten! Als wenn die Lieblichkeit nicht die besondere Prärogative der Frauen wäre – ihre rechtmäßige Apanage und ihr Erbteil! Ich gebe zu, daß ein häßliches Weib ein Flecken auf dem schönen Gesicht der Schöpfung ist. Ein Mann aber soll nur sorgen, daß er Tapferkeit und Mut und Kraft besitzt! Laß ihr Motto sein: Jagd, Kampf, Schlacht!« Das übrige ist nicht der Rede wert. »Das wäre meine Devise, wenn ich ein Mann wäre!«

»Wenn ich mich jemals verheirate,« fuhr sie fort nach einer Pause, die niemand unterbrach, »so bin ich entschlossen, daß mein Gemahl nicht mein Rival, sondern meine Folie sein soll. Ich werde keinen Mitbewerber um die Herrschaft dulden; ich werde ungeteilte Huldigung verlangen. Seine Anbetung darf nicht zwischen mir und der Gestalt, welche er im Spiegel sieht, geteilt werden. Mr. Rochester, singen Sie jetzt, und ich werde Sie begleiten.«

»Ich bin ganz Gehorsam,« lautete die Antwort.

»Hier ist also ein Korsarenlied. Sie müssen wissen, daß ich die Korsaren vergöttere, und deshalb müssen Sie das Lied ›con spirito‹ singen.«

»Ein Befehl von Miß Ingram würde selbst einem Glase Milch und Wasser Begeisterung einflößen.«

»Nehmen Sie sich also in Acht. Wenn Sie nicht nach meinem Geschmack singen, so werde ich Sie beschämen, indem ich Ihnen zeige, wie solche Dinge gesungen werden müssen.«

»Das hieße ja, dem Nichtkönnen eine Prämie aussetzen! Jetzt werde ich mich bemühen, es schlecht zu machen.«

»Gardez-vous-en bien! 5 Wenn Sie absichtlich Fehler machen, so werde ich Ihnen eine passende Strafe diktieren.«

»Miß Ingram sollte barmherzig sein, denn es liegt in ihrer Macht, eine Strafe zu verhängen, welche über menschliche Kraft hinausgeht.«

[279] »Ha! erklären Sie sich,« rief die Dame aus.

»Verzeihen Sie mir! Eine Erklärung ist hier nicht nötig; Ihr eigenes feines Gefühl muß Ihnen sagen, daß ein Stirnrunzeln von Ihnen ein vollständiger Ersatz für die Todesstrafe wäre.«

»Singen Sie!« sagte sie und begann eine lebhafte Begleitung auf dem Klavier zu spielen.

»Jetzt ist meine Zeit gekommen, mich fortzuschleichen,« dachte ich, aber die Töne, welche in diesem Augenblick an mein Ohr schlugen, hielten mich zurück. Mrs. Fairfax hatte gesagt, daß Mr. Rochester eine schöne Stimme besitze. Das war der Fall – ein weicher, kräftiger Baß, in dem seine ganze Kraft, all sein Gefühl lag, der einen Weg durch das Ohr zum Herzen fand und dort ein wunderbar seliges Empfinden weckte. Ich wartete, bis der letzte tiefe, volle Ton ausvibriert – bis die Flut des Gesprächs, die für einen Augenblick zu rauschen aufgehört, in den alten Strom eingelenkt hatte; dann verließ ich meinen verborgenen Winkel und ging durch eine Seitenthür hinaus, die mir glücklicherweise sehr nahe war. Von dieser führte ein schmaler Korridor in die Halle; als ich durch dieselbe schritt, bemerkte ich, daß meine Sandale sich gelöst hatte; ich beugte mich, um sie wieder fest zu binden und stellte meinen Fuß zu diesem Zweck auf den Teppich der Treppe. Da vernahm ich, wie die Thür des Speisezimmers geschlossen wurde; ein Herr trat heraus; hastig richtete ich mich auf und stand ihm von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Es war Mr. Rochester.

»Wie geht es Ihnen?« fragte er.

»Es geht mir sehr gut, Sir.«

»Weshalb kamen Sie im Zimmer nicht, um mit mir zu sprechen?«

Ich dachte, daß ich dieselbe Frage an den hätte richten können, der sie that, aber ich erlaubte mir diese Freiheit nicht. Ich antwortete:

[280] »Ich wollte Sie nicht stören, da Sie vollauf beschäftigt schienen, Sir.«

»Was haben Sie während meiner Abwesenheit gemacht?«

»Nichts besonderes; ich habe Adele unterrichtet wie gewöhnlich.«

»Und sind sehr viel blasser geworden, als Sie waren; das sah ich auf den ersten Blick. Was ist geschehen?«

»Gar nichts, Sir.«

»Haben Sie sich an jenem Abend, als Sie mich bei nahe ertränkten, erkältet?«

»Durchaus nicht.«

»Gehen Sie in den Salon zurück; Sie entfernen sich zu früh.«

»Ich bin müde, Sir.«

Er sah mich einen Augenblick an.

»Und ein wenig traurig,« sagte er. »Was fehlt Ihnen? Sagen Sie es mir.«

»Nichts – nichts, Sir. Ich bin nicht traurig.«

»Aber ich versichere Sie, daß Sie es sind, – so traurig, daß Ihnen die Thränen in die Augen treten würden, wenn ich noch einige Worte spräche – in der That, ich sehe sie dort schon schimmern und glänzen, und jetzt ist eine Perle von dem Augenlid auf die Wange herabgerollt. Wenn ich Zeit hätte und nicht in tödlichster Angst wäre, daß irgend eine Klatschbase von einem Dienstboten hier vorüber kommen könnte, so würde ich bald herausfinden, was dies alles bedeutet. Nun, für heute Abend will ich Sie entschuldigen; aber verstehen Sie wohl, daß ich erwarte, Sie jeden Abend im Salon zu sehen, so lange meine Gäste hier sind. Es ist mein Wunsch; vergessen und vernachlässigen Sie ihn nicht. Jetzt gehen Sie. Schicken Sie Sophie, daß sie Adele holt. Gute Nacht, mein –«

Hier hielt er inne, biß sich auf die Lippen und verließ mich plötzlich.

Fußnoten

1 Sie wechseln die Toilette.

2 Wenn Mama Besuch hatte, folgte ich überall hin, in den Salon, in ihre Zimmer; oft sah ich zu, wie die Kammerjungfern die Damen frisierten und ankleideten, es war so amusant. So lernt man.

3 Aber ja, Fräulein, seit fünf oder sechs Stunden haben wir nichts gegessen.

4 Kann ich nicht eine einzige dieser schönen Blumen nehmen, Fräulein? Nur um meine Toilette zu vervollständigen.

5 Hüten Sie sich wohl!

[281] Achtzehntes Kapitel

Gar fröhlich gingen die Tage in Thornfield-Hall hin, und geschäftige Tage waren es auch. Wie verschieden waren sie von den ersten drei Monaten, die ich dort in Stille und Monotonie und Einsamkeit zugebracht hatte! Alle traurigen Empfindungen schienen aus dem Hause geschwunden, alle traurigen Erinnerungen vergessen; überall war Leben, während des ganzen Tages alles in Bewegung. Durch die einst so stille Galerie, in die Vorderzimmer, die sonst keine Seele bewohnt, konnte niemand gehen, ohne einer zierlichen Kammerjungfer, einem eleganten Kammerdiener zu begegnen.

In der Küche, in der Vorratskammer des Kellermeisters, in der Halle der Dienstboten, in der großen Eintrittshalle, – überall dasselbe Leben; in den Salons war nur Ruhe und Frieden, wenn der blaue Himmel und der halcyonische Sonnenschein des herrlichen Frühlingswetters die Gäste in den Park hinausriefen. Selbst als das schöne Wetter zu Ende war und fortwährender Regen für einige Tage das Regiment hatte, schien das Vergnügen keine Einbuße erlitten zu haben. Die Zerstreuungen im Hause wurden nur noch zahlreicher und lustiger und mannigfaltiger, nachdem den Belustigungen draußen ein Ende gemacht worden war.

Ich hörte mit Erstaunen, wie zum erstenmal eine Abwechselung in den abendlichen Vergnügungen vorgeschlagen wurde; sie sprachen davon »Charadenaufführen« zu wollen, aber in meiner Unwissenheit verstand ich den Ausdruck nicht. Die Diener wurden hereingerufen, die Speisetische beiseite gerollt, die Kerzen und Girandoles anders plaziert, die Stühle dem Thürbogen gegenüber in einem Halbkreise aufgestellt. Während Mr. Rochester und die anderen Herren diese Veränderungen anordneten, liefen die Damen treppauf, treppab, und riefen nach ihren Kammerjungfern. Mrs. Fairfax wurde herbeigerufen, um Auskunft zu geben über [282] die Hilfsquellen, welche das Haus an Shawls, Kleidern und Draperien aller Art zu bieten vermochte; im dritten Stockwerk wurden gewisse Garderoben durchsucht, und die Abigails brachten ganze Arme voll Brokatschleppen, Atlasröcke, seidene Casaques, Spitzenüberwürfe und schwarze Umhüllen herunter; dann wurde eine Auswahl getroffen, und die ausgesuchten Sachen, die dem gewünschten Zweck entsprechen konnten, wurden in das Boudoir hinter den Salon gebracht.

Inzwischen hatte Mr. Rochester die Damen wieder um sich versammelt und suchte eine Anzahl von ihnen heraus, die zu seiner Abteilung gehören sollten. »Miß Ingram ist natürlich die meine,« sagte er; später ernannte er dann noch die beiden Miß Eshton und Mrs. Dent. Dann sah er mich an. Zufällig stand ich in seiner Nähe, da ich gerade damit beschäftigt war, das Schloß von Mrs. Dents Armband, das geöffnet war, wieder zu schließen.

»Wollen Sie mitspielen?« fragte er. Verneinend schüttelte ich den Kopf. Er drang nicht weiter in mich, wie ich gefürchtet hatte, daß er es thun würde, sondern gestattete mir, ruhig auf meinen gewöhnlichen Sitz zurückzukehren.

Nun zogen er und seine Helfershelferinnen sich hinter den Vorhang zurück. Die andere Abteilung, welche von Oberst Dent angeführt wurde, nahm auf den im Halbkreise aufgestellten Stühlen Platz. Als einer der Herren, Mr. Eshton, meiner ansichtig wurde, schien er vorzuschlagen, daß man mich auffordern solle mit von der Partie zu sein; aber Lady Ingram wies diesen Vorschlag sofort zurück.

»Nein,« hörte ich sie sagen, »sie sieht zu dumm aus für irgend ein Spiel dieser Art.«

Es währte nicht lange, so erklang eine Glocke und der Vorhang wurde aufgezogen.

Innerhalb des Thürbogens gewahrte man die große Gestalt Sir George Lynns, welchen Mr. Rochester ebenfalls [283] gewählt hatte, in ein weißes Betttuch gehüllt. Vor ihm auf dem Tische lag ein großes, aufgeschlagenes Buch, und ihm zur Seite stand Amy Eshton, die sich in Mr. Rochesters Rock drapiert hatte und ein Buch in der Hand hielt. Eine unsichtbare Gestalt läutete eine lustig klingende Glocke; dann kam Adele (welche darauf bestanden hatte, zur Gesellschaft ihres Vormundes gezogen zu werden) nach vorn und streute den Inhalt eines Blumenkorbes aus, den sie am Arm getragen hatte. Und jetzt erschien die prächtige Figur Miß Ingrams, ganz in weiß gekleidet; ein langer, weißer Schleier wallte von ihrem Haupte, eine Guirlande von Rosen umkränzte ihre Stirn; ihr zur Seite schritt Mr. Rochester und beide näherten sich dem Tische. Sie knieten nieder, während Louisa Eshton und Mrs. Dent, die ebenfalls in weiß gekleidet waren, hinter ihnen Aufstellung nahmen. Hierauf folgte eine stumme Ceremonie, aus welcher man leicht erriet, daß es die pantomimische Darstellung einer Trauung sei. Gegen den Schluß hin berieten Oberst Dent und seine Gesellschaft während einiger Minuten im Flüsterton; dann rief der Oberst:

»Bride!« (Braut) Mr. Rochester verneigte sich und der Vorhang fiel nieder.

Eine geraume Zeit verfloß, bevor er aufs neue in die Höhe ging. Die Scene, welche sich jetzt dem Auge darbot, war ungleich sorgsamer vorbereitet als die vorhergehende. Wie ich bereits erwähnt habe, schritt man über zwei Stufen von dem Speisesaal in das Gesellschaftszimmer hinauf. Auf der oberen dieser bei den Stufen stand jetzt eine große, prächtige Marmorschale, in welcher ich einen Schmuck des Gewächshauses wieder erkannte. Dort stand sie gewöhnlich von Goldfischen belebt und von seltenen exotischen Pflanzen umgeben. Sie war von enormer Größe und schwerem Gewicht und ihr Transport in die Gesellschaftsräume mußte viel Mühe und Zeit gekostet haben.

Zur Seite dieses Marmorbassins saß auf dem Teppich [284] Mr. Rochester, in Shawls gehüllt, einen Turban auf dem Kopfe. Seine dunklen Augen, die bräunliche Hautfarbe, seine heidnischen Gesichtszüge paßten ausgezeichnet zu diesem Kostüm. Er war das gelungenste Bild eines orientalischen Emirs; der Absender oder das auserkorene Opfer eines Pfeils. Und jetzt erschien auch Miß Ingram auf der Scene. Sie hatte ebenfalls eine orientalische Tracht angelegt; eine purpurrote Schärpe war um die Taille geschlungen; ein reich gesticktes Tuch um den Kopf geknüpft; ihre herrlich geformten Arme waren bloß, der eine stützte einen Krug, den sie mit der vollkommensten Anmut auf dem Haupte trug. Sowohl ihre Gestalt wie ihre Züge, ihre Gesichtsfarbe und ihr ganzes Aussehen weckten den Gedanken an eine israelitische Prinzessin aus den Tagen der Patriarchen. Und eine solche sollte sie zweifelsohne auch darstellen.

Sie näherte sich dem Marmorbassin und beugte sich über dasselbe, wie um ihren Krug zu füllen. Dann hob sie ihn wieder auf das Haupt empor. Die Gestalt am Brunnen schien jetzt zu ihr zu reden, ihr eine Bitte vorzutragen:

Und sie sprach: »Trinke mein Herr;« und eilend ließ sie den Krug hernieder auf ihre Hand, und gab ihm zu trinken.

Dann zog er aus den Falten seines Gewandes ein Juwelenkästchen, öffnete es und ließ kostbare Armspangen und Ringe vor ihren Augen funkeln. Sie spielte Erstaunen und Bewunderung; er kniete nieder und legte ihr die Schätze zu Füßen; ihre Blicke und Geberden drückten Ungläubigkeit, Entzücken und Zögern aus. Der Fremde legte die Spangen um ihre Arme und befestigte die Ringe in ihren Ohren. Es waren Eleazar, der Knecht Abrahams, und Rebekka; nur die Kamele fehlten.

Die ratende Gesellschaft steckte wieder die Köpfe zusammen; augenscheinlich konnten sie sich nicht über das genaue Wort oder die Silbe einigen, welche dieses Bild illustrieren [285] sollte. Oberst Dent, der Sprecher, verlangte »das tableau des Ganzen;« und hierauf fiel der Vorhang wiederum.

Als er zum drittenmal in die Höhe ging, war nur ein Teil des Gesellschaftszimmers sichtbar. Der übrige Raum war durch einen Wandschirm verdeckt, der mit einer groben, düsteren Draperie verhängt war. Das Marmorbassin, welches im letzten Bilde den Brunnen vorgestellt hatte, war entfernt worden, an seiner Stelle stand ein roh gezimmerter Holztisch und ein Küchenstuhl. Diese Dinge erblickte man bei dem Lichte, welches eine alte Stalllaterne gab; sämtliche Wachskerzen waren ausgelöscht.

Inmitten dieser elenden Umgebung saß ein Mann, seine geballten Fäuste ruhten auf den Knieen; seine Blicke waren auf den Boden geheftet. Ich erkannte Mr. Rochester trotz seines besudelten Gesichts, seiner unordentlichen Kleidung (der Rock hing lose vom Rücken herab, gleichsam als wäre er ihm in einer Rauferei beinahe vom Leibe gerissen), ich erkannte ihn trotz des verzweifelten, düsteren Gesichtsausdrucks, des wild und verworren um die Stirn hängenden Haars. Als er sich bewegte, klirrte eine Kette; auch an den Händen trug er Fesseln.

»Bridewell!« 1 rief Oberst Dent aus, und die Charade war gelöst.

Eine geraume Zeit verstrich, während welcher die Darsteller des lebenden Bildes ihre Gesellschaftskleider wieder anlegten. Endlich traten sie wieder in den Speisesaal. Mr. Rochester führte Miß Ingram am Arm; sie machte ihm große Komplimente über seine Darstellungskünst.

»Wissen Sie, daß mir von Ihren drei Figuren die letzte bei weitem am besten gefiel? Ah! Wenn Sie doch um einige Jahre früher gelebt hätten! Welch ein prächtiger, stattlicher, tapferer Wegelagerer wären Sie gewesen!«

[286] »Habe ich allen Ruß aus meinem Gesicht gewaschen?« fragte er und wandte ihr sein Antlitz zu.

»Ach, ja! Aber es ist jammerschade drum! Sie können nichts finden, was Sie besser kleidete, als die Schminke jenes Raufbolds.«

»Sie könnten also einen Held von der Landstraße, einen Wegelagerer, lieben?«

»Ein englischer Wegelagerer käme gleich nach einem italienischen Banditen; und dieser könnte wiederum nur von einem levantinischen Piraten übertroffen werden.«

»Nun, was ich auch sein mag, vergessen Sie nicht, daß Sie mein Weib sind; in Gegenwart all dieser Zeugen ist vor einer Stunde unsere Trauung vollzogen worden.«

Sie kicherte und ein tiefes Rot bedeckte ihre Wangen.

»Jetzt ist die Reihe an Ihnen, Dent,« fuhr Mr. Rochester fort.

Als der andere Teil der Gesellschaft sich nun zurückzog, nahm er mit seiner Truppe die leeren Sitze ein. Miß Ingram setzte sich zur Rechten ihres Anführers und Direktors; die andern »Errater« nahmen die Stühle zu beiden Seiten des schönen Paars. Jetzt hatte ich kein Interesse mehr für die Darsteller auf der improvisierten Bühne; ich wartete nicht mehr gespannt auf das Aufgehen des Vorhangs; meine ganze Aufmerksamkeit wurde von den Zuschauern absorbiert; meine Augen, die vorhin unverwandt auf den großen, gewölbten Bogen gerichtet gewesen, ruhten jetzt wie gebannt auf dem Halbkreis von Stühlen. Ich weiß nicht mehr, welche Charade Oberst Dent und seine Gesellschaft aufführten, welches Wort sie wählten, wie sie sich mit der Sache abfanden, – aber ich sehe noch heute die Beratung vor mir, welche nach jeder Scene folgte; ich sehe, wie Mr. Rochester sich zu Miß Ingram wandte und Miß Ingram sich zu ihm; ich sehe, wie sie ihm ihr Haupt zuwandte, bis ihre rabenschwarzen Locken fast auf seiner Schulter ruhten und seine Wangen streiften; ich höre ihr [287] gegenseitiges Geflüster; ich rufe mir die Blicke ins Gedächtnis zurück, welche sie miteinander wechselten; und sogar die Empfindungen, welche mich in jenem Augenblick beherrschten, steigen in der Erinnerung von neuem in meiner Seele auf.

Mein Leser, ich habe dir gesagt, daß ich gelernt hatte, Mr. Rochester zu lieben! Und ich konnte dies Gefühl jetzt doch nicht in mir ersticken, nur weil ich fand, daß er gänzlich aufgehört hatte, meine Gegenwart zu bemerken – weil ich stundenlang in seiner Nähe weilen konnte, ohne daß er auch nur ein einzigesmal einen Blick zu mir herübersandte – weil ich sah, wie seine ganze Aufmerksamkeit sich auf eine schöne und vornehme Dame concentrierte, die mich nicht einmal für würdig hielt, den Saum ihres Gewandes zu berühren, wenn sie stolz an mir vorüberrauschte; die ihr dunkles, herrschsüchtig gebieterisches Auge sofort von mir abwandte, wenn ein Blick aus demselben mich zufällig traf, als ob ich ein Gegenstand sei, der zu gering, zu unbedeutend für die Betrachtung eines so hochstehenden Wesens. Ich konnte nicht aufhören, ihn zu lieben, nur weil ich sicher war, daß er diese Dame binnen kurzem heiraten werde – weil ich täglich aus der stolzen Sicherheit ihrer Haltung sah, daß sie über seine Pläne und Absichten in Bezug auf sie vollständig im Reinen war – weil ich stündlich Zeugin seiner Huldigungen war, die, wenn auch nachlässig, gerade durch diese Nachlässigkeit berückend und durch ihren Stolz unwiderstehlich waren.

Diese Umstände brachten nichts mit sich, das meine Liebe hätte abkühlen oder ersticken können; nein, sie brachten nur tiefinnerste Verzweiflung. Und, mein Leser, vielleicht meinst du auch, sie hätten mir Eifersucht bringen können, wenn ein Mädchen in meiner Stellung überhaupt auf ein Weib wie Miß Ingram eifersüchtig zu sein hätte wagen können. Aber ich war nicht eifersüchtig, – oder doch nur sehr selten, – die Art des Schmerzes, welchen [288] ich empfand, würde durch dieses Wort schlecht bezeichnet gewesen sein. Miß Ingram stand sozusagen um eine Linie unter dem Niveau der Eifersucht; sie war zu untergeordnet in geistiger Beziehung, um dies Gefühl erwecken zu können. Verzeih mir die anscheinende Paradoxe, lieber Leser – aber ich meine, was ich sage. Sie war sehr glänzend, aber sie war nicht natürlich; sie war eine herrliche Erscheinung, sie hatte mehrere ausgezeichnet ausgebildete Talente; aber ihre Seele, ihr Gemüt waren armselig, ihr Herz war trocken und empfindungslos von Natur, nichts blühte und grünte auf diesem Boden, er brachte keine erfrischenden, natürlichen Früchte hervor. Sie war nicht gut, sie war nicht ursprünglich; sie pflegte volltönende Phrasen aus Büchern zu wiederholen; sie sprach niemals eine eigene Meinung aus; sie hatte keine eigene Meinung. Sie schlug einen hohen Gefühlston an, aber sie kannte nicht das Gefühl der Sympathie und des Mitleids; Wahrheit und Zärtlichkeit waren nicht in ihr. Nur zu oft verriet sie dies, indem sie der trotzigen Antipathie, welche sie ungerechterweise gegen die kleine Adele gefaßt hatte, freien Lauf ließ; mit verächtlichen Schimpfworten stieß sie das Kind von sich, wenn es sich ihr zufällig näherte; oft schickte sie sie aus dem Zimmer und immer behandelte sie sie mit unveränderlicher Kälte, mit Bitterkeit und beißendem Spott. Andere Augen außer den meinen beobachteten diese Kundgebungen ihres Charakters noch – beobachteten sie genau, scharfsichtig und fein. Ja, der künftige Gatte, Mr. Rochester selbst, übte eine strenge und unaufhörliche Wachsamkeit über seine Braut aus; und aus dieser klugen Überlegung – dieser seiner Vorsichtigkeit – dieser vollkommen klaren Erkenntnis der Mängel und Fehler seiner Angebeteten – dieser in die Augen fallenden Leidenschaftslosigkeit seiner Gefühle für sie – aus diesem allem entsprang mein grenzenloser Schmerz, meine nicht enden wollende Pein.

Ich sah ein, daß er sie heiraten würde, aus Rücksichten [289] auf die Familie, vielleicht auch aus politischen Gründen; ihr Rang und ihre Verbindungen sagten ihm zu. Ich fühlte, daß er ihr seine Liebe nicht geschenkt hatte, und daß ihre Eigenschaften auch nicht geeignet waren, ihm dies Gefühl abzuringen. Diesen Schatz würde er ihr niemals zu eigen geben! Und dies war der Punkt – dies war es, wo der Nerv berührt wurde und schmerzte – dies war es, was das Fieber nährte und steigerte: er konnte sie nicht lieben!

Wenn sie den Sieg mit einem Schlage errungen hätte, wenn er sich ergeben und sein Herz ihr zu Füßen gelegt hätte, so würde ich mein Antlitz bedeckt und der Wand zugewendet haben, um zu sterben, fürsie zu sterben (figürlich, mein verehrter Leser). Wenn Miß Ingram ein gutes und edles Weib gewesen wäre, mit Kraft und Mut und Innigkeit und Zärtlichkeit und Verstand begabt, so würde ich nur einen entscheidenden Kampf mit zwei Ungeheuern – mit der Eifersucht und der Verzweiflung zu bestehen gehabt haben. Ich hätte mir das Herz aus der Brust gerissen, um es zu zertreten – und dann hätte ich sie bewundert, angebetet, ich hätte ihre Überlegenheit anerkannt und wäre für den Rest meiner Tage in Frieden gewesen – und je absoluter ihre Überlegenheit, desto tiefer wäre meine Bewunderung gewesen – desto ruhiger meine Ergebenheit. Aber wie die Dinge jetzt lagen – Zeuge der Anstrengungen sein zu müssen, welche Miß Ingram machte, um Mr. Rochester zu fesseln, und das öftere Mißlingen derselben zu gewahren – zu sehen, wie sie in der Einbildung lebte, daß jeder Pfeil traf, ins Schwarze traf, und wie sie sich mit ihren eingebildeten Erfolgen brüstete, während ihr Hochmut und ihre Selbstgefälligkeit das weiter und weiter von ihr entfernten, was sie anzulocken wünschte – Zeuge von all diesem zu sein, hieß in einer fortwährenden Erregung, unter einem erbarmungslosen Zwange leben.

Denn ich sah, wie es ihr möglich gewesen sein würde, den [290] Sieg zu erringen, während sie nur eine Niederlage erlitt. Pfeile, welche fortwährend von Mr. Rochesters Brust abprallten und wirkungslos zu seinen Füßen niederfielen, würden sein stolzes Herz getroffen und schwer verwundet haben, wenn eine sichere Hand sie abgeschossen hätte, das wußte ich; sie würden Liebe aus seinen kalten Augen haben leuchten lassen und seinem sarkastischen Antlitz den Stempel der Innigkeit aufgedrückt haben. Oder noch besser, – ein stiller Sieg wäre ohne Waffen errungen worden.

»Weshalb kann sie nicht mehr Einfluß über ihn gewinnen, wenn sie doch bestimmt ist, ihm einmal so nahe zu stehen?« fragte ich mich. »Gewiß, sie kann ihn nicht wahrhaft lieben, wenigstens ihn nicht mit der echten, rechten Liebe lieben! Denn wenn dies der Fall wäre, so brauchte sie nicht so künstlich zu lächeln; ihm nicht unaufhörlich solche Blitzesblicke zuzuwerfen, ihre Mienen, ihre Attitüden, ihre Bewegungen ohne Unterlaß zu studieren. Mir ist, als würde sie seinem Herzen näher rücken, wenn sie ruhig an seiner Seite weilte und weniger spräche und weniger kühn blickte. Ich habe in seinem Antlitz einen Ausdruck gesehen, der sehr verschieden war von der harten, versteinerten Miene, die er jetzt gar oft annimmt, wenn sie so eindringlich und lebhaft zu ihm spricht – aberjener Ausdruck kam von innen heraus, er war nicht künstlich hervorgezaubert durch verführerische Lockungen und berechnete Manöver; und man brauchte ihn nur hinzunehmen – ihm ohne Prätension zu antworten, wenn er fragte, ihn ohne Grimassen anzureden, wenn es nötig war – und jener Ausdruck wurde freundlicher und liebevoller und erwärmte einen wie ein nährender Sonnenstrahl. Wie wird es ihr denn gelingen, ihm zu gefallen, wenn sie erst verheiratet sind? O nein, es wird ihr nicht gelingen, dessen bin ich sicher – aber es könnte gelingen, und wahrhaftig, ich glaube, seine Gattin könnte das glücklichste Weib sein, dessen Fuß auf unserer Erde wandelt.«

[291] Bis jetzt habe ich noch kein verdammendes Urteil über Mr. Rochesters Plan gefällt, um der Familienverbindungen und anderer materieller Intressen willen eine Heirat zu schließen. Ich war aufs höchste erstaunt, als ich zuerst seine Absicht entdeckte. Ihn hatte ich für einen Mann gehalten, bei dem es nicht wahrscheinlich war, daß er sich bei der Wahl einer Gattin von so gewöhnlichen Motiven würde leiten lassen; aber je länger ich die Stellung, die Erziehung u.s.w. der beiden Parteien in Betracht zog, desto weniger fühlte ich mich berechtigt, ihn oder Miß Ingram zu beurteilen oder zu verdammen, weil sie in Übereinstimmung mit den Grundsätzen und Ideen handelten, welche ihnen ohne Zweifel seit ihrer Kindheit eingeimpft waren. Die ganze Gesellschaftsklasse, zu welcher sie gehörten, huldigte diesen Grundsätzen; folglich mußten sie doch auch eine Begründung für dieselben haben, wenn ich sie auch allerdings nicht ergründen konnte. Mir schien es, daß ich nur ein Weib an mein Herz ziehen würde, das ich lieben könnte, wenn ich ein Mann wäre wie er; aber die Augenscheinlichkeit der Vorteile für das Glück des Mannes, welche in diesem Heiratsplane lagen, überzeugten mich, daß es Argumente gegen die allgemeine Annahme solcher Ansichten geben müsse, Argumente, von denen ich keine Ahnung hatte – denn sonst hätte doch die ganze Welt so handeln müssen, wie ich gewünscht, daß sie handeln möchte.

Aber in Bezug auf diesen Punkt sowohl wie auf manchen anderen wurde ich meinem Brotherrn gegenüber sehr nachsichtig. Ich vergaß und übersah all seine Fehler, für die ich doch einst ein so scharfes Auge gehabt hatte. Früher hatte ich mich bemüht, alle Seiten seines Charakters zu studieren, die schlechten mit den guten in den Kauf zu nehmen, und aus dem genauen Abwägen der einen gegen die anderen ein gleichmäßiges und gerechtes Urteil zu fällen. Jetzt sah ich keine schlechten Eigenschaften mehr. Der Sarkasmus, der mich einst zurückgestoßen, die Härte, die mich [292] erschreckt und eingeschüchtert, erschienen mir jetzt nur wie die notwendige Würze eines köstlichen, seltenen Gerichts: ihr Vorhandensein machte es scharf, ihr Fehlen würde es aber geschmacklos und fade gemacht haben. Und jenes vage Etwas, das ein sorgsamer Beobachter dann und wann in seinem Blicke entdeckte, um es schnell wieder verschwinden zu sehen, ehe er noch jene seltsame, geheimnisvolle Tiefe ergründen konnte, – jenes Etwas, das mich mit Furcht und Schrecken erfüllt hatte, wie wenn ich auf vulkanischem Boden gewandelt und plötzlich die Erde unter meinen Füßen hätte erbeben und einen Abgrund sich vor mir hätte öffnen sehen, – jenes Etwas, ich sah es zuweilen noch jetzt, aber mein Herz klopfte vor Jammer und Mitgefühl, – es lähmte meine Nerven nicht mehr. Ich wußte nicht, ob es ein finsterer oder ein trauriger Ausdruck, ein hinterlistiger, verschmitzter, oder ein verzweifelter sei; aber ich scheute mich jetzt nicht mehr davor, ich sehnte mich nur grenzenlos danach, ihn ergründen zu können; ich pries Miß Ingram überglücklich, weil es ihr eines Tages vergönnt sein würde, in jenen Abgrund zu blicken, sein Geheimnis ergründen und seinen Jammer heilen zu dürfen.

Während ich nur an meinen Herrn und seine künftige Gemahlin dachte, nur sie sah, nichts hörte alsihre Zwiegespräche und nur ihrem Thun und Lassen eine Wichtigkeit und Bedeutung beilegte, war der übrige Teil der Gesellschaft mit ihrem eigenen Vergnügen und ihren Sonderinteressen beschäftigt. Die Ladies Lynn und Ingram fuhren fort, die feierlichsten Konferenzen miteinander abzuhalten; sie wiegten ihre Turbane hin und her und erhoben ihre vier Hände in Erstaunen oder Entrüstung, oder Geheimthuerei oder Entsetzen und Schrecken – je nach dem Gegenstande, um welchen ihre wichtige Unterhaltung sich drehte. Die beiden Damen bewegten sich wie zwei durch ein Vergrößerungsglas betrachtete Marionetten.

Die milde Mrs. Dent unterhielt sich mit der gutmütigen [293] Mrs. Eshton; und von diesen beiden erhielt ich zuweilen einen gütigen Blick, ein freundliches Wort.

Sir George Lynn, Oberst Dent und Mr. Eshton diskutierten über Politik oder Angelegenheiten ihrer Grafschaft oder Rechtssachen. Lord Ingram kokettierte mit Amy Eshton. Louisa sang und spielte mit einem der jungen Herren Lynn, und Mary Ingram horchte gelangweilt auf die zierlichen, wohlgesetzten Redensarten des andern. Und zuweilen gaben diese alle, wie auf Verabredung, ihr Zwischenspiel auf, um den Hauptträgern der Handlung zuzuhören und sie zu beobachten; denn trotz allem waren Mr. Rochester, und Miß Ingram – diese nur, weil sie ihm so nahe stand – die Seele und das Leben der Gesellschaft. Wenn er sich auch nur für eine Stunde aus dem Gesellschaftszimmer entfernte, so schien eine sehr bemerkbare Verstimmung und Gelangweiltheit sich seiner Gäste zu bemächtigen; und sein Wiedereintritt gab der Unterhaltung augenblicklich einen lebhaften Impuls wieder.

Das Fehlen seines belebenden Einflusses schien sich ganz besonders eines Tages bemerkbar zu ma chen, als er sich in dringenden Geschäftsangelegenheiten hatte nach Millcote begeben müssen und erst spät am Abend zurückerwartet wurde.

Der Nachmittag war regnerisch gewesen; ein Spaziergang, welchen die Gesellschaft nach einem Zigeunerlager, das auf einer Wiese jenseits Hay aufgeschlagen war, geplant hatte, mußte infolge des Regens aufgegeben werden. Einige der Herren hatten sich in die Ställe begeben; die Jüngeren spielten mit den jungen Damen im Billardzimmer Billard. Die verwitweten Damen Lynn und Ingram suchten Trost in einem ruhigen Spielchen. Nachdem Blanche Ingram durch ihre mürrische Schweigsamkeit einige Versuche zurückgeschlagen hatte, welche Mrs. Dent und Mrs. Eshton gemacht, um sie in die Konversation zu ziehen, hatte sie anfangs einige sentimentale Lieder und Melodien zur Klavierbegleitung [294] gesummt; dann war sie plötzlich aufgesprungen, hatte einen Roman aus ihrem Zimmer geholt, und jetzt lag sie in hochmütiger Gleichgiltigkeit auf einem Sofa hingestreckt und versuchte sich die langsam hinschleichenden Stunden seiner Abwesenheit mit jenem Romane zu vertreiben. Im Zimmer und im ganzen Hause herrschte Ruhe. Nur zuweilen drang ein fröhliches Lachen aus dem Billardzimmer bis zu uns herunter.

Es begann schon zu dämmern, die Glocke hatte bereits das Zeichen zum Ankleiden für die Dinerstunde gegeben, als die kleine Adele, welche neben mir auf einem Sitze in der Fenstervertiefung kniete, plötzlich fröhlich ausrief:

»Voilà Monsieur Rochester qui revient!« 2

Ich wandte mich um und sah, wie Miß Ingram mit der größten Eilfertigkeit von ihrem Sofa aufsprang. Auch die Übrigen blickten von ihren verschiedenen Beschäftigungen auf, denn im selben Augenblick wurde ein Knirschen von Rädern und platschende Huftritte draußen auf dem durchweichten Kieswege vor dem Hause hörbar. Eine Postchaise fuhr vor.

»Was mag ihm nur eingefallen sein, auf diese Weise nach Hause zu kommen!« sagte Miß Ingram. »Er ritt Mesrour, den Rappen, nicht wahr? Und Pilot war doch bei ihm, als er fortritt? Was kann er mit den Tieren angefangen haben?«

Indem sie dies sagte, kam sie mit ihrer hohen Gestalt und ihrer ungeheuren Kleiderfülle dem Fenster so nahe, daß ich mich weit zurücklehnen mußte, und fast das Rückgrat gebrochen hätte. In ihrer Aufgeregtheit bemerkte sie mich im ersten Augenblick fast gar nicht, und als ihr Blick denn doch auf mich fiel, verzog sie die Lippen höhnisch und wandte sich einem andern Fenster zu.

Die Postchaise hielt an. Der Kutscher zog die Glocke [295] zur großen Eingangsthür und ein Herr in Reisekleidern entstieg dem Gefährt. Aber es war nicht Mr. Rochester, sondern ein großer, schlanker, elegant aussehender Mann, ein Fremder.

»Wie ärgerlich!« rief Blanche Ingram aus, »du langweiliger, kleiner Affe!« (dies galt der armen, kleinen Adele) »wer hat dich dort in das Fenster gesetzt, damit du falschen Allarm bläst?« und bei diesen Worten warf sie mir einen zornsprühenden Blick zu, als wäre ich die Schuldige gewesen.

Jetzt wurde draußen in der Halle ein kurzes Gespräch hörbar, und gleich darauf trat der Fremde ein. Er verbeugte sich tief vor Lady Ingram, die er wahrscheinlich für die älteste der anwesenden Damen hielt.

»Es scheint, Madame, daß ich zu sehr ungelegener Zeit komme,« sagte er, »denn mein Freund Rochester ist nicht zu Hause. Aber ich komme von einer sehr langen und ermüdenden Reise, und daher darf ich wohl die Rechte einer sehr alten und intimen Freundschaft geltend machen und mich hier bis zu der Rückkehr meines Freundes installieren.«

Er war von ausgesuchter Höflichkeit; sein Accent schien mir indessen etwas fremdartig – nicht gerade ausländisch aber auch nicht entschieden englisch. Er mochte ungefähr so alt sein wie Mr. Rochester, zwischen dreißig und vierzig; seine Gesichtsfarbe war seltsam fahl; sonst war er ein schöner Mann, besonders auf den ersten Blick. Bei näherer Prüfung entdeckte man in seinem Gesicht allerdings etwas, das abstieß, oder vielmehr etwas, das nicht gerade gefiel. Seine Züge waren regelmäßig, aber zu schlaff; sein Auge war groß und schön geschnitten, aber man las darin, daß er ein nutzloses, leeres, unbedeutendes Leben geführt, – wenigstens erschien es mir so.

Der Ton der Ankleideglocke zerstreute die Gesellschaft. Erst nach dem Diner sah ich den Fremden wieder. Um diese Zeit [296] schien er sich bereits ganz heimisch zu fühlen. Aber jetzt gefiel mir seine Physiognomie noch weniger als zuvor; sie war zugleich unruhig und doch leblos. Seine Blicke wanderten umher, aber man fühlte, daß sie nichts suchten; das gab ihm einen seltsamen Ausdruck, wie ich noch niemals einen in dem Gesicht eines Menschen beobachtet. Für einen schönen und nicht unliebenswürdigen Mann war er außergewöhnlich abstoßend. Dies glatte, oval geformte Antlitz übte keine Macht aus; in jener schmalen, gebogenen Nase, in dem kleinen Kirschenmund lag keine Kraft. Die niedrige, ungefurchte Stirn verriet keine Gedanken; das glänzende, braune Auge verstand nicht zu herrschen.

Als ich in meinem gewohnten Winkel saß und ihn im Schein der Girandolen, die vom Kaminsims hell auf ihn herabschienen, betrachtete – er saß in einem Lehnstuhl, den er dicht an das wärmende Feuer gezogen hatte und schien trotzdem noch vor Kälte zu beben – begann ich, ihn mit Mr. Rochester zu vergleichen. Ich glaube – horrible dictu – der Unterschied zwischen einem sanften Gänserich und einem stolzen Falken könnte nicht viel größer sein; nicht schärfer der Kontrast zwischen einem sanftmütigen Schaf und dem zotteligen, klaräugigen Hunde, seinem Hüter.

Er hatte von Mr. Rochester wie von einem alten Freunde gesprochen. Eine seltsame Freundschaft mußte die ihre gewesen sein; eine scharfe Illustration des alten Sprichwortes in der That, daß die Extreme sich berühren.

Zwei oder drei der Herren saßen neben ihm, und von Zeit zu Zeit drangen abgerissene Sätze ihrer Unterhaltung bis in meine abgelegene Ecke. Lange blieb mir der Sinn des Gehörten unklar; denn die Unterhaltung zwischen Mary Ingram und Louisa Eshton, die in meiner nächsten Nähe saßen, übertönte das Gespräch der Herren am Kamin. Die Damen sprachen über den Fremden; beide nannten ihn einen »schönen Mann«. Louisa sagte, er sei »ein reizender [297] Mensch« und sie »bete ihn an«; und Mary machte Bemerkungen über seinen »süßen, kleinen Mund und seine entzückende Nase«; beides schien ihre Ideale von Schönheit zu verkörpern.

»Und welch eine freundliche Stirn er hat!« rief Louisa aus, – »so glatt, keine von diesen gerunzelten Unregelmäßigkeiten, die ich so sehr verabscheue; und welch ein ruhiges Auge! Welch ein berückendes Lächeln!«

Und dann rief Mr. Henry Lynn sie zu meiner größten Erleichterung an das andere Ende des Zimmers, um noch irgend welche Punkte über die aufgeschobene Excursion nach Hay zu besprechen.

Jetzt war es mir wieder möglich geworden, meine Aufmerksamkeit auf die Gruppe am Kamin zu konzentrieren, und nun erfuhr ich auch bald, daß der Name des Ankömmlings Mr. Mason sei. Dann hörte ich, daß er soeben in England angelangt sei und aus irgend einem heißen Lande komme. Letzteres war wahrscheinlich der Grund für die fahle Blässe seines Gesichts, für sein fortwährendes Näherrücken an das Feuer und für den Überrock, den er auch im Salon nicht abgelegt hatte. Die Namen Jamaika, Spanish Town, Kingston, welche an mein Ohr schlugen, belehrten mich, daß Westindien sein Aufenthalt gewesen sein mußte, und nicht gering war mein Erstaunen, als ich weiter erfuhr, daß er in jenem Lande Mr. Rochesters Bekanntschaft gemacht habe. Er sprach von der Abneigung seines Freundes gegen die sengenden Gluten, die furchtbaren Orkane und die Regenzeiten jener Regionen.

Ich wußte wohl, daß Mr. Rochester viel gereist sei; Mrs. Fairfax hatte es mir ja erzählt, aber ich hatte geglaubt, daß der europäische Kontinent bis jetzt seine Wanderungen begrenzt habe. Niemals hatte er auch nur die leiseste Andeutung darüber gemacht, daß er selbst jene entlegenen Küsten besucht habe.

Über diese Dinge dachte ich nach, als ein Zwischenfall, [298] und noch dazu ein sehr unerwarteter, den Faden meiner Grübeleien unterbrach. Mr. Mason, der jedesmal von einem kalten Schauer gerüttelt wurde, wenn jemand die Thür aufmachte, hatte gebeten, daß man noch mehr Holz und Kohlen auf das Feuer lege, dessen Flammen nicht mehr emporloderten, obgleich die Asche noch rot und heiß erglühte. Als der Diener, welcher die Feuerung hereingebracht hatte, das Zimmer wieder zu verlassen im Begriff war, trat er an Mr. Eshtons Stuhl und flüsterte diesem Herrn etwas ins Ohr, wovon ich nur die Worte »altes Weib« und, »ganz lästig« verstehen konnte.

»Sagen Sie ihr, daß wir sie einsperren lassen werden, wenn sie sich nicht gleich packt,« entgegnete die Magistratsperson.

»Nein – halt!« unterbrach ihn Oberst Dent. »Schicken Sie sie nicht fort, Eshton; wir könnten die Gelegenheit doch benützen. Fragen wir lieber die Damen.« Und laut fuhr er fort: »Meine Damen, Sie haben davon gesprochen, nach der Wiese von Hay gehen zu wollen, um das Zigeunerlager zu besuchen; aber Sam hier bringt die Botschaft, daß eine der alten Zigeunerinnen sich in diesem Augenblick in der Halle der Dienstboten befindet und darauf besteht, bei den Herrschaften vorgelassen zu werden, um ihnen wahrsagen zu dürfen. Haben Sie Lust, die Alte zu sehen?«

»Wahrhaftig, Oberst,« rief Lady Ingram aus, »Sie hätten am Ende wohl Lust, solche gemeine Betrügerin zu ermutigen. Schicken Sie sie um jeden Preis augenblicklich fort!«

»Es ist mir nicht möglich, sie zum Fortgehen zu bewegen, Mylady,« sagte der Diener, »und die anderen Dienstleute haben es auch umsonst versucht. Jetzt ist Mrs. Fairfax bei ihr und bittet und fleht, daß sie fortgehen möge; sie hat aber einen Stuhl in der Ofenecke genommen und schwört, daß sie um keinen Preis von dort aufsteht, wenn man ihr nicht die Erlaubnis giebt, hierher zu kommen.«

[299] »Was will sie denn hier?« fragte Mrs. Eshton.

»Sie will den Herrschaften wahrsagen, sagt sie, Mylady, und sie schwört, daß sie es thun will und muß.«

»Wie sieht sie denn eigentlich aus?« fragten die beiden Miß Eshton, wie aus einem Munde.

»Ein gräßlich häßliches, altes Geschöpf, Miß; beinahe so schwarz wie ein Rabe.«

»Am Ende ist sie gar eine wirkliche Hexe!« rief Frederick Lynn dazwischen. »Auf jeden Fall müssen wir sie hereinlassen! Zu interessant!«

»Allerdings,« fiel ihm sein Bruder in die Rede, »es wäre zu thöricht, wenn man solch eine Gelegenheit, sich zu amüsieren, ungenützt vorübergehen lassen wollte.«

»Was fällt euch denn eigentlich ein, meine lieben Söhne!« rief Lady Lynn entsetzt aus.

»In meiner Gegenwart dürfen solche ungehörige Dinge nicht vor sich gehen,« stimmte die verwitwete Lady Ingram ihr bei.

»O ja, Mama, sie dürfen es und sie werden es,« ertönte Blanche Ingrams hochmütige Stimme, während die junge Dame sich vom Piano her der Gesellschaft zuwandte; bis zu diesem Augenblick hatte sie schweigsam dort gesessen und scheinbar ohne der Unterhaltung ihre Aufmerksamkeit zu schenken zwischen verschiedenen Notenblättern und Heften geblättert. »Ich bin neugierig und möchte mir wahrsagen lassen. Sam, schicken Sie die Zigeunerschönheit also herauf.«

»Aber Blanche, mein Liebling, bedenke doch –«

»Das thue ich. Ich bedenke alles, was zu bedenken ist. Und ich muß meinen Willen haben! Also beeilen Sie sich, Sam! Schnell! schnell!«

»Ja – ja – ja!« rief die ganze junge Welt, sowohl die Damen wie die Herren. »Sie muß heraufkommen! Das wird ein köstliches Vergnügen werden!«

Der Diener zögerte noch immer. »Sie sieht so fürchterlich aus,« sagte er endlich.

[300] »Gehen Sie!« rief Miß Ingram gebieterisch. Und der Mann ging.

Augenblicklich bemächtigte sich die größte Aufregung der ganzen Gesellschaft. Es entstand ein wahres Kreuzfeuer von Witz, Spott und Scherz. Da kehrte der Diener zögernd und ängstlich zurück.

»Sie will jetzt nicht mehr hereinkommen,« sagte er. »Sie sagt, sie braucht nicht vor dem rohen Haufen – ja, ja, diese Worte hat sie gebraucht – zu erscheinen! Ich habe ihr ein Zimmer anweisen müssen, und wenn die Herrschaften sie um die Zukunft befragen wollen, sollen Sie einzeln zu ihr kommen.«

»Du siehst also, meine königliche Blanche, wie anmaßend das Weib wird,« begann Lady Ingram von neuem. »Laß dir raten, mein Engelskind und – und – –«

»Bringen Sie sie ins Bibliothekzimmer,« unterbrach das »Engelskind« sie scharf. »Ich brauche sie ebenfalls nicht vor dem ›rohen Haufen‹ anzuhören; die Person hat ganz recht. Ich will sie für mich allein haben. Brennt ein Feuer im Bibliothekzimmer, Sam?«

»Ja, Ew. Gnaden, ja – aber – sie sieht gerade aus wie ein Kesselflicker.«

»Lassen Sie Ihr Geschwätz, Dummkopf, und thun Sie nur, was ich Ihnen befehle.«

Wiederum verschwand Sam; und hoch gingen die Wogen der Erregung und der Erwartung.

»Jetzt ist sie bereit,« sagte der Diener, als er zurückkam. »Sie möchte wissen, wer sie zuerst befragen wird.«

»Ich glaube, es wird besser sein, wenn ich sie mir ansehe, bevor eine der Damen zu ihr geht,« sagte Oberst Dent.

»Sagen Sie ihr also, Sam, daß ein Herr kommen wird.«

Sam ging und kehrte gleich zurück.

»Sir, sie sagt, daß sie mit den Herren nichts zu thun haben will; sie brauchen sich gar nicht erst zu bemühen, [301] zu ihr zu kommen – und,« fügte er zögernd hinzu, mit Mühe ein Kichern unterdrückend, – »die Damen sollen auch nur kommen, wenn sie jung und schön und unverheiratet sind.«

»Beim Jupiter! sie hat Geschmack!« rief Henry Lynn laut lachend aus.

Mit großer Feierlichkeit erhob sich Miß Ingram. »Ich gehe zuerst,« sagte sie in einem Ton, welcher für den Anführer eines verlorenen Postens gepaßt haben würde, wenn er in der Vorhut des Regiments eine Bresche in der feindlichen Festung erklimmt.

»O, meine Beste, mein teuerstes, liebstes Kind, halt ein! Denk nach! Bedenke, was thust!« rief ihre zärtliche Mutter aus. Aber in stolzem Schweigen rauschte sie an ihr vorbei und ging durch die Thür, welche Oberst Dent für sie geöffnet hielt. Gleich darauf hörten wir, wie sie ins Bibliothekzimmer trat.

Jetzt trat eine verhältnismäßige Ruhe ein. Lady Ingram hielt es für passend und angebracht, die Hände zu ringen und that es daher in ausgiebigstem Maße. Miß Mary erklärte, daß sie ihrerseits niemals den Mut gehabt haben würde. Amy und Louisa Eshton kicherten leise und verstohlen, sahen aber ängstlich und sehr befangen aus.

Außerordentlich langsam schlichen die Minuten dahin. Wir zählten deren fünfzehn, bevor das Geräusch der sich öffnenden Bibliotheksthür wiederum an unser Ohr schlug. Gleich darauf trat Miß Ingram wieder ein.

Lachte sie? Hatte sie die ganze Sache als Scherz aufgefaßt? Aller Augen waren mit dem Ausdruck der intensivsten Neugierde auf sie geheftet. Kalt und vorwurfsvoll begegneten ihre Blicke den unseren; sie sah weder belustigt noch erregt aus. Stolz aufgerichtet und hochmütig schritt sie wieder auf ihren Sitz zu und setzte sich ohne ein Wort zu sprechen.

»Nun, Blanche?« sagte Lord Ingram.

[302] »Was sagte sie, Schwester?« fragte Mary.

»Wie denkst du über sie? Wie war dir ums Herz? Ist sie eine wirkliche Wahrsagerin?« fragten die Schwestern Eshton.

»Nun, nun, Ihr guten Leute, erdrückt mich nicht mit euren Fragen. Wahrlich, das Organ der Leichtgläubigkeit und der Verwunderung ist bei euch schnell angeregt. Nach der Wichtigkeit und Bedeutsamkeit, welche ihr alle – meine teure Mutter inbegriffen – dieser Angelegenheit beilegt, scheint ihr wahrhaftig zu glauben, daß wir für den Augenblick eine wirkliche Hexe im Hause haben, die mit dem ›alten, schwarzen Herrn, der nach Pech und Schwefel riecht‹ ein festes Bündnis geschlossen hat. Ich habe eine Zigeuner-Vagabondin gesehen; sie hat in gewohnter Weise die Kunst geübt, aus der Hand wahrzusagen, und sie hat auch mir gesagt, was solche Leute gewöhnlich prophezeien. Ich habe meine Laune befriedigt, und jetzt würde ich es für das Beste halten, wenn Mr. Eshton, wie er anfangs gedroht hat, das alte Scheusal morgen früh in den Gemeindekotter werfen ließe! Das ist alles, was ich über diese Angelegenheit zu sagen habe!«

Miß Ingram nahm ein Buch, lehnte sich in den Sessel zurück und wies auf diese stumme aber deutliche Weise jede weitere Konversation zurück. Ich beobachtete sie dann wohl eine halbe Stunde hindurch; während dieser ganzen Zeit wandte sie nicht ein einzigesmal das Blatt um, und jeden Augenblick wurde ihr Gesicht düsterer, unzufriedener, und nahm immermehr den Ausdruck der Enttäuschung und Bestürzung an. Augenscheinlich hatte sie nichts angenehmes gehört, nichts, was mit ihren hochfliegenden Plänen übereinstimmte, und trotz ihrer angeblichen Gleichgiltigkeit schien es mir, als lege sie den ihr gemachten Enthüllungen eine ganz unberechtigte Wichtigkeit bei. Wenigstens erklärte ich mir auf diese Weise ihre düstere Schweigsamkeit und Verstimmung.

[303] Inzwischen erklärten Mary Ingram, Amy und Louisa Eshton, daß sie nicht den Mut hätten, allein zu gehen – und doch hegte jede von ihnen das brennende Verlangen zu gehen. Durch die Vermittelung des Gesandten Sam wurden Unterhandlungen eröffnet, und nach vielem Hin- und Herlaufen wurde der strengen Sybille endlich die Erlaubnis abgerungen, daß die drei jungen Damen ihr in corpore ihre Aufwartung machen durften.

Dieser Besuch verlief nicht so still, wie jener Miß Ingrams. Aus dem Bibliothekszimmer drangen hysterisches Kichern und kleine halb unterdrückte Schreie zu uns herüber. Nach zwanzig Minuten wurde endlich die Thür aufgerissen, und die jungen Mädchen kamen zu Tode erschrocken durch die Halle hereingestürzt.

»Gewiß, gewiß, mit ihr geht es nicht mit rechten Dingen zu!« schrien sie wie aus einem Munde. »Sie hat uns solche Sachen gesagt! Sie kennt unsere ganzen Angelegenheiten!« und atemlos sanken sie in die verschiedenen Sessel und Stühle zurück, welche die Herren sich beeilten, ihnen zu bringen.

Als man um weitere Erklärung in sie drang, erzählten sie, daß sie ihnen von Dingen gesprochen, die sie gesagt und gethan, als sie noch kleine Kinder gewesen; sie hatte ihnen von Nippsachen und Büchern gesprochen, welche sich zu Hause in ihren Boudoirs befanden, von Andenken, welche verschiedene Verwandte ihnen geschenkt hatten. Sie bestätigten, daß sie sogar ihre Gedanken erraten hatte; und daß sie jeder von ihnen den Namen jener Person ins Ohr geflüstert hatte, welche ihnen die liebste auf der Welt. Auch ihre Lieblingswünsche hatte die Alte erraten.

Hier sprachen die Herren die ernstliche Bitte aus, daß man sie ebenfalls über die beiden letztgenannten Punkte aufkläre. Aber als Lohn für ihre Zudringlichkeit wurde ihnen nichts als schüchternes Erröten, Zittern, Ausrufe, Gekicher u.s.w. Inzwischen fächelten die Matronen ihnen [304] mit ihren Riesenfächern Luft zu, holten ihre Riechfläschchen hervor, und sprachen ihr lebhaftes Bedauern aus, daß man ihre Warnung nicht rechtzeitig beachtet habe. Die älteren Herren lachten aus Leibeskräften, und die jüngeren boten der aufgeregten Mädchenschar ihre Dienste an.

Inmitten dieses Tumults, und während meine Augen und Ohren vollauf mit der Scene beschäftigt waren, welche sich vor mir abspielte, hörte ich plötzlich ein leises, wiederholtes »hm, hm!« dicht neben mir. Ich drehte mich schnell um und erblickte Sam.

»Ich bitte Sie, Miß, die Zigeunerin behauptet, daß noch eine junge, unverheiratete Dame hier im Zimmer sein muß, welche nicht bei ihr gewesen ist, und sie bleibt dabei und schwört hoch und teuer, daß sie nicht eher fortgeht, als bis sie alle gesehen hat. Ich dachte, daß es keine andere sein könne, als Sie. Sonst ist niemand mehr da. Was soll ich ihr sagen?«

»Ah, ich werde natürlich gehen,« entgegnete ich. Und ich freute mich der unerwarteten Gelegenheit, meine heftig erregte Neugierde befriedigen zu können. Ich schlich zum Zimmer hinaus, ohne daß auch nur ein einziger Blick mir folgte. Die ganze Gesellschaft war noch um das bebende Trio beschäftigt, das soeben von der Sibylle zurückgekehrt war. Leise schloß ich die Thür hinter mir.

»Wenn Sie wollen, Miß,« sagte Sam, »so warte ich in der Halle auf Sie; und wenn sie Ihnen Angst macht, so rufen Sie nur, und ich komme Ihnen zu Hilfe.«

»Nein, Sam, gehen Sie nur wieder hinunter in die Küche, ich fürchte mich durchaus nicht.« – Und ich fürchtete mich in der That nicht. Aber die Sache interessierte und erregte mich im höchsten Grade.

Fußnoten

1 Bridewell, ein Gefängnis in London. Die Charade war aus den Worten: bride-Braut und well-Brunnen zusammengesetzt.

2 »Da kommt Herr Rochester zurück!«

Neunzehntes Kapitel

Das Bibliothekszimmer sah sehr friedlich aus, als ich eintrat, und die Sibylle – wenn sie wirklich eine Sibylle [305] war – saß ganz ruhig und bequem in einem Lehnstuhl vor dem Kaminfeuer. Sie trug einen roten Mantel und einen schwarzen Hut und schien beim Schein des Kaminfeuers in einem kleinen, schwarzen Buche zu lesen, das fast aussah wie ein Gebetbuch. Sie murmelte die Worte vor sich hin, wie alte Frauen es oft zu thun pflegen, wenn sie lesen. Auch hörte sie nicht sofort bei meinem Eintritt mit dieser Beschädigung auf. Es sah fast aus, als wolle sie den Paragraphen noch zu Ende lesen.

Ich stand auf dem Teppich vor dem Kamin und wärmte meine Hände, die fast erstarrt waren, weil ich in dem Gesellschafszimmer in beträchtlicher Entfernung von dem Kaminfeuer gesessen hatte. Ich war jetzt bereits so ruhig geworden, wie ich es sonst zu sein pflegte; in der That, in der äußeren Erscheinung der Zigeunerin lag nichts, was die Ruhe eines Menschen hätte erschüttern können. Sie schlug das Buch zu und blickte langsam auf; der breite Rand ihres Hutes beschattete zum größten Teil das Gesicht, und doch konnte ich bemerken, als sie zu mir aufsah, daß es ein gar seltsames sei. Es war durchweg braun und schwarz. Verworrenes Haar quoll unter einer weißen Binde hervor, welche unter dem Kinn zusammentraf und die Backen oder vielmehr die Kinnbacken halb bedeckte. Ihr Auge blickte mich mit einem scharfen, kühnen, durchbohrenden Blicke sofort an.

»Nun, Sie wollen sich ebenfalls wahrsagen lassen?« sprach sie mit einer Stimme, die ebenso bestimmt wie ihr Blick, ebenso hart wie ihre Züge war.

»Es liegt mir nicht viel daran, Mutter; thut wie Ihr wollt! Aber eins muß ich Euch vorher sagen: ich habe keinen Glauben.«

»Diese Frechheit erwartete ich von Ihnen – ich erwartete sie. Ich hörte es in Ihrem Schritte, als Sie über die Schwelle traten.«

»Wirklich? Dann habt Ihr ein scharfes Ohr.«

[306] »Ja; das habe ich. Und ein gar scharfes Auge! Und ein noch schärferes Gehirn.«

»Nun, das alles braucht Ihr auch notwendig für Euer Handwerk.«

»Das brauche ich. Besonders wenn ich mit solchen Kunden zu thun habe, wie Sie sind. Weshalb zittern Sie denn eigentlich nicht?«

»Mich friert nicht.«

»Weshalb werden Sie nicht blaß?«

»Ich bin nicht krank.«

»Weshalb nehmen Sie meine Kunst denn nicht in Anspruch?«

»Ich bin nicht so albern.«

Die alte Hexe kicherte leise in ihre Bandagen hinein. Dann zog sie eine kurze, geschwärzte Pfeife hervor, zündete sie an und begann zu rauchen. Nachdem sie sich eine Weile an diesem Beruhigungsmittel gelabt hatte, richtete sie den gebeugten Körper in die Höhe, nahm die Pfeife aus dem Munde und während sie unverwandt in das Feuer blickte, sagte sie ganz bedächtig und wohlüberlegt:

»Es friert Sie; Sie fühlen sich unwohl, und Sie sind albern.«

»Beweist mir das,« entgegnete ich.

»Das werde ich thun; mit wenigen Worten. Es friert Sie, weil Sie einsam sind; keine Berührung facht das Feuer, das in Ihnen glimmt, zur hellen Flamme an. Sie sind krank; weil das reinste der Gefühle, das höchste und süßeste, das dem Menschen in die Brust gelegt ist, Ihnen fern bleibt. Sie sind albern und dumm, weil Sie ihm kein Zeichen machen, sich auch Ihnen zu nähern – wie sehr Sie auch leiden mögen. Und Sie wollen auch keinen Schritt thun, um ihm dorthin entgegen zu eilen, wo es Ihrer wartet.«

Wiederum führte sie die kurze, schwarze Pfeife an die Lippen und begann in kräftigen Zügen zu rauchen.

[307] »Ihr wißt, daß alles, was Ihr da sagt, ebenso gut auf jede andere passen würde, die einsam und in abhängiger Stellung in einem großen Hause lebt.«

»Sagen könnte ich es wohl jeder – würde es aber auch auf jede passen?«

»Auf jede, die so lebt wie ich.«

»Ja; das ist's; auf jede, die lebt wie Sie. Aber finden Sie doch noch eine, die so lebt.«

»Es wäre eine Kleinigkeit, tausend solche zu finden.«

»Es würde Ihnen schwer fallen, auch nur eine einzige zu finden. – Wissen Sie also: Ihre Lage ist eine ganz besondere; Sie stehen dem Glücke sehr nahe, ja, Sie brauchen nur die Hand danach auszustrecken. Das ganze Material zum Glück ist vorbereitet; es bedarf nur noch eines einzigen Zuges, um alles zusammenzufügen. Nur der Zufall hat es an getrennten Orten aufgehäuft. Lassen Sie es sich nähern – und das Ende wird Glück sein.«

»Ich habe kein Verständnis für Rätsel. In meinem ganzen Leben war ich noch nicht imstande, eins zu lösen.«

»Zeigen Sie mir Ihre Hand, wenn Sie wollen, daß ich deutlicher reden soll.«

»Wahrscheinlich muß ich die Fläche mit Silber bedecken, nicht wahr, Mutter?«

»Natürlich.«

Ich gab ihr einen Schilling; sie steckte ihn in einen alten Strumpf, den sie aus ihrer Tasche zog, und nachdem sie ihn zusammengebunden und in die Falten ihres Rockes zurückgeschoben hatte, gebot sie mir, die Hand auszustrecken. Ich that, wie mir geheißen. Sie näherte ihr Gesicht der Handfläche und sah sie lange sinnend an ohne sie zu berühren.

»Sie ist zu schön und fein,« sagte sie endlich. »Aus einer solchen Hand kann ich nichts lesen; sie hat fast gar keine Linien. Und außerdem – was kann eine Hand sagen? In ihr steht das Schicksal nicht geschrieben.«

[308] »Das glaube ich Euch wohl,« sagte ich.

»Nein,« fuhr sie fort, »im Gesicht steht es zu lesen, auf der Stirn, um die Augen herum, in den Augen selbst, in den Linien des Mundes. Knieen Sie nieder und heben Sie den Kopf empor.«

»Ah! jetzt kommt Ihr der Wahrheit näher,« sagte ich, indem ich that, was sie verlangte. »Nun werde ich bald anfangen, Euren Worten ein wenig Glauben zu schenken.«

Wenige Fußbreit von ihr war ich hingekniet. Sie begann das Feuer aufzurühren, so daß die verglimmenden Kohlen wiederum einiges Licht verbreiteten. Da sie aber saß, warf der Schein nur noch einen tieferen Schatten über ihr Gesicht, während das meine hell beleuchtet wurde.

»Ich möchte doch wissen, mit welchen Gefühlen Sie heute Abend zu mir ins Zimmer gekommen sind,« sagte sie, nachdem sie meine Züge eine Weile hin durchgeprüft hatte. »Ich möchte wissen, welche Gefühle in Ihrem Herzen geschäftig sind, wenn Sie so stundenlang in jenem prächtigen, strahlenden Gesellschaftszimmer sitzen und die vornehmen, eleganten Leute vor Ihren Blicken auf- und abflattern wie die Figuren in einer lanterna magica. Zwischen Ihnen und jenen besteht doch gerade so wenig sympathische Gemeinschaft, als ob sie nur menschliche Schatten und nicht Gestalten aus Fleisch und Blut wären.«

»Oft bin ich alles dessen müde; oft auch schläfrig; selten aber traurig.«

»Dann nähren Sie also irgend eine geheime Hoffnung, die Sie erhebt und Sie mit ihren süßen Flüstertönen auf die Zukunft vertröstet?«

»Ich habe keine. Das höchste, was ich zu erhoffen wage, ist, daß ich einmal im stande sein werde, Geld zu ersparen, um mir ein kleines Haus mieten und darin eine Schule errichten zu können.«

»Eine kärgliche Nahrung, um das Leben der Seele zu fristen! Und wenn Sie in jener Fenstervertiefung[309] sitzen – – Sie sehen, ich kenne Ihr Leben bis in die kleinsten Details – –«

»Ihr habt das von den Dienstboten erfahren, Mutter?«

»Ah! Sie halten sich für sehr klug! Nun, vielleicht ist's auch so. Um die Wahrheit zu gestehen: ich kenne eine davon – eine Mrs. Poole –«

Ich sprang empor, als ich diesen Namen hörte.

»So – so,« rief ich, »es ist also doch eine Teufelei dabei im Spiel! dachte ich's doch!«

»Weshalb erschrecken Sie denn,« fuhr die seltsame Person fort, »Mrs. Poole ist eine zuverlässige Person, sehr ruhig und durchaus verschwiegen; jedermann kann ihr mit gutem Gewissen vertrauen. – Aber wie ich schon sagte: wenn Sie in jener Fenstervertiefung sitzen, denken Sie an nichts als an Ihre künftige Schule? Hegen Sie gar kein Interesse für irgend eine der Gestalten, die auf jenen Sofas und Stühlen sitzen? Ist nicht ein Antlitz darunter, in dem Sie zu lesen suchen? Nicht eine Gestalt, deren Bewegungen Sie wenigstens mit – mit – nun sagen wir mit Interesse verfolgen?«

»Es macht mir Vergnügen, alle Gesichter und alle Gestalten zu studieren.«

»Aber machen Sie denn keinen Unterschied mit einem – – oder vielleicht zweien?«

»O gewiß, sehr oft sogar. Wenn die Gebärden oder Blicke eines Paares zum Verräter werden, so macht es mir das größte Vergnügen, sie zu beobachten.«

»Und welche Geschichten lassen Sie sich denn am liebsten verraten?«

»Ach, die Auswahl ist nicht groß! Sie drehen sich gewöhnlich um dasselbe Thema – um das Hofmachen; und sie versprechen, mit derselben Katastrophe zu enden – mit der Heirat.«

»Und darf ich fragen, ob dies einförmige Thema Ihnen gefällt?«

[310] »Es ist mir in der That sehr gleichgiltig. Was geht mich dieses Thema an?«

»Was es Sie angeht? Wenn eine schöne, junge, vornehme, reiche Dame, strahlend von Leben und Gesundheit, bezaubernd, unterhaltend, witzig, – dasitzt und einem Herrn zulächelt, welchen Sie – – –«

»Nun, welchen ich was?«

»Den Sie kennen, und von dem Sie vielleicht – gut denken.«

»Ich kenne die Herren nicht, welche hier im Hause sind. Ich habe kaum eine Silbe mit einem derselben gesprochen; und was das Gutdenken anbetrifft, so halte ich einige von ihnen für respektabel und stattlich und mittelalterlich, und andere wieder für jung und elegant und schön und lebhaft. Aber es steht ihnen allen frei, sich anlächeln zu lassen, von wem sie wollen, ohne daß diese That meine Gefühle auch nur im allermindesten berührt.«

»Sie kennen die Herren hier im Hause nicht? Sie haben mit keinem derselben auch nur ein Wort gesprochen? Wollen Sie das von dem Herrn des Hauses auch behaupten?«

»Er ist nicht zu Hause.«

»Eine geistreiche Bemerkung! Eine höchst originelle Entgegnung! Welch ein Gewäsch! Er hat sich heute Morgen nach Millcote begeben und wird noch heute Abend oder spätestens morgen früh zurückkommen. Schließt dieser Umstand ihn etwa aus der Liste Ihrer Bekannten aus? Verschwindet er dadurch ganz und gar aus Ihrem Leben? Bitte, antworten Sie mir darauf!«

»Nein! Aber ich kann nicht recht einsehen, was Mr. Rochester mit dem von Euch berührten Thema zu thun hat.«

»Ich sprach von Damen, welche die Herren verführerisch anlächeln! Und in letzter Zeit hat sich so manches Lächeln in Mr. Rochesters Augen wiedergespiegelt, daß diese davon überfließen wie zwei Schalen, die bis an den Rand mit [311] edlem Rebensaft gefüllt sind. Haben Sie das niemals bemerkt?«

»Mr. Rochester hat ein Recht, sich an der Gesellschaft seiner Gäste zu erfreuen, sollte ich doch meinen.«

»Sein Recht stellt niemand in Frage! Aber ist es Ihnen denn niemals aufgefallen, daß die meisten und interessantesten und wildesten Heiratsgeschichten, die hier mit so großem Eifer kolportiert werden, stets Mr. Rochester zum Helden haben?«

»Die Neugierde und die gespannte Aufmerksamkeit des Zuhörers spornen die Zunge des Erzählers zu immer größeren Anstrengungen an.«

Diese Worte sprach ich mehr zu mir selbst als zu der Zigeunerin, deren seltsame Sprache, Stimme und Art mich nach und nach in einen Traumzustand versetzt hatte. Eine unerwartete Redensart nach der anderen kam von ihren Lippen, bis ich mich in ein förmliches Netz von Mystifikation verwickelt sah. Ich dachte nur noch verwundert darüber nach, welch unsichtbarer Geist seit Wochen an meinem Herzen gesessen haben könne, um sein Fühlen und Zittern und Zweifeln und Zagen auszukundschaften und es getreulich bis in das leiseste Empfinden hinein zu verzeichnen.

»Die Neugierde des Zuhörers!« wiederholte sie, »ja, Mr. Rochester hat stundenlang gesessen und sein Ohr den Worten jener bezaubernden Lippen geliehen, denen das Sprechen eine so unsagbare Wonne bereitete; und Mr. Rochester war so unendlich dankbar für die Zerstreuung und den Zeitvertreib, welcher ihm auf diese Weise gewährt wurde. Haben Sie es bemerkt?«

»Dankbar! Ich erinnere mich nicht, den Ausdruck der Dankbarkeit in seinem Gesichte entdeckt zu haben!«

»Entdeckt! Sie haben also doch versucht, es zu analysieren! Und was haben Sie sonst entdeckt, wenn es nicht Dankbarkeit war?«

Ich antwortete nicht.

[312] »Sie haben Liebe in seinen Zügen gesehen, nicht wahr? – und in die Zukunft blickend, sahen Sie ihn verheiratet – und seine Gattin war ein glückliches Weib?«

»Hm! Nicht gerade das! Eure Hexenkunst irrt sich doch auch manchmal, wie ich sehe!«

»Was zum Teufel sahen Sie denn?«

»Das kümmert Euch nicht. Ich kam hierher um zu fragen, nicht um zu beichten. Ist es allgemein bekannt, daß Mr. Rochester sich verheiraten wird?«

»Ja. Und zwar mit der schönen Miß Ingram.«

»Binnen kurzem?«

»Wie es scheint, ist man zu dieser Schlußfolgerung berechtigt; und ohne Zweifel werden sie ein außergewöhnlich glückliches Paar sein, obgleich Sie mit einer Kühnheit daran zu zweifeln sich erlauben, daß man beinahe versucht wäre, Sie dafür zu strafen. Er muß eine so schöne, vornehme, kluge und hochgebildete Dame doch lieben! Und höchst wahrscheinlich liebt sie ihn auch; oder wenn auch nicht seine Person, so doch seinen Geldbeutel. Ich weiß, daß sie das Familiengut der Rochesters für außerordentlich begehrenswert hält; obgleich ich ihr (Gott verzeihe mir die Sünde!) vor einer Stunde Dinge darüber gesagt habe, die sie seltsam ernst gestimmt haben; die Winkel ihres schönen Mundes fielen um einen halben Zoll. Ich würde ihrem dunkeläugigen Anbeter doch raten, tüchtig auf seiner Hut zu sein. Wenn ein anderer kommt, der ein größeres und gesicherteres Einkommen hat, so läßt sie ihn einfach laufen – –«

»Aber, Mutter, Ihr wißt doch, daß nicht hierher gekommen bin, um Euch über Mr. Rochesters Zukunft zu befragen! Ich wollte von der meinen hören – und Ihr habt mir noch nicht eine Silbe darüber gesagt.«

»Ihre Zukunft ist noch zweifelhaft! Als ich Ihr Antlitz prüfte, widersprach ein Zug dem andern. Das Geschick hat auch für Sie ein gewisses Maß von Glück bestimmt[313] – so viel weiß ich. Ich wußte es bereits, ehe ich heute Abend hierher kam. Es ist sorgsam für Sie auf die Seite gelegt worden. Ich selbst sah das Schicksal es thun. Es hängt von Ihnen ab, ob Sie die Hand ausstrecken und es nehmen wollen. Aber gerade ob Sie wollen, ist das Problem, welches ich zu lösen suche. Knieen Sie noch einmal dort auf jenem Teppich!«

»Aber Mutter, laßt mich nicht lange knieen. Die Flammen versengen mich fast.«

Ich kniete nieder. Sie beugte sich nicht mehr zu mir herab, sondern blickte mich nur unverwandt an, indem sie sich in den Stuhl zurücklehnte. Dann begann sie zu murmeln:

»Die Flamme zittert in dem Auge; das Auge erglänzt wie Thautropfen; es ist weich und sanft und voll Gefühl; es lächelt über mein Geschwätz; es ist empfänglich; ein Eindruck jagt den andern durch jene klare Sphäre; wenn es zu lächeln aufhört, wird es traurig; eine unbewußte Müdigkeit lagert schwer auf den Lidern: das bedeutet Traurigkeit, welche aus der Einsamkeit entspringt. Es wendet sich von mir ab; es will die genaue Prüfung nicht länger über sich ergehen lassen; sein spöttischer Blick scheint die Wahrheit der Entdeckungen, welche ich gemacht habe, leugnen zu wollen – es will die Anklage auf Empfindlichkeit entkräften – und doch bestärken sein Stolz und seine Zurückhaltung mich nur in meiner Meinung. Das Auge verspricht Gutes.

Was den Mund betrifft, so hat er zuweilen Freude am Lachen; er hat die Gewohnheit, alles auszusprechen, was das Hirn lenkt, obgleich ich überzeugt bin, daß er über alles, was das Herz empfindet, schweigt. Schmiegsam und beweglich, ist er gewiß nicht dazu bestimmt in die ewige Schweigsamkeit des Alleinseins hineingezwängt zu werden; es ist ein Mund, der viel sprechen und oft lächeln sollte und eine warme Zuneigung für denjenigen [314] hegen müßte, mit dem er spricht, dem er zulächelt. Jener Zug Ihres Gesichts ist ebenfalls günstig.

Gegen einen glücklichen Ausgang sehe ich nur einen einzigen Feind, und das ist die Stirn. Sie scheint zu sagen: ›Ich vermag allein zu leben, wenn Selbstachtung und die Umstände von mir verlangen, daß es so sei. Ich brauche meine Seele nicht zu verkaufen, um Glück zu erkaufen. Ich besitze einen Schatz in meinem Innern, einen Schatz, der mit mir geboren wurde, der mich am Leben erhalten wird, wenn jedes fremde Glück mir fern bleiben sollte oder mir nur um einen Preis geboten wird, den ich nicht zu zahlen vermag.‹ Die Stirn erklärt weiter: ›Meine Vernunft sitzt fest und hält die Zügel und sie wird nicht gestatten, daß die Gefühle sie fortreißen und in einen Abgrund stürzen. Die Leidenschaften mögen wild toben, Heiden wie sie sind; und die Wünsche mögen allerlei eitle Dinge herbeisehnen – aber dennoch soll die Vernunft in jeder Streitfrage das letzte Wort behalten und die entscheidende Stimme bei jeder Beschlußfassung. Stürme – Erdbeben und Feuersbrunst mögen hereinbrechen, – ich werde dennoch mich stets der Führung jener leisen, schwachen Stimme anvertrauen, welche die Eingebungen des Gewissens zu deuten sucht.‹«

»Gut gesprochen, Stirn; deine Erklärung soll geachtet werden. Ich habe meine Pläne gemacht – ich glaube, daß es ehrliche und gerechte Pläne sind – und bei ihrer Ausarbeitung habe ich auf die Stimme des Gewissens, die Ratschläge der Vernunft gehorcht. Ich weiß, wie bald die Jugend schwindet und die Schönheit schwindet, wenn in dem Kelche, welchen das Glück uns bietet, auch nur ein Tröpfchen von Schande, ein Hauch von Gewissensqualen geträufelt ist; und ich will keine Opfer, keinen Kummer, keine Zerstörung – das ist nicht nach meinem Geschmack. Ich will wohlthun, ich will erhalten – aber nicht vernichten – ich will Dankbarkeit ernten – nicht blutige Thränen [315] auspressen, nicht einmal salzige. Ich will Lächeln, Liebkosungen, süße Worte ernten. – Nun ist's genug! Ich glaube, ich tobe in einem köstlichen Delirium. Ich möchte diesen Augenblick bis in die Ewigkeit verlängern, aber ich wage es nicht. Bis zu diesem Moment ist es mir gelungen, mich zu beherrschen. Ich habe gehandelt, wie ich mir innerlich geschworen hatte, handeln zu wollen – was aber jetzt kommt, geht über meine Kräfte. Stehen Sie auf Miß Eyre, stehen Sie auf! Verlassen Sie mich! Das Spiel ist zu Ende gespielt!«

Wo war ich? Wachte ich oder träumte ich? Hatte ich das alles nur im Schlafe gehört? Träumte ich noch immer? Die Stimme der alten Frau war plötzlich verändert. Ich kannte ihre Sprache und ihre Bewegungen ebenso gut, wie ich mein eigenes Gesicht im Spiegel wieder erkannte – wie die Sprache meiner eigenen Lippen. Ich erhob mich, aber ich ging nicht. Ich sah sie an, dann rührte ich in den Kohlen, und nun blickte ich sie wieder an. Aber sie zog den Hut und die Binde noch tiefer ins Gesicht und gab mir wiederum das Zeichen, mich zu entfernen. Die Flammen des Kamins warfen ihren Schein auf die ausgestreckte Hand; auf meiner Hut wie ich war, und fortwährend darauf bedacht, Entdeckungen zu machen, bemerkte ich augenblicklich diese Hand. Es war ebensowenig das welke Glied einer alten Frau wie meine eigene Hand es war: sondern eine runde, weiche, schön und kräftig geformte Hand; ein kostbarer Ring blitzte an dem kleinen Finger, und indem ich mich verbeugte und den Edelstein betrachtete, erblickte ich ein Juwel, das ich schon hundertmal bemerkt hatte. Wiederum sah ich zu dem Gesicht empor, das nicht mehr von mir abgewandt war – im Gegenteil, der Hut war fortgeschleudert, die Binde zurückgeschoben – der Kopf neigte sich mir zu.

»Nun, Jane, kennen Sie mich?« fragte die teure, mir so wohlbekannte Stimme.

[316] »Nehmen Sie nur den roten Mantel ab, Sir, dann werde ich wohl – –«

»Das Band hat sich zu einem festen Knoten verschürzt – helfen Sie mir.«

»Zerreißen Sie es nur, Sir.«

»Wohlan denn – fort mit dem Mummenschanz!« Und Mr. Rochester warf seine Verkleidung von sich.

»Aber Sir, welche seltsame Idee von Ihnen!«

»Indessen gut durchgeführt, nicht wahr? Stimmen Sie mir nicht bei?«

»Mit den Damen ist Ihnen das Spiel gut gelungen.«

»Mit Ihnen nicht?«

»Mir gegenüber hielten Sie den Charakter der Zigeunerin nicht inne.«

»Welchen Charakter denn sonst? Meinen eigenen?«

»Nein; irgend einen, der mir unverständlich. Kurz und gut, ich glaube, daß Sie versucht haben, mich anzulocken oder vielmehr etwas aus mir heraus zu locken. Sie redeten Unsinn, um mich ebenfalls gedankenloses Zeug sprechen zu lassen. Das war nicht schön von Ihnen, Sir.«

»Können Sie mir vergeben, Jane?«

»Das weiß ich nicht, bevor ich nicht über die ganze Sache nachgedacht habe. Wenn ich nach reiflicher Überlegung eingesehen, daß ich keine zu große Albernheit begangen habe, so werde ich versuchen, Ihnen zu vergeben; aber es war dennoch nicht recht von Ihnen, Sir.«

»O, Sie haben ganz korrekt gehandelt – Sie waren sehr vorsichtig, sehr vernünftig.«

Ich sann nach, ich überlegte und fand, daß dies wirklich der Fall gewesen. Das war wenigstens ein Trost; und ich war in der That seit Beginn der Unterredung auf meiner Hut gewesen. Ich hatte gleich anfangs eine Verkleidung vermutet. Ich wußte, daß Wahrsagerinnen und Zigeunerinnen sich nicht auszudrücken pflegen, wie diese anscheinend alte Frau es gethan; außerdem war mir ihre [317] verstellte Stimme aufgefallen, ich hatte bemerkt, welche Mühe sie sich gab, ihre Züge zu verbergen. Aber ich hatte an Grace Poole gedacht – an jenes lebende Rätsel, jenes Geheimnis aller Geheimnisse, wie sie mir stets erschien. Mr. Rochester war mir allerdings nicht in den Sinn gekommen.

»Nun,« sagte er, »an was denken Sie? Was bedeutet jenes melancholische Lächeln?«

»Verwunderung und Selbstbeglückwünschung, Sir! Aber jetzt werden Sie mir hoffentlich erlauben, daß ich mich endlich zurückziehe?«

»Nein, verweilen Sie noch einen Augenblick, um mir zu erzählen, was meine Gäste im Salontreiben.«

»Vermutlich unterhalten sie sich noch über die Zigeunerin.«

»Setzen Sie sich! – Lassen Sie mich hören, was jene über mich sprachen.«

»Es ist ratsam, daß ich nicht lange verweile, Sir, es muß bald elf Uhr sein. O, wissen Sie denn, Mr. Rochester, daß während Ihrer Abwesenheit ein Fremder hier eingetroffen ist?«

»Ein Fremder! – nein; wer mag es sein? Ich erwartete niemanden. Ist er wieder fort?«

»Nein. Er sagte, daß er Sie seit langen Jahren kenne und sich daher die Freiheit nehmen dürfe, sich bis zu Ihrer Rückkehr häuslich niederzulassen.«

»Zum Teufel mit ihm! – Hat er seinen Namen genannt?«

»Sein Name ist Mason, Sir, und er kommt aus Westindien; aus Spanish Town auf Jamaika, wenn ich nicht irre.«

Mr. Rochester stand neben mir; er hatte meine Hand gefaßt, wie um mich zu einem Sessel zu führen. Als ich die letzten Worte sprach, packte er mein Gelenk mit einem [318] konvulsivischen Griffe; das Lächeln auf seinen Lippen erstarrte; er war, als hätte ein Krampf ihn erfaßt.

»Mason! – – Westindien!« sagte er, und die Worte entrangen sich einzeln seinen Lippen, ungefähr so, wie ein redender Automat sie gesprochen haben würde. »Mason! – Westindien!« wiederholte er noch einmal; dreimal wiederholte er mechanisch die Worte und wurde dabei bleich wie ein Toter. Er schien kaum noch zu wissen, was er that, was um ihn her vorging.

»Fühlen Sie sich krank, Sir?« fragte ich.

»Jane, ich habe einen Schlag erlitten; – einen furchtbaren Schlag, Jane!« stammelte er.

»O, Sir! stützen Sie sich auf mich.«

»Jane, Sie haben mir schon einmal Ihren Arm als Stütze geboten; – geben Sie ihn mir jetzt.«

»Ja, Sir, ja!«

Er setzte sich und ich mußte mich ihm zur Seite setzen. Er streichelte meine Hand, die er in der seinen hielt. Dann heftete er einen traurigen, müden Blick auf mich, der aber dennoch liebevoll war.

»Meine kleine Freundin!« sagte er; »ich wollte, ich wäre allein mit Ihnen auf einer stillen, einsamen Insel, wo die trüben Erinnerungen, wo Angst und Kummer und Ärger mir fern bleiben müßten.«

»Kann ich Ihnen helfen, Sir? Ich würde willig mein Leben hingeben, wenn ich Ihnen damit nützen könnte.«

»Jane, wenn ich Hilfe brauche, werde ich sie bei Ihnen suchen; das kann ich Ihnen selbst in diesem Augenblick schon versprechen.«

»Ich danke Ihnen, Sir; sagen Sie mir, was ich thun soll, – ich werde wenigstens versuchen, es zu thun.«

»Gut, Jane; holen Sie mir ein Glas Wein aus dem Speisesaal; sie werden jetzt alle beim Souper sein; und sagen Sie mir dann, ob auch Mason unter ihnen ist und was er in diesem Augenblick thut.«

[319] Ich ging. Wie Mr. Rochester vorhergesagt, fand ich die ganze Gesellschaft im Speisezimmer beim Abendessen; sie saßen nicht an der Tafel – das Souper war auf der Kredenz aufgestellt; jeder hatte genommen, was ihm gefiel, und mit den Tellern und Gläsern in der Hand standen die Gäste in Gruppen umher. Alle schienen in bester Laune zu sein. Laut klangen das Gelächter und die allgemeine Unterhaltung mir entgegen. Mr. Mason stand am Kamin und sprach mit Oberst Dent und seiner Gemahlin; er schien der fröhlichste unter allen. Ich ging und füllte ein Weinglas mit dem feurigsten Wein an, (Miß Ingram beobachtete mich stirnrunzelnd, während ich es that; wahrscheinlich war sie der Ansicht, daß ich mir eine große Freiheit erlaubte) und kehrte dann in das Bibliothekszimmer zurück.

Mr. Rochesters außergewöhnliche, unheimliche Blässe war geschwunden, und er schien die alte Ruhe und Festigkeit wieder erlangt zu haben. Er nahm mir das Glas aus der Hand.

»Dies auf dein Wohl, hilfreicher Geist!« sagte er, trank den Inhalt auf einen Zug aus und gab mir das Glas zurück. »Was thun sie da drüben, Jane?«

»Sie lachen und sprechen, Sir.«

»Sehen sie nicht ernst und geheimnisvoll aus, als hätten sie soeben eine seltsame Geschichte vernommen?«

»Durchaus nicht: – sie scherzen und lachen und unterhalten sich auf das lebhafteste.«

»Und Mason?«

»Er lachte auch.«

»Jane, was würden Sie thun, wenn all jene Leute hier einträten und mich anspieen?«

»Sie alle zum Zimmer hinaustreiben, wenn ich dürfte, Sir.«

Er lächelte. Ein trübes, müdes Lächeln.

»Wenn ich nun aber hinüber ginge, und sie kalte Blicke [320] auf mich hefteten und einander spöttische Dinge zuflüsterten, und dann einer nach dem andern dies Haus verließen – was dann? Würden auch Sie mit ihnen gehen?«

»Ich glaube nicht, Sir; ich würde glücklich sein, wenn ich allein bei Ihnen bleiben dürfte.«

»Um mich zu trösten?«

»Ja, Sir, um Sie zu trösten, so gut ich es eben vermöchte.«

»Und wenn man Sie in die Acht erklärte, weil Sie treu zu mir hielten?«

»Wahrscheinlich würde ich von dieser Achterklärung nichts erfahren; und selbst, wenn dies der Fall wäre, würde ich mich wenig darum kümmern.«

»Sie würden es also um meinetwillen wagen, der öffentlichen Meinung zu trotzen?«

»Ich würde es um jedes Freundes willen thun, den ich meiner Anhänglichkeit wert hielte. Das würden auch Sie thun, Sir, dessen bin ich sicher.«

»Gehen Sie in das Gesellschaftszimmer zurück; gehen Sie still und unbemerkt zu Mason und flüstern Sie ihm ins Ohr, daß Mr. Rochester zurückgekehrt sei und mit ihm zu sprechen wünsche. Führen Sie ihn zu mir herein und verlassen Sie uns alsdann wieder.«

»Ja, Sir.«

Ich that wie er mir befohlen. Die ganze Gesellschaft starrte mich an, als ich mitten durch sie hindurch schritt. Ich suchte Mr. Mason, richtete ihm jene Botschaft aus und ging dann ihm voran zum Zimmer hinaus. Vor der Thür der Bibliothek angekommen, öffnete ich dieselbe und ging auf mein Zimmer.

Sehr spät in der Nacht, als ich schon längst mein Lager aufgesucht hatte, hörte ich, wie die Gäste sich auf ihre Zimmer begaben. Ich unterschied Mr. Rochesters Stimme und hörte ihn sagen: »Hierher, Mason, dies ist Ihr Zimmer.«

[321] Er sprach fröhlich. Die klaren Laute beruhigten mein Herz. Bald schlief ich ein.

Zwanzigstes Kapitel

Ich hatte vergessen, die Vorhänge herabzulassen; das war ganz gegen meine sonstige Gewohnheit; und ebenso wenig hatte ich die Fensterladen geschlossen. Die Folge davon war, daß der strahlende Vollmond – es war eine herrliche, klare Nacht – mich mit seinem weißen Glanz weckte, als er auf seiner stillen Fahrt durch den Himmelsraum an jene Stelle gelangte, die meinem Fenster gegenüberlag. Als ich mitten in der Nacht erwachte, fielen meine Blicke auf die silberweiße, kristallklare Scheibe. Es war schön, aber zu feierlich. Ich erhob mich im Bette, um die Vorhänge, die es schützten, zusammenzuziehen.

Allbarmherziger Gott! Welch ein Schrei! – Die Nacht – die Stille – die Ruhe wurden zerrissen durch einen wilden, scharfen, gellenden Schrei, welcher das Herrenhaus von Thornfield-Hall von einem Ende bis zum andern durchdrang.

Meine Pulse hörten auf zu schlagen – mein Herz stand still; mein ausgestreckter Arm war gelähmt. Der Schrei starb hin; ihm folgte kein zweiter. Und in der That, welches Wesen diesen furchtbaren Schrei ausgestoßen haben mochte – es konnte ihn nicht so bald wiederholen; selbst der stolzeste, mächtigste Kondor der Anden hätte nicht vermocht, zweimal einen solch gellenden Schrei aus jener Wolke herabzusenden, die seinen Horst einhüllt. Das Geschöpf, welches solchen Laut ausgestoßen, mußte ruhen, bevor es dieselbe Anstrengung noch einmal machen konnte.

Er kam aus dem dritten Stockwerk, denn er zog über meinen Kopf fort. Und über mir – ja, gerade in dem Zimmer über dem meinen – hörte ich ein Ringen; nach dem Lärm zu urteilen, schien es ein tödlicher Kampf zu sein; und eine halberstickte Stimme schrie:

»Hilfe! Hilfe! Hilfe!« dreimal hinter einander.

[322] »Kommt mir denn niemand zu Hilfe?« rief es wieder.

Und als dann das Ringen und Stampfen und Schreien oben fortgesetzt wurde, hörte ich deutlich durch das Gebälk der Zimmerdecke:

»Rochester! Rochester! Um Gottes willen! Komm mir zu Hilfe! Komm!«

Eine Thür wurde geöffnet: jemand stürzte lautlos aber schnell wie von Furien gepeitscht durch die Galerie. Ein anderer Fuß stampfte über meinem Kopfe. Dann ein fürchterlicher, schwerer Fall. Und jetzt war alles still.

Ich hatte schnell einige Kleidungsstücke übergeworfen, obgleich ich vor Entsetzen an allen Gliedern bebte. Jetzt trat ich aus meinem Zimmer heraus. Alle Schläfer waren aufgewacht: Ausrufe, erschrecktes Gemurmel tönten aus allen Zimmern; eine Thür nach der andern wurde aufgerissen; ein Gesicht kam zum Vorschein, dann ein zweiter, bald ein dritter Kopf. Die Galerie war bald voller Gestalten, die sich ängstlich aneinander drängten. Sowohl Herren wie Damen hatten ihre Betten verlassen, und von allen Seiten hörte man ein wirres Stimmengemisch:

»O, was bedeutet das?« – »Was ist geschehen?« – »Wer ist verletzt?« – »Holt ein Licht!« – »Ist Feuer ausgebrochen?«

»Haben sich Diebe und Mörder eingeschlichen?« – »Wohin soll man eilen?« – »Wem Hilfe leisten?« – »Wohin uns retten?« – Hätte nicht der Mond seine Strahlen in die Galerie geworfen, so hätten wir alle uns in der tiefsten Dunkelheit befunden. Alles lief hin und her. Sie drängten sich aneinander. Einige schluchzten, andere stolperten und fielen. Die Verwirrung war unbeschreiblich und schien unauflösbar.

»Wo zum Teufel ist Rochester?« rief Oberst Dent. »In seinem Bette ist er nicht mehr.«

»Hier, hier!« rief eine andere Stimme in Erwiderung. »Beruhigen Sie sich alle! Ich komme sofort.«

[323] Und dann wurde die Thür am Ende der Galerie aufgerissen. Mr. Rochester erschien in derselben, in der Hand trug er eine brennende Kerze. Er kam gradeswegs aus dem oberen Stockwerk herab. Eine der Damen lief direkt auf ihn zu; sie packte ihn am Arm. Es war Miß Ingram.

»Welch entsetzliches Ereignis hat sich zugetragen?« sagte sie. »Sprechen Sie! Lassen Sie uns lieber gleich das Fürchterlichste erfahren.«

»Aber reißen Sie mich nicht zu Boden, und erwürgen Sie mich nicht,« erwiderte er, denn jetzt hatten auch die beiden Miß Eshtons sich an ihn gehängt; und die beiden verwitweten Damen segelten majestätisch wie Dreimaster bei vollem Winde auf ihn zu.

»Alles in Ordnung! – alles in Ordnung!« rief er. »Es ist nur eine Generalprobe von ›Viel Lärm um nichts.‹ Meine Damen, entfernen Sie sich – oder ich werde gefährlich.«

Und gefährlich sah er aus; seine schwarzen Augen sprühten Funken. Dann machte er eine Gewaltanstrengung, um sich zu beruhigen und fügte hinzu:

»Eine Dienerin war vom Alpdrücken befallen; das ist alles. Sie ist eine leicht erregbare, nervöse Person. Ohne Zweifel hielt sie ihren Traum für eine Erscheinung oder irgend etwas Ähnliches und bekam vor Schrecken Krämpfe. Nun, meine Herrschaften, muß ich Sorge tragen, daß Sie alle sicher in Ihre Zimmer zurückgelangen; denn bevor die Bewohner des Hauses sich nicht beruhigt haben, kann für die Person nichts geschehen. Meine Herren, haben Sie die Güte, den Damen mit gutem Beispiel voran zu gehen. Miß Ingram, ich bin fest überzeugt, daß Sie nicht unterlassen werden, sich als erhaben über solch eitlen Schrecken zu zeigen. Amy und Louisa, Ihr süßen Täubchen, kehrt in euer Nest zurück. Meine Damen – zu den beiden Witwen gewendet – Sie würden sich ohne Zweifel [324] erkälten, wenn Sie auch nur noch eine Minute länger in dieser feuchtkalten Galerie verweilen.«

Und während er in dieser Weise abwechselnd befahl und schmeichelnd überredete, gelang es ihm, sie alle wieder in ihre verschiedenen Schlafgemächer hineinzubringen. Ich wartete nicht darauf, daß er mir befahl, das meinige wieder aufzusuchen, sondern zog mich unbemerkt zurück, wie ich es auch unbemerkt verlassen hatte.

Aber nicht um mich wieder schlafen zu legen, im Gegenteil, ich begann mich sorgfältig anzukleiden. Das Geräusch, welches ich unmittelbar nach jenem gräßlichen Angstschrei vernommen und die Worte, welche an mein Ohr gedrungen, hatte wahrscheinlich außer mir niemand gehört, denn sie kamen aus dem Zimmer, welches sich über dem meinen befand; aber sie überzeugten mich auch, daß es nicht der Traum einer Dienerin gewesen, welcher einen solchen Schrecken über das ganze Haus verbreitet. Ich wußte ebenfalls, daß die Erklärung, welche Mr. Rochester gegeben, nur eine Erfindung war, deren er sich bedient, um die erregten Gemüter seiner Gäste zu beruhigen. Ich kleidete mich also an, um auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Als ich damit fertig war, setzte ich mich ans Fenster, blickte lange, lange auf den stillen Park und die vom silbernen Mondlicht beschienenen Felder hinaus und wartete auf – ich weiß nicht was. Mir war, als müsse noch eine Begebenheit auf jenen seltsamen Schrei, den Kampf und den Angstruf folgen.

Nein. Überall herrschte Ruhe und Frieden. Nach und nach verstummte jedes Geräusch, alles Murmeln, und nach Verlauf einer Stunde lag Thornfield-Hall wieder so öde und lautlos da wie die Wüste. Es schien als herrschten die Nacht und Schlaf wieder ungestört in ihrem Reich. Jetzt war der Mond seinem Untergange nahe – dann ging er unter. Ich wollte nicht länger in der Kälte und der Dunkelheit dasitzen und beschloß mich in meinen Kleidern [325] auf mein Bett zu legen. Ich verließ den Sitz am Fenster und ging so geräuschlos und vorsichtig wie möglich über den Teppich; als ich mich niederbeugte, um meine Schuhe abzustreifen, klopfte es mit leiser Hand an die Thür.

»Will jemand mit mir sprechen?« fragte ich.

»Sind Sie wach?« fragte die Stimme, welche ich zu hören erwartet hatte, nämlich diejenige meines Herrn.

»Ja, Sir.«

»Und angekleidet?«

»Ja.«

»Dann kommen Sie heraus, aber leise.«

Ich gehorchte. Mr. Rochester stand in der Galerie; in der Hand hielt er eine brennende Kerze.

»Ich bedarf Ihrer,« sagte er, »kommen Sie mit mir, aber lassen Sie sich Zeit und machen Sie keinen Lärm.«

Meine Schuhe waren dünn und leicht. Ich schlich über die mit Teppichen belegten Dielen so leise wie eine Katze. Er ging durch die Galerie, die Treppe hinauf und hielt in dem niedrigen, düsteren Korridor des verhängnisvollen dritten Stockwerks inne. Ich war ihm gefolgt und stand an seiner Seite.

»Haben Sie einen Schwamm in Ihrem Zimmer?« fragte er im Flüsterton.

»Ja, Sir.«

»Haben Sie auch irgend ein Salz – Riechsalz?«

»Gewiß.«

»Gehen Sie zurück und holen Sie beides.«

Ich ging zurück, suchte den Schwamm auf dem Waschtisch, das Riechsalz in meiner Kommode und schlich noch einmal auf demselben Wege zurück. Er wartete noch auf mich; in der Hand hielt er einen Schlüssel; indem er sich einer der kleinen, schwarzen Thüren näherte, steckte er ihn in das Schloß derselben; dann hielt er inne und sprach wiederum zu mir gewendet.

»Wird Ihnen unwohl beim Anblick von Blut?«

[326] »Ich glaube kaum. Ich war noch niemals in der Lage.«

Ein Schaudern überlief mich, als ich ihm diese Antwort gab; aber es war weder Kälte noch Schwindel.

»Dann geben Sie mir Ihre Hand,« sagte er, »es ist doch besser, es nicht auf einen Ohnmachtsanfall ankommen zu lassen.«

Ich legte meine Hand in die seine. »Sie ist warm und zittert nicht,« bemerkte er. Dann drehte er den Schlüssel im Schloß um und öffnete die Thür.

Vor mir sah ich ein Zimmer, das ich schon einmal gesehen zu haben mich erinnerte, – an jenem Tage, als Mrs. Fairfax mir das ganze Haus zeigte. Es war mit schweren Gobelins behängt. In diesem Augenblick waren die Gobelins indessen an einer Stelle in die Höhe genommen und dadurch war eine Thür sichtbar geworden, welche früher verborgen gewesen. Diese Thür war geöffnet, ein Lichtstrahl drang aus dem innern Zimmer. Von dort kam ein schnappender, knurrender Ton, der fast wie das Knurren eines Hundes klang. Indem Mr. Rochester die Kerze auf den Tisch setzte, sagte er zu mir »Warten Sie einen Augenblick«, und ging dann in das innere Gemach. Ein grelles Lachen begrüßte ihn bei seinem Eintritt; zuerst war es lärmend und tobend, aber es endete in Grace Pooles eigenartigem gnomenhaften Ha! Ha! Ha! Sie war also da. Er traf irgend ein Arrangement ohne zu sprechen, obgleich ich eine leise Stimme vernahm, die ihn anredete. Dann kam er heraus und schloß die Thür hinter sich.

»Hier Jane!« sagte er, und ich trat an die andere Seite eines großen Bettes, welches mit seinen faltenreichen Vorhängen einen großen Teil des Zimmers einnahm. Am Kopfende des Bettes stand ein Lehnstuhl; in diesem saß ein Mann, welcher bis auf den Rock vollständig angekleidet war; er lag fast bewegungslos da, sein Kopf war zurückgesunken, die Augen waren geschlossen. Mr. Rochester hielt das brennende Licht über ihn. In dem bleichen und anscheinend [327] leblosen Gesichte erkannte ich den Fremden, Mr. Mason wieder. Ich sah auch, daß sein Hemd an der einen Seite buchstäblich von Blut durchtränkt war.

»Halten Sie das Licht,« sagte Mr. Rochester, und ich nahm es. Er holte eine Schüssel mit Wasser vom Waschtisch. »Halten Sie sie,« sagte er. Ich gehorchte. Er nahm den Schwamm, tauchte ihn in das Wasser und befeuchtete das leichenblasse Gesicht mit demselben. Dann verlangte er mein Riechfläschchen und hielt es ihm unter die Nase. Bald darauf öffnete Mr. Mason die Augen; er stöhnte vor Schmerz. Mr. Rochester öffnete das Hemd des Verwundeten, dessen Arm und Schulter verbunden war. Er wusch das aus der Wunde sickernde Blut ab.

»Ist augenblickliche Gefahr vorhanden?« fragte Mr. Mason mit matter Stimme.

»Bah! keineswegs – kaum geritzt. Laß dich doch nicht so überwältigen, Mensch! Halte dich brav. Ich werde selbst einen Wundarzt holen. Ich hoffe, daß wir dich morgen schon transportieren können. Jane –« fuhr er fort.

»Sir?«

»Ich bin gezwungen, Sie für ungefähr eine Stunde mit diesem Herrn allein zu lassen; – vielleicht werden auch zwei Stunden daraus. Sie werden das herabträufelnde Blut abwaschen, wie ich es thue. Wenn er ohnmächtig wird, führen Sie das Glas, welches auf jenem Tische steht, an seine Lippen und das Riechsalz an die Nase. Sie dürfen unter keinen Umständen zu ihm reden – und – Richard – es geht auf Gefahr deines Lebens, wenn du mit ihr sprichst. Öffnest du auch nur die Lippen – regst du dich auf – so kann niemand für die Folgen stehen.«

Wiederum stöhnte der arme Mensch; er sah aus, als wage er nicht, sich zu bewegen; Furcht vor dem Tode oder vor etwas anderem Entsetzlichen schien ihn fast zu lähmen. Mr. Rochester reichte mir den von Blut durchtränkten [328] Schwamm, und ich fuhr fort, ihn zu gebrauchen, wie er es gethan. Er beobachtete mich eine Minute und sagte dann: »Vergessen Sie nicht! – Jede Unterhaltung ist verboten.« Gleich darauf verließ er das Zimmer. Ein seltsames Gefühl überkam mich, als ich hörte, wie er den Schlüssel im Schloß drehte und seine Schritte dann in dem langen Korridor verhallten.

Nun befand ich mich also in der dritten Etage, eingeschlossen in eine jener mystischen Zellen; schwarze Nacht um mich; vor meinen Augen, unter meinen Händen ein bleiches, blutiges Bild; von einer Mörderin nur durch eine einzige, schwache Thür getrennt: ja – dies letzte war fürchterlich – das Übrige vermochte ich noch zu ertragen; aber ein kalter Todesschauer überlief mich bei dem Gedanken, daß Grace Poole sich auch jeden Augenblick auf mich stürzen könne.

Ich mußte indessen auf meinem Posten ausharren. Ich mußte dies geisterbleiche Antlitz betrachten – diese blauen, stillen Lippen, die sich nicht mehr öffnen durften – diese Augen, die sich bald öffneten, bald schlossen; nun im Zimmer suchend umherwanderten, dann forschend auf mir ruhten und immer den entsetzlichsten Schrecken wiederspiegelten. Immer wieder mußte ich meine Hand in die Schüssel voll Blut und Wasser tauchen, um das geronnene Blut abzuwischen. Ich mußte das Licht über meine traurige Beschäftigung tief herabbrennen sehen; die Schatten auf den alten Gobelins wurden dunkler; die Vorhänge des massiven, großen Bettes wallten düster herab; seltsame Lichter und Schatten spielten auf einem antiken Schranke, dessen Thüren in prächtiger Schnitzerei die Köpfe der zwölf Apostel trugen, während sich auf der oberen Kante des alten Möbelstückes ein Kruzifix mit einem sterbenden Christus von Ebenholz erhob.

Je nach der wechselnden Dunkelheit oder dem flackernden Schein, welcher auf diesen antiken Schrank fiel, waren [329] es bald der bärtige Arzt, Sankt Lukas mit gerunzelter Stirn; bald der heilige Johannes mit wallendem Haar, nun wieder das teuflische Gesicht des Judas Ischarioth, welche aus dem Rahmen hervortraten und Leben anzunehmen schienen.

Und während dieser ganzen Zeit hatte ich ebensowohl zu horchen, wie zu hüten; zu horchen auf die Bewegungen des wilden Tieres oder des Teufels in der angrenzenden Zelle. Seit dem Besuch Mr. Rochesters in jenem Gemache schien der Lärm indessen wie gebannt. Während der ganzen Nacht hörte ich in langen Zwischenräumen nur dreimal ein Geräusch, – einen knarrenden Schritt, eine kurze Wiederholung jener eigentümlich knurrenden Laute, die an das Murren eines Hundes gemahnten, und ein tiefes, herzzerreißendes Stöhnen aus Menschenbrust.

Nun begannen meine eigenen Gedanken mich zu quälen. Was für ein Verbrechen war es, das Mensch geworden, in diesem Hause abgesondert lebte, und welches der Besitzer weder zu bezwingen noch zu verbannen imstande war? – Welch ein Geheimnis war es, das sich in der Totenstille der Nacht einmal in Feuer, ein ander Mal in Blut offenbarte? – Was für ein Geschöpf war es, das die Gestalt und das Gesicht eines gewöhnlichen Weibes trug und bald die Töne eines spöttischen Dämons, bald die eines beutegierigen Raubvogels ausstieß?

Und dieser Mann, über den ich mich beugte – dieser einfache, gewöhnliche, stille Fremde – wie war er in dieses Schreckensgewebe verwickelt worden? – Weshalb hatte jene Furie sich auf ihn gestürzt? – Was hatte ihn veranlaßt, diesen Teil des Hauses zu einer so ungewöhnlichen Zeit aufzusuchen, wenn er ruhig in tiefem Schlaf im Bette hätte liegen sollen? Ich hatte doch gehört, daß Mr. Rochester ihm im unteren Stockwerk ein Gemach angewiesen hatte – was hatte ihn denn hierher gebracht? Und weshalb war er jetzt so zahm unter der Gewalt oder dem [330] Verrat, welchen man ihm angethan hatte? Weshalb unterwarf er sich so geduldig der Geheimhaltung, welche Mr. Rochester gebieterisch verlangt hatte? Seinen Gast hatte man in der empörendsten Weise beleidigt; bei einer früheren Gelegenheit hatte man ihm selbst so abscheulich nach dem Leben getrachtet – und diese beiden Anschläge hüllte er in Geheimnis und suchte sie in Vergessen zu begraben! Und schließlich sah ich auch, daß Mr. Mason sich vollständig dem Willen Mr. Rochesters unterwarf; daß die eiserne Willenskraft des letzteren vollständige Gewalt über die Trägheit und Willenlosigkeit des ersteren besaß. Die wenigen Worte, welche beide miteinander gewechselt hatten, mußten mich davon überzeugen. Es war augenscheinlich, daß die passive Sinnesart des einen während ihres früheren Verkehrs gewöhnlich durch die seltene Thatkraft des anderen beeinflußt worden. Aber welchem Grunde entsprang dann Mr. Rochesters Schrecken, als er von Mr. Masons Ankunft unterichtet ward? – Weshalb hatte der bloße Name dieses willenlosen, schwachen Individuums – das er mit einem einzigen Worte beherrschen konnte wie ein Kind – ihn niedergeschmettert, wie der Blitz zuweilen die starke Eiche zerstört?

Ach! ich war nicht imstande, seinen Blick und sein bleiches Gesicht zu vergessen, als er flüsterte: »Jane, ich habe einen Schlag erlitten – einen furchtbaren Schlag, Jane.« – Ich konnte nicht vergessen, wie der Arm gezittert, der sich auf meine Schulter gestützt hatte. Und es konnte keine unbedeutende Kleinigkeit sein, welche imstande war, den entschlossenen Geist und die mächtige Gestalt Fairfax Rochesters derartig zu erschüttern.

»Wann wird er kommen? Wann wird er wiederkommen?« rief ich in meinem Sinne, als die Stunden der Nacht hinschwanden – als der blutende Kranke schwächer und schwächer und kränker wurde und herzzerreißend stöhnte – und weder die heißersehnte Hilfe noch der erlösende [331] Morgen kam. Immer wieder hatte ich das Wasser an Mr. Masons bleiche Lippen geführt; fortwährend hatte ich ihm das stärkende Riechsalz geboten – aber all mein Bemühen schien erfolglos. Entweder das körperliche oder das geistige Leiden oder der Blutverlust oder alle drei zusammen machten seine Kräfte schnell dahinschwinden. Er stöhnte so sehr und sah so schwach, so wild, so verloren aus, daß ich fürchtete, er würde sterben. Und es war mir nicht einmal gestattet, zu ihm zu sprechen.

Endlich war das Licht zu Ende gebrannt – jetzt erlosch es. Bei seinem letzten Aufflackern bemerkte ich, daß graue Streifen auf den Fenstervorhängen spielten. Tagesanbruch war also nicht mehr fern. Und jetzt vernahm ich auch Pilots fernes Bellen, das aus einer Hundehütte im Hofe zu mir heraufdrang, – neue Hoffnung kam über mich.

Es war keine vergebliche gewesen, denn nach fünf Minuten wurde der Schlüssel im Schlosse gedreht, die Thür wurde geöffnet – meine Nachtwache hatte ein Ende. Sie konnte kaum mehr als zwei Stunden gedauert haben – aber manche Woche hatte mich kürzer gedünkt, als diese Nachtstunden.

Mr. Rochester trat ein, und mit ihm der Wundarzt, welchen er herbeigeholt hatte.

»Jetzt beeilen Sie sich, Carter,« sagte er zu letzterem gewendet, »ich gebe Ihnen nur eine halbe Stunde, um die Wunde zu untersuchen, den Verband anzulegen, den Patienten nach unten zu transportieren und ihn zu expedieren.«

»Kann er denn transportiert werden, Sir?«

»Ohne Zweifel! Es ist durchaus keine ernstliche Verwundung, er ist nur sehr nervös, man muß ihn aufzurütteln suchen. Schnell, schnell, walten Sie Ihres Amtes.«

Mr. Rochester zog die dicken Fenstervorhänge zur Seite, zog die holländische Jalusie auf und ließ soviel Tageslicht wie möglich ins Zimmer fallen. Wie froh und überrascht [332] war ich zu sehen, daß der Tag endlich gekommen war! Rosige Streifen begannen den östlichen Horizont zu färben. Dann näherte Mr. Rochester sich seinem Gaste, welchen der Wundarzt bereits untersuchte.

»Nun, mein guter Junge, sag', wie fühlst du dich jetzt?« fragte er heiter.

»Ich fürchte, sie hat mit mir ein Ende gemacht,« lautete die mit schwacher Stimme gegebene Antwort.

»Ach, Unsinn! – Nur Mut! Mut! Heute über vierzehn Tage wirst du die ganze Sache bereits vergessen haben. Du hast ein wenig Blut verloren. Das ist die ganze Geschichte. Carter, versichern Sie ihm doch, daß nicht die mindeste Gefahr vorhanden ist.«

»Das kann ich mit bestem Gewissen thun,« sagte Carter, welcher jetzt den Verband zurecht gelegt hatte, »ich wünschte nur, ich wäre früher zur Stelle gewesen: er hätte dann nicht soviel Blut verloren. – Aber was bedeutet dies? Das Fleisch hier auf der Schulter ist ja nicht allein zerschnitten – es ist förmlich zerrissen. Diese Wunde rührt nicht von einem Messer her: hier haben Zähne gewütet!«

»Sie hat mich gebissen,« murmelte er. »Als Rochester ihr das Messer entrissen, zerfleischte sie mich wie eine Tigerin.«

»Du hättest nicht nachgeben sollen; du hättest sofort mit ihr ringen müssen,« sagte Mr. Rochester.

»Aber was blieb mir unter solchen Umständen zu thun übrig?« entgegnete Mr. Mason. »Ah! Es war fürchterlich! fürchterlich!« fügte er hinzu und ein kalter Schauer überlief ihn. »Und ich war gar nicht darauf gefaßt, denn anfangs sah sie so ruhig und vernünftig aus.«

»Ich habe dich gewarnt,« lautete die Antwort seines Freundes. »Ich sagte dir: sei auf deiner Hut, wenn du ihr nahe kommst. Außerdem hättest du bis zum Morgen warten können, damit ich dich begleitete. Es war eine grenzenlose Thorheit, die Unterredung schon am Abend und zwar allein herbeizuführen.«

[333] »Ich glaubte, ich würde etwas Gutes damit bewirken.«

»Du glaubtest! Du glaubtest! Wahrhaftig! Es macht mich ärgerlich, dir zuzuhören. Aber, du hast gebüßt und wirst wahrscheinlich noch mehr dafür büßen müssen, daß du meinen Rat nicht befolgt hast. Deshalb will ich dir keine Vorwürfe mehr machen. – Carter! – Beeilen Sie sich! Beeilen Sie sich! Es ist die höchste Zeit! Die Sonne wird bald aufgehen – und ich muß ihn so bald wie möglich fortschaffen!«

»Gleich, Sir, gleich! Die Schulter ist bereits verbunden. Jetzt muß ich diese zweite Wunde hier am Arm untersuchen. Wie es scheint, hat sie auch hier mit ihren Zähnen gewütet.«

»Sie sog das Blut heraus; sie sagte, sie wolle mein Herzblut trinken,« erzählte Mason.

Ich sah, wie Mr. Rochester zusammenschauderte. Ein seltsamer Ausdruck von Ekel, Entsetzen, Haß verzerrte sein Antlitz fast bis zur Unkenntlichkeit; aber er sagte nur:

»Komm Richard, schweig' jetzt und kümmere dich nicht um ihr Gewäsch! Wiederhole es wenigstens nicht!«

»Ach, ich wollte, ich wäre imstande, es zu vergessen,« lautete die müde Antwort.

