[684] Zu viel und zu wenig

Was mag doch wohl die Ursach seyn
Vom Irrthum, der so grob, so allgemein,
Daß für die Creatur fast alle Menschen blind,
Gehör- Geruch- Geschmack- und Fühl-los sind?
Da doch die Bibel selbst uns deutlich lehret,
Wie sehr man Gott in Seinen Wercken ehret,
Und wie die Creatur, zu ihres Schöpfers Preise,
Den grossen Schöpfer selber weise.
Giebt uns Sanct Paulus dieß nicht deutlich gnug zu lesen? 1
Er saget: Daß man weis, daß GOTT sey, ist ja klar,
Und allen Menschen offenbar.
GOTT offenbahrt' es selbst, und gab es zu verstehn,
Daß GOTTES unsichtbares Wesen,
Das ist, Sein' ew'ge Kraft und Gottheit wird ersehn,
So man dieß wahrnimmt an den Wercken,
Wie von der Welt Erschaffung an zu mercken,
So daß sie keinen Grund, sich zu entschuld'gen, haben.
Doch halt, mit fällt ein' Ursach bey,
Wovon ich überführet,
Daß sie gewiß der kleinsten keine sey:
Da nehmlich alle Pracht von unsers Schöpfers Gaben
Auch fromme Seelen selbst so wenig rühret,
So wenig reitzt und lockt; weil ich bemercke,
Daß GOTTES und des Teufels Wercke
Im Worte Welt nur einen Namen haben.
Man heisset Welt, was gottlos, lasterhaft,
Was bös und eitel ist. Von unsrer Leidenschaft
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Der Misbrauch, Hochmuth, Neid, die Wollust, Schmähsucht, Geld
Und Ungerechtigkeit heisst Weltlich, nennt man Welt.
So bald man nun die Welt, das herrliche Gefässe
Der schönen Creatur, die unsers Schöpfers Grösse
Und Weisheit, Lieb' und Macht uns recht mit Fingern zeigt,
Mit ihrem Namen nennt;
Wird leider auch so gar von Frommen
Das eine für das andere genommen.
Der unglückseel'ge Gleich-Laut macht,
Daß, da man ohne dieß gewohnt, nicht drauf zu achten,
Man so verfährt mit der Geschöpfe Pracht,
Als wär' es Sünde, sie betrachten.
Die Heyden machten es so arg noch lange nicht,
Wovon das Weisheit-Buch recht unvergleichlich spricht:
Natürlich eitel ist zwar jedes Menschen-Kind,
Weil alle nichts von GOTT verstehen,
Und an der Güter Zahl, die sichtbar sind,
Den, Der es ist, nicht kennen. Sie ersehen
An allen schönen Wercken nicht
Den Meister, der sie zugericht't.
Theils halten sie die Gluht,
Theils schnelle Luft, theils mächt'ge Fluth,
Theils Lichter, die den Himmel zieren,
Für Götter, so die Welt regieren.
Allein, da sie von ihrer Zier
Und lieblichen Gestalt so viel Vergnügen fühlten,
Und sie also für Götter hielten:
So hätten sie ja billig müssen,
Wie gar viel besser Der, der aller Herr ist, wissen.
Denn Der, so Meister ist von aller Schönheit-Pracht,
Hat solches alles ja gemacht,
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Und so sie sich der Macht und Kraft
Verwunderten: So sollten sie
Ja billig auch die Eigenschaft,
Und wie viel mächtiger Der sey, der alle Gaben
Bereitet hat, gemercket haben.
Denn es kann am Geschöpf und Schmuck der Erden,
Ihr Schöpfer, als im Bild', erkennet werden.
Wiewohl doch über die
Nicht so gar hoch zu klagen,
Indem auch sie
Wohl irren können, wenn sie hie
GOTT suchen, und nach Ihm Verlangen tragen.
Denn so sie ihren Geist auf die Geschöpfe lencken,
Um ihnen nachzudencken:
So werden sie im Ansehn ihrer Pracht
Gefangen, weil nur gar zu schön
Die Creaturen, die wir sehn.
Doch sind sie damit nicht entschuldigt. Denn da sie
So viel erkennen, daß sie hie
Die Creatur zu achten, sind verbunden:
Warum denn haben sie nicht noch viel eh
Den Herrn derselbigen gefunden?
Die Heyden triebens ohne Massen
Mit sichtbaren Geschöpfen und vergassen
Des Schöpfers, der unsichtbar, gantz.
Wir aber leider!
Vergessen aller beyder;
Und sind dahero von den Heyden
Gar wohl zu unterscheiden.
Abgötter waren sie: Hingegen viele Christen
Sind, durch der Creatur Verachtung, Atheisten. 2

Fußnoten

1 Röm: 1, 19, 20.

2 Cap. 13: 1-9.

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TextGrid Repository (2012). Brockes, Barthold Heinrich. Gedichte. Irdisches Vergnügen in Gott. Zu viel und zu wenig. Zu viel und zu wenig. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0002-449D-5