»Du wirst es können, wenn du dies Land erst im Rücken hast. Wenn du nach Spanish Town zurückgekehrt bist, gedenke ihrer nur, als wäre sie tot und begraben – oder besser ist es noch, wenn du überhaupt nicht mehr an sie denkst.«

»Unmöglich, diese Nacht des Grauens zu vergessen!«

»Es ist nicht unmöglich! Mensch, zeige doch ein wenig Energie! Vor zwei Stunden meintest du noch, du seiest so tot wie ein Hering, und jetzt lebst du doch noch und sprichst so lebendig wie ich. Siehst du! Carter ist jetzt auch beinahe fertig mit dem Verbinden. Und nun will ich dich in wenig Augenblicken schön wie einen Adonis machen. Jane« – dies waren die ersten Worte, welche er seit seinem Wiedereintritt mit mir sprach – »Jane, nehmen Sie diesen [334] Schlüssel: gehen Sie hinunter in mein Schafzimmer und von dort gradeswegs in mein Ankleidezimmer; öffnen Sie die obere Schublade der Kommode und nehmen Sie ein reines Hemd und ein Halstuch aus derselben. Beides bringen Sie her. Aber beeilen Sie sich!«

Ich ging, suchte das Möbelstück, dessen er erwähnt hatte, fand die genannten Gegenstände und kam mit ihnen in das dritte Stockwerk zurück.

»Nun gehen Sie an die andere Seite des Bettes, während ich ihm helfe Toilette zu machen,« sagte er. »Aber verlassen Sie das Zimmer nicht; es ist möglich, daß ich Ihrer Hilfe noch einmal bedarf.«

Ich zog mich hinter das große Himmelbett zurück, wie mein Herr mir befohlen hatte.

»War in den unteren Etagen schon jemand auf den Füßen, als Sie hinunterkamen, Jane?« fragte Mr. Rochester gleich darauf.

»Nein, Sir, alles war still.«

»O Dick, wir werden dich bequem und ungesehen fortbringen. Und das wird das Beste sein, sowohl für dich wie für das arme, beklagenswerte Geschöpf da drüben. Ich habe so lange gekämpft, um eine Bloßstellung zu vermeiden, und ich möchte nicht, daß sie nun doch endlich hereinbräche! Hier Carter, helfen Sie ihm ein wenig mit seiner Weste. Wohin hast du deinen Pelzrock gethan? In diesem verdammten kalten Klima kannst du nicht eine halbe Meile ohne denselben reisen, das weiß ich. In deinem Zimmer? – Jane, laufen Sie hinunter in Mr. Masons Zimmer, – es stößt direkt an das meinige, – und bringen Sie den Rock, welchen Sie dort finden werden.«

Wiederum lief ich fort und kehrte mit einem ungewöhnlich großen Mantel zurück, der mit Pelz gefüttert und verbrämt war.

»So, jetzt habe ich noch einen Auftrag für Sie,« sagte mein unermüdlicher Brotherr, »Sie müssen noch einmal [335] hinunter in mein Zimmer laufen. Welch ein Glück, Jane, daß Sie samtbeschuhte Füßchen haben! ein Bote mit Holzpantoffeln würde bei dieser Gelegenheit kaum zu verwenden sein! Sie müssen die mittlere Schieblade meines Toilettetisches öffnen und ein kleines Fläschchen und ein kleines Glas, welche Sie dort finden werden, herausnehmen. Bringen Sie es mir schnell!«

Ich flog hinunter und wieder hinauf und brachte die gewünschten Dinge.

»So ist's gut! Jetzt, Doktor, werde ich mir die Freiheit erlauben, ihm selbst ein Dosis beizubringen, auf meine eigene Verantwortung. Ich bekam dieses Belebungsmittel in Rom von einem italienischen Charlatan – einem Burschen, dem Sie einen Fußtritt versetzt haben würden, Carter. Es ist keine Medizin, die man ohne Unterschied zu machen anwenden kann, aber bei manchen Gelegenheiten wirkt sie Wunder! Wie jetzt zum Beispiel. Jane, ein wenig Wasser!«

Er reichte mir das kleine Glas, das ich bis zur Hälfte mit Wasser aus der Flasche vom Waschtische füllte.

»So ist's genug. Jetzt befeuchten Sie den Rand des Fläschchens.«

Ich that wie mir geheißen. Er goß zwölf Tropfen einer roten Flüssigkeit hinein und reichte es Mason hin.

»Trink Richard; es wird dir den Mut geben, der dir fehlt, für eine Stunde wenigstens.«

»Aber wird es mir auch nicht schaden? wird es keine Entzündung herbeiführen?«

»Trink! Trink! Trink!«

Mr. Mason gehorchte; aber nur, weil es augenscheinlich nutzlos war, sich zu widersetzen. Er war jetzt angekleidet; er sah wohl noch immer bleich aus, aber nicht mehr blutig und beschmutzt.

Mr. Rochester gestattete ihm, sich drei Minuten auszuruhen, nachdem er die Flüssigkeit getrunken hatte. Dann faßte er seinen Arm:

[336] »Jetzt bin ich fest überzeugt, daß du auf deinen Füßen stehen kannst. – Versuch es nur,« sagte er.

Der Kranke erhob sich.

»Carter, stützen Sie ihn an der andern Seite. Hab' nur guten Mut, Richard; so – jetzt schreite aus! – Siehst du – siehst du – es geht schon.«

»Ich fühle mich besser,« bemerkte Mr. Mason.

»Das wußte ich vorher. Nun Jane, trippeln Sie uns vorauf zur Hintertreppe; riegeln Sie die Thür des Seitenkorridors auf und sagen Sie dem Kutscher der Postchaise, die Sie im Hofe sehen werden – oder dicht vor dem Hofthor, denn ich befahl ihm mit seinen rasselnden Rädern nicht über das Pflaster zu fahren – sich bereit zu halten. Wir kommen gleich. Und noch eins, Jane, wenn Sie unten irgend jemand wach finden, so kommen Sie an den Fuß der Treppe und räuspern Sie sich.«

Inzwischen war es halb sechs geworden, und die Sonne war im Begriff aufzugehen. Trotzdem war die Küche noch dunkel, und alles war ruhig. Die Thür des Seitenkorridors war verriegelt; ich öffnete sie so geräuschlos wie möglich. Auch im Hofe herrschte noch Ruhe. Die Thore standen aber weit geöffnet, und draußen hielt eine Postchaise; die Pferde waren eingespannt, der Kutscher saß auf dem Bocke.

Ich näherte mich ihm und sagte, daß die Herren kämen; er nickte; dann blickte ich sorgfältig spähend umher und horchte.

Überall noch die heilige Ruhe des frühen Morgens! Sogar an den Fenstern der Dienstbotenzimmer waren die Vorhänge noch herabgelassen; die Vögel zwitscherten in den blütenschweren Zweigen der Bäume im Obstgarten, die gleichsam mit weißen Guirlanden jene Mauer schmückten, welche die eine Seite des Hofes erschlossen. Die Pferde der Equipagen stampften von Zeit zu Zeit in den noch geschlossenen Ställen. – Sonst war alles still.

[337] Jetzt kamen die Herren. Mr. Mason, welcher sich auf Mr. Rochester und den Arzt stützte, schien bereits wieder mit Leichtigkeit gehen zu können. Sie halfen ihm den Wagen zu besteigen; Carter setzte sich zu ihm.

»Behüten Sie ihn wohl,« sagte Mr. Rochester zu dem letztgenannten gewendet, »und behalten Sie ihn in Ihrem Hause, bis er ganz wieder hergestellt ist. In ein oder zwei Tagen werde ich hinüberkommen, um zu sehen, wie seine Genesung fortschreitet. Richard, wie fühlst du dich jetzt?«

»Die frische Luft belebt mich, Fairfax!«

»Carter, lassen Sie das Fenster an seiner Seite herab; es ist ganz windstill. Die frische Luft schadet ihm nicht. Lebwohl Dick, mein Junge!«

»Fairfax –«

»Nun, was giebt's noch?«

»Laß sie sorgsam behüten; laß sie so nachsichtig behandeln wie möglich, laß sie –« hier hielt er inne und brach in bittere Thränen aus.

»Ich thue mein Bestes; ich habe es gethan und werde es auch in Zukunft thun,« lautete die Antwort. Dann schlug er die Wagenthür zu, und die Postchaise fuhr davon.

»O, wollte Gott doch, daß dies alles ein Ende hätte!« seufzte Mr. Rochester tief auf, als er die schweren Hofthore wieder schloß und sorgsam verriegelte. Nachdem er dies gethan, ging er mit langsamen Schritten, in düstere Gedanken versunken, auf eine Thür in jener Mauer zu, die den Obstgarten begrenzte.

Da ich vermutete, daß meine Arbeit hier abgethan sei, schickte ich mich an, in das Haus zurückzugehen; indessen hörte ich ihn gleich darauf »Jane!« rufen. Er hatte jene Pforte geöffnet und stand jetzt vor derselben, anscheinend auf mich wartend.

»Kommen Sie für ein paar Augenblicke mit mir dorthin, wo es frisch und luftig ist; jenes Haus ist ein wahrer Kerker. Empfinden Sie das nicht ebenfalls?«

[338] »Mich dünkt es ein prächtiges Schloß Sir.«

»Die Fata morgana der Unerfahrenheit blendet Ihre Augen,« entgegnete er. »Und Sie sehen es durch einen Zauberspiegel; Sie können nicht unterscheiden, daß das Gold bloßer Schlamm und die seidenen Draperien nichts als Spinnweben sind; daß der Marmor elender Schiefer und das kostbar polierte Holz nur fortgeworfene Späne und gemeine Baumrinde ist. Aber hier – damit deutete er auf das schattige Plätzchen, das wir soeben betraten – hier ist alles süß, alles rein, alles wirklich!«

Er schlenderte einen Fußpfad hinunter, der mit Buchsbaum eingefaßt war; an der einen Seite standen Apfelbäume, Birnbäume und Kirschbäume, auf der andern Seite Beete, auf denen alle möglichen altmodischen Blumen standen, wie Levkojen, Feldrosen, Schlüsselblumen, Stiefmütterchen, dazwischen Stabwurz, Feldrosen und allerlei duftende Kräuter. Dies alles war so frisch und farbenprächtig, wie eine ganze Reihe von Aprilschauern es nur machen konnten, auf die ein lieblicher Frühlingsmorgen gefolgt. Die Sonne stieg majestätisch an dem flockigen Horizonte empor und ihr Licht strahlte auf den schattigen, thaufrischen Obstgarten und seine stillen, lauschigen Wege herab.

»Jane, wollen Sie eine Blume?«

Er pflückte eine halbgeöffnete Rose, die erste an ihrem Strauche, und reichte sie mir.

»Ich danke Ihnen, Sir.«

»Finden Sie diesen Sonnenaufgang schön, Jane? Jenen Himmel mit seinen hohen, leichten, lustigen Wolken, die sich zerstreuen werden, wenn der Tag älter wird – diese klare, balsamische Atmosphäre – finden Sie Freude daran?«

»Gewiß, Sir, viel Freude.«

»Dies war eine seltsame Nacht, Jane.«

»Ja, Sir.«

»Und sie hat Sie bleich gemacht! – Empfanden Sie Furcht, als ich Sie mit Mason allein ließ?«

[339] »Ich fürchtete nur, daß jemand aus dem inneren Zimmer kommen könne.«

»Aber Sie hatten doch gesehen, wie ich die Thür verschloß – den Schlüssel trug ich in der Tasche. Ich wäre ein pflichtvergessener Hirte gewesen, wenn ich ein Lamm – mein Lieblingslamm – unbehütet so nahe bei der Höhle des Löwen gelassen hätte; – nein, Sie waren in Sicherheit.«

»Wird Grace Poole noch länger hier im Hause bleiben, Sir?«

»O gewiß! Aber zerbrechen Sie sich den Kopf nicht über sie – – verbannen Sie sie gänzlich aus Ihren Gedanken.«

»Und doch will es mir scheinen, daß Sie Ihres Lebens nicht sicher sind, so lange sie hier im Hause weilt.«

»Fürchten Sie nichts, Jane – ich werde mich in Acht zu nehmen wissen.«

»Und ist die Gefahr, welche Sie gestern Abend fürchteten, vorüber gegangen, Sir?«

»Dafür kann ich erst bürgen, wenn Mason England wieder verlassen haben wird. Jane, mein Leben ist das Leben auf einem Vulkan, der jeden Augenblick Feuer speien und mich verschlingen kann.«

»Aber Sir, Mr. Mason scheint doch ein Mann zu sein, der sich leicht leiten läßt. Ihr Einfluß scheint bei ihm allmächtig zu sein. Er wird Ihnen niemals trotzen oder Sie wissentlich zu schädigen suchen.«

»O nein, Mason wird mir niemals trotzen oder mir mit Wissen und Willen Schaden zufügen – aber unabsichtlich könnte er mich in einem einzigen Augenblick durch ein unüberlegtes Wort, wenn auch nicht um das Leben selbst, so doch um das ganze Glück meines Lebens bringen.«

»Sagen Sie ihm doch, vorsichtig zu sein, Sir. Lassen Sie ihn wissen, was Sie fürchten und zeigen Sie ihm, wie die Gefahr abgewendet werden kann.«

[340] Er lachte ironisch, ergriff hastig meine Hand und schleuderte sie ebenso hastig wieder von sich.

»Einfältiges Kind! Wenn ich das zu thun vermöchte, wo wäre denn die Gefahr? In einem Augenblick wäre sie vernichtet. Seitdem ich Mason kenne – und das ist schon eine lange Zeit – habe ich ihm nur zu sagen gebraucht: ›Thue das,‹ und die Sache ward gethan. Aber in diesem Falle kann ich ihm nichts befehlen, ich kann ihm nicht sagen: ›Hüte dich davor mir Schaden zuzufügen, Richard,‹ denn es ist durchaus notwendig, daß er niemals erfährt, es liege in seiner Macht, mich unglücklich zu machen. Sie sind verwirrt, Sie zerbrechen sich den Kopf, – und Sie werden sich den Kopf noch weiter über mich zerbrechen. Aber Sie sind meine kleine, treue Freundin, nicht wahr, Jane?«

»Sir, es wird mir Freude machen, Ihnen in allem was recht ist zu gehorchen und zu dienen.«

»In der That! Ich sehe, daß dem so ist. Ich sehe aufrichtige, ungeheuchelte Befriedigung in Ihren Mienen, in Ihrer Haltung, in Ihren Augen und Ihrem Gesicht, wenn Sie mir helfen – wenn Sie für mich und mit mir arbeiten in allem, ›was recht ist‹, wie Sie so charakteristisch sagen. Denn wenn ich etwas von Ihnen verlangte, was unrecht wäre, so würde ich wohl kein leichtfüßiges Laufen, keine bereitwillige Fröhlichkeit, keine lebhaften Blicke und blühende Gesichtsfarbe sehen. Meine Freundin würde sich dann bleich und ruhig zu mir wenden und sagen: ›Nein, Sir; das ist unmöglich; ich kann es nicht thun, weil es Unrecht wäre,‹ und sie würde unbeweglich bleiben wie ein Fixstern. Nun, auch Sie haben Macht über mich und könnten mir Schaden zufügen; aber ich wage nicht, Ihnen die Stelle zu zeigen, wo ich verwundbar bin, aus Furcht, daß Sie mich, treu und freundlich wie Sie sind, auf der Stelle durchbohren könnten.«

[341] »Wenn Sie nicht mehr von Mr. Mason zu fürchten haben als von mir, Sir, dann sind Sie wahrlich sicher.«

»Gott gebe, daß es so ist! – Hier, Jane, ist eine Laube, setzen wir uns.«

Die Laube war ein mit Epheu dicht bewachsener Bogen in der Mauer; eine einfach ländliche Bank stand darin. Mr. Rochester setzte sich, ließ jedoch einen Platz für mich frei. Ich setzte mich nicht, sondern blieb vor ihm stehen.

»Setzen Sie sich,« sagte er, »die Bank hat Raum für uns beide. Zögern Sie denn, an meiner Seite Platz zu nehmen? Ist das auch unrecht, Jane?«

Ich antwortete ihm, indem ich mich setzte. Ihm seinen Wunsch abzuschlagen, wäre unklug gewesen; das fühlte ich.

»Und jetzt, meine kleine Freundin, während die Sonne den Thau schlürft – während all die Blumen in diesem altmodischen Garten zum Leben erwachen und ihre Kelche dem Kusse des Tagesgestirns erschließen – während die gefiederte Welt ihren Jungen das Frühstück aus den Feldern von Thornfield zusammenholt, und die emsigen Bienen an ihre Arbeit gehen – jetzt will ich Ihnen eine Geschichte erzählen und Sie müssen versuchen, diese für Ihre eigene zu halten. Zuerst blicken Sie mich aber an und sagen Sie mir, daß Sie sich nicht unbehaglich fühlen und daß Sie nicht fürchten, ein Unrecht zu begehen, indem Sie sich hier von mir zurückhalten lassen.«

»Nein, Sir; ich fühle mich behaglich hier.«

»Also gut, Jane; rufen Sie Ihre Phantasie zu Hilfe: – nehmen Sie an, daß Sie nicht mehr ein wohlerzogenes, hochgebildetes Mädchen wären, sondern ein wilder Knabe, der seit seiner Kindheit nur seinen eigenen Willen gekannt hat. Versetzen Sie sich in ein fremdes, fernes Land; nehmen Sie an, daß Sie dort einen großen Fehler begehen, gleichgiltig welcher Art oder aus welchen Beweggründen, aber ein Fehler, dessen Konsequenzen Ihnen durch Ihr ganzes Leben folgen und Ihre ganze Existenz vernichten. [342] Merken Sie wohl auf, ich sage nicht ein Verbrechen; ich spreche nicht von Blutvergießen oder irgend einer anderen Schuld, welche den Thäter dem Gesetze verfallen ließe, – nein, mein Wort ist Fehler.

Die Folgen Ihrer That werden Ihnen mit der Zeit vollständig unerträglich; Sie ergreifen Maßregeln, um Ihre Lage zu erleichtern – ungewöhnliche Maßregeln, in der That, aber sie sind weder ungesetzlich noch verdammenswert. Und doch sind Sie tief elend, denn die Hoffnung verließ Sie schon, als Ihr Leben kaum begann. Ihre Sonne wird schon um die Mittagszeit durch eine Finsternis verdunkelt, welche – das wissen Sie nur zu wohl – bis zum Sonnenuntergang anhalten wird. Bittere, niedere Ideenverbindungen sind die einzige Nahrung Ihres Erinnerungsvermögens geworden. Sie wandern hierher – dorthin. Sie suchen Ruhe in der freiwilligen Verbannung, – Glück im Vergnügen – ich meine, im herzlosen, sinnlichen Vergnügen – im Vergnügen, das den Verstand einschläfert, das Gefühl abstumpft. Nach langen Jahren des freiwilligen Exils kehren Sie heim, müde im Herzen, öde in der Seele. Sie machen eine neue Bekanntschaft – wie oder wo ist gleichgiltig. In diesem fremden Wesen finden Sie all jene guten, glänzenden Eigenschaften, die Sie seit zwanzig Jahren suchten und niemals fanden; sie sind so frisch, so gesund, so wahr, ohne Flecken, ohne Makel. Dieser Verkehr belebt Sie wieder, er läßt Sie neu geboren werden. Sie fühlen, wie wiederum glücklichere Tage anbrechen – sie hegen reinere Gefühle, edlere Wünsche. Sie hegen das Verlangen, Ihr Leben von vorne zu beginnen und den Rest Ihrer Lebenstage in einer Weise zu verbringen, die eines unsterblichen Wesens würdiger sind.

Und um dies zu erreichen – sind Sie berechtigt, ein Hindernis, das im Hergebrachten liegt, zu übersteigen? Ein nur konventionelles Hindernis, das weder durch Ihr [343] Gewissen geheiligt, noch durch Ihr gesundes Urteilsvermögen gebilligt wird?«

Hier hielt er inne und wartete auf eine Antwort. Was aber sollte ich sagen? Ach, um einen guten Geist, der mir eine vernünftige und zugleich befriedigende Antwort eingegeben hätte! – Eitler Wunsch! Der Westwind flüsterte in den herabhängenden Epheuranken; aber kein sanfter Ariel borgte ihnen seinen Hauch als Medium der Sprache, – die Vögel sangen und zwitscherten in den Wipfeln der Bäume; aber wie süß ihr Gesang auch klang – er war ja unverständlich.

Mr. Rochester begann von neuem:

»Ist der ruhelose, sündhafte, jetzt aber ruhesuchende und reuige Mann berechtigt, der Meinung der Welt zu trotzen, indem er für alle Zeiten jenes gute, sympathische, liebevolle, fremde Wesen an sich fesselt und damit seinen eigenen Seelenfrieden, seine Wiedergeburt des Herzens sichert?«

»Sir,« entgegnete ich, »die Ruhe eines Irrenden, die Bekehrung eines Sünders sollte niemals von einem Mitmenschen abhängig sein dürfen. Männer und Frauen sterben. Philosophen fehlen in ihrer Weisheit, Christen irren in ihrer Güte. Wenn ein Mensch, den Sie kennen, gefehlt und gelitten hat, so lassen Sie ihn höher hinauf blicken als zu seinen Nebenmenschen; Trost und Heilung für seine Wunden, Kraft für seine Umkehr wird von oben herab kommen.«

»Aber das Werkzeug – das Werkzeug! Gott, der das Werk thut, wählt das Werkzeug. Ich selbst war ein weltlich gesinnter, ruheloser, verschwenderischer Mann – dies sage ich Ihnen ohne Gleichnis – und ich glaube, daß ich das Werkzeug für meine Bekehrung gefunden habe in –«

Er hielt inne: die Vögel fuhren fort zu zwitschern; die Blätter rauschten über unseren Häuptern. Etwas wie Erstaunen kam über mich, daß auch sie nicht ihr Zwitschern [344] und Rauschen einstellten, um jene unterbrochene Offenbarung zu hören! Aber sie hätten viele lange Minuten warten müssen – so lange dauerte das Schweigen.

Endlich blickte ich zu dem zögernden Sprecher auf: er hatte seine lebhaften Blicke auf mich geheftet.

»Kleine Freundin,« sagte er in gänzlich verändertem Ton, während auch sein Gesicht sich veränderte, er verlor den Ernst und die Güte und wurde hart und sarkastisch – »Sie haben meine zärtliche Neigung für Miß Ingram bemerkt: glauben Sie nicht, daß sie aus Rache meine Wiedergeburt herbeiführen würde, wenn ich sie heiratete?«

Dann sprang er plötzlich auf, ging schnell bis an das äußerste Ende des Fußpfades, und – pfiff ein Lied, als er zu mir zurückkam.

»Jane! Jane!« rief er aus, als er vor mir stehen blieb, »die Nachtwache hat Sie ganz bleich gemacht. Verwünschen Sie mich nicht, weil ich Ihre Ruhe gestört habe.«

»Sie verwünschen? Nein, Sir.«

»Geben Sie mir die Hand zur Bekräftigung Ihrer Worte. Wie kalt diese kleine Hand ist! Sie war wärmer, als ich sie gestern Abend an der Thür des geheimnisvollen Zimmers berührte. Jane, wann werden Sie wieder mit mir wachen?«

»Sobald ich Ihnen damit nützlich sein kann, Sir.«

»Zum Beispiel in der Nacht vor meiner Hochzeit! Dann werde ich sicherlich nicht imstande sein zu schlafen. Wollen Sie versprechen, dann mit mir aufzubleiben und mir Gesellschaft zu leisten? Mit Ihnen kann ich von meiner Geliebten reden: denn jetzt haben Sie sie gesehen und kennen sie.«

»Ja, Sir.«

»Nicht wahr, Jane, sie ist ein seltenes Geschöpf?«

»Ja, Sir.«

»Stämmig – wirklich stämmig, Jane; groß, braun, geschmeidig und willfährig; mit Haaren, wie die Frauen [345] von Karthago es gehabt haben müssen. Gott sei mir gnädig, da sind Dent und Lynn schon in den Ställen! Gehen Sie durch jene Pforte in die jungen Anpflanzungen, und dann ins Haus.«

Während ich auf dem einen Wege davon ging, schlug er den andern ein und ich hörte noch, wie er laut und fröhlich im Hofe rief:

»Mason ist euch allen heute früh zuvor gekommen. Noch vor Sonnenaufgang ist er auf und davon gegangen. Ich bin um vier Uhr aufgestanden, um ihm Lebe wohl zu sagen.«


Ende des ersten Teiles.

Erstes Kapitel [2]

[346] Erstes Kapitel

Es ist etwas seltsames um Vorahnungen! Und ebenso um Sympathien, und dasselbe ist's mit Vorbedeutungen. Die drei zusammen bilden ein Geheimnis, zu dem die Menschheit den Schlüssel noch nicht gefunden hat. Ich habe in meinem ganzen Leben nicht über Vorahnungen lachen können; denn ich selbst habe deren gar eigentümliche gehabt. Sympathien existieren ebenfalls; das glaube ich bestimmt (zum Beispiel zwischen lange abwesenden, weit entfernten Verwandten, die einander schon seit langer Zeit entfremdet sind und trotzdem Sympathien haben, welche genau die Gemeinsamkeit ihres Ursprungs kennzeichnen) Sympathien, deren Wirkungen weit über unser Begriffsvermögen hinausgehen. Und was wissen wir denn – Vorbedeutungen sind vielleicht die Sympathien, welche die Natur mit dem Menschen hat.

Als ich ein kleines Mädchen von kaum sechs Jahren war, hörte ich eines Abends, wie Bessie Leaven zu Marthe Abbot sagte, ihr habe von einem kleinen Kinde geträumt, und es sei eine sichere Vorbedeutung von Kummer und Unglück für einen selbst oder die Angehörigen, wenn man von Kindern träume. Dies Gespräch würde sich meinem Gedächtnis wahrscheinlich gar nicht eingeprägt haben, wenn nicht gleich darauf ein Umstand eingetreten wäre, der dazu gedient, es dort für immer festzuhalten. Am nächsten Tage [347] wurde Bessie nach Hause an das Totenbett ihrer jüngsten Schwester geholt.

In letzter Zeit war mir jenes Gespräch zusammen mit dem darauffolgenden Zwischenfalle oft wieder eingefallen. Denn während der letzten Woche war kaum eine Nacht hingegangen, die mir nicht den Traum eines Kindes gebracht hätte. Zuweilen wiegte ich es in meinen Armen, dann wieder schaukelte ich es auf meinen Knieen, manchmal sah ich es auch draußen im Garten auf dem Grasplatze mit Frühlingsblumen spielen oder in einem rieselnden Quell bunte Steinchen und Kiesel suchen. In dieser Nacht war es ein weinendes Kind, in der nächsten ein lachendes; jetzt schmiegte es sich schmeichelnd an mich, dann floh es wieder voll Furcht vor mir. Welche Stimmung die Erscheinung aber auch zur Schau tragen mochte, welche Gesichtszüge sie tragen mochte – sie verfehlte nicht, mir an sieben aufeinanderfolgeden Nächten entgegen zu treten, sobald ich die Augen zum Schlummer geschlossen hatte.

Mir war diese stete Wiederkehr eines einzigen Gedankens unheimlich – diese seltsame Wiederkehr des gleichen Bildes beunruhigte mich, und ich wurde nervös, wenn die Zeit des Schlafengehens näher kam und mit ihr die Vision. Die Gesellschaft dieses Kinderphantoms war es gewesen, die mich in jener Mondscheinnacht geweckt, als ich den Schrei hörte. Und am Nachmittage des folgenden Tages kam eine Dienerin mit der Botschaft zu mir, daß in Mrs. Fairfaxs Zimmer jemand sei, der mich zu sprechen wünsche. Als ich hinunter kam, fand ich einen Mann, der auf mich wartete; er sah aus wie ein herrschaftlicher Kammerdiener; er war in tiefe Trauer gekleidet und der Hut, welchen er in der Hand trug, war in Krepp gehüllt.

»Sie werden sich meiner kaum noch erinnern, Miß,« sagte er, indem er sich bei meinem Eintritt erhob, »aber mein Name ist Leaven; als Sie vor acht oder neun Jahren [348] in Gateshead waren, war ich Kutscher bei Mrs. Reed; ich bin auch jetzt noch in ihren Diensten.«

»O, Robert. Sie sind's! Wie geht es Ihnen? Ich erinnere mich Ihrer noch sehr wohl. Sie ließen mich ja zuweilen auf Miß Georgines braunem Pony reiten. Und wie geht es Bessie? Sie sind doch mit Bessie verheiratet?«

»Ja, Miß. Meine Frau ist kerngesund. Danke für die Nachfrage; – vor zwei Monaten hat sie mir wieder ein Kleines geschenkt – wir haben jetzt drei – und Mutter und Kinder gedeihen gut.«

»Und ist die Familie im Herrenhause auch gesund, Robert?«

»Es thut mir leid, Miß, daß ich Ihnen von dort keine besseren Nachrichten bringen kann; aber es geht ihnen augenblicklich sehr schlecht – sie haben großen Kummer.«

»Ich hoffe, daß niemand von ihnen gestorben ist,« sagte ich, indem ich auf seinen schwarzen Anzug deutete. Auch er blickte auf den Krepp an seinem Hute und sagte:

»Mr. John ist gestern vor acht Tagen in seiner Wohnung in London gestorben.«

»Mr. John?«

»Ja, Miß.«

»Und wie trägt seine Mutter es?«

»Nun sehen Sie, Miß Eyre, dies ist kein gewöhnliches Unglück; er hat ein gar wildes Leben geführt. Während der letzten drei Jahre hat er gar sonderbare Dinge getrieben – und sein Tod war fürchterlich.«

»Ich hörte von Bessie, daß er nicht gut that.«

»Nicht gut that! Barmherziger Gott! Er konnte nichts Schlimmeres thun! Er hat seine Gesundheit und seine Güter zu Grunde gerichtet in Gesellschaft der schlechtesten Männer und der schlimmsten Weiber. Er geriet in Schulden und – ins Gefängnis. Zweimal hat seine Mutter ihm heraus geholfen, aber kaum war er frei, als er auch schon zu seinen alten Kumpanen und alten Gewohnheiten [349] zurückkehrte. Sein Kopf war niemals stark, Sie wissen das wohl, Miß, und die Schurken, unter welchen er lebte, betrogen und foppten ihn in der unerhörtesten Weise. Vor ungefähr drei Wochen kam er nach Gateshead hinunter und verlangte von Mistreß, daß sie ihm das ganze Besitztum übergeben solle. Mistreß weigerte sich, durch seine Verschwendung und Extravaganzen sind ihre Mittel schon seit langer Zeit zusammengeschmolzen. So kehrte er denn wieder um nach London, und das nächste, was wir von ihm hörten, war seine Todesnachricht. Wie er gestorben ist – Gott mag es wissen! – Die Leute sagen, daß er sich umgebracht hat.«

Ich schwieg. Das war eine entsetzliche Nachricht.

Robert Leaven fuhr fort:

»Mistreß war schon seit langer Zeit kränklich gewesen; sie ist sehr fett geworden, aber sie ist nicht kräftig dabei; und der Verlust des Geldes und die Furcht vor der Armut richteten sie schier zu Grunde. Die Nachricht von Mr. Johns Tode und die Art, wie er herbeigeführt, kam zu plötzlich: das führte einen Schlaganfall herbei. Drei Tage lang konnte sie kein Wort sprechen, aber am letzten Dienstag schien es ihr wieder besser zu gehen; es war als wollte sie etwas sagen, denn sie machte meiner Frau fortwährend Zeichen und murmelte unverständliche Worte. Erst gestern Morgen konnte Bessie verstehen, daß sieIhren Namen aussprach, und zuletzt verstand sie ganz deutlich, wie sie sagte: Bringt mir Jane – – holt Jane Eyre, ich muß mit ihr sprechen.«

»Bessie weiß nun nicht, ob sie bei Sinnen ist, und ob sie irgend etwas mit den Worten meint; aber sie hat es Miß Reed und Miß Georgina gesagt und ihnen geraten, Sie, Miß, holen zu lassen. Die jungen Damen wollten anfangs nichts davon wissen; aber ihre Mutter wurde so ruhelos, und rief so oft ›Jane! Jane! Jane!‹ daß sie endlich einwilligten. Ich verließ Gateshead gestern; und [350] wenn Sie bis morgen früh fertig werden könnten, Miß, so würde ich Sie gern mitnehmen.«

»Ja, Robert, ich werde fertig sein. Mir ist, als müßte ich doch gehen.«

»Ich glaube auch, Miß; Bessie sagte, Sie würden sich ganz gewiß nicht weigern. Aber Sie werden wohl um Erlaubnis bitten müssen, ehe Sie gehen?«

»Gewiß. Und ich werde es augenblicklich thun.« Dann führte ich ihn in das Zimmer der Domestiken, und nachdem ich ihn der Fürsorge von Johns Frau und Johns eigener Liebenswürdigkeit warm empfohlen hatte, machte ich mich auf den Weg, um Mr. Rochester zu suchen.

Er war in keinem der Zimmer des unteren Stockwerks; er war nicht im Hofe, nicht in den Ställen, nicht im Park. Ich fragte Mrs. Fairfax, ob sie ihn gesehen habe; – ja, sie glaubte, er sei im Billardzimmer und spiele mit Miß Ingram. Folglich eilte ich ins Billardzimmer. Das Aneinanderschlagen der Billardkugeln und das Gemurmel von Stimmen drang mir von dort entgegen. Mr. Rochester, Miß Ingram, die beiden Schwestern Eshton und ihre Anbeter – sie alle waren mit dem Spiel beschäftigt. Es bedurfte einigen Mutes, um eine so illüstre Gesellschaft zu stören; mein Anliegen war aber derart, daß es keinen Aufschub duldete; daher näherte ich mich meinem Herrn, der neben Miß Ingram stand.

Bei meiner Annäherung wandte sie sich um und maß mich mit hochmütigem Blick: ihre Augen schienen zu fragen: »Was kann diese schleichende Kreatur jetzt wollen?« Und als ich mit leiser Stimme sagte: »Mr. Rochester«, machte sie eine Bewegung, als hätte sie große Lust mir zu befehlen, daß ich mich entferne. Noch heute steht ihre Erscheinung vor mir – sie war sehr graziös und eigentümlich. Sie trug ein Morgenkleid von himmelblauem Crepe, ein durchsichtiges azurfarbenes Band schlang sich durch ihre Locken. Sie war dem Spiel mit großer Lebhaftigkeit gefolgt,[351] und zürnender Hochmut konnte den stolzen Linien ihres herrlichen Gesichts nichts anhaben.

»Will die Person etwas von Ihnen?« fragte sie zu Mr. Rochester gewendet. Und Mr. Rochester wandte sich um, zu sehen, wer die »Person« sei. – Er schnitt ein sonderbares Gesicht – eine seiner seltsamen, doppelsinnigen Demonstrationen – warf die Billardqueue fort und folgte mir in den Korridor hinaus.

»Nun, Jane?« fragte er, indem er sich mit dem Rücken an die Thür des Schulzimmers lehnte, die er soeben geschlossen hatte.

»Sir, ich bin gekommen, um einen Urlaub von einer oder zwei Wochen von Ihnen zu erbitten.«

»Was wollen Sie damit? Wohin gehen Sie?«

»Ich will eine kranke Dame besuchen, die mich holen läßt.«

»Welche kranke Dame? Wo wohnt sie?«

»In Gateshead, in ..... shire.«

»– shire? Das ist ja hundert Meilen von hier! Was kann sie Ihnen sein, daß Sie von Ihnen verlangt, eine solche Entfernung um ihretwillen zurückzulegen?«

»Ihr Name ist Reed, Sir, Mrs. Reed.«

»Reed auf Gateshead? Ich kannte einen Reed auf Gateshead, der Ratsherr war.«

»Sie ist seine Witwe, Sir.«

»Und was haben Sie mit ihr zu thun? Woher kennen Sie sie überhaupt?«

»Mr. Reed war mein Onkel, der Bruder meiner verstorbenen Mutter.«

»Zum Teufel! War er das? Weshalb haben Sie mir das nicht längst erzählt. Sie sagten stets, daß Sie keine Verwandten hätten.«

»Keine, die mich anerkannten, Sir. – Mr. Reed ist tot – und seine Witwe hat mich verstoßen.«

»Weshalb?«

[352] »Weil ich arm und ihr eine Last war. Sie hat mich mit leidenschaftlichem Hasse verfolgt.«

»Reed hat aber, so viel ich weiß, Kinder hinterlassen. Sie müssen also doch auch Vettern und Cousinen haben? Sir George Lynn sprach gestern von einem Reed auf Gateshead, der, wie er sagte, einer der verkommensten Menschen in London sei; und Ingram erwähnte einer Miß Georgina Reed von demselben Gute, einer berühmten Schönheit, die vor einigen Jahren in London großes Aufsehen gemacht hat.«

»John Reed ist jetzt ebenfalls tot, Sir; er hat sich selbst vollständig zu Grunde gerichtet und seine Familie zur Hälfte mit in diesen Ruin hineingezogen. Man vermutet, daß er einen Selbstmord begangen hat. Diese fürchterliche Nachricht hat seine arme Mutter so sehr erschüttert, daß sie infolge derselben einen Schlaganfall erlitten hat.«

»Und was können Sie ihr nützen? Unsinn, Jane! Es würde wir niemals in den Sinn kommen, hundert Meilen zu reisen, um eine alte Dame zu sehen, die möglicherweise schon tot ist, wenn Sie an Ihrem Bestimmungsort ankommen. Außerdem erzählten Sie mir ja soeben noch, daß sie Sie verstoßen hat.«

»Ja, Sir, aber das ist schon so lange her. Damals lagen die Verhältnisse auch noch ganz anders. Ich würde niemals wieder Ruhe finden, wenn ich ihren Wunsch jetzt unberücksichtigt ließe.«

»Wie lange werden Sie fortbleiben?«

»So kurze Zeit wie irgend möglich, Sir.«

»Versprechen Sie mir, nur eine Woche zu bleiben –«

»Ich möchte Ihnen das nicht mit Sicherheit versprechen; wenn ich Ihnen mein Wort gäbe, könnte ich doch vielleicht gezwungen sein, es zu brechen.«

»Aber auf jeden Fall werden Sie zurückkommen; Sie versprechen mir wenigstens, sich unter keinen Umständen bewegen lassen zu wollen, Ihren Wohnsitz für immer bei ihr aufzuschlagen?«

[353] »O nein! Ich werde zurückkehren, wenn alles wieder gut geworden ist.«

»Und wer begleitet Sie? Hoffentlich denken Sie nicht daran, die hundert Meilen allein zu reisen?«

»Nein, Sir; sie hat ihren Kutscher geschickt.«

»Ein vertrauenswürdiger Mensch?«

»Ja, Sir, er lebt seit zehn Jahren in der Familie.«

Mr. Rochester sann nach.

»Und wann beabsichtigen Sie abzureisen?«

»Morgen in aller Frühe, Sir.«

»Gut. Aber Sie brauchen Geld. Sie kennen unmöglich ohne Geld reisen, und ich glaube kaum, daß Sie noch viel besitzen. Sie haben von mir noch kein Gehalt bekommen. Wieviel besitzen Sie noch in dieser Welt, Jane?« fragte er gutmütig lächelnd.

Ich zog meine Börse hervor; sie war allerdings ein mageres Ding. »Fünf Schilling, Sir.«

Er nahm mir die Börse aus der Hand, schüttete sich den ganzen Inhalt in die Hand und lachte, als gewähre diese armselige Summe ihm eine ganz besondere Freude. Gleich darauf zog er seine Brieftasche hervor:

»Hier,« sagte er und bot mir eine Banknote. Es waren fünfzig Pfund, und er schuldete mir nur fünfzehn. Ich sagte ihm, daß ich die Note nicht wechseln könne.

»Sie brauchen auch nicht zu wechseln. Das wissen Sie. Es ist nur Ihr Gehalt.«

Ich weigerte mich, mehr anzunehmen, als ich rechtmäßig zu fordern hatte. Er runzelte die Stirn. Endlich sagte er, wie wenn ihm plötzlich ein Gedanke gekommen wäre:

»Ja, ja, Sie haben recht, ganz recht! Es ist besser, wenn ich Ihnen jetzt nicht alles gebe. Wenn Sie fünfzig Pfund besäßen, könnten Sie sich am Ende verleiten lassen, drei Monate fort zu bleiben. Hier haben Sie zehn; ist das nicht reichlich?«

[354] »Ja, Sir. Aber jetzt sind Sie mir noch fünf Pfund schuldig.«

»Sie können wieder kommen, um diese einzukassieren. Sie haben jetzt bei mir, Ihrem Banquier, vierzig Pfund gut.«

»Mr. Rochester, da sich mir jetzt gerade Gelegenheit dazu bietet, kann ich gleich noch von einer anderen Geschäftsangelegenheit mit Ihnen sprechen.«

»Geschäftsangelegenheit?? Da bin ich doch neugierig.«

»Sie haben mir in ziemlich klaren Worten mitgeteilt, Sir, daß Sie sich binnen kurzem verheiraten werden.«

»Nun ja. Was weiter?«

»In diesem Falle, Sir, müßte Adele doch in ein Institut geschickt werden. Ich bin überzeugt, daß auch Sie diese Notwendigkeit einsehen.«

»Um sie meiner Frau aus dem Wege zu räumen, die das arme Kind sonst am Ende mit zu viel Pathos übersehen und ignorieren würde. Es liegt Sinn und Verstand in diesem Ratschlage, ohne Zweifel. Ja, ja, wie Sie sagen, Adele muß in ein Institut geschickt werden. Und Sie müssen natürlich geraden Weges – zum Teufel gehen.«

»Das hoffe ich nicht, Sir, aber ich werde mir eine andere Stellung suchen müssen.«

»Mit der Zeit!« rief er aus mit so scharfem Ton und einer Verzerrung der Gesichtszüge, die zugleich komisch und tragisch war. Dann blickte er mich einige Minuten lang an.

»Und vermutlich werden Sie die alte Mutter Reed und ihre Tochter jetzt ersuchen, Ihnen eine Stellung zu besorgen?«

»Nein, Sir. Ich stehe mit meinen Verwandten nicht auf einem solchen Fuße, daß ich das Recht hätte, Gefälligkeiten von ihnen zu verlangen. Aber ich werde in den Zeitungen annoncieren lassen.«

»Sie werden die ägyptischen Pyramiden hinaufklettern!« murmelte er. »Aber annoncieren Sie nur immer auf Ihre eigene Gefahr hin! Ich wollte wahrhaftig, ich hätte Ihnen nur eine Guinee anstatt jener zehn Pfund gegeben. Geben [355] Sie mir neun Pfund zurück. Ich brauche sie, Jane, ich brauche sie notwendig.«

»Und ich brauche sie ebenfalls, Sir,« entgegnete ich, indem ich meine Hand mit der Börse in die Tasche steckte. »Ich könnte Ihnen das Geld unter keinen Umständen wiedergeben.«

»Kleiner Geizhals!« sagte er, »Sie schlagen meine Bitte um Geld wirklich ab! So geben Sie mir fünf Pfund, Jane.«

»Nicht einmal fünf Schilling, Sir; nein, nicht fünf elende Pence.«

»Lassen Sie mich das Geld nur noch einmal sehen.«

»Nein Sir, ich kann Ihnen nicht trauen.«

»Jane!«

»Sir!«

»Versprechen Sie mir eins!«

»Ich bin gern bereit, Sir, Ihnen alles zu versprechen, was ich möglicherweise halten kann.«

»Also versprechen Sie, daß Sie keine Annonce in die Zeitung rücken lassen werden und mir dieses Finden einer passenden Stellung für Sie überlassen. Wenn es Zeit ist, werde ich Ihnen eine solche besorgen.«

»Das will ich mit Freuden thun, Sir, wenn Sie mir Ihrerseits versprechen, daß sowohl ich wie Adele glücklich aus dem Hause sein werden, bevor Ihre junge Frau es betritt.«

»Sehr gut! Sehr gut! Angenommen! Darauf kann ich Ihnen mein Wort geben! Sie reisen also morgen?«

»Ja, Sir, sehr früh.«

»Werden Sie heute nach den Mittagsessen in den Salon hinunterkommen?«

»Nein, Sir. Ich muß meine Reisevorbereitungen treffen.«

»So müssen wir uns denn jetzt schon für eine kurze Spanne Zeit Lebewohl sagen?«

[356] »Vermutlich, Sir.«

»Und wie betragen sich die Menschen bei dieser Ceremonie des Abschiednehmens, Jane? Lehren Sie mich das. Ich verstehe mich nicht recht darauf.«

»Sie sagen: Lebewohl oder irgend ein anderes Wort, das ihnen gerade einfällt.«

»Also sagen Sie es.«

»Leben Sie wohl für einige Zeit, Mr. Rochester.«

»Und was muß ich sagen?«

»Dasselbe, wenn Sie wollen, Sir.«

»Leben Sie wohl für einige Zeit, Miß Eyre! Und ist das alles?«

»Ja.«

»Nach meinen Begriffen klingt das armselig und unfreundlich und kalt und herzlos. Ich möchte noch etwas anderes. Einen kleinen Anhang für den Ritus. Wenn man sich zum Beispiel die Hände reichte –; aber nein, – das würde mich auch noch nicht zufrieden stellen. Sie wollen also nichts weiter thun, als mir einfach Lebewohl sagen, Jane?«

»Es genügt, Sir; ein einziges Wort enthält oft mehr Herzlichkeit als deren viele!«

»Vielleicht! Aber es klingt doch leer und kalt, dies – Lebewohl!«

»Wie lange wird er noch so mit dem Rücken an die Thür gelehnt dastehen?« fragte ich mich, »ich möchte gern mit dem Packen anfangen.«

Die Mittagsglocke wurde geläutet, und plötzlich schoß er pfeilschnell ohne ein weiteres Wort zur Thür hinaus. Ich sah ihn an diesem Tage nicht wieder, und am nächsten Morgen war ich schon lange unterwegs, bevor jemand im Hause aufgestanden war.

Am Nachmittage des ersten Mai erreichte ich das Parkhüterhäuschen von Gateshead. Es war gegen fünf Uhr. Bevor ich nach dem Herrenhause hinaufging, trat ich hier ein. [357] Es war außerordentlich sauber und hübsch. Vor den architektonisch schönen Fenstern hingen kleine, weiße Vorhänge; der Fußboden war fleckenlos; der Herd und die Feuerzange waren blank poliert, und das Feuer loderte lustig empor. Bessie saß in der Ofenecke und säugte ihren Jüngstgeborenen, und Robert und sein Schwesterchen spielten still in einem Winkel des traulichen Gemaches.

»Gott segne Sie! – ich wußte ja, daß Sie kommen würden!« rief Mrs. Leaven bei meinem Eintritt aus.

»Ja, Bessie,« sagte ich, nachdem ich sie umarmt hatte, »und hoffentlich komme ich nicht zu spät! Wie geht es Mrs. Reed? – Sie ist doch noch am Leben?«

»Ja, sie lebt noch; und sie hat die Besinnung teilweise wieder erlangt. Der Doktor sagt, daß es noch eine oder zwei Wochen mit ihr dauern kann; aber auf eine endliche Besserung dürfen wir nicht hoffen.«

»Hat sie meiner kürzlich wieder erwähnt?«

»Heute Morgen erst hat sie von Ihnen gesprochen und gewünscht, daß Sie kommen möchten. Aber jetzt schläft sie. Wenigstens schlief sie, als ich vor zehn Minuten oben im Herrenhause war. Gewöhnlich liegt sie während des ganzen Nachmittags in einer Art von Lethargie und erwacht erst gegen sechs oder sieben Uhr. Miß, wollen Sie sich hier nicht eine Stunde ausruhen? Später werde ich dann mit Ihnen hinaufgehen.«

Hier trat Robert ein, und Bessie legte ihr schlafendes Kind in die Wiege, um ihn zu bewillkommnen. Dann bestand sie darauf, daß ich meinen Hut abnehmen und eine Tasse Thee trinken solle; denn ich sehe so müde und blaß aus, sagte sie. Ich war froh und nahm ihre Gastfreundschaft dankend an. So widerstandslos wie ich mich als Kind von ihr entkleiden ließ, gestattete ich ihr auch jetzt, mir meine Reisekleider abzunehmen.

Wie die alten Zeiten in meiner Erinnerung wieder auflebten, als ich ihrem geschäftigen Treiben zusah! Sie [358] deckte den Theetisch mit ihrem besten Porzellan, schnitt die Butterbrote, röstete einen Theekuchen, und gab dem kleinen Robert und Jane hier und da einen kleinen Schlag oder Stoß – gerade so wie sie es in vergangenen Tagen mit mir zu thun pflegte. Bessie hatte sich ihr rasches Wesen ebensogut gewahrt, wie ihren leichten Schritt und ihr hübsches Gesicht.

Als der Thee fertig war, wollte ich mich an den Tisch setzen, aber in ihrem alten, befehlenden Ton sagte sie mir, ich solle still sitzen. Sie sagte, sie müsse mir am Kaminfeuer servieren; und dann stellte sie einen kleinen, runden Tisch mit meiner Tasse und einem Teller gerösteter Weißbrotschnitten vor mich hin; gerade so wie sie mich früher mit irgend einem heimlich erbeuteten Leckerbissen zu versorgen pflegte, wenn ich in meinem Kinderstuhl saß. Ich lächelte und gehorchte ihr, wie ich es damals gethan.

Sie wollte dann wissen, ob ich glücklich in Thorn field-Hall sei, und ich sollte ihr erzählen, was für eine Persönlichkeit die Frau des Hauses sei. Und als ich ihr gesagt, daß Thornfield nur einen Herrn habe, wollte sie wissen, ob er liebenswürdig und gut sei und ich ihn gern habe. Ich erzählte ihr, daß er eigentlich ein häßlicher Mann, aber durchaus ein Gentleman sei, daß er mich mit großer Güte behandle, und ich mich dort glücklich fühle. Ferner beschrieb ich ihr die lustige Gesellschaft, die sich jetzt im Thornfield-Herrenhause aufhielt, und diesen Details hörte Bessie mit großem Interesse zu; es waren Dinge, die einen großen Reiz für sie hatten.

Unter solchen Gesprächen verging eine Stunde gar schnell. Bessie brachte mir meinen Hut und meine Shawls wieder, und von ihr begleitet verließ ich das Parkhüterhäuschen, um mich hinauf ins Herrenhaus zu begeben. Von ihr begleitet war ich auch vor fast neun Jahren den Pfad hinuntergegangen, den ich jetzt hinaufging. An einem düstern, nebeligen, rauhen Januarmorgen hatte ich mit [359] verzweifeltem, erbittertem Herzen ein feindliches Dach verlassen – übermannt fast von einem Gefühl des Geächtetseins, ja, des Verdammtseins – um in den unfreundlichen Hafen von Lowood einzulaufen, in jenem fernen, unbekannten Lande. Und dort stieg nun wieder jenes feindliche Dach vor mir empor. Noch immer waren meine Aussichten zweifelhaft – noch immer schmerzte mir das Herz. Noch immer war ich nur ein einsamer Wanderer auf diesem Erdenball – aber ich hatte ein festeres Vertrauen zu mir selbst und meiner Kraft erlangt; ich fürchtete mich nicht mehr vor dem Unterdrücktsein. Die schmerzende Wunde, die man mir so grausam in den Tagen meiner Kindheit geschlagen, war jetzt geheilt; die Flamme des lodernden Hasses war erloschen.

»Sie müssen sich zuerst in das Frühstückszimmer begeben; die jungen Damen werden wie gewöhnlich dort sein,« sagte Bessie, als sie mir vorauf in die Halle trat.

Nach einem kurzen Augenblick befand ich mich in dem genannten Zimmer.

Jedes Einrichtungsstück stand noch da, wie an jenem Morgen, als ich Mr. Brocklehurst zum erstenmal vorgeführt wurde; der Teppich, auf dem er gestanden, lag noch vor dem Kamin. Als mein Blick über die Bücherschränke und ihren Inhalt schweifte, war mir's als ständen jene zwei Bände »Bewick, Vögel Englands« noch auf ihrem alten Platze auf dem dritten Regal, und Gullivers Reisen und »Tausend und eine Nacht« standen gerade darüber. Die leblosen Dinge waren ganz unverändert geblieben – die Menschen jedoch waren bis zur Unkenntlichkeit verändert.

Ich erblickte zwei junge Damen vor mir; die eine war sehr groß, fast so groß wie Miß Ingram – sehr mager und knochig, mit fahlem Teint und strengen harten Zügen. Es lag etwas asketisches in ihrem Blick, das noch erhöht wurde durch die außerordentliche Einfachheit eines schwarzwollenen Kleides mit glattem Rock, einem weißen Leinewandkragen,[360] stramm aus der Stirn gekämmtem Haar und einem nonnenhaften Schmuck, der aus einer Schnur Ebenholzperlen mit daranhängendem großen Kruzifix bestand. Es konnte nicht anders sein – dies war Eliza, obgleich ich in ihrem langen, blutleeren Gesicht wenig Ähnlichkeit mit ihrem früheren Selbst entdecken konnte.

Und ebenso gewiß mußte die andere Georgina sein, aber nicht jene Georgina, deren ich mich erinnern konnte, – jenes schlanke, blonde Mädchen von elf Jahren.

Dies war ein erwachsenes Fräulein, in vollster Blüte, weiß und zart wie Wachs, mit schönen, regelmäßigen Zügen, schmachtenden, blauen Augen und lockigem gelben Haar. Auch sie trug ein schwarzes Kleid; der Schnitt desselben war aber so verschieden von dem ihrer Schwester – so viel kleidsamer und graziöser – daß es ebenso modern aussah, wie das andere puritanisch erschien.

Jede der beiden Schwestern hatte einen Zug von der Mutter – doch nur einen einzigen. Die magere, blasse, ältere Tochter hatte das hervorstehende Auge, – das blühende, üppige, jüngere Mädchen hatte ihr Kinn und ihre Kiefern, – vielleicht waren die Linien ein wenig gemildert, aber dennoch gaben sie dem sonst so schelmischen, üppigen Gesicht einen Zug von unbeschreiblicher Härte.

Als ich auf die Damen zuschritt, erhoben sich beide, um mich zu bewillkommnen, und beide redeten sie mich Miß Eyre an. Elizas Gruß wurde in kurzer, abrupter Weise ausgesprochen, ohne daß sie bei ihren Worten auch nur eine Miene verzogen hätte. Nach der Begrüßung setzte sie sich wieder, heftete ihre Blicke auf das Kaminfeuer und schien meine Anwesenheit nicht weiter zu bemerken. Georgina fügte ihrem »Wie geht es Ihnen« noch mehrere alltägliche Bemerkungen über meine Reise, das Wetter u.s.w. hinzu. Sie sprach in langsam gezogenem, schnarrendem Ton und maß mich dabei seitwärts mit vielsagenden Blicken von Kopf bis zu Fuß; bald musterte sie den Faltenwurf[361] meines braunen Merino-Pelzmantels, bald weilte ihr Auge auf meinem sehr einfachen Reisehute. Junge Damen haben eine merkwürdige Art, einen Menschen wissen zu lassen, daß sie ihn für einen Dummkopf halten, ohne die Worte geradezu auszusprechen. Ein gewisser Hochmut im Blick, Kälte im Wesen, Nonchalance im Ton drücken hinlänglich ihre Gefühle und Ansichten in dieser Beziehung aus, ohne daß sie sich noch besonders durch Unhöflichkeit in Wort oder That zu kompromittieren brauchen.

Ein Naserümpfen, ob nun versteckt oder offen, machte jetzt nicht mehr denselben Eindruck auf mich, den es sonst zu üben pflegte. Als ich so dasaß zwischen meinen Cousinen, war ich ganz erstaunt zu finden, wie gleichgiltig mir die vollständige Vernachlässigung der einen und die halbsarkastische Höflichkeit der andern war. Eliza vermochte nicht mich zu demütigen, Georgina konnte mich nicht aus meinem Gleichmut bringen.

In der That, ich hatte andere Dinge zu bedenken. Während der letzten Monate waren Gefühle und Empfindungen in mir wach geworden, die so viel mächtiger waren, als irgend welche, die sie zu erregen vermochten – Schmerzen und Freuden hatten in mir getobt, die so viel heftiger und wonniger gewesen, als irgend eine Regung, die sie hervorzurufen imstande gewesen – daß die Mienen dieser beiden Damen mich weder freudig noch traurig stimmen konnten.

»Wie befindet sich Mrs. Reed?« fragte ich alsbald, indem ich Georgina ruhig ins Gesicht blickte; diese hielt es für passend, bei dieser direkten Frage aufzufahren, als sei es eine ganz unerlaubte Freiheit, die ich mir erlaubte.

»Mrs. Reed?? Ah! Sie meinen meine Mama! Sie ist außerordentlich krank. Ich glaube nicht, daß Sie sie heute Abend noch sehen können.«

»Ich würde Ihnen unendlich dankbar sein, wenn Sie hinaufgehen wollten, um ihr mitzuteilen, daß ich gekommen bin.«

[362] Georgina schreckte förmlich empor und riß ihre blauen Augen weit und wild auf.

»Ich weiß, daß sie den besonderen Wunsch geäußert hat, mich zu sehen,« fügte ich hinzu, »und ich möchte die Erfüllung dieses Wunsches nicht weiter hinausschieben als absolut notwendig ist.«

»Mama liebt es nicht, wenn man sie am Abend noch stört,« bemerkte Eliza. Bald darauf erhob ich mich, nahm unaufgefordert ruhig meinen Hut und meine Handschuhe ab und sagte, daß ich für einen Augenblick zu Bessie hinausgehen wolle, – die vermutlich in der Küche sei – um diese zu bitten, daß sie sich vergewissere, ob Mrs. Reed mich heute Abend noch sehen wolle oder nicht. Ich ging, und nachdem ich Bessie gefunden und sie mit meinem Auftrag hinaufgeschickt hatte, fuhr ich fort, weitere Maßregeln zu ergreifen.

Bis jetzt war es stets meine Gewohnheit gewesen, mich vor jeder Arroganz zurückzuziehen, förmlich vor derselben zu fliehen; hätte man mich noch vor einem Jahre irgendwo empfangen, wie man mich heute in Gateshead empfing, so würde ich das Haus binnen weniger Stunden bereits verlassen haben; jetzt sah ich aber plötzlich ein, daß das ein sehr thörichtes Verfahren gewesen wäre. Ich hatte eine Reise von über hundert Meilen gemacht, um meine Tante zu sehen und ich mußte jetzt bei ihr bleiben bis sie besser war – oder tot. Den Stolz und die Dummheit ihrer Töchter mußte ich unbeachtet lassen – mich vollständig unabhängig davon machen.

Ich wandte mich also an die Haushälterin, verlangte von ihr, daß sie mir ein Zimmer anweise, sagte ihr, daß ich wahrscheinlich einige Wochen als Gast hier im Hause weilen würde, ließ meinen Koffer auf mein Zimmer bringen und ging dann selbst ebenfalls hinauf.

Auf der Treppe begegnete mir Bessie.

»Mistreß ist wach,« sagte sie. »Ich habe ihr erzählt, [363] daß Sie da sind; kommen Sie und lassen Sie uns sehen, ob sie Sie erkennen wird.«

Ich bedurfte keines Führers nach dem wohlbekannten Zimmer. Wie oft war ich in früheren Tagen hineingerufen worden, um einen Verweis oder eine Strafe zu bekommen. Ich eilte Bessie voran und öffnete vorsichtig und leise die Thür. Die Lampe auf dem Tische war durch einen Schirm verdeckt. Da stand das große Himmelbett mit den bernsteinfarbenen Vorhängen noch wie in alten Zeiten. Dort der Toilettetisch, der Lehnstuhl und der Fußschemel, auf dem zu knieen ich wohl hundertmal verurteilt gewesen. Wie oft hatte ich dort Verzeihung für Sünden erflehen müssen, die ich niemals begangen hatte. Ich blickte in einen gewissen Winkel und erwartete eigentlich halb und halb die schlanken Umrisse einer einst so gefürchteten Reitgerte zu sehen, die dort auf mich zu lauern pflegte und nur darauf wartete, wie ein böser Kobold herausspringen und auf meinem Nacken oder meinen Armen umhertanzen zu können.

Ich näherte mich dem Bette; ich zog die Vorhänge zurück und lehnte mich über die hochaufgetürmten Polster.

Gar wohl erinnerte ich mich des Gesichts von Mrs. Reed und eifrig suchte ich nach den bekannten Zügen. Es ist wahrlich ein Glück, daß die alles mildernde Zeit auch die Rachbegierde erstickt und die Eingebungen der Wut und des Abscheus sänftigt: diese Frau hatte ich in Bitterkeit und Haß verlassen, und jetzt kehrte ich mit keiner anderen Empfindung zu ihr zurück als mit einer Art von Erbarmen über ihr großes Leid, und einem innigen Verlangen alles Unrecht zu vergeben und zu vergessen – mich zu versöhnen und ihre Hand in Freundschaft zu drücken.

Das wohlbekannte Gesicht war da: finster, strenge, erbarmungslos wie immer – jenes eigentümliche Auge, dessen Blick nichts zu besänftigen vermochte – die geschwungenen, herrschsüchtigen, despotischen Brauen. Wie oft hatte [364] dies Auge nur Haß und Zorn und Drohungen auf mich herabgeblitzt! Wie erwachte die Erinnerung an die Schrecken und den Jammer der Kindheit wieder in mir, als ich diese harten Gesichtszüge wieder erblickte! Und doch beugte ich mich zu ihr hinab und küßte sie.

Sie blickte zu mir auf.

»Ist es Jane Eyre?« fragte sie.

»Ja, Tante Reed. Wie fühlen Sie sich, liebe Tante?«

Ich hatte einmal geschworen, daß ich sie nie wieder Tante nennen wollte. Aber ich hielt es für keine Sünde, jenes Gelübde in diesem Augenblick zu brechen. Meine Finger hielten die Hand umschlossen, welche auf der Bettdecke lag: hätte sie die meine freundlich gedrückt, so würde ich eine warme, innige Freude empfunden haben. Aber unempfindliche Naturen werden nicht sobald weich gemacht, und angeborene Antipathien sind nicht so schnell auszurotten: Mrs. Reed zog ihre Hand fort und indem sie ihr Gesicht von mir abwandte, bemerkte sie, daß es ein sehr warmer Abend sei. Und wieder blickte sie mich an, so eisig kalt, daß ich augenblicklich fühlte, wie ihre Ansichten über mich, ihre Empfindungen für mich nicht um ein Atom verändert waren, überhaupt keiner Änderung fähig waren. Ich sah es ihrem versteinerten Auge, welches niemals durch Thränen genetzt, niemals in Zärtlichkeit aufgeleuchtet hatte, an, daß sie fest entschlossen sei, mich bis zum letzten Augen blick für ein schlechtes Geschöpf zu halten; denn im Guten an mich zu glauben würde ihr keine hochherzige Freude gewährt haben – nein, es wäre nur eine Demütigung für sie gewesen.

Ich empfand Kummer, dann bemächtigte sich meiner der Zorn und schließlich faßte ich den Entschluß, sie zu besiegen – ihrer Herr zu werden trotz ihrer hartherzigen Natur und ihres starren Willens. Die Thränen waren mir in die Augen gestiegen, gerade so wie in den Tagen meiner Kindheit – aber ich drängte sie an ihre Quelle [365] zurück. Dann brachte ich einen Stuhl an das Kopfende des Bettes. Ich setzte mich und beugte mich über die Polster.

»Sie haben mich holen lassen,« sagte ich, »und jetzt bin ich hier; und es ist meine Absicht hier zu bleiben, bis ich sehe, daß es sich mit Ihnen zum Besseren wendet.«

»O natürlich! Hast du meine Töchter gesehen?«

»Ja.«

»Nun, du magst ihnen sagen, daß ich wünsche, dich hier zu behalten, bis ich mit dir über einige Dinge sprechen kann, die mir auf der Seele lasten. Heute Abend ist es zu spät, und es wird mir jetzt auch schwer, mich auf die Angelegenheit zu besinnen. Aber etwas wollte ich dir sagen – ja – was war es doch gleich – –«

Der wirre Blick und die veränderte Sprache zeigten mir nur zu deutlich, wie weit die Zerstörung in diesem einst so kraftvollen Körper bereits vorgeschritten war. Unruhig warf sie sich hin und her und begann an der Bettdecke zu zupfen. Mein Arm, der auf dem Kopfkissen ruhte, suchte sie zu beruhigen. Augenblicklich wurde sie wieder ärgerlich.

»Laß los!« sagte sie, »ärgere mich nicht, indem du mich festzuhalten suchst! Bist du wirklich Jane Eyre?«

»Ich bin Jane Eyre.«

»Ich habe mehr Mühe und Kummer und Verdrießlichkeiten mit dem Kinde gehabt, als irgend ein Mensch glauben würde. Mir eine solche Last aufzubürden! Und wieviel Ärger sie mir täglich und stündlich mit ihren unbegreiflichen Charakteranlagen verursacht hat, mit ihren Ausbrüchen von Heftigkeit und ihrem unnatürlichen, fortwährenden Lauern und Horchen auf alles, was man that! Ich kann versichern, sie hat eines Tages zu mir gesprochen wie eine Wahnsinnige oder – wie ein Teufel – kein Kind hat jemals ausgesehen oder gesprochen wie sie! Kein Kind! Ich war so froh, sie aus dem Hause los zu werden. Was haben sie in Lowood eigentlich mit ihr gemacht? Das Fieber [366] brach dort aus, und viele, viele Schülerinnen sind gestorben. Aber sie – sie starb nicht. Ich habe trotzdem gesagt, daß sie tot sei! Ach, wie wünschte ich, daß sie gestorben wäre!«

»Ein seltsamer Wunsch, Mrs. Reed! Weshalb haßten Sie sie so sehr?«

»Ich habe ihre Mutter immer gehaßt, denn sie war die einzige Schwester meines Mannes und er hing mit unsäglicher Liebe an ihr. Er hinderte die Familie daran, sie zu verstoßen, als sie jene abscheuliche, niedere Ehe schloß. Und als die Nachricht von ihrem Tode kam, weinte er wie ein Narr. Er wollte durchaus, daß das Baby geholt werde, obgleich ich ihn anflehte, das Kind lieber in die Kost zu geben und für seine Erhaltung zu bezahlen. Ich haßte es schon, als meine Augen es zum erstenmale sahen – ein kränkliches, weinerliches, elendes Ding! Die ganze Nacht hindurch konnte es in seiner Wiege liegen und winseln – es schrie nicht herzlich und kräftig wie andere Kinder – nein, es stöhnte und wimmerte. Reed hatte Erbarmen mit ihm. Und er pflegte es zu liebkosen und zu beruhigen, wie wenn es sein eigenes Kind gewesen wäre, nein, mehr als er jemals die eigenen Kinder beachtet hatte, als sie in jenem Alter waren. Er versuchte auch, meine Kinder freundlich gegen die kleine Bettlerin zu stimmen; aber meine Lieblinge konnten sie nicht leiden, und er wurde ärgerlich, wenn sie ihre Abneigung zeigten. In seiner letzten Krankheit ließ er es fortwährend an sein Bett bringen und kaum eine Stunde vor seinem Tode ließ er mich einen heiligen Eid ablegen, daß ich das Geschöpf stets erhalten und versorgen wolle. Mir wäre es lieber gewesen, wenn man mir die Sorge für ein Bettlerkind aus dem Arbeitshause zur Pflicht gemacht hätte: aber er war so schwach, schwach von Natur. John ist seinem Vater durchaus nicht ähnlich – und ich bin froh darüber: John ist mir ähnlich und meinen Brüdern – er ist ein ganzer Gibson. Ah! ich wollte, er hörte auf, mich mit[367] seinen Bettelbriefen um Geld zu quälen! Ich habe nichts mehr, das ich ihm geben könnte: wir werden arm! Ich müßte die Hälfte der Dienstboten fortschicken und einen Teil des Hauses abschließen – oder es ganz vermieten. Aber ich kann mich nicht darein finden, das zu thun – und doch, wie sollen wir sonst weiter leben? Zwei Drittel meines Einkommens gehen drauf, um die Zinsen der Wucherschulden zu bezahlen. John spielt ganz fürchterlich und er verliert immer, der arme Junge! Er ist von lauter Gaunern und Tagedieben umgeben. John ist ganz gesunken und verkommen – er sieht grauenhaft aus – ich schäme mich seiner, wenn ich ihn sehe.«

Jetzt geriet sie in eine furchtbare Aufregung.

»Ich glaube, es ist besser, wenn ich sie jetzt verlasse,« sagte ich zu Bessie, die an der andern Seite des Bettes stand.

»Vielleicht wäre es besser, Miß; aber gegen Abend spricht sie oft in dieser Weise – des Morgens ist sie gewöhnlich viel ruhiger.«

Ich erhob mich.

»Bleib!« rief Mrs. Reed aus. »Ich habe noch etwas anderes zu sagen. Er droht mir – er droht mir unaufhörlich mit seinem Tode – oder dem meinen. Und zuweilen träumt mir, daß ich ihn mit einer großen Wunde im Halse oder mit blutigem, entstelltem, geschwärztem Gesicht sehe. Es ist gar seltsam mit mir gekommen. Ich habe schweren, grausamen Kummer. Was ist aber zu thun? Woher soll ich das Geld nehmen?«

Jetzt versuchte Bessie, sie zu überreden, daß sie ein Beruhigungsmittel nehme; nur mit großer Mühe gelang es ihr. Gleich darauf wurde Mrs. Reed ruhiger und sank in eine Art von Halbschlaf. Dann ließ ich sie allein.

Mehr als zehn Tage vergingen, bevor sich wieder die Gelegenheit zu einem Gespräch mit ihr bot. Sie lag entweder im Delirium oder in Lethargie, und der Doktor [368] verbot alles, was sie schmerzlich erregen könnte. Inzwischen stellte ich mich mit Eliza und Georgina so gut es eben gehen wollte. Anfangs waren sie in der That sehr kalt. Eliza pflegte halbe Tage hindurch dazusitzen und zu nähen, zu schreiben oder zu lesen, ohne auch nur eine einzige Silbe mit ihrer Schwester oder mir zu sprechen. Georgina konnte stundenlang Unsinn mit ihrem Kanarienvogel schwatzen, ohne mich auch nur im entferntesten zu beachten. Aber ich war entschlossen, mir es nicht an Zerstreuung oder Beschäftigung fehlen zu lassen; ich hatte meine Zeichen- und Malutensilien mitgebracht, und diese verschafften mir beides.

Mit verschiedenen Stiften und einigen Bogen Papier versehen, pflegte ich entfernt von ihnen in einem Fenster mein fliegendes Atelier aufzuschlagen und mich damit zu beschäftigen, Phantasievignetten zu zeichnen, indem ich jedes Bild zu Papier brachte, das sich mir in dem fortwährend wechselnden Kaleidoskop meiner Einbildungskraft darbot: einen Blick auf die See zwischen zwei Felsen hindurch; der aufgehende Mond und ein Schiff, das an der rotglühenden Scheibe vorübersegelt; eine Gruppe von Schlingpflanzen und Wasserlilien, aus welcher der Kopf einer mit Lotusblumen gekrönten Najade emportaucht; eine Elfe, die unter einem Kranz von wilden Rosen aus dem Nest eines Zaunkönigs herauslugt.

Eines Morgens begann ich ein Gesicht zu skizzieren. Ich wußte selbst nicht recht, was für ein Gesicht es werden sollte. Ich nahm einen weichen, schwarzen Stift, gab ihm eine breite Spitze und arbeitete darauf los. Bald hatte ich eine breite, hervortretende Stirn auf das Papier geworfen, die Linien des Untergesichts waren scharf und eckig. Diese Konturen machten mir Freude, und geschäftig machten meine Finger sich daran, die übrigen Züge hineinzuzeichnen. Scharf markierte, horizontale Augenbrauen mußten unter jene Stirn gesetzt werden; dann folgte natürlich eine schön gezeichnete Nase mit geradem Rücken und weiten Nasenlöchern, und [369] nun ein großer aber biegsamer Mund; ein festes Kinn, das in der Mitte gespalten war; jetzt brauchte ich natürlich einen schwarzen Backenbart und kohlschwarzes Haar, das sich wollig an Stirn und Schläfen schmiegte. Und nun die Augen. Ich hatte sie bis zuletzt gelassen, weil sie die sorgsamste Ausführung verlangten. Ich zeichnete sie groß und formte sie schön; die Augenwimpern wurden lang und dunkel, die Iris glänzend und groß.

»Sehr gut, aber doch nicht ganz ähnlich,« sagte ich zu mir selbst, als ich die Wirkung des Ganzen betrachtete: »die Augen brauchen mehr Kraft und Geist«; und ich machte den Schatten noch dunkler, damit das Licht mehr zur Geltung kam – ein oder zwei glückliche Striche waren von vollster Wirkung. So, jetzt hatte ich das Gesicht eines Freundes vor meinen Blicken. Was bedeutete es dann noch, daß jene beiden jungen Damen mir den Rücken wandten? Ich sah die Zeichnung an und mußte über die sprechende Ähnlichkeit lächeln. Nun vertiefte ich mich in das Gesicht und war zufrieden und glücklich.

»Ist es das Porträt eines Menschen, den Sie kennen?« fragte Eliza, welche unbemerkt an mich herangetreten war.

Ich entgegnete, daß es nur ein Phantasiekopf sei und schob die Zeichnung eilig unter die andern Blätter. Natürlich sprach ich die Unwahrheit, denn es war ein sehr getreues Porträt Mr. Rochesters. Aber was kümmerte das sie? Oder irgend jemand außer mir? Auch Georgina kam, um einen Blick darauf zu werfen. Die anderen Zeichnungen gefielen ihr ganz außerordentlich, aber ihn nannte sie »einen garstigen Menschen«. Beide schienen von meiner Geschicklichkeit sehr überrascht. Ich erbot mich, auch ihre Porträts zu skizzieren, und jede saß dann zu einer Bleistiftsilhouette. Schließlich brachte Georgina ihr Album. Ich versprach ihr eine Wasserfarbenskizze für dasselbe, und jetzt war sie augenblicklich in der besten Laune. Sie schlug mir einen Spaziergang im Park vor. Und als wir kaum zwei Stunden [370] draußen gewesen, waren wir mitten in einer vertraulichen Unterhaltung; sie beglückte mich mit einer Beschreibung des glänzenden Winters, den sie vor zwei Jahren in London zugebracht hatte, sie erzählte mir von der Bewunderung, die sie erregt – von den Aufmerksamkeiten, die man ihr erwiesen, und sie ließ sogar eine Andeutung von der hochtönenden Eroberung durchblicken, die sie gemacht hatte. Im Laufe des Nachmittags und des Abends kam sie wieder auf diese Andeutungen zurück und wurde noch deutlicher; sie wiederholte einige zärtliche Gespräche, beschrieb mir mehrere sentimentale Scenen: kurzum, sie improvisierte an diesem Tage einen ganzen Band Novellen aus dem fashionablen Leben, zu meiner Unterhaltung. Täglich machte sie mir neue Mitteilungen, wenn sie auch stets von demselben Thema handelten – von ihr, ihrer Liebe und ihrem Schmerz. Es war seltsam, daß sie niemals mit einer Silbe der schweren Krankheit ihrer Mutter, des fürchterlichen Todes ihres Bruders und dem augenblicklichen traurigen Zustande der Familienangelegenheiten erwähnte. – Ihr Gemüt schien sich nur mit der Erinnerung an entschwundenes Glück und der Hoffnung auf künftige Zerstreuungen zu beschäftigen. Jeden Tag brachte sie ungefähr fünf Minuten in dem Krankenzimmer ihrer Mutter zu, das war alles.

Eliza sprach noch immer sehr wenig; augenscheinlich hatte sie keine Zeit für die Unterhaltung. Ich habe niemals eine geschäftigere Person gesehen, als sie zu sein schien. Und doch wäre es schwer gewesen zu sagen, was sie eigentlich that, oder vielmehr, irgend ein Resultat ihrer Geschäftigkeit zu entdecken. Sie hatte eine Weckuhr, die sie täglich früh wecken mußte. Ich weiß nicht, womit sie sich vor dem Frühstück beschäftigte; nach demselben hatte sie ihre Zeit indessen in regelmäßige Teile geteilt, und jede Stunde hatte die ihr zugeschriebene Arbeit. Dreimal am Tage studierte sie ein kleines Buch, welches sich nach einer genaueren Besichtigung meinerseits als das »allgemeine Gebetbuch« [371] erwies. Ich fragte sie einmal, worin die große Anziehungskraft dieses Buches für sie liege, und sie entgegnete mir: In der Liturgie. Drei Stunden widmete sie der Beschäftigung, mit Goldfäden den Rand eines viereckigen Tuchstücks zu besticken, welches für einen Teppich beinahe groß genug gewesen wäre. Auf meine Frage in Bezug auf die Verwendung dieses Gegenstandes sagte sie mir, daß es eine Altardecke für eine Kirche sei, welche vor kurzem in der Nähe von Gateshead erbaut worden war. Zwei Stunden widmete sie ihrem Tagebuche; zwei weitere arbeitete sie allein im Küchengarten; eine brauchte sie für die Regelung ihrer Rechnungen und Bücher. Sie schien keiner Gesellschaft, keines Verkehrs, keiner Unterhaltung zu bedürfen. Ich glaube, daß sie auf ihre Weise sehr glücklich war; dieser sich täglich wiederholende Schlendrian genügte ihr; und nichts verursachte ihr größeren Ärger, als wenn irgend ein Umstand eintrat, welcher sie zwang, die peinliche Regelmäßigkeit ihrer Arbeiten abzuändern.

Eines Abends, als sie mehr zur Mitteilsamkeit geneigt war als gewöhnlich, sagte sie mir, daß Johns Aufführung und der drohende Ruin ihrer Familie eine Quelle tiefen und nagenden Kummers für sie gewesen seien, jetzt aber habe ihr Gemüt sich beruhigt und ihr Entschluß sei gefaßt. Ihr eigenes Vermögen zu sichern habe sie Sorge getragen, und wenn ihre Mutter stürbe – denn es sei durchaus unwahrscheinlich, daß sie jemals wieder genesen oder daß es noch lange mit ihr dauern könne, bemerkte sie sehr ruhig – so würde sie einen lange gehegten Plan ausführen: dort eine Zuflucht suchen, wo pünktliche Gewohnheiten vor fortwährender Störung gesichert seien, und zwischen sich und der gottlosen Welt eine mächtige Scheidewand aufrichten.

Ich fragte, ob Georgina sie begleiten würde.

Nein, natürlich nicht. Sie und Georgina hätten nichts miteinander gemein, hätten auch niemals die gleichen Interessen [372] verfolgt. Unter keinen Umständen würde sie sich die Last ihrer Gesellschaft auferlegen. Georgina solle nur ihren eigenen Weg gehen; sie, Eliza, würde den ihrigen finden.

Wenn Georgina mir nicht gerade ihr Herz ausschüttete, so brachte sie fast ihre ganze Zeit auf dem Sofa zu, klagte und jammerte über die Düsterkeit des Hauses und wiederholte unaufhörlich den Wunsch, daß ihre Tante Gibson sie einladen möchte, mit ihr nach London zu gehen.

»Es wäre so viel besser,« pflegte sie zu sagen, »wenn ich auf ein oder zwei Monate fort könnte, bis alles vorüber ist.«

Ich fragte sie nicht, was sie mit dem »alles vorüber« meinte, aber ich vermutete, daß es sich auf den erwarteten Tod ihrer Mutter bezog und auf den düsteren, darauf folgenden Begräbnisritus. Eliza nahm von der Indolenz und den Klagen ihrer Schwester nicht mehr Notiz, als wenn solch ein murmelndes, stöhnendes, träges Geschöpf gar nicht in ihrer Nähe gewesen wäre. Eines Tages jedoch, als sie ihr Rechnungsbuch beiseite legte und ihre Stickerei zur Hand nahm, fing sie plötzlich an, ihr folgendermaßen die Wahrheit zu sagen.

»Georgina, ein dümmeres, eitleres und alberneres Tier als du hat sicherlich niemals auf Erden gewandelt. Du hattest nicht einmal das Recht geboren zu werden, denn du weißt keinen Nutzen aus dem Leben zu ziehen. Anstatt für dich, mit und in dir zu leben, wie jedes vernünftige Wesen es thun sollte, suchst du nur, dich mit deiner Schwäche auf die Kraft anderer zu lehnen. Und wenn du niemand findest, der willig ist, sich mit einem so fetten, aufgedunsenen, nutzlosen, schwächlichen Ding belasten zu lassen, so schreist und jammerst du, daß du vernachlässigt, elend und mißhandelt bist! Für dich soll das Dasein einen immerwährenden Wechsel und ewige Aufregung bringen, sonst nennst du die Welt ein Gefängnis. Du mußt bewundert werden, man soll dir schmeicheln, du willst, [373] daß man dir den Hof macht – du verlangst Musik, Tanz und Gesellschaft – oder du verschmachtest und stirbst. Hast du denn nicht soviel Verstand, daß du ein System erfinden kannst, daß dich unabhängig macht von allen anderen Anstrengungen, jedem anderen Willen als dem deinen? Nimm dir doch den Tag; teile ihn in Sektionen ein; jeder Sektion weise ihre Aufgabe an; laß nirgend verlorene Viertelstunden, zehn oder fünf Minuten übrig, wende sie alle an. Thue jeden Teil deiner Geschäfte zu seiner Zeit, aber mit Methode, mit strenger Regelmäßigkeit. Dann wird der Tag zu Ende sein bevor du gemerkt hast, daß er überhaupt begonnen hat. Und du bist keinem zu Dank verpflichtet, daß er dir geholfen hat, einen leeren Augenblick hinzubringen. Du bist nicht genötigt gewesen, irgend eines Menschen Gesellschaft aufzusuchen, von ihm Unterhaltung, Sympathie, Nachsicht zu verlangen; – kurzum, dann hast du gelebt, wie ein unabhängiges Wesen leben sollte. Nimm meinen Rat – es ist der erste und letzte, den ich dir gebe; dann wirst du weder mich noch irgend einen Menschen brauchen, was auch kommen möge. Vernachlässigst du diesen Rat hingegen – fährst du fort zu faulenzen, zu jammern, zu stöhnen, zu wünschen wie bisher – dann trage auch die Konsequenzen deiner blödsinnigen Dummheit, wie furchtbar und unerträglich diese auch sein mögen. – Eines sage ich dir offen, höre auf mich; denn wenn ich auch niemals wiederholen werde, was ich dir zu sagen im Begriff bin, so werde ich doch strenge danach handeln. Nach dem Tode meiner Mutter will ich nichts mehr mit dir zu thun haben; von dem Tage an, wo man ihren Sarg in das Gruftgewölbe von Gateshead tragen wird, sind wir, du und ich, so weit von einander geschieden, als ob wir uns niemals gekannt hätten. Du brauchst dir nicht einzubilden, daß ich jemals irgend einen Anspruch deinerseits an mich anerkennen werde, nur weil wir zufällig gemeinsame Eltern haben. Ich sage dir dies: [374] wenn das ganze menschliche Geschlecht – mit Ausnahme von uns beiden – plötzlich von der Erde vertilgt würde und wir allein auf der Erdoberfläche stünden, so würde ich dich allein in der alten Welt lassen und mich selbst in die neue hinüber begeben.«

Hier schwieg sie.

»Du hättest dir die Mühe ersparen können, diese Tiraden loszulassen,« antwortete Georgina. »Jeder Mensch weiß, daß du das selbstsüchtigste, herzloseste Geschöpf auf Gottes weitem Erdenrund bist, und ich kenne deinen trotzigen Haß besonders gegen mich. Ich hatte ja eine Probe davon, als du mir jenen bösen Streich mit Lord Edwin Vere spieltest; du konntest es nicht ertragen, daß ich höher stehen sollte als du, daß ich einen Titel haben und in Gesellschaften kommen würde, in denen du nicht einmal wagen darfst, dein böses Gesicht zu zeigen. Und deshalb spieltest du die Spionin und die Klätscherin und zerstörtest für immer all meine Hoffnungen auf Lebensglück.«

Dann zog Georgina ihr Taschentuch hervor und schneuzte sich noch eine ganze Stunde lang. Eliza saß unbewegt da und arbeitete fleißig wie immer an ihrer Altardecke.

Im allgemeinen wird wenig Wert auf wahres, warmes, großherziges Empfinden gelegt: hier waren nun aber zwei Naturen, von denen die eine durch den Mangel daran unerträglich bitter, die andere verächtlich geschmacklos geworden war. Gefühl ohne Vernunft ist in der That ein schwacher Trunk; aber Vernunft, die nicht durch Gefühl gemildert wird, ist ein zu bitterer und rauher Bissen für den menschlichen Geschmack.

Es war ein feuchter, winterlicher Nachmittag. Georgina war bei dem Lesen eines Romans auf dem Sofa eingeschlafen; Eliza war gegangen, um in der neuen Kirche einem Gottesdienste zu Ehren irgend eines Heiligen beizuwohnen – denn in Religionssachen war sie eine strenge Formalitätenkrämerin, um nicht zu sagen: Heuchlerin; kein [375] Wetter konnte sie jemals an der Ausübung dessen hindern, was sie für ihre kirchlichen Pflichten hielt; ob schön, ob Regen, sie ging an jedem Sonntag dreimal in die Kirche und an jedem Wochentage, der einem Heiligen geweiht war, ebenfalls.

Mir fiel es ein, nach oben gehen zu wollen, um zu sehen, wie es der sterbenden Frau erging, um die sich fast niemand kümmerte. Ihre eigenen Dienstboten erwiesen ihr eine nur sehr kärgliche Aufmerksamkeit; und die gemietete Krankenwärterin, welche in keiner Weise kontrolliert wurde, entwischte aus dem Zimmer so oft sie konnte. Bessie war zwar treu; aber sie mußte sich um ihre eigene Familie kümmern und konnte nur gelegentlich nach dem Herrenhause kommen. Ich fand das Krankenzimmer unbehütet, wie ich es nicht anders erwartet hatte; keine Wärterin war dort; die Patientin lag still und anscheinend in Lethargie; ihr bleiches Gesicht war in die Kissen zurückgesunken; im Kamin war das Feuer dem Verlöschen nahe.

Ich legte frische Nahrung auf die Kohlen, ordnete die Betten und ließ meine Blicke einige Augenblicke auf der Gestalt ruhen, welche mich jetzt nicht ansehen konnte, – dann trat ich ans Fenster.

Der Regen schlug heftig gegen die Scheiben; der Wind pfiff und heulte um das Haus. Da dachte ich: hier liegt nun eine, die bald über alle Kämpfe der irdischen Elemente fort sein wird. Und wohin wird jener Geist, der sich jetzt aus seiner körperlichen Hülle losringt, fliegen, wenn er sich endlich losgerungen hat?

Indem ich über dies große Mysterium grübelte, dachte ich an Helen Burns – ihre letzten Worte kehrten in mein Gedächtnis zurück – ihr Glaube – ihre Lehre von der Gleichheit aller entkörperten Seelen. Noch horchte ich im Geiste auf die Laute ihrer unvergeßlich süßen Stimme – noch rief ich mir ihr bleiches, vergeistigtes Gesicht, ihre schmerzerfüllten Züge, ihren erhabenen Blick, als sie so [376] still auf ihrem Sterbebette lag, in die Erinnerung zurück, noch hörte ich ihren sehnsüchtig geflüsterten Wunsch, in den Schoß des allmächtigen Vaters zurückkehren zu dürfen – als eine schwache Stimme vom Bette her murmelte:

»Wer ist da?«

Ich wußte, daß Mrs. Reed schon tagelang nicht mehr gesprochen hatte. Kehrte sie denn zum Leben zurück? Ich ging zu ihr.

»Ich bin es, Tante Reed.«

»Wer – ich!« lautete ihre Antwort. »Wer bist du?« und dabei blickte sie mich erstaunt und ein wenig erschrocken, aber doch nicht wild und abwesend an. »Du bist mir ja ganz fremd – wo ist Bessie?«

»Sie ist im Parkhüterhäuschen, Tante.«

»Tante!« wiederholte sie. »Wer nennt mich Tante? Du bist doch keine von den Gibsons? – – und doch kenne ich dich – das Gesicht, und jene Stirn, und die Augen – das alles ist mir so bekannt; – du siehst aus wie – wie – nun ja, wie Jane Eyre!«

Ich schwieg. Denn ich fürchtete, eine Katastrophe herbeizuführen, wenn ich meine Identität mit Jane Eyre erklärte.

»Und doch,« sagte sie, »fürchte ich, daß ich mich irre. Meine Gedanken täuschen mich. Ich wünschte Jane Eyre zu sehen, und jetzt finde ich eine Ähnlichkeit, wo keine existiert. Außerdem muß sie sich doch während dieser acht Jahre verändert haben!«

Sanft und vorsichtig erklärte ich, daß ich die Person sei, welche sie vermutete und welche sie zu sehen wünschte, und als ich bemerkte, daß sie mich verstand und daß sie vollständig bei Sinnen war, teilte ich ihr mit, daß Bessie ihren Mann nach Thornfield geschickt habe, um mich nach Gateshead zu holen.

»Ich weiß, daß ich sehr krank bin,« sagte sie nach einer Weile. »Vor ein paar Minuten versuchte ich, mich im Bette [377] umzudrehen und fühlte, daß ich kein Glied mehr rühren kann. Es wäre gut, wenn ich mein Gemüt erleichtern könnte, bevor ich sterbe. Was uns wenig zu denken giebt, wenn wir gesund sind, lastet schwer auf uns in einer Stunde, wie diese es für mich ist. Wärterin, sind Sie da? Oder ist außer dir noch jemand im Zimmer?«

Ich versicherte sie, daß wir allein seien.

»Nun, ich habe dir zweimal ein Unrecht zugefügt, das ich jetzt bereue. Das eine war, daß ich das Versprechen brach, welches ich meinem Manne gegeben, dich stets wie mein eigenes Kind halten zu wollen; – das andere –« hier hielt sie inne.

»Nun, vielleicht ist es doch von keiner großen Bedeutung,« murmelte sie vor sich hin, – »und vielleicht werde ich wieder gesund, und dann wäre der Gedanke schrecklich, mich so vor ihr gedemütigt zu haben.«

Sie machte eine Anstrengung, ihre Lage zu verändern, aber es gelang ihr nicht; ihr Gesicht veränderte sich; sie schien eine innere Bewegung zu spüren – vielleicht die Vorboten des letzten Kampfes.

»Nun, ich muß darüber fortkommen. – Die Ewigkeit liegt vor mir. Es ist doch besser, wenn ich es ihr sage. – Geh an meinen Toilettekasten, öffne ihn und nimm den Brief heraus, denn du dort finden wirst.«

Ich that, wie sie mir befohlen.

»Lies den Brief,« sagte sie.

Er war kurz und enthielt folgendes:


»Madame!

Wollen Sie die Güte haben, mir die Adresse meiner Nichte Jane Eyre zu schicken und mir mitzuteilen, wie es ihr geht. Es ist meine Absicht, ihr binnen kurzem zu schreiben und sie aufzufordern, daß sie zu mir nach Madeira herauskommt. Die Vorsehung hat meine Bemühungen mit Erfolg gekrönt, ich habe mir ein Vermögen erworben. Und da ich unverheiratet und kinderlos, [378] so bin ich willens, sie noch bei Lebzeiten zu adoptieren und ihr bei meinem Tode alles zu hinterlassen, worüber ich verfügen kann.

Ich zeichne mich, Madame, u.s.w. u.s.w.

John Eyre, Madeira.«


Der Brief war vor drei Jahren geschrieben.

»Weshalb ist mir dies niemals mitgeteilt worden?« fragte ich langsam.

»Weil ich dich zu sehr und zu unabänderlich haßte, um die Hand dazu zu leihen, daß du zu Wohlstand gelangtest. Ich konnte dein Betragen gegen mich nicht vergessen, Jane, die Wut nicht vergessen, mit welcher du dich einst gegen mich gewandt hast; den Ton nicht, in welchem du mir erklärt, daß du mich mehr haßtest als irgend jemand auf der Welt; die unkindliche Stimme nicht, nicht den unnatürlichen Blick, mit dem du gesagt, daß der bloße Gedanke an mich dich krank mache, mit dem du versichert, daß ich dich mit der elendesten Grausamkeit behandelt habe. Ich konnte meine eigenen Empfindungen nicht vergessen, die ich gehegt, als du damals aufsprangst und all das Gift deiner Seele über mich ausgossest: ich hatte Furcht empfunden, wie wenn ein Tier, das ich gestoßen oder geschlagen, mich plötzlich mit menschlichen Augen angesehen und mich mit einer menschlichen Stimme verflucht hätte. – Bring mir einen Tropfen Wasser! Aber beeile dich! O! Beeile dich!«

»Liebe Mrs. Reed!« sagte ich, indem ich ihr den gewünschten Trunk reichte, »denken Sie nicht mehr an all diese Dinge, schlagen Sie sich sie aus dem Sinn. Verzeihen Sie mir meine leidenschaftliche Sprache: ich war damals ein Kind; acht, fast neun Jahre sind seit jenem Tage vergangen.«

Sie beachtete meine Worte nicht; als sie aber das Wasser getrunken und tief Atem geholt hatte, fuhr sie folgendermaßen fort:

[379] »Ich sage dir; ich konnte es nicht vergessen und ich suchte meine Rache. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß dein Onkel dich adoptieren und dich damit zu Glück und Wohlstand gelangen lassen wollte. Ich schrieb an ihn. Ich sagte, daß es mir leid thäte um den Kummer, den ich ihm bereiten müsse, aber Jane Eyre sei tot, sie sei am Typhus in Lowood gestorben. Jetzt magst du thun, was dich gut dünkt; schreib ihm und widersprich meinen Angaben – decke meine Lügen auf sobald du willst. Ich glaube, du warst nur mir zur Qual geboren; meine letzte Stunde wird durch die Erinnerung an eine That gemartert, welche ich niemals zu begehen versucht gewesen, wenn es sich nicht um dich gehandelt hätte.«

»Wenn ich dich nur überreden könnte, Tante Reed, nicht mehr an diese Angelegenheit zu denken und mich mit Güte und Nachsicht und Vergebung anzusehen –«

»Du hast einen sehr bösen Charakter,« sagte sie, »und dazu einen, den ich bis auf den heutigen Tag nicht zu begreifen imstande gewesen. Ich werde es nie verstehen, wie du während neun Jahren jede schlechte Behandlung ruhig und geduldig hinnehmen konntest, um im zehnten in Wut und Heftigkeit auszubrechen.«

»Mein Charakter ist nicht so schlecht wie Sie glauben, Tante Reed, ich bin leidenschaftlich aber nicht boshaft. Als ich ein kleines Kind war, wäre ich oft froh und glücklich gewesen, wenn Sie sich von mir hätten lieben lassen wollen, und ich sehne mich jetzt von ganzem Herzen nach einer Versöhnung. Küssen Sie mich, Tante.«

Ich näherte meine Wange ihren Lippen; sie berührte dieselbe nicht. Sie sagte, es beängstige sie, wenn ich mich über das Bett lehne, und verlangte wiederum zu trinken. Als ich sie wieder niederlegte – denn während des Trinkens hatte ich sie aufgerichtet und mit meinem Arm gestützt – bedeckte ich ihre eiskalte, feuchte Hand mit der meinen; [380] die schwachen Finger zuckten unter meiner Berührung zusammen – die gläsernen Augen mieden meinen Blick.

»Nun, wie Sie wollen, hassen Sie mich oder lieben Sie mich,« sagte ich endlich, »Sie haben meine volle Verzeihung; bitten Sie jetzt den allmächtigen Gott um seine Vergebung – und finden Sie Frieden.«

Armes, gequältes Weib! Jetzt war es zu spät für sie. Jetzt konnte sie keine Anstrengung mehr machen, um ihr Gemüt zu ändern. Während ihres Lebens hatte sie mich nur gehaßt – auch im Tode mußte sie mich noch hassen.

Jetzt trat die Wärterin ein, und Bessie folgte ihr.

Ich verweilte noch eine halbe Stunde, immer auf ein Zeichen von Freundlichkeit und Vergebung hoffend: aber es war umsonst, sie sah mich nicht mehr. Sie sank immer mehr und mehr in Bewußtlosigkeit; die Besinnung kehrte nicht wieder. Um zwölf Uhr in jener Nacht starb sie. Ich war nicht da, um ihre Augen zudrücken zu können; auch ihre Töchter weilten nicht bei ihr. Am nächsten Morgen kamen die Wärterin und Bessie, um uns mitzuteilen, daß alles vorüber sei. Man hatte sie schon auf das Paradebett gelegt. Eliza und ich gingen, um sie noch einmal zu sehen. Georgina brach in lautes, krampfhaftes Weinen aus und sagte, sie habe nicht den Mut zu gehen. Da lag nun Sarah Reeds einstmals so kräftiger, lebensvoller Körper, starr und kalt und still. Die kalten Lider bedeckten das scharfe, erbarmungslose Auge; die Stirn und die starren Züge trugen noch den Stempel ihrer unbeugsamen, unerbittlichen Seele. Dieser Leichnam hatte etwas Seltsames, Feierliches für mich. Mit Schauer und Kummer blickte ich auf ihn herab: nichts Sänftigendes, nichts Friedliches, nichts Erbarmungsreiches oder Hoffnungerweckendes oder ruhig Stimmendes flößte er mir ein; nur einen herzzerreißenden, angstvollen Jammer um ihr Weh – nicht um meinen Verlust – und ein düsteres, thränenloses Entsetzen über die Grauen des Todes in dieser Gestalt.

[381] Eliza blickte ruhig auf ihre Mutter herab. Nach einigen Minuten des Schweigens bemerkte sie:

»Mit ihrer Konstitution hätte sie ein schönes, hohes Alter erreichen können. Aber Kummer hat ihr Leben verkürzt.«

Dann zog ihr Mund sich einen Augenblick krampfhaft zusammen. Aber nur für einen Augenblick. Gleich darauf wandte sie sich ab und ging zur Thür hinaus. Dasselbe that ich. Keine von uns hatte eine Thräne vergossen.

Zweites Kapitel [2]

Zweites Kapitel

Mr. Rochester hatte mir nur eine Woche Urlaub gegeben, aber trotzdem verfloß ein ganzer Monat, ehe ich Gateshead verließ. Ich wollte unmittelbar nach dem Begräbnis abreisen, aber Georgina flehte mich an zu bleiben, bis es ihr möglich sein würde, nach London abzureisen, wohin ihr Onkel, Mr. Gibson, sie nun endlich, endlich eingeladen hatte. Dieser war hinaus gekommen, um alle Anstalten für das Begräbnis seiner Schwester zu treffen und die Geldangelegenheiten der Familie zu ordnen. Georgina sagte, sie fürchte sich mit Eliza allein zu bleiben; von ihr hatte sie weder Sympathie in ihrer Traurigkeit, noch Hilfe in ihrer Bedrängnis und Unterstützung bei ihren Reisevorbereitungen zu erhoffen. Daher ertrug ich denn ihr kleinmütiges Jammern und ihre selbstsüchtigen Klagen so gut ich konnte und that mein Bestes, indem ich für sie nähte und arbeitete und Wäsche und Kleider für sie einpackte. Es ist wahr, daß sie müßig umherging, während ich arbeitete, und gar oft dachte ich in meinem Sinne: »Nun Cousine, wenn wir beiden verurteilt wären miteinander zu leben, so würden wir die Sache bald anders anfassen. Ich würde mich nicht gutwillig darein finden, der arbeitende Teil zu sein; ich würde auch dir deinen Teil der Arbeit zukommen lassen und dich zwingen ihn zu thun, wenn er nicht ungethan bleiben sollte. Und ich würde auch darauf bestehen, daß du einige dieser nur halb aufrichtig empfundenen, schleppenden [382] Klagelieder in deine eigene Brust verschlössest. Nur, weil unser Verkehr zufällig ein sehr vorübergehender ist und in eine sehr traurige Zeit fällt, finde ich mich darein, so geduldig und gutwillig dir gegenüber zu sein.«

Endlich kam der Augenblick für Georginas Abreise, aber jetzt war die Reihe an Eliza, mich zu bitten, daß ich noch eine Woche dableibe. Wie sie sagte, nahmen ihre Pläne all ihre Zeit und Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie war im Begriff, in irgend ein unbekanntes Land abzureisen und während des ganzen Tages hielt sie sich in ihrem Zimmer auf. Die Thür war von innen verschlossen, und sie beschäftigte sich damit Koffer zu packen, Schiebladen zu leeren, Papiere zu verbrennen, ohne daß jemand sie bei dieser Arbeit hätte stören dürfen. Von mir wünschte sie, daß ich mich um den Haushalt kümmere, Besucher empfing und Kondolenzschreiben beantworte.

Eines Morgens sagte sie mir, daß sie meiner jetzt nicht weiter bedürfe. »Und,« fügte sie hinzu, »ich bin Ihnen außerordentlich verbunden für Ihre außerordentlichen Dienste und Ihr diskretes Verhalten. Es ist freilich ein großer Unterschied, ob man mit Ihnen lebt oder mit Georgina. Sie tragen Ihre eigene Last im Leben und quälen und belästigen niemand. Morgen,« fuhr sie fort, »begebe ich mich nach dem Kontinent. Ich werde meinen Aufenthalt in einem frommen Hause bei Lisle nehmen – ein Nonnenkloster, wie man es zu nennen pflegt. Dort werde ich ruhig und ungestört leben. Ich werde mich für einige Zeit der Prüfung des römisch-katholischen Dogmas widmen und sorgfältig die Werke über das System dieser Lehre prüfen. Wenn ich finde – wie ich es halb und halb erwarte – daß es dasjenige ist, welches darauf berechnet ist, alle Dinge des Lebens in guter Ordnung und ruhig ausführen zu können, so werde ich mich zu den Lehren bekennen, welche von Rom ausgegangen sind, und wahrscheinlich den Schleier nehmen.«

Ich drückte durchaus kein Erstaunen über diesen Entschluß [383] aus und versuchte ebensowenig, sie von demselben abzubringen. »Dieser Beruf wird aufs Haar für dich passen,« dachte ich, »mag dir die Sache gut bekommen!«

Als wir uns trennten, sagte sie: »Leben Sie wohl, Cousine Jane Eyre; möge es Ihnen gut gehen, Sie besitzen ziemlich viel Einsicht und Verstand.«

Und ich entgegnete: »Auch Sie sind nicht ohne Einsicht und Verstand, Cousine Eliza; aber was Sie davon besitzen wird wahrscheinlich binnen Jahresfrist in einem französischen Kloster eingemauert sein. Indessen geht das mich nicht an, und wenn Sie sich wohl dabei fühlen, ist es mir gleichgiltig.«

»Sie haben recht,« entgegnete sie. Und mit diesen Worten trennten wir uns und gingen jede unseres Weges.

»Da ich nicht Gelegenheit haben werde, wieder auf sie oder ihre Schwester zurückzukommen, kann ich hier ebensogut noch erwähnen, daß Georgina eine vorteilhafte Heirat mit einem sehr reichen aber verlebten Manne von Welt schloß, und daß Eliza in der That den Schleier nahm und heute Oberin des Klosters ist, in welchem sie die Zeit ihres Noviziats zubrachte. Ihr Vermögen hat sie demselben ebenfalls vermacht.

Wie es Leuten ums Herz sein muß, die nach einer längeren oder kürzeren Abwesenheit wieder in ihr Heim zurückkehren – das wußte ich nicht. Ich hatte diese Erfahrung ja niemals machen können. Wohl wußte ich, was es für mich als Kind bedeutete, wenn ich in Gateshead nach einem langen Spaziergang heimkehrte –: ich wurde gescholten, weil ich traurig und verfroren aussah; und später hatte ich erfahren, was es in Lowood hieß, nach langem Marsche aus der Kirche nach Hause zu kommen –: ich sehnte mich nach einer guten, reichlichen Mahlzeit und einem warmen Kaminfeuer und bekam keins von beiden. Keins von diesen beiden ›Nachhausekommen‹ war sehr angenehm oder wünschenswert; kein Magnet zog mich zu einem [384] gewissen Punkt und vermehrte und verstärkte die Kraft und Attraktion je näher ich kam. Was die Heimkehr nach Thornfield für mich bedeutete, mußte ich noch erst erfahren.

Meine Reise war langweilig – sehr langweilig. Fünfzig Meilen am ersten Tage, Nachtruhe in einem Landwirtshause, fünfzig Meilen am zweiten Tage. Während der ersten zwölf Stunden dachte ich an Mrs. Reed und ihre letzten Stunden; ich sah ihr fahles, entstelltes Antlitz und hörte die seltsam veränderte Stimme. Ich dachte über den Begräbnistag nach, über den Sarg, den Leichenwagen, den langen, schwarzen Zug von Pächtern und Dienern – der Verwandten waren nur wenige gewesen – das gähnende Gruftgewölbe, die stille Kirche, den feierlichen Gottesdienst. Dann fielen mir Eliza und Georgina ein. Ich sah die eine als den Anziehungspunkt eines Ballsaales, die andere als die Bewohnerin einer Klosterzelle, und ich verweilte dabei, ihre verschiedenen Eigentümlichkeiten des Charakters und der Person zu analysieren.

Die späte Ankunft in dem Landstädtchen X ... verjagte diese Gedanken; die Nacht leitete sie in eine andere Bahn. Als ich mein Lager aufgesucht hatte verließ mich das Erinnern und ich gab mich der Erwartung hin.

Ich sollte also nach Thornfield zurückkehren; wie lange würde dort aber meines Bleibens sein? Nicht lange; dessen war ich gewiß. Während der Zeit meiner Abwesenheit hatte ich von Mrs. Fairfax gehört; die lustige, vornehme Gesellschaft, welche bei meiner Abreise noch im Herrenhause versammelt gewesen, hatte sich nach allen Seiten zerstreut. Mr. Rochester war vor drei Wochen nach London gereist, wurde aber während der nächsten vierzehn Tage von dort zurückerwartet. Mrs. Fairfax sprach die Vermutung aus, daß er hingereist sei, um Vorbereitungen für seine Hochzeit zu treffen, da er davon gesprochen habe, einen neuen Wagen kaufen zu wollen. Sie sagte, der Gedanke, daß er Miß Ingram heiraten wolle, erscheine ihr noch immer so seltsam; [385] aber nach allem, was ›alle Welt‹ sagte und nach dem, was sie mit eigenen Augen gesehen, könne wohl kein Zweifel mehr daran sein, daß die Sache nahebevorstehend sei.«

»Du wärst aber auch ungewöhnlich ungläubig, wenn du daran zweifeltest,« sagte ich im Geiste zu mir selbst, »ich meinesteils zweifle nicht einen Augenblick daran.«

Und nun folgte die Frage: »Wohin sollte ich dann gehen?« Während der ganzen Nacht träumte mir von Miß Ingram; ein lebhafter Morgentraum zeigte sie mir, wie sie alle Thore von Thornfield vor mir schloß und mich auf einem anderen Wege hinauswies; Mr. Rochester stand ruhig mit verschränkten Armen daneben und ließ sie gewähren; wie es schien, lächelte er sarkastisch sowohl über sie wie über mich.

Ich hatte Mrs. Fairfax den bestimmten Tag meiner Ankunft nicht bekannt gegeben, denn ich wünschte nicht, daß man mir irgend ein Fuhrwerk nach Millcote entgegenschickte. Ich hatte mir vorgenommen, die Strecke Weges ruhig allein zu gehen; und nachdem ich meinen Koffer dem Hausknechte anvertraut hatte, machte ich mich unbemerkt aus dem »Hotel zum heiligen Georg« davon und schlug an einem schönen Juniabende gegen sechs Uhr die alte Straße nach Thornfield ein – ein Weg, der hauptsächlich durch Felder führte und wenig benutzt wurde.

Es war ein warmer, linder, aber kein strahlender, heißer Sommerabend; die Wiesenarbeiter waren am ganzen Wege entlang beschäftigt; der Himmel, wenn auch nicht wolkenlos, versprach gutes Wetter für die kommenden Tage; seine Bläue – wo sie überhaupt sichtbar – war milde, und die Wolken zogen hoch und durchsichtig dahin. Auch der Westen war warm; keine wässerigen Strahlen störten das Bild, es war, als sei ein Feuer angezündet, als brenne ein Altar hinter jenem dunstigen Vorhange, und wo dieser hie und da zerrissen war, schien eine goldige Röte hervor.

[386] Fröhlichkeit kam über mich, als ich den vor mir liegenden Weg immer kürzer werden sah; ich wurde so froh, daß ich einmal im Gehen innehielt, um mich erstaunt zu fragen, was jene Empfindung des Glücks bedeute, und meine Vernunft daran zu erinnern, daß ich nicht in mein eigenes Heim oder an einen dauernden Ruheplatz, oder an einen Ort zurückkehre, wo treue, zärtliche Freunde meiner harrten und meine Ankunft herbeisehnten.

»Aber Mrs. Fairfax wird ein freundliches Lächeln des Willkommens für dich haben,« sagte ich mir, »und die kleine Adele wird in die Hände klatschen und vor Freude springen, wenn sie dich sieht, – aber du weißt sehr wohl, daß sie es nicht sind, an die du denkst – und daß dieser Eine nicht an dich denkt.«

Aber was ist so eigensinnig wie die Jugend? Was so blind wie Unerfahrenheit? Diese behaupteten, daß es schon Glück genug sei, Mr. Rochester nur anzublicken, ob er mich ansähe oder nicht, und sie fügten hinzu – »Eile, eile! Bleib bei ihm so lange du darfst; nur noch wenige Tage oder höchstens Wochen, und du bist für immer von ihm getrennt!«

Und dann erstickte mich eine neue Seelenqual – ein entsetzliches, ungeheuerliches Etwas, das ich nicht anerkennen, nicht Macht über mich gewinnen lassen durfte – und ich lief weiter.

Auch auf den Wiesen von Thornfield waren die Leute mit dem Heuen beschäftigt, oder eigentlich waren die Mäher gerade mit ihrem Tagewerk zu Ende und gingen mit den Sensen und Rechen und Heugabeln über die Schulter gehängt ihren Häusern und Hütten zu. Dies war die Stunde meiner Ankunft. Ich habe nur noch über zwei Felder zu gehen und dann die Landstraße zu kreuzen – und ich bin am Thor. Wie üppig die Rosen an den Hecken blühen! Aber ich habe keine Zeit, sie zu pflücken; ich will nur nach Hause! Ich kam an einem hohen Dornenstrauch vorüber, [387] dessen dicht belaubte, blühende Zweige über den Weg wucherten. Ich sehe die enge Stiege mit den steinernen Stufen, und ich erblicke – Mr. Rochester, welcher dort sitzt; in der Hand hält er ein Buch und einen Bleistift. Er schreibt.

Nun, er ist kein Geist; und doch bebt jede meiner Nerven; für einen Augenblick habe ich alle Herrschaft über mich selbst verloren. Was bedeutet dies? Ich hatte nicht geahnt, daß ich bei seinem Anblick so zittern würde – oder meine Stimme oder alle Bewegungskraft in seiner Gegenwart verlieren. Sobald ich mich rühren kann, werde ich umkehren; ich brauche doch nicht zur absoluten Närrin zu werden. Es giebt ja noch einen anderen Weg nach dem Herrenhause. Aber es ist gleichgiltig, wenn ich auch zwanzig Wege kenne; denn er hat mich bereits gesehen.

»Hallo!« ruft er und hält Buch und Stift in die Höhe. »Da sind Sie also! Nur näher kommen, wenn's gefällig ist!«

Vermutlich gehe ich weiter, obgleich ich nicht weiß, wie dies geschieht, da ich kein Bewußtsein habe von dem, was ich thue und nur das Bestreben empfinde, ruhig zu erscheinen; und vor allen Dingen die erregten Muskeln meines Gesichts zu beherrschen, die energisch gegen meinen Willen rebellieren und gern das zum Ausdruck bringen möchten, was ich selbst mit Aufwand all meiner Kräfte verbergen möchte. Aber ich habe ja einen Schleier – nun ist er herabgezogen. Vielleicht gelingt es mir doch noch mit anständiger Fassung zu erscheinen.

»Und dies ist Jane Eyre? Kommen Sie von Millcote, und zu Fuß? Ja – wieder einer Ihrer Streiche! Nicht um den Wagen zu ersuchen und über Stock und Stein dahergeklettert zu kommen, wie eine gewöhnliche Sterbliche! Sich in der Dämmerstunde in die Nähe Ihres Hauses zu schleichen, gerade als ob Sie ein Traumgebilde oder ein Schatten wären! Was zum Teufel haben Sie während des letzten Monats mit sich gemacht?«

»Ich war bei meiner Tante, Sir, die gestorben ist.«

[388] »Das ist wieder eine Antwort à la Jane Eyre! Alle guten Geister mögen mich schützen! Sie kommt aus dem Jenseits – aus der Wohnung der Leute, die gestorben sind! Und das erzählt sie mir noch, wenn sie mich hier allein in der Dunkelheit trifft! Wenn ich den Mut hätte, würde ich Sie anrühren, um zu sehen, ob Sie Schatten oder Wirklichkeit sind – Sie Elfe! – aber gerade so gut könnte es mir einfallen, ein blaues ignis fatuus auf dem Moor greifen zu wollen. Tagediebin! Tagediebin!« fügte er hinzu und schwieg dann einen Augenblick. »Einen ganzen Monat fern von mir gewesen! Und ich möchte schwören, daß sie mich ganz vergessen hat!«

Ich wußte, daß es eine Freude für mich sein würde, meinen Herrn wieder zu finden, wenn sie auch durch die Furcht getrübt wurde, daß er bald aufhören würde, mein Herr zu sein, und das Bewußtsein, daß ich selbst ihm nichts sei. Aber Mr. Rochester besaß in so reichem Maße die Macht, glücklich zu machen – so glaubte ich wenigstens – daß es schon ein köstliches Mahl war, von den Brosamen zu kosten, welche er armen, fremden, verirrten Vögeln wie mir hinwarf. Seine letzten Worte waren Balsam: sie schienen anzudeuten, daß es ihm nicht gleichgiltig war, ob ich ihn vergaß oder nicht. Und er hatte von Thornfield wie von meinem Heim gesprochen – ach! wenn es doch mein Heim wäre!

Er verließ die Stiege nicht, und ich hatte nicht den Mut, ihn zu bitten, daß er mich vorüber lasse. Ich fragte dann, ob er nicht in London gewesen sei.

»Ja, vermutlich hat Ihr ›zweites Gesicht‹ Ihnen das gesagt.«

»Mrs. Fairfax teilte es mir in einem Briefe mit.«

»Und hat sie Sie auch von dem Zweck meiner Reise gründlich unterrichtet?«

»O ja, Sir! Jedermann kannte diesen Zweck.«

»Sie müssen den Wagen ansehen, Jane, und mir sagen, [389] ob Sie nicht der Ansicht sind, daß er Mrs. Rochester durchaus gefallen wird, und ob sie nicht aussehen wird wie eine Königin, wenn sie sich in die dunkelroten Polster zurücklehnt. Ich wollte nur, Jane, daß ich äußerlich ein wenig passender für sie wäre. Sagen Sie mir nun, da Sie doch eine Fee sind, können Sie mir nicht ein Zaubermittel oder einen Trunk oder irgend etwas Ähnliches geben, das einen schönen Mann aus mir machte?«

»Dazu reicht keine Zauberkraft aus, Sir;« und innerlich setzte ich hinzu: »Ein liebendes Auge ist aller Zauber, dessen es hier bedarf; einem solchen wären Sie schön genug; vielmehr hat Ihr ernster Blick eine Macht, die größer ist als alle Macht der Schönheit.«

Mr. Rochester hatte meine unausgesprochenen Gedanken oft mit einer Scharfsinnigkeit gelesen, die mir völlig unbegreiflich war; in diesem Falle indessen nahm er von meiner so schnell gesprochenen Entgegnung keine Notiz; aber er lächelte mich mit jenem seltsamen Lächeln an, das nur ihm allein eigen war und das er nur bei den seltensten Gelegenheiten anwandte. Für gewöhnliche Gelegenheiten schien er es für zu gut zu halten; es war ein förmlicher Sonnenschein des Gefühls – jetzt ließ er ihn über mich ausstrahlen.

»Gehen Sie, Jane,« sagte er, indem er mir Platz machte, um über den Zauntritt steigen zu können, »gehen Sie nach Hause und lassen Sie Ihren kleinen, müden, wandernden Fuß auf der Schwelle eines Freundes ruhen.«

Jetzt blieb mir nichts übrig, als ihm schweigend zu gehorchen; es war keine Veranlassung zu weiterem Zwiegespräch. Ohne ein Wort zu reden, stieg ich über den Zauntritt und gedachte, ihn dort ruhig zu verlassen. Ein Impuls hielt mich zurück – eine unsichtbare Macht hieß mich umwenden. Ich sagte – oder irgend etwas in mir sagte ohne mein Wollen:

»Ich danke Ihnen für Ihre große Güte, Mr. Rochester. Es macht mich so seltsam froh, wieder hier und bei Ihnen [390] zu sein; und wo Sie sind, ist mein Heim – mein einziges Heim.«

Und dann ging ich so schnell weiter, daß er, selbst wenn er gewollt hätte, nicht imstande gewesen wäre, mich einzuholen. Die kleine Adele war halb närrisch vor Wonne, als sie meiner ansichtig wurde. Mrs. Fairfax empfing mich mit ihrer gewöhnlichen einfachen Herzlichkeit. Leah lächelte, und sogar Sophie sagte mir freundlich »bon soir«. Dies alles war so angenehm. Es giebt kein größeres Glück als das, von seinen Nebenmenschen geliebt zu werden und zu fühlen, daß deine Nähe ihre Freude und ihr Wohlbehagen nur erhöht.

An diesem Abend war ich entschlossen, meine Augen vor der Zukunft zu schließen. Ich wollte nicht auf die mahnende Stimme hören, die mich vor der nahenden Trennung und künftigem Kummer warnte.

Als die Theestunde vorüber, und Mrs. Fairfax ihr Strickzeug genommen, ich mich auf einen niedrigen Sessel ihr zur Seite gesetzt hatte, und Adele, welche auf dem Teppich kniete, sich dicht an mich schmiegte, schien ein Bewußtsein gegenseitiger Liebe uns wie mit einem goldenen Ringe zu umschließen, und ich sandte ein stilles Gebet zum Himmel, daß unsere Trennung nicht zu nahe bevorstehend sein möge. Als wir noch so saßen, trat Mr. Rochester unangemeldet ein. Er blickte uns an und schien Freude an dieser glücklichen Gruppe zu finden. Dann sagte er, die alte Dame fühle sich jetzt, wo sie ihre Adoptivtochter wieder habe, hoffentlich ganz glücklich und fügte hinzu, daß er sähe wie Adele »prête à croquer sa petite maman anglaise« sei (bereit sei ihre kleine, englische Mama aufzuessen). – Da bemächtigte sich meiner der Wunsch, daß er uns auch noch nach seiner Heirat irgendwo unter seinem Schutze möchte beisammen sein lassen und uns nicht ganz aus dem Sonnenschein seiner Gegenwart verbannen.

[391] Vierzehn Tage zweifelhafter Ruhe verflossen nach meiner Rückkehr von Gateshead. Von der Heirat unseres Herrn wurde nicht gesprochen und ich gewahrte auch keine Vorbereitungen, die auf ein so nahe bevorstehendes Ereignis hätten schließen lassen können. Fast täglich fragte ich Mrs. Fairfax, ob sie irgend etwas Bestimmtes gehört habe, und immer lautete ihre Antwort verneinend. Einmal sagte sie, daß sie Mr. Rochester geradezu gefragt habe, wann er seine junge Frau nach Hause zu bringen gedenke; er hatte ihr aber nur mit einem Schlagworte und einem seiner seltsamen Blicke geantwortet, und jetzt sei sie ebenso klug wie zuvor.

Was mich aber ganz besonders in Erstaunen setzte, war, daß es kein Hin- und Herreisen gab, keine Besuche in Ingram-Park. Allerdings lag diese Besitzung zwanzig Meilen entfernt, auf der Grenze einer andern Grafschaft, aber was bedeutete diese Entfernung für einen begeisterten Liebhaber? Für einen so geübten und unermüdlichen Reiter wie Mr. Rochester, war dieser Weg doch nur ein Morgenritt. Ich begann Hoffnungen zu hegen, zu denen nichts mich berechtigte, ich hoffte, daß die Verbindung abgebrochen, daß das ganze Gerücht ein falsches gewesen, daß einer oder gar beide anderen Sinnes geworden. Ich pflegte das Gesicht meines Herrn zu prüfen, ob es trotzig oder traurig sei; aber ich konnte mich der Zeit nicht entsinnen, wo es so ungetrübt klar und ruhig gewesen wie gerade jetzt. Wenn ich in den Momenten, wo ich und meine Schülerin mit ihm zusammen waren, verstummte und in eine nicht zu bekämpfende Traurigkeit versank, konnte er sogar laut und fröhlich werden. Niemals hatte er so oft und andauernd meine Gesellschaft verlangt; niemals war er gütiger und liebevoller gewesen – ach! und niemals hatte ich ihn inniger geliebt!

Drittes Kapitel [2]

[392] Drittes Kapitel

Eine herrliche Mittsommerzeit war über England gekommen. Gar selten sonst wird unser wogenbespültes Land mit einem so klaren Himmel, einem so strahlenden Sonnenschein beglückt, wie wir ihn jetzt ununterbrochen hatten. Es war, als ob eine Menge von italienischen Tagen wie eine Schar prächtiger Zugvögel vom Süden heraufgekommen wäre und sich, um auszuruhen, auf den Felsen Albions niedergelassen hätte. Alles Heu war hereingebracht. Die Wiesen um Thornfield waren grün und kurz geschoren; die Landstraßen waren heiß und staubig, die Bäume prangten in dunklem Grün. Hecken und Bäume in ihrem vollen dunklen Blätterschmuck kontrastierten auf das prächtigste mit den hellen Matten, auf welchen sie standen.

Am Johannisabend war Adele, die den ganzen Tag wilde Erdbeeren in Haylane gesucht und daher zu Tode ermüdet war, mit der Sonne schlafen gegangen. Ich hatte ihr zugesehen, wie sie einschlief. Dann verließ ich sie und ging in den Garten.

Es war die süßeste von allen vierundzwanzig Stunden. Das glühende Feuer des Tages war erloschen, und auf die lechzende Erde und die durstigen Hügel fiel der wohlthätige Thau. Wo die Sonne in ihrer einfachen Pracht untergegangen war, ohne sich mit dem Pomp der Wolken zu umgeben, zog sich ein feierlicher, roter Streifen hin, in dem es hier und da funkelte wie das Feuer eines köstlichen Edelsteins oder die Flamme eines lodernden Hochofens. Hoch und weit, schwächer und schwächer werdend, zog er sich über den halben Horizont. Im tiefblauen Osten stieg ein einziger Stern empor, bald sollte ihm der Mond folgen; jetzt war er noch unter dem Horizont.

Während einiger Minuten ging ich auf der gepflasterten Terrasse hin und her; aber bald drang ein wohlbekannter Duft – der einer Cigarre – aus einem der geöffneten [393] Fenster; ich bemerkte, daß die Fensterthür des Bibliothekzimmers ungefähr eine Handbreit geöffnet war, und ich wußte, daß man mich von dort aus möglicherweise beobachten konnte; deshalb ging ich hinunter in den Obstgarten. Im ganzen Park kein Winkel, der sich an Ruhe und paradiesischer Schönheit mit diesem hätte vergleichen können; die schattenreichsten Bäume, die duftendsten Blumen wuchsen hier; eine sehr hohe Mauer trennte ihn von dem Wirtschaftshofe an der einen Seite, an der andern verdeckte eine Buchenallee den großen dahinter liegenden Grasplatz. Am äußersten Ende war ein zerfallener Zaun, die einzige Scheide zwischen den einsamen Kornfeldern; zu diesem Zaun führte ein gewundener Fußpfad, an welchem Lorbeerbäume sich entlang zogen und der vor einem riesenhaften Kastanienbaum endigte, um dessen Stamm eine bequeme Bank aufgestellt war. Hier konnte man ungesehen umherwandern. Der Thau fiel, es wurde dunkler und immer dunkler, stiller und immer stiller, und mir war, als könnte ich an diesem geschützten Ort für immer weilen. Als ich aber die Blumenbeete und Baumgruppen am oberen Ende dieses abgesonderten Winkels überblickte, wurde mein Schritt plötzlich gehemmt – nicht durch einen Gegenstand, nicht durch einen Laut, sondern wiederum durch einen verräterischen Duft.

Jasmin und Nelken, Stabwurz und Feldrosen haben längst ihr allabendliches Opfer an Weihrauch dargebracht; dieser neue Duft entsteigt weder einer Blume noch einem Strauch – er entströmt, ich weiß es nur zu wohl, Mr. Rochesters Cigarre. Ich blicke umher und horche. Ich sehe die Bäume mit reifenden Früchten beladen. Eine halbe Meile von hier entfernt, in einem lieblichen Gehölz, höre ich eine Nachtigall schlagen. Keine sich bewegende menschliche Gestalt ist sichtbar, kein nahender Schritt hörbar, aber jener Duft wird stärker: ich muß fliehen. Ich schreite auf die Gitterpforte zu, welche in die Baumschule führt – und sehe Mr. Rochester eintreten. Ich trete seitwärts in [394] die epheuumrankte Nische; er wird ja nicht lange verweilen; bald wird er dorthin zurückkehren, von wo er gekommen, und wenn ich mich sehr ruhig verhalte, wird er mich vielleicht nicht sehen.

Aber nein – die Abendruhe ist ihm ebenso wohlthuend wie mir, und dieser altertümliche Garten übt die gleiche Anziehungskraft auf ihn; und weiter schlendert er. Jetzt hebt er den Zweig eines Stachelbeerbusches empor, um die reifenden Früchte zu prüfen, welche so groß wie Pflaumen sind und schwer zu Boden hängen. Dann pflückt er eine reife Kirsche vom Spalier; nun wieder beugt er sich zu einer Blumengruppe nieder, entweder um ihren Duft einzuatmen oder die Thautropfen in ihren Kelchen zu bewundern. Eine große Motte summt an mir vorüber; sie läßt sich auf einer Pflanze zu Mr. Rochesters Füßen nieder; er sieht sie und beugt sich, um sie genau anzusehen.

»Jetzt wendet er mir den Rücken,« dachte ich, »und ist emsig beschäftigt; wenn ich sehr leise und geräuschlos gehe, komme ich vielleicht ungesehen davon.«

Ich schlich am Rande der Beete entlang, damit das Knirschen der Kieselsteine, mit denen die Wege bestreut waren, mich nicht verraten sollte, einige Fußbreit von der Stelle entfernt, an welcher ich vorbei mußte, stand er zwischen den Blumengruppen; augenscheinlich beschäftigte die Motte ihn. »Ich werde gewiß unbemerkt vorbeikommen,« dachte ich. Als ich über seinen Schatten, welchen der eben aufgegangene Mond über den Fußpfad warf, hinwegschritt, sagte er ruhig ohne sich umzuwenden:

»Jane, kommen Sie her und sehen Sie dies Tier an.«

Ich hatte kein Geräusch gemacht: er hatte auch keine Augen auf dem Rücken – konnte sein Schatten denn fühlen? Im ersten Augenblick schrak ich zusammen, dann näherte ich mich ihm.

»Sehen Sie die Flügel an,« sagte er, »sie erinnert mich an ein westindisches Insekt; in England sieht man [395] eine so große und lustige Nachtschwärmerin nicht oft: ah! nun fliegt sie davon!«

Und die Motte flog fort. Auch ich wollte mich leise davon machen; aber Mr. Rochester folgte mir, und als wir die Pforte erreichten, sagte er:

»Kehren Sie mit mir um; es ist eine Sünde, an einem so herrlichen Abend im Hause zu sitzen; und niemand kann doch wünschen, sein Lager aufzusuchen, wenn Sonnenuntergang und Mondaufgang so wundersam zusammentreffen.«

Es ist einer meiner Mängel, daß meine Zunge, die oft so leicht die passende Antwort findet, mir zuweilen den Dienst versagt, wenn es gilt, eine Entschuldigung vorzubringen, wenn ein leichthingeworfenes Wort oder ein plausibler Vorwand mich aus einer peinlichen Verlegenheit reißen könnte. Es war mir nicht angenehm, um diese Stunde mit Mr. Rochester allein im Obstgarten spazieren zu gehen; aber mir fiel kein Prätext ein, unter dem ich ihn hätte verlassen können.

Mit zögernden Schritten folgte ich ihm, mein Gehirn mühte sich ab, ein Mittel zu finden, um mich aus der Affaire zu ziehen, aber er selbst sah so ruhig und ernst aus, daß ich begann, mich meiner Verwirrung zu schämen. Das Unrecht – wenn von gegenwärtigem oder künftigem Unrecht die Rede sein konnte – schien nur auf meiner Seite zu liegen; seine Stimmung schien ruhig und gefaßt zu sein.

»Jane,« begann er von neuem, als wir in den Lorbeerbepflanzten Weg traten und langsam in der Richtung des verfallenen Zaunes und des Kastanienbaumes hinschritten, »Jane, Thornfield ist ein prächtiger Aufenthalt im Sommer, nicht wahr?«

»Ja, Sir.«

»Das Haus muß Ihnen doch schon ein wenig lieb geworden sein, – Sie, die Sie ein Auge für Naturschönheit haben und einen stark ausgebildeten Sinn der Seßhaftigkeit.«

[396] »Allerdings hege ich eine Vorliebe für Thornfield.«

»Und obgleich ich nicht begreife, wie es zugeht, so bemerke ich doch, daß Sie eine Art von Zuneigung für das thörichte kleine Ding, die Adele gefaßt haben und ebenso für die bescheidene Dame Fairfax.«

»Ja, Sir, in verschiedener Weise habe ich beide herzlich lieb.«

»Und würde es Ihnen schwer fallen, sich von beiden zu trennen?«

»Gewiß.«

»Wie schade!« sagte er seufzend. Dann schwieg er lange. »So geht es immer im Leben,« fuhr er nach einer Weile fort, »kaum hat man einen glücklichen Ruhefleck gefunden, so ertönt die Stimme, die einem zuruft aufzustehen und weiter zu gehen, denn die Stunde der Ruhe ist vorüber.«

»Muß ich denn weitergehen, Sir?« fragte ich. »Muß ich Thornfield wieder verlassen?«

»Ich glaube, Sie müssen, Jane. Es thut mir leid, Jane, aber ich glaube wirklich, daß Sie fort müssen.«

Das war ein Schlag; aber ich ließ mich nicht von ihm zu Boden schmettern.

»Nun, Sir, ich werde bereit sein, wenn der Befehl zum Aufbruch kommt.«

»Er kommt jetzt – ich muß ihn schon heute Abend erteilen.«

»Sie wollen sich also verheiraten, Sir?«

»Sie haben es erraten – vollkommen erraten. Mit Ihrer gewöhnlichen Klugheit haben Sie wieder den Nagel auf den Kopf getroffen.«

»Bald, Sir?«

»Sehr bald, meine –, ich wollte sagen Miß Eyre; und Sie werden sich noch erinnern, als das Gerücht oder ich Ihnen zum erstenmal mitteilte, daß es meine Absicht sei, meinen alten Junggesellennacken unter das heilige Joch zu beugen, in den heiligen Stand der Ehe zu treten – [397] Miß Ingram an mein Herz und meinen Herd zu nehmen, kurzum ... also ... nun, wie ich Ihnen schon sagte – hören Sie mich an, Jane! Sie wenden den Kopf doch nicht ab, um noch mehr Motten zu suchen? Es war nur eine verirrte, die heimwärts flog. Ich wollte Sie nur daran erinnern, daß Sie die erste waren, die mir sagte – allerdings mit jener Vorsicht und Fürsorglichkeit und Demut, welche Ihrer verantwortungsvollen und abhängigen Stellung zukommen – daß Sie und die kleine Adele für den Fall, daß ich Miß Ingram heiraten sollte, am liebsten fortgehen würden. Ich will nicht von der Beleidigung reden, welche in diesem Begehren für die Angebetete meines Herzens liegt; in der That, Jane, wenn Sie weit fort sein werden, will ich sogar versuchen, diese Beleidigung zu vergessen; ich will nur an die weise Fürsorge denken, welche darin lag; diese war so groß, daß ich sie sogar zur Richtschnur für meine Handlungsweise machen will. Adele muß in ein Institut geschickt werden, und Sie, Miß Eyre, müssen eine neue Stellung haben.«

»Ja, Sir, ich will sofort eine Annonce in die Zeitungen rücken lassen, inzwischen aber vermute ich – –« ich wollte sagen, »vermute ich, daß ich hier bleiben darf, bis ich eine andere Unterkunft gefunden habe,« aber ich hielt inne, weil ich fühlte, daß ich mich nicht an einen so langen Satz wagen dürfe, da ich meine Stimme in diesem Augenblick nicht ganz in der Gewalt hatte.

»In ungefähr einem Monat hoffe ich Hochzeit zu halten,« fuhr Mr. Rochester fort, »und in der Zwischenzeit werde ich selbst nach einer Stellung und einem Asyl für Sie Umschau halten.«

»Danke, Sir, es thut mir leid, daß ich Ihnen so viel Mühe verursache.«

»Ah! Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen! Ich bin der Ansicht, daß eine Untergebene, welche ihre Pflicht so treu erfüllt hat, wie Sie, das Recht hat, von ihrem Brotherrn [398] jede kleine Unterstützung und Hilfe zu verlangen, welche er ihr ohne große Mühe leisten kann; ich habe sogar schon durch meine künftige Schwiegermutter von einer Stellung gehört, die Ihnen möglicherweise konvenieren dürfte; es handelt sich darum, die Erziehung der fünf Töchter einer gewissen Mrs. Dionysius O'Gall auf Bitternutlodge, in der Grafschaft Connaught in Irland zu übernehmen. Irland wird Ihnen gefallen, glaube ich; man sagt mir, daß die Menschen dort zu Lande warmherzig und gütig sind.«

»Das ist aber so weit von hier, Sir.«

»Das schadet nicht – ein so vernünftiges Mädchen wie Sie wird sich doch nicht an die lange Reise oder die Entfernung stoßen – nicht wahr?«

»Nicht an die Reise – aber an die Entfernung, und dann ist die See doch immerhin eine Scheidewand – –«

»Zwischen wem, Jane?«

»Zwischen England, Thornfield, und – –«

»Nun?«

»Und Ihnen, Sir.«

Diese Worte entschlüpften mir fast unwillkürlich; und ohne daß ich etwas dagegen zu thun vermochte, stürzten mir die Thränen aus den Augen. Indessen weinte ich nicht so laut, daß man mich hätte hören können; ich enthielt mich wenigstens des Schluchzens. Der Gedanke an Mrs. O'Gall in Bitternutlodge mit ihren sieben Töchtern machte mir fast das Herz erstarren; und noch erstarrender wirkte der Gedanke an all die Wogen und den Wellenschaum, die, wie es schien, bestimmt waren, zwischen mir und dem Manne, an dessen Seite ich jetzt wandelte, dahin zu rauschen; und am tödlichsten war das Denken an jenes größere, tiefere, unschiffbarere Meer – Reichtum, Stellung, Althergebrachtes – das mich von dem trennte, den ich unwiderstehlich, ewig lieben mußte.

»Es ist so weit von hier,« sagte ich noch einmal.

[399] »Gewiß ist es das, und wenn Sie einmal in Bitternutlodge, Grafschaft Connaught in Irland sind, dann werde ich Sie niemals wiedersehen, Jane, das ist unumstößlich gewiß. Denn ich gehe niemals nach Irland hinüber, ich habe keine Sympathieen für dieses Land. Aber nicht wahr, Jane, wir sind immer gute Freunde gewesen?«

»Ja, Sir.«

»Und wenn gute Freunde am Vorabend einer Trennung stehen, dann sind sie glücklich, wenn sie die kurze Zeit, die ihnen noch bleibt, Seite an Seite verleben können. Kommen Sie – lassen Sie uns für eine Stunde oder länger ruhig über die Trennung und die Reise sprechen und betrachten wir dabei die Sterne, wie sie still einer nach dem andern am Himmel aufgehen. Hier auf dieser Bank unter dem alten, ehrwürdigen Kastanienbaum. Lassen wir uns heute Abend in Frieden dort nieder; vielleicht hat das Schicksal beschlossen, daß wir niemals wieder dort sitzen.« – Er drückte mich auf die Bank nieder und setzte sich dann neben mich.

»Der Weg nach Irland ist sehr weit, Jane, und es wird mir schwer, meine kleine Freundin auf eine so lange, mühevolle Reise zu schicken; wenn es aber nicht in meiner Macht liegt, etwas Besseres zu thun – was dann? Glauben Sie, daß Sie mir seelenverwandt sind, Jane?«

Es war mir in diesem Augenblick nicht möglich, irgend eine Antwort zu geben; mein Herz war zu voll.

»Denn,« fuhr er fort, »zuweilen habe ich eine so seltsame Empfindung Ihnen gegenüber, besonders wenn Sie mir so nahe sind wie in diesem Augenblick; es ist als hätte ich unter meiner linken Rippe irgendwo einen Faden, welcher fest und unauflöslich mit einem gleichen Faden an derselben Stelle Ihres kleinen, zarten Körpers verknüpft wäre. Und ich fürchte, daß dies vereinigende Band für immer zerreißt, wenn jener stürmische Kanal und mehr als zweihundert Meilen Landes zwischen uns liegen. Und ich hege eine nervöse Angst, daß ich dann an innerer Verblutung [400] sterben müßte. Was Sie anbetrifft – Sie – würden mich bald vergessen.«

»Das könnte ich niemals, Sir – Sie wissen das« – weiter vermochte ich nichts hervorzustammeln.

»Jane, hören Sie die Nachtigall dort drüben im Walde schlagen? Horchen Sie nur.«

Indem ich aufhorchte, begann ich konvulsivisch zu schluchzen; denn ich konnte mein Empfinden nicht länger unterdrücken; ich mußte nachgeben, und mein lange verhaltener Schmerz schüttelte mich von Kopf bis zu Fuß. Als ich wiederum redete, geschah es nur, um den stürmisch leidenschaftlichen Wunsch auszusprechen, daß ich niemals geboren oder niemals nach Thornfield gekommen wäre.

»Weil es Ihnen schwer wird, wiederum von hier fortzugehen, Jane?«

Die Gewalt jener Empfindungen, welche Liebe und Kummer in mir erweckt hatten, rang nach der Oberherrschaft und wollte sich Bahn brechen – sie machten ihr Recht gewaltsam geltend, sie wollten endlich ans Tageslicht, sie wollten leben, sich erheben, herrschen; ja – und sie wollten auch reden.

»Ich traure, weil ich Thornfield verlassen soll, denn ich liebe Thornfield – ich liebe es, weil ich hier ein ganzes volles, wonniges Leben gelebt habe – für kurze Augenblicke wenigstens. Man hat mich hier nicht mit Füßen getreten. Ich bin hier nicht versteinert. Man hat mich nicht mit niedrig denkenden Menschen zusammengeworfen, ich bin nicht ausgeschlossen worden von der Gemeinschaft mit allem, was hell und strahlend und hoch und kraftvoll ist. Ich habe von Angesicht zu Angesicht mit dem reden können, was ich verehre; mit einem kraftvollen, großmütigen, weitblickenden, eigenartigen Charakter. Ich habe Sie kennen gelernt, Mr. Rochester, und es erfüllt mich mit Angst und Schrecken, daß ich mich für immer von Ihnen losreißen soll. Ich sehe die Notwendigkeit der Abreise vor mir, und [401] sie starrt mich gespenstisch an wie die Notwendigkeit des Sterbens.«

»Wo sehen Sie die Notwendigkeit?« fragte er mich dann plötzlich.

»Wo ich sie sehe? Sie selbst, Sir, haben sie mir doch vor Augen gestellt.«

»In welcher Gestalt?«

»In der Gestalt von Miß Ingram, einer edlen, schönen Frauengestalt – Ihrer Braut.«

»Meiner Braut! Welcher Braut? Ich habe keine Braut!«

»Aber Sie werden eine haben.«

»Ja, ich werde! – ich werde!« Und fest entschlossen biß er die Zähne zusammen.

»Und deshalb muß ich gehen – Sie selbst haben es ja gesagt.«

»Nein! Sie müssen bleiben! – Ich schwöre es! Und diesen Eid werde ich halten.«

»Und ich sage Ihnen, daß ich gehen muß,« – entgegnete ich leidenschaftlich erregt. »Glauben Sie, daß ich bleiben kann, um Ihnen nichts zu werden? Meinen Sie denn, daß ich ein Automat bin? – eine Maschine ohne Gefühl? Und daß ich es ertragen kann, mir den Bissen Brot von den Lippen entreißen, den Kelch mit dem Tropfen klaren Wassers aus den Händen winden zu lassen? Glauben Sie, daß ich ohne Seele, ohne Herz bin, weil ich arm und klein und häßlich und einsam bin? – Nein, Sie irren! – Ich habe ebensoviel Seele wie Sie – ebensoviel Herz wie Sie! Wenn Gott mir nur ein wenig Schönheit und großen Reichtum geschenkt hätte, so würde ich es Ihnen ebenso schwer gemacht haben, mich zu verlassen, wie es mir jetzt wird, von Ihnen zu gehen. Ich spreche in diesem Augenblick nicht durch das Medium der Gewohnheit, des Althergebrachten zu Ihnen – nein, nicht einmal das Fleisch ist es, das zum Fleische spricht – es [402] ist meine Seele, die zu der Ihren redet, es ist als wären beide durch die dunkle Pforte des Todes gegangen, und wir ständen zu den Füßen Gottes – einander gleich – wie wir es auch hier sein sollten!«

»Wie wir es auch hier sein sollten!« wiederholte Mr. Rochester – »so,« fügte er hinzu und schloß mich in seine Arme, zog mich an sein Herz, drückte seinen Mund auf meine Lippen und sagte: »so, Jane!«

»Ja, so, Sir,« sprach ich ihm nach, »und doch nicht so; denn Sie sind ein verheirateter Mann – oder so gut wie ein verheirateter Mann – und sogar verheiratet mit einer, die weit unter Ihnen steht – mit einer, für die Sie keine Sympathie hegen – die Sie unmöglich aufrichtig und von Herzen lieben können; denn ich habe gesehen und gehört, wie Sie ihrer gespottet haben. Ich würde eine solche Verbindung verschmähen, verachten, deshalb bin ich besser als Sie – lassen Sie mich!«

»Wohin, Jane? Nach Irland?«

»Ja, nach Irland. Ich habe meine Ansicht jetzt ausgesprochen und nun kann ich gehen, wohin ich will.«

»Jane, schweigen Sie; sträuben Sie sich nicht, wie ein wilder Vogel, der in seiner Verzweiflung sein eigenes Gefieder zerreißt.«

»Ich bin kein Vogel, und kein Netz und kein Vogelsteller vermag mich zu fangen. Ich bin ein freies, menschliches Wesen mit einem unabhängigen Willen, und jetzt mache ich denselben geltend, indem ich Sie verlasse.«

Noch eine gewaltsame Anstrengung machte mich frei, und jetzt stand ich hoch aufgerichtet vor ihm.

»Und Ihr Wille soll auch über Ihr Geschick entscheiden,« sagte er. »Ich biete Ihnen meine Hand, mein Herz und einen Teil von allem, was ich besitze.«

»Sie spielen eine Posse, die mir nur ein Lachen abgewinnen kann.«

»Ich bitte Sie, an meiner Seite durch das Leben zu[403] gehen – mein besseres Ich, meine treuste irdische Gefährtin zu sein.«

»Zu dem Zweck haben Sie Ihre Wahl ja bereits getroffen, und jetzt müssen Sie ertragen und ausharren.«

»Jane, seien Sie jetzt während weniger Augenblicke ruhig; Sie sind mehr als aufgeregt. Auch ich will suchen, mich zu beruhigen.«

Ein Windhauch zog durch die Lorbeergänge und klang zitternd in den Zweigen des Kastanienbaumes; dann zog er weiter – weiter – in unbestimmte Ferne und erstarb. Jetzt war der Sang der Nachtigall die einzige Stimme in der Natur; als ich auf sie horchte, begannen meine Thränen von neuem zu fließen. Mr. Rochester saß regungslos da und blickte mich ernst und liebevoll an. Unter Schweigen gingen noch einige Minuten hin, dann sagte er endlich:

»Kommen Sie an meine Seite, Jane, und erklären wir uns und suchen wir einander zu verstehen.«

»Ich werde mich niemals wieder an Ihre Seite setzen. Jetzt habe ich mich losgerissen und kehre nimmermehr zurück.«

»Aber Jane, ich begehre von Ihnen, daß Sie mein Weib werden; nur Sie beabsichtige ich zu heiraten.«

Ich schwieg. Ich glaubte, er spotte meiner.

»Kommen Sie Jane – hier an meine Seite.«

»Ihre Braut steht zwischen uns, Sir.«

Er erhob sich und stand mit wenigen Schritten an meiner Seite.

»Meine Braut steht hier,« sagte er und zog mich wieder an sich, »weil sie meinesgleichen ist und weil sie mir ähnlich. Jane, wollen Sie mich heiraten?«

Noch immer antwortete ich nicht, sondern suchte, mich seinen Armen zu entwinden; ich war noch immer ungläubig.

»Zweifeln Sie an mir, Jane?«

»Gewiß.«

[404] »Sie haben kein Vertrauen zu mir?«

»Keines!«

»Bin ich denn ein Lügner in Ihren Augen?« fragte er leidenschaftlich. »Kleine Skeptikerin, Sie müssen überzeugt werden. Welche Liebe könnte ich denn für Miß Ingram hegen? Keine. Und Sie wissen das. Welche Liebe hegt sie für mich? Keine! Ich habe mir Beweise dafür verschafft. Ich nahm mir die Mühe, das Gerücht zu verbreiten, daß mein Vermögen nicht ein Drittel von dem betrüge, was man vermutet, und gleich darauf trat ich ihr gegenüber, um zu ermessen, welche Wirkung dies gehabt. Ihre Mutter sowohl wie sie selbst empfingen mich außerordentlich kalt. Um keinen Preis würde ich – könnte ich Miß Ingram heiraten. Sie seltsames – Sie überirdisches Ding! – Ich liebe Sie wie mein eigenes Ich. Sie – die Sie arm und niedrig geboren und klein und unbedeutend sind – ich flehe Sie an, meine Hand anzunehmen.«

»Wie! Ich!« rief ich aus, indem ich begann durch seinen Ernst, seine Unhöflichkeit an seine Aufrichtigkeit zu glauben. »Mich wollen Sie heiraten, die ich außer Ihnen keinen Freund auf der Welt habe – wenn Sie wirklich mein Freund sind – die ich keinen Schilling besitze, außer dem, was Sie mir gegeben haben?«

»Ja, Sie Jane. Ich muß Sie mein Eigen nennen dürfen – ganz mein Eigen. Wollen Sie mein sein? Sagen Sie ja, schnell! schnell.«

»Mr. Rochester, lassen Sie mich in Ihr Gesicht blicken; wenden Sie sich dem Mondlicht zu.«

»Weshalb?«

»Weil ich in Ihrem Gesicht lesen will. Wenden Sie sich um!«

»Sie werden es kaum leserlicher finden, als eine verwischte, halbverlöschte Schrift. Lesen Sie, nur beeilen Sie sich, denn ich leide furchtbar.«

[405] Sein Antlitz verriet die größte Erregung; eine dunkle Röte stieg ihm in die Wangen, in seinen Zügen arbeitete es gewaltig und seine Augen schossen seltsame Blitze.

»O Jane, Sie quälen mich!« rief er aus. »Sie quälen mich mit diesen forschenden und doch so treuen, großherzigen Blicken! Sie quälen mich!«

»Wie könnte ich Sie quälen? Wenn Sie wahr sind und Ihr Antrag aufrichtig gemeint ist, so kann mein einziges Gefühl Ihnen gegenüber nur Dankbarkeit und Ergebenheit sein – dann kann ich Sie nicht quälen!«

»Dankbarkeit!« rief er höhnisch aus. Dann fügte er in wildem Ton hinzu: »Jane, nehmen Sie mich an, schnell, schnell! Sagen Sie, Edward – nennen Sie mich bei Namen – Edward – ich werde Sie heiraten.«

»Ist es wahrhaftig Ihr Ernst? – Lieben Sie mich wahr und aufrichtig? Wünschen Sie von Herzen, daß ich Ihr Weib werde?«

»Ich wünsche es, ja! Und wenn es eines Eides bedarf, um Sie zu beruhigen, so werde ich schwören.«

»Nein Sir – ich will Sie heiraten.«

»Edward, sagen Sie Edward – mein kleines Weib.«

»Teurer Edward!«

»Kommen Sie zu mir – kommen Sie für Zeit und Ewigkeit zu mir,« sagte er und fügte in seinem innigsten Tone hinzu, indem er seine Wange an die meine legte und mir ins Ohr flüsterte: »Mach du mein Glück – ich werde das deine machen.«

»Gott möge mir verzeihen!« fügte er dann nach einer langen Pause hinzu, »und die Menschen mögen mich schonen und sich nicht um mich bekümmern. Ich habe sie, und – werde sie zu halten wissen.«

»Niemand wird sich um uns bekümmern, Sir. Ich habe keine Anverwandten, die sich in unsere Angelegenheit mischen könnten.«

»Nein, ich weiß, und das ist das beste daran,« sagte er. [406] Und wenn ich ihn weniger innig geliebt hätte, so würden seine Worte und sein Blick des Entzückens mich wild gedünkt haben. Aber wie ich so neben ihm saß – befreit von dem Alpdrücken der nahebevorstehenden Trennung – eingelassen in das Paradies der süßen Vereinigung – da dachte ich nur an die Glückseligkeit, die ich jetzt in so vollen Zügen schlürfen durfte.

Immer und immer wieder fragte er mich: »Bist du glücklich, Jane?«

Und immer wieder antwortete ich: »Ja, ja!«

Und dann murmelte er: »Das wird es gut machen – das wird es gut machen. Habe ich sie nicht arm und verlassen und ohne Freunde gefunden? Werde ich sie nicht behüten und lieben und trösten? Ist nicht Liebe in meinem Herzen und Beständigkeit in meinen Entschließungen? Das wird mich vor Gottes Thron rein waschen. Denn was das Urteil der Welt anbelangt – da wasche ich meine Hände. Es kümmert mich nicht. Der Meinung der Menschen trotze ich.«

Was war aber aus dem lichten Abend geworden? Der Mond konnte noch nicht untergegangen sein – und doch saßen wir bereits im Schatten. Ich konnte kaum das Gesicht meines Herrn sehen, wie nahe ich ihm auch war. Und was war mit dem Kastanienbaum geschehen? Er ächzte und stöhnte, während der Wind in dem Lorbeerwäldchen heulte und sausend über uns dahinfuhr.

»Wir müssen hineingehen,« sagte Mr. Rochester, »das Wetter verändert sich, ich hätte bis zum Morgen mit dir hier sitzen können, Jane!«

»Und wie gern wäre ich bei dir geblieben,« dachte ich. Vielleicht hätte ich dieser Empfindung auch Worte verliehen, aber ein bläulicher, heller Funke schoß aus einer Wolke hervor, die ich gerade betrachtete, dann folgte ein Krachen, ein Dröhnen und ein Prasseln; ich dachte nur daran, meine geblendeten Augen an Mr. Rochesters Schulter zu verbergen.

[407] Der Regen strömte herab. Er zog mich eilends durch den Gartenweg, durch den Park und hinein ins Haus; aber wir waren vollständig durchnäßt, bevor wir die Schwelle erreicht hatten. Er war gerade im Begriff, mir in der großen Halle den Shawl von den Schultern zu nehmen und mein nasses Haar auszuschütteln, als Mrs. Fairfax aus ihrem Zimmer trat. Im ersten Augenblick bemerkte ich sie nicht; ebensowenig wurde Mr. Rochester ihrer ansichtig. Die Lampe war angezündet. Die Uhr schlug gerade zwölf Uhr.

»Beeile dich, deine nassen Kleider abzulegen,« sagte er; »und bevor du gehst, gute Nacht – gute Nacht, mein einziger, teurer Liebling!«

Er küßte mich wiederholt. Als ich mich seinen Armen entwand und aufblickte, stand die Witwe vor mir, bleich, ernst, fast versteinert. Ich lächelte ihr nur zu und lief die Treppe hinauf.

»Die Erklärung kommt noch immer früh genug,« dachte ich. Als ich jedoch mein Zimmer erreicht hatte, fühlte ich einen stechenden Schmerz im Herzen bei dem Gedanken, daß sie auch nur für einen Augenblick das mißdeuten könne, was sie gesehen. Aber die Glückseligkeit übertäubte bald jedes andere Gefühl; und wie laut der Wind auch pfiff, wie heftig und nah der Donner grollte, wie blendend und oft der Blitz die Luft durchzuckte, wie sündflutähnlich der Regen auch während dieses Gewitters von zweistündiger Dauer den Wolken entströmte – ich empfand keine Furcht, keine Angst, keinen Schrecken. Während dieses Aufruhrs in der Natur kam Mr. Rochester dreimal an meine Thür, um zu fragen, ob ich mich sicher und ruhig fühle. Und das war ein Trost, das gab mir zu allem Kraft.

Ehe ich mich am nächsten Morgen erhob, kam die kleine Adele in mein Zimmer gelaufen, um mir zu erzählen, daß der große Kastanienbaum am Ende des Gartens während der Nacht vom Blitz getroffen und zur Hälfte zerschmettert sei.

Viertes Kapitel [2]

[408] Viertes Kapitel

Während ich mich erhob und mich ankleidete, überdachte ich noch einmal alles, was geschehen war und fragte mich verwundert, ob nicht das ganze ein Traum gewesen sei. Ich konnte nicht an die Wirklichkeit glauben, bevor ich Mr. Rochester nicht wiedergesehen und ihn seine Liebesworte und sein Gelöbnis hatte erneuern hören.

Während ich meine Flechten aufsteckte, betrachtete ich mein Gesicht im Spiegel und sah, daß es nicht mehr häßlich sei; es drückte Hoffnung aus und lebhafte Röte bedeckte die Wangen. Meine Augen blickten, als hätten sie den Born des Lebens gesehen und ihren Glanz von seinen spielenden Wellen geborgt. Ich hatte meinen Herrn oft nur widerstrebend angesehen, weil ich fürchtete, mein Blick könne ihm unangenehm sein. Jetzt wußte ich aber, daß ich mein Antlitz zu dem seinen emporheben dürfe, ohne daß seine Liebe dadurch abgekühlt würde. Ich nahm ein einfaches aber sauberes, leichtes Sommerkleid aus meinem Schranke und legte es an; mir war, als hätte kein Gewand mich jemals so gut gekleidet – ich hatte ja auch noch niemals eins in so glückseliger Stimmung getragen.

Als ich in die Halle hinunterlief, war ich durchaus nicht erstaunt zu sehen, daß ein herrlicher Junimorgen auf den heftigen Sturm der Nacht gefolgt war. Ein erfrischender, duftiger Luftzug strömte mir durch die geöffnete Glasthür entgegen. Die Natur mußte ja fröhlich sein, wenn ich so unsagbar glücklich war.

Eine Bettlerin und ihr kleiner Knabe – beide bleich, elend und zerlumpt – kamen den breiten Gartenweg herauf und ich lief ihnen entgegen und gab ihnen die ganze Summe, welche ich zufällig in meiner Geldbörse hatte; es waren wohl vier oder fünf Schilling; (ein engl. Schilling = eine Mark) ob gut, ob böse, alle Menschen sollten an meiner Seligkeit teilhaben. Die Raben krächzten, die kleinen [409] Vögel sangen, aber nichts war so lustig und so wohltönend wie die Musik meines eigenen Herzens.

Mrs. Fairfax setzte mich in Erstaunen, indem sie mit traurigem Gesicht zum Fenster hinaussah und in ernstem Ton sagte: »Miß Eyre, wollen Sie zum Frühstück hereinkommen?« Während der Mahlzeit war sie ruhig und kalt, aber der Augenblick war noch nicht gekommen, um ihr die beabsichtigte Aufklärung zu geben. Ich mußte warten, bis mein Herr kam und ihr alles erklärte, und darauf mußte auch sie warten. Ich aß, was ich konnte und eilte dann nach oben.

Ich traf Adele, welche aus dem Schulzimmer kam.

»Wohin gehst du? Es ist Zeit, die Lehrstunden zu beginnen.«

»Mr. Rochester hat mich nach der Kinderstube geschickt.«

»Wo ist er?«

»Dort,« sagte sie und zeigte auf das Zimmer, welches sie soeben verlassen.

Ich trat ein. Dort stand er.

»Komm herein und sag mir ›Guten Morgen‹,« sagte er. Fröhlich ging ich zu ihm. Es war jetzt kein kaltes, höfliches Wort mehr oder ein gleichgiltiger Händedruck, den er mir spendete, sondern eine zärtliche Umarmung, ein inniger Kuß. Es schien mir ganz natürlich; es war ein seliges Bewußtsein, so von ihm geliebt zu sein, so zärtlich von ihm geliebkost zu werden.

»Jane, du siehst so blühend, so lächelnd, so hübsch aus,« sagte er, »wirklich hübsch heute Morgen. Ist dies meine bleiche, zarte, kleine Elfe? Ist dies meine Glockenblume? Dies kleine, sonnige Mädchen mit Grübchen in den Wangen und rosigen Lippen? Mit dem seidenweichen, kastanienbraunen Haar und den strahlenden braunen Augen?«

Lieber Leser, ich hatte grüne Augen, aber du mußt den Irrtum entschuldigen; vermutlich waren sie für ihn frisch gefärbt.

[410] »Es ist Jane Eyre, Sir.«

»Und wird bald Jane Rochester sein,« fügte er hinzu, »in vier Wochen, Jane; nicht einen Tag länger. Hörst du das und verstehst du mich?«

Ich hörte ihn wohl, aber ich konnte es nicht fassen. Es verursachte mir Schwindel. Das Gefühl, das durch diese Ankündigung in mir geweckt wurde, war etwas heftigeres, bewältigenderes als Freude – etwas das mich schmerzte, mich betäubte: ich glaube es war etwas wie Furcht.

»Du warst rosig, Jane, und jetzt bist du bleich wie der Tod. Weshalb das?«

»Weil Sie mir einen neuen Namen gaben – Jane Rochester, und das klang so seltsam.«

»Ja, Mrs. Rochester,« sagte er, »die junge Mrs. Rochester – das mädchenhafte Weib Fairfax Rochesters.«

»Es kann nicht sein, Sir, niemals! Es wird nicht sein, es klingt zu unwahrscheinlich. Auf dieser Welt wird keinem Erdenwesen ungetrübtes Glück zu teil. Ich bin ja nicht zu einem besseren Geschick geboren als meine Mitmenschen. Daß solch ein Los mir zu teil werden sollte, ist ein Feenmärchen – ein Morgentraum.«

»Den ich in Erfüllung gehen lassen kann und werde. Noch heute werde ich mit der Verwirklichung beginnen. Heute Morgen habe ich an meinen Banquier in London geschrieben, daß er mir gewisse Juwelen schickt, die er in Verwahrung hat – Erbstücke der Gebieterinnen von Thornfield. In zwei, drei Tagen hoffe ich, sie dir in den Schoß schütten zu können, denn jeder Vorzug, jede Aufmerksamkeit soll dir werden, die ich der Tochter eines Pairs gewähren würde, wenn ich im Begriffe stände, sie zu heiraten.«

»O, Sir, sprechen Sie nicht von Juwelen! – Ich mag nicht davon reden hören. Juwelen für Jane Eyre! Das klingt seltsam und unnatürlich! Ich möchte sie lieber nicht haben.«

»Ich selbst will die Diamantenkette um deinen Hals [411] legen und deine Stirn mit dem Diadem krönen! Wie herrlich wird es dich kleiden! Denn die Natur hat dir den Adelsbrief auf die Stirn geschrieben, Jane! Und ich will diese zarten Gelenke mit Armbändern schmücken, und diese kleinen Feenfinger mit kostbaren Ringen beladen.«

»Nein, nein, Sir! Denken Sie an andere Dinge, sprechen Sie von anderen Sachen und mit anderen Worten! Reden Sie nicht zu mir, als wenn ich eine Schönheit wäre; ich bin nichts als Ihre einfache, quäkerhafte Gouvernante.«

»In meinen Augen bist du eine Schönheit, und gerade eine Schönheit nach meinem Herzen; – zart und elfengleich.«

»Klein und unbedeutend, wollen Sie sagen. Ach, Sie träumen, Sir, oder Sie spotten meiner. Um der himmlischen Barmherzigkeit willen, seien Sie nicht satyrisch!«

»Ich werde es auch noch dahin bringen, daß die Welt dich als Schönheit anerkennt,« fuhr er fort, während die Art und Weise seiner Rede begann mich unruhig zu machen. Denn ich fühlte, daß er entweder sich selbst täuschte, oder mich zu täuschen versuchte.

»Ich will meine Jane in Samt und Seide und Spitzen kleiden und sie soll Rosen im Haar tragen; und das Haupt, das mir über alles teuer ist, will ich in einen köstlichen, unschätzbaren Schleier hüllen.«

»Und dann werden Sie mich nicht mehr kennen, Sir; und ich werde Ihre alte Jane Eyre nicht mehr sein, sondern ein Affe in einer Harlequinsjacke – eine Elster in geborgten Federn. Wahrlich, Mr. Rochester, ich möchte Sie lieber in einem Theaterkostüm sehen, als mich selbst in dem Kleide einer Hofdame. Und ich sage nicht, daß Sie schön sind, Sir, obgleich ich Sie grenzenlos liebe: viel zu innig und wahr, um Ihnen zu schmeicheln. Deshalb schmeicheln auch Sie mir nicht.«

Er setzte sein Thema jedoch fort, ohne meine ablehnende Mißbilligung zu bemerken.

»Noch heute werde ich dich nach Millcote hinüberfahren, [412] damit du einige Kleider für dich wählst. Ich habe dir ja gesagt, daß wir in vier Wochen verheiratet sein werden. Die Trauung wird in aller Stille vollzogen, dort unten in jener Kirche, und dann werde ich dich sofort nach der Hauptstadt bringen. Nach einem kurzen Aufenthalt in London werde ich meinen Schatz in Regionen tragen, welche der Sonne näher sind, nach französischen Weingärten und italienischen Ebenen; und du wirst alles sehen, was berühmt in der alten Geschichte und wertvoll und kostbar in der Neuzeit ist. Du sollst auch das Leben in den großen Städten sehen, und du wirst lernen dich selbst hochzuschätzen durch den gerechten Vergleich mit andern.«

»Ich soll reisen? – und mit Ihnen, Sir?«

»Du sollst in Paris, Rom und Neapel leben; in Florenz, Venedig und Wien; du sollst den Boden wieder betreten, über den ich einst gewandelt bin; dein kleiner Fuß soll über die Stätten schweben, auf welchen ich einst einhergeschritten. Vor zehn Jahren bin ich wie ein Wahnsinniger durch ganz Europa gerast; Ekel, Haß und Wut waren meine Gefährten; jetzt werde ich geheilt und rein denselben Weg gehen – mir zur Seite ein Engel als Trösterin.«

Ich lachte bei diesen seinen Worten.

»Ich bin kein Engel,« versicherte ich, »und ich werde auch keiner werden, bevor ich nicht tot und im Paradiese bin. Ich werde nur ich selbst sein. Mr. Rochester, Sie dürfen weder etwas himmlisches von mir erwarten, noch fordern – denn diese Forderung würde ich nicht erfüllen können, ebensowenig, wie Sie eine solche von meiner Seite erfüllen könnten. Aber ich er warte auch nichts derartiges von Ihnen.«

»Was erwartest du denn von mir, Kleine?«

»Während einer kleinen Weile werden Sie vielleicht bleiben, wie Sie jetzt sind, – aber nur während einer sehr kurzen Weile. Und dann werden Sie kalt werden, und dann launenhaft, und schließlich werden Sie strenge werden und hart, und ich werde viel zu thun haben, um [413] Sie zufrieden zu stellen; aber wenn Sie sich ganz an mich gewöhnt haben, so werden Sie mich vielleicht wieder lieb haben – lieb haben sage ich, nicht lieben. Ich vermute, daß Ihre Liebe in sechs Monaten, oder in vielleicht noch kürzerer Zeit, dahinschwinden wird. In Büchern, welche von Männern geschrieben sind, habe ich diesen Zeitpunkt als den weitesten erwähnt gefunden, bis zu welchem die Liebe eines Mannes sich erstreckt. Und doch hoffe ich, daß ich meinem teuren Herrn als Freundin und Begleiterin niemals ganz gleichgiltig sein werde.«

»Nicht ganz gleichgiltig! Und dich wieder lieb haben! Ich glaube, daß ich dich immer und immer wieder lieb haben werde, und du wirst mir eines Tages gestehen müssen, daß ich dich nicht nur lieb habe, sondern dich wahrhaft, innig und beständigliebe.«

»Und sind Sie nicht launenhaft, Sir?«

»Frauen gegenüber, an denen mir nichts gefällt, als ihr Gesicht, bin ich ein wahrer Teufel, wenn ich herausfinde, daß sie weder Herz noch Seele haben – wenn sie mir nur eine Perspektive von Unbedeutendheit, Schalkheit, Dummheit, Roheit und Böswilligkeit eröffnen; – aber für ein klares Auge und eine beredte Zunge, für eine feurige Seele und einen Charakter, der sich wohl beugt aber nicht bricht – der zugleich biegsam und stark, beständig und doch leicht zu behandeln ist – für diese bin ich stets treu und wahr.«

»Haben Sie je einen solchen Charakter kennen gelernt, Sir? Haben Sie einen solchen geliebt?«

»Ich liebe ihn jetzt.«

»Aber vor mir noch, wenn ich überhaupt einen so schwierigen Standpunkt einnehmen kann?«

»Ich habe niemals deinesgleichen gefunden. Jane, du gefällst mir, und du beherrschest mich – du scheinst dich zu unterwerfen, und ich bewundere die Schmiegsamkeit an dir; und während ich die weiche Seide um meinen Finger [414] wickle, macht sie mein Herz erbeben. Ich bin beeinflußt, besiegt, und dieser Einfluß ist süßer, als ich sagen kann; und der Sieg, dem ich mich unterwerfen muß, ist bezaubernder als irgend ein Triumph, den ich gewinnen könnte. Weshalb lächelst du, Jane? Was hat jener unerklärliche, unschöne Wechsel des Gesichtsausdrucks zu bedeuten?«

»Ich dachte, Sir (Sie werden den Ideengang entschuldigen, er war unwillkürlich) ich dachte an Herkules und Samson – – –«

»Wirklich, meine kleine Elfe.«

»Ruhig, Sir! Sie sprechen in diesem Augenblick nicht sehr weise; nicht viel weiser als jene beiden Herren handelten. Indessen, wenn sie verheiratet gewesen wären, so würden sie ohne Zweifel durch ihre Strenge als Ehegatten ihre Thorheit als Bewerber wieder gut gemacht haben, – und ich fürchte, auchSie werden das thun. Ich möchte nur wissen, wie Sie mir nach Ablauf eines Jahres antworten werden, wenn ich Sie um einen Dienst oder eine Gefälligkeit bitten sollte, deren Gewährung Ihnen nicht angenehm ist.«

»Bitte mich jetzt um etwas, Jane – um eine Kleinigkeit nur, ich wünsche, daß du mich bitten möchtest – –«

»Gewiß Sir, ich will es, gewiß; ich habe schon eine Bitte in Bereitschaft.«

»Sprich! Wenn du aber aufblickst und mich mit solchem Ausdruck anlächelst, so schwöre ich dir Erfüllung deiner Bitte, bevor ich sie kenne, und das würde mich zum Thoren machen.«

»Durchaus nicht, Sir. Ich erbitte nur dieses: lassen Sie die Juwelen nicht kommen und bekränzen Sie mich nicht mit Rosen; es wäre ja gerade so gut, als wenn Sie jenes einfache Taschentuch dort in Ihrer Hand mit einem echt goldenen Streifen umrändern wollten.«

»Ebensogut könnte ich echtes Gold vergolden. Das weiß ich wohl. Deine Bitte sei dir also gewährt – für den Augenblick wenigstens. Ich werde die Ordre, die ich meinem [415] Banquier erteilt habe, widerrufen. Aber du hast noch immer nichts erbeten; du hast gebeten, daß man ein Geschenk zurückziehe: versuch es also noch einmal.«

»Nun Sir, so haben Sie denn die Güte, meine Neugierde zu befriedigen, die in Bezug auf einen gewissen Punkt sehr rege geworden ist.«

Er sah verdutzt aus. »Was ist es? Was kann das sein?« fragte er hastig. »Die Neugierde ist eine gefährliche Bittstellerin. Es ist nur ein Glück, daß ich nicht geschworen habe, jede Bitte zu erfüllen –«

»Es kann aber nicht gefährlich sein, wenn Sie diese hier erfüllen, Sir.«

»So sprich sie aus, Jane. Aber ich möchte lieber, daß du mich um die Hälfte meines Besitztums bätest, als daß du versuchtest, ein Geheimnis zu erfragen.«

»Aber, König Ahasverus! Was könnte mir die Hälfte deines Besitztums nützen!! Meinen Sie, daß ich ein jüdischer Wucherer bin, der sein Geld sicher in Ländereien anlegen möchte? Viel lieber möchte ich Ihr ganzes Vertrauen besitzen. Wenn Sie mich an Ihr Herz nehmen, werden Sie mich doch nicht von Ihrem Vertrauen ausschließen?«

»Nimm mein ganzes Vertrauen, wenn es der Mühe wert ist, Jane. Aber um Gottes willen, lade keine unerträgliche Bürde auf dich! Verlange nicht nach Gift – werde nicht zu einer wahren Eva in meinen Händen!«

»Weshalb nicht, Sir? Sie haben mir eben erst gesagt, wie gern Sie sich besiegen lassen, und wie sehr Sie es lieben, überredet zu werden. Meinen Sie nicht, daß es gut wäre, wenn ich mir dies Bekenntnis zu Nutze machte und anfinge zu liebkosen, zu bitten, ja, wenn es notwendig wäre, sogar zu weinen und zu schmollen – nur um es auf einen Versuch meiner Macht ankommen zu lassen?«

»Ich gestatte dir jedes Experiment dieser Art. Sei anmaßend, sei vermessen, und das Spiel ist zu Ende.«

[416] »Wirklich, Sir? Sie geben das Spiel bald auf. Wie ernst Sie jetzt aussehen! Ihre Augenbrauen sind so dick wie mein Finger geworden und Ihre Stirn gleicht dem, was ich in einem verblüffendem Gedicht einst als bläulich schimmernden Donnerkeil bezeichnet fand. Vermutlich, Sir, werden Sie diese Miene stets zur Schau tragen, wenn Sie verheiratet sind?«

»Und wenn dies deine verheiratete Miene sein wird, muß ich als guter Christ bald die Absicht aufgeben, mich einem Geist oder einem Salamander zu vermählen. Aber, liebes Ding, was wolltest du von mir erfragen? Heraus damit!«

»Nun, da haben wir's! Jetzt sind Sie wirklich weniger als höflich. Aber mir ist die Unhöflichkeit lieber als Schmeichelei. Ich will lieber ein ›Ding‹ sein als ein Engel. Dies war es, was ich fragen wollte: Weshalb gaben Sie sich so viel Mühe, mich glauben zu machen, daß Sie Miß Ingram heiraten wollten?«

»War das alles? Gott sei gelobt, daß es nichts Schlimmeres war!«

Und jetzt glättete sich seine Stirn; er blickte auf mich herab, lächelte mir zu, streichelte mein Haar, als empfände er eine innige Freude darüber, eine Gefahr abgewendet zu sehen.

»Ich glaube, ich darf es dir beichten,« fuhr er fort, »selbst auf die Gefahr hin, daß du ein wenig zornig bist. Jane, ich habe ja gesehen, welch ein Feuergeist du sein kannst, wenn du gereizt bist. Selbst in dem kalten Mondlicht sah ich dich gestern Abend erglühen, als du dich gegen das Schicksal auflehntest und beanspruchtest, von mir als meines Gleichen betrachtet zu werden. Jane, nebenbei gesagt, du warst es, die mir den Antrag machte.«

»Natürlich that ich das. Aber zur Sache, wenn es Ihnen beliebt, Sir – Miß Ingram?«

»Nun, so höre denn; ich machte Miß Ingram scheinbar [417] den Hof, weil ich wünschte, dich ebenso wahnsinnig verliebt in mich zu machen, wie ich in dich verliebt war; und ich wußte, daß Eifersucht die beste Verbündete sein würde, welche ich zu diesem Zweck zu Hilfe rufen könne!«

»Ausgezeichnet! – Jetzt sind Sie klein – nicht um ein Jota größer, als die Spitze meines kleinen Fingers. Es war ein himmelschreiendes Unrecht und eine große Schande, in dieser Weise zu handeln. Dachten Sie denn gar nicht an Miß Ingrams Gefühle, Sir?«

»Ihre Gefühle konzentrieren sich in einem einzigen: in dem maßlosesten Stolze; und dieser muß gedemütigt werden. Warst du denn auch wirklich eifersüchtig, Jane?«

»Lassen wir das, Mr. Rochester. Es kann Sie unmöglich interessieren, das zu wissen. Antworten Sie mir noch einmal aufrichtig. Glauben Sie nicht, daß Miß Ingram unter Ihrer unehrlichen Koketterie leiden wird? Wird sie sich nicht für eine Verlassene, eine Verratene halten?«

»Unmöglich! – Ich habe dir doch erzählt, wie sie im Gegenteil mich verlassen hat. Die Flamme ihrer Liebe wurde in einem Augenblick durch das Gerücht meiner Insolvenz abgekühlt oder vielmehr gelöscht.«

»Sie haben einen seltsamen, intriguanten Sinn, Mr. Rochester. Ich fürchte, daß Sie in manchen Dingen sehr excentrische Grundsätze haben.«

»Meine Prinzipien wurden niemals durch eine strenge Schule herangebildet; durch Mangel an Zucht mögen sie ein wenig fadenscheinig geworden sein.«

»Noch einmal und in vollem Ernst: darf ich das große Glück, das mir geworden, ohne die Furcht genießen, daß nicht jetzt andere den bittern Schmerz durchkostet, den ich selbst noch vor kurzem empfand?«

»Das darfst du, mein kleines Mädchen. Auf der ganzen Welt giebt es kein zweites Wesen, das dieselbe reine Liebe für mich hegt, wie du – denn der Glaube an deine Liebe, [418] Jane, ist der heilende, wohlthuende Balsam, den ich für meine Seele brauche.«

Ich drückte meine Lippen auf die Hand, welche auf meiner Schulter ruhte. Ich liebte ihn sehr – sehr – mehr als ich den Mut hatte ihm zu gestehen – mehr als Worte überhaupt auszudrücken vermochten.

»Verlange noch etwas anderes von mir,« sagte er nach einigen Sekunden, »es ist meine Wonne, gebeten zu werden und nachzugeben.«

Ich hatte meine Bitte schon wieder in Bereitschaft.

»Teilen Sie Ihre Absichten Mrs. Fairfax mit, Sir, Sie hat mich gestern Abend mit Ihnen in der Halle gesehen, und sie war empört. Geben Sie ihr irgend eine Erklärung, bevor ich genötigt bin, wieder mit ihr zusammenzutreffen. Es kränkt mich, daß eine so gute Frau, wie sie ist, mich falsch beurteilt.«

»Geh auf dein Zimmer und setze deinen Hut auf,« entgegnete er. »Ich wünsche, daß du mich heute Morgen nach Millcote begleitest, und während du deine Vorbereitungen für die Fahrt triffst, will ich den Verstand der alten Dame aufklären. Jane, glaubte sie, daß du die Welt für deine Liebe hingegeben, und daß jetzt alles verloren sei?«

»Ich glaube, sie meinte, daß ich sowohl Ihre Stellung wie die meine vergessen hätte, Sir.«

»Stellung! – Stellung! – Deine Stellung ist in meinem Herzen und auf dem Nacken derjenigen, die dich jetzt oder in Zukunft beleidigen möchten. – Geh jetzt.«

Ich war bald angekleidet. Und als ich hörte, daß Mr. Rochester Mrs. Fairfax' Wohnzimmer verließ, eilte ich hinunter zu ihr. Die alte Dame hatte gerade ihr Morgenkapitel aus der Bibel gelesen – die Epistel für den Tag. Die Bibel lag aufgeschlagen vor ihr, und die Brille lag zwischen den Blättern. Diese ihre Beschäftigung, [419] in welcher sie jetzt durch Mr. Rochesters Nachricht unterbrochen worden, schien jetzt vergessen. Ihre Augen, welche auf die gegenüberliegende leere Wand geheftet waren, drückten das Erstaunen eines stillen Gemüts aus, das durch überraschende Nachrichten aus seiner gewohnten Ruhe aufgescheucht worden. Als sie mich sah, ermannte sie sich; sie machte eine leise Anstrengung zu lächeln und stotterte einige beglückwünschende Worte hervor. Aber das Lächeln schwand hin, der Satz blieb unvollendet. Sie setzte die Augengläser wieder auf, schloß die Bibel und schob ihren Stuhl vom Tisch zurück.

»Ich bin so außerordentlich überrascht,« begann sie alsdann, »ich weiß kaum, was ich Ihnen sagen soll, Miß Eyre. Ich glaube fast geträumt zu haben, aber dem ist nicht so, nicht wahr? Wenn ich hier so allein sitze, falle ich manchmal in eine Art Halbschlaf und dann sehe und höre ich allerhand Dinge, die gar nicht existieren. Mehr als einmal habe ich in meinem Schlummer meinen armen teuren Mann gesehen, wie er hereinkam und sich an meine Seite setzte; er ist nun schon über fünfzehn Jahre tot, und doch habe ich ihn mich bei Namen rufen hören, Alice!! Alice! wie er es zu thun pflegte. Nun, können Sie mir sagen, ob es wirklich und wahrhaftig wahr ist, daß er Sie gebeten hat, ihn zu heiraten? Lachen Sie mich nicht aus! Aber mir ist wirklich, als wäre er vor kaum fünf Minuten hier im Zimmer gewesen und hätte mir erzählt, daß Sie binnen einem Monat seine Frau sein würden.«

»Dasselbe hat er mir gesagt,« entgegnete ich.

»Hat er das! Glauben Sie ihm? Haben Sie ihn wirklich angenommen?«

»Ja.«

Sie blickte mich bestürzt an.

»Das hätte ich nimmermehr gedacht. Er ist ein stolzer Mann. Alle Rochesters waren stolz. Und sein Vater wenigstens liebte auch das Geld gar sehr. Auch von ihm [420] sagte man stets, daß er sehr vorsichtig und sparsam sei. Er hat wirklich die Absicht, Sie zu heiraten?«

»Wenigstens sagt er mir das.«

Sie musterte mich von Kopf bis zu Fuß. In ihren Augen las ich, daß sie keine Reize an mir fand, die stark genug gewesen wären, das Rätsel zu lösen.

»Nein, es geht über meinen Verstand,« fuhr sie fort, »aber es muß natürlich wahr sein, wenn Sie selbst es sagen. Wie es ausfallen wird – Gott mag es wissen: ich weiß es wahrlich nicht. Gleichheit der Stellung und des Vermögens ist in solchen Fällen sehr ratsam, und der Altersunterschied zwischen Ihnen beträgt mehr als zwanzig Jahre. Er könnte fast Ihr Vater sein.«

»Nein, in der That, Mr. Fairfax!« rief ich ärgerlich aus. »Er hat durchaus nichts von einem Vater. Niemand, der uns jemals beisammen gesehen hat, würde derartiges vermuten. Mr. Rochester steht so jung aus und ist so jung wie die meisten Männer mit fünfundzwanzig Jahren.«

»Und wird er Sie wirklich aus Liebe heiraten?« fragte sie dann wieder.

Ihr Skepticismus und ihre Kälte verletzten mich derartig, daß meine Augen sich mit Thränen füllten.

»Es thut mir leid, daß es Sie schmerzt,« fuhr die gutmütige, alte Witwe fort, »aber Sie sind so jung, Sie haben so wenig Menschenkenntnis, ich möchte Sie gern etwas vorsichtig machen. Es giebt ein altes Sprichwort: ›es ist nicht alles Gold was glänzt‹, und ich fürchte, daß wir in dieser Angelegenheit etwas finden werden, das sehr verschieden ist von dem, was Sie und ich erwarten.«

»Weshalb? – Bin ich denn ein Ungeheuer?« fragte ich. »Ist es unmöglich, daß Mr. Rochester eine aufrichtige Neigung für mich hegen könnte?«

»Nein. Sie sind ganz hübsch und in der letzten Zeit haben Sie sich sehr verschönt. Möglich ist es ja, daß Mr. [421] Rochester Sie sehr lieb hat. Ich habe immer bemerkt, daß er eine gewisse Vorliebe für Sie hegte. Es hat Zeiten gegeben, wo ich um Ihretwillen ein wenig unruhig über seine so stark markierte Bevorzugung Ihrer Person war und oft wünschte, Sie ein wenig vorsichtig zu machen. Aber es verletzte mich, auch nur die Möglichkeit eines Unrechts zu berühren. Ich wußte, daß solch eine Idee Sie beleidigen, vielleicht empören würde; und Sie selbst waren so diskret, und so durchaus vernünftig und bescheiden, daß ich hoffte, man würde Sie Ihrem eigenen Schutz überlassen können. Ich kann Ihnen nicht beschreiben, was ich gelitten habe, als ich Sie gestern Abend im ganzen Hause suchte und weder Sie noch unsern Herrn finden konnte. Und als ich Sie dann um Mitternacht mit ihm heimkehren sah!«

»Nun lassen Sie das jetzt und denken Sie nicht mehr daran,« unterbrach ich sie ungeduldig, »es muß Ihnen genügen, daß es durchaus in der Ordnung war.«

»Ich will nur hoffen, daß schließlich alles in Ordnung kommt,« sagte sie, »aber glauben Sie mir, daß Sie gar nicht vorsichtig genug sein können. Versuchen Sie, Mr. Rochester in einer gewissen Entfernung zu halten. Trauen Sie ihm ebensowenig wie sich selbst. Herren in seiner Stellung pflegen gewöhnlich nicht ihre Gouvernanten zu heiraten.«

Ich wurde wirklich ärgerlich; glücklicherweise kam Adele ins Zimmer gelaufen.

»Lassen Sie mich mitfahren, – nehmen Sie mich auch mit nach Millcote!« rief sie. »Mr. Rochester will mich nicht mitnehmen, obgleich in dem neuen Wagen noch soviel Platz ist. Mademoiselle, bitten Sie für mich, daß er mich mitnimmt.«

»Das will ich, Adele;« und froh, meiner trübseligen Lehrmeisterin zu entrinnen, lief ich mit ihr von dannen. Der Wagen war bereit, der Kutscher fuhr gerade am Hauptportal vor; mein Herr und Gebieter ging vor dem [422] Hause auf und ab, Pilot folgte ihm geduldig vorwärts und rückwärts auf den Fersen.

»Nicht wahr, Sir, Adele darf uns begleiten?«

»Ich habe es ihr abgeschlagen. Ich will keine kleinen Rangen. Ich will nur dich.«

»Lassen Sie sie mitkommen, Mr. Rochester, ich bitte Sie darum. Es wäre wirklich besser.«

»Nein. Sie würde uns nur Zwang auferlegen.«

Er sprach in einem sehr befehlenden Ton; seine Blicke befremdeten mich. Ich stand noch unter dem erkältenden Einfluß von Mrs. Fairfaxs Warnungen; als ich an die Zweifel dachte, welche sie ausgesprochen, überlief es mich wiederum eisig. Meine Hoffnungen wurden durch ein Gefühl von Ungewißheit und Haltlosigkeit herabgedrückt. Das Bewußtsein meiner Macht über ihn schwand dahin. Ich war nahe daran, ihm ohne weitere Gegenvorstellungen zu gehorchen. Als er mir beim Besteigen des Wagens behilflich war, sah er mir indessen ins Gesicht.

»Was bedeutet das?« fragte er, »aller Sonnenschein dahin geschwunden. Wünschest du denn wirklich, daß das Kind uns begleitet? Betrübt es dich in der That, wenn die Kleine zurückbleiben muß?«

»Es wäre mir lieber, wenn sie mit käme, Sir.«

»Dann lauf und hole deinen Hut, sei aber schnell wie der Blitz,« rief er Adele zu.

Sie gehorchte ihm so schnell sie konnte.

»Schließlich bedeutet die Störung eines einzigen Morgens ja auch nicht viel,« sagte er, »denn bald werde ich ja dich, deine Gedanken, deine Worte, deine Gesellschaft ganz für mich in Anspruch nehmen – fürs ganze lange Leben.«

Als Adele in den Wagen gehoben wurde, begann sie mich zu küssen, um mir ihre Dankbarkeit für meine Vermittelung zu bezeigen. Augenblicklich schob er sie in einen Winkel auf seiner andern Seite. Dann beugte sie sich an [423] ihm vorüber zu mir hin. Ihr ernster Nachbar legte ihr zu viel Zwang auf. Ihm wagte sie in seiner jetzigen frostigen Laune ihre Bemerkungen nicht zuzuflüstern, und ebensowenig wagte sie, irgend eine Aufklärung oder Auskunft von ihm zu erbitten.

»Lassen Sie sie zu mir kommen,« bat ich, »vielleicht wird sie Sie belästigen, Sir; auf dieser Seite ist noch genug Platz.«

Er reichte sie mir hin, als wäre sie ein Schoßhündchen. »Ich werde sie doch noch in ein Institut schicken,« sagte er, aber jetzt lächelte er.

Adele hörte seine Worte und fragte, ob sie »sans mademoiselle« in das Institut geschickt werden solle.

»Ja,« sagte er, »ganz entschieden sans mademoiselle; denn ich werde mit Mademoiselle in den Mond reisen und dort werde ich eine Höhle in einem der weißen Thäler zwischen den feuerspeienden Bergen suchen, und dort oben wird Mademoiselle dann mit mir leben, ganz allein mit mir.«

»Dort wird sie aber nichts zu essen haben; Sie werden sie zu Tode hungern lassen,« bemerkte Adele.

»Tag und Nacht werde ich Manna für sie sammeln; die Ebenen und Bergrücken sind weiß vor Manna dort oben im Mond, Adele.«

»Aber wenn sie friert und Wärme braucht, wie soll sie denn ein Feuer bekommen?«

»Das Feuer steigt aus allen Mondbergen auf; wenn sie friert, trage ich sie auf irgend eine Bergspitze und lege sie am Rande des Kraters nieder.«

»Oh, qu'elle y sera mal – peu comfortàble! 1 Und ihre Kleider – die wird sie abtragen. Wie soll sie dann neue bekommen?«

Mr. Rochester that, als sei er um eine Antwort verlegen.

[424] »Hm!« sagte er. »Was würdest du thun, Adele? Zerbrich dir den Kopf, um ein Auskunftsmittel zu finden. Was meinst du wohl, wie würde eine weiße oder eine rosa Wolke sich als Kleid machen? Und aus einem Regenbogen könnte man vielleicht eine hübsche Schärpe schneiden.«

Nachdem Adele eine Weile nachgedacht hatte, sagte sie: »Nein, es geht ihr hier viel besser; und außerdem würde sie sich furchtbar langweilen und müde werden, wenn sie dort oben mit Ihnen allein wohnen sollte. Wenn ich Mademoiselle wäre, würde ich niemals einwilligen, mit Ihnen zu gehen.«

»Sie hat schon eingewilligt; sie hat mir ihr Wort gegeben.«

»Aber Sie können sie ja gar nicht hinaufbringen; es führt keine Straße zum Mond; es ist alles nur Luft; und Sie können nicht fliegen und Mademoiselle auch nicht.«

»Adele, sieh jenes Feld an.«

Wir waren jetzt außerhalb der Thore von Thornfield und rollen sanft auf der ebenen Landstraße nach Millcote zu. Der Gewittersturm hatte den Staub bewältigt; die niedrigen Hecken und hohen Bäume zu beiden Seiten des Weges prangten in schönstem Grün, das durch den Regen erfrischt war.

»Adele, auf jenem Felde ging ich vor ungefähr vierzehn Tagen eines Abends spät umher, es war am Abend jenes Tages, an dem du mit mir auf der großen Wiese im Obstgarten das Heu zusammengetragen hast. Da ich müde war von der Arbeit, setzte ich mich an einem Zauntritt nieder. Dann zog ich ein kleines Buch und einen Bleistift hervor und begann von einem Unglück zu schreiben, das vor langer Zeit über mich hereingebrochen; und dann schrieb ich den heißen Wunsch nieder, daß noch einmal glückliche Tage für mich kommen möchten. Ich schrieb sehr schnell, obgleich das Tageslicht dahinschwand, als etwas den Fußpfad heraufkam und einige Schritte vor mir stehen blieb. Ich blickte es an. Es war ein kleines, winziges Ding, das einen Schleier von Spinnweben auf dem Kopfe trug. [425] Ich winkte ihm näher zu kommen; bald stand es auf meinem Schoße. Ich sprach nicht zu ihm – es sprach nicht zu mir – in Worten; aber ich las in seinen Augen und es las in den meinigen; und unser stummes Gespräch lautete ungefähr so:

›Es sei eine Elfe, sagte es, und käme aus dem Feenlande; es sei gekommen, um mich glücklich zu ma chen, aber ich müsse mit ihm aus der gemeinen, alltäglichen Welt hinausgehen an einen einsamen Ort – nach dem Monde zum Beispiel – und es zeigte dorthin, wo er gerade rot und leuchtend über dem Hügel aufging – und erzählte mir von den alabasternen Höhlen und silbernen Thälern, wo wir leben könnten. Ich sagte, daß ich gern mit ihm gehen würde, aber ich erinnerte das zarte Ding daran, wie du es gethan, daß ich keine Flügel zum Fliegen hätte.‹

›O,‹ entgegnete die Elfe, ›das schadet nicht! Hier ist ein Talisman, der alle Schwierigkeiten beiseite räumt,‹ und sie hielt mir einen hübschen, goldenen Ring vor die Augen. ›Schiebe ihn an den vierten Finger meiner linken Hand und ich gehöre dir und du gehörst mir; und wir werden diese Erde verlassen und uns dort drüben unsern Himmel suchen.‹ Dann nickte das kleine Ding dem Monde wieder zu.«

»Den Ring, Adele, trage ich in meiner Brusttasche, ich habe ihn in einen Sovereign verwandelt; aber ich werde ihn bald wieder entzaubern und einen Ring daraus machen.«

»Aber was hat Mademoiselle mit dem allen zu thun? Die Elfe kümmert mich nicht; Sie haben ja gesagt, Sie wollten Mademoiselle nach dem Mond tragen – –?«

»›Mademoiselle ist ja eine Elfe,‹ sagte er geheimnisvoll flüsternd. Darauf sagte ich ihr, dies alles sei nur Plauderei, und sie solle nicht darauf hören; und sie ihrerseits zeigte einen reichen Vorrat von echt französischem Skepticismus, indem sie Mr. Rochester ›un vrai menteur‹ (einen wahren Lügner) nannte und ihm sagte, sie höre gar nicht [426] auf seine Feengeschichten, und daß ›du reste il n'y avait pas de fées, et quand même il y en avait‹, 2 sie fest überzeugt sei, daß ihm keine erscheinen würden und ihm Ringe schenken und ihm anbieten, mit ihm nach dem Mond zu reisen.«

Die Stunde, welche wir in Millcote zubrachten, war eine ziemlich qualvolle für mich. Mr. Rochester zwang mich, nach einer gewissen Seidenhandlung zu gehen, und dort befahl er mir, ein halbes Dutzend seidener Kleider zu wählen. Ich haßte dieses Geschäft, ich bat, es noch aufschieben zu dürfen, nein – es sollte jetzt abgeschlossen werden. Durch meine dringenden, ihm ängstlich zugeflüsterten Bitten reduzierte ich das halbe Dutzend auf zwei Stück; diese beiden schwor er aber selbst auswählen zu wollen. Mit wahrer Todesangst gewahrte ich, wie seine Blicke über den bunten Warenvorrat schweiften. Auf einem reichen amethystfarbenen Seidenstoff und einem prächtigen rosa Atlas blieben sie haften. Wiederum flüsterte ich ihm zu, daß er ebensogut ein goldenes Kleid und einen silbernen Hut für mich kaufen könne, denn ich würde niemals den Mut haben, die Stoffe seiner Wahl zu tragen. Er war starr wie ein Stein, und erst nach unendlicher Mühe gelang es mir, ihn zu überreden, daß er dafür ein solides schwarzes Atlaskleid und eine helle perlgraue Seidenrobe eintauschte.

»Für den Augenblick solle ich meinen Willen haben,« sagte er, »aber er würde mich doch noch einmal farbenprächtig gekleidet sehen, wie ein Blumenbeet.«

Ich war froh, ihn endlich aus dem Seidenwarengeschäft und schließlich noch aus dem Laden eines Juweliers herauszubekommen; denn je mehr er mir kaufte, desto mehr fühlte ich ein Erröten des Ärgers und der Herabwürdigung in meine Wangen steigen. Als wir wieder im Wagen [427] saßen, und ich mich müde und fieberhaft in die Polster zurücklehnte, fiel mir ein, was ich im Lauf der trüben und glücklichen Begebenheiten ganz vergessen hatte – der Brief meines Onkels, John Eyre, an Mrs. Reed: seine Absicht mich zu adoptieren und mich zu seiner Erbin zu machen.

»Es würde in der That eine Erleichterung sein,« dachte ich, »wenn ich auch nur die allerbescheidenste Unabhängigkeit in pekuniärer Beziehung hätte; ich werde mich niemals darein finden können, von Mr. Rochester wie eine Puppe herausgeputzt zu werden, oder wie eine zweite Danaë dazusitzen und täglich den goldenen Regen auf mich herabfallen zu sehen. Sobald ich nach Hause komme, werde ich nach Madeira schreiben und meinem Onkel John mitteilen, daß ich im Begriff bin, mich zu verheiraten und mit wem; wenn mir nur die Aussicht blieb, daß Mr. Rochester eines Tages durch mich ein großes Vermögen zufallen würde, so sollte es mir auch nicht so schwer werden, mich jetzt von ihm erhalten zu lassen.«

Und nach diesem Gedanken, welchen ich nicht unterließ noch an demselben Tage auszuführen, faßte ich wieder den Mut, meinem Gebieter und Geliebten ins Auge zu sehen, das fortwährend meine Blicke gesucht hatte, obgleich ich sowohl Antlitz wie Augen abgewendet gehalten. Er lächelte; und mir schien sein Lächeln ähnlich jenem, mit welchem ein Sultan die Sklavin zu beglücken pflegt, welche er mit seinem Gold und seinen Juwelen geschmückt hat. Ich drückte seine Hand, welche fortwährend die meine gesucht hatte, herzhaft, und warf sie dann von mir; sie war noch rot von meinem leidenschaftlichen Drucke.

»Sie brauchen mich nicht so anzusehen,« sagte ich. »Wenn Sie es noch einmal thun, werde ich bis ans Ende des Kapitels nichts tragen als meine alten Kleider von Lowood. Ich werde mich in diesem fliederfarbenen Baumwollkleidchen trauen lassen – und Sie können sich aus [428] dem perlgrauen Seidenzeuge einen Schlafrock machen lassen, und aus dem schwarzen Atlas eine endlose Reihe von Westen.«

Er kicherte in sich hinein; er rieb sich die Hände: »Ach, es ist ein kostbares Vergnügen, sie zu hören und zu sehen!« rief er aus. »Ist sie nicht originell? Ist sie nicht pikant? Ich würde dies eine kleine, englische Mädchen nicht gegen den ganzen Harem des Großtürken austauschen, mit all seinen Houriaugen und Gazellenformen!«

Diese orientalische Anspielung ärgerte mich wieder: »Ich werde Ihnen durchaus nicht den Harem ersetzen,« sagte ich; »also bitte ich Sie, mich nicht als Ersatz für einen solchen anzusehen; wenn Sie irgendwie für dergleichen Sinn haben, so machen Sie, daß Sie fortkommen, fort nach den Bazars von Stambul, Sir; und legen Sie einen Teil Ihres überflüssigen Geldes, welches Sie hier nicht nach Ihrem Sinne anbringen zu können scheinen, in ausgiebigen Sklavenankäufen an.«

»Und was wirst du thun, Jane, wenn ich um so und so viel Tonnen Fleisches und um ein Sortiment schwarzer Augen handle?«

»Ich bereite mich darauf vor, als Missionärin hinauszugehen in alle Lande und Freiheit allen denen zu predigen, die in Sklaverei leben – unter anderen auch den Bewohnerinnen Ihres Harems. Man wird mir dort Einlaß gewähren, und ich werde eine Empörung anzetteln. Und Sie, Pascha mit den drei Roßschweifen, werden im Umsehen von unseren Händen gefesselt dastehen; und ich für mein Teil werde nicht eher ein willigen, Ihre Fesseln zu lösen, bis Sie nicht das freisinnigste Gesetz unterschrieben haben, welches ein Despot jemals gegeben hat.«

»Ich würde mich dir auf Gnade und Ungnade ergeben, meine kleine Jane.«

»Ich würde keine Gnade üben, Mr. Rochester, wenn Sie mich mit solchen Augen darum bäten. Wenn Sie so aussähen, würde ich sicher sein, daß Sie jedes Gesetz, welches [429] Sie unter drückendem Zwange unterschreiben, sofort übertreten würden, wenn Sie wiederum in Freiheit sind.«

»Nun, Jane, was willst du denn eigentlich von mir? Ich fürchte, du wirst mich zwingen, noch eine zweite Trauungsceremonie, außer jener am Altar, vornehmen zu lassen. Du wirst noch ganz besondere Bedingungen stipulieren; das sehe ich schon – welcher Art werden sie sein?«

»Ich möchte nur ein fröhliches Gemüt, Sir, auf dem keine Verpflichtungen lasten. Erinnern Sie sich, was Sie von Celine Varens sagten? – von den Diamanten, den Cachemirs, die Sie ihr geschenkt haben. Ich will nicht Ihre englische Celine Varens sein. Ich werde fortfahren, Adeles Gouvernante zu sein, damit verdiene ich mir Wohnung und Beköstigung, und außerdem noch dreißig Pfund jährlich. Von diesem Gelde werde ich meine Garderobe anschaffen, und Sie sollen mir nichts geben als – – –«

»Nun, als?«

»Ihre Achtung; und wenn ich Ihnen die meine dafür wiedergebe, so ist die Schuld abgezahlt.«

»Wahrhaftig, was kalte, angeborene Keckheit, und reinen, unbeugsamen Stolz anbetrifft, hast du nicht deinesgleichen,« sagte er. Jetzt näherten wir uns Thornfield.

»Möchtest du heute mit mir zu Mittag speisen?« sagte er, als wir durch die Parkthore von Thornfield fuhren.

»Nein, ich danke Ihnen, Sir.«

»›Und weshalb, nein, ich danke Ihnen, Sir,‹ wenn man so frei sein darf zu fragen?«

»Ich habe noch niemals mit Ihnen gespeist, Sir, und ich sehe nicht ein, weshalb ich es jetzt thun sollte, bevor – –«

»Nun, bevor? Diese halben Phrasen scheinen dir ein besonderes Vergnügen zu machen.«

»Bevor es nicht sein muß.«

»Glaubst du vielleicht, daß ich wie ein Menschenfresser oder wie ein Vielfraß esse, daß du nicht die Gefährtin meiner Mahlzeiten sein willst?«

[430] »Ich habe mir wirklich gar keine Meinung über diese Sache gebildet, Sir; aber ich möchte noch einen Monat so weiter leben wie bisher.«

»Nein, du sollst deine Gouvernantensklaverei augenblicklich aufgeben.«

»In der That! Ich bitte um Verzeihung, Sir, aber ich werde das nicht thun. Ich werde gerade so weiter leben wie bisher. Ich werde mich während des ganzen Tages von Ihnen fern halten, wie ich gewöhnt war, es zu thun; wenn Sie mich sehen wollen, können Sie mich des Abends holen lassen; dann werde ich kommen; aber zu keiner andern Zeit.«

»Ich möchte eine Cigarre rauchen, Jane, oder eine Prise Tabak nehmen, um mich für alles dies zu trösten ›pour me donner une contenance‹ wie Adele sagen würde; und unglücklicherweise habe ich meine Cigarrentasche und meine Tabaksdose vergessen. Aber hör' mich an, jetzt ist es deine Zeit, kleine Tyrannin, aber binnen kurzem wird die meine kommen. Und wenn ich dich einmal ordentlich gefaßt habe, um dich zu haben und zu halten, so werde ich dich – figürlich gesprochen – an eine Kette wie diese hier legen.« Hier berührte er seine Uhrkette. »Ja, du kleines, liebes Ding, ich werde dich an meinem Herzen tragen, damit mein Juwel nicht verloren geht.«

Dies sagte er, indem er mir behilflich war, dem Wagen zu entsteigen; und während er darauf Adele heraus half, trat ich ins Haus und entkam glücklich nach oben.

Am Abend ließ er mich richtig holen. Ich hatte ihm eine Beschäftigung zugedacht; denn ich war fest entschlossen, den Abend nicht im tête-à-tête mit ihm zu zubringen. Ich erinnerte mich seiner schönen Stimme; ich wußte, daß er gern sang; gute Sänger thun es gewöhnlich. Ich selbst war keine Sängerin und nach seinem strengen Urteil auch nicht einmal musikalisch. Aber es war eine Wonne für mich zuzuhören, wenn die Leistung eine gute war. Kaum [431] war also die Dämmerung, die Stunde der Romantik hereingebrochen und hatte ihr blau und goldgestirntes Banner vor unsere Fenster gebreitet, als ich mich erhob, das Klavier öffnete und ihn um des Himmels willen bat, mir ein Lied zum besten zu geben. Er sagte, ich sei eine launenhafte Hexe, und daß er mir lieber ein anderes Mal etwas vorsingen wolle; aber ich behauptete, daß nichts über die Gegenwart gehe.

»Ob seine Stimme mir denn eigentlich so sehr gefiele?« fragte er.

»Ganz außerordentlich.«

Ich war eigentlich nicht willens, seiner großen Eitelkeit zu schmeicheln; aber dieses eine Mal ward ich meinen Grundsätzen aus Nützlichkeitsrücksichten untreu, und ich begann ihn anzuspornen und zu bitten.

»Dann mußt du aber die Begleitung spielen, Jane.«

»Meinetwegen, Sir, ich werde es versuchen.«

Ich versuchte es also, aber er entfernte mich sofort von dem Stuhl und nannte mich »eine kleine Stümperin«. Nachdem er mich ohne weiteres Ceremoniell beiseite gestoßen hatte – das war's ja gerade, was ich wollte – nahm er meinen Platz ein und fuhr fort, sich selbst zu begleiten, denn er konnte ebensogut spielen wie singen. Ich verkroch mich in die Fenstervertiefung, und während ich dasaß und hinaus auf den dämmernden Garten und die stillen Baumgruppen blickte, horchte ich auf ein süßes Lied, das mit herrlicher Stimme gesungen wurde. Die Worte lauteten:


Die treuste Lieb', die je ein Herz

Mit Allgewalt bewegt,

Das höchste Leid, den größten Schmerz

Hab' ich um sie gehegt.


Mein Glück, ihr Kommen war's allein,

Ihr Scheiden meine Qual,

Und der Gedanke herbe Pein,

Sie bleibe fort einmal.


[432]

Es war ein Traum voll Seligkeit,

Von ihr geliebt zu sein.

Du schöner Traum, wie weit, wie weit

Liegst du im Dämmerschein.


Denn dunkel war der weite Raum,

Der unser Leben trennt,

Und voll Gefahr und Rot, wie kaum

Das Schiff im Sturm sie kennt.


Doch ich, ich trotzte der Gefahr,

Ich stürmte dran vorbei,

Und nahm, was drohend, warnend war,

Als ob's für mich nicht sei.


Denn hin durch Dunkelheit und Nacht,

Durch Wolken schwer und wild,

Strahlt mir in glänzend heller Pracht

Ihr liebes, süßes Bild.


Was kümmert mich nun Haß und Wut,

Was mein vergang'nes Leid!

Was kümmert mich der Rache Glut,

Sie komm' – ich bin bereit!


Denn sie, sie gab die weiße Hand

Mir still vertrauensvoll,

Und flüstert, daß ein heil'ges Band

Uns bald vereinen soll.


Ein Kuß besiegelt, daß sie sich

Mir ganz zu eigen giebt!

In heil'ger Freude juble ich:

Ich lieb', und werd' geliebt!


Er erhob sich und kam zu mir; ich sah sein Gesicht entflammt, sein reiches, falkenähnliches Auge blitzte und Zärtlichkeit und Leidenschaft spiegelten sich in seinen Zügen. Einen Augenblick sank mir der Mut – dann ermannte ich mich. Ich wollte keine Liebesscene, keine kühne Demonstration – und beides drohte mir in diesem Moment. Eine Verteidigungswaffe mußte vorbereitet werden – ich wetzte meine Zunge. Als er neben mir stand, fragte ich strenge:

[433] »Nun, wen werden Sie denn jetzt heiraten?«

»Das ist eine seltsame Frage von den Lippen meines Lieblings, Jane!«

»In der That! Ich hielt sie für sehr natürlich und vor allen Dingen für sehr notwendig. Sie sprachen davon, daß Ihre zukünftige Gattin mit Ihnen sterben solle? Was meinen Sie mit solch einer heidnischen Idee? Ich habe durchaus nicht die Absicht, mit Ihnen zu sterben – darauf können Sie sich verlassen.«

»O, alles was ich ersehne, alles was ich erflehe, ist, daß es uns vergönnt sein möge, miteinander zu leben! Der Tod ist nicht da für ein Wesen wie du es bist.«

»In der That ist er das! Ich habe ebensogut das Recht zu sterben, wenn meine Zeit kommt, wie Sie; aber ich will die Zeit abwarten und mich nicht wie eine indische Witwe mit meinem Gatten verbrennen lassen.«

»Willst du mir jenen selbstsüchtigen Gedanken vergeben und mir deine Verzeihung durch einen versöhnenden Kuß beweisen?«

»Nein, lieber nicht, wenn es sein kann.«

Hier hörte ich, wie er mich »ein hartköpfiges, kleines Ding« nannte, und dann vernahm ich noch, wie er in den Bart brummte: »Jedes andere Weib wäre bis ins Mark erschüttert gewesen, wenn sie solche Stanzen zu ihrem Ruhme hätte girren gehört.«

Ich versicherte ihn, daß ich von Natur sehr hartherzig sei – wie in Feuerstein ungefähr – und daß er das nur zu oft empfinden werde; und daß ich überdies entschlossen sei, ihm etliche rauhe Punkte in meinem Charakter zu zeigen, bevor die nächsten vier Wochen abgelaufen wären. Denn er solle wissen, welche Art von Handel er zu machen im Begriffe sei, während es noch nicht zu spät, ihn rückgängig zu machen.

»Willst du jetzt still sein oder vernünftig mit mir reden?«

»Ja, ich will still sein, wenn Sie es wünschen; aber [434] was das Vernünftigreden anbetrifft, so schmeichle ich mir, es auch jetzt zu thun.«

Er knirschte mit den Zähnen, sagte: Pfui! und Bah!

»Meinetwegen!« dachte ich. »Du magst toben und rasen nach Gefallen. Aber ich bin fest überzeugt, daß dies die beste Art und Weise ist, wie man mit dir fertig wird. Ich liebe dich mehr, als Worte sagen können, aber ich will nicht in Gefühlsschwärmerei versinken, und mit dieser scharfen Art der Entgegnung werde ich auch dich von jenem Abgrund zurückhalten, und mehr noch, durch diese beißende Hilfe halte ich jene Entfernung zwischen dir und mir aufrecht, welche am meisten geeignet scheint, zu unserm beiderseitigen Glücke zu führen.«

Mehr und mehr brachte ich ihn in starke Erregung; nachdem er sich dann endlich grollend an das entfernteste Ende des Zimmers zurückgezogen hatte, erhob ich mich und sagte in meiner gewöhnlichen, respektvollen Weise: »ich wünsche Ihnen gute Nacht, Sir.« Dann schlüpfte ich durch eine Seitenthür zum Zimmer hinaus und machte mich von dannen.

Mit diesem so begonnenen System fuhr ich während der ganzen Prüfungszeit fort, und zwar mit dem besten Erfolge. Allerdings erhielt ich ihn auf diese Weise ziemlich böse und ärgerlich; aber im Großen und Ganzen merkte ich doch, daß er sich außerordentlich gut unterhielt, und daß eine lammgleiche Unterwürfigkeit und turteltaubenähnliche Empfindsamkeit, welche seinen Despotismus nur genährt hätte, seinem Verstande, seiner Vernunft und überhaupt seinem ganzen Geschmack weniger zugesagt haben würde.

In Gegenwart anderer war ich wie früher ehrerbietig und ruhig, denn jedes andere Betragen wäre unpassend gewesen; es war nur bei unseren abendlichen Konferenzen und tête-à-têtes, daß ich ihn so quälte und mit ihm stritt. Er fuhr aber fort, mich stets mit dem Glockenschlage sieben holen zu lassen, obgleich er jetzt, wenn ich vor ihm erschien, [435] niemals mehr so honigsüße Warte hatte, wie »Liebling« und »Engel«; die besten Worte, welche er jetzt für mich in Gebrauch nahm, waren »ärgerliche Drahtpuppe«, »boshafte Elfe«, »Gespenst«, »Wechselbalg« u.s.w. u.s.w. Anstatt der Liebkosungen bekam ich jetzt Grimassen; anstatt mir die Hand zu drücken, kniff er mich jetzt in den Arm; anstatt eines Kusses auf die Wange, zupfte er mich am Ohr. Aber es war so recht. Für den Augenblick zog ich allerdings diese schmerzhaften Gunstbezeugungen jeder anderen Zärtlichkeit vor. Ich sah, daß Mrs. Fairfax mein Betragen billigte; ihre Angst und Besorgnis um meinetwillen schwand dahin; deshalb war ich der festen Überzeugung, daß ich recht handelte. Inzwischen versicherte Mr. Rochester, daß ich ihn durch meine Behandlung zu einem Knochengerippe verwandle, und er drohte mir furchtbare Rache, die er in nicht zu ferner Zeit an mir üben würde. Ich lachte mir bei seinen Drohungen ins Fäustchen.

»Jetzt vermag ich dich durch vernünftige Behandlung im Schach zu halten,« dachte ich bei mir, »und ich zweifle gar nicht, daß es mir auch in Zukunft gelingen wird. Wenn ein Mittel seine Macht und Wirkung verliert, muß man schnell auf ein anderes bedacht sein.«

Und doch war meine Aufgabe keine ganz leichte; oft hätte ich ihm lieber etwas Gutes gethan und ihn erfreut, anstatt ihn zu quälen. Mein künftiger Gatte wurde bereits meine ganze Welt, – mehr als die Welt: er wurde meine Hoffnung auf die ewige Seligkeit. Er stand zwischen mir und jedem religiösen Gedanken, so wie eine Sonnenfinsternis zwischen die helle Sonne und den Menschen kommt. In jenen Tagen betete ich Gott nur in seinem Geschöpf an; aus diesem hatte ich ein Götterbild gemacht.

Fußnoten

1 O, wie wenig behaglich sie sich dort fühlen wird!

2 es übrigens gar keine Feen gäbe, und selbst wenn es welche gäbe –

Fünftes Kapitel [2]

Fünftes Kapitel

Der Probemonat war dahin; seine letzten Stunden waren gezählt. Der schnell herannahende Tag – der Tag [436] meiner Hochzeit – konnte nicht mehr aufgeschoben werden; und alle Vorbereitungen waren getroffen. Ich wenigstens hatte nichts mehr zu thun; an der Wand meines kleinen Zimmers standen meine Koffer, gepackt, verschlossen, geschnürt, alle in einer Reihe; morgen um diese Zeit würden sie schon auf dem Wege nach London sein, und desgleichen ich, oder eigentlich nicht ich, sondern eine gewisse Jane Rochester, eine Persönlichkeit, welche ich bis jetzt noch nicht kannte. Es blieb nur noch übrig, die Karten mit den Adressen festzunageln; dort lagen sie, vier kleine, weiße Vierecke, auf der Kommode. Mr. Rochester selbst hatte Namen und Bestimmungsort darauf geschrieben: »Mrs. Rochester, Western Hotel, London«, aber ich konnte mich nicht entschließen, sie zu befestigen oder befestigen zu lassen. Mrs. Rochester! Sie existierte ja nicht; sie sollte ja erst morgen das Licht der Welt erblicken, kurz nach acht Uhr morgens, und ich wollte warten, bis ich sicher war, daß sie lebendig zur Welt gekommen, bevor ich ihr mein ganzes Besitztum verschrieb. Es war schon genug, daß in jenem Kämmerlein, meinem Toilettetisch gegenüber, Toiletten, welche angeblich ihr gehörten, meine schwarzen, wollenen Anzüge, die noch von Lowood herstammten, verdrängt hatten: denn nicht mir gehörte jenes prachtvolle Hochzeitsgewand, das perlgraue Kleid, der lustige Schleier. Ich schloß das Kabinet, um den seltsamen, totenähnlichen Schmuck, welchen es enthielt, meinen Blicken zu entziehen, denn es warf zu dieser Stunde – neun Uhr abends – einen geisterhaften Schimmer über die Schatten meines Zimmers.

»Ich will dich allein lassen, du weißer Traum,« sagte ich. »Ich habe Fieber; ich höre den Wind heulen; ich will hinausgehen, um ihn meine heißen Schläfen kühlen zu lassen.«

Es war nicht allein die Eile der Vorbereitungen, die mich fieberkrank machte; nicht allein das Vorgefühl der großen Veränderung – des neuen Lebens, welches morgen [437] beginnen sollte. Ohne Zweifel hatten diese beiden Umstände ihr Teil an der aufgeregten, ruhelosen Stimmung, die mich zu dieser späten Stunde noch in den dunkelnden Park hinaustrieb; aber noch eine dritte Ursache beeinflußte mein Gemüt noch mehr als jene anderen beiden.

Ein seltsamer, beängstigender Gedanke fraß mir am Herzen. Es war etwas geschehen, das mir unverständlich, unbegreiflich war. Außer mir hatte es niemand gesehen, niemand hatte davon gehört. Es hatte sich am vorhergehenden Abend zugetragen. Mr. Rochester war an jenem Abende vom Hause abwesend, er war auch jetzt noch nicht zurückgekehrt. Er war in Geschäftsangelegenheiten nach einigen kleinen Pachthöfen, die ungefähr dreißig Meilen von Thornfield entfernt lagen, gerufen; Geschäftsangelegenheiten, die er durchaus noch persönlich vor seiner beabsichtigten Abreise von England ordnen mußte. Jetzt wartete ich auf seine Rückkehr; ich sehnte mich danach, ihm mein Herz auszuschütten, und von ihm die Lösung des Rätsels zu erhalten, das mich verblüffte und beunruhigte. Warte bis er kommt, mein Leser; und wenn ich ihm mein Geheimnis enthülle, werde ich dich mit ins Vertrauen ziehen.

Ich suchte den Obstgarten auf; der Wind, welcher während des ganzen Tages voll und scharf aus Süden geweht hatte, trieb mich in den Schutz der Bäume. Kein Regentropfen war gefallen. Anstatt sich beim Herannahen der Nacht zu legen, schien er stärker zu heulen, heftiger zu rasen. Die Bäume neigten sich alle nach einer Seite, sie vermochten kaum sich während des Verlaufes einer ganzen Stunde auch nur einmal aufzurichten: so unausgesetzt war der Wind, der ihre belaubten Wipfel nordwärts beugte und große Massen von Wolken von Pol zu Pol jagte. An diesem Julitage war nicht ein einziger Sonnenstrahl auf unsere Erde gefallen, unser Auge hatte kein einziges Fleckchen Himmelsblau gesehen.

Ich ließ mich nicht ohne ein gewisses Behagen vom [438] Winde treiben und übergab meine Herzensqual dem maßlosen Luftstrom, welcher durch den Raum tobte. Als ich den Lorbeerweg hinunterging, stand ich plötzlich vor dem Wrack des Kastanienbaumes; dort stand er schwarz, gespalten; der Stamm, dessen eine Hälfte zerschmettert, hatte etwas gespensterhaft Grausiges. Die auseinandergespaltenen Hälften hingen noch immer zusammen, denn die feste Erde, die starken Wurzeln hielten sie ungeteilt zusammen, obgleich die Gemeinsamkeit der Lebenskraft gestört war – der Saft konnte nicht mehr fließen; die großen Zweige zu beiden Seiten waren tot, und die Stürme des nächsten Winters würden bestimmt die eine Hälfte oder auch gar beide zu Boden fällen, wenn man jetzt auch wohl noch sagen konnte, daß sie einen Baum bildeten – eine Ruine – aber eine einzige Ruine.

»Ihr thatet recht, zusammen zu halten,« sagte ich; »als wenn die ungeheuren Splitter lebende Wesen wären und mich hören könnten. Wie zerstört, verbrannt und wund Ihr auch ausseht, mir ist, als müßte doch noch ein wenig Leben in Euch sein, das jener Anhänglichkeit der ehrlichen, treuen Wurzeln entspringt. Ihr werdet niemals wieder grünen Blätterschmuck tragen – niemals die Vögel wieder Nester in euren Zweigen bauen sehen und Lobhymnen in euren Wipfeln singen hören; eure Zeit der Liebe und des Glücks ist dahin – aber ihr seid nicht einsam, jede von euch hat eine Gefährtin, die den Verfall mit ihr beweint!«

Als ich zu ihnen emporblickte, erschien der Mond für einen Augenblick an jenem Teil des Himmels, welcher durch ihren Spalt sichtbar war; die Scheibe war blutrot und wie in Nebel eingehüllt; sie schien mir einen einzigen traurigen, bestürzten Blick zuzuwerfen und hüllte sich dann sofort wieder in die jagenden Wolken. Für einen Augenblick legte der Sturm sich, der das Herrenhaus von Thornfield umtobt hatte, aber weit fort über Wald und Wasser zog[439] der Wind wild klagend dahin; es war traurig, dem zuzuhören, und ich lief wieder weiter.

Ich durchstreifte den Obstgarten und sammelte die Äpfel auf, mit denen der Rasen unter den Bäumen dick bestreut war; dann beschäftigte ich mich damit, die reifen von den unreifen zu sondern. Ich trug sie ins Haus und brachte sie in die Vorratskammer. Darauf begab ich mich in die Bibliothek, um mich zu vergewissern, ob das Feuer angezündet sei; denn obgleich es Sommer war, wußte ich, daß Mr. Rochester an einem so düstern Abend bei seiner Heimkehr erfreut sein würde, ein helles, anheimelndes Kaminfeuer zu sehen. Ja, das Feuer war schon längst angezündet und brannte lustig. Ich schob seinen Lehnstuhl in die Kaminecke, dann rollte ich einen Tisch vor denselben; die Vorhänge ließ ich herab und befahl, die Kerzen zum Anzünden bereit hereinzubringen. Ruheloser denn je, als ich diese Arrangements getroffen hatte, konnte ich nicht still sitzen, nicht einmal im Hause bleiben. Da schlugen eine kleine, französische Pendule im Zimmer und die alte Stockuhr in der Halle zu gleicher Zeit zehn Uhr.

»Wie spät es wird!« sagte ich, »ich werde hinunter zum Parkthor laufen; dann und wann scheint der Mond; ich kann eine lange Strecke von der Landstraße übersehen. Er kommt jetzt vielleicht gerade, und wenn ich ihm entgegengehe, erspare ich mir einige Minuten der Angst.«

Der Wind heulte in den hohen Bäumen, welche das Parkthor umgaben; aber so weit ich die Landstraße links und rechts überblicken konnte, war alles still und einsam. Nur die Schatten der Wolken glitten zuweilen darüber hin, wenn der Mond zum Vorschein kam; sonst war es eine schmale, helle Linie, auf der sich auch nicht ein Pünktchen bewegte.

Eine Thräne trübte mein Auge, als ich so hinausstarrte – eine Thräne der Enttäuschung und der Ungeduld; ich schämte mich ihrer und trocknete sie schnell. Ich verweilte [440] aber noch; der Mond schloß sich jetzt ganz in sein wolkiges Gemach und zog die dichtesten Vorhänge vor; die Nacht wurde immer dunkler; jetzt brachte der Sturmwind auch Regenschauer.

»Ach, wenn er nur käme! Wenn er nur da wäre!« rief ich aus von einer trüben Vorahnung erfaßt. Ich hatte schon vor der Theestunde auf seine Rückkehr gewartet; jetzt war es dunkel. Was konnte ihn denn zurückhalten? War ein Unglück geschehen? Die Begebenheit von gestern Abend fiel mir wieder ein. Ich deutete sie jetzt wie eine Vorbedeutung von großem Unglück. Ich fürchtete, daß meine Hoffnungen zu strahlend seien, um sich erfüllen zu können. Und ich hatte in der letzen Zeit zu viel Glückseligkeit empfunden, deshalb glaubte ich, daß mein Glück seinen Meridian überschritten habe und sich jetzt seinem Niedergange zuneige.

»Nun, nach Hause kann ich nicht zurückkehren,« dachte ich; »ich kann nicht ruhig am Kamin sitzen, während er in so rauhem Wetter draußen ist. Lieber will ich meine Füße ermüden, als mein Herz bis aufs äußerste anspannen. Ich will weiter gehen, ihm entgegen.«

So machte ich mich denn auf den Weg; ich ging schnell, aber nicht weit. Bevor ich eine Viertelmeile gegangen, hörte ich Hufschläge; ein Reiter kam in vollem Galopp daher; ein Hund lief neben ihm. Fort mit den bösen Ahnungen! Er war es! Da saß er hoch zu Roß auf Mesrour, Pilot folgte ihm. Er sah mich; denn der Mond hatte sich jetzt gerade ein großes, blaues Feld am Himmel erobert und segelte nun auf der klaren Fläche dahin. Mr. Rochester nahm seinen Hut ab und schwenkte ihn hoch über seinem Kopfe. Jetzt lief ich ihm entgegen.

»Sieh da!« rief er aus, indem er sich vom Pferde herabbog und mir die Hand entgegenstreckte, »du kannst nicht ohne mich sein, das ist doch ganz augenscheinlich. Steige auf die Spitze meines Stiefels, gieb mir beide Hände und jetzt spring herauf.«

[441] Ich gehorchte. Die Freude machte mich behende; ich sprang hinauf. Er gab mir einen herzhaften Willkommenkuß und triumphierte ein wenig, was ich mir so geduldig wie möglich gefallen ließ. Er unterbrach sich in den Äußerungen seiner Freude, um mich zu fragen:

»Aber ist irgend etwas geschehen, Jane, daß du mir um diese Stunde entgegenkommst? Ist ein Unglück passiert?«

»Nein. Aber ich glaubte, daß Sie nimmermehr kommen würden. Ich konnte es nicht länger ertragen, im Hause auf Sie zu warten; und dann dieser Regen, dieser Wind!«

»Regen und Wind in der That! Ja, du triefst ja wie eine Meerjungfrau; wickle dich in meinen Mantel; aber ich glaube, du fieberst Jane; deine Wangen wie deine Hände sind brennend heiß. Ich frage dich noch einmal, ist irgend etwas vorgefallen?«

»Jetzt ist's nichts mehr. Ich bin weder furchtsam noch unglücklich!«

»Also dann warst du beides?«

»Ein wenig, ja. Aber ich werde Ihnen das alles nach und nach erzählen, Sir; und ich bin fest überzeugt, daß Sie meiner Qualen nur lachen werden.«

»Wenn der morgende Tag vorüber ist, werde ich herzlich über dich lachen; früher habe ich nicht den Mut dazu. Der Preis ist mir noch nicht gewiß. Bist du es wirklich, die während des ganzen letzten Monats so glatt wie ein Aal und so dornig wie eine Heckenrose war? Ich konnte nirgend meine Hand hinlegen ohne gestochen zu werden, und jetzt ist es, als hielte ich ein verirrtes Lamm in meinen Armen. Du hast die Herde verlassen, um deinen Hirten zu suchen, nicht wahr, Jane?«

»Ich sehnte mich nach Ihnen. Aber Sie dürfen deshalb nicht übermütig werden. Hier sind wir in Thornfield. Jetzt lassen Sie mich absteigen.«

[442] Er ließ mich an der Terrasse vom Pferde steigen. Nachdem John ihm das Tier abgenommen, folgte er mir in die Halle und sagte, ich solle mich mit dem Wechseln meiner Kleidung beeilen und dann zu ihm ins Bibliothekzimmer kommen. Als ich im Begriff war, die Treppe hinaufzusteigen, hielt er mich auf, um mir das Versprechen abzunehmen, daß ich nicht lange bleiben würde. Und ich brauchte auch nicht viel Zeit; nach kaum fünf Minuten war ich wieder bei ihm. Ich fand ihn beim Abendessen.

»Nimm einen Stuhl und leiste mir Gesellschaft, Jane; wenn es Gott gefällt, ist dies die vorletzte Mahlzeit, die du auf lange Zeit hinaus in Thornfield einnimmst.«

Ich setzte mich an seine Seite, sagte aber, daß ich nicht essen könne.

»Ist es, weil du eine Reise vor dir hast, Jane? Ist es der Gedanke, daß du London sehen wirst, der dir den Appetit raubt?«

»Heute abend liegen meine Aussichten nicht klar vor mir, Sir; und ich weiß kaum, welche Gedanken mein Hirn durchkreuzen. Alles erscheint mir so seltsam, so unwahrscheinlich.«

»Mit Ausnahme meiner selbst, nicht wahr? Ich bin doch Wirklichkeit? Da, berühre mich.«

»Sie, Sir, sind von allem das gespensterhafteste – Sie sind nichts als ein Traum.«

Er streckte mir die Hand entgegen und fragte lachend: »Ist das ein Traum?« Dann hielt er sie mir dicht vor die Augen. Er hatte eine wohlgerundete, muskulöse, kräftige Hand und einen langen, starken Arm.

»Ja, wenn ich sie auch berühre – es ist doch ein Traum,« sagte ich, als ich die Hand beiseite schob. »Sir, haben Sie Ihre Abendmahlzeit beendet?«

»Ja, Jane.«

Ich zog die Glocke und befahl die Speisen abzutragen. Als wir wieder allein waren, schürte ich das Feuer von [443] neuem und setzte mich dann auf einen niederen Schemel zu den Füßen meines Herrn.

»Es ist bald Mitternacht,« sagte ich.

»Ja, Jane, aber du hast doch nicht vergessen, daß du mir versprochen hast, in der Nacht vor meiner Hochzeit mit mir zu wachen?«

»Ich erinnere mich dessen wohl und ich werde mein Versprechen halten; wenigstens für eine oder zwei Stunden. Ich hege nicht den Wunsch schlafen zu gehen.«

»Bist du mit allen Vorbereitungen zu Ende?«

»Mit allen, Sir.«

»Ich bin es ebenfalls,« entgegnete er, »ich habe alles geordnet, und wir werden Thornfield morgen innerhalb einer Stunde nach unserer Rückkehr aus der Kirche verlassen.«

»Ich bin damit einverstanden, Sir.«

»Mit welchem außerordentlich seltsamen Lächeln begleitetest du die Worte: ›ich bin damit einverstanden, Sir!‹ Welch glühendes Rot bedeckt deine beiden Wangen! Und wie deine Augen blitzen! Du bist doch wohl?«

»Ich glaube, daß ich es bin.«

»Du glaubst! Was ist denn geschehen? Sag mir doch, wie dir ums Herz ist.«

»Das könnte ich nicht, Sir. Worte vermöchten nicht auszudrücken, was ich fühle. Ich wollte, daß die gegenwärtige Stunde nie ein Ende nähme! Wer weiß, welch furchtbares Schicksal die nächste schon bringen mag.«

»Dies ist die reine Hypochondrie, Jane. Du bist überreizt oder übermüdet.«

»Sind Sie denn ruhig und glücklich, Sir?«

»Ruhig? – nein, aber glücklich – bis in das Innerste meines Herzens.«

Ich blickte zu ihm auf, um die Zeichen seines Glückes in seinen Zügen zu lesen; sie waren erregt und gerötet.

»Schenk mir dein Vertrauen, Jane,« sagte er, »entlaste [444] dein Gemüt von jeder Bürde, die es bedrückt, indem du mir alles mitteilst. Was fürchtest du? – Daß ich kein guter Gatte sein werde?«

»Der Gedanke liegt mir ferner als alle anderen.«

»Fürchtest du dich etwa vor der neuen Sphäre, in welche einzutreten du jetzt im Begriff bist? – vor dem neuen Leben, das vor dir liegt?«

»Nein.«

»Du beunruhigst mich, Jane. Dieser Blick und dieser Ton traurigen Mutes quälen und ärgern mich. Ich will eine Erklärung.«

»So hören Sie denn, Sir. – Gestern Abend waren Sie vom Hause abwesend.«

»Das war ich; ich weiß es, und vor einer Weile deutetest du an, daß sich während meiner Abwesenheit etwas zugetragen habe. Wahrscheinlich nichts von Bedeutung, aber kurzum, es hat dich beunruhigt. Laß mich es hören. Vielleicht hat Mrs. Fairfax etwas gesagt? Oder du hast das Geklatsch der Dienstboten überhört. – Deine so empfindliche Selbstachtung ist irgendwie verletzt worden?«

»Nein, Sir.«

Jetzt schlug es zwölf Uhr – ich wartete bis die silbernen Töne der alten Stockuhr verklungen waren – dann fuhr ich fort:

»Während des ganzen Tages war ich gestern sehr beschäftigt gewesen und in meiner unaufhörlichen Rührigkeit hatte ich mich unendlich glücklich gefühlt, denn ich fürchte mich durchaus nicht vor der neuen Sphäre und dem neuen Leben, wie Sie zu glauben scheinen, denn ich denke, es muß etwas unendlich Glückseliges sein, mit Ihnen zu leben, weil ich Sie grenzenlos liebe. Nein, Sir, liebkosen Sie mich jetzt nicht – lassen Sie mich ungestört weiter reden. Gestern glaubte ich wohl an die Vorsehung und meinte, daß alle Begebenheiten zu Ihrem und meinem Besten zusammenwirkten. Es war ein schöner Tag – wie Sie sich [445] wohl entsinnen können – die Ruhe in der Luft und am Himmel verboten jede Befürchtung in Bezug auf Ihren Komfort oder Ihre Sicherheit auf der Reise. Nach dem Thee ging ich ein wenig auf der Terrasse auf und nieder und dachte an Sie. Im Geiste sah ich Sie mir so nahe, daß ich Ihre wirkliche Gegenwart gar nicht vermißte. Ich dachte an das Leben, das vor mir lag – an Ihr Leben, Sir – ein ausgedehnteres, bewegteres Dasein als das meine, um soviel mehr so, als die Tiefen des Meeres, in welches der Bach sich ergießt, es sind als dieser letztere. Ich fragte mich verwundert, weshalb Moralisten diese Welt eine traurige Wildnis nennen, für mich war sie blühend und strahlend wie eine Rose. Gerade um Sonnenuntergang wurde die Luft kalt und der Himmel wolkig. Ich ging ins Haus. Sophie rief mich nach oben, um mein Hochzeitskleid anzusehen, das gerade gebracht worden. Und darunter fand ich in der Kiste Ihr Geschenk – den Schleier, welchen Sie in Ihrer fürstlichen Freigebigkeit und Extravaganz aus London hatten kommen lassen, fest entschlossen, wie es mir schien, mich dazu zu bringen, daß ich etwas ebenso Kostbares tragen solle, wenn ich auch Ihre Juwelengabe ausgeschlagen hatte. Ich lächelte, als ich die Spitzen auseinanderfaltete und machte schon einen Plan, wie ich Sie mit Ihrem aristokratischen Geschmack necken wollte und mit Ihren Bemühungen Ihre plebejische Braut mit den Attributen einer Pairstochter zu maskieren. Ich dachte, wie ich Ihnen das Stück einfachen Tülls herunterbringen wollte, den ich selbst als eine Bedeckung für meinen niedrig geborenen Kopf gekauft hatte; und dann hätte ich Sie gefragt, ob dieser Schmuck nicht gut genug sei für ein Mädchen, das ihrem Gatten weder Reichtum, Schönheit noch Familie zubringen könne. Ich sah deutlich vor mir, wie Sie aussehen würden; und ich hörte Ihre ungestümen, republikanischen Antworten und Ihre hochmütige Versicherung, daß Sie nicht nötig hätten, Ihren Reichtum durch [446] die Heirat mit einem Geldbeutel oder Ihre Stellung durch die Verbindung mit einer Krone zu befestigen.«

»Wie gut du mich zu lesen verstehst, du kleine Hexe!« fiel Mr. Rochester hier ein. »Was fandest du aber außer der Stickerei noch an dem Schleier? Hast du Gift oder einen Dolch darin gefunden, daß du so traurig aussiehst?«

»Nein, nein, Sir, außer der Zartheit und dem Reichtum der Arbeit fand ich nur noch Fairfax Rochesters Stolz darin; und der erschreckte mich nicht, weil ich an den Anblick dieses Dämons schon gewöhnt bin. Aber, Sir, als es dunkel wurde, erhob der Wind sich; gestern Abend wehte er – nicht wie er jetzt weht, wild und laut – sondern mit einem klagenden Laut, der viel gespensterhafter klang. Wie wünschte ich, daß Sie zu Hause wären. Ich trat in dieses Zimmer, und der Anblick des kalten, schwarzen Kamins, Ihres leeren Lehnstuhls machte mich frösteln. Als ich endlich zu Bett gegangen, konnte ich noch lange nicht schlafen – ein Gefühl angstvoller Erregung quälte mich. Der noch immer pfeifende Wind schien mir einen traurigen anderen Laut zu übertönen; ob dieser aus dem Hause oder von draußen käme, konnte ich zuerst nicht unterscheiden, aber sowie der Wind sich einen Augenblick legte, hörte ich ihn von neuem, langsam, trübselig, gedehnt. Endlich meinte ich, daß es ein Hund sein müsse, der in einiger Entfernung heulte. Ich war froh, als es endlich aufhörte. Nachdem ich eingeschlafen, nahm ich das Bild einer düsteren, stürmischen Nacht mit in meine Träume hinüber. Aber auch den innigen, heißen Wunsch in Ihrer Nähe zu sein, und das Bewußtsein eines Hindernisses, das sich zwischen uns auftürmte und uns trennte. Während der ersten Stunden meines Schlafes verfolgte ich einen unbekannten, verschlungenen Pfad; totale Finsternis umgab mich; der Regen durchnäßte mich; ich trug eine schwere Last, ein kleines Kind, ein sehr zartes, kleines Wesen, das zu jung und zu schwach, um zu gehen und in meinen Armen vor [447] Kälte bebte und jämmerlich schrie. Mir war, Sir, als seien Sie mir auf derselben Straße um eine lange Strecke voraus, und ich spannte alle meine Nerven an, Sie einzuholen; ich machte unzählige Anstrengungen Ihren Namen zu rufen und Sie zu bitten, daß Sie in Ihrem Lauf innehalten möchten – aber meine Bewegungen waren gelähmt und meine Stimme verhallte ungehört, während Sie – das fühlte ich – sich weiter und weiter entfernten.«

»Und diese Träume lasten jetzt noch auf deiner Seele, Jane, jetzt, wo ich an deiner Seite bin? Kleines, nervöses Ding! Vergiß dein eingebildetes Weh, und denk nur an dein wirkliches Glück! Du sagst, daß du mich liebst, Jane, ja – ich werde das niemals vergessen; und du kannst es auch nicht leugnen. Diese Worte erstarben nicht auf deinen Lippen. Ich hörte sie, klar, sanft und deutlich; vielleicht um einen Gedanken zu feierlich, aber süß wie Sphärenmusik: – ›Es ist ein wundersames Ding um die Hoffnung, mit dir leben zu sollen, Edward, denn ich liebe dich.‹« – »Liebst du mich, Jane?« wiederhole es.

»Ich liebe Sie, Sir. – Ich liebe Sie von ganzem Herzen.«

»Nun,« sagte er nach minutenlangem Schweigen, »es ist seltsam, aber diese Worte haben meine Brust schmerzhaft durchbohrt. Weshalb? Ich weiß es nicht. Vielleicht, weil du die Worte mit einem so ernsten, frommen Nachdruck aussprachst; und weil dein Aufblick zu mir so viel innigen Glauben, so viel Vertrauen und Hingebung ausdrückte. Es ist immer, als umschwebe mich irgend ein Geist. Sieh böse aus, Jane, das verstehst du ja so gut; schenk mir dein wildes, scheues, herausforderndes Lächeln; sag mir, daß du mich hassest – necke mich, ärgere mich; thu alles, nur mache mich nicht weich; ich möchte lieber, daß du mich erzürnst, als daß du mich weich machst.«

»Wenn ich meine Geschichte zu Ende erzählt habe, will ich Sie bis aufs Blut quälen und necken, Sir. Aber jetzt müssen Sie mir noch zuhören.«

[448] »Ich glaubte, Jane, daß du mir schon alles erzählt hättest. Ich meinte, daß die Quelle deiner Melancholie diesem Traume entspränge!«

Ich schüttelte den Kopf.

»Was! giebt es noch mehr? Aber ich will nicht hoffen, daß es etwa Ernstes ist. Ich sage dir indessen vorher, daß du bei mir auf Ungläubigkeit stoßen wirst. Also fahre fort, mein kleiner Liebling!«

Die Unruhe in seinen Mienen, die etwas furchtsame Ungeduld seines Wesens, überraschte mich, ich fuhr jedoch fort.

»Ich träumte noch einen andern Traum, Sir. Thornfield-Hall schien mir eine traurige Ruine, der Zufluchtsort von Eulen und Fledermäusen. Mir war, als sei von der stattlichen Front nichts übrig als eine hohle Mauer, sehr hoch und sehr zerbrechlich aussehend. An einem mondklaren Abend ging ich in dem grasbewachsenen Raume innerhalb jener Mauern umher. Hier fiel ich über einen Marmorkamin, dort stolperte ich über ein herabgefallenes Fragment des Haussimses. Ich trug noch immer das kleine, in einen Shawl gehüllte, unbekannte Kind; ich durfte es nirgend hinlegen, wie müde meine Arme auch waren – wie sehr das Gewicht dieses winzigen Geschöpfes mich auch am Weiterkommen hinderte, – ich mußte es noch immer tragen. In der Ferne hörte ich den Hufschlag eines Pferdes auf der Landstraße; ich war fest überzeugt, daß Sie es seien, und ich wußte, daß Sie auf viele, viele Jahre fortgingen, in ferne Lande. Ich erklomm die schwache Mauer mit wahnsinniger, gefahrbringender Hast, nur hoffend, daß ich von dort oben noch einen Blick von Ihnen erhaschen würde; die Steine rollten unter meinen Füßen fort; die Epheuranken, an denen ich mich festhielt, gaben nach; das Kind klammerte sich voll Angst an meinen Hals und erwürgte mich fast. Endlich langte ich auf der Höhe der Mauer an. Ich erblickte Sie nur noch wie einen winzigen Punkt auf einem weißen Wege, der mit jedem Augenblick [449] enger wurde. Der Wind wehte so heftig, daß ich nicht stehen konnte. Ich setzte mich auf der schmalen Kante nieder; ich suchte das weinende Kind in meinen Armen zu beruhigen. Jetzt bogen Sie um eine Ecke der Landstraße; ich beugte mich vor, um einen letzten Blick zu erhaschen; die Mauer brach zusammen; ich verlor das Gleichgewicht, das Kind entglitt meinen Armen, ich sprang nach, fiel und erwachte.«

»Nun ist es hoffentlich alles, Jane.«

»Die ganze Vorrede, ja, Sir; die eigentliche Geschichte kommt noch. Als ich erwachte, blendete ein Licht mein Auge. Im ersten Moment dachte ich: ›Ah, es ist bereits Tag!‹ Aber ich irrte mich. Es war wirklich nur der Schein einer Kerze. Ich vermutete, daß Sophie eingetreten sei. Auf meinem Ankleidetisch stand ein Licht, und die Thür des kleinen Kabinetts, in welches ich mein Hochzeitskleid und meinen Schleier gehängt bevor ich schlafen gegangen, und die ich dann fest verschlossen, stand offen. Ein Geräusch kam von dort. Ich fragte: Sophie, was thun Sie dort? Niemand antwortete, aber eine Gestalt trat aus dem Kabinett; sie ergriff das Licht, hielt es empor und betrachtete die Kleider, welche an den Kleiderriegeln hingen.«

»›Sophie! Sophie!‹ rief ich wiederum – und noch immer gab die Gestalt keinen Laut von sich. Ich hatte mich im Bette erhoben und neigte mich nach vorn; zuerst bemächtigte Erstaunen sich meiner, dann Bestürzung – und schließlich erstarrte das Blut mir fast in den Adern. – Mr. Rochester, es war nicht Sophie, es war nicht Leah, nicht Mrs. Fairfax – nein, sie waren es nicht, nein, dessen war ich gewiß und bin es noch, es war nicht einmal jene seltsame Person, die Grace Poole.«

»Eine von ihnen muß es doch gewesen sein,« unterbrach mich mein Gebieter.

»Nein, Sir, ich kann Sie des Gegenteils heilig versichern. So lange ich in Thornfield-Hall gewesen, haben meine Augen die Gestalt, welche vor mir stand, nicht gesehen. [450] Die Größe, das Gesicht, die Formen waren mir unbekannt.«

»Beschreibe sie, Jane.«

»Es schien mir eine Frau zu sein, deren langes, schwarzes, dickes Haar ihr über den Rücken herabfiel. Ich weiß nicht, welcher Art das Gewand war, welches sie trug; es war weiß und eng, ob es aber ein Kleid, ein Betttuch oder ein Leichentuch war, in welches sie sich gehüllt, das vermag ich nicht zu sagen.«

»Hast du ihr Gesicht gesehen?«

»Im ersten Augenblick nicht. Aber nun nahm sie plötzlich meinen Schleier von seinem Platze; sie hielt ihn ausgebreitet empor, blickte ihn lange an, warf ihn über ihren eigenen Kopf und betrachtete sich dann im Spiegel. In diesem Augenblick sah ich das Spiegelbild ihres Gesichts und ihrer Figur ganz deutlich in dem dunklen, länglichen Glase.«

»Und welcher Art waren diese?«

»Furchtbar und gespensterhaft schienen sie mir, Sir! O, ich habe niemals ein ähnliches Gesicht gesehen! – Es war ein blutiges Gesicht – es war ein wildes Gesicht. Ich wollte, ich könnte das Rollen der roten Augen vergessen – die fürchterlichen, aufgedunsenen, schwarzen Gesichtszüge!«

»Aber Geister sind doch gewöhnlich blaß, Jane!«

»Dieser Geist war aber blaurot, Sir; die Lippen waren geschwollen und dunkel, die Stirn gefurcht; die schwarzen Augenbrauen bildeten einen hohen Bogen über den blutunterlaufenen Augen. Darf ich Ihnen sagen, an was es mich erinnerte?«

»Das darfst du.«

»An das schauerliche, germanische Gespenst – an den Vampyr.«

»Ah! – Und was that es?«

»Sir, endlich nahm es meinen Schleier von seinem unförmlichen Kopfe, riß ihn in zwei Teile, warf diese auf [451] den Boden und trat mit beiden Füßen und voller Wut darauf.«

»Und weiter?«

»Dann zog es die Fenstervorhänge zur Seite und blickte hinaus. Vielleicht sah es, daß Tagesanbruch nahe war, denn es nahm die Kerze und ging an die Thür. Gerade neben meinem Bette blieb die Gestalt stehen. Die entzündeten Augen glotzten mich an – sie hielt mir das Licht dicht ans Gesicht und löschte es vor meinen Augen aus. Ich fühlte, wie ihr finsteres Gesicht dem meinen immer näher kam – – dann verlor ich das Bewußtsein; zum zweitenmal in meinem Leben – nur zum zweitenmal – wurde ich vor Schrecken bewußtlos.«

»Wer war bei dir, als du wieder zu dir kamst?«

»Niemand, Sir, als das helle Licht des Tages. Ich stand auf, kühlte mein Gesicht mit frischem Wasser und that einen kühlen Trunk; obgleich ich matt war, fühlte ich mich doch nicht krank, und so faßte ich den Entschluß, von dieser Vision niemand Mitteilung zu machen. Jetzt, Sir, sagen Sie mir, wer und was jenes Weib war?«

»Die Ausgeburt eines überreizten Gehirns, weiter nichts; davon bin ich überzeugt. Ich muß dich sorgsam hüten, mein Schatz. Nerven wie die deinen sind nicht gemacht, um widrige Schicksale zu ertragen.«

»Sir, verlassen Sie sich darauf, es war nicht die Schuld meiner Nerven; es war Wirklichkeit; der Übergang hat in der That stattgefunden.«

»Und deine vorhergehenden Träume? War das auch Wirklichkeit? Ist Thornfield-Hall eine Ruine? Bin ich durch unüberwindliche Hindernisse von dir getrennt? Verlasse ich dich ohne eine Thräne? – ohne einen Kuß? – ohne ein Wort?«

»Noch nicht.«

»Bin ich denn im Begriff, es zu thun? – Der Tag, der uns für alle Zeiten unauflöslich aneinander ketten soll, [452] ist bereits angebrochen; und wenn wir einmal verbunden sind, werden diese seelischen Qualen und Schrecken nicht wiederkehren; dafür stehe ich dir ein.«

»Seelische Qualen und Schrecken, Sir! Ich wollte, ich könnte glauben, daß es nichts anderes wäre; jetzt wünsche ich es mehr denn je, da selbst Sie mir das Geheimnis dieses fürchterlichen Besuchs nicht erklären können.«

»Und da ich es nicht kann, ist es auch nicht Wirklichkeit gewesen, Jane.«

»Aber Sir, als ich mir heute morgen beim Aufstehen dies alles sagte und im Zimmer umherblickte, um beim Anblick jedes bekannten und lieben Gegenstandes im hellen Tageslicht wieder Mut und Trost zu schöpfen – da sah ich – vor mir auf dem Teppich – das, was meine Hypothesen deutlich Lügen strafte – den Schleier, welcher in zwei Hälften gerissen am Boden lag!«

Ich fühlte, wie Mr. Rochester entsetzt und schaudernd zusammenfuhr; hastig umfing er mich mit beiden Armen und rief aus: »Allmächtiger Gott sei bedankt, daß nur dem Schleier ein Unfall zustieß, als ein böser Unhold sich in deiner nächsten Nähe befand. – O! zu denken, was hätte geschehen können!«

Er atmete schnell und zog mich so fest an sich, daß ich zu keuchen begann.

Nach minutenlangem Schweigen fuhr er dann plötzlich fröhlich fort:

»Jetzt werde ich dir alles erklären, Jane. Es war halb Traum, halb Wirklichkeit; ich zweifle nicht daran, daß ein Frauenzimmer in deinem Heiligtum gewesen: und jenes Weib war – Grace Poole. Du selbst nennst sie eine wunderliche, seltsame Person; nach allem, was du weißt, hast du ein Recht, sie so zu nennen – denn bedenke nur, was sie mir gethan! was sie Mason gethan! – In einem Zustande zwischen Wachen und Schlafen bemerktest du ihren Eintritt und ihre Geberden; aber fieberhaft erregt, [453] fast delirierend wie du warst, sahst du sie wie einen Kobold, ganz verschieden von ihrer wirklichen Gestalt; das lange, wirre Haar, das geschwollene schwarze Gesicht; die unnatürliche Gestalt, waren Ausgeburten deiner Einbildungskraft; die Resultate eines Alpdrückens. Das zornige Zerreißen deines Brautschleiers war Wirklichkeit – und dergleichen kann man von ihr sehr wohl erwarten. Ich sehe dir an, daß du fragen möchtest, weshalb ich ein solches Geschöpf im Hause behalte. Wenn wir Jahr und Tag verheiratet gewesen sind, dann werde ich es dir erzählen. Jetzt aber noch nicht. Bist du's zufrieden, Jane? Genügt dir meine Erklärung des Geheimnisses?«

Ich dachte einige Augenblicke nach, und dann erschien mir seine Deutung wirklich als die einzigmögliche. Zufrieden war ich allerdings noch immer nicht damit, aber ihm zu Liebe that ich, als sei ich es wirklich – und beruhigt war ich auch in der That. Deshalb antwortete ich ihm mit freundlichem Lächeln. Und da ein Uhr jetzt längst vorüber war, rüstete ich mich, ihn zu verlassen.

»Schläft Sophie nicht mit Adele in der Kinderstube?« fragte er, als ich meine Kerze anzündete.

»Ja, Sir.«

»Und für dich ist in Adeles kleinem Bette Platz genug. Diese Nacht mußt du es mit ihr teilen, Jane. Es ist kein Wunder, daß der Vorfall, über welchen du mir berichtet hast, dich nervös gemacht hat, und es wäre mir lieber, wenn du nicht allein schliefst. Versprich mir, daß du nach der Kinderstube gehst.«

»Ich bin nur zu froh, es thun zu dürfen, Sir.«

»Und verschließe die Thür sorgsam und sicher von innen. Wecke Sophie, wenn du nach oben gehst unter dem Vorwande, daß du sie bittest, dich morgen früh zeitig zu wecken. Denn du mußt vor acht Uhr angekleidet sein und gefrühstückt haben. Und nun keine trüben Gedanken mehr; verscheuche die bösen Sorgen, Jane! Hörst du nicht, wie der [454] Sturm sich gelegt hat und der Wind nur noch zärtlich und leise flüstert? Kein strömender Regen schlägt mehr gegen die Fensterscheiben: blick nur hinaus, – hier zog er den Vorhang zurück – ›es ist eine liebliche Nacht geworden!‹«

Es war eine liebliche Nacht. Die Hälfte des Himmels war klar und wolkenlos. Die Wolken, welche der Wind vor sich hertrieb, zogen jetzt in langen, silbernen Kolonnen gegen Osten. Und friedlich schien der Mond auf die schlummernde Erde herab.

»Nun?« sagte Mr. Rochester, indem er mir fragend in die Augen blickte, »wie fühlt meine Jane sich jetzt?«

»Die Nacht ist still und ungetrübt, Sir, – und ich bin es jetzt ebenfalls.«

»Und dir wird nicht wieder von Trennung und Trübsal und Kümmernissen träumen, sondern nur von einer glücklichen Liebe und seliger Vereinigung!«

Diese Weissagung ging nur zur Hälfte in Erfüllung. Mir träumte nicht von Trennung und Kümmernissen, aber auch ebensowenig von Freude und glücklicher Liebe; denn ich schlief überhaupt nicht einen Augenblick. Ich hielt die kleine Adele in den Armen und bewachte den glücklichen Schlummer der Kindheit – so ruhig, so leidenschaftslos, so unschuldig – und so erwartete ich den jungen Tag. Das Leben pulsierte mächtig in meinen Adern, und als die Sonne aufging, erhob auch ich mich. Ich erinnerte mich, wie fest Adele sich an mich klammerte, als ich mich losmachen wollte. Ich erinnere mich noch, wie innig ich sie küßte, als ich ihre kleine Händchen, die meinen Nacken umfaßt hielten, löste; eine seltsame Rührung übermannte mich, ich brach in Thränen aus und mußte mich von ihrem Lager fortschleichen aus Furcht, daß mein Schluchzen sie wecken könne. Sie lag noch in tiefem Schlaf. Sie war das Sinnbild meines ganzen bisherigen Lebens, und er, dem zu begegnen ich mich jetzt festlich schmückte, war der gefürchtete aber auch vergötterte Inbegriff meiner Zukunft.

Sechstes Kapitel [2]

[455] Sechstes Kapitel

Um sieben Uhr kam Sophie, um mich anzukleiden; es dauerte geraume Zeit, bevor sie sich ihrer Aufgabe entledigt hatte; so lange, daß Mr. Rochester, welcher über diese Verzögerung ungeduldig geworden, wie ich vermute, nach oben sandte und fragen ließ, weshalb ich noch immer nicht käme. Sie befestigte gerade meinen Schleier (schließlich hatte ich nun doch den einfachen Tüllschleier nehmen müssen) mit einer wertvollen Nadel. Sobald es mir möglich, entschlüpfte ich ihren Händen, um hinunter zu eilen.

»Halt!« rief sie auf französisch. »Sehen Sie sich doch im Spiegel an: Sie haben nicht einen einzigen Blick hineingeworfen.«

Ich wandte mich also noch in der Thür um. Im Spiegel sah ich eine Fremde; denn jene weißgekleidete, verschleierte Gestalt konnte unmöglich mein kleines Selbst sein.

»Jane!« ertönte eine Stimme und eilends lief ich hinunter. Am Fuße der Treppe empfing mich Mr. Rochester.

»Zauderin,« sagte er, »mein Gehirn flammt vor Ungeduld, und du zögerst so lange!«

Er führte mich in das Speisezimmer, betrachtete mich prüfend von Kopf bis zu Fuß, nannte mich so zart wie eine Lilie und nicht allein den Stolz seines Lebens, sondern auch den Wunsch seiner Augen, und indem er mir dann sagte, daß er mir zum Frühstücken nur zehn Minuten Zeit gestatte, zog er die Glocke.

Einer seiner erst kürzlich gemieteten Diener trat ein.

»Bringt John den Wagen in Ordnung?«

»Ja, Sir.«

»Ist alles Gepäck nach unten gebracht?«

»Die Leute sind im Begriff, es herunterzubringen.«

»Gehen Sie jetzt in die Kirche und sehen Sie, ob der Geistliche, Mr. Wood und der Küster bereits dort sind. [456] Dann kommen Sie eilends zurück, um mir den Bescheid zu bringen.«

Wie mein Leser schon weiß, lag die Kirche gleich hinter dem Parkthor. Der Diener kehrte also nach wenig Augenblicken zurück.

»Mr. Wood ist bereits in der Sakristei, Sir, und zieht den Chorrock an.«

»Und der Wagen?«

»Die Pferde werden angeschirrt.«

»Wir brauchen ihn nicht für den Weg in die Kirche; aber der Wagen muß vor der Thür stehen, wenn wir zurückkommen; alles Gepäck muß aufgeladen und festgeschnallt sein, der Kutscher auf dem Bocke sitzen.«

»Sehr wohl, Sir.«

»Jane, bist du bereit?«

Ich erhob mich. Wir hatten keine Brautführer, keine Brautjungfern; keine Angehörigen, die uns begleiteten oder uns erwarteten. Niemand, niemand außer Mr. Rochester und mir. Mrs. Fairfax stand in der Halle, als wir diese durchschritten. Ich hätte so gern mit ihr gesprochen, aber er hielt meine Hand mit eisernem Griffe fest. Er zog mich mit sich und schritt so schnell vorwärts, daß ich kaum folgen konnte; und als ich Mr. Rochester ins Antlitz blickte, da empfand ich deutlich, daß er mir um keinen Preis der Welt und unter keiner Bedingung auch nur eine Minute des Aufschubs gewähren würde. Ich möchte wissen, ob je ein Bräutigam seit Anbeginn der Welt so ausgesehen hat, wie er – so grimmig entschlossen, so energisch entschlossen zu handeln. Oder ob jemals die Augen eines Mannes auf seinem Wege zur Trauung unter hartnäckig gerunzelten Brauen so gefunkelt und geblitzt haben!

Ich weiß nicht, ob es ein schöner, klarer oder ein stürmisch regnerischer Tag war; als ich den großen Fahrweg hinunterschritt, blickte ich weder zum Himmel empor noch zur Erde hinab; meine Augen waren bei meinem Herzen, und [457] beide weilten jetzt bei Mr. Rochester. Ich wollte jenes unsichtbare Etwas sehen, auf das er während unseres Weges seinen wilden ungestümen Blick zu heften schien. Ich wollte jene Ge danken kennen, nachempfinden, mit denen er rang und kämpfte.

An der Kirchhofspforte hielt er inne; jetzt erst entdeckte er, daß ich vollständig außer Atem war.

»Bin ich grausam in meiner Liebe?« fragte er. »Warten wir einen Augenblick. Stütze dich auf mich, Jane.«

Und jetzt sehe ich wieder das Bild jenes grauen, alten Gotteshauses vor mir, wie es still und mächtig emporragte in den rosigen Morgenhimmel. Ein Raubvogel umkreiste den Kirchturm. Ich hege auch noch eine Erinnerung an die grünen Grabhügel; und ich habe ebensowenig jene beiden fremden Gestalten vergessen, welche zwischen den niedrigen Gräbern umhergingen und die Inschriften lasen, welche auf den wenigen moosbewachsenen Denksteinen zu entziffern waren. Ich bemerkte sie, weil sie augenblicklich hinter die Kirche traten, als sie unserer ansichtig wurden, und ich zweifelte nicht einen Augenblick daran, daß sie durch die Thür des Seitenflügels in das Gotteshaus eintreten würden, um der Trauungsceremonie beizuwohnen. Von Mr. Rochester wurden sie nicht bemerkt; er blickte mir ernst ins Antlitz, aus dem für den Augenblick alles Blut gewichen war; denn ich fühlte, wie ein kalter Angstschweiß meine Stirn bedeckte und meine Wangen und meine Lippen eisig kalt wurden. Als ich mich erholt hatte, was sehr bald geschah, ging er langsam und fürsorglich den Pfad zum Kirchenportal mit mir hinauf.

Wir traten in den stillen, bescheidenen Tempel. Der Priester stand in seinem weißen Chorrock an dem niedrigen Altar und wartete. Neben ihm der Küster. Tiefe, heilige Ruhe überall. In einem entfernten Winkel bewegten sich zwei Schatten. Meine Vermutung war die richtige gewesen: die Fremden waren vor uns in die Kirche geschlüpft und [458] jetzt standen sie an dem Grabgewölbe der Rochesters. Sie hatten uns den Rücken zugewendet und blickten durch die Gitterstäbe auf den alten, von der Zeit geschwärzten Marmorstein, wo ein knieender Engel die irdischen Überreste des Damer de Rochester hütete, welcher zur Zeit der Bürgerkriege auf Marston Moor den Tod gefunden hatte. Neben ihm ruhte Elizabeth, seine Gemahlin.

Wir hatten uns am Abendmahlstische aufgestellt. Als ich einen vorsichtigen Schritt hinter mir hörte, blickte ich über meine Schulter: einer der beiden Fremden – augenscheinlich ein Gentleman – näherte sich dem Altarplatz. Der Gottesdienst begann. Die Erklärung des Endzwecks der Ehe wurde durchgenommen. Dann trat der Geistliche um einen Schritt vorwärts und indem er sich leicht zu Mr. Rochester herabbeugte, fuhr er fort:

»Und so bitte und verlange ich denn von euch beiden (da ihr am furchtbaren Tage des jüngsten Gerichts, wenn das Geheimnis aller Herzen enthüllt sein wird, dafür werdet Rechenschaft ablegen müssen), daß wenn einem von euch ein Hindernis bekannt ist, weshalb ihr nicht gesetzmäßig in die Ehe treten könnet, ihr es jetzt bekennet. Denn das sollt ihr wissen, daß so viele da beieinander leben anders als durch Gottes Wort verbunden, so viele sind nicht durch Gott verbunden und ihre Ehe bedeutet nichts nach dem Gesetz.«

Hier hielt er inne, wie es der Brauch ist. Wann wird die Pause nach jener Frage jemals durch eine Antwort unterbrochen? Vielleicht nicht ein einziges Mal in einem ganzen Jahrhundert. Und der Geistliche, welcher die Blicke nicht von seinem Buche erhoben und den Atem nur für einen Augenblick angehalten hatte, fuhr jetzt fort. Seine Hand war schon gegen Mr. Rochester ausgestreckt und er öffnete die Lippen um zu fragen: »Willst du dieses Mädchen hier zu deinem Weibe nehmen« – als eine Stimme deutlich und klar sagte:

[459] »Die Trauung kann nicht vollzogen werden. Ich erkläre hiermit, daß ein Hindernis existiert.«

Der Prediger blickte auf und sah den Sprecher an – sprachlos stand er da. Ebenso der Küster. Mr. Rochester machte eine leise Bewegung, als spüre er ein Erdbeben unter seinen Füßen. Dann faßte er wieder festeren Fuß und indem er weder das Haupt noch den Blick wandte, sagte er mit gebieterischer Stimme: »Fahren Sie fort!«

Als er diese Worte gesprochen hatte, herrschte tiefe Stille. Leise aber fest waren sie erklungen. Dann sagte Mr. Wood:

»Ich kann nicht fortfahren, ohne Nachforschungen über die Behauptung anzustellen, welche hier soeben gemacht worden ist. Ich muß untersuchen, ob es Lüge oder Wahrheit gewesen.«

»Die Ceremonie der Trauung hat hier ein Ende,« entgegnete die Stimme hinter uns. »Ich bin in der Lage beweisen zu können, daß das, was ich behaupte, auf Wahrheit beruht. Es existiert ein unüberwindliches Hindernis für diese Ehe.«

Mr. Rochester hörte wohl, aber er achtete auf nichts; steif und starr stand er da. Er machte keine Bewegung, nur meine Hand faßte er noch fester. Welch ein starker, mächtiger, heißer Griff das war! – Und wie marmorgleich war seine blasse, festgewölbte, starke Stirn in diesem Augenblick! Wie sein Auge blitzte, wie ruhig, wie wachsam und doch wie feurig es glänzte!

Mr. Wood schien in diesem Moment nicht zu wissen, was er thun solle.

»Und welcher Art ist dieses von Ihnen erwähnte Hindernis?« fragte er endlich. »Vielleicht ließe es sich hinwegräumen – erklären – überwinden?«

»Wohl kaum,« lautete die Antwort. »Ich habe es unüberwindlich genannt und ich spreche mit Überlegung.«

Der Sprecher trat vor und lehnte sich über das Gitter [460] des Altarplatzes. Dann fuhr er fort, deutlich, ruhig, ohne inne zu halten, aber nicht laut.

»Es besteht einfach in einer bereits früher geschlossnen Ehe. Mr. Rochester hat eine Gattin, welche noch am Leben ist.«

Diese leise und ruhig gesprochenen Worte machten meine Nerven erbeben, wie ein Donnerschlag es nicht vermocht hätte zu thun – mein Blut empfand ihre listige Gewaltthätigkeit, wie es niemals Frost oder Hitze empfunden hatte. Aber ich war gefaßt, grausam gefaßt, und die Gefahr des Ohnmächtigwerdens drohte mir nicht. Ich blickte Mr. Rochester an – und ich zwang ihn, mich anzusehen. Sein ganzes Gesicht erschien mir in diesem Augenblick wie ein farbloser Felsen. Sein Auge war Funke und Feuerstein zugleich. Er leugnete nichts. Er sah nur aus, als sei er bereit, allen Dingen der Erde und des Himmels Trotz zu bieten. Er sprach nicht; er lächelte nicht; er schien in mir kein lebendes Wesen mehr zu erkennen. Nun umschlang er meine Taille mit seinem Mannesarm und hielt mich so an seiner Seite fest.

»Wer seid Ihr?« fragte er den Störer.

»Mein Name ist Briggs – ich bin Advokat in Regentstreet, London.«

»Und Sie wollen mir eine Gattin imputieren?«

»Nein Sir, ich wollte Sie nur an die Existenz Ihrer Gemahlin erinnern! Das Gesetz erkennt Ihre erste Ehe an, wenn auch Sie selbst nicht gesonnen scheinen, dies zu thun.«

»Beglücken Sie mich doch mit einer Beschreibung dieser Dame – mit ihrem Namen – ihrem Herkommen – ihren Verwandten – ihrem Wohnsitz.«

»Gewiß Sir, ich stehe ganz zu Diensten.«

Hier zog Mr. Briggs ruhig ein Papier aus seiner Tasche und las mit einer gewissermaßen geschäftsmäßigen und nasalen Stimme folgendes:


»Ich bestätige und kann beweisen, daß am zwanzigsten Oktober anno domini, (hier folgte eine Jahreszahl, die um [461] fünfzehn Jahre zurück datierte) Edward Fairfax Rochester von Thornfield-Hall, in der Grafschaft –, und von Ferndean-Manor in –shire, England, mit meiner Schwester Bertha Antoinette Mason, Tochter von Jonas Mason, Kaufmann, und seiner Gattin Antoinette, einer Kreolin, in der Kirche Allerheiligen zu Spanish Town auf Jamaika getraut wurde. Das Protokoll über jene Trauung steht in den Kirchenbüchern der genannten Kirche verzeichnet – eine Kopie desselben befindet sich zur Zeit in meinen Händen.

gez. Richard Mason.«


»Das mag beweisen – wenn es übrigens ein echtes Dokument ist, daß ich einmal verheiratet war, aber es beweist nicht, daß jenes Weib, welches darin als meine Gattin bezeichnet wird, noch am Leben ist.«

»Wenigstens lebte sie vor drei Monaten noch,« entgegnete der Advokat, »das ist bewiesen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Ich habe einen Zeugen für jenes Faktum, Sir; einen Zeugen, Sir, dessen Aussagen selbst Sie nicht bestreiten oder entkräften können.«

»Bringen Sie ihn zur Stelle – – oder fahren Sie zum Teufel!«

»Vorerst will ich ihn zur Stelle bringen – er befindet sich in nächster Nähe. Mr. Mason, haben Sie doch die Güte vorzutreten.«

Als Mr. Rochester diesen Namen hörte, knirschte er mit den Zähnen; ein starkes convulsivisches Zittern machte seinen ganzen Körper erbeben; er hielt mich so fest an sich gedrückt, daß ich das krampfhafte Beben der Wut und der Verzweiflung, das seine ganze Gestalt durchfuhr, mit empfinden mußte.

Der zweite Fremde, welcher sich bis jetzt im Hintergrunde gehalten hatte, trat jetzt ebenfalls näher. Ein bleiches Gesicht blickte über die Schulter des Rechtsgelehrten – ja – es war Mr. Mason in eigener Person.[462] Mr. Rochester wandte sich um und starrte ihn an. Wie ich schon oft erwähnt habe, war sein Auge schwarz – jetzt aber hatte es einen rotbraunen, nein, einen blutigen Glanz in seiner Düsterkeit; – sein Antlitz färbte sich – die olivefarbenen Wangen, die bleiche Stirn wurden von einer Glut überzogen, die wie ein Feuer aus dem gemarterten Herzen emporzusteigen schien. Dann machte er eine Bewegung, erhob seinen starken Arm – er war im Begriff, Mason niederzuschlagen, ihn auf den Boden der Kirche hinzustrecken, schonungslos sein Leben zu zerstören – aber Mason zuckte zurück und schrie hilflos »Allmächtiger Gott!«

Hier bemächtigte plötzlich grenzenlose Verachtung sich Mr. Rochesters und machte ihn ruhig – seine Leidenschaft erlosch, als hätte der Frost sie mit einem Schlage vernichtet, und er fragte nur: »Was habenSie noch zu sagen?«

Eine unhörbare Antwort entrang sich den bleichen Lippen Mr. Masons.

»Der Teufel soll dich holen, wenn du nicht deutlich antworten kannst. Ich frage dich noch einmal, was du zu sagen hast,« schrie Mr. Rochester ihn an.

»Sir – Sir,« unterbrach ihn hier der Geistliche, »vergessen Sie nicht, daß Sie sich an geweihter Stätte befinden.«

Dann wandte er sich zu Mr. Mason und fragte sanft: »Wissen Sie, Sir, ob die Frau dieses Herrn hier noch am Leben ist oder nicht?«

»Mut, – Mut!« tröstete ihn der Advokat, »sprechen Sie nur gerade heraus.«

»Sie lebt noch – und zwar in – Thornfield-Hall;« sagte Mason mit deutlicherer Stimme. »Zum letztenmal sah ich sie dort im April. Ich bin ihr Bruder.«

»In Thornfield-Hall!« rief der Prediger entsetzt aus. »Unmöglich! Ich bin ein alter Bewohner dieser Gegend, Sir, und noch niemals, nein, niemals habe ich von einer Mrs. Rochester auf Thornfield-Hall gehört.«

[463] Ich sah, wie ein grausames Lächeln Mr. Rochesters Lippen verzerrte. Er murmelte:

»Nein, bei meinem Gott! Ich habe Sorge getragen, daß niemand davon hören sollte – oder von ihr – unter jenem Namen.«

Er dachte nach. Volle zehn Minuten ging er mit sich zu Rate. Dann hatte er seinen Entschluß gefaßt und verkündete ihn:

»Genug – genug! Jetzt soll alles mit einemmal heraus, wie die Kugel aus der Kanone. – Wood, schließen Sie Ihr Buch und ziehen Sie Ihren Chorrock aus; John Green (zum Küster gewendet) verlaßt die Kirche. Heute wird keine Trauung mehr stattfinden.«

Der Mann that, wie ihm geheißen.

Mr. Rochester fuhr fort, kühn und unentwegt:

»Bigamie ist ein furchtbares Wort! Und doch hatte ich die Absicht, ein Bigamist zu werden! – Aber das Schicksal hat mich überlistet – oder die Vorsehung hat mir Einhalt geboten, – vielleicht ist das letztere richtig. In diesem Augenblick bin ich wenig besser als ein Teufel, und, wie der Priester dort wahrscheinlich sagen würde, verdiene ich ohne Zweifel die furchtbarsten Strafen des Himmels – das ewige Feuer – die ewige Verdammnis. Ihr Herren, mein Plan ist durchkreuzt! – was dieser Advokat und sein Klient sagen, ist wahr: ich war verheiratet – und das Weib, mit welchem ich verheiratet war, lebt! Wood, Sie sagen, daß Sie niemals von einer Mrs. Rochester da drüben im Herrenhause gehört haben, – aber ich vermute, daß Sie Ihr Ohr gar manchesmal den Klatschereien über die geheimnisvolle Wahnsinnige geliehen haben, die dort unter Aufsicht und strenger Wacht gehalten wird. Einige Leute haben Ihnen zugeflüstert, daß sie meine illegitime Halbschwester sei, andere wieder, daß sie meine verstoßene Geliebte, welche ich selbst zum Wahnsinn getrieben! Aber ich sage Ihnen jetzt, daß sie meine Gattin ist, mit welcher [464] ich mich vor fünfzehn Jahren verheiratet habe, – Bertha Mason mit Namen, Schwester jenes entschlossenen, furchtlosen Menschen, der Ihnen jetzt mit seinen bebenden Gliedern und leichenfahlem Antlitz beweist, welch mutiges Herz mancher Mann im Leibe trägt! – Ermanne dich, Dick! hab doch keine Angst vor mir! – Ich würde doch eher ein wehrloses Weib schlagen als dich armen Kerl! – Bertha Mason ist wahnsinnig; und sie entstammt einer wahnsinnigen Familie – Idioten und Tobsüchtige seit drei Generationen! Ihre Mutter, die Kreolin, war sowohl eine Verrückte, wie eine Säuferin! Das erfuhr ich erst nachdem ich die Tochter geheiratet hatte, denn vor meiner Heirat hatten sie alle Familiengeheimnisse mit größter Diskretion gehütet. Bertha als pflichtgetreue Tochter ahmte ihrer Mutter in beiden Dingen nach. Ich hatte eine reizende Gefährtin – rein, unschuldig, klug, bescheiden – Sie können mir glauben, daß ich ein glücklicher Mann war! – Ich erlebte die schönsten Scenen! O! meine Erfahrungen waren himmlischer Art! Wenn Sie das alles nur wüßten! Aber zu weiteren Enthüllungen bin ich Ihnen nicht verpflichtet. Briggs, Wood, Mason, – ich lade Sie alle ein, hinauf ins Herrenhaus zu kommen und Grace Pooles Schutzbefohlene, meine Gemahlin, zu besuchen! – Sie sollen mit eigenen Augen sehen, wie man mich betrogen, als man mich dieses Geschöpf heiraten ließ. Und dann sollen Sie urteilen, ob ich ein Recht hatte oder nicht, einen solchen Vertrag zu brechen und Sympathie und Teilnahme bei einem Wesen zu suchen, das wenigstens menschlich ist.«

»Wood,« fuhr er fort, »dieses Mädchen hier hatte ebensowenig eine Ahnung von dem widerlichen Geheimnis, wie Sie selbst. Sie glaubte, daß alles in bester Ordnung und nach dem Gesetz sei; sie ließ sich's nicht träumen, daß sie im Begriff war, eine fingierte Ehe mit einem betrügerischen, elenden Verbrecher einzugehen, der bereits an ein [465] schlechtes, wahnsinniges und vertiertes Weib gebunden ist! Kommt alle! alle! alle! Folgt mir!«

Und indem er mich noch immer mit eiserner Faust hielt, verließ er die Kirche. Die drei Herren folgten uns. Vor der großen Einfahrtsthür zur Halle fanden wir den Wagen.

»Fahr ihn nur zurück in die Remise, John,« sagte Mr. Rochester ganz ruhig und gefaßt, »heute werden wir ihn nicht mehr brauchen.«

Bei unserem Eintritt kamen uns Mrs. Fairfax, Adele, Leah und Sophie entgegen, um uns zu beglückwünschen.

»Fort mit euch! Jeder an seine Arbeit! – Fort! fort!« schrie der Gebieter, »zum Teufel mit euren Glückwünschen! Wer braucht sie! Wer hat sie verlangt? – Ich nicht! – Sie kommen um fünfzehn Jahre zu spät!«

Immer noch meine Hand haltend, stürmte er an den versammelten Frauen vorüber und machte den Herren ein Zeichen, ihm zu folgen, was auch geschah.

Wir gingen die erste Treppe hinauf, gingen über die Galerie und gelangten endlich in das dritte Stockwerk. Mr. Rochester öffnete mit seinem Hauptschlüssel die niedrige, schwarze Thür, ließ uns in das mit Gobelins behangene Zimmer eintreten, in welchem sich jenes große Bett und der altmodische, schöne Schrank befanden.

»Sie kennen dies Gemach, Mason,« sagte unser Führer, »hier war es ja, wo sie Sie biß und zu erdolchen versuchte.«

Er hob die Vorhänge an der Wand empor und enthüllte unseren Blicken auf diese Weise eine zweite Thür, welche er ebenfalls öffnete.

In einem Zimmer ohne Fenster brannte ein großes, helles Feuer, welches durch einen starken Kaminschirm geschützt wurde. Eine Lampe hing an einer Kette von der Decke herab. Grace Poole stand über das Feuer gebeugt und war augenscheinlich damit beschäftigt, irgend etwas in einer Kasserole zu kochen. An dem entfernteren Ende des [466] Zimmers in tiefem Schatten lief eine Gestalt unaufhörlich hin und her. Beim ersten Anblick vermochte man nicht zu entscheiden, ob es ein Tier oder ein menschliches Wesen sei. Anscheinend kroch es auf allen Vieren. Es schnappte und brüllte wie ein wildes Tier. Aber es war mit Kleidern behängt, und eine Menge dunklen, ergrauenden Haars verbarg Kopf und Gesicht wie eine wilde Mähne.

»Guten Morgen, Mrs. Poole!« sagte Mr. Rochester. »Wie geht es Ihnen? Und wie steht es heute mit Ihrer Schutzbefohlenen?«

»Ich danke Ihnen, Sir,« entgegnete Grace, »es geht uns beiden ganz erträglich.« Dann setzte sie das kochende Gericht behutsam auf den Kaminsims. »Ziemlich bissig, aber nicht tobsüchtig.«

Ein wütender Schrei schien diesen günstigen Bericht Lügen strafen zu wollen. Die angekleidete Hyäne erhob sich und stand groß und gewaltig auf ihren Hinterfüßen.

»Ach, Sir. Sie hat Sie gesehen!« rief Grace; »es wäre besser, wenn Sie fortgingen!«

»Nur ein paar Minuten, Grace; ein paar Minuten müssen Sie mir gestatten.«

»Aber dann seien Sie vorsichtig, Sir! um Gottes willen – seien Sie sehr vorsichtig!«

Die Wahnsinnige stieß ein förmliches Gebell aus. Sie strich sich die wilde Mähne aus dem Gesicht und blickte ihre Besucher wild und tierisch an. Ich erkannte dies blaurote Gesicht gar wohl wieder, – diese geschwollenen Züge. Mrs. Poole näherte sich ihr.

»Gehen Sie mir aus dem Wege,« sagte Mr. Rochester, indem er sie beiseite stieß, »ich hoffe, daß sie in diesem Augenblick kein Messer hat; überdies bin ich auf meiner Hut.«

»Man kann niemals wissen, was sie hat, Sir; sie ist so listig, so verschlagen. Es liegt nicht im Bereich der Möglichkeit, ihre Schlauheit, ihre Hinterlistigkeit zu ergründen.«

[467] »Wollen wir sie nicht lieber verlassen?« flüsterte Mason.

»Geh zum Teufel!« lautete die freundliche Aufforderung seines Schwagers.

»Achtung!« schrie Grace. Die drei Herren traten gleichzeitig in den Hintergrund. Mr. Rochester warf mich hinter sich: die Wahnsinnige stürzte sich auf ihn, packte ihn wütend an der Kehle und fletschte die Zähne gegen sein Gesicht. Sie rangen miteinander. Sie war ein starkes Weib, an Länge kam sie ihrem Gatten fast gleich, außerdem war sie korpulent. In diesem Kampfe bewies sie eine fast männliche Kraft; mehr als einmal war sie nahe daran, ihn trotz seiner atlethischen Geschmeidigkeit zu erdrosseln. Mit einem wohlgezielten Schlage hätte er sie zu Boden schlagen können; aber er wollte nicht schlagen, er wollte nur kämpfen und ringen. Endlich war er imstande, ihre Arme zu packen; Grace Poole gab ihm einen Strick, und er band sie ihr auf dem Rücken zusammen; mit einem zweiten Strick, der schnell zur Stelle geschafft wurde, band er die Rasende auf einem Stuhle fest. Diese Sache wurde unter dem gellendsten Geschrei vollzogen, und die Gebundene machte mehr als einen konvulsivischen Versuch, sich loszureißen. Jetzt wandte Mr. Rochester sich zu den Zuschauern. Er blickte sie mit einem Lächeln an, das zugleich bitter und trostlos war.

»Das ist nun mein Weib!« sagte er. »Dies die einzige Umarmung, die ich je noch von meiner Gattin zu erwarten habe – dies sind die Liebkosungen, welche den Trost meiner Mußestunden bilden sollen! – Und dies hier ist das, was ich zu besitzen mich sehnte, (hier legte er seine Hand auf meine Schulter) dies junge Mädchen, welches so ernst und still, so unentwegt am Schlunde der Hölle steht und das Treiben eines Dämons gefaßt mit ansieht. Ich begehrte sie – nur wie eine Art von Abwechselung nach jenem beißenden Ragout. Wood und Briggs! Sehen Sie sich doch den Unterschied an! Vergleichen Sie diese klaren Augen mit jenen rollenden Feuerkugeln da drüben – dieses [468] Gesicht mit jener graueneinflößenden Maske; diese Gestalt mit jenem Klumpen – und dann verurteilen Sie mich! – Du Priester des Evangeliums verurteile mich! Und du Mann des Gesetzes, thu desgleichen. Aber vergeßt nicht, daß ihr gerichtet werdet, wie ihr richtet! Und jetzt fort mit euch! Fort! Ich muß meinen kostbaren Schatz hier verschließen.«

Wir zogen uns alle zurück. Mr. Rochester verweilte noch einen Augenblick, um Grace Poole weitere Befehle zu erteilen.

Als wir die Treppe hinuntergingen, wandte der Rechtsanwalt sich zu mir.

»Sie, Madame,« sagte er, »trifft wahrlich nicht der leiseste Tadel. Ihr Onkel wird glücklich sein, das zu hören – wenn er in der That noch am Leben ist, sobald Mr. Mason nach Madeira zurückkehrt.«

»Mein Onkel? Was soll's denn mit ihm? Kennen Sie ihn vielleicht?«

»Mr. Mason kennt ihn. Mr. Eyre ist jahrelang der Korrespondent seines Hauses in Funchal gewesen. Als Ihr Onkel jenen Brief von Ihnen erhielt, in welchem Sie von Ihrer beabsichtigten Verbindung mit Mr. Rochester sprachen, befand Mr. Mason sich gerade zur Wiederherstellung seiner angegriffenen Gesundheit auf Madeira, wo er einige Wochen bei Ihrem Onkel zuzubringen beabsichtigte, bevor er nach Jamaika zurückkehrte. Im Laufe des Gesprächs erwähnte Mr. Eyre zufällig dieser von Ihnen erhaltenen Nachricht; denn er wußte sehr wohl, daß mein Klient hier mit einem Herrn Namens Rochester bekannt sei. Mr. Mason, welcher, wie Sie sich wohl vorstellen können, ebenso erstaunt wie bestürzt war, enthüllte jetzt die ganze Lage der Dinge. Es thut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, daß Ihr Onkel jetzt auf dem Krankenbette liegt, von welchem er sich wahrscheinlich niemals wieder erheben wird, wenn man die Natur seiner Krankheit – die Schwindsucht – und [469] das Stadium, welches dieselbe bereits erreicht hat, in Betracht zieht. Er selbst konnte also nicht nach England eilen, um Sie aus der Schlinge zu befreien, in welche Sie geraten waren, aber er flehte Mr. Mason an, keinen Augenblick Zeit zu verlieren, sondern sofort die nötigen Schritte zu thun, um diese ungiltige Heirat zu verhindern. Er wies ihn an mich und ersuchte um meine Beihilfe. Ich wandte die größte Eile an und bin glücklich, daß ich nicht zu spät gekommen bin. Und ich hege keinen Zweifel, daß Sie es nicht ebenfalls sind. Wenn ich nicht moralisch überzeugt wäre, daß Ihr Onkel tot sein muß, bevor Sie Madeira erreichen, so würde ich Ihnen raten, mit Mr. Mason zusammen die Reise nach dort anzutreten; aber wie die Sachen liegen, halte ich es für besser, wenn Sie in England bleiben, bis Sie entweder von oder über Mr. Eyre Nachricht erhalten haben.«

»Warten wir noch auf irgend etwas?« sagte er dann zu Mr. Mason gewandt.

»Nein, nein, nein! Lassen Sie uns eilen, daß wir fortkommen,« lautete die angsterfüllte Antwort. Und ohne zu warten und sich von Mr. Rochester zu verabschieden, schritten sie zur Thür der großen Halle hinaus. – Der Prediger blieb noch, um seinem hochmütigen Gemeindemitgliede ein paar Worte entweder des Trostes oder des Tadels zu sagen. Als diese seine Pflicht gethan war, ging auch er fort.

Ich hörte ihn gehen, als ich so an der halbgeöffneten Thür meines Zimmers stand, in welches ich mich zurückgezogen hatte. Nachdem es im Hause ruhig geworden und ich alle Fremden fort wußte, schloß ich mich ein, schob den Riegel vor, damit niemand mich stören solle, und begann – nicht zu weinen, nicht zu jammern und zu trauern; dazu war ich noch zu ruhig – sondern mechanisch mein Hochzeitskleid auszuziehen und es durch das wollene Gewand zu ersetzen, welches ich noch am vorhergegangenen [470] Tage getragen und zwar, wie ich damals gehofft, zum letzten Male. Dann setzte ich mich. Ich fühlte mich müde und matt. Ich verschränkte die Arme auf dem Tische und legte meinen Kopf darauf. Und jetzt begann ich zu denken. Bis zu diesem Augenblick hatte ich nur gehört, gesehen, hatte mich bewegt – ich war hinauf- und hinuntergelaufen, wohin man mich geführt oder gezogen hatte – ich hatte beobachtet, wie eine fürchterliche Begebenheit der andern folgte, wie auf eine grausame Enthüllung die nächste kam – aber erst jetzt begann ich zu denken!

Der Morgen war mit Ausnahme des einen kurzen Auftrittes mit der Wahnsinnigen ein ziemlich ruhiger gewesen. Die Transaktion in der Kirche war ohne Lärm vor sich gegangen. Keine Ausbrüche der Leidenschaft, kein lauter Wortwechsel, kein Streit, keine Herausforderung, keine Weigerung, keine Thränen, kein Schluchzen! Nur wenige Worte waren gesprochen worden, eine ruhig ausgesprochene Einwendung gegen die Heirat; einige harte Fragen von Mr. Rochesters Seite; Antworten und Erklärungen wurden gegeben, Beweise beigebracht; mein Herr und Gebieter hatte die Wahrheit offen eingestanden, – und dann hatten wir den lebenden Beweis gesehen! Jetzt waren all jene Eindringlinge wieder fort. – Alles war vorüber!

Ich war wie gewöhnlich in meinem Zimmer – mein eigenes Selbst, ohne die geringste sichtbare Veränderung. Ich war nicht verwundet oder verletzt – niemand hatte mich geschlagen, niemand hatte mich beschimpft! – Und doch! Wo war die Jane Eyre von gestern? – wo war ihr Leben? – wo ihre Hoffnungen fürs Leben?

Jane Eyre, die ein liebendes, erwartungsvolles Weib – beinahe schon Gattin gewesen – war wieder ein kaltes, starres, einsames Mädchen. Ihr Leben war farblos; ihre Aussichten trostlos. Ein harter Winterfrost war um die Mittsommerzeit gekommen; ein scharfer Dezembersturm war [471] durch den Juni gebraust; Reif lag auf den heranreifenden Früchten; Schneewehen hatten die knospenden Rosen erdrückt; ein eisiges Leichentuch lag über blühenden Wiesen und wogenden Kornfeldern; Heckenwege, die gestern noch im glühenden Blumenschmuck prangten, waren heute verschneit und pfadlos; und die Wälder, welche vor zwölf Stunden noch duftig und schattig rauschten wie tropische Haine, lagen heute weit und wild und weiß da wie Tannenwälder im winterlichen Norwegen. All meine Hoffnungen waren tot – gestorben unter einem grausamen Urteil, so wie es in einer einzigen Nacht all die Erstgeborenen Egyptens befallen hatte. Ich sah auf meine teuersten Wünsche – gestern noch so prangend und üppig – sie lagen da wie kalte, starre, bleiche Tote, die nichts mehr zum Leben zu erwecken vermochte. Und dann blickte ich auf meine Liebe: jene Empfindung, die meinem Herrn gehörte –, die er geweckt hatte; sie lebte in meinem Herzen wie ein krankes Kind in einer kalten, harten Wiege; Angst und Krankheit hatten sie erfaßt; sie durfte Mr. Rochesters Arm nicht mehr suchen – sie konnte nicht mehr Lebenswärme an seiner Brust finden. O, nimmer, nimmermehr durfte sie zu ihm flüchten, denn der Glaube war dahin – das Vertrauen zerstört! Mr. Rochester war für mich nicht mehr, was er gewesen, denn er war nicht das, wofür ich ihn gehalten. Ich wollte ihm nicht Lasterhaftigkeit beimessen. Ich wollte nicht sagen, daß er mich betrogen habe, aber mit dem Gedanken an ihn verband ich nicht mehr das Attribut fleckenloser Wahrheit. Und nun mußte ich fort aus seiner Nähe – das wenigstens empfand ich klar. Wann – wie – wohin – das sah ich jetzt noch nicht deutlich. Aber ich zweifelte nicht daran, daß er selbst mich so schnell wie möglich von Thornfield fortschicken würde. Wahre Liebe – so schien es mir – konnte er doch unmöglich für mich gehegt haben. Es war nur eine vorübergehende Leidenschaft gewesen, deren Befriedigung vereitelt [472] worden; jetzt würde er meiner nicht mehr bedürfen! Ich fürchtete mich sogar, jetzt seinen Pfad zu kreuzen: mein Anblick mußte ihm verhaßt sein. O! wie blind waren meine Augen gewesen! Wie jämmerlich schwach mein Verhalten!

Meine Augen waren bedeckt und geschlossen. Wirbelnde Dunkelheit schien mich zu umgeben; wie eine schwarze, schlammige Flut stürzten die Gedanken über mich hin. Machtlos, schwach, zu kraftlos um eine Anstrengung zu machen, war mir als läge ich in dem ausgetrockneten Flußbette eines großen Stromes: ich hörte wie der rauschende Gießbach von fernen Gletschern daherbrauste, ich fühlte wie die Flut kam – aber ich hatte nicht den Mut mich zu erheben, nicht die Kraft um zu fliehen. Ohnmächtig lag ich da; ich sehnte mich nur nach dem Tode! Nur noch ein einziger lebensfähiger Gedanke durchzuckte mich zuweilen: der Gedanke an Gott. Und dieser erzeugte ein unausgesprochenes Gebet in mir; die Worte zogen in meiner verdüsterten Seele auf und nieder wie etwas, das geflüstert werden sollte: aber ich hatte nicht die Energie, sie auszusprechen:

»Bleib bei mir, o Gott, denn die Prüfung ist nahe und kein Helfer da!«

Sie war nahe, und da ich keine Bitte gen Himmel gesandt, sie von mir abzuwenden – da ich weder die Hände gefaltet, noch das Knie gebeugt oder die Lippen bewegt hatte – da kam sie: in großen schweren Wogen brauste der Strom über mich fort. In einer grauen, fürchterlichen Masse strömte das Bewußtsein meines zerstörten Lebens, meiner verlorenen Liebe, meiner erloschenen Hoffnung, meines toten Glaubens auf mich ein. Jene bittere Stunde kann ich nicht beschreiben. In der That: »die Wasser strömten in meine Seele; ich sank in einen tiefen Sumpf, ich hatte keine Stütze, keinen Grund mehr, ich kam in die Tiefe, – die Fluten brausten über mich fort.«

Siebentes Kapitel [2]

[473] Siebentes Kapitel

Während des Nachmittags erhob ich den Kopf und als ich umherblickte und sah, wie die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf die Wand meines Zimmers fielen, da fragte ich: »Was soll ich jetzt beginnen?«

Aber die Antwort, welche meine Seele mir gab: »Verlaß Thornfield sofort« – kam so schnell, so furchtbar schnell, daß ich mir die Ohren zuhielt. Ich sagte, daß ich solche Worte jetzt nicht hören könne. »Daß ich Edward Rochesters Gattin nicht bin, ist der geringste Teil meiner Leiden,« versicherte ich, »daß ich aus meinen herrlichsten Träumen erwachte und sie alle eitel und trügerisch befand, – das ist etwas Entsetzliches, das ich jedoch noch ertragen und überwinden könnte; daß ich ihn aber bestimmt, augenblicklich, und für immer verlassen muß – das ist unerträglich! Und ich vermag es nicht!«

Aber dann versicherte eine innere Stimme mich, daß ich es doch könne und prophezeite mir, daß ich es thun würde. Ich kämpfte mit meinem eigenen Entschluß; ich wollte schwach sein, um den Pfad künftigen Leidens, den ich so deutlich vor mir sah, zu vermeiden; und mein Gewissen, zum Tyrannen geworden, packte die Leidenschaft an der Kehle und sagte ihr höhnisch, daß sie bis jetzt nur mit einem Fuße den Schlamm leicht berührt habe, und schwor, daß es sie mit seinem eisernen Arm in die unergründlichsten Tiefen der Todesqualen schleudern würde.

»So reißt mich fort!« schrie ich auf. »Ein anderer muß mir helfen!«

»Nein, du selbst mußt dich losreißen, niemand soll dir helfen. Du selbst sollst dein rechtes Auge ausreißen, du selbst deine rechte Hand abhauen. Dein Herz soll das Opfer sein und du selbst die Priesterin, die es darbringt.«

Plötzlich sprang ich auf, vor Entsetzen fast gelähmt über die Einsamkeit, in der nur dieser erbarmungslose [474] Richter sprach – über die Stille, durch welche nur eine so furchtbare Stimme tönte. Es schwindelte mir, als ich so dastand. Ich merkte, daß ich vor Aufregung und Erschöpfung krank wurde. Weder Essen noch Trinken war an diesem Tage über meine Lippen gekommen, denn ich hatte nicht einmal gefrühstückt. Und mit einem seltsam stechenden Schmerz fiel es mir jetzt ein, daß niemand auch nur angefragt habe, wie es mir gehe, daß keine menschliche Stimme mich aufgefordert, nach unten zu kommen. Nicht einmal die kleine Adele hatte an die Thür geklopft, auch Mrs. Fairfax hatte mich nicht aufgesucht.

»Freunde verlassen stets diejenigen, welche vom Glück verlassen sind,« murmelte ich, als ich den Riegel zurückschob und hinausging. Ich strauchelte über ein Hindernis, mein Kopf war noch schwindelig, mein Blick war getrübt und meine Glieder schwach. Ich konnte mich nur langsam erholen. Dann fiel ich, aber nicht zu Boden, ein ausgestreckter Arm fing mich auf; ich blickte empor – Mr. Rochester stützte mich! Er hatte in einem Lehnstuhl vor der Schwelle meines Zimmers gewacht.

»Endlich kommst du heraus,« sagte er. »Ich habe schon so lange auf dich gewartet und gehorcht, aber ich vernahm kein Geräusch, keine Bewegung, kein Schluchzen. Noch weitere fünf Minuten jener todesähnlichen Stille, und ich hätte jene Thür erbrochen, wie ein Räuber. Also du willst mir ausweichen? – Du schließest dich ein und trauerst allein! Ich hätte es leichter ertragen, wenn du gekommen wärst, um mir in Heftigkeit Vorwürfe zu machen. Du bist leidenschaftlich: ich erwartete eine Scene irgend welcher Art von dir. Ich war auf heiße Thränenfluten vorbereitet: nur wollte ich, daß du sie an meinem Herzen vergießen solltest. Jetzt hat ein empfindungsloser Teppich sie aufgesogen oder dein durchnäßtes Taschentuch. Aber nein, ich irre! Du hast gar nicht geweint! Ich sehe eine bleiche [475] Wange und ein mattes Auge – aber keine Thränenspur. So vermute ich, daß dein Herz Blut geweint hat?«

»Nun, Jane? Kein Wort des Vorwurfs? Keine Bitterkeit – keine verletzende Silbe? Kein Ausbruch der Leidenschaft – keine Kränkung? Du sitzest ruhig dort, wohin ich dich gesetzt habe und siehst mich mit müden, leidenden Augen an?«

»O Jane, ich habe dich nicht so tief verwunden wollen. Wenn der Mann, der nur ein einziges kleines Lämmchen besaß, das seinem Herzen teuer war wie sein Kind, das von seinem Brote aß und aus seinem Becher trank, das an seinem Herzen ruhte – wenn der Mann dieses Lämmchen durch irgend einen Irrtum an der Schlachtbank geschlachtet – er könnte sein blutiges Versehen nicht mehr bereuen, als ich jetzt das meine. Kannst du mir jemals verzeihen?«

Mein Leser! ich vergab ihm schon in demselben Augenblick. In seinen Augen sah ich so tiefe Reue, so wahres, echtes Mitleid in seiner Stimme, so viel männliche Energie in seiner Art und Weise! Und außerdem verrieten seine Blicke und Mienen so viel unveränderte Liebe – ich vergab ihm alles! Doch nicht in Worten, nicht äußerlich – nur in der innersten Tiefe meines Herzens.

»Du weißt, daß ich ein Elender, ein Schurke bin, Jane?« fragte er nach einer Weile traurig. Er war wohl verwundert über mein anhaltendes Schweigen, meine augenscheinliche Ruhe. Sie entsprangen mehr meiner Schwäche als meinem Willen.

»Ja, Sir.«

»Dann sag' es mir gerade heraus, mit scharfen, bösen Worten. Schone mich nicht, Kind, o schone mich nicht!«

»Ich kann nicht. Ich bin müde und krank; ich möchte einen Tropfen Wasser haben!«

Er stieß einen schaudernden Seufzer aus; dann nahm er mich in seine Arme und trug mich hinunter. Anfangs [476] wußte ich nicht, in welches Zimmer er mich getragen hatte; alles war trübe vor meinen verglasten Augen; doch bald empfand ich die belebende Wärme eines Feuers, denn trotzdem es Sommer, war ich in meinem Zimmer eiskalt geworden. Er hielt ein Glas Wein an meine Lippen, ich nippte davon und fühlte neue Kräfte zurückkehren; dann aß ich etwas, das er mir brachte – und bald war ich wieder ich selbst. Ich war im Bibliothekzimmer – ich saß in seinem Stuhl – er war mir ganz nahe.

»Wenn ich jetzt aus diesem Leben gehen könnte, ohne einen zu jähen Schmerz, so würde mir wohl sein,« dachte ich. »Dann brauchte ich nicht die Anstrengung zu machen, meinen Herzensnerv zu zerreißen, indem ich mich von Mr. Rochester losreiße. Ich muß ihn verlassen. Ach ja, ich muß es. Aber ich will ihn nicht verlassen – ich kann ihn nicht verlassen.«

»Wie fühlst du dich jetzt, Jane?«

»Viel besser, Sir. Bald wird mir ganz wohl sein!«

»Koste noch einmal von dem Wein, Jane.«

Ich that, wie er befahl. Dann stellte er das Glas auf den Tisch, stand vor mir und betrachtete mich aufmerksam. Plötzlich wandte er sich ab mit einem unterdrückten Aufschrei, in dem sich alle Leidenschaft Luft machen wollte. Dann schritt er schnell durch das Zimmer und kam zu mir zurück; er beugte sich nieder als wollte er mich küssen; aber es fiel mir ein, daß alle Liebkosungen jetzt verboten seien. Ich wandte den Kopf fort und schob ihn beiseite.

»Was! Was soll das bedeuten?« rief er hastig aus. »O! ich weiß, du willst den Gatten jener Berta Mason nicht küssen? Du meinst, ich halte schon ein Wesen in meinem Arm, dem meine Liebkosungen gebühren!«

»Auf jeden Fall, Sir, ist hier kein Raum mehr für mich, und ich habe keine Rechte.«

»Wie, Jane! Ich will dir die Mühe vielen Redens ersparen. Ich will für dich antworten. Nicht wahr, du[477] wolltest mir entgegnen, daß ich bereits eine Gattin habe? – habe ich recht geraten?«

»Ja.«

»Wenn du das meinst, so mußt du eine seltsame Meinung von mir haben. Du mußt mich für einen ränkeschmiedenden Bösewicht halten, für einen niedrigen, gemeinen Schurken, der dir reine, hingebende Liebe geheuchelt hat, um dich in eine wohlüberlegte und gutbereitete Schlinge zu locken und dir deine Ehre und Selbstachtung zu rauben. Was hast du mir jetzt zu antworten? Ich sehe, daß du gar nichts sagen kannst. Erstens bist du noch immer matt und kraftlos und hast genug zu thun, um atmen zu können, und zweitens kannst du dich noch nicht daran gewöhnt haben, mich zu beschuldigen und zu verlästern. Außerdem sind die Thränenschleusen jetzt geöffnet und sie würden überströmen, wenn du zu viel sprächst. Du hegst auch nicht den Wunsch Vorwürfe zu machen, mich zur Rede zu stellen, eine Scene herbeizuführen. Du denkst darüber nach, wie du zu handeln hast – denn das Reden hältst du für nutzlos. Ich kenne dich – ich bin auf meiner Hut.«

»O Sir, ich bin nicht gesonnen, gegen Sie zu handeln,« sagte ich, und meine unsichere Stimme zeigte mir, wie gut es sein würde, mich so kurz wie möglich zu fassen.

»Nicht in deinem Sinne des Wortes, aber in dem meinen gedenkst du mich zu vernichten. Du hast so gut wie ausgesprochen, daß ich ein verheirateter Mann bin – dem verheirateten Manne willst du ausweichen, ihm aus dem Wege gehen – soeben hast du dich schon geweigert, mir einen Kuß zu geben. Du hast die Absicht, dich mir vollständig zu entfremden; unter diesem Dache nur als Adeles Gouvernante weiter zu leben. Und wenn ich dir ein freundliches Wort sage, – wenn jemals ein freundschaftliches Gefühl dich wieder zu mir zieht, so wirst du sagen:

›Jener Mann hätte mich beinahe zu seiner Maitresse [478] gemacht, für ihn darf ich nur noch Eis und Marmor sein,‹ – und folglich wirst du Eis und Marmor werden.«

Ich räusperte mich und versuchte meine Stimme zu festigen, um ihm zu antworten:

»Alles um mich her und für mich ist verändert, Sir; so muß auch ich eine andere werden – daran ist kein Zweifel, und um den Schwankungen meines Gefühls vorzubeugen, um fortwährende Kämpfe mit der Erinnerung und meiner Liebe zu verhindern, giebt es nureinen Ausweg: – Adele muß eine andere Gouvernante haben.«

»O! Adele wird in eine Pension geschickt; das habe ich bereits beschlossen; und ebenso wenig ist es meine Absicht, dich mit den grauenhaften Erinnerungen von Thornfield-Hall zu peinigen – diesem verfluchten Orte – diesem Zelt des Achan – diesem frechen Gebäude, das dem hellen, himmlischen Tageslicht das Grauen eines lebenden Todes vorzuführen wagt – dieser engen Steinhölle mit ihrem eigenen lebenden Teufel – der schlimmer ist als eine Legion solcher, die unsere Phantasie uns ausmalt. – Jane, du sollst nicht hierbleiben und ebenso wenig will ich es. Es war unrecht von mir, dich überhaupt jemals nach Thornfield-Hall zu bringen, da ich doch wußte, daß ein fürchterliches Gespenst hier umgeht. Lange bevor ich dich gesehen, befahl ich jedem hier im Hause, sorgfältig den Fluch desselben vor dir zu verbergen, einfach, weil ich fürchtete, daß niemals eine Gouvernante bei Adele bleiben würde, wenn sie wüßte, mit wem sie unter einem Dache lebte. Und ich hatte niemals die Absicht, jene Wahnsinnige an einen anderen Ort zu bringen, obgleich ich ein altes Haus, Ferndean Manor, besitze, das noch versteckter und abgelegener ist als dieses, wo ich sie sicher genug hätte verstecken können. Aber Skrupeln über das Ungesunde des Ortes, der mitten im dichten Walde liegt, ließen mein Gewissen vor solchen Maßregeln zurückschrecken. Wahrscheinlich hätten jene feuchten Mauern mich bald von jener [479] entsetzlichen Last befreit; aber jedem Verbrecher sein besonderes Verbrechen! Das meine ist nicht der Hang zu indirektem Morde, nicht einmal jenes Geschöpfes, das ich so unbegrenzt hasse.«

»Dir die Nähe jener Wahnsinnigen zu verheimlichen war indessen gerade so klug, als deckte man ein Kind mit einem Mantel zu und legte es neben einen Upasbaum; die Nähe diesem Dämons ist vergiftet und war es immer. Aber ich werde Thornfield-Hall verlassen, es verschließen, ich werde die große Einfahrt vernageln und die unteren Fenster vermauern lassen; ich werde Mrs. Poole zweihundert Pfund Sterling im Jahr geben, um hier mit meiner Gattin zu leben, wie du jene grauenvolle Hexe nennst. Für Geld thut Grace gar viel, und sie soll ihren Sohn, den Wildhüter von Grimbsby-Heim hier haben, daß er ihr Gesellschaft leiste und zur Hand sei, um ihr beizustehen, wennmeine Gattin ihre Paroxismen bekommt und ihr böser Geist sie treibt, die Menschen Nachts in ihren Betten zu verbrennen, sie zu erdolchen, ihnen mit ihren Zähnen das Fleisch von den Knochen zu reißen, und so weiter.«

»Sir,« unterbrach ich ihn, »Sie sind unerbittlich in Bezug auf jene unglückliche Frau; Sie sprechen mit Haß von ihr – mit gehässiger Antipathie. Es ist grausam – ist sie denn schuldig, weil sie wahnsinnig ist?«

»Jane, mein kleiner Liebling, (so werde ich dich immer nennen, denn das bleibst du für mich) du weißt nicht, was du sprichst; du beurteilst mich schon wieder falsch. Ich hasse sie nicht, weil sie wahnsinnig ist. Glaubst du, ich würde dich hassen, wenn du wahnsinnig wärst?«

»Das glaube ich in der That, Sir.«

»Dann irrst du und kennst mich nicht; dann begreifst du jene Liebe nicht, deren ich fähig bin. Jedes Atom deines Selbst ist mir so lieb wie mein eigenes, in Qual und Schmerz und Krankheit würde es mir ebenso teuer [480] bleiben. Dein Geist ist mein Schatz – und wenn er zerstört würde, so bliebe er dennoch mein Kleinod; wenn du tobtest, würden meine Arme dich umschlingen und fesseln – nicht eine Zwangsjacke – deine Berührung selbst in der Tobsucht würde mir noch eine Wonne sein. Wenn du dich auf mich stürztest, so wild wie dieses Weib es heute Morgen that, so würde ich dich umfangen, ich würde dich durch Zärtlichkeit zu bändigen suchen. Ich würde mich nicht mit Ekel von dir abwenden wie von jenem Weibe; in deinen ruhigen Augenblicken solltest du keinen anderen Wärter haben als mich; ich würde dich mit unermüdlicher Zärtlichkeit pflegen, wenn du auch nicht mit einem einzigen Lächeln danktest; ich würde niemals müde werden, in deine Augen zu blicken, wenn mir auch kein Strahl des Erkennens mehr aus ihnen entgegenleuchtete. – Aber weshalb verfolge ich diesen Gedankengang? Ich sprach ja davon, dich von Thornfield fortführen zu wollen. Du weißt, alles ist für eine schleunige Abreise vorbereitet. Morgen sollst du fort von hier. Ich bitte dich nur, Jane, halte noch eine einzige Nacht unter diesem Dache aus; und dann fort mit all seinem Elend und Schrecken für alle Zeiten! Ich weiß einen Ort, an den wir uns begeben können, der ein sicheres Heiligtum, ein fester Schutz gegen verhaßte Reminiscenzen ist, der uns vor unwillkommenen Besuchern schützt – sogar vor Falschheit und Verleumdung.«

»Und nehmen Sie Adele mit, Sir,« unterbrach ich ihn, »sie wird Ihnen eine Gefährtin sein.«

»Was willst du damit sagen, Jane? Ich sage dir ja, daß ich Adele in eine Pension schicken will; und wozu bedarf ich eines Kindes als Gefährtin? Und nicht mein eigenes Kind – der Bastard einer französischen Tänzerin? Weshalb belästigst du mich ihretwegen? Ich frage noch einmal, weshalb giebst du mir Adele als Gefährtin?«

»Sie sprachen von Einsamkeit, Sir, und Einsamkeit ist traurig – zu traurig für Sie.«

[481] »Einsamkeit! Einsamkeit!« wiederholte er ärgerlich. »Ich sehe, ich muß zu einer Erklärung kommen. Ich verstehe den sphynxartigen Ausdruck auf deinem Gesichte nicht. Du sollst meine Einsamkeit teilen. Verstehst du mich?«

Ich schüttelte den Kopf. Es erforderte einen gewissen Grad von Mut – aufgeregt wie er war – auch nur dieses stumme Zeichen der Weigerung zu machen. Er war schnell im Zimmer auf- und abgegangen und plötzlich blieb er wie angewurzelt stehen. Er blickte mich an, lange und scharf. Ich wandte die Augen von ihm und heftete sie auf das Feuer und versuchte mir ein ruhiges, gefaßtes Äußeres zu geben und zu erhalten.

»Jetzt haben wir den Haken in Janes Charakter,« sagte er endlich; er sprach ruhiger, als ich nach seinen Blicken zu erwarten gewagt hatte. »Die Seidenspule ist bis hierher still und ungehindert gegangen; aber ich wußte stets, daß der Knoten kommen würde. Hier ist er. Und jetzt kommt Ärger und Verzweiflung und endloser Kummer! Bei Gott! Ich hege das Verlangen, ein Atom von Simsons Stärke anzuwenden und die Verwirrung wie Werg zu zerreißen!«

Er begann seinen Weg von neuem; aber bald hielt er wieder inne und dieses Mal gerade vor mir.

»Jane, willst du jetzt Vernunft annehmen? (Er beugte sich zu mir herab und näherte seine Lippen meinem Ohr.) Denn wenn du es nicht thust, werde ich Gewalt brauchen.«

Seine Stimme war heiser. Sein Blick war der eines Mannes, der gerade im Begriffe steht, eine unerträgliche Fessel zu sprengen und sich Hals über Kopf in wilde Zügellosigkeit zu stürzen. Im nächsten Augenblick begriff ich das, und wenn seine Wut auch nur noch um ein Atom zunahm, war ich nicht mehr imstande, auch nur noch das Geringste mit ihm zu thun. Die gegenwärtige – die vorübergehende Sekunde – war alles was mir gehörte, nur jetzt noch konnte ich ihn beherrschen und zurückhalten; [482] wenn ich eine Bewegung des Abscheus, der Furcht zeigte, so wäre mein Schicksal besiegelt gewesen – und das seine. Aber ich fürchtete mich nicht – nicht eine Minute! Ich spürte eine innere Kraft, die mich aufrecht erhielt. Die Krisis war gefährlich; aber sie hatte ihren Reiz. Einen Reiz, wie ihn der Wilde vielleicht empfindet, wenn er in seinem Kanoe über die Stromschnellen dahin saust. Ich faßte seine geballte Hand; löste die zuckenden Finger und sagte sanft und beruhigend:

»Setzen Sie sich. Ich will mit Ihnen reden so lange Sie wollen; ich will alles anhören, was Sie zu sagen haben, ob es nun vernünftig oder unvernünftig ist.«

Er setzte sich, aber er kam noch nicht gleich zum Reden. Ich hatte schon lange mit den Thränen gekämpft. Wohl hatte ich mir die größte Mühe gegeben, sie zu unterdrücken, weil ich wußte, daß er mich nicht weinen sehen mochte. Jetzt indessen hielt ich es für besser, ihnen freien Lauf zu lassen so lange sie wollten. Wenn diese Thränenflut ihn bekümmerte – desto besser. Ich gab ihnen also nach und weinte bitterlich.

Bald hörte ich, wie er mich ernstlich bat, mich zu fassen. Ich entgegnete, daß ich es nicht könne, so lange er so zornig sei.

»Aber ich bin nicht zornig, Jane. Ich liebe dich nur zu sehr – das ist alles. Und du hattest dein kleines, blasses Gesicht mit einem so kalten, entschlossenen Blick gestählt, daß ich es nicht ertragen konnte. Sei jetzt still und trockne deine Augen.«

Seine weiche Stimme verkündete mir, daß er besiegt sei; daher wurde auch ich nun ruhig. Jetzt machte er den Versuch, seinen Kopf an meine Schulter zu lehnen, aber ich wollte es nicht erlauben. Dann wollte er mich an sich ziehen – auch das gestattete ich nicht.

»Jane! Jane!« sagte er mit einem Ausdruck so bitterer Traurigkeit, daß jeder Nerv in mir erbebte. »Liebst du [483] mich denn nicht mehr? Es war also nur meine Stellung, der Rang meiner Gattin, den du schätztest und anstrebtest? Jetzt, wo du mich nicht mehr für geeignet hältst, dein Gatte zu werden, zuckst du unter meiner Berührung zusammen, als sei ich eine Kröte oder ein Affe.«

Diese Worte schnitten mir ins Herz. Aber was konnte ich thun? Wahrscheinlich hätte ich gar nichts sagen oder thun müssen, aber die Gewissensbisse darüber, daß ich sein Gefühl auf diese Weise verletzen mußte, quälten mich derartig, daß ich dem Verlangen, heilenden Balsam zu spenden, wo ich verwundet hatte, nicht widerstehen konnte.

»Ich liebe Sie,« sagte ich, »mehr denn je. Aber ich darf diese Empfindung nicht mehr zeigen, mich ihr nicht mehr hingeben. Und dies ist auch das letzte Mal, daß ich ihr Worte verleihe.«

»Das letzte Mal, Jane! Was! glaubst du, daß du mich täglich sehen und neben mir leben kannst und doch, wenn du mich noch liebst, kalt und fremd zu bleiben vermagst?«

»Nein, Sir, ich weiß bestimmt, daß ich es nicht könnte. Und deshalb sehe ich nur einen einzigen Ausweg. Aber Sie werden wieder in Zorn geraten, wenn ich ihn nenne.«

»O, nenne ihn nur! Wenn ich tobe und wüte, besitzest du die Kunst des Weinens.«

»Mr. Rochester – ich muß Sie verlassen.«

»Auf wie lange, Jane? Für einige Minuten während du dein Haar ordnest, das etwas in Unordnung gekommen ist. Oder um dein Gesicht zu kühlen, das fieberhaft glüht?«

»Ich muß Adele und Thornfield verlassen. Ich muß mich von Ihnen für das ganze Leben trennen! Ich muß ein neues Dasein unter fremdem Himmel, zwischen fremden Gesichtern beginnen.«

»Gewiß. Ich sagte dir ja schon, daß du es sollest. Den wahnsinnigen Gedanken, dich von mir trennen zu wollen, berühre ich nicht weiter. Du meinst, daß du ein [484] Teil von mir werden mußt. Was das neue Dasein betrifft, so hast du recht. Du mußt dennoch mein Weib werden: ich bin nicht verheiratet. Du sollst Mrs. Rochester werden, sowohl dem Namen nach wie in der That. Ich werde zu dir halten so lange du und ich leben. Du wirst auf ein Besitztum gehen, das ich im südlichen Frankreich besitze, eine freundliche weiße Villa an dem Ufer des mittelländischen Meeres. Dort sollst du ein glückliches, beschütztes, unschuldiges Leben führen. Fürchte nicht, daß ich dich zur Sünde verleiten könnte – daß ich dich nur zu meiner Geliebten machen will! Weshalb schüttelst du den Kopf? Jane, du mußt Vernunft annehmen, oder wahrhaftig – die Wut faßt mich von neuem.«

Seine Stimme und seine Hand bebten; seine Augen funkelten; und dennoch wagte ich zu sprechen:

»Sir, Ihre Gattin lebt; das ist ein Faktum, welches Sie heute morgen selbst zugestanden haben. Wenn ich bei Ihnen lebte, wie Sie es wünschen, so würde ich nur Ihre Geliebte sein – etwas anderes zu sagen ist sophistisch – ist falsch.«

»Jane, ich bin kein sanftmütiger Mensch – das vergißt du. Ich bin nicht von großer Geduld. Ich bin nicht kalt und leidenschaftlos. Aus Mitleid für mich und dich selbst, lege deine Hand auf meinen Puls, fühle, wie er klopft und – hüte dich!«

Er schob den Ärmel vom Handgelenk zurück und hielt es mir hin, aus seinem Gefühl und seinen Lippen war alles Blut gewichen, er war aschfarben. Ich fühlte mich unsagbar elend. Es war grausam, ihn durch einen Widerstand, den er so verabscheute, ferner zu reizen. Ihm nachgeben – das war ebenfalls außer Frage. Ich that, was jeder Mensch instinktiv thut, wenn er zum äußersten getrieben wird – ich blickte um Hilfe auf zu ihm, der hilft, wenn menschliches Hoffen vergeblich scheint: die Worte »Gott helfe mir!« kamen fast unbewußt von meinen Lippen.

[485] »Ich bin ein Thor!« rief Mr. Rochester plötzlich aus. »Ich fahre fort, ihr zu sagen, daß ich nicht verheiratet bin und erkläre ihr nicht das Warum. Ich vergesse, daß sie nichts von dem Charakter jenes Weibes weiß, noch von den Umständen, welche meine unglückselige Verbindung mit ihr begleiteten. O, ich bin überzeugt, daß Jane mit mir in meiner Ansicht übereinstimmen wird, wenn sie alles weiß, was ich weiß! Leg jetzt deine Hand in die meine, Jane, daß ich wenigstens deine Berührung fühle, daß ich weiß, du bist mir nahe – und dann werde ich dir in wenigen Worten den wahren Stand der Dinge erklären. Willst du mir zuhören?«

»Ja, Sir, stundenlang, wenn Sie wollen.«

»Ich begehre nur Minuten. Jane, hast du jemals gehört oder weißt du, daß ich nicht der älteste Sohn meines Hauses war? Daß ich einst einen Bruder hatte, der älter war als ich?«

»Ich erinnere mich, daß Mrs. Fairfax es mir einmal erzählt hat.«

»Und hast du auch gehört, daß mein Vater ein geiziger, habsüchtiger Mann war?«

»Ich dachte mir etwas derartiges.«

»Und, Jane, da dies der Fall, hatte er den Beschluß gefaßt, Besitztum und Vermögen zusammenzuhalten; er konnte den Gedanken nicht ertragen, seine Güter teilen zu müssen und mir einen gerechten Anteil davon zu geben. Er hatte beschlossen, daß mein Bruder Roland alles bekommen solle. Aber ebensowenig wollte er dulden, daß einer seiner Söhne ein armer Mann sein solle. Für mich sollte durch eine reiche Heirat gesorgt werden. Er suchte mir beizeiten eine Gemahlin. Mr. Mason, ein reicher Kaufmann und Plantagenbesitzer in Westindien war sein alter Freund. Er hatte Erkundigungen eingezogen und in sichere Erfahrung gebracht, daß seine Besitzungen groß und reich seien. Dann hörte er auch, daß Mr. Mason[486] einen Sohn und eine Tochter habe; und von ihm selbst hatte er gehört, daß er letzterer eine Mitgift von dreißigtausend Pfund Sterling zu geben bereit sei – das genügte. Als ich die Universität verließ, wurde ich nach Jamaika geschickt, um eine Braut heimzuführen, um die bereits für mich geworben war. Mein Vater sagte nichts von ihrem Vermögen, aber er sagte mir, daß Miß Mason um ihrer Schönheit willen der Stolz von ganz Spanish town sei. Und dies war keine Lüge. Ich fand in ihr ein schönes Weib – im Stil von Blanche Ingram; schlank, dunkel, majestätisch. Ihre Familie wünschte mich festzuhalten, weil ich einer guten Race entsprungen – und sie wünschte es ebenfalls. Sie wurde mir in prachtvoller Toilette auf Gesellschaften vorgeführt. Selten sah ich sie allein, und fast niemals konnte ich mich mit ihr unter vier Augen unterhalten. Sie schmeichelte mir und entfaltete all ihre Reize und Kenntnisse und Talente im reichlichsten Maße vor mir. Alle die Männer in ihrem Kreise schienen sie zu bewundern und mich zu beneiden. Ich war geblendet, gereizt, meine Sinne waren erregt, und unwissend, unerfahren, jung wie ich war, glaubte ich sie zu lieben. Es giebt keine Thorheit, die zu dumm wäre, daß die wahnsinnigen Nebenbuhlerschaften der Gesellschaft, die Begierde, die Blindheit, der Eifer der Jugend sie einen Mann nicht begehen ließe. Ihre Verwandten ermutigten mich; Mitbewerber reizten mich; sie forderte mich heraus, die Heirat war vollzogen, ehe ich recht wußte, wo ich war. O, ich verliere alle Selbstachtung, wenn ich an jene That denke! – ein Todeskampf innerer Verachtung überwältigt mich. Ich habe sie niemals geliebt, ich habe sie niemals geachtet – ich habe sie nicht einmal gekannt. Ich wüßte von keiner einzigen Tugend ihres Charakters; ich hatte weder Bescheidenheit, noch Seelengüte, noch Offenherzigkeit, noch Reinheit in ihrer Seele, noch in ihrem Benehmen wahrgenommen – und – ich heiratete sie – blinder, grober, [487] täppischer Dummkopf der ich war! Mit weniger Sünde hätte ich – aber laß mich nicht vergessen, mit wem ich spreche.

Die Mutter meiner Braut hatte ich niemals gesehen, man hatte mir zu verstehen gegeben, daß sie tot sei. Als der Honigmonat vorüber war, erfuhr ich, daß ich im Irrtum gelebt; sie war nur wahnsinnig und in einer Irrenheilanstalt untergebracht. Es war auch noch ein jüngerer Bruder da, ein stummer, vollkommener Idiot. Der ältere, den du hier gesehen hast (und den ich nicht hassen kann, während ich alle übrigen Mitglieder seiner Sippe verabscheue, weil er doch noch immer ein Körnchen Liebe in seinem schwachen Geiste hegt, das er oft genug durch das unveränderte Interesse bewiesen, welches er noch immer für seine unglückliche Schwester hegt, und durch eine hündische Anhänglichkeit, die er einst mir gezeigt), auch dieser ältere wird eines Tages dasselbe Schicksal haben. Mein Vater und mein Bruder Roland wußten alles dies, aber sie dachten nur an die dreißigtausend Pfund und machten sich so zu Mitschuldigen der Verschwörung gegen mich.

Dies waren widerliche Entdeckungen, aber meiner Frau machte ich nur aus der verräterischen Geheimhaltung dieser Umstände einen Vorwurf – sonst keinen; selbst dann noch nicht, als ich einsehen lernte, daß ihre Natur der meinen vollständig fremd und entgegengesetzt war; ihr Geschmack dem meinen widerstrebend; ihre Seele gemein, eng, niedrig und vollständig unfähig, sich höheren Dingen zuzuwenden, sich zu vertiefen, – selbst dann noch nicht, als ich fühlte, daß ich nicht einen einzigen Abend, nein, nicht einmal eine einzige Stunde in Behagen und Ruhe mit ihr verbringen konnte; daß ein freundliches Gespräch zwischen uns unmöglich war, weil sie jedem Gegenstand sofort ein rohes, gemeines Gepräge verlieh – selbst dann noch nicht, als ich merkte, daß ich niemals einen ruhigen, geordneten Haushalt haben würde, weil kein Dienstbote die fortwährenden [488] Ausbrüche ihrer heftigen, unvernünftigen Laune oder die Quälereien ihrer abgeschmackten, widersprechenden, herrischen Befehle ertragen konnte! Noch immer beherrschte ich mich ihr gegenüber! Ich vermied alle Vorwürfe, ich machte nur leise Gegenvorstellungen; ich versuchte im Geheimen, meinen Ekel zu überwinden und mit meiner Reue fertig zu werden. Ich unterdrückte den tiefen Widerwillen, welchen ich empfand.

Jane, ich will dich nicht mit abscheulichen Einzelheiten quälen. Einige Kraftworte sollen ausdrücken, was ich zu sagen habe. Mit dem Weibe dort oben habe ich vier Jahre lang gelebt, und vor Ablauf dieser Zeit hatte sie meine Kräfte bereits auf die härtesten Proben gestellt. Ihr Charakter reifte und entwickelte sich mit der furchtbarsten Schnelligkeit; ihre Laster wucherten; sie waren so stark, daß nur Grausamkeit ihnen Einhalt zu thun vermochte – und Grausamkeit wollte ich nicht anwenden. Wie gering war ihr Verstand – und wie riesenhaft ihre bösen Neigungen. Wie furchtbar der Fluch, den diese Neigungen auf mich häuften! Bertha Mason – die echte, würdige Tochter einer abscheulichen Mutter – schleppte mich durch all die entwürdigenden und fürchterlichen Kämpfe, welche ein Mann durchzumachen hat, der an ein Weib gebunden, welches zugleich unkeusch und – dem Trunke ergeben ist.

Inzwischen war mein Bruder gestorben; und nach Ablauf jener vier Jahre starb mein Vater ebenfalls. Jetzt war ich reich genug – und doch der gräßlichsten Armut verfallen; eine Natur so roh, so unrein, so depraviert wie ich niemals eine zweite gesehen, war an mich gebunden, und sowohl die Gesellschaft wie das Gesetz nannten sie einen Teil von mir. Und ich konnte mich durch kein gesetzliches Vorgehen von ihr befreien, denn jetzt entdeckten die Ärzte, daß meine Frau wahnsinnig sei. Ihre Excesse hatten die Keime des Wahnsinns vor der Zeit in ihr gereift. Jane, meine Erzählung erfüllt dich mit Widerwillen; du [489] siehst krank aus – soll ich das Ende auf einen anderen Tag sparen?«

»Nein, Sir, kommen Sie jetzt damit zu Ende – ich bemitleide Sie – ja, ich bemitleide Sie aus tiefstem Herzen.«

»Mitleid, Jane, ist von manchen Menschen ein trauriger und beleidigender Tribut, welchen man berechtigt ist, demjenigen ins Gesicht zurückzuschleudern, der ihn darbringt. Aber das ist jene Art von Mitleid, welches von harten, selbstsüchtigen Herzen gespendet wird: es ist nur ein egoistischer, bastardartiger Schmerz beim Anhören fremder Schmerzen, welcher eine Mischung von Verachtung enthält gegen jene, die sie ertragen haben. Aber solcher Art istdein Mitleid nicht, Jane; in diesem Augenblick durchzuckt der Jammer dein ganzes Gesicht – deine Augen fließen über – dein Herz erbebt – deine Hand zittert in der meinen. Dein Mitleid, mein Liebling, ist die schmerzensreiche Mutter der Liebe: seine Ängste sind die Geburtswehen jener göttlichen Leidenschaft. Ich nehme es an, Jane, dieses Mitleid; mach seiner Tochter jetzt die Bahn frei – ich harre ihrer mit offenen Armen!«

»Fahren Sie jetzt fort, Sir! Was thaten Sie, Sir, als Sie fanden, daß sie wahnsinnig sei?«

»Jane,« ich stand am Rande der Verzweiflung. Zwischen jenem Abgrund und mir stand nur noch ein kleiner Rest von Selbstachtung. In den Augen der Welt stand ich wahrscheinlich entehrt da; aber ich beschloß wenigstens in meinen eigenen Augen rein zu bleiben – und bis zum letzten Augenblick wehrte ich mich gegen die Besudelung mit ihren Verbrechen. Und doch verband die Gesellschaft ihren Namen mit dem meinigen, meine Person mit der ihren. Doch sah und hörte ich sie täglich, ihr Atem verpestete die Luft, welche ich einatmete, und außerdem erinnerte ich mich unaufhörlich daran, daß ich einst ihr Gatte gewesen – diese Erinnerung war damals und ist noch heute unbeschreiblich ekelerregend für mich. Und mehr noch[490] – ich wußte, daß, solange sie lebte, ich niemals der Gatte eines anderen und besseren Weibes werden konnte; und obgleich sie fünf Jahre älter war als ich (ihre Familie und mein Vater hatten mich sogar in Bezug auf ihr Alter belogen) war es doch wahrscheinlich, daß sie ebenso lange leben würde wie ich, da sie ebenso stark an Körper wie schwach an Geist war. – So stand ich mit sechsundzwanzig Jahren da – ohne Hoffnungen! – Eines Nachts war ich durch ihr Gekreisch erweckt worden – seitdem die medizinischen Autoritäten sie für wahnsinnig erklärt hatten, war sie natürlich eingeschlossen – es war eine glühende westindische Nacht; eine von jener Art, wie sie oft den Orkanen jener Gegenden vorausgehen. Da es mir unmöglich war, im Bette zu schlafen, war ich aufgestanden und hatte das Fenster geöffnet. Die Luft glich Schwefeldämpfen – nirgend war Erfrischung und Abkühlung zu finden. Mosquitos kamen hereingeflogen und schwirrten geräuschvoll im Zimmer umher. Das Meer, dessen Rauschen ich von dort hören konnte, rollte dumpf wie ein Erdbeben – schwarze Welken stiegen empor; der Mond ging in den Wolken unter, groß und rot wie eine glühende Kanonenkugel – er warf seinen letzten blutigroten Blick auf eine Welt, welche unter dem Gähren des Sturms erbebte. Dies Bild und die Atmosphäre beeinflußten mich physisch, und in meinen Ohren gellten die Wutschreie, welche die Wahnsinnige fortwährend ausstieß. Meinen Namen brüllte sie in Tönen so dämonischen Hasses, sie fügte ihm so furchtbare Worte hinzu! Das gesunkenste Weib bediente sich nicht so erschütternder Ausdrücke, von denen sie stets einen großen Vorrat hatte. Obgleich sie durch zwei Zimmer von mir getrennt war, gestatteten die dünnen Wände des westindischen Hauses doch, daß ihr tierisches Brüllen bis zu mir drang.

»Dies Leben,« sagte ich endlich, »ist eine Hölle! Dies ist die Luft – jenes ist das Toben der grundlosen Tiefe! [491] Ich habe ein Recht, mich davon frei zu machen, wenn ich kann. Die Qualen dieses Lebens werden von mir weichen mit dem irdischen Fleisch, das jetzt auf meiner Seele lastet. Vor dem ewigen Fegefeuer des Fanatikers hege ich keine Furcht; – kein zukünftiger Zustand kann furchtbarer sein als der gegenwärtige – ich will fort – ich will heim zu Gott!«

Während ich dies sagte, kniete ich nieder und schloß einen Koffer auf, welcher ein paar geladene Pistolen enthielt. Ich wollte mich erschießen. Nur für einen Augenblick hegte ich diese Absicht; denn da ich nicht wahnsinnig war, ging diese Krisis der äußersten, echten Verzweiflung, welche den Wunsch und die Absicht der Selbstzerstörung erzeugt hatte, in einer Sekunde vorüber.

Ein frischer Wind von Europa her strich über den Ozean und strömte ins offene Fenster. Der Sturm brach aus, der Regen stürzte in Bächen herab; es donnerte, blitzte – und die Luft wurde rein. Jetzt faßte ich einen festen Entschluß. Während ich unter den triefenden Orangenbäumen meines feuchten Gartens umherging, zwischen den Granatäpfeln und Ananas, während der strahlende Tag der Tropen um mich heranbrach – da dachte ich so, Jane – und jetzt höre mich an, denn es war die echteste Weisheit, die mich in jener Stunde tröstete und mir den rechten Weg zeigte, den ich wandeln sollte.

Der süße Wind von Europa her flüsterte noch in dem erfrischten Laub und der atlantische Ozean brauste in erhabener Freiheit; mein Herz, seit langer Zeit welk und verschrumpft, schwoll bei jenen Tönen, frisches, lebendes Blut durchfloß es wieder – mein ganzes Ich verlangte eine Wiedergeburt – meine Seele dürstete nach einem frischen Trunk. Ich sah die Hoffnung sich neu beleben – ich fühlte, daß eine Wiedergeburt möglich sei. Von einer blütenbedeckten Laube am Ende meines Garten blickte ich auf das Meer, das blauer war als der Himmel. Da drüben lag die alte Welt! Klare Aussichten eröffneten sich mir.

[492] »Geh,« sagte die Hoffnung. »Lebe wieder in Europa; dort weiß niemand, welchen besudelten Namen du trägst, noch welche schmutzige Last du mit dir schleppst. Du kannst die Wahnsinnige mit dir nach England nehmen; schließe sie mit pflichtgetreuen Wächtern und mit der nötigen Vorsicht in Thornfield ein. Dann geh du selbst in welche Gegend du willst und schließe neue Bande, wenn du magst. Jenes Weib, das deine Geduld so lange gemißbraucht – deinen Namen beschmutzt – deine Ehre gekränkt – deine Jugend zerstört hat – jenes Weib ist nicht deine Gattin; du bist nicht ihr Gatte. Sieh darauf, daß sie gepflegt und behütet wird wie ihr Zustand es erfordert, – und du hast alles gethan, was Gott und Menschenpflicht von dir verlangen. Laß ihre Identität, ihre Verbindung mit dir in Vergessenheit begraben sein. Nichts zwingt dich, letzteres irgend einem lebenden Wesen anzuvertrauen. Gieb ihr Bequemlichkeit und Sicherheit; umgieb ihre Erniedrigung mit dem Schleier des Geheimnisses – und verlaß sie.«

»Nach dieser Eingebung handelte ich genau. Mein Vater und mein Bruder hatten ihren Bekannten von meiner Verheiratung keine Mitteilung gemacht; denn schon in meinem ersten Briefe belehrte ich sie über meine Verbindung, da ich damals schon angefangen hatte, den furchtbarsten Widerwillen gegen ihre Konsequenzen zu empfinden; und da ich nach dem Charakter und der Konstitution der Familie eine abscheuliche Zukunft sich mir eröffnen sah, fügte ich den strengsten Auftrag hinzu, meine Heirat geheim zu halten. Und sehr bald darauf wurde der Lebenswandel der Frau, welche mein Vater für mich gewählt hatte, ein solcher, daß er sich schämte, sie als Schwiegertochter anzuerkennen. Weit entfernt davon, die Verbindung zu veröffentlichen, suchte er sie ebenso ängstlich zu verheimlichen wie ich selbst.

Nach England brachte ich sie folglich. Es war eine furchtbare Reise, die ich mit einem solchen Ungeheuer auf dem Schiffe hatte. Ich war froh, als ich sie endlich in [493] Thornfield hatte und sie sicher in jenem Zimmer der dritten Etage etabliert war, aus dessen innerem geheimem Kabinett sie jetzt seit zehn Jahren die Höhle eines wilden Tiers gemacht hat – die Zelle eines Dämons. Es hat mich viele Mühe gekostet, eine Wärterin für sie zu finden, da es notwendig war, eine solche zu wählen, auf deren Treue man sich verlassen konnte; denn in ihren Tobsuchtsanfällen verriet sie mein Geheimnis; und außerdem hatte sie zuweilen tagelang – nein, ganze Wochen hindurch – lichte Momente, welche sie mit den schmachvollsten Schimpfreden über mich ausfüllte. Endlich mietete ich Grace Poole aus dem Asyl von Grimsby. Sie und der Wundarzt Carter, welcher an jenem Abend, als Mason gestochen und verwundet wurde, dessen Wunden verband, sind die einzigen beiden Menschen, welche ich jemals in mein Geheimnis gezogen habe. Mrs. Fairfax mag in der That etwas geargwohnt haben, aber eine genaue Kenntnis der Fakten kann sie nicht erlangt haben. Grace hat sich im ganzen als gute Wärterin erwiesen, obgleich ihre Wachsamkeit durch einen Fehler, von dem nichts sie zu heilen vermag und der hauptsächlich ihrem aufreibenden Berufe entspringen wird, mehr als einmal eingeschläfert und zu Schanden gemacht worden ist. Die Tobsüchtige ist sowohl schlau wie boshaft; sie hat es niemals unterlassen von der zeitweiligen Nachlässigkeit ihrer Hüterin Gebrauch zu machen und auf ihre Weise Vorteil daraus zu ziehen. Einmal hat sie sich das Messer angeeignet, mit dem sie ihren Bruder verwundete, und zweimal bemächtigte sie sich des Schlüssels ihrer Zelle, um bei Nacht aus derselben zu entweichen. Bei der ersteren Gelegenheit machte sie den Versuch, mich in meinem Bette zu verbrennen; bei der zweiten machte sie dir den geisterhaften Besuch. Ich danke der Vorsehung, die über dir gewacht hat, daß sie ihre Wut an deinem bräutlichen Schmuck ausließ; vielleicht weckte sein Anblick Erinnerungen an ihre eigenen bräutlichen Tage in ihr. Aber ich wage nicht auszudenken,[494] was möglicherweise hätte geschehen können. Wenn ich an das Geschöpf denke, das mich heute Morgen an der Gurgel packte; wenn ich mir vorstelle, daß es sein schwarzblaues, blutrünstiges Gesicht über das Nest meines unschuldigen Lieblings, meiner Taube beugte – so beginnt das Blut in mir zu kochen.«

»Und was thaten Sie, Sir,« fragte ich, als er innehielt, »nachdem Sie sie hier untergebracht hatten? Wohin begaben Sie sich dann?«

»Was ich that, Jane? Ich verwandelte mich in einen Irrwisch. Wohin ich mich begab? Ich machte die wildesten Kreuz- und Querzüge. Ich durchsuchte den Kontinent und durchschweifte all seine Länder. Mein einziger Wunsch, meine fixe Idee war es, ein gutes, kluges Weib zu suchen und zu finden, das ich lieben könnte, den Gegensatz zu der Furie, welche ich in Thornfield zurückgelassen –«

»Aber Sie durften doch nicht heiraten, Sir!«

»Ich hatte beschlossen und war fest überzeugt, daß ich es durfte und mußte. Ursprünglich war es nicht meine Absicht zu täuschen, wie ich dich getäuscht habe. Ich gedachte meine Geschichte einfach zu erzählen und meinen Antrag offen zu machen; und mir erschien es so durchaus selbstverständlich, daß man mich für berechtigt ansehen werde zu lieben und geliebt zu werden, daß ich gar nicht daran zweifelte, ein Weib finden zu können, welches imstande sein werde, meine Lage recht zu verstehen und mich zu nehmen trotz des Fluches, der auf mir lastete.«

»Und nun, Sir?«

»Wenn du neugierig wirst, Jane, muß ich stets lächeln. Du öffnest die Augen wie ein aufgescheuchter Vogel und machst dann und wann eine ruhelose Bewegung. Es ist als kämen die Antworten und Aufklärungen dir nicht schnell genug und als wolltest du dem Sprecher bis ins innerste Herz sehen. Aber ehe ich fortfahre, mußt du mir sagen, was du mit deinem ›Und nun, Sir?‹ meinst. Es ist [495] eine kurze Redensart, die dir eigen ist, und die mich gar manchesmal zu endlosem Reden hingerissen hat; und ich weiß eigentlich nicht weshalb.«

»Ich meine: und was geschah dann? Was thaten Sie weiter? Welche Folgen hatte diese That?«

»Ganz recht. Und was möchtest du jetzt wissen?«

»Ob Sie eine fanden, die Sie liebten. Ob Sie sie zur Frau begehrten und was sie sagte.«

»Ich kann dir sagen, ob ich eine gefunden, die ich liebte und ob ich von ihr erbat, mich zu heiraten – doch was sie antwortete – das ruht noch in der Zeiten Schoße! Zehn lange Jahre irrte ich umher, bald lebte ich in einer Hauptstadt, bald in der anderen; zuweilen auch in St. Petersburg, doch häufiger in Paris; gelegentlich in Rom, Neapel und Florenz. Da ich einen Überfluß von Geld und obendrein noch einen alten Namen als passe-partout hatte, konnte ich mir meine Gesellschaft wählen. Kein Circle blieb mir verschlossen. Ich suchte mein Ideal einer Frau unter englischen Ladies, französischen Gräfinnen, italienischen Signoras und deutschen Baroninnen. Aber ich fand es nicht. Zuweilen, während eines flüchtigen Augenblicks glaubte ich einen Blick gesehen, einen Ton gehört, eine Gestalt erblickt zu haben, welche mir die Verwirklichung meines Traumes verhieß – aber schnell ward ich stets wieder enttäuscht. Du darfst jedoch nicht glauben, daß ich Vollkommenheit suchte, weder an Leib noch an Seele. Ich sehnte mich nur nach dem, was mir sympathisch war – nach dem entschiedenen Gegensatz der Creolin. Und zwischen all diesen fand ich nicht eine einzige, die ich – selbst wenn ich vollständig frei gewesen wäre – zum Weibe begehrt haben würde. Hatte ich doch die Gefahren, die Schrecken, den Fluch einer unpassenden Verbindung kennen gelernt! Enttäuschung machte mich wild und ruhelos. Ich versuchte es mit Zerstreuungen – jedoch niemals mit dem liederlichen Leben – das haßte ich stets und hasse es noch heute. [496] Dies war das Attribut meiner westindischen Messaline gewesen; eingewurzelter Widerwille gegen sie und gegen jegliche Ausschweifung legte mir stets Fesseln an. Jedes Vergnügen, das an Schwelgerei grenzte, schien mich ihr und ihren Lastern näher zu bringen. Deshalb vermied ich es ängstlich.

Und doch konnte ich nicht allein leben. So versuchte ich es denn mit der Gesellschaft von Maitressen. Die erste, welche ich nahm, war Cecile Varens – auch ein solcher Schritt, der einen Mann mit Selbstverachtung erfüllt, wenn er an ihn zurückdenkt. Du weißt ja bereits, was sie war, und wie meine Liaison mit ihr geendet hat. Sie hatte zwei Nachfolgerinnen, eine Italienerin, Giacinta, und eine Deutsche, Clara; beide waren außerordentliche Schönheiten. Aber was war ihre Schönheit noch für mich nach Verlauf von wenigen Wochen? Giacinta war leichtsinnig und heftig – nach drei Monaten war ich ihrer müde geworden. Clara war ehrlich und ruhig; aber schwerfällig, seelenlos und kalt. Durchaus nicht nach meinem Geschmack. Ich war nur zu froh, ihr eine hinlängliche Summe geben zu können, mit welcher sie sich ein einträgliches Geschäft gründete, und sie so auf anständige Weise los zu werden.

Aber Jane, ich sehe es deinem Gesicht an, daß du dir im letzten Augenblick keine sehr günstige Meinung von mir bildest. Du hältst mich für einen gefühllosen, leichtsinnigen Schurken – nicht wahr?«

»In der That, Sir, ich denke nicht mehr so groß von Ihnen, wie ich es einmal gethan. Dünkte es Sie denn durchaus nicht Unrecht, ein solches Leben zu führen – erst mit einer Maitresse und dann mit einer zweiten? Sie sprechen davon, als wenn es die allernatürlichste Sache der Welt wäre.«

»Das war es auch für mich. Aber ich verabscheute dies Leben. Es war eine niedrige Art des Daseins, es wäre mir nimmermehr möglich dazu zurückzukehren. Eine [497] Maitresse nehmen ist ungefähr dasselbe wie einen Sklaven kaufen; beide sind von Natur aus untergeordnete Wesen, und auf familiärem Fuße mit untergeordneten Geschöpfen leben ist erniedrigend. Ich hasse jetzt sogar die Erinnerung an die Zeit, die ich mit Celine, Giacinta und Clara verlebte.«

Ich empfand die Wahrheit dieser Worte; und ich zog aus ihnen die unumstößliche Gewißheit, daß wenn ich mich selbst und alle Lehren, die jemals in meine Seele und meinen Verstand gelegt, so weit vergäße, die Nachfolgerin dieser armen Geschöpfe zu werden – unter welchem Vorwande, welcher Rechtfertigung es auch sein möchte – er mich eines Tages mit denselben Empfindungen ansehen würde, welche jetzt das Andenken an sie in seinem Geiste entheiligte. Dieser Überzeugung verlieh ich jedoch nicht Ausdruck – es war genug, sie zu hegen. Ich prägte sie meinem Herzen ein, daß sie dort Wurzel fassen und mir in der Zeit der Versuchung als Stütze dienen möge.

»Nun, Jane, weshalb sagst du nicht wieder ›Und nun, Sir?‹ Ich bin noch nicht zu Ende. Du siehst so ernst aus. Ich sehe, du mißbilligst meine Handlungsweise noch immer. Aber laß mich zum wichtigsten Punkt kommen. Im letzten Januar, frei gemacht von allen Maitressen – in einer harten, verbitterten Stimmung, (das Resultat eines nutzlosen, umherschweifenden, einsamen Lebens) – aufgerieben durch Täuschungen, gereizt gegen alle Menschen, und besonders gegen das ganze weibliche Geschlecht (denn jetzt begann ich zu glauben, daß das Bild eines klugen, treuen, liebenden Weibes nur eine Traumgestalt sei) riefen Geschäfte mich nach England zurück.

An einem frostigen Winternachmittag tauchte Thornfield-Hall wieder vor meinen Blicken auf. Verhaßter Ort! Ich erwartete dort keinen Frieden – keine Freude. Auf einem Heckenweg in dem Heugäßchen sah ich eine kleine, einsame Gestalt sitzen. Ich ritt so nachlässig an ihr vorüber [498] wie an dem gekappten Weidenbaum an der andern Seite des Weges. Keine Ahnung warnte mich vor dem, was sie mir dereinst sein würde; kein Vorgefühl sagte mir, daß die Schiedsrichterin über Leben und Tod – mein guter oder böser Geist – dort in einfacher Gewandung auf mich warte. Ich wußte es selbst dann noch nicht, als sie bei dem Unfall mit Merrour an mich herantrat und mir demütig und bescheiden ihre Hilfe anbot! Kindliches, zartes Geschöpf! Es war als sei mir ein Hänfling vor die Füße gehüpft und hätte sich erboten, mich auf seinen gebrechlichen Flügeln zu tragen. Ich war unwirsch, aber das kleine Ding wollte nicht gehen. Es stand neben mir mit seltsamer Ausdauer und in Sprache und Blick lag etwas wie Überlegenheit! Ich mußte mir helfen lassen, und zwar durch jene Hand. Und sie half mir!

Als ich mich auf die zarte, gebrechliche Schulter gestützt hatte, kam etwas neues über mich – ein ungekanntes Gefühl bemächtigte sich meiner – ein anderes Blut durchfloß meine Adern. Es war gut, daß ich er fuhr, jene Elfe müsse zu mir zurückkehren – daß sie zu meinem Hause dort unten gehöre – oder ich hätte sie nicht wieder sich meiner Hand entwinden lassen, ich hätte es nicht ertragen, daß sie still und behende wieder hinter jener dicken Hecke verschwand.

Ich hörte dich an jenem Abend nach Hause kommen, Jane; obgleich du wahrscheinlich nicht wußtest, daß ich an dich dachte oder auf dich wartete. Am folgenden Tage beobachtete ich dich – selbst ungesehen – wie du während einer halben Stunde mit Adele in der Galerie spieltest. Ich erinnere mich dessen noch, es war ein schneeiger Tag, und ihr konntet nicht ins Freie gehen. Ich war in meinem Zimmer, die Thür war halb geöffnet, ich konnte sowohl hören wie sehen. Adele nahm deine äußere Aufmerksamkeit während einer Weile in Anspruch, und doch bildete ich mir ein, daß deine Gedanken anderswo seien.[499] Aber du warst sehr geduldig mit ihr, meine kleine Jane; du amüsiertest sie und unterhieltst dich lange genug mit ihr. Als sie dich endlich verließ, versankst du sofort in tiefe Träumereien; du begannst langsam in der Galerie auf- und abzuschreiten. Hier und da, wenn du an einem Fenster vorüber kamst, blicktest du hinaus auf den unablässig fallenden Schnee; du horchtest auf den heulenden Wind – und wieder begannst du leise hin und her zu gehen und zu träumen.

Ich glaube, jene wachenden Träume waren nicht düster; dann und wann leuchtete dein Auge freudig auf, eine sanfte Erregung bemächtigte sich deiner Züge – das war kein bitteres, galliges, hypochondrisches Brüten, deine Blicke verrieten eher das süße Grübeln der Jugend, wenn ihr Geist auf leichten Flügeln dem Fluge der Hoffnung folgt und einem idealen Himmel zustrebt. Die Stimme von Mrs. Fairfax, welche in der Halle sprach, rüttelte dich auf, und wie seltsam du über dich selbst lachtest, Jane! Es lag viel Sinn in deinem Lächeln; es war sehr fein und schien über deine eigene Geistesabwesenheit zu spotten. Es schien zu sagen: ›mein prächtigen Visionen sind wohl wunderbar, aber ich darf nicht vergessen, daß sie durchaus wesenlos sind.‹ In meinem Hirn trage ich einen rosigen Himmel und ein grünendes, blühendes Eden; aber ich weiß sehr wohl, daß hier draußen ein rauher Pfad vor meinen Füßen liegt, den ich durchwandeln muß, und daß um mich her sich schwarze Gewitterwolken zusammenballen, denen ich trotzen muß. Dann liefst du hinunter und batest Mrs. Fairfax, dir eine Beschäftigung zu geben, nämlich die Haushaltsrechnungen der Woche zu ordnen oder etwas Ähnliches. Habe ich nicht recht? Ich zürnte dir damals, daß du dich meinen Blicken entzogst.

Ungeduldig wartete ich auf den Abend, damit ich dich zu mir rufen lassen könne. Ich vermutete in dir einen neuen – für mich neuen – ungewöhnlichen Charakter. [500] Ich hegte den Wunsch ihn zu ergründen und ihn näher kennen zu lernen. Du tratest ins Zimmer mit einem Blick, der zugleich Bescheidenheit und Unabhängigkeit verriet. Du warst einfach gekleidet – ungefähr so wie jetzt. Ich brachte dich zum Sprechen – und es dauerte nicht lange, so fand ich, daß die seltsamsten Kontraste in dir waren. Deine Kleidung und deine Manieren waren durch die Norm eingeschränkt und beengt; deine Mienen und Betragen waren oft voll von Mißtrauen, aber durchaus verfeinert von Natur aus, wenn auch total ungewöhnt an Gesellschaft. Man fühlte es, wie sehr du fürchtetest, dich durch einen Mißgriff oder eine Ungeschicklichkeit unvorteilhaft auffallend zu machen; wenn man dich jedoch anredete, so erhobst du ein klares, unerschrockenes, mutiges Auge zu dem Gesicht des mit dir Redenden; in jedem deiner Blicke lag Kraft und Unterscheidungsgabe; wenn man dir verfängliche Fragen stellte, fandest du stets klare und sachgemäße Antworten. Sehr bald schienst du dich an mich zu gewöhnen – Jane, ich glaube du fühltest, daß zwischen dir und deinem grimmen, harten Herrn Sympathie existierte; denn es war erstaunlich zu sehen, wie schnell ein gewisses freudiges Behagen dein Wesen ruhiger stimmte; wie sehr ich auch brummte und murrte, du trugst weder Erstaunen, noch Furcht, Verstimmung oder Ärger über meine Unfreundlichkeit zur Schau. Du beobachtetest mich und lächeltest dann und wann mit einer einfachen aber klugen Anmut, die ich nicht zu beschreiben vermag. Ich war zugleich zufrieden und gereizt durch das, was ich sah. Mir gefiel, was ich gesehen hatte und ich wünschte mehr zu sehen. Und doch behandelte ich dich während langer Zeit kalt und suchte deine Gesellschaft nur selten. Ich war ein kluger Epikuräer und wünschte die Annehmlichkeit zu verlängern, welche das Machen dieser neuen und pikanten Bekanntschaft mir gewährte. Außerdem quälte mich eine Zeit lang eine qualvolle Furcht, daß der Schmelz von der Blüte fallen würde, [501] wenn ich zu sorglos mit ihr umginge – daß der süße Reiz ihrer Frische sich verlieren werde. Damals wußte ich ja noch nicht, daß es keine vergängliche Blüte sei, sondern das Ebenbild einer solchen aus einem unvergänglichen Edelstein geschnitten. Und überdies wollte ich sehen, ob du mich suchen würdest, wenn ich dich mied – aber das thatest du nicht; du hieltst dich immer im Schulzimmer auf, so still wie dein Schreibtisch, wie deine Staffelei. Wenn ich dir zufällig begegnete, gingst du mir so schnell und so fremd vorbei, wie es sich nur irgend mit den Gesetzen der Höflichkeit vereinbaren ließ. Dein gewöhnlicher Gesichtsausdruck in jenen Tagen, Jane, war ein gedankenvoller; nicht niedergeschlagen, denn du warst nicht krankhaft; aber auch nicht fröhlich, denn du hattest wenig Hoffnung und kein einziges wirkliches Vergnügen. Ich fragte mich verwundert, was du wohl von mir denken könnest, oder ob du überhaupt an mich dächtest – und um dies ausfindig zu machen, fing ich wieder an, dir Beachtung zu schenken. Es lag etwas Freundliches in deinem Blick, etwas Sympathisches in deiner Weise, wenn du dich unterhieltst; ich sah, daß du ein mitteilsames Herz hattest – es war also nur das stille Schulzimmer, das ewige Einerlei deines täglichen Lebens, das dich traurig machte. Ich gestattete mir die Freude, gütig gegen dich zu sein. Güte belebte dein Empfinden gar bald. Der Ausdruck deines Angesichts sänftigte sich, deine Stimme wurde weich; es erfüllte mich mit Wonne, wenn du meinen Namen in so dankbaren, glücklichen Lauten aussprachst. Es machte mir Vergnügen, wenn ich dich damals durch einen Zufall traf, Jane. In deinem Benehmen lag etwas eigentümlich Zauderndes; du blicktest mich mit leiser Unruhe an – ein zeitweiliger Zweifel: du wußtest ja nicht, welche Kaprice mich wiederum treiben mochte – ob ich wiederum den Herrn spielen und strenge und hart sein oder den Freund herauskehren und wohlwollend sein würde. Ich hatte dich [502] jetzt schon zu lieb gewonnen, um die erstere Rolle oft zu spielen; und wenn ich meine Hand freundlich ausstreckte, kam so viel Wonne und Licht und Farbe in deine jungen, traurigen Züge, daß ich mir oft Gewalt anthun mußte, um nicht die Arme auszubreiten und dich an mein volles Herz zu ziehen.«

»Sprechen Sie nicht mehr von jenen Tagen, Sir,« unterbrach ich ihn, indem ich verstohlen einige Thränen von meinen Wimpern trocknete. Seine Worte waren Todesqualen für mich, denn ich wußte, was ich thun mußte – und bald thun – und all diese Erinnerungen, diese Reminiscenzen machten mir meine Aufgabe nur noch schwerer.

»Nein, Jane,« erwiderte er, »wozu auch bei der Vergangenheit weilen, wenn die Gegenwart so viel Gewißheit bietet – wenn die Zukunft so hell und klar ist?«

Ein Schauder erfaßte mich, als ich diesen thörichten Ausspruch vernahm.

»Du siehst jetzt, wie die Sache steht – nicht wahr?« fuhr er fort. »Nachdem ich meine Jugend und meine Mannesjahre zur einen Hälfte in unsagbarem Elend, zur andern in trauriger Einsamkeit zugebracht, habe ich zum erstenmale gefunden, was ich wahrhaft lieben kann – habe ich dich gefunden. Du bist meine Sympathie – mein besseres Ich – mein guter Engel – ich hänge an dir mit einer starken Liebe. Ich glaube dich gut, begabt, klug, lieblich; eine glühende, eine heilige Leidenschaft wohnt in meinem Herzen; sie lehnt sich an dich, sie lenkt mein innerstes Sein, meinen Lebensquell zu dir, hüllt dich in mein ganzes Wesen ein – und indem sie in einer reinen, mächtigen Flamme auflodert, verschmilzt sie dich und mich in eins!

Weil ich dies fühlte und wußte, beschloß ich dich zu heiraten. Es ist leerer Hohn, mir zu entgegnen, daß ich bereit eine Gattin habe. Du weißt jetzt, daß ich nur [503] einen widerwärtigen, grauenhaften Dämon habe. Es war ein furchtbares Unrecht, daß ich versuchte, dich zu täuschen, aber ich fürchtete den Eigensinn, der in deinem Charakter liegt. Ich fürchtete früh eingeimpfte Vorurteile; ich wollte dich in Sicherheit bringen, bevor ich mich an jene vertraulichen Mitteilungen wagte. Dies war feige. Zuerst hätte ich an deine Großmut, deinen Edelsinn appellieren sollen, wie ich es jetzt thue – ich hätte mein ganzes Leben der Qual vor dir offenbaren sollen – dir meinen Hunger, meinen Durst nach einem höheren, würdigeren Dasein beschreiben müssen – dir gezeigt haben, nicht meinen Entschluß (das ist ein schwaches Wort), sondern mein namenloses, unwiderstehliches Verlangen treu und innig zu lieben, wo ich treue und innige Gegenliebe finde. Dann erst hätte ich dich bitten dürfen, mein Gelübde der Treue anzunehmen und mir das deine zu geben, Jane – gieb es mir jetzt.«

Eine Pause.

»Weshalb schweigst du, Jane?«

Ich litt Todesqualen; eine feurige Hand griff mir nach dem Sitz alles Lebens. Furchtbarer Augenblick, voll Kampf, Dunkelheit und Marter! Kein lebendes Wesen konnte eine heißere Liebe begehren als wie sie mir wurde, und ich betete den an, der mich so liebte! Dennoch mußte ich meinem Abgott, meiner Liebe entsagen!

Ein furchtbares Wort begriff meine entsetzliche Pflicht in sich: »Reise ab!«

»Jane, du verstehst doch, was ich von dir verlange? Nur dies Versprechen – ich will die Ihrige sein, Mr. Rochester.«

»Mr. Rochester, ich will nicht die Ihrige sein.«

Wieder langes Schweigen.

»Jane!« begann er wieder mit einer Sanftmut und Zärtlichkeit, die mich fast erstarren machte, die mich mit ihrem bedeutungsvollen Schrecken beinahe zu Stein verwandelte – denn diese ruhige Stimme war das Keuchen des erwachenden Löwen.

[504] »Jane, gedenkst du etwa deinen eigenen Weg im Leben zu gehen, während ich einen anderen einschlage?«

»Ja!«

»Jane,« indem er sich zu mir neigte und mich umarmte, »bist du wirklich dazu entschlossen?«

»Ja, das bin ich.«

»Und jetzt?« indem er mir Stirn und Wangen küßte.

»Noch immer –« indem ich mich vollständig und schnell aus seiner Umarmung frei machte.

»O, Jane, dies ist bitter! Dies ist – boshaft! Es wäre keine Sünde, mich zu lieben.«

»Es wäre aber Sünde, wenn ich Ihnen willfahrte.«

Ein wilder Blick aus seinen Augen traf mich – einen Augenblick verzerrten sich seine Züge. Er erhob sich, aber er beherrschte sich noch. Ich griff nach einem Stuhl, um mich zu stützen; ich bebte, ich fürchtete mich – aber ich blieb entschlossen.

»Noch einen Augenblick, Jane. Wirf nur einen Blick auf mein furchtbares Leben, wie es sein würde, wenn du mich verlassen solltest. Mit dir würde all mein Glück wieder von mir gehen. Was bleibt mir denn übrig? Als Gattin habe ich nur jene Tobsüchtige dort oben; ebensogut könntest du mich an einen Leichnam da drüben auf dem Friedhof weisen. Was soll ich thun, Jane? Wo eine Gefährtin suchen? Wo Hoffnung finden?«

»Thun Sie, was ich thue. Vertrauen Sie auf Gott und sich selbst. Glauben Sie an den Himmel und an eine Vereinigung da oben.«

»Du willst also nicht nachgeben?«

»Nein!«

»Du verdammst mich also dazu, unglücklich zu leben und mit Fluch beladen zu sterben?« – Seine Stimme wurde lauter und lauter.

»Ich rate Ihnen nur, sündenlos zu leben, und ich wünsche Ihnen ruhig zu sterben.«

[505] »Dann entreißt du mir also alle Liebe, alle Unschuld? – Du verweisest mich auf die Sinnlichkeit anstatt der Leidenschaft – du läßt mir nur das Laster als Beschäftigung?«

»Mr. Rochester, ich verweise Sie ebensowenig auf dieses Schicksal, wie ich selbst es für mich begehre. Wir sind geboren um zu kämpfen und zu leiden – Sie sowohl wie ich! Thun Sie es also. Sie werden mich früher vergessen als ich Sie.«

»Durch solche Sprache machst du mich zum Lügner, du beschmutzest meine Ehre. Ich erklärte dir, daß ich mich nicht verändern würde. Und du sagst mir gerade ins Gesicht, daß ich nur zu bald ein anderer sein würde. Und welche Verirrung deiner Vernunft, welche Verkehrtheit der Ideen bekundest du durch dein Verhalten! Ist es besser, einen Nebenmenschen zur Verzweiflung zu treiben, als ein Gesetz zu übertreten, das doch nur von Menschen gegeben ist – wenn niemand durch diese Übertretung geschädigt wird? Denn du hast weder Verwandte noch Freunde und Bekannte, die du verletzen könntest, indem du bei mir bleibst.«

Dies war wahr. Und während er sprach, wurden mein Gewissen und meine Vernunft an mir zu Verrätern und ziehen mich des Verbrechens, wenn ich ihm länger Widerstand leistete. Sie sprachen fast so laut wie mein Gefühl – und dieses schrie in seinem Jammer! »O, gieb nach!« flehte es. »Denk an sein Elend! Denk an seine Gefahr – sieh seinen Zustand an, wenn er allein bleibt; vergiß nicht seine wilde Natur; zieh die Ruhelosigkeit, den Leichtsinn in Betracht, der auf die Verzweiflung notwendig folgen muß – besänftige ihn – rette ihn – liebe ihn! Sag ihm, daß du ihn liebst und die Seine werden willst. Wer auf der ganzen Welt hat dich denn lieb? Wer außer ihm? Und wen würdest du durch deine That schädigen?«

Und unentwegt blieb die Antwort: »Ich liebe mich selbst. Je einsamer, je verlassener, je unbeschützter ich bin, desto mehr werde ich mich selbst achten. Ich werde das Gesetz [506] halten, welches Gott gegeben hat, die Menschen sanktioniert haben. Ich werde mich streng an die Grundsätze halten, die ich faßte, als ich noch bei Sinnen und nicht wahnsinnig war – wie ich es jetzt bin. Gesetze und Grundsätze gelten nicht allein für die Zeiten, in welchen keine Versuchung an uns herantritt; sie gelten für solche Augenblicke wie der jetzige, wenn Leib und Seele sich gegen ihre herbe Strenge empören; sie sind hart – aber sie müssen unverletzt bleiben. Wenn ich sie zu meiner persönlichen Bequemlichkeit übertreten darf – welchen Wert hätten sie dann? Sie haben einen Wert – das habe ich stets geglaubt, und wenn ich esjetzt nicht glauben kann, so ist es, weil ich wahnsinnig bin, – ganz wahnsinnig; in meinen Adern rollt Feuer, und mein Herz klopft so schnell, daß ich seine Schläge nicht mehr zählen kann. Vorgefaßte Meinungen, frühere Entschließungen sind alles, was mich in dieser Stunde standhaft macht; auf sie stütze ich mich!«

Und ich that es. Mr. Rochester, der in meinen Zügen las, sah, was geschehen war. Seine Leidenschaft erreichte den höchsten Grad. Er mußte ihr einen Augenblick nachgeben – komme was da wolle. Er schritt auf mich zu, faßte meinen Arm und packte mich um die Taille. Er schien mich mit den flammenden Blicken zu verschlingen! Physisch fühlte ich mich in diesem Augenblick so schwach, wie trocknes Stroh, das der Glut und dem Zug eines Hochofens ausgesetzt ist. Psychisch hatte ich noch meine Seele und in ihr das Gefühl der endlichen Sicherheit. Die Seele hat glücklicherweise einen Dolmetsch – oft einen unbewußten, immer jedoch einen getreuen Dolmetsch – das Auge! Mein Auge erhob sich zu dem seinen, und während ich in sein wild erregtes Antlitz schaute, stieß ich unwillkürlich einen Seufzer aus. Sein Griff war schmerzhaft und meine überbürdeten Kräfte fast erschöpft.

»Niemals,« sagte er, indem er mit den Zähnen knirschte, »niemals hat es ein Geschöpf gegeben, das zugleich so zart [507] und so unbezwinglich, so unbeugsam. In meiner Hand ist sie nur ein schwaches Rohr! (Und er schüttelte mich mit dem ganzen Aufgebot seiner Kräfte.) Ich könnte sie mit Daumen und Zeigefinger zerbrechen. Aber was würde es nützen, wenn ich sie zerbräche, sie zerrisse, zermalmte? Betrachte Einer das Auge! Betrachte Einer das entschlossene, wilde, freie Etwas, das mir daraus entgegenblickt, das mir trotzt mit mehr als Mut – mit wildem Triumph. Was ich auch mit der Hülle thun mag, zu diesem Etwas kann ich nicht gelangen. Wildes, schönes Geschöpf! Wenn ich dies zarte Gefängnis zerreiße, zersprenge, so würde das nur jenes gefangene Etwas befreien. Das Gehäuse könnte ich besiegen, aber der Insasse würde gen Himmel fliegen, bevor ich mich noch Besitzer jener Hülle aus irdischem Thon nennen könnte. Und du bist es doch, Geist – mit deinem Willen und deiner Energie, deiner Tugend und Reinheit, den ich haben will, nicht allein deine schöne Behausung. Wenn du nur wolltest, so könntest du aus eigenem Antriebe mit sanftem, leisem Flügelschlag kommen und dich an mein Herz schmiegen. Wollte ich dich gegen deinen Willen greifen, so würdest du dich meiner Hand wieder entwinden, wie zarter Blütenduft verraucht, ehe wir seinen Wohlgeruch eingeatmet haben. O, komm Jane, komm!«

Indem er dies sagte, ließ er mich los und blickte mich nur noch an. Es war viel schwerer, diesem Blick zu widerstehen, als seiner wahnsinnigen Umarmung. Doch nur eine Sinnlose wäre jetzt noch unterlegen. Ich hatte seiner Wut getrotzt und sie zu Schanden gemacht; seinen Kummer jedoch konnte ich nicht ertragen. Deshalb näherte ich mich der Thür.

»Gehst du, Jane?«

»Ich gehe, Sir.«

»Du willst mich verlassen?«

»Ja.«

»Du willst nicht zu mir kommen? – Du willst nicht [508] meine Trösterin, meine Erlöserin sein? – Meine tiefe, innige Liebe, mein wildes Weh, meine heißen Bitten – ist alles das nichts für dich?«

Welch eine unbeschreibliche Würde lag in seinen Tönen! Wie schwer war es, fest und entschlossen zu wiederholen: »ich gehe!«

»Jane!«

»Mr. Rochester!«

»So geh denn – ich willige ein – aber vergiß nicht, daß du mich hier in Todesqualen zurückläßt. Geh hinauf in dein Zimmer; denk nach über alles, was ich dir gesagt habe, und dann, Jane, wirf einen Blick auf mein Leiden – denk an mich!«

Er wandte sich ab, warf sich auf das Sofa und begrub das Gesicht in den Kissen!

»O, Jane! meine Hoffnung – meine Liebe – mein Leben!« rang es sich wie in Todesqual von seinen Lippen. Dann kam ein tiefes, herzzerreißendes Schluchzen.

Ich hatte die Thür schon erreicht, aber, mein Leser, ich ging wieder zurück! Ging zurück, ebenso entschlossen, wie ich fortgegangen war. Ich kniete neben ihm nieder; ich hob sein Antlitz vom Kissen zu mir empor, ich küßte ihm die Thränen von den Wangen und streichelte sein wildes Haar.

»Gott segne Sie, mein teurer Herr!« sagte ich. »Gott halte Sie von Unrecht und Sünde zurück! Er führe Sie, er tröste Sie! Und vor allen Dingen lohne er Sie für Ihre grenzenlose Güte gegen mich!«

»Die Liebe meiner kleinen Jane wäre mein bester Lohn gewesen,« entgegnete er, »ohne sie ist mein Herz gebrochen. Aber Jane wird mir ihre Liebe noch schenken! Sie wird edel, – sie wird großmütig sein!«

Das Blut strömte ihm zum Kopf. Seine Augen sprühten Flammen; er sprang auf und stand gerade vor mir. Er breitete die Arme aus. Doch ich entzog mich seiner Umarmung und – – verließ das Zimmer.

[509] »Leb wohl!« war der Aufschrei meines Herzens, als ich ihn verließ. Und die Verzweiflung fügte hinzu: »Leb wohl auf ewig!«


Ich hatte nicht geglaubt, daß diese Nacht mir Schlaf bringen würde; aber ein barmherziger Schlummer senkte sich auf meine Lider, als ich mich kaum niedergelegt hatte. Der Schlaf führte mich wieder zu den Scenen meiner Kindheit zurück. Mir träumte, ich läge im roten Zimmer in Gateshead; die Nacht war düster und eine seltsame Angst lastete auf meiner Seele. Das Licht, das mich vor langer Zeit ohnmächtig gemacht, spielte in diese Vision hinüber, es schien an der Wand empor zu ziehen und dann virbrierend an dem Mittelpunkt der düsteren Zimmerdecke zu weilen. Ich hob den Kopf empor, um zu sehen; der Plafond löste sich in Wolken auf, hoch und trübe. Der Schimmer war ein solcher, wie der Mond sie den Dünsten mitteilt, welche er zu durchbrechen im Begriffe steht. Ich sah, wie er aufging – ich beobachtete es mit seltsamer Erwartung, als müsse mein Urteil auf seiner Scheibe geschrieben stehen. Dann brach er hervor, wie noch niemals der Mond durch Wolken gebrochen ist: zuerst drang eine Hand durch die schwarzen Massen und schob sie zur Seite. Dann erschien in dem Azur – nicht der Mond – sondern eine weiße, menschliche Gestalt, welche ihre strahlende Stirn erdenwärts senkte. Sie blickte mich unverwandt an. Sie sprach zu meiner Seele, aus unermeßlicher Ferne kamen die Laute und doch waren sie so nahe. In meinem Herzen flüsterte es:

»Meine Tochter, fliehe die Versuchung!«

»Mutter, ich will!«

So antwortete ich, nachdem ich aus dem bewußtlosen Traum erwacht war. Es war noch Nacht. Aber Julinächte sind kurz; bald nach Mitternacht beginnt die Dämmerung.

»Es kann nicht zu früh sein, um mit der Aufgabe zu [510] beginnen, welche ich zu erfüllen habe,« dachte ich. Dann erhob ich mich vom Lager; ich war noch angekleidet, denn ich hatte mich nur meiner Schuhe entledigt. Ich wußte, wo ich in meiner Schieblade etwas Wäsche, einen Ring und ein Medaillon zu finden hatte. Während ich nach diesen Gegenständen suchte, gerieten meine Finger mit den Perlen eines Halsbandes in Berührung, welches Mr. Rochester mich vor einigen Tagen anzunehmen gezwungen hatte. Das ließ ich zurück. Es gehörte nicht mir; es gehörte der Braut, jenem Luftgebilde, das in nichts zerflossen war. Die anderen Sachen schnürte ich in ein Packet zusammen; meine Börse, welche zwanzig Schillinge enthielt – mein ganzes Besitztum – schob ich in die Tasche. Ich setzte meinen Strohhut auf, steckte meinen Shawl zusammen, nahm das Packet und meine Schuhe, die ich noch nicht anziehen wollte und schlich aus meinem Zimmer.

»Leben Sie wohl, gütige Mrs. Fairfax!« flüsterte ich, als ich an ihrer Thür vorüberglitt.

»Lebewohl, mein Liebling Adele!« sagte ich, als ich einen Blick auf die Thür des Kinderzimmers warf. Dem Gedanken hineinzugehen und sie zu umarmen durfte ich nicht Raum geben. Es galt ein feines Ohr zu täuschen! Wußte ich denn, ob es nicht in diesem Augenblick lag und horchte?

Ich würde auch an Mr. Rochesters Zimmer ohne Aufenthalt vorübergegangen sein; da jedoch mein Herz für einen Augenblick zu schlagen aufhörte, als ich an seiner Schwelle vorbeieilen wollte, war ich gezwungen, meine Schritte für eine Minute inne zu halten. – Da war kein Schlaf eingekehrt! Der Bewohner durchschritt ruhelos das Gemach von einem Ende zum andern; wiederholt stieß er einen tiefen Seufzer aus, während ich dort stand und horchte. In jenem Zimmer war mein Himmel – mein irdischer Himmel, wenn ich wollte! Ich brauchte nur hineinzugehen und zu sagen:

»Mr. Rochester, ich will Sie lieben und bei Ihnen bleiben [511] bis an das Ende unseres Lebens,« und ein Born der Wonne und des Entzückens würde sich in meine Seele ergießen.

Daran dachte ich.

Jener gütige Mann, mein Herr und Gebieter, der jetzt keinen Schlaf finden konnte, wartete mit Ungeduld auf den kommenden Tag. Am Morgen würde er nach mir schicken – dann war ich fort! Er würde mich suchen lassen – umsonst! Er würde sich verlassen fühlen, seine Liebe für verschmäht halten. Er würde leiden, vielleicht der Verzweiflung anheimfallen. Auch daran dachte ich. Meine Hand machte eine Bewegung nach der Thürklinke. Doch ich zog sie zurück und schlich weiter.

Traurig suchte ich meinen Weg nach unten. Ich wußte, was ich zu thun hatte und that es mechanisch. In der Küche suchte ich den Schlüssel zur Seitenthür; außerdem nahm ich eine kleine Flasche mit Öl und eine Feder, um den Schlüssel und das Schloß zu ölen. Ich trank ein wenig Wasser und nahm ein Stück Brot, denn vielleicht würde mein Weg ein weiter sein, und meine Kräfte, welche in letzter Zeit auf so harte Proben gestellt waren, durften mich nicht verlassen. Alles dies that ich ohne das leiseste Geräusch. Ich öffnete die Thür, ging hinaus und schloß sie leise. Trübe Dämmerung lag über den Hof gebreitet. Die großen Thore waren verschlossen; aber ein Seitenpförtchen in einem derselben war nur eingeklinkt. Durch dieses ging ich hinaus. Dann schloß ich es auch. Und jetzt lag Thornfield hinter mir.

Eine Meile von dort, hinter den Feldern, zog sich eine Straße hin, welche in die entgegengesetzte Richtung von Millcote führte; eine Straße, auf der ich noch niemals gefahren, die ich aber bemerkt, und bei deren Anblick ich noch oft verwundert gefragt, wohin sie wohl führen möge. Dorthin lenkte ich meine Schritte. Jetzt durfte ich keinem Nachdenken Raum geben; keinen Blick durfte ich zurückwerfen[512] – nicht einmal einen in die Zukunft thun. Keinen Gedanken durfte ich weder der Vergangenheit noch der Zukunft weihen. Erstere war ein Blatt im Buche des Schicksals, das so himmlisch süß – so tödlich bitter – daß es meinen Mut erschüttern würde, meine Energie vernichten, wenn ich auch nur eine Zeile darin lesen wollte. Letztere war eine grauenhafte Öde: etwas, das der Erde ähnlich, als die Sündflut vorüber war.

Ich ging an den Feldern entlang, an Hecken und Gäßchen, bis die Sonne aufgegangen war. Ich glaube, es war ein unendlich lieblicher Sommermorgen. Ich weiß noch, daß meine Schuhe, welche ich wieder angezogen, nachdem ich das Haus verlassen hatte, bald von Thau durchtränkt waren. Aber ich blickte weder zur Sonne empor, noch zu dem lächelnden Himmel, noch herab auf die erwachende Natur. Der Mensch, der auf einem schönen Wege zum Schaffot schreitet, denkt nicht an die Blumen, die am Grabesrand wachsen, sondern an den Block und das Beil; an die Trennung von Leib und Seele; an das gähnende Grab, das seiner harrt – und ich dachte an die traurige Flucht und an das heimatlose Umherwandern, und ach! mit Todesqual dachte ich an das, was ich zurückgelassen! Ich konnte nicht anders. Ich dachte jetzt an ihn, wie er ruhelos in seinem Zimmer hin- und herwanderte und auf den Sonnenaufgang wartete; wie er hoffte, daß ich bald kommen und ihm sagen würde, daß ich bei ihm bleiben und die Seine werden wolle. Ich sehnte mich danach, ihm anzugehören; ich war in Versuchung zurückzukehren. Noch war es nicht zu spät. Noch konnte ich ihm den bittern Schmerz der Trennung sparen. Ganz gewiß, noch war meine Flucht nicht entdeckt. Noch konnte ich zurückgehen und seine Trösterin sein – sein Stolz, seine Erlöserin aus tiefem Elend, vielleicht seine Retterin vom Verderben. O, jene Furcht vor seiner Vereinsamung – viel schlimmer als meine eigene – wie sie mich marterte! Es war ein [513] vergifteter Pfeil in meiner Brust, der mir alles zerriß, wenn ich versuchte, ihn herauszuziehen; er tötete mich fast, als die Erinnerung ihn mir noch weiter, bis zum Sitz alles Lebens, hineinstieß! In Feld und Busch begannen die Vögel zu singen; die Vögel waren einander treu, Vögel waren das Sinnbild der Liebe! Aber was war ich? Inmitten meiner Herzensqual, meiner verzweifelten Anstrengung, meinen Grundsätzen treu zu bleiben, verabscheute ich mich selbst. Ich hatte meinen Herrn beleidigt – gekränkt – verwundet – verlassen! Ich erschien mir hassenswert in meinen eigenen Augen. Und doch konnte ich nicht umkehren – nicht einen einzigen Schritt zurückthun. Gott mußte mich so geführt haben!

Leidenschaftlicher Kummer hatte meinen eigenen Willen vernichtet und mein Gewissen zum Schweigen gebracht. Ich vergoß wilde, heiße Thränen, als ich auf meinem einsamen Wege dahinschritt. Ich ging schnell, schnell wie ein Fieberkranker. Eine Schwäche, die von innen herauskam und sich meiner Glieder bemächtigte, befiel mich und warf mich zu Boden. Dort lag ich einige Minuten und drückte mein Gesicht in das nasse Gras. Ich hegte die Furcht – oder vielmehr die Hoffnung, daß ich hier liegen bleiben und sterben würde. Aber bald war ich wieder auf und kroch auf Händen und Füßen vorwärts. Endlich stand ich wieder auf den Füßen – fest entschlossen und begierig, die Landstraße schließlich zu erreichen.

Als ich sie erreicht, war ich gezwungen mich zu setzen und unter einer Hecke auszuruhen. Wie ich so dasaß, vernahm ich das Geräusch von Rädern und sah einen Wagen des Weges kommen. Ich stand auf und winkte mit der Hand. Der Wagen hielt an. Ich fragte, wohin er führe. Der Kutscher nannte einen weit entfernten Ort, von dem ich bestimmt wußte, daß Mr. Rochester dort keine Verbindungen habe. Ich fragte, für welche Summe er mich nach dort mitnehmen würde; er antwortete: für dreißig Schillinge; [514] ich entgegnete ihm, daß ich nur zwanzig besäße. Nun, er wolle sehen, ob er es nicht auch dafür thun könne. Dann erlaubte er mir noch, mich in das Innere des Wagens zu setzen, da er leer war. Ich stieg ein. Die Thür wurde zugeschlagen und – dann rollte ich fort.

Mein lieber Leser, mögest du niemals empfinden, was ich damals empfand. Mögen deine Augen niemals so stürmische, sengende, blutige Thränen vergießen, wie sie damals meinen Augen entquollen. Mögest du niemals den Himmel anflehen in Gebeten, die so hoffnungslos und so todesbetrübt, wie sie in jener Stunde von meinen Lippen kamen. Denn mögest du niemals, wie ich es that, fürchten, das Werkzeug zu werden, welches dem Menschen Böses zufügt, den du am meisten auf dieser Erde liebst!

Achtes Kapitel [2]

Achtes Kapitel

Zwei Tage sind vorüber. Es ist ein Sommerabend. Der Kutscher hat mich an einem Orte abgesetzt, der Whitcroß heißt. Für die Summe, die ich ihm gezahlt, konnte er mich nicht weiter mitnehmen, und auf der ganzen Welt besaß ich nicht einen einzigen Schilling mehr. Um diese Zeit ist der Wagen schon eine ganze Meile weit fort. Ich bin allein. Und jetzt entdecke ich, daß ich vergessen habe, mein Packet aus der Wagentasche zu nehmen, wohin ich es der größeren Sicherheit wegen gesteckt hatte. Dort bleibt es, dort muß es bleiben – und ich bin von allen Mitteln entblößt.

Whitcroß ist keine Stadt, nicht einmal ein Marktflecken; es ist nur ein steinerner Pfeiler, welcher dort aufgerichtet ist, wo vier Wege sich kreuzen; weiß angestrichen, damit er in der Ferne und in der Dunkelheit sichtbarer und in die Augen fallender ist, – wie ich vermute. Vier Arme gehen von seiner oberen Spitze aus; die nächstgelegene Stadt, zu welcher diese zeigen, ist der Inschrift nach noch zehn Meilen von hier entfernt; die am weitesten entfernte mehr [515] als zwanzig. Durch die wohlbekannten Namen dieser Städte erfahre ich, in welcher Grafschaft ich ausgestiegen bin. Eine nördliche Binnenland-Grafschaft, mit düsterem Moorland, von Bergen eingerahmt: dies sehe ich. Hinter mir und zu beiden Seiten von mir sind große Torfmoore; hinter jenem tiefen Thal zu meinen Füßen ziehen sich hohe Ketten von Bergen hin. Die Bevölkerung hier muß nur spärlich sein und ich sehe weder Fußgänger noch Reiter auf diesen Straßen; sie strecken sich nach Norden, Osten, Süden und Westen hin – hell, breit, einsam; sie alle sind über das Moor gelegt und das Haidekraut wächst wild und üppig bis an den Grabenrand. Und doch könnte zufällig ein Fußgänger vorüberkommen; ich aber wünsche keinem fremden Auge zu begegnen; man würde verwundert fragen, was ich hier thue, an den Wegweiser gelehnt, augenscheinlich ohne Ziel – verloren! Man könnte mich fragen und ich vermöchte nichts anderes zu antworten als was unglaublich klingt – und dann würde ich Argwohn erwecken. Kein einziges Band verknüpft mich in diesem Augenblick mit der menschlichen Gesellschaft – kein Reiz, keine Hoffnung ruft mich dorthin, wo meine Mitmenschen sind – niemand, der mich hier sähe, würde einen freundlichen Gedanken oder einen guten Wunsch für mich haben. Ich habe keinen Angehörigen außer unser aller Mutter, die Natur! Ich will mich an ihre Brust werfen und um Ruhe flehen!

Ich schritt direkt auf die Haide hinauf; ich hielt mich in einem kleinen Durchgang, welcher die braune Moorerde tief durchfurchte. Ich watete knietief in der dunklen Vegetation, ich folgte all seinen Biegungen und als ich einen moosbewachsenen Granitfelsen in einem verborgenen Winkel fand, setzte ich mich. Hohe Moordämme umgaben mich; die Klippe beschützte mein Haupt. Und über all diesem war der Himmel.

Es verging einige Zeit, bevor ich mich selbst hier sicher fühlte. Ich hatte eine unbestimmte Furcht, daß wilde Viehherden [516] in der Nähe sein könnten, oder daß ein Jäger oder ein Wilddieb mich entdecken könne. Wenn ein Windstoß über die Fläche fortfegte, so blickte ich erschreckt empor und meinte, es könne der ungestüme Anlauf eines Stiers sein; wenn ein Regenvogel pfiff, so glaubte ich, es seien menschliche Laute. Als ich indessen einsah, daß meine Befürchtungen unbegründet seien, und die tiefe Stille, welche beim Hereinbrechen der Nacht herrschte, mich beruhigte – da faßte ich Vertrauen.

Noch hatte ich nicht nachgedacht. Ich hatte nur gehorcht, gewacht, gefürchtet. Jetzt kehrte die Fähigkeit des Nachdenkens wieder.

Was sollte ich beginnen? Wohin mich wenden? O qualvolle, unerträgliche Fragen, wenn ich nichts beginnen, mich nirgendhin wenden konnte! Wenn meine müden, zitternden Glieder noch einen langen, langen Weg zurücklegen mußten, bevor ich menschliche Wohnungen erreichen konnte – wenn ich das kalte Mitleid in Anspruch nehmen mußte, bevor ich eine Unterkunft fand; widerstrebende Barmherzigkeit angerufen, herzlose Zurückweisungen ertragen werden mußten – ehe überhaupt jemand meine Geschichte anhören oder irgend einem meiner Bedürfnisse abgeholfen werden würde!

Ich berührte den Haideboden, er war trocken und noch warm von der Hitze des Sommertages. Ich blickte zum Himmel empor; er war klar; ein freundlicher Stern funkelte gerade über dem Gipfel der Felsenklippe. Der Thau fiel, aber glücklicherweise sehr schwach; nicht ein Windhauch störte die Ruhe. Die Natur schien mir gut und wohlwollend; ich glaubte, daß sie mich arme Ausgestoßene liebe. Und ich, die ich von Menschenkindern nur Mißtrauen zu erwarten hatte, Zurückweisung und Beleidigungen, ich klammerte mich mit kindlicher Zärtlichkeit an sie. Heute Nacht wollte ich wenigstens ihr Gast sein – wie ich ihr Kind war. Mutter Natur würde mir ja [517] Obdach gewähren ohne Geld, ohne Preis. Ich hatte noch einen kleinen Bissen Brot; der Rest einer Semmel, welche ich in einer Stadt gekauft, die wir um die Mittagszeit passiert, gekauft mit einem losen Pfennig – meinem letzten Geldstück. Hie und da sah ich reife Heidelbeeren, wie Jetperlen im Haidekraut; ich pflückte eine Handvoll davon und aß sie zu meinem Brote. Mein zuvor noch nagender Hunger war, wenn auch nicht gestillt, so doch gemildert durch dieses Einsiedlermahl. Zuletzt sagte ich mein Abendgebet und dann suchte ich mir mein Nachtlager.

Neben der Felsenklippe war das Haidekraut sehr hoch. Als ich mich niederlegte, waren meine Füße beinahe darin begraben; an beiden Seiten wuchs es so hoch, daß es fast über mir zusammenschlug und dem Hereindringen der Nachtluft nur wenig Raum gewährte. Ich legte meinen Shawl doppelt zusammen und breitete ihn wie eine Decke über mich; eine unmerkbare, moosige Erhöhung bildete mein Kopfpolster. So verwahrt, spürte ich wenigstens beim Beginn der Nacht keine Kälte.

Meine Nachtruhe wäre vielleicht ruhig gewesen, wenn ein gequältes Herz sie nicht unterbrochen hätte. Es klagte über seine blutenden Wunden, seinen inneren Schmerz, seine zerrissenen Saiten. Es zitterte für Mr. Rochester und sein Schicksal; es beklagte ihn mit tiefinnigem Mitleid; es verlangte nach ihm mit endloser Sehnsucht, und, hilflos wie ein Vogel, dem beide Flügel gebrochen, schlug es noch mit seinen zerstörten Schwingen und machte vergebliche Versuche, zu ihm zu fliegen.

Erschöpft durch diese Seelen- und Gedankenqualen erhob ich mich auf die Knie. Die Nacht war gekommen und ihre Planeten waren aufgegangen; eine schöne, stille Nacht, zu rein und klar, als daß man der Furcht hätte Raum geben können. Wir wissen, daß Gott allgegenwärtig ist; aber gewiß fühlen wir seine Gegenwart am deutlichsten, wenn seine größten und herrlichsten Werke im Glanze vor uns [518] ausgebreitet liegen. Und der unbewölkte Nachthimmel, an dem seine Welten ihren stillen Kreislauf vollenden, macht uns am meisten seine Unendlichkeit, seine Allmacht, seine Allgegenwärtigkeit empfinden! Ich hatte mich auf die Knie erhoben, um für Mr. Rochester zu bitten. Als ich mit thränenblinden Augen aufsah, erblickte ich die gewaltige Milchstraße. Indem ich mich dessen erinnerte, was sie eigentlich sei – welche zahllosen Systeme dort nur wie ein Lichtschein durch den Raum zogen – da fühlte ich die Macht und die Kraft Gottes. Ich war überzeugt von seiner Macht, das erhalten zu können, was er erschaffen hatte; ich war sicher, daß die Erde nicht untergehen könne, noch irgend eine Kreatur, die auf ihr lebte. Dann wandelte ich mein Gebet in eine Danksagung: der Quell des Lebens war auch der Erlöser der Seelen. Mr. Rochester war in Sicherheit; er war Gottes, und Gott würde ihn schützen!

Und ich legte mich wieder an die Brust der Erde und nicht lange dauerte es, so hatte ich im Schlaf allen Kummer vergessen.

Aber am nächsten Tage trat die Not bleich und hager an mich heran. Lange nachdem die kleinen Vögel ihre Nester verlassen hatten; lange nachdem die Bienen während der süßen Jugend des Tages den Honig aus den Haideblüten gesogen, bevor der Thau noch getrocknet – als die langen Schatten des Morgens kürzer wurden und die Sonne Himmel und Erde erfüllte – da erhob ich mich und blickte umher.

Welch ein stiller, warmer, herrlicher Tag! Welch eine goldene Wüste dieses weite Moor! Überall Sonnenschein! Ich wünschte, daß ich in ihm und von ihm leben könnte! Ich sah eine Eidechse über den Felsen huschen; ich sah eine Biene geschäftig zwischen den süßen Heidelbeeren. Wie gern wäre ich in diesem Augenblick Biene oder Eidechse gewesen; dann hätte ich hier hinreichende Nahrung, schützendes [519] Obdach gefunden. Aber ich war ein menschliches Wesen und hatte die Bedürfnisse eines menschlichen Wesens. Ich durfte nicht weilen, wo ich nichts fand, um sie zu befriedigen. Ich erhob mich und blickte zurück auf das Lager, das ich verlassen. Ohne Hoffnung für die Zukunft hegte ich nur den einen Wunsch: daß mein Schöpfer es für gut befunden hätte, während meines Schlafes dieser Nacht meine Seele von mir zurück zu fordern; und daß dieser müde Körper, durch den Tod von allen weiteren Kämpfen mit dem Schicksal befreit, jetzt ruhig der Verwesung anheim gegeben wäre und ungestört seinen Staub mit dem Staub dieser Wildnis vermischen könnte. Aber das Leben war noch immer mein! Das Leben mit seinen Erfordernissen, seiner Verantwortlichkeit und seinen Qualen. Die Bürde mußte getragen werden; die Bedürfnisse befriedigt, die Leiden ertragen werden, der Verantwortlichkeit genügt werden!

Ich machte mich auf den Weg.

Als ich Whitcroß wieder erreicht hatte, schlug ich einen Weg ein, welcher von der Sonne fortführte, die jetzt bereits hoch stand und glühend herabbrannte. Ich wollte meine Wahl durch keinen anderen Umstand bestimmen lassen. Lange ging ich vorwärts, und als ich endlich dachte, daß ich wohl genug geleistet und mit gutem Gewissen der Müdigkeit nachgeben könne, die mich beinahe überwältigte – daß ich dieses angestrengte Gebahren aufgeben könne und mich auf einen nahen Stein setzen dürfe, um mich widerstandslos der Apathie hinzugeben, die sich meines Körpers und meiner Seele bemächtigt hatte – da hörte ich eine Glocke erklingen – eine Kirchenglocke.

Ich wandte mich nach der Richtung, aus welcher der Schall kam, und dort, zwischen den romantischen Hügeln, deren Anblick und Abwechslung ich schon seit Stunden zu bewundern aufgehört hatte, sah ich einen Weiler und einen Kirchturm. Das ganze Thal zu meiner Rechten war voll [520] von Weiden, Kornfeldern und Wäldern; ein glitzernder Strom lief zickzack durch die verschiedenen Schattierungen der Wiesen, des reifenden Korns, der düsteren Wälder und der hellen, sonnigen Fluren. Das schwere Rollen von Rädern lenkte meine Gedanken wieder auf die vor mir liegende Straße; ich sah einen hochbeladenen Wagen hügelaufwärts streben und eine kurze Strecke dahinter erblickte ich zwei Kühe mit ihrem Treiber. Menschliches Leben und menschliche Arbeit waren mir also nahe. Ich mußte mich nun weiter schleppen, versuchen zu leben und zu arbeiten wie die Übrigen.

Gegen vier Uhr nachmittags kam ich in das Dorf. Am Ende seiner einzigen Straße war ein kleiner Laden mit einigen Semmeln und Broten im Fenster. Ich sehnte mich nach einem Laib Brot. Durch solche Erfrischung war es mir vielleicht möglich, einen gewissen Grad von Energie wieder zu erlangen; ohne dieselbe war es mir unmöglich weiter zu gehen. Der Wunsch nach Kraft und Stärke und Widerstandsfähigkeit kehrte zurück, sobald ich wieder unter meinen Mitmenschen war. Ich fühlte, daß es entehrend sei, an der Dorfstraße vor Hunger ohnmächtig zu werden. Besaß ich denn nichts, was ich jenen Leuten zum Tausch gegen eins jener Brote anbieten konnte? Ich dachte nach. Um den Hals hatte ich ein kleines, seidenes Tuch geschlungen; ich hatte auch Handschuhe. Wie sollte ich wissen, was Männer oder Frauen thaten, wenn sie an den äußersten Grenzen der Not angelangt waren? Ich wußte ja nicht, ob die Leute irgend einen dieser Gegenstände annehmen würden; wahrscheinlich würden sie es nicht thun – aber ich mußte es versuchen.

Ich trat in den Laden. Eine Frau war darin anwesend. Als sie eine anständig gekleidete Person sah, eine Dame wie sie vermutete, trat sie mit größter Höflichkeit vor. Womit sie mir dienen könne? Ich kam fast um vor Scham. Meine Zunge konnte die wohlvorbereitete Bitte nicht hervorstammeln. [521] Ich wagte nicht, ihr die abgenützten Handschuhe oder das zerdrückte Seidentuch anzubieten. Außerdem sah ich auch ein, daß es dumm sein würde. Ich bat sie nur um die Erlaubnis, mich einen Augenblick setzen zu dürfen, da ich sehr ermüdet sei. Getäuscht in ihrer Erwartung auf einen Kunden, gewährte sie meine Bitte fast widerstrebend. Sie zeigte auf einen Stuhl; ich brach darauf zusammen. Die Thränen waren mir nahe, und ich befand mich in der größten Versuchung, ihnen nachzugeben. Doch sah ich noch zu rechter Zeit ein, wie unvernünftig eine solche Kundgebung sein würde; deshalb hielt ich sie zurück.

Gleich darauf fragte ich sie, ob im Dorfe eine Schneiderin oder eine einfache Handarbeiterin sei.

Ja, zwei oder drei. Gerade so viele, wie dort Beschäftigung finden könnten.

Ich dachte nach. Ich war aufs äußerste gekommen. Ich sah der Not jetzt Aug' in Aug'. Ich hatte keine Hilfsquelle mehr! keinen Freund! kein Geld! Irgend etwas mußte geschehen. Aber was! An irgend jemand mußte ich mich wenden! Aber an wen?

»Ob sie von irgend einer Stelle in der Nachbarschaft wisse, wo eine Dienerin gebraucht werde?«

»Nein, sie wisse von keiner.«

»Welches der hauptsächliche Handel an diesem Orte sei? Womit die Mehrzahl der Leute sich beschäftige?«

»Einige seien Landleute; viele von ihnen arbeiteten in der Nadelfabrik von Mr. Oliver und in der Gießerei.«

»Ob Mr. Oliver auch Frauen beschäftige?«

»Nein, es sei Männerarbeit.«

»Und womit beschäftigten sich die Frauen?«

»Weiß nicht,« lautete die Antwort. »Einige thun dies, andere das. Arme Leute müssen zusehen, daß sie durchkommen.«

Sie schien meiner Fragen müde zu sein, und in der That, welches Recht hatte ich, sie zu belästigen? Ein oder [522] zwei Nachbarn traten ein. Augenscheinlich brauchte man meinen Stuhl. Ich verabschiedete mich.

Ich ging die Straße hinauf und im Vorübergehen blickte ich jedes Haus zur Linken und zur Rechten an. Aber ich konnte keinen Vorwand, keine Veranlassung finden, irgendwo einzutreten. Ich streifte im Dorfe umher; dann ging ich wieder ins Freie hinaus, um darauf eine Stunde oder später zurückzukehren. Völlig erschöpft und leidend durch den Mangel an Nahrung schlug ich einen Heckenweg ein und setzte mich unter die Hecke. Aber nur wenige Minuten vergingen und ich war wieder auf den Füßen; ich suchte immerwährend nach einem Ausweg oder doch nach jemandem, der mir Auskunft geben konnte. Ein hübsches, kleines Haus mit einem Garten davor stand am Ende des Gäßchens; der Garten war außerordentlich wohl gepflegt und prangte im schönsten Blumenflor. Ich stand still vor demselben. Wie durfte ich mich der weißen Thür nähern oder den blitzenden Klopfer berühren? Wie konnte es irgendwie in dem Interesse der Bewohner liegen, mir behilflich zu sein? Und dennoch trat ich näher und klopfte an. Eine sauber gekleidete, junge Frauensperson mit milden Gesichtszügen öffnete mir die Thür. Mit einer Stimme, von welcher man auf ein hoffnungsloses Herz und einen kranken Körper schließen konnte – einer leisen, stammelnden Stimme – fragte ich, ob man hier ein Dienstmädchen brauche.

»Nein,« sagte sie, »wir halten keine Magd.«

»Können Sie mir denn nicht sagen, wo ich Beschäftigung irgend welcher Art finden kann?« fuhr ich fort. »Ich bin hier fremd, ohne Bekannte oder Freunde am Ort.«

Aber es war nicht ihre Sache, für mich zu denken oder mir eine Stelle zu suchen. Überdies wie zweifelhaft mußten ihr mein Charakter, meine Lage, meine Erzählung erscheinen. Sie schüttelte den Kopf, »es thäte ihr leid, mir keine Auskunft geben zu können,« und die weiße Thür wurde geschlossen, [523] leise und höflich – aber ich war ausgeschlossen! Wenn sie sie noch eine kleine Weile offen gelassen hätte, so glaube ich, daß ich um ein Stückchen Brot gebeten hätte, denn jetzt war es zum äußersten gekommen.

Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, in das geizige, schmutzige Dorf zurückgehen zu müssen, wo sich mir außerdem keine Aussicht auf Hilfe darbot. Ich wäre lieber in einen Wald entwichen, den ich in nicht allzu großer Entfernung sah und der mir mit seinem dicken Schatten einladenden Schutz zu versprechen schien, aber ich war so krank, so schwach, so gemartert durch das natürliche Verlangen nach Nahrung, daß mein Instinkt mich fortwährend in der Nähe menschlicher Wohnungen hielt, wo ich durch Zufall doch vielleicht noch einen Bissen Brot erlangen konnte. Einsamkeit wäre ja keine Einsamkeit gewesen, – Ruhe keine Ruhe – während jener Geier »Hunger« so seine Krallen in meine Seiten schlug.

Ich näherte mich wieder Häusern; ich verließ sie und kehrte doch zurück. Dann wanderte ich von neuem fort, immer wieder fortgetrieben durch das Bewußtsein, daß ich kein Recht zu betteln habe – kein Recht zu erwarten, daß irgend jemand an meiner verzweifelten Lage Anteil nehme. Inzwischen neigte der Nachmittag sich seinem Ende zu, während ich wie ein verlorener, verlaufener Hund umherwanderte. Als ich über ein Feld ging, sah ich den Kirchturm vor mir; ich eilte näher. In der Nähe des Friedhofs, inmitten eines Gartens stand ein kleines aber schön gebautes Haus, welches ich sofort für den Pfarrhof hielt. Es fiel mir ein, daß Fremde, welche in einen Ort kommen, wo sie ohne jemanden zu kennen irgend eine Beschäftigung suchen, sich zuweilen um Rat und Hilfe an den Geistlichen wenden. Es ist das Amt des Priesters, denen zu helfen – wenigstens mit seinem Rat – welche sich selbst helfen wollen. Mir war's, als hätte ich etwas wie ein Recht, mir hier Rat zu holen. So belebte sich denn mein Mut von neuem und [524] indem ich den letzten schwachen Rest meiner Kräfte zusammen nahm, wanderte ich vorwärts. Ich erreichte das Haus und klopfte an die Küchenthür. Eine alte Frau öffnete.

Ich fragte, ob dies das Pfarrhaus sei.

»Ja.«

»Ob der Pfarrer zu Hause sei.«

»Nein.«

»Ob er bald nach Hause kommen würde.«

»Nein, er sei eine ziemliche Strecke vom Hause entfernt.«

»Sehr weit?«

»Nicht so sehr weit – vielleicht drei Meilen. Er sei durch den plötzlichen Tod seines Vaters abberufen; augenblicklich sei er in Marsh End und würde dort wahrscheinlich noch vierzehn Tage bleiben.«

»Ob denn nicht die Hausfrau da sei?«

»Nein, außer ihr niemand, und sie sei die Haushälterin.«

Aber von ihr, mein teurer Leser, konnte ich nicht Errettung aus der Not erflehen, die mich fast zu Boden sinken ließ. Noch vermochte ich nicht zu betteln. Ich kroch weiter.

Wieder löste ich mein kleines Halstuch – wieder fielen mir die kleinen Brötchen in dem Ladenfenster des Dorfes ein. Ach, nur eine Brotkruste! Nur einen Mundvoll, um mich von dem grausamen Hungertode zu erretten! Instinktmäßig wandte ich das Gesicht wieder dem Dorfe zu; ich fand den Laden und trat ein, und obgleich sich außer der Frau noch mehr Leute dort befanden, wagte ich doch die Bitte, ob sie mir nicht ein Brötchen für das Seidentuch geben wolle.

Mit augenscheinlichem Mißtrauen blickte sie mich an.

»Nein, sie sei nicht gewohnt, auf diese Weise ihre Ware an den Mann zu bringen.«

Fast verzweifelt bat ich um ein halbes Brot. Sie schlug es mir wieder ab. »Wie könne sie denn wissen, wie ich zu dem Ding gekommen sei?« sagte sie.

»Ob sie denn meine Handschuhe wolle?«

»Nein! Was sie damit anfangen solle?«

[525] Mein Leser, es ist nicht angenehm, bei diesen Details zu verweilen. Es giebt Leute, welche behaupten, daß es Freude gewähre auf qualvolle Erfahrungen der Vergangenheit zurück zu blicken; aber bis auf den heutigen Tag ist es mir schmerzlich, auf die Zeit zurückzusehen, von welcher ich spreche. Die moralische Herabwürdigung zusammen mit dem physischen Leiden bilden eine zu traurige Erinnerung, als daß man jemals gern bei ihnen verweilen möchte. Ich tadelte keinen von denen, die mich zurückwiesen. Ich fühlte, daß es nichts anderes sei, als was ich zu erwarten hatte und was nicht zu ändern war. Ein gewöhnlicher zerlumpter Bettler ist häufig ein Gegenstand des Mißtrauens; ein wohlgekleideter ist es unter allen Umständen stets. Allerdings war das, was ich erbat, Arbeit; aber wessen Sache war es denn, mir Arbeit zu verschaffen? Gewiß nicht die von Leuten, die mich zum erstenmale sahen und durchaus gar nichts über meinen Charakter wußten. Und was die Frau betraf, die mein Halstuch nicht in Tausch gegen ihr Brot nehmen wollte, so hatte sie unbedingt Recht, wenn das Anerbieten ihr verdächtig und der Tausch ihr nicht gewinnbringend erschien. Doch jetzt will ich mich kurz fassen. Der Gegenstand ekelt mich an.

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit kam ich an einem Meierhofe vorbei, an dessen geöffneter Thür der Pächter saß und sein Abendbrot verzehrte, das aus Brot und Käse bestand. Ich stand still und sagte:

»Wollen Sie mir ein Stück Brot geben? Ich binsehr hungrig.«

Er warf einen Blick des Erstaunens auf mich; aber ohne zu antworten, schnitt er eine derbe Schnitte von seinem Brot und gab sie mir. Ich vermute, daß er mich nicht für eine Bettlerin hielt, sondern nur für eine excentrische Dame, welche von einem plötzlichen Appetit auf sein Schwarzbrot befallen war. Sobald ich außer Sehweite war, setzte ich mich hin und begann zu essen.

[526] Ich durfte nicht hoffen, Zuflucht unter einem Dache zu finden, und deshalb suchte ich sie in dem Walde, den ich früher schon erwähnt habe. Aber es war eine fürchterliche Nacht, ich fand keine Ruhe. Der Erdboden war feucht, die Luft kalt; außerdem kamen Eindringlinge mehr als einmal an mir vorüber und ich hatte wieder und wieder mein Lager zu wechseln. Kein Gefühl von Ruhe oder Sicherheit kam über mich. Gegen Morgen regnete es. Der ganze folgende Tag war naßkalt. Bitte mich nicht, lieber Leser, dir genauen Bericht über diesen Tag abzustatten; wie zuvor suchte ich Arbeit; wie zuvor wurde ich abgewiesen; wie zuvor hungerte ich; nur einmal kam Nahrung über meine Lippen. An der Thür einer Hütte sah ich ein kleines Mädchen, das im Begriff stand, eine Schüssel voll kalten Haferbrei in den Schweinetrog zu schütten.

»Willst du mir das nicht geben?« bat ich.

Sie starrte mich an.

»Mutter,« rief sie dann aus, »hier ist ein Weib, das den Brei haben will.«

»Nun, Mädel,« erwiderte die Stimme von drinnen, »gieb ihn ihr, wenn es eine Bettlerin ist. Das Schwein braucht ihn nicht.«

Das Mädchen schüttete den steifen Brei in meine Hand und ich verschlang ihn gierig.

Als die naßkalte Dämmerung herabsank, hielt ich auf einem einsamen Reitwege inne, den ich schon seit länger als einer Stunde verfolgt hatte.

»Meine Kräfte verlassen mich jetzt gänzlich,« sagte ich im Selbstgespräch. »Ich fühle, daß ich nicht viel weiter gehen kann. Werde ich diese Nacht wieder eine Ausgestoßene sein? Muß ich mein Haupt auf den kalten, durchweichten Erdboden legen, während der Regen in Strömen herabfließt? Ich fürchte, es wird mir nichts anderes übrig bleiben, denn wer sollte mich aufnehmen? Aber es wird furchtbar sein; mit diesem Gefühl des Hungers, der Ohnmacht, [527] der Kälte, der Trostlosigkeit – dieser vollständigen Vernichtung aller Hoffnung. Aller Wahrscheinlichkeit nach würde ich noch vor Tagesanbruch sterben. Und weshalb kann ich mich denn nicht mit der Aussicht auf den Tod versöhnen? Weshalb kämpfe ich, um ein so wertloses Leben zurückzuhalten? Weil ich weiß oder glaube, daß Mr. Rochester noch lebt! Und dann ist es ein Schicksal, vor Hunger und Kälte zu sterben, dem die menschliche Natur sich nicht ruhig unterwirft.

O Vorsehung! halte mich nur noch ein wenig länger aufrecht! Hilf mir! Führe mich!«

Mein trübes Auge schweifte über die nebelige, verschwommene Landschaft. Ich sah, daß ich weit vom Dorfe fortgeirrt war; es war meinen Blicken gänzlich entschwunden. Auf Kreuzwegen und Nebenpfaden war ich noch einmal dem Moorlande wieder nahe gekommen, und jetzt lagen nur noch wenige Äcker, die fast ebenso wild und unfruchtbar waren wie die Haide, der sie vor kurzem erst abgerungen, zwischen mir und den nebeligen Bergen.

»Nun, ich will lieber dort drüben sterben, als an der Landstraße oder an einem verkehrsreichen Wege,« dachte ich. »Und besser, viel besser, daß Krähen und Raben – wenn es überhaupt Raben in diesen Regionen giebt – das Fleisch von meinen Knochen nagen, als daß sie in einen Armenhaussarg gelegt werden und in einem Schachtgrabe vermodern.«

So wandte ich mich also den Hügeln zu. Ich erreichte sie. Jetzt blieb mir nur noch übrig, eine Höhlung zu finden, in der ich mich verborgen, wenn auch nicht sicher fühlen konnte. Aber die ganze Oberfläche der Einöde sah eben aus. Es zeigte nur eine Abwechslung, die der Farbe grün, wo Binsen und Moose den Marschboden bedeckten, schwarz, wo der trockne Erdboden nichts trug als Haidekraut. Obschon es bereits dunkel wurde, konnte ich diese Unterschiede doch noch wahrnehmen, wenngleich sie sich auch nur als Abwechslung [528] zwischen Licht und Schatten kennzeichneten, denn die Farben waren mit dem Tageslicht geschwunden.

Mein Auge schweifte noch über die düsteren Anhöhen, und entlang dem Rande des Torfmoors, das sich in die wildeste Scenerie verlor, als plötzlich an einem entfernten Punkt, weit hinein zwischen den Marschen und Höhen ein Licht aufblitzte.

»Das ist ein ignis fatuus,« war mein erster Gedanke, und ich erwartete, daß es bald wieder verschwinden werde. Es brannte indessen ganz stetig; es kam weder näher, noch entfernte es sich. »Ist es denn ein Freudenfeuer, das soeben erst angezündet ist?« fragte ich weiter. Ich beobachtete, ob es sich weiter ausdehnen werde; aber nein; so wenig wie es größer wurde, verkleinerte es sich.

»Es wird Kerzenschein aus einem Hause sein,« vermutete ich dann, »aber wenn es auch der Fall, so werde ich es doch nimmer erreichen können. Es ist viel zu weit entfernt. Und selbst wenn es nur eine Klafter weit von mir wäre, was könnte es nützen? Ich würde doch nur an die Thür klopfen, um zu sehen, wie sie vor mir geschlossen wird.«

Und ich sank zusammen, wo ich stand und drückte das Gesicht gegen den Erdboden. Eine Weile lang lag ich still. Der Nachtwind zog über den Hügel und mich fort und starb ächzend in der Ferne dahin. Der Regen fiel unablässig und durchnäßte mich von neuem bis auf die Haut. Wenn ich nur hätte erstarren können in der freundlichen, barmherzigen Kälte des Todes – so hätte er auf mich herabrieseln mögen, ich hätte ihn nicht gefühlt; aber mein lebenswarmer Körper schauderte zusammen unter seinem erkältenden Einfluß. Es dauerte nicht lange, und ich erhob mich wieder.

Das Licht war noch immer da; es schien trübe aber beständig durch den Regen. Ich versuchte wieder zu gehen; ich schleppte meine erschöpften Glieder ihm langsam entgegen. [529] Es leitete mich schräge über den Hügel durch einen weiten Sumpf, der im Winter unpassierbar gewesen wäre und selbst jetzt im Hochsommer naß und unsicher war. Hier fiel ich zweimal. Aber ebenso oft erhob ich mich wieder und nahm von neuem den Rest meiner Kräfte zusammen. Dieses Licht war mein letzter Wagesatz im Hazardspiel des Lebens – ich mußte gewinnen!

Nachdem ich den Sumpf verlassen, sah ich eine weiße Spur über das Moor führen. Ich näherte mich ihr; es war eine Straße oder ein Pfad, der direkt auf das Licht hinführte, das mir jetzt zwischen einer Gruppe von Bäumen heraus von einer Art Spitze oder Gipfel herab entgegenschien. Die Bäume waren, so weit ich es in der Dunkelheit unterscheiden konnte, Tannen oder Fichten. Als ich näher kam, verschwand mein Stern; irgend ein Hindernis war zwischen ihn und mich getreten. Ich streckte die Hand aus, um die dunkle Masse vor mir zu fühlen; ich unterschied die rauhen Steine einer niedrigen Mauer – darüber etwas, das Palissaden glich, und innerhalb eine hohe und dornige Hecke. Ich tastete mich weiter. Wiederum leuchtete ein weißlicher Gegenstand vor mir; es war ein Thor – eine Pforte; sie bewegte sich in ihren Angeln, als ich sie berührte. Zu jeder Seite stand ein schwarzer Busch – Stechpalme oder Taxusbaum.

Als ich in die Pforte trat und an den Büschen vorüberging, erhob sich die Silhouette eines Hauses vor meinen Blicken. Schwarz, niedrig und ziemlich lang; aber das rettende Licht schien nirgends mehr. Alles war Dunkelheit. Hatten die Bewohner sich zur Ruhe begeben? Ich fürchtete, daß es so sei. Als ich die Thür suchte, kam ich um eine Ecke; da schoß der freundliche Lichtstrahl wieder empor aus den länglichen Scheiben eines kleinen, vergitterten Fensters, das nur einen Fuß hoch über dem Erdboden gelegen war; es war noch kleiner geworden durch die Ranken eines Epheus oder irgend einer anderen Schlingpflanze,[530] deren Blätter den ganzen Teil des Hauses bedeckten, in welchem diese Fensterhöhlung sich befand. Die Öffnung war so verwachsen und eng, daß man Vorhänge oder Fensterladen für unnötig erachtet hatte; und als ich mich hinabbeugte und die grünende Ranke beiseite schob, welche es bedeckte, konnte ich alles sehen, was drinnen vorging. Ich sah deutlich ein Zimmer mit einem reingescheuerten, sandbestreuten Fußboden; eine Kredenz von Nußholz, auf welcher zinnerne Teller in langen Reihen aufgestellt; diese waren so blank, daß der Glanz und der rote Schein eines Torffeuers sich in ihnen spiegelte. Ich konnte eine Uhr sehen, einen weißen Tisch von Tannenholz und einige Stühle. Das Licht, dessen Strahl mein Leuchtturm gewesen, brannte auf dem Tische; und bei seinem Schein strickte eine ältliche Frau, die ein wenig rauh aber peinlich sauber aussah, wie alles umher, an einem Strumpfe.

Ich bemerkte diese Dinge nur flüchtig – es lag nichts außergewöhnliches in ihnen. Am Herde saß eine Gruppe, die mehr Interesse in Anspruch nahm, wie sie sich meinem Auge so von rosigem Frieden und behaglicher Wärme umflossen darbot. Zwei junge, anmutige, weibliche Wesen – Damen in jeder Beziehung – saßen, die eine in einem Schaukelstuhl, die andere auf einem niederen Schemel; beide trugen tiefe Trauer in Crepp und Bombasin; dies düstere Gewand ließ ihre zarten Nacken und schönen Gesichter ganz besonders hervortreten; ein großer, alter Vorstehhund hatte seinen Kopf auf den Schoß des einen Mädchens gelegt; auf den Knieen der anderen lag eine schwarze Katze gebettet.

Welch ein seltsamer Aufenthalt war diese bescheidene Küche für solche Insassen! Wer waren sie? Unmöglich konnten sie die Töchter jener ältlichen Person am Tische sein; denn diese sah aus wie eine Bäuerin, und sie waren ganz Zartheit und Verfeinerung. Nirgend hatte ich Gesichter gesehen, welche den ihrigen glichen; und doch, wenn [531] ich sie ansah, war mir jeder einzelne Zug bekannt. Ich kann sie nicht schön nennen – für dies Wort waren sie zu blaß und zu ernst. Wie sie so dasaßen, jede über ein Buch gebeugt, sahen sie so gedankenvoll, ja, fast strenge aus. Ein Leuchtertisch zwischen ihnen trug eine zweite Kerze und zwei große, schwere Bücher, zu welchen sie häufig ihre Zuflucht nahmen; augenscheinlich verglichen sie sie mit den kleineren Bänden, welche sie in Händen hielten, wie Leute, die ein Diktionär zu Rate ziehen, daß es ihnen bei der Aufgabe des Übersetzens behilflich sei. Dies Bild war so ruhig, als seien alle Figuren nur Schatten und der hell erleuchtete Raum ein Bild; so still war es, daß ich die Asche durch den Rost fallen, die Uhr in ihrem dunklen Winkel ticken hören konnte; und ich bildete mir sogar ein, daß ich das Klappern der Stricknadeln jener alten Frau vernehmen könne. Als daher endlich eine Stimme diese seltsame Stille unterbrach, war sie mir deutlich und hörbar genug.

»Hör doch, Diana,« sagte eine der emsigen Leserinnen, »Franz und der alte Daniel sind bei Nachtzeit zusammen und Franz erzählt einen Traum, aus dem er mit Entsetzen erwacht ist, hör nur!« Und mit leiser Stimme liest sie etwas, wovon mir nicht ein einziges Wort verständlich war; denn es war in einer mir unbekannten Sprache – weder französisch noch lateinisch. Ob es griechisch oder deutsch, vermochte ich nicht zu sagen.

»Das ist stark und kräftig,« sagte sie, als sie zu Ende war, »es gefällt mir.«

Das andere Mädchen, welches den Kopf erhoben hatte, um der Schwester zuzuhören, wiederholte während sie in das Feuer starrte, eine Zeile von dem, was soeben gelesen war. In späteren Tagen lernte ich die Sprache und das Buch kennen; deshalb will ich hier die Zeile anführen, obgleich sie, als ich sie zuerst hörte, nur ein Schlag auf tönendes Erz für mich bedeutete, das keinen Sinn für mich hatte:

[532] »Da trat hervor einer, anzusehen wie die Sternennacht. Gut! Gut!« rief sie aus, während ihre tiefen, dunklen Augen funkelten. »Da siehst du einen mächtigen Erzengel in passender Gestalt vor dir stehen! Diese einzige Zeile ist mehr wert als hundert Seiten voll Bombast. ›Ich wäge die Gedanken in der Schale meines Zorns und die Werke mit dem Gewichte meines Grimms!‹ Das gefällt mir!«

Jetzt schwiegen beide wieder.

»Giebt es denn wirklich und wahrhaftig ein Land, wo die Leute so sonderbar reden?« fragte die alte Frau, indem sie von ihrer Arbeit aufsah.

»Ja Hannah, ein viel größeres Land als England, wo sie gar nicht anders reden.«

»Nun, meiner Seel, da begreif ich doch nicht, wie sie einander verstehen können; wenn nun eine von euch dorthin reiste – glaubt ihr, daß ihr jemand verstehen könntet?«

»Wahrscheinlich würden wir etwas von dem verstehen, was die Leute dort sprechen, wenn auch nicht alles – denn wir sind nicht so gelehrt, wie du meinst, Hannah. Wir sprechen nicht deutsch und wir können es nicht lesen, ohne ein Diktionär zur Hilfe zu nehmen.«

»Und was für Gutes habt ihr davon?«

»Wir beabsichtigen, es eines Tages zu lehren – oder doch wenigstens die Anfangsgründe, wie man es nennt; dann werden wir mehr Geld verdienen, als wir jetzt können.«

»Kann schon sein! Aber jetzt laßt das Studieren; für heute abend habt ihr genug gethan.«

»Ich glaube auch. Wenigstens bin ich müde. Mary, bist du es ebenfalls?«

»Todesmüde. Schließlich ist es doch schwere und zähe Arbeit, sich mit einer Sprache abzuplagen, ohne einen anderen Lehrer als das Lexikon zu haben.«

[533] »Das ist es wahrhaftig. Besonders eine Sprache wie dies harte aber herrliche Deutsch. Ich möchte wissen, wann St. John nach Hause kommen wird.«

»Gewiß wird er jetzt nicht mehr lange ausbleiben; es ist gerade zehn Uhr (dabei sah sie auf eine zierliche, goldene Uhr, die sie aus dem Gürtel zog). Es regnet heftig. Hannah, willst du so gut sein und nach dem Feuer im Wohnzimmer sehen?«

Die Frauen erhoben sich; sie öffnete eine Thür, durch welche ich undeutlich einen Korridor sehen konnte. Bald hörte ich, wie sie in einem inneren Zimmer ein Feuer anschürte. Gleich darauf kam sie zurück.

»Ach, Kinderchen!« sagte sie, »es wird mir gar so schwer, jetzt in jenes Zimmer zu gehen; es sieht so einsam und verlassen aus mit dem leeren Stuhl, der in den Winkel geschoben dasteht!«

Sie trocknete sich die Augen mit der Schürze. Die beiden jungen Mädchen, die vorher ernst ausgesehen, wurden jetzt traurig.

»Aber er ist an einem bessern Ort,« fuhr Hannah fort; »wir dürfen ihn nicht wieder her wünschen. Und dann, einen sanfteren Tod als er hatte, hat niemand.«

»Du sagst, daß er unserer gar nicht mehr erwähnt hat?« fragte eine der jungen Damen.

»Er hatte keine Zeit, Kinderchen, er hatte keine Zeit; es war vorüber in einer Minute, ja, in einer Minute. Er war nicht ganz wohl gewesen, wie Tags zuvor, aber es hatte nichts zu bedeuten; und als Mr. St. John ihn fragte, ob eine von euch geholt werden solle, da lachte er ihm gerade ins Gesicht, ja, gerade ins Gesicht. Am nächsten Tage fing es dann wieder mit der Schwere im Kopfe an – das sind nun ja schon vierzehn Tage her – und er fiel in Schlaf und wachte nimmermehr auf. Er war beinahe schon kalt, als Euer Bruder zu ihm ins Zimmer kam und ihn fand. Ach Kinderchen, das war der letzte [534] von dem alten Stamm – denn ihr und Mr. St. John seid von einer anderen Sorte als die, die schon fort sind. Eure Mutter hatte auch viel Ähnlichkeit mit euch und war beinahe ebenso gelehrt. Du bist ihr Ebenbild, Mary; Diana sieht ihrem armen Vater ähnlicher.«

Ich fand sie einander so ähnlich, daß ich nicht begreifen konnte, wo die alte Dienerin (denn jetzt begann ich sie für eine solche zu halten) irgend einen Unterschied zwischen ihnen fand. Beide hatten eine zarte Gesichtsfarbe und waren von schlanker Gestalt. Beider Gesichter verrieten Intelligenz und Distinktion. Das Haar der einen war allerdings um einen Schatten dunkler, und sie trugen es verschieden geordnet. Marys hellbraune Locken waren gescheitelt und fielen zu beiden Seiten der Schläfen herab; Dianas dunklere Flechten hingen in dichten Wogen über den Nacken.

Es schlug zehn Uhr.

»Ihr werdet gewiß euer Abendbrot wollen,« bemerkte Hannah, »und Mr. St. John wird seins auch verlangen, wenn er nach Hause kommt.«

Und sie begann die Mahlzeit vorzubereiten. Bis zu diesem Augenblick war ich so damit beschäftigt gewesen, sie zu beobachten, – ihre Erscheinung und Unterhaltung hatte ein so reges Interesse in mir wachgerufen, daß ich meine eigene verzweifelte Lage fast vergessen hatte. Jetzt fiel sie mir wieder ein. Durch den Kontrast erschien sie mir trostloser, entsetzlicher denn zuvor. Und wie unmöglich dünkte es mich, den Bewohnern dieses Hauses Teilnahme für mich einzuflößen; sie an die Wahrheit meiner Not und meines Jammers glauben zu machen – sie zu bewegen, daß sie mir eine kurze Rast unter ihrem Dache gewährten!

Als ich mich an die Thür getastet hatte und zögernd anklopfte, fühlte ich, daß der letzte Gedanke eine reine Chimäre sei.

Hannah öffnete.

»Was wollen Sie?« fragte sie mit erstaunter Stimme, [535] als sie mich beim Schein der Kerze, die sie in der Hand hielt, prüfend ansah.

»Darf ich mit Ihren Gebieterinnen sprechen?« fragte ich.

»Sagen Sie mir nur lieber, was Sie von ihnen wollen. Woher kommen Sie denn eigentlich?«

»Ich bin hier fremd.«

»Was haben Sie denn um diese Stunde hier zu suchen?«

»Ich bitte um Nachtquartier in einem Stalle oder sonst wo, und um ein Stückchen Brot.«

Mißtrauen – gerade die Empfindung, welche ich am meisten fürchtete, war auf Hannahs Gesicht zu lesen.

»Ich will Ihnen ein Stück Brot geben,« sagte sie nach einer Pause; »aber wir können einer Landstreicherin doch kein Obdach geben. Das ist doch nicht zu verlangen!«

»Lassen Sie mich mit den Damen sprechen!«

»Nein, gewiß nicht. Was könnten die für Sie thun? Sie sollten um diese Zeit nicht mehr so umherlaufen. Das sieht sehr verdächtig aus!«

»Aber wohin soll ich gehen, wenn ich hier auch fortgejagt werde? Was soll ich nur beginnen?«

»Ach! ich wette, Sie wissen schon, wohin Sie zu gehen haben und was Sie zu thun haben. Nehmen Sie sich nur in acht, daß Sie nichts Unrechtes thun! Sonst geht's mich nichts an. Hier ist ein Pfennig, und nun fort – –«

»Einen Pfennig kann ich nicht essen und ich habe keine Kraft weiter zu gehen. Ah! machen Sie die Thür nicht zu – thun Sie's nicht! Um Gottes willen nicht!«

»Ich muß; der Regen schlägt herein.«

»Sagen Sie den jungen Damen Bescheid. – Lassen Sie mich sie sehen.«

»Ganz gewiß nicht, nein, ganz gewiß nicht! Sie sind nicht, was Sie sein sollten, sonst würden Sie nicht solchen Lärm machen. Fort mit Ihnen! Schnell fort!«

»Aber ich muß sterben, wenn ich fortgejagt werde.«

[536] »Unsinn! Solches Volk stirbt nicht. Ich bin nur bange, daß Sie was Böses vorhaben. Wozu treiben Sie sich sonst um diese Zeit vor den Häusern anderer Leute umher? Wenn Sie vielleicht noch Helfershelfer haben – Einbrecher oder dergleichen, – die hier in der Nähe versteckt sind, so sagen Sie denen nur, daß wir nicht allein im Hause sind; wir haben einen Mann hier und Hunde und Flinten.«

Bei diesen Worten schlug die ehrliche aber unbeugsame Magd mir die Thür vor der Nase zu und verriegelte sie von innen.

Dies war das Letzte! Ein Weh der qualvollsten Art – ein Gefühl wahrer, echter Verzweiflung zerriß mir das Herz. Ich war vollständig erschöpft; ich konnte keinen Schritt mehr thun. Auf den nassen Steinstufen brach ich zusammen; ich stöhnte, ich rang die Hände – ich weinte in meiner Todesangst. O! dieses Gespenst des Todes! O! diese letzte Stunde, die mit all ihren Schrecken nahte! Ach! dieses Verlassensein – dieses Verstoßensein von meines Gleichen! Nicht allein den festen Anker eines Heims, nein, auch all meine Seelenkraft hatte ich verloren, wenn auch nur für einen Augenblick. Aber ich bemühte mich, letztere zurückzugewinnen.

»Ich kann nur noch sterben,« sagte ich, »und ich glaube an Gott. Laß mich versuchen, seinen Willen ergeben abzuwarten.«

Diese Worte dachte ich nicht nur, sondern ich sprach sie auch aus; und indem ich all mein Elend in mein Herz zurückdrängte, versuchte ich es dort einzuschließen – und stumm und still zu bleiben.

»Jeder Mensch muß sterben,« sagte eine Stimme in meiner Nähe; »aber nicht alle sind verurteilt, ein langsames oder vorzeitiges Ende zu finden, so wie das Ihre es sein würde, wenn Sie hier vor Mangel umkämen.«

»Wer oder was spricht?« fragte ich entsetzt bei den unerwartete Lauten; denn jetzt war ich nicht mehr imstande, [537] aus irgend einem Umstande Hoffnung auf Hilfe zu schöpfen. Eine Gestalt war nahe – welche Gestalt – das hinderte mich die stockfinstere Nacht und meine geschwächte Sehkraft zu unterscheiden. Mit lautem, langem Klopfen meldete der Neuangekommene sich an der Thür.

»Sind Sie es, Mr. St. John?« fragte Hannah.

»Ja, ja, mach nur schnell auf.«

»Ach, du meine Güte, wie kalt und durchnäßt Sie in einer solchen Nacht sein müssen! Kommen Sie nur herein! Ihre Schwestern haben schon große Angst um Sie. Und ich glaube gar noch, daß sich hier böse Gesellen umhertreiben. Eine Bettlerin ist hier gewesen – aber wahrhaftig, sie ist noch nicht fort! – hat sich hier hergelegt! – Steht auf! Es ist eine Schande. Fort! fort! sage ich noch einmal!«

»Still Hannah! Ich habe ein Wort mit dieser Frau zu sprechen. Du hast deine Pflicht gethan, als du sie ausschlossest, jetzt laß mich die meine thun, indem ich sie hereinlasse. Ich war in der Nähe und habe gehört, was ihr beide miteinander spracht. Ich glaube, dies ist ein ganz besonderer Fall – wenigstens muß ich ihn untersuchen. Junge Frau, stehen Sie auf und gehen Sie vor mir ins Haus.«

Mit der größten Schwierigkeit gehorchte ich ihm. Gleich darauf stand ich in jener reinlichen, hellen Küche – vor jenem Herd – zitternd, schwächer und schwächer werdend, wohl wissend, daß ich im höchsten Grade zerlumpt, gespenstisch, abschreckend aussah. Die beiden jungen Damen, ihr Bruder Mr. St. John und die alte Dienerin – alle starrten mich an.

»St. John, wer ist sie?« hörte ich die eine fragen.

»Ich weiß es nicht. Ich fand sie vor der Thür,« lautete seine Antwort.

»Sie sieht ganz weiß aus,« warf Hannah ein.

»So weiß wie Kreide oder der Tod,« antwortete jemand, »sie wird umfallen, laß sie niedersitzen.«

[538] Und in der Thar ward mir schwindlig, ich sank um, aber ein Stuhl nahm mich auf. Ich war noch im Besitz meiner Sinne, obgleich ich in diesem Augenblick nicht sprechen konnte.

»Vielleicht würde etwas frisches Wasser sie neu beleben. Hannah, hol ein wenig. Aber sie ist ja gänzlich erschöpft. Wie mager sie ist! Und nicht ein Tropfen Blut in den Wangen!«

»Ein wahres Gespenst.«

»Ist sie krank oder nur verhungert?«

»Verhungert, glaube ich. Hannah, ist das Milch? Gieb sie mir und ein Stück Brot dazu.«

Diana (ich erkannte sie an den langen Locken, welche ich zwischen mir und dem Feuer herabwallen sah, als sie sich über mich beugte) zerbröckelte ein wenig Brot, tunkte es in Milch und hielt es an meine Lippen. Ihr Gesicht war dem meinen ganz nahe. Ich sah das Mitleid darin und in ihren beschleunigten Atemzügen fühlte ich Sympathie. Aus ihren einfachen Worten sprach ebenfalls die balsamgleiche Rührung, als sie sagte: »Versuchen Sie zu essen.«

»Ja, versuchen Sie es,« wiederholte Mary sanft; und Marys Hand entfernte meinen durchnäßten Hut und hob meinen Kopf empor. Ich nahm von dem, was sie mir anboten, zuerst matt, dann aber gierig.

»Nicht zu viel mit einemmal – haltet sie zurück,« sagte der Bruder, »sie hat genug bekommen.« Und er nahm die Tasse mit Milch und den Teller mit Brot fort.

»Ein wenig noch, St. John – sieh doch die ängstliche Gier in ihren Augen.«

»Für den Augenblick nicht mehr, Schwester. Versuch, ob sie jetzt sprechen kann – frag sie nach ihrem Namen.«

Ich fühlte, daß ich sprechen konnte und ich entgegnete:

»Mein Name ist Jane Elliot.« Ich war besorgter denn je, Entdeckung zu vermeiden, und schon vorher hatte ich beschlossen, ein alias anzunehmen.

[539] »Und wo wohnen Sie? Wo sind Ihre Angehörigen, Ihre Freunde?«

Ich schwieg.

»Können wir irgend eine Person holen lassen, die Sie kennen?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Was für Auskunft können Sie uns über sich selbst geben?«

Seltsam! Seitdem ich die Schwelle dieses Hauses überschritten hatte und seinen Bewohnern von Angesicht zu Angesicht gegenüberstand, fühlte ich mich nicht mehr wie eine Ausgestoßene, wie eine Landstreicherin, die von der ganzen Welt geächtet ist. Ich hatte den Mut, die Bettlerin abzulegen und meine natürliche Art und Weise, meinen eigenen Charakter wieder anzunehmen. Jetzt begann ich, mich selbst wieder zu erkennen. Und als Mr. St. John einen Bericht verlangte – welchen zu geben ich für den Augenblick zu schwach war – sagte ich nach einer kurzen Pause:

»Sir, ich bin nicht fähig, Ihnen heute abend noch Näheres mitzuteilen.«

»Aber was erwarten Sie denn von mir, daß ich für Sie thun soll?« fragte er.

»Nichts!« entgegnete ich. Meine Kraft reichte nur für kurze Antworten hin. Diana nahm das Wort.

»Wollen Sie damit sagen, daß wir Ihnen jetzt alle Hilfe geleistet haben, deren Sie bedürfen?« fragte sie, »und daß wir Sie wieder hinaus in den Regen und auf den durchweichten Sumpf lassen können?«

Ich blickte sie an. Ich fand, daß sie ein bemerkenswertes Gesicht hatte, in dem sich Klugheit, Kraft und Güte vereinten. Plötzlich faßte ich Mut. Indem ich ihren mitleidigen Blick mit einem Lächeln beantwortete, sagte ich: »Ihnen will ich vertrauen. Wenn ich ein herrenloser, verlaufener Hund wäre, so weiß ich, daß Sie mich heute [540] abend nicht mehr aus Ihrem Hause jagen würden. Wie es nun ist, hege ich wirklich keine Furcht. Thun Sie mit mir und für mich, was Sie wollen; aber erlassen Sie mir das Reden – mein Atem ist kurz – ich fühle eine Art Krampf, wenn ich spreche.«

Alle drei beobachteten mich und alle drei verhielten sich schweigend.

»Hannah,« sagte Mr. St. John endlich, »laß sie dort für den Augenblick noch sitzen und richte keine Fragen an sie. Nach Ablauf von zehn Minuten gieb ihr den Rest von der Milch und dem Brote. Mary und Diana, laßt uns ins Wohnzimmer gehen und die Sache weiter überlegen.«

Sie zogen sich zurück. Sehr bald kehrte eine von den Damen zurück – ich konnte nicht unterscheiden welche. Eine Art angenehmer Bewußtlosigkeit bemächtigte sich meiner, als ich so neben dem belebenden Feuer saß. Mit leiser Stimme erteilte sie Hannah einige Befehle. Es dauerte nicht mehr lange, und ich vermochte mit Hilfe der Dienerin eine Treppe hinan zu steigen; meine durchnäßten Kleider wurden mir ausgezogen, und bald lag ich in einem trocknen, angenehm durchwärmten Bette. Ich dankte Gott – empfand trotz meiner unbeschreiblichen Erschöpfung ein Gefühl der innigsten Dankbarkeit – und schlief ein.

Neuntes Kapitel [2]

Neuntes Kapitel

An die drei Tage und Nächte, welche hierauf folgten, habe ich nur eine sehr schwache, verworrene Erinnerung bewahrt. Ich kann mir wohl einige Empfindungen zurückrufen, welche ich in der Zwischenzeit hatte; aber einen festen Gedanken vermochte ich nicht zu hegen; eine Handlung zu vollbringen war ich zu schwach. Ich wußte, daß ich mich in einem kleinen Zimmer, in einem schmalen Bette befand. An das Bett schien ich fest gewachsen zu sein. Bewegungslos wie ein Stein lag ich darin, und wenn man mich daraus entfernt hätte, so wäre das gleichbedeutend mit Tod[541] gewesen. Ich bemerkte nicht, daß die Zeit verging – ich wußte nichts vom Übergange des Morgens zum Mittag, des Mittags zum Abend. Ich bemerkte, wenn jemand ins Zimmer trat oder es wieder verließ; ich hätte sogar sagen können, wer sie waren; ich konnte verstehen, was gesprochen wurde, wenn der Redende in meiner Nähe stand, aber ich vermochte nicht zu antworten; es war mir ebenso unmöglich, ein Glied zu rühren, wie die Lippen zu bewegen. Hannah, die Dienerin, war meine häufigste Besucherin. Ihr Kommen störte mich. Ich hatte das Gefühl, als wünsche sie mich wieder fort; daß sie weder mich noch meine Verhältnisse begriff; daß sie ein Vorurteil gegen mich hege. Ein- oder zweimal täglich erschienen Diana und Mary im Zimmer. Sie flüsterten viel an meinem Bette, und ungefähr wie folgt:

»Ich bin froh, daß wir sie aufnahmen.«

»Ja. Sonst wäre sie am folgenden Morgen ohne Zweifel tot vor unserer Thür gefunden worden, wenn wir sie die ganze Nacht draußen gelassen hätten. Ich möchte nur wissen, was sie alles durchgemacht hat.«

»Seltene Trübsal und Entbehrungen, glaube ich – armes, verhungertes, bleiches Menschenkind!«

»Sie ist keine ungebildete Person, vermute ich, nach ihrer Sprache zu urteilen. Ihr Accent war sehr rein; und die Kleider, welche sie abgelegt hat, waren, wenn auch naß und schmutzig, so doch fein und wenig abgenützt.«

»Sie hat ein eigentümliches Gesicht; trotzdem es fleischlos und hager ist, gefällt es mir doch; und ich kann mir sehr gut vorstellen, daß ihre Physiognomie angenehm, wenn sie gesund und fröhlich und glücklich ist.«

In all ihren Gesprächen hörte ich niemals auch nur eine einzige Silbe des Bedauerns über die Gastfreundschaft, welche sie mir gewährt hatten; oder ein Wort der Abneigung oder des Mißtrauens gegen mich. Ich war also beruhigt.

[542] Mr. St. John kam nur einmal; er sah mich an und sagte, daß dieser Zustand der Lethargie das Resultat der Reaktion nach übermäßiger und anhaltender Ermüdung sei. Er erklärte es für unnötig einen Doktor holen zu lassen; es sei seiner Überzeugung nach am besten, wenn man der Natur ihren freien Lauf ließe. Er sagte, jeder Nerv sei auf irgend eine Weise aufs höchste angespannt, und daß das ganze System eine Zeit lang in einer Art Betäubung verharren müsse. Es sei durchaus keine Krankheit. Er glaube, daß meine Genesung, wenn sie einmal begonnen, eine sehr schnelle sein werde. Diese seine Ansichten sprach er in wenigen Worten aus, mit einer leisen, ruhigen Stimme. Und nach einer Pause fügte er in dem Ton eines Mannes, der wenig an erläuternde Bemerkungen gewöhnt ist, hinzu: »eine ziemlich ungewöhnliche Physiognomie; ganz entschieden trägt sie nicht das Gepräge der Gemeinheit oder der Gesunkenheit.«

»Weit entfernt davon,« entgegnete Diana. »Ehrlich gesprochen, St. John – mein Herz zieht mich zu der armen, kleinen Seele. Ich wollte, daß wir ihr für die Dauer nützlich sein könnten.«

»Das ist kaum anzunehmen,« lautete seine Antwort. »Ihr werdet finden, daß sie ein junges Mädchen ist, welches einen Streit mit seinen Angehörigen gehabt und diese dann unvernünftigerweise verlassen hat. Vielleicht gelingt es uns, sie jenen wieder zuzuführen, wenn sie nicht allzu eigensinnig ist; aber ich sehe Linien in ihrem Gesicht, die auf Widerstandskraft schließen lassen und mich skeptisch in Bezug auf ihre Lenksamkeit machen.«

Er stand und betrachtete mich während einiger Minuten, dann fügte er hinzu: »Sie sieht klug aus, aber sie ist durchaus nicht hübsch.«

»Sie ist so krank, St. John.«

»Krank oder gesund, häßlich wird sie immer sein. Jenen Zügen fehlt die Anmut und Harmonie der Schönheit durchaus.«

[543] Am dritten Tage fühlte ich mich besser; am vierten konnte ich sprechen, mich bewegen, im Bette aufsitzen und mich umdrehen. Es war wie ich vermutete um die Mittagsstunde, als Hannah mir ein wenig Grütze und einige geröstete Brotschnittchen brachte. Ich hatte mit Appetit gegessen, die Nahrung war gut – ihr fehlte zum erstenmal der fieberische Beigeschmack, welcher bis dahin alles vergiftet, was ich gegessen. Als sie mich verließ, fühlte ich mich neu belebt und verhältnismäßig stark, und bald darauf wurde ich der Ruhe müde, empfand ich den Wunsch nach Bewegung, nach Thätigkeit. Ich wollte aufstehen; aber welche Kleider sollte ich anlegen? Nur meine feuchten, beschmutzten Gewänder, in welchen ich auf dem Erdboden geschlafen hatte und auf dem Moor gefallen war? Ich schämte mich in solcher Kleidung vor meinen Wohlthätern zu erscheinen. Aber diese Demütigung blieb mir erspart.

Auf einem Stuhl neben meinem Bette lagen all meine eigenen Kleidungsstücke, aber rein und trocken. Mein schwarzseidener Rock hing an der Wand. Die Spuren des Schlammes waren davon entfernt, die Falten, welche durch die Nässe entstanden, waren geglättet: es sah durchaus anständig aus. Sogar meine Schuhe und Strümpfe waren gereinigt und wieder brauchbar gemacht. Alle Gegenstände zum Waschen im Zimmer, sogar Kamm und Bürste, um mein Haar zu ordnen. Nach einem sehr langwierigen Verlauf, bei dem ich mich alle fünf Minuten ausruhen mußte, war es mir gelungen, mich anzukleiden. Meine Kleider hingen lose auf mir, denn ich war sehr abgemagert; aber diese Mängel bedeckte ich mit einem Shawl, und endlich wieder sauber und anständig aussehend – kein Körnchen Schmutz, keine Spur von Unordnung, die ich so sehr haßte und die mich meinen Augen tief erniedrigte, haftete an mir – kroch ich die steinerne Treppe hinunter, mich fortwährend am Geländer haltend; ich gelangte in einen engen Korridor und fand gleich darauf meinen Weg in die Küche.

[544] Sie war voll von dem Duft frisch gebackenen Brotes, und ein großes, helles Feuer durchwärmte sie. Hannah war mit Backen beschäftigt. Es ist ja eine bekannte Sache, daß es am schwersten ist, Vorurteile aus solchen Herzen auszurotten, deren Boden niemals durch Erziehung urbar und fruchtbar gemacht worden; dort wachsen und wuchern sie fast wie das Unkraut zwischen Felsgestein. Hannah war in der That anfangs kalt und steif gewesen; seit kurzem hatte sie angefangen, ein wenig aufzutauen, und als sie mich nun sauber und anständig gekleidet eintreten sah, lächelte sie sogar.

»Was! Sie sind aufgestanden!« rief sie aus. »Da sind Sie also endlich besser? Wenn Sie wollen, dürfen Sie sich in meinen Stuhl am Herd setzen.«

Sie zeigte auf den Schaukelstuhl. Ich nahm ihn. Sie wirtschaftete in der Küche umher und warf mir von Zeit zu Zeit einen prüfenden Seitenblick zu. Indem sie einige Brote aus dem Backofen nahm, wandte sie sich zu mir und sagte derb:

»Haben Sie schon früher gebettelt, ehe Sie zu uns kamen?«

Einen Augenblick war ich empört; aber glücklicherweise fiel es mir ein, daß ich mich nicht ärgern dürfe, und daß ich in ihren Augen allerdings wie eine Bettlerin erscheinen müsse; daher antwortete ich ruhig, aber nicht ohne eine gewisse, markierte Schärfe:

»Sie irren sich, wenn Sie meinen, daß ich eine Bettlerin sei. Ich bin ebensowenig eine Bettlerin wie Sie oder Ihre jungen Gebieterinnen.«

Nach einer Pause sagte sie wieder: »Nun, das verstehe ich nicht. Sie haben doch kein Haus und kein Kupfer?«

»Daß ich kein Haus und kein Kupfer (ich vermute, daß Sie damit Geld meinen) besitze, macht mich noch immer nicht zur Bettlerin in Ihrem Sinne des Wortes.«

»Sind Sie denn büchergelehrt?« fragte sie gleich darauf.

[545] »Ja, sehr!«

»Aber Sie sind doch niemals in einer Pension gewesen?«

»Ich war acht Jahre hindurch in einer Pension.«

Sie riß die Augen weit auf. »Und dann können Sie sich nicht einmal selbst erhalten?«

»Ich habe mich selbst ernährt und hoffe, es sehr bald wieder zu können. Was wollen Sie denn mit diesen Stachelbeeren machen?« fragte ich, als sie einen Korb dieser Früchte herbeitrug.

»Kuchen davon backen.«

»Geben Sie sie mir, ich will sie auslesen.«

»Nein. Ich mag nicht, daß Sie etwas thun.«

»Aber ich muß mich doch mit irgend etwas beschäftigen! Geben Sie sie nur her!«

Endlich willigte sie ein und brachte mir sogar ein reines Handtuch, um es über mein Kleid zu breiten, »damit es nicht schmutzig werde,« wie sie sagte.

»Sie sind wohl nicht an Hausarbeit gewöhnt gewesen; das sehe ich an Ihren Händen,« bemerkte sie. »Wahrscheinlich sind Sie Schneiderin.«

»Nein, Sie irren. Und nun kümmern Sie sich nicht um das, was ich gewesen bin; zermartern Sie Ihren Kopf nicht länger über meine Angelegenheiten; sondern sagen Sie mir, wo ich mich eigentlich befinde, wie dieses Haus heißt.«

»Einige Leute nennen es Marsh-End, andere nennen es Moor-House.«

»Und der Herr, welcher hier wohnt, heißt Mr. St. John?«

»Nein, er wohnt nicht hier; er hält sich hier nur für einige Zeit auf. Wenn er zu Hause ist, dann ist er in seinem eigenen Hause, und das ist der Pfarrhof von Morton.«

»Das Dorf einige Meilen von hier?«

»Ja, ja.«

»Und was ist er?«

»Er ist Prediger.«

[546] Mir fiel die Antwort der alten Haushälterin im Pfarrhofe ein, als ich gebeten hatte, mit dem Prediger sprechen zu dürfen.

»War denn dies das Haus seines Vaters?«

»Ja, ja. Der alte Mr. Rivers wohnte hier, und sein Vater und sein Großvater, und sein Urgroßvater vor ihm.«

»Der Name dieses Herrn ist also Mr. St. John Rivers?«

»Ja, ja. St. John ist so etwas wie sein Taufname.«

»Und seine Schwestern heißen Diana und Mary Rivers?«

»Ja.«

»Ihr Vater ist tot?«

»Vor drei Wochen gestorben. Schlagfluß.«

»Sie haben keine Mutter?«

»Die ist schon lange Jahre tot.«

»Sind Sie schon lange in der Familie?«

»Ich bin schon dreißig Jahre hier. Hab' ja die drei Kinder allein auferzogen.«

»Das beweist, daß Sie eine treue und ehrliche Dienerin sein müssen. Die Gerechtigkeit will ich Ihnen doch widerfahren lassen, obgleich Sie mich eine Bettlerin genannt haben.«

Wieder sah sie mich ganz erstaunt an.

»Am Ende glaube ich doch, daß ich mich in meinen Gedanken über Sie ein bißchen geirrt habe,« sagte sie dann; »aber Sie müssen mir doch vergeben, denn es gehen ja so viele Betrügerinnen umher, daß man gar nicht vorsichtig genug sein kann.«

»Und,« fuhr ich in ziemlich strengem Ton fort, »Sie wollten mich von der Thür fortjagen, in einer Nacht, wo Sie nicht einmal einen Hund hätten hinausjagen dürfen.«

»Na ja! Es war hart, – aber was kann der Mensch thun? Ich dachte ja doch mehr an die Kinderchen, als an mich selbst. Die armen Dingerchen! Für sie sorgt niemand als nur ich. Muß ich da nicht so ängstlich sein?«

Für einige Minuten hüllte ich mich in ernstes Schweigen.

[547] »Sie dürfen aber nicht allzuschlimm von mir denken,« fing sie dann wieder an.

»Aber ich denke doch schlimm von Ihnen,« sagte ich, »und ich will Ihnen sagen weshalb. Nicht so sehr, weil Sie sich weigerten, mir Obdach zu geben oder mich für eine Betrügerin hielten, sondern weil Sie mir eben noch einen Vorwurf daraus machten, daß ich kein Haus und kein ›Kupfer‹ habe. Einige der besten Menschen, die jemals auf dieser Erde gelebt haben, sind ebenso arm gewesen wie ich es bin; und wenn Sie eine gute Christin wären, dürften Sie Armut nicht für ein Verbrechen halten.«

»Nein, das dürft ich nicht,« sagte sie. »Mr. St. John sagt mir das auch immer, und ich sehe ein, daß ich Unrecht hatte – aber jetzt, meiner Seel, denke ich auch anders von Ihnen als früher. Sie sehen ja wirklich aus wie eine anständige kleine Person.«

»Das ist genug – jetzt vergebe ich Ihnen. Geben Sie mir die Hand.«

Sie legte die schwielige, mehlige Hand in die meine; wieder zog ein Lächeln – diesmal sehr herzig und gutmütig – über ihr rauhes Gesicht, und von diesem Augenblick an waren wir Freunde.

Hannah liebte es augenscheinlich sehr zu schwatzen. Während ich die Beeren auslas, und sie den Teig zu dem Kuchen machte, fuhr sie fort, mir allerhand Einzelheiten über ihren verstorbenen Herrn und seine Gattin und die »Kinderchen« mitzuteilen, wie sie die jungen Leute unabänderlich nannte.

Der alte Mr. Rivers, sagte sie, sei ein einfacher Mann gewesen, aber ein Gentleman in jeder Beziehung, und aus einer so alten Familie, wie es kaum eine ältere gäbe. Marsh End hatte schon seit seiner Erbauung den Rivers gehört, und wie sie versicherte, »sei es viel älter als zweihundert Jahre, wenn es auch klein und bescheiden aussähe [548] und sich in keiner Weise mit Mrs. Olivers großem Herrenhause da unten in Morton Vale vergleichen könne. Sie erinnere sich aber noch sehr gut, wie sie Bill Olivers Vater als reisenden Nähnadelfabrikanten gesehen, und die Rivers seien schon Gentlemen in den Zeiten der Heinriche gewesen, wie jedermann sehen könne, wenn er sich nur die Mühe geben wolle, in den Kirchenbüchern von der Kirche zu Morton nachzublättern.« – Dennoch gab sie zu, »daß der alte Herr ganz wie andere Menschen gewesen sei, – nichts besonderes, aber toll im Jagen und in der Landwirtschaft und solchen Dingen.« Die Frau war anders gewesen. Sie beschäftigte sich viel mit Lesen und studierte immer, und die »Kinderchen« waren ihr ganz nachgeraten. Sie hatten ihresgleichen nicht in dieser Gegend; von dem Tag an, wo sie sprechen konnten, hatten sie beinahe schon angefangen zu lernen, und sie hatten schon immer »was so Apartes gehabt.« – Als Mr. St. John größer geworden, hatte er auf die Universität gehen und Prediger werden wollen, und die Mädchen, sobald sie die Schule verlassen, hatten Gouvernanten werden wollen, denn wie sie ihr erzählte, hatte Mr. Rivers vor mehreren Jahren durch den Bankrott eines Banquiers, dem er sein Vermögen anvertraut, einen großen Teil desselben verloren. Und da er ihnen kein Vermögen mitgeben konnte, wollten sie nun selbst für sich sorgen. Seit langer Zeit waren sie nur selten mehr im alten Heim gewesen, und jetzt hatte der Tod ihres Vaters sie auch nur für einige Wochen hergerufen, aber sie liebten Marsh-End und Morton und all diese Hügel und Thäler und Moore und Haiden so innig. Sie waren in London und vielen anderen großen Städten gewesen, aber immer hatten sie gesagt, der Heimat käme doch nichts gleich, und dann hatten sie sich einander so lieb und zankten nie und machten keinen Lärm. Sie meine, eine solche Familie, was Einigkeit beträfe, sei gar nicht mehr zu finden.

Nachdem ich mit meiner Arbeit des Beerenlesens zu Ende [549] war, fragte ich, wo die beiden jungen Damen und ihr Bruder jetzt seien.

»Nach Morton hinüber spaziert; aber in einer halben Stunde werden sie zum Thee zurück sein.«

Sie kehrten innerhalb der von Hannah angegebenen Zeit zurück und traten durch die Küchenthür ein. Als Mr. St. John mich sah, verbeugte er sich nur und ging vorüber; die beiden Damen verweilten, Mary drückte in wenigen Worten freundlich und ruhig ihre Freude darüber aus, daß ich wohl genug sei, um herunter zu kommen. Diana schüttelte den Kopf, indem sie meine Hand ergriff.

»Sie hätten meine Erlaubnis zum Herunterkommen abwarten sollen,« sagte sie. »Sie sehen noch so fürchterlich blaß aus – und so abgezehrt! Armes Kind! – armes Mädchen!«

Diana hatte eine Stimme, welche für mein Ohr wie das Girren einer Taube klang. Sie besaß Augen, deren Blick man nur mit Entzücken begegnen konnte. Ihr ganzes Angesicht war voll Reiz und Anmut. Marys Züge waren ebenso intelligent, – ebenso hübsch; aber der Ausdruck war zurückhaltender, und ihre Manieren, obgleich sanft, doch viel reservierter. Diana blickte und sprach mit einem gewissen Autoritätsbewußtsein; augenscheinlich hatte sie einen Willen. Es lag in meiner Natur, einer Überlegenheit wie der ihren mit Freuden nachzugeben und mich einem kräftigen Willen zu beugen, wo mein Gewissen und meine Selbstachtung es erlaubten.

»Und was haben Sie hier zu thun?« fuhr sie fort. »Dies ist kein Platz für Sie. Mary und ich sitzen zuweilen in der Küche, weil wir zu Hause gern einmal thun, was uns beliebt – aber Sie sind ein Gast und müssen ins Wohnzimmer kommen.«

»Ich fühle mich hier aber sehr behaglich.«

»Das kann nicht sein, mit Hannah, die umher wirtschaftet und Sie mit Mehl bestäubt.«

[550] »Außerdem erhitzt das Herdfeuer Sie auch zu sehr,« warf Mary hier ein.

»Gewiß,« fügte ihre Schwester hinzu. »Kommen Sie. Gehorsam müssen Sie sein.« Und indem sie meine Hand noch immer hielt, ließ sie mich aufstehen und führte mich in das innere Zimmer.

»Nehmen Sie dort Platz,« sagte sie, indem sie mich auf das Sofa niederdrückte, »während wir unsere Mäntel ablegen und den Thee bereiten, das ist noch eins von jenen Privilegien, das wir in unserem kleinen Ländchen ausüben: wir bereiten unsere eigenen Mahlzeiten, wenn wir Lust dazu haben, oder wenn Hannah Brot bäckt, Bier braut, wäscht oder bügelt.«

Sie schloß die Thür und ließ mich allein mit Mr. St. John, der mir gegenüber saß mit einem Buche oder einer Zeitung in der Hand. Prüfend ließ ich meine Blicke durch das Wohnzimmer schweifen; dann hefteten sie sich auf mein Gegenüber.

Das Wohnzimmer war ein ziemlich kleiner, außer ordentlich einfach ausgestatteter Raum; aber es war gemütlich, weil die peinlichste Sauberkeit darin herrschte. Die altmodischen Stühle waren blankpoliert und der Nußbaumtisch glänzte wie ein Spiegel. Einige seltsame, alte Porträts von Männern und Frauen vergangener Tage zierten die gemalten Wände. Ein Glasschrank enthielt einige Bücher und ein altes, wertvolles Porzellanservice. Im ganzen Zimmer waren keine überflüssigen Luxusgegenstände – nicht ein einziges neumodisches Möbelstück, außer zwei Arbeitskasten und einem Damenschreibtisch von Rosenholz; sonst sah alles, mit Einschluß des Teppichs und der Vorhänge aus, als sei es stets benutzt und stets geschont.

Es war nicht schwer, Mr. St. Johns Äußeres eingehend zu prüfen; er saß so still da, wie eins der dunklen Bilder an den Wänden. Sein Auge haftete fest auf den [551] Zeilen, welche er las, und seine Lippen waren versiegelt. Wäre er eine Statue anstatt eines Mannes gewesen, so hätte man ihn nicht leichter besichtigen können. Er war jung – ungefähr zwischen achtundzwanzig und dreißig – groß und schlank; sein Gesicht mußte jedes Auge fesseln; es war ein griechisches Antlitz mit ernsten Linien, eine gerade, klassische Nase, Mund und Kinn eines Atheners. Es ist allerdings selten, daß ein englisches Gesicht der Antike so nahe kommt wie das seine. Es war nicht zu verwundern, daß er sich über die Unregelmäßigkeit meiner Züge entsetzt hatte, da die seinen so überaus harmonisch waren. Seine Augen waren groß und blau mit langen, dunklen Wimpern; Locken blonden Haares fielen sorglos hie und da auf seine hohe Stirn, die fast so farblos wie Elfenbein.

Nicht wahr, mein teurer Leser, dies ist eine zarte Schilderung? Und doch machte der, den ich beschreibe, nicht den Eindruck einer sanften, nachgiebigen, eindrucksfähigen, milden Natur. Obgleich er so still dasaß, entdeckte ich doch Züge um seinen Mund, seine Stirn, seine Nase, welche meiner Wahrnehmung nach auf ruhelose, ungestüme, harte und heftige Elemente schließen ließen. Er sprach nicht ein Wort mit mir; er warf nicht einmal einen Blick auf mich, bis seine Schwestern wieder eintraten. Als Diana bei den Vorbereitungen zum Thee aus- und einging, brachte sie mir einen kleinen Kuchen, der auf der Platte des Backofens gebacken war.

»Essen Sie das jetzt,« sagte sie, »Sie müssen ja hungrig sein. Hannah sagt, daß Sie seit dem Frühstück nur ein wenig Grütze gegessen haben.«

Ich weigerte mich nicht, denn mein Appetit war ganz und voll zurückgekehrt. Mr. Rivers schloß sein Buch jetzt, näherte sich dem Tische und heftete seine blauen, bilder-ähnlichen Augen voll und fest auf mich, indem er Platz nahm. Jetzt lag eine unceremonielle Gradheit, eine prüfende, bestimmte Festigkeit in seinem Blicke, welche mir [552] zeigten, daß Absicht, nicht Gleichgiltigkeit ihn bis jetzt von der Fremden fern gehalten.

»Sie sind sehr hungrig,« sagte er.

»Das bin ich, Sir.« Es war meine Art – es war stets instinktiv meine Art gewesen – dem Kurzen mit Kürze, dem Geraden mit Geradheit zu begegnen.

»Es war ein Glück für Sie, daß ein leichtes Fieber Sie seit drei Tagen zum Fasten gezwungen hat; es wäre sehr gefährlich gewesen, wenn Sie gleich dem Verlangen Ihres Appetits nachgegeben hätten. Jetzt dürfen Sie essen, aber immer doch nur mäßig.«

»Ich hoffe, daß ich nicht lange auf Ihre Kosten essen werde,« war meine unhöfliche und durchaus unpassende Antwort.

»Nein,« sagte er kalt, »wenn Sie uns den Wohnort Ihrer Angehörigen mitgeteilt haben werden, so können wir ihnen schreiben, und Sie werden Ihrer Familie wiedergegeben.«

»Ich muß Ihnen rundweg erklären, daß es nicht in meiner Macht liegt, das zu thun, da ich weder ein Heim noch irgendwelche Anverwandte habe.«

Die drei blickten mich an, aber nicht mißtrauisch; ich fühlte, daß kein Mangel an Vertrauen in ihren Blicken lag, mehr eine Regung der Neugierde. Ich spreche besonders von den jungen Damen. Die Augen St. Johns, obgleich außerordentlich klar im buchstäblichen Sinne, waren im bildlichen Sinne schwer zu ergründen. Er schien sie mehr als Werkzeuge zu betrachten, um anderer Leute Gedanken zu erraten, wie als Mittel, seine eigenen zu verraten. Und diese Kombination von Zurückhaltung und Scharfsinn war bedeutend mehr geeignet, in Verlegenheit zu bringen, als zu ermuntern.

»Wollen Sie damit sagen,« fragte er, »daß Sie vollständig allein im Leben dastehen?«

[553] »Ja. Kein Land fesselt mich an irgend ein lebendes Wesen; ich habe kein Recht, die Aufnahme unter irgend ein Dach in ganz England zu beanspruchen.«

»Eine seltsame Lage in Ihrem Alter!«

Hier sah ich, wie er einen Blick auf meine Hände warf, die ich gefaltet vor mir auf den Tisch gelegt hatte. Ich wunderte mich über den prüfenden Blick. Aber seine Worte erklärten bald, was er suchte.

»Sind Sie niemals verheiratet gewesen? Sie sind Jungfrau?«

Diana lachte. »Aber sie kann ja kaum älter als siebzehn oder achtzehn Jahre sein, St. John,« sagte sie.

»Ich zähle beinahe neunzehn, aber ich bin nicht verheiratet, nein.«

Ich fühlte, wie eine dunkle Glut mein Gesicht überzog; denn durch die Anspielung auf eine Heirat waren bittere und aufreizende Erinnerungen wieder in mir wach geworden. Alle sahen meine Verlegenheit und meine Bewegung. Mary und Diana kamen mir zu Hilfe, indem sie ihre Blicke von meinem glutübergossenen Gesichte abwandten; aber der kalte, harte Bruder fuhr fort, mich anzustarren, bis der Kummer, den er mir dadurch bereitete, mir heiße Thränen entlockte.

»Wo haben Sie zuletzt gelebt?« fragte er dann.

»Du bist zu neugierig und fragst zuviel, St. John,« murmelte Mary leise; aber er lehnte sich über den Tisch und verlangte eine Antwort durch einen zweiten durchdringenden Blick.

»Der Ort, wo, und der Name der Person, mit welcher ich lebte, sind mein Geheimnis,« entgegnete ich bestimmt.

»Welches Sie nach meiner Ansicht ein Recht haben zu wahren, sowohl vor St. John wie vor jeder anderen Person,« bemerkte Diana ruhig.

»Und doch vermag ich Ihnen nicht zu helfen, wenn ich [554] nichts von Ihnen oder von Ihrer Lebensgeschichte weiß,« sagte er. »Sie bedürfen aber der Hilfe, nicht wahr?«

»Ja, ich bedarf ihrer und ich suche sie, insoweit Sir, daß ich einen wahren Menschenfreund suche, der mir Arbeit schafft, welche ich verrichten kann, und deren Ertrag mir die Mittel zum Leben giebt, wenn auch nur die allernotwendigsten.«

»Ich weiß nicht, ob ich ein wahrer Menschenfreund bin; aber ich bin Willens, Ihnen mit allen mir zu Gebote stehenden Kräften in der Ausführung eines so ehrlichen Vorsatzes zu helfen. Sagen Sie mir also vor allen Dingen, an welche Art von Arbeit Sie gewöhnt sind und was Sie leisten können.«

Jetzt hatte ich meinen Thee getrunken. Er hatte mich mächtig erfrischt; gerade so, als ob ein Riese Wein getrunken hätte. Er stärkte meine erschütterten Nerven und machte es mir möglich, diesem durchdringenden jungen Richter kräftig zu entgegnen.

»Mr. Rivers,« sagte ich, indem ich mich zu ihm wandte und ihn ansah, wie er mich, offen und ohne Furcht, »Sie und Ihre Schwestern haben mir einen großen Dienst geleistet – den größten, welchen ein Mitmensch dem andern leisten kann; Sie haben mich durch Ihre edle Gastfreundschaft vom Tode errettet. Diese mir erwiesene Wohlthat giebt Ihnen einen unbegrenzten Anspruch auf meine Dankbarkeit und bis zu einem gewissen Grade auch Anspruch auf mein Vertrauen. Ich werde Ihnen so viel von der Geschichte des Wanderers erzählen, den Sie beherbergt haben, wie ich es kann ohne meinen Seelenfrieden aufs neue zu gefährden – meine eigene geistige und körperliche Sicherheit so wie diejenige anderer.«

»Ich bin eine Waise; die Tochter eines Geistlichen. Meine Eltern starben, bevor ich sie kennen konnte. Ich wurde in Abhängigkeit erzogen, in einer gemeinnützigen Anstalt erzogen. Ich will Ihnen sogar den Namen des [555] Instituts nennen, in dem ich sechs Jahre als Schülerin und zwei als Lehrerin zubrachte – das Waisenasyl von Lowood in –shire; Sie werden davon gehört haben, Mr. Rivers. Der ehrwürdige Mr. Brocklehurst ist der Verwalter.«

»Ich habe von Mr. Brocklehurst gehört und ich kenne die Schule.«

»Vor ungefähr einem Jahre verließ ich Lowood, um Gouvernante in einer Familie zu werden. Ich hatte eine gute Stellung und war glücklich. Vier Tage bevor ich hierher kam, war ich gezwungen, die Stellung aufzugeben. Ich kann und darf die Veranlassung zu meiner Abreise nicht erklären, es wäre auch nutzlos – gefährlich, und würde überdies nicht glaubhaft klingen. Kein Tadel haftet an mir; ich bin ebenso frei von jeder Schuld wie irgend einer von Ihnen dreien. Unglücklich bin ich und werde es auch noch eine lange Zeit bleiben; denn die Katastrophe, welche mich aus dem Hause trieb, wo ich ein Paradies gefunden, war seltsamer und schrecklicher Art. Ich beobachtete nur zwei Dinge, als ich meine Flucht plante: Eile und Geheimnis; um diese zu sichern, mußte ich alles zurücklassen, was ich besaß, mit Ausnahme eines kleinen Pakets, welches ich in meiner Eile und Seelenangst aus der Kutsche zu nehmen vergaß, die mich nach Whitecroß geführt hatte. So kam ich denn von allen Mitteln entblößt in diese Gegend. Zwei Nächte schlief ich draußen in Gottes freier Natur, und zwei Tage wanderte ich umher, ohne die Schwelle einer menschlichen Wohnung zu betreten. Nur zweimal während dieser Zeit kam etwas Nahrung über meine Lippen; und als Sie, Mr. Rivers, es hinderten, daß ich vor Hunger und Mangel an Ihrer Thür umkam, indem Sie mich in Ihr Haus aufnehmen, hatten Hunger und Verzweiflung und Erschöpfung mich dem Tode nahe gebracht. Ich weiß, was Ihre Schwestern seitdem für mich gethan haben, denn während meiner anscheinenden Betäubung [556] war ich nicht immer besinnungslos, und ihrem echten, freiwilligen, ungeheuchelten Mitleid verdanke ich ebensoviel, wie Ihrer christlichen Barmherzigkeit.«

»Laß sie jetzt nicht mehr reden, St. John,« sagte Diana als ich innehielt; »wie du siehst, ist sie noch keiner Art von Aufregung gewachsen. Kommen Sie jetzt hier aufs Sofa und setzen Sie sich, Miß Elliott.«

Als ich dieses alias vernahm, schrak ich unwillkürlich zusammen; ich hatte meinen neuen Namen fast vergessen. Mr. Rivers, dem nichts zu entgehen schien, bemerkte es sofort.

»Sagten Sie nicht, Ihr Name sei Jane Elliott?« bemerkte er.

»Das sagte ich, und ich halte es für zweckmäßig, mich für den Augenblick so zu nennen; aber in Wirklichkeit ist das mein Name nicht, und wenn ich ihn höre, klingt er meinem Ohr fremd.«

»Sie wollen Ihren wahren Namen also nicht nennen?«

»Nein. Was ich am meisten fürchte, ist entdeckt zu werden; und ich vermeide jede Mitteilung, die dazu führen könnte.«

»Ich bin überzeugt, daß Sie daran ganz recht thun,« sagte Diana. »Jetzt aber, lieber Bruder, laß ihr in der That Ruhe.«

Als St. John jedoch einige Minuten nachgedacht hatte, fing er ebenso scharfsinnig und unerschütterlich von neuem an.

»Sie möchten nicht lange von unserer Gastfreundschaft abhängig sein – ich sehe, daß Sie so schnell wie möglich mit dem Mitleid meiner Schwestern abgethan haben möchten und vor allen Dingen mit meiner Barmherzigkeit; (ich merke den Unterschied, welchen Sie hier machen, sehr wohl und zürne Ihnen deshalb durchaus nicht – er ist nur gerechtfertigt) – Sie möchten gern unabhängig von uns werden?«

»Gewiß möchte ich das. Ich sagte es ja schon. Zeigen [557] Sie mir, wie ich arbeiten kann oder wie ich Arbeit finden kann, das ist alles, um was ich jetzt bitte, dann lassen Sie mich ziehen, und wenn es in die niedrigste Hütte ist – aber bis dahin gestatten Sie mir hier zu bleiben. Ich kann nicht noch einmal den Kampf mit den Schrecken der heimatlosen Armut aufnehmen.«

»In der That, Sie werden hier bleiben,« sagte Diana, indem sie ihre weiße Hand auf meinen Kopf legte.

»Sie werden bleiben,« wiederholte Mary in dem Ton anspruchsloser Aufrichtigkeit, der ihr eigen zu sein schien.

»Wie Sie sehen, macht es meinen Schwestern Freude, Sie hier zu behalten,« sagte Mr. St. John, »gerade so wie es ihnen Freude bereiten würde, einen halberfrorenen Vogel, den der winterliche Wind in ihr Fenster getrieben hat, zu hegen und zu pflegen. Ich allerdings bin mehr geneigt, Ihnen die Möglichkeit zu schaffen, für sich selbst zu sorgen, und ich werde mich auch bemühen, das zu thun. Aber merken Sie wohl auf, meine Sphäre ist eng begrenzt. Ich bin nur der Pfründenbesitzer einer armen Landgemeinde; meine Hilfe kann daher nur der allerbescheidensten Art sein. Wenn Sie also geneigt sind, das Wenige gering zu achten, so müssen Sie wirksamere Hilfe suchen, als ich Ihnen bieten kann.«

»Sie hat ja schon gesagt, daß sie jede ehrliche Arbeit verrichten will, deren sie fähig ist,« antwortete Diana für mich; »und du weißt, St. John, sie hat keine Wahl; sie ist gezwungen, mit so rauhen Menschen vorlieb zu nehmen wie du.«

»Ich will Schneiderin werden, ich will eine einfache Arbeiterin werden; eine Magd, eine Kinderwärterin, wenn sich nichts anderes findet,« antwortete ich.

»Recht so,« sagte Mr. St. John sehr kalt. »Wenn das Ihre Gesinnung ist, so verspreche ich Ihnen zu helfen, sobald ich Zeit und Mittel finde.«

Dann nahm er das Buch wieder auf, mit dem er vor[558] dem Thee beschäftigt gewesen. Ich zog mich bald zurück, denn ich war so lange außerhalb des Bettes gewesen und hatte soviel gesprochen, wie es der augenblickliche Zustand meiner Kräfte nur irgend erlaubte.

Zehntes Kapitel [2]

Zehntes Kapitel

Je näher ich die Bewohner von Moorhouse kennen lernte, desto besser gefielen sie mir. Nach wenigen Tagen hatte ich meine Gesundheit schon so weit wieder erlangt, daß ich den ganzen Tag über aufbleiben und sogar schon kurze Spaziergänge machen konnte. Ich konnte mich mit Diana und Mary in all ihre Beschäftigungen teilen, mich mit ihnen unterhalten soviel sie mochten, und ihnen helfen, wo und wann sie es mir gestatteten. In diesem Verkehr lag ein frisch belebendes Vergnügen, das ich hier zum erstenmale empfand – das Vergnügen, welches Gleichartigkeit des Geschmacks, der Gefühle und der Grundsätze uns stets gewährt.

Ich liebte die Lektüre, welche sie liebten, was ihnen Freude machte, entzückte mich; was sie billigten, verehrte ich. Sie liebten ihr von der Welt entlegenes Heim. Auch ich fand einen mächtigen und anhaltenden Reiz in dem kleinen, alten, grauen Gebäude mit seinem niedrigen Dache, seinen vergitterten Fenstern, seinen zerbröckelnden Mauern, seiner Allee von uralten Tannen, welche alle schief unter dem Druck der Gebirgsstürme empor gewachsen waren – mit seinem Garten voll Stechpalmen und Taxusbäumen, in dem nur die allerabgehärtesten Blumen zur Blüte kommen konnten. Sie hingen mit inniger Liebe an der rotblühenden Heide, in deren Mitte ihr Wohnsitz lag – an dem tiefen Thal, in welches der steinige Reitweg, der sich an ihrem Thor vorüberzog, hinunterführte und sich zuerst zwischen Farrenkraut bewachsenen Hügeln und dann zwischen den wildesten kleinen Waideplätzen hindurchschlängelte, welche je ein weites Heideland begrenzt oder einer Herde grauer[559] Moorlandschafe mit ihren kleinen Lämmern das Leben gefristet haben. Sie hingen mit vollständig enthusiastischer Liebe an dieser Landschaft, wie ich sagte. Und ich konnte das Gefühl verstehen und seine Wahrheit und Macht vermochte ich zu teilen. Ich empfand den fesselnden Zauber des Ortes. Ich empfand die Heiligkeit seiner Einsamkeit; mein Auge ergötzte sich an diesen Umrissen von Berg und Thal – an der wilden Färbung, welche Moos und Heiderosen und blumenbestreute Wiesen und prächtige Farrenkräuter und Granitfelsenklippen den Hügeln und der Ebene verliehen. All diese Einzelheiten waren für mich, was sie für sie waren – ebensoviele reine und süße Quellen der Freude. Der scharfe Wind und die leichte Briese; die rauhen und die halcyonischen Tage, die Stunde des Sonnenaufgangs und des Sonnenuntergangs; das Mondlicht und die wolkige Nacht – alles dies übte in diesen Regionen dieselbe Anziehungskraft auf mich aus, wie auf sie – nahm mich mit dem selben Zauber gefangen, der sie längst umstrickt hatte.

Auch im Hause stimmten wir so gut zusammen. Sie waren beide viel gebildeter und hatten mehr gelesen als ich, aber emsig folgte ich ihnen auf dem Pfade des Wissens, welchen sie schon vor mir betreten hatten. Ich verschlang die Bücher, welche sie mir geborgt hatten, und dann gewährte es mir die größte Befriedigung, am Abend das mit ihnen zu besprechen, was ich während des Tages gelesen hatte. Ihre Gedanken paßten genau zu den meinigen; ihre Ansichten teilte auch ich – kurzum, wir harmonierten in allem vollkommen.

Aber in unserem Trio gab es eine Erste, eine Anführerin. Das war Diana. Physisch übertraf sie mich bei weitem: sie war schön, sie war stark und kräftig. Ihr animalischer Geist hatte einen Überfluß von Leben, war von einer Widerstandsfähigkeit, die meine höchste Verwunderung erregte, während sie mein Begriffsvermögen überstieg. [560] Wenn der Abend begann, vermochte ich eine Zeitlang zu reden, aber wenn der erste Strom meiner Rede und meiner Lebhaftigkeit vorüber war, liebte ich es, mich auf einen Schemel zu Dianas Füßen zu setzen, meinen Kopf in ihren Schoß zu legen und abwechselnd ihr und Mary zuzuhören, während sie das Thema, welches ich nur flüchtig berührt hatte, gründlich erörterten. Diana erbot sich, mich deutsch zu lehren. Es war mir eine Freude, von ihr zu lernen; ich sah, daß das Amt einer Lehrerin für sie paßte und ihr angenehm war; das der Schülerin gefiel und paßte mir nicht weniger. Unsere Naturen ergänzten sich: gegenseitige Liebe der wärmsten Art war das Resultat davon. Sie entdeckten, daß ich malen konnte: augenblicklich standen ihre Bleistifte und Farbenkasten zu meiner Verfügung. Meine Geschicklichkeit, die in diesem einen Punkte größer war als die ihre, überraschte und entzückte sie. Mary konnte stundenlang sitzen und mir zusehen; dann nahm sie Unterricht bei mir, und eine folgsame, intelligente, fleißige Schülerin war sie in der That. So beschäftigt und in Anspruch genommen, gingen die Tage wie Stunden, die Wochen wie Tage hin.

Die Vertraulichkeit, welche so schnell und so natürlich zwischen seinen Schwestern und mir entstanden war, dehnte sich nicht auf Mr. St. John aus. Ein Grund der Kälte, welche zwischen ihm und mir herrschte, lag darin, daß er nur selten zu Hause war. Der größte Teil seiner Zeit schien durch Besuche bei den Kranken und Armen seiner weit zerstreuten Gemeinde in Anspruch genommen zu sein.

Weder Wind noch Wetter schien ihn an diesen seelsorgerischen Ausflügen zu hindern; sobald die Stunden seiner allmorgendlichen Studien vorüber waren, pflegte er – ob schön ob Regen – seinen Hut zu nehmen und, gefolgt von Carlo, dem alten Vorstehhund seines Vaters, sich auf seine Mission der Pflicht oder der Liebe zu begeben – ich weiß nicht in welchem Licht er sie betrachtete. Zuweilen, [561] wenn es ein sehr ungünstiger Tag war, pflegten seine Schwestern ihm Gegenvorstellungen zu machen. Dann sagte er wohl mit einem Lächeln, das mehrfeierlich als fröhlich war:

»Und wenn ich mich nun durch einen Windhauch oder ein paar Regentropfen von diesen leichten Aufgaben abhalten ließe, welche Vorbereitung wäre denn solche Trägheit für die Zukunft, welcher ich entgegengehe?«

Dianas und Marys gewöhnliche Antwort auf diese Frage waren ein Seufzer und einige Minuten anscheinend traurigen Sinnens.

Aber außer seiner häufigen Abwesenheit gab es noch ein zweites Hindernis für die Freundschaft mit ihm: er schien eine reservierte, abstrakte, sogar brütende Natur. Eifrig in seinen seelsorgerischen Pflichten, tadellos in seinem Leben und seinen Gewohnheiten, schien er sich doch nicht jenes Seelenfriedens zu erfreuen, jener inneren Zufriedenheit, welche der Lohn jedes echten Christen und thatkräftigen Menschenfreundes sein sollte. Oft wenn er abends am Fenster saß, sein Pult und seine Papiere vor sich, konnte er mit dem Lesen oder Schreiben innehalten, das Kinn in die Hand stützen und sich Gott weiß welchen Gedan ken hingeben. Daß diese indessen aufregend und unruhig waren, konnte man an dem häufigen Aufblitzen seiner Augen sehen.

Außerdem glaube ich nicht, daß die Natur ihm so viele Quellen der Wonne und des Entzückens bot, wie seinen Schwestern. Nur einmal, nur ein einziges Mal sprach er in meiner Gegenwart über den wunderbaren Reiz, welchen diese rauhen, schroffen Hügel auf ihn ausübten, und über die angeborene Liebe für das düstere Dach und die bemoosten Mauern, die er sein Heim nannte. Aber in seinen Worten lag mehr herbe Trauer, als sich mit dem Gefühl vertrug, dem er Ausdruck verlieh. Auch schien es mir stets, als durchstreife er Heide und Moor nicht um ihrer beruhigenden, tröstenden Stille und Einsamkeit willen – [562] als suche er sie nicht auf um der tausend friedlichen Freuden halber, die sie ihm doch hätten gewähren können.

Da er wenig mitteilsam war, so verging geraume Zeit, ehe ich Gelegenheit fand, sein Gemüt zu ergründen. Erst als ich ihn in seiner eigenen Kirche in Morton predigen hörte, bekam ich einen Begriff seiner Tiefe. Ich wollte, ich könnte jene Predigt beschreiben, aber das übersteigt meine Kraft. Ich vermag nicht einmal getreu den Eindruck wiederzugeben, den sie auf mich machte.

Sie begann ruhig. Und sie blieb auch bis zu Ende ruhig, was Vortrag und Laut der Stimme betraf – aber ein tiefempfundener, jedoch streng in den Grenzen gehaltener Eifer atmete bald aus jedem seiner deutlichen Worte und beflügelte seine nervöse Sprache. So wurde es zur Macht! Das Herz ward erschüttert, das Gemüt überwältigt durch die Kraft des Predigers – aber der Zuhörer ward nicht beruhigt. Das Ganze durchwehte eine seltsame Bitterkeit; ein Mangel an tröstender Sanftmut: starre Mahnungen an calvinistische Doctrinen – Berufung, Gnadenwahl, ewige Verdammnis – das alles kehrte häufig wieder, und jede Bezugnahme auf diese Punkte klang wie ein Urteilsspruch. Als er zu Ende war, empfand ich eine unbeschreibliche Traurigkeit, anstatt mich besser, ruhiger, aufgeklärter durch seine Rede zu fühlen; denn mir schien es – ich weiß nicht, ob andere dasselbe empfanden, – als ob die Beredsamkeit, welcher ich gelauscht hatte, einer Tiefe entsprang, wo der trübe Bodensatz der Enttäuschung lagerte, wo qualvolle Impulse ungestillten Sehnens und beunruhigenden Strebens tobten. Ich war überzeugt, daß St. John Rivers – rein und gewissenhaft und eifrig wie er war – doch noch nicht jenen göttlichen Frieden gefunden hatte, welcher über alle Vernunft geht; er hatte ihn ebensowenig gefunden, dachte ich, wie ich selbst; ich mit meinem geheimen, folternden Gram um mein zerstörtes Ideal, mein verlorenes Paradies – Gram, von dem ich in letzter Zeit nicht mehr [563] gesprochen, der mich aber gänzlich gefangen hielt und mich schonungslos beherrschte.

Inzwischen war ein Monat vergangen. Diana und Mary sollten Moor-House bald wieder verlassen und zu dem sehr verschiedenen Leben und Treiben zurückkehren, welches ihrer als Gouvernanten in einer großen, fashionablen Stadt im Süden Englands harrte; wo jede von ihnen eine Stelle in Familien innehatte, deren hochmütige, reiche Mitglieder sie nur wie armselige Dienerinnen betrachteten, keine ihrer ausgezeichneten Eigenschaften suchten oder kannten, und ihre hervorragenden Fähigkeiten nur so zu schätzen wußten, wie sie die Geschicklichkeit ihres Kochs oder den auserlesenen Geschmack ihrer Kammerfrauen zu würdigen verstanden.

Mr. St. John hatte noch nicht eine Silbe mit mir über die Stellung gesprochen, welche er mir zu verschaffen gelobt; und doch wurde es jetzt dringend notwendig, daß ich einen Beruf irgend welcher Art erwählte. Als ich eines Morgens mit ihm allein gelassen war, faßte ich den Mut, mich der Fenstervertiefung des Wohnzimmers zu nähern, welche sein Tisch, sein Schreibpult und sein Stuhl zu einer Art von Studierzimmer geweiht hatten, und ich war im Begriff zu sprechen, obgleich ich noch nicht recht wußte, in welche Worte ich meine Frage kleiden sollte – denn es ist zu allen Zeiten schwierig, das Eis der Zurückhaltung zu brechen, in welches derartige Naturen sich zu hüllen pflegen – als er mich der Mühe überhob, indem er derjenige war, welcher das Zwiegespräch begann.

Er blickte auf, als ich mich ihm näherte und sagte: »Sie wollen eine Frage an mich richten?«

»Ja; ich möchte wissen, ob Sie von irgend einer Arbeit gehört haben, zu deren Verrichtung ich mich erbieten könnte.«

»Schon vor drei Wochen fand oder plante ich etwas für Sie; da Sie hier aber glücklich schienen und sich nützlich machten, da meine Schwestern Sie augenscheinlich lieb [564] gewonnen hatten und Ihre Gesellschaft den beiden außerordentliche Freude gewährte, so hielt ich es nicht für ratsam, Ihr gegenseitiges Wohlbehagen früher zu stören, als ihre nahe bevorstehende Abreise von Marsh-End auch die Ihre notwendig machen würde.«

»Sie reisen aber schon in drei Tagen ab,« entgegnete ich.

»Ja, und wenn sie reisen, kehre ich nach dem Pfarrhause von Morton zurück. Hannah wird mich begleiten, und dies alte Haus wird zugeschlossen.«

Ich wartete einige Augenblicke, da ich hoffte, er würde fortfahren, über den zuerst erwähnten Gegenstand zu sprechen; er schien jedoch in einen anderen Gedankengang hineingeraten zu sein. Sein Blick verriet mir, daß er weit von mir und meiner Angelegenheit abgeschweift war. So war ich denn gezwungen, ihn auf ein Thema zurückzubringen, welches notwendigerweise für mich von großer und angstvoller Bedeutung war.

»Und welches war die Beschäftigung, Mr. Rivers, welche Sie für mich im Auge hatten? Ich hoffe, daß dieser Aufschub nicht die Schwierigkeit noch vergrößert hat, sie für mich zu sichern?«

»O nein. Da es eine Beschäftigung ist, welche nur ich zu vergeben, und Sie nur anzunehmen haben.«

Hier hielt er wieder inne. Nur widerstrebend schien er fortzufahren. Ich wurde ungeduldig. Ein oder zwei unruhige Gesten, ein ängstlicher, fragender Blick, den ich auf sein Antlitz heftete, drückte ihm meine Empfindung deutlicher und weniger mühevoll aus, als Worte dazu imstande gewesen wären.

»Sie brauchen sich mit dem Anhören nicht zu beeilen,« sagte er. »Lassen Sie mich Ihnen aufrichtig sagen, daß ich nichts besonders wünschenswertes oder profitables vorzuschlagen habe. Ehe ich mich weiter erkläre, so erinnern Sie sich, ich bitte darum, meines Ausspruches, daß, wenn ich Ihnen hülfe, es nur so sein könne, wie der Blinde [565] dem Lahmen hilft. Ich bin arm; denn ich habe mich jetzt überzeugt, daß mein ganzes Erbe, nachdem ich die Schulden meines Vaters bezahlt habe, in dieser verfallenen Scheune, der Reihe krüppelhafter Tannen hinter derselben und dem Fleckchen Moorerde mit den Taxusbäumen und Stechpalmen darauf besteht. Ich bin ein unbekannter Mann.« Rivers ist ein alter Name; aber von den drei einzigen Nachkommen dieses Geschlechts verdienen zwei ihr hartes Brot der Abhängigkeit unter Fremden, und der dritte betrachtet sich als Fremder in seinem Vaterlande – nicht allein für dieses Leben, sondern auch im Tode. Ja, und er erachtet sich – er ist sogar gezwungen sich dafür zu erachten – geehrt durch dieses Los und sehnt sich nur nach dem Tage, an dem das Kreuz der Trennung von allen fleischlichen, irdischen Banden auf seine Schultern gelegt wird, und das Oberhaupt jener kirchlichen Streitmacht, deren geringstes Mitglied er ist, zu ihm das Wort spricht: »Steh auf und folge mir nach!«

St. John sprach diese Worte, wie er seine Predigten sprach, mit einer ruhigen, tiefen Stimme; mit bleichen Wangen aber mit funkelndem Glanz der Augen. Dann fuhr er fort:

»Und da ich selbst arm und unbekannt bin, kann ich auch nur die Hilfe der Armut und des Unbekanntseins bieten. Sie mögen sie vielleicht sogar für entehrend halten – denn jetzt habe ich eingesehen, daß Ihre Gewohnheiten das sind, was die Welt verfeinert nennt. Ihr Geschmack lehnt sich an das Ideale und Ihre Gesellschaft hat aus wohlerzogenen Menschen bestanden – ich jedoch bin der Ansicht, daß kein Dienst entehrt, welcher dazu beiträgt, das Menschengeschlecht besser zu machen. Ich halte dafür, daß je unfruchtbarer und vernachlässigter der Boden ist, auf welchem dem Christen seine Arbeit des Feldbaus und der Urbarmachung angewiesen – je geringer die Ausbeute, welche seine Arbeit ihm bringt – desto größer die Ehre! [566] Unter solchen Umständen ist sein Los das des Pioniers: und die ersten Pioniere des Evangeliums waren die Apostel – ihr Anführer war Jesus Christus, der Erlöser, selbst.«

»Nun,« sagte ich, als er wiederum innehielt, »weshalb fahren Sie nicht fort?«

Er blickte mich an bevor er fortfuhr; in der That, er schien gemächlich in meinem Gesicht zu lesen, als wären seine Züge und Linien die gedruckten Worte eines Buches. Den Schlußfolgerungen, welche er aus dieser Prüfung zog, verlieh er zum Teil in seinen gleich darauf folgenden Äußerungen Ausdruck.

»Ich glaube, daß Sie den Platz, welchen ich Ihnen anbieten will, annehmen werden,« sagte er, »und ihn auch für eine Zeitlang wenigstens behalten werden; nicht für immer indessen, ebensowenig wie ich für immer das enge und beengende, – das stille, verborgene Amt eines englischen Landpredigers ausfüllen könnte; denn in Ihrer Natur liegt ein Etwas, das der Ruhe ebenso widerstrebt, wie in der meinen, wenn es auch anderer Art ist.«

»Erklären Sie sich,« drängte ich, als er wiederum innehielt.

»Das will ich, und Sie werden hören, wie armselig das Anerbieten ist – wie klein – wie knapp. Jetzt, wo mein Vater tot ist und ich mein eigener Herr bin, werde ich nicht mehr lange in Morton bleiben. Wahrscheinlich werde ich den Ort nach Ablauf eines Jahres verlassen; aber so lange ich dort bleibe, werde ich meine Kräfte bis auf das Äußerste anspannen, um ihn zu fördern und zu verbessern. Als ich vor zwei Jahren nach Morton kam, hatte es keine Schule; die Kinder der Armen waren von jeder Hoffnung auf Emporkommen ausgeschlossen. Ich gründete eine für Knaben; jetzt beabsichtige ich eine zweite für Mädchen zu eröffnen. Ich habe zu diesem Zweck ein Gebäude gemietet, und ein dazu gehöriges Häuschen mit zwei Zimmern, welches der Lehrerin als Wohnung dienen soll. Ihr Gehalt wird dreißig Pfund im Jahr betragen; Ihr Haus ist bereits [567] eingerichtet, sehr einfach, aber ausreichend, durch die Güte einer Dame, Miß Oliver, der einzigen Tochter des einzigen reichen Mannes in meiner Gemeinde – Mr. Oliver, welcher Besitzer einer Nähnadelfabrik und eines Hochofens und einer Eisengießerei unten im Thal ist. Dieselbe Dame sorgt für die Erziehung und Kleidung eines Waisenmädchens aus dem Arbeitshause unter der Bedingung, daß sie der Lehrerin in jenen groben Arbeiten ihres Haushalts und der Schule zur Hand geht, welche selbst zu verrichten ihr Amt des Lehrens sie hindert. Wollen Sie die Lehrerin sein?«

Er stellte diese Frage sehr schnell, sehr überstürzt. Er schien halb und halb eine empörte oder wenigstens doch eine verächtliche Zurückweisung dieses Anerbietens zu erwarten. Da er meine Gedanken und Empfindungen nicht kannte, wenn er auch einige derselben erriet, so konnte er unmöglich wissen, in welchem Lichte dieses Los mir erscheinen würde.

In der That, es war bescheiden – aber es war sicher und ich brauchte vor allen Dingen ein geschütztes Asyl; es war mühevoll und anstrengend – aber im Vergleich mit dem Lose einer Gouvernante in einem reichen Hause war es doch immerhin unabhängig. Und die Furcht vor Abhängigkeit von fremden Leuten folterte meine Seele wie ein glühendes Eisen. Es war nicht unedel – nicht unwürdig – nicht geistig erniedrigend – ich faßte meinen Entschluß.

»Ich danke Ihnen für den Vorschlag, Mr. Rivers, ich nehme denselben mit voller Dankbarkeit an.«

»Aber Sie verstehen mich?« sagte er. »Es ist eine Dorfschule; ihre Schülerinnen werden nur arme Mädchen sein – Kinder von Tagelöhnern – im besten Falle Kinder von Pächtern. Stricken, nähen, lesen, schreiben, rechnen – das wird alles sein, was Sie zu lehren haben. Was werden Sie mit Ihren Talenten anfangen? Was mit der großen Tiefe Ihres Gemüts – Ihren Empfindungen – Ihrer Geschmacksrichtung?«

[568] »Sie aufbewahren, bis sie gebraucht werden. Sie halten sich.«

»Sie wissen also, was Sie unternehmen?«

»Ich weiß es.«

Jetzt lächelte er; nicht ein bitteres oder trauriges Lächeln, sondern ein freundliches, zufriedenes.

»Und wann wollen Sie mit der Ausübung Ihrer Pflichten beginnen?«

»Ich will schon morgen in die mir angewiesene Wohnung ziehen und mit Anfang der nächsten Woche die Schule eröffnen, wenn es Ihnen recht ist.«

»Gut. Sei es so.«

Er erhob sich und ging durchs Zimmer. Dann stand er still und blickte mich wiederum an. Er schüttelte den Kopf.

»Was mißbilligen Sie, Mr. Rivers?« fragte ich.

»Sie werden nicht lange in Morton bleiben; nein, nein!«

»Weshalb? Welchen Grund haben Sie, das zu sagen?«

»Ich lese es in Ihrem Auge; es verspricht keinen ebenen, ruhigen Lebensweg.«

»Ich bin nicht ehrgeizig.«

Er fuhr zusammen bei dem Worte »ehrgeizig«. Dann wiederholte er »ehrgeizig«; nein. Was ließ Sie an Ehrgeiz denken? Wer ist ehrgeizig? Ich weiß, daß ich es bin. »Aber wie haben Sie das entdeckt?«

»Ich sprach nur von mir selbst.«

»Nun, wenn Sie nicht ehrgeizig sind, so sind Sie – –,« hier hielt er inne.

»Was?«

»Ich wollte sagen ›leidenschaftlich‹; aber vielleicht hätten Sie das Wort mißverstanden und wären verletzt gewesen. Ich meine nur, daß menschliche Sympathien und die Liebe von Herz zu Herz große Macht über Sie haben. Ich bin überzeugt, daß es Ihnen nicht für lange genügen wird, [569] Ihre freie Zeit in Einsamkeit zuzubringen und Ihre Arbeitsstunden einer einförmigen Arbeit zu widmen, welche durchaus jeden Reizes entbehrt – ebensowenig wie ich zufrieden sein kann,« fügte er mit Emphase hinzu, »hier im Morast begraben, von Bergen eingeengt zu leben; meine Natur, die mir Gott gegeben hat, sträubt sich dagegen; meine Fähigkeiten, mir vom Himmel geschenkt, werden gelähmt und liegen nutzlos da. Sie hören jetzt, wie ich mir selbst widerspreche. Ich, der ich Zufriedenheit mit einem bescheidenen Lose predigte und sogar den Beruf eines Holzhackers, eines Wasserschöpfers im Dienste Gottes rechtfertigte – ich, sein gesalbter Bote, ich tobe beinahe in meiner Ruhelosigkeit. Ah! auf irgend eine Weise müssen angeborene Neigung und Grundsätze miteinander versöhnt werden.«

Er verließ das Zimmer. In dieser kurzen Stunde hatte ich ihn besser kennen gelernt als in dem ganzen vorhergehenden Monat, und doch zerbrach ich mir noch den Kopf über ihn.

Diana und Mary Rivers wurden immer stiller und schweigsamer je näher der Tag kam, an dem sie ihren Bruder und ihr Heim verlassen sollten. Beide versuchten nicht anders zu erscheinen als gewöhnlich. Aber der Kummer, gegen welchen sie zu kämpfen hatten, war der Art, daß er weder leicht zu besiegen noch zu verheimlichen war. Diana deutete an, daß dies eine Trennung sein würde, sehr verschieden von jeder bisherigen. Was St. John anbetraf, so würde es wahrscheinlich ein Abschied für lange Jahre sein, – vielleicht sogar eine Trennung fürs Leben.

»Er wird alles seinen längst gefaßten Entschließungen opfern,« sagte sie, »die Bande der Natur und noch viel mächtigere Gefühle. Jane, St. John sieht ruhig aus; aber in seinem Innern tobt ein brennendes, verzehrendes Fieber. Du hältst ihn für sanft und milde – und doch ist er in manchen Dingen unerbittlich wie der Tod. Und was das Schlimmste ist: mein Gewissen erlaubt mir kaum, ihm von [570] seinen strengen Entschließungen abzureden, denn wahrhaftig, ich kann ihn nicht einen Augenblick dafür tadeln. Es ist recht – edel – christlich – und doch bricht es mir das Herz!«

Und heiße Thränen entquollen ihren schönen Augen.

Mary neigte den Kopf tief auf ihre Arbeit.

»Wir haben jetzt keinen Vater mehr; bald werden wir auch kein Heim und keinen Bruder mehr haben,« sagte sie leise.

In diesem Augenblick geschah etwas, das vom Schicksal eigens dazu bestimmt schien, die Wahrheit des alten Spruches zu beweisen, »daß ein Unglück nie allein kommt«, und zu der Trauer dieser Mädchen auch noch die Qual hinzuzufügen, daß »zwischen Lipp' und Bechers Rand u.s.w.«

St. John ging einen Brief lesend am Fenster vorüber. Dann trat er ein.

»Unser Onkel John ist tot,« sagte er.

Beide Schwestern schienen bestürzt; aber nicht erschreckt oder entsetzt. Die Nachricht schien ihnen mehr plötzlich als betrübend zu kommen.

»Tot?« wiederholte Diana.

»Ja.«

Sie heftete einen prüfenden Blick auf das Gesicht ihres Bruders. »Und was jetzt?« fragte sie mit leiser Stimme.

»Und was jetzt, Diana?« wiederholte er, seine marmorne Ruhe des Gesichtsausdrucks bewahrend. »Was jetzt? Nun – nichts! Lies!«

Er warf ihr den Brief in den Schoß. Sie durchflog ihn schnell und reichte ihn dann Mary. Mary durchlas ihn schweigend und gab ihn darauf dem Bruder zurück. Alle drei blickten einander an und alle drei lächelten – ein trauriges, nachdenkliches Lächeln war es.

»Amen! Wir haben noch zu leben,« sagte Diana endlich.

»Auf jeden Fall wird unsere Lage nicht schlimmer, als sie vorher war,« bemerkte Mary.

[571] »Nur führt es der Seele das Bild von dem vor, was hätte sein können,« sagte Mr. Rivers, »und hebt den Kontrast mit dem zu lebhaft hervor, was in Wirklichkeit ist.«

Er faltete den Brief zusammen, verschloß ihn in sein Pult und ging wieder hinaus.

Während einiger Minuten sprach niemand. Dann wandte Diana sich zu mir.

»Jane, du wirst dich über uns und unsere Geheimnisse wundern,« sagte sie, »und uns für hartherzige Geschöpfe halten, weil wir über den Tod eines so nahen Verwandten, wie ein Onkel es ist, nicht mehr Betrübnis an den Tag legen. Aber wir haben ihn niemals gekannt noch gesehen. Er war der Bruder meiner Mutter. Vor langen Jahren hatten er und mein Vater einen Streit und entzweiten sich. Es geschah auf seinen Rat, daß mein Vater den größten Teil seines Vermögens in jene Spekulation steckte, welche ihn ruinierte. Gegenseitige Vorwürfe flogen zwischen ihnen hin und her; sie trennten sich im Zorn und versöhnten sich niemals wieder. Mein Onkel wurde später in glücklichere Unternehmungen hineingezogen; wie es scheint, erwarb er ein Vermögen von zwanzigtausend Pfund. Er war niemals verheiratet und hatte außer uns und noch einer Person, die ihm durchaus nicht näher steht als wir, keine nahen Verwandten. Mein Vater hegte stets den Glauben, daß er seinen Irrtum wieder gut machen würde, indem er uns sein Vermögen hinterließ. Doch dieser Brief unterrichtet uns davon, daß er jeden Pfennig jener anderen Person hinterläßt mit Ausnahme von dreißig Pfund, welche zwischen St. John, Diana und Mary Rivers geteilt werden sollen, um drei Trauerringe dafür zu kaufen. Natürlich hatte er ein Recht, mit seinem Gelde zu machen, was er wollte, und doch wirft eine solche Nachricht eine augenblickliche Verstimmung auf das Gemüt. Mary und ich würden uns reich erachtet haben, wenn er jeder von [572] uns tausend Pfund hinterlassen hätte; und für St. John wäre dieselbe Summe von großem Wert gewesen um der Wohlthaten wegen, die er mit derselben hätte ausüben können.«

Nach dieser Erklärung wurde das Thema fallen gelassen und niemand, weder Mr. Rivers noch seine Schwestern, erwähnten desselben wieder.

Am folgenden Tage übersiedelte ich von Marsh-End nach Morton. Tags darauf begaben Diana und Mary sich auf die Reise nach dem weit entfernten B–. Eine Woche später zogen Mr. Rivers und Hannah nach dem Pfarrhofe – und nun lag das alte Haus verödet da.

Elftes Kapitel [2]

Elftes Kapitel

Meine Heimat ist also – wenn ich endlich ein Heim gefunden – eine Hütte: ein kleiner Raum mit weiß getünchten Wänden, ein mit Sand bestreuter Fußboden; darin stehen vier gemalte Stühle und ein Tisch, eine Uhr, ein Schrank mit zwei, drei Tellern und Schüsseln und ein Theeservice von Delfter Steingut. Darüber ein Zimmer von derselben Größe der Küche mit einer Bettstelle aus Tannenholz und einer Kommode, die zwar klein, aber dennoch zu groß ist, als daß meine ärmlichen Kleidungsstücke sie hätten ausfüllen können; obgleich meine gütigen, großmütigen Freunde dieselben durch einen kleinen Vorrat der allernotwendigsten Dinge vermehrt hatten.

Es ist Abend. Mit einer Orange als Belohnung habe ich die kleine Waise entlassen, welche mir als Hausmädchen dient. Ich sitze allein am Herd. Heute morgen ist die Dorfschule eröffnet worden. Ich habe zwanzig Schülerinnen. Nur drei von dieser Zahl können lesen; nicht eine einzige schreiben oder rechnen. Mehrere stricken, nur einige nähen ein wenig. Sie sprechen den breitesten Accent der Gegend. Für den Augenblick bietet sich ihnen wie mir noch die Schwierigkeit, unsere gegenseitige Sprache zu verstehen. [573] Einige von ihnen sind ebenso ungezogen, roh, unumgänglich wie unwissend; andere wieder sind sanft, hegen große Lernbegierde und zeigen Anlagen, welche mir Freude machen. Ich darf nicht vergessen, daß diese armselig gekleideten kleinen Dorfmädchen ebensogut von Fleisch und Blut sind, wie die Sprößlinge der edelsten Geschlechter, und daß die Keime angeborener Vortrefflichkeit, Verfeinerung, Intelligenz, Seelengüte wahrscheinlich ebensogut in ihrem Herzen schlummern wie in dem der Höchstgeborenen. Meine Pflicht wird es sein, diese Keime zu entwickeln; gewiß wird es mir Befriedigung und Genugthuung gewähren, wenn ich gewissenhaft dieses Amtes walte. Viel Freude erwarte ich nicht von dem Leben, das vor mir liegt; aber es wird mir zweifellos gelingen, mich wenigstens von einem Tage zum andern zu schleppen, wenn ich mein Gemüt stähle und meine Kräfte bis aufs Äußerste anstrenge.

War ich sehr freudig, zufrieden, stetig während der Stunden, die ich während dieses Morgens und Nachmittags dort unten in dem kahlen, bescheidenen Schulzimmer verbrachte? Wenn ich mich nicht selbst täuschen will, so muß ich entgegnen: Nein, bis zu einem gewissen Grade war ich trostlos. Ich fühlte mich – ja, Idiotin, die ich bin – ich fühlte mich herabgewürdigt. Ich fragte mich, ob ich nicht einen Schritt gethan, der mich eher in der menschlichen Gesellschaft herabsetzte, als emporhob. Ich war schwach genug, über die Armseligkeit und Roheit alles dessen, was ich um mich herum sah und hörte, empört zu sein. Aber ich will mich um dieser Gefühle willen nicht zu sehr hassen und verachten: ich weiß, daß sie ein großes Unrecht waren – und das ist schon ein großer Schritt zur Besserung; ich werde kämpfen, um über sie zu siegen. Morgen, hoffe ich, werde ich derselben vollständig Herr werden; und in wenigen Wochen wird jegliche derartige Empfindung aus meinem Herzen geschwunden seien. Möglicherweise tritt in wenigen Monaten schon Zufriedenheit [574] an die Stelle des Ekels, wenn ich bei meinen Schülerinnen Fortschritte und eine Wendung zum Bessern wahrnehmen kann.

Inzwischen will ich eine Frage an mich richten: Was ist besser? – der Versuchung erlegen zu sein, der Leidenschaft Gehör geschenkt zu haben; keine qualvolle Anstrengung gemacht zu haben, keinen Kampf gekämpft zu haben, sondern in eine seidene Schlinge geraten, zwischen den Blumen, welche diese bedeckten, eingeschlafen zu sein; in einem südlichen Klima inzwischen des Luxus einer Prachtvilla zu erwachen; jetzt in Frankreich als Mr. Rochesters Geliebte zu leben; wahnsinnig vor Liebe während eines Teiles meines Daseins – denn für eine Spanne Zeit würde er mich geliebt haben, o, ganz gewiß, er würde mich vergöttert haben! Er hatte mich geliebt – kein Mensch wird mich jemals lieben, wie er es that. Ich werde niemals wieder die süße Huldigung empfinden, die der Schönheit, der Jugend und der Anmut gezollt wird – denn für keines andern Augen werde ich jemals wieder mit diesen Reizen ausgestattet erscheinen. Er hatte mich lieb – er war stolz auf mich – das wird kein Mann wieder sein!

Aber wohin wandern meine Gedanken, und was sage ich? Vor allen Dingen – was empfinde ich? Ist es besser, frage ich, die Sklavin in dem Paradiese eines Thoren im sonnigen Süden zu sein – vom Fieber der Seligkeit einer einzigen Stunde befallen zu sein – und in der nächsten schon von den bitteren Thränen erstickt zu werden, welche Scham und Gewissensbisse uns auspressen – oder frei und ehrlich in einem frischen Gebirgswinkel im gesunden Herzen von England eine einfache Dorfschullehrerin zu sein?

Ja. Jetzt fühle ich, daß ich recht that, als ich mich streng an Gesetz und Grundsätze hielt und die wahnsinnigen Einflüsterungen eines unseligen Augenblicks erstickte und vernichtete. Gott ließ mich die rechte Wahl treffen! Ich danke der Vorsehung für ihre gütige Führung!

[575] Als mein Dämmerstundensinnen bei diesem Punkt angelangt war, ging ich an meine Thür und betrachtete den Sonnenuntergang des Herbsttages, die stillen Felder vor meiner Hütte, welche samt der Schule eine halbe Meile vom Dorfe entfernt lag. Die Vögel sangen ihr letztes Lied:


»Mild war die Luft und süß der Tau.«


Als ich so hinausblickte, fühlte ich mich glücklich und war daher ganz erstaunt, mich dennoch gleich darauf in Thränen zu sehen – und weshalb? Um des Geschickes willen, das mich von der Seite meines Herrn und Meisters gerissen, von ihm, den ich in diesem Leben nicht wiedersehen würde; – um des verzweifelten Kummers und der verhängnisvollen Wut willen – die Folgen meiner Flucht – welche ihn jetzt vielleicht vom Pfade des Rechtes abzogen, zu weit, um noch auf eine schließliche Umkehr hoffen zu dürfen. Bei diesem Gedanken wandte ich mein Gesicht ab von dem lieblichen Abendhimmel und dem einsamen Thal von Morton; ich sage einsam, denn auf jenem Teil desselben, der meinem Auge sichtbar, befand sich nicht ein einziges Gebäude mit Ausnahme der Kirche und des Pfarrhofes und auch diese beiden waren fast gänzlich unter schattigen Bäumen versteckt. Weit hinaus am äußersten Ende erblickte man das Dach von Vale-Hall, wo der reiche Mr. Oliver mit seiner Tochter wohnte. Ich legte die Hand über die Augen und lehnte meinen Kopf an die steinerne Umrahmung meiner Thür; aber bald machte ein leises Geräusch an der Pforte, welche meinen kleinen Garten von der davorliegenden Wiese abschloß, mich wieder aufblicken. Ein Hund – der alte Carlo, Mr. Rivers' Vorstehhund, wie ich auf den ersten Blick sah – stieß mit der Schnauze an das Thor, und Mr. St. John selbst lehnte mit verschränkten Armen darauf. Er runzelte die Stirn und sah mich mit ernstem, fast unwilligem Blick an.

Ich forderte ihn auf, einzutreten.

»Nein, ich kann nicht bleiben; ich bringe Ihnen hier [576] nur ein kleines Paket, das meine Schwestern für Sie zurückgelassen haben. Ich glaube, es enthält einen Farbenkasten, Pinsel und Papier.«

Ich näherte mich ihm, um es entgegen zu nehmen; es war eine willkommene Gabe. Als ich zu ihm trat, prüfte er mein Gesicht, wie es schien, mit Strenge und Härte; ohne Zweifel trug es noch die allzu deutlichen Spuren der eben vergossenen Thränen.

»Haben Sie die Arbeit Ihres ersten Tages schwerer gefunden, als Sie erwarteten?« fragte er.

»O nein. Im Gegenteil, ich glaube, daß ich mit der Zeit sehr gut mit meinen Schülerinnen fertig werden könnte.«

»Aber vielleicht Ihre Bequemlichkeit – Ihre Hütte – Ihre Möbeln – haben Ihre Erwartungen getäuscht? – Sie sind in der That armselig genug; aber – –«

Hier unterbrach ich ihn.

»Meine Hütte ist sauber und wetterfest; meine Möbeln sind bequem und hinreichend. Alles was ich sehe, hat mich dankbar gemacht, nicht traurig. Ich bin nicht ganz solch eine Thörin, daß ich das Fehlen eines Teppichs, eines Sofas, eines silbernen Bestecks beklagen und beweinen könnte; außerdem – vor fünf Wochen besaß ich gar nichts – ich war eine Ausgestoßene, eine Bettlerin, eine Heimatlose auf der Landstraße – jetzt habe ich Freunde – ein Heim – eine Beschäftigung. Ich staune die Güte Gottes an, die Großmut meiner Freunde; die Milde meines Geschicks. Ich bereue nichts – ich beweine nichts.«

»Aber Sie empfinden die Einsamkeit wie einen Druck? Das kleine Haus da hinter Ihnen ist düster und leer.«

»Ich habe kaum noch Zeit gehabt, mich eines gewissen Gefühls der Ruhe zu erfreuen, wie viel weniger nun, unter einem Druck der Einsamkeit ungeduldig zu werden.«

»Nun gut. Ich hoffe, daß Sie die Zufriedenheit, welcher Sie Ausdruck verleihen, auch empfinden. Auf[577] jeden Fall wird Ihr gesunder Menschenverstand Ihnen sagen, daß es noch zu früh ist, um der schwankenden Furcht von Lots Weib nachzugeben. Ich weiß allerdings nicht, was Sie verlassen hatten, bevor ich Sie kennen lernte; aber ich rate Ihnen, standhaft jeder Versuchung zu widerstehen, welche Ihnen einflüstern könnte, zurück zu blicken. Erfüllen Sie ohne Wanken die Pflichten Ihres jetzigen Berufs, für die Dauer einiger Monate wenigstens.«

»Das ist es auch, was ich zu thun gedenke,« entgegnete ich.

St. John fuhr fort:

»Es ist eine schwere Aufgabe, unsere Neigungen im Zaum zu halten und unseren angeborenen Trieben entgegen zu arbeiten. Daß man es jedoch kann, – das weiß ich aus Erfahrung. Gott hat uns bis zu einem gewissen Grade die Macht gegeben, unser eigenes Schicksal zu gestalten; und wenn unsere Kräfte eine Stählung verlangen, die sie nicht haben können – wenn unser Wille einem Pfade zustrebt, den wir nicht wandeln dürfen – so brauchen wir weder Hungers zu sterben, noch in Verzweiflung still zu stehen: wir müssen dann nur eine andere Nahrung für unser Gemüt suchen, die ebenso kräftig ist, wie jene, die wir zu genießen verlangten – und vielleicht reiner und gesünder; und für unseren abenteuersuchenden Fuß müssen wir einen Weg aushauen, der ebenso gerade und ebenso breit ist wie jener, den das Schicksal uns versperrt hat – wenn auch vielleicht rauher und mühevoller.«

»Vor einem Jahr noch war auch ich namenlos elend, weil ich glaubte, einen Irrtum begangen zu haben, indem ich mich dem geistlichen Stande widmete; seine einförmigen Pflichten ermüdeten mich zu Tode. Ich verlangte sehnsüchtig nach dem thätigen Leben der großen Welt – nach den aufregenden Mühen einer litterarischen Carriere – nach dem Berufe eines Künstlers, Schriftstellers, Redners; alles,alles andere, nur kein Priester; ja, unter dem Chorrock eines Hilfspredigers schlug das Herz eines Politikers, [578] eines Soldaten; ich dürstete nach Ruhm; ich liebte die Berühmtheit, es gelüstete mich nach Macht. Ich begann zu überlegen. Mein Leben war so elend, daß ein Wechsel eintreten mußte, wenn ich nicht sterben sollte. Nach einer langen Zeit der Dunkelheit und des Kampfes brach die Erleuchtung über mich herein, und Hilfe und Erlösung kamen. Mein eng begrenztes Dasein erweiterte sich plötzlich zu einer Ebene ohne Grenzen – meine Fähigkeiten vernahmen einen Ruf vom Himmel, sich aufzuraffen, all ihre Kräfte zusammen zu nehmen, ihre Flügel auszubreiten und sich über den Gesichtskreis zu erheben. Gott hatte eine Mission für mich, welche auszuführen, gut auszuführen es der Geschicklichkeit und Kraft, der Beredsamkeit und des Mutes, der besten Eigenschaften eines Soldaten, Staatsmannes und Redners bedurfte: denn all diese konzentrieren sich in einem guten Missionär.

Ich beschloß ein Missionär zu werden. Von diesem Augenblick an änderte sich mein Gemütszustand; die Fesseln lösten sich und fielen ab von jeder Fähigkeit und ließen von der Gefangenschaft nichts zurück als die qualvoll schmerzhafte Empfindlichkeit, welche allein die Zeit zu heilen vermag. Mein Vater widersetzte sich diesem Entschluß in der That; aber seit seinem Tode habe ich kein wichtiges oder berechtigtes Hindernis mehr zu bestreiten. Wenn meine Angelegenheiten geordnet sind, ein Nachfolger für Morton gefunden; einige Gefühlssachen, Herzensangelegenheiten vernichtet – ein letzter Kampf mit menschlicher Schwäche, in dem ich weiß, daß ich siegen werde, weil ich geschworen habe, daß ich siegen will – so verlasse ich Europa für immer und ziehe gen Osten.«

Er sagte dies alles in seiner eigentümlichen, gedämpften und doch pathetischen Stimme. Als er zu sprechen aufgehört, sah er nicht auf mich, sondern auf die untergehende Sonne, die auch meine Blicke gefesselt hielt. Sowohl er wie ich hatten den Rücken gegen den Fußpfad gewendet, [579] welcher vom Felde her an meine Gartenpforte führte. Wir hatten auf dem grasbewachsenen Wege keinen Fußtritt vernommen; der Bach, welcher durch das Thal rieselte, war der einzige sanfte Laut des Ortes und der Stunde. Es war also nicht zu verwundern, daß wir zusammenschraken, als eine fröhliche Stimme, hell wie eine Silberglocke, ausrief:

»Guten Abend, Mr. Rivers. Und guten Abend, alter Carlo. Ihr Hund erkennt seine Freunde schneller, als Sie, Sir; er spitzte die Ohren und wedelte mit dem Schweife, als ich noch am äußersten Ende der Wiese war, und Sie drehen mir noch jetzt den Rücken zu, Sir.«

Es verhielt sich so. Obgleich Mr. Rivers bei dem ersten dieser wohllautenden Accente aufgefahren war, wie wenn ein Donnerkeil die Wolken oberhalb seines Kopfes zerrissen hätte, so stand er noch jetzt, als jener Satz zu Ende gesprochen war, in derselben Stellung, in welcher die Sprecherin ihn überrascht hatte – sein Arm lehnte auf der Pforte, sein Antlitz war nach Westen gerichtet. Endlich wandte er sich um, gemessen und langsam. Mir war es, als sei eine liebliche Vision an seiner Seite erschienen. Kaum drei Fuß von ihm entfernt stand eine weißgekleidete Gestalt – eine jugendliche, anmutige Figur, voll doch von zarten Kontouren; und als sie, nachdem sie sich niedergebeugt, um Carlo zu liebkosen, sich wieder emporrichtete und einen langen Schleier zurückwarf, blickte unter demselben ein blühendes Antlitz von vollkommener Schönheit hervor. Vollkommene Schönheit ist ein starker Ausdruck; aber ich nehme ihn nicht zurück und rechtfertige ihn auch nicht; Züge so süß wie das gemäßigte Klima Albions sie nur jemals gemeiselt; Farben so rosenrot und lilienweiß, wie sie unter diesem wolkigen Himmel, in diesen feuchten Winden jemals erzeugt und geblüht, rechtfertigen in diesem Falle die Bezeichnung: vollkommene Schönheit. Kein einziger Reiz fehlte, kein Fehler war sichtbar; das junge [580] Mädchen hatte zarte und regelmäßige Züge; die Augen waren von solcher Form und Farbe, wie wir sie nur auf lieblichen Gemälden sehen, groß und dunkel und offenen Blicks; die langen, dicken Augenwimpern, welche dem schönen Auge einen so sanften Reiz verliehen, die geschweiften Brauen, welche soviel Klarheit gaben; die weiße, reine Stirn, welche der lebhaften Schönheit von Farbe und Ausdruck soviel Ruhe hinzufügte; die Wangen oval, frisch und weich; die Lippen ebenso frisch, rosig, gesund und süß geformt; die leuchtenden, makellosen Perlzähne; das kleine Kinn mit schelmischem Grübchen; der Schmuck reicher, schwerer Haarflechten – alles Vorzüge mit einem Worte, welche vereint das Ideal wahrer Schönheit verwirklichen – und diese Vorzüge besaß sie. Ich war erstaunt, als ich diese schöne Gestalt ansah; ich bewunderte sie von ganzem Herzen. Die Natur hatte sie augenscheinlich in ihrer glänzendsten Laune geschaffen; und indem sie ihren gewöhnlichen stiefmütterlichen Anteil von Gaben vergessen zu geben, hatte sie diesen ihren Liebling mit der Freigebigkeit einer Großmutter ausgestattet.

Und was dachte St. John Rivers von diesem Engel in Menschengestalt? Es war ganz natürlich, daß ich diese Frage an mich stellte, als ich sah, wie er sich zu ihr wandte und sie anblickte; und ebenso natürlich suchte ich die Antwort auf diese Frage in seinem Gesicht. Er hatte sein Auge schon wieder von der Peri abgewandt und sah auf ein bescheidenes Büschel Tausendschönchen, welches an der Pforte blühte.

»Ein lieblicher Abend, aber es ist zu spät, als daß Sie allein draußen sein dürften,« sagte er, indem er die schneeigen Köpfchen der schlafenden Blumen zertrat.

»O, ich bin erst heute nachmittag aus S– zurück,« (hier nannte sie den Namen einer ungefähr zwanzig Meilen entfernten großen Stadt.) »Papa sagte mir, daß Sie Ihre Schule eröffnet hätten, und daß die neue Lehrerin [581] angekommen sei; und deshalb setzte ich nach dem Thee meinen Hut auf und lief ins Thal hinauf, um sie zu sehen. Ist sie das?« Dabei deutete sie auf mich.

»Das ist sie,« sagte St. John.

»Glauben Sie, daß Morton Ihnen gefallen wird?« fragte sie mich mit einer zarten und einfachen Naivetät des Tones und der Stimme, die wenn auch kindisch, so doch reizend war.

»Ich hoffe es zuversichtlich. Denn ich habe gar manche Ursache dazu.«

»Haben Sie Ihre Schülerinnen so aufmerksam gefunden, wie Sie erwarteten?«

»Durchaus.«

»Und gefällt Ihnen Ihr Häuschen?«

»Sehr.«

»Habe ich es hübsch eingerichtet?«

»Sehr hübsch in der That.«

»Und traf ich eine gute Wahl, als ich Alice Wood zu Ihrer Dienerin machte?«

»Das thaten Sie wirklich. Sie ist gelehrig und flink.«

Und dies, dachte ich, ist Miß Oliver, die Erbin; ebenso reich durch die Gaben des Glücks wie durch jene der Natur! Welche glückliche Konstellation der Gestirne mag nur bei ihrer Geburt gewaltet haben?

»Ich werde zuweilen heraufkommen und Ihnen in den Lehrstunden behilflich sein,« fügte sie hinzu. »Es wird eine Abwechslung für mich sein, wenn ich Sie dann und wann besuchen darf, und ich liebe die Abwechslung. O Mr. Rivers, ich bin während meines Aufenthalts in S– so lustig und ausgelassen gewesen. Gestern abend oder vielmehr diese Nacht habe ich bis zwei Uhr getanzt. Seit den Revolten ist das –te Regiment dort stationiert; und die Offiziere sind die liebenswürdigsten Leute der Welt; sie stellen alle eure jungen Scherenschleifer und Messerkaufleute in den Schatten.«

[582] Mir schien es, als ob Mr. St. Johns Unterlippe sich vorschob und die Oberlippe sich für einen Augenblick kräuselte. Sein Mund sah auf jeden Fall sehr zusammengekniffen aus, und der untere Teil seines Gesichts war ungewöhnlich ernst und gesetzt, während das lachende Mädchen ihm diese Mitteilungen machte. Dann erhob er den Blick von den Tausendschönchen und heftete ihn auf sie. Es war ein durchdringender, unfreundlicher, bedeutsamer Blick. Sie antwortete mit einem zweiten Lachen, und Lachen kleidete ihre Jugend, ihre Rosen, ihr Grübchen, ihre leuchtenden Augen wohl.

Als er so stumm und ernst dastand, begann sie von neuem, Carlo zu liebkosen. »Der arme Carlo liebt mich,« sagte sie. »Er ist nicht hart und fremd mit seinen Freunden, und wenn er sprechen könnte, würde er nicht schweigen.«

Als sie den Kopf des Tieres streichelte und sich mit angeborener Anmut vor seinem jungen, strengen Herrn beugte, sah ich, wie eine purpurne Glut das Antlitz jenes Herrn überzog. Ich sah, wie ein plötzliches Feuer die Härte seines Auges schmolz und dort in unbekämpfbarer Rührung aufflackerte. So gerötet und erregt sah er als Mann fast ebenso schön aus wie sie als Weib. Seine Brust hob sich, doch nur ein einziges Mal, als wenn sein Herz des despotischen Zwanges müde, sich gegen seinen Willen ausdehnte und einen verzweifelten Versuch zur Erlangung seiner Freiheit machte. Aber er bändigte es, wie ein entschlossener Reiter ein sich bäumendes Pferd bändigen würde. Weder mit Wort noch Bewegung antwortete er auf ihr zartes Entgegenkommen.

»Papa klagt, daß Sie uns niemals mehr besuchen,« fuhr Miß Oliver fort, indem sie aufblickte. »Sie sind ein Fremder in Vale-Hall geworden. Er ist heute abend allein und fühlt sich nicht ganz wohl. Wollen Sie mit mir nach Hause gehen und ihn besuchen?«

[583] »Es ist schon zu spät, um Mr. Oliver noch zu belästigen,« entgegnete St. John.

»Schon zu spät! Aber ich erkläre Ihnen, daß es durchaus nicht zu spät ist. Dies ist gerade die Stunde, in welcher Papa am meisten der Gesellschaft bedarf. Jetzt sind die Eisenwerke geschlossen und er ruht aus von seinen Geschäften. Jetzt, Mr. Rivers, ich bitte Sie, kommen Sie! Weshalb sind Sie so zurückhaltend, so fürchterlich ernst?«

Dann füllte sie die Lücke, welche durch sein Schweigen entstand, durch ihre eigene Antwort aus.

»Ach, ich vergaß!« rief sie aus, indem sie ihren schönen Lockenkopf schüttelte, als sei sie über sich selbst entsetzt. »Ich bin so gedankenlos und zerstreut! Verzeihen Sie mir! Es war meinem Gedächtnis gänzlich entfallen, daß Sie Gründe genug haben, um für mein albernes Geschwätz nicht aufgelegt zu sein. Diana und Mary haben Sie verlassen; Moor-House ist verschlossen, und Sie sind einsam. Sie thun mir von Herzen leid, ganz gewiß! Kommen Sie mit und besuchen Sie Papa.«

»Nicht heute abend, Miß Rosamond, nicht heute abend.«

Mr. St. John sprach beinahe wie ein Automat. Nur er allein wußte, was es ihn kostete, ihr diese Bitte abzuschlagen.

»Nun, wenn Sie so eigensinnig sind, will ich Sie verlassen; denn ich darf nicht länger ausbleiben. Der Tau beginnt schon zu fallen. Gute Nacht!«

Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. Er berührte sie leicht. »Gute Nacht!« wiederholte er mit einer Stimme, die so hohl und matt wie ein Echo klang. Sie wandte sich zum Gehen. Doch gleich darauf kam sie zurück.

»Sind Sie ganz wohl?« fragte sie. Wohl mochte sie diese Frage stellen, denn sein Gesicht war so bleich wie ihr Gewand.

»Ganz wohl,« beteuerte er, und mit einer Verbeugung entfernte er sich von der Pforte. Sie ging nach der einen [584] Seite, er nach der anderen. Sie wandte sich zweimal um, ihm nachzublicken, als sie einer Elfe gleich über die Felder thalabwärts trippelte; er blickte nicht ein einziges Mal zurück, als er mit großen, festen Schritten dem Pfarrhofe zuging.

Dieser Anblick der Leiden und Opfer eines anderen wandte mein Sinnen von dem ausschließlichen Nachdenken über mich selbst ab. Diana Rivers hatte ihren Bruder »unerbittlich wie der Tod« genannt. Sie hatte nicht übertrieben.

Zwölftes Kapitel [2]

Zwölftes Kapitel

Ich widmete mich dem Lehrwerke an der Dorfschule so treu und thätig wie ich konnte. Im Anfang war es in der That eine schwere Arbeit. Es verging trotz all meiner Anstrengungen geraume Zeit, bevor ich die Art und die Sprechweise meiner Schülerinnen verstehen konnte. Vollständig unwissend, all ihre Fähigkeiten schlummernd und ungeweckt, schienen sie mir hoffnungslos dumm, und auf den ersten Blick auch alle gleichmäßig dumm. Aber bald sah ich meinen Irrtum ein. Wie unter den Gebildeten, so gab es auch zwischen ihnen einen Unterschied; und als ich erst anfing, sie kennen zu lernen, und sie mich, entwickelte dieser Unterschied sich mit rapider Schnelligkeit. Als ihr Erstaunen über mich, meine Sprache, meine Befehle, meine Manieren erst einmal gewichen war, sah ich zu meiner größten Verwunderung, wie einige dieser schwerfälligen gaffenden Bauerndirnen sich zu klugen, verständigen, kleinen Mädchen entwickelten. Einige erwiesen sich sogar verbindlich und liebenswürdig; und ich entdeckte unter ihnen mehr als ein Beispiel natürlicher, angeborener Höflichkeit und Selbstachtung sowohl, wie ausgezeichneter Anlagen, welche meine Bewunderung und mein herzliches Wohlwollen gewannen. Und diese thaten ihre Arbeit gar bald mit Freuden, sie hielten sich sauber, sie lernten ihre Aufgaben regelmäßig, sie eigneten sich [585] ruhige und ordentliche Manieren an. In einigen Fällen war die Schnelligkeit ihrer Fortschritte sogar überraschend, und ich empfand einen ehrlichen, glücklichen Stolz darüber; außerdem hegte ich bald ein persönliches Wohlwollen für einige der besten Mädchen, und sie liebten mich wiederum. Unter meinen Schülerinnen befanden sich mehrere Töchter von Pächtern, fast schon erwachsene Mädchen. Diese konnten bereits lesen, schreiben und nähen, und sie lehrte ich die Anfangsgründe der Grammatik, Geographie, Geschichte und die feineren Arten von Handarbeit. Unter ihnen fand ich hochachtbare Charaktere – Charaktere, welche nach Belehrung dürsteten und der Bildung zugänglich waren; und mit ihnen brachte ich manchen freundlichen Abend in ihrer eigenen Häuslichkeit zu. Bei solchen Gelegenheiten überhäuften mich die Eltern – der Pächter und seine Frau – mit Aufmerksamkeiten. Es lag für mich eine Freude darin, diese einfache Herzlichkeit anzunehmen und sie durch Achtung und Rücksichten zu vergelten – peinliche Rücksichten auf ihr Gefühl – an welche sie vielleicht nicht immer gewöhnt waren und welche sie zugleich erfreuten und ihnen von Nutzen waren; während es sie in ihren eigenen Augen erhob, spornte es sie an, sich der achtungsvollen Behandlung wert zu machen, welche ich ihnen zu teil werden ließ.

Ich fühlte, wie ich anfing, der Liebling meiner Umgebung zu werden. Wenn ich hinaus kam, hörte ich von allen Seiten freundliche Grüße und wurde mit herzlichem Lächeln bewillkommt. Inmitten allgemeiner Achtung zu leben, wenn es auch nur die Achtung einfacher Arbeiter ist, gleicht dem Gefühl »im Sonnenschein, im ruhigen, süßen Sonnenschein zu sitzen«; reine, beruhigende Empfindungen sprießen und knospen unter dem belebenden Strahl. In dieser Periode meines Lebens schwoll mein Herz viel öfter in Dankbarkeit, als daß es gejammert und getrauert hätte; und doch, mein lieber Leser, wenn ich dir alles sagen soll, inmitten dieses ruhigen, dieses nützlichen Daseins – nachdem [586] ich den Tag in ehrlichen Bestrebungen zwischen meinen Schülerinnen, den Abend mit Zeichnen oder Lesen still und zufrieden zugebracht – pflegte ich in der Nacht gar seltsame Träume zu haben: farbige, bunte, aufregende, stürmische Träume – Träume, in denen ich in einer fremden Umgebung voller Abenteuer, zwischen furchtbaren Gefahren und romantischen Zwischenfällen immer und immer wieder Mr. Rochester traf, jedesmal in dem Augenblick, wo irgend eine entscheidende Krisis eintrat; und dann erneuerte sich mit all seiner ersten Macht, seinem ersten Feuer das Gefühl, in seinem Arm zu liegen, seine Stimme zu hören, seinem Blick zu begegnen, seine Hand, seine Wange zu berühren, ihn zu lieben, von ihm geliebt zu werden – und damit die Hoffnung ein ganzes langes Leben an seiner Seite zuzubringen. Und dann erwachte ich. Dann erinnerte ich mich, wo ich war, und meiner Lage. Dann erhob ich mich von meinem einfachen Lager, zitternd und bebend. Und die stille, dunkle Nacht sah die Zuckungen der Verzweiflung, hörte den Jammer der Leidenschaft. Um neun Uhr am nächsten Morgen begann ich pünktlich mit der Schule; ruhig, gefaßt, vorbereitet auf die ernsten Pflichten des Tages.

Rosamond Oliver hielt ihr Versprechen, mich zu besuchen. Ihren Besuch in der Schule machte sie gewöhnlich zur Zeit ihres täglichen Morgenrittes. Sie pflegte an der Thür des Schulhauses vorzureiten, hinter ihr ein Livreediener ebenfalls zu Pferde. Man kann sich kaum einen lieblicheren Anblick denken, als ihre Erscheinung in ihrem dunkelroten Reitkleide, das Amazonenhütchen von schwarzem Sammet graziös auf ihre langen Locken gedrückt, die ihre Wangen umflossen und über ihre Schultern herabwallten; so trat sie in das einfache, ländliche Gebäude und schwebte zwischen den Reihen der halbgeblendeten Dorfkinder auf und ab. Gewöhnlich kam sie um die Zeit, wo Mr. Rivers damit beschäftigt war, seinen täglichen Katechismusunterricht zu geben. Ich fürchte, daß das Auge der holden Besucherin [587] das Herz des jungen Priesters schmerzlich durchbohrte. Eine Art von Instinkt schien ihm ihren Eintritt anzuzeigen, selbst wenn er ihn nicht mit eigenen Augen sah. Wenn er in der entgegengesetzten Richtung von der Thür blickte, sobald sie in derselben erschien, so wurden seine Wangen wie mit Glut übergossen und seine Züge – wie sehr er auch dagegen kämpfen mochte – veränderten sich in unbeschreiblicher Weise.

Natürlich war sie sich ihrer Macht bewußt, und in der That, er verbarg es nicht vor ihr, weil er es nicht konnte. Trotz seines christlichen Stoicismus pflegte seine Hand zu zittern, sein Auge aufzuflammen, wenn sie auf ihn zuging und mit ihm sprach, und ihm fröhlich, ermunternd, ja sogar zärtlich ins Gesicht lächelte. Er schien mit seinem traurigen, entschlossenen Blicke zu sagen, wenn er es auch nicht aussprach: »Ich liebe dich und ich weiß, daß du mich lieb hast. Nicht weil ich am Erfolge zweifle, bleiben meine Lippen stumm. Ich glaube, daß du mein Herz annehmen würdest, wenn ich es dir darböte. Aber dieses Herz liegt bereits auf einem heiligen Altar, die Opferflamme brennt schon. Bald wird es nichts mehr sein, als die Asche des Opfers.«

Und dann konnte sie schmollen wie ein zürnendes Kind; eine nachdenkliche Wolke trübte ihre strahlende Munterkeit. Hastig entzog sie dann ihre Hand der seinen und wandte sich heftig und zornig von ihm ab, von ihm, der dastand, wie ein Held und Märtyrer zugleich. Ohne Zweifel würde St. John die Welt darum gegeben haben, hätte er ihr folgen, sie zurückrufen, zurückhalten können, wenn sie ihn so verließ; aber er wollte kein Atom seiner Anwartschaft auf den Himmel aufgeben; er wollte für das Elysium ihrer Liebe nicht eine einzige Hoffnung auf das wahre, ewige Paradies hingeben. Überdies konnte er nicht alles das, was in seinem innersten Sein schlummerte – den Wanderer, den Schwärmer, den Dichter, den Priester – [588] in die engen Grenzen einer einzigen Leidenschaft schmieden. Er konnte nicht, er wollte nicht dem wilden Schlachtfelde der Mission für die Prachtsäle und den Frieden von Vale-Hall entsagen. Dies alles erfuhr ich von ihm selbst, durch einen Einfall, welchen ich trotz seiner Zurückhaltung eines Tages in sein Vertrauen zu machen den Mut hatte.

Miß Oliver beehrte mich bereits mit häufigen Besuchen in meiner Hütte. Ich hatte ihren ganzen Charakter kennen gelernt, der weder Heimlichkeiten noch Verstellung kannte; sie war kokett aber nicht herzlos; herrisch aber nicht niedrig selbstsüchtig. Von ihrer Geburt an hatte man sie verwöhnt, aber nicht vollständig verzogen. Sie war vorschnell aber gutmütig; eitel (und das war nicht ihre Schuld, da doch jeder Blick in den Spiegel ihr ein solches Übermaß von Liebreiz zeigte) aber nicht geziert; freigebig, vollständig frei von dem Übermut, der gewöhnlich großen Reichtum begleitet; ursprünglich; hinreichend intelligent; fröhlich, lebhaft und gedankenlos; kurzum, sie war reizend selbst in den Augen einer kühlen Beobachterin, wie ich es war; aber sie war nicht tief interessant oder besonders empfänglich. So war ihr Gemüt zum Beispiel himmelweit verschieden von dem der beiden Schwestern St. Johns. Und doch liebte ich sie ungefähr so, wie ich meine Schülerin Adele liebte; nur mit dem Unterschiede, daß eine innigere Neigung für ein Kind entsteht, das wir behütet und belehrt haben, als wir sie für eine erwachsene Person hegen können, welche dieselben Vorzüge besitzt.

Für mich hatte sie eine liebenswürdige Laune gefaßt. Sie sagte, ich sei Mr. Rivers ähnlich (doch, fügte sie hinzu, nicht halb so hübsch, obgleich ich auch eine nette kleine Person sei; er aber sei doch ein Engel). Indessen sei ich gut, klug, gesammelt, und charakterfest wie er. Ich sei ein lusus naturae, behauptete sie, ein Wunder von einer Dorfschullehrerin; sie sei überzeugt, daß meine Lebensgeschichte, wenn man sie kennte, den schönsten Romanstoff geben würde.

[589] Eines Abends, als sie mit ihrer gewöhnlichen kindlichen Lebhaftigkeit und gedankenlosen jedoch harmlosen Neugierde den Schrank und die Schiebladen des Tisches in meiner kleinen Küche durchstöberte, ent deckte sie zuerst zwei französische Bücher, einen Band von Schillers Werken, eine deutsche Grammatik und ein Wörterbuch; dann meine Zeichenutensilien, und einige Skizzen, einen mit Bleifeder gezeichneten Kopf eines hübschen, kleinen, engelgleichen Mädchens, eine meiner Schülerinnen, und verschiedene Zeichnungen nach der Natur, welche ich im Thal von Morton und auf den umliegenden Moorgründen aufgenommen hatte. Zuerst war sie stumm vor Erstaunen, dann elektrisiert vor Wonne.

Ob ich diese Bilder gemalt? Ob ich denn französisch und deutsch könne? Welch eine Liebe – welch ein Wunder ich sei! Ich zeichne ja viel besser als ihr Lehrer in dem ersten Institut von S–. Ob ich denn nicht eine Skizze von ihr machen wolle, um sie Papa zu zeigen!

»Mit Vergnügen,« entgegnete ich, und bei dem Gedanken, nach einem so vollkommenen und schönheitstrahlenden Modell malen zu dürfen, empfand ich etwas von dem Entzücken des Künstlers. Sie hatte gerade ein dunkelbraunes Seidenkleid an; Arme und Nacken waren bloß; ihr einziger Schmuck waren ihre kastanienbraunen Flechten, welche in wilder und natürlicher Anmut auf ihre Schultern herabfielen. Ich nahm einen Bogen feinen Kartons und zeichnete mit großer Sorgfalt die Umrisse. Ich freute mich darauf, sie in Farben zu malen, und da es bereits spät geworden, sagte ich ihr, daß sie noch einmal kommen und mir zu dem Bilde sitzen müsse.

Ihrem Vater erstattete sie einen solchen Bericht von mir, daß Mr. Oliver selbst sie am nächsten Abend begleitete – ein hoher, grauköpfiger Mann mit massiven Gesichtszügen in mittleren Jahren, an dessen Seite die liebliche Tochter aussah wie eine prächtige Blume neben einem [590] eisgrauen Turm. Er schien ein schweigsamer, vielleicht auch ein hochmütiger Mann; aber gegen mich war er gütig und freundlich. Die Skizze zu Rosamonds Porträt gefiel ihm außerordentlich; er sagte, ich müsse ein fertiges Bild daraus machen. Er bestand auch darauf, daß ich am nächsten Tage nach Vale-Hall kommen müsse, um den Abend dort zuzubringen.

Ich ging hin. Und ich fand einen großen, schönen Wohnsitz, welcher hinreichend Zeugnis von dem Reichtum seines Besitzers ablegte. Während der ganzen Zeit meines Aufenthalts war Rosamond voll Freude und Liebenswürdigkeit. Ihr Vater war freundlich, und als er nach dem Thee ein Gespräch mit mir anfing, gab er in starken Ausdrücken seine Zufriedenheit mit dem zu erkennen, was ich in Morton gethan hatte. Nur fürchte er, wie er sagte, daß ich zu gut für die Stelle sei nach allem was er gesehen und gehört habe, und sie wohl bald gegen eine bessere vertauschen würde.

»In der That,« rief Rosamond aus, »sie ist gescheit genug, um Gouvernante in einer vornehmen Familie sein zu können, Papa.«

Ich dachte, wieviel lieber ich bleiben möchte, wo ich war, als in irgend eine große Familie des Landes gehen! Mr. Oliver sprach von Mr. Rivers und von der ganzen Familie Rivers mit größter Hochachtung. Er sagte, daß es der älteste Name in der ganzen Gegend sei; daß die Vorfahren der Familie sehr reich gewesen seien; daß ganz Morton einst ihnen gehört habe, und daß er der Ansicht sei, der einzige Repräsentant jenes Hauses könne noch jetzt eine Verbindung mit den ersten und größten Familien anstreben. Er meinte, es sei jammerschade, daß ein so schöner und talentvoller junger Mann den Plan gefaßt habe, Missionär zu werden; das hieße wirklich, ein reiches, wertvolles Leben verschleudern. Es schien also, daß der Vater der Verbindung Rosamonds mit St. John durchaus kein Hindernis [591] in den Weg legen würde. Mr. Oliver betrachtete also das gute Herkommen, den alten Namen und den frommen Beruf des jungen Geistlichen als hinreichenden Ersatz für den Mangel an Vermögen.

Es war der fünfte November und ein Feiertag. Nachdem meine kleine Dienerin mir geholfen hatte das Haus zu reinigen, war sie fortgegangen, hoch beglückt durch das Geschenk eines Penny für ihre Dienstleistungen. Alles um mich her war glänzend rein und spiegelblank – gescheuerter Fußboden, polierter Herd, und reingewaschene Stühle. Auch mich selbst hatte ich geschmückt, und nun lag der Nachmittag vor mir, an dem ich beginnen konnte, was ich wollte.

Die Übersetzung einiger Seiten Deutsch nahm eine Stunde in Anspruch. Dann nahm ich meine Palette und meine Stifte und begann mit der weit beruhigenderen, weit leichteren Arbeit, Rosamond Olivers Miniaturbild zu vollenden. Der Kopf war bereits fertig; es fehlte nur noch die Andeutung des Hintergrundes und die Schattierung der Draperie; ein Hauch Karmin mußte noch auf die vollen reifen Lippen gebracht werden – hie und da eine sanfte Welle auf das lockige Haar – eine tiefere Nüance auf die Wimper unter dem bläulichen Augenlid. Ich war in die Ausführung dieser hübschen Details vertieft, als nach einem kurzen, hastigen Klopfen meine Thür geöffnet wurde und St. John Rivers eintrat.

»Ich komme um zu sehen, wie Sie Ihren Feiertag zubringen,« sagte er. »Nicht in Gedanken versunken, hoffe ich? Nein, das ist gut. Wenn Sie malen, werden Sie sich nicht einsam fühlen. Sie sehen, ich mißtraue Ihnen noch immer, obgleich Sie sich bis jetzt wunderbar mutig gezeigt haben. Ich habe Ihnen ein Buch zum Trost für die Abendstunden gebracht,« und dabei legte er ein soeben erschienenes Werk auf den Tisch – ein Gedicht, eine jener genialen Produktionen, wie sie dem Publikum so oft vergönnt wurde in [592] jenen Tagen, dem goldenen Zeitalter der modernen Litteratur. Ach, die Leser unserer Zeit sind weniger begünstigt. Aber Mut! Ich will mich nicht mit bereuen oder klagen aufhalten. Ich weiß, daß die Poesie noch nicht tot, das Genie noch nicht verloren ist; auch hat der Mammon noch keine Macht über beide gewonnen; er kann sie weder fesseln noch töten – eines Tages werden sie doch wieder ihr Dasein, ihre Gegenwart, ihre Freiheit und ihre Macht bethätigen. Mächtige Engel, die ihr dort oben im Himmel Sicherheit gefunden habt! Ihr lächelt, wenn niedrige, schmutzige Seelen triumphieren, und schwache über ihre Zerstörung weinen. Die Poesie zerstört? Das Genie verbannt? Nein! Mittelmäßigkeit laß den Neid dir nicht solche Gedanken eingeben! Nein! sie leben nicht nur, sondern sie herrschen! sie erlösen! Und ohne ihren göttlichen Einfluß, der überall hin dringt, würdest du in der Hölle sein – in der Hölle deiner eigenen Gemeinheit!

Während ich eifrig die hellen Seiten von Marmion (denn das Buch war Marmion) durchblätterte, beugte St. John sich nieder, um meine Zeichnung zu prüfen. Plötzlich schnellte seine schlanke Figur nieder empor – er sagte nichts. Ich sah zu ihm auf: er vermied meinen Blick. Ich kannte seine Gedanken gar wohl und konnte deutlich in seinem Herzen lesen; in diesem Augenblick empfand ich klarer und ruhiger als er, ich war also momentan im Vorteil gegen ihn, und plötzlich kam mir der Wunsch, ihm etwas Liebes zu erweisen, wenn ich konnte.

»Mit all seiner Festigkeit und Selbstbeherrschung legt er sich zu viel auf,« dachte ich, »er verschließt jede Empfindung, jeden Schmerz – verleiht keinem Gefühl Worte, bekennt nichts, teilt nichts mit. Ich bin überzeugt, es würde ihm gut thun, wenn er ein wenig über diese süße Rosamonde spräche, welche er nicht heiraten zu dürfen glaubt. Ich will ihn zum Reden bringen.«

Zuerst sagte ich: »Nehmen Sie einen Stuhl, Mr. Rivers.«

[593] Aber er antwortete wie immer, daß er nicht bleiben könne.

»Gut,« sagte ich dann in meinem Sinne, »bleiben Sie stehen, wenn es Ihnen beliebt, aber ich habe beschlossen, daß Sie nicht so schnell wieder fortkommen, denn die Einsamkeit ist Ihnen mindestens ebenso schädlich wie mir. Ich will doch versuchen, ob ich nicht die geheime Springfeder Ihres Vertrauens finden und eine Öffnung in dieser Marmorbrust zu entdecken vermag, durch welche ich einen Tropfen des Balsams der Sympathie einträufeln kann.«

»Ist das Porträt ähnlich?« fragte ich geradezu.

»Ähnlich? Wem ähnlich? Ich habe es nicht so genau angesehen.«

»Das thaten Sie doch, Mr. Rivers.«

Er schrak förmlich zusammen über meine plötzliche und seltsame Rauheit: dann blickte er mich erstaunt an. »O, das ist noch gar nichts,« murmelte ich vor mich hin. »Diese Kälte und Steifheit Ihrerseits soll mich durchaus nicht zurückschrecken; ich bin entschlossen, noch viel weiter zu gehen.« Dann fuhr ich fort: »Sie haben das Bild genau und deutlich angesehen, aber ich habe nichts dagegen, daß Sie es noch einmal ansehen,« und damit stand ich auf und reichte es ihm hin.

»Ein gut gemaltes Bild,« sagte er, »sehr zartes, klares Kolorit; sehr anmutige und korrekte Zeichnung.«

»Ja, ja. Da weiß ich alles. Aber was sagen Sie zu der Ähnlichkeit? Wem ist es ähnlich?«

Nach kurzem Zögern entgegnete er: »Miß Oliver, vermute ich?«

»Natürlich. Und jetzt, Sir, um Sie zu belehren, weil Sie so trefflich geraten haben, will ich versprechen, Ihnen ein sorgfältiges und getreues Duplikat dieses Bildes zu malen, vorausgesetzt nämlich, daß diese Gabe Ihnen angenehm ist. Ich will doch meine Zeit und Mühe nicht an eine Arbeit verschwenden, die für Sie keinen Wert hat.«

[594] Er fuhr fort, das Bild anzublicken; je länger er es ansah, desto fester hielt er es, desto inniger schien er danach zu verlangen.

»Es ist ähnlich,« murmelte er, »es ist sehr ähnlich! Das Auge ist prächtig getroffen; Farbe, Licht und Ausdruck sind ausgezeichnet, ganz vollkommen! Es lächelt!«

»Würde es Sie trösten oder würde es Sie verletzen, das gleiche Bild zu besitzen? Sagen Sie mir das. Wenn Sie auf Madagascar oder am Cap oder in Indien sind, würde es Ihnen da einen Trost gewähren, dieses Andenken in Ihrem Besitz zu haben, oder würde sein Anblick Erinnerungen heraufbeschwören, welche nur dazu angethan sind, Sie traurig und mutlos zu machen?«

Jetzt blickte er flüchtig auf. Er sah mich an, unentschlossen, erregt; dann heftete er das Auge wieder auf das Bild.

»Daß ich es gern besitzen möchte, ist gewiß. Ob es aber klug und ratsam wäre – das ist eine andere Frage.«

Seitdem ich mich vergewissert hatte, daß Rosamond ihn wirklich lieb hatte, und daß ihr Vater wahrscheinlich keine Einwendung gegen die Heirat machen werde, hatte ich – die ich weniger exaltiert war als St. John – in meinem stillen Sinne beschlossen, ihre Verbindung zu fördern. Mich dünkte, daß, wenn er eines Tages der Besitzer von Mr. Olivers großem Vermögen werden würde, er ebensoviel Gutes stiften könne, als wenn er hinaus ginge in die weite Welt, wo sein Genie unter einer tropischen Sonne dahinwelken, seine Kraft vergeudet werden würde. Und mit dieser Überzeugung antwortete ich jetzt:

»So weit ich die Dinge begreife, wäre es weiser und ratsamer, wenn Sie das Original mit sich nähmen.«

Inzwischen hatte er sich gesetzt; er hatte das Bild vor sich auf den Tisch gelegt, und den Kopf in beide Hände gestützt, betrachtete er es mit zärtlichen Blicken. Jetzt merkte ich, daß meine Dreistigkeit ihn weder verletzt noch [595] erzürnt hatte. Ich bemerkte sogar, daß er es wie eine Art neuer Freude empfand, wie eine unverhoffte Erleichterung, daß man mit ihm offen über einen Gegenstand sprach, den er bis jetzt für unnahbar gehalten hatte. Zurückhaltende Menschen bedürfen der offenen Besprechung ihrer Kümmernisse und Empfindungen in der That oft mehr, als die mitteilsamen. Schließlich ist der starrste Stoiker doch auch nur ein Mensch; und oft ist es die größte Wohlthat, die man ihm erweisen kann, wenn man sich mit Mut und Kühnheit und Wohlwollen in die stille See seiner Seele stürzt.

»Sie hegt große Neigung für Sie, dessen bin ich gewiß,« sagte ich, wie ich hinter seinem Stuhle stand, »und ihr Vater achtet Sie. Außerdem ist sie ein süßes Mädchen – ein wenig gedankenlos; aber Sie würden ja hinreichend Gedanken für sich selbst und sie haben. Sie sollten sie wirklich heiraten.«

»Liebt sie mich?« fragte er.

»Gewiß. Mehr als irgend einen anderen Menschen. Sie spricht unaufhörlich von Ihnen; es giebt kein Thema, das ihr so lieb wäre oder das sie so oft berührte.«

»Es ist sehr wohlthuend, dies zu hören,« sagte er, »sehr. Bitte, fahren Sie noch eine Viertelstunde so fort.« Und in der That zog er seine Uhr aus der Tasche und legte sie vor sich auf den Tisch, um die Zeit zu bemessen.

»Aber was nützt es fortzufahren,« fragte ich, »wenn Sie so dasitzen und wahrscheinlich irgend einen eisernen Faustschlag des Widerspruchs und der Widerlegung vorbereiten oder eine neue Kette schmieden, um sie Ihrem armen Herzen anzulegen?«

»Bilden Sie sich doch nicht solche fürchterliche Dinge ein. Denken Sie lieber, ich gäbe nach und schmölze dahin, wie ich es in Wirklichkeit thue. Irdische Liebe sprudelt wie ein frischer Quell in meiner Seele und überschwemmt mit ihrem süßen Rieseln das ganze Feld, das ich so sorgsam, [596] so mühselig bereitet, so fleißig mit der Saat guter Vorsätze, selbstverleugnender Pläne angebaut hatte. Und jetzt überschwemmt es eine Flut wie himmlischer Nektar – die jungen Keime werden ertränkt, süßes Gift macht sie faulen. Jetzt sehe ich mich auf einer Ottomane in Vale-Hall, zu den Füßen meiner Braut Rosamond Oliver, sie spricht zu mir in ihrer melodischen Stimme – blickt auf mich herab mit jenen Augen, die Sie so geschickt gemalt haben – lächelt mich an mit jenen Korallenlippen. Sie gehört mir – ich gehöre ihr – dies irdische Leben, diese wandelbare Welt genügt mir! Still! still! sagen Sie nichts – mein Herz ist voll Wonne – meine Sinne sind bezaubert, – lassen Sie diese Viertelstunde wenigstens in Frieden vorübergehen.«

Ich that ihm den Willen. Die Uhr tickte weiter. Er atmete schnell und leise. Ich stand schweigend neben ihm. Und in dieser Stille ging die Viertelstunde vorüber. Dann schob er die Uhr wieder in die Tasche, legte das Bild hin, erhob sich und stand vor dem Kamin.

»Nun,« sagte er, »diese kurze Spanne Zeit war der Phantasie und der Illusion gegönnt. Ich lehnte meine Wange an den Busen der Versuchung und beugte meinen Nacken freiwillig unter ihr Blumenjoch; ich kostete von ihrem Becher. Das Polster brannte; in dem Blumenkranze ist eine Wespe verborgen; der Wein schmeckt bitter; ihre Versprechungen sind hohl – ihre Gelübde sind falsch – dies alles weiß ich und sehe ich.«

Erstaunt blickte ich ihn an.

»Es ist seltsam,« fuhr er fort, »daß ich, während ich Rosamond Oliver so grenzenlos, so wild, mit der ganzen Glut einer ersten Leidenschaft liebe, deren Gegenstand so unendlich schön, anmutig und bezaubernd ist – dennoch zu gleicher Zeit das ruhige, klare Bewußtsein hege, daß sie mir keine gute Gattin sein würde; daß sie nicht die Lebensgefährtin ist, welche zu mir paßt; daß ich dies schon innerhalb [597] eines Jahres nach unserer Heirat empfinden würde, und daß auf die Seligkeit eines einzigen Jahres das Elend und die Reue eines ganzen langen Lebens folgen würden. Dies weiß ich.«

»Seltsam, in der That!« konnte ich nicht umhin auszurufen.

»Während etwas in mir krankhaft empfänglich für ihre Reize und Vorzüge ist,« fuhr er fort, »so ist ein anderes Etwas ebenso tief verletzt durch ihre Mängel und Fehler. Und diese letzteren sind derart, daß sie in allem, was ich anstrebe, nicht mit mir sympathisieren könnte – mir in keiner Sache, die ich unternähme, zur Seite stehen würde. Rosamond eine Dulderin, eine Arbeiterin, ein weiblicher Apostel? Rosamond, das Weib eines Missionärs? Nein, nein, nein!«

»Aber Sie brauchten doch nicht Missionär zu werden! Sie würden diesen Plan dann aufgeben.«

»Aufgeben?! Was? Meinen Beruf? Mein großes Werk? Den Grundstein, welchen ich auf Erden für eine Wohnung im Himmel gelegt habe? Meine Hoffnung, einst zu der Zahl derer gerechnet zu werden, welche allen Ehrgeiz von sich gestreift haben, um des größeren willen, das Menschengeschlecht besser gemacht zu haben – Kenntnisse und Belehrung in das Reich der Unwissenheit getragen zu haben – Frieden an die Stelle des Krieges gestellt zu haben – Freiheit für Knechtschaft – Religion für Aberglauben – die Hoffnung auf das ewige Leben für die Furcht der Hölle eingetauscht zu haben? Das soll ich aufgeben? Es ist mir teurer als das Blut in meinen Adern. Es ist das, worauf ich hoffe, wofür ich lebe!«

Nach langem Schweigen sagte ich: »Und Miß Oliver? Bedeuten ihr Kummer und ihre Enttäuschung Ihnen denn gar nichts?«

»Miß Oliver ist stets von Bewerbern und Schmeichlern umgeben. In weniger als einem Monat ist mein [598] Bild aus ihrem Herzen gelöscht, sie wird mich vergessen, und wahrscheinlich einen Mann heiraten, der sie viel glücklicher machen wird, als ich es vermöchte.«

»Sie sprechen sehr kühl und ruhig; aber Sie leiden in diesem Kampfe. Sie reiben sich auf.«

»Nein, wenn ich vielleicht etwas schmächtiger werde, so kommt das durch die Angst um meine Zukunft, die so wenig gesichert – durch die Unruhe, wel che meine fortwährend hinausgeschobene Abreise mir verursacht. Erst heute morgen habe ich die Nachricht erhalten, daß der Nachfolger, dessen Ankunft ich schon solange erwarte, mich erst nach Ablauf von drei Monaten ersetzen kann. Und aus diesen drei Monaten werden vielleicht noch sechs.«

»Sie zittern und erröten, sobald Miß Oliver in das Schulzimmer tritt.«

Wiederum zeigte der erstaunte Ausdruck sich auf seinem Gesicht. Er hatte nicht geglaubt, daß ein Weib so zu einem Manne reden könne. Was mich anbetraf, so fühlte ich mich ganz heimisch in dieser Art von Gesprächen. Ich konnte mich in dem Verkehr mit starken, diskreten, feinfühligen Geistern nie ganz zufrieden geben, bis ich über die Außenwerke konventioneller Zurückhaltung fortgekommen, die Schwelle des Vertrauens überschritten und einen Platz in dem innersten Winkel ihres Herzens erobert hatte. So erging es mir sowohl mit Frauen wie mit Männern.

»Sie sind originell,« sagte er, »und durchaus nicht blöde. Es liegt etwas Tapferes in Ihrem Geiste und etwas Durchdringendes in Ihrem Auge. Aber gestatten Sie mir, Sie zu versichern, daß Sie meine Empfindungen teilweise falsch deuten. Sie halten sie für tiefer und mächtiger als sie sind. Sie lassen mir einen größeren Anteil von Sympathie zu teil werden als ich gerechterweise beanspruchen darf. Wenn ich vor Miß Oliver erröte oder erbebe, so bemitleide ich mich nicht selbst. Ich verachte diese [599] Schwäche. Ich weiß, sie ist unedel; nichts als ein Fieber des Fleisches, wahrlich nicht ein Erbeben der Seele, das versichere ich Sie. Diese ist so fest, wie ein Felsen, der in den tiefsten Tiefen des tobenden Meeres wurzelt. Erkennen Sie mich als das, was ich bin – ein kalter, harter Mann!«

Ich lächelte ungläubig.

»Sie haben mein Vertrauen im Sturm erobert,« fuhr er fort, »und jetzt steht es Ihnen gänzlich zu Diensten. Wenn man mir das blutgetränkte Gewand herabreißt, mit welchem das Christentum menschliche Schwächen und Gebrechen bedeckt, so bin ich einfach nichts als ein harter, kalter, ehrgeiziger Mann. Von allen Gefühlen hat nur die Liebe, welche die Natur uns ins Herz gelegt, dauernde Macht über mich. Vernunft, und nicht Gefühl, ist meine Leiterin. Mein Ehrgeiz kennt keine Grenzen; meine Begierde höher zu steigen, mehr zu thun als die anderen Menschen ist unersättlich. Ich ehre die Duldung, die Ausdauer, den Fleiß, das Talent, weil diese die Mittel sind, durch welche Menschen große Zwecke erreichen und zu schwindelnder Höhe emporsteigen. Ich beobachte Ihre Carriere mit Interesse, weil ich Sie für das Beispiel eines fleißigen, ordentlichen, energischen Weibes halte: nicht weil ich tiefes Mitgefühl für das hege, was Sie durchgemacht haben oder was Sie noch leiden.«

»Sie möchten sich selbst wie einen heidnischen Philosophen hinstellen,« sagte ich.

»Nein. Zwischen mir und deistischen Philosophen giebt es einen Unterschied: ich glaube und ich glaube an das Evangelium. Sie wandten eine falsche Bezeichnung an. Ich bin nicht ein heidnischer, sondern ein christlicher Philosoph – ein Nachfolger der Sekte des Jesus Christus. Als sein Schüler nehme auch ich seine reinen, barmherzigen, milden Lehrsätze an. Ich streite für sie. Ich habe geschworen, sie zu verbreiten. Schon in der Jugend habe ich [600] mich der Religion geweiht, und sie hat meine angeborenen Eigenschaften so veredelt: aus dem kleinen Keime der natürlichen Liebe hat sie den großen, schattenreichen Baum der Menschenliebe gezogen. Aus der wilden, zähen Wurzel menschlicher Rechtschaffenheit hat sie ein richtiges Gefühl der göttlichen Gerechtigkeit gezeitigt. Aus dem Ehrgeiz, Macht und Ruhm für mein elendes Selbst zu gewinnen, hat sie den Ehrgeiz gebildet, das Reich meines Herrn zu verbreiten, Siege für die Standarte des Kreuzes zu erringen. So viel hat die Religion für mich gethan. Sie hat die ursprünglichen Anlagen auf das beste verwendet; sie hat die Natur gezogen und veredelt. Aber sie konnte die Natur nicht ausrotten; und sie kann nicht ausgerottet werden, als bis dieser Sterbliche das Gewand der Unsterblichkeit anlegt.«

Nachdem er dies gesagt hatte, nahm er seinen Hut, welcher auf einem Tische neben meiner Palette lag. Noch einmal blickte er das Porträt an.

»Sie ist wahrhaftig lieblich,« murmelte er. »Sie trägt ihren Namen ›Rose der Welt‹ mit Recht!«

»Und soll ich nicht ein zweites für Sie malen?«

»Cui bono? – Nein!«

Dann zog er den Bogen feinen Papiers, auf welchem meine Hand während des Malens ruhte, um den Karton nicht zu beschmutzen, über das Bild. Was er plötzlich auf diesem leeren Papier sah, ist mir unmöglich zu sagen. Aber irgend etwas war seinem Blick begegnet. Er riß es an sich; er besah den Rand, dann warf er einen sonderbaren Blick auf mich, unbeschreiblich seltsam und mir ganz unverständlich; ein Blick, der jeden Punkt meiner Gestalt, meines Gesichts, meiner Kleidung zu umfassen schien, denn er überfuhr mich schnell wie der Blitz. Seine Lippen öffneten sich, als wollte er sprechen; aber er unterdrückte den Satz, was es nun auch gewesen sein mochte.

»Was ist Ihnen?« fragte ich.

[601] »Nichts, durchaus gar nichts,« lautete die Antwort, und indem er das Papier auf das Bild zurücklegte, sah ich, wie er heimlich ein kleines Stück von dem Rande abriß. Es verschwand in seinem Handschuh; und mit einem heftigen Nicken und einem »Guten Abend« verschwand er.

»Nun,« rief ich aus, »das übersteigt doch alles, was ich bis jetzt an ihm erlebt habe.«

Dann fing ich an, das Papier zu prüfen, aber ich konnte nichts darauf erblicken, als einige matte Farbenklexe, wo ich die Farben meines Pinsels versucht hatte. Ein oder zwei Minuten grübelte ich über das Geheimnis nach; da ich es aber unergründlich fand und auch überzeugt war, daß es nicht von großer Bedeutung sein könne, gab ich es auf und vergaß es bald ganz und gar.

Dreizehntes Kapitel [2]

Dreizehntes Kapitel

Als Mr. St. John ging, begann es zu schneien, und der Schneesturm hielt die ganze Nacht an. Am nächsten Tage brachte ein scharfer Wind frischen, blendenden Schneefall; um die Dämmerungszeit war das Thal ganz verweht und fast unwegbar geworden. Ich hatte die Fensterladen geschlossen, eine Matte vor die Thür gelegt, um zu verhindern, daß der Schnee unterhalb derselben hereinwehe, das Feuer geschürt, und nachdem ich beinahe eine Stunde am Kamin gesessen und dem dumpfen Toben des Sturms gelauscht hatte, zündete ich eine Kerze an, nahm »Marmion« vom Bücherbrett und begann zu lesen.

Bald vergaß ich den Sturm über die Musik der Verse.

Ich hörte ein Geräusch. Der Wind, glaubte ich, rüttele an der Thür. Nein, es war St. John Rivers, der den Riegel zurückschob und durch eisigen Orkan und undurchdringliche Finsternis zu mir gekommen war. Er stand vor mir. Der Mantel, welcher seine hohe Gestalt einhüllte, war weiß und eisig wie ein Gletscher. Ich war fast bestürzt; [602] so wenig hatte ich an jenem Abend einen Besucher aus dem verschneiten Dorfe erwartet.

»Irgend welche böse Nachrichten?« fragte ich. »Ist irgend etwas geschehen?«

»Nein. Wie leicht erschreckt Sie doch sind!« antwortete er, indem er den Mantel abnahm und in der Thür aufhängte, gegen welche er ganz gelassen die schützende Matte zurückschob, die durch seinen Eintritt von ihrem Platze entfernt worden. Dann stampfte er den Schnee von den Füßen.

»Ich werde die Weiße Ihres Fußbodens zerstören,« sagte er, »aber dies eine Mal müssen Sie mir verzeihen.« Dann näherte er sich dem Feuer: »Es war ein hartes Stück Arbeit hierher zu gelangen, das kann ich Sie versichern,« bemerkte er, während er seine Hände über dem Feuer wärmte. »Einmal geriet ich bis an die Brust in eine Schneewehe; glücklicherweise ist der Schnee noch ganz weich.«

»Aber weshalb kamen Sie denn?« konnte ich nicht umhin zu fragen.

»Es ist wenig gastfrei, eine solche Frage an einen Besucher zu richten; aber da Sie nun einmal fragen, antwortete ich Ihnen: ganz einfach, um ein wenig mit Ihnen zu plaudern. Ich wurde meiner stummen Bücher und leeren Zimmer endlich müde. Außerdem empfinde ich seit gestern die Neugierde eines Menschen, dem eine Geschichte nur zur Hälfte erzählt worden ist und der nun mit Ungeduld das Ende derselben erwartet.«

Er setzte sich. Ich erinnerte mich seines seltsamen Betragens von gestern und begann wirklich zu fürchten, daß seine Vernunft gelitten habe. Indessen, wenn er wahnsinnig, so war sein Wahnsinn ein sehr stiller und harmloser; niemals hatte ich sein schönes, gemeißeltes Gesicht marmorähnlicher aussehend gefunden, als gerade jetzt, da er sein durchnäßtes Haar aus der Stirn strich und der Schein des Kaminfeuers auf seine bleiche Stirn und seine [603] ebenso bleichen Wangen fiel, wo ich heute zum erstenmal die Furchen und Linien entdeckte, welche Kummer und Sorge so deutlich darauf gezogen. Ich schwieg, immer erwartend, daß er irgend etwas mir verständliches sagen würde. Aber jetzt hatte er das Kinn in die Hand gestützt, den Finger auf den Mund gelegt – er dachte nach. Es fiel mir auf, daß seine Hand ebenso bleich und abgezehrt war wie sein Gesicht. Ein ungekanntes und kaum gefordertes Gefühl des Erbarmens kam über mich; ich ließ mich hinreißen zu sagen:

»Ich wollte Diana und Mary kämen, um bei Ihnen zu leben; es ist zu traurig, daß Sie so ganz allein sind, denn Sie nehmen gar keine Rücksicht auf Ihre Gesundheit.«

»Durchaus nicht. Wenn es nötig ist, bin ich selbst sehr vorsichtig, aber ich bin jetzt ganz wohl. Was fällt Ihnen denn an meinem Aussehen auf?«

Dies sagte er mit einer sorglosen, abstrakten Gleichgiltigkeit, welche bewies, daß meine Besorgtheit, seiner Meinung nach wenigstens, überflüssig sei. Ich schwieg also.

Er fuhr noch immer langsam mit dem Finger über die Oberlippe und noch hing sein Blick träumerisch an den glühenden Kohlen des Kamins; da ich es für dringend notwendig hielt, doch irgend etwas zu sagen, so fragte ich ihn endlich, ob er kalten Zug von der Thür her verspüre, die hinter ihm lag.

»Nein, nein,« entgegnete er kurz mit einem Anflug von Ärger.

»Gut,« dachte ich, »wenn Sie nicht reden mögen, so schweigen Sie; ich werde mich nicht mehr um Sie kümmern, sondern zu meiner Lektüre zurückkehren.«

Ich putzte also das Licht mit der Schere und begann von neuem, »Marmion« zu lesen. Bald darauf machte er eine Bewegung; unwillkürlich zog das meinen Blick an; er zog nur ein ledernes Notizbuch aus der Tasche und entnahm demselben einen Brief, den er schweigend durchlas, [604] zusammenfaltete und wieder zurücklegte. Dann versank er wiederum in Nachdenken. Es war vergeblich, lesen zu wollen mit einem so undurchdringlichen Gegenstand vor mir; und in meiner Ungeduld vermochte ich mich ebensowenig stumm zu verhalten; er konnte mich ja zurückweisen, wenn er wollte, aber reden mußte ich.

»Haben Sie kürzlich von Diana und Mary gehört?«

»Nichts seit jenem Briefe, den ich Ihnen vor einer Woche zeigte.«

»Und in Ihren eigenen Angelegenheiten hat sich auch nichts geändert? Werden Sie England nicht doch noch früher verlassen müssen, als Sie anfangs glaubten?«

»Nein, in der That, ich fürchte, das wird nicht geschehen. Solch ein Glück wäre zu groß, als daß esmir werden könnte.«

Hier war ich also wieder zurückgeschlagen. Ich wechselte das Thema und begann von der Schule und meinen Schülerinnen zu sprechen.

»Mary Garretts Mutter ist besser, und Mary kam heute morgen wieder zur Schule; nächste Woche kommen vier neue Schülerinnen von der Gießerei; sie wären schon heute gekommen, wenn der Schneefall sie nicht zurückgehalten hätte.«

»So?«

»Mr. Oliver bezahlt für zwei.«

»Wirklich!«

»Und Weihnachten beabsichtigt er, der ganzen Schule ein Fest zu geben.«

»Das weiß ich.«

»Geschieht es auf Ihren Vorschlag?«

»Nein.«

»Auf wessen denn?«

»Auf seiner Tochter Vorschlag, wie ich glaube.«

»Das steht ihr gleich. Sie ist so gutmütig.«

»Ja.«

[605] Wiederum entstand eine Pause. Die Uhr schlug acht Schläge. Das erweckte ihn; er richtete sich empor und wandte sich zu mir.

»Lassen Sie Ihr Buch einen Augenblick und rücken Sie näher ans Feuer,« sagte er.

Mit endloser Verwunderung that ich, was er verlangte.

»Vor einer halben Stunde,« fuhr er fort, »sprach ich von meiner Ungeduld, die Fortsetzung einer Geschichte zu hören; nach reiflicher Überlegung sehe ich ein, daß die Sache besser gehen wird, wenn ich die Rolle des Erzählers und Sie diejenige der Zuhörerin übernehmen. Bevor ich jedoch beginne, ist es nur in der Ordnung, wenn ich Ihnen vorhersage, daß die Geschichte in Ihren Ohren ein wenig abgedroschen klingen wird; aber alle Erzählungen gewinnen manchmal wieder einen gewissen Grad von Frische, wenn neue Lippen sie vortragen. Übrigens – ob nun alt oder neu, sie ist kurz.«

»Vor ungefähr zwanzig Jahren verliebte sich ein armer junger Hilfsprediger – sein Name thut in diesem Augenblick nichts zur Sache – in die Tochter eines reichen Mannes; auch sie verliebte sich in ihn und heiratete ihn gegen den Willen und den Rat ihrer Angehörigen und Freunde; diese sagten sich nach ihrer Heirat gänzlich von ihr los. Ehe zwei Jahre vergangen, war das unbedachte, junge Paar tot und lag ruhig Seite an Seite unter einem Grabstein. (Ich habe ihr Grab gesehen; es bildete einen Teil des Pflasters eines großen Kirchhofs, welcher die finstere, rauchgeschwärzte, alte Kathedrale einer längst überflügelten Fabrikstadt in –shire umgab.) Sie hinterließen eine Tochter, welche schon bei ihrer Geburt von der Barmherzigkeit Armen umfangen ward, die doch so kalt sind wie die Schneewehen, in welchen ich heute abend fast stecken blieb. Die Barmherzigkeit trug das arme, verlassene Ding in das Haus seiner reichen Verwandten mütterlicherseits; es wuchs auf im Hause einer angeheirateten Tante, welche[606] – Mrs. Reed von Gateshead hieß (Sie sehen, jetzt fallen mir die Namen ein). Sie erschrecken, vernehmen Sie ein Geräusch? Ich vermute, daß es nur eine Ratte ist, welche an den Dachsparren des anstoßenden Schulhauses entlang läuft; es war eine Scheune, bevor ich es umbauen ließ, und Scheunen werden fast immer von Ratten heimgesucht.«

Also weiter. Mrs. Reed behielt die Waise zehn Jahre; ob sie glücklich oder unglücklich bei ihr gewesen, vermag ich nicht zu sagen, da ich niemals etwas darüber erfahren habe; aber nach Ablauf dieser Zeit sandte sie sie an einen Ort, den Sie ebenfalls kennen – nach der Schule von Lowood, wo Sie selbst so lange untergebracht waren. Es scheint, daß ihre Carriere dort sehr ehrenwert war; aus einer Schülerin ward sie Lehrerin, wie Sie selbst, – wirklich, es ist auffallend, wie parallel Ihre Geschichte neben jener der Waise herläuft – dann verließ sie das Institut, um Gouvernante zu werden, auch da ist Ihr Geschick wieder analog. Sie übernahm die Erziehung der Mündel eines gewissen Mr. Rochester.

»Mr. Rivers!« unterbrach ich ihn.

»Ich errate Ihre Gefühle,« sagte er, »aber ich bitte Sie, beherrschen Sie dieselben noch für ein paar Augenblicke. Ich bin beinahe schon zu Ende, hören Sie mich ruhig an. Von Mr. Rochesters Charakter weiß ich nichts, aber das eine Faktum, daß er vorgab, dies junge Mädchen zu seiner rechtmäßigen Gattin machen zu wollen, und daß dieses erst am Altar seine noch bestehende Ehe mit einer anderen – allerdings einer Wahnsinnigen – entdeckte. Welcher Art seine darauffolgende Handlungsweise und Vorschläge waren, kann nur ein Gegenstand vager Vermutungen sein; als jedoch ein Ereignis eintrat, welches die Nachfrage nach der Gouvernante notwendig machte, entdeckte man, daß sie fort war – niemand vermochte zu sagen, wie, wann oder wohin. Sie hatte Thornfield-Hall während der Nacht verlassen; jede Nachforschung nach der Richtung, welche sie eingeschlagen, [607] war vergeblich gewesen; man hatte die Gegend nah und fern durchstreift; nirgend war irgend eine Spur oder Nach richt von ihr zu entdecken. Es wurde jedoch ein Gegenstand dringender Notwendigkeit, daß man sie fand; in alle Zeitungen ließ man Ankündigungen einrücken; ich selbst erhielt einen Brief von einem gewissen Mr. Briggs, einem Advokaten, welcher mir die soeben erzählten Details mitteilte. Ist das nicht eine seltsame Erzählung?«

»Sagen Sie mir nur dies Eine,« sagte ich, »und da Sie so viel wissen, werden Sie auch imstande sein, mir dies zu sagen: was ist mit Mr. Rochester geschehen? Wie geht es ihm? Wo ist er? Was thut er? Befindet er sich wohl?«

»Ich bin in vollständiger Unkenntnis über alles, was Mr. Rochester betrifft. Der Brief erwähnt seiner nur, um des betrügerischen und ungesetzlichen Versuchs zu erwähnen, von dem ich Ihnen gesprochen habe. Sie sollten mich lieber nach dem Namen der Gouvernante fragen – nach dem Ereignis, welches ihr Erscheinen dringend notwendig macht.«

»Ist denn niemand in Thornfield-Hall gewesen? Hat niemand Mr. Rochester gesehen?«

»Ich vermute nein.«

»Aber man hat ihm geschrieben?«

»Natürlich.«

»Und was sagte er? Wer hat seine Briefe?«

»Mr. Briggs deutet an, daß die Antwort auf seine Anfrage nicht von Mr. Rochester, sondern von einer Dame kam, welche sich ›Alice Fairfax‹ unterzeichnet hat.«

»Mir wurde eiskalt und ich fühlte einen stechenden Schmerz im Herzen. So waren meine ärgsten Befürchtungen also bestätigt. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er England verlassen und eilte nun irgend einem seiner früheren Aufenthaltsorte auf dem Kontinente zu. Und welches Opiat für seine schweren Leiden – welchen Gegenstand [608] für seine stürmischen, verzehrenden Leidenschaften hatte er dort gefunden? Ich wagte nicht, mir diese Frage zu beantworten. O, mein armer Geliebter! Einst fast schon mein Gatte! Er, den ich so oft ›mein lieber Edward‹ genannt hatte!«

»Er muß ein schlechter Mensch gewesen sein,« bemerkte Mr. Rivers.

»Sie kennen ihn nicht – Sie dürfen auch keine Meinung über ihn aussprechen,« entgegnete ich mit Wärme.

»Meinetwegen,« sagte er ruhig, »und ich habe wahrlich auch andere Dinge im Kopf als ihn. Ich muß mit meiner Geschichte zu Ende kommen. Da Sie mich nicht nach dem Namen der Gouvernante fragen wollen, so muß ich Ihnen denselben aus eigenem Antriebe nennen. Warten Sie – ich habe ihn hier – es ist immer besser, wichtige Dinge niedergeschrieben, fein säuberlich schwarz auf weiß zu haben.«

Und wieder zog er ganz gelassen die Brieftasche hervor, öffnete sie und suchte etwas darin; aus einer der kleinen Abteilungen zog er ein unscheinbares Stückchen Papier, welches in Eile abgerissen zu sein schien; ich erkannte an seiner Farbe und seinen Flecken von ultramarin und blau und hochrot den geraubten Rand der Porträthülle. Er stand auf, hielt es mir dicht vor die Augen und ich las, in schwarzer Tusche von meiner eigenen Hand geschrieben, die Worte: »Jane Eyre«, – wahrscheinlich das Werk eines Augenblicks der Geistesabwesenheit.

»Briggs schrieb mir von einer Jane Eyre,« sagte er, »die Zeitungsnummern nannten eine Jane Eyre – ich kannte eine Jane Elliot. – Ich muß gestehen, daß ich Argwohn, Vermutungen hegte, aber erst gestern nachmittag wurden sie zur Gewißheit. Sie bekennen sich zu dem Namen und entsagen dem alias?«

»Ja, ja – aber wo ist Mr. Briggs? Vielleicht weiß er mehr von Mr. Rochester als Sie?«

[609] »Briggs ist in London; ich zweifle, daß er überhaupt irgend etwas von Mr. Rochester weiß; es ist nicht Mr. Rochester, für den er Interesse hat. Inzwischen vergessen Sie aber die Hauptsachen, indem Sie Kleinigkeiten nachgehen. Sie fragen nicht, weshalb Mr. Briggs Sie suchte – was er von Ihnen wollte.«

»Nun, was wollte er?«

»Ihnen nur mitteilen, daß Ihr Onkel, Mr. Eyre auf Madeira tot sei, daß er Ihnen sein ganzes Vermögen hinterlassen habe, und daß Sie jetzt reich seien – nur das – weiter gar nichts.«

»Ich! reich?«

»Ja! Sie, reich – eine Erbin!«

Darauf entstand eine Pause.

»Natürlich müssen Sie Ihre Identität beweisen,« fuhr Mr. St. John nach längerem Schweigen fort, »ein Schritt, der indessen keine Schwierigkeiten darbietet; dann können Sie sofort Besitznahme ergreifen. Ihr Vermögen ist in der englischen Bank angelegt; Briggs hat das Testament und die nötigen Dokumente.«

So war es denn mit einem Schlage anders geworden! Es ist eine schöne Sache, mein lieber Leser, in einem kurzen Augenblick von Armut zu Reichtum emporgehoben zu werden – eine sehr schöne Sache, aber immerhin ein Ding, das man nicht in einem Moment begreifen und folglich genießen kann. Und dann giebt es Zufälle im Leben, die viel erschütternder oder entzückender sind: dies ist solide, ein Ding der Wirklichkeit, nichts ideales dabei; alles, was damit in Verbindung steht, ist solide und geschäftsmäßig und die Wirkungen sind es ebenfalls. Man schreit und springt nicht! Man ruft nicht Hurrah! wenn man erfährt, daß man ein Vermögen bekommen hat. Man fängt an, die Verantwortlichkeiten in Erwägung zu ziehen und über Geschäftsangelegenheiten nachzudenken, auf einer Basis stetiger Befriedigung erheben sich gewisse ernste Sorgen,[610] – und wir sammeln uns, und brüten mit feierlich ernster Stirn über den uns zu teil gewordenen Segen.

Und überdies gehen die Worte Vermächtnis und Hinterlassenschaft Seite an Seite mit den Worten Tod und Begräbnis. Ich hatte gehört, daß mein Onkel, mein einziger Verwandter, tot sei. Von dem Augenblick an, wo ich von seiner Existenz gehört, hatte ich auch gehofft, ihn eines Tages zu sehen; und jetzt war auch das vorbei. Und dann bekam ja auch nurich allein dies Vermögen, nicht ich und eine glückliche Familie, nur mein einsames Ich! Ohne Zweifel war es eine großartige Gabe, und Unabhängigkeit mußte ein gar köstliches Ding sein – ja, das fühlte ich – dieser Gedanke machte mein Herz vor Wonne erzittern.

»Endlich blicken Sie wieder auf,« sagte Mr. Rivers, »ich glaubte, Medusa habe Sie angeblickt und Sie seien zu Stein geworden – vielleicht werden Sie mich jetzt auch fragen, wieviel Sie wert sind?«

»Wieviel bin ich wert?«

»O, eine Kleinigkeit! Nichts, das der Mühe verlohnte zu nennen; nur zwanzigtausend Pfund Sterling, glaube ich, wurde gesagt. Aber was ist denn das!«

»Zwanzigtausend Pfund?«

Dies war ein neues Erstaunen für mich. Ich hatte auf vier- oder fünftausend Pfund gerechnet. Diese Nachricht beraubte mich in der That für einen Augenblick des Atems. Mr. St. John, den ich noch niemals lachen gehört – Mr. St. John lachte jetzt über mich!

»Nun,« sagte er, »wenn Sie einen Mord begangen hätten und ich Ihnen sagte, daß Ihre That entdeckt wäre, so könnten Sie nicht bestürzter aussehen.«

»Es ist eine große Summe – glauben Sie nicht, daß hier irgend ein Irrtum obwaltet?«

»Durchaus kein Irrtum.«

[611] »Vielleicht haben Sie die Zahlen falsch gelesen – es werden nur zweitausend sein!«

»Es ist in Buchstaben geschrieben, nicht in Zahlen – zwanzigtausend.«

Mir war ungefähr so zu Mute, wie einem Individuum, das nur eine geringe gastronomische Kraft besitzt und sich allein an einer Tafel niederläßt, welche mit Speisen und Leckerbissen für hundert Personen besetzt ist.

Jetzt erhob sich Mr. Rivers und nahm seinen Mantel um.

»Wenn es nicht ein so stürmischer Abend wäre,« sagte er, »so würde ich Hannah herunter senden, um Ihnen Gesellschaft zu leisten. Sie sehen so verzweifelt unglücklich aus; man sollte Sie nicht allein lassen. Aber das arme Weib, die Hannah, könnte nicht so gut durch die Schneewehen kommen wie ich; ihre Beine sind nicht ganz so lang. Daher muß ich Sie schon einsam Ihrem Kummer überlassen. Gute Nacht!«

Er zog den Riegel zurück. Da kam mir ein plötzlicher Gedanke.

»Warten Sie eine Minute,« rief ich.

»Nun?«

»Es macht mir Kopfzerbrechen, weshalb Mr. Briggs an Sie über mich schrieb; oder woher er Sie kannte und wie er glauben konnte, daß Sie, der Sie in einem so weltentlegenen Winkel wohnen, die Macht besäßen, ihm zu meiner Entdeckung behilflich zu sein.«

»O! ich bin ein Prediger,« sagte er, »und an die Geistlichen wendet man sich oft in den seltsamsten Angelegenheiten.«

Wieder rasselte der Riegel.

»Nein, das genügt mir nicht!« rief ich aus. Und in der That lag etwas in der hastigen, unklaren Antwort, das meine Neugierde nur noch mehr reizte, anstatt sie zu befriedigen.

[612] »Das ist eine seltsame Geschichte,« fügte ich hinzu, »und ich muß noch mehr darüber erfahren.«

»Ein ander Mal.«

»Nein, heute abend! – heute abend!« und als er sich von der Thür abwandte, stellte ich mich zwischen diese und ihn. Er sah ziemlich verlegen aus.

»Sie werden bestimmt nicht von hier gehen, bevor Sie mir nicht alles gesagt haben!« sagte ich.

»Erlassen Sie mir das, für den Augenblick wenigstens.«

»Sie sollen – Sie müssen!«

»Ich möchte lieber, daß Diana oder Mary mit Ihnen darüber spräche.«

Natürlich machten seine Einwendungen mich nur noch erregter. Mein Verlangen, alles zu erfahren, hatte den höchsten Grad erreicht. Es mußte befriedigt werden, und das ohne Vorzug. Ich sagte ihm das.

»Ich sagte Ihnen vorher, daß ich ein hartköpfiger Mann sei,« sagte er, »schwer zu überreden.«

»Und ich bin ein hartköpfiges Weib; – unmöglich mich abzuweisen!«

»Und dann,« fuhr er fort, »bin ich kaltblütig; keine Leidenschaft reißt mich hin.«

»Während ich heißblütig bin, und Feuer schmilzt Eis. Das Holzfeuer dort hat allen Schnee aus Ihrem Mantel schmelzen gemacht; und jetzt ist er auf meinen Fußboden herabgeronnen und hat ihn zu einer schmutzigen Straße gemacht. Mr. Rivers, wenn Sie hoffen, daß Sie Vergebung für das Verbrechen finden werden, den sandbestreuten Fußboden einer Küche beschmutzt zu haben, so sagen Sie mir alles, was ich zu erfahren wünsche.«

»Nun,« sagte er, »gut; ich gebe nach, wenn auch nicht Ihrem Ernst, so doch Ihrer Ausdauer; gerade so wie auch der Stein durch einen fortwährenden Tropfenfall ausgehöhlt wird. Überdies müssen Sie es ja doch eines Tages [613] erfahren – also besser jetzt als später. Ihr Name ist also Jane Eyre?«

»Natürlich. Darüber waren wir ja schon im Reinen.«

»Sie wissen vielleicht nicht, daß ich Ihr Namensvetter bin? daß ich St. John Eyre Rivers getauft bin?«

»Nein, in der That; ich erinnere mich jetzt wohl, in den Büchern, welche Sie mir zu verschiedenen Zeiten geborgt haben, auch den Buchstaben E gesehen zu haben; doch fragte ich niemals, für welchen Namen er stehe. Und nun weiter? Ohne Zweifel –«

Ich hielt inne. Ich hatte nicht einmal den Mut, den Gedanken zu fassen, – viel weniger ihm Worte zu verleihen, – der sich vor mir verkörperte und nach Ablauf der nächsten Minute als starke Wahrscheinlichkeit vor mir stand. Die Umstände knüpften aneinander an, paßten zusammen, ordneten sich in Reih und Glied; die Kette, welche bis jetzt in einem formlosen Haufen von Gliedern dagelegen, wurde gerade auseinandergezogen – jeder Ring war vollständig, die Verbindung ununterbrochen. Instinktiv wußte ich, wie die Sache lag, bevor St. John noch ein Wort gesprochen; aber ich kann nicht verlangen, daß mein Leser dasselbe instinktive Ahnungsvermögen habe, deshalb muß ich seine Erklärung wiederholen.

»Der Name meiner Mutter war Eyre; sie hatte zwei Brüder; der eine war Geistlicher und heiratete Miß Reed von Gateshead; der andere John Eyre Esq., Kaufmann, ist vor kurzem in Funchal auf Madeira gestorben. Da Mr. Briggs Mr. Eyres Sachwalter ist, schrieb er im letzten August an uns und teilte uns den Tod unseres Onkels mit; zugleich unterrichtete er uns davon, daß er sein Vermögen der Tochter seines Bruders hinterlassen habe; wir waren übergangen infolge eines Streites zwischen ihm und meinem Vater, dem er niemals vergeben hatte. Vor einigen Wochen schrieb Mr. Briggs wieder, um uns zu sagen, daß die Erbin unauffindbar sei und anzufragen, ob wir nichts[614] von ihr wüßten. Ein Name, vielleicht einmal in der Zerstreuung auf ein Stück Papier geschrieben, hat mich in den Stand gesetzt, sie ausfindig zu machen. Das übrige wissen Sie.«

Und wiederum wollte er gehen, aber ich stellte mich vor die Thür.

»Lassen Sie mich sprechen,« sagte ich, »geben Sie mir nur einen Augenblick, um aufzuatmen und nachzudenken.«

Ich hielt inne – er stand vor mir, den Hut in der Hand, und sah sehr ruhig und gefaßt aus.

Ich fuhr fort:

»Ihre Mutter war die Schwester meines Vaters.«

»Ja.«

»Folglich meine Tante.«

Er nickte.

»Mein Onkel John war Ihr Onkel John? Sie, Diana und Mary sind die Kinder seiner Schwester, ebenso wie ich das Kind seines Bruders bin?«

»Ohne Zweifel.«

»Sie sind also meine Vettern und Cousinen; die Hälfte unseres Bluts fließt also aus derselben Quelle?«

»Wir sind Vettern und Cousinen; ja.«

Ich beobachtete ihn. Mir war's als hätte ich einen Bruder gefunden, und noch dazu einen, auf den ich stolz sein konnte – den ich lieben konnte; und zwei Schwestern, welche so große, erhabene Eigenschaften besaßen, daß sie mir, als sie für mich nur fremde Menschen waren, die größte Liebe und Bewunderung eingeflößt hatten. Die beiden Mädchen, auf welche ich an jenem Abend, als ich auf dem feuchten Erdboden kniete und durch das niedrige, vergitterte Fenster der Küche von Moorhouse sah, mit einem so bitteren Gemisch von Interesse und Verzweiflung geblickt, – sie waren meine nächsten Verwandten! Und der junge, stattliche Mann, welcher mich fast sterbend auf seiner Schwelle gefunden – er war durch Bande des Bluts [615] an mich gebunden. Welche Entdeckung für eine unglückliche Verlassene! Dies war Reichtum in der That! – Reichtum für mein Herz! – eine ganze Fundgrube reiner und natürlicher Liebe! Dies war eine Himmelswohlthat, rein, klar, neubelebend. Nicht wie ein schweres Geschenk von Gold, das in seiner Art willkommen genug sein mag, durch sein Gewicht aber stets zu Boden drückt. In einer plötzlichen Aufwallung von Freude klatschte ich in die Hände – meine Pulse flogen – in meinen Schläfen hämmerte es.

»O, ich bin so froh! – ich bin so froh!« rief ich aus.

St. John lächelte.

»Sagte ich nicht, daß Sie die Hauptsache vernachlässigten, um Kleinigkeiten nachzuhängen?« fragte er. »Sie wurden ernst, als ich Ihnen sagte, daß Ihnen ein Vermögen zugefallen sei, und jetzt sind Sie freudig erregt um einer Sache willen, die gar keine Bedeutung hat.«

»Was wollen Sie damit sagen? Für Sie mag es keine Bedeutung haben; Sie besitzen Schwestern und kümmern sich wenig darum, ob Sie eine Cousine haben; ich jedoch hatte niemand; und jetzt sind plötzlich drei Verwandte – oder nur zwei, wenn Ihnen nichts daran liegt, mitgerechnet zu werden – in Lebensgröße in mein Dasein getreten. O, ich sage es noch einmal, ich bin so glücklich!«

Ich ging schnell durch das Zimmer. Dann hielt ich inne. Die Gedanken, welche schneller kamen, als ich sie erfassen, begreifen, ordnen konnte, erstickten mich fast, – Gedanken über das, was über kurz oder lang sein konnte, mußte und sollte. Ich starrte die kahle Wand an; sie erschien mir wie ein Himmel, der dicht mit leuchtenden Sternen übersäet war – und jeder einzelne derselben bedeutete mir ein Glück, eine Wonne, eine That! Jetzt konnte ich jenen Wohlthaten erweisen, die mir das Leben gerettet und die ich bis zu diesem Augenblick nur unthätig hatte wieder lieben können. Sie lebten in einem Joche, ich konnte sie befreien, sie waren in der Welt zerstreut, [616] ich konnte sie wieder vereinigen, – die Unabhängigkeit, der Überfluß, dessen ich mich erfreute, konnte auch ihnen zu teil werden. Waren wir nicht unserer vier? Zwanzigtausend Pfund in gleiche Teile geteilt, würde für jeden fünftausend geben – reichlich genug; der Gerechtigkeit sollte Genüge geschehen, – unser aller Glück gesichert werden. Jetzt lastete der Reichtum nicht schwer auf mir, jetzt war es nicht nur ein Erbteil an Geld und Geldeswert – nein, es war ein Legat an Leben, Hoffnung und Genuß!

Ich kann nicht sagen, wie ich aussah, während diese Gedanken auf meine Seele einstürmten; aber bald bemerkte ich, daß Mr. Rivers einen Stuhl hinter mich gestellt hatte und sanft versuchte, mich auf denselben nieder zu drücken. Er riet mir auch, gefaßt zu sein; mich aber empörte seine Anspielung auf meine Hilflosigkeit und Erregtheit; ich schüttelte seine Hand von meiner Achsel und begann von neuem auf und ab zu wandern.

»Schreiben Sie schon morgen an Diana und Mary und sagen Sie ihnen, daß sie sofort nach Hause kommen,« sagte ich, »Diana hat mir oft gesagt, daß sie sich für reich halten würden, wenn sie tausend Pfund hätten, folglich werden sie mit fünftausend Pfund sehr gut leben können.«

»Sagen Sie mir, wo ich Ihnen ein Glas Wasser holen kann,« sagte St. John, »Sie müssen sich wirklich beruhigen und Ihre Gefühle zu beherrschen suchen.«

»Unsinn! und welche Folgen wird diese Erbschaft für Sie haben? Wird sie Sie in England zurückhalten und Sie bewegen, Miß Oliver zu heiraten? Werden Sie sich in Ruhe niederlassen, wie ein gewöhnlicher Sterblicher?«

»Sie phantasieren. Ihre Gedanken verwirren sich; ich habe Ihnen diese Nachricht zu plötzlich mitgeteilt; es war zuviel für Ihre Kräfte.«

»Mr. Rivers! Sie machen mich wirklich ungeduldig; ich bin vollkommen vernünftig; Sie sind es, welcher mich [617] mißversteht, oder welcher vielmehr vorgiebt, mich mißzuverstehen.«

»Vielleicht würde ich Sie besser verstehen, wenn Sie sich klarer ausdrückten.«

»Klarer ausdrücken! Was ist denn hier noch klarer auszudrücken. Sie müssen doch einsehen, daß zwanzigtausend Pfund, die in Frage stehende Summe, zu gleichen Teilen zwischen dem Neffen und den drei Nichten meines Onkels verteilt, fünftausend Pfund für jeden ergeben? Was ich will, ist, daß Sie an Ihre Schwestern schreiben und ihnen Mitteilung von dem Vermögen machen, welches ihnen zugefallen ist.«

»Ihnen selbst, wollen Sie sagen.«

»Ich habe Ihnen deutlich meine Ansicht über die Sache erklärt. Eine andere vermag ich nicht zu fassen. Ich bin nicht brutal selbstsüchtig, nicht blindlings ungerecht, nicht teuflisch undankbar. Außerdem bin ich entschlossen, mein Heim zu gründen, mir Verwandte zu schaffen. Ich liebe Moor-House, und in Moor-House will ich wohnen. Ich liebe Diana und Mary, und bei Diana und Mary will ich mein Lebelang bleiben. Es wird mir ein Segen und eine Freude sein, fünftausend Pfund zu besitzen; aber es würde mich quälen und bedrücken, zwanzigtausend mein eigen zu nennen; und außerdem könnten sie mir niemals von Rechtswegen gehören, wenn auch das Gesetz sie mir zuspricht. So überlasse ich Ihnen nur das, was für mich absolut überflüßig wäre. Opposition und Diskussion in dieser Sache sind durchaus nutzlos. Einigen wir uns lieber über den Gegenstand und ordnen alles nötige sofort.«

»Dies heißt nach der ersten Eingebung handeln; Sie bedürfen mehrerer Tage, um die Sache zu überlegen, bevor ich Ihr Wort als giltig annehmen kann.«

»O! Wenn es nur die Aufrichtigkeit und Dauer meines Willens ist, die Sie bezweifeln, so bin ich ruhig. Sehen Sie denn wenigstens die Gerechtigkeit der Sache ein?«

[618] »Ja; eine gewisse Gerechtigkeit erkenne ich an; doch läuft sie jedem hergebrachten Brauch entgegen. Außerdem haben Sie Anspruch an das ganze Vermögen; mein Onkel erwarb es durch seine eigenen Anstrengungen; es stand ihm frei, es zu hinterlassen, wem er wollte: er hinterließ es Ihnen. Und schließlich erlaubt das Gesetz Ihnen, es zu behalten. Mit reinem Gewissen können Sie es als Ihnen gehörig betrachten.«

»Bei mir ist es ebensogut eine Sache des Gewissens wie des Gefühls,« sagte ich. »Und ich muß nach meinem Gefühl handeln. Ich habe bis jetzt so selten Gelegenheit gehabt, das zu thun. Und wenn Sie während der Dauer eines ganzen Jahres mit mir stritten, mich ärgerten und mir widersprächen, so würde ich mir die selige Freude nicht versagen, die sich mir in dieser Stunde flüchtig offenbart hat – nämlich, zum Teil eine schwerwiegende Verbindlichkeit abzuzahlen und mir Freunde für das ganze Leben zu erringen.«

»So denken Sie jetzt,« begann St. John wiederum, »weil Sie nicht wissen, was es heißt, Reichtum zu besitzen und folglich sich desselben zu erfreuen; Sie haben keinen Begriff von der Wichtigkeit, welche der Besitz von zwanzigtausend Pfund Ihnen verleihen würde; von der Stellung, welche sie Ihnen in der Gesellschaft geben würden; von den Aussichten, welche sich Ihnen dadurch eröffnen würden; Sie können nicht – – –«

»Und Sie,« unterbrach ich ihn, »können sich keinen Begriff machen von der Sehnsucht, welche ich nach schwesterlicher und brüderlicher Liebe empfinde. Ich hatte niemals eine Heimat, niemals Brüder oder Schwestern. Ich will und muß sie jetzt haben. Widerstrebt es Ihnen denn, mich aufzunehmen und anzuerkennen?«

»Jane, ich will Ihnen ein Bruder sein – meine Schwestern werden Ihre Schwestern sein – ohne daß Sie uns das Opfer Ihrer gerechten Ansprüche bringen.«

[619] »Bruder? Ja. In der Entfernung von einigen tausend Meilen! Schwestern? Ja! Die ein Sklavenleben zwischen Fremden führen! Und ich reich! Überschüttet mit Gold, das ich mir nicht erworben und das ich nicht verdiene! Und Ihr arm! Großartige Gleichberechtigung und Brüderlichkeit! Enge, innige Vereinigung! Herzliche Liebe und Anhänglichkeit!«

»Aber Jane, Ihre Sehnsucht nach Familienbanden und häuslichem Glück könnte doch in anderer Weise gestillt werden, als in jener, welche Sie im Sinne haben! Sie könnten sich doch verheiraten!«

»Noch einmal Unsinn! Heiraten! Ich will nicht heiraten und werde niemals heiraten!«

»Das ist zuviel gesagt. Solche gewagte Behauptungen sind ein Beweis von der Erregung, in welcher Sie sich befinden.«

»Es ist nicht zuviel gesagt. Ich weiß, was ich empfinde und wie all mein Denken dem bloßen Gedanken einer Heirat widerstrebt. Niemand würde mich aus Liebe heiraten, und ich wünsche nicht in dem Licht einer einfachen Geldspekulation dazustehen. Überdies will ich keinen fremden, mir unsympathischen Menschen, der ganz von mir verschieden ist. Ich will meine Anverwandten, mit denen ich jedes Gefühl gemeinsam habe. Sagen Sie noch einmal, daß Sie mein Bruder sein wollen. Als Sie jene Worte aussprachen, war ich zufrieden und glücklich; wiederholen Sie sie, wenn Sie können; wiederholen Sie sie aufrichtig!«

»Ich glaube, daß ich es kann. Ich weiß, daß ich meine eigenen Schwestern stets geliebt habe; und ich weiß, auf was meine Liebe für sie gegründet ist – auf die Achtung vor ihrem Wert, auf die Bewunderung ihrer Eigenschaften und Talente. Auch Sie besitzen Gemüt, Herz und Grundsätze; Ihre Geschmacksrichtung und Ihre Gewohnheiten gleichen denen Marys und Dianas; Ihre Gesellschaft ist mir stets angenehm; in der Unterhaltung mit Ihnen habe [620] ich schon seit langer Zeit einen wohlthuenden Trost gefunden. Ich fühle, daß ich Ihnen leicht und gern einen Platz in meinem Herzen einräumen kann; Sie sind meine dritte und jüngste Schwester.«

»Ich danke Ihnen! Für heute abend bin ich damit zufrieden. Jetzt sollten Sie aber gehen; denn wenn Sie noch länger blieben, regten Sie mich vielleicht von neuem durch Ihre mißtrauischen Gewissensbisse auf.«

»Und die Schule, Miß Eyre? Die wird jetzt doch vermutlich geschlossen werden müssen?«

»Nein; ich werde den Platz einer Lehrerin behalten und ausfüllen, bis Sie einen Ersatz für mich gefunden haben.«

Er lächelte zustimmend. Dann drückten wir uns die Hände und er ging.

Ich brauche wohl nicht bis in alle Einzelheiten der weiteren Kämpfe, welche ich zu bestehen hatte, der vielen Argumente, derer ich mich bedienen mußte, zu erwähnen, bis ich endlich die Angelegenheit der Erbschaft so geordnet hatte, wie ich es wünschte. Meine Aufgabe war eine sehr schwierige; da ich aber fest entschlossen war – da meine Verwandten endlich einsahen, daß es unwiderruflich fest bei mir stand, eine gerechte und gleichmäßige Teilung des Vermögens vorzunehmen, – da sie endlich in ihrem innersten Herzen wohl die Billigkeit dieser Absicht anerkannt und außerdem sich wohl klar bewußt waren, daß sie an meiner Stelle gerade so gehandelt haben würden, wie ich zu handeln wünschte – so gaben sie schließlich insoweit nach, daß sie einwilligten, die Sache einem Schiedsgericht zu unterbreiten. Die erwählten Richter waren Mr. Oliver und ein tüchtiger Rechtsanwalt; beide stimmten mit meiner Ansicht überein. Ich trug den Sieg davon. Die Akte der Übertragung wurden ausgefertigt. St. John, Diana, Mary und ich bekamen alle ein hinreichendes Auskommen.

Vierzehntes Kapitel [2]

[621] Vierzehntes Kapitel

Das Weihnachtsfest war beinahe herangekommen, ehe alles geordnet war; die Zeit des Festes der ganzen Christenheit war nahe. Jetzt schloß ich die Schule von Morton und trug Sorge dafür, daß die Trennung meinerseits nicht ohne äußeres Zeichen vorüberging. Das Glück öffnet doch Hand und Herz gar wundersam; und in geringem Maße zu geben, wenn wir reichlich empfangen haben, ist nur ein Abfluß, den wir der ungewohnten Aufwallung unserer Gefühle verschaffen. Schon lange hatte ich voll Freude empfunden, daß manche meiner ländlichen Schülerinnen mich liebten, und als wir voneinander Abschied nahmen, wurde diese Empfindung vollauf bestätigt; sie legten ihre Anhänglichkeit für mich deutlich und ehrlich an den Tag. Wie groß war meine Dankbarkeit, als ich sah, daß ich wirklich einen Platz in ihren unverdorbenen Herzen inne gehabt; so versprach ich ihnen denn, daß niemals eine Woche vergehen solle, ohne daß ich sie aufsuchen und ihnen eine Unterrichtsstunde in ihrer Schule geben würde.

Mr. Rivers kam, um die Thür zu verschließen, nachdem die Klassen, welche jetzt sechzig Mädchen zählten, an mir vorüber defiliert waren; ich stand mit dem Schlüssel in der Hand da und wechselte noch einige besondere Abschiedsworte mit einem halben Dutzend meiner besten Schülerinnen; diese waren so anständige, achtbare, bescheidene und gut unterrichtete junge Geschöpfe, wie sie nur irgend in der brittischen Bauernschaft zu finden waren. Und das ist viel gesagt; denn schließlich, nachdem ich viele »paysannes« und deutsche Bäuerinnen gesehen habe, muß ich behaupten, daß der brittische Bauernstand der am besten unterrichtete, anständigste und achtbarste in ganz Europa ist.

»Betrachten Sie sich als wohl belohnt nach vielen Monaten der Mühsal und Anstrengung?« fragte Mr. Rivers, als sie alle fort waren. »Gewährt das Bewußtsein [622] Ihrer Zeit und Ihrer Generation etwas wirklich Gutes geleistet zu haben Ihnen nicht wahre Freude?«

»Ohne Zweifel.«

»Und Sie haben doch nur wenige Monate harte Arbeit gethan! Wäre nicht ein ganzes Leben, welches der Aufgabe gewidmet, das Menschengeschlecht zu bessern, ein gut angewandtes Leben?«

»Ja,« sagte ich. »Aber ich hätte nicht für alle Zeit in dieser Weise leben können. Ich will mich ebenso gern an meinen eigenen Talenten und Fähigkeiten erfreuen, wie ich jene meiner Nebenmenschen heranbilde. Und zwar muß ich mich ihrer jetzt freuen; führen Sie weder meine Seele noch meinen Leib in die Schule zurück; jetzt liegt sie hinter mir und ich muß einen ganzen Feiertag haben.«

Er sah sehr ernst aus.

»Was bedeutet das? Welche krankhafte Sucht nach Zerstreuung legen Sie jetzt an den Tag? Was haben Sie vor?«

»Ich will thätig sein, so thätig wie möglich. Und vor allen Dingen muß ich Sie bitten, Hannah in Freiheit zu setzen und jemand zu suchen, die Sie an ihrer Stelle bedient.«

»Brauchen Sie sie?«

»Ja. Um mit mir nach Moor-House zu gehen. In einer Woche werden Diana und Mary zu Hause sein, und bei ihrer Ankunft sollen sie alles in der schönsten Ordnung finden.«

»Ich verstehe. Ich glaubte schon, Sie beabsichtigten, irgend einen Ausflug zu machen. Es ist besser so. Hannah soll Sie begleiten.«

»Sagen Sie ihr also, daß sie sich morgen bereit hält. Und hier ist der Schlüssel zum Schulzimmer. Morgen früh werde ich Ihnen den Schlüssel zu meinem Häuschen geben.«

Er nahm ihn.

»Sie liefern ihn sehr freudig ab,« sagte er. »Ihr[623] Leichtsinn erscheint mir ein wenig unbegreiflich, weil ich nicht weiß, welche Beschäftigung Sie in Aussicht nehmen an Stelle derjenigen, welche Sie aufgeben, welches Ziel, welchen Zweck, welchen Ehrgeiz Sie jetzt für Ihr Leben haben?«

»Mein erstes Ziel ist, Moor-House vom Boden bis zum Keller einer gründlichen Reinigung zu unterziehen; (begreifen Sie die ganze Wucht dieses Ausdrucks?) Das nächste, es mit Bienenwachs, Öl und einer unbestimmten Anzahl von Tüchern zu reiben, bis es blitzt; das dritte, jeden Tisch, jeden Stuhl, jedes Bett, jeden Teppich mit mathematischer Präcision zu arrangieren; darauf werde ich Sie beinahe zu Grunde richten durch ungezählte Massen von Torf und Holz, um in jedem Zimmer ein hellloderndes Feuer zu unterhalten; und endlich und zuletzt werden die beiden letzten Tage, welche der Ankunft Ihrer Schwestern vorausgehen, von Hannah und mir dem Schlagen von Eiern, Auslesen von Rosinen, Rösten von Gewürzen, Backen von Weihnachtskuchen, Schneiden von Fleisch und anderem culinarischem Ritus gewidmet sein, von welchem Uneingeweihte wie Sie doch keinen Begriff haben. Kurz und gut, mein Zweck ist es, vor nächstem Donnerstag alles in einem Zustande der vollkommensten Bereitschaft zu Dianas und Marys Empfang zu haben; mein Ehrgeiz besteht darin, ihnen das beau-ideal eines Willkommens zu bieten, wenn sie kommen.«

St. John lächelte fast unmerklich. Aber er war noch immer nicht ganz zufrieden.

»Das alles ist sehr schön für den Augenblick,« sagte er, »aber im Ernst gesprochen, ich hoffe und vertraue, daß Sie Ihren Blick ein wenig höher richten werden, als auf häusliche Freuden und Verschönerungen, wenn die erste Freude und Erregung vorüber sein werden.«

»O, das sind die besten Dinge, die das Leben uns bietet!« unterbrach ich ihn.

[624] »Nein Jane, nein! Diese Welt ist nicht die Stätte des Genusses; versuchen Sie nicht, sie dazu zu machen; auch nicht eine Stätte der Ruhe: werden Sie nicht träge.«

»Im Gegenteil! Ich beabsichtige sehr thätig und arbeitsam zu sein!«

»Jane, für den Augenblick verzeihe ich Ihnen noch; ich gebe Ihnen zwei Monate zu dem vollen Genuß Ihrer neuen Lebenslage; zwei Monate dürfen Sie den Reiz dieser neu aufgefundenen Verwandtschaft auskosten; aber dann hoffe ich, werden Sie Ihren Blick über Moor-House und Morton hinaus erheben; Sie werden mehr anstreben als die Gesellschaft der Schwestern, mehr als die selbstsüchtige Ruhe und das sinnliche Behagen des Überflusses unserer Civilisation. Ich hoffe, daß die Kraft Ihrer Energie Ihnen dann wiederum keine Ruhe lassen wird.«

Ich sah ihn erstaunt an.

»St. John,« sagte ich endlich, »es ist beinahe gottlos, daß Sie so reden! Ich habe mir vorgenommen, so glücklich und zufrieden wie eine Königin zu sein, und da kommen Sie und versuchen von neuem die Ruhelosigkeit in mir wachzurufen! Zu welchem Zweck?«

»Zu dem Zwecke, die Talente und Fähigkeiten, welche Gott Ihnen gegeben, in seinem Sinne zu verwerten. Denn eines Tages wird er dafür strenge Rechenschaft von Ihnen verlangen. Jane, ich werde getreulich und unablässig über Ihnen wachen – das kündige ich Ihnen an. Und bemühen Sie sich, den ungerechtfertigten Eifer zu unterdrücken, mit dem Sie sich den einfachen, gewöhnlichen häuslichen Freuden hingeben. Hängen Sie sich nicht zu fest an die Bande des Fleisches. Bewahren Sie Ihre Energie und Ausdauer für eine vollkommenere Sache auf; unterlassen Sie es, sie an gewöhnliche, wertlose Dinge zu verzetteln. Hören Sie mich, Jane?«

»Ja. Gerade so als ob Sie Griechisch sprächen. Ich[625] fühle nur, daß ich vollkommene Ursache habe, froh und glücklich zu sein, und glücklich sein will ich. Adieu!«

Glücklich war ich in Moor-House, und angestrengt arbeitete ich. Desgleichen Hannah. Sie war entzückt zu sehen, wie fröhlich ich sein konnte inmitten der Unruhe eines Hauses, in welchem das unterste zu oberst gekehrt war – wie gut ich bürsten, abstäuben, reinigen und kochen konnte. Und wirklich nach zwei Tagen der heillosesten Verwirrung war es reizend mit anzusehen, wie wir nach und nach Ordnung in das Chaos brachten, das wir selbst hervorgerufen hatten. Kurz vorher hatte ich noch eine Reise nach S. unternommen, um einige neue Möbelstücke zu kaufen, nachdem meine Cousinen mir carte blanche und eine bestimmte Summe zu dem Zwecke gegeben hatten, alle mich gut dünkenden Änderungen zu treffen. Das gewöhnliche Wohnzimmer und die Schlafzimmer ließ ich ganz so, wie sie gewesen, denn ich wußte, daß Diana und Mary mehr Freude an dem Wiedersehen der häßlichen, alten Stühle und Tische haben würden, als an dem Anblick der prächtigsten Neuerungen. Und doch war einiges Neue notwendig, um ihrer Heimkehr das prickelnd Ungewöhnliche zu verleihen, womit ich es gern umkleiden wollte. Diesem Zweck entsprachen nun neue, schöne, dunkle Teppiche und Vorhänge, eine Zusammenstellung sorgsam ausgewählter, antiker Ornamente in Porzellan und Bronze, neuer Möbelbezüge, Spiegel und Toilette-Necessaire für die Ankleidezimmer: alles dies sah frisch aus ohne störend zu wirken. Ein Fremdenwohn- und Schlafzimmer möblierte ich ganz neu mit Mahagony und roten Polstermöbeln; in den Korridor und auf die Treppe legte ich Teppiche. Als alles fertig war, erschien das Innere von Moor-House mir ebenso freundlich und sauber und gemütlich, wie es draußen um diese Jahreszeit winterlich einsam und öde und traurig war.

Endlich kam der ereignisreiche Donnerstag. Sie wurden um die Dämmerstunde erwartet, und lange vorher [626] wurden schon oben und unten die Kaminfeuer angezündet. Die Küche war in vollkommenster Ordnung. Hannah und ich waren angekleidet. Alles war bereit.

Zuerst kam St. John. Ich hatte ihn innig gebeten, das Haus nicht eher zu betreten, als bis alles arrangiert sei; und in der That hatte der bloße Gedanke an die triviale, niedrige Unruhe und Verwirrung, welche innerhalb unserer vier Wände vor sich ging, hingereicht, ihn uns völlig zu entfremden. Er fand mich in der Küche mit dem Backen einiger Kuchen für unseren ersten Theeabend beschäftigt. Indem er sich dem Herde näherte, fragte er, ob ich nun endlich mit der Arbeit eines Hausmädchens zufrieden sei. Ich antwortete ihm, indem ich ihn einlud, mich auf einer Generalinspektionsreise durch das Haus zu begleiten, um das Resultat meiner Anstrengungen zu begutachten. Mit einiger Mühe gelang es mir, ihn zu diesem Rundgang zu überreden. Er blickte kaum in die Thüren hinein, wenn ich sie öffnete; und nachdem er oben und unten gewesen, meinte er, ich müsse unendlich viel Mühe und Arbeit gehabt haben, um in so kurzer Zeit so beträchtliche Veränderungen bewerkstelligt zu haben. Aber nicht mit einer einzigen Silbe verriet er, daß er an der Verschönerung seines väterlichen Hauses auch nur die geringste Freude empfände.

Sein Schweigen dämpfte meine Freude. Ich glaubte, daß die Veränderungen vielleicht einige alte Erinnerungen gestört hätten, welche ihm wert und lieb gewesen. Ich fragte, ob dies der Fall sei. Vielleicht in sehr niedergeschlagenem Ton.

»Durchaus nicht. Er bemerke im Gegenteil, daß ich mit der größten Gewissenhaftigkeit alles, was ihm wert sei, geschont habe; er fürchte in der That, daß ich der Sache mehr Wichtigkeit beigelegt, als sie wert sei. Wieviel Minuten hätte ich zum Beispiel damit zugebracht, über das Arrangement dieses Zimmers nachzudenken? – Übrigens, könne ich ihm denn nicht sagen, wo dies und jenes Buch sei?«

[627] Ich zeigte ihm den Band auf dem Bücherbrett. Er nahm ihn herunter und indem er sich in seine gewöhnliche Fenstervertiefung zurückzog, begann er zu lesen.

Nun, mein lieber Leser, dies gefiel mir nicht. St. John war ein guter Mann; aber jetzt begann ich zu empfinden, daß er die Wahrheit über sich selbst gesprochen, als er gesagt, daß er hart und kalt sei. Das Menschliche und das Angenehme des Lebens hatte keine Anziehungskraft für ihn – seine friedlichen Genüsse keinen Reiz. In der That, er lebte nur um zu streben – zu streben nach dem, was gut und groß war, gewiß! Aber er kannte keine Ruhe, er wollte keine; und er billigte es auch nicht, wenn die, welche um ihn waren, ruhten. Als ich auf seine hohe Stirn blickte, die still und bleich wie ein Leichenstein war, – auf seine schönen Züge, die durch das Studium fest und strenge geworden – da begriff ich plötzlich, daß er niemals ein guter Gatte sein könne, daß es eine schwere Aufgabe sein müsse, sein Weib zu sein. Wie durch eine plötzliche Eingebung verstand ich das Wesen seiner Liebe zu Miß Oliver; ich stimmte ihm bei, daß es nur eine Liebe der Sinne sein könne. Ich begriff, wie sehr er sich selbst verachten mußte um des fieberhaften Einflusses willen, welchen sie auf ihn ausübte, wie er wünschen mußte, diese Liebe zu ersticken und zu zerstören, wie er daran zweifeln mußte, daß sie jemals zu seinem und ihrem dauernden Glücke führen könne. Ich sah ein, daß er aus dem Stoffe sei, aus welchem die Natur ihre Heroen macht – christliche wie heidnische – ihre Gesetzgeber, ihre Staatsmänner, ihre Eroberer; ein festes Bollwerk, auf das man in großen Zeiten um großer Interessen willen bauen konnte! Aber am häuslichen Herd nur zu oft eine schwere, kalte Säule, die düster und nicht an ihrem Platze!

»Dieses Wohnzimmer ist nicht seine Sphäre,« reflektierte ich, »das Himalayagebirge, der Kaffern Busch, sogar die verpestete, verwünschte Küste von Guinea würden besser [628] für ihn passen. Wohl mag er sich vor der Ruhe des Familienlebens scheuen; es ist nicht sein Element; hier stagnieren seine große Fähigkeiten; sie können sich nicht entwickeln, sich nicht zu ihrem Vorteil zeigen. In Kampf und Gefahr, wenn Mut gezeigt, Willensstärke geübt, Kraft gestählt werden kann – da wird er reden und handeln, als Anführer, als Erster! An diesem Herde jedoch wird ein frohsinniges Kind den Sieg über ihn davon tragen. Er hat recht, wenn er den Beruf eines Missionärs erwählt – jetzt sehe ich es ein!«

»Sie kommen! sie kommen!« rief Hannah indem sie die Thür des Wohnzimmers weit aufriß. In demselben Augenblick hob auch der alte Carlo an freudig zu bellen. Ich lief hinaus. Jetzt war es dunkel geworden, aber deutlich vernahm man das Rollen der Räder. Hannah hatte schnell eine Laterne angezündet. Der Wagen hatte vor dem Gitterthor angehalten. Der Kutscher öffnete den Wagenschlag; zuerst stieg eine wohlbekannte Gestalt heraus, dann die zweite. Im nächsten Augenblick war mein Gesicht unter ihren Hüten, zuerst in Kontakt mit Marys weicher Wange, dann mit Dianas reichen Locken.

Sie lachten, küßten mich – dann Hannah; liebkoseten Carlo, der fast wild vor Freude war, fragten eifrig, ob alles wohl und in Ordnung sei, und eilten ins Haus, als wir ihre Frage bejahend beantwortet.

Sie waren wie gerädert durch ihre lange Fahrt auf dem schlechten Wege von Whitcroß; ihre Glieder waren in der eisigen Nachtluft fast erstarrt; aber ihre schönen Gesichter tauten vor dem lustig flackernden Kaminfeuer zusehends auf. Während der Kutscher und Hannah die Koffer hereinbrachten, fragten sie nach St. John. In diesem Augenblick trat er aus dem Wohnzimmer. Beide umarmten ihn zugleich. Er gab jeder einen ruhigen, leidenschaftslosen Kuß, sprach einige wenige leise Worte des Willkommens, ließ einen kurzen Augenblick mit sich reden und zog sich dann [629] von neuem in das Wohnzimmer wie in einen Zufluchtsort zurück, nachdem er den Schwestern angedeutet, daß sie ihn dort wohl bald aufsuchen würden.

Ich hatte die Kerzen angezündet, um beide nach oben zu geleiten, aber Diana hatte vorher noch gastfreie Befehle in Bezug auf den Kutscher zu erteilen; nachdem dies geschehen, folgten beide mir. Sie waren über die Neuerungen und Ausschmückungen ihrer Zimmer entzückt. In reichstem Maße sprachen sie ihre Freude über die neuen Vorhänge, die frischen Teppiche und reich bemalten Porzellanvasen aus. Ich hatte die Genugthuung zu fühlen, daß meine Anordnungen ihren Wünschen vollkommen entsprachen, und daß alles, was ich gethan hatte, ihrer freudigen Heimkehr noch einen großen Reiz verliehen hatte.

Es war ein wonniger Abend. Meine Cousinen waren in ihrer freudig erregten Stimmung so beredt in ihren Erzählungen und Fragen, daß St. Johns Schweigsamkeit dadurch vollkommen verdeckt wurde; er war aufrichtig froh seine Schwestern zu sehen, aber er konnte mit ihrer wortreichen Freude, ihrer glühenden Beredsamkeit nicht sympatisieren. Die Begebenheit des Tages – das war Dianas und Marys Heimkehr – machte ihn froh; aber das, was diese Begebenheit im Gefolge hatte, der fröhliche Tumult, die wortreiche Freude – verdroß ihn. Ich sah ihm an, wie sehr er den ruhigeren nächsten Morgen herbeiwünschte. Auf dem Höhepunkt der Glückseligkeit dieses Abends, ungefähr eine Stunde nach dem Thee, vernahmen wir plötzlich ein Klopfen an der Thür. Hannah trat mit der Nachricht ein, daß ein armer Junge zu dieser ungewöhnlichen Zeit gekommen sei, um Mr. Rivers zu seiner kranken Mutter zu holen, mit welcher es schnell zu Ende gehe.

»Wo wohnt sie denn, Hannah?«

»Ganz oben in Whitcroß, beinahe vier Meilen weit; und den ganzen Weg nichts als Moor und Moos.«

»Sag ihm, daß ich komme.«

[630] »Ach Herr, es wäre besser, wenn Sie nicht gingen. Es giebt gar keinen Weg, der bei Nacht schlimmer und gefährlicher wäre; es führt gar keine Fußspur durch den Schlamm. Und dann ist die Nacht so kalt; der schärfste Wind, der je geweht hat. Sie sollten doch lieber sagen lassen, Herr, daß Sie zeitig morgen früh kommen wollen.«

Aber er war schon im Korridor und zog seinen Rock an; dann ging er ohne Murren, ohne Widerstreben. Es war jetzt neun Uhr, vor Mitternacht kehrte er nicht zurück. Wohl war er hungrig und totmüde; aber er sah glücklicher und zufriedener aus, als vorher. Er hatte eine Pflicht erfüllt, eine Anstrengung überstanden; er hatte seine Thatkraft und Selbstverleugnung erprobt, – genug, er stand mit sich selbst auf besserem Fuße.

Ich fürchte, daß die ganze folgende Woche seine Geduld auf eine harte Probe stellte. Es war die Weihnachtswoche; keine von uns griff zu einer bestimmten Beschäftigung, sondern wir brachten die Zeit in einer gewissen fröhlichen, häuslichen Sorglosigkeit hin. Die Luft des Moors, die Freiheit des eigenen Heims, die Morgenröte des Glücks, der Unabhängigkeit: dies alles wirkte auf Diana und Mary wie ein belebendes Elixier; sie waren heiter vom Morgen bis zum Mittag, vom Mittag bis zum Abend. Sie konnten immer reden; und ihre witzige, eigenartige, markige Unterhaltung hatte so großen Reiz für mich, daß ich das Vergnügen daran teilzunehmen oder ihr lauschen zu dürfen jeder anderen Beschäftigung vorzog.

St. John verwies uns unsere Lebhaftigkeit nicht, aber er entrann ihr; er war nur selten im Hause; seine Gemeinde war groß, die Einwohnerschaft hie und da verstreut, und es war seine tägliche Beschäftigung, die Armen und Kranken in den verschiedenen Distrikten aufzusuchen.

Eines Morgens beim Frühstück fragte Diana ihn, nachdem sie lange nachdenklich dreingeschaut hatte, ob seine Pläne noch immer unverändert seien.

[631] »Unverändert und unabänderlich,« war seine Antwort. Und dann benachrichtigte er uns, daß seine Abreise von England jetzt bestimmt im nächsten Jahre stattfinden würde.

»Und Rosamond Oliver?« fragte Mary. Die Worte schienen ihren Lippen unwillkürlich zu entschlüpfen; denn kaum hatte sie sie ausgesprochen, als sie auch schon eine Bewegung machte, als möchte sie sie zurücknehmen.

St. John hatte ein Buch in der Hand, – es war eine seiner ungeselligen Gewohnheiten, während der Mahlzeiten zu lesen – er schlug es zu und blickte auf.

»Rosamond Oliver,« entgegnete er, »ist im Begriff sich mit Mr. Granby, einem der achtbarsten und vornehmsten Bewohner von S ..., dem Enkel und Erben von Sir Frederik Granby zu verheiraten. Gestern machte ihr Vater mir diese Mitteilung.«

Seine Schwestern blickten einander, dann mich an; wir alle drei sahen auf ihn. Er war ruhig wie Marmor.

»Diese Verbindung muß sehr schnell zu stande gekommen sein,« sagte Diana, »sie können einander doch nur seit kurzer Zeit kennen.«

»Seit zwei Monaten. Im Oktober lernten sie sich auf dem Grafschaftsball in S ... kennen. Wo sich einer Verbindung indessen keine Hindernisse in den Weg stellen, wie in dem gegenwärtigen Falle, wo die Heirat in jeder Beziehung eine wünschenswerte erscheint, da ist jeder Aufschub unnötig. Sie werden sich verheiraten, sobald Schloß R., welches Sir Frederik ihnen einräumt, für ihren Empfang bereit ist.«

Als ich St. John nach dieser Mitteilung zum erstenmal allein sah, war ich in großer Versuchung zu fragen, ob diese Begebenheit ihn unglücklich mache. Aber er schien der Sympathie so wenig zu bedürfen, daß ich weit entfernt davon, ihm mein Mitgefühl auszusprechen, im Gegenteil einige Beschämung empfand über das, was ich ihm bereits einmal bewiesen. Außerdem hatte ich auch vollständig die [632] Übung verloren, mit ihm zu sprechen; seine Zurückhaltung hatte sich von neuem mit einer Eiskruste überzogen, und meine Offenherzigkeit war darunter erfroren. Er hatte sein Versprechen, mich wie seine Schwestern zu behandeln, nicht gehalten; er machte fortwährend kleine, erkaltende Unterscheidungen, welche durchaus nicht zur Entwickelung irgend welcher Vertraulichkeit beitrugen; kurzum, jetzt wo ich seine anerkannte Blutsverwandte war und mit ihm unter einem Dache wohnte, fühlte ich, daß die Entfernung zwischen uns viel größer war, als zu jener Zeit, wo er in mir nur die Dorfschullehrerin sah. Wenn ich mich daran erinnerte, wie weit er mich einst in sein Vertrauen gezogen, so konnte ich seine jetzige eisige Zurückhaltung kaum begreifen.

Und da dies nun der Fall, war ich nicht wenig erstaunt, als er den Kopf plötzlich von dem Schreibpult, über welches er gebeugt saß, emporhob und sagte:

»Sie sehen, Jane, der Kampf ist zu Ende gekämpft und der Sieg gewonnen.«

Erstaunt darüber, so plötzlich angeredet zu werden, konnte ich nicht augenblicklich antworten. Nach kurzem Zögern entgegnete ich:

»Wissen Sie aber auch bestimmt, daß es Ihnen nicht ergeht, wie einem jener Eroberer, deren Sieg zu teuer erkauft war? Würde ein zweiter solcher Triumph nicht Ihr Verderben sein?«

»Ich glaube nicht. Und erginge es mir wirklich so – was bedeutete es denn auch? Ich werde niemals in die Lage kommen, ein zweites Mal so zu kämpfen. Dieser Konflikt hat entschieden. Mein Weg liegt jetzt klar vor mir. Ich danke Gott dafür!«

Mit diesen Worten versank er wiederum in Schweigen und wandte sich seinen Papieren zu.

Als unser gemeinsames Glück (d.h. Dianas, Marys und mein eigenes) einen ruhigeren Charakter annahm, und wir zu unseren alten Gewohnheiten und regelmäßigen [633] Studien zurückkehrten, verweilte St. John wieder mehr im Hause; zuweilen war er sogar stunden lang bei uns im Zimmer. Während Mary zeichnete, Diana einen Kursus encyklopädistischer Lektüre durchmachte, welchen sie zu meinem Staunen und Entsetzen begonnen hatte, und ich mich mit dem Deutschen abmühte, grübelte er über irgend einer mystischen Wissenschaft; ich glaube, es war eine orientalische Sprache, deren Erlernung ihm für die Ausführung seiner Pläne notwendig dünkte.

Wenn er so beschäftigt in seiner gewohnten Fenstervertiefung saß, schien er ruhig und ganz vertieft; aber seine blauen Augen hatten eine eigentümliche Art und Weise, sich von der fremdländischen Grammatik zu erheben, über uns, seine Mitstudierenden, zu schweifen und gar oft mit einer seltsam scharfen Beobachtung auf uns zu verweilen; begegnete man ihrem Blick, so senkten sie sich sofort wieder auf das Buch und doch kehrten sie immer wieder zu unserem Tische zurück. Ich fragte mich verwundert, was das zu bedeuten haben möge. Auch setzte mich die regelmäßige Zufriedenheit in Erstaunen, die er immer wieder bei einer Gelegenheit an den Tag legte, die mir von sehr geringer Bedeutung schien – nämlich bei meinem allwöchentlichen Besuch in der Schule von Morton. Und noch verwunderter war ich darüber, daß, wenn das Wetter ungünstig war, wenn es Schnee, Regen oder Sturm gab, und seine Schwestern mich inständig baten, nicht zu gehen, er unabänderlich über ihre Fürsorglichkeit spöttelte und mich ermunterte, meine Aufgabe ohne Rücksicht auf die Elemente auszuführen.

»Jane ist nicht der Schwächling, zu dem Ihr sie machen wollt,« pflegte er dann zu sagen; »sie kann den Gebirgswind oder einen Regenschauer oder ein paar Schneeflocken gerade so gut ertragen wie irgend einer von uns. Ihre Konstitution ist sowohl gesund wie elastisch und verträgt die Schwankungen des Klimas besser als manche robustere Natur.«

[634] Und wenn ich dann zurückkehrte, oft sehr ermattet und arg von Wind und Wetter mitgenommen, wagte ich nicht zu klagen, weil ich sah, daß ich ihn durch mein Murren erzürnen würde. Stärke gefiel ihm stets; das Gegenteil bereitete ihm immer Verdruß.

Eines Nachmittags indessen erhielt ich wirklich Erlaubnis zu Hause zu bleiben, weil ich heftig erkältet war. Seine Schwestern waren an meiner Stelle nach Morton gegangen. Ich saß und las Schiller, er war über seine Arbeit gebeugt und versuchte seine orientalischen Hieroglyphen zu entziffern. Als ich meine Übersetzung beiseite legte und mit einer Schreibübung begann, sah ich zufällig nach ihm hin; nun merkte ich, daß das wachsame blaue Auge wiederum auf mich gerichtet war. Wie lange es mich schon durchbohrt, mich von Kopf bis zu Fuß gemessen hatte, das vermag ich nicht zu sagen; es war so scharf und doch so kalt, daß ich für den Augenblick abergläubisch wurde – mir war, als sei ich mit einem Unhold im Zimmer.

»Jane, was machen Sie?«

»Ich studiere deutsch.«

»Ich möchte, daß Sie das Deutsche aufgeben und hindostanisch lernten.«

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein?«

»So sehr mein Ernst, daß es geschehen muß; und ich will Ihnen sagen weshalb.«

Dann erklärte er mir, daß es die Sprache sei, welche er selbst augenblicklich studiere; daß er jetzt, wo er weiter in die Wissenschaft eindringe, leicht die Anfangsgründe wieder vergesse; daß es ihm von großem Nutzen sein würde, wenn er eine Schülerin hätte, mit welcher er immer und immer wieder die Elemente durchgehen und sie auf diese Weise seinem Gedächtnis von neuem einprägen müsse; daß er eine Zeitlang in der Wahl zwischen mir und seinen Schwestern geschwankt habe, daß er sich aber endlich für mich entschlossen, weil er bemerkt habe, daß ich von uns [635] dreien am längsten bei einer Arbeit ausharren könne. Ob ich ihm diesen Gefallen thun wolle? Vielleicht würde ich ihm dieses Opfer nicht lange bringen müssen, weil bis zu seiner Abreise nur noch drei Monate vergehen würden.

St. John war nicht der Mann, dem man leicht eine Bitte abschlagen konnte, denn man fühlte, daß jeder Eindruck, ob freudig oder qualvoll, ein dauernder und tiefgehender bei ihm sei. Ich willigte also ein. Als Diana und Mary zurückkehrten, fand erstere ihre Schülerin zu ihrem Bruder übergegangen. Sie lachte, und sowohl sie wie Mary kamen darin überein, daß St. John sie niemals zu einem solchen Schritte hätte überreden können.

Er antwortete ruhig: »Das weiß ich.«

Ich fand in ihm einen sehr geduldigen, nachsichtigen, dennoch aber strengen Meister; er erwartete große Leistungen von mir; und wenn ich seine Erwartungen erfüllte, dann gab er mir in seiner eigenen Weise seine Zufriedenheit in vollem Maße zu erkennen. Nach und nach gewann er einen gewissen Einfluß auf mich, der mir die Freiheit des Denkens und Wollens nahm. Seine Beachtung und sein Lob legten mir mehr Zwang auf als seine Gleichgiltigkeit. Ich konnte nicht mehr ungezwungen lachen und sprechen, wenn er anwesend war, weil ein langweilig lästiger Instinkt mich fühlen ließ, daß jede Lebhaftigkeit (wenigstens bei mir) ihm widerlich sei. Ich wußte sowohl, daß er nur ernste Stimmung und ebensolche Beschäftigung gut hieß, daß es vergeblich für mich war, in seiner Gegenwart irgend eine Anstrengung zum Gegenteil zu machen. Ich unterlag einem eisigen Zauber. Wenn er sagte: »Geh«, so ging ich. Wenn er sagte: »komm«, so kam ich. »Thu dies«, so that ich es. Aber ich liebte diese meine Knechtschaft nicht. Gar manchesmal wünschte ich von ganzem Herzen, daß er fortgefahren wäre, mich zu vernachlässigen.

Als seine Schwestern und ich ihn eines Abends um die Schlafenszeit umstanden, küßte er sie beide, wie es seine [636] Gewohnheit war; und ebenfalls seiner Gewohnheit gemäß reichte er mir die Hand. Diana, welche zufällig in der ausgelassensten Laune (sie unterlag seinem Willen nicht in qualvoller Weise wie ich, denn der ihre war nach einer anderen Seite hin ebenso stark wie der seine) rief aus:

»St. John! du pflegtest Jane deine dritte Schwester zu nennen, aber du behandelst sie nicht als solche; du solltest sie ebenfalls küssen!«

Sie schob mich zu ihm. Ich fand Diana sehr herausfordernd und war unbehaglich verwirrt. Und während ich noch so fühlte und dachte, neigte St. John den Kopf; sein griechisches Gesicht befand sich in einer Linie mit dem meinen, seine Augen suchten forschend die meinen – er küßte mich. Es giebt wohl keine Marmorküsse oder Eisküsse, sonst würde ich sagen, daß die Liebkosung meines geistlichen Vetters einer dieser Klassen angehörte; aber es mag ja Experimentküsse geben – und der seine war ein Experimentkuß. Nachdem er ihn gegeben, betrachtete er mich, um die Wirkung zu beobachten; sie war nicht sehr auffallend; ganz bestimmt errötete ich nicht; vielleicht bin ich ein wenig blaß geworden, denn ich empfand diesen Kuß wie ein Siegel auf meine Fesseln. Dann unterließ er diese ceremoniöse Begrüßung niemals wieder, und der Ernst und die Unterwürfigkeit, mit welcher ich mich derselben unterzog, schien sie für ihn mit einem gewissen Reiz zu umkleiden.

Was mich anbetraf, so wünschte ich täglich mehr, ihn zufrieden zu stellen. Aber um dies zu thun, empfand ich auch täglich mehr und mehr, daß ich mehr als die Hälfte meiner Natur verleugnen müsse, meine Neigungen unterdrücken, meine Wünsche mit Gewalt aus ihrer ursprünglichen Richtung drängen, mich zu Beschäftigungen und Liebhabereien zwingen, zu denen ich von Natur keinen Beruf in mir verspürte. Er wollte mich zu einer Höhe emporheben, zu welcher ich mich nicht aufschwingen konnte; jede Stunde mühte ich mich ab, die Standarte zu erreichen, [637] welche er so unerreichbar hoch aufgepflanzt hatte. Und dies war gerade so unmöglich, als wenn ich versucht hätte, meine unregelmäßigen Gesichtszüge nach seinem klassischen Muster umzumodeln, meinen grünschillernden, beständig die Farbe wechselnden Augen die wasserblaue Farbe, den feierlichen Glanz der seinen zu geben.

Es war indessen nicht sein überlegener Einfluß allein, der mich für den Augenblick in Fesseln hielt. Seit einiger Zeit war es mir leicht genug geworden, traurig auszusehen; ein zehrendes Übel nagte an meinem Herzen und erstickte mein Glück schon an seiner Quelle – das Übel der Ungewißheit, des Zweifels.

Vielleicht, mein Leser, glaubst du, daß ich Mr. Rochester vergessen hatte, seitdem mein Schicksal sich gewendet und meine Umgebung sich verändert. Nicht für einen einzigen Augenblick! Sein Andenken war stets wach; denn es war nicht ein Nebel, welchen heller Sonnenschein verjagen konnte, nicht ein Bild, das in den Sand gezeichnet und von Sturmeswogen ausgelöscht werden konnte. Es war ein Name, der mit ehernem Griffel auf eine Tafel geschrieben, der ebensolange dauern mußte, wie der Marmor, welcher seine Züge trug. Die Sehnsucht, zu erfahren, was aus ihm geworden, folgte mir überall hin; als ich noch in Morton war, trat ich jeden Abend in meine Hütte, um daran zu denken, und jetzt in Moor-House suchte ich allabendlich mein Zimmer auf, um die ganze Nacht hindurch diesem Gedanken nachzuhängen.

Im Laufe meiner notwendigen Correspondenz über das Testament mit Mr. Briggs hatte ich angefragt, ob er irgend etwas über Mr. Rochesters Gesundheit und seinen gegenwärtigen Aufenthalt wisse; aber wie St. John bereits vermutet, befand er sich in totaler Unwissenheit über alles, was Mr. Rochester anging. Dann schrieb ich an Mrs. Fairfax und flehte sie an, mir über diese Angelegenheit Auskunft zu geben. Ich hatte mit Sicherheit darauf gerechnet, [638] daß ich durch diesen Schritt meinen Zweck erreichen werde; ich war überzeugt, daß ich eine umgehende Antwort erhalten würde. Dann war ich erstaunt, als zwei Wochen vergingen, ohne daß diese Nachricht kam; als jedoch zwei Monate verflossen, und die Post Tag für Tag eintraf, ohne irgend etwas für mich zu bringen, da fiel ich der tödlichsten Angst zum Opfer.

Ich schrieb noch einmal. Es war die Möglichkeit vorhanden, daß mein erster Brief in Verlust geraten. Der neuen Bemühung folgte neue Hoffnung; wie die erste leuchtete sie mir einige Wochen, dann flackerte sie wie jene noch ein paar Mal auf, um wiederum gänzlich zu verlöschen. Nicht eine Zeile! Nicht ein Wort! Als ein halbes Jahr in vergeblicher Erwartung verflossen, erstarb alle Hoffnung in mir. Und jetzt ward es dunkel um mich.

Ein lieblicher Frühling erblühte ringsumher; ich konnte mich nicht an ihm erfreuen. Der Sommer nahte. Diana bemühte sich, mich zu erheitern; sie sagte, ich sähe krank aus und erbot sich, mich an den Meeresstrand zu begleiten. Dem widersetzte sich St. John; er sagte, ich bedürfe nicht der Zerstreuung, sondern der Beschäftigung; mein jetziges Leben habe keinen Zweck, kein Ziel; und das brauche ich notwendig. Vermutlich um die Lücken auszufüllen, verlängerte er meine Stunden im Hindostanischen noch und wurde noch dringender in dem Verlangen, daß ich mich in dieser Sprache vervollkomme. Und ich – Thörin, die ich war, – dachte nicht einmal daran, ihm zu widersprechen – ich konnte ihm nicht widerstehen.

Eines Tages war ich noch niedergeschlagener als gewöhnlich zur Stunde gekommen. Dies war durch eine harte Enttäuschung hervorgerufen. Hannah hatte mir am Morgen gesagt, es sei ein Brief für mich eingetroffen, und als ich hinunterging, um ihn in Empfang zu nehmen, beinahe fest überzeugt, daß die lange und innig herbeigesehnten Nachrichten mir endlich geworden seien, fand ich [639] nur einen ganz unwichtigen Geschäftsbrief von Mr. Briggs. Der harte Schlag hatte mir einige Thränen ausgepreßt; und als ich jetzt über die verschnörkelten Schriftzüge und die blütenreiche Sprache eines indischen Scribenten gebeugt saß, füllten meine Augen sich von neuem mit Thränen.

St. John rief mich an seine Seite um zu lesen; als ich versuchte, dies zu thun, versagte mir die Stimme; Schluchzen erstickte meine Worte. Außer ihm und mir war niemand im Wohnzimmer; Diana war mit ihrer Musik im Salon beschäftigt, Mary arbeitete im Garten. Es war ein herrlicher, klarer, sonniger, luftiger Maientag. Mein Gefährte legte durchaus keine Verwunderung über meine Bewegung an den Tag, und ebensowenig befragte er mich über ihre Ursache. Er sagte nur:

»Jane, wir wollen einige Minuten warten, bis Sie gefaßter sind.«

Und während ich so schnell wie möglich den Paroxismus zu unterdrücken suchte, saß er ruhig und geduldig da, auf sein Pult gelehnt wie ein Arzt, welcher mit dem Auge der Wissenschaft eine längst und sicher erwartete, vollständig erklärte Krisis in der Krankheit eines Patienten beobachtet. Als ich aufgehört zu schluchzen, meine Augen getrocknet und etwas gemurmelt hatte, wie daß ich heute morgen nicht ganz wohl sei, begann ich von neuem mit meiner Arbeit und versuchte, damit zu Ende zu kommen.

Dann legte St. John seine und meine Bücher beiseite, verschloß sein Pult und sagte:

»Jetzt, Jane, sollen Sie einen Spaziergang machen und zwar mit mir.«

»Ich werde Diana und Mary rufen.«

»Nein. Heute morgen brauche ich nur eine Gefährtin, und die müssen Sie sein. Kleiden Sie sich an; gehen Sie durch die Küchenthür hinaus, schlagen Sie den Weg nach Marsh-Glen (Glen = Schlucht) ein, und in wenigen Augenblicken bin ich bei Ihnen.«

[640] Ich kenne keine Mittelstraße. Niemals in meinem ganzen Leben habe ich in meiner Handlungsweise mit harten, positiven Charakteren, welche dem meinen ganz entgegengesetzt waren, ein Mittelding zwischen absoluter Unterwerfung und entschlossener Empörung gekannt. Ich habe stets getreulich den einen Weg verfolgt, bis ich plötzlich, oft mit vulkanischer Vehemenz mich auf den andern stürzte. Und da weder die obwaltenden Umstände noch meine augenblickliche Stimmung eine Widersetzlichkeit meinerseits notwendig machten, so folgte ich gehorsam St. Johns Weisungen und ging schon zehn Minuten später auf dem wilden Fußpfade der Schlucht an seiner Seite dahin.

Von Westen wehte ein frischer Wind; er kam von den Hügeln her und brachte süße Düfte von Heidekraut und Binsen mit sich; wolkenloses Blau am Himmel; der Strom, welcher durch häufigen Frühlingsregen angeschwellt war, kam brausend durch die Schlucht daher, und helle, goldene Strahlen der Sonne und saphirfarbene Tinten des Firmaments spiegelten sich auf seiner Oberfläche. Als wir weiter gingen und den Fußpfad verließen, betraten wir feinen, moosigen, smaragdgrünen Boden, auf welchem hie und da eine zarte, weiße Blüte, dort eine sternenartige gelbe Blume blühte. Jetzt waren wir von Hügeln vollständig eingeschlossen, denn an ihrem oberen Ende zog sich die Schlucht bis an ihre Gipfel hinauf.

»Hier wollen wir ausruhen,« sagte St. John, als wir die ersten Nachzügler eines ganzen Bataillons von Felsen erreichten, die eine Art Paß beschützten, an dessen anderem Ende der Bach einen tiefen Wasserfall bildete und wo eine kurze Strecke weiter der Berg Moos und Blumen abstreifte und als einziges Gewand Heidekraut, als Juwel nur Felsklippen trug, – wo die Romantik zur Wildnis wurde, aus der Frische Düsterkeit wurde – wo nur Einsamkeit und trauriger Frieden herrschte.

[641] Ich setzte mich; St. John stand neben mir. Er blickte den Paß hinauf und den Hohlweg hinunter; sein Auge wanderte mit dem Strom fort und kehrte zurück, um über den wolkenlosen Himmel zu streifen, der dem Strom seine Farbe gab. Dann nahm er seinen Hut ab, um den Wind in seinem Haar spielen und seine Stirn küssen zu lassen. Er schien Gemeinschaft mit dem Geist dieses einsamen Schlupfwinkels zu haben: sein Auge sagte irgend einem Gegenstande Lebewohl.

»Und ich werde es wiedersehen,« sagte er laut, »im Traum, wenn ich an den Ufern des Ganges schlafe; und dann – in einer späteren Stunde – wenn ein anderer Schlaf über mich kommt – am Ufer eines dunkleren Stromes.«

Seltsame Worte einer seltsamen Liebe! Die Leidenschaft eines rauhen Patrioten zu seinem Vaterlande! Er setzte sich dann. Während einer halben Stunde sprachen wir kein Wort, weder er zu mir noch ich zu ihm. Als dieser Zeitraum verflossen, begann er von neuem:

»Jane, ich reise in sechs Wochen; ich habe bereits meine Kajüte genommen, in einem Ostindienfahrer, der am zwanzigsten Juni absegelt.«

»Gott wird Sie beschützen, denn Sie arbeiten für ihn,« entgegnete ich.

»Ja,« sagte er, »das ist mein Stolz und meine Freude. Ich bin der Diener eines unfehlbaren Herrn. Ich gehe nicht unter menschlicher Führung ins Leben hinaus, nicht unter einer Führung, welche den mangelhaften Gesetzen und der fehlbaren Gewalt meiner schwachen Nebenmenschen unterworfen ist, – mein König, mein Gesetzgeber, mein Führer ist der Allgewaltige, der Vollkommene! Es erscheint mir so seltsam, daß nicht alle, die mich umgeben, vor Begierde vergehen, sich um dieselbe Fahne zu scharen – dasselbe Werk zu unternehmen.«

[642] »Nicht alle haben Ihre Kraft, und es wäre Thorheit, wenn die Schwachen mit den Starken gehen wollten.«

»Ich spreche nicht von den Schwachen und denke nicht an sie; ich wende mich nur an jene, welche jener Arbeit würdig sind und fähig sie zu verrichten.«

»Deren Zahl ist nur gering, und es ist schwer sie zu finden.«

»Sie sprechen wahr; aber wenn man sie gefunden hat, so ist es Pflicht sie zu erwecken – sie anzuspornen – ihnen zu zeigen, welche Gaben ihnen gegeben sind, und weshalb sie ihnen gegeben sind – ihnen die Botschaft des Himmels ins Ohr zu rufen, ihnen im Namen Gottes einen Platz in den Reihen seiner Auserwählten anzubieten.«

»Wird nicht ihr eigenes Herz es ihnen zu allererst sagen, wenn sie jener Aufgabe wirklich gewachsen sind?«

Mir war, als nähme mich ein furchtbarer Zauber mehr und mehr gefangen. Ich zitterte vor Furcht, ein verhängnisvolles Wort aussprechen zu hören, das den Zauber zugleich erklären und brechen würde.

»Und was sagt Ihr Herz Ihnen?« fragte St. John.

»Mein Herz ist stumm – mein Herz ist stumm,« entgegnete ich bebend und schaudernd.

»Dann muß ich für dasselbe sprechen,« fuhr er mit seiner tiefen, erbarmungslosen Stimme fort. »Jane, komm mit mir nach Indien! Komm mit mir als meine Helferin, meine Mitarbeiterin.«

Die Schlucht, der Himmel fingen an zu schwanken; die Hügel hoben und senkten sich! Mir war, als hätte ich einen Ruf vom Himmel vernommen – als wäre mir ein Sendling erschienen wie jener von Macedonien, der gerufen hätte: »Kommt und helft uns!« Aber ich war kein Apostel – ich konnte den Herold nicht sehen – ich konnte seinem Rufe nicht folgen.

»O, St. John!« schrie ich auf. »Erbarmen! Erbarmen!«

[643] Ich flehte zu einem Menschen, der weder Erbarmen noch Gewissensbisse kannte, wenn er glaubte, seine Pflicht zu erfüllen.

Er fuhr fort:

»Gott und die Natur haben dich zum Weibe eines Missionärs bestimmt. Sie haben dir nicht körperliche, sondern geistige Eigenschaften gegeben; du bist für die Arbeit geschaffen, nicht für die Liebe. Du mußt – du sollst die Gattin eines Missionärs werden. Du mußt mein werden. Ich fordere dich – nicht für mich, nicht für mein Glück – ich fordere dich für den Dienst meines allmächtigen Herrn.«

»Nein, dazu passe ich nicht – ich fühle keinen Beruf dazu,« sagte ich.

Auf diese ersten Einwendungen war er vorbereitet; sie reizten ihn nicht. In der That, als er sich an den Felsen zurücklehnte, die Arme über die Brust kreuzte, und mich fest anblickte, da sah ich in seinen Gesichtszügen, daß er auf einen langen und harten Widerstand vorbereitet sei, und sich mit einem Vorrat Geduld ausgerüstet hatte, der bis an das Ende desselben ausreichen sollte – entschlossen jedoch, daß dieses Ende für ihn Sieg bedeuten solle.

»Demut, Jane, ist der Grundpfeiler aller christlichen Tugenden,« sagte er, »du hast recht, wenn du sagst, du eignest dich nicht für die Arbeit. Wer in der That taugte dazu? Oder wer, wenn er wahrhaft berufen war, hielt sich dieses Berufs wirklich würdig? Ich, zum Beispiel, bin nur Staub und Asche. Mit dem Apostel Paulus nenne ich mich den größten aller Sünder. Aber ich gestatte diesem Bewußtsein meiner eigenen Niedrigkeit nicht, mich zu unterjochen oder mich einzuschüchtern. Ich kenne meinen Führer: ich weiß, daß er ebenso gerecht wie allmächtig ist; und wenn er ein schwaches Werkzeug erwählt hat, um eine große Aufgabe zu vollbringen, so wird er auch endlich die Unzulänglichkeit der Mittel ergänzen. Denk [644] wie ich Jane – vertraue gleich mir! Ich verlange von dir, daß du dich auf den Felsen der Jahrtausende stützest; zweifle nicht, daß er die Last deiner menschlichen Schwächen zu tragen vermag.«

»Ich verstehe nichts von dem Leben eines Missionärs; ich habe mich nie in die Arbeiten eines solchen vertieft.«

»Darin kann ich dir trotz meiner Niedrigkeit Unterweisung geben; von Stunde zu Stunde kann ich dir deine Aufgabe vorschreiben, von Augenblick zu Augenblick dir weiterhelfen. Und das würde ja nur im Anfang notwendig sein. Bald würdest du ebenso stark und der Arbeit gewachsen sein wie ich selbst – denn ich kenne deine Kraft – und dann würdest du meiner Hilfe nicht mehr bedürfen.«

»Aber meine Kraft für ein solches Unternehmen, wo ist sie? Ich bin mir derselben nicht bewußt. Während Sie jetzt zu mir sprechen, regt sich nichts in mir, gar nichts. Ich empfinde nichts – meine Pulse schlagen nicht höher – keine innere Stimme rät mir oder ermuntert mich. O, ich wollte, daß ich Sie sehen lassen könnte, wie meine Seele in diesem Augenblicke einem düsteren Gefängnis ähnlich ist, auf dessen grauenvollem Boden nur eine qualvolle Furcht wurzelt – die Furcht von Ihnen zu einem Versuch überredet zu werden, der niemals glücken kann!«

»Ich habe eine Antwort für dich – höre sie. Seit unserer ersten Begegnung habe ich dich strenge beobachtet. Zehn Monate hindurch habe ich dich zu meinem Studium gemacht. Durch kleine, unscheinbare Versuche habe ich dich erprobt – und was habe ich erfahren und gesehen? Ich fand, daß du in der Dorfschule eine Arbeit, welche deinen Neigungen und Gewohnheiten zuwider war, gut, pünktlich und ehrlich verrichten konntest; ich sah sogar, daß du sie mit Geschick und Takt thatest; während du herrschtest, konntest du dir noch Herzen erobern. In der Ruhe, mit welcher du die Nachricht hinnahmst, daß du plötzlich reich geworden, erkannte ich ein Gemüt, das frei von allem [645] Laster, – Geldsucht hatte keine Macht über dich. In der entschlossenen Bereitwilligkeit, mit welcher du deinen Reichtum in vier Teile teiltest, nur den einen Teil für dich behaltend und die drei anderen den Forderungen einer ganz abstrakten Gerechtigkeit überlassend, erkannte ich eine Seele, in welcher die Flamme der Dankbarkeit und des Opfermuts loderte. In der Lenksamkeit, mit welcher du auf meinen Wunsch ein Studium aufgabst, welches dich interessierte und ein anderes aufnahmst, nur weil es mich interessierte; in dem unermüdlichen Fleiße, mit welchem du bis jetzt darin beharrt – in der festen, unerschütterlichen Energie und stets gleichmäßigen Laune, mit welcher du die Schwierigkeiten dieses Studiums überwandest – in dem allen erkannte ich die Vollkommenheit der Eigenschaften, welche ich suche. Jane, du bist sanftmütig, fleißig, selbstlos, treu, beständig und mutig; sehr liebreich und sehr heldenmütig: höre auf, dir selbst zu mißtrauen – ich vertraue dir rückhaltlos. Als die Leiterin indischer Schulen, und die Helferin unter indischen Frauen, wird dein Beistand mir von unschätzbarem Werte sein.«

Der eiserne Panzer, in den ich mich gehüllt, zog sich noch fester um mich zusammen; die Überzeugung kam mit langsamen, sicheren Schritten daher. Ich mochte meine Augen verschließen wie ich wollte – diese seine letzten Worte reichten hin, um meinen Weg, welcher bis zu diesem Augenblick voller Hindernisse erschienen, verhältnismäßig frei zu machen. Meine Aufgabe, welche mich so unbestimmt gedünkt, so hoffnungslos verwirrt, hatte unter seiner Hand, während er gesprochen, eine bestimmte Gestalt angenommen. Er wartete auf eine Antwort. Ich bat um eine Viertelstunde der Überlegung, bevor ich von neuem zu sprechen wagte.

»Gern,« entgegnete er, und nachdem er sich erhoben, ging er eine kurze Strecke die Schlucht hinauf, warf sich dort auf ein schwellendes Lager von Heidekraut und lag unbeweglich still.

[646] »Ich bin gezwungen einzugestehen, daß ich thun und vollbringen kann, was er von mir verlangt,« überlegte ich – »das heißt, wenn ich überhaupt am Leben bleibe. Aber ich fühle, daß dies unter einer indischen Sonne nicht lange der Fall sein würde. – Was dann? Das kümmert ihn kaum! Wenn die Zeit zum sterben für mich gekommen sein würde, gäbe er mich dem Gotte, der mich ihm gegeben, in aller Ruhe und Heiligkeit zurück. Das wäre eine sehr einfache Sache. Wenn ich England verließe, so würde ich nur ein teures, aber unendlich ödes, einsames Land verlassen – denn Mr. Rochester ist nicht darin, – und selbst wenn er da wäre, was wäre das mir? Welche Bedeutung könnte das jemals noch für mich haben? Meine Aufgabe ist es jetzt, ohne ihn zu leben. Nichts Dümmeres, nichts Schwächeres, Nutzloseres, als sich so von einem Tage zum andern zu schleppen; gerade, als erwartete ich noch irgend eine unmögliche Veränderung der Verhältnisse, welche mich wieder mit ihm vereinigen könnte. Natürlich muß ich ein anderes Interesse im Leben suchen als Ersatz für das verlorene, wie St. John einst sagte, und ist die Aufgabe, welche er mir jetzt bietet, nicht in Wahrheit die ruhmreichste, welche ein Gott stellen und ein Mensch vollbringen kann? Ist sie mit ihren edlen Sorgen und erhabenen Erfolgen nicht am besten geeignet die Leere auszufüllen, welche zerstörte Hoffnung und tote Liebe zurückgelassen? Ich glaube, ich kann nur mit ›Ja‹ antworten – und doch erfaßt mich ein Schauder. Denn ach! wenn ich mit St. John gehe, so gebe ich mehr als die Hälfte meines Ichs dahin; wenn ich nach Indien gehe, gehe ich einem frühzeitigen Tode entgegen. Und wie wird die Zeit, welche zwischen meinem Abschied von England und meinem Grabe in Indien liegt, verfließen? O! ich weiß es nur zu wohl! Auch das liegt klar vor meinem Blicke! Wenn ich mich anstrenge, bis meine Glieder schmerzen und meine Nerven reißen, werde ich St. Johns äußerste Erwartungen bis ins kleinste Detail [647] hinein erfüllen. Wenn ich mit ihm gehe – wenn ich das Opfer bringe, das er verlangt, so bringe ich es ganz und gar; dann lege ich alles auf den Altar – Herz, Lebenskraft, dann ist das Opfer vollständig. Er würde mich niemals lieben; aber er sollte zufrieden mit mir sein. Ich würde ihm Kraft und Energie zeigen, Hilfsquellen, deren Dasein er nicht geahnt. Ja! ich kann ebenso angestrengt arbeiten wie er, und mit ebenso großer Bereitwilligkeit.

Einwilligung in seine Bitte wäre also möglich – ja. Aber da ist ein Punkt – ein furchtbarer Punkt. Und dieser ist – daß er verlangt, ich solle seine Gattin werden; und er hat doch nicht mehr das Gefühl eines Gatten für mich als jener düstere, riesige Felsen, über welchen der Strom in den Abgrund hinabstürzt. Er schätzt mich wie ein Soldat eine gute Waffe wert hält – und das ist alles! Nicht mit ihm verheiratet, würde das mich niemals bekümmern; aber kann ich ihn seine Berechnungen zu Ende führen – ruhig seine Pläne ins Werk setzen lassen, und dann durch die Trauungsceremonie mit ihm gehen? Kann ich den bräutlichen Ring von ihm entgegennehmen, alle Formen der Liebe ertragen, welche er ohne Zweifel ebenfalls gewissenhaft beobachten würde – und doch wissen, daß der Geist ihm fern? Kann ich das Bewußtsein ertragen, daß jede Liebkosung, welche er mir zu teil werden läßt, ein Opfer ist, welches er seinen Grundsätzen bringt? Nein! Ein solches Märtyrertum wäre ungeheuerlich! Niemals werde ich es auf mich nehmen. Als seine Schwester könnte ich ihn begleiten – nicht als seine Gattin. Und das will ich ihm sagen.«

Ich sah nach dem Hügel hin; dort lag er regungslos wie eine gestürzte Säule. Sein Antlitz war mir zugewandt. Scharf und wachsam ruhten seine Blicke auf mir. Er sprang empor und näherte sich mir.

»Ich bin bereit nach Indien zu gehen – wenn ich frei dorthin gehen kann.«

[648] »Deine Antwort bedarf eines Kommentars; sie ist nicht klar.«

»Bis jetzt sind Sie mein Adoptivbruder gewesen – ich Ihre adoptierte Schwester. Fahren wir fort, nur das zu sein. Es ist besser, wenn wir einander nicht heiraten.«

Er schüttelte den Kopf. »In diesem Falle würde Adoptivgeschwisterschaft den Zweck nicht erfüllen. Wärst du meine wirkliche Schwester, so läge die Sache anders: ich würde dich mit hinausnehmen und kein Weib suchen. Wie die Dinge aber liegen, so muß unsere Verbindung entweder durch die Heirat geheiligt und besiegelt werden, oder sie darf überhaupt nicht bestehen. Praktische Einwürfe stellen sich jedem andern Plan entgegen. Siehst du das nicht ein, Jane? Denk nur einen Augenblick nach – deine Vernunft wird dich leiten.«

Ich dachte nach. Aber dennoch sagte mir meine Vernunft nichts als das eine Faktum, daß wir einander nicht liebten, wie Mann und Weib sich lieben sollen. Und deshalb bedeutete sie mir, daß wir nicht heiraten sollten! Das sagte ich ihm.

»St. John,« entgegnete ich, »ich liebe Sie wie meinen Bruder – Sie mich wie Ihre Schwester. Fahren wir so fort.«

»Das können wir nicht – wir können es nicht,« antwortete er scharf und kurz entschlossen, »es ginge nicht. Du hast gesagt, daß du mit mir nach Indien gehen willst; vergiß es nicht – du hast es gesagt.«

»Bedingungsweise.«

»Gut – gut. Gegen die Hauptsache – die Abreise von England mit mir, das Zusammenwirken mit mir in meiner künftigen Arbeit – hast du nichts einzuwenden. Du hast schon so gut wie deine Hand an die Pflugschar gelegt; du bist zu beständig und ausdauernd, um sie wieder zurückzuziehen. Du hast nur ein Ziel ins Auge zu fassen – und das ist, wie die Arbeit, welche du unternommen, [649] am besten zu Ende zu führen ist. Vereinfache deine vielfach komplizierten Interessen, Gefühle, Gedanken, Wünsche, Zwecke; verschmelze all deine Bedenken in den einen Vorsatz, – jenen, mit Erfolg, mit Kraft die Mission deines mächtigen Herrn zu erfüllen. Um das thun zu können, mußt du einen Beistand, einen Mithelfer, einen Gatten haben – nicht einen Bruder, denn dies ist ein zu loses Band. Auch ich brauche keine Schwester: eine Schwester könnte mir jeden Tag genommen werden. Ich brauche eine Gattin – das ist die einzige Gehilfin, die ich im Leben kräftig genug beeinflussen und bis zum Tode absolut an mich fesseln kann.«

Ein Schaudern erfaßte mich während er sprach; bis ins Mark hinein fühlte ich seinen Einfluß – ich spürte die Macht, welche er über mich besaß.

»Suchen Sie sie nicht in mir, St. John! Suchen Sie ein Weib, das Ihrer würdiger ist als ich.«

»Würdiger meines Zweckes, willst du sagen – würdiger meines Berufs. Ich wiederhole dir noch einmal, daß es nicht das unbedeutende Individuum ist – nicht der Mann mit den selbstsüchtigen Sinnen und Wünschen eines Mannes, für den ich eine Gefährtin suche – nein, ich suche sie für den Missionär.«

»Und ich bin bereit, dem Missionär meine Kraft zu geben – denn das ist alles, was er wünscht – nicht aber mich selbst; das hieße ja doch nur dem Kern die Schale und die Hülse hinzufügen. Für diese hat er keine Verwendung – und deshalb will ich sie behalten.«

»Das kannst du nicht – das darfst du nicht! Glaubst du, daß Gott sich mit einem halben Opfer zufrieden giebt? Es ist die Sache Gottes, welche ich vertrete, in seine Armee reihe ich dich ein. Um seinetwillen darf ich einen halben Eid der Treue nicht annehmen – er muß ganz sein!«

»O! ich bin bereit, Gott mein Herz zu geben – denn Sie brauchen es nicht!«

[650] Ich kann nicht darauf schwören, mein lieber Leser, daß in dem Ton, mit welchem ich die letzten Worte sprach, und in der Empfindung, welche ihn begleitete, nicht ein wenig unterdrückter Sarkasmus lag. Bis jetzt hatte ich St. John im stillen gefürchtet, weil ich ihn nicht verstanden hatte. Er hatte mich in Schrecken gehalten, weil ich über ihn im Zweifel war. Bis jetzt war ich nicht im stande gewesen zu sagen, wieviel an ihm heilig, wieviel menschlich gewesen; aber diese Konferenz führte zur Offenbarung, die Analyse seines Wesens vollzog sich vor meinen Augen. Ich sah seine Schwächen, ich verstand sie. Ich begriff, daß ich hier auf dem Lager von Heidekraut mit jener schönen Männergestalt vor mir, zu den Füßen eines Menschen lag, welcher irrte, wie ich irrte. Der Schleier fiel von seiner Härte und seinem Despotismus. Und als ich diese Eigenschaften in ihm entdeckt hatte, sah ich seine Unvollkommenheit und faßte Mut. Ich stand meinesgleichen gegenüber – einem Menschen, mit dem ich disputieren konnte – dem ich widerstehen konnte, wenn ich es für gut und notwendig hielt.

Als ich die letzten Worte gesprochen, schwieg er; ich wagte einen Blick auf sein Antlitz zu werfen. Sein Auge, das auf mich gerichtet, drückte zugleich ernstes Erstaunen und scharfe Neugierde aus. Es schien zu sagen: »Ist sie sarkastisch? Und sarkastisch mir gegenüber?«

»Was bedeutet dies?«

Und nach einer Weile fuhr er fort: »Laß uns nicht vergessen, daß dies eine ernste Angelegenheit ist, eine Sache, von welcher wir nicht ungestraft leichtsinnig sprechen dürfen. Ich hoffe, Jane, daß es dein Ernst ist, wenn du sagst, daß du Gott dein Herz geben willst, – das ist alles, was ich verlange. Wenn du dein Herz erst von allem Irdischen losgemacht und es deinem Schöpfer gegeben hast, so wird die Ausbreitung des Reiches dieses deines Schöpfers deine höchste Wonne, dein einziges Bestreben sein, und du wirst zu jeder Stunde bereit sein alles zu thun, was jenen[651] Zweck fördert. Du würdest sehen, welche mächtige Triebkraft dein und mein Streben durch unsere geistige und leibliche Vereinigung in der Ehe erhalten würde – diese einzige Vereinigung, welche den Schicksalen und Bestrebungen menschlicher Geschöpfe den Charakter dauernder Übereinstimmung verleiht –; und, indem ich über alle anderen kleinen Kapricen – alle trivialen Schwierigkeiten und Zartheiten der Empfindungen – alle Skrupel über den Grad, die Art, die Macht der Zärtlichkeit rein persönlicher Neigung fortgehe – du wirst dich beeilen, diese Verbindung auf der Stelle zu schließen!«

»Werde ich?« sagte ich kurz, und ich blickte auf seine Züge, die so schön in ihrer Harmonie, aber seltsam furchteinflößend in ihrer stillen Strenge waren, auf seine Stirn, die herrschsüchtig und mächtig, aber nicht offen war; auf seine Augen, die hell und glänzend und tief und durchdringend, aber niemals sanft blickten; auf seine schlanke, imposante Gestalt – und dann stellte ich mich mir selbst im Geiste als seinWeib vor. O! das wäre unmöglich! Als seine Helferin, sein Kamerad, meinetwegen! In diesen Eigenschaften würde ich Meere mit ihm durchkreuzen; in diesem Amt würde ich in asiatischen Wüsten unter einer tropischen Sonne mit ihm arbeiten und streben, seinen Mut, seine Hingebung, seine Kraft bewundern und anspornen; mich ruhig seiner Herrschaft unterwerfen; ruhig und unbewegt über seinen unausrottbaren Ehrgeiz lächeln; den Christen von dem Menschen zu scheiden wissen, den einen im höchsten Grade achten und dem andern von ganzem Herzen vergeben. Ohne Zweifel würde ich oft und schwer leiden, wenn ich ihm nur in dieser Eigenschaft beigegeben wäre; mein Körper würde unter einem qualvoll drückenden Joche leiden, aber mein Herz, meine Seele, mein Ich würden frei sein! Ich könnte dann noch immer zu meinem ungestörten Selbst zurückkehren, ich hätte noch mein ungefesseltes Empfinden für die Augenblicke trauriger Einsamkeit. [652] Es würde in meiner Seele Zufluchtsorte geben, die nur mir gehörten, in welcheer niemals eindringen könnte; Gefühle könnten dort frisch und ungestört keimen und wachsen, welche seine Strenge nicht zu versengen, sein gemessener Kriegerschritt nicht zu zertreten vermöchte – aber als sein Weib, stets ihm zur Seite, stets unterdrückt und stets beschränkt – gezwungen, das Feuer meiner Natur, meines Temperaments unaufhörlich zu bewachen, es zu zwingen, daß es sich in meinem Innern selbst verzehre, und niemals einen Schrei ausstoßen, wenn auch die eingeschlossene Flamme ein Lebenswerkzeug nach dem andern verzehrte – nein! das würde unerträglich sein!

»St. John!« schrie ich auf, als ich in meinem Sinnen bis hierher gekommen war.

»Nun?« fragte er eisigkalt.

»Ich wiederhole es noch einmal, ich willige ein als Ihre Gefährtin, Ihre Hilfsmissionärin mit Ihnen zu gehen – aber nicht als Ihre Gattin. Ich kann Sie nicht heiraten – ich kann nicht ein Teil von Ihnen werden.«

»Du mußt ein Teil von mir werden,« entgegnete er entschlossen, »oder der ganze Handel ist ungiltig. Wie könnte ich, ein Mann, der noch nicht dreißig Jahre alt ist, ein Mädchen von neunzehn Jahren mit mir nach Indien nehmen, wenn es nicht meine Gattin ist? Wie könnten wir für immer beisammen sein – zuweilen in abgelegenen Einöden, zuweilen unter wilden Stämmen – und nicht verheiratet?«

»Sehr wohl,« entgegnete ich kurz. »Sehr wohl unter solchen Umständen; gerade so gut, als ob ich Ihre wirkliche Schwester oder ein Mann und Geistlicher wäre wie Sie selbst.«

»Man weiß, daß du nicht meine Schwester bist; ich kann dich nirgend als solche hinführen; es hieße beleidigendes Mißtrauen an unser beider Fersen heften, wenn ich es versuchte. Und überdies – wenn du auch den starken Verstand [653] eines Mannes hast, so hast du doch das Herz eines Weibes, – und – und es ginge nicht.«

»Es würde gehen,« versicherte ich ziemlich verächtlich, »es würde ausgezeichnet gehen. Ich habe das Herz einer Frau – aber nicht, wenn Sie im Spiele sind; für Sie hege ich nur die beständige Freundschaft eines Gefährten, die Offenherzigkeit, die Treue, die brüderliche Empfindung eines Kriegskameraden; die Achtung und die Unterwürfigkeit eines Neubekehrten für seinen Oberpriester. Nichts mehr! Fürchten Sie also nichts!«

»Das ist's, was ich brauche,« sagte er mit sich selbst sprechend, »das ist gerade, was ich brauche! Und es sind Hindernisse im Wege! – sie müssen niedergehauen werden. Jane, du würdest es nicht bereuen, wenn du mich heiratetest; davon kannst du überzeugt sein. Wir müssen uns heiraten. Ich wiederhole es, es giebt keinen anderen Ausweg; und nach der Heirat würde ohne Zweifel soviel Liebe entstehen, um die Verbindung in deinen Augen erträglich zu machen.«

»Ich verabscheue Ihre Idee von der Liebe,« konnte ich nicht unterlassen zu sagen als ich mich erhob und nun mit dem Rücken an den Felsen gelehnt vor ihm stand, »ich verachte das unechte Gefühl, welches Sie mir bieten! Ja, St. John! Und ich verachte Sie, weil Sie es bieten!«

Er blickte mich scharf an und kniff seine schön geformten Lippen fest zusammen. Ob er empört oder überrascht oder sonst irgend etwas war, wäre schwer zu sagen; er hatte seine Gesichtszüge vollständig in der Gewalt.

»Ich erwartete kaum, diesen Ausdruck von dir zu hören,« sagte er. »Ich glaube, ich habe nichts gethan oder gesagt, was Verachtung verdiente.«

Sein sanfter Ton rührte mich; seine ruhige, erhabene Miene überwältigte mich.

»Vergeben Sie mir die Worte, St. John; aber es ist Ihre eigene Schuld, daß ich mich hinreißen ließ, so unüberlegt [654] zu sprechen. Sie haben einen Gegenstand zur Sprache gebracht, über den wir unseren verschiedenen Naturen nach ganz verschieden denken, – einen Gegenstand, den wir beide niemals diskutieren sollten. Der bloße Name der Liebe wird schon zum Zankapfel zwischen uns – was würden wir thun, wo die Wirklichkeit notwendig wäre? Wie würde uns ums Herz sein? Mein teurer Vetter, geben Sie Ihren Heiratsplan auf – vergessen Sie ihn!«

»Nein,« entgegnete er, »es ist ein lange gehegter Plan, und der einzige, der mir mein großes Ziel sichern kann, aber für den Augenblick will ich nicht weiter in dich dringen. Morgen reise ich nach Cambridge. Ich habe dort viele Freunde, denen ich Lebewohl sagen möchte. Ungefähr vierzehn Tage werde ich vom Hause abwesend sein – überlege dir meinen Vorschlag während dieses Zeitraums; und vergiß nicht, wenn du ihn zurückweisest, so verleugnest du nicht mich, sondern Gott. Ich bin nur das Werkzeug, durch welches er dir eine edle Lebenslaufbahn eröffnet; aber nur als meine Gattin kannst du ihn betreten. Weigerst du dich, mein Weib zu werden, so beschränkst du dich selbst für alle Zeit auf einen Pfad voll selbstsüchtiger Bequemlichkeit und öder Dunkelheit. Zittere! denn in solchem Falle zählst du zu denen, die den Glauben verleugnet haben und schlimmer sind als die Ungläubigen.«

Jetzt war er zu Ende.

Als er sich von mir abwandte, blickte er noch einmal zu den Bergen hinauf, auf den Fluß hinab. Aber jetzt hielt er jede Empfindung fest in seinem Herzen verschlossen: ich ward nicht mehr gewürdigt, sie in Worte gekleidet zu hören. Als ich an seiner Seite heimwärts ging, las ich in seiner steinernen Ruhe, seinem eisigen Schweigen alles, was er gegen mich empfand: die Enttäuschung einer harten, despotischen Natur, welche auf Widerstand gestoßen ist, wo sie Unterwerfung erwartete – die Mißbilligung einer kalten, [655] unbeugsamen Vernunft, welche in einem Anderen Gefühle und Anschauungen entdeckt hat, mit denen sie nicht fähig ist zu sympathisieren. Kurzum, als Mann hatte er gewünscht, mich zum Gehorsam zu zwingen; und nur als eifriger Christ ertrug er meinen Eigensinn so geduldig und gab mir eine so lange Zeit zum Nachdenken und zur Reue.

Als er an diesem Abend vor dem Schlafengehen seine Schwestern geküßt hatte, hielt er es für angemessen, sogar den Händedruck mit mir zu vergessen und verließ schweigend das Zimmer. Ich, die, wenn auch keine Liebe, so doch innige Freundschaft für ihn hegte, fühlte mich durch diese Unterlassung verletzt, so tief verletzt, daß mir die Thränen aus den Augen stürzten.

»Jane, ich sehe, daß du dich mit St. John während eures Spazierganges auf dem Moor gezankt hast,« sagte Diana. »Geh ihm nach, er weilt jetzt noch im Korridor und wartet auf dich – er will sich wieder mit dir versöhnen.«

Unter solchen Umständen besitze ich nur wenig Stolz; ich möchte immer viel lieber glücklich und zufrieden als würdevoll sein. Und deshalb lief ich ihm nach – er stand am Fuß der Treppe zum oberen Stockwerk.

»Gute Nacht, St. John,« sagte ich.

»Gute Nacht, Jane,« entgegnete er ruhig.

»Geben Sie mir die Hand,« fügte ich hinzu.

Welch einen kalten, leichten Druck fühlte ich auf meinen Fingern! Er war tief verletzt durch das, was an diesem Tage vorgefallen war; Thränen rührten ihn nicht; Herzlichkeit erwärmte ihn nicht. Von ihm war keine glückliche Versöhnung zu erzielen – kein ermunterndes Lächeln, kein großmütiges Wort – aber der Christ war noch immer ruhig und geduldig; und als ich ihn fragte, ob er mir vergeben habe, sagte er, daß es nicht seine Gewohnheit sei, die Erinnerung an eine Kränkung zu bewahren, daß er nichts zu vergeben habe, da er gar nicht beleidigt sei.

[656] Und mit dieser Antwort ging er von mir. Es wäre mir lieber gewesen, wenn er mich mit den Fäusten zu Boden geschlagen hätte.

Fünfzehntes Kapitel [2]

Fünfzehntes Kapitel

Am folgenden Tage reiste er jedoch nicht nach Cambridge ab, trotzdem er es gesagt. Er schob die Abreise noch eine ganze Woche auf, und während dieser Zeit ließ er es mich empfinden, welche schwere Strafe ein guter, jedoch strenger, ein gewissenhafter, jedoch unbeugsamer Mann einem Wesen auferlegen kann, das ihn beleidigt hat. Ohne irgend einen Akt von offener Feindseligkeit, ohne ein Wort des Vorwurfs gelang es ihm, mir fortwährend die Überzeugung beizubringen, daß ich seine Gunst vollständig verloren hatte.

Nicht daß St. John den Geist unchristlicher Rachsucht gehegt hätte – nicht daß er mir auch nur ein Haar auf meinem Haupte gekrümmt hätte, selbst wenn es in seiner Macht gelegen! Sowohl durch Grundsatz wie durch Natur war er erhaben über jede gemeine Befriedigung seines Rachegefühls; er hatte mir verziehen, weil ich gesagt, ich verachte ihn und seine Liebe, aber die Worte hatte er nicht vergessen; und er würde sie auch nicht vergessen, so lange er und ich lebten. Wenn er sich zu mir wandte, sah ich an seinem Blick, daß sie stets zwischen ihm und mir in der Luft geschrieben standen; wenn ich sprach, so schlugen sie in meiner Stimme an sein Ohr, und ihr Echo klang aus jeder Antwort, die er mir gab.

Er stand durchaus nicht von jeder Unterhaltung mit mir ab; er rief mich sogar wie gewöhnlich jeden Morgen an sein Pult, um mit ihm zu arbeiten, aber ich fürchte, daß der böse Mensch in ihm ein Vergnügen darin fand zu zeigen, mit welcher Geschicklichkeit es ihm gelang – während er augenscheinlich ganz so handelte und sprach wie gewöhnlich – aus jedem Wort und jeder That den [657] Geist des Interesses und des Beifalls zu entfernen, welcher früher seiner Sprache und seinem ganzen Wesen einen gewissen herben Reiz verliehen hatte – ein Vergnügen, an welchem der reine Christ in ihm keinem Anteil hatte. Für mich war er in Wirklichkeit nicht mehr Fleisch und Blut, sondern Marmor; sein Auge war ein kalter, klarer, blauer Edelstein; seine Zunge ein sprechendes Instrument – sonst nichts.

Alles dies war Qual für mich – raffinierte, langsame Qual. Ein langsames Feuer der Empörung, ein immerwährend zitternder Kummer, der mich quälte und beugte, ward dadurch unterhalten. Ich fühlte, wie dieser gute Mensch – so rein wie die klarste Quelle – mich binnen kurzem töten würde, wenn ich seine Frau wäre, ohne meinen Adern einen einzigen Tropfen Blutes zu entziehen, ohne auf seinem eigenen krystallhellen Gewissen auch nur den leichtesten Hauch eines Verbrechens zu fühlen. Besonders empfand ich dies, wenn ich einen Versuch machte, ihn zu besänftigen. Mein Mitleid stieß auf kein Mitleid. Ihm verursachte unsere Entfremdung keine Qual; er empfand kein Verlangen nach Versöhnung; und obgleich meine schnellfließenden Thränen mehr als einmal auf das Buch fielen, über welches wir beide zusammen gebeugt waren, so machten sie nicht mehr Eindruck auf ihn, als wäre sein Herz in der That ein Gegenstand aus Metall oder Stein. Seinen Schwestern gegenüber war er indessen herzlicher als gewöhnlich; gerade als fürchtete er, daß bloße Kälte mich noch nicht hinlänglich überzeugen könnte, wie vollständig ich in den Bann gethan, wollte er noch die Macht des Kontrastes hinzufügen. Und dies that er, ich bin fest davon überzeugt, nicht aus Bosheit, sondern aus Grundsatz.

Am Abend vor seiner Abreise sah ich ihn zufällig gegen Sonnenuntergang im Garten auf- und abgehen. Als ich ihn erblickte, dachte ich wieder daran, daß dieser Mann, entfremdet wie er mir jetzt war, einst mein Leben gerettet [658] hatte und daß wir nahe Verwandte seien. Das bewog mich, einen letzten Versuch zur Wiedererlangung seiner Freundschaft zu machen.

Ich ging hinaus und näherte mich ihm, als er an die kleine Pforte gelehnt dastand. Sofort begann ich, von dem zu reden, was mir am Herzen lag.

»St. John, ich bin unglücklich, weil Sie mir noch immer zürnen. Lassen Sie uns wieder Freunde sein.«

»Ich hoffe, daß wir Freunde sind,« lautete die gelassene Antwort, während er den Blick auf den aufgehenden Mond gerichtet hatte, den er schon betrachtete, als ich mich ihm näherte.

»Nein, St. John, wir sind nicht mehr Freunde wie früher. Sie wissen das gar wohl.«

»Sind wir es nicht? Das wäre Unrecht. Ich meinerseits wünsche Ihnen nichts Böses, sondern nur Gutes.«

»Ich glaube Ihnen, St. John, denn ich bin fest überzeugt, daß Sie nicht fähig wären, irgend jemand Böses zu wünschen. Da ich aber Ihre Verwandte bin, möchte ich ein wenig mehr Liebe wünschen, als jene Art allgemeiner Philanthropie, die Sie auch auf ganz fremde Menschen ausdehnen.«

»Natürlich,« sagte er. »Der Wunsch ist durchaus billig, und ich bin weit entfernt davon, Sie als eine Fremde zu betrachten.«

Dies sprach er in sehr kühlem, ruhigem Ton, und das war kränkend und demütigend genug. Hätte ich den Ratschlägen meines Stolzes und meiner Wut Gehör gegeben, so würde ich ihn augenblicklich verlassen haben. Aber es war etwas in mir, das stärker war als diese Gefühle. Ich hatte eine tiefe Verehrung für die Grundsätze und die Begabung meines Vetters. Seine Freundschaft war von großem Werte für mich; sie zu verlieren wäre eine harte Prüfung gewesen. Deshalb gab ich den Versuch, sie wieder zu erobern nicht so schnell auf.

[659] »Wollen wir uns denn in solcher Stimmung trennen, St. John? Und wenn Sie nach Indien gehen – wollen Sie mich dann verlassen, ohne ein freundlicheres Wort zu sprechen, als bisher?«

Jetzt wandte er sich ganz von dem Mond ab und blickte mir gerade ins Gesicht.

»Jane, werde ich dich denn verlassen, wenn ich nach Indien gehe? Was! Gehst du nicht mit mir nach Indien?«

»Sie sagten, das könne ich nicht, wenn ich Sie nicht vorher heiratete.«

»Und du willst mich nicht heiraten? Du beharrst fest bei jenem Entschluß?«

Lieber Leser, hast du jemals erfahren, welchen Schrecken jene herzenskalten Menschen mit dem Eise ihrer Fragen verursachen können? Wieviel von einem Lawinensturz in ihrem Zorn liegt? Wie sehr ihr Mißvergnügen dem Eisgange eines wilden Stromes gleicht?

»Nein, St. John, ich werde Sie nicht heiraten. Ich beharre fest bei meinem Entschluß.«

Die Lawine kam in Bewegung, aber sie stürzte noch nicht thalwärts.

»Noch einmal – weshalb diese Weigerung?«

»Früher, weil Sie mich nicht liebten,« entgegnete ich, »jetzt, weil Sie mich beinahe hassen. Wenn ich Sie heiratete, würden Sie mich töten. Sie sind jetzt schon im Begriff, es zu thun.«

Seine Wangen und Lippen wurden bleich – totenbleich.

»Ich würde dich töten? – ich töte dich jetzt schon? Deine Worte sind solche, wie sie nie gesprochen werden sollten: heftig, unweiblich, unwahr. Sie verraten einen unglückseligen Geistes- und Gemütszustand; sie verdienen strenge Zurechtweisung, sie würden unverzeihlich sein, wenn es nicht die Pflicht des Menschen wäre, seinem Bruder zu verzeihen, und wenn es auch siebenmalsiebzigmal wäre.«

[660] Jetzt hatte ich die Sache zu Ende gebracht. Während ich den ernstlichen Wunsch hegte, die Spur meiner ersten Kränkung aus seiner Seele zu löschen, hatte ich auf jener zähen Oberfläche einen weit tieferen Eindruck zurückgelassen, ich hatte ihn für alle Zeiteneingebrannt.

»Jetzt werden Sie mich in der That hassen,« sagte ich. »Es ist ganz nutzlos, den Versuch zu machen, Sie zu versöhnen; ich sehe, jetzt habe ich Sie mir zum ewigen Feinde gemacht.«

Ein neues Unrecht thaten ihm diese Worte, einschlimmeres noch, weil sie der Wahrheit nahe kamen. Seine blutlosen Lippen erzitterten wie in einem Krampf. Ich wußte, welch scharfen Stahl ich gewetzt hatte. Das Herz zersprang mir fast.

»Sie mißverstehen meine Worte ganz und gar,« sagte ich, indem ich plötzlich seine Hand erfaßte: »Ich hatte nicht die Absicht, Sie zu verletzen oder zu reizen – in der That, das hatte ich nicht.«

Er lächelte unendlich bitter – mit großer Entschiedenheit entzog er seine Hand der meinen.

»Und jetzt nimmst du dein Versprechen zurück, vermute ich, und gehst überhaupt nicht nach Indien?« sagte er nach langem Schweigen.

»Nein, ich gehe, als Ihre Mitarbeiterin.«

Jetzt folgte eine lange Pause. Ich kann nicht sagen, wie hart der Kampf war, den in der Zwischenzeit Natur und Barmherzigkeit in ihm auskämpften. Aber in seinen Augen funkelten seltsame Strahlen und fremde Schatten flogen über sein Gesicht. Endlich sprach er wieder.

»Ich habe dir schon einmal die Absurdität des Vorschlags bewiesen, daß ein Mädchen deines Alters einen unverheirateten Mann in meinen Jahren begleiten könne. Ich bewies sie dir in solchen Ausdrücken, von denen ich vermuten durfte, daß sie dich verhindern würden, jemals [661] wieder auf den Plan zurückzukommen. Daß du es dennoch gethan, bedaure ich – deinetwegen.«

Ich unterbrach ihn. Irgend etwas, das einem faßbaren Vorwurf ähnlich war, gab mir sofort wieder Mut.

»Bleiben Sie doch bei der gesunden Vernunft, St. John, jetzt streifen Sie wirklich an Unsinn. Sie behaupten entsetzt zu sein über das, was ich gesagt. Sie sind nicht in Wahrheit empört darüber, denn mit Ihrem außergewöhnlichen Verstande können Sie weder so abgeschmackt noch so eingebildet sein, meine Meinung mißzuverstehen. Noch einmal wiederhole ich es, ich will Ihre Mitarbeiterin sein, aber niemals Ihre Gattin.«

Wiederum ward er leichenfahl. Aber wie zuvor beherrschte er seine Leidenschaft vollständig. Er antwortete nachdenklich aber ruhig:

»Eine weibliche Mitarbeiterin, die nicht meine Gattin ist, würde mir niemals genügen. Es scheint also, daß du mit mir nicht gehen kannst; wenn du es mit deinem Anerbieten aber ehrlich meinst, so will ich während meines Aufenthalts in der Stadt mit einem Missionär sprechen, dessen Frau eine Mitarbeiterin braucht. Dein eigenes Vermögen wird dich unabhängig von der Hilfe der Missionsgesellschaft machen; auf diese Weise wird dir die Schande erspart, dein Versprechen zu brechen und der Verbindung untreu zu werden, welcher anzugehören du gelobt hast.«

Wie nun mein Leser weiß, hatte ich niemals irgend ein förmliches Versprechen gegeben oder war eine Verpflichtung eingegangen; und seine Worte waren viel zu hart und viel zu despotisch für diesen Fall.

Daher entgegnete ich:

»Da giebt es keine Schande, kein gebrochenes Versprechen, kein Untreuwerden in diesem Falle. Ich habe nicht die geringste Verpflichtung nach Indien zu gehen, besonders nicht mit Fremden. Mit Ihnen zusammen würde ich viel gewagt haben, weil ich Sie bewundere, [662] Ihnen vertraue und Sie liebe wie eine Schwester. Aber ich bin auch zugleich fest überzeugt, daß, wann und mit wem ich auch ginge, ich in jenem Klima nicht lange leben würde.«

»Ah! du fürchtest für deine Person,« sagte er mit spöttisch verzogenen Lippen.

»Das thue ich. Gott hat mir mein Leben nicht gegeben, daß ich es fortwerfe; und jetzt beginne ich zu glauben, daß es einen Selbstmord begehen hieße, wen ich thäte, was Sie von mir verlangen. Überdies will ich, bevor ich mich entschließe England zu verlassen, gewiß wissen, ob ich nicht von größerem Nutzen sein kann, wenn ich in meinem Vaterlande bliebe, als wenn ich es verlasse.«

»Was soll das heißen?«

»Es würde nutzlos sein, wenn ich versuchen wollte, das zu erklären; aber es giebt einen Punkt, über den ich schon lange in qualvollem Zweifel bin; und ich kann mich nirgend hin begeben, bevor dieser Zweifel nicht gehoben ist.«

»Ich weiß, wohin dein Herz dich zieht, und an wem es hängt. Das Interesse, welches du hegst, ist unheilig und gegen das Gesetz. Schon lange hättest du es ersticken sollen, und jetzt müßtest du erröten, dessen nur zu erwähnen. Du denkst an Mr. Rochester!«

Es war wahr. Durch mein Schweigen bestätigte ich es.

»Willst du Mr. Rochester aufsuchen?«

»Ich muß erfahren, was aus ihm geworden ist.«

»So bleibt mir denn nichts anderes mehr zu thun übrig, als deiner in meinem Gebet zu gedenken,« sagte er, »und Gott von ganzem Herzen zu bitten, daß er dich nicht in der That zu einer Verworfenen werden läßt. Ich habe geglaubt, in dir eine der Auserwählten zu sehen. Aber Gott sieht nicht, wie Menschen sehen: Sein Wille geschehe!«

Er öffnete das Heckenthor, ging hinaus und streifte durch die Wiesen der Schlucht zu. Bald war er meinem traurigen Blick ganz entschwunden.

[663] Als ich wieder in das Wohnzimmer trat, fand ich Diana am Fenster stehend; sie schien in trübes Sinnen versunken. Diana war sehr viel größer als ich, sie legte ihre Hand auf meine Schulter und indem sie sich zu mir herabbeugte, sah sie mir prüfend ins Gesicht.

»Jane,« sagte sie, »du bist jetzt stets so blaß und aufgeregt. Ich bin fest überzeugt, daß irgend etwas geschehen ist. Sag mir, was zwischen dir und St. John vorgeht; seit einer halben Stunde habe ich euch hier vom Fenster aus beobachtet. Du mußt verzeihen, daß ich eine solche Spionin bin, aber seit langer Zeit schon habe ich mir allerhand Dinge eingebildet. St. John ist ein so seltsamer, ein ganz eigentümlicher Mensch.«

Sie hielt inne – ich sprach nicht; bald begann sie von neuem:

»Ich bin fest überzeugt, daß mein sonderbarer Herr Bruder ganz besondere Ansichten in Bezug auf dich hegt; schon seit langer Zeit hat er dich durch eine Beachtung und ein Interesse ausgezeichnet, das er noch niemals einem anderen Menschen bewiesen – und zu welchem Zweck? Ich wollte, daß er dich liebte, Jane – ist das der Fall, Kind?«

Ich legte ihre kühle Hand auf meine heiße Stirn: »Nein, Diana, nein, nicht im geringsten.«

»Weshalb verfolgt er dich denn so mit den Augen – und macht, daß er so häufig allein mit dir ist und hält dich fortwährend an seiner Seite fest? Mary und ich waren beide zu dem Schlusse gekommen, daß er den Wunsch hege, dich zu heiraten.«

»Das thut er auch – er hat von mir verlangt, daß ich sein Weib werde.«

Diana schlug die Hände vor Freude zusammen.

»Das ist's ja gerade, was wir hofften und dachten! Und du wirst ihn heiraten, Jane, nicht wahr? Dann müßte er ja auch in England bleiben.«

[664] »Weit entfernt davon, Diana; die einzige Absicht, welche er bei seinem Heiratsantrag hegt, ist, sich in mir eine passende Gehilfin für seine indischen Arbeiten und Mühseligkeiten zu sichern.«

»Was? Er verlangt von dir, daß du nach Indien gehst?«

»Ja!«

»Wahnsinn!« rief sie aus. »Ich bin überzeugt, daß du dort kaum drei Monate leben würdest. Du darfst unter keinen Umständen gehen. Du hast nicht eingewilligt, nicht wahr, liebe Jane?«

»Ich habe mich geweigert, ihn zu heiraten.«

»Und folglich hast du ihn tief gekränkt?« vermutete sie dann weiter fragend.

»Tief gekränkt. Er wird mir niemals verzeihen, fürchte ich. Und doch erbot ich mich, ihn als seine Schwester zu begleiten.«

»Es war eine unglaubliche Thorheit, das zu thun, Jane. Denk nur an die Aufgabe, welche du damit unternehmen würdest – es wären endlose Ermüdung und Anstrengung; und Anstrengung und Ermüdung töten in jenen Ländern selbst die Stärksten. Du aber bist zart und schwach. Du kennst St. John und weißt, daß er dich selbst zu Unmöglichkeiten anspornen würde; in seiner Nähe würdest du nicht die Erlaubnis bekommen, während der heißen Stunden zu rasten, und unglücklicherweise zwingst du dich, wie ich bemerkt habe, alles zu vollbringen, was er von dir verlangt. Ich bin nur erstaunt, daß du den Mut gefunden hast, seine Hand zurückzuweisen. Du liebst ihn also auch nicht, Jane?«

»Nicht, wie ich einen Gatten lieben müßte.«

»Und doch ist er ein so schöner Mann.«

»Und ich bin so häßlich, nicht wahr, Dia? Wir würden ja gar nicht zueinander passen.«

»Häßlich? Du? Durchaus nicht! Du bist viel zu hübsch und viel zu jung, um in Calcutta lebendig gebraten zu werden.«

[665] Und wiederum beschwor sie mich im Ernst, jeden Gedanken daran aufzugeben, daß ich mit ihrem Bruder nach Indien gehen könne.

»Das muß ich in der That,« sagte ich, »denn als ich ihm jetzt kurz zuvor mein Anerbieten wiederholte, ihm als Mithelferin zur Seite stehen zu wollen, zeigte er sich empört über meinen Mangel an Anstandsgefühl. Er schien der Ansicht zu sein, daß ich eine Unschicklichkeit begangen habe, indem ich ihm anbot, ihn zu begleiten, ohne mit ihm verheiratet zu sein. Als wenn ich nicht von allem Anfang an gehofft hätte, in ihm einen Bruder zu finden, und ihn stets als solchen betrachtet hätte!«

»Wie kannst du aber sagen, daß er dich nicht liebt, Jane?«

»Du solltest ihn nur selbst über den Gegenstand reden hören. Er hat mir wieder und immer wieder erklärt, daß er nicht für sich selbst, sondern für sein Amt eine Gefährtin wünscht. Er sagt mir, daß ich zur Arbeit geboren sei – nicht zur Liebe! Und das ist ohne Zweifel wahr. Aber meiner Meinung nach bin ich auch nicht für die Ehe geboren, wenn ich nicht für die Liebe geschaffen bin. Wäre es denn nicht seltsam, Dia, fürs ganze Leben an einen Menschen gekettet zu sein, der in mir nichts weiter sieht als ein nützliches Werkzeug?«

»Unerträglich – unnatürlich – vollständig unmöglich!«

»Und dann,« fuhr ich fort, »obgleich ich jetzt nur eine schwesterliche Neigung für ihn hege, so kann ich mir doch sehr gut die Möglichkeit vorstellen, daß ich, wenn ich gezwungen würde, seine Gattin zu werden, mit der Zeit eine unvermeidliche, seltsame, qualvolle Art von Liebe für ihn empfinden würde. Denn er ist so hoch begabt, und in seinem Blick, seiner Art, seiner Unterhaltung, seiner Sprechweise liegt oft ein Zug von heldenmütiger Größe. In solchem Falle würde mein Los doch ein unsäglich elendes werden. Er würde nicht wollen, daß ich ihn liebte, und [666] wenn ich ihm das Gefühl zeigte, würde er mir begreiflich machen, daß dies eine Überflüssigkeit sei, welche er nicht verlange, und die mich nur schlecht kleide. Ich weiß, daß er so handeln würde.«

»Und doch ist St. John ein guter Mensch,« sagte Diana.

»Er ist ein guter und ein großer Mann, aber ohne Erbarmen vergißt er die Empfindungen und Ansprüche kleinerer Menschen, indem er seine eigenen großen Pläne verfolgt. Es ist daher für die Unbedeutenden besser, ihm aus dem Wege zu gehen, damit er sie in seinem rastlosen Vorwärtsstreben nicht zu Boden trete. Doch da kommt er. Ich verlasse dich, Diana.«

Und damit eilte ich die Treppe hinauf, als ich ihn in den Garten treten sah.

Beim Abendessen war ich jedoch gezwungen, ihm wieder zu begegnen. Während dieser Mahlzeit schien er gerade so ruhig wie gewöhnlich. Ich hatte geglaubt, daß er kaum mit mir sprechen würde, und ich war fest überzeugt, daß er es aufgegeben, seinen Heiratsplan noch weiter zu verfolgen; aber die Folge sollte mich lehren, daß ich mich in beiden Punkten geirrt hatte. Er sprach zu mir ganz in der gewohnten Weise; oder doch wenigstens so, wie er es in der ganzen letzten Zeit gethan: er war peinlich höflich. Ohne Zweifel hatte er die Hilfe des heiligen Geistes angefleht, um den Ärger zu bekämpfen, den ich in ihm erregt hatte, und jetzt glaubte ich, daß er mir noch einmal vergeben habe.

Zum Lesen vor dem Abendgebet hatte er das einundzwanzigstes Kapitel der Offenbarung gewählt. Zu allen Zeiten war es wohlthuend ihm zuzuhören, wenn die Worte der Bibel von seinen Lippen kamen, niemals klang seine Stimme so süß und voll – niemals machte seine Art und Weise in ihrer edlen Einfachheit einen so tiefen Eindruck, als wenn er die Prophezeiungen Gottes verkündete; und heute abend nahm diese Stimme einen noch feierlicheren [667] Ton an – seine Bewegungen und Gebärden nahmen eine tiefere Bedeutung an, als er so inmitten seines Haushaltes dasaß, während der Maimond durch die unverhängten Fenster schien und das Kerzenlicht fast überflüssig machte; als er dasaß über die große alte Bibel gebeugt und aus ihren Blättern die Vision des neuen Himmels und der neuen Erde beschrieb – sagte, wie Gott kommen würde, unter den Menschen zu wohnen, wie er alle Thränen von ihren Augen trocknen würde und versprach, daß der Tod nicht mehr sein würde, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerzen sein würden, weil das erste vergangen.

Die folgenden Worte durchzitterten mich seltsam, als er sie sprach, besonders da ich an der leisen, unbeschreiblichen Veränderung im Ton merkte, daß er sich zu mir gewandt hatte, als er sie aussprach.

»Wer überwindet, der wird es alles ererben, und ich werde sein Gott sein und er mein Sohn. Aber,« las er ganz langsam und deutlich weiter, »den Verzagten und Ungläubigen und Greulichen und Totschlägern und Zauberern und Abgöttischen und allen Lügnern, deren Teil wird sein in dem Pfuhl, der mit Feuer und Schwefel brennt, welches ist der andere Tod.«

Von diesem Augenblick an wußte ich, welches Schicksal St. John für mich fürchtete.

Ein stiller, unterdrückter Triumph, vermischt mit einem sehnsüchtigen Ernst bezeichnete seine Erklärung der letzten glorreichen Verse dieses Kapitels. Der Leser war überzeugt, daß sein Name bereits in dem Lebensbuche des Lammes geschrieben stehe, und er sehnte sich nach der Stunde, wo er Einlaß finden würde in die Thore der Stadt, in welche die Könige auf Erden ihre Heiligkeit bringen, die keiner Sonne noch des Mondes bedarf, daß sie in ihr scheinen, denn die Herrlichkeit Gottes erleuchtet sie und ihre Leuchte ist das Lamm.

In dem Gebet, welches dem Kapitel der Bibel folgte, [668] faßte er all seine Energie zusammen – all sein herber, starrer Eifer erwachte; er war in heiligem Ernst, er kämpfte und rang mit Gott und war entschlossen zu siegen. Er flehte um Kraft für die Schwachen, um Führung für die Lämmer, welche von der Herde abirrten, eine Rückkehr, selbst noch in der elften Stunde, für jene, welche durch die Versuchungen der Welt und des Fleisches von dem engen aber rechten Pfade abgelockt würden. Er erbat, er erflehte, er forderte die Gabe eines Feuerbrandes, eines Donnerkeils, um ihn in die Herzen der Hörer zu schleudern. Der Ernst ist stets tief feierlich: als ich im Anfang auf das Gebet lauschte, erfüllte mich der seine mit Verwunderung; dann, als er fortfuhr und sich steigerte, rührte er mich, und zuletzt erfüllte er mich mit Furcht. Er empfand die Größe und den Wert seines Vorhabens so aufrichtig; jeder, der sein Flehen mit anhörte, konnte nicht umhin, mit ihm zu fühlen.

Als das Gebet zu Ende war, nahmen wir Abschied von ihm, er beabsichtigte sehr früh am nächsten Morgen abzureisen. Nachdem Diana und Mary ihn geküßt hatten, verließen sie das Zimmer; damit befolgten sie, wie ich glaube, einen Wink, welchen er ihnen im Flüsterton gegeben hatte. Dann reichte auch ich ihm die Hand und wünschte ihm glückliche Reise.

»Ich danke dir, Jane. Wie ich schon sagte, werde ich in vierzehn Tagen von Cambridge zurückkehren; dieser Zeitraum ist dir also noch zur Überlegung gegönnt. Wenn ich dem gewöhnlichen, menschlichen Stolz Gehör schenkte, so würde ich dir nicht mehr von einer Verbindung mit mir reden; aber ich gehorche meiner Pflicht und behalte mein erstes, mein vornehmstes Ziel unentwegt im Auge: alle Dinge zur Ehre Gottes zu thun. Mein Herr hat lange und schwer gelitten; das werde auch ich thun. Ich kann dich nicht im Zorn der ewigen Verdammnis überlassen. Bereue – entschließe dich, so lange noch Zeit ist. [669] Vergiß nicht – wir sollen arbeiten solange es Tag ist – wir wissen, daß die Nacht kommen wird, in welcher kein Mensch arbeiten soll. Denk an das Schicksal des reichen Mannes im Evangelium, welcher die Güter dieses Lebens besaß. Gott gebe dir Kraft, jenes bessere Teil zu erwählen, das dir nicht geraubt werden kann!«

Als er diese letzten Worte sprach, legte er die Hand auf meinen Kopf. Er hatte ernst und milde gesprochen; sein Blick war in der That nicht der eines Liebenden, der seine Geliebte anblickt; aber es war der eines Hirten, der seine zerstreute Herde zusammenruft, oder besser der eines Schutzengels, welcher über der Seele wacht, für welche er verantwortlich ist. Alle Männer von Begabung, ob sie Gefühlsmenschen sind oder nicht, ob sie Zeloten oder Streber oder Despoten sind – vorausgesetzt, daß sie es ehrlich meinen – haben ihre erhabenen Augenblicke: wenn sie besiegen und herrschen. Ich fühlte Verehrung für St. John – eine Verehrung, die so stark war, daß ihre Triebkraft mich plötzlich auf jenen Punkt brachte, den ich solange geflohen hatte. Die Versuchung überkam mich, den Kampf mit ihm aufzugeben – auf dem Strom seines Willens dahinzutreiben hinein in den Golf seines Daseins und dort mein eigenes aufzugeben. Ich war jetzt von ihm fast ebensosehr in die Enge getrieben, wie einst von einem anderen. In beiden Fällen war ich eine Thörin. Wenn ich damals nachgegeben hätte, so wäre es ein Vergehen gegen die Moral gewesen; wenn ich jetzt nachgeben würde, so wäre es ein Vergehen gegen die gesunde Vernunft. So denke ich noch in dieser Stunde, selbst wenn ich durch das Medium der Zeit auf jene Krisis zurückblicke. In jenem Augenblicke war ich mir meiner Thorheit nicht bewußt.

Bewegungslos stand ich da unter der Berührung meines Hierophanten. All meine Weigerungen waren vergessen – meine Furcht besiegt – mein Ringen gelähmt. Das Unmögliche – meine Verbindung mit St. John – ward [670] schnell zur Möglichkeit. Mit einem Schlage veränderte sich alles. Die Religion rief – Engel winkten – Gott befahl – das Leben schrumpfte zusammen wie eine Schnecke – die Thore des Todes öffneten sich und zeigten mir die Ewigkeit, welche jenseits lag; mir war, als könne ich für die Sicherheit und Glückseligkeit im Jenseits in einer Sekunde alles opfern, was hienieden lag. Das dunkle Zimmer war voll Visionen.

»Könntest du dich jetzt entschließen?« fragte der Missionär. Er stellte die Frage in sanftem Ton, und ebenso sanft zog er mich an sich. O, jene Milde! Wieviel mächtiger ist sie doch als Gewalt! St. Johns Zorn vermochte ich zu widerstehen; seiner Güte gegenüber wurde ich schwach wie ein Rohr. Und doch wußte ich bestimmt, daß er mich, wenn ich jetzt auch nachgab, eines Tages für meinen früheren Widerstand würde büßen lassen. Durch eine Stunde des inbrünstigen, heiligen Gebets war seine ganze Natur noch nicht verändert; sie war nur erhabener geworden.

»Ich könnte mich entschließen,« antwortete ich, »wenn ich nur gewiß wäre, wenn ich nur die feste Überzeugung hätte, es sei Gottes Wille, daß ich Sie heiraten soll! Dann würde ich hier und jetzt schwören – möge später kommen was da wolle!«

»Mein Gebet ist erhört!« rief St. John aus. Er preßte seine Hand fester auf meinen Kopf, als nähme er Besitz von mir. Er legte seinen Arm um mich, beinahe als wenn er mich liebte (ich sage beinahe, – ich kannte den Unterschied ja – denn ich hatte empfunden, was es heißt, geliebt zu sein; aber gleich ihm hatte ich die Liebe jetzt beiseite gelassen und nur an die Pflicht gedacht); ich kämpfte noch mit meiner unklaren inneren Sehkraft, welche durch Nebel und Wolken getrübt war. Heiß und innig und tief sehnte ich mich danach, das zu thun, was recht war – und sonst nichts.

»Zeige mir, o, zeige mir den rechten Pfad, gütiger[671] Himmel!« flehte ich. Ich war erregt, wie ich es noch niemals gewesen. Und ob das, was folgte, die Wirkung meiner Aufregung war, mag der Himmel selbst beurteilen.

Das ganze Haus lag in tiefer Ruhe; denn ich glaube, daß außer St. John und mir alle sich bereits zur Ruhe begeben hatten. Die einzige Kerze war dem Verlöschen nahe. Das Mondlicht fiel hell ins Zimmer. Mein Herz schlug laut und heftig, ich hörte jeden Pulsschlag. Plötzlich stand es still unter einer unbeschreiblichen Empfindung, die es durchzitterte und mich an Kopf und Händen und Füßen lähmte. Die Empfindung war nicht wie ein elektrischer Schlag, aber ebenso scharf und seltsam und beängstigend; sie wirkte auf meine Sinne, als sei ihre äußerste Thätigkeit und Rastlosigkeit bis jetzt nur eine Art Erstarrung gewesen, aus welcher sie nun aufgerüttelt und geweckt wurden. Sie harrten voll Erwartung, Auge und Ohr waren gespannt, während jeder Nerv in mir erzitterte.

»Was hast du gehört? Was siehst du?« fragte St. John. Ich sah nichts. Aber ich hörte irgendwo eine Stimme, die rief:

»Jane! Jane! Jane!«

Sonst nichts.

»O Gott, was ist das?« stieß ich hervor.

Ich könnte ebensogut ausgerufen haben: »Wo ist es?« denn es schien nicht im Zimmer zu sein – nicht im Hause – nicht im Garten. Es kam nicht aus der Luft – nicht aus dem Erdboden – nicht von Oben. Ich hatte es nur vernommen – wie oder wo, wäre unmöglich zu sagen! Und es war die Stimme eines menschlichen Wesens – eine bekannte, geliebte, nie vergessene Stimme – die Stimme Edward Fairfax Rochesters; und sie schrie flehend und jammernd, in wildem Schmerz.

»Ich komme!« rief ich. »Warte auf mich! O! ich will kommen!« Ich flog an die Thür und sah in den Korridor [672] hinaus, er war dunkel. Ich lief in den Garten; er war leer.

»Wo bist du?« rief ich aus.

Die Hügel hinter der Schlucht sandten die Antwort gedämpft zurück: »Wo bist du?« Ich lauschte. Der Wind seufzte leise in den Föhren. Nichts als einsames, ödes Moorland und mitternächtliche Stille.

»Fort mit dir, Aberglaube!« befahl ich, als sich dies düstere Gespenst unheimlich neben dem schwarzen Eibenbaum an der Pforte erhob. »Dies ist nichtdein Trug, nicht deine Zauberei – dies ist das Werk der Natur. Sie war geweckt und that – kein Wunder – wohl aber ihr äußerstes.«

Ich riß mich los von St. John, der mir gefolgt war und mich zurückhalten wollte. Jetzt war meine Zeit gekommen, Gewalt zu üben. Jetzt mußte ich meine Macht zeigen. Ich sagte ihm, er solle weder Fragen stellen noch Bemerkungen machen; ich bat ihn, mich zu verlassen; ich mußte und wollte allein sein. Er gehorchte sofort. Wo genug Energie vorhanden ist um zu befehlen, bleibt der Gehorsam niemals aus. Dann ging ich in mein Zimmer, schloß mich ein, fiel auf die Kniee und betete auf meine Weise – anders als auf St. Johns Weise, aber wirkungsvoll nach ihrer Art. Mir war, als dränge ich hinauf zu dem Geist der Allmacht, und meine Seele ergoß sich in Dankbarkeit zu seinen Füßen. Ich erhob mich vom Gebet – faßte einen Entschluß – und legte mich dann zur Ruhe, ohne Furcht, voll Hoffnung – mit Sehnsucht den Anbruch des Tages erwartend.

Sechzehntes Kapitel [2]

Sechzehntes Kapitel

Und der Tag kam. Beim ersten Morgengrauen erhob ich mich. Ein oder zwei Stunden war ich damit beschäftigt, die Sachen, die Schiebladen und Schränke in meinem Zimmer zu ordnen, um alles so zurückzulassen, wie es für die [673] Dauer einer kurzen Abwesenheit sein mußte. Inzwischen hörte ich St. John sein Zimmer verlassen. An meiner Thür blieb er stehen; ich fürchtete, daß er anklopfen würde – nein; ein Streifen Papier wurde durch die schmale Spalte unter der Thür hereingeschoben. Ich nahm ihn auf. Er enthielt folgende Worte:

»Gestern abend hast du mich zu plötzlich verlassen. Wenn du nur noch ein wenig länger geblieben wärest, so hättest du deine Hand endlich auf das Kreuz des Christen, die Krone des Engels gelegt. Wenn ich heute über vierzehn Tage zurückkehre, erwarte ich deinen klaren, endgiltigen Entschluß. Inzwischen wache und bete, daß du nicht in Versuchung fällst: der Geist, hoffe ich, ist willig, aber das Fleisch, sehe ich, ist schwach. Jede Stunde werde ich für dich beten! Der deine, St. John.«

»Mein Geist,« entgegnete meine Seele, »will das thun, was recht ist, und mein Fleisch, hoffe ich, ist stark genug, den Willen des Himmels zu vollbringen, wenn ich erst einmal jenen Willen deutlich erkannt habe. Auf jeden Fall wird es stark genug sein, zu suchen – zu fragen – einen Ausweg aus dieser Wolke des Zweifels zu suchen und das Tageslicht der Gewißheit zu finden.«

Wir hatten den ersten Juni; aber der Morgen war kalt und wolkig, der Regen schlug hart an meine Fenster. Ich hörte wie die Hausthür geöffnet wurde, und St. John hinausging. Als ich zum Fenster hinausblickte, sah ich, wie er durch den Garten ging. Er nahm den Weg über das nebelige Moorland in der Richtung von Whitcroß – dort mußte er den Postwagen treffen.

»In wenigen Stunden werde ich dir auf jener Spur folgen, Vetter,« dachte ich, »auch ich muß in Whitcroß einen Postwagen erwarten. Auch ich muß Menschen in England aufsuchen und sehen, bevor ich es für immer verlasse.«

Bis zum Frühstück waren es noch zwei Stunden. Die Zwischenzeit füllte ich damit aus, daß ich leise in meinem [674] Zimmer auf- und abging und über die Vision nachdachte, welche meinen Plänen ihre gegenwärtige Richtung gegeben hatte. Ich rief mir jene seltsame innere Empfindung ins Gedächtnis zurück, denn ich war imstande, sie mit all ihrer unbeschreiblichen Wundersamkeit zurückzurufen. Ich erinnerte mich der Stimme, die ich vernommen; wiederum fragte ich, woher sie gekommen sein könne, doch vergeblich wie zuvor. Sie schien in mir gewesen – nicht in der äußeren Welt. Ich fragte, ob es ein bloßer nervöser Eindruck gewesen – eine Täuschung? Ich konnte weder begreifen noch glauben, es war mehr wie eine Inspiration gewesen. Die wundersame Erschütterung meiner Sinne war gekommen wie das Erdbeben, welches die Grundvesten von Paulus' Gefängnis erschütterte; sie hatte die Thore der Zelle meiner Seele geöffnet und ihre Ketten gelöst – sie hatte sie aus ihrem Schlafe geweckt, aus welchem sie zitternd, lauschend, voll Entsetzen aufgefahren; dann schlug dreimal ein vibrierender Schrei an mein ängstliches Ohr; ich hatte ihn in meinem bebenden Herzen vernommen, in meiner erregten Seele, die weder fürchteten noch zagten, sondern voll Freude jauchzten über den Erfolg einer einzigen Anstrengung, die sie unabhängig von der Last des Fleisches hatten machen dürfen.

»Ehe viele Tage vergangen sind,« sagte ich, als ich mit meinem Sinnen zu Ende war, »werde ich etwas wissen von ihm, dessen Stimme mich gestern abend zu rufen schien. Briefe haben sich als unwirksam erwiesen – jetzt tritt persönliche Nachfrage an ihre Stelle.«

Beim Frühstück verkündete ich Diana und Mary, daß ich eine Reise antreten würde und wenigstens vier Tage abwesend sein könne.

»Allein, Jane?« fragten sie.

»Ja, es ist, um Auskunft über eine Person zu bekommen, über welche ich seit längerer Zeit in Unruhe schwebe.«

[675] Sie hätten mir erwidern können, was sie ohne Zweifel auch dachten, daß sie geglaubt, ich habe außer ihnen keine Freunde; denn dessen hatte ich sie ja in der That auch oft versichert; aber in ihrem echten, natürlichen Zartgefühl enthielten sie sich jeder Bemerkung; nur Diana fragte mich, ob ich mich denn auch wohl genug fühle, um reisen zu können. Ich sähe seit einiger Zeit so leidend und blaß aus. Ich entgegnete ihr, daß ich nicht krank sei; daß nur eine bestimmte Seelenangst über mich gekommen sei, welche ich auch bald zu verscheuchen hoffe.

Es war leicht, meine weiteren Vorbereitungen zu treffen, denn ich wurde weder mit Fragen noch mit Vermutungen gequält. Nachdem ich ihnen einmal gesagt, daß ich meine Pläne für den Augenblick nicht näher erklären könne, fanden sie sich ruhig und gütig in das Schweigen, mit welchem ich sie zur Ausführung brachte; sie gewährten mir das Privilegium einer Entschließung, das ich unter den gleichen Umständen auch ihnen gewählt haben würde.

Es war drei Uhr nachmittags als ich Moor-House verließ und bald nach vier Uhr stand ich am Fuße des Wegweisers von Whitcroß, die Ankunft der Postkutsche erwartend, die mich nach dem fernen Thornfield führen sollte. Bei der Stille auf jenen einsamen Straßen und öden Hügeln hörte ich schon in weiter Entfernung das Rollen ihrer Räder. Es war derselbe Wagen, dem ich auf derselben Stelle an einem Sommerabend entstiegen war – hoffnungslos, einsam, lebensmüde! Er hielt an, als ich ihm ein Zeichen gab. Ich stieg ein – ohne gezwungen zu sein, für die Bequemlichkeit dieses Fortschaffungsmittels mein ganzes Vermögen wie damals hinzugeben. Als ich mich noch einmal wieder auf dem Wege nach Thornfield befand, war mir zu Mute wie der heimkehrenden Brieftaube.

Es war eine Reise von sechsunddreißig Stunden. An einem Dienstag Nachmittag war ich von Whitcroß abgefahren, und es war früh am Morgen des folgenden [676] Donnerstags, als die Postkutsche anhielt, um die Pferde vor einem Wirtshause an der Landstraße zu tränken. Diese Schenke lag inmitten einer Scenerie, deren grüne Hecken und weite Felder und niedrige, bewaldete Hügel meinem Auge begegneten, wie die Züge eines einstmal geliebten Angesichts. Wie milde waren diese Züge, wie sanft diese Farben im Vergleich mit der herben, öden, nordischen Moorlandschaft von Morton! – Ja, diese Landschaft kannte ich; jetzt mußte ich dem Ziel meiner Reise nahe sein!

»Wie weit ist Thornfield noch von hier?« fragte ich den Hausknecht.

»Gerade noch zwei Meilen, Madam, wenn Sie den Weg über die Felder nehmen wollen.«

»Meine Reise ist nun zu Ende,« dachte ich in meinem Sinne. Ich stieg aus dem Postwagen, übertrug die Sorge für mein Gepäck dem Hausknecht, daß er es aufbewahre, bis es abgeholt würde; bezahlte den Fahrpreis, gab dem Postillon ein Trinkgeld und ging. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fielen auf das Schild des Wirtshauses, und ich las in vergoldeten Buchstaben die Inschrift: »Zum Wappenschild der Rochesters«. Mein Herz pochte heftig; ich war also schon auf dem Grund und Boden meines Herrn. Dann stand es plötzlich still, denn nun kam mir der Gedanke:

»Dein Herr und Gebieter selbst mag jenseit des brittischen Kanals sein! Was weißt du! Und dann, wenn er in Thornfield-Hall ist, dem du entgegeneilst – wer ist außerdem noch dort? Seine wahnsinnige Gattin! Und du hast nichts mit ihm zu schaffen; du darfst nicht mit ihm sprechen, dich nicht in seine Nähe wagen. All deine Mühe und Anstrengung sind umsonst gewesen – es wäre besser, wenn du nicht weitergingst,« sprach eine warnende, mahnende Stimme. »Bitte die Leute in der Schenke um Auskunft; sie können dir alles sagen, was du zu wissen [677] brauchst, sie können all deine Zweifel mit einem Worte lösen. Geh hin zu jenem Manne und frag, ob Mr. Rochester da heim ist.«

Der Rat war vernünftig, und doch konnte ich es nicht über mich gewinnen, danach zu handeln. Ich fürchtete eine Antwort, die mich in Verzweiflung treiben würde. Den Zweifel verlängern hieß die Hoffnung verlängern. Ich mußte die Halle noch einmal unter dem Strahl ihres Sterns wiedersehen. Dort vor mir lag der Fußpfad. Das waren dieselben Felder, durch welche ich am Morgen meiner Flucht von Thornfield gelaufen war, blind, taub, wahnsinnig, mit einer rachsüchtigen Wut, die mich peitschte und verfolgte im Herzen. Ehe ich noch wohl wußte, welche Richtung ich am besten einschlüge, war ich schon mitten zwischen den Feldern. Wie schnell ich ging! Wie ich zuweilen sogar lief! Wie ich vorwärts blickte, um die ersten Wipfel des wohlbekannten Parks zu erspähen! Mit welchem Gefühl ich einzelne Bäume bewillkommte, die ich kannte! Liebgewordene Aussichten auf Wiesen und Hügel!

Endlich erhoben der Park und das Gehölz sich vor mir. Düster lag der Krähenhorst da: ein lautes Krächzen unterbrach die Stille des Morgens. Ein seltsames Entzücken kam über mich: ich eilte vorwärts. Noch ein Feld zu durchkreuzen – einer gewundenen Heckengasse nachzugehen – und da lagen die Mauern des Hofes, die Wirtschaftsgebäude. Das Haus selbst war noch hinter dem Krähenhorst verborgen.

»Zuerst will ich es an der Vorderseite wiedersehen,« beschloß ich, »wo die kühnen Zinnen sofort einen erhabenen Eindruck auf das Auge machen, und wo ich das Fenster meines Herrn sehen kann. Vielleicht steht er an demselben – er pflegt früh aufzustehen. Vielleicht ergeht er sich jetzt auch im Obstgarten, oder auf der Terrasse vor dem Hause. Wenn ich ihn nur erblicken könnte! Nur für einen Augenblick![678] Wahrlich, wenn das wäre – könnte ich so wahnsinnig sein, zu ihm zu laufen? Ich kann es nicht sagen – ich bin meiner nicht sicher. Und wenn ich es thäte – was weiter? Gott segne ihn! – Was weiter? Wem geschähe ein Unrecht damit, wenn ich noch einmal für einen kurzen Augenblick die Lebenswonne kostete, die sein Blick in meine Adern gießt? – Ich bin wahnsinnig! Ich phantasiere! Vielleicht sieht er in diesem Moment die Sonne von einem Gipfel der Pyrenäen oder auf der stillen Südsee aufgehen.«

Ich war an der niederen Mauer des Obstgartens entlang gegangen, – jetzt wandte ich mich um die Ecke; gerade hier war eine Pforte, welche auf die Wiese hinausging zwischen zwei steinernen Pfeilern, welche von großen Steinkugeln gekrönt waren. Hinter einem Pfeiler hervor würde ich ruhig auf die volle Front des Herrenhauses blicken können. Mit großer Vorsicht streckte ich meinen Kopf vor, weil ich mich vergewissern wollte, ob die Vorhänge der Schlafzimmerfenster bereits zur Seite gezogen seien. Von diesem geschützten Standpunkt aus beherrschte ich sowohl die lange Vorderseite, wie die Fensterreihen und die Zinnen.

Vielleicht beobachteten mich die Krähen, welche ruhig durch die blauen Lüfte über mir segelten. Ich möchte wissen, was sie dachten! Sie müssen mich für sehr besorgt und scheu im Anfang, und dann nach und nach für sehr kühn und unbekümmert gehalten haben. Ein flüchtiger Blick – dann ein langes Hinstarren; nun ein Verlassen meines Winkels und ein Gang hinaus auf die Wiese. Darauf ein plötzliches Innehalten gerade vor der Front des Hauses, und ein kühner, langer Blick in jener Richtung. »Welche affektierte Scheu im Anfang!« mögen die alten Raben gefragt haben und »welche dumme Dreistigkeit jetzt?«

»Höre eine Erklärung, Leser!«

»Ein Liebender findet seine Geliebte auf einer moosigen Bank eingeschlafen; er wünscht einen Blick auf ihr süßes [679] Gesicht zu thun, ohne sie zu wecken. Leise schleicht er über das Gras, besorgt ein Geräusch zu machen; er hält inne – glaubend, daß sie eine Bewegung gemacht hat. Nicht um eine Welt möchte er von ihr gesehen sein: er zieht sich zurück. Alles ist still; er nähert sich ihr wiederum, er beugt sich über sie, ein lustiger Schleier ist über sie gebreitet; er hebt ihn auf, beugt sich tiefer hinab; jetzt genießen seine Augen die Vision der Schönheit im voraus – der warmen, blühenden, lieblichen, ruhenden Schönheit. Wie flüchtig war ihr erster Blick! Aber wie starr sie jetzt sind! Wie er zusammenschrickt! Wie er jetzt plötzlich und stürmisch die ganze Gestalt, die er vor einem kurzen Augenblick nicht mit einem einzigen Finger zu berühren wagte, mit beiden Armen umschlingt! Wie laut er einen Namen ruft, seine Last wieder sinken läßt und sie wild anstarrt! So packt und schreit und starrt er, weil er nicht länger zu fürchten braucht, die Geliebte durch einen Schrei, den er ausstößt, durch eine Bewegung, die er macht, zu wecken. Er glaubte, daß sie ruhig und friedlich schliefe – aber sie ist kalt und tot!

Mit zitternder Freude hatte ich den Blick auf ein stattliches Haus gerichtet: ich sah nur von Rauch geschwärzte Ruinen.

Es war nicht mehr nötig, mich hinter einem Thorpfeiler zusammen zu kauern! scheu nach den Fenstern der Schlafzimmer emporzublicken, aus Furcht, daß es beginnen könne sich hinter denselben zu regen! Es war nicht mehr nötig, dem Öffnen und Schließen von Thüren zu lauschen – mir einzubilden, daß ich menschliche Tritte auf der Terrasse oder den Kieswegen vernähme. Der Garten, der Park waren niedergetreten und verwüstet; das Portal gähnte mir in fürchterlicher Leere entgegen. Die Vorderseite des Hauses war so, wie ich sie einst im Traum gesehen, nur eine hohle Mauer, hoch und zerbrechlich aussehend, hier und da durch leere Fensterhöhlen unterbrochen. [680] Kein Dach, keine Zinnen, keine Schornsteine – alles war in Trümmer gefallen.

Und überall herrschte die Ruhe des Todes, die Stille einer öden Wildnis!

Kein Wunder, daß auf Briefe, welche an Personen hierher gerichtet gewesen, niemals eine Antwort gekommen war; ebensogut hätte man Episteln nach dem Grabgewölbe einer Kirche senden können. Die rauchige Schwärze sagte mir, welchem Schicksal das Herrenhaus zum Opfer gefallen – durch Feuersbrunst war es vernichtet. Wie aber war diese entstanden? Welche Geschichte knüpfte sich an dieses Unglück? Welcher Verlust war außer dem von Mörtel und Marmor und Holz noch zu beklagen? Waren auch Menschenleben zerstört sowohl wie Eigentum? Und wenn – wessen Leben war zu beklagen? Furchtbare Frage! Hier war niemand, der mir hätte Antwort geben können. Kein Laut! kein stummes Zeichen!

Als ich zwischen den geborstenen Mauern und dem zerstörten Inneren des Hauses umher wanderte, wurde es mir klar, daß das unglückselige Ereignis nicht jüngeren Datums sein könne. Es schien mir, daß durch den hohlen Thorbogen bereits der Schnee eines Winters geweht sei; eisiger Winterregen war durch die leeren Fensterhöhlen gedrungen, denn zwischen den Trümmerhaufen zerstörten Hausrats schoß schon die Vegetation eines Frühlings empor; hier und dort wucherte Gras und Unkraut gar üppig zwischen den Steinen und herabgestürzten Balken. Und oh! wo war inzwischen der unglückliche Besitzer dieser Ruine? In welchem Lande? Unter welchen Verhältnissen? Unwillkürlich wanderten meine Blicke zu dem altersgrauen Kirchturm dicht hinter dem großen Einfahrtsthor, und ich fragte: Liegt er neben Damer de Rochester und teilt mit ihm die Ruhe seines engen Marmorhauses?«

Und doch mußte ich irgendwo Antwort auf diese Fragen erhalten. Nirgends konnte ich eine solche erhalten als in [681] dem Wirtshause und dorthin begab ich mich denn nach einiger Zeit zurück. Der Wirt selbst brachte mir das bestellte Frühstück ins Wohnzimmer. Ich bat ihn, die Thür zu schließen und Platz zu nehmen. Nachdem er dies gethan, wußte ich aber kaum, wie ich beginnen sollte, ein solches Entsetzen empfand ich vor den möglichen Antworten. Und doch hatte das Schauspiel des Grauens, welches ich soeben verlassen, mich schon auf eine jammervolle Geschichte vorbereitet. Der Wirt war ein anständig aussehender Mann in mittleren Jahren.

»Sie kennen Thornfield-Hall natürlich?« gelang es mir endlich hervorzubringen.

»Ja, Madam, ich habe mich dort einmal aufgehalten.«

»In der That?« Aber nicht zu meiner Zeit, dachte ich, denn mir bist du ein Fremder.

»Ich war der Kellermeister des verstorbenen Mr. Rochester.«

Des verstorbenen! Mit voller Wucht war der Schlag auf mich gefallen, dem ich solange ausgewichen war.

»Des verstorbenen!« stieß ich endlich mühsam hervor. »Ist er denn tot?«

»Ich meine den Vater des jetzigen Mr. Edward,« erklärte er.

Ich atmete wieder auf. Mein Blut begann wieder zu cirkulieren. Diese Worte hatten mir doch die Gewißheit gegeben, daß Mr. Edward – mein Mr. Rochester (Gott segne ihn, wo er auch sein mochte!) am Leben war, kurzum, daß er der »jetzige Herr« war. Belebende Worte! Mir war, als könne ich alles mit anhören, was jetzt noch kommen sollte – wie furchtbar die Enthüllungen auch sein mochten. Jetzt war ich verhältnismäßig wieder ruhig geworden. Er lag nicht im Grabe! Nun hätte ich es ertragen, wenn man mir erzählt hätte, daß er auf den Antipoden sei.

»Wohnt Mr. Rochester jetzt auch in Thornfield-Hall?« fragte ich, obgleich ich im voraus wußte, welcher Art die [682] Antwort sein müsse. Ich wünschte aber eine direkte Frage in Bezug auf seinen Aufenthalt zu vermeiden.

»Nein, Madam, ach nein! Dort wohnt jetzt niemand. Ich vermute, daß Sie in dieser Gegend fremd sind, sonst würden Sie wissen, was sich im vorigen Herbst zugetragen hat; – Thornfield-Hall ist nur noch eine Ruine, gerade um die Erntezeit brannte es gänzlich ab. Ein furchtbares Unglück! solch eine ungeheure Menge wertvollen Eigentums zerstört. Von den Möbeln konnte fast nichts gerettet werden. Das Feuer brach mitten in der Nacht aus, und ehe die Spritzen von Millcote ankamen, war das ganze Gebäude ein Flammenmeer. Es war ein grauenhafter Anblick. Ich war selbst dabei.«

»Mitten in der Nacht!« murmelte ich. Ja, das war die verhängnisvolle Stunde für Thornfield!

»Weiß man, wie es entstanden ist?« fragte ich.

»Man vermutete es, Madam, man vermutete es. In der That, ich könnte wohl sagen, daß es ohne Zweifel festgestellt ist. Vielleicht wissen Sie nicht,« fuhr er fort, indem er seinen Stuhl näher an den Tisch rückte und im Flüsterton sprach, »daß eine Dame, – eine – eine Wahnsinnige im Hause eingesperrt war?«

»Ich habe etwas darüber gehört.«

»Sie war unter sehr strenger Bewachung, Madam; ja, viele Jahre hindurch wußten die Leute nicht einmal etwas Bestimmtes über ihr Dasein. Niemand sah sie; nur durch das Gerücht wußte man, daß irgend jemand im Herrenhause verborgen gehalten werde, es war jedoch schwer zu vermuten, wer oder was es sei. Sie sagten, Mr. Edward habe sie aus der Fremde mitgebracht, und viele glaubten, sie sei nur seine Geliebte gewesen. Aber vor ungefähr einem Jahre passierte etwa Sonderbares – etwas sehr Sonderbares.«

Ich fürchtete jetzt meine eigene Geschichte mit anhören [683] zu müssen. Deshalb versuchte ich, ihn zur Hauptsache zurückzuführen.

»Und diese Dame?«

»Diese Dame, Madam, erwies sich als Mr. Rochesters Gattin! Diese Entdeckung wurde auf die seltsamste Weise herbeigeführt. Im Herrenhause war ein junges Mädchen, die Gouvernante, und Mr. Rochester –«

»Aber das Feuer?« unterbrach ich ihn.

»Das kommt gleich, Madam – und Mr. Rochester verliebte sich in sie. Die Dienstboten sagten, daß sie in ihrem ganzen Leben keinen so verliebten Menschen gesehen hätten wie ihn. Beständig war er hinter ihr her. Sie pflegten ihm aufzupassen – Sie wissen, Madam, Dienstboten thun das nun einmal – und er hielt mehr von ihr als von irgend etwas Anderem auf der Welt. Außer ihm fand jedoch niemand sie hübsch. Sie war ein kleines unbedeutendes Ding, sagten sie, fast wie ein Kind. Ich selbst habe sie nie gesehen, aber Leah, das Stubenmädchen, hat mir von ihr er zählt. Leah hat sie sehr lieb gehabt. Mr. Rochester war ungefähr vierzig Jahre alt, und diese Gouvernante noch nicht zwanzig. Und Sie wissen wohl, wenn Leute in seinen Jahren sich in junge Mädchen verlieben, so sind sie oft wie behext. Nun also kurz und gut, er wollte sie heiraten.«

»Diesen Teil der Geschichte können Sie mir ja ein andermal erzählen,« sagte ich, »aber ich habe einen ganz besonderen Grund, weshalb ich die Geschichte der Feuersbrunst hören möchte. Vermutete man denn, daß diese Wahnsinnige – Mrs. – Mrs. Rochester die Hand dabei im Spiel hatte?«

»Sie haben es getroffen, Madam; es ist ganz bestimmt, daß sie, und keine andere, als sie, das Haus angezündet hat. Sie hatte ein Weib, das sie bewachen sollte, Mrs. Poole mit Namen, eine ganz geschickte Person in ihrer Art, und [684] ganz vertrauenswürdig; aber sie hatte einen Fehler – einen Fehler, den beinahe alle alten Weiber und Krankenwärterinnen haben, sie hielt sich eine eigene Brantweinflasche und nahm dann und wann einen Tropfen über den Durst. Es ist verzeihlich, denn sie hatte ein schweres Leben; aber dennoch war es gefährlich; denn wenn Mrs. Poole nach ihrem Brantwein fest eingeschlafen war, so nahm die wahnsinnige Frau, die so listig und verschlagen war wie eine Hexe, ihr den Schlüssel aus der Tasche, schlich aus der Thür und wanderte im Hause umher und richtete alles Unheil, das ihr in den Kopf kam, an. Die Leute sagen, daß sie ihren eigenen Gatten beinahe einmal in seinem Bette verbrannt hat; aber ich weiß nicht, ob das wahr ist. Jedoch an diesem Abend steckte sie zuerst die Vorhänge in dem Zimmer, welches dem ihren zunächst lag, an; und dann kroch sie hinunter in das erste Stockwerk und schlich sich in das Zimmer, das einst der Gouvernante gehört hatte – (es war, als hätte sie eine Ahnung von dem gehabt, was sich zugetragen, und haßte das arme Mädchen nun) – und zündete dort das Bett an. Zum Glück schlief niemand darin. Die Gouvernante war zwei Monate früher fortgelaufen; und obgleich Mr. Rochester sie suchte, als wenn sie das kostbarste Juwel auf Erden gewesen, so konnte er doch nicht ein einziges Wort über sie erfahren. Und nun wurde er wild – ganz wild in seinem Ungemach. Er war niemals ein heftiger Mann gewesen; nachdem er sie aber verloren hatte, wurde er geradezu gefährlich. Er wollte ganz allein sein. Die Haushälterin, Mrs. Fairfax, schickte er weit fort zu ihren Verwandten; aber er handelte anständig, denn er hat ihr für ihr ganzes Leben eine hübsche Jahresrente ausgesetzt. Aber sie verdiente es auch, denn sie war eine herzensgute Frau. Miß Adele, seine Mündel, die ebenfalls im Hause war, wurde in ein Institut geschickt. Er brach jeden Verkehr mit den benachbarten Edelleuten ab und lebte im Herrenhause wie ein Eremit.«

[685] »Was! er hat England nicht verlassen?«

»England verlassen? Gott segne Sie, nein! Er ist nicht mehr über die Schwelle des Hauses gekommen, ausgenommen bei Nacht, wenn er wie ein Geist im Park und im Obstgarten umherlief und tobte als wäre er von Sinnen. Und meiner Meinung nach war er das auch. Denn Sie konnten keinen lustigeren, kühneren, frischeren Herrn als ihn sehen, bevor das kleine Ding von Gouvernante ihm in den Weg kam. Er war weder ein Spieler, noch ein Trinker; er kümmerte sich nicht um die Pferdegeschichten, wie soviele es thun. Er war auch nicht besonders schön; aber er hatte Mut und einen festen Willen, wie ihn nur jemals ein Mann besaß. Sehen Sie, ich habe ihn seit seinen Knabenjahren gekannt, und was mich anbetrifft, so habe ich oft gewünscht, Miß Eyre wäre im tiefsten Meer ertrunken, ehe sie nach Thornfield-Hall kam.«

»Mr. Rochester war also zu Hause, als das Feuer ausbrach?«

»Ja, gewiß war er das; und er ging hinauf in die Dachkammern, als oben und unten schon alles brannte, und rettete die Dienerschaft aus ihren Betten und half ihnen selbst hinunter, und dann ging er noch einmal zurück, um seine wahnsinnige Gattin aus ihrer Zelle zu holen. Da riefen sie ihm zu, daß sie auf dem Dache stehe; und da stand sie auch und schlug mit den Armen um sich, oben auf den Zinnen, und dabei schrie sie, daß man sie eine Meile weit gehört hat. Ich habe sie mit meinen eigenen Augen und Ohren gesehen und gehört. Sie war eine große, starke Frau und hatte langes, schwarzes Haar, wir sahen es im Winde flattern, während die Flammen schon an ihr empor schlugen. Ich sah es, und noch viele andere haben es gesehen, wie Mr. Rochester durch das Oberlicht auf das Dach stieg; wir hörten ihn rufen: Bertha! Bertha! Wir sahen, wie er sich ihr näherte; und da, Madam, stieß sie einen furchtbaren Schrei aus, that einen Sprung – [686] und im nächsten Augenblick lag sie zerschmettert auf der Steinrampe der Terrasse.«

»Tot?«

»Tot? Ah, so tot wie die Steine, auf denen ihr Gehirn und ihr Blut verspritzt waren.«

»Großer Gott!«

»Das mögen Sie wohl sagen, Madam, es war fürchterlich!«

Er schauderte.

»Und dann?« fragte ich.

»Nun Madam, dann brannte das Haus bis auf den Grund nieder; es stehen nur noch einige Mauerreste.«

»Sind noch mehr Menschenleben verloren?«

»Nein. Aber es wäre vielleicht besser gewesen!«

»Was wollen Sie damit sagen?«

»Armer Mr. Edward!« rief er aus, »daß ich das noch würde erleben müssen, hätte ich nicht gedacht. Einige sagen, das sei die gerechte Strafe, weil er seine erste Heirat geheim gehalten und eine zweite Frau nehmen wollte, während die erste noch lebte. Aber mir thut er doch von Herzen leid.«

»Aber Sie sagten ja, daß er lebt!« rief ich aus.

»Ja, ja, er lebt. Aber manche meinen, daß es besser für ihn, wenn er tot wäre.«

»Weshalb? Wie?« Das Blut erstarrte mir fast in den Adern.

»Wo ist er?« fragte ich. »Ist er in England?«

»Ja, ja, er ist in England; er kann ja gar nicht von England fort; er sitzt hier fest!«

Welche Todesqual für mich! Und dieser Mann schien entschlossen, sie nach Möglichkeit zu verlängern.

»Er ist stockblind,« sagte er endlich. »Ja, ja, er ist stockblind, der arme Mr. Edward.«

Ich hatte Schlimmeres befürchtet. Ich hatte gefürchtet, [687] daß er wahnsinnig geworden. Dann nahm ich all meine Kraft zusammen und fragte, wie dies Unglück geschehen.

»Sein eigner Mut war Schuld daran und wenn man so will, seine Gutherzigkeit, Madam; er wollte das Haus nicht eher verlassen, als bis jeder vor ihm hinausgeschafft war. Als er dann endlich die große Treppe hinunterkam, nachdem Mrs. Rochester sich von den Zinnen herabgestürzt hatte, da gab es einen großen Krach – und alles brach zusammen. Er wurde zwar lebend unter den Ruinen hervorgezogen, aber schwer verletzt; ein Balken war so gefallen, daß er ihn teilweise geschützt hatte; aber ein Auge war ihm ausgeschlagen und eine Hand so vollständig zerschmettert, daß Mr. Carter, der Wundarzt, sie sofort amputieren mußte. Das andere Auge war sehr entzündet und er verlor auch auf diesem die Sehkraft. Jetzt ist er ganz hilflos, – ganz hilflos, in der That, blind und ein Krüppel.«

»Wo ist er? Wo wohnt er jetzt?«

»In Ferndean, in einem Herrenhause auf einem seiner Landgüter, dreißig Meilen von hier. Ein öder, trauriger Aufenthalt.«

»Wer ist bei ihm?«

»Der alte John und sein Weib. Er wollte sonst niemanden um sich dulden. Sie sagen, er sei ganz gebrochen.«

»Haben Sie irgend einen Wagen?«

»Wir haben eine Chaise, Madam, eine sehr schöne Chaise.«

»Lassen Sie augenblicklich anspannen, und wenn Ihr Postknecht mich heute vor Dunkelwerden noch nach Ferndean bringen kann, so werde ich Ihnen sowohl wie ihm den doppelten Fahrpreis zahlen.«

Siebzehntes Kapitel

Das Herrenhaus von Ferndean war ein Gebäude von beträchtlichem Alter, mittlerer Größe und durchaus keiner [688] architektonischen Schönheit. Es lag mitten im Walde. Früher hatte ich oft davon reden gehört. Mr. Rochester sprach häufig von Ferndean und begab sich auch zu wiederholten Malen nach dort. Sein Vater hatte die Besitzung um ihrer ausgebreiteten Jagdgründe willen gekauft. Er hätte das Haus gern vermietet, konnte aber seiner ungesunden und unbequemen Lage wegen keinen Mieter finden. Daher blieb Ferndean unmöbliert und unbewohnt, mit Ausnahme von zwei oder drei Zimmern, welche zur Aufnahme des Gutsherrn bereit waren, wenn er während der Jagdsaison dorthin kam.

Am Abende eines Tages, dessen Charakteristik trüber Himmel, kalter Wind und ununterbrochener feiner, durchdringender Regen gewesen, kam ich an dies Haus. Die letzte Meile hatte ich zu Fuß zurückgelegt, nachdem ich sowohl Postkutsche wie Postillon mit dem Doppelten des versprochenen Preises entlassen hatte.

Selbst wenn man schon nahe vor dem Herrenhause stand, konnte man es nicht sehen, so dicht standen die Bäume des düsteren Waldes um dasselbe. Ein eisernes Thor zwischen zwei Granitpfeilern zeigte mir, wo ich eintreten mußte, und als ich es durchschritten, befand ich mich sofort wieder unter dem dicken Laubdach langer Baumreihen. Zwischen alten, bemoosten Baumstämmen und dichtem Unterholz zog sich ein grasbewachsener Pfad hin. Diesen verfolgte ich in der Erwartung, bald an menschliche Wohnungen zu kommen; aber er schlängelte sich weiter und weiter; nirgend eine Spur vom Hause oder vom Park.

Ich glaubte, daß ich die falsche Richtung eingeschlagen und den Weg verfehlt habe. Die Dunkelheit des Abends wie des Waldes wurde immer undurchdringlicher. Ich blickte umher, um einen anderen Weg zu suchen. Es gab keinen. Nichts als verwachsenes Unterholz, kerzengerade Baumstämme, Sommerlaub, – nirgends eine Lichtung.

Ich ging weiter. Endlich wurde der Pfad breiter, die [689] Bäume standen weniger dicht; nun sah ich ein Gitter, dann ein Haus, welches in der zunehmenden Finsternis kaum von den Bäumen zu unterscheiden war, so feucht und moosbedeckt waren seine morschen Mauern. Indem ich durch ein Thor trat, das nur durch eine Klinke geschlossen war, stand ich inmitten eines umfriedeten Raums, welcher sich im Halbkreis zwischen den Bäumen des Waldes ausdehnte. Es waren weder Blumen noch Gartenbeete dort, nur ein breiter Kiesweg, welcher sich um einen Rasenplatz zog – und dies in dem ernsten, düstern Waldesrahmen. Das Haus zeigte an seiner Vorderseite zwei Giebel; die Fenster waren schmal und vergittert; auch die Hausthür war eng, eine Steinstufe führte zu ihr hinan. Das Ganze war, wie der Wirt zum »Wappen der Rochester« gesagt hatte, ein trostloser Ort. Es war hier still wie in einer Kirche am Wochentage; der Regen, welcher ununterbrochen auf das Waldeslaub herabfiel, war der einzige Laut, der an mein Ohr schlug.

»Können hier lebende Wesen sein?« fragte ich mich.

Ja, Leben irgend einer Art war hier, denn ich vernahm ein Geräusch. Die schmale Hausthür wurde geöffnet, und eine Gestalt war im Begriff, aus dem Gebäude zu treten.

Die Thür öffnete sich langsam, eine Figur trat in die Dämmerung hinaus, ein Mann ohne Hut, er streckte die Hand aus, wie um zu fühlen, ob es regne. Trotzdem es dunkel war, hatte ich ihn erkannt – es war mein Gebieter, Edward Fairfax Rochester, – kein anderer.

Ich blieb stehen, ich hielt den Atem an, und verharrte so, um ihn zu beobachten – ihn zu beobachten, ohne selbst gesehen zu werden und ach – unsichtbar für ihn!

Es war eine sehr plötzliche Begegnung, und das Entzücken, welches sie mir verursachte, wurde tausendmal aufgewogen durch den Jammer, welchen ich bei seinem Anblick empfand. Es wurde mir nicht schwer, einen Aufschrei zurückzuhalten, ich fühlte mich nicht versucht, zu ihm zu eilen.

[690] Seine Gestalt hatte dieselben starken, kräftigen Umrisse wie früher; er trug sich noch aufrecht, sein Haar war rabenschwarz, seine Züge waren nicht verändert; ein Jahr des Kummers und Leidens hatte nicht vermocht, seine athletische Stärke zu beugen, seine edle Manneskraft zu brechen. Aber in seinem Gesichtsausdruck bemerkte ich eine Veränderung; dieser war düster und verzweifelt – er erinnerte mich an ein gefesseltes wildes Tier oder an einen Vogel, dem es in seinem dumpfen Schmerz gefährlich ist zu nahen. Der gefangene Adler, dessen goldumränderte Augen die Grausamkeit geblendet, könnte blicken wie dieser blinde Samson.

Aber, mein Leser, glaubst du, daß ich ihn fürchtete in seiner blinden Wildheit? Wenn das der Fall, so kennst du mich wenig. In meinen Schmerz mischte sich die süße Hoffnung, daß ich bald versuchen würde, einen Kuß auf diese Marmorstirn zu drücken, auf diese krampfhaft zusammengepreßten Lippen – bald – aber jetzt noch nicht. Noch wollte ich ihn nicht anreden.

Er stieg die Steinstufe hinunter und ging langsam und tastend auf den Grasplatz zu. Wo war sein kühner Schritt jetzt? Dann blieb er stehen, wie wenn er nicht wüßte, nach welcher Seite er sich jetzt wenden solle. Er erhob die Hand und öffnete die Augenlider, richtete, wie es schien mit großer Anstrengung, den Blick zum Himmel hinauf, sah dann auf das Amphitheater des Waldes – aber für ihn war alles Leere und Dunkelheit. Er streckte die rechte Hand aus, (den verstümmelten linken Arm hielt er in der Brusttasche verborgen) es war als wünsche er aus der Berührung zu erkennen, was in seiner nächsten Umgebung sei, aber auch hier fand er nur leeren Raum, denn die Baumreihen fingen erst mehrere Ellen weiter fort an. Dann gab er seine Bemühungen auf, verschränkte die Arme und stand ruhig und stumm im Regen, der jetzt unablässig auf seinen unbedeckten Kopf fiel, da.

[691] In diesem Augenblick trat John, den ich zuvor nicht bemerkt, an ihn heran.

»Sir, wollen Sie meinen Arm nehmen?« fragte er, »ein gar heftiger Regenschauer zieht herauf. Es wäre besser, wenn Sie ins Haus gingen.«

»Laß mich!« lautete die Antwort.

John zog sich zurück, ohne meiner ansichtig geworden zu sein. Jetzt versuchte Mr. Rochester zu gehen, aber umsonst. Er war zu unsicher. Er tastete sich nach dem Hause zurück und indem er hineintrat, schloß er die Thür hinter sich.

Jetzt ging ich näher und klopfte an. Johns Frau öffnete mir die Thür.

»Mary,« sagte ich, »wie geht es Ihnen?«

Sie erschrak, als ob sie ein Gespenst gesehen hätte. Ich beruhigte sie. Auf ihren hastigen Ausruf: »Sind Sie es wirklich, Miß, die in so später Stunde an diesen einsamen Ort kommt?« antworte ich nur, indem ich ihre Hand erfaßte. Dann folgte ich ihr in die Küche, wo John jetzt vor einem helllodernden Feuer saß.

In wenigen Worten erklärte ich ihnen, daß ich bereits von allem wisse, was sich zugetragen, seitdem ich Thornfield verlassen, und daß ich gekommen sei, um Mr. Rochester zu sehen. Ich bat John hinunterzugehen zu dem Chausseegeldeinnehmer, welchem ich meinen Koffer anvertraut hatte, nachdem ich die Chaise und den Postillon entlassen, und mir mein Eigentum heraufzubringen. Dann legte ich Hut und Shawl ab und fragte Mary, ob sie mir für diese Nacht Unterkunft im Herrenhause gewähren könne, und als ich sah, daß dieses Arrangement sich trotz einiger Schwierigkeiten treffen lasse, kündigte ich ihr an, daß ich bleiben würde. In diesem Augenblick ertönte die Glocke des Wohnzimmers.

»Wenn Sie hineingehen, Mary, so sagen Sie Ihrem Herrn, daß jemand da sei, der mit ihm zu sprechen wünscht. Nennen Sie ihm jedoch nicht meinen Namen.«

[692] »Ich glaube nicht, daß er Sie vorlassen wird,« entgegnete sie; »er weist alle Leute ab.«

Als sie zurückkam, fragte ich, was er gesagt habe.

»Er läßt nach Ihrem Namen und Ihrem Anliegen fragen,« entgegnete sie. Dann machte sie sich daran, ein Glas mit Wasser zu füllen und es mit zwei Kerzen auf ein Präsentierbrett zu stellen.

»Klingelte er Ihnen, um das zu verlangen?« fragte ich.

»Ja, er läßt stets Kerzen bringen, wenn es dunkel wird, wenn er auch blind ist.«

»Geben Sie mir das Brett, ich will es hineintragen.«

Ich nahm es ihr aus der Hand, sie bezeichnete mir die Thür des Wohnzimmers. Das Brett zitterte in meiner Hand, ich verschüttete das Wasser; das Herz pochte mir fast hörbar in der Brust. Mary öffnete die Thür für mich und schloß sie wiederum hinter mir.

Das Wohnzimmer sah düster aus; ein vernachlässigtes Feuer qualmte im Kamin, und darüber gebeugt, den Kopf auf den hohen altmodischen Kaminsims gestützt, stand der blinde Bewohner des Zimmers. Sein alter Hund Pilot lag an einer Seite; es schien als hätte er sich selbst behutsam aus dem Wege geräumt aus Furcht, daß er getreten werden könne. Als ich eintrat, spitzte Pilot die Ohren; dann sprang er winselnd empor und stürzte auf mich zu, fast hätte er mir das Präsentierbrett aus der Hand gestoßen.

Ich stellte es dann auf den Tisch, liebkoste ihn und sagte leise: »kusch Pilot!« Mechanisch drehte Mr. Rochester sich um, als wolle er sehen, woher die Bewegung käme. Da er aber nichts sehen konnte, wandte er den Kopf wieder ab und seufzte laut auf.

»Gieb mir das Wasser, Mary,« sagte er.

Ich näherte mich ihm mit dem nur noch zur Hälfte gefüllten Glase. Pilot folgte mir noch immer mit dem Schweife wedelnd.

[693] »Was giebt es denn?« fragte er.

»Kusch Pilot!« sagte ich noch einmal. Im Begriff, das Wasserglas an die Lippen zu führen, hielt er inne und schien zu lauschen. Dann trank er und setzte das Glas wieder hin.

»Du bist es doch, Mary?«

»Mary ist in der Küche,« entgegnete ich.

Mit einer hastigen Gebärde streckte er die Hand aus, da er aber nicht sah, wo ich stand, berührte er mich nicht.

»Wer ist es! wer ist es?« fragte er ängstlich und versuchte scheinbar mit den armen, blinden Augen zu sehen. Vergeblicher trauriger Versuch! »Antworte mir – sprich noch einmal!« befahl er laut und herrisch.

»Wollen Sie noch ein wenig Wasser, Sir? Ich verschüttete die Hälfte von dem, was im Glase war,« sagte ich.

»Wer ist es? – Was ist es? Wer spricht?«

»Pilot kennt mich, und John und Mary wissen, daß ich hier bin. Ich bin erst heute abend angekommen,« antwortete ich.

»Allmächtiger Gott! Welche Täuschung hat sich meiner bemächtigt? welch süßer Wahnsinn hat mich erfaßt?«

»Keine Täuschung – kein Wahnsinn, Sir! Ihr Geist ist zu stark, um Täuschungen zu verfallen; ihre Gesundheit zu kräftig für den Wahnsinn.«

»Und wo ist die Sprecherin? Ist es nur eine Stimme? O! ich kann nicht sehen, aber ich muß fühlen, oder mein Herz hört auf zu schlagen und mein Hirn zerspringt. Was – wer du auch sein magst – berühre mich oder ich kann nicht leben!«

Er tastete umher. Ich faßte seine unsichere Hand und umschloß sie mit den meinen.

»Es sind ihre Finger!« rief er aus, »ihre kleinen, feinen Finger! Und wenn sie es sind, so muß doch noch mehr von ihr da sein.«

Die muskulöse Hand entzog sich meiner Umklammerung; [694] er faßte meinen Arm – meine Schulter – meinen Hals – meine Taille – er zog mich an sich und hielt mich umschlungen.

»Ist es Jane? Oder was ist es? Dies ist ihre Gestalt – dies ihre Größe –«

»Und dies ist ihre Stimme,« fügte ich hinzu. »Sie ist hier, ganz und gar hier, und ihr Herz auch. Gott segne Sie, Sir! Ich bin so glücklich, Ihnen noch einmal wieder nahe zu sein!«

»Jane Eyre! – Jane Eyre!« das war alles, was er sagte.

»Mein teurer Herr,« sagte ich, »ich bin Jane Eyre; ich habe Sie wieder gefunden – ich bin zu Ihnen zurückgekehrt!«

»In Wahrheit? Nicht nur dein Geist? Sondern auch dein Körper? Du bist meine lebende Jane?«

»Sie halten mich, Sir – Sie halten mich ja, und fest obendrein. Ich bin nicht kalt wie eine Tote, nicht durchsichtig wie Luft, nicht wahr?«

»Mein Liebling am Leben! Dies sind ihre Glieder. Dies ihr Gesicht! Aber so glücklich kann ich nicht werden nach all meinem Elend. Es ist ein Traum! Wie ich ihn so oft während der trostlosen Nächte hatte, wenn ich sie noch einmal an mein Herz drückte, wie ich es jetzt thue; und sie küßte – wie jetzt, und fühlte, daß sie mich liebte, und hoffte, daß sie mich nicht verlassen würde.«

»Und das werde ich von heute an auch nicht mehr thun, Sir.«

»Nicht mehr thun, sagt die Vision? Aber ich erwachte stets und fand, daß es bittere Täuschung gewesen; und ich war einsam und verlassen – mein Leben dunkel, trübe, hoffnungslos – meine Seele dürstete, und niemand reichte ihr einen erquickenden Trunk – mein Herz hungerte, und die Nahrung blieb ihm versagt. Du sanfter, süßer Traum, der du mir jetzt im Arm ruhst, du wirst wiederum entfliehen, [695] wie all deine Brüder vor dir entflohen sind. Aber küsse mich bevor du gehst! Küß mich, Jane, Geliebte!«

»Ja Sir, einmal – und noch einmal!«

Ich preßte meine Lippen auf seine einst so strahlenden, und jetzt völlig glanzlosen Augen – ich strich ihm das Haar aus der Stirn und küßte auch diese. Plötzlich schien er sich aufzuraffen; er wurde sich der Wirklichkeit dessen, was geschah, bewußt!

»Bist du es, Jane? – bist du es wirklich – wirklich? Bist du zu mir zurückgekehrt?«

»Das bin ich!«

»Und du liegst nicht tot in irgend einem Graben oder einem Flusse? Du weilst nicht traurig und einsam und ausgestoßen unter fremden Menschen?«

»Nein Sir, ich bin jetzt völlig unabhängig.«

»Unabhängig? Was heißt das, Jane?«

»Mein Onkel auf Madeira ist gestorben und hinterließ mir fünftausend Pfund!«

»Ah! dies ist praktisch! Jetzt sind wir in der Wirklichkeit!« rief er aus, »das hätte ich mir niemals träumen lassen! Ich höre wieder ihre eigenartige Stimme, so belebend, so reizend, so pikant und doch so sanft. Es erfrischt mein krankes Herz sie zu hören; sie flößt mir neues Leben ein. – Was, Janet! du bist jetzt unabhängig? am Ende gar reich?«

»Beinahe reich, Sir. Wenn Sie mich nicht hier wohnen lassen wollen, so kann ich mir ein Haus ganz nahe bei Ihrer Thür bauen, und dann können Sie zu mir kommen und bei mir im Wohnzimmer sitzen, wenn Sie sich des Abends nach Gesellschaft sehnen.«

»Da du nun aber reich bist, Jane, so wirst du ohne Zweifel Freunde haben, die sich um dich bekümmern und nicht dulden werden, daß du dich ganz und gar einem armen, blinden Jeremias widmest.«

[696] »Ich sagte Ihnen ja, daß ich unabhängig bin, Sir, und reich obendrein; ich bin jetzt meine eigene Herrin.«

»Und du willst bei mir bleiben?«

»Gewiß – wenn Sie nichts dagegen haben. Ich werde Ihre Nachbarin, Ihre Pflegerin, Ihre Haushälterin sein. Ich finde Sie hier einsam und traurig: ich werde Ihre Gesellschafterin sein. Ich will Ihnen vorlesen, mit Ihnen spazieren gehen, bei Ihnen sein, Ihnen aufwarten und Sie bedienen, Augen und Hand für Sie sein. Mein teurer Herr, jetzt dürfen Sie nicht mehr so traurig aussehen; so lange ich lebe, werden Sie nicht mehr einsam sein.«

Er entgegnete nichts; er schien ernst – in Gedanken versunken. Er öffnete die Lippen, als ob er sprechen wollte, dann schloß er sie wieder. Ich war ein wenig verlegen. Vielleicht hatte ich die Grenzen des Althergebrachten zu schnell überschritten, und wie St. John, erblickte auch er etwas Unschickliches in meiner Unbedachtsamkeit. Ich hatte meinen Vorschlag in der That in dem Glauben gemacht, daß er mich bitten würde, sein Weib zu werden. Wenn ich der Erwartung, daß er mich sofort als sein Eigentum reklamieren würde, auch keine Worte verliehen, so hatte ich sie deshalb nicht weniger sicher gesagt. Da ihm aber kein einziges Wort nach dieser Richtung hin entschlüpfte, und sein Gesicht immer trüber und trüber wurde, so fiel es mir plötzlich ein, daß ich mich geirrt haben könne und ohne es zu wissen, die Närrin gespielt habe. Deshalb begann ich, mich leise seinen Armen zu entwinden – er jedoch preßte mich noch fester an sich.

»Nein – nein – Jane; du darfst nicht gehen. Nein, jetzt habe ich dich gefühlt, dich gehört, den Trost deiner Nähe empfunden – die Milde deines Trostes! Diese Freuden kann ich nicht wiederum opfern. Von mir selbst ist mir wenig geblieben, ich muß dich besitzen. Die Welt mag lachen – mag mich albern, selbstsüchtig nennen – das bedeutet nichts. Meine Seele verlangt nach dir! Ihr [697] Begehr muß erfüllt werden, oder sie nimmt furchtbare Rache an ihrer irdischen Hülle.«

»Nun, Sir, ich sagte ja, daß ich bei Ihnen bleiben wolle.«

»Ja; aber wir verstehen beide sehr verschiedene Dinge unter diesem ›bei mir bleiben wollen‹. Du könntest dich vielleicht entschließen, mir zur Hand zu sein, neben meinem Stuhl zu stehen – mich zu pflegen wie eine gute, kleine Wärterin, (denn du hast ein liebevolles Herz und eine großmütige Seele, welche dich zwingen, denen, welche du bemitleidest, Opfer zu bringen) und das sollte mir ohne Zweifel genügen. Vielleicht sollte ich jetzt nur noch väterliche Empfindungen für dich hegen. Nicht wahr, der Ansicht bist auch du. Komm – sag mir, was du denkst.«

»Ich will denken, was Sie wünschen, Sir. Ich bin es auch zufrieden, nichts zu sein als Ihre Pflegerin, wenn Sie es für besser halten.«

»Aber Janet, du kannst nicht immer meine Pflegerin bleiben; du bist jung – du mußt dich eines Tages verheiraten.«

»Ich wünsche nicht besonders, mich zu verheiraten.«

»Aber du solltest es wünschen, Janet! Wenn ich noch wäre, was ich einst war, so würde ich es dich schon wünschen machen – aber – ein blinder Klotz!«

Und wiederum versank er in trübes Sinnen. Ich hingegen wurde fröhlicher und faßte von neuem Mut. Seine letzten Worte öffneten mir die Augen darüber, wo die Schwierigkeit lag. Aber für mich war es keine Schwierigkeit; meine frühere Unsicherheit und Befangenheit war ganz gewichen. Jetzt begann ich eine fröhlichere Unterhaltung.

»Es wird Zeit, daß jemand es unternimmt, Sie wieder menschlicher zu machen,« sagte ich, indem ich sein dickes, ungepflegtes Haar glatt strich, »denn ich sehe, daß Sie sich langsam in einen Löwen oder irgend etwas Ähnliches verwandeln. Ganz entschieden haben Sie etwas von dem [698] ›faux air‹, Nebukadnezars an sich; Ihr Haar erinnert mich an Adlerfedern; ob Ihre Nägel gewachsen sind wie Vogelkrallen, habe ich noch nicht bemerkt.«

»An diesem Arm habe ich weder Hand noch Nägel,« sagte er, indem er den verstümmelten Arm aus der Brust seines Rockes zog und ihn mir zeigte. »Es ist nur noch ein Stumpf – ein furchtbarer Anblick! Nicht wahr, meine kleine Jane?«

»Ein trauriger Anblick! Und es ist auch traurig, Ihre Augen anzusehen – und das Brandmal auf Ihrer Stirn; und was das allerschlimmste ist, man läuft Gefahr, Sie um all dieses Jammers willen zu sehr zu lieben und Sie zu sehr zu verziehen.«

»Ich glaubte, Jane, du würdest entsetzt sein, wenn du meinen Arm sähest und mein narbiges Gesicht.«

»Glaubten Sie das wirklich? Aber sagen Sie mir das nicht – aus Furcht, daß ich etwas über Ihren Verstand sagen könnte, das wenig schmeichelhaft. Jetzt lassen Sie mich aber einen Augenblick, damit ich ein helleres Feuer anmache. Können Sie sehen, wenn das Kaminfeuer hell auflodert?«

»Ja, mit dem rechten Auge kann ich einen Glutschein wahrnehmen, – einen rötlichen Nebel.«

»Und Sie sehen die Kerzen?«

»Sehr trübe, – jede derselben bildet ein helles Wölkchen.«

»Können Sie mich sehen?«

»Nein, meine Fee. Aber ich bin schon dankbar genug, wenn ich dich nur hören und fühlen kann.«

»Wann nehmen Sie Ihr Abendbrot?«

»Ich pflege niemals zu Abend zu essen.«

»Heute abend müssen Sie es indessen thun. Ich bin hungrig, und ich bin überzeugt, daß Sie es auch sind. Sie vergessen es nur.«

Nachdem ich Mary herbeigerufen, hatten wir bald mehr Ordnung ins Zimmer gebracht; und ebenso bereitete ich [699] ihm eine schmackhafte Abendmahlzeit. Mein Geist war angeregt, und während des Speisens unterhielt ich ihn leicht und fröhlich. Selbst nachher gelang es mir noch, ihm durch mein Plaudern die Zeit zu verkürzen. Hier gab es keine qualvolle Zurückhaltung, kein Unterdrücken von Lebhaftigkeit und Fröhlichkeit; denn ihm gegenüber fühlte ich mich vollkommen behaglich, weil ich wußte daß ich ihm angenehm war. Alles was ich that oder sagte, schien ihn entweder zu trösten oder neu zu beleben. Herrliches Bewußtsein! Es brachte meine ganze Eigenart zu Licht und Leben. In seiner Nähe lebte ich doppelt, und er lebte in der meinen. Trotz seiner Blindheit flog manches Lächeln über sein Gesicht, Freude thronte auf seiner Stirn. Seine Züge wurden milder, weicher, glücksbewußter.

Nach dem Abendessen begann er viele Fragen an mich zu richten: wo ich gewesen sei, was ich gethan habe und wie es mir gelungen, ihn ausfindig zu machen. Ich gab ihm aber nur teilweise Antwort, denn an diesem Abend war es schon zu spät geworden, um auf besondere Einzelheiten einzugehen. Außerdem wünschte ich auch nicht zarte, vibrierende Saiten zu berühren – keine frische Quelle der Aufregung in seinem Herzen zu öffnen; mein einziger Zweck war jetzt, ihn zu erheitern. Wie gesagt, erheitert hatte ich ihn bereits, aber doch nur stellenweise. Wenn eine Pause in der Unterhaltung eintrat, wurde er wieder ruhelos, berührte mich leise und sagte: »Jane«.

»Bist du wirklich ein menschliches Wesen, Jane? Bist du dessen ganz gewiß?«

»Auf Ehre und Gewissen, ich glaube es, Mr. Rochester.«

»Wie war es dann aber möglich, daß du so plötzlich an diesem trüben, trostlosen Abende an meinem einsamen Herde stehen konntest? Ich streckte meine Hand aus, um von einem Mietling ein Glas Wasser zu nehmen – und du reichtest es mir. Ich that eine Frage und erwartete, [700] daß Johns Frau mir antworten würde – und deine Stimme schlug an mein Ohr.«

»Weil ich an Marys Stelle mit dem Präsentierbrett ins Zimmer getreten war.«

»Und ein wahrer Zauber liegt in der Stunde, die ich jetzt mit dir verbringe. Niemand weiß, welch ein trostloses, düsteres, leeres, hoffnungsloses Leben ich seit Monaten hingeschleppt habe! Ich that nichts mehr und erwartete nichts mehr; der Tag ging in die Nacht über, ohne daß ich es merkte; ich empfand Kälte, wenn ich das Feuer hatte erlöschen lassen, und Hunger, wenn ich vergessen hatte zu essen; dann einen niemals endenden Schmerz, und zuweilen ein an Wahnsinn grenzendes Verlangen, meine Jane noch einmal wiederzusehen. Ja, ich sehnte mich danach, daß sie mir wiedergegeben werde, weit mehr, als daß ich das verlorene Augenlicht wieder erhielte. Wie ist es möglich, daß Jane bei mir ist und sagt, daß sie mich liebt? Wird sie nicht ebenso plötzlich wieder verschwinden, wie sie gekommen ist? O, ich fürchte, daß ich sie morgen nicht wiedersehe.«

Ich war überzeugt, daß es das beste für ihn in dieser Sinnesstimmung sein würde, wenn ich ihm eine ganz triviale, praktische Antwort gäbe, die nichts mit seinem augenblicklichen erregten Gedankengang zu thun hatte. Ich ließ also den Finger über seine Augenbrauen gleiten und bemerkte, daß sie versengt seien, daß ich aber ein Mittel kenne, um sie wieder so dick und schwarz wie früher zu machen.

»Was nützt es, mir irgend etwas Gutes zu thun, wohlthätiger Geist, wenn du mich in einem verhängnisvollen Augenblick doch wieder verlassen willst? Wenn du mir entschwindest wie ein Schatten, ohne daß ich weiß, weshalb und wohin, und dann für mich unauffindbar bleibst?«

»Haben Sie einen Taschenkamm, Sir?«

»Zu welchem Zweck, Jane?«

[701] »Nur um diese rauhe, schwarze Mähne auszukämmen. Wenn ich Sie genau betrachte, flößen Sie mir beinahe Furcht ein. Sie sagen, ich sei wie eine Fee, aber ich finde, daß Sie einem Kobold viel ähnlicher sind.«

»Bin ich abschreckend häßlich, Jane?«

»Sehr häßlich, Sir. Sie wissen, das waren Sie ja stets.«

»Hm! Nun, wo du auch gewesen sein magst, deine Bosheit hat sich doch erhalten.«

»Und doch bin ich bei guten Menschen gewesen, bei Menschen, die viel besser sind als Sie, hundertmal besser als Sie; die Ansichten und Gedanken hegen, welche Sie niemals in Ihrem ganzen Leben gekannt haben; die viel feiner und gebildeter sind als Sie!«

»Bei wem zum Teufel warst du denn?«

»Wenn Sie sich nicht ruhig verhalten, so muß ich Ihnen Ihre schönen Locken ausreißen; und dann werden Sie hoffentlich allen Zweifel an meiner Wesenheit aufgeben.«

»Bei wem bist du gewesen, Jane?«

»Heute abend werden Sie das nicht mehr aus mir herausbringen, Sir, Sie müssen bis morgen warten; Sie wissen, es ist eine Art von Sicherheit für Sie, daß ich morgen früh wieder am Frühstückstisch erscheine, wenn ich meine Geschichte heute abend nur halb erzähle. Doch da fällt mir ein, daß ich nicht nur mit einem Glase Wasser an Ihrem Herde erscheinen darf; ich muß doch wenigstens ein Ei bringen, von gebackenem Schinken gar nicht zu redend.«

»Du spöttischer Wechselbalg! – von Feen geboren und von Menschen erzogen! Seit zwölf Monaten habe ich nicht empfunden, was ich heute durch dich empfinde. Wenn Saul dich hätte zum David haben können, so wäre der böse Geist auch ohne die Harfe beschworen.«

»Nun Sir, endlich habe ich Sie wieder anständig hergerichtet. Jetzt will ich Sie verlassen. Ich bin seit zwei Tagen auf der Reise und fühle mich sehr ermattet. Gute Nacht!«

[702] »Noch ein einziges Wort, Jane! Waren nur Damen in dem Hause, wo du lebtest?«

Ich lachte laut auf und entwand mich ihm. Und als ich die Treppe hinauflief, lachte ich noch.

»Eine köstliche Idee!« dachte ich voll Freude. »Ich sehe, daß ich das Mittel in Händen habe, ihn so zu quälen, daß seine Melancholie für kurze Zeit wenigstens keine Gewalt mehr über ihn haben wird.«

Sehr früh am nächsten Morgen hörte ich ihn schon rastlos von einem Zimmer ins andere wandern. Sobald Mary nach unten kam, vernahm ich die Frage: »Ist Miß Eyre hier?« und dann: »Welches Zimmer habt Ihr für sie in Ordnung gebracht? War es auch trocken? Ist sie schon aufgestanden? Geh und frag, ob sie irgend etwas braucht, und wann sie herunter zu kommen gedenkt.«

Ich kam hinunter sobald ich glaubte, daß irgend eine Aussicht auf Frühstück vorhanden sei. Ich trat sehr leise ins Zimmer und so gewann ich ein Bild von ihm, ehe er meine Anwesenheit bemerkte. Es war traurig in der That zu gewahren, wie körperliche Gebrechlichkeit jenen mächtigen Geist unterjocht hatte. Er saß in seinem Stuhl – still, aber nicht ruhig, augenscheinlich voll Erwartung; die Linien gewohnheitsmäßiger Traurigkeit hatten sich scharf in seine kräftigen Züge gegraben. Sein Gesicht erinnerte mich an eine gewaltsam ausgelöschte Lampe, welche darauf wartet, wieder angezündet zu werden – und ach! es war nicht mehr er selbst, der den Glanz eines belebten Gesichtsausdruckes anfachen konnte, er war jetzt für die Ausübung dieses Amtes auf andere angewiesen! Ich hatte die Absicht gehabt, fröhlich und sorglos zu sein, aber die Hilflosigkeit dieses kräftigen Mannes ergriff mich auf das Tiefste! Doch redete ich ihn noch mit der ganzen Fröhlichkeit, welche mir in diesem Augenblicke zu Gebote stehen konnte, an:

»Es ist ein heller, sonniger Morgen, Sir,« sagte ich. »Der Regen hat aufgehört, und die Sonne scheint so milde [703] herab. Wir müssen bald einen Spaziergang miteinander machen.«

Ich hatte jenen Glanz, von welchem ich oben sprach, entfacht; seine Züge belebten sich.

»O, bist du wirklich da, meine süße Lerche! Komm zu mir. Du bist nicht wieder fortgeflogen? nicht verschwunden? Vor einer Stunde hörte ich eine von deiner Art, sie sang hoch über dem Walde. Aber ihr Gesang hatte keine Melodie für mich, ebensowenig wie die aufgehende Sonne Strahlen hatte. Für mein Ohr konzentriert sich die Melodie der ganzen Erde in der Stimme meiner Jane (und wie froh bin ich, daß sie nicht schweigsam!) und Sonnenschein empfinde ich nur in ihrer Nähe.«

Die Thränen traten mir in die Augen bei dem Geständnis seiner Abhängigkeit. Es war gerade so, als wenn ein königlicher Adler, der an einen Pflock gefesselt, einen Spatz angefleht hätte, sein Wärter und Hüter zu sein. Aber ich wollte nicht lachrymos sein, ich wischte die Thränentropfen fort und beschäftigte mich damit, ihm das Frühstück zu bereiten.

Den größten Teil des Morgens brachten wir im Freien zu. Ich führte ihn aus dem wilden, feuchten Walde hinaus in die sonnigen Felder; ich beschrieb ihm, wie saftig grün sie seien; wie erfrischt die Blumen und Hecken nach dem Regen aussähen, wie funkelnd blau der Himmel sei. An einem verborgenen, lieblichen Orte suchte ich ihm ein Plätzchen: einen trockenen Baumstumpf. Und als er sich gesetzt hatte, wehrte ich ihm nicht, daß er mich auf sein Knie zog. Und weshalb hätte ich das thun sollen? Waren wir beide doch glücklicher, wenn wir einander nahe waren! Pilot lag neben uns. Ringsumher Ruhe, Frieden!

Plötzlich schloß er mich in seine Arme und rief:

»Grausame, grausame Ausreißerin! O Jane, was empfand ich, als ich entdeckte, daß du von Thornfield geflohen warst, und ich dich nirgend wiederfinden konnte; [704] als ich dein Zimmer durchsuchte und fand, daß du kein Geld noch irgend etwas, das dir an Geldesstatt hätte dienen können, mitgenommen hattest! Ein Perlhalsband, das ich dir geschenkt, lag unberührt in seinem kleinen Etui; deine Koffer waren verschlossen und geschnürt, wie sie für unsere Hochzeitsreise vorbereitet gewesen. Was konnte mein Liebling denn beginnen, fragte ich mich ohne Unterlaß, verlassen, ohne Geld, von allen Mitteln entblößt? Und was begann er? Laß mich das jetzt hören.«

Auf sein Bitten begann ich endlich meine Erlebnisse des letzten Jahres zu erzählen. Als ich zu jenen drei Tagen des Umherwanderns, des Bettelns und Hungerns kam, milderte ich meinen Bericht sehr, denn es hätte ihm nur unnötigen Kummer bereitet, wenn er alles erfahren hätte; das Wenige, was ich erzählte, verwundete sein treues Herz schon tiefer, als ich wünschte.

Er sagte, ich hätte ihn nicht verlassen sollen so ganz ohne alle Mittel, mir einen Weg zu bahnen; ich hätte ihm meine Absicht kundthun müssen. Ich hätte mich ihm anvertrauen sollen, denn er würde mich niemals gezwungen haben, seine Geliebte zu werden. Heftig wie er in seiner Verzweiflung geschienen, liebe er mich in Wahrheit doch zu tief und zu zärtlich, um sich jemals zu meinem Tyrannen zu machen. Er würde mir sein halbes Vermögen gegeben haben, ohne auch nur einen Kuß als Belohnung zu begehren; aber ich hätte niemals ohne Schutz, ohne Freund in die weite Welt hinauswandern sollen. Er sei gewiß, daß ich viel mehr gelitten, als ich ihm jetzt gebeichtet habe.

»Nun, welcher Art meine Leiden und Entbehrungen auch gewesen sein mögen, so waren sie doch nur von kurzer Dauer,« erwiderte ich und dann fuhr ich fort, ihm zu berichten, wie man mich in Moor-House aufgenommen hatte, wie ich die Stelle einer Schullehrerin erhalten u.s.w. In der richtigen Reihenfolge kam dann, wie ich zu meinem Reichtum gelangt, und die Auffindung meiner Verwandten. [705] Natürlich kam der Name St. John Rivers im Verlauf meiner Erzählung häufig vor. Als ich zu Ende war, knüpfte er sofort an diesen Namen an.

»Dieser St. John ist also dein Vetter?«

»Ja.«

»Du hast viel von ihm gesprochen. Hattest du ihn lieb?«

»Er war ein sehr guter Mann, Sir; ich konnte nicht umhin, ihn lieb zu haben.«

»Ein guter Mann? Bedeutet das ein achtbarer, ruhiger Mann von fünfzig Jahren? Oder was soll das heißen?«

»St. John war erst neunundzwanzig Jahre alt, Sir.«

»Jeune encore,« wie die Franzosen sagen. Ist er ein Mensch von kleiner Figur, phlegmatisch und häßlich? Ein Mensch, dessen Güte eigentlich mehr darin besteht, daß er keinem Laster fröhnt, als daß er irgend eine Tugend übt?

»Er ist unermüdlich thätig. Er lebt nur, um große und erhabene Thaten zu vollbringen.«

»Aber sein Verstand? Der wird wohl nur gering sein! Er hat die besten Absichten, aber man zuckt die Achseln, wenn man ihn reden hört?«

»Er spricht wenig, Sir; was er aber sagt, trifft stets ins Schwarze. Er hat einen außerordentlichen Verstand, – das ist meine Ansicht – nicht sehr empfänglich, aber mächtig.«

»Er ist also ein gescheiter Mann?«

»Sehr gescheit.«

»Ein durch und durch gebildeter Mann?«

»St. John Rivers ist ein hervorragender und gründlich gebildeter Gelehrter.«

»Aber mich dünkt, du sagtest, daß seine Manieren nicht ganz nach deinem Geschmack seien? – pfäffisch und langweilig?«

»Ich sprach durchaus nicht von seinen Manieren; aber ich müßte einen sehr schlechten Geschmack haben, wenn sie mir nicht gefielen. Er ist höflich, ruhig und beherrscht sich stets.«

[706] »Sein Äußeres, – ich habe ganz vergessen, welche Beschreibung du von seinem Äußeren machtest; eine Art von ungehobeltem Landprediger, der in seiner weißen Krawatte halb erstickt und auf seinen dicksohligen Stiefeln wie auf Stelzen geht, was?«

»St. John kleidet sich sehr gut. Er ist ein schöner Mann, schlank, blaß, mit blauen Augen und griechischem Profil!«

(Beiseite:) »Hol ihn der Teufel!« – (Zu mir gewendet:) »Und hattest du ihn lieb, Jane?«

»Ja, Mr. Rochester, ich hatte ihn lieb; aber Sie haben mich ja schon einmal danach gefragt.«

Ich bemerkte natürlich schon lange, was der Fragesteller beabsichtigte. Die Eifersucht hatte sich seiner bemächtigt, sie quälte und reizte ihn, aber dieser Reiz war gesund, er riß ihn aus der qualvollen Melancholie, welcher er anheimgefallen. Deshalb wollte ich das grünäugige Ungeheuer auch nicht sofort bändigen.

»Vielleicht wird es Ihnen unbequem, Miß Eyre, noch länger auf meinem Knie zu sitzen?« war seine nächst ziemlich unerwartete Bemerkung.

»Weshalb, Mr. Rochester?«

»Das Bild, welches Sie mir soeben entworfen haben, muß Ihnen den überwältigenden Kontrast noch deutlicher vor Augen führen. Ihre Worte haben einen herrlichen Apoll auf das anmutigste gezeichnet; er steht Ihnen sehr lebhaft vor Augen – schlank, bleich, blaue Augen, griechisches Profil! Und jetzt ruhen Ihre Augen auf einem Vulkanus – ein wahrer Grobschmied, braun, breitschultrig und obendrein noch lahm und blind.«

»Daran habe ich bis jetzt noch nicht gedacht; aber Sie sind dem Vulkanus allerdings ähnlich, Sir.«

»Gut, schöne Dame. Sie können mich jetzt verlassen; aber bevor Sie gehen,« (und hier hielt er mich fester denn [707] zuvor) »werden Sie die Gewogenheit haben, mir noch eine oder zwei Fragen zu beantworten.«

Er hielt inne.

»Welche Fragen, Mr. Rochester?«

Dann kam folgendes Kreuzverhör:

»St. John verschaffte dir den Platz der Lehrerin in Morton, bevor er noch wußte, daß du seine Cousine seiest?«

»Ja,«

»Pflegtest du oft mit ihm zusammen zu sein? Besuchte er die Schule häufig?«

»Täglich.«

»Und er billigte deinen Lehrplan, Jane? Ich bin überzeugt, daß dieser gut war, denn du bist ein talentvolles Geschöpf.«

»Er billigte ihn, ja.«

»Er hat wohl manche gute Seiten an dir entdeckt, auf die er nicht vorbereitet war? Einige deiner Talente sind ganz ungewöhnlicher Art.«

»Das weiß ich wirklich nicht.«

»Du sagst, du habest ein kleines Häuschen in der Nähe der Schule gehabt? Kam er oft dorthin, um dich zu besuchen?«

»Dann und wann.«

»Am Abend?«

»Ein- oder zweimal.«

Pause.

»Und wie lange wohntest du noch mit ihm und seinen Schwestern zusammen, nachdem die Verwandtschaft entdeckt war?«

»Fünf Monate.«

»Verbrachte St. John Rivers einen großen Teil seiner Zeit mit den Damen seiner Familie?«

»Ja. Das rückwärtsgelegene Wohnzimmer war sowohl sein Studirzimmer wie das unsere. Er saß am Fenster, und wir am Tische.«

[708] »Studierte er viel?«

»Sehr viel.«

»Was?«

»Hindostanisch.«

»Und was thatest du inzwischen?«

»Anfangs lernte ich Deutsch.«

»Lehrte er es dich?«

»Er war des Deutschen nicht mächtig.«

»Lehrte er dich gar nichts?«

»Ein wenig Hindostanisch.«

»Rivers lehrte dich Hindostanisch?«

»Ja, Sir.«

»Und seine Schwestern ebenfalls?«

»Nein.«

»Nur dich?«

»Nur mich.«

»Batest du ihn, es dich zu lehren?«

»Nein.«

»So wünschte er, dich zu unterrichten?«

»Ja.«

Zweite Pause.

»Weshalb wünschte er es? Welchen Nutzen sollte dir Hindostanisch bringen?«

»Er wollte, daß ich mit ihm hinaus nach Indien gehe.«

»Ah! jetzt komme ich endlich an die Wurzel des Ganzen. Er wollte, daß du seine Frau werdest?«

»Er bat mich, ihn zu heiraten.«

»Das ist eine Lüge – eine freche Erfindung, um mich zu ärgern.«

»Ich bitte um Verzeihung, es ist wörtlich die Wahrheit; er hat mir mehr als einen Heiratsantrag gemacht, und beharrte ebenso hartnäckig bei seinem Willen, wie Sie es gethan haben würden.«

»Miß Eyre, ich wiederhole es noch einmal, Sie können mich verlassen. Wie oft soll ich denn noch eine und dieselbe [709] Sache wiederholen? Weshalb bleiben Sie so eigensinnig auf meinem Schoße sitzen, wenn ich Ihnen sage, daß Sie gehen sollen?«

»Weil ich mich hier sehr wohl fühle.«

»Nein, Jane, du fühlst dich hier nicht wohl, denn dein Herz weilt nicht bei mir; es weilt bei deinem Vetter, St. John Rivers! O, bis zu diesem Augenblick glaubte ich, daß meine kleine Jane nur mir allein gehöre! Selbst nachdem sie von mir geflohen, glaubte ich noch, daß sie mich liebe, – das war das einzige Atom von Süßigkeit in meinem bitteren Leidenskelch. Wie lange wir auch getrennt gewesen – wieviel heiße Thränen ich auch über unsere Trennung geweint –niemals glaubte ich doch, daß sie einen anderen liebe, während ich sie so innig betrauerte! Aber was nützt mein Jammer! Jane, verlaß mich! Geh hin und vermähle dich mit Rivers.«

»Dann stoßen Sie mich fort, Sir – stoßen Sie mich fort! Aus eigenem Antriebe verlasse ich Sie nicht.«

»O, Jane, wie liebe ich den Laut deiner Stimme noch! Er erweckt immer wieder Hoffnung in mir, er klingt so ehrlich und treu. Wenn ich ihn höre, trägt er mich ein ganzes Jahr in die Vergangenheit zurück. Ich vergesse, daß du neue Bande geknüpft hast! – Aber ich bin kein – Thor – geh –«

»Wohin soll ich gehen, Sir?«

»Geh deinen eigenen Weg mit dem Gatten, den du dir erwählt hast.«

»Und wer ist das?«

»Du weißt es, – St. John Rivers.«

»Er ist mein Gatte nicht und wird es niemals werden. Er liebt mich nicht – ich liebe ihn nicht. Er liebt (so wie er lieben kann, und das ist nicht, wieSie lieben können) ein schönes, junges Mädchen, Rosamond Olliver. Mich wollte er nur heiraten, weil er glaubte, daß ich mich sehr zur Gattin eines Missionärs eignen würde – und [710] das erwartete er von ihr nicht. Er ist gut und groß, aber strenge, und mir gegenüber kalt wie ein Eisberg. Er ist nicht wie Sie, Sir; ich bin nicht glücklich an seiner Seite, noch in seiner Nähe, noch in seiner Gesellschaft. Er hat keine Nachsicht mit mir – keine Zärtlichkeit für mich. Er sieht nichts Anziehendes in mir, nicht einmal meine Jugend – nur einige nützliche, geistige Eigenschaften. – Und nun soll ich Sie verlassen, Sir, um zu ihm zu gehen?«

Unwillkürlich überlief mich ein Schauer, und ich klammerte mich instinktiv fester an meinen geliebten, blinden Gebieter. Er lächelte milde.

»Was, Jane! Ist dies wahr? Stehen die Dinge wirklich so zwischen dir und St. John Rivers?«

»Ganz so, Sir. O, Sie haben keine Ursache, eifersüchtig zu sein! Ich wollte Sie nur ein wenig wecken, um Sie Ihrer Traurigkeit zu entreißen. Ich glaubte, Ärger sei besser für Sie als Kummer. Wenn Sie aber wollen, daß ich Sie liebe!! Ach! könnten Sie nur sehen, wieviel grenzenlose Liebe zu Ihnen auf dem Grunde meines Herzens ruht, so würden Sie stolz und zufrieden zugleich sein. Mein ganzes Herz, meineganze Seele gehören Ihnen, Sir. Und bei Ihnen würden sie bleiben, wenn das Schicksal so grausam wäre, mein übriges Ich für immer aus Ihrer Nähe zu verbannen!«

Er küßte mich. Aber wiederum zogen trübe Wolken über seine Stirn.

»Mein verlorenes Augenlicht! Meine gelähmte Kraft!« murmelte er traurig vor sich hin.

Ich liebkoste ihn, um ihn zu beruhigen. Ich wußte, an was er dachte; gern hätte ich für ihn gesprochen, aber ich hatte nicht den Mut dazu. Als er den Kopf einen Augenblick zur Seite wandte, sah ich eine Thräne unter seinen geschlossenen Lidern hervorquellen und über seine gebräunte Wange rollen. Mein Herz klopfte laut und heftig.

[711] »Jetzt bin ich nichts besseres als der alte vom Blitzstrahl getroffene Nußbaum im Obstpark von Thornfield-Hall,« bemerkte er nach längerem Schweigen. »Und welches Recht hätte jener Baumstumpf, von einer blühenden Waldwinde zu verlangen, daß sie seinen Verfall mit frischem Grün bedecke?«

»Sie sind kein toter Baumstumpf, keine Ruine, Sir – kein vom Blitz zerschmetterter Baum; Sie sind noch grün und kräftig. An Ihren Wurzeln werden Pflanzen emporschießen, ob Sie sie nun fragen oder nicht, denn sie empfinden Wohlbehagen in Ihrem wohlthätigen Schatten. Und wie sie wachsen, werden sie sich an Sie lehnen und sich um Sie schlingen, weil Ihre Kraft den zarten Schößlingen einen so sicheren Halt gewährt.«

Wiederum lächelte er. Ich spendete ihm Trost.

»Du sprichst von Freunden, Jane?« fragte er.

»Ja, von Freunden,« entgegnete ich ein wenig zögernd, denn ich war mir wohl bewußt, mehr als Freunde im Sinne zu haben. Aber ich fand das rechte Wort nicht so schnell. Er half mir jedoch.

»Ach, Jane! ich sehne mich ja nach einer Gattin.«

»Wirklich, Sir?«

»Ja! überrascht dich das?«

»Natürlich! Bis jetzt ließen Sie nichts davon verlauten.«

»Ist es eine unwillkommene Nachricht für dich?«

»Das hängt von Umständen ab, Sir – oder eigentlich von Ihrer Wahl.«

»Die sollst du für mich treffen, Jane. Von deinem Entschluß will ich alles abhängig machen.«

»So wählen Sie die, – welche Sie am meisten liebt, Sir.«

»Wenigstens will ich diejenige wählen, –welche ich am meisten liebe. Jane, willst du mich heiraten?«

»Ja, Sir.«

[712] »Einen armen, blinden Mann, den du an der Hand führen mußt, Janet?«

»Ja, Sir.«

»Einen Krüppel, der zwanzig Jahre älter ist als du, den du warten und pflegen mußt!«

»Ja, Sir.«

»Wirklich, Jane?«

»Wirklich und wahrhaftig, Sir.«

»O mein Liebling! mein Liebling! der allmächtige Gott segne dich und belohne dich!«

»Mr. Rochester, wenn ich je in meinem Leben eine gute That vollbracht habe – wenn ich einen edlen Gedanken gedacht habe – wenn ich ein reines und aufrichtiges Gebet gebetet habe – wenn ich einen gerechten Wunsch gehegt habe – so bin ich jetzt belohnt. Ihre Gattin werden bedeutet für mich, so glücklich sein, wie ich es auf dieser Erde überhaupt werden kann.«

»Weil du glücklich bist, wenn du Opfer bringen kannst.«

»Opfer! Was opfere ich denn? Ich gebe die Hungersnot für Nahrung hin, Erwartung für Zufriedenheit. Daß es mir vergönnt ist, mit meinen Armen zu umschlingen, was ich wert halte – meine Lippen auf das zu drücken, was ich liebe – bei dem auszuruhen, welchem ich vertraue: heißt das ein Opfer bringen? Und wenn dem so ist, dann bin ich allerdings glücklich, Opfer bringen zu können.«

»Und meine Gebrechlichkeit zu ertragen, Jane, meine Mängel zu übersehen?«

»Für mich ist es keine Gebrechlichkeit, kein Mangel, Sir. Jetzt, wo ich Ihnen wirklich von Nutzen sein kann, liebe ich Sie inniger als zur Zeit Ihrer stolzen Unabhängigkeit, wo Sie jede andere Rolle als die des Gebers und Beschützers verschmähten.«

»Bis jetzt haßte ich es, wenn man mir half, wenn man mich führte. Aber von nun an – das fühle ich – wird es mir nicht mehr verhaßt sein. Es war mir fürchterlich, [713] meine Hand in die eines Mietlings zu legen, aber es ist wohlthuend, sie von Janes zarten Fingern umfassen zu lassen. Ich zog absolute Einsamkeit der beständigen Gegenwart meiner Dienstboten vor; aber Janes sanfte, geduldige Leitung wird eine immerwährende Freude für mich sein. Jane ist mir angenehm. Bin ich es ihr auch?«

»Sympathisch bis in die zarteste Fiber meines Ichs, Sir.«

»Nun, wenn dies der Fall ist, so haben wir auf nichts in der Welt mehr zu warten; wir müssen uns sofort verheiraten.«

Er sah erregt aus und sprach lebhaft; sein alter Ungestüm erwachte wieder.

»Ohne Aufschub müssen wir eins werden, Jane. Wir brauchen nur noch die obrigkeitliche Erlaubnis – dann heiraten wir.«

»Mr. Rochester, soeben entdecke ich, daß die Sonne bereits tief unter dem Meridian steht, und Pilot ist wirklich schon zum Mittagsessen nach Hause gegangen. Lassen Sie mich Ihre Uhr sehen.«

»Befestige sie an deinem Gürtel, Janet, und behalte sie in Zukunft. Ich kann sie ja doch nicht mehr brauchen.«

»Es ist beinahe vier Uhr nachmittags, Sir. Sind Sie gar nicht hungrig?«

»In drei Tagen muß unser Hochzeitstag sein, Jane. Laß es gut sein mit schönen Kleidern und Juwelen und dergleichen Dingen: alles das ist doch keinen Pfifferling wert.«

»Die Sonne hat jeden Regentropfen aufgesogen, Sir. Der Wind hat sich gelegt – es ist heiß geworden.«

»Weißt du, Jane, daß ich in diesem Augenblick dein kleines Perlhalsband an meinem bronzefarbenen Halse unter meiner Krawatte trage? Ich trug es seit dem Tage, da ich meinen einzigen Schatz verlor, als ein Andenken an sie.«

»Wir wollen durch den Wald nach Hause gehen, dort finden wir einen schattigen Weg.«

[714] Ohne meiner Worte zu achten, verfolgte er seinen eigenen Gedankengang.

»Jane! ich bin überzeugt, daß du mich für einen ungläubigen Heiden hältst, aber in diesem Augenblick schwillt mein Herz voll Dankbarkeit gegen den allbarmherzigen Gott dieser Erde. Er sieht nicht wie Menschen sehen, er sieht klarer. Er urteilt nicht wie Menschen urteilen, sondern viel weiser. Ich that unrecht. Ich wollte meine unschuldige Blume beschmutzen – ich wollte ihre Reinheit mit Schuld besudeln – und der Allmächtige entriß sie mir. Ich, in meiner starren Empörung verfluchte diese Gottesfügung; anstatt mich dem Ratschluß zu beugen, trotzte ich ihm. Doch die göttliche Gerechtigkeit nahm ihren Lauf; das Unglück drückte mich fast zu Boden; ich wurde gezwungen durch das Thal der Schatten des Todes zu wandern. Seine Züchtigungen sind mächtig, undeine traf mich, die mich für immer gedemütigt hat. Du weißt, ich war stolz auf meine Kraft. Und was ist sie jetzt? Ich muß mich fremder Führung überlassen wie ein schwaches, unmündiges Kind. Erst seit kurzem, Jane – seit kurzem begann ich Gottes Hand in meiner Strafe zu erkennen. Ich begann Gewissensqualen, Reue zu empfinden, den Wunsch, mich mit meinem Schöpfer zu versöhnen. Zuweilen begann ich zu beten; es waren nur kurze Gebete, aber sie waren aufrichtig.«

»Vor einigen Tagen – nein, ich kann sie zählen – es sind ihrer vier her; es war am Abend des letzten Montags, da bemächtigte sich meiner eine eigentümliche Stimmung; an Stelle der Wut und des Wahnsinns trat Kummer, an Stelle des Trotzes Schmerz. Lange schon war die Überzeugung in mir wach geworden, daß du tot sein müssest, da ich dich nirgend finden konnte. Spät an jenem Abend – es mochte vielleicht zwischen elf und zwölf Uhr sein, ehe ich mich auf mein trostloses Lager zur Ruhe legte, bat ich Gott, daß er mich bald, wenn es ihm so [715] gefiele, aus diesem Leben nehmen und mich in jenes andere eingehen lassen möge, wo ich die Hoffnung hatte, meine Jane wieder zu finden.«

»Ich war in meinem eigenen Zimmer und saß am geöffneten Fenster; die balsamische Nachtluft wirkte beruhigend auf mich. Ich konnte die Sterne nicht sehen, und nur ein vager, heller Nebel verriet mir, daß der Mond aufgegangen. O, Janet, und ich sehnte mich nach dir. Ich sehnte mich nach dir mit Leib und Seele. Ich fragte Gott – in Angst und in Demut, ob ich nun nicht lange genug einsam, heimgesucht und gequält gewesen sei; ob ich denn niemals wieder Glück und Frieden finden solle. Ich bekannte ihm, daß ich alles verdient, was ich leiden müsse – daß ich aber kaum noch mehr ertragen könne.« Und dann brach das Alpha und Omega all meiner Herzenssehnsucht unwillkürlich von meinen Lippen in den Worten:

»Jane! Jane! Jane!«

»Und sprachen Sie diese Worte laut?«

»Das that ich, Jane. Wenn irgend ein Lauscher mich gehört hätte, so würde er mich für wahnsinnig gehalten haben, denn ich sprach sie mit tobender Energie aus.«

»Und es war am letzten Montag Abend? Ungefähr um die Mitternachtsstunde?«

»Ja; aber die Zeit hat ja nichts zu bedeuten; was dann folgte, ist das seltsame an der Sache. Du wirst mich für abergläubisch halten – denn ich habe etwas Aberglauben im Blute, hatte ihn stets – aber es ist dennoch wahr – wahr wenigstens ist, daß ichhörte, was ich jetzt erzähle.«

Als ich rief: Jane! Jane! Jane! erwiderte eine Stimme – ich kann nicht sagen, woher sie kam, aber ich weiß, wessen Stimme es war – »Ich komme, warte auf mich«, und gleich darauf trug der Wind mir noch die geflüsterten Worte zu: »Wo bist du?«

»Wenn ich kann, will ich dir den Gedanken, das Bild [716] beschreiben, welches jene Worte vor meinem Gemüte entrollten; doch ist es schwer auszudrücken, was ich ausdrücken möchte. Wie du siehst, liegt Ferndean in einem dichten Walde begraben, wo jeder Schall dumpf ist und ohne Widerhall erstirbt. ›Wo bist du‹ schien zwischen Bergen gesprochen, denn ich hörte, daß ein Bergecho die Worte wiederholte. Kühler und frischer schien der Wind in diesem Augenblick meine heiße Stirn zu umfächeln; ich hätte mir beinahe einbilden können, daß Jane und ich uns an einem wilden, einsamen Orte wiederfanden. Unsere Seelen, glaube ich, müssen sich gefunden haben. Du, Janet, lagst zu jener Stunde ohne Zweifel in tiefem, unbewußtem Schlummer, vielleicht entwand sich deine Seele ihrer Hülle und kam, um die meine zu trösten; denn es war deine Stimme – so wahr ich lebe – es war deine Stimme!«

Mein Leser! es war am Montag Abend – gegen Mitternacht – als auch ich den geheimnisvollen Ruf vernahm; es waren jene Worte, mit denen ich ihn beantwortet hatte. Ich horchte auf Mr. Rochesters Erzählung, aber ich machte ihm meinerseits keine Enthüllung. Das Zusammentreffen schien mir zu unerklärlich und schreckensvoll, um darüber zu sprechen. Wenn ich irgend etwas erzählte, so wäre meine Erzählung notwendigerweise derart gewesen, daß sie einen tiefen Eindruck auf das Gemüt meines Zuhörers machte; und dieses Gemüt, welches nach all seinen Leiden dem düsteren Nachdenken nur zu sehr unterworfen war, bedurfte nicht noch des tiefen Schattens, den das Übernatürliche stets um sich wirft. Ich behielt diese Dinge also für mich und grübelte allein darüber nach.

»Du kannst dich jetzt also nicht wundern,« fuhr mein Gebieter fort, »daß es mir schwer wurde, dich für etwas anderes als eine Vision, eine Stimme zu halten, als du so plötzlich gestern Abend vor mir standest; ich meinte, du würdest wieder in Schweigen und in das Nichts zurücksinken, wie jenes mitternächtliche Flüstern und Bergesecho [717] vor dir dahingeschwunden war. Jetzt danke ich Gott! ich weiß es besser! Ja, ich danke Gott von ganzem Herzen!«

Er schob mich von seinem Schooße, erhob sich, nahm ehrerbietig den Hut vom Kopfe und indem er seine blinden Augen zur Erde senkte, stand er lange in stummer Andacht da. Nur die letzten Worte seines Gebets waren hörbar.

»Ich danke meinem Schöpfer, daß er inmitten in der Strafe doch Gnade walten läßt. Ich bitte meinen Erlöser in aller Demut, daß er mir Kraft geben möge, von jetzt an ein besseres, reineres Leben zu führen als bisher!«

Dann streckte er die Hand aus, daß ich ihn führe. Ich ergriff die teure Hand, preßte sie einen Augenblick an meine Lippen, und ließ ihn sie dann auf meine Schulter legen. Da ich soviel kleiner war als er, diente ich ihm sowohl als Stütze wie als Führer. Wir gingen in den Wald hinein und wendeten uns heimwärts.

Achtzehntes Kapitel [2]

Achtzehntes Kapitel

Schluß.


Mein teurer Leser, ich heiratete ihn. Wir hatten eine sehr stille Hochzeit. Nur er und ich, der Geistliche und der Küster waren anwesend. Als wir aus der Kirche zurückkamen, ging ich in die Küche des Herrenhauses hinunter, wo Mary das Mittagsessen bereitete und John die Messer putzte, und sagte:

»Mary, ich bin heute morgen mit Mr. Rochester getraut.«

Die Haushälterin und ihr Mann gehörten zu jener Sorte von anständigen und phlegmatischen Leuten, welchen man zu jeder Zeit mit Sicherheit eine merkwürdige, außergewöhnliche Nachricht mitteilen kann, ohne Gefahr zu laufen, daß zuerst ein schriller Aufschrei Einem das Trommelfell zersprengt, und man gleich darauf in einem Strom wortreichen Erstaunens ertränkt wird. Mary blickte auf und [718] starrte mich an, das ist wahr, der Kochlöffel, mittelst welchem sie ein paar junge Hühner, welche auf dem Feuer brieten, mit Fett begoß, blieb ungefähr drei Minuten schwebend in der Luft, und während ebenso langer Zeit ungefähr ruhten Johns Messer sich von dem Prozeß des Poliertwerdens aus. Aber dann sagte Mary nur, indem sie sich über den Braten beugte –

»Wirklich, Miß? Das ist gut!«

Und kurze Zeit darauf fügte sie hinzu: »Ich sah Sie mit dem Herrn ausgehen, aber ich wußte nicht, daß Sie in die Kirche gingen, um sich trauen zu lassen,« und dann begoß sie ihren Braten von neuem.

Als ich mich zu John begab, grinste er mich freundlich an.

»Ich habe Mary wohl gesagt, wie es kommen würde,« sagte er; »ich wußte, was Mr. Edward« (John war ein alter Diener und hatte seinen Herrn bereits gekannt, als er noch der jüngere Sohn des Hauses war, deshalb nannte er ihn noch oft bei seinem Taufnamen, und es wurde ihm verziehen) – »ich wußte, was Mr. Edward thun würde, und war sicher, daß er nicht lange warten würde. Nun, soviel ich einsehen kann, hat er recht gethan. Ich wünsche Ihnen viel Glück, Miß!«

Und dabei zupfte er ehrerbietig an seiner Stirnlocke.

»Danke Ihnen, John. Mr. Rochester gab mir dies für Sie und Ihre Frau.«

Dabei gab ich ihm eine Fünfpfundnote. Ohne auf weitere Erörterungen und seinen Dank zu warten, verließ ich die Küche. Als ich kurze Zeit darauf an dem Sanktum vorüberging, überhörte ich die Worte:

»Sie wird vielleicht besser für ihn passen als irgend eine von den vornehmen Damen.« Und dann weiter: »Wenn sie auch nicht gerade eine von den allerschönsten ist, so ist sie doch nicht häßlich, und obendrein noch so herzensgut; [719] und in seinen Augen ist sie wunderschön. Das kann doch jeder sehen.«

Ich schrieb sofort nach Cambridge und Moor-House, um meinen Verwandten mitzuteilen, was ich gethan hatte. Ich erklärte ihnen auch deutlich, weshalb ich so gehandelt habe. Diana und Mary billigten meinen Schritt rückhaltslos. Und Diana kündigte uns an, daß sie uns nur die Zeit lassen würde, glücklich über den Honigmonat fortzukommen, und uns dann mit ihrem Besuche erfreuen würde.

»Es wäre besser, wenn sie nicht so lange wartete, Jane,« sagte Mr. Rochester, als ich ihm den Brief vorlas, »wenn sie das thut, wird sie zu spät kommen, denn unser Honigmonat wird dauern so lange wir leben. Nur an deinem und meinem Grabe wird er sein Ende finden.«

Wie St. John die Nachricht aufnahm, weiß ich nicht; er beantwortete den Brief, in welchem ich sie ihm mitteilte, niemals. Sechs Monate später schrieb er mir jedoch; Mr. Rochesters Namen erwähnte er indessen nicht und ebensowenig sprach er von meiner Heirat. Sein Brief war sehr ruhig, und wenn auch ernst, so doch gütig. Seitdem hat er einen regelmäßigen, wenn auch nicht häufigen Briefwechsel mit mir auf recht erhalten. Er hofft, daß ich glücklich bin und glaubt, daß ich nicht eine von jenen bin, die ihres Gottes im Weltleben vergessen und ihr Herz nur an irdische Dinge hängen.

Lieber Leser, hoffentlich hast du die kleine Adele noch nicht ganz vergessen? Ich wenigstens gedachte ihrer. Bald nach meiner Verheiratung erbat und erhielt ich von Mr. Rochester die Erlaubnis, sie in dem Institut besuchen zu dürfen, in welches er sie gebracht hatte. Ihre unbändige Freude bei meinem Anblick rührte mich aufs tiefste. Sie war blaß und mager und klagte mir, daß sie nicht glücklich sei. Ich fand, daß die Regeln der Pension zu strenge gehandhabt wurden, daß der Lehrplan für ein Kind in ihren Jahren zu anstrengend sei. Deshalb nahm ich sie [720] mit mir nach Hause. Ich hatte die Absicht, noch einmal wieder ihre Lehrerin zu werden; bald aber entdeckte ich, daß dieser Plan unausführbar sei; ein anderer nahm jetzt meine Zeit und meine Fürsorge in Anspruch – mein Gatte brauchte beides. So suchte und fand ich denn eine Schule, welche nach einem nachsichtigeren System geführt wurde und uns nahe genug gelegen war, um sie öfter besuchen und dann und wann nach Hause nehmen zu können. Ich trug Sorge, daß ihr nichts fehlte, was zu ihrem Wohlbefinden notwendig war; daher fühlte sie sich an ihrem neuen Aufenthaltsorte bald heimisch, wurde dort sehr glücklich und machte in ihren Studien ausgezeichnete Fortschritte. Als sie heranwuchs, ersetzte eine gesunde englische Erziehung in großem Maße die ihrem französischen Charakter anhaftenden Mängel; und nachdem sie die Schule verlassen hatte, fand ich in ihr eine stets liebenswürdige und opfermutige Gefährtin; sie war sanft, gutmütig und hatte strenge Grundsätze. Durch die dankbare Aufmerksamkeit, welche sie mir und den Meinen erweist, hat sie längst jede Güte vergolten, welche ihr zu erweisen einst in meiner Macht lag.

Meine Geschichte nähert sich ihrem Ende. Nur noch ein Wort über die Erfahrungen, welche ich in meiner Ehe machte, und einen kurzen Blick auf die Schicksale derer, welche am häufigsten in diesen Blättern vorkamen; dann bin ich zu Ende.

Jetzt bin ich seit zehn Jahren verheiratet. Ich weiß, was es heißt, ganz für das und mit dem zu leben, was man auf dieser Welt am liebsten hat. Ich halte mich für außerordentlich glücklich – glücklicher als Worte es beschreiben können, weil ich meinem Gatten ebenso teuer bin, ebenso unentbehrlich, wie er es mir ist. Kein Weib stand ihrem Gatten jemals näher als ich dem meinen: ich bin Blut von seinem Blute, Fleisch von seinem Fleisch. Edwards Gesellschaft ermüdet mich niemals; er ist niemals [721] eine Stunde ohne mich; der Pulsschlag seines Herzens ist der meine – mein Pulsschlag ist der seine. Beieinandersein bedeutet für uns so froh sein wie in großer Gesellschaft, – so frei wie in absoluter Einsamkeit. Ich glaube, wir sprechen den ganzen Tag hindurch; miteinander reden ist nur eine hörbarere und lebhaftere Art des Denkens. Er besitzt mein ganzes Vertrauen; er hat mir das seine vollständig geschenkt; unsere Charaktere passen in jeder Beziehung zueinander – folglich ist die vollkommenste Übereinstimmung das Resultat.

Während der ersten zwei Jahre nach unserer Heirat blieb Mr. Rochester noch blind; vielleicht war es gerade dieser Umstand, der uns so fest aneinander kettete – der uns so unauflöslich verband! denn ich war damals sein Augenlicht, wie ich noch heute seine rechte Hand bin. Buchstäblich war ich, wie er mich so oft nannte, sein Augapfel. Er sah die Natur – er sah alle Bücher durch mich; und ich wurde niemals müde, ihm zu Liebe um mich zu schauen und den Eindruck in Worte zu kleiden, welchen die Landschaft vor uns, Felder, Bäume, Stadt, Strom, Wolken und Sonnenstrahlen, Wind und Wetter auf mich machten und durch Laute seinem Ohr das verständlich zu machen, was sein Auge nicht mehr in sich aufnehmen konnte. Niemals wurde ich es müde, ihm vorzulesen; niemals wurde ich es müde, ihn hinzuführen, wohin er geleitet sein wollte, für ihn zu thun, was er gethan haben wollte.

Und diese Dienstleistungen machten mir Freude, eine außerordentliche, wenn auch traurige Freude – weil er sie ohne quälende Scham, ohne bedrückende Demütigung von mir verlangte. Er liebte mich so wahr, daß er niemals zauderte, meine Hilfeleistungen in Anspruch zu nehmen; er fühlte, daß ich ihn so zärtlich liebte, ihm so blind und innig ergeben war, daß es mein süßestes Glück war, ihm diese Pflege angedeihen zu lassen.

Am Ende jener zwei Jahre, als ich eines Morgens saß [722] und einen Brief nach seinem Diktat schrieb, kam er zu mir und beugte sich über mich. Nach einigen Augenblicken sagte er:

»Jane, trägst du einen blitzenden Schmuck um den Hals?«

Ich trug eine goldene Uhrkette, deshalb antworte ich »Ja«.

»Und hast du ein mattblaues Kleid an?«

Es war der Fall. Nun teilte er mir mit, daß es ihm schon seit einiger Zeit geschienen, als ob die Dunkelheit, welche das eine Auge bedeckte, weniger dicht und undurchdringlich sei. Jetzt wäre er dessen aber gewiß.

Wir reisten zusammen nach London. Er fragte einen hervorragenden Augenarzt um Rat, und in der That erlangte er die Sehkraft des einen Auges wieder. Auch jetzt vermag er noch nicht ganz deutlich zu sehen; er darf weder viel lesen noch schreiben; aber er findet den Weg ohne an der Hand geführt zu werden; der Himmel ist keine farblose Fläche mehr für ihn, die Erde kein leerer Raum.

Als man ihm seinen Erstgeborenen in die Arme legte, konnte er sehen, daß der Knabe seine Augen geerbt habe – wie sie einst gewesen – groß, glänzend und schwarz. Und bei dieser Gelegenheit anerkannte er noch einmal, daß der allmächtige Gott inmitten der Strafe Gnade habe walten lassen.

Edward Rochester und ich sind also glücklich, und das umsomehr, weil alle jene, welche wir lieben, ebenfalls glücklich sind. Diana und Mary Rivers sind beide verheiratet; abwechselnd kommt eine von beiden jedes Jahr, um uns zu besuchen, und ebenso reisen wir zu ihnen. Dianas Gatte ist ein Kapitän von der Marine, ein tapferer Offizier und ein guter Mann. Marys Gemahl ist ein Geistlicher, ein Universitätsfreund ihres Bruders; seine Grundsätze und seine Vorzüge machen ihn seiner vortrefflichen Gattin durchaus würdig. Sowohl Kapitän Fitzjames [723] wie Mr. Wharton lieben ihre Frauen und werden von ihnen wiedergeliebt.

Was St. John Rivers anbetrifft, so verließ er England und ging nach Indien. Er betrat den Weg, welchen er selbst sich vorgezeichnet hatte, und noch heute wandelt er auf demselben. Ein unermüdlicherer, entschlossenerer Pionier hat niemals zwischen Felsen und Gefahren gearbeitet. Fest, treu und ergeben, voll Energie, Eifer und Wahrheit – so arbeitet er für das Menschengeschlecht; mit Mühe und Anstrengung macht er ihm den schweren Weg zum Heil frei; wie ein Riese schmettert er die Hindernisse, welche Glaubensbekenntnis und Kaste ihm entgegenstellen, zu Boden. Er mag hart und strenge sein; er mag scharf sein, vielleicht auch ehrgeizig – aber seine Härte und Strenge ist die des kriegerischen Anführers, der seine Pilgerschar gegen die Angriffe wilder Horden verteidigt. Wenn er fordert, so fordert er wie der Apostel, der nur für Christus spricht, wenn er sagt: »Wer mir nachkommt, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.« Sein Ehrgeiz ist der eines großen Geistes, welcher den ersten Platz in den Reihen derjenigen einnehmen will, welche von den Sünden dieser Welt erlöst werden – welche ohne Fehl vor Gottes Thron stehen, welche den letzten großen Sieg des Lammes teilen, welche berufen und auserwählt und treu sind!

St. John ist unverheiratet; er wird sich jetzt auch nicht mehr verheiraten. Seine eigene Kraft hat bis heute für die Arbeit ausgereicht, und die Arbeit nähert sich ihrem Ende. Seine strahlende Sonne ist dem Untergange nahe. Der letzte Brief, welchen ich von ihm erhielt, entlockte meinen Augen menschliche Thränen und doch erfüllte er mein Herz mit himmlischer Freude; er sah seinem sicheren Lohn entgegen, seiner Krone, die ihm niemand rauben kann.

Ich weiß, daß eine fremde Hand mir das nächste Mal schreiben wird, um mir mitzuteilen, daß der gute und treue [724] Diener endlich zu den himmlischen Freuden seines Herrn einberufen ist. Und weshalb sollte ich da weinen? Keine Furcht vor dem Tode wird St. John in seiner letzten Stunde quälen; sein Geist wird frei sein, sein Herz wird unerschrocken, seine Hoffnung sicher, sein Glaube unerschütterlich sein. Seine eigenen Worte bürgen mir dafür:

»Mein Herr und Gott,« schreibt er, »hat mir die Botschaft geschickt. Täglich verkündet Er mir deutlicher: – ›Gewiß, ich komme bald!‹ und stündlich antworte ich Ihm sehnsuchtsvoller: – ›So komm, Jesus Christus! in Ewigkeit, Amen.‹«


Ende [725]

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TextGrid Repository (2012). Brontë, Charlotte. Roman. Jane Eyre. Jane Eyre. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-454D-2